Neo-Tories: Britische Konservative im Aufstand gegen Demokratie und politische Moderne (1929 – 1939) 9783486717174, 9783486713022

In Großbritannien kam die Bedrohung der parlamentarischen Demokratie in der Zwischenkriegszeit von einer anderen Seite a

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German Pages 344 Year 2012

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Neo-Tories: Britische Konservative im Aufstand gegen Demokratie und politische Moderne (1929 – 1939)
 9783486717174, 9783486713022

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Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts London Publications of the German Historical Institute London

Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts London Herausgegeben von Andreas Gestrich Band 71

Publications of the German Historical Institute London Edited by Andreas Gestrich Volume 71

Oldenbourg Verlag München 2012

Bernhard Dietz

Neo-Tories Britische Konservative im Aufstand gegen Demokratie und politische Moderne (1929–1939)

Oldenbourg Verlag München 2012

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2012 Oldenbourg Wissenschaftsverlag GmbH Rosenheimer Straße 145, D-81671 München Tel: 089 / 45051-0 www.oldenbourg-verlag.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ­außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Ein­speicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Konzept und Herstellung: Karl Dommer Einbandgestaltung: hauser lacour Satz: Typodata GmbH, Pfaffenhofen a.d. Ilm Druck und Bindung: Memminger MedienCentrum, Memmingen Dieses Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706 ISBN 978-3-486-71302-2 eISBN: 978-3-486-71717-4

Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

IX

1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1



1.1

Was ist ein Konservativer? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1



1.2

Die Neo-Tories in der britischen Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . .

6



1.3

‚Konservative Revolution‘ in Europa? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11



1.4

Methode, Gliederung, Untersuchungszeitraum, Quellen . . . . . . .

16

2. Lost Generation? – Sozialgeschichtliches Profil und Gruppenbiographie der Neo-Tories . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

21



2.1

Die ‚verlorene‘ Generation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

23

2.2

Journalisten und Politiker am rechten Rand der Konservativen Partei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

28

2.3

„What I am afraid of is the feminine man“ – Männlichkeitsideologie und Antifeminismus . . . . . . . . . . . . . . . .

40

3. Gegengeschichtsschreibung – Kampf um die Deutungsmacht . . . . . . . .

45

3.1 3.1.1 3.1.2 3.1.3 3.1.4

„The lie about the war“ – Kriegserinnerung in Abgrenzung zur ‚pazifistischen‘ Deutungshoheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Erste Weltkrieg in der britischen Öffentlichkeit . . . . . . . . . . . Die war books in der britischen Presse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Kriegsbuchkontroverse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Antipazifismus der Neo-Tories . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .



45 45 48 52 58



Das Geschichtsbild der Neo-Tories . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tory interpretation of history . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „The Inglorious Rebellion“ – 1688/89 bei den Neo-Tories . . . . . . Das Merry England des Mittelalters als goldenes Zeitalter . . . . . .



63 63 66 71

4. Neo-Toryismus als Weltanschauung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

75

3.2 3.2.1 3.2.2 3.2.3

4.1 4.1.1 4.1.2 4.1.3

Rassischer und zivilisatorischer Niedergang – ‚Degeneration‘ als zentraler Topos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Degeneration und national decline? – 100 Jahre eugenisches Denken in Großbritannien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Furcht vor der ‚Degeneration‘ Großbritanniens in der Zwischenkriegszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ‚Degeneration‘ in der Argumentation der Neo-Tories . . . . . . . . .



76



77



83 91

VI   Inhalt 4.1.4 Die Stadt als Ort der ‚Degeneration‘ – Antiurbanismus im politischen Denken der Neo-Tories . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 4.2.1 4.2.2 4.2.3

Democracy on trial – Systemkritik im Land der Mother of Parliaments . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „The Twilight of Democracy“ – Das Ende der Demokratien als historischer Prozeß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ‚Die Tyrannei der Masse‘ – Demokratiekritik in Großbritannien nach 1929 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . „The system is not good in England, but in India it will be much worse“ – Demokratiekritik und die Rebellion gegen die Indien-Pläne der Regierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

4.3 4.3.1 4.3.2 4.3.3 4.3.4

True Toryism – Vision eines radikalen Konservatismus in Opposition zur Konservativen Partei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Wiederbelebung des Konservatismus als intellektuelle Kraft – Criterion, Ashridge, Right Book Club . . . . . . . . . . . . . . . . Der Neo-Toryismus der English Review-Gruppe . . . . . . . . . . . . . . Stanley Baldwin – Der Antiheld der Neo-Tories . . . . . . . . . . . . . . Die absolute Monarchie und der korporative Staat als Fluchtpunkte des politischen Denkens der Neo-Tories . . . . . . . . .

4.4 4.4.1 4.4.2 4.4.3

Vorbild Italien? – Die Rezeption des italienischen Faschismus bei den Neo-Tories . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Faschismus und Universalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Europagedanke der Neo-Tories . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schwierigkeiten der positiven Faschismusrezeption unter dem Eindruck der Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

4.5 4.5.1 4.5.2 4.5.3 4.5.4

„Little use to expel Jews to-day, for we all have become Jews“ – Der ‚Konsens-Antisemitismus‘ der Neo-Tories . . . . . . . . . . . . . . . Der britische Antisemitismus – Ein „Sonderweg in reverse“? . . . . Theoretisch fundierter Antisemitismus als Teil von antiwhiggistischer Geschichtsschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bekämpfung der ‚judaisierten‘ Werte statt Ausweisung der Juden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Appeasement und Antisemitismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

97

105 106 115

120 130 132 140 146 151 159 160 167 174

181 181 184 190 194

5. Die politische Praxis am rechten Rand der Konservativen Partei . . . . . . 205 5.1 5.1.1 5.1.2

Aus der world of letters in die world of politics – von der Etablierung der Zeitschrift Everyman zum Lord Lloyd-Dinner im Herbst 1933 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 Lord Lloyd als britischer Diktator – Die Planungen der Neo-Tories im Sommer und Herbst 1933 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 Das Lord Lloyd-Dinner im November 1933 . . . . . . . . . . . . . . . . . 213

Inhalt   VII

5.2 5.2.1 5.2.2 5.2.3

„We do not wear a black shirt“ – Politische Clubs in Nähe und Abgrenzung zur British Union of Fascists . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Formierung des January Club . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . January Club und Windsor Club . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . British Movement . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .



219 220 225 238

5.3 Friends of Nationalist Spain – Erfolge und Misserfolge einer rechtsintellektuellen Pressure-Group . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243

5.3.1 5.3.2 5.3.3 5.3.4

5.4 5.4.1 5.4.2

Die Bedeutung Spaniens für die Neo-Tories . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Neo-Tories und die Franco-Rebellion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Friends of Nationalist Spain . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Guernica und die Propaganda der Neo-Tories . . . . . . . . . . . . . . . .



243 251 255 261

Appeasement als Fokus und Finale der Neo-Tories . . . . . . . . . . . 271 Die ideologisch motivierte Appeasement-Politik der Neo-Tories 271 Österreich, München, Prag, Danzig – Stationen der Appeasement-Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275

5.4.3 Appeasement und der Patriotismus der Neo-Tories vor und nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 6. Schlussbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 7. Quellen und Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301

7.1

Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301



7.2

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309

Abstract . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im September 2009 von der Philosophischen Fakultät I der Humboldt-Universität zu Berlin als Dissertation Neo-Tories. Britische Konservative im Aufstand gegen Demokratie und politische Moderne (1929–39) ­angenommen und von Prof. Dr. Heinrich August Winkler, Prof. Dr. Andreas ­Gestrich sowie von Prof. Dr. Gabriele Metzler begutachtet. Die Disputation fand am 26. Mai 2010 in Berlin statt. Für die Drucklegung wurde die Dissertation grundlegend überarbeitet und gekürzt. Meine Dankbarkeit gilt vor allem meinem Betreuer Heinrich August Winkler, der mich bei der Wahl dieses Themas ermutigt und unterstützt hat. Sein grundlegendes Interesse an deutschen Sonderwegen auf der einen und dem „normativen Projekt des Westens“ auf der anderen Seite haben mein Studium und schließlich auch meine Dissertation inspiriert und angetrieben. Daß er sich in dem zweiten Band seiner „Geschichte des Westens“ auch auf Ergebnisse meiner Studie stützt, erfüllt mich daher mit Stolz. Bei Andreas Gestrich möchte ich mich nicht nur für die Übernahme des Zweitgutachtens, sondern vor allem für die tatkräftige Unterstützung in London bedanken. Das Deutsche Historische Institut gewährte mir ein großzügiges Forschungsstipendium und war über die Jahre mein erster Ansprechpartner, Arbeitsort und beinahe ein zweites Zuhause. Daß mein Buch nun in der Schriftenreihe des Deutschen Historischen Instituts erscheint, macht mich daher besonders glücklich. ­Neben Herrn Gestrich möchte ich aus diesem Grund allen Mitarbeitern des DHI London für die schöne und produktive Zeit danken. Ein besonderer Dank gilt dabei Jane Rafferty und vor allem Dr. Markus Mößlang, die beide mit unermeß­licher Geduld dafür gesorgt haben, daß aus einem Manuskript ein Buch geworden ist. Neben dem DHI London danke ich dem Deutschen Akademischen Austauschdienst und dem Land Berlin für die finanzielle Unterstützung. Für den Gedankenaustausch und die vielen zielführenden Ideen möchte ich besonders Dr. Anna von der Goltz, Dr. Sebastian Ullrich, Prof. Dan Stone, Dr. Eric Jacobson und vor allem Prof. Dr. Andreas Rödder danken – in seinem Büro in Mainz ist der Titel der ­Studie entstanden. Für das kritische Lesen des Manuskripts danke ich vor allem Dr. Christian Göschel und Tilo Wagner. Mein besonderer Dank gilt meiner Frau Christie. Ihre Geduld und Liebe gaben mir die Kraft, die Dissertation zu einem Abschluß zu bringen. Für ihre Unterstützung und Verständnis danke ich ebenso meiner Tante Edith, meinen Schwieger­ eltern Tinker und Timothy Carter, meinen Schwestern Helena und Dorothee, vor allem aber meinen Eltern Dagmar und Werner Dietz, denen ich dieses Buch widme. Es wäre ohne ihre Unterstützung, Kritik und elterliche Liebe nie geschrieben worden. Mainz, im Juni 2012 

Bernhard Dietz

1.  Einleitung 1.1  Was ist ein Konservativer? Was ist ein Konservativer? Was bedeutete es, in der Zwischenkriegszeit des 20. Jahrhunderts konservativ zu sein? Was ließ sich im Zeitalter von Massendemokratie, Hochindustrialisierung und kultureller Moderne konservieren bzw. bewahren? Ein Teil des britischen Konservatismus hatte auf diese Kardinalfragen in den dreißiger Jahren radikale Antworten entwickelt: Konservieren lasse sich nichts mehr, konservativ sein heiße, den ‚historischen Fehlweg‘ der liberalen Demokratie zu ­bekämpfen, ein Konservativer sei ein Revolutionär. Wenn Konservatismus nichts Besseres zu tun habe, schrieb der Publizist Douglas Jerrold 1931, als das modernere industrielle Chaos zu verwalten und lediglich Lippenbekenntnisse zu der ­alten Weltordnung abgebe, aber gleichzeitig taktisch im Establishment der neuen Ordnung mitwirke, dann sei Konservatismus nicht nur eine armselige, sondern eine gefährliche Angelegenheit.1 Im selben Jahr schrieb Viscount Lymington, der gerade für die Konservative Partei ins britische Unterhaus eingezogen war: „Toryism is not and cannot be democratic in the political sense of the word“.2 Und der Historiker Charles Petrie verkündete ein Jahr später: „We Tories are the real revolutionaries of the present age. The existing socialized State is not of our seeking, and it must be overthrown by any means that come to hand.“3 Jerrold, Lymington und Petrie waren ihrem Selbstverständnis nach britische Konservative. Während Lymington für die Konservative Partei erst im Unterhaus und später auch im britischen Oberhaus saß, bemühte sich Jerrold mehrfach um eine Kandidatur als Abgeordneter, und Petrie war eine einflußreiche Figur im wichtigen Bezirksverband der Partei in South Kensington. Alle drei hatten zwar ihre politische Heimat in der Konservativen Partei, doch gleichzeitig stellten sie diese grundsätzlich in Frage. Aus ihrer Sicht war die Partei nicht mehr die Verkörperung von ‚wahrem‘ Konservatismus, sondern im Gegenteil vom Liberalismus durchdrungen. Bei ihrer Kritik an der Konservativen Partei ging es Jerrold, Lymington und Petrie nicht um einzelne Korrekturen am Programm oder um taktische Veränderungen. Es ging ihnen auch nicht bloß um eine Betonung konservativer Kernthemen wie Schutzzollpolitik, Stärkung des Empire oder Beschneidung des Sozialstaats, sondern um eine grundsätzliche Herausforderung der politischen Moderne. Sie wollten nicht nur eine Legislaturperiode oder den Reformprozeß seit dem Ersten Weltkrieg rückgängig machen, sondern stellten grundsätzlich die Legitimität der politischen Entwicklung des 18. und 19. Jahrhunderts in Frage. Damit gehörten sie einer politischen Richtung an, die im folgenden Neo-Toryismus genannt werden soll. 1

Douglas Jerrold, What Is Conservatism, in: English Review 52 (Juni 1931), S. 51–62, hier 51. Viscount Lymington, Ich Dien. The Tory Path, London 1931, S. 12. 3 Charles Petrie, Foreign Affairs, in: English Review 55 (Oktober 1932), S. 408–417, hier 410. 2

2   1.  Einleitung Während die Begriffe „Tories“ und „Konservative“ im heutigen Sprachgebrauch weitgehend synonym verwendet werden, lehnt der Begriff Neo-Toryismus an den historischen Gebrauch des Wortes „Tory“ an, wie er in der britischen Geschichte des 17. Jahrhunderts verwurzelt ist. Das Wort „Tory“ stammt vom irischen „tóraidhe“, auch geschrieben als „tóraighe“ und bedeutet „pursuer“, also „Verfolger.“4 Im 17. Jahrhundert bezeichnete das Wort zunächst enteignete Iren, die als „outlaws“ lebten und die englischen Siedler und Soldaten angriffen, plünderten und töteten. Ein „tóraidhe“ war ein irischer Rebell und Gesetzloser. In einer der ersten schriftlichen Überlieferungen des Wortes aus dem Jahr 1650 heißt es: „That eight officers […] riding upon the Highway [in Irland], were murdered by those ­bloody Highway Rogues called Tories.“5 Seine Karriere als politischer Begriff begann das Wort „Tory“ als Schimpfwort. Es entstand zu Beginn des englischen Parlamentarismus in der Auseinandersetzung zwischen Krone und Parlament. Als 1679/80 der Ausschluß des Katholiken James, dem Duke of York, von der Thronfolge bestimmt wurde, hießen diejenigen, die sich diesem Schritt widersetzten, bald Tories, nicht zuletzt weil der Duke of York sich angeblich vornehmlich mit Iren umgab.6 Diejenigen, die seine Sache unterstützten, waren nun „Tories“, also verachtenswerte, irische Wilde. In der Folge der Glorious Revolution von 1688/89 bürgerte sich der Name für die britische Königs-Partei ein. Aus lockeren Interessenverbänden wurden in dieser Zeit geschlossenere politische Gruppen, die Vorläufer der politischen Parteien. Die Kavaliere des 17. Jahrhunderts waren fortan die Tories, aus ihren Gegnern, den „Rundköpfen“ wurden die „Whigs“, die späteren Liberalen. Erst 1830 wurden mit der Gründung der Konservativen Partei aus den Tories formal die Conservatives.7 Zu diesem Zeitpunkt waren die Konservativen schon lange keine radikalen Royalisten mehr, die für eine Wiedereinsetzung des Hauses Stuart kämpften. Die Konservative Partei war auch nicht die Partei eines monarchistischen Absolutismus, sondern war vielmehr durch die Wahlrechtsreformen des 19. Jahrhunderts selbst Träger jenes Reformprozesses zu einer liberalen Demokratie geworden, an der immer breitere Kreise der Bevölkerung partizipieren sollten. Wenn im 20. Jahrhundert der Begriff Tory nicht einfach deckungsgleich mit Conservative verwandt wurde, dann konnte mit „Tory“ auch ein besonders altmodischer und reformfeindlicher Konservativer gemeint sein.

4

The Oxford English Dictionary, Bd. 18, Oxford 1989, S. 279. Ebd., S. 280. 6 Mark Goldie, Absolutismus, Parlamentarismus und Revolution in England, in: Iring Fetscher und Herfried Münkler (Hrsg.), Pipers Handbuch der politischen Ideen, Bd. 3, München 1985, S. 275–352. 7 Hugh Cecil, Conservatism, in: Michael A. Riff, Dictionary of Modern Political Ideologies, Oxford 1987, S. 67–73. Vgl. hierzu auch Anthony Seldon und Peter Snowdon, The Conservative Party, Stroud 2004; Robert Stewart, The Foundation of the Conservative Party, 1830–1867, London 1978. 5

1.1  Was ist ein Konservativer?   3

An diese Verwendung des Begriffs dachte auch George Orwell, als er in einem Essay von 1945 den Begriff „Neo-Toryism“ prägte.8 Gemeint waren damit nationalistische, radikal antikommunistische Konservative, die den Niedergang Großbritanniens als Weltmacht nicht anerkennen wollten. Zu dieser Gruppe zählte er u. a. die Schriftsteller Evelyn Waugh, T.S. Eliot, Wyndham Lewis und die Autoren der Zeitschrift New English Review. Orwell interessierte der Nationalismus in ­seinen vielfältigen Erscheinungsformen nach dem Zweiten Weltkrieg. Daß diese Zeitschrift bereits zehn Jahre zuvor als English Review für viel Aufmerksamkeit in konservativen Kreisen gesorgt hatte, erwähnte er nicht. Die beiden treibenden Kräfte hinter der Zeitschrift waren Douglas Jerrold und Charles Petrie, jene eingangs zitierten Publizisten, die sich in den dreißiger Jahren für eine Wiedergeburt des englischen Konservatismus, für einen true Toryism eingesetzt hatten. In ihrer Kritik an der Konservativen Partei war der historische ­Rekurs für diese Neo-Tories entscheidend: Aus ihrer Sicht war die Konservative Partei sträflicherweise vom Liberalismus durchdrungen und hatte die durch ­Industrie-Kapitalismus und liberale Demokratie verursachte ‚Degeneration‘ Englands mitzuverantworten. Um zu bestimmen, was konservativ ist, was es heißt, ein Konservativer zu sein, griffen die Neo-Tories ganz bewußt auf die Zeit des englischen Bürgerkriegs und der Revolution von 1688/89 zurück. Wenn in dieser Studie das Präfix „Neo“ verwendet wird, dann um dem elementaren Bedürfnis dieser Männer Ausdruck zu verleihen, einen ‚reinen‘, unliberalen Toryismus zu schaffen. „Neo“ verweist dabei sowohl auf den Anspruch auf eine umfassende geistig-moralische Erneuerung, als auch auf die Abgrenzungsversuche einer ­neuen Generation gegenüber älteren Partei-Dissidenten. Als analytischer Begriff entwickelt Neo-Toryismus seine Kraft und Bedeutung für die britische Zwischenkriegszeit, denn anders als in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg läßt er sich hier in einen breiteren Krisendiskurs einbetten. Auch Großbritannien durchlebte die „Krisenzeit der klassischen Moderne“.9 Zwar gab es in Großbritannien in der Zeit zwischen den zwei Weltkriegen, trotz großer wirtschaftlicher und sozialer Herausforderungen, keine ernsthafte Gefährdung des politischen Systems. Weder konnte eine revolutionäre Linkspartei größere Teile der Arbeiterbewegung radikalisieren, noch gelang es einer faschistischen Partei, nennenswerte Stimmenanteile zu erlangen und über den Status einer Splitterpartei hinauszugelangen. Doch das heißt nicht, daß das System der liberalen Demokratie unumstritten war. Ganz sicher nicht bei den Neo-Tories. Diese Gruppe von Journalisten, Verlegern, Historikern und Politikern lehnte die parlamentarische Demokratie und eine liberal-kapitalistische Wirtschaftsordnung für Großbritannien ab und plante autoritär-korporative Staats- und Gesellschaftsmodelle. 8

George Orwell, Notes on Nationalism, in: Sonia Orwell und Ian Angus (Hrsg.), The Collected Essays, Journalism and Letters of George Orwell, Bd. 3, London 1968, S. 373. 9 Andreas Wirsching, Krisenzeit der „Klassischen Moderne“ oder deutscher „Sonderweg“? Überlegungen zum Projekt Faktoren der Stabilität und Instabilität in der Demokratie der Zwischenkriegszeit. Deutschland und Frankreich im Vergleich, in: Horst Möller und Udo Hengst (Hrsg.), 50 Jahre Institut für Zeitgeschichte. Eine Bilanz, München 1999, S. 365–381.

4   1.  Einleitung Die Neo-Tories organisierten sich am rechten Rand der Konservativen Partei in politischen Clubs und Bünden und um eine Reihe von Zeitungen und Zeitschriften. Sie verstanden sich sowohl als intellektuelle Gegenbewegung gegen die verhaßte linke ‚Intelligenzija‘ als auch als fundamentalistische Erneuerungsbewegung innerhalb des britischen Konservatismus. Die Neo-Tories waren keine Faschisten. Es gab durchaus inhaltliche Überschneidungen mit der größten faschistischen Partei Großbritanniens, der British Union of Fascists unter deren Führer Oswald Mosley und zeitweilig Überlegungen zur Zusammenarbeit, aber die Neo-Tories teilten weder das faschistische Verständnis von Politik als öffentlich inszenierter Bewegung mit Uniformen, Fahnen und Aufmärschen, noch akzeptierten sie ‚unenglische‘ Methoden wie politische Gewalt, ‚Radau-Antisemitismus‘ und Führerkult. Der Neo-Tory Rolf Gardiner erklärte den deutschen Lesern im April 1936 diese konservative Distanzierung von Mosley in einem Artikel für den Deutschen Akademischen Austauschdienst: Die Schwarzhemden-Bewegung von Oswald Mosley ist in den letzten Jahren vielfach hervorgetreten. Mosley ist zweifellos ein begeisterter Patriot, ein fähiger Redner, ein ausgezeichneter Dialektiker, seine Gedanken sind aber eklektisch und weit weniger von Deutschland als von Italien übernommen. Dem traditionsbezogenen Engländer erscheint seine Bewegung als barbarisch. […] Der letzte Eindruck von Mosleys Bewegung ist, daß sie aus keiner englischen Quelle sprießt. Dem konservativen Engländer erscheint sie als Theater.10

Die Neo-Tories suchten ihre politischen Ziele weder durch den Druck der Straße zu erreichen, noch wollten sie sich mit einem Programm und Kandidaten dem Wahlvolk stellen. Ihre politischen Absichten suchten sie aus ihrer gesellschaftlichen Welt heraus zu erreichen: aus der Welt der gentlemen’s clubs und den Hinterzimmern des Parlaments, auf politischen Abendessen mit programmatischen Tischreden, bei informellen Treffen in kleinen Gruppen zum Mittagessen in teuren Londoner Restaurants, in Aufsätzen und Polemiken in konservativen Zeitschriften, in Buchclubs und konservativen Studienzentren. Wenn in dieser Welt von Mehrheit gesprochen wurde, war damit nicht die Mehrheit der Bevölkerung oder die Mehrheit des Wahlvolks gemeint, sondern die Mehrheit von our class, also jenen wenigen Zehntausend mit ähnlich privilegiertem gesellschaftlichem Hintergrund und elitärem Bildungsweg. Hier wollten die Neo-Tories ihre Konzepte eines ‚wahren‘ Konservatismus durchsetzen, die Deutungshoheit gegen die ‚linke Dominanz‘ gewinnen und den politischen Weg Großbritanniens beein­ flussen. Als zweiter Schritt auf dem Weg zum Erreichen ihrer politischen Ziele schwebte den Tories eine ‚kalte‘ Revolution vor. Nicht von unten, durch den Druck der Masse, sondern durch eine ‚Revolution von oben‘ mit Hilfe der Konservativen Partei sollte das politische System Großbritanniens umgewandelt ­werden.

10 Rolf

Gardiner, Die englische Wandlung, in: Hochschule und Ausland. Monatsschrift für deutsche Kultur und zwischenvölkische geistige Zusammenarbeit. [Organ des Deutschen Akademischen Austauschdienstes], 14 (April 1936), S. 297–308, hier 304.

1.1  Was ist ein Konservativer?   5

Den revolutionären Gehalt dieses Konservatismus erkannten bereits zeitgenössische Beobachter. Der in New York erscheinende Bookman verfolgte mit großem Interesse die politisch-publizistische Entwicklung in Großbritannien und schrieb im Dezember 1931 über die einflußreiche Zeitschrift English Review und ihren Herausgeber Douglas Jerrold: „The English Review is still an organ of conservatism, but with a difference: Mr. Jerrold is an able representative of that ‚revolu­ tionary‘ conservatism which is the one new and invigorating force in the world ­to-day, the movement of intelligent counter-attack.“11 Diese zeitgenössische Beschreibung entsprach der Selbstwahrnehmung von Douglas Jerrold. Es sah sich und seinen Zirkel als Teil einer europaweiten counter revolution gegen den seit Aufklärung und Französischer Revolution dominanten Modernisierungsprozeß. Träger dieser counter revolution sollten in Großbritannien u. a. die „New Conser­ vatives“12 sein. Gemeint war damit, über die eigene Gruppe hinaus, eine Reihe junger Konservativer, die in Opposition zur Führung der Partei gegangen waren. Der im folgenden benutzte Begriff Neo-Toryismus lehnt sich an diese zeitgenös­ sische Verwendung an. Britische Neo-Tories in der Zwischenkriegszeit waren also meist junge Politiker oder Intellektuelle, die sich um eine radikale Neuausrichtung des britischen Konservatismus bemühten.13 Die Größe dieser Gruppe läßt sich auf drei Ebenen grob bestimmen. Zum engsten Kern der hier untersuchten Neo-Tories gehörten 30–40 Publizisten und Politiker. Zu dem erweiterten Kreis von politischen Verbündeten, Sympathisanten und Gelegenheitsautoren in den Zeitschriften der Neo-Tories gehörten ca. 200 Männer. Die Zahl der direkten Adressaten des Neo-Toryismus, gemessen an der Auflage von Zeitschriften wie der English Review oder Mitgliedschaften in Organisationen wie dem Right Book Club läßt sich auf 10 000–50 000 beziffern.14 Doch mit welchen Argumenten sprachen diese Männer Demokratie und liberal-kapitalistischer Wirtschaftsordnung in Großbritannien die Legitimation ab? Was für eines Geschichtsbildes bedurfte es, um ausgerechnet im Land der Mother of Parliaments der parlamentarischen Demokratie Erfolg und Tauglichkeit abzusprechen? Welche innen- und außenpolitischen Faktoren radikalisierten einen Teil des britischen Konservatismus und wieso lief dieser dennoch nicht in die Arme des organisierten Faschismus? Welche politischen Erfolge konnte der NeoToryismus feiern und warum scheiterte er mit seinem eigentlichen Ziel: der Aushebelung der liberalen Demokratie?

11 The

Bookman 74 (Dezember 1931). Kap. 4.3.2. 13 Dieser Neo-Toryismus ist nicht zu verwechseln mit dem parteiinternen Reformkurs Stanley Baldwins ab 1924, der als „New Conservatism“ bekannt wurde und als eine Art „liberaler Konservatismus“ half, die politische Mitte in der ganzen Zwischenkriegszeit zu besetzen und einen großen Teil der Arbeiterschaft an die Konservative Partei zu binden. John Ramsden, The Age of Balfour and Baldwin 1902–1940 (History of the Conservative Party. Bd. 3), London 1978, S. 188–295. 14 Vgl. hierzu Kapitel 2. 12 Vgl.

6   1.  Einleitung

1.2 Die Neo-Tories in der britischen Forschung In der britischen Forschung tauchen die prominenteren der hier als Neo-Tories bezeichneten Journalisten und Politiker meist nur am Rande, als Mitläufer der Faschisten, auf. Das Interesse galt den britischen Sympathisanten des italienischen Faschismus und deutschen Nationalsozialismus. Insbesondere die Frage nach „Hitler’s Englishmen“ übte dabei große Faszination aus.15 Darüber hinaus wurde in den Untersuchungen zur British Union of Fascists (BUF) und zu Oswald Mosley gefragt, wie weit ‚faschistisches Gedankengut‘ auch in respektable und intellektuelle Kreise vorgedrungen war.16 Männer wie Jerrold, Petrie und Lymington erscheinen hier als „Fellow Travellers of the Right“, als mehr oder weniger starke Sympathisanten des italienischen Faschismus oder deutschen Nationalsozialismus und als mehr oder weniger starke Unterstützer von Oswald Mosleys BUF. Die Neo-Tories werden vor allem als Rezipienten, als beobachtende Intellektuelle ­porträtiert, die von der BUF umworben wurden, um sich mehr gesellschaftliche ­Respektabilität zu verschaffen. Eine solche Interpretation unterschätzt jedoch drei wichtige Punkte: Die politischen Vorstellungen der Neo-Tories waren erstens keineswegs lediglich affirmative Reaktionen auf Faschismus oder Nationalsozialismus, sondern sind ganz explizit aus der englischen Geschichte her entwickelt und nur als genuin englische Weltanschauung verständlich. Die Neo-Tories verstanden sich zweitens als britische bzw. noch mehr als englische Konservative. Ein ‚fremdes‘ System wollten sie bei allem grundsätzlichen Interesse für insbesondere den italienischen Faschismus nicht übernehmen. Und drittens handelt es sich bei

15 Ian

Kershaw, Making Friends with Hitler. Lord Londonderry, the Nazis and the Road to World War II, New York, 2004; Dan Stone, Responses to Nazism in Britain, 1933–1939. Before War and Holocaust, Houndmills 2003; Peter Martland, Lord Haw Haw. The English Voice of Nazi Germany, Richmond 2003; Richard Griffiths, Patriotism Perverted. Captain Ramsay, the Right Club and British Anti-Semitism, 1939–40, London 1998; ders., Fellow ­Travellers of the Right. British Enthusiasts for Nazi Germany 1933–9, London 1980; Adrian Weale, Patriot Traitors. Roger Casement, John Amery and the Real Meaning of Treason, London 2001; ders., Renegades. Hitler’s Englishmen, London 1994. Außerdem zur Perzeption des Nationalsozialismus in England: Detlev Clemens, Herr Hitler in Germany. Wahrnehmung und Deutungen des Nationalsozialismus in Großbritannien 1920 bis 1939, Göttingen 1996; Brigitte Granzow, A Mirror of Nazism. British Opinion and the Emergence of Hitler 1929– 33, London 1964. 16 Matthew Worley, Oswald Mosley and the New Party, Basingstoke 2010; Stephen Dorril, Blackshirt. Sir Oswald Mosley and British Fascism, London 2007; Thomas Linehan, „On the Side of Christ“. Fascist Clerics in 1930s Britain, in: Totalitarian Movements and Political Religions 8 (2007), S. 287–301; Martin Pugh, „Hurrah for the Blackshirts!“ Fascists and Fascism in Britain between the Wars, London 2005; Nigel H. Jones, Mosley, London 2004; Christina Bussfeld, „Democracy versus Dictatorship“. Die Herausforderung des Faschismus und Kommunismus in Großbritannien 1932–1937, Paderborn 2001; Thomas Linehan, British Fascism 1918–39. Parties, Ideology and Culture, Manchester 2000; Richard C. Thurlow, Fascism in Britain. From Oswald Mosley’s Blackshirts to the National Front, London 1998; Arnd Bauerkämper, Die „radikale Rechte“ in Großbritannien. Nationalistische, antisemitische und faschistische Bewegungen vom späten 19. Jahrhundert bis 1945, Göttingen 1991; David S. Lewis, Illusions of Grandeur. Mosley, Fascism and British Society, 1931–81, Manchester 1987.

1.2  Die Neo-Tories in der britischen Forschung   7

den Neo-Tories nicht nur um ein paar versprengte Individuen, um irrlichternde Freigeister, die zu individualistisch geprägt waren, um den Weg in die BUF zu finden, sondern um eine hervorragend vernetzte Gruppe in der Mitte der britischen Gesellschaftselite. Das historiographische Interesse, sich überhaupt mit dem britischen Faschismus zu beschäftigen, bestand vor allem in der Frage, warum er, anders als in anderen Ländern, nicht zu einer wesentlichen politischen Kraft wurde und die liberale Demokratie nicht ernsthaft herausfordern konnte. Der britische Faschismus wurde daher in der britischen Geschichtsschreibung vor allem aus der Perspektive seines Scheiterns als politische Bewegung der dreißiger Jahre betrachtet. Als Ursache hierfür gelten die im Vergleich zum krisengeschwächten Kontinentaleuropa günstigeren politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen,17 die organisatorische und personelle Schwäche der BUF,18 die resolute Opposition durch die Regierungsbehörden19 und der Stabilität und Kontinuität bringende, moderate Kurs des langjährigen konservativen Parteiführers und Premierministers Stanley Baldwin.20 Für Martin Pugh ist der entscheidende Faktor das ‚Timing‘: Demnach konnte die 1932 gegründete BUF bei den Parlamentswahlen 1931 von der breiten Krisenstimmung noch nicht profitieren, während die Partei 1935 von der vorgezogenen (und bis 1945 letzten) Wahl unter wieder günstigeren wirtschaftlichen Vorzeichen überrumpelt wurde.21 Trotz einer grund­sätzlichen Anerkennung der Multikausalität des Scheiterns des britischen Faschismus wird allerdings vor allem in der älteren Literatur stark auf der Ebene der politischen Kultur argumentiert: Als dem britischen Wesen grundsätzlich fremder Import habe der Faschismus angesichts der Stärke der ungebrochenen Tradition der parlamentarischen Demokratie nie eine wirkliche Erfolgschance in Großbritannien haben können.22 Solche Deutungen stehen tendenziell in der idealisierenden Tradition der Whig interpretation of history.23 Dennoch ist nicht 17 Lewis,

Illusions of Grandeur; John Brewer, Fascism and Crisis, in: Patterns of Prejudice 13 (1979), S. 1–7. 18 Gisela Lebzelter, Political Anti-Semitism in England 1918–1939, New York 1978; Gerald D. Anderson, Fascists, Communists and the National Government. Civil Liberties in Great Britain 1931–1937, Columbia und London 1983. 19 In diese Richtung argumentiert vor allem Richard Thurlow, Fascism in Britain. A History, 1918–1985, Oxford 1987; ders., The Failure of British Fascism 1932–40, in: Andrew Thorpe (Hrsg.), The Failure of Political Extremism in Interwar Britain, Exeter 1989, S. 67–84; ders., State Management of the British Union of Fascists in the 1930’s, in: Mike Cronin (Hrsg.), The Failure of British Fascism. The Far Right and the Fight for Political Recognition, London und Basingstoke 1996, S. 29–52. 20 Bussfeld, „Democracy versus Dictatorship“. 21 Pugh, „Hurrah for the Blackshirts!“. Vgl. zur Problematik der These Bernhard Dietz, ­Rezension von: Martin Pugh: „Hurrah for the Blackshirts!“. Fascists and Fascism in Britain Between the Wars, London 2005, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 2 [15. 02. 2006], URL: http:// www.sehepunkte.de/2006/02/8764.html. 22 Robert Skidelsky, Oswald Mosley, London 1975; Robert Benewick, The Fascist Movement in Britain, London 1977; Colin Holmes, Anti-Semitism in British Society, 1876–1939, London 1979. 23 Vgl. Kap. 3.2.

8   1.  Einleitung zu bestreiten: „British fascism was among the weakest manifestations of fascism in interwar Europe.“24 Die Konzentration der Forschung auf die BUF und ihren Führer Oswald Mosley birgt gleichwohl die Gefahr einer ereignisgeschichtlichen Verengung. Denn die Tatsache, daß Mosley scheiterte, ist keinesfalls der Beweis für die Nicht-Existenz proto-faschistischer und rechtskonservativer Tendenzen außerhalb des engen Rahmens einer faschistischen Partei. Gerade das Argument der unmöglichen Kompatibilität des Faschismus als ein dem britischen Wesen grundfremdes Konzept verliert an Schlagkraft, wenn man die Ebene der reinen Ereignisgeschichte verläßt und mit Hilfe eines ideengeschichtlichen Ansatzes den rechtsintellektuellen Diskurs außerhalb der BUF analysiert – zeigt sich doch, daß hier durchaus auf spezifisch britische (bzw. spezifisch englische) Traditionen und Ideen zurückgegriffen werden konnte. Der britische Historiker Dan Stone verweist in seiner wegweisenden Studie Breeding Superman: Nietzsche, Race and Eugenics in Edwardian and Interwar Britain auf diesen Sachverhalt. Die Natur des britischen Faschismus mit der BUF oder anderen kleineren britischen faschistischen Bewegungen gleichzusetzen, bedeute „to ignore the whole cultural background to political fascism in Britain, a cultural background whose assumptions were far more widespread than the simple high-political record of British fascism suggests.“ Zu Recht fordert deshalb Stone, daß die intellektuellen Ursprünge der „proto-faschistischen Ideen“ in Großbritannien untersucht werden.25 Dieser Aufforderung, die genuin britische geistesgeschichtliche Linie von faschistischen oder protofaschistischen Tendenzen der dreißiger Jahre zu untersuchen, folgt die vorliegende Arbeit ganz explizit. Sie folgt Dan Stone jedoch nicht in seinem Faschismus-Begriff. Seine Theorie eines ‚originär‘ britischen Faschismus – im Gegensatz zur ‚Imitation‘ des italienischen Faschismus bei der BUF – gründet Stone vor allem auf seine Untersuchungen zu der rechtsradikalen Geheimorganisation English Mistery und deren Nachfolgeorganisation English Array.26 Die Bedeutung der Organisation sieht er in einem Knotenpunkt genuin britischer, faschistischer Traditionslinien und bezeichnet die spezielle Ideologie

24 John

Stevenson, Conservatism and the Failure of Fascism in Interwar Britain, in: Martin Blinkhorn (Hrsg.), Fascists and Conservatives. The Radical Right and the Establishment in Twentieth-Century Europe, London 1990, S. 264. 25 Dan Stone, Breeding Superman. Nietzsche, Race and Eugenics in Edwardian and Interwar Britain, Liverpool 2002, S. 3. 26 Dan Stone, The English Mistery, the BUF, and the Dilemmas of British Fascism, in: Journal of Modern History 75 (2003), S. 336–358; ders., The English Array, the BUF, and the Dilemmas of British Fascism, in: Ders., Responses to Nazism in Britain, S. 166–188; sowie den Aufsatz zu dem intellektuellen Kopf der Gruppe: Dan Stone, The Extremes of Englishness. The ‚Exceptional‘ Ideology of Anthony Mario Ludovici, in: Journal of Political Ideologies 4 (1999), S. 191–218. Daß auch die BUF trotz Imitation von italienischem Faschismus und deutschem Nationalsozialismus einen „britischen“ Faschismus entwickelte, betont Gary Love, „What’s the Big Idea?“. Oswald Mosley, the British Union of Fascist and Generic Fascism, in: Journal of Contemporary History 42 (2007), S. 447–468. Vgl. hierzu auch Philip Coupland, The Blackshirted Utopians, in: Journal of Contemporary History 33 (1998), S. 255­­­­–272.

1.2  Die Neo-Tories in der britischen Forschung   9

der Gruppe als „Organo-Fascism“.27 Es ist jedoch fraglich, inwiefern eine Ausdehnung des Faschismusbegriffs hier hilfreich ist. Die English Array ist mit ihrem mystischen Royalismus, ihrem Entwurf einer agrarisch-korporativen Neuformung der Gesellschaft und ihren eugenischen Forderungen die radikalste aller hier untersuchten Organisationen. In ihrer Zeitschrift, der Quarterly Gazette of the English Array, in der mit radikaler Demokratiekritik, Antisemitismus und Rassismus nicht gespart wurde, legte man dennoch Wert auf typisch britische Freiheitsrechte wie freie Meinungsäußerung und orientierte sich viel mehr am ‚dezentralen‘ mittelalterlichen England als an Italien und Deutschland. Neben Demokratie, Faschismus und Kommunismus gab es demnach ein viertes System, das in der englischen Geschichte angelegt sei, so Lymington in einem Aufsatz für die Zeitschrift. Zwar hätte dieses mit dem Faschismus und dem Nationalsozialismus ähnliche Ziele einer ‚rassischen‘ Integration, doch in der Form seiner dezentralen Organisation wäre es „the very opposite to the present trend in dictatorship countries.“28 Die Mitglieder der English Array verstanden sich als Konservative; die programmatischen Schriften ihrer Vordenker hießen The Tory Path, A Text Book for Tories oder A Study in Post-War Conservatism.29 Ihr Augenmerk galt der Wiederbelebung eines true toryism. Die Gemeinsamkeiten mit anderen Neo-Tories sind auch bei der radikalen English Mistery / English Array größer als die mit britischen oder kontinentalen Faschisten. Mit ihnen teilten sie die Tory interpretation of history, die die Geschichte Groß­ britanniens seit der Glorious Revolution von 1688/89 als Niedergangsgeschichte ­interpretierte, das elitäre Verständnis von Politik, die Organisation in informellen (oder gar geheimen) Clubs und eine Verankerung in der Konservativen Partei – aller programmatischen Radikalität zum Trotz. Man verkehrte in den gleichen politischen Clubs und steuerte Artikel für die Zeitschriften der anderen Gruppe bei. Das Informelle und Individuelle wurde in diesen Kreisen sehr gepflegt. Sich einem faschistischen Führerkult unterzuordnen, war für die Neo-Tories ausgeschlossen. Die Neo-Tories bildeten nicht nur ideologisch eine Gruppe, sondern standen untereinander in regem Austausch. Mit dem Faschismusbegriff wird dieses Netzwerk, das sich am rechten Rand der Konservativen Partei um politische Clubs, Bünde, Zeitungen und Zeitschriften gebildet hatte, nicht faßbar. Auch bei Stone selbst nicht, denn während beispielsweise Lymington bei ihm als Faschist bezeichnet wird, ist sein langjähriger Gefolgsmann und Mitstreiter in Organisationen wie

27 Stone,

Responses to Nazism, S. 150 f., 154, 157 f., 162, 164 f. Lymington, Democracy and Dictatorships, in: The Quarterly Gazette of the English Array 4 (Juli 1938), S. 4. 29 Vgl. das bereits oben zitierte Lymington, Ich Dien, sowie die Schriften des English MisteryVordenkers, Anthony M. Ludovici, A Defence of Aristocracy. A Text Book for Tories, London 1915; ders., A Defence of Conservatism, A Further Text Book for Tories, London 1927 und das Buch des English-Mistery Mitglieds John Green, Mr. Baldwin. A Study in Post-War ­Conservatism, London 1933. 28 Viscount

10   1.  Einleitung der English Array, Rolf Gardiner, keiner.30 In Martin Pughs Buch Hurrah for the Blackshirts! erscheint Francis Yeats-Brown als Faschist, der Historiker Charles Petrie, der sich für die Errichtung eines korporativen Staats einsetzte und zu diesem Zwecke in engem Kontakt mit Yeats-Brown, Lymington und Gardiner stand, wiederum nicht.31 Leute wie Jerrold, Petrie und Lymington nicht als Faschisten zu bezeichnen, bedeutet keineswegs, die Radikalität ihrer Ansichten in Abrede zu stellen. Die Neo-Tories waren überzeugte Antidemokraten, ihre Kapitalismuskritik war antisemitisch gefärbt und in ihren Gesellschaftsentwürfen sollten große Teile der Bevölkerung von der politischen Partizipation wieder ausgeschlossen werden. Aber um ihre Ideen zu verstehen, um ihre Weltanschauung ein- und abzugrenzen, um sie als Gruppe faßbar zu machen, hilft der Faschismusbegriff nicht weiter. Schon länger richtete sich das Interesse der britischen Geschichtswissenschaft auf die Empfänglichkeit einzelner ‚prominenter‘ Intellektueller für autoritäre und faschistische Ordnungsvorstellungen – insbesondere auf die Schriftsteller William B. Yeats, Wyndham Lewis, Ezra Pound, T. S. Eliot und D. H. Lawrence.32 Gerade bei den älteren Arbeiten handelt es sich jedoch um eher isolierte Betrachtungsweisen, die die Sympathien einzelner Intellektueller für faschistische Ideen als temporäre Lust der Avantgarde an der Provokation und am gesellschaftlichen Nonkonformismus erscheinen lassen. Die politische Netzwerkbildung innerhalb der rechtskonservativen Publizistik ist lediglich im Falle Eliots und seiner Zeitschrift Criterion behandelt worden.33 Gerade hier lohnt jedoch eine weitergehende Analyse, zeigt sich doch, daß rechtskonservative Ideen nicht in einem luftleeren Raum entstanden sind. Vielmehr existierte in Großbritannien unter dem Eindruck einer wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Krisenerfahrung in der Zwischenkriegszeit am rechten Rand der Konservativen Partei und rund um eine Reihe rechtskonservativer Zeitungen und Zeitschriften ein politisches Milieu, dessen Vertreter sich sowohl programmatisch von der Konservativen Partei radikal abgrenzten als sich auch taktisch von den Faschisten deutlich distanzierten. Aus dieser Perspektive erscheinen Erklärungsversuche wenig hilfreich, die die Attraktion bekannter britischer Intellektueller für faschistische Ideen als ein Mittel zur 30 Stone,

Responses to Nazism, S. 158. for the Blackshirts!“, S. 204 f.; 281 f. 32 Richard Griffiths (Hrsg.), The Pen and the Sword. Right-Wing Politics and Literary Innovation in the Twentieth-Century, London 2000; Leslie Susser, Right Wings over Britain. T.E. Hulme and the Intellectual Rebellion Against Democracy, in: Zeev Sternhell (Hrsg.), The Intellectual Revolt Against Liberal Democracy 1870–1945. International Conference in Memory of Jacob Leib Talmon (Israel Academy of Sciences and Humanities), Jerusalem 1996, S. 356– 376; dies., Fascism, Literary Modernism and Modernization. The British Case, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 13 (1989), S. 463–486; Anthony Julius, T.S. Eliot, AntiSemitism and Literary Form, Cambridge 1995; Alastair Hamilton, The Appeal of Fascism. A Study of Intellectuals and Fascism 1919–1945, London 1971; John R. Harrison, The Reactionaries, Yeats, Lewis, Pound, Eliot, Lawrence. A Study of the Anti-Democratic Intelligentsia, New York 1967. 33 Jason Harding, The Criterion. Cultural Politics and Periodical Networks in Inter-War Britain, Oxford 2002. Vgl. Kap. 5.3.1. 31 Pugh, „Hurrah

1.3  ‚Konservative Revolution‘ in Europa?   11

antibürgerlichen Provokation interpretieren bzw. den philo-faschistischen Äußerungen dadurch jeglichen symptomatischen Charakter absprechen, da „erstaunlich wenige“ dieser Autoren tatsächlich gebürtige Engländer waren.34 In der Historiographie wurde das in dem Milieu von desillusionierten Konservativen und ihnen nahestehenden Intellektuellen artikulierte Konglomerat aus elitärem Kulturpessimismus, unversöhnlicher Kritik an der Parteiendemokratie und positiver Rezeption des italienischen Faschismus meist nur am Rande be­ handelt – als eigenständiges ideen- und politikgeschichtliches Phänomen blieb es ­bisher weitestgehend unberücksichtigt. Eine Ausnahme bietet Gerald Webber mit seiner Studie The Ideology of the British Right 1918–1939. Ausgehend von dem Ansatz, rechtskonservative, protofaschistische und faschistische Tendenzen in Großbritannien nicht nur empirisch-historisch zu erfassen, sondern einer politisch-theoretischen Analyse zu unterziehen, bietet Webber einen sehr guten Überblick über die Entwicklung im Großbritannien der Zwischenkriegszeit. Allerdings gilt auch hier das Interesse vornehmlich den britischen Faschisten, alles andere erscheint als „grey area between Fascism and conservatism“.35

1.3  ‚Konservative Revolution‘ in Europa? Aus der Perspektive der deutschen Geschichte ist der Bereich zwischen Faschismus und Konservatismus alles andere als grau. In der Zeit der Weimarer Republik schrieb eine Vielzahl von rechtkonservativen Intellektuellen gegen Republik und Demokratie, und die Erforschung dieser politischen Strömung wurde in der Bundes­republik und der DDR zu einem äußerst produktiven und gleichzeitig umkämpften und schillernden Gebiet der deutschen Geschichtswissenschaft. Gemeint ist damit die ‚Konservative Revolution‘, also jene antiliberale Denkrichtung in der Weimarer Republik, die in ihrer Radikalität über den klassischen Konservatismus hinauswies, aber andererseits nicht deckungsgleich mit dem National­ sozialismus war.36 Ihrem Selbstverständnis nach sahen sich die Autoren der ‚Konservativen Revolution‘ als Verkünder eines spezifisch deutschen Weges, dem der 34 Hamilton,

The Appeal of Fascism, S. 208. Bei Skidelsky heißt es: „Those intellectuals who did sympathise with fascism tended to be marginal forces: some were not really English at all.“ Skidelsky, Oswald Mosley, S. 346. 35 Gerald C. Webber, The Ideology of the British Right 1918–1939, London 1986, S. 98. 36 Schon bevor der Begriff ‚Konservative Revolution‘ zu einer historischen Kategorie wurde, hatte er eine schillernde und schwer zu fassende Dimension. Von seiner ersten Erfassung bei Thomas Mann 1921 über seine Verwendung bei Hugo von Hofmannsthal sechs Jahre später bis zu Edgar Julius Jungs Bestimmung im Jahre 1932 wurde der Begriff zwar immer poli­ tischer, behielt jedoch einen mystisch-nebulösen Charakter. Das liegt vor allem an dem irre­ führenden zweiten Teil des paradoxen Begriffspaars, denn eine Revolution im leninistischen ­Sinne schwebte den Autoren der ‚Konservativen Revolution‘ sicher nicht vor. Für sie war „die Revolution mehr Metapher als konkretes Programm“. Heinrich August Winkler, Deutsche Geschichte vom Ende des Alten Reiches bis zum Untergang der Weimarer Republik (Der ­lange Weg nach Westen, Bd. 1), München 2000, S. 464. Zur Geschichte des Begriffs: Armin Mohler, Die Konservative Revolution in Deutschland 1918–1932, Stuttgart 1950, S. 9–12.

12   1.  Einleitung Entwicklung des Westens diametral gegenüber stand. Die Identifikation von liberaler Demokratie als System des Siegers gab der Demokratiekritik der deutschen ‚Konservativen Revolution‘ ihre aggressive Dynamik. Verlorener Krieg und gedemütigter Nationalstolz waren zwar Gründe für die Radikalität und den Erfolg dieser Form des Antiliberalismus, nicht jedoch Bedingung für seine Existenz. Interessanterweise ist die historische Forschung dem Selbstverständnis der deutschen ‚Konservativen Revolution‘ von der nationalen Sonderrolle lange weitgehend gefolgt.37 Armin Mohler hatte zwar in seinem frühen Standardwerk die ‚Konservative Revolution‘ als eine gesamteuropäische Gegenbewegung gegen die Französische Revolution und ihre Folgen identifiziert,38 doch ungeachtet dieser außerordentlich weit gefaßten Perspektive zu Beginn bleibt Mohlers Buch letztlich eine Enzyklopädie der deutschen radikalen Rechten der zwanziger und dreißiger Jahre. Aller unleugbaren Probleme des Begriffs und der damit verbundenen Debatten zum Trotz39 bezog sich die ‚Konservative Revolution‘ weiterhin auf einen spezifisch deutschen Aspekt der europäischen Geistesgeschichte. In der Folge von Mohler und als kritische Antwort auf problematische und teilweise apologetische Aspekte seiner Darstellung wurde nicht nur der deutsche Bezugsrahmen für die ‚Konservative Revolution‘ beibehalten, sondern noch intensiver nach den spezifisch deutschen Ursachen, Vorläufern und Traditionen des Phänomens gefahndet. Die ‚Konservative Revolution‘ wurde als ein Phänomen betrachtet, das in der deutschen Geistesgeschichte seine Wurzeln hatte. Ausgehend von den Ideen der politischen Romantik habe sich unter dem Einfluß der Lebensphilosophie der Jahrhundertwende (insbesondere der Philosophie Friedrich Nietzsches) ein ­unpolitischer Irrationalismus gebildet, der – so Kurt Sontheimer – den „geistige[n] Untergrund“ darstelle, „aus dem die antidemokratische Geistesströmung des ­neuen Nationalismus ihre Kraft bezieht.“40 Die insgesamt nationale Perspektive der Forschung zur ‚Konservativen Revolution‘ hängt sehr eng mit der Tradition zusammen, deutsche Geistesgeschichte im Lichte des Nationalsozialismus zu betrachten. So berechtigt die Frage nach den geistigen Wegbereitern des Nationalsozialismus auch weiterhin ist, scheint eine 37 Hans-Wilhelm

Eckert, Konservative Revolution in Frankreich? Die Nonkonformisten der Jeune Droite und des Ordre Nouveau in der Krise der 30er Jahre, München 2000, S. 1. 38 Mohler, Die Konservative Revolution in Deutschland, S. 10 f. 39 Ausgelöst wurde die Debatte vor allem durch die Arbeiten des Soziologen Stefan Breuer, der bei der ‚Konservativen Revolution‘ eine so große programmatische Diversifikation feststellte, daß „es auch mit besseren Abstraktionen nicht gelingen wird, die ‚Konservative Revolution‘ als ein […] gegenüber anderen Strömungen abgrenzbares Gebilde zu begründen“. Stefan Breuer, Die ‚Konservative Revolution‘. Kritik eines Mythos, in: Politische Vierteljahrsschrift 4 (1990), S. 586. Vgl. ders., Die Völkischen in Deutschland. Kaiserreich und Weimarer Republik, Darmstadt 2008; ders., Ordnung der Ungleichheit. Die deutsche Rechte im Widerstreit ihrer Ideen 1871–1945, Darmstadt 2001; ders., Grundpositionen der deutschen Rechten 1871–1945, Tübingen 1999, S. 105–155; ders., Ästhetischer Fundamentalismus. Stefan George und der deutsche Antimodernismus, Darmstadt 1995, S. 226–240; ders., Anatomie der Konservativen Revolution, Darmstadt 1993. 40 Kurt Sontheimer, Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik. Die politischen Ideen des deutschen Nationalismus zwischen 1918 und 1933, München 1962, S. 46.

1.3  ‚Konservative Revolution‘ in Europa?   13

rein nationale Perspektive zunehmend an ihre Grenzen zu stoßen – nicht zuletzt auch, weil das Thema tendenziell überforscht ist.41 Die Herausforderung der ­parlamentarischen Demokratie durch einen radikalisierten Konservatismus ist in der Tat ein europäisches Phänomen der Zwischenkriegszeit. Während die vergleichende Faschismusforschung seit Ernst Nolte,42 vor allem jedoch angloamerikanische Historiker wie Roger Griffin, Walter Laqueur und Stanley G. Payne43 von einem gesamteuropäischen Phänomen „Faschismus“ zwischen den beiden Weltkriegen ausgehen, und diese Perspektive sich, trotz der sich dabei ergebenden Probleme, als sehr fruchtbar gerade für die Identifikation der nationalen Unterschiede des Phänomens herausstellte, ist die europäische Dimension der ‚Konservativen Revolution‘ bisher kaum berücksichtigt worden.44 In dieser Hinsicht interessante Ansätze gibt es vor allem im Falle einiger kleinerer europäischer Länder.45 Der Versuch einer Gesamtdarstellung des Phänomens ist bisher, außer für Deutschland, nur für Italien46 vorgenommen worden. Eine wirklich grenzüberschreitende Betrachtungsweise bietet Hans-Wilhelm Eckert für Frankreich. Seine Untersuchung zur Jeune Droite und zum Ordre Nouveau in den dreißiger Jahren nimmt explizit eine vergleichende Perspektive ein. Eckert weist nach, daß sowohl auf der Ebene der Sozialisation und Gruppenbildung interessante Übereinstimmungen beiderseits des Rheins zu finden sind, als auch auf der Ebene der Ideologien und Argumentationsmuster „sich durchaus ein gemein41 Vgl.

die Spezialstudien Sebastian Maass, Starker Staat und Imperium Teutonicum. Wilhelm Stapel, Carl Schmitt und der Hamburger Kreis, Kiel 2011; ders., Kämpfer um ein drittes Reich. Arthur Moeller van den Bruck und sein Kreis, Kiel 2010 und den umfangreichen Sammelband Walter Schmitz und Clemens Vollnhals (Hrsg.), Völkische Bewegung. Konservative Revolution. Nationalsozialismus. Aspekte einer politisierten Kultur, Dresden 2005. 42 Ernst Nolte, Der Faschismus in seiner Epoche. Die Action française. Der italienische Faschismus. Der Nationalsozialismus, München 1963. Zur Geschichte und Problematik der vergleichenden Faschismusforschung; Wolfgang Wippermann, Faschismustheorien. Die Entwicklung der Diskussion von den Anfängen bis heute, Darmstadt 71997 43 Roger Griffin, The Nature of Fascism, London 1991; ders. (Hrsg.), Fascism, Oxford 1997; ders. und Matthew Feldman, A Fascist Century, Basingstoke 2008; Walter Laqueur, Faschismus. Gestern, Heute, Morgen, Berlin 1997; Stanley G. Payne, Geschichte des Faschismus. Aufstieg und Fall einer europäischen Bewegung, München 2001; ders., A History of Fascism 1914–1945, London 1995. 44 Auch Stefan Breuer hat dieses Defizit erkannt und die bisherigen Untersuchungen als „zutiefst germanozentrisch“ beklagt. Breuer, Anatomie der Konservativen Revolution, S. 182. Allerdings bietet auch er, trotz seiner insgesamt wichtigen Forschungsanstöße, keine komparative Perspektive. Die bietet auch Rolf Peter Sieferle nicht, dennoch versucht er in einer Maximal-Definition die ‚Konservative Revolution‘ als eine gesamteuropäische Bewegung gegen Liberalismus und Sozialismus zu verorten, an deren „symbolischem Feld“ dann auch der ­Faschismus und der Nationalsozialismus als „reale Konservative Revolution“ ideologisch partizipierten. Rolf Peter Sieferle, Die Konservative Revolution. Fünf biographische Skizzen, Frankfurt a. M. 1995, S. 24. 45 Adalm Holm, ‚Opposing the Past‘. Danish Radical Conservatism and Right-Wing Authoritarianism in the Inter-War Years, in: Totalitarian Movements and Political Religions 2 (2001), S. 1–24; Aram Mattioli, Zwischen Demokratie und totalitärer Diktatur. Gonzague de Reynold und die Tradition der autoritären Rechten in der Schweiz, Zürich 1994. 46 Marcello Veneziani, La rivoluzione conservatrice in Italia. Genesi e sviluppo della “ideologia italiana” fino ai nostri giorni, Carnago 1994.

14   1.  Einleitung samer ideologischer Kernbestand bei Nonkonformisten und Konservativer Revolution feststellen“47 läßt. Bei der Erforschung rechtsintellektueller Liberalismuskritik wurde der angelsächsische Bereich weitgehend ausgeblendet.48 Die Gründe dafür liegen auf der Hand: Repräsentieren doch gerade Großbritannien und die USA jenen westlichen Weg der scheinbar ungebrochenen liberalen Tradition, der als komparativer ­Bezugshorizont für die Vorstellung eines besonderen deutschen Weges in die ­Moderne, sowohl für die idealisierende Tradition, wie sie in extremer Form in der ‚Konservativen Revolution‘ zum Ausdruck kommt, als auch für die kritische Interpretation des deutschen Sonderwegs nach 1945, immer nötig war.49 Die These des deutschen Sonderweges ist gerade hinsichtlich des Modells einer westlichen, industrie-kapitalistischen, demokratischen ‚Normalentwicklung‘ heftig kritisiert worden.50 So berechtigt die Kritik am westlichen ‚Normalweg‘ auch ist, an der Tatsache, daß die politische Entwicklung Deutschlands von derjenigen Englands, Frankreichs und der USA abwich und Deutschland im 19. Jahrhundert jenen Vorsprung an freiheitlich-demokratischer Tradition nicht aufholen konnte, ändert dies nichts.51 Das macht den vergleichenden Blick auf die europäische Zwischenkriegszeit aus deutscher Perspektive um so interessanter. Denn nur komparative Studien vermögen letztlich zu klären, „in welcher Gewichtung deutsche Besonderheiten und gemeineuropäische Phänomene zur katastrophischen Verschärfung 47 Eckert,

Konservative Revolution in Frankreich?, S. 233. ersten Versuch nach einer ‚Konservativen Revolution‘ in Großbritannien zu fragen, habe ich in einem Aufsatz von 2006 unternommen. Die Bezeichnung der untersuchten Gruppe als ‚Neokonservative‘ erscheint mir inzwischen jedoch als nicht präzise genug und soll hier durch den Begriff Neo-Tories ersetzt werden. Vgl. hierzu Bernhard Dietz, Gab es eine Konservative Revolution in Großbritannien? Rechtsintellektuelle am Rande der Konservativen Partei 1929–1933, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 54 (2006), S. 607–638. Zuvor hatte Peter Hoeres die antiliberale Philosophie des 1917 im Krieg gefallenen Autors Thomas Ernest Hulme untersucht und die Möglichkeiten eines Vergleichs zur „Konservativen Revolution“ angedacht. Leider geht Hoeres jedoch nicht auf die Rezeption Hulmes bei rechtskonservativen Publizisten wie T.S. Eliot, Douglas Jerrold u. a. ein, die den letztlich politisch wenig konkreten Philosophen in ihrem Kampf gegen die liberale Demokratie als intellektuelles Vorbild in den zwanziger und dreißiger Jahren stilisierten. Peter Hoeres, T.E. Hulme. Ein konservativer Revolutionär aus England, in: Zeitschrift für Politik 55 (2003), S. 187–204. 49 Bernd Weisbrod betont die besondere Rolle des englischen Beispiels für die Sonderwegsthese. Während sich die ältere deutsche Historiographie in ihrer Interpretation des deutschen Sonderwegs vor allem an französischer Aufklärung und Revolution orientiert habe, scheint heute „dagegen alles dem englischen Vorbild untergeordnet: Die Vereinigten Staaten werden auf unzulässige Weise dem englischen Entwicklungsweg subsumiert, Frankreich wird mehr oder weniger stillschweigend annektiert.“ Bernd Weisbrod, Der englische „Sonderweg“ in der neueren Geschichte, in: Geschichte und Gesellschaft 16 (1990), S. 232–252. 50 Insbesondere die beiden englischen Historiker Geoff Eley und David Blackbourn kritisierten, daß die Orientierung an einem besonderen Modell der englischen Geschichte in der deutschen Geschichtsschreibung auf einer „Interpretation englischer Geschichte aus zweiter Hand“ basiere und „schon lange durch die Arbeiten britischer Historiker als überholt zu gelten hat.“ David Blackbourn und Geoff Eley, Mythen deutscher Geschichtsschreibung. Die gescheiterte bürgerliche Revolution von 1948, Frankfurt a. M. 1980, S. 18. 51 Heinrich August Winkler, Deutsche Geschichte vom „Dritten Reich“ bis zur Wiedervereinigung (Der lange Weg nach Westen, Bd. 2), München 2000, S. 640–657. 48 Einen

1.3  ‚Konservative Revolution‘ in Europa?   15

der Modernisierungskrise Anfang der dreißiger Jahre beitrugen.“52 Doch tatsächlich ist der Ansatz, die europäische Zwischenkriegszeit insgesamt als „Krisenzeit der klassischen Moderne“ zu verstehen, lediglich im Falle Frankreichs systematisch und empirisch fundiert verfolgt worden.53 Auch in Großbritannien ist die Interpretation der britischen Geschichte als westlicher Idealweg in die Moderne in die Defensive geraten. Gemeint ist damit vor allem die Whig interpretation of history,54 also jene „Harmonisierung der englischen Geschichte durch die herrschende Schule der fortschrittsgläubigen ­liberalen Historiker.“55 Die Whig-Geschichtsschreibung diente mit dem Bild einer zivilisatorischen Ideal-Entwicklung dabei besonders politischen Funktionen: einerseits der Festigung des innenpolitischen Status quo und andererseits einer ideologischen Legitimierung der außenpolitischen Expansion Großbritan­niens.56 Die Whig interpretation of history war in den letzten drei Jahrhunderten die ­dominante Schule der britischen Geschichtsschreibung, und erst unter dem Eindruck der wirtschaftlichen und sozialen Krise der 1970er Jahre kam es zu einer nachhaltigen Kritik an diesem historischen Paradigma, so daß sich bilanzieren läßt: Insgesamt hat die ‚Whig interpretation of history‘ ebenso wie die kritische Interpretation des ‚deutschen Sonderwegs‘ deshalb seit den späten siebziger Jahren ihren prägenden Einfluß auf das Geschichtsbewußtsein in Großbritannien verloren, und auch ihre politische Legitimationskraft ist in den letzten zwanzig Jahren zurückgegangen.57

Eine komparative Studie zur ‚Konservativen Revolution‘ kann und will die vorliegende Arbeit nicht sein. Mit dem Begriff „Neo-Toryismus“ soll das britische Phä52 Detlef

Peukert, Die Weimarer Republik. Krisenjahre der Klassischen Moderne, Frankfurt a. M. 1987, S. 10. 53 Andreas Wirsching, Krisenzeit der „Klassischen Moderne“ oder deutscher „Sonderweg“?; ders., Vom Weltkrieg zum Bürgerkrieg? Politischer Extremismus in Deutschland und Frankreich 1918–1933/39. Berlin und Paris im Vergleich, München 1999; Manfred Kittel, Provinz ­zwischen Reich und Republik. Politische Mentalitäten in Deutschland und Frankreich, 1918– 1933/36, München 2000; Horst Möller und Manfred Kittel (Hrsg.), Demokratie in Deutschland und Frankreich 1918–1933/40. Beiträge zu einem historischen Vergleich, München 2002; Thomas Raithel, Das schwierige Spiel des Parlamentarismus. Deutscher Reichstag und französische Chambre des Députés in den Inflationskrisen der 1920er Jahre, München 2005. 54 Der Terminus geht zurück auf das kritische Buch des englischen Historikers Herbert Butterfield, The Whig Interpretation of History, London 1931. Vgl. hierzu Kap. 4.2. 55 Lothar Kettenacker, Die Briten und ihre Geschichte. Was ist anders als bei uns?, in: Großbritannien und Deutschland. Nachbarn in Europa, hrsg. von der Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 1988, S. 136. Vgl. hierzu auch Jürgen Osterhammel, Nation und Zivilisation in der britischen Historiographie von Hume bis Macaulay, in: Historische Zeitschrift 254 (1992), S. 281–340. 56 Arnd Bauerkämper, Geschichtsschreibung als Projektion. Die Revision der „Whig Interpretation of History“ und die Kritik am Paradigma vom „Deutschen Sonderweg“ seit den 1970er Jahren, in: Stefan Berger et al. (Hrsg.), Historikerdialoge. Geschichte, Mythos und Gedächtnis im deutsch-britischen kulturellen Austausch 1750–2000, Göttingen 2003, S. 388. 57 Ebd., S. 387. Wichtig für den ‚Revisionismus‘ gegen die Whig interpretation of history war vor allem eine Neubewertung der englischen Geschichte des 17. Jahrhunderts. Vgl. hierzu Glenn Burgess, On Revisionism. An Analysis of Early Stuart Revisionism in the 1970s and 1980s, in: Historical Journal 33 (1990), S. 609–628; ders. (Hrsg.), The New British History. Founding a Modern State 1603–1715, London 1999; John Morrill, Revolt in the Provinces. The People of England and the Tragedies of War 1630–48, London 21999.

16   1.  Einleitung nomen aus der britischen Geschichte heraus erklärt werden. Die Demokratie- und Liberalismuskritik neo-toryistischer Intellektueller und Politiker soll in dem interessanten Spannungsverhältnis zwischen traditionellem Konservatismus und Faschismus ideengeschichtlich erfaßt werden. Damit versteht sich die Arbeit aber durchaus als Beitrag zur europäischen Dimension der ‚Konservativen Revolution‘. Interpretiert man die ‚Konservative Revolution‘ als eine politische Ausdrucksform der europäischen „Krisenzeit der klassischen Moderne“,58 so können die spezifischen nationalen Eigenarten der Phänomene – z. B. Jungkonservative in Deutschland, Jeune Droite in Frankreich, Neo-Tories in Großbritannien – um so deutlicher sichtbar werden. Vor diesem Hintergrund überrascht es dann auch weniger, daß diese rechten Ideologien ein „curious amalgam“ aus reaktionären und modernen Ideen sein können.59 Die europäische Dimension des Phänomens entsprach auch dem Selbstverständnis der Akteure in Großbritannien. Die britischen Neo-Tories sahen sich, verstärkt durch die Rezeption von Autoren wie Oswald Spengler oder Charles Maurras, als Teil einer gesamteuropäischen Bewegung gegen die Ideen und politischen Implikationen der Aufklärung. Douglas Jerrold schrieb 1938: „The battle between the ideas of 1789 and those of the Counter-Revolution will be fought to a finish in the lifetime of many living, and the results of the struggle will be decisive in Europe for several generations.“60

1.4  Methode, Gliederung, Untersuchungszeitraum, Quellen Im Zentrum der Arbeit steht die ideengeschichtliche Analyse des Neo-Toryismus. Die Arbeit folgt dabei grundsätzlich dem Ansatz und Interesse der politischen Ideen­geschichte. Politischen Ideen werden hier Wirkung und Bedeutung eingeräumt, selbst wenn sie nicht, wie im Falle der ‚Konservativen Revolution‘ in Deutschland, für eine ideelle Vorbereitung eines Regimewechsels verantwortlich gemacht werden können. Diese Ideengeschichte soll aber keineswegs im luftleeren Raum verharren. Eine isolierte Darstellung „geistesgeschichtlicher Höhenkamm­ diskurse“,61 wie sie etwa in T.S. Eliots Zeitschrift Criterion geführt wurden und die mit Abstrichen auch dem Neo-Toryismus zuzuordnen sind,62 kann nicht Ziel und

58 Andreas

Wirsching, Krisenzeit der „Klassischen Moderne“ oder deutscher „Sonderweg“? The Ideology of the British Right, S. 8. 60 Douglas Jerrold, The Future of Freedom. Notes on Christianity and Politics, New York 1968 [zuerst erschienen London 1938], S. vif. 61 Jens Hacke, Politische Ideengeschichte und die Ideologie des 20. Jahrhunderts. Im Spannungsfeld historischer und politiktheoretisch geleiteter Absichten, in: Ders. und Matthias Pohlig, Theorie in der Geschichtswissenschaft. Einblicke in die Praxis des historischen Forschens, Frankfurt a. M. 2008, S. 147–170, hier 147. 62 Vgl. Kap. 4.3.1. 59 Webber,

1.4  Methode, Gliederung, Untersuchungszeitraum, Quellen   17

Interesse einer modernen und reflektierten politischen Ideengeschichte sein.63 Vielmehr werden gesellschaftliche Interpendenzen, Auswirkungen und Vermittlungsprozesse des Neo-Toryismus berücksichtigt. Neo-Toryismus wird somit nicht lediglich als abstrakte Idee, sondern auch als intellektueller Aushandlungsprozeß in den Blick genommen. Die politischen und gesellschaftlichen Entstehungsbedingungen und die kulturell bedingten Verbreitungs- und Wirkungsweisen gehören untrennbar zu der ideengeschichtlichen Dimension von Neo-Toryismus. In einer solchen „Diskursgeschichte“64 werden die verschiedenen Vorstöße der Neo-Tories in die politische Öffentlichkeit dargestellt, zugleich aber auch die relevanten politischen Ereignisse und sozialen Veränderungsprozesse berücksichtigt. Dem ideengeschichtlichen Kern der Arbeit vorgelagert ist eine sozialgeschichtliche Skizze und Gruppenbiographie der Neo-Tories. Denn nicht nur als intellektuelles Phänomen und ideologische Strömung, sondern auch als sozialgeschichtlich erfaßbare Gruppe lassen sich die britischen Neo-Tories abgrenzen. Entscheidende Faktoren sind hierbei soziale Herkunft und Stellung, Sozialisation und Gruppenbildung, Weltkriegserfahrung und Geschlechterfrage. Der Erste Weltkrieg spielte nicht nur als Sozialisationsfaktor und Identitätsstifter eine entscheidende Rolle. Die retrospektive, politisch-literarische Auseinandersetzung um ­seine Deutung war für eine Reihe Neo-Tories der Beginn einer eigenen publizistischen Produktion und Initiationsfaktor für die oppositionelle Haltung zur politisch-kulturellen Mehrheitsöffentlichkeit. Insbesondere in der war books controversy von 1929/30 wurde in bemerkenswerter Übereinstimmung mit nationalistischen Kreisen in Deutschland die Darstellung des Kriegsteilnehmers als Deserteur und Selbstverstümmler sowie der Sinnlosigkeit des Krieges verurteilt (Kap. 3.1). Nach der Auseinandersetzung um die Deutungshoheit über den Ersten Weltkrieg wurde die Interpretation der Geschichte Großbritanniens zum zweiten großen publizistischen Kampfplatz der Neo-Tories. Denn sollte die Whig interpretation Recht behalten, dann wären ja Liberalismus und eine progressive Entwicklung Großbritanniens zu Stabilität und Wohlstand gewissermaßen Teil des britischen Nationalcharakters und eine alternativlose Institutionen- und Verfassungsgeschichte vorgeschrieben. In der Auseinandersetzung mit der Whig interpretation of history wurden somit die Kernbereiche der historischen Identität der Neo-To63 Vgl. Marcus

Llanque, Politische Ideengeschichte. Ein Gewebe politischer Diskurse, München 2008; ders., Alte und neue Wege der politischen Ideengeschichte, in: Neue Politische Literatur 49 (2004), S. 34–51; Herfried Münkler, Politische Ideengeschichte, in: Ders. (Hrsg.), Politikwissenschaft. Ein Grundkurs, Reinback 2003, S. 103–131; Günther Lottes, Neue Ideengeschichte, in: Ders. und Joachim Eibrach (Hrsg.), Kompass der Geschichtswissenschaft. Ein Handbuch, Göttingen 2002, S. 261–269; Frank-Lothar Kroll (Hrsg.), Neue Wege der Ideengeschichte. Festschrift für Kurt Kluxen zum 85. Geburtstag, Paderborn 1996. 64 Oliver Müller, Die Unordnung der Geschichte. Überlegungen zur Ideen- und Diskursgeschichte und zu den Regelmäßigkeiten des Denkens, in: Achim Geisenhanslücke (Hrsg.), Das Subjekt des Diskurses. Festschrift für Klaus-Michael Bogdal, Heidelberg 2008, S. 33–46. Achim Landwehr, Diskursgeschichte des Politischen, in: Brigitte Kerchner (Hrsg.), Foucault. Diskursanalyse der Politik. Eine Einführung, Wiesbaden 2006, S. 104–122. Hartmut Rosa, Ideengeschichte und Gesellschaftstheorie. Der Beitrag der „Cambridge School“ zur Metatheorie, in: Politische Vierteljahresschrift 35 (1994), S. 197–223.

18   1.  Einleitung ries und ihre politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Implikationen diskutiert (Kap. 3.2). Im vierten Kapitel soll zunächst gezeigt werden, wie ‚Degeneration‘ zu einem zentralen Schlagwort der Liberalismus- und Demokratiekritik der Neo-Tories geworden ist. Sowohl im Umfeld der Eugenikbewegung als auch unter kulturpessimistischem Vorzeichen bei Rechtskatholiken wurden in den dreißiger Jahren Degenerationstheorien und Niedergangsvorstellungen bemüht, um Demokratie und Liberalismus ihre ‚historische Überlebtheit‘ zu beweisen. Eine große Rolle spielte hierbei die Angst vor einer ‚Degeneration‘ Großbritanniens aufgrund der im Ersten Weltkrieg ‚verlorenen‘ Generation, zu der sich die Neo-Tories selbst zählten (Kap. 4.1). Anschließend soll die Demokratiekritik im einzelnen betrachtet werden. Die weitere Ausdehnung des Wahlrechts auf Frauen mit Vollendung des 21. Lebensjahrs im Jahr 1928 und der Aufstieg von Labour zur stärksten Partei 1929 gaben der „Is democracy a failure?“-Diskussion neuen Nährstoff. Gefragt wird nach den Argumenten von Demokratie- und Parlamentarismuskritik ausgerechnet im Land der Mother of Parliaments (Kap. 4.2). Die positiv-konstruktive Seite der Demokratiekritik der Neo-Tories war ihre Vorstellung eines true Toryism. In diesem Zusammenhang stehen Fragen nach Art und Wesen einer solchen politischen Alternative; insbesondere die Frage, welches Staats- und Gesellschaftsmodell sie der verhaßten ‚Massendemokratie‘ entgegensetzten (Kap. 4.3). Inwiefern der italienische Faschismus als Vorbild dienen konnte, soll im anschließenden Kapitel geklärt werden. Die Rezeption des italienischen Faschismus erweist sich dabei als äußerst ambivalent. Einerseits wurden die ‚universalen‘ Aspekte des Faschismus zu allgemeingültigen Prinzipien erhoben, gleichzeitig wurde aber immer auf das fremdartige und ‚unenglische‘ der italienischen ‚Methoden‘ hingewiesen (Kap. 4.4). Abgeschlossen wird dieser Teil mit einem Kapitel zum Antisemitismus. Die zentrale Frage lautet hier, ob die Neo-Tories es bei ‚üblichen‘ Vorurteilen gegen Juden beließen, oder ob der Antisemitismus theoretisch reflektierter Teil ihres Kampfs gegen die ‚liberal-kapitalistische‘ Fehlentwicklung“ wurde (Kap. 4.5). Wie versuchten die Neo-Tories ihre politischen Ideen in die Praxis umzusetzen? Wie sollte also aus policy politics werden? Dieser Frage widmet sich der dritte Teil der Arbeit, der die Netzwerkbildungen am rechten Rand der Konservativen Partei untersucht. Durch ihre Herkunft und Sozialisation waren die Neo-Tories Mitglieder des club government, also jenes elitären politischen Systems, dessen Herrenclubcharakter für den inneren Kreis der Macht in Westminster und Whitehall kennzeichnend ist. In diesem Milieu sollte im Sommer und Herbst 1933 Lord Lloyd als möglicher Diktator aufgebaut werden und in einem Putsch die Führung der Konservative Partei übernehmen (5.1). In Kapitel 5.2. wird gezeigt, inwiefern der gentlemen’s club einerseits rechtskonservativen Planspielen Raum gab, indem er dem elitären und exklusiven Politikverständnis der Neo-Tories entsprach, anderseits aber – als traditionsbewahrende Institution – der Realisierung in Form einer ‚Revolution von oben‘ deutliche Grenzen setzte. Von den verschiedenen Versuchen, eine radikalkonservative Kraft aufzubauen, war der January Club für eine kurze Zeit sehr erfolgreich und hatte

1.4  Methode, Gliederung, Untersuchungszeitraum, Quellen   19

breite Kreise des konservativen Establishments an sich gezogen. Die Vernetzung der radikalen Rechten fand auch auf europäischer Ebene statt. In Kapitel 5.3 wird die Verlagerung der ideologischen Auseinandersetzung auf die europäische Außenpolitik in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre am Beispiel des spanischen Bürgerkriegs analysiert. Die Organisation Friends of Nationalist Spain, in der die Neo-Tories den ideologischen Unterbau für britisch-spanische Wirtschaftsvertreter und rechtskonservative Parlamentarier lieferten, setzte sich in einer Vielzahl von Publikationen entschieden für Franco ein. Sie versuchten, die britische Regierung in ihrem Neutralitätskurs zu bestätigen – wohl wissend, daß dieser eher Franco helfen würde – und beschworen dabei die Gefahr einer paneuropäischen sozialistischen Revolution. In der Tat wurde London, dank der Neo-Tories und ihrer Verbindungen zu spanisch-nationalistischen Kreisen, zum Zentrum der pronationalistischen Propaganda außerhalb Spaniens und der Achsenmächte. Gleichzeitig verlor der rechtsintellektuelle Diskurs seinen britischen Charakter. Autoritäre Gesellschaftsutopien ließen sich ab Mitte der dreißiger Jahre kaum noch ohne den Hintergrund des nationalsozialistischen Regimes entwickeln – und dies teilweise sehr zum Ärger jener Neo-Tories, die dem Nationalsozialismus ablehnend gegenüberstanden. Die Neo-Tories unterstützten vehement die Appeasement-Politik von Premierminister Chamberlain (Kap. 5.4). Zu klären gilt es, was aus ihren rechtsautoritären Gesellschaftsentwürfen angesichts der ‚faschistischen Gefahr‘ wurde. Im Zentrum der Analyse steht dabei die Frage, wie sich die Neo-Tories angesichts einer ideologischen Polarisierung verhielten, in der britischer Patriotismus immer deutlicher mit Verteidigung der westlichen Werte, Freiheit und liberaler Demokratie deckungsgleich wurde. Dies kulminiert in der Frage, ab wann es auch für die Neo-Tories hieß: „Right or wrong – my country!“ Mit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs endet der Untersuchungszeitraum der Arbeit. Er beginnt 1929, zu einem Zeitpunkt also, als die ersten größeren Publikationen der Neo-Tories erschienen, die zum Teil als Reaktionen auf die Wahlrechtserweiterung von 1928, auf den Aufstieg Labours zur stärksten politischen Kraft 1929 und auf die Weltwirtschaftkrise zu sehen sind. In den Jahren 1929/30/31 begannen zudem die beruflichen Karrieren der meisten Neo-Tories erst richtig. Nachdem sich ihr beruflicher Werdegang durch den Ersten Weltkrieg verzögert hatte, übernahmen die zu diesem Zeitpunkt etwa 40jährigen ihre ersten Redaktionsposten, Verlagsleitungen und Abgeordnetenmandate. Die unterschiedlichen Tätigkeiten der Neo-Tories spiegeln sich auch in der Quellengrundlage dieser Untersuchung wieder. Für den ideengeschichtlichen Teil wird vornehmlich auf publizierte Quellen zurückgegriffen. Hierzu zählen die historischen Abhandlungen, politischen Monographien und Pamphlete, vor allem aber die programmatischen Artikel und Kommentare in konservativen Monatszeitschriften wie The National Review, The Nineteenth Century and After, Ashridge Journal, Anglo-German Review, The Criterion, The Indian Empire Review, The Eugenics Review, und in Wochenzeitschriften wie The Saturday Review, The Patriot, Truth, The Observer. Besonderes Augenmerk liegt auf Zeitschriften, die wie The English Review und die damit verbundene English Review-Gruppe selbst zu einem

20   1.  Einleitung politischen Projekt geworden sind. In diese Kategorie fallen etwa auch die Wochenzeitschrift Everyman unter der Chefredaktion von Francis Yeats-Brown, The New Pioneer von Viscount Lymington oder The Quarterly Gazette of the English Array. Darüber hinaus publizierten die Neo-Tories in konservativen Tageszeitungen wie The Morning Post und The Daily Telegraph, zuweilen aber auch in Massenblättern wie dem Daily Mirror oder The Daily Mail. Sie schrieben einzeln oder in Gruppen Leserbriefe an The Times und veröffentlichten auch in Provinzzeitungen wie The Yorkshire Weekly Post. Zahlreiche Neo-Tories waren Parlamentsabgeordnete. Hinzugezogen werden daher die Parlamentsprotokolle des britischen Ober- und Unterhauses. Dazu kommen Sitzungsberichte von informellen Organisationen wie den Friends of Nationalist Spain. Zur Rekonstruktion der organisatorischen Verflechtungen sind darüber hinaus Tagebuchaufzeichnungen und die Memoirenliteratur eine wichtige Quelle. Ein wahrer Glücksfall ist in diesem Zusammenhang der Nachlaß von Charles Petrie, einer Schlüsselfigur dieser Arbeit. Sir Peter Petrie hat mir die Papiere seines ­Vaters, die in seinem Landhaus in der Normandie und in seinem Londoner Stadthaus liegen, zugänglich gemacht. Neben einem umfangreichen Presse-Archiv waren hier vor allem die Tagebücher mit ihren gewissenhaften täglichen Einträgen von großer Bedeutung für diese Arbeit. Die Tagebücher sind nicht vollständig er­ halten, decken jedoch den Zeitraum Januar 1932 bis Juni 1933 und April 1934 bis Dezember 1936 ab. Die weiteren archivarischen Quellen sind die Nachlässe von Neo-Tories wie Arthur Bryant im Liddell Hart Centre for Military Archives in London, von Viscount Lymington im Hampshire Record Office in Winchester, von H.W. Luttman-Johnson im Imperial War Museum London, von Lord Lloyd of Dolobran im Churchill Archives Centre in Cambridge und von Francis Yeats-Brown am Harry Ransom Humanities Research Center der University of Texas in Austin. Hinzu kommen eine Vielzahl von Briefwechseln wie der zwischen Ezra Pound und Graham Seton Hutchison in der British Library, zwischen Douglas Jerrold und H.A.L. Fisher, in der Bodleian Library in Oxford oder zwischen Anthony Ludovici und Blacker im Eugenics Society Archive London. Eine zusätzliche Quellengattung sind die Geheimdienstakten in den National Archives in Kew, London. Die britischen Geheimdienste beobachteten Gruppen wie den January Club, da hier ein organisatorischer Schulterschluß zwischen Rechtskonservativen und britischen Faschisten versucht wurde, sowie alle weiteren Organisationen, die im Verdacht standen, enge Verknüpfungen mit dem Deutschen Reich zu haben, wie etwa die Anglo-German Fellowship. Aus diesen Quellen soll das Porträt einer Gruppe von britischen Konservativen im Aufstand gegen Demokratie und politische Moderne entstehen, die aus heutiger Sicht um so faszinierender sind, weil ihr letztendliches Scheitern den Kern des Erfolgs der britischen Demokratie berührt. Die Mißerfolgsgeschichte des NeoToryismus kann man unter umgekehrten Vorzeichen auch als die britische Erfolgsgeschichte der liberalen Demokratie in den dreißiger Jahren lesen.

2.  Lost Generation? Sozialgeschichtliches Profil und Gruppenbiographie der Neo-Tories Zum Kernbestand sowohl der britischen Whig interpretation of history als auch indirekt der deutschen Sonderwegsthese gehört die Vorstellung einer erfolgreichen Emanzipationsgeschichte des britischen Bürgertums, die vor allem durch eine grundsätzliche Offenheit der adligen Elite ermöglicht wurde. Die neuere Forschung konnte zeigen, daß dies nur begrenzt der Fall war und der britische Adel sich auch im späten 19. Jahrhundert durchaus eine ökonomische und soziale ­Eigenständigkeit bewahren konnte, und vielmehr das aufsteigende Bürgertum sich sozial und kulturell an die aristokratische Oberschicht zu assimilieren suchte. Daher „erscheint das Konzept der ‚Feudalisierung des Bürgertums‘ nirgendwo ­angemessener als in England“.1 In diese der aristokratischen Tradition verpflichteten politischen und sozialen Elite wurden die Neo-Tories in den letzten fünf bis fünfzehn Jahren des 19. Jahrhunderts hineingeboren. Die meisten Neo-Tories wuchsen in der Provinz oder in den Dominions auf. Ihre Sozialisation und Bildung erfuhren sie auf dem für sie vorgesehenen Weg: auf einer public school und anschließend entweder in Oxford oder Cambridge oder auf der Elite-Militärakademie Sandhurst. An diesen Institutionen lernten sie, sich mit dem Selbstbild einer mächtigen, weltbeherrschenden Nation zu identifizieren und als imperiale Elite zur Verfügung zu stehen.2 Zum Ersten Weltkrieg meldeten sie sich freiwillig und wurden in den Kämpfen auf dem europäischen Kontinent wie keine andere soziale Gruppe dezimiert. Ihre nach dem Krieg artikulierten Sehnsüchte nach nationaler Erneuerung entsprachen einer tatsächlichen gesellschaftlichen Herausforderung – durch die Frauenemanzipation, die Ausdehnung des Wahlrechts und den Aufstieg der Labour ­Party. Insbesondere für den Landadel bedeutete die Nachkriegssituation auch eine wirtschaftliche Herausforderung. Erbschaftssteuern, ‚aufgeblähter‘ Sozialstaat und eine ‚herzlose‘ Bürokratie hätten dafür gesorgt, so die rechtskonserva­ tive Morning Post im Juli 1932, daß in den letzten zehn Jahren der Landadel ­erheblich geschrumpft sei. Mit dem Landadel sei die bedeutsamste Resource

1

Weisbrod, Der englische „Sonderweg“ in der neueren Geschichte, S. 239. Vgl. zur Kritik an der Feudalisierungsthese Harmut Berghoff und Roland Möller, Unternehmer in Deutschland und England 1870–1914. Aspekte eines kollektiv-biographischen Vergleichs, in: Historische Zeitschrift 255 (1993), S. 353–386; Hartmut Berghoff, Aristokratisierung des Bürgertums? Zur Sozialgeschichte der Nobilitierung von Unternehmern in Preußen und Groß­ britannien 1870–1918, in: Vierteljahrshefte für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 81 (1994), S. 178–209; Dolores L. Augustine, Patricians and Parvenus. Wealth and High Society in ­Wilhelmine Germany, Oxford 1994. 2 Die Funktion der Universitäten Oxford und Cambridge für die Schaffung einer „imperialen Elite“ betont Sonja Levsen, Elite, Männlichkeit und Krieg. Tübinger und Cambridger Studenten 1900 bis 1929, Göttingen 2006, S. 149 f. Vgl. hierzu auch Raul R. Deslands, Oxbridge Men. British Masculinity and the Undergraduate Experience, 1850–1920, Bloomington 2005.

22   2.  Lost Generation? Großbritanniens verlorengegangen: „an apparently inexhaustible reservoir of ­administrators and fighters, reared and educated for service and leadership“.3 Sozialgeschichtlich lassen sich die Neo-Tories somit klar von den britischen Faschisten trennen, deren Mitglieder meist der unteren Mittelschicht entstammten.4 Der Neo-Toryismus war eindeutig ein Phänomen der Bildungselite. Seine Vertreter waren Schriftsteller, Journalisten, Publizisten, Akademiker und Politiker. Im weitesten Sinne handelte es sich um Intellektuelle, die schreibend die Politik zu beeinflussen suchten – also um „bidimensionale Wesen“5 zwischen der world of letters und der world of politics. Die Grenzen waren dabei fließend. Abgeordnete wie Viscount Lymington oder Arnold Wilson schrieben Bücher und Artikel und taten sich als Herausgeber von Zeitschriften hervor, während sich Publizisten wie Douglas Jerrold und Charles Petrie um Kandidaturen für die Konservative Partei bemühten oder sie zumindest in Erwägung zogen. Der elitäre Charakter des Neo-Toryismus zeigt sich auch in seinen Adressaten. Denn die Neo-Tories schrieben und redeten nicht für die breite Öffentlichkeit, sondern im wesentlichen für ihre Klasse. So wie sie das Land nicht über eine ­politische Massenbewegung zu verändern suchten, so galten ihre Bücher, Artikel, Pamphlete und Reden der eigenen Schicht – also jenen wenigen Zehntausenden, die die English Review lasen oder Mitglied im Right Book Club waren. Als Francis Yeats-Brown im Frühjahr 1939 eine neue rechte Wochenzeitschrift gründen wollte, schätzte er die Größe von „our class“ auf 50 000.6 Diese 50 000 waren das natürliche Umfeld der Neo-Tories. Und selbst wenn sie sich – über die intellektuelle Vorherrschaft der linken ‚Intelligenzija‘ ärgernd7 – an einen weiteren Kreis wenden wollten, um der Linken Teile der ‚jungen Intelligenz‘ abspenstig zu machen, so rechneten die Neo-Tories, wie Yeats-Brown in seinem Wochenzeitungsprojekt,

3

The Morning Post, 21. 7. 1932. Gerald C. Webber, Patterns of Membership and Support for the British Union of Fascist, in: Journal of Contemporary History 19 (1984), S. 575–606; Stuart Rawnsley, The Membership of the British Union of Fascists, in: Kenneth Lunn und Richard Thurlow (Hrsg.), British Fascism, London 1980, S. 150–165; Zur Rolle der Frau in der BUF: Julie V. Gottlieb, Feminine Fascism. Women in Britain’s Fascist Movement, London 2000. 5 Pierre Bourdieu, Die Intellektuellen und die Macht, Hamburg 1991, S. 42. 6 Francis Yeats-Brown an Arthur Bryant, 26. 5. 1939, Liddell Hart Centre for Military Archives, Bryant E 39/24A. 7 Der English Review-Autor Arnold Lunn erklärte auf einer Veranstaltung der Friends of Nationalist Spain zur Dominanz der politischen Linken in intellektuellen Kreisen: „First you will find a tendency for University professors to go Red. Secondly you will find a widespread ­conviction that if man is intelligent enough to string together three sentences, he must be a ­Socialist. A year ago I was lecturing on the Spanish war in London, and a Duchess came up to me before my lecture, and said: ‚I know your views, Mr. Lunn, but I must warn you that if you attack Franco too savagely I shall leave the room.‘ Why did she make this strange observation? Because unfortunately the Creator has given me the kind of face which you sometimes see among the less intelligent members of the intelligentsia. Her Grace therefore assumed that because I belonged to the intelligentsia I was a Communist.“ Friends of Nationalist Spain, The Case of Nationalist Spain as Presented at the Great Queen’s Hall Meeting, 23. March 1938, London 1938, S. 14. 4

2.1.  Die ‚verlorene‘ Generation   23

mit lediglich weiteren 100 000 Adressaten.8 Das politische Projekt der Neo-Tories richtete sich somit an einen Bruchteil der britischen Bevölkerung. Demokratische Wahlen konnte man so nicht gewinnen. Dies war aber auch nicht das Ziel der Neo-Tories, denn sie wollten ganz im Gegenteil das Wahlrecht beschneiden oder ganz abschaffen. Typologisch gesehen waren die Neo-Tories um 1890 geborene Männer der gesellschaftlichen Elite aus Industrie- und Handelsbürgertum und niedrigem Adel. Dieser Hintergrund führte nicht notwendigerweise zu autoritären und antide­ mokratischen Gesellschaftsvorstellungen. Aber erklärbar und abgrenzbar ist der ­Neo-Toryismus ohne eine Untersuchung von Herkunft, Sozialisation und Gruppenbildung seiner Protagonisten nicht. Daher werden im folgenden die wichtigsten kollektiven Charakteristika der Neo-Tories anhand von exemplarischen Repräsentanten herausgearbeitet und zu einer Gruppenbiographie verdichtet.

2.1.  Die ‚verlorene‘ Generation Der englische Schriftsteller Wyndham Lewis bezeichnete 1937 den Journalisten und Publizisten Douglas Jerrold als „the brains of the Right“.9 In der Tat war Jerrold eine der wichtigsten Figuren der britischen Rechten: Er hatte netzwerkartige Verbindungen zur traditionellen konservativen Rechten, zur katholischen Rechten um Hilaire Belloc, aber auch internationale Kontakte zu Vertretern der europäischen Rechten.10 Als Herausgeber der Zeitschrift English Review als Chef des Verlags Eyre and Spottiswoode und als Aktivist in wichtigen Zirkeln wie dem Right Book Club oder den Friends of Nationalist Spain war er eine der zentralen Figuren der Neo-Tories. Douglas Jerrold wurde am 3. August 1893 in Scarborough, einem Küstenstädtchen in der nordostenglischen Provinz, geboren. Sein Vater, ein höherer Finanzbeamter in der lokalen Verwaltung, war Katholik, nicht sonderlich vermögend und trotz seiner kulturellen Verpflichtung gegenüber der aristokratischen Tradi­tion ein überzeugter Liberaler. Jerrold schrieb retrospektiv: „I had been brought up in the Gladstonian tradition, and to me it was axiomatic that the voice of the House of Commons majority was the voice of God, and that of the Lords the voice of   8 Francis

Yeats-Brown an Arthur Bryant, 26. 5. 1939, Liddell Hart Centre for Military Archives, Bryant E 39/24A.   9 Wyndham Lewis, Blasting and Bombardiering, London 1937, S. 306. 10 Auch in der neuen Rechten des 21. Jahrhunderts hat man Douglas Jerrold als intellektuellen Vorreiter wiederentdeckt. Das 1993 gegründete Magazin Right Now! veröffentlichte in der Juli/August-Ausgabe 2003 ein begeistertes Portrait von Jerrold in der Reihe „Writers of the Right“. Right Now! wird von dem ehemaligen Führer der irischen neonazistischen Social Action Initiative, Derek Turner, herausgegeben und konnte eine Reihe von Tories aus der Umgebung der Anti-EU-Bewegung für Beiträge gewinnen. Der Abgeordnete Andrew Hunter mußte gar sein Amt in Iain Duncan Smiths Kampagne für den Parteivorsitz abgeben, weil er sich für das Magazin eingesetzt hatte. Dazu: Who’s Who. he Conservative Right and the Anti-EUMovement, Searchlight, Januar 2003, S. 2.

24   2.  Lost Generation? Satan.“11 Jerrold genoß eine klassische Bildung an der Westminster School und bekam als sehr guter Schüler ein Stipendium für Neuere Geschichte am New College in Oxford. Hier schloß er Freundschaft mit Arnold Lunn12 und dessen Bruder Hugh Kingsmill13 – beide spätere journalistische Mitstreiter in der English Review. Bereits während des Studiums betätigte sich Jerrold als Herausgeber einer Zeitschrift, der Oxford Fortnightly, und kam in Kontakt mit der Londoner Intellektuellenszene.14 Insbesondere geriet er in den Bannkreis der literarischen Avantgarde um die Zeitschriften New Age, New Witness, Nation und New Statesman.15 Die journalistischen Feldzüge Hilaire Bellocs und Cecil Chestertons gegen die parlamentarische Demokratie in den Jahren 1912/13 hinterließen einen bleibenden Eindruck.16 In den Intellektuellen-Cafés des Bloomsbury-Viertels knüpfte er viele Kontakte, u. a. zu Wyndham Lewis und dem Philosophen Thomas Ernest Hulme. Der 1917 im Krieg gefallene Hulme beeindruckte den jungen Jerrold nachhaltig: „Hulme had an original and powerful mind, anti-pacifist, anti-romantic, antihumanist; he must, had he lived, have become one of the major prophets of the intellectual counter-revolution so long delayed in this romantic island, but now at last on the way.“17 Jerrold beendete sein Studium nicht mit einem Abschluß, ­sondern verließ die Universität 1914, um als Freiwilliger in den Krieg zu ziehen. Er diente in der Royal Naval Division, kämpfte auf den Dardanellen und in Frankreich und wurde schwer verwundet.18 Wie so viele seiner männlichen Altersgenossen in Europa war der bei Kriegsausbruch Einundzwanzigjährige begeistert von einer vermeintlich alle Klassengrenzen 11 Douglas

Jerrold, Georgian Adventure. The Autobiography of Douglas Jerrold, London S. 16. Jerrolds publizistisch-politischer Weggefährte, Charles Petrie, hatte aller Freundschaft zum trotz (Jerrold wurde Patenonkel von Petries Sohn Peter) ein ambivalentes Verhältnis zu ihm, das er u. a. auf dessen ‚Konvertierung‘ vom Liberalismus zum Konservatismus zurückführte: „I only discovered to-day that he is a converted Liberal which explains a great deal.“ Tagebücher Charles Petrie, 16. 5. 1932. 12 Arnold Lunn (1888–1974) ging nach der Schulausbildung in Harrow auf das Balliol College in Oxford und kam 1915 in einer Ambulanzeinheit nach Frankreich. Der Journalist und Publizist stieß als konvertierter Katholik in den frühen dreißiger Jahren zum English-ReviewZirkel und avancierte zu einem der glühendsten Franco-Unterstützer der Gruppe. 13 Hugh Kingsmill, geb. als Hugh Kingsmill Lunn (1889–1947) ging nach der Schulausbildung in Harrow auf das New College in Oxford, 1917 geriet er in Kriegsgefangenschaft. In den dreißiger Jahren wurde er Literaturkritiker der English Review. 14 Frederick Hale, „The Brains of the Right“ Emergent. Douglas Jerrold and The Oxford Fortnightly, in: Bodleian Library Record 18 (2004), S. 379–400. 15 Tom Villis revidiert die bisher gängige Auffassung von den Zeitschriften New Witness und New Age als lediglich künstlerische Foren für eine literarische Avantgarde und betont zu Recht die explizit politische Programmatik dieser Zeitschriften und ihrer Autoren: „Many of their ideas, however, combined elements of the socialist left and the new radical right. These pages are the clearest expression in Britain of the kind of cultural rebellion that in countries such as Italy, France and Germany fed into fascism.“ Tom Villis, Early Modernism and Exclusion. The Cultural Politics of Two Edwardian Periodicals, in: University of Sussex Journal of Contemporary History 5 (2002), S. 1. 16 Jerrold, Georgian Adventure, S. 97 f. 17 Ebd., S. 92. 18 Ebd., S. 193. 21938,

2.1.  Die ‚verlorene‘ Generation   25

übergreifenden patriotischen Stimmung. Tatsächlich kann jedoch in Großbritannien – ähnlich wie in Deutschland – von einem alle sozialen und regionalen Unterschiede nivellierenden patriotischen ‚Augusterlebnis‘ keine Rede sein. Vielmehr erscheint es so, daß patriotische Schwärmer der konservativen Eliten wie Douglas Jerrold ihr eigenes ‚Erweckungserlebnis‘ auf die gesamte Gesellschaft übertrugen und nicht wahrnahmen oder nicht wahrnehmen wollten, daß insgesamt der Kriegsausbruch nicht mit Begeisterung, sondern mit einer „widerwilligen Akzeptanz des Unvermeidlichen“19 aufgenommen wurde. Um so größer war dann bei diesen Eliten die Enttäuschung, daß nach der Kriegsheimkehr von ­diesem (konstruierten) nationalen Gemeinschaftserlebnis nicht mehr viel übrig war: How often, like every other young officer in every army, had I discussed with my friends what we should do on the first night of peace. Never really believing that we should be alive, we had planned the most fantastic happenings. Here was the reality, and I was surrounded, far away from my friends, by a howling mob, composed mainly of women and Dominion troops going mad. […] the crowd that cheered the Armistice was vastly different from the crowd that cheered the King at Buckingham Palace on August 4, 1914. That was the real England then. Was this the real England of 1918, I wondered. I wonder still.20

Die tiefe Enttäuschung, die Jerrold hier artikuliert, hat jedoch noch eine weitere und möglicherweise noch wichtigere Komponente: Anders als im Deutschen Reich gab es in Großbritannien bis Mai 1916 keine Wehrpflicht. Die 2,5 Millionen Freiwilligen, die sich bis Anfang 1916 meldeten, repräsentierten allerdings keinesfalls den Bevölkerungsdurchschnitt. Überproportional hoch war der Anteil der gesellschaftlichen Elite, junge Männer, die auf einer public school erzogen wurden, zum Studium nach Cambridge oder Oxford gingen und dann 1914 wie Jerrold mit ihren Kommilitonen begeistert in den Krieg zogen.21 Der zeitgenössische ­Mythos von der ‚verlorenen‘ Generation hat bezüglich dieser jungen Elite einen besonderen Wahrheitsgehalt. Robert Wohl schreibt in seiner vergleichenden Untersuchung The Generation of 1914: „The term ‚missing generation‘ in England meant ‚missing elite‘. ‚Missing elite‘ meant the decimation, partial destruction, and psychological disorientation of the graduates of public schools and universities who had ruled England during the previous half-century.“22 In diesem Sinne notierte auch Duff Cooper (1890–1954), der spätere konservative Abgeordnete, Minister und britische Botschafter in Paris, im August 1915 in sein Tagebuch: „When I think of Oxford, I see nothing but ghosts“.23 19 Sven

Oliver Müller, Die Nation als Waffe und Vorstellung. Nationalismus in Deutschland und Großbritannien im Ersten Weltkrieg, Göttingen 2002, S. 76. 20 Jerrold, Georgian Adventure, S. 219. 21 Müller, Die Nation als Waffe und Vorstellung, S. 78; Jay M. Winter, Die Legende der „verlorenen Generation“ in Großbritannien, in: Klaus Vondung, Kriegserlebnis. Der Erste Weltkrieg in der literarischen Gestaltung und symbolischen Deutung der Nation, Göttingen 1980, S. 115–145. 22 Robert Wohl, The Generation of 1914, Cambridge (Massachusetts) 1979, S. 120. 23 John Julius Norwich (Hrsg.), The Duff Cooper Diaries. 1915–1951, London 2005, S. 14. Vgl. zu den Tagebüchern Bernhard Dietz: Rezension von: John Julius Norwich (Hrsg.), The Duff Cooper Diaries. 1915–1951, London 2005, in: sehepunkte 6 (2006), Nr. 11 [15. 11. 2006], URL: http://www.sehepunkte.de/2006/11/10204.html.

26   2.  Lost Generation? Das Gefühl, einer ‚verlorenen‘ Generation anzugehören, prägte ganz entscheidend die Selbstwahrnehmung der Neo-Tories. Der englische Journalist Rolf Gardiner schrieb in einem Brief an den deutschen Doktoranden Günter Hellmann Ende der dreißiger Jahre rückblickend über seine Generation: Wir hatten ein freiwilliges Heer. 1914/15 meldete sich faktisch die Auslese der 1880 bis 1898 Geborenen. Die Blüte Englands wurde geopfert. Unser ganzer Jungadel fiel an der Somme und bei Ypern. Die, die 1916–1918 herankamen, waren zweite und dritte Garnitur. Sie kehrten zurück entzaubert, müde, kriegeskrank [sic!]. Diese Generation, deren Beste völlig fehlten, weit mehr als bei denjenigen Völkern, die einen gewöhnlichen Heeresdienst kannten, hat 1920–30 versagt, England in das 20. Jahrhundert zu führen. Die während des Krieges geborene Genera­ tion wuchs auf im Schatten eines demoralisierten, skeptischen Frontsoldatentums und wurde undiszipliniert, richtungslos, schlampig und negativ. So haben wir zweiundeinehalbe Genera­ tion entweder tatsächlich oder moralisch ‚verloren‘.24

Tatsächlich läßt sich anhand der offiziellen Militärstatistiken nachweisen, daß ­keine andere gesellschaftliche Gruppe mit größerer Wahrscheinlichkeit ihr Leben im Krieg ließ als junge Angehörige der Universitäten Oxford und Cambridge, die sich in den ersten beiden Jahren des Krieges freiwillig gemeldet hatten. Der Besuch einer Universität war in Großbritannien vor dem Krieg immer noch einer kleinen sozialen Elite vorbehalten.25 Dies gilt erst recht für Oxford und Cambridge, wo am Vorabend des Ersten Weltkriegs jährlich 8000 Studenten studierten. Von den 1910 bis 1914 immatrikulierten Kriegsteilnehmern der Universitäten Oxford und Cambridge ließen 29% bzw. 26% ihr Leben im Ersten Weltkrieg.26 Entsprechend waren die aus dem Krieg heimgekehrten ‚Oxbridge Men‘ in der Tat eine winzige soziale Gruppe. Der überproportional hohe Anteil der studentischen Elite an den Gefallenen ist zum Teil auf die nötigen materiellen Voraussetzungen für ein freiwilliges Eintreten in die Armee und auf die geringe Tauglichkeitsquote in der Arbeiterschaft zurückzuführen. Vor allem beruhte die hohe Sterblichkeitsrate gerade im unteren Offizierskorps auf erhöhtem Einsatzwillen und großer Risiko­bereitschaft.27 Die junge Elite wurde durch den Krieg nicht nur erheblich dezimiert, sondern sah ihre soziale Funktion als natürlicher Nachwuchs der herrschenden Klasse im Nachkriegs-England entscheidend bedroht. Die Unzufriedenheit mit der politi24 Rolf

Gardiner, Brief an Günter Hellmann, zitiert nach Günter Hellmann, Ideen und Kräfte in der englischen Nachkriegsjugend, Breslau 1939, S. 30. 25 1911 hatte Cambridge 3 970 und Oxford 3400 Studenten. Mit den in den Jahrzehnten zuvor gegründeten 13 weiteren Universitäten gab es 1911 in ganz Großbritannien 26 000 Studenten. Ihre Zahl erhöhte sich zwar in den folgenden Jahren, doch die 5900 Cambridger, die 4400 Oxforder und die 35 000 Studenten anderer Universitäten von 1921 waren immer noch eine kleine Gruppe. Die Zahlen entstammen den Tabellen 1 und 2 bei Roy Lowe, The Expansion of Higher Education in England, in: Konrad H. Jarausch (Hrsg.), The Transformation of Higher Learning 1860–1930. Expansion, Diversification, Social Opening and Professionalization in England, Germany, Russia and the United States, Stuttgart 1982, S. 45. Vgl. dazu auch ders., English Elite Education in the Late 19th and Early 20th Centuries, in: Werner Conze und Jürgen. Kocka (Hrsg.), Bildungssystem und Professionalisierung in internationalen Vergleichen (Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert, Bd. 1), Stuttgart 1985, S. 147–162. 26 Winter, Die Legende der „verlorenen Generation“ in Großbritannien, S. 141. 27 Ebd.

2.1.  Die ‚verlorene‘ Generation   27

schen Situation mischte sich mit realen Statusängsten. Die Söhne aus ‚aristokra­ tisiertem‘ Bürgertum und traditionellem Adel waren erzogen worden, um ein Weltreich zu lenken. Nach dem Krieg mußten sie feststellen, daß die Welt sich verändert hatte: Gefragt waren keine Kriegshelden, sondern Fachleute, um innerhalb eines bürokratischen Apparats eine urbanisierte und industrialisierte Massendemokratie zu verwalten. Es ist bezeichnend, daß Douglas Jerrold in der oben zitierten Passage seine Siegesstimmung zum Kriegsende durch einen „howling mob, composed mainly of women and Dominion troops“ verdorben sah – denn einmal abgesehen von Jerrolds chauvinistischer Polemik waren die Emanzipa­ tionsbewegungen der Frauen und der britischen Kolonien ja tatsächlich markante Manifestationen jenes Wandlungsprozesses, der die traditionelle Elite herausforderte. Der Kampf gegen diese Entwicklungen gehörte in der Folge zum publizistischen Tagesgeschäft derjenigen, die sich wie Jerrold genötigt sahen, in Opposition zu gehen – in Opposition zur Führung der Konservativen Partei, in Opposition zur parlamentarischen Demokratie und teilweise in Opposition zur politischen und sozialen Realität. Zur Selbstwahrnehmung als ‚verlorene‘ Generation gehörte bei vielen ehemaligen Soldaten auch ein fundamentales Gefühl des Unverstandenseins. Dies teilten die Neo-Tories mit anderen Weltkriegsheimkehrern. In der Veteranenzeitung British Legion Scottish Journal heißt es in einem aufschlußreichen Artikel aus dem Jahr 1929 mit dem Titel „We Are the Missing Generation“, daß es anders als bei anderen Nationen in Großbritannien nicht übertrieben sei, davon zu sprechen, daß der Krieg eine ganze Generation zerstört habe. Und auch die Überlebenden seien nie wirklich zu Hause angekommen, sondern lebten in einem schwierigen Zustand der Isolation: „Our ex-soldiers belong neither here nor there. A chasm divides them from youngsters; and the chasm that always did divide them from the older folk has never been bridged. They are an anachronism, an inconvenient survival; or so they themselves sometimes secretly feel. They are the lonely ghosts of a vanished generation.“28 Aus dem verborgenen Gefühl, ein Anachronismus, ungebrauchte Überlebende zu sein, wurde bei den Neo-Tories ein zynisches, zuweilen zorniges Aufbegehren gegen den Rest der Gesellschaft, gegen die ‚ignorante‘ Masse. Hinzu kam eine Selbststilisierung als Elite, nicht nur durch Herkunft und Bildung, sondern vor ­allem auch durch die Kriegserfahrung. In den Kriegserinnerungen von Charles ­Edmonds29 wird dieses Lebensgefühl, zu einer unverstandenen und vom Rest der Gesellschaft getrennten, ‚geheimen Armee‘ zu gehören, ausdrucksvoll beschrieben: Middle-aged men, strenuously as they attempt to deny it, are united by a secret bond and separated by a mental barrier from their fellows who were too old or too young to fight in the Great War. Particularly the generation of young men who were soldiers before their characters had 28 Gerald

Bullett, We are the Missing Generation, in: British Legion Scottish Journal 5 (April 1929), S. 25. 29 Charles Edmund Carrington (1897–1990) kämpfte als Offizier in der British Army während des Ersten Weltkriegs und veröffentlichte seine Kriegserinnerungen, A Subaltern’s War, unter dem Pseudonym Charles Edmonds in 1929.

28   2.  Lost Generation? been formed, who were under twenty-five in 1914, is conscious of the distinction, for the war made them what they are.30

Über ihre Kriegserfahrungen, so Edmonds weiter, konnten und wollten die ehemaligen Soldaten nicht sprechen und wenn sie es doch taten, dann nur mit rauhem Zynismus.31 Allerdings blieb es nicht bei diesem Schweigen. Wie sehr einige diese Männer aufbegehrten, als um 1929/30 eine Welle von Kriegsbüchern publiziert wurden, in denen ausführlich Angst und Leid des Einzelnen und die Sinn­ losigkeit des Krieges dargestellt wurden, wird im Kapitel „The lie about the war“ gezeigt.32 Zuvor gilt es jedoch das soziale Umfeld nachzuzeichnen, in dem die Neo-Tories ihre beruflichen Karrieren und ihre politischen Aktivitäten begannen.

2.2  Journalisten und Politiker am rechten Rand der Konservativen Partei Douglas Jerrold begann nach dem Krieg zunächst eine Ministerialkarriere, doch die letzten Jahre von Lloyd Georges Koalitionsregierung zerstörten endgültig sein Vertrauen in den politischen Liberalismus.33 1923 verließ er die Politik, stieg in das Verlagsgeschäft Ernest Benns34 ein und wurde schließlich 1929 Direktor des Verlags Eyre & Spottiswoode, ein Verlag, der – neben der offiziellen Version der Bibel – in den frühen zwanziger Jahren die Protocols of the Elders of Zion im Programm hatte. Zu einem führenden Kopf der intellektuellen Rechten avancierte Jerrold ­allerdings erst 1931, als er die Herausgeberschaft des konservativen und einfluß­ reichen Monatsjournals The English Review übernahm. Neben den prominenten Schriftstellern Hilaire Belloc, Roy Campell, Wyndham Lewis und T.S. Eliot waren es laut eigener Aussage u. a. die Journalisten John Squire,35 Alan Herbert,36 Dou30 Charles 31 Ebd. 32 Vgl.

Edmonds, A Subaltern’s War, London 1929, S. 192 f.

Kap. 3.1. Mr. Douglas Jerrold, The Times, 23. 7. 1964. 34 Der Verleger Sir Ernest Benn (1875–1954) war politisch zunächst ein Liberaler, driftete aber zum Ende der zwanziger Jahre zur politischen Rechten. Der berühmte Ökonom John Maynard Keynes bezeichnete Benn als Führer jener „very extreme Conservatives“, die es sich zum Ziel gesetzt hätten, „to undo all the hardly-won little which we have in the way of conscious and deliberate control of economics forces for the public good, and replace it by a return to chaos.“ John Maynard Keynes, Industry, Economics, Currency, and Trade, zit. nach Webber, The Ideology of the British Right, S. 83. 35 Jerrold schreibt von Jack Squire, gemeint ist mit ziemlicher Sicherheit der Journalist John Squire (1884–1958), Cambridge-Absolvent, Gründer und Verleger des London Mercury und Vorsitzender des January Clubs, ein 1934 gegründeter Debatierclub für konservative Sympathisanten des Faschismus. Vgl. Kap. 5.2. 36 Alan Patrick Herbert (1890–1971) war Oxford-Absolvent und kämpfte wie Jerrold im Hawke Battailon in der Royal Navy Division. Ab 1924 war er Journalist für die Zeitschrift Punch und saß als unabhängiger Abgeordneter für Oxford University von 1935–1950 im Unterhaus. [Oxford University war von 1603 bis 1950 ein eigener Wahlkreis, der durch zwei Abgeordnete im House of Commons vertreten wurde, B.D.] 33 Obituary

2.2  Journalisten und Politiker am rechten Rand   29

glas Woodruff,37 John Morton,38 Basil Liddell Hart39 und Edmund Blunden,40 die Jerrold zu diesem Schritt bewogen.41 Über Jerrolds Einfluß auf dieses traditions­ reiche Blatt schrieb die Times 1964: „Under him, the paper became the rallying ground of intellectual Toryism in the 1930s, and as such attracted a brilliant group of writers.“42 Tatsächlich war die English Review schon vor Jerrolds Übernahme ein Organ der intellektuellen Rechten.43 Jerrold selbst schrieb ab 1929 seine monatlichen Current Comments, und bereits seit Mitte der zwanziger Jahre wurde die Zeitschrift Plattform einer programmatischen Neubestimmung des Konservatismus. Unter anderem zeichnete sie sich durch ein großes Interesse an der Action Française und durch eine rege Rezeption des italienischen Faschismus aus. Neben älteren Vertretern der radikalen Rechten wie Lord Sydenham of Combe44 lieferten auch spätere Gefolgsleute Jerrolds, darunter Charles Petrie, ihre ersten Beiträge für die English Review. Petrie war zwei Jahre jünger als Jerrold und kam wie dieser nicht aus London. Aufgewachsen ist Petrie als Sohn einer alten aber verarmten Adelsfamilie in Liverpool.45 Seine frühe Sozialisation war geprägt von einem äußerst sittenstrengen, großbürgerlichen Milieu und seinem germanophilen Vater, der viele Jahre Vorsit37 Douglas

Woodruff (1897–1978) kämpfte im Ersten Weltkrieg, studierte Geschichte am New College in Oxford, schrieb für die Times und wurde Herausgeber der katholischen Zeitschrift The Tablet. 38 John Cameron Andrieu Bingham Michael Morton, bekannt als J. B. Morton (1893–1975), ging auf die „public school“ Harrow, dann auf das Worcester College in Oxford und meldete sich 1914 zum Kriegsdienst. Nach der Schlacht an der Somme wurde er 1916 mit einer Kriegsneurose nach Hause geschickt. Morton war Katholik und gehörte zum ChestertonBelloc-Kreis und ebenso zum Kreis um John Squire. Er schrieb über 50 Jahre für den Daily Express, 1933 allerdings auch für den proto-faschistischen Everyman. 39 Basil Liddell Hart (1895–1975) brach sein Studium am Corpus Christi College in Cambridge 1914 ab, um im Ersten Weltkrieg zu kämpfen. Er avancierte nach dem Krieg zu einem führenden Militärhistoriker und schrieb als Militärkorrespondent für den Daily Telegraph (1925– 1935), die Times (1935–1939) und die Daily Mail (1939–1945). 40 Edmund Blunden (1896–1974), Oxford-Absolvent, war aktiver Teilnehmer am Ersten Weltkrieg und wurde als „war poet“ einer der bekannteste Kriegsschriftsteller seiner Zeit. Blunden hatte enge Kontakte zur Jugendbewegung um den Verleger Rolf Gardiner, der einen intensiven Austausch mit der deutschen Jugendbewegung, speziell mit der Deutschen Freischar und dem Alt-Wandervogel organisierte. 41 Jerrold, Georgian Adventure, S. 332. 42 Obituary Mr. Douglas Jerrold, The Times, 23. 7. 1964. 43 In der Forschungsliteratur beginnt das Interesse für die English Review erst mit dem Jahr 1931: Griffiths, Fellow Travellers of the Right, S. 21–23; Webber, The Ideology of the British Right, S. 42 f.; Bauerkämper, Die radikale Rechte in Großbritannien, S. 204; Corrin, Catholics Intellectuals and the Challenge of Democracy, S. 179; bzw. mit dem Jahr 1933: Stone, Responses to Nazism in Britain, S. 132–138. 44 Lord Sydenham of Combe (1848–1933), bis 1913 Gouverneur von Bombay, war Mitglied in einer Reihe von faschistischen Verbänden wie den Britons und dem „Centre International d’Etudes sur la Fascisme.“ In den frühen dreißiger Jahren war er als Gründer der Indian Empire Society einer der führenden Vertreter der radikalkonservativen Opposition gegen die Indien-Politik der Regierung und gegen die Führung der Konservativen Partei. 45 Obituary Sir Charles Petrie, The Times, 14. 12. 1977.

30   2.  Lost Generation? zender der Liverpooler Konservativen war. Als der Krieg ausbrach, meldete Petrie sich freiwillig, wurde jedoch wegen seiner schlechten Augen abgelehnt. Erst im Herbst 1915 wurde er zugelassen und unterbrach sein Studium der Geschichte am Corpus Christi College in Oxford. Wegen seiner starken Kurzsichtigkeit blieb ihm der Fronteinsatz erspart. Nach Kriegsende zeigte sich auch Petrie schnell über den Kriegsausgang desillusioniert. In seinen Erinnerungen schildert er die Feier­ lichkeiten am 11. November 1918: „As I was going home on the District [District Line, eine Linie der Londoner U-Bahn, B.D.] to my flat in Queen’s Gate a rather drunk woman got into the carriage, and kept on repeating, ‚We’ve won the bloody war, but we’ll lose the bloody peace: you see if we don’t.‘ In vino veritas.“46 Nach dem Krieg beendete Petrie sein Studium und publizierte in den frühen zwanziger Jahren erste Artikel für verschiedene Zeitschriften, bevor er 1925 assistant editor der Wochenzeitung Outlook wurde. Sein Interesse galt neben Italien vor allem Spanien. Petrie lebte längere Zeit in Madrid und wurde zu einem Anhänger des spanischen Diktators Primo de Rivera, den er in einer Reihe von Interviews persönlich kennenlernte. In dem spanischen und italienischen Modell sah er zu diesem Zeitpunkt Vorbildcharakter für England. In einem bemerkenswerten Artikel für das Fascist Bulletin schrieb Petrie: I venture to trespass upon your space as a British Fascist who feels that the time has come when all those who are associated with our movement should seriously consider the position of our country today in the light of the need for, at any rate, a temporary dictatorship. During the past twenty years Great Britain has been governed by each political party and by various forms of coalition, and the result has been the present widespread social unrest and general instability.47

In allen Klassen, so Petrie weiter, sei der Sinn für Verantwortung verschwunden, und es habe sich ein Gefühl des Pessimismus breit gemacht. Seit 1918 sei das Regierungssystem unter der Beanspruchung beinahe zusammengebrochen, und von allen Seiten werde, wie in Italien und Spanien, die Frage gestellt, ob die existierende Verfassung mit den Nachkriegsproblemen fertig werden könne. „Personally, I am convinced that the only possible solution is the establishment of a dictatorship such as that to which the Romans had recourse in times of crisis and which General Primo de Rivera has established in Spain to-day.“48 Als britischen Faschisten bezeichnete sich Petrie in der Folge nicht mehr. Aber wie bei allen Neo-Tories war eine der Hauptmotivationen für Petries politisches Engagements der europaweite Kampf gegen die linke ‚Meinungsführerschaft‘. In einem Artikel für den rechtskonservativen Patriot schrieb er 1926: „The aim of all the Right parties in Europe should be to co-operate with one another in the fight against Communism, but this can hardly be the case when even Conservative papers allow themselves to become the organs of revolution.“49 Trotz seines Interesses für das italienische Modell und seiner Tätigkeit in diversen Organisationen zur Erforschung des korporativen Staats blieb Petries politische Heimat die Kon46 Petrie,

47 Charles 48 Ebd.

49 Charles

Chapters of Life, London 1950, S. 66. Petrie, Fascist Dictatorship, Fascist Bulletin, 10. 10. 1925. Petrie, Internationalism and the Press, The Patriot, 4. 2. 1926.

2.2  Journalisten und Politiker am rechten Rand   31

servative Partei. 1932 engagierte er sich für seinen Ortsverband und sondierte die Chancen für eine Kandidatur als Abgeordneter.50 Sein Verhältnis zu den britischen Faschisten um Oswald Mosley war geprägt von einer elitären Distanz. Dabei zeigten die Neo-Tories durchaus Interesse an Mosley und besuchten die öffentlichen Ansprachen des englischen Faschistenführers. Am 22. April 1934 nahm Petrie mit einer Reihe weiterer Neo-Tories an einer BUF-Veranstaltung in der Londoner Albert Hall teil: We were in a box with Lloyd, Luttman-Johnson, Alan Lennox-Boyd, and Yeats-Brown. It was all very dramatic, with spot lights etc., but Mosley spoke far too long – 1 ½ hours – and then answered questions, all carefully pre-arranged, for another hour. I agreed with about half he said, but the whole thing was very cheap, and went against the grain in me.51

Knapper und präziser als in diesem letzten Satz Petries läßt sich die Haltung der Neo-Tories zu Mosley wohl kaum ausdrücken. 1929 veröffentlichte Petrie sein erstes Hauptwerk The History of Government, in dessen letztem Kapitel „The Decline of Democracy“ er sich ausführlich mit der Etablierung antidemokratischer und autoritärer Regierungen in Portugal, in der Türkei und vor allem in Italien auseinandersetzte.52 Aus diesen Beobachtungen zog Petrie Schlüsse für die politische Zukunft Großbritanniens: „In preference to any breakdown in the administrative machinery or under any threat of revolution the British people would undoubtedly accept a dictator“.53 Das faschistische Italien beschäftigte Petrie auch weiterhin intensiv: 1931 erschien eine Biographie über Mussolini, und es folgte eine Vielzahl von Beiträgen zum italienischen Faschismus vor allem in der English Review, in der Nineteenth Century and After und in der Wochenzeitschrift Saturday Review. Petries offensichtliche Sympathie für den italienischen Faschismus bescherte ihm eine Einladung für den 1932 in Rom abgehaltenen Convegno Volta – einem Spitzentreffen europäischer Intellektueller und Politiker über dessen politische Tendenz auch die Anwesenheit liberaler Vertreter wie Stefan Zweig nicht hinwegtäuschen konnte.54 Außer zur italienischen hatte Petrie vor allem enge Verbindungen zur französischen Rechten –„mostly with the members of the Action Française“, so Petrie in seinen Erinnerungen.55 50 In

seinen Tagebuchaufzeichnungen heißt es im April 1932: „I spent some time at the Conservative offices this afternoon finding out what I could about the organisation of the division. […] I shall not take such a line as to commit myself too definitely in advance for I am not certain if I really want to go into Parliament, but there can be no possible harm in preparing for the eventuality.“ Tagebücher Charles Petrie, 12. 4. 1932. 51 Tagebücher Charles Petrie, 22. 4. 1934. 52 Charles Petrie, History of Government, London 1929, S. 151–184. 53 Ebd., S. 228. 54 Vgl. Kap. 4.4.2. 55 Petrie, Chapters of Life, S. 188. Er hatte Kontakte mit Léon Daudet, Pierre Gaxotte und mit dem Gründer der Action Française, Charles Maurras – allerdings sei dieser taub wie ein „Pfosten“ gewesen, „so conversation was impossible: he was a French Garvin, and all one could do was to listen.“ Ebd. Zur deutschen radikalen Rechten hatte Petrie, wie die meisten britischen Neo-Tories, wenig Kontakt. In seinen Erinnerungen berichtet Petrie von einem Treffen mit dem Nazi-Ideologen Alfred Rosenberg in seinem Haus in Kensington, das jedoch allein schon

32   2.  Lost Generation? In London gehörte Petrie zum engsten Kreis des sich um Douglas Jerrold ­ erausgebildeten English-Review-Zirkels. Über die eigentliche Redaktionsarbeit h hinaus traf sich dieser Zirkel in zweiwöchigem Abstand zu politischen Debatten. Es ging darum, so erinnerte sich Charles Petrie, „to use the Review as a platform for real Toryism as opposed to the plutocratic Conservatism represented by the official party under the then Mr. Baldwin’s uninspiring leadership.“56 Neben der intellektuellen Neubestimmung des Konservatismus bemühten sich Jerrold und seine Mitstreiter vor allem um den Kontakt zu oppositionellen Kräften innerhalb der Konservativen Partei. Diese Bemühungen hatten durchaus Erfolg, denn zu den Treffen des Zirkels kamen regelmäßig einige der namhaftesten Vertreter der innerparteilichen Opposition gegen Parteichef Baldwin. Neben dem ehemaligen Staatsekretär, Leopold Amery, der seit Ende der zwanziger Jahre zu einem der führenden Köpfe der außerparlamentarischen Interessensverbände aufgestiegen war, gehörten der ehemalige Minister Lord Carson, der 1938 in die Regierung aufrückende Earl of Winterton57 sowie der ehemalige Hochkommissar von Ägypten und dem Sudan und spätere Führer des House of Lords, Lord Lloyd, zum engsten Kern der politischen Unterstützung des English-Review-Zirkels.58 Insbesondere Lord Lloyd avancierte Ende 1933 zu einem politischen Hoffnungsträger der intellektuellen Rechten, als er von Teilen der rechten Presse – am entschiedensten durch Francis Yeats-Browns Wochenzeitschrift Everyman – als möglicher Diktator aufgebaut wurde. Diese Episode wird weiter unten ausführlich analysiert59 – zunächst soll mit Yeats-Brown ein weiterer Vertreter des engeren Kreises um Jerrold und Petrie vorgestellt werden. Francis Yeats-Brown (1886–1944) wurde als Sohn einer englischen Diplomatenfamilie in Genua geboren. Nach der Ausbildung in der traditionsreichen Privatschule Harrow ging er auf die Militärakademie in Sandhurst und anschließend – im Alter von 20 Jahren – nach Indien. Im Ersten Weltkrieg kämpfte er als Adjutant der Indian Army in Frankreich und schließlich mit dem Royal Flying Corps in Mesopotamien, wo sein Flugzeug hinter den türkischen Linien abgeschossen wurde und er zwei Jahre lang Kriegsgefangener war.60 1925 schied er aus der Armee aus und wurde assistant editor für die Wochenzeitung The Spectator. Weltberühmt wurde er mit dem Roman Bengal Lancer, der 1930 erschien und in Form seiner Lebensgeschichte eine ausdrucksvolle literarische Liebeserklärung an Indien ist. In seiner romantisch-imperialistischen Sichtweise und einem tiefen Verdeshalb sehr unergiebig verlaufen wäre, weil Rosenberg weder Englisch noch Französisch konnte. Ebd., S. 186. 56 Petrie, Chapters of Life, S. 129. 57 Edward Turnour, 6th Earl Winterton (1883–1962), war von 1904–1951 Abgeordneter für die Konservative Partei und ab 1938 für ein Jahr Kabinettsmitglied. Im selben Jahr leitete er die britische Delegation der Evian-Konferenz, auf der die Frage der jüdischen Flüchtlinge diskutiert wurde. 58 Jerrold, Georgian Adventure, S. 334; Petrie, Chapters of Life, S. 130. 59 Siehe Kapitel 6.1. 60 Von der Kriegsgefangenschaft zeugt sein erstes Buch: Francis Yeats-Brown, Caught by the Turks, London 1919.

2.2  Journalisten und Politiker am rechten Rand   33

bundenheitsgefühl für seine nicht-europäischen Kameraden war er seinem Freund und langjährigem Briefpartner, T.E. Lawrence – besser bekannt als Lawrence von Arabien – sehr ähnlich.61 Zu einer prominenten Figur der intellektuellen Rechten avancierte YeatsBrown, als er 1933 für wenige Monate Chefredakteur des Everyman war. Dessen Beiträge in dieser Zeit stammten ebenfalls von Mitgliedern des English ReviewZirkels. In der Folge wurde er Mitglied in Organisationen wie dem January Club und später in dem von dem konservativen Abgeordneten Archibald Ramsay ­gegründeten rechtsextremen und antisemitischen Right Club. Als entschiedener Verfechter eines korporativen Modells für Großbritannien galt seine publizistische Aufmerksamkeit dem faschistischen Italien, dem Bürgerkrieg in Spanien und einer entschiedenen Unterstützung der Appeasement-Politik. Die offenkundige Sympathie für das nationalsozialistische Deutschland schlug sich dann auch in seinem Werk European Jungle von 1938 nieder.62 Yeats-Brown, Petrie und Jerrold verfügten über wichtige Kontakte zum politischen Establishment, dennoch war ihr Einfluß auf die älteren Vertreter des imperialen, traditionell-rechten Flügels der Konservativen Partei begrenzt. Diese so­ genannten diehards – „men who are willing to ‚die in the last ditch‘ rather than surrender“63 – hatten sich vor dem Ersten Weltkrieg als Opposition gegen die ­eigene Parteiführung formiert, die sich nach einer langwierigen politischen Auseinandersetzung im Juli 1911 bereit sah, das von der liberalen Regierung vorangetriebene Parliament Bill, das die Macht des Oberhauses in Finanzfragen brechen sollte, anzunehmen. Diese innerparteiliche Oppositionsbildung um die diehards radikalisierte sich in der Auseinandersetzung um die Home-Rule-Gesetzgebung für Irland 1912–14.64 Nach dem Ersten Weltkrieg kämpfte dieser Strang des britischen Konservatismus für seine sozioökonomischen Partikularinteressen, vor allem aber für eine kompromißlose Haltung in der Verteidigung des Empire.65 61 Vgl.

Correspondence and papers of T.E. Lawrence, MS. Eng. d. 3339, fols. 181–92, 1696–1701, Bodleian Library, Western Manuscripts. 62 Obituary Major F. Yeats-Brown, The Times, 20. 12. 1944. Vgl. auch die (allerdings unkritische) Biographie John Evelyn Wrench, Francis Yeats-Brown, London 1948. 63 Gregory D. Phillips, The Diehards. Aristocratic Society and Politics in Edwardian England, Cambridge (Massachusetts) 1979, S. 1. 64 Phillips, The Diehards, S. 150–158. Vgl. hierzu auch David J. Dutton, Conservatism in Crisis: 1910–1915, in: Anthony Seldon und Stuart Ball (Hrsg), Recovering Power. The Conservatives in Opposition since 1867, Houndmills 2005, S. 113–33; David Powell, The Edwardian Crisis. Britain 1901–14, Houndmills u. a. 1996, S. 153–162; Ewen H.H. Green, The Crisis of Conservatism. The Politics, Economics and Ideology of the British Conservative Party, 1880–1914, Oxford 1995; John A. Hutcheson, Leopold Maxse and the National Review 1893–1914. Right-Wing Politics and Journalism in the Edwardian Era, New York 1989; Wolfgang Mock, Entstehung und Herausbildung einer ‚radikalen Rechten‘ in Großbritannien 1900–1914, in: Theodor Schieder (Hrsg.), Beiträge zur britischen Geschichte im 20. Jahrhundert (HZ, Beiheft 8, NF), München 1983; Gregory Phillips, Lord Willoughby de Broke and the Politics of Radical Toryism 1909–1914, in: Journal of British Studies 20 (1980), S. 205–224; Hans-Christian Schröder, Imperialismus und antidemokratisches Denken. Alfred Milners Kritik am politischen System Englands, Wiesbaden 1978. 65 Vgl. hierzu Kap. 4.2.3.

34   2.  Lost Generation? Ungleich leichter gelang Neo-Tories wie Jerrold der intellektuelle Austausch mit Altersgenossen, mit jungen Hinterbänklern im House of Commons, die ebenfalls desillusioniert über die politische und soziale Entwicklung nach politischen Alternativen suchten. Einer dieser Abgeordneten war Arnold Wilson. 1884 als Sohn eines Schulmeisters geboren, ging er nach der Schule wie Yeats-Brown auf die Militärakademie in Sandhurst. Nach Kriegsdienst und einer Imperialkarriere mit verschiedenen militärischen Posten im Nahen und Mittleren Osten sowie in Indien wurde er 1933 erstmals konservativer Abgeordneter und kam schnell in Kontakt mit der English Review-Gruppe. Wilson war eine umtriebige Figur zwischen Politik und Publizistik. Vier Jahre lang war er Herausgeber der angesehenen Monatszeitschrift Nineteenth Century and After. Er gehörte rechten Organisationen wie dem January Club und den Friends of Nationalist Spain an, beschrieb in mehreren Büchern seine positiven Eindrücke von persönlichen Treffen mit Hitler und Franco und vertrat seine prodeutsche, zuweilen antisemitische politische Meinung bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs auch wortgewaltig im Parlament.66 Auch andere Abgeordnete unter den Neo-Tories wie Patrick Donner,67 Alan Tindal Lennox-Boyd,68 Henry Page Croft69 vertraten ihre Vorstellungen nicht nur in Parlamentsdebatten, sondern schrieben Artikel für Zeitschriften wie die National Review oder English Review. Eine Trennlinie zwischen Politik und Journalismus gab es nicht. Karrieren führten aus dem Abgeordnetenhaus ins Redaktionsbüro und zurück. Die Herausgeberin der National Review hatte beispielsweise im Frühjahr 1933 dem Abgeordneten Patrick Donner ein Angebot für einen Redak­ tionsposten in ihrer Zeitschrift gemacht, woraufhin dieser erklärte „how deeply grateful I am to you for offering the National Review as a platform in the event of my defeat at the next election.“70 Für den intellektuellen und politischen Austausch der Neo-Tories noch wichtiger waren jedoch die politischen Clubs. In den 66 Vgl.

Obituary Sir Arnold Wilson, The Times, 28. 11. 1940. Patrick William Donner (1904–1988) wuchs in Helsinki auf und kam erst 1919 nach England, wo er am Exeter College in Oxford studierte. Bei der Wahl 1931 gewann er den Wahlkreis Islington West für die Konservativen, bei der Wahl 1935 dann den Sitz für Basingstoke, wo er gegen den Willen der Parteizentrale, dem Conservative Central Office, die Nachfolge von Viscount Lymington antrat. Donner war Mitglied der India Defence League und der ­Friends of Nationalist Spain. 68 Alan Tindal Lennox-Boyd (1904–1983), 1st Viscount Boyd, ging nach der Schulausbildung in Sherborne auf das Christ Church College in Oxford, wo er in den zwanziger Jahren mit der faschistischen Bewegung in Oxford in Berührung kam. 1929 kandidierte er erstmals und erfolglos für einen Sitz im Parlament, bevor er 1931 konservativer Abgeordneter für Mid-Bedfordshire wurde und den Sitz für den Rest seiner politischen Karriere verteidigte. LennoxBoyd war Mitglied des January Club, der Friends of Nationalist Spain und der United Chri­ stian Front. 69 Henry Page Croft, 1st Baron Croft (1881–1947), ging in Eton und Shrewsbury auf die Schule, studierte in Cambridge und wurde 1910 erstmals konservativer Abgeordneter. Bei Kriegsausbruch ging er nach Frankreich und führte 1915 eine Brigade. Croft hatte bereits 1917 mit der Gründung der National Party versucht, den Konservativen von rechts Konkurrenz zu machen. 70 Parick Donner an Lady Milner, 1. 6. 1933, Violet Milner Papers, Bodleian Library, Western Manuscripts, 39/UI 599/C 268/8. 67 Sir

2.2  Journalisten und Politiker am rechten Rand   35

traditionellen gentlemen’s clubs, aber auch in den neu gegründeten Organisationen wie dem English Review-Club oder dem January Club kamen Parlamentarier wie Hugh Molson,71 Henry Channon,72 Victor Raikes,73 Eric Long,74 Henry Drummond-Wolff75 und Adrian Baillie76 mit Journalisten und Publizisten zusammen. Einer dieser Abgeordneten war Viscount Lymington, der seit 1929 für die Konservative Partei im Parlament saß. „Literature and politics, especially Tory politics, mixed well in the House of Commons“, erinnerte sich Lymington,77 der ebenfalls dem English-Review-Zirkel angehörte. Lymington, mit bürgerlichem Namen Gerard Wallop, ist aufgrund seiner vielseitigen publizistischen Tätigkeit und seines Wirkens in diversen rechtsradikalen Verbänden bis zum Ende der dreißiger ­Jahre78 eine historisch äußerst interessante Figur jenes politisch-publizistischen Milieus am rechten Rand der Konservativen Partei. Der 1898 in Chicago als Sohn des damaligen Lord Portsmouth und einer amerikanischen Mutter geborene ­Lymington wurde zur Schule zurück nach England geschickt, war Kriegsteilnehmer in einem britischen Maschinengewehr-Regiment und studierte anschließend in Oxford Geschichte. Lymington wurde 1929 als konservativer Abgeordneter für Basingstoke in das Parlament gewählt, gab sein Mandat aus Protest gegen die Partei­führung 1934 auf79 und saß später als 9. Earl of Portsmouth im britischen Oberhaus.80 Schon früh geriet der junge Lymington in Konflikt mit der Parteiführung und schloß sich mit anderen ebenfalls jungen Tory-Abgeordneten zusammen, die seine Opposition zu Parteichef Stanley Baldwin teilten.81 Wie Jerrold, Petrie, Yeats71 Sir

Patrick Joseph Henry Hannon (1874–1963) war von 1921–1950 konservativer Abgeordneter für Birmingham Moseley. 72 Sir Henry „Chips“ Channon (1897–1958) war von 1935–1958 konservativer Abgeordneter für Southend und von 1950–1959 für Southend West. 73 Sir Henry Victor Alpin MacKinnon Raikes (1901–1986) ging auf die Westminster School und studierte am Trinity College, Cambridge. Bereits 1924 und 1929 kandierte er erfolglos in Ilkeston, bevor er 1931 für South East Essex für die Konservativen ins Parlament gewählt wurde. 74 Richard Eric Onslow Long (1892–1967) war von 1927–31 konservativer Abgeordneter für Westbury. Laut Charles Petrie war Long sehr beeindruckt von Oswald Mosley: „The Mosley meeting has impressed some people, notably Eric Long, but I have done a good deal to prevent them from becoming unduly optimistic.“ Tagebücher Charles Petrie, 23. 4. 1934. 75 Henry Maxence Cavendish Drummond-Wolff (1899–1982) ging in Radley zur Schule und dann auf die Militärakademie in Sandhurst. Im Ersten Weltkrieg kämpfte er im Royal Flying Corps. Er wurde 1934 konservativer Abgeordneter in einer Nachwahl in Basingstoke. 76 Adrian William Maxwell Baillie (1898–1947) ging in Eton zur Schule, dann auf die Militärakademie Sandhurst und kämpfte mit den Royal Scots Greys in Frankreich. Baillie kandierte erstmals erfolglos 1929 und übernahm sein erstes Abgeordnetenmandat 1931. 77 Viscount Lymington, A Knot of Roots. An Autobiography, London 1965, S. 117. 78 Griffiths, Fellow Travellers of the Right, S. 317–329. 79 Vgl. hierzu Kap. 4.2.3. 80 Lymington, A Knot of Roots, S. 99 f. 81 Zum engsten Kreis gehörten Michael Beaumont, der ebenfalls Mitglied der English Mistery wurde, Harold Balfour, der spätere Unterstaatssekretär für Luftfahrt (1938–44) sowie R.A. Butler, der spätere Finanzminister (1951–55), Innenminister (1957–62) und Außenminister (1963–64). Lymington, A Knot of Roots, S. 109 f.

36   2.  Lost Generation? Brown und Wilson gehörte er zum engen Kern der English Review-Gruppe. Gleichzeitig bemühte er sich auch um Kontakte zur europäischen Rechten. 1931 traf er sich gar mit Göring und Hitler.82 In Artikeln für die National Review, in der English Review und in der Morning Post artikulierte Lymington seine Vorstellung eines ‚wahren‘ Konservatismus, die mit dem aktuellen Partei-Konservatismus nichts gemein hatte. Seine Kritik an der Konservativen Partei und am par­ lamentarischen System insgesamt verband er mit einer Art Blut-und-BodenIdeologie. Sein zentrales Thema wurde die ‚Revitalisierung‘ der Gesellschaft auf der Basis einer Neuorganisation der Landwirtschaft und eugenischer Maßnahmen. Lymington wurde so im Laufe der dreißiger Jahre zu einer zentralen Figur einer völkischen und neoromantischen Landbewegung, die über den Publizisten Rolf Gardiner83 schon früh intensive Kontakte zur deutschen Jugendbewegung (Deutsche Freischar, Altwandervogel) unterhalten hatte, und aus der später über Organisationen wie English Array und British Council Against European Commitments und um Zeitschriften wie den New Pioneer entschiedene Unterstützer des Nationalsozialismus und einer britisch-deutschen Verständigungspolitik hervorgingen.84 Im Jahre 1931 erschien Lymingtons Hauptwerk Ich Dien. The Tory Path, in dem er anhand eines glorifizierten hoch-mittelalterlichen Merry England Liberalismus und Sozialismus als die historischen Kräfte identifizierte, die die spirituellen ­Wurzeln und die Gesundheit der Nation gefährdeten.85 Die Verbindung von Demokratiekritik mit eugenischen Forderungen teilte Lymington mit den anderen ­Mitgliedern der Geheimorganisation English Mistery, bei der er 1930 Mitglied ­wurde.86 Für deutsche Leser erklärte Rolf Gardiner im April 1936 in einer vom Deutschen Akademischen Austauschdienst veröffentlichten Zeitschrift die Ziele und Organisationsweise der English Mistery: Die Mitglieder dieses Bundes, der in organischen Gruppen und Landschaften, in Betrieben Betriebsleute und Werkleute zusammenbringt, nennen sich ‚Royalists‘. Sie wollen den König wieder zum aktiven Führer des englischen Volkes ­machen. Der König soll nicht mehr lediglich Trä82 „Goering

took me down a long corridor in the Kaiserhof; we were talking French, as we turned a corner of the corridor he put his hand to his mouth. ‚Plees [!] not to talk French any longer, the Führer does not like it.‘“ Lymington, A Knot of Roots, S. 150. 83 Rolf Gardiner (1902–71) wurde als Sohn eines Archäologen in Berlin geboren und engagierte sich sein Leben lang für den deutsch-englischen Austausch, insbesondere durch deutsch-englische Jugend- und Arbeitscamps auf seinem Landsitz in Dorset. Der Farmer und Förster war Mitglied in den Organisationen English Mistery, English Array, Kinship in Husbandry, Council for the Church and Countryside, Soil Association und schrieb Artikel für die New English Weekly und für Lymingtons New Pioneer. Vgl. Matthew Jefferies (Hrsg.), Rolf Gardiner. Folk, Nature and Culture in Interwar Britain, Farnham 2011. 84 Vgl. Kap. 4.1.3 und Kap. 5.4. 85 Lymington, Ich Dien. Der Titel spielt auf den deutschen Wahlspruch des Prinzen von Wales an. 86 Vgl. zur English Mistery Stone, The English Mistery, the BUF, and the Dilemmas of British Fascism; ders., Responses to Nazism in Britain, S. 166–188; Griffiths, Fellow Travellers of the Right, S. 54, 102, 144, 317 f. Die English Mistery hatte 400 bis 500 Mitglieder. Diesen Hinweise und weitere Informationen zu William Sanderson verdanke ich Rod Strong, der an einer Dissertation mit dem Titel „‚Patriot or Charlatan?‘ The Life of William John Sanderson, 1883– 1941 and his Place in the Political Ideology of the British Radical Right“ arbeitet.

2.2  Journalisten und Politiker am rechten Rand   37 ger der Krone, sondern die lebendige Verkörperung der Staatsmacht und des innersten Willens des Volkes sein. Aus einer Kritik der durch und durch liberalistischen Konservativen Partei sind sie zu einer Besinnung auf die Formen des englischen Staatswesens vor Cromwell gekommen. Sie wollen die verlorengegangenen germanischen Sitten in der englischen sozialen Ordnung wieder lebendig machen.87

Die entschieden antidemokratische Organisation English Mistery wurde von William Sanderson gegründet, der 1927 in seinem Buch Statecraft die weltanschaulichen Grundlagen lieferte. Das mehrfach wiederaufgelegte Werk ist im ­wesentlichen eine rassistische, antisemitische und frauenfeindliche Fundamentalkritik der modernen Industriegesellschaft. Als Gegenmodell diente die mythisierte Vorstellung einer männlich-soldatischen Urgesellschaft, deren Werte durch ­Dekadenz, Individualismus und Parteienherrschaft verschüttet seien.88 Sanderson war offensichtlich eine schwierige Person, und der Austausch mit anderen Neo-Tories gelang nur bedingt. Petrie schrieb über ein Treffen mit ihm in seinem Club: „I didn’t trouble myself to be more than ordinary civil to him“, denn Sanderson habe nur Blödsinn geredet.89 Die English Mistery setzte sich zum Ziel ‚die verborgenen Werte der englischen Rasse‘ wiederzubeleben und organisierte sich nach streng hierarchischen Mustern in kleinen Bruderschaften in ganz England. Vor allem die Zentrale in London produzierte eine Vielzahl von programmatischen Schriften und diese, so erinnerte sich Lymington, blieben nicht ohne Einfluß: „In my Parliament days the Mi­ stery coloured all my speeches and actions.“90 Maßgeblich für Programmatik und Taktik war das zutiefst elitäre Verständnis der Organisation. Man sah sich nicht als politische Partei und wollte auch keine Propaganda betreiben: „Unlike modern political organisations we do not want millions of ineffective members.“91 Ziel war es statt dessen, in einer bündischen Organisation neue Führer, einen neuen ‚Adel‘92 zu schaffen. Zu den Mitgliedern gehörten neben Lymington, Gardiner und Sanderson der Abgeordnete Michael Beaumont,93 der spätere konservative Abgeordnete Bryant Godman Irvine,94 der spätere Landwirtschaftsminister (1939–40) und ­Gouverneur von Burma (1941–46) Reginald Hugh Dorman-Smith,95 der Journalist Collin 87 Gardiner,

Die englische Wandlung, S. 306 f. 1927.

88 William Sanderson, Statecraft, London 89 Tagebücher Charles Petrie, 2. 3. 1933. 90 Lymington, A

Knot of Roots, S. 128. Lymington, The English Mistery, o. J., Wallop Papers (Gerald Vernon Wallop, 9th Earl of Portsmouth), Hampshire Record Office, Winchester, 15 M84 F 176. 92 Gardiner, Die englische Wandlung, S. 307. 93 Michael Beaumont (1903–1958) war konservativer Abgeordneter für Aylesbury 1929–1938. 94 Sir Bryant Godman Irvine (1909–1992) ging auf die St. Paul’s School, studierte am Magdalen College in Oxford und war ausgebildeter Anwalt. 1955–1983 saß er als konservativer Abgeordneter für Rye im Unterhaus. 95 Sir Reginald Dorman-Smith (1899–1977) studierte am Royal Military College in Sandhurst, kämpfte im Ersten Weltkrieg in der Indian Army und etablierte sich nach dem Krieg als Agrar-Funktionär. Von 1935–1941 war er konservativer Abgeordneter für Petersfield, von 1939– 1941 Minister für Landwirtschaft und von 1941–1946 Gouverneur von Burma. 91 Viscount

38   2.  Lost Generation? Brooks96 und Großgrundbesitzer wie Richard de Grey, Sir Geoffrey Congreve und Baron John de Rutzen. Die Organisation zog auch eine Reihe von Nachwuchspolitikern wie John Green an, der als Vorsitzender der Conservative Association der Universität Cambridge mit seiner radikalen Abrechnung mit dem konservativen Parteichef Mr. Baldwin. A Study in Post-War Conservatism für Aufmerksamkeit gesorgt hatte.97 Der intellektuelle Kopf der Organisation war jedoch ein Mann mit einem wenig englisch klingenden Namen: Anthony Mario Ludovici (1882–1971), der auch sonst etwas aus dem Rahmen fällt. Der italienischstämmige Ludovici war Sohn eines Malers. Seine Bildung erfuhr er nicht auf einer elitären Privatschule, sondern vor allem durch seine Mutter. Die wichtigsten Prägungen waren für ihn ein Studienaufenthalt in Deutschland, wo er die Philosophie Schopenhauers und vor allem Friedrich Nietzsches studierte, und die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs. Er meldete sich 1914 freiwillig, wurde schwer verwundet und verließ den Krieg als Hauptmann. Ludovici gehörte zur frühen literarischen Avantgarde um die Zeitschrift New Age und hatte zusammen mit Oscar Levy die erste komplette englische Nietzsche-Ausgabe herausgebracht. Die Philosophie Nietzsches prägte sowohl seine politischen Ansichten als auch seine ‚wissenschaftlichen‘ Arbeiten zur Eugenik und Sozialanthropologie. Er war Mitglied der Eugenic Society, schrieb unzählige Artikel zu wissenschaftlichen und politischen Themen und verfaßte über 50 Bücher. Ludovici ist damit eine der wichtigsten intellektuellen Figuren, die ‚wissenschaftliche‘ Fragestellungen und Lösungen über die Eugenik und die Sozialanthropologie in den politischen Diskurs transferierten.98 Darüber hinaus war er eine sehr aktive Figur in verschiedenen Organisationen der Neo-Tories. Er gehörte zum Auswahlkomitee des Right Book Club und avancierte zum intellektuellen Vordenker der English Mistery und English Array. Gleichzeitig hatte er trotz seiner eugenischen Forderungen viele Kontakte zur katholischen Rechten und schrieb u. a. für die New English Weekly, die unter der Herausgeberschaft von Philip Mairet einen katholischen ‚Gilden-Sozialismus‘ propagierte.99 Die hier vorgestellten Neo-Tories waren keine intellektuellen Einzelkämpfer, keine isolierten Akademiker aus dem Elfenbeinturm. Vielmehr zeigt sich, daß um eine Reihe von Zeitungen und Zeitschriften und in einer Vielzahl von politischen 96 Collin

Brooks (1893–1959) meldete sich 1914 als Freiwilliger im Ersten Weltkrieg, kämpfte in einem Maschinengewehrkorps und erhielt das „Military Cross“. Nach dem Krieg stieg er in den Journalismus ein, schrieb für den Liverpool Courier, war „assistant editor“ der Yorkshire Post sowie der Financial News. Ab 1940 war er Herausgeber der Zeitung Truth, ab 1936 saß er mit Jerrold im Board der English Review unter dem neuen Herausgeber Derek Walker-Smith. Vgl. Mr. Collin Brooks. Author and Journalist, The Times, 7. 4. 1959. 97 Vgl. Kap. 5.3.2. 98 Vgl. Stone, Breeding Superman, S. 33–61. 99 Philipe Mairet (1886–1973) war Autor und Journalist und in den späten dreißiger Jahren verbunden mit Lymingtons New Pioneer und der British Peoples’ Party. Sein Hauptwerk von 1931 ist eine Kampfansage an den vermeintlich zerstörerischen Kollektivismus und Pluralismus des parlamentarischen Systems. Philip Mairet, Aristocracy and the Meaning of Class Rule. An Essay upon Aristocracy, Past and Future, London 1931.

2.2  Journalisten und Politiker am rechten Rand   39

Clubs netzwerkartige Verbindungen existierten, die bis in das höchste politische Establishment reichten. Die Tagebücher von Neo-Tories wie Charles Petrie zeugen von diesem beinahe täglichen Austausch auf mittäglichen Lunchs oder abendlichen Dinner-Partys in der höheren Londoner Gesellschaft. Ein Merkmal der Beziehung zwischen britischen Neo-Tories und konservativem Establishment war ihr informeller Charakter. In Organisationsformen wie dem politischen Club wurde die „informelle Kooptation“100 zum Prinzip erklärt. Damit einher ging eine Abwendung vom liberalen Prinzip der Öffentlichkeit, denn die Neo-Tories debattierten nicht nur hinter verschlossenen Türen, sondern hatten ganz grundsätzlich kein Interesse an jeder Form von Öffentlichkeit, die über die wenigen tausend Leser ihrer Zeitschriften hinausging. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, daß einerseits der gentlemen’s club rechtskonservativen Planspielen Raum gab, indem er dem elitären und exklusiven Politikverständnis der Neo-Tories entsprach, anderseits aber – als traditionsbewahrende Institution – der Realisierung in Form einer ‚Revolution von oben‘ deutliche Grenzen setzte. Als Angehörige des höheren politischen Establishment hatten Neo-Tories wie Arthur Bryant101 Kontakte zur Spitze von Partei und Regierung. Auch Verbindungen ins Foreign Office erwiesen sich als überaus nützlich. Als Francis YeatsBrown beispielsweise für eine Artikel-Serie im Observer und zur Recherche für sein Buch European Jungle durch Südosteuropa reisen wollte, genügte ein Anruf im Außenministerium, um ihm eine Audienz bei Zar Boris von Bulgarien zu verschaffen. Seine radikalen politischen Ansichten standen ihm dabei offenbar nicht im Weg, denn der britische Diplomat George William Rendel schrieb an Außenminister Lord Halifax: „I had not previously met Major Yeats-Brown, but he struck me as a well-balanced and intelligent observer, at any rate in so far as his own country is concerned, and I hope this visit may prove to have been a useful one.“102 Die Neo-Tories bewegten sich in der Nähe der Macht, aber gleichzeitig bedeutete ein Eintritt in die Regierung meist das Ende von rechtskonservativen Planspielen zur Errichtung eines autoritären Staats. Als etwa der Abgeordnete Alan Lennox-Boyd erstmals 1938 in die Regierung aufgerückt war, zeigte sich Charles Petrie begeistert über den Aufstieg seines Verbündeten. Er schrieb ihm im Dezem100 Hans

Mommsen benutzt den Begriff „informelle Kooptation“ für die neuen Formen der politischen Organisation wie „Bünde, Ringe, Clubs“ in der „Konservativen Revolution“ der Weimarer Republik. Vgl. Hans Mommsen, Das Trugbild der „nationalen Revolution“. Betrachtungen zur nationalistischen Gegenkultur der Weimarer Republik, in: Walter Schmitz und Clemens Vollnhals, Völkische Bewegung. Konservative Revolution. Nationalsozialismus. Aspekte einer politisierten Kultur, Dresden 2005, S. 23. 101 Arthur Bryant (1899–1985) war der Sohn von Francis Morgan Bryant, dem ehemaligen Büroleiter des Prince of Wales. Bryant wuchs im Umfeld des Buckingham Palace auf, ging auf die Harrow School, kämpfte im Ersten Weltkrieg als Pilot und studierte nach dem Krieg Geschichte am Queen’s College in Oxford. Bryant avancierte zu einem der meistgelesenen Historiker Großbritanniens und verkaufte bis zu seinem Tod um die zwei Millionen Exemplare seiner insgesamt mehr als 40 Bücher. 102 Rendel an Halifax, 11. 6. 1938, FO 371/22334/191.

40   2.  Lost Generation? ber 1939: „I hope you know how delighted I am. Humanity and intelligence in high places are so rare in this war to make England safe for bureaucracy that I am more pleased that almost the only exception should be yourself.“103 Doch von seiner politischen Vergangenheit wollte Lennox-Boyd, der vom politischen Gegner als Franco-Anhänger beschimpft wurde, schon bald nichts mehr wissen und kühlte den Kontakt zu seinen ehemaligen Weggefährten ab. Auch Duncan Sandys, der durch seine Heirat mit der Tochter Winston Churchills, Diana SpencerChurchill, im Jahre 1935 hervorragende Kontakte hatte, waren später seine Aktivitäten in den dreißiger Jahren offenbar unangenehm. Nach dem Krieg hatte er eine steile Karriere gemacht und war Kabinettsminister unter den Premierministern Harold Macmillan und Alec Douglas Home. Nachdem er seinen Nachlaß dem Churchill-Archiv der Cambridge University bereits übergeben hatte, zog er im Jahre 1982 einen Teil der Akten aus den Jahren 1933 und 1934 wieder zurück. Die Akten betrafen die English Movement, eine Organisation, die er mit Charles Petrie 1934 gegründet hatte und die die Errichtung eines ‚nationalen Sozialismus‘ zum Ziel hatte.104

2.3  „What I am afraid of is the feminine man“ – ­Männlichkeitsideologie und Antifeminismus Die Neo-Tories waren fast ausnahmslos Männer. Dies mag angesichts des 1918 eingeführten Wahlrechts für Frauen über 30 Jahren und erst 1928 eingeführten Wahlrechts für alle Frauen ab 21 Jahren sowie einer generell männlich dominierten politischen Kultur nicht überraschen. Doch die Neo-Tories verwehrten ­Frauen nicht nur den Zutritt zu ihren Bünden und Clubs. Ihre Ideologie selbst war zutiefst antifeministisch, zuweilen gar dezidiert frauenfeindlich. Die Emanzipation der Frauen und die Abwehrhaltung dagegen war ein wichtiger Faktor für die Heraus­bildung ihres radikalkonservativen Gesellschaftsbilds. Die Historikerin Sonja Levsen hat in ihrer Vergleichsstudie Elite, Männlichkeit und Krieg. Tübinger und Cambridger Studenten 1900 bis 1929 einen grundlegenden Wandel in der Konstruktion von Männlichkeit durch den Ersten Weltkrieg an deutschen und englischen Universitäten festgestellt. Für den englischen Fall konnte sie zeigen, wie vor dem Krieg eine Männlichkeitsideologie an den Universitäten vor allem über den Sport definiert wurde. Beim Rudern, Rugby, Fußball, Boxen und Cricket wurden Härte, Männlichkeit und Selbstdisziplin trainiert und zu über den Sport hinaus gültigen Charakteridealen geformt.105 Nach dem Ersten 103 Charles

Petrie an Lennox-Boyd, 12. 10. 1939, Bodleian Library, Western Manuscripts Mss Eng. C 3459/202. 104 Vgl. Kap. 5.2.3. 105 Levsen, Elite, Männlichkeit und Krieg, S. 113 f. Vgl. hierzu auch Sean Brady, Masculinity and male Homosexuality in Britain, 1861–1913, Basingstoke 2005; Michael Roper, Between Manliness and Masculinity: The War Generation and Psychology of Fear in Britain, 1914– 1950, in: Journal of British Studies 44 (2005), S. 343–362.

2.3 ­Männlichkeitsideologie und Antifeminismus   41

Weltkrieg machten eine neue Ernsthaftigkeit im Studium, ein neues Geschlechterverhältnis an den Universitäten und neue Freizeitaktivitäten dem Sport Konkurrenz, und das mit ihm verbundene Männlichkeitsideal verlor an Dominanz.106 Der ‚neue‘ Mann verbrachte mehr Zeit in der Bibliothek als auf dem Fußballfeld, fuhr Auto, ging ins Kino und benutzte, wenn es regnete, einen Regenschirm – vor dem Krieg noch ein ungehöriger Ausweis von Unmännlichkeit, der oftmals dadurch bestraft wurde, daß ahnungslosen undergraduates der Regenschirm mitten auf dem Campus zerbrochen wurde.107 Wenn der ‚neue‘ Mann Sport machte, dann spielte er zunehmend Golf und Tennis, beides Sportarten, die man auch mit Frauen betreiben konnte. Er kleidete sich dandyhaft, trank Kaffee statt Bier, legte mehr Wert auf Individualität und gab der eigenen Karriere gegenüber den manly exercises Priorität. In Teilen der britischen Presse wurde das neue Männlichkeitsbild entschieden verurteilt, und man machte sich über den ‚neuen‘ Mann lustig. Die neue Generation verweichliche und zeige Zeichen bedenklicher Dekadenz, so der allgemeine Tenor. Höhepunkt war ein Artikel im Daily Sketch vom Oktober 1925 mit dem Titel „The Girl-Men of Cambridge“, in dem behauptet wurde, die undergraduates würden sich eher die Wangen pudern als männliche Sportarten zu betreiben.108 Die Kritik an der Abkehr vom Männlichkeitsideal der Vorkriegszeit wurde von den Studenten mit Humor gekontert. In britischen Studentenzeitungen erschienen Satiren, die zornige alte Männer karikierten, die über den Niedergang von Oxford und Cambridge schimpften.109 In der English Review war der feminine man nicht nur als studentisches Phänomen gefürchtet. Hier ging es auch nicht mehr um Fragen des Sports oder des Biertrinkens. Vielmehr sah man in ihm die Inkarnation aller gesellschaftlichen und politischen Fehlentwicklungen. „What I am afraid of is the feminine man“ schrieb ein Kommentator im Juni 1927.110 Der ‚weibliche‘ Mann habe einen außerordentlichen Einfluß auf Staat, Gesellschaft und Kirche, und es bedürfe einer Wiederbelebung der männlichen Werte, um dieser Entwicklung entgegenzutreten: „From a national and human point of view he is with the destroyers – this dangerous feminine man – and we need the spirit of St. George to arise in England to deal with him.“111 Die meisten Neo-Tories beschäftigen sich mit den Themen Männlichkeit und Feminismus. In einem frühen Artikel für die English Review hatte sich auch Douglas Jerrold mit dem Thema Feminismus auseinandergesetzt. Dabei nahm er die 106 Levsen,

Elite, Männlichkeit und Krieg, S. 243 f. Studentenratgeber Freshers Don’t von 1908 riet „freshmen“ ausdrücklich, keinen Regenschirm zu tragen. Levsen, Elite, Männlichkeit und Krieg. S. 248. 108 The Girl-Men of Cambridge, The Daily Sketch, 5. 10. 1925. Zit. nach Levsen, Elite, Männlichkeit und Krieg. S. 245. 109 Levsen, Elite, Männlichkeit und Krieg. S. 246. 110 Prependary A. W. Gough, St. George for England, in: English Review 44 (Juni 1927), S. 657– 660, hier 658. 111 Gough, St. George for England, S. 659. 107 Der

42   2.  Lost Generation? Forderungen der Frauen durchaus ernst. Der Krieg habe ihnen gegeben, was sie wollten. Sie hätten die Aufgaben der Männer übernommen, hätten hart gearbeitet und als Belohnung das Wahlrecht bekommen. Doch die meisten Frauen hätten dies gar nicht gewollt und würden ohnehin nur wählen, was ihre Männer sagen. Außerdem folge auf jede Revolution eine Rebellion: „It may even be that the coming revolution of parliamentary franchise will be followed by a rebellion against the authority of Parliament.“112 Insgesamt war man sich in der English Review sicher, daß der Feminismus eine gefährliche und äußerst schädliche Bewegung sei. Man wollte den Frauen ihre Erfolge, also das Wahlrecht für Frauen ab 25 Jahren, nicht wieder wegnehmen, so ein weiterer Kommentator in der Zeitschrift. Aber die Frauen täten gut daran, sich zu erinnern, daß die Nation ihnen das Wahlrecht nicht gegeben habe, weil es ihnen zustand, sondern nur um die Frauenbewegung ruhig zu stellen. „The nation as a whole had steadily refused to take the movement seriously.“113 In allen Werken der Neo-Tories, die sich mit dem Thema beschäftigten, kamen die Standardtopoi politischer Frauenfeindlichkeit zum Vorschein: Die Frau sei ein an sich politisch unmündiger Mensch, da sie nicht logisch und rational denken könne und ihre Emotionalität sie für Demagogie anfällig mache. Der Gründer der English Mistery, William Sanderson, schrieb: „Her instincts, as well as her emotions are entirely sexual, like the structure of her body. She has a total ineptitude for politics, for she lacks political virtue. Having no social instincts she can develop no intellectual capacity for constructive art or organization.“ Die Meinungen einer Frau seien lediglich unreflektierte Reaktionen auf persönlichen Erfahrungen, denn zu Abstraktionen sei die Frau nicht fähig. Es sei daher grundsätzlich gefährlich, Frauen das Wahlrecht zu geben oder es ihnen zu erlauben, ihre Meinungen zu verbreiten.114 Die Hoffnung der Zukunft liege hingegen in einer Rückkehr zu männlichen Standards: „Whether it is now possible, by careful breeding and a return to our traditions, to restore masculine characteristics may be doubtful, for the nation in its degeneracy may have left Past Redemption Point in its wake.“115 Auch Viscount Lymington war sich sicher, daß, solange Frauen versuchten, Männer zu sein, eine allgemeine ‚Degeneration‘ die unweigerliche Folge sei: „The equality of the sexes in occupation is the greatest danger our race has to face to-day.“116 Für Anthony Ludovici wurde die masculine renaissance zur Lebensaufgabe. Der Nietzsche-Übersetzer konnte sich dabei auf die These seines Idols vom elementaren Dualismus des Männlichen und Weiblichen stützen. In einer Vielzahl von Büchern und Zeitschriftenartikeln wurde die ‚männliche Renaissance‘ zu seinem 112 Douglas Jerrold, The

Feminist Movement: Its Danger and its Difficulty, in: English Review 26 (April 1918), S. 316–329, hier 316. 113 Reginald F. Rynd, The Collapse of Feminism, in: English Review 42 (April 1926), S. 537–542, hier 359. 114 Sanderson, Statecraft, S. 6. 115 Ebd., S. 7. 116 Lymington, Ich Dien, S. 41 f.

2.3 ­Männlichkeitsideologie und Antifeminismus   43

zentralen gesellschaftlich-politischem Projekt, das eng verbunden war mit dem Kampf gegen den Feminismus. „I range myself naturally among the AntiFeminists“117 schrieb er in der dritten Auflage seines erstmals 1923 erschienen Buchs Woman. A Vindication, ein Titel, der sich mit „Rehabilitierung der Frau“ übersetzen läßt. Aus seiner Sicht meinte es Ludovici nur ‚gut‘ mit den Frauen. Er wolle ihnen ihren ‚natürlichen‘ Platz im Leben und in der Gesellschaft zurückgeben: den der Hüterin und Förderin des Lebens, mit anderen Worten, eine auf ihre Fortpflanzungsfunktion reduzierte Bürgerin zweiter Klasse. Denn die Präsenz von Frauen in der Politik, in der Geschäftswelt, in der Kunst oder in der Philosophie sei eine ‚Vergewaltigung‘ ihrer ‚wahren‘ – also lediglich sexuellen – Natur. To transform the whole of the female sex in civilized countries in the hope of bringing forth a female Michelangelo or a female Kant, would seem a hazardous and very laborious experiment, with but a doubtful reward as its object; and seeing that the experiment might and very probably would involve a dangerous depreciation of woman’s vital instincts, the endeavour to philosophize with women might quite conceivably end in racial and social suicide.118

Daß Philosophieren mit Frauen im ‚rassischen Selbstmord‘ enden könnte, dürfte außer Ludovici nur eine Handvoll Menschen ernst genommen haben.119 Sein biologistischer Antifeminismus verweist aber auf einen Zusammenhang, der von allen Neo-Tories als Problem gesehen wurde: das Gefühl einer allgemeinen ‚Feminisierung‘ der Gesellschaft und politischen Kultur, ein Ausufern des Feminismus auf die Domänen der Männerwelt mit einer damit einhergehenden Entmännlichung der politischen Welt. Allzugern wurde dabei die Masse als weiblich beschrieben, während die Elite oder die ‚neue‘ Aristokratie männlich daherkam. Ebenso war die anvisierte Rettung des Konservatismus, der Nation oder des westlichen Abendlandes mit einer Berufung auf männliche Werte verbunden. Konkret sah man die Gefahr der Feminisierung in der sich für neue Wählerschaften öffnenden Konservativen Partei und in einer Intellektuellenszene, die man als von der Linken und von Frauen wie Virginia Woolf dominiert wahrnahm. Der Aufstand der Neo-Tories gegen diese Tendenzen begann 1929 jedoch in einem anderen Bereich, der ebenfalls vom ‚weiblichen Mann‘ bedroht war: der Erinnerung an den Ersten Weltkrieg.

117 Anthony

M. Ludovici, Woman. A Vindication, London 1929, S. viii. Woman. A Vindication, S. 350. Immer wieder verband Ludovici seinen Antifeminismus mit seiner grundsätzlichen Demokratiekritik. Zur Debatte vor der Wahlrechtsänderung von 1928, die auch Frauen unter 25 Jahren das Wahlrecht zusprach, trug er bei: „But if the franchise is now to be extended to 4 000 000 girls between twenty-one and twenty-five, then the intellectually detached and rationally minded elements in the population will be wiped out, and democratic control, at least in England, will commit suicide by becoming utterly irresponsible and ridiculous.“ Anthony M. Ludovici, The Enfranchisement of the Girl of Twenty-One, in: English Review 44 (Juni 1927), S. 651–656, hier 655. 119 Ein an sich sympathisierender Kommentator schrieb in der English Review: „With Mr. Ludovici’s plea for a masculine renaissance we can all agree, but that has precious little to do with women’s votes.“ Austin Harrison, The New Anti-Feminism, in: English Review 38 (Januar 1924), S. 80–87, hier 84. 118 Ludovici,

3.  Gegengeschichtsschreibung – Kampf um die Deutungsmacht Am Anfang des politischen Denkens der Neo-Tories stand die Geschichte. Sie beschäftigten sich in ihren Büchern nicht nur eingehend mit klassischen Themen der britischen Geschichte, sondern vielmehr gab es kaum einen Artikel oder po­ litischen Kommentar, der ohne ausführliche historische Reflexionen auskam. ­Geschichte war der Anker für ihre Kritik an der Moderne. Meist diente sie als Zerrspiegel, der die Moderne als entfremdet und fehlentwickelt erscheinen lassen ­sollte. Über Geschichte wurde also keineswegs in einem wissenschaftlichen Sinne nachgedacht und geschrieben, sondern die Neo-Tories instrumentalisierten sie für ihre politischen Interessen. Es war keine Geschichtswissenschaft, die sie betrieben, sondern Geschichtspolitik. Es ging ihnen nicht um eine ergebnisoffene Erforschung der Vergangenheit, sondern um die Etablierung einer speziellen Sicht der Vergangenheit zur Veränderung der Gegenwart. Eine Untersuchung dieser ­Interpretation der englischen Geschichte muß also zu Beginn der ideengeschichtlichen Analyse stehen, denn sie war Grundlage für den Neo-Toryismus als Weltanschauung. Zunächst betraf der Kampf um die Deutungsmacht vor allem die jüngste Vergangenheit. Die Auseinandersetzung um die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg war für die Neo-Tories nicht nur Geschichtspolitik, sondern betraf den Kern ihrer Identität. Durch die ‚pazifistische‘ Deutung des Krieges sahen sie nicht nur ihre politischen Überzeugungen, sondern ihre eigenen Kriegserfahrungen und ihr männliches Selbstverständnis als Offiziere und Gentlemen herausgefordert. In ­ihrer Auflehnung gegen diese Deutung des Krieges mischen sich ein persönlicher, der eigenen Biographie geschuldeter Abwehrreflex mit ästhetischer und politischer Reflexion. Die Analyse der Kriegserinnerung der Neo-Tories steht somit thematisch zwischen sozialkultureller Eingruppierung und Analyse des Geschichtsbilds. Sie soll im folgenden untersucht werden.

3.1  „The lie about the war“ – Kriegserinnerung in ­Abgrenzung zur ‚pazifistischen‘ Deutungshoheit 3.1.1  Der Erste Weltkrieg in der britischen Öffentlichkeit Auch heute, 90 Jahre nach seinem Ende, hat der Erste Weltkrieg im kollektiven Gedächtnis der britischen Öffentlichkeit einen außerordentlich hohen Stellenwert. Das alljährliche Anstecken der roten poppies, die an den Mohn der Schlachtfelder von Flandern erinnern sollen, ist keineswegs Veteranenfolklore, sondern eine von der breiten Öffentlichkeit getragene Ehrerweisung an die Gefallenen. Ein Vertreter von Politik und Medien ist Anfang November ohne rote poppy ebenso

46   3.  Gegengeschichtsschreibung – Kampf um die Deutungsmacht undenkbar wie ein Ende der alljährlichen Paraden und der zwei Schweigeminuten am Armistice Day jedes Jahr am 11. November. Obwohl seit Ende des Zweiten Weltkriegs offiziell an diesem Tag an die Gefallenen beider Weltkriege erinnert wird, dominiert bis heute eine Erinnerungskultur, die sich in den frühen zwanziger Jahren etabliert hat. Typisch hierfür ist auch das Gedicht For the Fallen, das die Times bereits im September 1914 veröffentlichte und dessen vierte Strophe in den folgenden Jahrzehnten auf zahlreichen Gedenkveranstaltungen rezitiert und auf unzähligen Grabsteinen eingraviert wurde: They shall not grow old, as we that are left grow old: Age shall not weary them, nor the years condemn. At the going down of the sun and in the morning We will remember them.1

Charakteristisch für die britische Erinnerungskultur ist kein triumphaler Gestus, sondern vielmehr kontemplativer Ernst. Im Vordergrund stehen weder militaristische Heldenverehrung noch nationalistischer Siegeskult, sondern ein schweigsames und humanes Mahnen an die Schrecken des Krieges und den Verlust von Menschenleben. Vor allem im Vergleich mit der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg ist auffällig, wie beiläufig an das Gewonnene erinnert wird und wie dominant die Erinnerung an das Verlorene ist.2 Gewürdigt werden dabei nicht nur die britischen Frontsoldaten, sondern ebenso die Leistungen der Frauen des Ersten Weltkriegs, der Einsatz der indischen, südafrikanischen, australischen und anderen Soldaten aus dem Empire, und sogar an das Leid der Tiere des Ersten Weltkrieges wird in Form von Denkmälern, Erinnerungsliteratur und Theaterstücken öffentlich erinnert.3 Einen heroischen Soldatenkult, eine militaristisch-auftrumpfende und triumphal-nationalistische öffentliche Erinnerung sucht man in Großbritannien vergeblich. Vielmehr ist in der populären Literatur, in Fernsehdokumentationen, in Theaterstücken eine Inter­pretation außerordentlich dominant, die den Krieg als eine bedauernswerte Katastrophe beschreibt. Diese kollektive Erinnerung an den Great War konzen1

Laurence Binyon, For the Fallen, The Times, 21. 9. 1914. Vgl. dazu auch Philip J. Waller, Writers, Readers, and Reputations. Literary Life in Britain, 1870–1919, Oxford 2006, S. 934. 2 Vgl. hierzu Janet Gourd, An Armistice Day Memory, in: Journal of the Society for Army Historical Research 81 (2003), S. 392–96; Adrian Gregory, The Silence of Memory. Armistice Day, 1919–1946, Oxford 1994; Alex King, Memorials of the Great War in Britain. The Symbolism and Politics of Remembrance, Oxford 1998; Angela Gaffney, Aftermath. Remembering the Great War in Wales, Cardiff 1998. 3 Vlg. Jessica Meyer (Hrsg.), British Popular Culture and the First World War (History of Warfare, 48), Leiden 2008; Dan Todman, The First World War in Contemporary British Popular Culture, in: Heather Jones (Hrsg.), Untold War. New Perspectives in First World War Studies (History of Warfare, 49), Leiden 2008, S. 417–42; Emma Hanna, Reality-Experiential History Documentaries. The Trench (BBC, 2002) and Britain’s Modern Memory of the First World War, in: Historical Journal of Film, Radio and Television 27 (2007), S. 531–48; Heinz Kosok, The Theatre of War. The First World War in British and Irish Drama, Basingstoke 2007; ­Juliet Gardiner, The Animals’ War. Animals in Wartime from the First World War to the Present Day, London 2006; Allen Tony, Animals at War 1914–18, York 1999; Peter Shaw Baker, Animal War Heroes, London 1933.

3.1 ­Abgrenzung zur ‚pazifistischen‘ Deutungshoheit   47

triert sich dabei auf einen äußerst emotionalen, aber ausgesprochen unmilitaristischen narrativen Kern: Demnach sei im Sommer 1914 eine Generation junger idealistischer Männer aufgebrochen, um freiwillig ihr Vaterland zu verteidigen. Im Krieg, dessen Sinn niemand richtig verstanden habe, seien sie von unfähigen Kommandeuren geführt und in der Folge unter unmenschlichen Bedingungen – unter Dauerbeschuß in den Schützengräben und in sinnlosen Attacken gegen Maschinengewehrfeuer – dahingerafft worden. Aber auch auf die traumatisierten und desillusionierten Überlebenden habe zu Hause kein country fit for heroes gewartet, sondern Arbeits- und Zukunftslosigkeit.4 Britische Historiker haben auf den mythischen Gehalt dieser populären Interpretation eines tragischen und überflüssigen Krieges, die sich einer Ikonographie aus Matsch, Stacheldraht und Körperteilen bedient, hingewiesen. Dabei ist es für die Dekonstruktion dieses Mythos zentral, daß es das eine Kriegserlebnis nicht gegeben hat und daß der Krieg aus der Sicht vieler Soldaten nicht nur eine Abfolge traumatisierender Schrecken und damit keineswegs eine zeitlose Apokalypse gewesen war. Vielmehr gehörten Langeweile und Abenteuer an der Front ebenso zum Kriegserlebnis wie Spaß und Routine in der Etappe.5 Insbesondere britische Militärhistoriker bemühen sich klar zu stellen, daß die Umwandlung der kleinen regulären britischen Armee in eine Massenarmee, die militärisch-strategische Leistung der Generäle, die Kampfmoral der Soldaten sowie die Unterstützung durch die Heimatfront, trotz aller Schwierigkeiten, letztlich beachtenswerte Erfolge gewesen und sowohl gegen die Mythisierung des Ersten Weltkriegs in den dreißiger Jahren als auch gegen die populäre Wiederbelebung dieser Tendenzen in den sechziger Jahren zu verteidigen seien.6 Wie erfolgreich diese Dekonstruktionsbemühungen für die Erinnerungskultur sein werden, bleibt abzusehen. Eindeutig ist jedenfalls, daß sich der Beginn der Erfolgsgeschichte dieses Mythos recht genau datieren läßt. Zwischen 1927 und 1929 erschien eine Reihe von Kriegsbüchern, die kommerziell außerordentlich erfolgreich waren und die mediale Aufmerksamkeit in einem bis dahin unbekannten Maße auf sich zogen. In der Folge dieser Bücher, zu dem neben den Übersetzungen von Erich Maria Remarques Im Westen nichts Neues und Arnold Zweigs Der Streit um den Sergeanten Grischa, u. a. Edmund Blundens Untertones of War und Robert Graves Goodbye to All That gehören, hat sich, so der britische Historiker Dan Todman, ein populäres Erinnerungsmuster in der britischen Gesellschaft verankert, dessen Dominanz bis heute anhält: „It is possible to argue that it was in the early 1930s, as a result of the ‚war books boom‘, that the memory of the 4

Vgl. Dan Todman, The Great War. Myth and Memory, London 2005. Todman, The Great War; Bob Bushaway, Name upon Name. The Great War and Remembrance, in: Roy Porter (Hrsg.), The Myths of the English, Cambridge 1992, S. 136–167. 6 Vgl. Brian Bond, The Unquiet Western Front. Britain’s Role in Literature and History, Cambridge 2002; ders., British ‚Anti-War‘ Writers and theirs Critics, in: Hugh Cecil und Peter Liddle (Hrsg.), Facing Armageddon. The First World War Experienced, London 1996, S. 817– 830; Correlli Barnett, A Military Historian’s View on the Literature of the Great War, in: Transactions of the Royal Society of Literature 36 (1970), S. 1–18. 5

48   3.  Gegengeschichtsschreibung – Kampf um die Deutungsmacht war was monopolised by a small group of highly literate participants, primarily established writers who had served as junior officers, who created the version of the war still dominant today.“7 Zeitgenössische Beobachter waren sich der einschneidenden Bedeutung der Kriegsbücher für die kollektive Erinnerung an den Ersten Weltkrieg bewußt. In der Wochenzeitung The Spectator bemerkte im Dezember 1929 ein Rezensent: „It is strange that only now, ten years after the War ended, are we given the bulk of first-hand accounts and imaginative re-recreations of those weary days.“ Der Kritiker ließ keinen Zweifel daran, daß diese Bücher Teil eines populären Historisierungsprozesses des Krieges waren: „It is an alarming crisis, too; for we are bound to suspect that somehow or other we have achieved a perspective, a historical sense for the War, an attitude to the whole human catastrophe; and as soon as we do that, there is a risk that we can put it comfortably in the background and ­accept it as a ‚once upon a time‘.“8 Doch ruhig und ‚komfortabel‘ verlief diese populäre Historisierung des Krieges keineswegs. Denn die Kriegsbücher von 1928/29 provozierten eine Welle von weiteren Kriegsbüchern, Gegendarstellungen, flammenden Kritiken und ebenso starken Verteidigungen. Die britischen Neo-Tories waren an dieser sogenannten war book controversy maßgeblich beteiligt. Ihre fundamentale Kritik an der Unterstellung eines vermeintlich sinnlosen Krieges und an den populären Kriegsbüchern im allgemeinen ging dabei nicht nur mit einem lautstarken ‚Gegenerinnern‘ einher. Sie fiel auch mit den ersten politisch-programmatischen Positionsbestimmungen der Neo-Tories zusammen. Im folgenden soll untersucht werden, welche Positionen die Neo-Tories in diesem Kampf um die Deutungsmacht bezogen. Zu fragen ist, inwiefern sich die Neo-Tories mit ihrer Interpretation des Ersten Weltkriegs in Opposition zu einer dominanten Erinnerungskultur begaben. Wurde der Erste Weltkrieg für die NeoTories gewissermaßen zum „Medium der Gegenmoderne“9?

3.1.2  Die war books in der britischen Presse Im Juli 1930 schrieb der Literaturkritiker Herbert Read in einer Sammelrezension von einer Reihe 1929 erschienener Kriegsbücher in der Zeitschrift Criterion: ‚All this fuss about the war‘ began eighteen months ago with the publication of All Quiet on the Western Front. Before then there had been any number of war books published, but none of 7

Todman, The Great War. Myth and Memory, S. 26; Samuel Hynes, A War Imagined. The First World War and English Culture, London 1990, S. X; Paul Fussel, The Great War and Memory, Oxford 1975, S. IX. Vgl. auch Susan Kingsley Kent, Aftershocks. Politics of Trauma in Britain, 1918–1931, Basingstoke 2009; Victoria Stewart, War Memoirs of the Dead. Writing and Remembrance in the First World War, in: Literature & History 14 (2005), S. 37–52; Peter Alter, Der erste Weltkrieg in der englischen Erinnerungskultur, in: Helmut Berding (Hrsg.), Krieg und Erinnerung. Fallstudien zum 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen 2000, S. 113–26. 8 The Spectator, 7. 12. 1929, S. 881. 9 Lars Koch, Der Erste Weltkrieg als Medium der Gegenmoderne. Zu den Werken von Walter Flex und Ernst Jünger, Würzburg 2006.

3.1 ­Abgrenzung zur ‚pazifistischen‘ Deutungshoheit   49 them had any significant success. Herr Remarque’s book has broken all records. Nothing comparable, it is said, has occurred since the publication of Goethe’s Sorrows of Young Werther.10

In der Tat mußte der außerordentliche Erfolg von Remarques Buch erstaunen und Fragen nach den Ursachen und der Bedeutung dieses Literaturereignisses aufwerfen. Read lobte das Buch als ein großes Kunstwerk und sah seinen internationalen Erfolg als Zeichen für seine universelle Bedeutung und tieferen Gehalt an. Endlich, so der Tenor der meisten positiven Kritiken, hätte ein Autor das jahrelange Schweigen über den Krieg gebrochen und den Soldaten des Ersten Weltkriegs eine Stimme gegeben. Wie kein anderes Buch zuvor habe Im Westen nichts Neues eine Sprache für die furchtbare Realität des Krieges gefunden. Dabei fühlten sich einige Rezensenten durch die suggestive Darstellungsweise des Buches in das Kriegsgeschehen gleichsam körperlich wiederhineinversetzt. In der Wochenzeitschrift The Spectator schrieb ein Kritiker im April 1929: One therefore comes upon this books and trembles. This is no literary trope; it is true: I read a few pages, and stopped. I returned, read on for a little, found myself living at last in that world forbidden to the civilian, and again I had to stop, gropingly trying to orientate my mind, my nervous organism, to the overwhelming experience re-enacted by the genius of this German soldier.11

Diese Meinung wurde allerdings nicht von allen Kritikern geteilt. Wie kein anderes war book zog Erich Maria Remarques Im Westen nichts Neues den Zorn rechts­ intellektueller Publizisten und eines großen Teils der britischen konservativen Presse auf sich. Dies lag nicht zuletzt an seinem außergewöhnlichen Erfolg – Im Westen nichts Neues war in Großbritannien das meist verkaufte Buch der Zwischenkriegszeit.12 Dabei bezog sich die Kritik selten auf stilistische Aspekte, ­sondern es ging vor allem darum, ob das Buch die Realität des Krieges ‚korrekt‘ darstellte oder eben nicht. Bereits in Deutschland hatte der Verlag das Buch nicht als Roman, sondern als einen dokumentarischen Text der Kriegserlebnisse des Soldaten Remarque beworben und es ganz bewußt ohne literarische Gattungsbezeichnung auf den Markt gebracht.13 Entsprechend wurde dem Buch kein künstlerischer Freiraum gewährt und die Darstellung des Kriegs als apokalyptisches Horrorszenario als Realitätsverzerrung angeprangert. In der Literaturbeilage der Times vom 18. April 1929 warnte der Kritiker Cyril Falls den englischen Leser vor der ausführlichen Beschreibung von „body functions“.14 Stein des Anstoßes war 10 Herbert

Read, Books of the Quarter, The Criterion 9 (Juli 1930), S. 764 [Hervorhebung im Original]. 11 Richard Church, War, The Spectator, 20. 4. 1929, S. 625. 12 Vgl. Ariela Halkin, The Enemy Reviewed. German Popular Literature Through British Eyes Between the Two World Wars, Westport 1995, S. 49, 56, 58 f., 62 f., 67 f., 78, 79; Brian ­Murdoch, We Germans? Remarques englischer Roman „All Quiet on the Western Front“, in: Erich ­Maria Remarque Jahrbuch/Yearbook 6 (1996), S. 10–34. 13 Vgl. Erhard Schütz, Romantik der Sachlichkeit. Die Marke Remarque, Ernst Jüngers Lehren und die rechten Konsequenzen daraus, in: Edward Bialek (Hrsg.), Literatur im Zeugenstand. Beiträge zur deutschsprachigen Literatur und Kulturgeschichte. Festschrift zum 65. Geburtstag von Hubert Orlowski, Frankfurt a. M. u. a. 2002, S. 289. 14 Cyril Falls, All Quiet on the Western Front, The Times Literary Supplement, 18. 4. 1929.

50   3.  Gegengeschichtsschreibung – Kampf um die Deutungsmacht zunächst die Darstellung der Greuel und des Unappetitlichen. In derselben Ausgabe der Times heißt es über Fritz von Unruhs Kriegsroman Opfergang von 1919, der 1928 ins Englische übertragen wurde: „such a description of horror, filth, and waste emphasized to the point of hysteria.“15 Zu der Empörung über Horror, Unflat und Körperfunktionen kam die Entrüstung über die angebliche Desavouierung der englischen Soldaten. Auch das in London enorm erfolgreiche Theaterstück Journey’s End wurde aus diesen Gründen in der English Review angegriffen. Das Stück sei die schlimmste Darstellung, die das Land je gesehen habe, so geschmacklos wie nur Mord geschmacklos sein könne. Glaube denn jemand, daß eine solche ununterbrochene Beleidigung von der Nation vor fünf Jahren toleriert worden wäre? Dieser gefährlichen Tendenz gelte es Einhalt zu gebieten: „Let us remember that we are at the centre of the greatest empire that the world has ever seen. Let us train our youths to be proud of their birthright. Let them hear what Britain has done, let them see what Britain can be.“ 16 Die Kunst wurde nicht als Kunst verstanden, sondern als Zeichen von gesellschaftlicher Dekadenz gedeutet. Wie bei der Kritik an Remarque wurde hier aus einer Theaterkritik ein flammender patriotischer Appell. In dem moralischen Aufruf an die Jugend artikulierte sich gar die Angst vor dem Verlust der imperialen Größe. In den Jahren 1929 und 1930 erschien eine Reihe weiterer Kriegsromane bekannter deutscher, englischer und amerikanischer Autoren, die die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs aus meist individueller Perspektive schilderten und dabei oft in expressiver Form und bis dahin unbekannter drastischer Detailliertheit auch die Kriegsgreuel darstellten. Obwohl die Romane von Remarque, Arnold Zweig, Robert Graves, Siegfried Sassoon und Ernest Hemingway in literarischer Gestaltung und Aussage sehr unterschiedlich sind, wurden sie von konservativen Kritikern meist einheitlich und abwertend als ‚neumodische‘ war books bzw. pacifist literature rezipiert. Es war vor allem der außerordentliche Erfolg der war books und die Begeisterung der britischen Jugend für diese Bestseller, die konservative Kritiker auf den Plan rief und einen Zusammenhang zu allgemeinem Werteverfall und moralischem Niedergang ziehen ließ. Der Journalist und diehard-Konserva­ tive Sir Frank Fox schrieb in der National Review: If the current books and plays, which are bringing in a golden harvest to various writers, publishers, and speculators, give a true picture of the British Army in the World War, it would seem that next Armistice Day the representatives of the Nation should go to the Cenotaph, give thanks to God that a million of our men were killed, and express regret that any came home.17

15 The

Times Literary Supplement, 18. 4. 1929. 16 H.T.W Bousfield, Journey’s End, in: English

Review 49 (Oktober 1929), S. 491–496, hier 496. Vgl. auch Journey’s End, The Patriot, 7. 11. 1929. Hier heißt das Stück sei „an insult to our million dead and to every man at home and in the Dominions who risked all to save our England from becoming a German dependency.“ 17 Frank Fox, These Scandalous War Books and Plays, in: The National Review 95 (Juni 1930), S. 192–200, hier 192.

3.1 ­Abgrenzung zur ‚pazifistischen‘ Deutungshoheit   51

Einige der konservativen Kritiker verdammten die pazifistische Kriegsliteratur nicht rundheraus. Man könne sogar durchaus, so eine Kritik in der Morning Post, die stilistische Fähigkeit zu Schock und Horror anerkennen. Auf keinen Fall dürfe man aber die Bücher als eine Wiedergabe der Realität auffassen, sondern als hochspezialisierte Erzählungen, in denen intellektuell arrogante Autoren, gehässig und verbittert, ihre Revolte gegen jegliche Disziplin artikulierten.18 In einer der vielen programmatischen konservativen Publikationen der frühen dreißiger Jahre, die sich um eine Wiedergeburt eines ‚wahren‘ Konservatismus bemühten, heißt es: „Of its [the war’s, B.D.] ghastliness we are very well aware, but to deny its many examples of supreme nobility is a foul lie in the face of heroism.“19 Der Herausgeber des London Mercury, John Squire, charakterisierte die Bücher von Remarque, Arnold Zweig und Ludwig Renn angeekelt als die ­„Lavatory School“ und nahm das zum Anlaß, dem deutschen Nationalcharakter grundsätzlich einen Hang zur Perversion zuzuschreiben.20 Einige Beobachter sprachen sich sogar dafür aus, eine königliche Kommission einzuberufen, die sich der Wahrheitssuche über den Ersten Weltkrieg widmen und die von den war books kolportierten Geschichten von Selbstmorden, Morden, Trunkenheit, Exekutionen und Unmoralität ins rechte Licht rücken solle: „Then some of the clever writers would be put through the mill of cross-examination by a clever council, and the public would then see – either true pictures of a real war, or Mammon disguised in the uniform of an old soldier.“21 Es gehe nicht um eine Romantisierung des Kriegs, so ein abwägender Kommentar in der Veteranenzeitung der British Empire Service League, Our Empire, aber man wolle ein ausgewogenes Bild, das nicht nur durch Horror, Dreck und vulgäre Sprache geprägt sei.22 Bei der jährlichen Konferenz des britischen Dachverbands der Veteranenvereinigungen The British Legion wurde im Juni 1930 in Cardiff gar eine Resolution gegen jene Kriegsbücher verabschiedet, die nicht auf Fakten basieren, da der Krieg unter keinen Umständen als ein Medium für fiktionale Werke genutzt werden dürfe, und sei es nur aus Respekt vor den toten und verstümmelten Kameraden.23 Diese negative Beurteilung der Kriegsbücher wurde jedoch nicht nur in konservativen Kreisen vertreten. In der Labour-nahen Boulevard-Tageszeitung Daily Mirror wurden die Kriegsbuchautoren als effekthascherisch und sensationsgierig kritisiert. Es sei an der Zeit, daß man diese ‚blutige Schule‘ von Schreibern, die an einem Enthüllungskomplex litten, verbiete.24 Interessant ist in diesem Zusammenhang auch der Versuch, dem Kriegshorror eine typisch britische „lighter side 18 Valentine

Williams, The Unhappy Warriors and their Unhappy Books, Morning Post, 11. 2.  1930. 19 Dorothy Crisp, The Rebirth of Conservatism, London 1931, S. 98. 20 Squire, Editorial Notes, The London Mercury 11 (November 1929). 21 So der General Sir Ian Hamilton bei einer Veranstaltung im Australia House in London. Vgl. The Times, 26. 4. 1930. Sir Frank Fox plädierte ebenfalls für eine solche Untersuchung, vgl. Fox, These Scandalous War Books and Plays, S. 199. 22 „Aitcheff“, More War Books and a Moral, Our Empire, April 1930. 23 War Books Criticised, The Daily Mirror, 11. 6. 1929. 24 Ernest Betts, War Books, The Daily Mirror, 28. 4. 1930.

52   3.  Gegengeschichtsschreibung – Kampf um die Deutungsmacht of war“25 entgegenzusetzen. 1930 erschien als Antwort auf die Kriegsromane die „500 of the Best Cockney War Stories“26 und über diese schrieb das Gesellschaftsmagazin, The Bystander: „Full of true British humour, these anecdotes come as a great change from the everlasting War memoirs that deal only with the horrors and struggles of the past.“27 Grundsätzlich wurde in liberalen und linken Kreisen meist die Ehrlichkeit und Schonungslosigkeit der Bücher und der damit verbundene positive pädagogische Effekt gelobt, während in der konservativen Presse eine kritisch-ablehnende Rezeption der Kriegsbücher überwog. Es ist äußerst aufschlußreich, wie das negative Urteil beiderseits des Ärmelkanals geteilt wurde. So hat etwa Ernst Jünger in einem Interview mit dem Evening Chronicle Remarques Buch als eine internationalistische und pazifistische Camouflage Deutschlands beschrieben.28

3.1.3  Die Kriegsbuchkontroverse Insbesondere für alle jene Autoren, die in den frühen zwanziger Jahren in Form von Memoiren oder militärhistorischen Darstellungen ihrer Einheiten den Krieg verarbeitet hatten, stellten die neuen Kriegsromane eine grundsätzliche Herausforderung dar. Die Auseinandersetzung um die ‚richtige‘ Erinnerung an den Ersten Weltkrieg hatte dabei von Anfang an weniger eine literarische, sondern viel stärker eine politische und weltanschauliche Dimension. Eine exponierte Stellung in diesem Kampf um die Deutungsmacht nahm Douglas Jerrold ein, den dieses Thema als Journalist, populärwissenschaftlicher Autor und Verleger seit seinem 1923 unter der Schirmherrschaft von Winston Churchill entstandenen Buch The Royal Naval Division intensiv beschäftigte.29 Bereits bei seiner zweiten großen militärhistorischen Untersuchung ging es ihm um eine Gegenposition zur vermeintlichen Verzerrung des Kriegserlebnisses durch ‚individualistische‘, ‚psychologisierende‘ und ‚pazifistische‘ Kriegsliteratur. In The Hawke Battalion von 1925 widmete er ein ganzes Kapitel der frühen Kriegsliteratur. Um ‚Literatur‘ im eigentlichen Sinne ging es ihm dabei allerdings nicht. Vielmehr machte er sich zum Anwalt des einfachen Soldaten, dessen Erinnerung an den Krieg und Selbstverständnis als Soldat grundsätzlich in Frage gestellt worden sei.30 Diese Soldaten müßten sich fragen, so Jerrold sarkastisch, ob 25 Bereits

während des Krieges erschien in der Kriegszeitschrift The War eine Kolumne „The lighter side of war“ des britischen Schriftstellers John Buchan. Vgl. Ursula Meyer, „A brave people delights to honour a brave foe“. Der Kleine Kreuzer Emden aus britischer Sicht, in: Krieg und Literatur. Internationales Jahrbuch zur Kriegs- und Antikriegsliteraturforschung 14 (2009), S. 34. 26 500 of the best Cockney War Stories. Reprinted from the London Evening News, London 1930. 27 The Bystander, 19. 2. 1930, S. 10. 28 Ernst Jünger, Why I wrote „The Storm of Steel“, The Evening Chronicle, 29. 11. 1929. 29 Douglas Jerrold, The Royal Naval Division, London 1932. Vgl. Jerrold, Georgian Adventure, S. 267. 30 „The incursion of the egoist into the field of war literature would have been a small enough matter had it not been for the fact that some twenty millions of more or less educated people

3.1 ­Abgrenzung zur ‚pazifistischen‘ Deutungshoheit   53

sie tatsächlich den wahren Krieg erlebt hätten. Denn offensichtlich seien ja die die Feiglinge die wahren Helden und die Befehlsverweigerer die wahrhaft Tapferen gewesen.31 Der verbittert-sarkastische Ton ist sicher zu einem gewissen Maß auch dem Neid des Publizisten Jerrolds geschuldet: Schließlich verkauften sich die Bücher von Rupert Brooke und Siegfried Sassoon (und später vor allem die von Robert Graves und Remarque) um einiges besser als seine und andere militärhistorischen Darstellungen. Doch Jerrold ging es um mehr. Für ihn waren die Kriegsbücher und ihre individualisierte und psychologisierende Darstellung des Krieges nicht nur Zeichen einer bedauernswerten ästhetischen Entwicklung, sondern Ausdruck eines sowohl kulturellen als auch politischen Niedergangs. Letztlich seien sie nichts anderes als Symptome des urbanen und überreizten Zeitalters.32 Jerrolds Kampf um die Deutungsmacht über die Erinnerung des Ersten Weltkriegs kulminierte schließlich in seinem 1930 veröffentlichten Pamphlet The Lie about the War – eine polemische Abrechnung vor allem mit den neuen Kriegs­ romanen. In bemerkenswerter Übereinstimmung mit nationalistischen Kreisen in Deutschland verurteilte er das Bild des Kriegsteilnehmers als Deserteur und Selbstverstümmler und wandte sich vor allem gegen die Unterstellung eines sinnlosen Krieges.33 Jerrolds Pamphlet – das als Sonderausgabe von T.S. Eliots Criterion erschien – ist eine Sammelkritik von 16 Büchern, die Ende der zwanziger Jahre veröffentlicht wurden und einen regelrechten war books boom auslösten. Bei den meisten dieser Bücher handelt es sich um heutige Klassiker der Weltliteratur, deren detaillierte Darstellungen des Horrors des Schützengrabenkrieges an der Westfront bereits zur Zeit ihrer Veröffentlichung für viel Aufmerksamkeit gesorgt hatten und die für die populäre Erinnerungskultur des Ersten Weltkriegs nicht nur in Großbritannien von fundamentaler Bedeutung waren.34 Jerrold erkannte bereits früh, welche Gefahr hinsichtlich einer ‚pazifistischen‘ Mythisierung des Ersten Weltkriegs von diesen Büchern ausging. Im Januar 1930 schrieb er in der English Review: „We do not apologize for devoting so much were standing about Europe and America after the war, wondering what it all had been about.“ Douglas Jerrold, The Hawke Battalion. Some Personal Records of Four Years, 1914– 1918, London 1925, S. 228. 31 Jerrold, The Hawke Battalion, S. 228. 32 Ebd. 33 Douglas Jerrold, The Lie About the War. A Note on Some Contemporary War Books, London 1930, S. 10. Dazu auch ders., Current Comments, in: English Review 50 (Januar 1930), S. 5–16, hier 13–16. Vgl. hierzu Barbara Korte et al., Der Erste Weltkrieg und die Mediendiskurse der Erinnerung in Großbritannien. Autobiographie, Roman, Film (1919–1999), Würzburg 2005, S. 28 f.; Bernard Bergonzi, Heroes’ Twilight. A Study of the Literature of the Great War, Manchester 1996, S. 187 f. 34 Vgl. hierzu Todman, The Great War, S. 19 f.; Janet S. K. Watson, Fighting Different Wars. Experience, Memory and the First World War in Britain, Cambridge 2004, S. 185–218; Brian Bond, The Unquiet Front. Britain’s Role in Literature and History, Cambridge 2002, S. 27–49; Hynes, A War Imagined, S. 451–459; Paul Fussel, The Great War and Memory, Oxford 1975; Modris Eksteins, Rites of Spring. The Great War and the Birth of the Modern Age, London 1989, S. 275–299.

54   3.  Gegengeschichtsschreibung – Kampf um die Deutungsmacht a­ ttention to these books. Over 100,000,000 people all over the world have read them. No literary ‚movement‘ in our time has had so wide or damaging an influence. It is time to make an end of it.“35 Der Wahrheitsanspruch der Kriegsbücher und die offensichtliche Willigkeit der Öffentlichkeit, diesen anzuerkennen, lösten bei Jerrold ein elementares Unbehagen aus. Angesichts der Massenkompatibilität der ‚romantischen‘ Sicht von der Sinnlosigkeit des Krieges und des ‚naiven‘ Glaubens an die Fortschrittlichkeit der Welt stilisierte er sich als gesellschaftlicher Außenseiter.36 Damit ist Jerrolds Pamphlet weniger eine literarische Auseinandersetzung mit den einzelnen Büchern, sondern vielmehr eine publizistische Offensive gegen jene „lie about the war“, die Jerrold in vielerlei Hinsicht fundamental herausforderte: als Soldat, als Kriegberichterstatter und als politischer Intellektueller. Für Kriegsberichterstatter wie Jerrold war es unverständlich, wie die Öffentlichkeit die eigenen militärhistorischen Erzählungen einfach ignorieren und nun die Erzählungen der war books als das ‚wahre‘ Kriegserlebnis akzeptieren konnte. Insbesondere die Darstellung der Ereignisse als eine permanente Folge von Kriegshorror provozierte Jerrold und seine Mitstreiter. Für dieses, für die eigene Biographie und Sozialisation so einschneidende Ereignis konnte Jerrold offensichtlich keine künstlerische Freiheit geltend machen.37 Denn die Tatsache, daß einige der Kriegsbücher von Männern geschrieben waren, die an den Kampfhandlungen gar nicht beteiligt waren, brachte sie von vornherein um jegliche Glaubwürdigkeit. „These books could be read and accepted only by men who had wholly forgotten or wholly rejected the earlier books“.38 Dabei galt der Krieg keineswegs als sakrosankt. Aus der Sicht des Kriegsberichterstatters mache es durchaus Sinn, so Jerrold, auf militärische Schwierigkeiten, Probleme mit Material und Versorgung und politische Fehlentscheidungen hinzuweisen. Nur dazu seien die „literary pacifists“ offensichtlich nicht in der Lage; es gehe ihnen grundsätzlich um etwas ganz anderes: „These books all reflect (intentionally or otherwise) the illusion that the war was avoidable and futile, and most of them reflect the illusion that it was recognised as futile by those who fought it.“39 Die publizistische Abwehrschlacht gegen die vermeintliche Sinnlosigkeit des Krieges bezieht sich nur vordergründig auf die militärisch-machtpolitischen Aspekte des Krieges und auf die Niederschlagung des Deutschen Reiches 35 Douglas Jerrold,

Current Comments, in: English Review 50 (Januar 1930), S. 5–16, hier 13– 16. 36 Jerrold, The Lie About the War, S. 11. 37 Die Folgen des Krieges spürte Jerrold auch körperlich. Laut seines Freundes Charles Petrie bereiteten ihm auch zehn Jahre nach dem Krieg die Auswirkungen seiner Verletzungen noch chronische Schmerzen. Charles Petrie, A Historian Looks at his World, London 1971, S. 116. 38 Jerrold, The Lie About the War, S. 11. Douglas Jerrold verteidigte seine Position auch in einer Debatte im Radioprogramm der BBC. Vgl. „A discussion on war books“, Wednesday, 19. 3. 1930, 9.25 p. m., National Programme between Douglas Jerrold, Mrs. M.A. Hamilton, M.P., Mr. Vernon Bartlett, Radio Times, 19. 3. 1930. 39 Jerrold, The Lie About the War, S. 18.

3.1 ­Abgrenzung zur ‚pazifistischen‘ Deutungshoheit   55

durch Großbritannien. Selbstverständlich waren aus Sicht der Kritiker der war books die Entbehrungen, die Opfer und die Grausamkeiten des Krieges notwendig gewesen, um den Feind zu besiegen. Es war ja auch keineswegs lediglich der ausführlich dargestellte Kriegshorror, der sie herausforderte, sondern die Tatsache, daß es wenigen Autoren gelungen war, ein ‚unmännliches‘ Bild des Krieges in der Öffentlichkeit zu verankern. In dem sich in den späten zwanziger und frühen dreißiger Jahren immer stärker im kulturellen Gedächtnis verankernden Bild des Ersten Weltkriegs als sinnlose Materialschlacht, als anonymer Abnutzungskampf, der unter unmenschlichen Bedingungen und Nervenzusammenbrüchen in den Schützengräben erduldet wurde, hatten Disziplin, Tapferkeit und individuelles Heldentum keinen Platz mehr. Die neuen Kriegsbücher gestatteten keine Versöhnung von modernen Kriegsbedingungen und traditionellen männlich-heroischen Werten. Damit attackierten sie fundamental die Vorstellung des heldenhaften Soldaten, der unter Extrembedingungen über sich hinauswachsen kann, bei dem der Krieg als existentielle Gefahrensituation zum Auslöser tief verwurzelter, atavistischer aber zeitloser Kampfinstinkte und Überlebenstriebe wird. Es sind keine entfesselten, rauschhaften Gewaltphantasien, die Jerrold den populären war books entgegensetzt, sondern das Bild des tapferen, stoisch-ertragenden und damit heldenhaften Soldaten: „The ordinary man can endure the utmost extremity of danger, in conditions foul beyond belief, even for several days at a stretch, not surviving in spite of war but precisely because it is war.“40 Das dekonstruktivistische Potential der pazifistischen Kriegsliteratur lag jedoch nicht nur in einer Herausforderung der Sinnhaftigkeit individueller männlichsoldatischer Werte, sondern in einem Angriff auf das traditionelle britische männliche Wertesystem insgesamt. Was die israelische Historikerin Ariela Halkin für die britische Rezeption der pazifistischen deutschen Kriegsliteratur beschrieben hat, gilt für die pazifistische Kriegsliteratur insgesamt. Sie forderte tief verankerte britische Werte und Codes heraus. Die Anpassung an dieses gefeierte Wertesystem wurde bereits von den männlichen Schülern der public schools erwartet. Im Zentrum stand dabei Selbstkontrolle und Selbstbeschränkung sowie Würde und die Fähigkeit zur absoluten Emotionslosigkeit. Ritterlichkeit gegenüber dem Feind und galantes Benehmen gegenüber Frauen, selbstverständliche Akzeptanz von Pflicht und Dienst, Opferbereitschaft für das Vaterland und uneingeschränkte Loyalität gegenüber dem Team, der Schule, der Nation und somit letztlich sich selbst, waren weitere Grundpfeiler dieses Wertesystems.41 Aus dieser Sicht mußten Kriegsbücher, in denen ausführlich das individuelle Schicksal, die persönliche Angst und das körperliche und seelische Leid des Einzelnen dargestellt wurden, als Verrat an den Werten des Gentleman und Offizier verstanden werden. Indem die war books die individuelle Kriegserfahrung literarisch verarbeiteten und ihr Allgemeingültigkeit zusprachen, wurde aus Sicht ihrer 40 Ebd.,

S. 30. The Enemy Reviewed, S. 54.

41 Halkin,

56   3.  Gegengeschichtsschreibung – Kampf um die Deutungsmacht Kritiker der tragisch-heroische Charakter des Krieges in seiner historischen ­Gesamtheit überhaupt nicht erfaßt. Denn der Krieg, so Jerrold, habe eben nicht ­lediglich aus der Gesamtheit mikroskopisch erfaßter und dann addierter Einzel­ erfahrungen bestanden. Der Verlauf des Krieges, so Jerrold in seiner Kriegsdarstellung War on Land von 1928, sei mehr von historischen Kräften als von individuellen Erfolgen oder Fehlern determininiert gewesen.42 In Jerrolds Weltbild wurde der Krieg sowohl als Politik mit anderen Mitteln als auch als tragisch-heroisches Menschheitsereignis akzeptiert, dessen Bedeutung sich erst durch die militärische Logik und durch den großen historischen Zusammenhang ergebe. Aus dieser Perspektive war die Darstellung des Krieges als apokalyptisches Inferno und Zivilisa­ tionsbruch eine unverzeihliche Verzerrung der Realität. Um das eigene Weltbild zu verteidigen, zog Jerrold auch radikalkonservative Autoren aus dem Ausland heran. So verlegte er 1930 die von ihm aus dem Französischen übersetzten Maximes sur la guerre des französischen Biologen und Weltkriegsteilnehmers René Quinton.43 Obwohl unvollendet, da Quinton 1925 noch vor der Fertigstellung des Buches starb, avancierte Maximes sur la guerre zu einem äußerst einflußreichen Werk bei der französischen Rechten der Zwischenkriegszeit und beeinflußte beispielsweise den Gründer der französischen Faschisten, den Faisceau, Georges Valois.44 In Form einer Aphorismensammlung ist das Buch eine weltanschauliche Skizze, in der nicht nur dem Krieg die entscheidende Rolle beim Aufstieg und Niedergang von Gesellschaften beigemessen wird, sondern in dem das Opfer für die eigene Rasse als der Sinn des Lebens schlechthin dargestellt wird. Die Bedeutung des Buches, so Jerrold, liege darin, daß es eine konstruktive Philosophie anbiete, die der konkreten Kriegserfahrung entstamme und mit der modernen Wissenschaft in Einklang bringe. Vor allem faszinierte ihn jedoch die ‚Männlichkeit‘ des Buches, die er dem Gros der angelsächsischen Literatur absprach.45 Tatsächlich hat das Buch einen harten, unerbittlichen und apodiktischen Charakter. Der Krieg und die Gewalt des Krieges erscheinen als eine anthropologische Gundkonstante männlicher Existenz. Erst im Krieg könne der Mann seinen Daseinszweck erfüllen und mit der Bereitschaft, sein Leben zu opfern, seine wahre Bestimmung erfahren, so die Grundaussage. Die Verherrlichung des Krieges, der Gewalt und des Opfers korrespondiert dabei mit einer radikalen Abwehr alles Weiblichen. Als Garanten des Lebens und unfähig zur Abstraktion müßten ­Frauen den Krieg hassen. Daher sei „the taste for war […] an essential quality of the male. War will die when love dies.“46 42 Douglas Jerrold,

The War on Land. In the Main Theatres of War 1914–1918, London 1928, S. 3. 43 René Quinton, Soldier’s Testament. Selected Maxims. Translated, with a Critical Introduction, by Douglas Jerrold, London 1930. 44 Jacob Leib Talmon, The Myth of the Nation and the Vision of Revolution. The Origins of Ideological Polarisation in the Twentieth Century, London 1980, S. 471. 45 Douglas Jerrold, Introduction, in: René Quinton, Soldier’s Testament. Selected Maxims, London 1930, S. 3. 46 Quinton, Soldier’s Testament, S. 64.

3.1 ­Abgrenzung zur ‚pazifistischen‘ Deutungshoheit   57

Das Bild des Kriegs und das des Soldaten wurden bei Quinton unhistorisch, überzeitlich und vor allem übernational formuliert. Die gemeinschaftsbildenden Kategorien waren Generation, Männlichkeit und in einem abstrakten Sinne Vater­ land. Das machte das Buch für Jerrold so wichtig. So wie Remarque das Bild des Soldaten universell herausgefordert hatte, so galt es jetzt, dieses universell wieder herzustellen. Dem Bild des nervösen Feiglings, des traumatisierten Verweigerers und des unmännlichen Desillusionierten galt es das ‚wahre‘ Bild des Soldaten entgegenzustellen. Dabei ging es nicht nur darum, das eigene Kriegserlebnis zu verteidigen, sondern auch den Feind miteinzubeziehen, denn dieser durfte für die Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz als Krieger ebensowenig traumatisiert, unmännlich und desillusioniert erscheinen. Die gegenseitigen Tapferkeitsbekundungen sprechen hier Bände. In dem oben bereits zitierten Interview des Evening Chronicle mit Ernst Jünger erwähnte dieser ausdrücklich die Tapferkeit der britischen Soldaten und die Kameradschaftlichkeit, die zwischen den Feuerpausen herrschte.47 SetonHutchinson schrieb: „Remarque’s puppets had no counterpart in the British armies, and with emphasis I declare also that they do in no manner, typify the ­German soldier.“ 48 Und für Sir Frank Fox war klar, daß das von den deutschen Romanen kolportierte Bild von den deutschen Soldaten als Feiglinge, Trinker und Deserteure nicht richtig sein könne – „mainly if it were a true one it seems to me that we should have been on the Rhine not in 1918 but in 1914.“49 Vor diesem Hintergrund galt es, das über die Zeiten und Ländergrenzen hinweg gültige Bild des heroischen und ritterlichen Soldaten als Inkarnation männlicher Tugenden gegenüber den war books, vor allem aber gegenüber der lesenden Öffentlichkeit wieder herzustellen. Typisch hierfür war Graham Seton-Hutchisons 1934 erschienene Veröffentlichung mit dem programmatischen Titel Warrior. In dem Buch konzentriert er sich auf den warrior, als den wichtigsten Soldatentyp, der in der Infanterie an der Westfront in den Schützengräben von Flandern gekämpft hat, denn dort sei es gewesen wo „his feat of arms, and not least the imprint of his character, will remain indelibly marked upon the history of his race and upon that of all civilization.“ Der Typ des warrior wird hier zum Symbol und Fluchtpunkt des lautstarken ‚Gegenerinnerns‘. Einhergehend mit eindringlichen Verlustängsten dient er sowohl der eigenen Vergewisserung als auch der politischen Kampfansage gegen eine pazifistische Erinnerungskultur. Der Krieg war demnach alles andere als sinnlos, denn: „The Great War raised the qualities of honour, patriotism and devotion to an ideal, to an eminence never previously ­attained in all history of mankind.“ Die Lehre aus dem Krieg sei keineswegs eine Vermeidung eines weiteren Kriegs um jeden Preis, sondern die Gewißheit, daß diese Werte in einem zukünftigen Konflikt wieder abrufbar seien.50 47 Ernst

Jünger, Why I wrote „The Storm of Steel“, The Evening 48 Graham Seton-Hutchison, Warrior, London 1932, S. 11. 49 Fox, These Scandalous War Books and Plays, S. 193. 50 Seton-Hutchison, Warrior,

S. 12.

Chronicle, 29. 11. 1929.

58   3.  Gegengeschichtsschreibung – Kampf um die Deutungsmacht Aus der Sicht der Neo-Tories war es unhistorisch und töricht, dem Geist des Krieges zehn Jahre nach seinem Ende seinen positiven und idealistischen Gehalt abzusprechen. „The whole negative attitude towards war is wrong“, so Francis Yeats-Brown in einem Artikel in der Wochenzeitschrift The Spectator im März 1929. Es gelte, sich auch der Aufregung, der Vorfreude und dem Gefühl der Unabwendbarkeit zu erinnern, die vor dem Ersten Weltkrieg alle Menschen erfaßt habe. „We were tired of our workaday tasks. They were not exciting enough.“51

3.1.4  Der Antipazifismus der Neo-Tories Ende der zwanziger und Anfang der dreißiger Jahre befanden sich die Neo-Tories mit ihrer kriegsbejahenden Position in der Defensive. So gehörte zu den vielfach artikulierten Klagen, daß eine objektive Diskussion des Kriegs und der ‚Gefahr‘ des Pazifismus momentan nicht möglich sei, da die Gesellschaft sowohl wegen des vergossenen Blutes als auch wegen der medialen Aufbereitung des Kriegs in einem Zustand des Schocks sei. Anthony Ludovici schrieb in seiner Studie Violence, Sacrifice and War aus dem Jahr 1933: „Even the generation which has grown to adulthood since the opening of the war, and which, therefore, had no direct experience of it, has been educated in an atmosphere so heavily charged with the melodrama of war literature, that they can hardly be regarded as any more sane than their nerve-shattered elders.“ Der Pazifismus, so Ludovici, sei daher momentan eher eine neurotische Reaktion auf eine große Tragödie, als eine intellektuelle und nüchterne Überzeugung.52 Diese, aus einer kollektiven – und weiblichen – Emotion geborene Haltung sei hochgefährlich, so Ludovici. Der Pazifismus gefährde nicht nur die Stabilität der britischen Gesellschaft, sondern auch die internationale Stellung Englands – wobei hier weniger die konkret außenpolitisch-diplomatische Position Großbritanniens gemeint war als vielmehr die Stellung Englands in einem sozialdarwinistisch verstandenen Kampf der Nationen. Ludovicis politische Bezugsgröße war hier erneut nicht der Staat Großbritannien, sondern das sowohl politisch als auch rassisch verstandene und mythisch überhöhte ‚England‘: Thus, according to the Pacificist, limits must now be imposed on all nations. If, however, the English are not to be allowed to multiply and expand any more than the Russians, the Levantines, the hybrids of South Africa and South America, or the Eskimos and the Lapps — in fact, if the English are to be made to limit their energies, their breeding capacity, and their aspirations […] it means that the English are no more important or desirable than these other peoples.53

Es gebe allerdings keine Gleichheit, sondern eine Hierarchie der Rassen, so ­Ludovici. Ein Pazifist, der einer höherwertigen Rasse angehöre und diese nicht verteidige, sei daher ein ‚Vandale‘, ein potentieller Zerstörer seines eigenen Nach-

51 Francis

Yeats-Brown, What Shall We Fight?, The Spectator, 16. 3. 1929. M. Ludovici, Violence, Sacrifice and War [The St. James’ Kin of the English Mistery], London 1933, S. 17. 53 Ludovici, Violence, Sacrifice and War, S. 18. 52 Anthony

3.1 ­Abgrenzung zur ‚pazifistischen‘ Deutungshoheit   59

wuchses.54 In Ludovicis sozialdarwinistischem Verständnis von Krieg war Pazifismus schlicht ‚rassezerstörend‘. Nicht alle Neo-Tories argumentierten rassistisch, aber gemeinsam war ihnen die Selbststilisierung als intellektuelle Avantgarde, als die wenigen Klarsichtigen angesichts eines emotionalen Pazifismus, der die Masse der Gesellschaft erfaßt habe. Dabei versuchten sie dem Pazifismus grundsätzlich seine Berechtigung als politische und philosophische Position abzusprechen. Als intellektuelle Gewährsmänner beriefen sie sich dabei auf Nietzsche, Sorel, vor allem aber wieder auf T.E. Hulme.55 Der 1917 im Krieg gefallene Hulme verband in seinem posthum veröffentlichten philosophischen Werk eine fundamentale Kritik des humanistischen Menschheitsideals und eine Verurteilung des liberalen Fortschrittsgedankens mit einem radikalen religiösen Konservatismus.56 In seinem Hauptwerk Further Speculations argumentierte er grundsätzlich gegen den Pazifismus als philosophische Position und arbeitete sich dabei vor allem an der Philosophie Bertrand Russels ab.57 Gegen ­rationalistische Einwände stellte er ein überzeitliches heroisches Wertesystem, das nicht daran gebunden sei, jedes Opfer von Leben zu verdammen. Ethische Werte ließen sich demnach durchaus in eine hierarchische Ordnung bringen. Während der Humanismus dem Leben einen ultimativen ethischen Wert zuspreche, sehe eine ‚wahre‘ Ethik im Leben den Träger höherer, heroischer Werte, die selbst unabhängig vom Leben sind.58 Hulmes Argumentation wurde durch seinen frühen Tod im Ersten Weltkrieg, gleichsam als Opfer seines eigenen Lebens an ‚höhere Werte‘, für Neo-Tories wie Ludovici, Gardiner und Jerrold um so schlüssiger. Der Antipazifismus der Neo-Tories und die Auseinandersetzung um die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg war in den Jahren 1929 und 1930 nicht nur eine reine Literaturdebatte. Im Kampf um die Deutungshoheit über den Krieg ging es auch um andere Formen der öffentlichen Erinnerung. Als 1929 Vorschläge für eine Veränderung des Gedenkens am Armistice Day laut wurden und der zivile Charakter der Feierlichkeiten verstärkt werden sollte, löste dies bei Douglas Jerrold vehementen Protest aus. In der Daily Mail schrieb er: The soldier and sailor we are told, if they come at all, should come unarmed. From now on the civilian should take the first place. Behind these proposals lies more than impertinence; people are trying to establish in the popular mind a connection between the armed forces of the Crown and the cause of war, and between the stately figures of our politicians and the peace which we all desire to ensure. It is a bastardly inversion; for wherever the responsibility lay precisely for the Great War, it lay with the politicians and not with the soldiers. To try to suggest the contrary is to try to bolster up a lie about the past by an insult to the dead.59

54 Ebd.,

S. 20. Kapitel 2.2. 56 Hoeres, T.E. Hulme. Ein konservativer Revolutionär aus England. 57 T.E. Hulme, Further Speculations, hrsg. v. Sam Hynes, Minneapolis 1955. 58 Hulme, Further Speculations, 204 f. 59 Douglas Jerrold, At the Price of their Lives, Daily Mail, 11. 11. 1930. Vgl. Adrian Gregory, The Silence of Memory. Armistice Day, 1919–1946, Oxford 1994, S. 124. 55 Siehe

60   3.  Gegengeschichtsschreibung – Kampf um die Deutungsmacht Die Auseinandersetzung um den Armistice Day ist symptomatisch für den relativen Erfolg einer zunehmend zivilen und abnehmend militärischen Erinnerungskultur.60 1929 wurde der Armistice Day erstmals ohne den König gefeiert und auf Wunsch der Regierung die Anzahl der Uniformierten deutlich verringert. Der militärische Charakter des Erinnerns wich zunehmend einem zivilen Erinnern und einem in die Zukunft gerichteten Mahnen an den Frieden. In der Wochenzeitschrift The Spectator wurde diese Entwicklung deutlich begrüßt: „The commemorations look forward as well as back. As the personal memoirs now poignantly grow dimmer, as they must, the second purpose of the commemoration will become more prominent.“61 Diese Entwicklung war Teil einer generellen Marginalisierung von militaristisch-nationalistischen Tendenzen. Anders als im Deutschland der Weimarer Republik waren im Großbritannien der Zwischenkriegszeit sowohl paramilitärischen Verbänden als auch generell der Gewalt als Mittel der politischen Auseinandersetzung enge Grenzen gesetzt. Ein den Freikorps und Wehrverbänden vergleichbares Eindringen militärischer Organisationen und Denkweisen in die Mitte der Gesellschaft hat es in Großbritannien nicht gegeben.62 Die britische Veteranenvereinigung, The British Legion, war deutlich weniger nach militärischem Vorzeichen organisiert und blieb politischer Gewalt fern. So wurde im British Legion Scottish Journal die Frage „Do ex-Servicemen’s organisations foster militarism?“ entschieden verneint und klargestellt, daß ­Politiker Kriege begännen und nicht Soldaten.63 Neo-Tories, wie Rolf Gardiner in einem Artikel für den Deutschen Akademischen Austauschdienst im April 1936, beklagten dagegen, daß die britischen Frontsoldaten-Verbände „im Bereich des Sentimentalen und des rein Fürsorgerischen versackten.“64 In seiner Studie zu den britischen Veteranen kommt Niall Barr zu dem Schluß: „As a unified, national movement, with no overt political affiliations and a low percentage of the total ex-service community within its ranks, the Legion was unique within Europe.“65 Repräsentativ für die zivile und demokratische Erinnerungskultur in Groß­ britannien ist die Symbolsprache der Kriegsdenkmäler. Anstatt eines heroisch-­ patriotischen dominiert ein supranationaler und spiritueller Denkmalstyp. Der ­Patriotismus der Kriegsdenkmäler ist der Patriotismus der patria, im Sinne eines lokalen Verständnisses für Herkunft und Identität.66 Exemplifiziert ist dies im Typ des Denkmals für den ‚unbekannten Soldaten‘. Die Erinnerung an den unknown soldier wurde von der breiten Masse in die Erinnerung an den Ersten 60 Vgl.

Gregory, The Silence of Memory, S. 125. 61 The Spectator, 16. 11. 1929. 62 Robert G. L. Waite, Vanguard of Nazism. The

Free Corps Movement in Postwar Germany 1918–1923, Cambridge (MA) 1952. 63 Is the Legion Militarist?, British Legion Scottish Journal 5 (März 1929). 64 Gardiner, Die englische Wandlung, S. 297. 65 Niall Barr, The Lion and the Poppy. British Veterans, Politics and Society 1921–1939, Westport 2005, S. 1. Vgl. hierzu auch Deborah Cohen, The War Come Home. Disabled Veterans in Britain and Germany, 1914–1939, Berkeley 2001. 66 Bushaway, Name upon Name, S. 142.

3.1 ­Abgrenzung zur ‚pazifistischen‘ Deutungshoheit   61

Weltkrieg integriert – nicht der übermenschliche Held verkörpert in diesem Konzept die Nation, sondern der einfache, klassen- und alterslose Mann. Um mit dem Trauma des Kriegs fertig zu werden, so urteilt der Historiker Alan Kramer, war diese Erinnerungskultur in Großbritannien und Frankreich außerordentlich erfolgreich: „In Britain and France the unknown soldier was a symbol of the past; in Germany, memory of the dead was contested between the personal and the political sphere of the present.“67 Die Kriegsdenkmäler und die Kriegserinnerung im allgemeinen bedienten sich dabei einer Symbolik der Eucharistie und der ­Passion Christi. Im Vordergrund standen das Leiden und das Opfer der Gefallenen. Gerade weil die offizielle Kriegserinnerung ausdrücklich säkular verlief, sich aber dennoch der Sprache des christlichen Opfergedankens bediente, dominierte bei der Erinnerung an die Gefallenen ein christlich gefärbter Erlösungsgedanke. In dieser Erinnerungssemantik bestand der Sinn des Opfers zunehmend in einer Niederschlagung des Kriegs selbst und immer weniger im Sieg über Deutschland. Wie erfolgreich diese Entwicklung war, läßt sich auch anhand der Reaktion ihrer Gegner ablesen. Vor allem bei der nationalistischen Rechten und insbesondere bei der diehard-Presse lösten die neuen Kriegsdenkmäler einen Proteststurm aus. In einem Artikel der nationalistischen Wochenzeitung The Patriot wurde im April 1929 beklagt, daß die Einweihung von Kriegsdenkmälern in den letzten Jahren als Propagandamittel für einen „defeatist anti-Britishism“ mißbraucht worden seien. Es werde versucht, die Veteranenorganisation British Legion zu einem Zweig des Völkerbunds zu machen. Als Beispiel beschrieb der Autor die Einweihung eines Denkmals in einem Postamt in Manchester: „The memory of postal loyalists who died in the war was insulted by changing its name into ‚peace‘ memorial. No British Army badges were displayed. Instead of British soldier effigies the statue was a partially-draped female with two naked boys at her side.“68 Vor diesem Hintergrund ist es bemerkenswert, daß die politische Kultur Großbritanniens nach dem Ersten Weltkrieg weniger gewalttätig war als noch vor dem Krieg. Zum einen lag das an der Demokratisierung der politischen Kultur durch die Wahlrechtsreformen. Zum anderen stand Englishness selbst nach dem Krieg verstärkt unter dem Vorzeichen der Gewaltfreiheit. Nicht zuletzt die Gewalt in Irland, die Anfang der zwanziger Jahre von paramilitärischen Truppen ausging, wurde zunehmend als ‚unenglisch‘ und ‚fremd‘ definiert, selbst dann, wenn sie von Briten begangen wurde. Der Historiker Adrian Gregory betont, daß Konservative, die noch vor dem Weltkrieg angesichts der Pläne für mehr irische Unabhängigkeit zum Bürgerkrieg aufrufen wollten, nach dem Krieg zunehmend zu Zugeständnissen bereit waren. „Thus began the long British tradition of double­ think over ‚Irish political violence‘, that it had nothing to do with ‚Englishness‘,

67 Alan

Kramer, Dynamic of Destruction. Culture and Mass Killing in the First World War, Oxford 2007, S. 284. 68 „Attipor“, Defeatist Anti-Britishism, The Patriot, 11. 4. 1929.

62   3.  Gegengeschichtsschreibung – Kampf um die Deutungsmacht even when carried out on the part of British Governments. It was not only detached, it was in fact the opposite, the ‚other‘.“69 Für die Neo-Tories wurde aus dem Kampf um die Deutungshoheit über den Ersten Weltkrieg zunehmend ein Kampf um die Deutungshoheit über Englishness. Das dominierende Verständnis von Englishness war in der Zwischenkriegszeit an den Prozeß von politischer und sozialer Modernisierung gekoppelt. Die nationale englische Identität wurde demnach als ‚zivilisiert‘, ‚anständig‘, ‚defensiv‘ und ‚fair‘ definiert.70 Ein Hauptträger und politischer Vermittler dieser Konstruktion von Englishness war ein sich zur politisch dominierenden Kraft entwickelter Mainstream-Konservatismus, der hinsichtlich der Erinnerungskultur eine rechtfertigende moralische Selbstvergewisserung mit einem patriotischen Pazifismus verband.71 Es verwundert daher wenig, daß die Neo-Tories in den 1930er Jahren viel publizistische Energie in ihre Definitionen von true Englishness und true Conservatism investierten und dabei ihre eigene Interpretation der Geschichte Englands entwickelten. Der Krieg hatte nicht geschaffen, wovon die Neo-Tories geträumt hatten, sondern eine politische und soziale Realität hervorgebracht, die sie weitgehend ablehnten. Die positive Beurteilung des Krieges erfolgte daher auch weniger in einem konkret politischen als in einem metapolitischen bzw. weltanschaulichen Sinne. In den Verteidigungsschriften für den Krieg ging es demnach auch nicht um Verteidigung der ‚Zivilisation‘ gegen die deutsche ‚Barbarei‘. Statt dessen wurden überzeitliche, heroische Werte und eine soldatische Männlichkeit beschworen. Die Apotheose des Krieges korrespondierte dabei gleichzeitig mit einer Verdammung jener Vorkriegspolitiker, die ihn herbeigeführt und so die politische und soziale Ordnung zerstört hatten. Aus dem Kampf gegen die ‚pazifistische‘ Interpretation des Ersten Weltkrieges heraus entwickelten die Neo-Tories eine Art Gegenmythos, in dem der Topos ‚verlorener Friede‘ eine entscheidende Rolle spielte. Rolf Gardiner schrieb 1930: „England ‚gewann‘ den Krieg und ‚verlor‘ ­seine Seele.“72 Das utopische Ideal einer wahrhaften nationalen Gemeinschaft war somit verloren: In den vordersten Schützengräben lebten die Männer Englands, Adel wie Proletarier, wie Brüder zusammen unter den grausigen Lasten des Kriegsdienstes, nur mit dem grimmigen Entschluß, ‚zu siegen, koste es, was es wolle‘ und um die Welt gesünder, reiner, glücklicher und ehrenhafter als in der Vergangenheit zu machen. Aber hinter ihren Rücken krochen die Würmer der menschlichen Gesellschaft in den verrotteten Stamm des englischen Lebensbaumes.73

69 Adrian

Gregory, Peculiarities of the English? War, Violence and Politics: 1900–1939, in: Journal of Modern European History 1 (2003), S. 56. 70 Vgl. dazu auch Paul Rich, Imperial Decline and the Resurgence of English National Identity, 1918–1979, in: Tony Kushner und Ken Lunn, Traditions of Intolerance. Historical Perspectives on Fascism and Race Discourse in Britain, Manchester 1989, S. 33–52. 71 Adrian Gregory, The Silence of Memory. Armisitice Day, 1919–1946, Oxford 1994, S. 5. 72 Rolf Gardiner, Englische Tradition und die Zukunft, in: Wilhelm Freiherr v. Richthofen (Hrsg.), Brito-Germania. Ein Weg zu Pan-Europa? Warum wieder Weltkrieg? Ausblick in die künftige Entwicklung Europas, Berlin 1930, S. 20–38, hier 32. 73 Ebd., S. 33.

3.2  Das Geschichtsbild der Neo-Tories   63

3.2  Das Geschichtsbild der Neo-Tories 3.2.1  Tory interpretation of history Im Jahr 1931 erschien ein Buch, das die Geschichtswissenschaft Großbritanniens nachhaltig verändern sollte und dessen Titel zum Schlagwort über die engere ­Historiographie hinaus wurde. Herbert Butterfields The Whig Interpretation of History gehört sicher zu den wichtigsten kritischen Ansätzen der britischen ­Geschichtswissenschaft, auch wenn es keine rein wissenschaftliche Auseinandersetzung sondern vor allem ein polemisches Essay gegen viktorianische Historiker und ihren liberalen Fortschrittsglauben ist.74 Die Bedeutung dieses Buches lag darin, daß es eine Interpretation britischer Vergangenheit, die über 100 Jahre lang das Verständnis der britischen Geschichte dominierte, identifiziert und kritisiert und darüber hinaus eine selbstkritische, wissenschaftliche und quellennahe Geschichtsschreibung fordert. Tatsächlich waren viele Positionen jener Historiker, die durch Butterfield erst so eindeutig als die Whigs bekannt werden sollten, bereits in den zwei Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg in die Defensive geraten,75 doch erst durch die Katastrophe des Ersten Weltkriegs ließ sich eine teleologische Interpretation der britischen Geschichte nur noch schwer vertreten. „It is astonishing to what an extent the historian has been Protestant, progressive, and whig, and the very model of the nineteenth-century gentleman.“76 Schaue man sich die britische Geschichtsschreibung an, so Butterfield weiter, könne man leicht den Eindruck bekommen, „that Clio herself is on the side of the whigs.“77 Tatsächlich hat eine Reihe liberaler britischer Historiker im 19. Jahrhundert eine Meistererzählung britischer Geschichte geprägt, die bis in das 20. Jahrhundert außerordentlich erfolgreich war. Die traditionelle Whig-Historiographie stellte die Magna Charta, die Reformation, die Glorious Revolution, die Opposition zu Georg III. bis zu den Wahlrechtsreformen des 19. Jahrhunderts als Stationen einer Evolution stetig zunehmender Aufklärung, Freiheit und Gerech-

74 Herbert

Butterfield, The Whig Interpretation of History, London 1931. Vgl. Reba N. ­Soffer, History, Historians, and Conservatism in Britain and America. From the Great War to Thatcher and Reagan, Oxford 2009, S. 179–222; Stefan Collini, Common Reading. Critics, Historians, Publics, Oxford 2008, S. 138–155; Julia Stapleton, Modernism, the English Past, and Christianity. Herbert Butterfield and the Study of History, in: Historical Journal 51 (2008), S. 547–57; William Bain, Are there any Lessons of History? The English School and the Activity of Being an Historian, in: International Politics 44 (2007), S. 513–30; Martina Steber, Herbert Butterfield, der Nationalsozialismus und die deutsche Geschichtswissenschaft, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 55 (2007), S. 269–308; Keith C. Sewell, Herbert Butterfield and the Interpretation of History, Basingstoke 2005, Carl Thomas McIntire, Herbert Butterfield. Historian as Dissenter, New Haven 2004. 75 Vgl. hierzu vor allem Petrus B.M. Blaas, Continuity and Anachronism. Parliamentary and Constitutional Development in Whig Historiography and in the Anti-Whig Reaction between 1890 and 1930, Den Haag 1978. 76 Butterfield, The Whig Interpretation of History, S. 3. 77 Ebd., S. 8.

64   3.  Gegengeschichtsschreibung – Kampf um die Deutungsmacht tigkeit dar.78 Im Vordergrund stand dabei die britische Verfassungsgeschichte. Insbesondere die neuere Geschichte seit der Glorious Revolution erschien als große Erfolgsgeschichte, in der die Nachfolger Williams III. protestantische Stabilität und Wohlstand gebracht hätten und durch die checks and balances der Verfassung die freiheitlichen Errungenschaften sowohl gegen Despotismus als auch gegen ­radikaldemokratische Herausforderungen gesichert wurden.79 Die kontinentale Entwicklung zu einem monarchischen Absolutismus, der nur durch eine blutige Revolution gestürzt werden konnte, sei England somit erspart geblieben. Die Verfassungsgeschichte war nicht lediglich Teil der britischen Geschichte, sondern wurde selbst, so Michael Bentley, zur wichtigsten Erklärung von Großbritanniens Glorie: If any form of history might be described as defining the whig legacy, then constitutional history must surely take pride of place. Whigs believed in a continuity of institutions and practices ­since Anglo-Saxon times that lent to English history a special pedigree, one that instilled a distinctive temper in the British nation (as whigs liked to call it) and an approach to the world.80

Butterfield ging es im Gegensatz dazu darum, Geschichte als Wissenschaft ernst zu nehmen. Wie bereits eine Reihe britischer Historiker zuvor beschrieb er den idealisierenden, anachronistischen und teleologischen Charakter der Whig-Geschichtsschreibung. Auch die Neo-Tories bemühten sich um eine Dekonstruktion der Whig interpretation of history. Doch anders als in der geschichtswissenschaftlichen Auseinandersetzung, in der die Whig interpretation of history in der Folge von Butterfield geradezu zum Schimpfwort für unkritische Populärwissenschaftlichkeit wurde, zielte die Kritik der Neo-Tories keineswegs auf die Durchsetzung wissenschaftlicher Standards und kritischer Methoden. Vielmehr setzen sie der Whig interpretation ihre eigene Version einer radikalen anti-Whig interpretation of history oder Tory interpretation of history entgegen, in der die Vorzeichen umgekehrt wurden und die britische Geschichte seit der Glorious Revolution, insbeson­ dere aber das 19. Jahrhundert unter liberaler Vorherrschaft als Verfallsgeschichte beschrieben wurde. Es ist bezeichnend, daß nahezu alle hier untersuchten NeoTories nicht nur Geschichte studiert hatten, sondern selbst historische Werke und Abhandlungen schrieben. Mit Charles Petrie und Arthur Bryant waren unter ­ihnen gar zwei der meist gelesenen und einflußreichsten Populärhistoriker ihrer Zeit, die die Dominanz viktorianischer Whig-Historiker wie Thomas Babington Macaulay und Henry Hallam herausforderten. In einer Rezension eines Buches von Charles Petrie heißt es:

78 Vgl.

dazu auch Timothy Lang, The Victorians and the Stuart Heritage. Interpretations of a Discordant Past, Cambridge 1995; Rosemary Jann, The Art and Science of Victorian History, Columbus 1985; Christopher Parker, The English Historical Tradition since 1850, Edinburgh 1990; John W.A. Burrow, A liberal Descent. Victorian Historians and the English Past, Cambridge 1981. 79 Michael Bentley, Modernizing England’s Past. English Historiography in the Age of Modernism 1870–1970, Cambridge 2005, S. 6. 80 Bentley, Modernizing England’s Past, S. 29 f. [Hervorhebung im Original].

3.2  Das Geschichtsbild der Neo-Tories   65 The brilliant propaganda of Macauly and the calmer prose of Hallam are no longer accepted without question as the final verdict of History on the Glorious Revolution and the Protestant Succession; there is a different side to that Whiggish picture, and no contemporary writer has done more than Sir Charles Petrie to clean the canvas and to paint on something more like reality.81

Nach der Auseinandersetzung um die Deutungshoheit um den Ersten Weltkrieg wurde die Interpretation der Geschichte Großbritanniens zum zweiten großen publizistischen Kampfplatz der Neo-Tories. Die Auseinandersetzung um die ‚richtige‘ Deutung der Geschichte Großbritanniens war dabei von zentraler Bedeutung für die eigenen politischen Vorstellungen. Denn sollte die Whig interpreta­ tion Recht behalten, dann wären ja Liberalismus, kapitalistische Wirtschaftsordnung und eine progressive Entwicklung Großbritanniens zu Stabilität und Wohlstand gewissermaßen Teil des britischen Nationalcharakters und mit England als Mother of Parliaments eine alternativlose Institutionen- und Verfassungsgeschichte vorgeschrieben. In der Auseinandersetzung mit der Whig interpretation of history wurden somit die Kernbereiche der historischen Identität der Neo-Tories und ihre politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Implikationen berührt. Erst vor dem Hintergrund einer fundamentalen Herausforderung der Whig interpretation of ­history ließen sich in der aktuellen politischen Situation die politischen Institutionen Großbritanniens kritisieren und Systemalternativen aufzeigen. Wie bei Charles Petrie wurde die Geschichte Großbritanniens so zum zentralen Angelpunkt der eigenen politischen Vorstellungen: „[W]hen Englishmen wish to bring about some really revolutionary change they always claim to be reverting to the customs of the past.“82 Im Rückgriff auf die eigene Vergangenheit wurde verhandelt, was es hieß, ein true Tory zu sein, was true Englishness und die angelsächsische ‚Ur­ rasse‘ war. Nicht geschichtswissenschaftlich, sondern im Sinne einer ideologisch gefärbten Geschichtspolitik wurden die Bezüge von Vergangenheit zu Gegenwart dargestellt, wenn beispielsweise Charles Petrie erklärte, daß die Idee des korporativen Staates keineswegs eine italienische Erfindung, sondern auch in der britischen Vergangenheit zu finden sei. Der korporative Staat sei „Feudalism in modern clothes“, so Petrie.83 Nicht nur im Studium der Geschichte zur Rechtfertigung der Gegenwart bzw. einer politischen Idee ähnelten die Neo-Tories paradoxerweise ihren liberalen Gegnern. In ihrer anti-Whig interpretation of history übernahmen die Neo-Tories die teleologische Perspektive, wenn auch als liberale Degenerationsgeschichte. Die 81 Earderley

Simpson, The Four Georges, in: English Review 61 (November 1935), S. 625–627, hier 625. 82 Charles Petrie, Monarchy, London 1933, S. 38. 83 Charles Petrie, Dictators, in: English Review 64 (März 1937), S. 375–376, hier 375. Auch Hugh Sellon sah in dem korporativen Staat im wesentlichen die Wiederherstellung einer alten europäischen Ordnung. „For this Italian concept of the Corporate State is the first real attempt to remedy the deplorable confusion into which the Western world was thrown by the Reformation and the Industrial Revolution.“ Hugh Sellon, The Corporate State, in: The Ashridge Journal 16 (Dezember 1932), S. 11–25, hier 16.

66   3.  Gegengeschichtsschreibung – Kampf um die Deutungsmacht großen Themen der Whig interpretation – insbesondere die Verfassungsgeschichte seit der Glorious Revolution – wurden aufgegriffen und neu interpretiert. Hinzu kam eine glorifizierte Darstellung des mittelalterlichen Englands als politisch-sozialer, teilweise auch ‚rassischer‘ Idealzustand. In ihrer feierlichen Beschwörung des englischen Nationalcharakters, von Merry England und in dem missionarischen Antrieb, die Bevölkerung von der Größe Großbritanniens zu überzeugen, klangen die Neo-Tories allerdings selbst oft ‚whiggisch‘.

3.2.2.  „The Inglorious Rebellion“ – 1688/89 bei den Neo-Tories Ausgangspunkt der neo-toryistischen Geschichtsinterpretation waren die Ereignisse des 17. Jahrhunderts. Wie kein anderes Ereignis der englischen Geschichte beschäftigte die Neo-Tories dabei die Glorious Revolution von 1688. Ob in Überblicksdarstellungen zur englischen Geschichte, in historischen Biographien oder in den programmatischen Schriften – die Revolution wurde zum Schwerpunkt nicht nur der eigenen Geschichtsinterpretation, sondern damit eng verwoben auch der politischen Standortbestimmung. Im Angriff auf die dominierende liberale Verfassungsgeschichte bildete die Zeit vor 1688/89 gewissermaßen den Status quo ante, an dem die kontrafaktischen Geschichtsspekulationen, aber auch die eigenen politischen Utopien ansetzten. Wenn in den neo-toryistischen Programmen der 1930er Jahre von einer Restauration der ‚wahren‘ Monarchie die Rede ist, dann fehlt meist nicht der Hinweis darauf, wie weit man in der englischen Geschichte zurückgehen müsse, um diese zu finden. Die Revolution wird in dieser Interpretation der englischen ­Geschichte zum zentralen Scheidepunkt. Sie trennt idealisiertes Mittelalter und Merry England von der als Verfallsprozeß nationaler Werte und Institutionen verstandenen Geschichte des 18. und 19. Jahrhunderts. In seinem Buch The Four Georges. A Revaluation of the Period from 1714–1830 bemühte sich Petrie, die Folgezeit der Revolution als sukzessive Macht- und Besitzusurpation einer frühkapitalistischen liberalen Oligarchie darzustellen.84 Weil Besitz und Macht immer mehr in die Hände der Wenigen geraten seien, hätten die Revisions- und Restaurationsversuche der in der Revolution entmachteten Stuarts gerade bei der einfachen Bevölkerung so große Unterstützung bekommen. „It was becoming impossible for the poor to obtain justice at all when they came into conflict with those who governed the country, and this explains why Jacobitism drew so much of its strength from what are now called the working classes.“85 84 Charles

Petrie, The Four Georges. A Revaluation of the Period from 1714–1830, London 1935. The Four Georges, S. 7. Petrie beschäftigte sich ausführlich mit der Restaurationsbewegung der Stuarts. Charles Petrie, The Jacobite Movement, London 1932; ders., The Stuart Pretenders. A History of The Jacobite Movement, 1688–1807, London 1933; ders., The Jacobite Movement. The First Phase 1688–1716, London 1948; ders., The Jacobite Movement. The Last Phase, 1716–1807, London 1950. Vgl. hierzu auch Daniel Szechi, The Jacobites. Britain and Europe, 1688–1788, Manchester 1994.

85 Petrie,

3.2  Das Geschichtsbild der Neo-Tories   67

Charles Petries gesamtes historisches Werk drehte sich um die Neu-Interpretation der Revolution von 1688/89. Die Revolution sei keineswegs eine spontane und freiheitliche Bewegung im Namen des Volkes gewesen, sondern „the triumph of a small and unscrupulous minority working entirely in its own interests, which were in conflict with those of the mass of the English people.“86 Mit der Revolution habe sich der liberale Individualismus endgültig gegenüber der Einheit der Nation durchgesetzt. Mit seinen unweigerlichen Folgeerscheinungen wie Materialismus, Industrialisierung und schließlich Sozialismus sei dieser der entscheidende Katalysator des nationalen Niedergangs gewesen. Die Revolution war der Zeitpunkt, so auch Lymington, „when the Whigs inaugurated the era of individualism which flowered into the Industrial Revolution and ultimately into a universal franchise that now seeks to mitigate the organic ills of industry by the opiates of Socialism“.87 Mit der Niederlage der Krone in der Glorious Revolution von 1688/89 habe sich die Vorherrschaft des Materiellen vor dem Autoritären durchgesetzt und so den Beginn einer bürgerlichen Klassenherrschaft ermöglicht, die mit Hilfe eines fortschrittsgläubigen Liberalismus nicht nur die Monarchie und den besitzenden Adel entmachtete, sondern die Idee des Staates als übergeordnete Instanz insgesamt bedeutungslos machte. Direkter politischer Ausdruck dieser Entwicklung waren aus Sicht der Neo-Tories die Wahlrechtsreformen des 19. Jahrhunderts. Der nationale Niedergang sei jetzt nicht mehr nur noch von der liberalen Oligarchie vorangetrieben worden, sondern auch von einer neuen Wählerschaft. William Sanderson faßte zusammen: In 1832 the first extension of the franchise to irresponsible individuals without status, tradition, or patriotic purpose was carried through, in spite of the resistance of an equally irresponsible oligarchy; and henceforth Parliament became a heterogeneous mass of individuals without part or lot in the body politic and a reflector of ignorant, unpatriotic, and irresponsible opinions.88

Die weltanschaulichen Implikationen einer solchen Geschichtsinterpretation wurden den Neo-Tories von ihren Gegnern in den dreißiger Jahren durchaus vorgehalten. Als der Politikwissenschaftler Ernest Baker Arthur Bryants Beschreibung der Glorious Revolution als nationales Desaster gelesen hatte, schrieb er Bryant einen in höchstem Maße mißbilligenden Brief. Einige von Bryants Thesen, so Baker, „could be applied, in many ways, to the defence of Hitlerism and Italian Fascism.“89 Das radikal antiwhiggistische Geschichtsbild teilten die Historiker Bryant und Petrie mit Autoren wie Lymington, Sanderson und Ludovici und mit jenen NeoTories, die wie Jerrold in der Tradition des politischen Katholizismus von Belloc 86 Charles

Petrie, Bolingbroke, London 1937, S. 37. „1688 was an inglorious revolution if there ever was one“, so auch Lymington zustimmend in einer Rezension von Arthur Bryants ­drittem Band seiner Biographie über Samuel Pepys. Viscount Lymington, The Inglorious Revolution. Rezension von Arhur Bryant, Samuel Pepys. The Saviour of the Nation, The New Pioneer 2 (März 1939), S. 107. 87 Lymington, Ich Dien, S. 12. 88 Sanderson, Statecraft, S. 67. 89 Ernest Baker an Bryant, 13. 11. 1938, Liddell Hart Centre for Military Archives, Bryant: E1.

68   3.  Gegengeschichtsschreibung – Kampf um die Deutungsmacht und Chesterton standen und die Geschichte des Protestantismus als liberal-materialistische Niedergangsgeschichte interpretierten. Das offensichtliche Paradox, die dieser Geschichtsinterpretation innewohnte – schließlich hatte Großbritannien seine Weltmachtstellung im 19. Jahrhundert unter vorwiegend liberaler Herrschaft erreicht – umgingen die Neo-Tories dialektisch. Die imperiale Ausdehnung war demnach in einem Überfluß an Energie der ‚angelsächsischen Rasse‘ und dem urenglischen Drang nach Abenteuerlust begründet. Der Liberalismus habe sich diese Kräfte nur zunutze gemacht, jedoch über seine rein materiellen Motive die Verpflichtung auf eine konstruktive Gestaltung der Herrschaft vergessen.90 Der Liberalismus mit seiner Indifferenz gegenüber Tradition, Rasse und Religion war aus dieser Perspektive die entscheidende Gefahr für den Zusammenhalt des Empire. Vor allem aber habe sich seit 1688 eine fatale Spaltung in der Gesellschaft vollzogen. Die „inglorious rebellion“, so Douglas Jerrold, habe eine fatale Periode eröffnet, in der die Angriffe auf die Freiheit und Würde der Menschen ignoriert wurden. England sei zu Beginn der Herrschaft der Königin Victoria in der Tat ein England der „Two Nations“ geworden.91 Das Empire, das von Innen zerfällt – die historische Analogie zum römischen Reich drängte sich geradezu auf, und tatsächlich wurde der Topos vom Untergang des Weltreichs aufgrund von Spaltung, Dekadenz und Traditionslosigkeit häufig bemüht. Je nachdem mit welcher Phase des römischen Reichs das Empire ver­ glichen wurde, konnten die historischen Analogien zum römischen Reich jedoch auch den Keim einer politischen Hoffnung in sich tragen. Paradigmatisch hierfür sind die einleitenden Sätze Douglas Jerrolds in einem Aufsatz vom Oktober 1933: „England to-day stands where Rome stood before the reign of Augustus. It has conquered and organized large tracts of the world, but it finds itself without the spiritual vitality and moral authority to build upon the foundation it has laid.“92 Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch, daß nicht die Französische Revolution als zentrale Zäsur zur verachteten Moderne angesehen wurde. Dies korrespondiert mit einer Verankerung des Konservatismus in der britischen Geschichte, der sich auch im 19. Jahrhundert immer noch als Antwort auf die He­ rausforderungen des englischen 17. Jahrhunderts verstand. Der amerikanische Historiker James Sack stellt so etwa fest, daß alle großen Themen, die die englische Rechte in den 1820er und 1830er Jahren beschäftigte – katholische Emanzipation, Parlamentsreform, Rolle der Monarchie – weniger Folgeprobleme der Französischen als der Englischen Revolution waren.93 Während für die Entwicklung des kontinentalen Konservatismus die Reaktion auf die Französische Revolution als Geburtsstunde des ideologischen Konservatismus gilt, der sich damit von einem bloßen Traditionalismus unterscheidet, hat in England die Reaktion auf die He­ 90 Sanderson,

Statecraft, S. 69; 75. England, London 1935, S. 65. The Future of the English Political Parties, in: English Review 57 (Oktober 1933), S. 337–358, hier 337. 93 James J. Sack, From Jacobite to Conservative. Reaction and Orthodoxy in Britain, c. 1760– 1832, Cambridge 1993, S. 31. 91 Douglas Jerrold, 92 Douglas Jerrold,

3.2  Das Geschichtsbild der Neo-Tories   69

rausforderungen einer liberalen Verfassungsentwicklung einen größeren Stellenwert.94 In der Zwischenkriegszeit setzen sich diese Entwicklungen fort. Während etwa die Action Française oder die deutsche ‚Konservative Revolution‘ sich als historische Gegenbewegungen zum politischen Prozeß der Moderne seit der Französischen Revolution verstanden, spielt dieses Geschichtsverständnis im englischen Radikalkonservatismus eine untergeordnete Rolle. Dies machte den NeoToryism zu einem spezifisch englischen Phänomen, dessen Geschichtsverständnis zwar von der Französischen Revolution beeinflußt, jedoch nicht entscheidend geprägt war.95 Somit ist auch Edmund Burke für die Neo-Tories kein Vorbild. Zu dessen Verurteilung der Französischen Revolution gehörte ja das positive englische Gegenbild der Glorious Revolution. Für Burke war diese „a revolution, not made, but prevented“. Die Intention sei es gewesen, die unanfechtbaren Gesetze und Freiheiten gegen den „subversiven Versuch“ von James II, diese zu untergraben, zu verteidigen.96 Anders als die Französische war die Glorious Revolution somit völlig gerechtfertigt.97 Aus dieser Perspektive läßt sich die Glorious Revolution durchaus als eine ‚Konservative Revolution‘ interpretieren, so Heinrich August Winkler: „1688/89 setzten sich die Verteidiger des guten alten Rechts, der Magna Charta und des Common Law, gegenüber den absolutistisch gesinnten Neuerern durch, die der Krone den Vorrang vor dem Parlament zuerkannt wissen wollten.“98 Der Auffassung Edmund Burkes stimmten die Neo-Tories gerade nicht zu. Für Douglas Jerrold waren die Ideen Burkes im 20. Jahrhundert daher „as dead as door-nails“.99 Insbesondere die Vorstellung von sich evolutionär entwickelnden Nationen und der progressiven Kraft des europäischen Nationalismus lehnte Jerrold ab und setzte sie in Kontrast zu seiner Vorstellung eines universalistischen Mittelalters. Für Jerrold war Burke ein konservativer Liberaler, der die Herausforderungen durch die Moderne fahrlässigerweise sich selbst überlassen wollte. Hinsichtlich der Frage von Burke, wie sich Gedankenfreiheit mit Weisheit und politische Freiheit mit Effizienz verbinden läßt, schrieb Jerrold: „Burke held that these problems would solve themselves in the course of evolution. He was, unfortunately, quite wrong, and has done much harm by the eloquence with which he invested so much error.“100   94 Vgl.

hierzu die Studie Andreas Rödder, Die radikale Herausforderung. Die politische Kultur der englischen Konservativen zwischen ländlicher Tradition und industrieller Moderne, 1844–1868, München 2002.   95 Vgl. hierzu auch Sack, From Jacobite to Conservative, S. 33.   96 Edmund Burke, Reflections on the Revolution in France. A Critical Edition, hrsg. v. J.C.D. Clark, Stanford 2001, S. 39; 20; 181.   97 Vgl. zu Burkes Sicht der Glorios Revolution Regina Wecker, Geschichte und Geschichts­ verständnis bei Edmund Burke, Bern 1981, S. 91–95.   98 Heinrich August Winkler, Geschichte des Westens. Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert, München 22010, S. 152.   99 Douglas Jerrold, Current Comments, in: English Review 48 (Februar 1929), S. 129–143, hier 140. 100 Ebd., S. 141.

70   3.  Gegengeschichtsschreibung – Kampf um die Deutungsmacht Zum neo-toryistischen Revisionismus gehörte aber nicht nur eine Verurteilung der Glorious Revolution, sondern auch die ‚Rehabilitierung‘ einiger bis dahin eher negativ beurteilter Figuren der britischen Geschichte. Zum regelrechten Helden der Neo-Tories wurde dabei Charles  II., also jener König, der nach Bürgerkrieg und Republik 1660 die Monarchie wieder eingeführt hatte und bis zur ­seinem Tod 1685 die Restauration der Monarchie verkörperte. In der Saturday Review avancierte Charles II. zum volkstümlichen „Patriot King“: „King Charles the Second was a successful and beloved ruler because he understood his people.“ Die Fehler, die ihm die „Whig historians“ nachgesagt hatten, seien nicht ihm, sondern der Kurzsichtigkeit der Politiker zuzuschreiben.101 Charles Petrie zufolge sei es Charles II. eigentliches Ziel gewesen, die Erbmonarchie nicht mehr von einer Partei abhängig, sondern unabhängig von Gruppeninteressen zum eigentlichen Führer der Nation zu machen. Hätte er sein Ziel erreicht, wäre die Macht der Reichen, die gleichzeitig die Gesetze im Parlament zu ihren Gunsten verabschiedeten, in ihre alten Grenzen zurückversetzt worden.102 Auch in Arthur Bryants Biographie von 1931 erscheint Charles II. als Märtyrer, der einen letzten Versuch unternommen habe, die Nation zu einen und die gerechte Ordnung wiederherzustellen.103 Die Whigs hingegen erscheinen bei ihm als nationale Verräter und ­opportunistische Vertreter von Partikularinteressen. In einer sehr wohlwollenden Rezension schrieb der Historiker Hearnshaw, daß bei Bryant Charles  II. zwar ­beinahe als Märtyrer und Heiliger erscheine, aber die Gemeinheiten und Verrätereien der führenden Vertreter der Whig Party hervorragend dargestellt würden: „Their unreasonableness, their violence, their unscrupulousness, their remorseless vindictiveness deprive them of our sympathy even in the hour of disaster and death.“104 Daß Bryant mit einer solchen Sicht nicht unbedingt mehrheitsfähig sein konnte, war seinen Mitstreitern bewußt. Der berühmte Dichter Edmund Blunden schrieb ihm höflich: „I anticipate your somewhat unfriendly treatment of Parliament will be challenged.“105 Mit ihrem restaurativen Royalismus stießen die Neo-Tories auch Jahrzehnte später noch auf starke Kritik. Das renommierte Rezensionsjournal The Times ­Literary Supplement stellte in einer Besprechung von 1971 fest, daß Charles Petrie für seine Haltung im 18. Jahrhundert hätte ins Gefängnis gehen müssen.106 Doch während die Idee eines royalistischen Revival in den 1970ern nicht mehr als eine akademische Spielerei war, nahm sie Petrie in den dreißiger Jahren sehr ernst und gab ihr zusammen mit einigen europäischen Mistreitern eine organisatorische 101 The

Patriot King, Saturday Review, 19. 5. 1934. Bolingbroke, S. 37. 103 Arthur Bryant, Charles II, London 1931; Arthur Bryant, The England of Charles II, London 1934. 104 Fossey J.C. Hearnshaw, Rezension von Arthur Bryant, King Charles II, Ashridge Journal 9 (März 1932), S. 46–47. 105 Edmund Blunden an Arthur Bryant, 30. 7. 1932, Liddell Hart Centre for Military Archives, Bryant: E/10 1929–42. 106 The Times Literary Supplement, 28. 7. 1972. 102 Petrie,

3.2  Das Geschichtsbild der Neo-Tories   71

Plattform: die Royalistische Internationale. Im März 1932 wurde Petrie Präsident dieses Zusammenschlusses europäischer royalistischer Revisionisten.107 Das royalistische Revival sollte auch vor der englischen Monarchie nicht haltmachen, und die Royalistische Internationale veranstaltete Gottesdienste zur „Restauration“ von König Charles  II. Petrie schrieb in seinem Tagebucheintrag für den 4. Juni 1932: Pat [Petries Frau Cecilia, Lady Petrie, B.D.] and I attended the service this morning at St. Magnus the Martyr, by London Bridge, for the Restoration of Charles II. It was the first time it had been held for over a century, and as it is under the auspices of the Royalist International I did all the honours. There were about forty people present, and I consider it an excellent commencement of our campaign.108

3.2.3  Das Merry England des Mittelalters als goldenes ­Zeitalter „‚Merry England‘“, schrieb Viscount Lymington „is a phrase which takes us back to the time before slums on the one hand and the economics of invisible exports on the other.“ Eine Zeit, so Lymington weiter, in der es nicht einfach gewesen sei, aber where there was an essential sanity in the nation; when, taken as a whole, service was rewarded with full life. It means the kind of courage, of ideals and loyalty, and therefore, of lightheartedness, which was completely English. By these principles in 1500 we had managed to become and remain a nation for over 400 years. Toryism is often gibed as a relic of feudalism. It is. So is Merry England.109

Die Beschwörung von Merry England und Englishness war nicht auf die Neo-­ Tories beschränkt, sondern zu einem gewissen Grad ein populäres Phänomen der Zwischenkriegszeit. Dabei ging es, so der Anglist Günther Blaicher, um den Mythos einer „überzeitlichen englischen Wesenheit“ und das „Autostereotyp“ einer organisch homogenen Gesellschaft als „Refugium“110 der Zuversicht in Zeiten des Wandels.111 Bei den Neo-Tories blieb die Beschäftigung mit dem Mittelalter aber keineswegs romantische Verklärung, sondern war konkret politisch. Lymington etwa zieht eine direkte Linie von den politischen Institutionen Englands unter Edward III. zu konstitutionellen Fragen der 1930er Jahre. Die ältesten Landstände, wie sie Edward III. einberufen hatte, so Lymington, basierten nicht auf einer Repräsentation von Individuen, sondern auf einer Repräsentation des Lebens und der Funktion in der Nation. Die Kirche und die Barone repräsentierten den Dienst an der Krone in spiritueller, ziviler und militärischer Hinsicht und darüber hi­

107 Vgl.

dazu Kap. 5.3.3. Charles Petrie, 4. 6. 1932. 109 Lymington, Ich Dien, S. 13. 110 Günther Blaicher, Merry England. Zur Bedeutung eines englischen Autostereotyps, Tübingen 2000, S. 108. 111 So z. B. in dem Roman Merry England von Norah Burke aus dem Jahr 1934. Dazu auch Margaret Storm Jameson, The Decline of Merry England, London 1930. 108 Tagebücher

72   3.  Gegengeschichtsschreibung – Kampf um die Deutungsmacht naus, in territorialer Hinsicht, die Landwirtschaft Englands. Die Bürger repräsentierten die Gilden und den Handel. „Therefore if we could substitute for the present House [of Commons, B.D.] a body representing the continuous life of the nation in its widest sense, we should get the vehicle of government to carry us forward on a national highway.“112 Auch in sozio-ökonomischer Hinsicht gab es aus Sicht der Neo-Tories viel vom Mittelalter zu lernen. „Throughout the Middle Ages, we find in every sphere of English life that the pursuit of quality is the paramount occupation“, schrieb ­Ludovici mit Bezug auf das mittelalterliche Gildensystem. Dieses habe nicht nur für Qualität und stabile Preise gesorgt, sondern disziplinierend auf die gesamte mittelalterliche Gesellschaft gewirkt.113 Auch Douglas Jerrold war überzeugt, daß auf dem Höhepunkt des Mittelalters alle Charakteristika einer glücklichen Gesellschaft erreicht gewesen seien. Kennzeichen waren laut Jerrold die weite Verbreitung von Eigentum, eine wirtschaft­ liche Ordnung, die kein Einkommen und keine „chattel slavery“ gekannt habe, Selbstverwaltung im Handwerk unter dem Gildensystem und ein effektives System der politischen Repräsentation.114 Insbesondere das dreizehnte Jahrhundert war für Jerrold das goldene Jahrhundert, und seine Kunst, Bildung, Architektur und Wissenschaft vergleichbar nur mit der Antike.115 Mit dieser mythisierten Sicht des Mittelalters stand Jerrold ganz in der Tradi­ tion der katholischen Rechtsintellektuellen um Belloc und Chesterton. Die poli­ tische Philosophie und radikale Systemkritik des Schriftstellers Hilaire Belloc (1870–1953) und seines engsten Mitstreiters, des Journalisten G.K. Chesterton (1874–1936) mündeten in die sich am mittelalterlichen Wirtschaftssystem orientierende Schule des Distributism.116 Gemeint ist damit eine Sozial- und Wirtschaftstheorie mit dem Ziel einer Neuverteilung des Eigentums innerhalb eines korporativen Staates, die bis heute in Großbritannien wie in den USA ihre Anhänger hat.117 Zu Bellocs historischen, politischen und wirtschaftlichen Theorien schrieb Jerrold „These ideas appeared to contemporary England revolutionary. They were, in fact, the starting point of the English counter-revolution.“118 Eine andere Quelle für die Neo-Tories war der ebenfalls katholische Historiker Christopher Dawson. Sein geschichtsphilosophischer Ansatz bestand in der Fun112 Lymington,

Ich Dien, S. 27 f. Defence of Conservatism, S. 42. 114 Jerrold, England, S. 19. 115 Ebd., S. 25–29. 116 Jay P. Corrin, G.K. Chesterton and Hilaire Belloc, The Battle against Modernity, Athens (OH) 1981; ders., Catholic Intellectuals and the Challenge of Democracy, Notre Dame 2002. 117 So z. B. den Vorsitzenden der rechtsradikalen British National Party, Nick Griffin, der sich in einem Interview mit dem Independent im Mai 2002 ausdrücklich auf diese Traditionslinie berief. David Aaronovitch, Lunching with the Enemy, The Independent, 2. 5. 2002. Auch die nationalkonservative Junge Freiheit würdigt in einem Autorenportrait Bellocs „mutige[n] Kampf gegen den weltlichen Modernismus“. Junge Freiheit, 18. 7. 2003. 118 Douglas Jerrold, On the Influence of Hilaire Belloc, in: Douglas Woodruff (Hrsg.), For Hilaire Belloc. Essays in Honour of his 72nd Birthday, London 1942, S. 12 f. 113 Ludovici, A

3.2  Das Geschichtsbild der Neo-Tories   73

damentalkritik der europäischen Aufklärung und in der geistesgeschichtlichen Herleitung der europäischen Zivilisation über das abendländische Mittelalter, der er die moderne nationalstaatliche Entwicklung entgegenhielt.119 Kern dieser ­kulturpessimistischen Betrachtungen, die viele katholische Intellektuelle der ­Zwischenkriegszeit wie Jerrold oder T.S. Eliot beeinflußt haben, ist die Vorstellung eines mittelalterlichen ‚Alten Westens‘, der im Zuge von Reformation und ­Glorious Revolution von einer liberal-kapitalistischen ‚Degeneration‘ befallen wurde.120 Durch das Geschichtsbild der Neo-Tories wird erklärlich, warum bei ihnen die nationale ‚Wiedergeburt‘ aus dem Geist Englands entstehen sollte, nicht aus dem Großbritanniens. Trotz dieses Geschichtsbildes stellten die Neo-Tories die politisch-territoriale Verfaßtheit des Vereinigten Königreichs nicht in Frage. Ihr politisches Ziel bestand nicht in einer englischen Unabhängigkeit. Auch den Herrschaftsanspruch Großbritanniens im Empire wollten sie nicht aberkennen. Ausgehend von ihrer Geschichtsinterpretation ging es ihnen aber darum, die Kräfte des englischen Mutterlandes zu revitalisieren und Englishness als nationale Identität wiederzuentdecken. „Our English character is in danger to-day“, erklärte Arhur Bryant 1931. Auf nichts komme es mehr an, als auf die nationale Identität, auf den englischen Charakter: „If we lose it we must perish. Other things we shall not take with us into that new world, but whatever else we lose, if we can preserve our English character we shall live on.“ 121 In der Logik der Neo-Tories bedeutete das, daß nur unter der Führung eines revitalisierten Englands Großbritannien und das Empires zu retten waren. Der eigentliche Sinn von Geschichtsstudium und von revisionistischer Geschichtspolitik war daher „the preservation of the national character in times of change.“122

119 Brigitte

Leucht, Christopher Dawson (1889–1970), in: Heinz Durchardt (Hrsg.), EuropaHistoriker, Göttingen 2001, S. 211–230. Vgl. auch Stephen G. Carter, The „Historical Solution“ versus the „Philosophical Solution“. The Political Commentary of Christopher Dawson and Jacques Maritain, 1927–1939, in: History of Ideas 69 (2008), S. 93–115; Stratford Caldecott und John Morrill, Eternity in Time: Christopher Dawson and the Catholic Idea of History, Edinburgh 1997. 120 Vgl. Kap. 5.5. 121 Arthur Bryant, Studies in English Character. Edward Hyde, 1st Earl of Clarendon, in: The Ashridge Journal 5 (Februar 1931), S. 33–46. 122 Ebd., S. 34.

4.  Neo-Toryismus als Weltanschauung Im folgenden soll Neo-Toryismus als Weltanschauung dargestellt werden. Gewissermaßen handelt es sich bei diesem Kapitel um den ideengeschichtlichen Kern der Untersuchung. Wie in der Einleitung bereits angekündigt, ist es ein zentrales Anliegen dieses Buches, Neo-Toryismus als Begriff für eine eigenständige ideologische Spielart der britischen Zwischenkriegszeit zu etablieren und gegen andere Strömungen abzugrenzen. Der selbst der intellektuellen Rechten zugehörige Autor Armin Mohler beschrieb als das Kennzeichnende des Phänomens ‚Weltanschauung‘, „daß in ihr Denken, Fühlen, Wollen nicht mehr reinlich geschieden werden können.“1 In diesem aufschlußreichen Kommentar vermischt sich historische Analyse mit politischer Selbstbeschreibung: Von Oswald Spengler bis Armin Mohler haben insbesondere Vertreter der intellektuellen Rechten den Begriff ‚Weltanschauung‘ für sich nutzbar gemacht, um sich von der etablierten Philosophie einerseits und den ‚rationalen‘ Theorieentwürfen der Linken andererseits abzugrenzen.2 Die Unschärfe, die dem Begriff inhärent ist, war von Rechtsintellektuellen durchaus gewollt. Damit eignet sich der Begriff ‚Weltanschauung‘ auch zur Beschreibung des Neo-Toryismus, für den es keine allgemein akzeptierte, systematisch-theoretische Fundierung der politischen Absichten oder gar ein verbindliches Grundsatzprogramm gab. Darüber hinaus lassen sich zuweilen deutliche inhaltliche Unterschiede zwischen einzelnen Vertretern der Neo-Tories feststellen. Dennoch läßt sich aus ihren vielfältigen Schriften eine Gesamtheit von politischen und gesellschaftlichen Wertungen, Vorstellungen und Forderungen herausarbeiten, die es erlaubt, von Neo-Toryismus als einer zusammenhängenden, eigenständigen und abgrenzbaren Weltanschauung zu sprechen. Gleichzeitig wird der Begriff dem apokalyptischen Lebensgefühl und dem zuweilen schrillen Tonfall in den programmatischen Schriften der Neo-Tories gerecht. Vor diesem Hintergrund sollen im folgenden fünf zentrale Themenkomplexe des Neo-Toryismus behandelt werden: der Topos der ‚Degeneration‘, die Demokratiekritik, die Frage eines ‚wahren‘ Konservatismus, das Vorbild Italiens und die Rolle des Antisemitismus.

1 2

Mohler, Konservative Revolution, S. 17. Untrennbar verbunden ist der Begriff „Weltanschauung“ mit dem Nationalsozialismus. Der Historiker Eberhard Jäckel schrieb in seinem Standardwerk zu diesem Thema: „Der Begriff, einst ein schöner Ausdruck der deutschen Sprache und später ein abgenutztes Schlagwort des Nationalsozialismus, kehrte schon in Hitlers frühen Reden und Ausätzen und dann in ‚Mein Kampf‘ ständig wieder.“ Eberhard Jäckel, Hitlers Weltanschauung: Entwurf einer Herrschaft, Stuttgart 41991, S. 11.

76   4.  Neo-Toryismus als Weltanschauung

4.1  Rassischer und zivilisatorischer Niedergang – ­‚Degeneration‘ als zentraler Topos ‚Degeneration‘ war eines der zentralen Schlagwörter in der Argumentation der Neo-Tories. In einer an radikalen Brüchen ärmeren Geschichte stand ‚Degenera­ tion‘ für einen schleichenden Verfallsprozeß nationaler Werte und Institutionen einerseits und die sozialdarwinistisch aufgeladene doppelte Frontstellung gegen Sozialismus und Massendemokratie als Herrschaft der ‚Minderwertigen‘ andererseits. Gerade der zeitgenössische Topos von der ‚verlorenen‘ Generation wurde als Anlaß für eine umfassende gesellschaftliche Neuordnung gesehen. Konservative Intellektuelle, die als Kriegsteilnehmer und Angehörige der britischen BildungsElite meist selbst Vertreter der sogenannten ‚verlorenen‘ Generation waren, begründeten die Notwendigkeit ihrer korporativen Gesellschaftstheorien nicht ­selten mit biologischen Kategorien und eugenischen Forderungen. Der Degenerationsdiskurs war jedoch keineswegs auf die Neo-Tories beschränkt, sondern umschloß ein ganzes Bündel von Fragen, die in der Zwischenkriegszeit in Groß­ britannien innerhalb der Eugenikbewegung, in der Konservativen Partei und in Teilen der Presse diskutiert wurden: Welche Bedeutung haben die modernen Städte und die Industrialisierung für die Gesundheit der Nation? Hatte der Krieg eine ‚rassezerstörende‘ Wirkung? Halten die moderne Medizin und der Sozialstaat mit den unfit eine Bevölkerungsgruppe unnötigerweise am Leben, die in der Natur der natürlichen Auslese zum Opfer fallen würde? Wie sinnvoll ist die Sterilisation von Teilen der Bevölkerung für eine Steigerung der ‚nationalen Gesundheit und Effizienz‘? Gibt es Dinge, die Großbritannien hinsichtlich der national fitness vom nationalsozialistischen Deutschland lernen kann? Im folgenden sollen die programmatischen Schriften der Neo-Tories in diesen allgemeineren Diskurs eingebettet und dabei historisch bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts zurückgegriffen werden. Die Vorstellung von der ‚Degeneration‘ der britischen Rasse begann zunächst als sozio-biologischer Fachdiskurs um eine Reihe wissenschaftlicher und populärwissenschaftlicher Zeitschriften in den 1850er und 1860er Jahren. Hier wurden soziale und politische Probleme wie Armut, Arbeitslosigkeit und Prostitution als vererbbare Krankheitsbilder gesehen und somit ­medizinisiert. Die im Viktorianischen Zeitalter dominante, den britischen Imperialismus rechtfertigende, darwinistische, ‚progressive‘ Interpretationen eines ­sur­vival of the fittest überschnitten sich mit pessimistischen Feststellungen einer ‚rassischen Degeneration‘ und Ängsten vor den ‚gefährlichen‘ urbanen Klassen. An diese Ängste der Mittelklasse appellierte die zum Ende des 19. Jahrhunderts aufkommende Eugenikbewegung, die einen Ausweg aus dem Fatalismus der Darwinschen Theorie der natürlichen Selektion bot und durch ‚geeignete‘ Maßnahmen wie Sterilisation dem natürlichen Selektionsprozeß nachhelfen wollte. Nach dem Burenkrieg wurden diese Diskussionen um den Zusammenhang mit ‚Rasse‘ und ‚nationaler Effizienz‘ in der Mitte der politischen Öffentlichkeit geführt. Aber während die Angst vor ‚Degeneration‘ sich vor dem Ersten Weltkrieg explizit gegen die urbane Arbeiterklasse richtete, war es in den 1920er und 1930er Jahren

4.1  ‚Degeneration‘ als zentraler Topos   77

die ‚Masse‘ an sich, zu der jetzt auch große Teile der Mittelklasse gezählt wurden, die zum Objekt der Degenerationsvorstellungen wurden.

4.1.1.  Degeneration und national decline? 100 Jahre ­eugenisches Denken in Großbritannien Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das ‚wissenschaftliche‘ und politische ­Projekt, die Erbanlagen einer bestimmten Menschengruppe zu verbessern, lange Zeit vornehmlich mit dem Nationalsozialismus in Verbindung gebracht. Doch die Bio­ logisierung nationalsozialistischer Politik mit ‚Rassenhygiene‘ als Leitwissenschaft und dem Massenmord an ‚unerwünschten‘ Teilen der Bevölkerung ist lediglich die extremste Form einer Idee, die nicht nur viel älter ist, sondern in verschiedenen Ländern und als Teil ganz unterschiedlicher politischer Projekte existierte. Die Idee und Bewegung Eugenik gehen auf Traditionslinien zurück, die weit ins 19. Jahrhundert zurückreichen, und noch bevor der Naturforscher Francis Galton den Begriff ‚Eugenik‘ im Jahre 1883 prägte, waren eugenische Vorstellungen virulent. Eugenik war weder ein deutsches oder europäisches, sondern ein weltweites Phänomen, das keineswegs nur bei der politischen Rechten zu Hause war, sondern auch liberale oder sozialistische Befürworter hatte.3 Großbritannien gilt in diesem Zusammenhang als das frühe Beispiel für Eugenik als sozialreformerische Bewegung, die im sozialistischen und feministischen Umfeld ihren Ursprung hatte. Im Geburtsland der Eugenik konnte diese neue Bewegung durchaus der Versuch einer progressiven Antwort auf die Herausforderungen drängender sozialer Entwicklungen sein. Wenn frühe Feministinnen ­Ideen der Eugenik aufgriffen, um sich mit einer Rationalisierung von Sexualität zivilrechtliche und politische Partizipation zu erkämpfen,4 oder sich die Intellektuellen der Fabian Society für eugenische Methoden zur Lösung von gesundheitlichen Problemen in den Arbeitervierteln interessierten,5 dann erscheinen trotz wissenschaftlicher Fragwürdigkeit der Methoden die dahinter stehenden Vorstellungen auch heute noch als ‚modern‘. Und auch der weitverbreitete Erklärungsansatz, die britische Eugenik sei im wesentlichen ein Abwehrkampf einer von Statusängsten bedrohten Mittelklasse gewesen, implementiert mit seinem Rekurs auf die sozial definierte Kategorie Klasse – statt der biologistisch definierten Kategorie Rasse – ein geringeres politisches ‚Eskalationspotential‘ der britischen Eugenik. Daß sich Vertreter der radikalen Rechten in Großbritannien, die sich in einem publizisti3

Vgl. Stefan Kühl, Die Internationale der Rassisten. Aufstieg und Niedergang der internationalen Bewegung für Eugenik und Rassenhygiene im 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1997. Vgl. auch den Sammelband Regina Wecker (Hrsg.), Wie nationalsozialistisch war die Eugenik? Internationale Debatten zur Geschichte des 20. Jahrhunderts, Wien 2009. 4 Angelique Richardson, Love and Eugenics in the Late Nineteenth Century. Rational Reproduction and the New Woman, Oxford 2003. 5 Christopher Shaw, Eliminating the Yahoo. Eugenics, Social Darwinism and Five Fabians, in: History of Political Thought 8 (1987), S. 521–544. Vgl. dazu auch Michael Freeden, Eugenics and Progressive Thought. A Study in Ideological Affinity, in: The Historical Journal 22 (1979), S. 645–671.

78   4.  Neo-Toryismus als Weltanschauung schen Abwehrkampf explizit gegen die politischen, sozialen und kulturellen Bedingungen der Moderne stellten, in ihrer Argumentation und in ihren Forderungen auf die Ideen der Eugenik bezogen und sogar in den Publikationen der organisierten britischen Eugenik Artikel unterbringen konnten, zeigt die politische Polyvalenz des Konzepts Eugenik.6 Wenn von Großbritannien als Geburtsland der Eugenik gesprochen wird, gilt allgemein der britische Forscher Francis Galton als geistiger Vater. Neuere Forschungen zur Proto-Eugenik zeigen allerdings, daß die ‚embryonale Phase‘ der Eugenik nicht erst in den 1880er Jahren mit dem Erfolg der Schriften Galtons zu finden ist, sondern eher in den zwei bis drei Jahrzehnten zuvor.7 Auch in Großbritannien kursierten Ideen und theoretische Ansätze zur Vererbungslehre bereits in der Mitte des 19. Jahrhunderts, als sich die Medizin und die Erforschung von Geisteskrankheiten professionalisierten. Entscheidend war, daß die Idee der Vererbbarkeit von geistigen Anomalien von großen Teilen der sich neu formierenden wissenschaftlichen Gemeinde akzeptiert wurde. So wurde in den in neuen Fachzeitschriften wie The Lancet, Journal of Mental Science, Journal of the Statistical Society of London und British Medical Journal die Weitergabe von ungewünschten Eigenschaften durch das Erbgut und dessen Implikationen diskutiert. Die publizierenden Mediziner der 1850er und 1860er Jahre nahmen damit ein Kernelement des eugenischen Diskurses vorweg.8 Die Lehre von der Vererbbarkeit konnte im Licht des sozialen Fortschritts diskutiert werden und einen optimistischen Ton haben. Im viktorianischen Großbritannien waren Ideen von der menschlichen Verbesserbarkeit außerordentlich populär und wurden nicht zuletzt auch genutzt, um die politischen und sozialen Fortschritte aller Regionen zu erklären, die unter britischer Herrschaft standen, und dienten so der Legitimation des Empire.9

6

Die Ursachen hierfür sieht Richard Soloway in dem Eklektizismus und der ideologischen Unein­deutigkeit der Eugenik. Anhänger der Eugenik haben sich nie sicher sein können, ob sie  eine Natur- oder Sozialwissenschaft oder gar eine politische Religion unterstützt hätten. ­Richard Soloway, Demography and Degeneration. Eugenics and the Declining Birthrate in Twentieth-Century Britain, Chapel Hill 1990, S. XVIII. Vgl. dazu auch Jeremy Hugh Baron, The Anglo-American Biomedical Antecedents of Nazi Crimes. An Historical Analysis of Racism, Nationalism, Eugenics, and Genocide, Lewiston (NY) 2007; Gavin Schaffer, Racial Science and British Society, 1930–62, Basingstoke 2008. 7 Vgl. hierzu die Ergebnisse der Konferenz „Human Breeding for the Improvement of the Nations. Proto-Eugenic Thinking Before Galton“ am German Historical Institute, Washington (DC) 25.–27. September 2008. Vgl. auch Jenny Davidson, Breeding. A Partial History of the Eighteenth Century, New York 2009. 8 John C Waller, Ideas of Heredity, Reproduction and Eugenics in Britain, 1800–1875, in: Studies in History and Philosophy of Biological and Biomedical Sciences, 32 (Sep. 2001), S. 457–489; ders., The Social and Intellectual Origins of Sir Francis Galton’s (1882–1911) Views on Hereditary and Eugenics, London 2001; ders., Becoming a Darwinian. The MicroPolitics of Sir Francis Galton’s Scientific Career 1859–65, in: Annals of Science, London, 61 (2004), S. 141–163. Diane Paul, Controlling Human Heredity. 1865 to the Present; New Jersey 1995; Lyndsay A. Farrell, Origins and Growth of the English Eugenics Movement, New York 1985. 9 Waller, The Social and Intellectual Origins, S. 146.

4.1  ‚Degeneration‘ als zentraler Topos   79

Zur Mitte des 19. Jahrhunderts, im Zuge der Industrialisierung und Urbanisierung Großbritanniens prägte sich allerdings noch eine weitere, wesentlich pessimistischere Interpretation von Vererbung auf. Die Wahrnehmung einer steigenden Morbidität und moralischen ‚Barbarisierung‘ der Bevölkerung wurden dabei mit einer generellen ‚Degeneration‘ in den Städten Großbritanniens in Zusammenhang gesetzt. Britische Psychiater entwickelten diese Idee und diskutierten die umweltbedingten, medizinischen und sozialen Determinanten von ‚Degene­ ration‘.10 Dieser Degenerationsdiskurs knüpfte an ältere Paradigmen des Niedergangs an, zeichnete sich jedoch durch eine Medizinisierung von sozialen und ­politischen Problemen aus. Die drei Jahrzehnte vor 1880 können somit als eine Übergangsphase interpretiert werden, in der darwinistische, ‚progressive‘ Interpretationen eines survival of the fittest von pessimistischen Feststellungen einer ‚rassischen Degeneration‘ mit tief verankerten Ängsten vor den urbanen ‚gefährlichen‘ Klassen überlagert wurden.11 Diese Übergangsphase betrifft nicht nur die Wahrnehmung ‚fremder‘ Klassen, sondern auch ‚fremder‘ Rassen. Der britische Sozialdarwinismus wird von der Forschung gemeinhin als eine Rechtfertigungsideologie für Laissez-faire-Liberalismus, Imperialismus und Rassismus gesehen.12 Die optimistische Schlußfolgerung einer rassischen und kulturellen Überlegenheit war im viktorianischen Großbritannien besonders dort verbreitet, wo die eigenen Standards des sozialen Fortschritts auf die Beurteilung anderer Rassen angewandt wurden und so den 10 Daniel

Pick, Faces of Degeneration. A European Disorder, c. 1848–c. 1918, Cambridge 1993, S. 155–221. 11 Anders als in Frankreich und Italien, wo Denker wie Benedict-Augustin Morel und Cesare Lombroso umfassende Degenerationsmodelle entwickelten, gab es in Großbritannien keinen großen Theoretiker der ‚Degeneration‘. Der französische Arzt Morel hatte in seinem Werk Traité des dégénérescences physiques, intellectuelles et morales de l’espèce humaine, et des causes qui produisent ces variétés maladives von 1857 eine Theorie der menschlichen ‚Degeneration‘ entwickelt, in der Geisteskrankheit, Armut, Arbeitslosigkeit, Sterilität, Verbrechen und andere „Abnormalitäten“ als Symptome einer generellen ‚Degeneration‘ innerhalb der Gesellschaft interpretiert wurden. Morels Theorie wurde in der britischen Fachliteratur begeistert ­rezipiert. In einer 48seitigen Besprechung im Journal of Psychological Medicine kommt der Autor zu dem Schluß: „It is not alone the fact that the nervous system, in its double connexion with mind and body, is most frequently the victim of these degenerations, that lends a deep interest to this inquiry in reference to psychology; but also that according to M. Morel, mental ­alienation in its various forms, but especially the chronic, is but the concentrated and final expression of degeneracy of race, wheresoever the chain of phenomena commenced.“ Anon [W.H.O. Sankey], On the Degeneracy of the Human Race, in: The Journal of Psychological Medicine 10 (April 1857), S. 159–208, hier 160. Zu Morel vgl. Pick, Faces of Degeneration, S. 47–59; Richard Olson, Science and Scientism in Nineteenth-Century Europe, Urbana 2008, S. 278–283; Sean M. Quinlan, The Great Nation in Decline. Sex, Modernity, and Health Crises in Revolutionary France c. 1750, Aldershot 2007; Volker Roelcke, Krankheit und Kultur­kritik. Psychiatrische Gesellschaftsdeutungen im bürgerlichen Zeitalter (1790–1914), Frankfurt a. M. 1999, S. 83–88. 12 Mike Hawkins, Social Darwinism in European and American Thought, 1860–1945. Nature as Model and as Threat, Cambridge 1997, S. 7 f. Vgl. auch Mathew Thomson, The Problem of Mental Deficiency. Eugenics, Democracy and Social Policy in Britain, c. 1870–1959, Oxford 1998.

80   4.  Neo-Toryismus als Weltanschauung imperialen Interessen dienten. Traditionell wurden andere Rassen, insbesondere die ‚negroes‘, einem kindlichen Entwicklungsstadium zugeordnet. Nur mit Hilfe der überlegenen weißen Rasse, insbesondere der angelsächsischen, könnten sie in einen erwachsenen Zustand geführt werden.13 Dabei sollte es allerdings keinen zu engen Kontakt mit den ‚fremden Rassen‘ geben. Miscegenation, also ‚Rassenmischung‘, löste im viktorianischen Großbritannien Alarm aus; die Angst vor einem war of races war von den 1860ern an verbreitet. Daneben wurde der Untergang von Eingeborenenpopulationen in Neuseeland, Tasmanien, Südafrika und Süd­ amerika nicht nur im Licht des survival of the fittest gesehen, sondern auch als eine Warnung der Natur dafür, was passieren könne, wenn man die Anzeichen von ‚Degeneration‘ nicht ernst nimmt und bekämpft. Auch in den britischen Städten, so rechtfertigte man unter dieser Perspektive die eigenen eugenischen Positionen, fänden in den Slums die Vererbung von ‚rassisch unerwünschten‘ Eigenschaften statt, und der rassische Niedergang habe starke soziale und moralische Auswirkungen. Doch wenn die darwinistischen Theorien stimmten, so der Arzt James Chrichton-Browne in einem Artikel für das Journal of Mental Science von 1861, müßte auch hier das Prinzip der natürlichen Auswahl funktionieren. „In the grand battle of existence, which is even now being waged, those with small brains, of inferior quality, weak vessels for the immaterial entity, will perish and pass away; and those with large brains and powerful intellects will be selected and perpetuated upon the earth.“ Allerdings hätten gegenläufige Einflüsse des modernen Zeitalters – Chrichton-Browne nannte hier einige zarte Vorläufer des Sozialstaats – die natürlichen Bedingungen aufgehoben. Es waren aber auch die Lebensbedingungen in den großen Städten selbst, die für eine Zunahme von Geisteskrankheiten verantwortlich gemacht wurden. Schlechte Luft und schlechtes Essen, Ausschweifungen und Sittenlosigkeit würden demnach dazu beitragen, daß es mit der ‚eigenen‘ Rasse bergab gehe. Daher bedürften die Ansammlungen der unteren Klassen in den großen Städten besonderer Aufmerksamkeit, denn „they contain the dangerous classes, consisting of men with dwarfed intellects, low morals, violent passions, and degrading vices.“14 Hier zeigt sich nicht nur der ängstliche Verdacht, daß der Vererbungsprozeß gegen die zukünftigen Generationen der Nation arbeitete, sondern die Vorstellung, daß Teile der städtischen Arbeiterklasse gefährlich für die Gesundheit der Nation seien. Ein weiteres Element dieser Argumentation war die Medizinisierung von sozialen und politischen Problemen wie Armut. In einem Artikel des Journal of Mental Science von 1857 heißt es: „Poverty is, in itself, not unfrequently a mere psychical condition of being, an external sign of an internal and mental defect on the part of the sufferer.“15 Diese sozio-biologische Denkweise und Kultur der racial fear war zunächst auf die Fachdiskurse von Ärzten und Psychiatern 13 Vgl.

Christine Bolt, Victorian Attitudes to Race, London 1971. Crichton-Browne, The History of Progress of Psychological Medicine. An Inaugural Address, in: Journal of Mental Science 7 (1861), S. 19–31, hier 29. 15 Journal of Mental Science 4 (1857), S. 36. 14 James

4.1  ‚Degeneration‘ als zentraler Topos   81

begrenzt. Erst gegen Ende des iktorianischen Zeitalters erfuhren diese Überlegungen eine Popularisierung. Dies manifestierte sich in einer Faszination der Mittelklassen für die dunklen Slums der Industriestädte, in denen Gewalt, Alkohol und Prostitution von einer morbiden Gegenwelt zeugten, die durch spektakuläre Fälle wie die Mordserie des Jack the Ripper im Londoner East End (1888) weltbekannt wurden. Populäre Reisebücher wie William Booths Darkest England and the Way Out von 1890 berichteten über das Leben in den Armenvierteln und verglichen es mit dem der Eingeborenen Afrikas.16 Den sozio-ökonomischen Hintergrund für diese Entwicklungen bildete die sogenannte Great Depression (1873–1896), jene Phase der wirtschaftlichen Schwäche unter deflationären Bedingungen, die von den Zeitgenossen deutlich dramatischer wahrgenommen wurde, als sie aus wirtschaftsgeschichtlicher Perspektive tatsächlich war.17 Zum Ende des 19. Jahrhunderts vermischte sich die Furcht vor dem Niedergang des Empire mit sozialdarwinistischen Denkmustern. Es kam die Forderung nach ‚nationaler Effizienz‘, einer neuen Moralität und physischen Reinheit auf. Aber wie konnte man dem allgemeinen Niedergang entgegensteuern? Francis Galtons Lehre vom ‚guten Erbe‘ bot einen Ausweg aus dem Fatalismus der Degenerationstheorien. Der Mensch könne, so Galtons Ansatz, die äußeren Einflüsse so verändern, daß sich nur die Begabtesten fortpflanzen. Mit Hilfe sowohl von positiver Eugenik – also der Förderung von Fortpflanzung besonders Begabter – als auch negativer Eugenik – dem Ausschluß der Untauglichen von der Fortpflanzung, sollte dieses Ziel erreicht werden.18 In einem Vortrag mit dem ­Titel „Eugenics; its Definition, Scope and Aims“ an der London School of Economics im Mai 1904 erläuterte Galton sein Konzept und entwarf das Bild einer eugenisch verbesserten Gesellschaft mit ‚wünschenswerten‘ politischen Folgen: „The race as a whole would be less foolish, less frivolous, less excitable and politically more provident than now. Its demagogues who ‚played to the gallery‘ would play to a more sensible gallery than at present. We should be better fitted to fulfil our vast Imperial opportunities.“19 Interessanterweise forderte Galton selbst, daß ­Eugenik nicht allein Wissenschaft sein dürfe, denn diese sei lediglich die Grund­ lage für eine soziale Bewegung, aus der schließlich eine ‚neue Religion‘ und ein ‚religiöses Dogma‘ entstehen solle.20 Die Öffnung von Eugenik über den engeren Horizont einer ‚Wissenschaft‘ paßte zur Stimmung der Zeit: Ein durch ein tiefgreifendes Unbehagen an der industriellen Massengesellschaft genährter, zivilisationskritischer Kulturpessimis­ 16 Geoffrey

Searle, A New England? Peace and War 1886–1918, Oxford 2005, S. 173. Vgl. dazu auch Drew Gray, London’s Shadows. The Dark Side of the Victorian City, London 2010. 17 Samuel Berrick Saul, The Myth of the Great Depression 1873–1896, London 1969. 18 Kühl, Die Internationale der Rassisten, S. 19. 19 Mr. Francis Galton on Eugenics, The Times, 16. 5. 1904. 20 Ebd. Vgl. auch Kühl, Die Internationale der Rassisten, S. 18, und allgemein Martin Brookes, Extreme Measures. The Dark Visions and Bright Ideas of Francis Galton, London 2004; Michael Bulmer, The Development of Francis Galton’s Ideas on the Mechanism of Heredity, in: Journal of the History of Biology, 32 (1999), S. 263–92.

82   4.  Neo-Toryismus als Weltanschauung mus, die Angst vor einer Schwächung des British Empire sowie die militärische und wirtschaftliche Herausforderung durch das Deutsche Reich und die USA bildeten in Großbritannien zur Jahrhundertwende ein Konglomerat der Unzufriedenheit. Das Gefühl, die Weltmachtstellung verloren zu haben, machte sich breit. „Primacy lost in all“ hieß es in einem Artikel von Andrew Carnegie.21 Das unter der langen liberalen Vorherrschaft entstandene optimistische Vertrauen in die Selbstheilungskräfte der Märkte und der Gesellschaft wurde zunehmend ­erschüttert. Forderungen nach verstärkter staatlicher und gesellschaftlicher ­Lenkung nahmen zu. Die maßgebliche Triebkraft für diese Entwicklung war der ­zunehmende Einfluß sozialdarwinistisch geprägter Ordnungskonzepte.22 Diese Verquickung von außenpolitischen Bedeutungsverlustängsten mit innenpolitischen Degenerationsvorstellungen artikulierte sich lautstark während des Burenkrieges 1899–1902, dem ersten Krieg Englands unter den Bedingungen der ­modernen Massendemokratie. Das entscheidende Schlagwort des während des Burenkrieges entfachten Diskurses war national efficiency. Die Forderung nach mehr Effizienz betraf dabei nicht nur eine umfassende Militärreform und eine straffere staatliche Lenkung von Wirtschaft und Gesellschaft, sondern verband sich zunehmend mit einer Kritik an freiheitlich-individualistischen Gesellschaftsvorstellungen.23 In der Tat bildete der Burenkrieg aufgrund der schwerwiegenden militärischen Probleme und vor allem der Untauglichkeit vieler Rekruten den eigentlichen Katalysator in der Formierung einer aktiven Eugenikbewegung.24 Die Symptome der ‚Degeneration‘ – also Krankheiten, Armut, Arbeitslosigkeit, Alkoholismus und Prostitution – wurden in der Folge nicht mehr als soziale Phänomene problematisiert, sondern auch von staatlichen Stellen als erbliche „racial diseases“ identifiziert.25 21 Andrew

Carnegie, British Pessimism, in: Nineteenth Century 49 (1901), S. 901–912, hier 903. 22 Arnd Bauerkämper, Sozialdarwinismus in Großbritannien vor dem Ersten Weltkrieg, in: Manfred Hettling (Hrsg.): Was ist Gesellschaftsgeschichte? Positionen, Themen, Analysen, München 1991, S. 198–206. 23 Geoffrey Searle, The Politics of National Efficiency and of War, 1900–1918, in: Chris Wrigley (Hrsg.), A Companion to Early Twentieth Century Britain, Malden 2003, S. 56–71; ders., The Revolt from the Right in Edwardian Britain, in: Paul Kennedy und A. Nicholls (Hrsg.), Nationalist and Racialist Movements in Britain Before 1914, Oxford 1981, S. 21–39; ders., Eugenics and Politics in Britain 1900–1914, Leyden 1976; ders., The Quest for National Efficiency, 1899–1914, Oxford 1971. Die Debatte um ‚nationale Effizienz‘ ging z. T. einher mit einem verstärkten Interesse am deutschen Kaiserreich. Günter Hollenberg, Englisches Interesse am Kaiserreich. Die Attraktivität Preußen-Deutschlands für konservative und liberale Kreise in Großbritannien 1860–1914, Wiesbaden 1974; Christoph Jahr, British Prussianism. Überlegungen zu einem europäischen Militarismus im 19. und frühen 20. Jahrhundert, in: Wolfram Wette (Hrsg.), Militarismus in Deutschland 1871 bis 1945. Zeitgenössische Analysen und Kritik (Jahrbuch für Historische Friedensforschung 8, 1999), Münster 1999, S. 239–309. 24 Dies betont besonders David Barker, The Biology of Stupidity. Genetics, Eugenics and Mental Deficiency in the Inter-War Years, in: The British Journal for the History of Science 22 (1989), S. 247–376. 25 Vgl. Report of the Royal Commission on the Care and Control of the Feeble Minded, London 1908.

4.1  ‚Degeneration‘ als zentraler Topos   83

Maßgeblich beteiligt an dieser Biologisierung der Sozialpolitik war die 1907 in London gegründete Eugenic Education Society.26 Die Eugenic Education Society war eine Organisation mit einem politisch heterogenen Hintergrund – ihr gehörten Konservative und Liberale ebenso an wie Vertreter der Arbeiterbewegung.27 Gleichzeitig bot die Gesellschaft aber mit ihrer Zeitschrift Eugenic Review eine publizistische Plattform für eine Reihe früher Protagonisten der radical right. Vor allem in den Artikeln rechtskonservativer Sozial­imperialisten wie Benjamin Kidd, Alfred Milner und Arnold White hatte die Forderung nach eugenischen Maßnahmen eine antiliberale Stoßrichtung. Das Postulat der ‚nationalen Effizienz‘ bekam hier mit der Eugenik eine vermeintlich wissenschaftliche Fundierung.28 Die Eugenik sollte ein rationales und fortschrittliches System der Selektion gewährleisten, da der natürliche Selektionsprozeß durch staatliche Sozialleistungen und falsche Humanität konterkariert werde. Die Forderungen von Eugenikern wie White zielten dabei auf die „sterilisation of the unfit“ – ein erster und wichtiger Schritt zur Erhöhung der ‚nationalen Effizienz‘.29 Damit prägten diese frühen Vertreter der radikalen Rechten zentrale Topoi, die in unterschiedlichen Formen auch in der Zwischenkriegszeit auftauchten: Das so­ zialdarwinistisch verstandene Konzept der natürlichen Auswahl wurde mit der Idee der ‚nationalen Effizienz‘ verbunden und das Individuum unter die Interessen einer korporativen Gesellschaft untergeordnet.

4.1.2  Die Furcht vor der ‚Degeneration‘ Großbritanniens in der Zwischenkriegszeit Wenn im England der Vorkriegszeit sozialdarwinistische Denkmuster bemüht und eugenische Maßnahmen gefordert wurden, um die ‚nationale Effizienz‘ zu steigern, so richtete sich dies gegen die urbane Arbeiterklasse. Es war das städtische Proletariat, der Mob, der gefürchtet war und der die Vitalität der ganzen Nation vermeintlich bedrohte. Nach dem Ersten Weltkrieg vollzog sich hier eine interessante Änderung. Es war nicht mehr allein die urbane Arbeiterklasse, die von Vertretern der Mittelklasse als ‚degeneriert‘ wahrgenommen wurde, sondern Teile der Mittelklasse selbst. Oder wie es Stephen Arata ausdrückt: „The definition of what constitutes the masses has migrated upwards“.30 Die ‚Massen‘ bestanden 26 Geoffrey Searle, Eugenics

and Politics in Britain, 1900–1914, Leyden 1976, S. 106–111; ­Daniel Kevles, In the Name of Eugenics. Genetics and the Uses of Human Heredity, New York 1985, S. 104–106. 27 Farell, The Origins and Growth of the English Eugenics Movement; Pauline M. H. ­Mazumdar, Eugenics, Human Genetics and Human Failings. The Eugenics Society, Its Source and Its ­Critics in Britain, New York 1992. Dazu auch die Materialsammlung Pauline M. H. Mazumdar, The Eugenics Movement. An International Perspective, Bd. II, London 2007, S. 81–302. 28 Zur Verbindung von eugenischer Programmatik und Effizienzideologie vgl. Searle, The Quest for National Efficiency, 1899–1914, S. 60–67, 95–97; ders., Eugenics and Politics in Britain, S. 34–44. 29 Arnold White, Eugenics and National Efficiency, in: Eugenics Review 1 (1909), S. 105–111. 30 Stephen Arata, Fictions of Loss in the Victorian Fin de Siècle, Cambridge 1996, S. 180.

84   4.  Neo-Toryismus als Weltanschauung nicht mehr allein aus dem Industrieproletariat, sondern auch aus dem ‚Heer‘ der Angestellten, aus den berufstätigen Frauen und aus den Bewohnern der uniformen suburbanen Reihenhaussiedlungen. Durch die sukzessive Erweiterung des Wahlrechts waren diese Gruppen auch zu einem politischen Faktor geworden. Kritiker der Massengesellschaft beklagten nicht nur Uniformität, Bürokratie, Kulturlosigkeit, sondern auch die Gefahr der ‚Irrationalität‘ der Masse, ihre grundsätzliche Unfähigkeit, politische Zusammenhänge zu verstehen und ihre Verführbarkeit durch revolutionäre Demagogen.31 Im Großbritannien der zwanziger und dreißiger Jahre popularisierte kein anderer Publizist das Szenario einer ‚degenerierten‘ Massengesellschaft und eugenische Forderungen stärker als Ralph Inge. Der Dekan der Londoner St. Paul’s Cathedral, William Ralph Inge, verbreitete seine Untergangsszenarien, die ihm den Spitznamen „Gloomy Dean“ bescherten, als Kolumnist für den Evening Standard (1921–1946) und als erfolgreicher Buchautor.32 In seinem mehrfach wiederaufgelegtem Buch England von 1926 schrieb er: There is always a large number of degenerates, who might have been eliminated under ruder social conditions, but who are now encouraged to live and multiply. Some of these are imbecile, neurotic, half-insane; others are chronic invalids; others are psychopaths with some morbid strain in their character. Some have failed in life from an accident, or because they have some disability which may not be incompatible with considerable energy and intellectual power. All these cherish a sullen or maniacal hatred against the social order which gives them no hope. A blind lust for destruction takes hold of them.33

Das Bedrohungsszenario einer Revolte der ‚degenerierten‘ Teile der Gesellschaft steht am Ende von Inges zutiefst pessimistischer Zivilisationskritik. Als einer der bekanntesten Eugeniker beschrieb Inge die Geschichte des englischen Parlamentarismus als eine Geschichte des stetigen Niedergangs. Die Demokratisierung des Wahlrechts habe Macht und Prestige des Parlaments ausgehöhlt. Statt nationaler Interessen würden nur noch Klasseninteressen vertreten und zusätzlich jene Teile der Gesellschaft privilegiert, die durch ihre besondere Empfänglichkeit für sozialistisches Gedankengut die soziale Ordnung gefährdeten. Inge sah seine Forderungen nach eugenischen Maßnahmen auch keineswegs in einem Konflikt mit seiner Funktion als Geistlicher. Die Christenheit, so Inges, behandele den ‚Apparat‘ des Lebens mit der gleichen Verachtung wie die Biologie; so lange ein Mensch gesund sei, kümmere sie sich nicht weiter, ob er reich oder arm sei, ob gebildet oder ungebildet. Entscheidend sei lediglich die Gesundheit, die biologische Qualität des Menschen. „For the Christian as for the eugenist, the test of the welfare of a country is the quality of the men and women it turns out. He cares nothing for the disparity between births and deaths; for him quality is everything and quantity is nothing.“34 31 Vgl.

Kapitel 5.2. Robert Meredith Helm, The Gloomy Dean. The Thought of William Ralph Inge, Winston-Salem 1962. 33 William Ralph Inge, England, London 1926, S. 266. 34 Ders., Outspoken Essays (Second Series), London 1922, S. 273 f. 32 Vgl.

4.1  ‚Degeneration‘ als zentraler Topos   85

Inge ist kein typischer Vertreter der radikalen Rechten. Dennoch findet sich in seinen Schriften jene Kombination von Demokratiefeindlichkeit, Antisozialismus und neoaristokratischem Sozialdarwinismus wie sie teilweise auch für den NeoToryismus typisch war. Das Bedrohungsszenario einer ‚degenerierten‘ Massengesellschaft wurde dabei meist ziemlich undifferenziert eingesetzt – dies gilt für den publizistischen Kampf gegen die parlamentarische Demokratie wie auch gegen den Sozialismus. Die Angst vor Revolution und Evolution hatte in der britischen Rechten zu einem neuartigen Krisenbewußtsein geführt. Für den Erfolg von Degenerationsvorstellungen von zentraler Bedeutung waren in Großbritannien der Erste Weltkrieg und seine Auswirkungen auf die Bevölkerungsentwicklung. In den meisten Ländern mit einer aufkommenden Eugenikbewegung hatte sich die Überzeugung von der ‚rassenzerstörenden‘ Wirkung des Krieges durchgesetzt.35 Auch in Großbritannien hatte in Ähnlichkeit zur Efficiency-Debatte in der Folge des Burenkrieges, doch massiv verstärkt durch die Dezimierung der jungen ­Bildungselite, die Vorstellung von der ‚Degeneration‘ der britischen Gesellschaft nach dem Ersten Weltkrieg erneut Konjunktur. Der zeitgenössische Topos von der ‚verlorenen‘ Generation führte leicht zu Forderungen nach einer umfassenden eugenischen Neuordnung. Der ‚rassische Schaden‘, den die Vernichtung der ‚höherwertigen Typen‘ zur Folge habe, so der Sohn Charles Darwins und Vorsitzender der Eugenic Society von 1911 bis 1928, Leonard Darwin, sei nur durch ein eugenisches Gesamtprogramm auszugleichen.36 „Will this country never wake up to the necessity of inquiry into the many evils which must result from the ­unchecked multiplication of the unfit? Much could be done to safeguard the nation from the dangers of racial decline; but the truth is that few really care about posterity.“37 Leonard Darwins Vorstellung einer allgemeinen ‚Degeneration‘ aufgrund der rassezerstörenden Entwicklung des Krieges griffen viele britische Eugeniker auf. In seinem Buch The Survival of the Unfittest konstatierte Charles Armstrong 1927: „During four years, the pick of our manhood went to drain its blood on the fields of Flanders and elsewhere. During that time the old, the cowardly, the feeble and the diseased remained at home to procreate.“38 Die Ursache für den Niedergang bestehe, so argumentierten die meisten radikalen Eugeniker, in der fälschlichen Annahme der Gleichheit der Menschen. Die humanistische Tradition habe Demokratie und Sozialstaat hervorgebracht und damit einen natürlichen Ausleseprozeß verhindert. Aus dieser Perspektive waren die politischen Erfolge der Emanzipationsbewegungen der Arbeiterschaft, der Frauen und der Kolonien in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg ein alarmierendes Signal. Charles Armstrong stellte fest: „England, possessing the finest human stock in the world, is at 35 Kühl,

Die Internationale der Rassisten, S. 47 f. Darwin, The Need for Widespread Eugenic Reform During Reconstruction, in: Eugenics Review 10 (1918). S. 145–162. Vgl. auch: A Healthier Race. Major Darwin on Stamping out the Unfit, The Times, 29. 10. 1918. 37 Darwin, Survival of the Unfit. Letter to the Times, The Times, 25. 2. 1919. 38 Charles W. Armstrong, The Survival of the Unfittest, London 1927, S. 25. 36 Leonard

86   4.  Neo-Toryismus als Weltanschauung the present time doing all in her power to destroy it.“39 Wie andere prominente Eugeniker dieser Zeit – etwa Leonard Darwin oder der Oxforder Philosophieprofessor Ferdinand Schiller – artikulierte Armstrong die Status-Ängste der oberen Mittelklasse.40 Ihre Schriften hatten allerdings keineswegs einen rein sozialdefensiven Charakter. Führende Eugeniker begründeten ihre Forderungen nach eugenischen Maßnahmen vielmehr auch mit rassischen Kategorien. Die Warnung vor ‚Rassenmischung‘, miscegenation, so das englische Schlagwort, war in der Folge des Weltkriegs weit verbreitet. Trotz der Wiederentdeckung der Mendelschen Vererbungslehre und dem Aufkommen der Genetik blieb die Vorstellung einer ‚Degeneration‘ durch ‚Rassenmischung‘ in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kaum hinterfragt.41 Die Aufklärung über die Folgen des race crossing war eines der wichtigsten Anliegen der Eugenic Society. Zum besseren Verständnis des Phänomens, das nach dem Ersten Weltkrieg durch die gemischten Ehen von ehemaligen Soldaten und Seeleuten aus den Kolonien in den großen Städten Großbritanniens für die Zeitgenossen immer häufiger sichtbar wurde, startete die Eugenic Society 1924 ein Forschungsprojekt zur Frage der Folgen von ‚Rassenmischung‘. Die Ergebnisse waren eindeutig: Von den 119 untersuchten Kindern mit chinesischem Vater und weißer Mutter wurden lediglich vier in die Kategorie „might have passed as completely English“ eingestuft. Von den 110 Fällen „Negro/white crosses“, die im Vergleich zu den ‚Halbchinesen‘ als „more handicapped“ eingestuft wurden, zeigten 10% eine ‚Disharmonie‘ im Kieferbereich, so der häufig verwendete Euphemismus für ‚Degeneration‘. Von den 49 Fällen von „back crosses“ mit ‚anglo-negroider‘ Mutter und ‚negroidem‘ Vater wurde keiner als „could have passed as English“ eingestuft.42 Wie dieses Beispiel nahelegt, ist die britische Eugenikbewegung keineswegs lediglich als eine Protestbewegung einer von Status-Ängsten geplagten Mittelklasse zu verstehen. Die Popularität der Eugenik erklärt sich vielmehr auch aus einem tief verwurzelten Glauben an die Superiorität der englischen Rasse und dem ­damit verbundenen Streben, die – durch die geographische Lage entstandene – Reinheit der Rasse vor fremden Einflüssen zu schützen.43 Gleichzeitig hatte der starke Einfluß sozialdarwinistischer Kategorien und eine rege Rezeption der Schriften Nietzsches ein rassisch konnotiertes ‚Herrenmenschenideal‘ entstehen 39 Ebd.,

S. 9.

40 Ferdinand

Schiller, Eugenics and Politics, London 1926; ders., Social Decay and Eugenic Reform, London 1932; Leonard Darwin, The Need for Eugenic Reform, London 1926; ders., What is Eugenics?, London 1928. 41 Nancy Stepan, Biological Degeneration. Race and Proper Places, in: Edward Chamberlain und Sander Gilman (Hrsg.), Degeneration. The Dark Side of Progress, New York 1985, S. 111. 42 Lucy Bland, British Eugenics and „Race Crossing“. A Study of an Interwar Investigation, in: New Formations 60 (2007), S. 66–78. 43 Stone, Breeding Superman. Daß die Eugenikbewegung und eugenisches Denken ein starkes Element im britischen Rassismus darstellten, betont auch Barbara Bush, Imperialism, Race and Resistance, London 1990, S. 281 und Schaffer, Racial Science and British Society. Vgl. auch Baron, The Anglo-American Biomedical Antecedents of Nazi Crimes.

4.1  ‚Degeneration‘ als zentraler Topos   87

lassen, das sich gegen Ausländer, Behinderte, Kriminelle und sozial Schwache richtete.44 Die Eugeniker beschränkten sich bei der Verbreitung ihrer Thesen nicht nur auf eigene Publikationen. Der Herausgeber der Eugenics Review, Eldon ­Moore, veröffentlichte beispielsweise in der angesehenen Monatszeitschrift The Nineteenth Century and After einen Artikel mit dem programmatischem Titel „The Sterilisation of the Unfit“. Am Ende seiner Darlegungen warnt er in dramatischen Worten vor politischer und medizinischer Untätigkeit angesichts der drohenden Gefahr für Rasse und Zivilisation. „Our national average is being lowered, our sound stocks poisoned, and our racial health imperilled by the growth of mental disease.“ Mit dem nationalen Wertesystem müsse etwas fundamental falsch sein, wenn man nicht begreife, daß diese ‚armen Kreaturen‘ keine voll­ wertigen Menschen seien. Ihre Existenz zu dulden oder gar zu tolerieren bedeute, „to humiliate and endanger our race and civilisation.“45 Angesichts dieser Diktion ist es bemerkenswert, daß die radikalen Eugeniker nur vereinzelt Verbindungen zu der British Union of Fascists hatten. Auch in der Agitation der BUF spielten eugenische Forderungen nur eine untergeordnete ­Rolle.46 Der prominenteste Eugeniker, der auch eine wichtige Rolle im Aufbau der BUF spielte und enge Kontakte zu ihrem Führer Oswald Mosley unterhielt, war George Pitt-Rivers. In seinem Hauptwerk von 1931 hatte er sich für ein radikales eugenisches Gesamtprogramm stark gemacht, um den „dysgenic state“ zu bekämpfen.47 Neben Leonard Darwin und Ronald A. Fisher war Pitt-Rivers auch einer der britischen Vertreter bei den Treffen der International Federation of ­Eugenic Organisations.“48 Bei seinen Versuchen einer Internationalisierung der Eugenik bemühte er sich dabei besonders um eine enge Zusammenarbeit mit dem Dritten Reich, und seine entschiedene Unterstützung der nationalsozialistischen Außenpolitik kostete ihn schließlich seinen Posten als Generalsekretär der International Union for the Scientific Investigation of Population Problems.49 Das Beispiel von Pitt-Rivers zeigt die Grenzen einer radikalrassistischen Ausrichtung der Eugenik in der Eugenic Society. Früh forderte Pitt-Rivers, daß Eugenik mehr als unverbindliche Empfehlungen sein müsse. Es gehe nicht darum, den Menschen Vorschläge für ihr Sexualleben zu machen, sondern ihnen einzuschär44 Stone,

Breeding Superman, S. 62–93. Moore, Sterilisation of the Unfit, in: The Nineteenth Century and After 105 (April 1929), S. S. 499–511, hier 510 f. 46 Arnd Bauerkämper, Die „radikale Rechte“ in Großbritannien. Nationalistische, antisemitische und faschistische Bewegungen vom späten 19. Jahrhundert bis 1945, Göttingen 1991, S. 182. Vgl. hierzu auch Bernhard Dietz, „Sterilisation of the Unfit“: Eugenikbewegung und radikale Rechte im Großbritannien der „Lost Generation“, in: Regina Wecker (Hrsg.), Wie nationalsozialistisch ist die Eugenik? Beitrag zur Geschichte der Eugenik im 20. Jahrhundert, Wien 2009, S. 187–198. 47 George Pitt-Rivers, Weeds in the Garden of Marriage, o. O. 1931. 48 Pitt-Rivers wurde einstimmig zum Repräsentanten der Eugenic Society für das Treffen der International Federation of Eugenic Organiziations gewählt. Secretary Eugenic Society an Pitt-Rivers, 27. 7. 1929, Wellcome Library, London, SA/Eug/C 273. Vgl. auch den Tagungsband George Pitt-Rivers (Hrsg.), Problems of Population, London 1932. 49 Kühl, Die Internationale der Rassisten, S. 151 f. 45 Eldon

88   4.  Neo-Toryismus als Weltanschauung fen, daß unverantwortliche Fortpflanzung eine Sünde sei, die nicht geduldet werden dürfe.50 Im März 1932 hatte Pitt-Rivers in einem ausführlichen Memorandum an die Eugenic Society festgelegt, wie seiner Meinung nach die Eugenikbewegung in Großbritannien vorzugehen habe. Gleich zu Beginn legte er dar, daß die Eugenic Society Einfluß verloren habe, weil sie Kontroversen aus dem Weg gegangen sei und ihr Kompromißcharakter der Gesellschaft nur geschadet habe. Gerade die jüngeren Mitglieder wollten auch jene Themen besprechen, die bisher vermieden wurden, weil sie als zu heikel galten. Es bedürfe neuer Ideen, die Eugenik dürfe nicht nur auf den offiziellen Konservatismus und Labour ausgerichtet sein, sie dürfe der öffentlichen Meinung nicht hinterherlaufen, sondern müsse ihr voraus sein.51 In einem Brief an den Vorsitzenden der Eugenic Society Carlos ­Paton Blacker vom April 1932 warf Pitt-Rivers diesem ganz explizit vor, er lasse ­seine Organisation von der Labour Party beeinflussen und vermutete, daß dieser Einfluß der Grund dafür sei, daß sein polemisches Buch Weeds in the Garden of Marriage nicht von der Gesellschaft gebilligt und empfohlen worden sei.52 Die Antwort von Bernard Mallet von der Eugenic Society bestätigte ihn in seinem Verdacht: „As regards to your book. It seems to me very good eugenics, but there certainly was a feeling in the Committee that it might still further alienate Labour, which as you know is one of our chief difficulties. It was therefore decided not to recommend the book officially, though of course we bought some copies for the library.“53 In der Tat bemühte sich die organisierte britische Eugenikbewegung um eine breite politische Ausrichtung und suchte mit einem sozialreformerischen Ansatz gezielt die Unterstützung der britischen Arbeiterbewegung. Allzu radikale Programmatik war hier kontraproduktiv. Doch Forderungen nach einer Sterilisation der ‚unerwünschten‘ Bevölkerungsteile kamen auch außerhalb des engeren eugenischen Diskurses auf. Im Oktober 1922 etwa sorgte ein Gerichtsverfahren für einen Fall für Aufsehen, bei dem ein unter Epilepsie leidender Mann eine Frau im Hyde Park angegriffen und beraubt hatte. Die Urteilsverkündung verknüpfte der Richter mit einem Appell, die Sterilisation des Angeklagten und ähnlicher Fälle zu prüfen: In my judgment, the medical profession of this country would be performing a public service if they studied earnestly the question of the feasibility of sterilizing both men and woman with tendencies such as the man before me has. To allow them to produce is breeding from the worst of all stock, and propagating disease and crime.54

In einem ähnlichen Fall, in dem eine 41jährige Frau wegen Totschlags verurteilt wurde, forderte ein anderer Richter die Politik ganz gezielt auf, den Mental Deficiency Act von 1913 so zu erweitern, daß auch eine Zwangssterilisation von Straf50 Pitt-Rivers

an Mrs. C.B.S. Hodson, 28. 3. 1928, Wellcome Library, London, SA/Eug/C 273. Memorandum on Policy and Other Matters. Members of the Council of the Eugenic Society 17. 3. 1932, Wellcome Library, London, SA/Eug/C 272. 52 Pitt-Rivers an Blacker, 4. 4. 1932, Wellcome Library, London, SA/Eug/C 273. 53 Bernard Mallet an Pitt-Rivers, 22. 3. 1932, Wellcome Library, London, SA/Eug/C 273. 54 Breading Disease and Crime. Judge on Sterilizing the Unfit, The Times, 14. 10. 1922. 51 Pitt-Rivers,

4.1  ‚Degeneration‘ als zentraler Topos   89

tätern und geistig Kranken wie der Angeklagten und allgemein der „un-intelligent, the inferior and the almost insane“ möglich sei. Es sei schrecklich, so der Richter, daß man in dieser zivilisierten Welt nicht verhindern könne, daß eine Frau acht, neun oder zehn Kinder zur Welt bringe, die mit dem Makel der geistigen Behinderung verflucht seien.55 Legislative Maßnahmen wurden insbesondere auf Druck der Eugenic Society Anfang der dreißiger Jahre intensiv diskutiert und Überlegungen zur Sterilisation von ‚mentally defectives‘ waren innerhalb der Konservativen Partei weit verbreitet.56 Letztlich scheiterten aber Gesetzesvorschläge zu einer freiwilligen Sterilisa­ tion an der Koalitionsregierung, dem National Government, die sich über die Stimmung in der Konservativen Partei hinwegsetzte. Ausschlaggebend war dabei die Vorsicht der Regierung hinsichtlich eines so umstrittenen Themas, das Labour gerade auch mit Hinweis auf nationalsozialistische ‚Gesundheitspolitik‘ zum Wahlkampfthema hätte machen können, aber auch das Bewußtsein für die Schwierigkeit, eine ‚freiwillige‘ Sterilisation in Einklang mit demokratischen ­Traditionen zu bringen. Die Überlegungen des englischen Gesundheitsministers ­Hilton Young zeigen den Zwiespalt zwischen inhaltlicher Zustimmung zur Frage der Sterilisation und formalrechtlichen Sorgen und demokratischen Zweifeln hinsichtlich der Durchführbarkeit. In einem Memorandum vom Januar 1932 hatte er erklärt, daß es keinen Zweifel geben könne, daß eine vernünftige Regierung die Fortpflanzung von Geisteskranken verbieten müsse. Gleichzeitig war es für ihn „absurd“, die Zustimmung zu einer Sterilisation dem ‚Geisteskranken‘ selbst zu überlassen: „He is disqualified ex hypothesis, I would not trust the parent or guardian, in the interest either of the mental defective or the community.“ Unglücklicher­weise erlaube es die Demokratie nicht, eine solche Frage zu ihren Gunsten zu entscheiden.“57 Zwei Vorlagen des Gesetzes zur freiwilligen Sterilisation wurden 1931 und 1932 vom House of Commons abgelehnt. Auf Druck der Eugenic Society und ihrer parlamentarischen Unterstützer wurde im Juni 1932 dennoch eine Regierungskommission (Mental Disorder and Sterilisation of the Mentally Unfit) eingerichtet.58 Doch auch diese war selbst in den Reihen der Konservativen umstritten. Der konservative Abgeordnete William O’Donner erklärte im Juli 1933: The other Committee to which the Minister referred leaves me with a strange feeling – a committee to investigate the sterilisation of the unfit. We, of course, as scientific men, must welcome all attempts to collect knowledge, but when you have collected the facts about the procreative rate of the village idiot, and its effects upon the British Empire, you have not touched the ­fundamental question as to whether, with those facts before us, it is ethically right or wrong to mutilate, with or without his consent, another human being.59 55 Propagation

of the Unfit. Judge on Problems of Mental Deficiency, The Times, 13. 7. 1929. The Problem of Mental Deficiency, S. 73–77. 57 Zitiert nach ebd. S. 73. 58 Aufgabe der Kommission war es „to consider the causation of mental disorder and the value of sterilisation as a preventive measure.“ House of Commons Debates, 28. 6. 1933, Vol. 279, cc1497 f. 59 House of Commons Debates, 7. 7. 1933, Vol. 280, cc704 f. 56 Thomson,

90   4.  Neo-Toryismus als Weltanschauung Das Komitee kam in seinem Abschlußbericht 1934 schließlich einstimmig zu dem Ergebnis, daß es keine wissenschaftliche Grundlage für Sterilisation im Falle von Immoralität und Charakterschwächen gäbe, empfahl jedoch ein Gesetz zur freiwilligen Sterilisation, im Falle eindeutiger Vererbbarkeit von Geisteskrankheiten. Zu einem entsprechenden Gesetz kam es trotz der fortgesetzten Kampagne von Eugenikern innerhalb und außerhalb des Parlaments jedoch nie.60 Auch wenn Eugenik in Großbritannien nicht staatlich sanktioniert und keine offizielle Politik wurde, so waren eugenische Forderungen und Denkmuster weit verbreitet. Sterilisation of the unfit wurde zu einem schlagwortartigen Appell, in dem sich sowohl die Sorge um eine ‚degenerierte‘ Unterklasse als auch die Angst vor umfassender nationaler und rassischer ‚Degeneration‘ artikulierte. Der bereits erwähnte ­William Ralph Inge war keineswegs der einzige britische Geistliche, der dabei einen alarmierenden Ton anschlug.61 Auch der Bischof von Birmingham, Dr. Ernest William Barnes, setzte sich im Oktober 1933 ganz entschieden für eugenische Maßnahmen ein und sah darin keinen Widerspruch zum christlichen Glauben: Under the harsh social order which prevailed almost to our own time, those human beings which were manifestly unfitted for the struggle and responsibilities of civilized life failed to survive. The unfit, the defective and degenerate were eliminated. But of late at great cost to the community we have not only preserved them, but have also allowed them to propagate their ­like.62

Ein derart blinder Humanitarismus, so der Bischof weiter, sei weder christlich noch vernünftig. Wenn sich England in den bevorstehenden schwierigen Jahren aus eigener Kraft retten wolle, müsse es ‚rassisch gesund‘ („racially sound“) sein. „We cannot indefinitely carry the burden of a social problem class, riddled with mental defect and comprising one-tenth of the community.“63 Der Bischof rekurriert mit seiner Forderung nach der Sterilisation der Untauglichen sowohl auf die Kategorie ‚Klasse‘ als auch auf die Kategorie ‚Rasse‘. Eine ein Zehntel der Bevölkerung umfassende Unterklasse dürfe nicht länger die ‚rassische‘ Gesundheit Englands gefährden. Die Einbindung von biologistischen und eugenischen Erklärungsmustern in politische und soziale Fragestellungen fand sich auch in akademischen Kreisen. Der Londoner Historiker Fossey J. C. Hearnshaw etwa sah in seiner ausführlichen 60 Nick

D. A. Kemp, „Merciful Release“. The History of the British Euthanasia Movement, Manchester 2002, S. 83–116; Geoffrey R. Searle, Eugenics and Politics in Britain in the 1930s, in: Annals of Science 36 (1979), S. 159–169; Farell, The Origins and Growth of the English ­Eugenics Movement; Mazumdar, Eugenics, Human Genetics and Human Failings. Vgl. auch Dorothy Porter, Eugenics and the Sterilization Debate in Sweden and Britain before World War II, in: Scandinavian Journal of History 24 (1999), S. 145–162. 61 Die Eugenic Society war sich bewußt, wie wichtig die Unterstützung von Geistlichen für ihr Thema war. In einem Brief vom August 1930 an Dean Inge und Bischof Barnes heißt es: „We are still sorely hampered in getting the support we ought to have among Church people by a tiresome feeling that the Church frowns on eugenics, and it is thought that a discussion introduced by yourself would help to clear the air.“ Eugenic Society an Bishop Barnes und Dean Inge, 28. 8. 1930, Eugenics Society Archive, Sa/Eug/C. 188. 62 Sterilization of the Unfit. Dr. Barnes’ Advocacy, The Times, 23. 10. 1933. 63 Ebd.

4.1  ‚Degeneration‘ als zentraler Topos   91

Studie A Survey of Socialism von 1928 eine der Hauptgefahren des Sozialismus in den Auswirkungen auf die Bevölkerungsentwicklung. Sich auf die Ergebnisse von Inge, Armstrong und Anthony Ludovici stützend, war es für Hearnshaw eine absolute Notwendigkeit, „to quench the prolific fertility of the swarming lazari who fill the reeking slums, provide the mass of the unemployable, and constitute the rank and file of the allied armies of the criminal and the communist.“64 Wenn in der Literatur darauf hingewiesen wird, daß die Eugenic Society sich sowohl von den britischen Faschisten der BUF als auch von rassistischen Züchtungsidealen des nationalsozialistischen Deutschlands distanzierte, und so der ­sozialreformerische, nicht rassistische Charakter der britischen Eugenikbewegung bewiesen werden soll,65 bleiben zwei wichtige Faktoren unberücksichtigt. Zum einem wurden eugenische Fragen und Forderungen nicht nur im engeren Kreis der ‚wissenschaftlichen‘ Eugenikbewegung diskutiert und waren vielmehr auch unter ‚rassischem‘ Vorzeichen weit in die Gesellschaft vorgedrungen. Zum anderen waren, wie im folgenden gezeigt wird, ‚zivilisatorische‘, ‚nationale‘ und ‚ras­ sische Degeneration‘ zentrale Topoi im rechtsintellektuellen Diskurs, die eugenische Forderungen zur Folge haben konnten, meist aber allgemein Bestandteil ­einer antiliberalen und antidemokratischen Argumentation mit nationalistischer Stoßrichtung geblieben sind.

4.1.3  ‚Degeneration‘ in der Argumentation der Neo-Tories Die Rechtfertigung von antiliberalen und antidemokratischen Gesellschaftsvorstellungen mit biologischen Kategorien war in den zwanziger und dreißiger Jahren am rechten Flügel des britischen Konservatismus verbreitet. In Zeitungen und Zeitschriften wie der Morning Post, der National Review und der English Review kam das von den radikalen Eugenikern popularisierte Bedrohungsszenario einer degenerierten Massengesellschaft auf und wurde meist verbunden mit der Forderung nach einer radikalen Wiederbelebung eines ‚wahren‘ Konservatismus, der sich dieser Probleme annehmen würde. Sowohl die moderne Massendemokratie als auch die sozialistische Arbeiterbewegung waren in dieser Sicht Katalysatoren der allgemeinen ‚Degeneration‘. Im Kontext der erstaunlich breiten konservativen ‚Pessimismus-Publizistik‘ zum Ende der zwanziger Jahre war die Demokratie – so das populäre Schlagwort – on trial.66 Die Beweisführung der Anklage bediente sich dabei meist des gängigen Topos von der ‚Unnatürlichkeit‘ des demokratischen Systems und des Sozialstaats, die keine Selektion und Hierarchie zuließen. Im Rahmen der von der English Review initiierten Debatte zur Zukunft des Konservatismus kam es bereits 1926 zu einer lebhaften Auseinandersetzung über die Zukunftsfähigkeit des parlamentarischen Systems. In der Mai-Ausgabe von 64 Fossey

J. C. Hearnshaw, A Survey of Socialism. Analytical, Historical, and Critical, London 1928, S. 447. 65 So beispielsweise Bauerkämper, Die „radikale Rechte“ in Großbritannien, S. 206. 66 Vgl. Kapitel 4.2.

92   4.  Neo-Toryismus als Weltanschauung 1926 beschrieb ein junger Konservativer die Probleme der Gegenwart in drastischen Worten. Die Welt werde mit Millionen ‚Zweibeinern‘ verschmutzt, die man nicht als Menschen bezeichnen könne und die niemals hätten geboren werden sollen. Bis zum Zeitalter der Industrialisierung wären sie von Hunger und Epidemien hinweggerafft worden: Now they breed incessantly and smother the world in ugliness, incapacity, dirt, and disease. That is the Truth. But what politician will proclaim it? What Cromwell will kick out our weaklings and deport our Saklatvalas?67 What Mussolini will put arms in the hands of our capables and intimidate the Chandala,68 that are clawing at ability, blood, property, and Empire? The world has had two thousand years of the chimera of democracy and is sick unto death by it.69

Der drastische Ton und die Brutalität dieses Kommentars ist sicher nicht typisch für die English Review, die sonst eher auf ein gewisses Niveau bedacht war, doch das Grundmuster der Beweisführung – Massendemokratie und Sozialismus als Zeichen einer nationalen ‚Degeneration‘ – gehörte auch in den dreißiger Jahren zum Standardrepertoire der Zeitschrift. Diese Argumentation findet sich auch in der konservativen Standortbestimmung Rebirth of Conservatism von 1931. Zu den Autoren gehörten neben Boyd-Carpenter auch Bryant Irvine und John Green. Die Herausgeberin der Schrift, Dorothy Crisp, die bisher vor allem für die National Review und Saturday Review, aber im Laufe der 1930er Jahre auch für die English Review Artikel verfaßt hatte, war in ihrer sozial-biologischen Bestandsaufnahme kategorisch: The better people are always rising and improving their lot, and those who sink to slum life are without doubt mentally, morally and physically the weakest and least desirable of the population. The mentally deficient, are extremely prolific and increasing at a far greater rate than the sound stock, largely people from our slums. As many as ninety defective descendants have been traced to one mentally deficient, and feeble-minded persons with large numbers of illegitimate 67 Der

in Bombay geborene Shapurji Saklatvala (1874–1936) zog 1922 als dritter Inder überhaupt und als einer der beiden ersten Abgeordneten für die Communist Party of Great Britain in das britische Unterhaus ein und konnte nach der Wahl von 1924 sein Mandat bis 1929 halten. 68 Der aus dem hinduistischen Kastensystem stammende Begriff „Tschandala“ (als „Mischlinge“ und „Unberührbare“ sozial tabuisiert und entrechtet) spielte auch in der deutschen Geistesgeschichte eine unrühmliche Rolle. Bei Friedrich Nietzsche sind die Tschandala die „NichtZucht-Menschen“, und das Christentum als antiarische Religion „der Sieg der TschandalaWerte“, „der Gesamt-Aufstand alles Niedergetretenen, Elenden, Mißratenen, Schlechtweg­ gekommenen gegen die ‚Rasse‘“ (Friedrich Nietzsche, Götzendämmerung, in: Werke in drei Bänden, Darmstadt 1997, S. 980, 982); das „Sozialisten-Gesindel“ sind „Tschandala-Apostel“. (Friedrich Nietzsche, Der Antichrist, in: Werke in drei Bänden, Darmstadt 1997, S. 1228). Bei Thomas Mann, der 1907 für eine „Europäisierung des Judentums“ und eine „Nobilisierung der zweifellos entarteten und im Ghetto verelendeten Rasse“ plädiert, ist der nicht-assimilierte Jude der „Typus des Juden, ‚wie er im Buche steht’, des fremden, physisch antipathischen Tschandala“ (Thomas Mann, Die Lösung der Judenfrage, in: Gesammelte Werke Bd. 13, Frankfurt a. M. 1974, S. 461). Einige NS-Ideologen wie Heinrich Himmler griffen schließlich in ihren Schriften ganz explizit auf das hinduistische Kastensystem als Organisationsmodell für das Dritte Reich zurück. Victor und Victoria Trimondi, Hitler, Buddha, Krishna. Eine unheilige Allianz vom Dritten Reich bis heute, Wien 2002. 69 F.W. Murill, What Are Conservative Principles?, in: The English Review 42 (Mai 1926), S. 696–697, hier 697.

4.1  ‚Degeneration‘ als zentraler Topos   93 children are a feature of nearly every back alley. No altered surroundings and no education can change them; segregation is neither a very practicable nor a very certain method of dealing with the problem they represent, only sterilization […] can save a very difficult situation.70

Auch hier bedrohten die ‚Schwachköpfigen‘ und Geisteskranken, die sich stärker als jede anderen Bevölkerungsteile vermehrten, das Wohlergehen der Nation. Als Ausweg sah Crisp einzig die Sterilisation dieser Menschen. Der Konservatismus sei wiederum als „guardian of the past and the future“ die einzige politische Kraft, die sich dem Problem annehmen könne.71 Eine ähnliche Argumentation findet sich in Viscount Lymingtons Hauptwerk Ich Dien. The Tory Path, in dem er Liberalismus und Sozialismus als die historischen Kräfte identifizierte, die die spirituellen Wurzeln und die Gesundheit der Nation gefährdeten.72 Lymington ging es nicht nur im übertragenen Sinne um ‚nationale Gesundheit‘, sondern seine Fundamentalkritik an der modernen Gesellschaft stand in einem engen Zusammenhang mit der sozialdarwinistischen Vorstellung, daß die Massendemokratie durch Sozialleistungen eine natürliche Auswahl verhindere und die moderne Wissenschaft diesen Trend der nationalen ‚Degeneration‘ noch beschleunige: „The doctors keep the feeble-minded and unfit alive for breeding.“73 Die Verbindung von Demokratiekritik mit eugenischen Forderungen teilte Lymington mit den anderen Mitgliedern der Organisation English Mistery, die im rechtskonservativen Milieu der Konservativen Partei verflochten war.74 Der intellektuelle Kopf der Gruppe war der Publizist und Nietzsche-Übersetzer Anthony Ludovici. In Schriften wie A Defence of Aristocracy und The False Assumptions of Democracy und einer Reihe kleinerer Essays hatte Ludovici bereits während und nach dem Krieg seine Version einer ideellen Wiederbelebung des Konservatismus durch einen sozialdarwinistischen Neoaristokratismus formuliert.75 Im Laufe der zwanziger Jahre entwickelte er in einer zum Teil abenteuerlichen Mixtur aus biologistischen, kulturellen und politischen Argumenten eine umfassende Theorie der ‚Degeneration‘, die den modernen Menschen erfaßt habe und die angelsächsische Rasse gefährde. Zentral ist dabei die sozialdarwinistische Vorstellung von der Ungleichheit der menschlichen Rassen. Demnach habe eine überlegene Rasse eine Art ‚natürliches Mandat‘, sich auf Kosten einer unterlegenen Rasse auszubreiten.76 Anders als libe70 Crisp,

The Rebirth of Conservatism, S. 81 f. Charles Petrie schrieb in einer Rezension zu dem Sammelband von Crisp: „Indeed, it would be no bad thing if every Conservative candidate in Great Britain were forced to pass an examination on Miss Crisp’s book before adoption by his local association.“ Charles Petrie, The Rebirth of Conservatism, Saturday Review, 25. 3.  1931. 71 Crisp, The Rebirth of Conservatism, S. 80–86. 72 Siehe Kap. 2.2 und 3.2. 73 Lymington, Ich Dien, S. 14. 74 Vgl. Kap. 2.2. 75 Anthony Ludovici, A Defence of Aristocracy. A Text-Book for Tories. London 1915; ders., Man’s Descent from the Gods. Or, The Complete Case Against Prohibition, London 1921; ders., The False Assumptions of „Democracy“, London 1921. 76 Ludovici, A Defence of Conservatism, S. 251.

94   4.  Neo-Toryismus als Weltanschauung rale und sozialistische Kritiker behaupteten, sei das Britische Empire deswegen auch keineswegs falsch oder moralisch verwerflich. Die romantisierende Vorstellung, daß das Britische Empire zum Vorteil der kolonisierten Völker geschaffen wurde, sei grundsätzlich falsch. Im Gegenteil sei es den Pionieren des Empire einzig darum gegangen, Vorsorge für die gesunde Expansion des eigenen Volkes zu treffen und dessen Prosperität und Handel zu sichern. „Why not admit it frankly, and justify it on the principle of human inequality?“77 Im großen und ganzen sei es nur ehrlich zu sagen, daß die englische den praktisch ausgerotteten Rassen überlegen sei und daß für die übriggebliebenen Rassen Englands Schutzmacht das Beste sei, um sie vor noch gefährlicheren Einflüssen zu schützen.78 An dieser ‚natürlichen‘ Ordnung habe nun die moderne Demokratie mit ihrem fatalen Gleichheitspostulat gerüttelt.79 Von Ludovici wurde das Aufheben der ‚natürlichen‘ Ordnung in zweierlei Hinsicht verstanden: zum einen innerhalb einer Rasse durch die Implikationen des Sozialstaats und der modernen Medizin, zum anderen im Verhältnis zwischen den Rassen durch das Entstehen von Mischehen und die Gefahr einer ‚Degeneration‘ der Gesamtrasse durch ‚Rassenmischung‘. Um der Gefahr der ‚Rassenmischung‘ zu begegnen und um die ‚gesunden‘ und die ‚krankhaften‘ Ströme der angelsächsischen Rasse zu ‚kanalisieren‘, plädierte Ludovici gar für die Aufhebung der Bestrafung von Inzest. Durch blutsverwandtes Heiraten sollte die ‚Degenera­ tion‘ der ‚unerwünschten Rasse-Ströme‘ beschleunigt werden, letztendlich aber die Rasse aufgewertet werden.80 Vor allem müsse jedoch eine jede Rasse ‚Opfer‘ zur Erhaltung ihrer Gesundheit bringen. Dieses ‚Opfer‘ dürfe aber nicht unkontrolliert und qualitativ unselektiert vorgenommen werden, so Ludovici in seiner Schrift Violence, Sacrifice and War.81 Geburtenkontrolle, wie sie von Pazifisten, Internationalisten und Feministen propagiert werde, sei daher eine Doktrin des ‚unselektiven Opfers‘ und somit des nationalen Suizids. Eine intelligente Herrschaft der Zukunft würde Geburtenkontrolle und andere Doktrinen des falschen ‚rassischen Opfers‘ verbieten. Ein gesteuertes ‚Rassenopfer‘ müsse sich auf minderwertige Rassen im Ausland als auch auf minderwertige Menschen zu Hause verteilen.82 „In the direction of conscious and selected sacrifice lies hope, advancement, creative evolution, and above all national regeneration.‘83 In Briefen an den späteren Vorsitzenden der Eugenic 77 Ebd.,

S. 256. S. 257. 79 Anthony Ludovici, Man. An Indictment, London 1927, S. 304. 80 Ders., Eugenics and Consanguineous Marriages, in: The Eugenics Review 25 (1933–34), S. 147–155. 81 Ders., Violence, Sacrifice and War. The St. James’ Kin of the English Mistery, London 1933. 82 Ebd., S. 14 f. Der Vorsitzende der Eugenic Society, der sich als Freund Ludovicis bezeichnete, beschrieb Ludocvics Ansichten zu Geburtenkontrolle als das beste, was zu diesem Thema geschrieben worden war, „[t]hough I am not in entire sympathy with his well-known anti-feminist leanings.“ Vgl. Carlos P. Blacker, Gynaecology and Psychological Medicine, in: The British Journal of Medical Psychology 14 (Juli 1934), S. 148–153, hier 153. 83 Ludovici, Violence, Sacrifice and War, S. 16. 78 Ebd.,

4.1  ‚Degeneration‘ als zentraler Topos   95

S­ ociety, ­Carlos Paton Blacker, hatte Ludovici schon 1928 klar gemacht, daß es ihm keines­wegs um eine pränatale, sondern um eine postnatale Selektion, um eine „elimination of undesirable results“ ging.84 Ausgehend von seiner Theorie des qualitativen ‚Rassenopfers‘ war auch, so Ludovici, das Argument der Pazifisten, daß ein Krieg eine Rasse dauerhaft schädige, wenig hilfreich. Denn eine große ‚weise‘ Nation könne das Opfer ihrer Männer aushalten, ohne einen irreparablen Schaden zu erleiden. Und wenn nicht, so sei dies kein Argument gegen den Krieg, sondern ein Argument gegen Schwäche im allgemeinen. In einer Nation, die anständig auf sich achtgebe und ausreichend Selbstrespekt habe, gebe es keine schwächlichen Nicht-Kombattanten.85 Sowohl nach dem Burenkrieg als auch nach dem Ersten Weltkrieg hätten zwei parlamentarische Berichte die „Physical Deterioration of the Nation“ aufgedeckt. Es war also der Krieg selbst, so Ludovici, der das Problem der ‚Degeneration‘ in das allgemeine Bewußtsein gebracht hätte. Ohne Armeen und die Aussicht auf einen Krieg würden die Standards der physischen Effizienz nicht mehr verlangen als die Fähigkeit, einen Telephonhörer zu halten oder einen Hebel von links nach rechts zu drehen, und somit die Nation nur weiter absterben lassen.86 Liest man Ludovicis Programm zur Züchtung einer rassisch reinen Krieger­ nation, so überrascht es wenig, daß zwei seiner Hauptquellen die Philosophie Friedrich Nietzsches und die Rassentheorie Arthur de Gobineaus waren. Ludovici gehörte zu der Gruppe von Übersetzern, die unter Federführung des deutsch-jüdischen Arztes und Philosophen Oscar Levy die erste komplette englische Nietzsche-Ausgabe herausgebracht hatten. 1915 hatte Levy außerdem Gobineaus L’inégalité des races humaines ins Englische übertragen, ein Buch, das eine große Faszinationskraft auf Ludovici ausübte.87 Ludovici war einer der führende Köpfe der English Mistery. Für ihn und die anderen Mitglieder der Geheimorganisation war die Wiederherstellung der Reinheit der englischen Rasse von größter Priorität. „The purpose of the Mistery is to foster, encourage and guard the English breed, its characters and manners, and all that can be regarded with a wise pride as English life.“88 Aufschlußreich für das Selbstverständnis der Gruppe ist in diesem Zusammenhang die Frage der Reli­ gion. Daß führende britische Geistliche der anglikanischen Kirche sich für eugenische Maßnahmen stark gemacht hatten, wurde oben bereits erwähnt.89 Aber wie verhielt sich das Verhältnis der English Mistery zu anderen religiösen Gruppen? 84 Ludovici

an Blacker, 12. 7. 1928, Eugenics Society Archive, PP/CP/A4/1; Ludovici an Blacker, 20. 7. 1928, Eugenics Society Archive, PP/CP/A4/1. 85 Ludovici, Violence, Sacrifice and War, S. 20. 86 Ebd., S. 23. 87 Arthur de Gobineau, The Inequality of Human Races, London 1915. Ludovici, Violence, Sacrifice and War, S. 25. 88 English Mistery, Leaflet of 1934, Nr. 2. S. 1. 89 Vgl. zum Verhältnis anglikanische Kirche und Eugenik auch die Fallstudie James Moore, R.A. Fisher. A Faith Fit for Eugenics, in: Studies in History and Philosophy and Biomedical Sciences 38 (2007), S. 110–135.

96   4.  Neo-Toryismus als Weltanschauung In einem Brief vom April 1937 interpretierte Viscount Lymington Religion nur dann als sinnvoll, wenn sie im Einklang mit den Traditionen und Gebräuchen der Rasse in Einklang stünde: Religion is and should be in regard to our attitude to life a binding back to all that we know was best in the ways of our forefathers for countless generations. It must be a binding back to right racial instincts, and therefore, it is impossible to find the universal religion or morals. What was of use in restricting the lusts and enhancing the virtues of the Jew in the desert is not necessarily the correct custom for a Scandinavian or an English[man].90

Juden wurden nicht nur aus religiösen Gründen grundsätzlich von der Gemeinschaft der englischen Rasse ausgeschlossen. Dies wird in einem späteren Kapitel noch genauer zu untersuchen sein.91 Entscheidend ist zunächst, daß Religion sich dem Ziel der (Wieder)herstellung der reinen Qualitäten der angelsächsischen ‚Urrasse‘ – „extremely masculine, and highly selected for war“92 – unterzuordnen hatte. Das galt nicht zuletzt auch für die katholische Kirche: Thus, we cannot accept the fact that the Roman Catholic Church which tolerates the keeping alive by moderns science of the congenitally unfit should interfere with the sterilisation of such people when they are sapping the life of the nation by breeding in the name of God more unfit at the expense of the fit. […] So long as a religious body is loyal to the throne, national in its outlook, and tolerant of the proved customs and common law of the people, we should tolerate it and welcome it.93

Ob sich dieser Kritik an der römisch-katholischen Kirche auch jene Neo-Tories, die wie Jerrold in der Tradition des politischen Katholizismus von Belloc und Chesterton standen, angeschlossen haben, ist unwahrscheinlich. Aber auch für die katholischen Neo-Tories war die britische Gesellschaft ‚degeneriert‘. Sie interpretierten den Verfall zwar nicht unter rassischem Vorzeichen, aber als vorläufigen Endpunkt der liberal-materialistischen Niedergangsgeschichte. Gemein war allen Neo-Tories die Vorstellung einer angelsächsischen ‚Urrasse‘ in einem glorifizierten Merry England. Im antimodernen Abwehrkampf boten sich damit gleich mehrere ideologische Anknüpfungspunkte. Die Vorstellungen einer reinen und höherwertigen, durch die Insellage geschützten angelsächsischen ‚Urrasse‘, deren Werte es wiederzubeleben galt, dienten als Fixpunkte für die exklusivrassistischen Definitionen von Englishness. ‚Degeneration‘ wurde aber vor allem auch historisch verstanden: als ‚Degeneration‘ der ‚urenglischen‘ nationalen Werte, die meist recht vage als ‚maskuline Instinkte‘, oder sehr allgemein als ‚Gehorsam und Loyalität‘ bezeichnet wurden.94 Materielles Gewinnstreben, die durch den ­liberalen Kapitalismus hervorgerufene Klasseninteressen und die ‚bürokratische Versklavung‘ des Einzelnen waren dabei der englischen Urgesellschaft grundfremd. 90 Lymington

an Ratcliff, 24. 4. 1937, Wallop Papers (Gerald Vernon Wallop, 9th Earl of Portsmouth), Hampshire Record Office, Winchester, 15 M84 F 176. 91 Vgl. Kapitel 5.4. 92 Sanderson, Statecraft, S. 20. 93 Lymington an Ratcliff, 24. 4. 1937, Wallop Papers (Gerald Vernon Wallop, 9th Earl of Portsmouth), Hampshire Record Office, Winchester, 15 M84 F 176. 94 Sanderson, Statecraft, S. 20 f.; Lymington, Ich Dien, S. 13 f.; Ludovici, Man. An Indictment, S. 214 f.

4.1  ‚Degeneration‘ als zentraler Topos   97

Als Zäsur in diesem Verfallsprozeß der nationalen Werte erscheint bei beinahe ­allen Autoren die Glorious Revolution und der damit verbundene Siegeszug des Liberalismus.95 Dabei wiederholten die Neo-Tories geradezu mantrahaft ­einen kausal-historischen Zusammenhang: Der Liberalismus war demnach mit ­seinen unweigerlichen Folgeerscheinungen Materialismus, Industrialisierung und schließlich Sozialismus der entscheidende Katalysator des nationalen Niedergangs.

4.1.4   Die Stadt als Ort der ‚Degeneration‘ – Antiurbanismus im politischen Denken der Neo-Tories Der Topos von der Stadt als Ort der Sünde und des ungesunden, lasterhaften Lebens ist so alt wie die Städte selbst. Insbesondere seit der Industriellen Revolution hatten konservative Denker vor der zersetzenden Wirkung der Städte für den reli­ giösen und familiären Zusammenhalt gewarnt. Nirgendwo sonst vermischte sich ältere kulturpessimistische Kritik an der Stadt so drastisch mit antiliberalen Vorstellungen wie im Deutschland der Weimarer Republik. Allzuoft identifizierten deutsche Nationalisten das aus ihrer Sicht Verdammenswerte der modernen Zeit – parlamentarische Demokratie, Kapitalismus, Sozialismus – mit der Stadt, insbesondere mit der korrupten, sündenvollen und oft auch als ‚jüdisch‘ bezeichneten Stadt Berlin als Heimstätte der unpatriotischen Kräfte und der Vaterlandsverräter.96 Antiurbanes Denken und radikalkonservative Utopien einer ländlich-agrarischen Gesellschaft waren in der Zwischenkriegszeit aber keineswegs ein ausschließlich deutsches Phänomen. Im Großbritannien der dreißiger Jahre organisierte sich eine breite back-to-the-land movement und suchte politischen Einfluß.97 Eine ganze Reihe von Neo-Tories, insbesondere Viscount Lymington,98 spielte beim Aufbau und der politischen Verflechtung dieser Bewegung eine wichtige Rolle.99 Die Feindschaft gegenüber der modernen Stadt, die Idealisierung ländli95 Vgl.

Kapitel 3.2. Schütz, Berlin. A Jewish Heimat at the Turn of the Century?, in: Jost Hermand und James Steakley (Hrsg.), Heimat, Nation, Fatherland. The German Sense of Belonging, New York 1996, S. 57–86; Klaus Bergmann, Agrarromantik und Großstadtfeindschaft, Meisenheim a. Gl. 1970, S. 179–193; Mathias Eidenbenz, Blut und Boden. Zu Funktion und Genese der Metaphern des Agrarismus und Biologismus in der nationalsozialistischen Bauernpropaganda R. W. Darrés, Bern 1993, S. 197–201; Harold L. Poor, City Versus Country. Anti-Urbanism in the Weimar Republic, Societas. A Review of Social History 7 (1976), S. 177–192. 97 Vgl. Bernhard Dietz, Countryside-Versus-City in European Thought. German and British Anti-Urbanism Between the Wars, in: The European Legacy. Towards New Paradigms 13 (2008), S. 801–814. 98 Philip Conford, Organic Society. Agriculture and Radical Politics in the Career of Gerard Wallop, Ninth Earl of Portsmouth (1898–1984), in: Agricultural History Review 53 (2005), S. 78–96; ders., „Saturated with Biological Metaphors“. Professor John Macmurray (1891–1976) and the Politics of the Organic Movement, in: Contemporary British History 22 (2008), S. 317–34. 99 Dan Stone, The British Far Right and the Back-to-the-Land Movement, in: Ders., Responses to Nazism in Britain, S. 148–165; ders., The Far Right and the Back-to-the-Land Movement, in: Julie V. Gottlieb und Thomas P. Linehan, The Culture of Fascism. Visions of the Far Right in Britain, London 2004; Philip Conford, Origins of the Organic Movement, Edinburgh 2001; Patrick Wright, The Village that Died for England. The Strange Story of Tyneham, London 1995. 96 Erhard

98   4.  Neo-Toryismus als Weltanschauung chen Lebens und schließlich die Utopien einer ländlich-agrarischen Gesellschaftsordnung sind hier vor allem unter ideengeschichtlicher Perspektive interessant. Antiurbanes Denken gehörte zum ideologischen Kernbestand der Neo-Tories. In der Feindschaft zur modernen Stadt und der Idealisierung ländlichen Lebens bündelten sich Geschichtsverständnis und Weltanschauung der Neo-Tories. Über die engere Gruppe der engagierten back-to-the-land-Anhänger hinaus war die Utopie einer nationalen Wiedergeburt in einer dezentralisierten, länd­ lichen Ordnung zentraler Bestandteil der Programmatik aller in dieser Studie ­untersuchten Denker und Politiker. Dies kam sowohl negativ, in Form von anti­ liberaler Geschichtsperspektive und antikapitalistischer Wirtschaftsvorstellung, als auch positiv, in Form von ländlich-agrarischen Utopien und Programmen zur ‚agrarischen Rekonstruktion‘ des Wirtschaftslebens, zum Ausdruck. Das antiurbane Denken fand sich nach 1933 sowohl in der Zustimmung als auch der Ablehnung der nationalsozialistischen Blut-und-Boden-Ideologie. Britische ‚Ruralisten‘ beklagten so nicht selten das Ausbleiben der Umsetzung von nationalsozialistischer Agrar-Ideologie in politische Praxis. Ausgehend von seiner eigenen politischen Agenda mit dem Ziel einer Durchbrechung der Industrie- und Finanz­ monopole und einer landwirtschaftlichen Neustrukturierung, kritisierte etwa der Journalist und ruralist Harold John Massingham die geringe praktische Bedeutung der Agrarbewegung im Nationalsozialismus: „The ‚blood‘ appeared in antiSemitic radicalism but where is the ‚soil‘?“100 In seiner sehr aufschlußreichen Studie Origins of the Organic Movement konstatierte Philip Conford bemerkenswerte Parallelen zwischen der britischen backto-the-land-Bewegung und der Deutschen Jugendbewegung. Nach Conford einte sie die Wahrnehmung der Industrialisierung als Gefahr, die die Menschen in die unpersönlichen Städte trieb, sowie die Angst vor zunehmendem Materialismus, Modernität und Kosmopolität. Der Traum von nationaler Gemeinschaft und einer kulturellen Erneuerung sowie der Wunsch nach ethnischer Reinheit und die Favorisierung von ‚organischen‘ politischen Organisationen habe gleichermaßen die Bewegungen in Großbritannien und Deutschland angetrieben.101 Wie kein anderer setzte sich der in Berlin geborene englische Journalist Rolf Gardiner für die Verbindungen zwischen deutscher und englischer Jugendbewegung ein. Gardiner selbst war stark beeinflußt von den Schriften Arthur Moeller van den Brucks und Eugen Rosenstock-Husseys.102 Beeindruckt von dem aktioni100 Harold

J. Massingham, Introduction, in: Ders. (Hrsg.), The Natural Order. Essays in the Return to Husbandry, London 1945, S. 3. 101 Conford, Origins of the Organic Movement, S. 153. 102 Mike Tyldesley, The German Youth Movement and National Socialism. Some Views from Britain, in: Journal of Contemporary History 41 (2006), S. 21–34; Malcolm Chase, North Sea and Baltic. Historical Conceptions of the Youth Movement and the Transfer of Ideas from Germany to England in the 1920s and 1930s, in: Stefan Berger et al. (Hrsg.), Historikerdialoge. Geschichte, Mythos und Gedächtnis im deutsch-britischen kulturellen Austausch, 1750–2000, Göttingen 2003, S. 309–330; Richard J. Moore-Colyer, A Northern Federation? Henry Rolf Gardiner and British and European Youth, in: Paedagogica Historica 39 (2003), S. 306–24; ders., English Patriot and the Council for the Church and

4.1  ‚Degeneration‘ als zentraler Topos   99

stischen Impetus der deutschen ‚konservativen Revolutionäre‘ und der Ablehnung herkömmlicher politischer Parteien sah Gardiner den deutschen ‚Bund‘ als ein organisatorisches Vorbild für die Neo-Tories in Großbritannien. Gardiner gehörte der English Mistery und der Nachfolgeorganisation English Array an und engagierte sich in Gruppen wie der Soil Association, Kinship in Husbandry und dem Council for Church and Countryside – vor allem bemühte er sich jedoch um die Etablierung von völkischen ‚Bünden‘ nach deutschem Vorbild in England. Bevor es dort zu einer völkisch-kulturellen Wiedergeburt kommen könne, galt es aber, so Gardiner 1932, sich zunächst von einer falschen Romantik zu trennen: „The old England, the England of our country mansions, is, alas! being swept away.“ Die englischen Städte seien unenglisch, Zentren einer schieren Barbarei, in denen die Bevölkerung hause, während das Land leer sei. Dabei existiere nennenswerte Kultur, die diesen Namen auch wert sei, in den Dörfern und nicht in den Städten.103 Zum Nukleus seiner völkischen ‚Wiedergeburt‘ machte Gardiner in den dreißiger Jahren Jugend- und Arbeitscamps auf seinem Landsitz in Dorset. Für die sogenannten National Service Camps suchte er über Arthur Bryant die finanzielle Unterstützung durch die britische Regierung.104 Bei Bryant war er damit an der richtigen Adresse. Dieser hatte schon lange in seinen vielen populären historischen Veröffentlichungen die Vorstellung eines goldenen ländlichen Zeitalters von Bauern und Handwerkern propagiert, das von Kapitalisten, Juden und Sozialisten zerstört worden sei.105 Hoffnungen setzte Gardiner auch auf den der English ­Array angehörenden, konservativen Abgeordneten Reginald Dorman-Smith,106 der von 1939–1941 Landwirtschaftsminister war. „I think Dorman-Smith will help, if he can over-rule his watched ministry.“107 Countryside, in: Agricultural History Review 49 (2001), S. 187–210; Michael John Mertens, Early Twentieth Century Youth Movements, Nature and Community in Britain and Germany, University of Birmingham 2000; Malcolm Chase, Heartbreak Hill. Environment, Unemployment and „Back to the Land“ in Inter-war Cleveland, in: Oral History 28 (2000), S. 33–42. 103 Gardiner, World Without End, S. 31. In der Stadt sei der „freeborn Englishman“ zu einem „city-bred slave“ verkommen, so auch der Abgeordnete Arnold Wilson. Arnold Wilson, Thoughts and Talks, London 1939, S. 18. 104 Bryant antwortete Gardiner, daß er „deeply impressed by your memorandum on National Service Camps“ war und versprach, Baldwin und Premierminister Chamberlain eine Kopie zu geben. Arthur Bryant an Rolf Gardiner, 31. 1. 1939, Liddell Hart Centre for Military Archives, Bryant: E/19. 105 Vgl. Andrew Roberts, Patriotism. The Last Refuge of Sir Arthur Bryant, in: Ders., Eminent Churchillians, London 1994, S. 287–322. 106 Dorman-Smith hielt regelmäßig Ansprachen zu landwirtschaftlichen Themen bei Treffen der English Array. Im Oktober 1938 hatte er an einem dreitägigen Treffen der Organisation auf dem Landsitz von Lymington teilgenommen, bei dem Gardiner einen Beitrag zum Arbeitsdienst im nationalsozialistischen Deutschland gab, den er offensichtlich als Vorbild für seine National Service Camps sah. Quarterly Gazette of the English Array 5 (Oktober 1938). 107 Rolf Gardiner an Arthur Bryant, 3. 2. 1939, Liddell Hart Centre for Military Archives, ­Bryant: E/19.

100   4.  Neo-Toryismus als Weltanschauung Das Ziel der National Service Camps war es, eine Elite aus trainierten jungen Männern zu schaffen, die den Aufbau eines neu organisierten ländlichen Englands tragen sollte. This aim is the restoration of rural England and of English traditions of skill and craftsmanship. Men must love their work again or we shall be destroyed because we can only give our energies to pleasures and luxuries or to mechanical jobs suffered in order to pay for them. The object of National Service Camps is to cultivate this satisfaction in necessary work, to clarify the minds of young men from every walk of life on the tasks which confront their generation and to muster courage to face the future.108

Inhaltlich lag Gardiner damit auf einer Linie mit jenen programmatischen Überlegungen der zwanziger und dreißiger Jahre, die auf eine radikale Neubestimmung des britischen Konservatismus ausgerichtet waren. Auch hier ging es um Mittel zur ‚Gesundung‘ einer ‚kranken‘ Welt. Beispielsweise hatte der spätere konservative Abgeordnete Pierse C. Loftus in seinem Buch The Creed of a Tory von 1926 für eine hierarchische und organische Gesellschaft plädiert, deren Wirtschaft vorrangig auf Landwirtschaft basieren sollte. Dies vor allem auch, so der rechtskonservative Katholik, um die ‚ausgelaugten‘ Stadt-Menschen zu ‚revitalisieren‘ „so that the nation would not increasingly breed from the unfit and the alien and the lowest types.“109 Aus der Perspektive einer fundamentalen Krise der modernen Gesellschaft konnte Urbanisierung sowohl als das physische Resultat einer tiefliegenden historischen Fehlentwicklung (vom Liberalismus über Industrialisierung zum Sozialismus) gesehen werden, als auch gleichzeitig als Manifestation zeitgenössischer Probleme wie unerwünschter Zuwanderung: „I recognise the physical deterioration caused by the unrestricted industrialism of the first half of the last century, by the present over-urbanisation, and by the drain on the vitality of the race by the constant emigration of the physically fit, and their partial replacement by inferior immigrants from Europe.“110 Loftus engagierte sich auch aktiv im Kampf gegen die Urbanisierung als Vorsitzender der Rural Reconstruction Association, eine Organisation, der zuvor Michael Beaumont, konservativer Abgeordneter und English-Mistery-Mitglied, vorgestanden hatte.111 Im Kontext von ‚rassischer Degeneration‘ stand Land für Gesundheit, Sinn­ haftigkeit und Vitalität sowohl des Individuums als auch der Gemeinschaft. Die moderne Stadt symbolisierte dagegen für die Neo-Tories Krankhaftigkeit, Entfremdung und gesellschaftliche Zersplitterung in Klassen- und Partikularinteressen. Ein jedes konservatives Programm müsse daher, so Anthony Ludovici, den Prozeß der Urbanisation aufhalten und rückgängig machen und statt dessen eine Revitalisierung der Landwirtschaft vorantreiben: In view of the known evils of urbanisation, which have been sufficiently widely proclaimed, it is incredible that a large and inflated city like London, for instance, should be allowed to continue 108 Memorandum:

National Service Camps at Springhead 1939, Liddell Hart Centre for Military Archives, Bryant: E/19. 109 Pierse Loftus, The Creed of a Tory, o. O. 1926, S. 40–41. 110 Ebd., S. 35. 111 Conford, Origins of the Organic Movement, S. 119, 149.

4.1  ‚Degeneration‘ als zentraler Topos   101 to spread like a cancer, north, south, east and west, swallowing up the countryside all round it, and increasing the area covered by streets of houses, gas-works, factories, etc.112

‚Verschmutzt‘ war in diesen urbanen ‚Stätten der Degeneration‘ nicht nur die Umwelt, sondern auch, so Ludovici in einem Brückenschlag zu seinen radikaleugenischen Forderungen, das Blut. Jede britische Regierung müsse daher darauf abzielen, alle ‚degenerierten‘ und ‚unerwünschten‘ Elemente zu eliminieren und die gesunden und normalen Teile der Bevölkerung vor der Gefahr des ‚Qualitätsverlusts‘ durch Verbindungen mit ‚schwachem oder verschmutztem Blut‘ zu schützen.113 Nationaler Niedergang und ‚rassische Degeneration‘ waren aus dieser Sicht ein grundsätzlich urbanes Phänomen. Der Pathologisierung der Städte entsprach eine Rückbesinnung auf elementare Kategorien zur ‚Heilung‘, ‚Revitalisierung‘, ‚Wiederfruchtbarmachung‘. Neben dem ‚Blut‘, war dies die mythisierte Vorstellung von ‚Erde‘ und ‚Boden‘. „It is blood and soil which rule at last; but if they fail only anarchy and slavery succeed“114 schrieb Lymington und erklärte ‚Blut‘ und ‚Boden‘ zu politischen Kategorien. Dabei ging es Lymington auch im ganz konkreten Sinne um gesunden Boden: „The conviction that the healthy state of the soil is the foundation of human health as well as that of crops and animals, is one which does not need explanation to men of the Array“ heißt es bei der English Array.115 Eine Rückbesinnung auf die Erde und den Boden sollte somit der Ausgangspunkt für eine gesunde und starke Population sein, die damit für den Daseinskampf mit anderen Völkern gerüstet sei: „If we serve our soil we can bring back the fertility of the strong breeds that will people the Empire with desired men and women who could hold it against the tides of yellow men and brown.“116 Der Kampf gegen die Urbanisierung genoß gerade bei Lymington höchste Priorität. Im Zuge seiner ‚agrarischen Rekonstruktion‘ forderte er eine drastische Regulierung und Reduktion aller landwirtschaftlichen Importe. Durch den Umstieg von der mechanisierten Getreideproduktion auf arbeitsintensivere, kleinteiligere Viehwirtschaft solle einerseits ein gewaltiger Beschäftigungsimpuls auf dem Land entstehen und andererseits die Landwirtschaft den nationalen Interessen dienen. Landwirtschaft dürfe nicht ein markwirtschaftlicher Teilbereich wie jeder andere sein, sondern vielmehr die erste unter den Korporationen in einem dezentralisierten Staat – und darüber hinaus als Garant der Autarkie „our second line of defence in war“.117 Die englische Landwirtschaft gelte es daher von der Weltwirtschaft zu entkoppeln. Neue Landbanken sollen geschaffen werden, um die 112 Anthony

M. Ludovici, A Defence of Conservatism. A Further Text-Book for Tories, London 1927, S. 234. 113 Anthony M. Ludovici, The Conservative Programme. A Further Suggestion, in: The Fortnightly Review 113 (1923), S. 600–614, hier 611. 114 Viscount Lymington, Famine in England, London 1938, S. 208. 115 Quarterly Gazette of the English Array 2 (Dezember 1937). 116 Lymington, Famine in England, S. 208. 117 Viscount Lymington, The Principles of Agricultural Reconstruction, I. – Internal Reconstruction, in: English Review 55 (November 1932), S. 516–524, hier 517.

102   4.  Neo-Toryismus als Weltanschauung Macht der internationalen Finanzindustrie zu brechen. Zukünftiger agrarischer Handel solle vor allem mit dem Empire und den skandinavischen Ländern ­geführt werden: „It will make us some enemies, but many friends as a saner, stronger nation emerges using the control of its imports for building up its vitality and health into a lasting bulwark of civilization.“118 Lymington schrieb dies 1932. Auch nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten waren solche offenen Ähnlichkeiten mit nationalsozialistischer Blut-undBoden-Ideologie zunächst noch wenig problematisch. Erst mit dem Ausbruch des zweiten Weltkriegs und spätestens seit dem aktiven Eingreifen Großbritanniens als Kriegspartei konnten solche Äußerungen für die Autoren gefährlich werden. Sympathisanten des NS-Regimes drohte unter der Defence Regulation 18B die Inhaftierung.119 Lymington löste denn auch die English Array 1939 auf, gerade noch rechtzeitig, um einer Verhaftung zu entgehen: „I suppose the British government was really tolerant in my case.“120 Lymington hörte allerdings keineswegs auf, politisch aktiv zu sein. Insbesondere die agrarisch-ländliche Neuordnung Englands propagierte er weiter. Zusammen mit seinem Freund Rolf Gardiner gründete er daher im April 1941 die Organisation Kinship in Husbandry, was man in etwa mit „Bruderschaft durch Landwirtschaft“ übersetzten kann. Neben Gardiner und Lymington gehörten der Organisation Harold John Massingham, Arthur Bryant, Edmund Blunden, Lord Northbourne, Philip Mairet und eine ganze Reihe anderer prominenter ‚Ruralisten‘ an.121 Die Organisation diskutierte weiterhin rassischen Niedergang und nationale Gesundheit, doch der Schwerpunkt lag auf der ‚agrarischen Wiedergeburt‘, die, auf ökologischen Prinzipien basierend, als Allheilmittel gegen die Übel der Industrialisierung gesehen wurde. In Kriegszeiten war es jedoch für Lymington und Gardiner wichtig, so Matthew Reed, „to make the Kinship appear to be little more than a gentleman farmers’ salon, eliding the far-right policies of its members.“122 Die Mythisierung des Bodens, das Ziel einer landwirtschaftlichen Autarkie und einer dezentralisierten Gesellschaft beschäftigten nicht nur die ‚Ruralisten‘ unter 118 Viscount

Lymington, The Principles of Agricultural Reconstruction, II. – The External Position, in: English Review 55 (Dezember 1932), S. 516–524, hier 587. 119 Julie V. Gottlieb, Defence Regulation 18B, in: Jonathan F. Vance (Hrsg.), Encyclopedia of Prisoners of War and Internment, Santa Barbara 2000, S. 75; Aaron L. Goldman, Defence Regulation 18B. Emergency Internment of Aliens and Political Dissenters in Great Britain During World War II, in: Journal of British Studies 12 (1973), S. 120–36. 120 Lymington, A Knot of Roots, S. 197. 121 Richard Moore-Coyler und Philip Conford, A „Secret Society“? The Internal and External Relations of the Kinship in Husbandry, 1941–52, in: Rural History 15 (2004), S. 189–206; Stone, The Far Right and the Back-to-the-Land Movement, S. 153; Conford, Origins of the Organic Movement, S. 74, 79, 94, 120, 122, 124, 138 f., 151, 202, 210; Richard MooreCoyler, Towards „Mother Earth“. Jorian Jenks, Organicism, the Right and British Union of Fascists, in: Journal of Contemporary History 39 (2004), S. 353–371; ders., Back to Basics, Rolf Gardiner, H.J. Massingham and „A Kinship in Husbandry“, in: Rural History 12 (2001), S. 85–108. 122 Matthew Reed, Rebels from the Crown Down: The Organic Movement’s Revolt Against Agricultural Biotechnology, in: Science as Culture 11 (2002), S. 487.

4.1  ‚Degeneration‘ als zentraler Topos   103

den Neo-Tories, sondern gehörten etwa auch zum ideologischen Kernbestand des Distributionismus. Die ökonomische Philosophie Bellocs und Chestertons war durch das angestrebte Ziel einer Neuverteilung des Eigentums und ihrem Kampf gegen die Akkumulation von Kapital und Besitz in den Händen weniger Städter zwangsläufig antiurban. Dazu kam die Glorifizierung der katholischen Ordnung und des in Gilden und Zünften organisierten Wirtschafts- und Sozialsystems des mittelalterlichen Englands, das als utopische Leitidee den industrialisierten Städten Großbritanniens entgegengehalten wurde.123 Auch hier erscheint die Stadt als Ort des Niedergangs. Doch wird bei den Anhängern des Distributionismus ur­ bane ‚Degeneration‘ weniger biologisch, als ‚Degeneration‘ des Volkskörpers, ­sondern als zivilisatorische ‚Degeneration‘, als Entfremdung von mittelalterlicher Spiritualität und christlich-organischer Ordnung verstanden. Der Rekurs auf den Boden als die zentrale Kategorie der politischen Utopie einte sie jedoch mit anderen ‚Ruralisten‘ und machte sie zu entschiedenen Gegnern der modernen Stadt. Der amerikanische Politikwissenschaftler Jay P. Corrin konstatiert: „All Distributists were anti-urban; the metropolis removed individuals from the ‚lifeblood of the soil‘“.124 In ihrer Feindschaft gegenüber der Stadt ging es den Neo-Tories jedoch nicht nur um Autarkie, Landwirtschaft, ‚Blut‘ und ‚Boden‘. Ihr Antiurbanismus hatte in London mit ‚Bloomsbury‘ auch einen ganz konkreten persönlichen Gegner. Die nach dem Stadtteil Bloomsbury benannte Gruppe von Intellektuellen verkörperte aus Sicht der Neo-Tories den intellektuellen Mainstream aus sozialistischen Literaten und Künstler-Boheme. Antiurbanismus bedeutete in diesem Zusammenhang der Kampf gegen die vermeintliche Dominanz von ‚Bloomsbury‘. Zu der Topographie des Antiurbanismus gehörte auch das East End, das für Arbeiter, Emigranten, Chaos und die ‚degenerierten Teile‘ der Gesellschaft stand, und die City, die Wirtschaftsliberalismus, internationales, jüdisches Finanzwesen und Kapitalismus repräsentierte. In einer weiteren historischen Perspektive kann der Antiurbanismus der NeoTories als Teil eines längerfristigen neoromantischen, antiindustriellen Trends gesehen werden. In seinem kontrovers debattierten Buch English Culture and the De­ cline of the Industrial Spirit von 1981 untersucht der amerikanische Historiker Martin Wiener die englische Ambivalenz gegenüber Industrialisierung und Urbanisierung seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. Wiener diagnostiziert dabei eine Art ‚psychologische Deindustrialisierung‘,125 die lange bevor Großbritannien in den 1970er Jahren zum ‚kranken Mann‘ Europas geworden war, den wirtschaftlichen Niedergang einleitete. Demnach pflegte die aufstrebende Mittelklasse im 19. Jahrhundert den Kult des Amateurs, der sich von technischer Spezialisierung genauso fern hielt wie von wirtschaftlicher Risikofreude und stattdessen den müßigen Le123 Corrin, Catholic

Intellectuals, S. 176–187; ders., G. K. Chesterton & Hilaire Belloc, S. 125–171. Catholic Intellectuals, S. 182. 125 Martin Wiener, English Culture and the Decline of the Industrial Spirit, 1850–1980, Cambridge 1981, S. 157. 124 Corrin,

104   4.  Neo-Toryismus als Weltanschauung bensstil der britischen Aristokratie zu imitieren versuchte. Für die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg stellt Wiener einen back-to-the-land-Kult fest, der sich in einem neuen Massenmarkt für country books, in der populären Buchreihe English Heri­ tage, dem BBC-Programm „National Character“ oder in den Radioansprachen des Premierministers Stanley Baldwins manifestierte, in denen Englishness zeitlos-ländlich definiert wurde. Dies führte, so Wiener, zu einer Neu- und Umbewertung der Industriellen Revolution: „The industrial revolution was thus not only revalued, but also redefined as a characteristically un-English event.“126 Die Opposition der Neo-Tories zur modernen urbanen Gesellschaft hatte, verglichen mit traditionellländlichem Idealismus und historischem Interesse an Merry England, dagegen eine dezidiert neue Qualität. Es ging ihnen nicht nur um konservativen Lobbyismus für landwirtschaftliche Interessen oder moralische Anklage des Sitten­verfalls und der mangelnden Gesundheit in den Städten. Besonders deutlich wird dies am Beispiel der National Fitness Campaign. National fitness war unter dem Eindruck einer gesunden, wehrhaften, deutschen Bevölkerung und der Angst um die eigene nationale Fitneß zu einem populären Schlagwort geworden. Die Kampagne wurde zu einer überparteilichen Körperkulturbewegung, die die sportliche Ertüchtigung und Wehrhaftigkeit der Stadtbevölkerung zum Ziel hatte.127 Die Ziele der Bewegung wurden schließlich von der Regierung aufgenommen, die am 1. Oktober 1937 durch das National Advisory Council for Physical Training and Recreation eine Kampagne zur Steigerung der nationalen Fitneß startete. Die Initiative zielte auf die Förderung der individuellen körperlichen Fitneß, war jedoch freiwillig und weit entfernt vom nationalsozialistischen Körperkult. Insbesondere konservative Abgeordnete, die wie der Neo-Tory Arnold Wilson Deutschland besucht hatten, forderten allerdings, sehr zum Unwillen der Opposition, ein umfassendes Programm zur nationalen Ertüchtigung.128 Es überrascht wenig, daß die Neo-Tories von dem Regierungsbeschluß gänzlich unbeeindruckt blieben. Lymington kommentierte: „The Government Campaign is merely the po­pular gesture towards a popular movement as urban conditions become more intolerable. As such we can look upon it as one more action to palliate the evil effects of modern life.“129 126 Ebd.,

S. 88. Zur Debatte um Wieners These vgl. Richard English und Michael Kenny (Hrsg.), Rethinking British Decline, Basingstoke, 2000. 127 Ina Zweiniger-Bargielowska, Building a British Superman. Physical Culture in Interwar Britain, in: Journal of Contemporary History 41 (2006), S. 595–561; Michael Roper, Between Manliness and Masculinity. The ‚War Generation‘ and Psychology of Fear in Britain, 1914–1950, in: Journal of British Studies 44 (2005), S. 343–362. 128 Der Labour-Abgeordnete Wilfrid Burke erklärte in einer Unterhausdebatte im November 1936: „I do not know why it is that we hear so much about the physical fitness of the people of Germany. Many years ago we heard a great deal about Swedish drill and Swedish exer­ cises; but recently the hon. Member for Hitchin (Sir A. Wilson) came back from a visit to Germany and said that he returned with a feeling of spiritual elation every time he came back from that country. I am disappointed and rather dismayed at the apparently growing appreciation of the totalitarian State by hon. Members on the opposite benches.“ House of Commons Debates, 4. 11. 1936, Vol. 317, cc169 f. 129 Viscount Lymington, National Fitness Campaign, in: Quarterly Gazette of the English Array 3 (April 1938), S. 5.

4.2  Systemkritik im Land der Mother of Parliaments   105

Lymington hatte recht: Weder die National Fitness Campaign noch der neoromantische, sich vornehmlich kulturell äußernde Antiindustrialismus der Zwischenkriegszeit waren als politische Alternativen zum demokratisch-kapitalistischen System gedacht. ‚Nationale Gesundheit‘, kultureller Antiindustrialismus und romantisierende Verklärung des Landlebens waren keine umstürzlerischen Reaktionen auf die Implikationen der Moderne. Anders als der Mainstream der Konservativen Partei fanden sich die Neo-Tories jedoch grundsätzlich nicht mit den politischen, wirtschaftlichen und sozialen Implikationen der Moderne ab. Im Land der Mother of Parliaments konnten die Neo-Tories aber nur schlecht gegen Demokratie und Liberalismus argumentieren, ohne die erfolgreichsten Kapitel britischer Geschichte zu negieren. Deshalb spielte ‚Degeneration‘ in ihrer Argumentation auch eine so prominente Rolle. ‚Degeneration‘ implizierte, daß der Keim des Scheiterns und des Untergangs bereits in der Blütephase des britischen Weltreichs in sich getragen wurde. ‚Degeneration‘ umfaßte somit den Niedergang der englischen Rasse, der nationalen Werte und des Empires und hatte biologische, moralische und politische Konnotationen. Die Bestandsaufnahme von ‚Degeneration‘ und Niedergang stand damit in der Regel am Anfang von konkreterer Demokratiekritik und den politischen Konzepten eines ‚wahren‘ Konservatismus, mit dem England wieder in einen ‚natürlichen‘ Zustand der Einheit und Harmonie geführt werden sollte.

4.2  Democracy on Trial – Systemkritik im Land der Mother of Parliaments Von der antiurbanen Kritik an der ‚Vermassung‘ der Gesellschaft war es kein ­großer Schritt zur Kritik an der politischen Verfaßtheit der Masse, an ihrer ­konstitutionellen Ordnung und Repräsentation. In der Tat standen kulturkritische Befürchtungen eines allgemeinen Niedergangs oder alarmierende Szenarien einer ‚Degeneration‘ der Bevölkerung nicht im luftleeren bzw. apolitischen Raum. Vielmehr griffen sie den Kern des politischen Selbstverständnisses der Briten, die Demokratie selbst an. Demokratiekritik war auch in Großbritannien an sich nichts Neues. Von den antirevolutionären Schriften Edmund Burkes über die ­romantische Liberalismus- und Demokratiekritik Thomas Carlyles bis zu den diehards der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg gab es eine britische Tradition demokratiekritischen konservativen Denkens.130 Doch Demokratiekritik hatte in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts eine neue Dimension. Zum einen stand sie in einer Wechselbeziehung zur Rezeption der politischen Entwicklung in anderen 130 Während

Edmund Burke sich in seiner Demokratiekritik vor allem auf die ‚Exzesse‘ der französischen Revolution bezieht, stellte Thomas Carlyle die Demokratie an sich in Frage. Vgl. Brian W. Young, The Victorian Eighteenth Century. An Intellectual History, Oxford 2007, S. 10–69; John Morrow, Formality and Revolution. Carlyle on Modernity, in: Ders. (Hrsg.), Liberty, Authority, Formality. Political Ideas and Culture, 1600–1900. Essays in Honour of Colin Davis, Exeter 2008, S. 153–72.

106   4.  Neo-Toryismus als Weltanschauung Ländern. Der Blick auf die vielen Länder, die sich im Laufe der Zwischenkriegszeit von der Demokratie als Regierungsform verabschiedeten, konnte die historische Überlebtheit des Systems parlamentarische Demokratie an sich beweisen. Hinsichtlich der Folgerungen aus der Systemkritik – beispielsweise in einer eventuellen Einführung des korporativen Staats nach italienischem Vorbild – stieß die Rezeption der internationalen Krise der Demokratie wieder schnell an Grenzen, und es wurde die Notwendigkeit ‚britischer‘ Lösungen betont. Andererseits hatten die Wahlrechtsreform von 1928, der Aufstieg Labours zur stärksten Partei bei den Wahlen von 1929 und die Weltwirtschaftskrise der Krisenstimmung auf Seiten der Rechten eine neue Dynamik gegeben. Die moderne Massendemokratie wurde dabei von den Neo-Tories als finales Symptom der liberalen Fehlentwicklung interpretiert, da sie durch politische Partizipation, Rechtsstaatlichkeit und Sozialpolitik einen Teil der Bevölkerung förderte, der als ‚Hemmschuh‘ für die Entwicklung der Gemeinschaft gesehen wurde. Hinzu kam in den frühen dreißiger Jahren noch ein weiterer Strang des antidemokratischen Diskurses. In Reaktion auf die demokratischen Reformprozesse in den Kolonien wurde nicht nur deren politische Emanzipation abgelehnt, sondern – wie im Falle Indiens – das Prinzip Demokratie als völlig ungeeignet betrachtet. In der Indian Empire Review hieß es beispielsweise im Juni 1932: „The system is not good in England, but in India it will be much worse“.131

4.2.1  „The Twilight of Democracy“ – Das Ende der ­Demokratien als historischer Prozeß Man mußte Anfang der dreißiger Jahre kein Anhänger Mussolinis, Hitlers oder Stalins sein, um sich Gedanken über ein eventuelles Ende der Demokratie als Herrschaftsform im 20. Jahrhundert zu machen. Fragen nach einer historischen Überlebtheit des Systems der Demokratie drängten sich geradezu auf, nachdem demokratische Regierungen überall in Europa und auf der Welt gefallen waren. Der Blick auf Italien, aber auch auf Spanien, Ungarn, Griechenland und die Türkei, führte daher nicht nur bei der radikalen Rechten zu einem demokratiekritischen Diskurs. Ende der zwanziger und Anfang der dreißiger Jahre dachten Autoren aus dem gesamten politischen Spektrum wie Bernard Shaw, H.G. Wells und H.J. Laski in ihren Schriften über die Krise der europäischen Demokratie nach.132 Zur selben Zeit konzentrierte sich die publizistische Kampfansage von rechts gegen die parlamentarische Demokratie – jenseits der faschistischen Splittergruppen und ihrer Presse wie den Fascist oder den British Lion – auf vier Gruppen: Erstens den radikalisierten diehard-Konservatismus um den Patriot, die National Review und die Morning Post; zweitens auf die radikalisierten Teile der Eugenik131 B.

C Allen, Changes since 1919. 1. The Indian Civil Service, in: Indian Empire Review 1 (Juni 1932), S. 20–23, hier 21. 132 Griffiths, Fellow Travellers of the Right, S. 26–31.

4.2  Systemkritik im Land der Mother of Parliaments   107

Bewegung, die durch Autoren wie William Ralph Inge und Ferdinand Schiller popularisiert wurde, drittens auf Teile der literarischen Avantgarde133 und viertens auf jene Neo-Tories wie Viscount Lymington, Anthony Ludovici, Charles Petrie oder Douglas Jerrold, die in dieser Zeit ihre ersten wichtigen Schriften publizierten. Hierbei handelt es sich jedoch keineswegs um scharf voneinander getrennte Kreise: Lord Sydenham of Combe etwa war Mitglied der Eugenic Society, schrieb für den Patriot über die ‚jüdische Weltverschwörung‘,134 aber auch Artikel für die angesehene English Review. Lymington schrieb für die National Review und die Morning Post, war ab 1929 Parlamentsabgeordneter, gleichzeitig jedoch Mitglied der rechtsextremen Geheimorganisation English Mistery. Deren führender Theoretiker, Anthony Ludovici, hatte enge Kontakte zur literarischen Avantgarde um die Zeitschrift New Age, war einer der radikalsten Theoretiker der Eugenic Society, schrieb aber dennoch regelmäßig für spezifisch katholische, rechtskonservative Organe wie die New English Weekly, deren Autoren die Eugenik meist ablehnten, aber Ludovicis Antiliberalismus und Antikapitalismus teilten. In der English Review begann das Nachdenken über die Fehlerhaftigkeit der parlamentarischen Demokratie im Wechselspiel mit einem Interesse an Systemalternativen bereits Mitte der zwanziger Jahre. Es war vor allem Mussolinis Italien, das die Autoren anregte. Das schädliche Prinzip der Mother of Parliaments, daß die Funktion einer Opposition das Opponieren sei, habe Italien an den Rand des Ruins gebracht, schrieb ein Pfarrer Dr. Biggs in einem Aufsatz für die English ­Review im Oktober 1926, dem er eine englische Übersetzung der faschistischen Triumphhymne Giovanezza voranstellte.135 In derselben Ausgabe schrieb ein als „Young Conservative“ vorgestellter Hamilton W. Kerr: Whether we may or may not agree with Fascism, it is certainly a step in the right direction. […] Fascism, as a form of Government, runs contrary to the democratic instincts of the British na­ tion. But it has many good points we might borrow, notably the stress it lays upon individual and sectional unselfishness and its driving force, founded on tremendous optimism.136

Das Interesse am italienischen Faschismus nahm in den folgenden Jahren zu – von allen Staaten, die sich, so Lord Sydenham of Combe in der English Review, von der Illusion der Demokratie getrennt hatten, sei Italien „the foremost and the most sucessful example.“137 Es war dabei Mussolini selbst, der sich als ‚heroische‘ Figur von den demokratischen Einheitspolitikern abhob und große Aufmerksamkeit auf sich zog. In einem Interview mit Mussolini für die English Review im April 1929 zeigte sich der Autor schwärmerisch begeistert von Mussolinis Jugend133 Insbesondere

T.S. Eliot und seine Kulturzeitschrift Criterion, die sich um die Etablierung französischer Autoren der Action Française und des Ordre Nouveau bemühte. Vgl. Kap. 4.3.1. 134 Markku Ruotsila, Lord Sydenham of Combe’s World Jewish Conspiracy, in: Patterns of Prejudice 34 (2000), S. 47–64. 135 Rev. Dr. Biggs, Fascismo, in: English Review 43 (Oktober 1926), S. 402. Vgl. auch Umberto Morelli, Mussolini. A Patriotic Socialist, in: English Review 42 (Februar 1926), S. 203–209. 136 Hamilton W. Kerr, A Conservative Ideal, in: English Review 43 (Oktober 1926), S. 465–466, hier 466. 137 Lord Sydenham of Combe, The Fascist State, in: English Review 48 (Februar 1929), S. 160.

108   4.  Neo-Toryismus als Weltanschauung lichkeit und Vitalität, die – das machte er seinen englischen Lesern eindringlich klar – frei von impulsivem südländischem Temperament und Pose gewesen sei. Statt dessen habe Mussolini klassische Einfachheit, geschäftsmäßige Ernsthaftigkeit, aber auch einen guten Sinn für Humor an den Tag gelegt. Am Ende des Interviews, in dem die Entmachtung der Gewerkschaften als ein heroisches Experiment gewürdigt wurde und vorsichtige Fragen nach der Pressefreiheit mit insularen Vorurteilen britischer Liberaler alten Schlags entschuldigt wurden, war sich der Autor bewußt: „He was a master-mind, a true leader of men, endowed with all the gifts of leadership, with a stout heart, a clear brain, a creative imgagination, a high sense of duty, and, above all, a passionate love for his native country.“138 In den folgenden Jahren war es vor allem der italophile Charles Petrie, der den italienischen Faschismus dem konservativen Publikum erklärte. In seiner monatlichen außenpolitischen Kolumne in der English Review, in seiner umfangreichen Biographie Mussolinis, vor allem aber in theoretischen Schriften, in denen er ­Regierungsformen vergleichend betrachtete, erörterte er die vielen Vor- und die wenigen Nachteile des italienischen Systems. Auf die Rolle Italiens als Vorbild und die ambivalente Rezeption des italienischen Faschismus bei den Neo-Tories wird noch ausführlich in einem späteren Kapitel hingewiesen.139 Entscheidend ist hier, daß der internationale Vergleich dazu diente, nach der historischen Überkommenheit der parlamentarischen Demokratie zu fragen. Im Aufsatz „The Twilight of Democracy“ heißt es in der November-Ausgabe der English Review: „In one European country after another democracy had been killed, since it seemed beyond cure, and few have mourned it.“ Die eine wichtige Frage, die alle britischen Staatsmänner zu beantworten haben, sei daher: „Can we, alone of all nations make democracy safe for humanity; or must we follow the path of Italy, of Russia, and of those other nations in which democracy has perished through its own corruption.“140 Die Demokratie war – so das populäre Schlagwort – on trial.141 Dies korrespondierte mit der allgemeinen Krisenwahrnehmung, die in Folge der Weltwirtschaftkrise und des Wahlsiegs der Labour Party von 1929 vor allem das konservative Milieu erfaßt hatte.142 Winston Churchill erklärte etwa in einer Rede mit dem Titel „The Present Decline of Parliamentary Government in Great Britain“ an der Universität von Edinburgh im März 1931, daß je breiter die Basis der Demokratie geworden sei, desto weniger seien das Parlament und seine Abgeordneten respektiert worden. Demokratie scheint, so Churchill, grundsätzlich geneigt, die Institu138 Charles

Sarolea, An Interview with Signor Mussolini, in: English Review 48 (April 1929), S. 421–428, hier 428. 139 Vgl. Kap. 4.4. 140 Austin Hopkinson, The Twilight of Democracy, in: English Review, November 1930, S. 565– 570, hier 567. 141 F.A.W. Gisborne, Democracy on Trial and Other Essays, London 1928; Lord Eustace Percy, Democracy on Trial, London 1931. 142 Zur Krisenerfahrung Philip Williamson, National Crisis and National Government. British Politics, the Economy and Empire 1926–1932, Cambridge 1992. Vgl. auch Bussfeld, „Democracy versus Dictatorship“, S. 70 f.

4.2  Systemkritik im Land der Mother of Parliaments   109

tionen, denen sie ihre Rechte und Freiheiten verdankt, zu beschädigen und zu verachten.143 Die Demokratie saß auf der Anklagebank, und meist stand das Urteil schnell fest, so etwa in der Schrift Democracy on Trial von 1931. Das Buch hatte Gewicht: Schließlich gehörte der Autor, Lord Eustace Percy, als ehemaliger Staatssekretär für Bildung zum politischen Establishment. Percy machte aus seiner demokratiekritischen Gesinnung auch in den folgenden Jahren keinen Hehl und wurde 1934 Mitglied des January Club.144 Sein Buch war, so der Journalist Collin Brooks in einer Rezension für die Zeitschrift Bookman, eine klare Anklage gegen das Chaos, das durch die Übernahme eines ursprünglich aristokratischen Parlaments durch eine Oligarchie von Plutokraten zum Zwecke der Demokratie entstanden sei.145 Brooks selbst hatte sich wenig später von der Demokratie als idealer Regierungsform verabschiedet und wurde Mitglied der rechtsradikalen English Mistery.146 Auch in der English Review stimmte man mit Percys radikaler Bestandsaufnahme überein. Das Empire brauche „the British tradition of a strong and independent executive“, denn eines sei sicher: Das Parlament werde, so ehrwürdig und unersetzbar es auch scheinen möge, das Vertrauen und die Achtung des britischen Volkes verlieren, wenn es sich nicht grundsätzlich reformieren würde.147 Konservative Systemkritik um das Jahr 1930 kann – wie weiter unten gezeigt wird – zum Teil als Reaktion auf die Wahlrechtsreform und auf die Niederlage bei den Parlamentswahlen von 1929 gesehen werden. Die konservative Demokratiekritik der späten zwanziger und frühen dreißiger Jahre war allerdings weit mehr als die Reaktion eines schlechten Verlierers. Bereits 1928 hatte der Mitarbeiter der Morning Post, Sir Frank Fox, sein Buch Parliamentary Government: A Failure? veröffentlicht und ließ an der Antwort auf die Titelfrage keinen Zweifel: „I believe the fact that faith in democratic Parliamentary government as a good system of government is a superstition, as gross and unreasonable as the faith of some negroes in Mumbo Jumbo.“148 Die von Fox auf den folgenden 200 Seiten gelieferten Belege für sein Verdikt gegen parlamentarische Demokratie gehören zum Standardrepertoire rechtskonservativer Systemkritik der zwanziger und dreißiger Jahre: Statt der administrativen, industriellen und finanziellen Elite repräsentieren die Parlamentskandidaten lediglich eine korrupte Parteibürokratie. Aufgrund des allgemeinen Wahlrechts seien die Politiker zu Populisten geworden, die ihre Wiederwahl mit unhaltbaren Wahlversprechen sichern müßten. Die ausufernde Sozial­ politik benachteilige die arbeitenden Stände, und die Kontrolle der Regierung durch eine Opposition mache eine entschlossene Außenpolitik unmöglich. Diese Situation habe zu einem tiefgreifenden Pessimismus in Großbritannien geführt, 143 The

Decline of Parliament. Mr. Churchill in Edinburgh, The Times, 6. 3. 1931. Kap. 5.2. 145 Collin Brooks, Democracy on Trial, in: Bookman 80 (April 1931), S. 30–31, hier 30. 146 Vgl. Kap. 2.2. 147 Democracy on Trial. A Preface to an Industrial Policy, English Review 52 (April 1931), S. 515 f. 148 Frank Fox, Parliamentary Government. A Failure?, London 1928, S. 23. 144 Vgl.

110   4.  Neo-Toryismus als Weltanschauung der auf der falschen Vorstellung beruhe, „that this present Parliamentary system is part of the fibre of the nation’s existence; that it is as indispensable as the lungs of the body; that it cannot be reformed and also not be ended.“ Reformieren lasse sich das System tatsächlich nicht, so Fox, aber „the experience of Italy has shown that it can be ended.“149 Eines der zentralen Probleme der britischen Rechten in ihrem publizistischen Kampf gegen die parlamentarische Demokratie deutet sich hier bereits an. Wie ließ sich im Land der Mother of Parliaments überhaupt erfolgreich gegen Parlamentarismus und Demokratie argumentieren? Anders als im Deutschen Reich ließ sich die parlamentarische Demokratie eben nicht als System des Siegers und damit als dem nationalen Wesen grundfremd identifizieren. Eine nationalistisch aufgeladene und metaphysisch überhöhte Frontstellung gegen das System der Feinde war nicht möglich. Im Gegensatz zu den Autoren der ‚Konservativen ­Revolution‘ konnten britische Rechte ihre Systemkritik damit nicht mit jener ­aggressiven Dynamik aufladen, die sich aus der Kopplung von Demokratiefeindlichkeit mit einem gedemütigten Nationalstolz ergab. Das Schlagwort britischer Systemkritik lautete entsprechend nicht ‚Verrat‘ (Novemberrevolution, Versailler Vertrag), sondern – wie weiter oben bereits gezeigt – ‚Degeneration‘. In einer an radikalen Brüchen ärmeren Geschichte stand ‚Degeneration‘ für ­einen schleichenden Verfallsprozeß nationaler Werte und Institutionen einerseits und die sozialdarwinistisch aufgeladene doppelte Frontstellung gegen Sozialismus und Massendemokratie als Herrschaft der ‚Minderwertigen‘ andererseits. Entscheidend ist jedoch, daß als historischer Bezugspunkt des antimodernen Abwehrkampfs nicht das 19. Jahrhundert der Queen Victoria diente (so wie die Autoren der ‚Konservativen Revolution‘ ja auch nicht die Herrschaft Wilhelms  II. wiederherstellen wollten), sondern als eine Art natürlicher Urzustand der britischen Gesellschaft das mittelalterliche Merry England glorifiziert wurde.150 Der historische Rückgriff auf das Mittelalter erlaubte es auch, das ‚unenglische‘ der Idee der parlamentarischen Demokratie an sich zu beweisen. So kam etwa Ludovici 1927 zu dem bemerkenswerten Schluß: „To speak of England as the ‚Mother of Parliaments‘ is to be guilty of the grossest injustice towards the true spirit of the Anglo-Saxon peoples.“151

149 Fox,

Parliamentary Government, S. 148. Kapitel 3.2.3. 151 Ludovici, Man. An Indictment, S. 216. Mit derselben Begründung heißt es in Ludovicis „A Defence of Conservatism“: „It amounts to a slander of the English people to call England the Mother of Parliaments.“ Ludovici, A Defence of Conservatism. A Further Text-Book for Tories, S. 185. In einem Pamphlet von 1939 schreibt er: „Continentals, particularly the French, and millions of English people who speak proudly of England’s legislative body as the ‚Mother of Parliaments‘, imagine that, as an institution, it was the child of Ancient English genius, born spontaneously amid the proud and joyful acclamations of the people. But it was nothing of the sort! It was wholly alien to the particularist spirit of the Anglo-Saxon race.“ Anthony M. Ludovici, English Liberalism. A „New Pioneer“ Pamphlet, London 1939, S. 8. 150 Vgl.

4.2  Systemkritik im Land der Mother of Parliaments   111

Auch dies war keine isolierte Extremvorstellung. Der Historiker Fossey Hearnshaw etwa sah den organischen, direkten und funktionalen Repräsentationscharakter der englischen Urparlamente in diametralem Gegensatz zur französischen Idee der Volkssouveränität. „But most unfortunately the seed of continental radicalism was in the early nineteenth century conveyed to Britain and by a series of so-called Reform Acts the venerable and admirable parliament of this country was transmuted into an ultra-democratic assembly of the Continental type.“152 Auch Douglas Jerrold betonte in einem seiner entschiedensten Plädoyers für die Etablierung eines korporativen Staats den ausländischen Charakter des heutigen Parlamentarismus, der durch eine Art historischen Unfall das urenglische System verdrängt habe: „The present system, based on equality of individual rights, regardless of functions or property, is not English; it was grafted on to the old English occupational franchises, largely by accident under the influence of the ideas of the French Revolution.“153 Douglas Jerrold erkannte an, daß die Vorstellung von parlamentarischer Demokratie als ‚unenglisch‘ zunächst paradox wirken müsse. Englische Geschichte müsse daher auch nicht auf die Existenz einer Körperschaft, die sich ‚Parlament‘ genannt habe, abgeklopft werden, da es natürlich immer ein solches gegeben habe. Entscheidend sei die Funktion des Parlaments, und diese habe sich über die Jahrhunderte dramatisch gewandelt. In einem Kommentar erklärte er im Februar 1931, daß das englische Parlament zunächst dafür dagewesen sei, die Autorität eines schwachen Monarchen zu stärken, um dann die Anordnungen eines starken Monarchen zu registrieren und mit konstitutionellem Schein die Usurpation ­zuerst einer revolutionären Mittelklassen-Oligarchie und darauffolgend einer ­kommerziellen Plutokratie zu vertuschen. Jetzt werde es zum ersten Mal in der ­englischen Geschichte genutzt, um einer Ochlokratie, einer Pöbelherrschaft, den Schein von konstitutioneller Kontinuität zu geben – „a system of government ­never before attempted and for two thousand years universally decried.“154 Mangelnde Effizienz warf Douglas Jerrold der parlamentarischen Demokratie vor ­diesem Hintergrund dagegen nicht vor: „Democracy is indeed on trial, but it is its immorality, not its inefficiency, that is the danger and the disgrace.“155 Wie bereits mehrfach betont war der Rekurs auf die Geschichte für die antidemokratische Argumentation der Neo-Tories zentral. In seinem Buch The History of Government erläuterte Charles Petrie die verschiedenen Regierungsformen von den griechischen Stadtstaaten bis zur Gegenwart, von Griechenland bis Amerika. In dem aufschlußreichen Kapitel „The Decline of Democracy“ fragte er vor allem nach den intellektuellen Vordenkern der antidemokratischen Entwicklung in allen Teilen der Welt. Vom italienischen Beispiel ausgehend, sah er diese in den Au-

152 Fossey

J.C. Hearnshaw, Universal Suffrage and Parliamentary Government, in: National Review 101 (Juli 1933), S. 53–59, hier 55 f. 153 Douglas Jerrold, Current Comments, in: English Review 59 (Juli 1934), S. 7–14, hier 10. 154 Ders., Current Comments, in: English Review 52 (Februar 1931), S. 137–147, hier 142. 155 Ders., Current Comments, in: English Review 49 (Oktober 1929), S. 399–410, hier 407.

112   4.  Neo-Toryismus als Weltanschauung toren der Action Française, insbesondere in Charles Maurras, den er als größten Intellektuellen Frankreichs156 titulierte. „It is among the Catholic and nationalist writers of the Third Republic that the origins of the intellectual movement against democracy must be sought rather than in the pages of Nietzsche, Comte, or Hegel.“157 Aber auch in England habe es ein Umdenken gegeben. Vor allem habe eine Geschichtsinterpretation an Gewicht gewonnen, die die englische Vergangenheit in einem für die Demokratie weniger günstigen Licht sehe. Die Muse der englischen Geschichte, so Petrie, zeige nicht mehr die gleichen whiggistischen Vorlieben, die die ‚Dame‘ noch vor 50 Jahren ausgezeichnet habe. Petrie war der Auffassung, daß man aus der Geschichte lernen könne: Wer verstehe, daß die Geschichte der englischen Demokratie keineswegs eine glorreiche Erfolgsgeschichte war, der könne auch ‚unvoreingenommener‘ über die Zukunft nachdenken. After all, if Strafford [Thomas Wentworth, Earl of Strafford (1593–1641), B.D.] was not a traitor to his country, but a Mussolini in advance of his time, it stands to reason that the man who makes a similar attempt in years to come will enjoy no small measure of popular support. Prophecy is dangerous in matters of this sort, but the child who today is taught that the democratic cause was often wrong in the past is likely to apply the lesson in the future.158

Grundlegend für Petries Demokratiekritik war, daß er die Axiome der europäischen Aufklärung zurückwies. Insbesondere die Vertragstheorie, wie sie zunächst von Hobbes und dann von Locke und Rousseau geprägt wurde, lehnte er grundsätzlich ab. Die Idee der Autoritäts- und Herrschaftslegitimation durch freiwillige Selbstbindung der Individuen als Ergebnis eines Vertragsschlusses war aus seiner Sicht schlichtweg falsch. Zu einem Vertragsschluß zwischen Individuen habe es gar nicht kommen können, da von Individuen in jener Urgesellschaft, auf die die Philosophen rekurrierten, keine Rede gewesen sein könne. Als früheste Einheiten menschlichen Zusammenlebens habe es lediglich die Familie und den Stamm gegeben. Herrschaft sei demnach immer patriarchalisch geordnet gewesen. Eine naturrechtliche Ableitung von Herrschaft über einen Gesellschaftsvertrag und somit auch von Infragestellung von Herrschaft sei daher gar nicht möglich.159 Ihre ­eigentliche Sprengkraft habe diese falsche Doktrin doch erst im Frankreich des Ancien Régime entwickeln können: In these circumstances a pamphlet such as the Contract Social of Rousseau, which summed up all the arguments against the existing order in a hundred odd pages, was of incalculable importance. What Hooker, Hobbes, and Locke had advanced more or less as philosophical arguments, together with the gibes of Voltaire, was fashioned by Rousseau into a programme of revolution, though it was not until twenty years after his death that it actually took effect.160 156 Charles

Petrie, The History of Government, London 1929, S. 156. S. 157. 158 Ebd., S. 160. 159 Ebd., S. 18. 160 Ebd. Petries Buch hatte interessanterweise weltweit großen Erfolg und wurde international sehr wohlwollend rezensiert. Vgl. Cape Times, 22. 8. 1929; Chicago Evening Post, 4. 10. 1929; New York Times, 13. 10. 1929. Vgl. auch die positiven Rezensionen in Saturday Review, 15. 6. 1929, S. 803 und English Review 49 (Juli 1929), S. 124 f. 157 Ebd.,

4.2  Systemkritik im Land der Mother of Parliaments   113

Die Implikationen dieser Überlegungen sind evident: Der staatstragende Gedanke der Neuzeit, der von unten nach oben konzipiert war und seinen Ausgangspunkt im einzelnen Menschen hatte, war der eigentliche Kern des Anstoßes – „the theoretic claim of democracy is to subordinate that which Christians believe to be the law of God to the wishes of man.“161 Dem wurde die staatstragende Idee des Mittelalters entgegengehalten, die von oben nach unten gedacht sei und deren Ausgangspunkt einzig und allein Gott sei. Volkssouveränität im Rousseauschen Verständnis sei somit der säkulare Versuch, die Identität des Staates als einer von oben gegebenen Größe durch ein der göttlichen Ordnung wesensfremdes Konstrukt zu ersetzen. Indem Volkssouveränität per se ‚ungöttlich‘, der Ordnung ­widerstrebend und letztlich häretisch verstanden wurde, verwarf Jerrold auch sämtliche Einflüsse der Hobbes-Rousseauschen Lehre auf die englische Verfassungsentwicklung als künstlich und grundsätzlich fremdartig. In ihrem Abgesang auf Rousseau unterschieden sich die britischen Neo-Tories tendenziell von den ‚konservativen Revolutionären‘ der Weimarer Republik.162 Diese beriefen sich in ihrem Kampf gegen den Parlamentarismus zwar sicher nicht explizit auf den französischen Philosophen und die volonté générale, aber sahen in einem plebiszitär abgesicherten ‚Führertum‘ als Ausdruck des Volkswillens die ‚demokratischere‘ Antwort auf den repräsentativen Charakter des Parlaments.163 Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten bekam die Vorstellung der Neo-Tories vom Ende der Demokratien als Ergebnis eines historischen Prozesses zusätzlich Nahrung. Unter dem Titel „The Death of Democracy“ kam es in der English Review vom August 1934 zu einer kritischen Bestandsaufnahme des Zustands der Demokratien: In Eastern and Central Europe Democracy is dead. In Spain it is on the verge of dissolution. In South America it is a vision and in China a nightmare. Between Constantinople and Kabul it has never existed. Even in the United States it is slipping into a financial grave. Only Great ­Britain, Scandinavia, France and the Low Countries hold to a middle course between the Scylla of Socialism and the Charybdis of Fascism under the impression that, by avoiding Dictatorships, they are maintaining the rights of Democracy.164

Wie aus dem Artikel hervorgeht, erfuhr die Demokratiekritik nach 1933 auch in Großbritannien eine neue Dimension. Vor 1933 hatte eine Identifizierung der ‚un-englischen‘ Elemente moderner Massendemokratie in der ­antidemokratischen 161 Jerrold,

The Future of Freedom, S. 116 f. Vorstellung des fremdartigen und daher in der Praxis ineffizienten und unethischen Charakters des volonté generale gehörte zu den zentralen Argumenten rechtskonservativer Systemkritik in Großbritannien und fand einen Höhepunkt in einem 1934 geschriebenen, aber erst 1936 veröffentlichten Buch des Oxforder Politologen Claud Sutton, zu dem Dean Inge die Einleitung schrieb. Claud Sutton, Farewell to Rousseau, A Critique of Liberal-Democracy, London 1936. 163 Durch die besondere Stellung des Reichspräsidenten in der Weimarer Verfassung bot sich eine ganz konkrete Möglichkeit, diese Parlamentarismuskritik im politischen Alltag nutzbar zu machen. Winkler, Der lange Weg nach Westen, Bd. 1, S. 463 f. 164 Rosita Forbes, The Death of Democracy. Six Dictators and President Roosevelt. Personal Impressions of Hitler, Dollfuss, Kemal, Mussolini, the Shah of Persia, Alexander of YugoSlavia and Roosevelt, in: English Review 59 (August 1934), S. 141–153, hier 141. 162 Die

114   4.  Neo-Toryismus als Weltanschauung Argumentation der Neo-Tories eine erhebliche Rolle gespielt und war angesichts einer allgemeinen Krisenerfahrung im konservativen Mainstream ‚andockfähig‘. Nach 1933 war dies nicht mehr so leicht möglich. Auf rechten Systemalternativen lastete ein größerer Rechtfertigungsdruck. Dies verstärkte sich im Jahr 1934, als das nationalsozialistische Regime im sogenannten „Röhm-Putsch“ sein mörderisches und der britische Faschismus Mosleys in den Londoner Krawallen von Olympia165 sein gewalttätiges Gesicht gezeigt hatten. Ab Mitte der dreißiger Jahre verlagerte sich die englische Aufmerksamkeit auf die Außenpolitik: 1935 auf den Konflikt mit Italien über Abessinien, ab 1936 auf den spanischen Bürgerkrieg und spätestens ab 1937 auf die revisionistische Außenpolitik des nationalsozialistischen Deutschlands. Systemalternativen wurden jetzt zunehmend vor dem Hintergrund außenpolitischer Rivalitäten gesehen – sehr zum Ärger der Neo-Tories, die sich in diesen Konflikten auf die Seite Mussolinis, Francos und Hitlers stellten. Der konservative demokratiekritische Diskurs brach jedoch keineswegs ab. Ein Beispiel ist die Saturday Review, in der wöchentlich nach einem englischen Mussolini oder einem englischen Hitler Ausschau gehalten wurde und auf deren Leserbriefseiten wütende Demokratiekritiker ein Forum fanden. In einem Brief vom 8. Oktober 1936 heißt es: „Have we, in fact, been sold to the Jew? It seems to be clear enough that democracy, as represented by the House of Commons, has displaced His Majesty the King and got a stranglehold over the Royal prerogative.“166 In der Tat führte das Wochenblatt zu diesem Zeitpunkt schon länger eine Kampagne zu einer Wiedereinführung der absoluten Monarchie. So sollten diktatorische Vollmachten mit englischen Freiheitsrechten kombiniert werden. Ein anderer Leser schrieb in diesem Sinne: In these circumstances may I suggest that a return to a nominal Absolute Monarchy, whereby His Majesty should gather round him the elect of our Military and Commercial and Political experts as his advisers, would combine the rapidity of action associated with Dictatorship States while maintaining the necessary degree of freedom for the people, which under existing Democratic Government has degenerated largely to Political graft and license and is threatening our destruction.167

Nicht nur in der Saturday Review wurde die britische Demokratie auch nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten kritisiert. Die beiden großen press lords Lord Beaverbrook und Lord Rothermere, die mit ihren auflagenstarken Massenblättern täglich Millionen Leser erreichten, hatten sich von der Demokratie als idealer Staatsform verabschiedet und unterrichteten ihre Leser über die Vorzüge der Diktaturen in Italien und Deutschland. Dies ging soweit, daß die New York Times in einem aufschlußreichen Artikel im Oktober 1933 die Vermutung aufstellte, die press lords könnten sich selbst zum Diktator aufschwingen bzw. einen 165 Bei

einer Parteiveranstaltung im West-Londoner Veranstaltungszentrum Olympia hatten Saalschützer der BUF Gegendemonstranten brutal zusammengeschlagen. Vgl. hierzu Kap. 5.2.2. 166 The Demon of Democracy, Saturday Review, 8. 10. 1936. 167 The Failure of Democracy, Saturday Review, 8. 8. 1936.

4.2  Systemkritik im Land der Mother of Parliaments   115

Diktator zu ihren Gnaden unterstützen.168 Mehr als neun Millionen Leser erreichten die Tages- und Sonntagszeitungen von Beaverbrook und Rothermere, so die New York Times. Hier erführen die Leser, daß es Hitlers einzige Schwäche sei, daß er bei dem Tod seiner Mutter geweint habe, daß er Kinder möge, nicht trinke, ein großer Mann und ein Bollwerk gegen den Kommunismus sei. Übertroffen werde das Bild nur von Mussolini, der in diesen Zeitungen noch begeisterter beschrieben wurde. Über die Gründe einer solchen Berichterstattung wollte die New York Times gerne spekulieren: „Are these two peers trying to create a British ­public opinion which might be acquiescent in some form of fascism, should they decide to make that their next experiment in obtaining power for themselves?“169 Überlegungen zu einem politischen Systemwechsel hatten 1933/34 in Großbritannien Hochkonjunktur, und daran waren die Neo-Tories, wie weiter unten gezeigt werden wird, maßgeblich beteiligt.

4.2.2  ‚Die Tyrannei der Masse‘ – Demokratiekritik in ­Großbritannien nach 1929 Am Anfang des Jahres 1929 ahnten die Autoren des nationalistischen Patriot Schlimmes: „To our country and Empire, 1929 will bring a fateful crisis. The mob election in near prospect will be decided by what the millions of new electors can be induced to believe before the polling day.“170 Tatsächlich brachten die Wahlen wenige Monate später Ergebnisse, die den Nationalisten des Patriot mit ihren zuweilen hysterisch anmutenden Bedrohungsszenarien eines Aufstands der Unterklassen Angst einflössen mußten. Aus den mob elections vom Mai 1929 war die Labour Party mit 287 Sitzen (gegenüber 260 der Konservativen und 59 der Liberalen) zum ersten Mal überhaupt als stärkste Kraft im House of Commons hervorgegangen. Der neue Premier Ramsay MacDonald war zwar für die Bildung seiner Regierung auf die Unterstützung der Liberalen angewiesen. Aber die Regierungsübernahme bewies, daß die kurzlebige Labour-Regierung von 1924 nicht eine einmalige Episode der britischen Geschichte gewesen war. Die britische Arbeiterpartei hatte sich endgültig als ernstzunehmender politischer Faktor eta168 Vgl.

zu den politischen Ambitionen der Press-Barone Daniel Gossel, The Impact of Mass Media. British Foreign Economic Policy, Lord Beaverbrook, and his Empire Crusade, in: Christian Haase (Hrsg.), Debating Foreign Affairs. The Public and British Foreign Policy since 1867 (Veröffentlichungen Arbeitskreis deutsche England-Forschung 47), Berlin 2003, S. 63–77; Jörg Requate, Medienmacht und Politik. Die politischen Ambitionen großer ­Zeitungsunternehmer. Hearst, Northcliffe, Beaverbrook und Hugenberg im Vergleich, in: Archiv für Sozialgeschichte 41 (2001), S. 79–96; Sally J. Taylor, The Reluctant Press Lord. Esmond Rothermere and the Daily Mail, London 1998; Sally J. Taylor, The Great Outsiders. Northcliffe, Rothermere and the Daily Mail, London 1996; David George Boyce, ­Crusaders Without Chains. Power and the Press Barons, 1896–1951, in: James Curran (Hrsg.), Impacts and Influences. Essays on Media Power in the Twentieth Century, London 1987, S. 97–112; Piers Brendon, The Life and Death of the Press Barons, London 1982. 169 Press Peers Seen in Bid for Power, The New York Times, 22. 10. 1933. 170 The Patriot, 3. 1. 1929.

116   4.  Neo-Toryismus als Weltanschauung bliert. Für viele Konservative, die ihre Partei als die natürliche Regierungspartei ansahen, war dies ein Schock. Die Tatsache, daß von den beinahe 6 Millionen neuen Wählern nur 600 000 für die Konservativen gestimmt hatten, gab besonderen Anlaß zur Besorgnis.171 Angesichts eines möglichen weiteren Wahlsiegs von Labour drohte man in der English Review im November 1930 unverhohlen mit einem Staatsstreich: „The opportunity for a coup d’état is rapidly approaching, and if, at the coming General Election, the leader of the Conservative Party again asks the electorate whether it desires honest government and is again given a ­direct negative, it is doubtful whether our democratic constitution can be pre­ served.“172 Die Kritik an der parlamentarischen Demokratie nahm Anfang der dreißiger Jahre die unterschiedlichsten Formen an und war nicht mehr ausschließlich in konservativ intellektuellen Zeitschriften wie der English Review, in radikalkonservativen Zeitungen wie der Morning Post oder in der faschistischen Presse zu finden.173 Es entstanden Zeitschriften wie der Plain Dealer, der sich an ein weniger gebildetes Publikum der unteren Mittelklasse wandte und vor allem mit seinem günstigen Preis warb. Um so schonungsloser war hier die Kritik an der Regierung, an den Parteien und am parlamentarischen System insgesamt. Gewarnt wurde vor dem „Government by the Unfit“,174 den „bribery promises to the pauper vote“,175 und der „tyranny of latter-day democracy“.176 Die Forderung lautete hier schon früh: „A Mussolini is urgently required in this country.“177 Der ehemalige konservative Abgeordnete Warden Chilcott verfaßte 1931 in einer Serie für die Whitehall Gazette eine gnadenlose Abrechnung mit dem demokratischen System, insbesondere mit der modernen Parteiendemokratie, und kam zu dem Schluß: „Whatever form of upheaval be necessary, let us have it and get it over, and that as quickly as possible.“178 Typisch für diese Argumentation war die Warnung vor einer ‚Tyrannei der Masse‘. Diese Masse bestand aus Sicht der konservativen Kritiker aus dem urbanen Industrieproletariat, das nur Partikularinteressen verfolgen würde, aus Arbeitslosen, die lediglich an staatlicher Unterstützung interessiert und so durch 171 Die

Labour Party hatte allerdings insgesamt 300 000 Stimmen weniger als die Konservativen und konnte nur aufgrund des Mehrheitswahlrechts die meisten Sitze gewinnen. Stephen J. Lee, Aspects of British Political History 1914–1995, London 1996, S. 78. Typisch für die wütende Kritik an der konservativen Parteileitung angesichts der Wahlniederlage ist der Leserbrief „The Central Office by A Disgruntled Tory“, The Patriot, 22. 8. 1929. 172 Hopkinson, The Twilight of Democracy, S. 568. [Hervorhebung im Original, B.D.] 173 Vgl. zur Demokratiekritik und Parlamentarismuskritik Ronald Butt, The Power of Parliament, London 1967, S. 129 f. „In the 1930s Parliament was under suspicion because if failed to solve the great contemporary problem.“ (S. 130). Vgl. auch David Powell, British Politics, 1910–1935. The Crisis of the Party System, London 2004; Griffiths, Fellow Travellers of the Right, S. 26–31. 174 The Plain Dealer, Dezember 1929, S. 7. 175 The Plain Dealer, Oktober 1930, S. 1. 176 The Plain Dealer, Oktober 1929, S. 7. 177 The Plain Dealer, März 1930, S. 7. 178 Zitiert nach Griffiths, Fascism, 2005, S. 62.

4.2  Systemkritik im Land der Mother of Parliaments   117

Wahlkampfversprechungen bestechlich seien und jungen Frauen, die generell keine politisch-rationalen Entscheidungen treffen könnten. Das Ergebnis der ‚Tyrannei der Masse‘ war aus dieser Sicht eine Ausdehnung des Gleichheitspostulats und der damit verbundenen Ausdehnung des Verwaltungs- Verteilungs- und Sozialstaats. Soziale Reform solle man daher ehrlicherweise gleich ‚Massenkorruption‘ nennen, so Hopkinson in seinem Artikel „The Twilight of Democracy“179. Dem entsprach ein Politikertypus, der lediglich an der Wahrung seiner eigenen Kar­ riere bzw. von Partikularinteressen interessiert war. Harold Cox schrieb in der English Review: [T]he House of Commons has become little more than a place in which the representatives of different parties fight with one another to secure office […] instead of an assembly devoting ­itself to the careful consideration of problems of national government, we have an assembly composed of individuals engaged in a constant struggle for their own separate advancement, etc. etc.180

Aufgrund der ‚Tyrannei der Masse‘ gebe es auch keine ‚großen Männer‘ mehr in der Politik. Diese gingen – anders als Mussolini in Italien – in Großbritannien nicht mehr ins Parlament, schrieb Charles Petrie ausgerechnet im Arbeiterblatt Daily Mirror. The plain fact is that democracy is keeping the best men out of Parliament altogether. […] In short, wherever democracy prevails, the legislature tend more and more to be filled with ­second-rate men, and I will hazard a guess that when the history of post-war Britain comes to be written the verdict will be that there were more able and influential men in the Lords than in the Commons.181

Die Gründe für die Geringschätzung der Unterhausabgeordneten lagen jedoch nicht nur in deren mangelnder Qualifikation. Das System selbst ließ dem modernen Abgeordneten keine Chance, so Douglas Jerrold, denn seine Funktion bestünde nicht darin, eine Gruppe der Bevölkerung zu ‚repräsentieren‘, sondern lediglich für einen willkürlichen Teil der Gesamtwählerschaft – nämlich den seines Wahlkreises – ‚repräsentativ‘ zu sein. Moralische Autorität im Parlament und das Einbringen speziellen Wissens, das für eine regierende Institution wesentlich ist, sei somit unmöglich, so Jerrold: „Modern constituencies are a legal fiction.“182 Wohin diese Kritik führen sollte, war offensichtlich. Denn wenn statt eines repräsentativen Systems auf der Basis von Wahlkreisen eine funktionale Vertretung nach Rolle und Position in der Gesellschaft gefordert wurde, bedeutete dies nichts anderes als ein Angriff auf die liberale Demokratie. Tatsächlich waren Vorstellungen eines korporativen Systems die positiv-konstruktive Seite der Demokratiekritik der Neo-Tories. Der korporative Staat wurde, wie im nächsten Kapitel gezeigt wird, der Kristallisationspunkt der Wiederbelebung der Nation durch einen ‚wahren‘ Konservatismus. 179 Hopkinson,

The Twilight of Democracy, S. 568. Cox, The Decay of Parliament, in: English Review 50 (Januar 1929), S. 20–26, hier 23. 181 Charles Petrie, Is this an Age of Pigmies?, The Daily Mirror, 2. 6. 1930, S. 7. 182 Douglas Jerrold, Current Comments, in: English Review 48 (Februar 1929), S. 129–142, hier 133. 180 Harold

118   4.  Neo-Toryismus als Weltanschauung Nach Auffassung der Neo-Tories war die ‚Masse‘ ungebildet, unpolitisch und lediglich an ihren eigenen Interessen interessiert, rationale Entscheidungen zugunsten der Nation wurden ihr nicht zugetraut. Deswegen, so Herbert Agar, müsse das Wahlrecht auf jene beschränkt werden, die ein Mindestalter von 30 Jahren sowie eine höhere Bildung erfahren hätten, denn „if democracy is to continue at all, it must free itself from the burden of unrestricted suffrage“.183 Die Beschneidung des Wahlrechts war der systemimmanente Ausweg aus der ‚Tyrannei der Masse‘. In einer Diskussion im konservativen Studienzentrum Ashridge berief sich Arthur Bryant im März 1932 auf Benjamin Disraeli, um vor den Gefahren des allgemeinen Wahlrechts zu warnen, das – hierauf legte Bryant Wert – von dem ‚ur-englischen‘ System zu unterscheiden sei. Eighty-three years ago the re-creator of our party, Benjamin Disraeli, foretold in words, which read like a prophecy to-day, the evils which inevitably must follow from a blind extension of the Radical principle of centralisation and universal suffrage – a thing it should be remem­ bered, very different from the ancient English system of democracy, which was based on the twofold principle of every citizen taking an active (and not as to-day, a passive) part in the management of local affairs and of an independent Parliament, which was not a part of central government, but a bulwark between the despotism of the central government and the individual citizen.184

Die Prämisse, wonach die Demokratie nur gerettet werden könne, indem man die politische Partizipation eines großen Teils der Gesellschaft wieder beschnitt, wird erst bei Betrachtung des eigentlichen Kerns konservativen Denkens verständlich. Die strikte Ablehnung des Gleichheitspostulats, der Horror vor der Égalité hat Vordenker des Konservatismus seit der Französischen Revolution angetrieben. Für die britischen Neo-Tories der Zwischenkriegszeit hatte sich nun das Rousseausche Erbe vor ihren Augen manifestiert. Anders als der Mainstream der Konservativen Partei wollten sie den politischen Modernisierungsprozeß als Realisierung des liberalen Gleichheitspostulats aber nicht mittragen. Im Gegenteil, ihr politischer Zorn richtete sich gegen die Konservative Partei und ihre Führer, die wie Stanley Baldwin den Reformprozeß ja maßgeblich vorangetrieben hatten. Ihr zentraler Vorwurf war, daß der Konservatismus nicht nur Teil am säkular-liberalen Fehlweg hatte, sondern ihn sogar maßgeblich befördert hatte. Auffälligerweise kritisierten die Neo-Tories damit den eigentlichen Erfolg der Konservativen Partei in den zwanziger und dreißiger Jahren: die Transformation 183 Herbert

Agar, Prohibition and Democracy. A Plea for Limiting the Franchise, in: English Review 52 (Mai 1931), S. 565–566, hier S. 565. Vgl. dazu auch mit ähnlicher Argumentation: Hearnshaw, Universal Suffrage. 184 Bryant, Editorial, The Ashridge Journal 9 (März 1932), S. 3. Im Anschluß an sein DisraeliZitat gab Arthur Bryant seinen konservativen Studenten in Ashridge eine interessante Hausaufgabe mit auf den Weg, die für die programmatischen Suchbewegungen der Neo-Tories insgesamt symptomatisch ist. „I make no comment on these words but suggest that every reader of these pages should mark and inwardly digest them – and then bring when next he (or she) comes to Ashridge, some attempted contribution of its own to the solution of the greatest problem of our time – how the mathematically centralised democracy which our Radical fathers have given us can be reconciled to the stability of our ancient (and half lost) English institutions and the independence and self-reliance of our English character.“

4.2  Systemkritik im Land der Mother of Parliaments   119

in eine Volkspartei der Mitte mit Anziehungskraft und identitätsstiftender Funktion weit über das klassische konservative Milieu hinaus. „Democracy, it has been said, is on its trial. That is true“, hatte Stanley Baldwin 1928 in einer Rede erklärt. Jede Regierungsform müsse sich rechtfertigen, auch die Demokratie. Großbritannien sei aber keine Demokratie wie jede andere: Zusammengehalten durch die Monarchie, an der Spitze eines Empire, habe sie eine Vorbildfunktion für den Rest der Welt. Ein Ende der britischen Demokratie hätte katastrophale Folgen: „Our failure would shake the fabric of the universe.“ Wie keine andere Kraft sei die Konservative Partei geeignet, Demokratie und Patriotismus zu verbinden und tatsächlich die ganze Nation zu repräsentieren, so Baldwin in einem öffentlichen „Appeal to Youth“: „Amongst us we feel that we are indeed a national party and representative of the whole nation in a way that no other party can claim to be. (Cheers.) Within four or five years we shall have seen holding the highest position in our organization, as chairman of the National Union, a woman, a capitalist, and a working man. (Cheers.)“185 Der neo-toryistischen Kritik am liberalen Gleichheitspostulat entsprach der Angriff auf die Freiheitskonzeption des Liberalismus. Der Freiheitsbegriff der Neo-Tories war dem Freiheitsbegriff einer liberalen Provenienz diametral entgegengesetzt. Politische Freiheit im liberalen Sinne war demnach gar das Ergebnis eines Niedergangs von ‚wahrer‘ Freiheit. Als Verfallsymptom der modernen britischen Gesellschaft identifizierte Anthony Ludovici „the decline of liberty through the inevitable despotism of majorities, which results from the democratic régime.“186 Der Despotismus der Mehrheit verhindere wirkliche Freiheit. Dies klingt nach neoaristokratischer Elitenherrschaft. Ganz so einfach machten es sich die Neo-Tories allerdings nicht. Vielmehr setzten sie dem liberalen – vor allem politisch verstandenen – Freiheitsbegriff einen ökonomisch-sozial verstandenen Freiheitsbegriff entgegen. Aus dieser Perspektive war der moderne Mensch – also auch eine 21jährige Frau mit Wahlrecht – keineswegs frei und selbstbestimmt, sondern der anonymen Herrschaft des modernen Industriekapitalismus unterworfen. Der eigentliche Feind der Freiheit war aus dieser Sicht die Konzentration von Kapital und Produktionsmitteln in Hochfinanz und Großindustrie. Soziale und wirtschaftliche Freiheit seien endgültig mit dem Ersten Weltkrieg verschwunden, schrieb Charles Petrie in der Saturday Review. Um sie wieder zu genießen, müsse ein Brite heutzutage nach Italien oder Spanien oder nach Irland gehen.187 Freiheit im neo-toryistischen Sinne sei dagegen erst wieder in einem dezentralisiert-agrarischen, korporativ-distributiven Staat möglich. Einige Jahre später bündelte Petrie seine Einstellung zur Demokratie in einem Brief an Arthur Bryant: „Here are two more definitions of democracy: ‚Progress under the best

185 Democracy

and Patriotism. Prime Minister’s Speech. An Appeal to Youth, The Times, 12. 3. 1928. Vgl. dazu auch Democracy on Trial. Mr. Baldwin’s Appeal, The Times, 22. 10. 1931; Mr. Baldwin’s Appeal. Democracy on Trial, The Times, 9. 11. 1935. 186 Ludovici, Man. An Indictment, S. 214. 187 Charles Petrie, Liberty and the Modern State, Saturday Review, 15. 11. 1930.

120   4.  Neo-Toryismus als Weltanschauung and wisest‘ (Mazzini)[.] ‚An Aristocracy of roughs’ (Talleyrand). I prefer the latter!“188

4.2.3  „The system is not good in England, but in India it will be much worse“ – Demokratiekritik und die Rebellion gegen die Indien-Pläne der Regierung Die Opposition enttäuschter Konservativer richtete sich nach der verlorenen Wahl von 1929 vor allem gegen Parteichef Stanley Baldwin, dessen defensive „Safety First“-Kampagne für die Niederlage verantwortlich gemacht wurde.189 Die Divergenzen waren hingegen keineswegs rein taktischer Natur. Vielmehr sah sich die Parteiführung unter Baldwin auch nach dem Wahlerfolg 1931 und der Beteiligung am National Government unversöhnlicher Kritik vom rechten Flügel der Partei ausgesetzt. Charles Petrie schrieb in der Saturday Review, daß trotz konservativer Regierungsführung die englische Bevölkerung enttäuscht und desillusioniert sei: No one can go about in England today without hearing on all sides the wish that some man or a group of men would come forward with a national policy at home and abroad. Faith in the National Government has vanished, and no one outside official Conservative circles really believes that the result of the next Election will be other than a Socialist majority.

Es sei daher die dringliche Aufgabe der Konservativen, so fuhr Petrie fort, eine Regierungsübernahme der Faschisten oder Kommunisten zu verhindern, an die sich die englische Bevölkerung in ihrer Verzweiflung wenden könne. Der Konservatismus müsse nur die liberalen, pazifistischen und internationalistischen Doktrinen der Vergangenheit abschütteln und sich mit einem umfassenden nationalen Reformprogramm an die Wähler wenden, und schon sei ein Erfolg bei den Wahlen sicher.190 Innerparteiliche Opposition kam nicht nur von Rechtsintellektuellen wie ­Petrie. Der imperialistische diehard-Flügel der Konservativen Partei mobilisierte eine gegen die eigene Parteiführung gerichtete Interessenspolitik. Im Mittelpunkt standen dabei die diehard-Kernthemen Schutzzollpolitik und Indien. Auch organisatorisch formierte sich die parteiinterne Rechte neu. Der ehemalige Minister Leopold Amery gründete im Juli 1929 die Empire Economic Union. Die beiden press lords Lord Beaverbrook und Lord Rothermere riefen im Februar 1930 die United Empire Party ins Leben, und Henry Page Croft, der ehemalige Vorsitzende der kurzlebigen National Party, etablierte im Juli 1930 die Imperial Economic Unity Group.191 Beide Organisationen kooperierten und konnten eine nicht un188 Charles

Petrie an Arthur Bryant, 11. 7. 1937, Liddell Hart Centre for Military Archives, Bryant: E/3 1937. 189 Philip Williamson, „Safety First“. Baldwin, the Conservative Party and the 1929 Election, in: Historical Journal 25 (1982), S. 385–409. 190 Charles Petrie, Do Our Parties Mean Anything?, Saturday Review, 23. 9. 1933. 191 Larry L. Witherell, Sir Henry Page Croft and Conservative Backbench Campaigns for Empire, 1903–1932, in: Parliamentary History 25 (2006), S. 357–381; Philip Williamson, Na-

4.2  Systemkritik im Land der Mother of Parliaments   121

erhebliche Zahl von Abgeordneten in beiden Häusern des Parlaments für ihre Ziele gewinnen. Da sie darüber hinaus über die Zeitungen Morning Post, Daily Mail und Daily Express erheblichen öffentlichen Druck ausüben konnten, stellten sie eine ernstzunehmende Herausforderung für die Führung der Konservativen Partei dar. Im Sommer 1930 entschied sich die United Empire Party, in den anstehenden Nachwahlen eigene Kandidaten gegen Kandidaten der Konservativen aufzustellen. Einer sich abzeichnenden Niederlage in South Paddington im Oktober 1930 mußte Parteichef Baldwin mit Hilfe eines eilig einberufenen Treffens der Abgeordneten des Ober- und Unterhauses entgegentreten. Einen Rücktrittsantrag konnte Baldwin abwehren, doch es wurde zugleich deutlich, daß die innerparteiliche Opposition keineswegs gewillt war, aufzugeben.192 Einen vorläufigen Höhepunkt erreichte die Kampagne gegen Baldwin im März 1931, als die United Empire Party mit dem Motto „Empire Free Trade“ in einer Nachwahl in St. George’s in Westminster erneut einen eigenen Kandidaten nominierte.193 Der von der Partei­führung aufgestellte und erfolgreiche Kandidat Duff Cooper war sich im Rückblick sicher, daß Parteichef Baldwin bei einer Niederlage hätte zurücktreten müssen.194 Nach der Nachwahl spielte die United Empire Party nicht nur keine politische Rolle mehr, auch die Opposition gegen die Parteiführung suchte sich neue Kanäle. Mit dem Unabhängigkeitsstreben Indiens hatte sie dabei ein höchst symbolträchtiges Thema. Bis Mitte der dreißiger Jahre, als sich die Aufmerksamkeit der britischen Politik wieder auf den europäischen Kontinent und auf die Herausforderung durch das nationalsozialistische Deutschland richtete, war die Indienpolitik der Regierung MacDonald/Baldwin der zentrale Streitfall für die diehard-Konservativen. Für diese Männer, von denen viele selbst in Indien als Offiziere gedient hatten, war Indien nicht nur in einem abstrakten Sinn das ‚Juwel‘ des Empires. Indien war, so der Historiker John Ramsden „the pinnacle of ambition for the service classes of Great Britain, the guarantee of the survival of their life-style and their attitudes.“195 Der konservative Abgeordnete Patrick Donner schrieb in einem Artikel für die National Review im April 1933: „For one hundred and fifty years the best of each generation England could produce served India disinterestedly, faithfully and well. Thanks to the genius for government inherent in the British race, our ­administration stands as monument unrivalled almost in the history of the world.“196 Das Land war das romantisch überhöhte Herzstück des britischen Empires, der eigentlich Kern der Pax Britannica. Durch das Unabhängigkeitsstreben tional Crisis and National Government. British Politics, the Economy and Empire, 1926– 1932, Cambridge 1992, S. 122–132.; Webber, The Ideology of the British Right, S. 33 f. 192 Webber, The Ideology of the British Right, S. 35. 193 Ramsden, History of the Conservative Party. Bd. III, S. 311–314. 194 Duff Cooper, Old Men Forget, London 1953, S. 175. 195 Ramsden, History of the Conservative Party. Bd. III, S. 304. 196 Patrick Donner, Dangers of Surrender in India, in: National Review 100 (April 1933), S. 493–495, hier 493.

122   4.  Neo-Toryismus als Weltanschauung Indiens sahen die diehards daher das Empire insgesamt in seiner machtpolitischen und ideellen Substanz bedroht. „India must not become a second Ireland“, hieß es entschieden in einem Leserbrief an die Indian Empire Review im Februar 1934. Der Appell verdeutlicht in einem Satz die zornige Angst, die den imperialistischen Flügel der Konservativen Partei erfaßt hatte.197 Auf gar keinen Fall dürfe man den Fehler von Irland wiederholen, auch noch Indien in die Unabhängigkeit entlassen und somit den unweigerlichen Niedergang imperialer Größe und letztlich den Untergang des britischen Empires besiegeln. Tatsächlich war man zu diesem Zeitpunkt nur ein Jahr von jenem Government of India Act entfernt, das den Indern weitgehende Selbstverwaltung zusprach und als entscheidender Schritt auf dem Weg zur Unabhängigkeit zu sehen ist. Daß dieses Gesetz erst 1935 verabschiedet wurde, lag vor allem am konzertierten Widerstand der diehard-Konservativen, die sich in offenem Widerstand zu der Regierung MacDonald/Baldwin und deren auf Selbstverwaltung und Föderalismus setzenden Indienpolitik befanden. Das Thema Indien mobilisierte – wie zuletzt die Irland-Frage 1922 – Anfang der dreißiger Jahre noch einmal den gesamten imperialistischen Flügel der Konservativen Partei. Lord ­Sydenhams Indian Empire Society und Henry Page Crofts India Defence Committee schlossen sich im Frühjahr 1933 zur India Defence League zusammen, in der sowohl die parlamentarische als auch die außerparlamentarische Opposition gegen die Regierungspläne organisiert wurden. Prominente Konservative wie Lord Lloyd und Winston Churchill attackierten die Koalitionsregierung und die Parteiführung der Konservativen in den frühen dreißiger Jahren mit aller Entschiedenheit. Publizistische Unterstützung bekamen die diehards von der eigens gegründeten Indian Empire Review, sowie von der National Review, der English Review, der Saturday Review und dem Patriot als auch von den konservativen Tageszeitungen Morning Post, Daily Mail und Daily Express.198 Die Opposition gegen die IndienPolitik der Regierung wurde so einerseits zu einem Kristallisationspunkt eines seit dem Vorabend des Ersten Weltkriegs für Unruhe sorgenden Radikalkonservatismus, andererseits aber auch dessen letzte ‚Schlacht‘. Denn mit der Niederlage der diehard-Konservativen 1935 verlor der imperiale, radikalkonservative Flügel der Partei massiv an Einfluß und Bedeutung.199 Die Geschichte der politischen Niederlage der imperialistischen diehards über Indien ist gut dokumentiert.200 Hinsichtlich der Neo-Tories ist sie vor allem we197 Indian

Empire Review 3 (Februar 1934), S. 79. The Ideology of the British Right, S. 40–42. 199 Ramsden, History of the Conservative Party. Bd. III, S. 336. 200 Vgl. Pugh, „Hurrah for the Blackshirts“, S. 177–194. Vgl. auch Andrew Muldoon, Empire, Politics, and the Creation of the 1935 India Act. Last Act of the Raj, Farnham 2009; Ian St. John, Writing to the Defence of Empire. Winston Churchill’s Press Campaign Against Constitutional Reform in India, 1929–1935: in Chandrika Kaul (Hrsg.), Media and the British Empire, Basingstoke 2006, S. 104–124; John Charmley, Lord Lloyd and the Decline of the British Empire, London 1987; Carl Bridge, Holding India to the Empire. The British Con198 Webber,

4.2  Systemkritik im Land der Mother of Parliaments   123

gen der unerbittlichen Demokratiekritik von Bedeutung, die im Zusammenhang mit dem Entkolonialisierungsprozeß von den publizistischen Unterstützern der Indienkampagne hervorgebracht wurde. Gerade Anfang der dreißiger Jahre war die Einführung von Selbstverwaltung und Demokratisierung Indiens für viele Konservative unbegreiflich. Sie sahen dadurch die Ordnung und Stabilität des ganzen Kontinents gefährdet.201 In einem Leserbrief an die Indian Empire Review heißt es im Oktober 1932: „Why should we try and thrust Western democracy on the East at a time when Western nations, one after another, are turning their backs on democracy as both unintelligent and incoherent?“202 In der Indiendebatte artikulierte sich die ganze Verachtung gegenüber dem ­System der Demokratie, wie sie im innenpolitischen Diskurs selten an den Tag gelegt wurde. Teilweise vermischte sich dies mit einer rassistischen Patronagehaltung. Dabei ging es nicht nur darum, ob der Inder ‚reif‘ für die Demokratie war. Vielmehr dominierte das Gefühl, daß die Indienpolitik der Regierung grundsätzlich gegen einen historischen antidemokratischen Trend verstoße: „Democracy is bankrupt“, postulierte ein Kommentator in der Indian Empire Review im Mai 1934: It has been superseded for incompetence in Italy and Germany; America is the most criminal country in the world and is swayed by gangs of criminals. […] Democracy spells corruption; the elected bribe the electors, and the electors blackmail the elected. That is the precise situation to-day in France. The moment is not for an extension of democracy – least of all in India, for democracy without honesty is anarchy and the world is now suffering not merely from an economic, but also from a moral crisis. […] Res eodem modo conservantur quo generantur, which means that India is the creation of the Pax Britannica, with its even-handed justice and practical wisdom; remove the creating influence and India will not subsist.203

Aufschlußreich ist auch die Dialektik mit der argumentiert wurde. Was in der westlichen Welt schlecht sei, würde in Indien katastrophale Folgen haben, so eine gängige Ansicht. Überall auf der Welt zeige sich, so auch Henry Page Croft, welch ein Fehler die Einführung des demokratischen Systems war, doch in Indien sei die Gefahr noch dramatischer: „The failure of democracy on a country like Ceylon is like a fire on a small island, but in India it would mean disaster to one-fifth of the human race […]“.204 In Europa verabschiede sich bis auf Großbritannien ein servative Party and the 1935 Constitution, London 1986; Karugahally Veerathappa, British Conservative Party and Indian Independence, New Dehli 1976. 201 Lord Sydenham of Combe schrieb in der Indian Empire Review: „Lastly our tremendous responsibility extends not only to the teeming millions of India, whose welfare and orderly progress depend absolutely on the maintenance of the British authority, but to the Empire and the civilized world.“ Lord Sydenham of Combe, The Tragedy of India, in: Indian Empire Review 1 (August 1932), S. 23–32, hier 31. Vgl. auch Donner, Dangers of Surrender in India. 202 Leserbrief von E.L. Oliver, Indian Empire Review 1 (Oktober1932), S. 51. 203 „Tiresias“, The mad White Paper on India, Indian Empire Review 3 (Mai 1934), S. 206. 204 Henry Page Croft, The Salvation of India, Saturday Review, 4. 11. 1933. Ein weiteres Argument war die „rassische“ Vielgestaltigkeit und das indische Kastensystem, die einer Demokratisierung im Wege stehen würden. Henry Page Croft erklärte „Democracy, wherever attempted in the East, has proved a complete failure. If it cannot succeed in small homogenous countries, it cannot succeed in India with numerous races and religious and thousands of castes which are the antithesis of democratic success.“ Vgl. The White Paper Criticised, The Patriot, 11. 1. 1934.

124   4.  Neo-Toryismus als Weltanschauung Land nach dem anderen von der Demokratie, so die Argumentation der diehards. Während man sich aber in Großbritannien an die Schwächen des System gewöhnt und gelernt habe, sich ‚durchzuwursteln‘ („muddling along“), gebe es eine solche Tradition in Indien nicht. Gegenüber der indischen Bevölkerung stehe man daher in der Verantwortung. Es sei geradezu Großbritanniens Pflicht, die ‚wuselnde Masse‘ vor der Demokratie zu schützen: The system is not good in England, but in India it will be much worse. After all here we are used to it; we are accustomed to muddling along; we have a certain aptitude for improvisation and we are, on the whole, a decent crowd. In the course of generations we have become to some extent immune to the bacilli. We have developed resistant powers to the inefficiency of our Government, and have learnt to do in a cumbrous and stumbling manner things which a competent Government would do for us, and thus leave us more time to get on with our own jobs. The peoples of India have not passed through such an experience. They expect their Government to govern.205

Besonderen Zorn erregte auf Seiten der diehards das sogenannte White Paper. Der Regierungsentwurf faßte die über mehrere Konferenzen entstandenen Vorschläge für eine demokratisierende Reform in Indien zusammen und bildete die Diskussionsgrundlage für den India Act von 1935.206 Das White Paper, so Patrick ­Donner, vergesse diese Pflicht gegenüber den Menschen. Die entsetzlichen Bedingungen, die eine quasi-demokratische Verfassung zur Folge hätte, würden die bolsche­ wistischen Revolutionäre, die nun in Indien am Werk seien, nur zu gerne ausnutzten. Diejenigen, die das Papier entworfen hätten, haben offensichtlich den Glauben an sich selbst, an das Genie der englischen Rasse, mit Überparteilichkeit und Integrität zu regieren, verloren.207 Um der „Indian tragedy“ zu entkommen, forderte Dorothy Crisp in der Saturday Review lautstark: „Impose the Pax Britannica!“. „For the peace of the world there is but one hope. A strong, united, dictatorial British Empire could impose peace upon the nations, without outside help or interference, and it is its duty to do so.“ Statt das Ziel eines ‚diktatorischen‘ britischen Empire entschieden zu verfolgen, hätten die Politiker seit dem Ende des Ersten Weltkriegs keinerlei Mut gehabt, diese Verantwortung auf sich zu nehmen, und hätten stattdessen die Macht des Empire beschnitten. Sie hätten desintegrative Tendenzen geduldet und Irland, Ceylon und Indien in ein internes Chaos geschleudert, zu deren eigenem Unglück und mit dem Resultat des Verlusts des Ganzen.208 Einer, der die britische „Duty to India“ besonders ernst genommen hatte, war Viscount Lymington. Auch er verurteilte das White Paper mit zutiefst antidemokratischen Argumenten.209 Dabei hatte er in seinem Ziel, eine Demokratisierung Indiens zu verhindern, Verbündete in Indien selbst gefunden: die indischen Für205 Allen,

Changes since 1919, S. 21. Vgl. auch „Custos“. India. Our Moral Obligation, Indian Empire Review 1 (Dezember 1932), S. 39 f. 206 Vgl. hierzu Muldoon, Empire, Politics, and the Creation of the 1935 India Act. 207 Patrick Donner, India in Peril, Saturday Review, 27. 1. 1937. 208 Dorothy Crisp, Impose the Pax Britannica!, Saturday Review, 21. 7. 1934. 209 Vgl. Viscount Lymington, Our Duty to India, in: Indian Empire Review 3 (Dezember 1934), S. 495–497.

4.2  Systemkritik im Land der Mother of Parliaments   125

sten. Anders als die unter direkter britischer Verwaltung stehenden Provinzen hatten die Fürstenstaaten Verträge mit Großbritannien, die unterschiedliche ­Grade lokaler Autonomie erlaubten. Jeder Staat hatte seinen eigenen Herrscher, eigene Gesetze und Feiertage, war nominell unabhängig, stand jedoch unter bri­ tischem Schutz. Ohne die Zustimmung der Prinzen waren die Föderationspläne der Regierung in Gefahr.210 Lymington betrachtete die indischen Fürsten, die zu diesem Zeitpunkt immerhin 40% des Landes und ein Viertel der Bevölkerung regierten, nicht nur als Verbündete im Kampf gegen die Demokratisierung In­ diens, sondern sah auch umgekehrt in den indischen Prinzen ein Vorbild für das ganze Empire. Die indischen Prinzen seien, so Lymington in einem Memorandum, „not only the keystone of our Empire in India, but of the utmost importance for the recreation of English Kinship which remains as a tradition in the hearts of Englishmen but which has been abandoned in the practice of English Government.“211 Das Vorbild der indischen Provinzfürsten für eine Wiedereinführung der absoluten Monarchie in England entsprach den politischen Extremforderungen der English Mistery, die Lymingtons politisches Denken und Handeln maßgeblich prägte. Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, daß er im Februar 1934 auf dem Höhepunkt der Indiendebatte aus Protest gegen die Regierungspolitik von seinem Amt als Abgeordneter für Basingstoke zurücktrat.212 Lymington war einer der radikalsten konservativen Abgeordneten, die die Konservative Partei Großbritanniens je hatte, und die Gründe für seinen Rücktritt sind entsprechend vielseitig. Gleichwohl war die Indienpolitik der Regierung jener Tropfen, der das Faß zum Überlaufen brachte.213 Die Saturday Review würdigte den Rücktritt Lymingtons als ehrenhafte Entscheidung und druckte ein Manifest Lymingtons, in dem er erklärte: „It has become clear that to be uncompromising on principles whether on India, defence or home politics is to be unable to adapt oneself to this party.“214 Lymingtons Rücktritt als Abgeordneter bedeutete jedoch keineswegs, daß er sich im politischen Kampf um Indien geschlagen gegeben hatte, im Gegenteil. 210 Vgl.

hierzu Ian Copland, The Princes of India in the Endgame of Empire 1917–47, Cambridge 1997, S. 13 f. 211 Viscount Lymington, Notes on the Indian Position in Relation to the Princes, Undatiertes Memorandum, Wallop Papers (Gerald Vernon Wallop, 9th Earl of Portsmouth), Hampshire Record Office, Winchester, 15 M84 F 421. 212 Für das Conservative Central Office war der Rücktritt „a complete surprise“. Vgl. Lord Lymington, M.P., to resign, The Times, 15. 2. 1934. 213 Aus der Politik zog er sich allerdings nicht zurück, und als sein Vater im Jahr 1943 starb, trat er dessen Nachfolge als Earl of Portsmouth im britischen Oberhaus an. Vgl. Lymington, A Knot of Roots, S. 201. 214 Saturday Review, 24. 3. 1934. Im Evening Standard wurde Lymingtons Rücktritt auch mit seiner Aktivität für die Organisation English Mistery in Verbindung gebracht und dabei Charles Petrie ebenfalls als Mitglied bezeichnet, woraufhin sich dieser um eine Gegendarstellung bemühte, die dann auch erfolgte: „My comments on Lord Lymington and the ‚English Mistery‘ have called forth a protest from Sir Charles Petrie, who asks me to state that he is not, and never has been, connected with the Mistery in any way.“ Ebd., 17. 2. 1934.

126   4.  Neo-Toryismus als Weltanschauung Direkt nach seinem Rücktritt reiste Lymington als ein Repräsentant der India ­Defence League nach Indien, um den Widerstand der indischen Provinzfürsten gegen die britischen Verfassungsvorschläge zu organisieren. Auf einer sechs Wochen dauernden Reise traf er zusammen mit seinem Reisepartner, Jack Courtauld, eine ganze Reihe der indischen Fürsten, die ihn festlich empfingen, obwohl er weder ein Amt noch sonst eine offizielle Funktion bekleidete. Am Ende einer einwöchigen Konferenz in Lahore kam es schließlich zu einer Unterzeichnung einer Protestnote gegen das White Paper durch sieben Fürsten, die laut Lymington 80 Prozent der Chamber of Princes repräsentierten.215 Da für die geplante föderale Verfassung die Ratifizierung der Prinzen notwendig war, gelang es ihm, die britische Regierungsposition zu unterminieren. Letztlich war dies ein Kampf auf verlorenem Posten, und Lymington wie Courtauld waren sich dessen bewußt. In ­einer Rede im House of Commons erklärte Courtauld, daß ihnen von Anfang an von offizieller Seite Steine in den Weg gelegt und u. a. auch die indischen Fürsten vor den beiden „mavericks from England“ gewarnt worden seien. Courtaulds Verdacht fiel dabei insbesondere auf den Vizekönig in Indien, Lord Willingdon. Dieser habe den Fürsten gesagt, daß es sehr unklug und ein massives Risiko sei, die beiden aufzunehmen. Der Vizekönig habe daraus auch kein Geheimnis gemacht. Er habe ihm bei einem Treffen persönlich erklärt: „You fellows are coming out here to try to put another case to the Princes. We have got to get them in. I have been spending my time trying to persuade them to come in, and you fellows are coming out and are trying to upset my applecart, but you cannot do it.“216 Diese Stellungnahme im Parlament war für die Regierung eine Provokation. Sie implizierte, daß die britische Regierung erhöhten und unangemessenen politischen Druck auf die indischen Fürsten ausüben mußte, um ihr Ziel zu erreichen. Es war Stanley Baldwin selbst, der in einer Stellungnahme im Parlament einen Tag später Courtaulds Zitat von Lord Willingdon als unwahr und als Verleumdung darstellte. Lymington und Courtauld hingegen beharrten in Briefen an die Times und Saturday Review auf ihrer Position.217 215 Viscount

Lymington, Notes on the Indian Position in Relation to the Princes, Undatiertes Memorandum, Wallop Papers (Gerald Vernon Wallop, 9th Earl of Portsmouth), Hampshire Record Office, Winchester, 15 M84 F 421. 216 House of Commons Debates, 11. 12. 1934, Vol. 296, cc290. 217 Vgl. The Times, 5. 1. 1935. Die Herausgeberin der Saturday Review, Lady Houston, machte Lymingtons and Courtaulds Standpunkt zu dem ihrigen. In einem Artikel zum „Verrat an Indien“ erklärte sie: „An independent Conservative, who visited India at the invitation of the Princes, described in the House of Commons on the 11th December last what he had himself seen and what he had been told by the Princes and by the Viceroy. There came, of course, the official denial. It was inevitable, but it was not less convincing. The members of the House of Commons, knowing Major Courtauld, could hardly have supposed that he invented the story; in India it is common knowledge that his report was entirely accurate. From our own knowledge, we assert again, without any fear of contradiction, that the ­Princes are being subjected to this pressure, which it is neither easy nor pleasant for them to ­resist. And while they are thus being pressed along a path of which they see the hideous danger, the British public are being told that it is quite safe because the Princes lead the way.“ Lady Houston, The Betrayal of India, Saturday Review, 12. 1. 1935.

4.2  Systemkritik im Land der Mother of Parliaments   127

Erfolgreicher als in seinen letztlich gescheiterten Bemühungen, die indischen Prinzen auf seine Seite zu bringen, war Lymington bei der Bestimmung seines Nachfolgers für sein Abgeordnetenmandat. Trotz seines Rücktritts gelang es ­Lymington, seinen politischen Favoriten für den Wahlkreis zu bestimmen. Auch dabei spielte Indien eine große Rolle. Nachdem der erste Kandidat, der Antisemit und spätere Nazisympathisant Henry Drummond-Wolff, nach nur einem Jahr aus Gesundheitsgründen zurückgetreten war, wurde 1935 Patrick Donner konservativer Abgeordneter für Basingstoke. Donner hatte schon in seinem ersten Wahlkampf gegen den Labour-Abgeordneten und früheren Indienminister Edwin Montagu durch seine kompromißlos antisozialistische Kampagne auf sich aufmerksam gemacht. In seinen Erinnerungen schrieb er: „When I spoke of communism, hatred was in my heart. I was fighting the ultimate evil.“218 Donner hatte gute Verbindungen zu anderen jungen Rechtsaußen in der Konservativen Partei, wie Lennox-Boyd und Duncan Sandys, stand Lady Milner, der Herausgeberin der National Review, sehr nahe219 und war in der India Defence League aktiv. Lymington hatte Donner offensichtlich gewarnt, daß ihm angesichts seiner Indienpolitik mit der Übernahme seines Wahlkreises die Feindschaft der konservativen Parteiführung sicher sei, ihm zugleich aber auch seine Hilfe angeboten.220 Tatsächlich hatten die Vertreter des Parteizentrums, die Baldwinites, die diehards im Griff. Baldwins Politik des „Safety First“, die angesichts der drängenden Probleme auf innerbritische Reformen setzte und in Indien zu weitreichenden Zugeständnissen bereit war, wurde von der Mehrheit der britischen Abgeordneten unterstützt. Gerade auch hinsichtlich der Dynamik des indischen Autonomieprozesses war die realpolitische Haltung des National Government nicht nur ­rationaler und wirklichkeitsnaher, sondern mit Blick auf den begonnenen demokratischen Reform- und Partizipationsprozeß, der durch die Teilnahme indischer Soldaten im Ersten Weltkrieg beschleunigt worden war, auch nur konsequent. In einem illusionslosen Artikel „Shall we lose another Continent“ in dem Unterhaltungsblatt Nash’s Pall Mall Magazine tritt diese Position deutlich hervor: „British Democracy at the steering wheel knows well enough what happens to the work if you slip into reverse gear when the vehicle is running forward. Britain cannot now turn back. As Mr. Baldwin, the Conservative leader, has said: ‚We have impregnated India ourselves with Western ideas, and for good or ill we are reaping the fruits of our work.‘“ Das hätten Churchill, Lord Lloyd, Lord Brentford und andere Imperialisten aber noch nicht begriffen.221 In der Tat kämpften die Parteirebellen auf verlorenem Posten. 1935 wurden durch den Government of India Act Wahlen zu Provinzparlamenten in die Wege

218 Patrick

Donner, Crusade. A Life against the Calamitous Twentieth Century, London 1984, S. 74. 219 Vgl. Kapitel 2.2. 220 Donner, Crusade, S. 159. 221 Shall we Lose Another Continent, Nash’s Pall Mall Magazine, Juli 1931, S. 82.

128   4.  Neo-Toryismus als Weltanschauung geleitet, die der Indische Nationalkongreß im Jahr 1937 in sechs von elf Provinzen gewann. Indien erlangte unter dem Namen „Indische Union“ 19 Jahre später am 15. August 1947 die Unabhängigkeit von Großbritannien, ohne das es dabei zu einem erneuten Aufstand des imperialistischen Flügels gekommen wäre. Während Winston Churchill mit dem Kampf gegen die Appeasement-Politik Mitte der dreißiger Jahre ein neues Thema gefunden hatte, war der eigentliche imperialistische diehard-Flügel mit dem Government of India Act von 1935 politisch am Ende. Die Gründe für das Scheitern sind vielseitig. Von Anfang an war den Parteirebellen bewußt, daß sie als eine Minderheit gegen die Regierung angingen. Zu Beginn des Jahres 1932 war Charles Petrie, der einen engen, wenn auch nicht freundschaftlichen Kontakt zu Lord Lloyd unterhielt, noch optimistisch hinsichtlich eines Erfolgs der Rebellen als einer radikalen Avantgarde: There seems to be a certain amount of restrained optimism about since the new year, and the arrest of Gandhi is acting as a tonic. Personally, I am an optimist because I believe that we shall pull through in spite of the Government, not on account of it. I don’t believe that in this country we shall ever have a Government worth a damn, because the majority of English people are hypocritical sentimentalists, but with any luck the minority will prove strong enough to prevent the Empire being completely ruined.222

Allerdings zeigte sich schon bald, daß auch diese Minderheit, der imperialistische Flügel selbst, keineswegs einheitlich auftrat. Gemäßigte Imperialisten wie Leo Amery schlossen sich der Rebellion nicht an. Auf den Parteiveranstaltungen, auf denen das rhetorische Feuer von Churchill oder Lord Lloyd hätte zünden sollen, passierte nicht viel. Die Regierungspositionen wurden zwar gegen Widerstand, aber letztlich ungefährdet verabschiedet.223 Neben dem Problem der Minderheitenposition lag ein weiterer Grund des Scheiterns darin, daß eine Reihe von NeoTories den Aufstand gegen die Indienpolitik der Regierung nur halbherzig unterstützte. Zum einen hing über ihren politischen Vorstellungen immer das Primat der Innenpolitik, und zum anderen diente mit dem mittelalterlichen Merry England ja gerade eine Zeit vor dem Empire als mythisches Leitbild. In ihrem antiwhiggistischen Geschichtsbild war das Empire mit dem Makel eines liberalistischen Materialismus behaftet. Eine reine Verteidigung des Status quo war somit aus ihrer Sicht sinnlos – zunächst galt es die Kräfte des englischen Mutterlandes zu revitalisieren. Für Douglas Jerrold etwa spielte Indien nur eine untergeordnete 222 Tagebücher

Charles Petrie, 5. 1. 1932. etwa den Bericht Petries von einem konservativen Parteitag im Oktober 1932: „Spent the morning at the Conference, which began with a good fighting speech by Neville Chamberlain. The principal item on the agenda was the criticism of the Government’s Indian policy, which was to have been supported by Winston. The meeting at first was in favour of it, but Lloyd made a poor speech, far too apologetic, and although Hoare was too deadly for words, the Central Office carried the day.“ Tagebücher Charles Petrie, 6. 10. 1932. Bereits im Vorfeld des Parteitags in Blackpool hatte Petrie die Unentschiedenheit der führenden Indien­ rebellen Lord Lloyd und Winston Churchill beklagt „Lloyd writes to say that Winston never consulted him about the Indian motion he has tabled for Blackpool, so he is not going to the conference. Now Winston is ill, and cannot go either. All this is very silly, and it is just like little boys ringing front door bells, and then running away.“ Tagebücher Charles Petrie, 15. 9.  1932.

223 Vgl.

4.2  Systemkritik im Land der Mother of Parliaments   129

Rolle, und er sah in der Indienrebellion der diehards eine lediglich reaktionäre Verteidigung der alten Verhältnisse. Aus seiner Sicht war es ‚donquichotisch‘ und verschwendete Energie, gegen die Indienpolitik der Regierung Sturm zu laufen. Zwar hätte das Empire einen guten Slogan abgegeben, doch „the movement was bound to fail, because it meant nothing to the youth of the party, who want a social policy.“ Die Politik der India Defence League sei vor allem die Agitation von indischen Prokonsuln, Händlern, ehemaligen Soldaten und Beamten.224 Petrie war zwar entschieden gegen die Indienpolitik der Regierung, doch auch er hielt den Kampf dagegen für einen ärgerlichen Nebenkriegsschauplatz.225 Nachdem Lord Lloyd und andere diehards den Antritt von Winston Churchills Sohn Randolph in einer Nachwahl im Liverpooler Stadtteil Wavertree als Independent Conservative gegen die Indienpolitik der Regierung unterstützt hatten, kam es zu heftigen Auseinandersetzungen innerhalb der Partei. Randolph Churchills Kandidatur hatte bei der Nachwahl am 6. Februar 1935 dem offiziellen konservativen Kandidaten die entscheidenden Stimmen gekostet und zur Wahl des Labour­ kandidaten geführt.226 Für ihre Unterstützung sollten Lloyd und andere Partei­ rebellen zur Rechenschaft gezogen werden. Petrie sollte vermitteln, doch war er des Streits schnell überdrüssig und zog sich schließlich am 12. Februar 1935 ganz von der Parteiarbeit zurück.227 Obwohl für Douglas Jerrold und seinen Zirkel Indien nie eine ähnlich entscheidende Rolle gespielt hatte, verloren sie aber doch mit der Niederlage der diehards einen wichtigen und mächtigen Bündnispartner. Wie die diehard-Konservativen zielten die Neo-Tories auf eine Ablösung der Parteiführung und auf einen inhaltlichen Neuanfang, doch die diehards vertraten im wesentlichen eine radikale konservative Interessenspolitik. Damit gaben sich die Neo-Tories nicht zufrieden. Für sie war nicht Parteichef Baldwin an sich das Problem, sondern lediglich die Verkörperung des Problems. Ihnen ging es um eine intellektuelle und spirituelle Wiederbelebung des Konservatismus im Sinne eines true conservatism. Die Opposition gegen die Führung der Konservativen Partei wurde bei den Neo-Tories zum Fokus einer umfassenden nationalen Erneuerung. Bevor der Kern des neo-toryistischen Projekts, die programmatischen Schriften, die sich mit true conservatism beschäftigten, im nächsten Kapitel genauer analysiert wird, soll noch einmal ein ‚Indien-Rebell‘ zu Wort kommen, um zu verdeutlichen, welchen Stellenwert der Zäsur 1935 zugeschrieben wurde. In ­seinen Erinnerungen zieht Patrick Donner 1984, inzwischen längst zum Ritter geschlagen, einen von imperialer Melancholie geprägten Brückenschlag von der Niederlage der diehards 1935 zum Falklandkrieg unter Margaret Thatcher. Sobald Indien verloren war, sei die Auflösung des British Empires unvermeidbar gewesen. Mit dem Verlust des Empires habe Großbritannien seine raison d’être verloren und 224 Jerrold,

Georgian Adventure, S. 346. Chapters of Life, S. 130 f. 226 Chris Cook und John Ramsden, By-Elections in British Politics, London 1973, S. 90 f. 227 Vgl. Tagebücher Charles Petrie, 31. 3. 1935–12. 2. 1935. 225 Petrie,

130   4.  Neo-Toryismus als Weltanschauung ein Gefühl sei aufgekommen, daß man auch den Status von Dänemark oder Belgien für Großbritannien akzeptieren könne. Doch die Aufgabe der imperialen Größe habe schwerwiegende Implikationen gehabt. Niemals hätte es zur Blütezeit des Empires ein südamerikanischer Diktator gewagt, die Falklandinseln zu besetzen. Daß inzwischen so etwas passieren könne, sei eben die historische Strafe für „our decline in status and in power.“228

4.3  True Toryism – Visionen eines radikalen Konservatismus in Opposition zur Konservativen Partei Was ist ‚wahrer‘ Konservatismus im 20. Jahrhundert? Kann ein true Toryism im Zeitalter der Massendemokratie überhaupt formuliert werden, und wenn ja, ­welche Implikationen hätte das? Der berühmte britische Historiker A.J.P. Taylor hat in einem Essay von 1950 eine polemische Antwort auf diese Frage gefunden. Demnach sei der ‚wahre‘ Konservatismus mit der Glorious Revolution von 1688 untergegangen: „True Toryism perished in 1688 or, at any rate, with the Hanoverian succession: What sense had ‚Church and King‘ in the age of latitudinarian bishops and German princes? […] If Toryism means anything, it rejects the ­sovereignty of parliament and the doctrine of Social Contract, which underlay the revolution of 1688.“229 Tatsächlich habe der reale Toryismus und schließlich die Konservative Partei aber nichts anderes getan, als die „Whig achievements“ der vorherigen Generation und den durch den liberalen Reformprozeß entstandenen Status Quo immer wieder neu zu verteidigen. Angesichts der fortschreitenden liberalen Verfassungsentwicklung war demnach realer Konservatismus ­sowohl Status-quo-Konservatismus als auch Reformkonservatismus, denn er ­basierte immer wieder neu auf dem politisch Entstandenen und suchte es zu ­bewahren. Die hier untersuchten Publizisten und Politiker hätten dieser Bestandsaufnahme Taylors sicher zugestimmt. Tatsächlich sind die konservativen Positionsbestimmungen der zwanziger und dreißiger Jahre vor allem eine Abrechnung mit dem als ‚liberal‘, ‚sozialistisch‘ oder ‚materialistisch‘ titulierten ‚Reform-Konservatismus‘, der von der liberalen oder gar von der Labour-Partei nicht mehr zu ­unterscheiden sei. Entsprechend radikal war die Schlußfolgerung. Wenn true Toryism 1688 aufgehört habe zu existieren, dann müsse sich eine Wiederbelebung an der Zeit vor 1688 orientieren. Entsprechend sind die Konservatismus-Schriften der zwanziger und dreißiger Jahre in der Tat eine eigentümliche Mixtur aus dem intellektuellen Bestreben, Ideen und Strukturen einer vormodernen Zeit für die Moderne fruchtbar zu machen, und einer Abwehrhaltung gegen alles, was aus neo-toryistischer Sicht die Zeit nach der Zäsur von 1688 ausgemacht hat. Dies zeigt sich in den vielen Antiideologemen: Die Neo-Tories waren antiliberal, anti228 Donner, 229 A.J.P.

Crusade, S. 132. Taylor, Tory History, in: Ders., Essays in English History, London 1976, S. 18.

4.3  Vision eines radikalen Konservatismus in Opposition   131

sozialistisch, antikapitalistisch, antiurban, antifeministisch und auch antisemitisch – einem reinen Ursprung wurden die vielen modernen Fehlentwicklungen entgegengesetzt. Zweifellos entstand das Credo der Neo-Tories nicht im luftleeren Raum, sondern war seinerseits geprägt von den Bedingungen der Moderne. Den Neo-Tories war bewußt, daß sich nicht einfach die politische Verfassung und Gesellschaftsordnung des frühen 17. Jahrhunderts oder gar des Mittelalters auf die englische Industrie- und Konsumgesellschaft der dreißiger Jahre würden überstülpen lassen. Andererseits waren die Rekurse auf Merry England, auf ein goldenes Zeitalter vor der Industriellen Revolution nicht nur romantische Träumereien, sondern politisch ernstgemeint. Sie dienten als intellektuelle Absicherung, als historischer Anker in einer politischen Abwehrschlacht gegen Liberalismus und Sozialismus auf der einen und dem als „unenglisch“ wahrgenommenen Faschismus auf der anderen Seite. Der geschichtliche Rekurs und die Infragestellung von 250 Jahren liberaler Fehlentwicklung dienten der intellektuellen Wappnung gegen die als dominant wahrgenommene liberal-sozialistische ‚Intelligenzija‘ sowie der Vergewisserung, daß man keineswegs das italienische oder deutsche Modell zu kopieren hatte, denn der ‚korporative Staat‘ ließ sich (mit etwas historischer Phantasie) auch in der eigenen Geschichte finden. In diesem Kapitel soll gezeigt werden, wie sich diese konservativen Theoretisierungsbemühungen am rechten Rand der Konservativen Partei in den dreißiger Jahren ideell und organisatorisch gestalteten. Es geht dabei letztlich um die politische Suche einer Gruppe Intellektueller und ihnen verbündeter Politiker nach ­einem Befreiungsschlag aus der Defensive, in die sie sich durch die politische ­Moderne gedrängt sahen. Daß die Konservative Partei Wahlen gewann und einen großen Teil der Bevölkerung dauerhaft an sich binden konnte, befriedete die NeoTories dabei keineswegs. Ihre Suche nach konservativer ‚Essenz‘ frei von liberalsozialistischer Trübung, von reformkonservativem Kompromiß und von ‚unenglischen‘ Ideen verlief weitgehend unabhängig vom politischen Tagesgeschäft. Das eigentliche politische Ziel war eine neue radikalkonservative Bewegung, die – so die meisten Ausführungen – aus der Konservativen Partei entstehen sollte. Der erste Schritt bestand zunächst darin, intellektuelles Terrain wiederzubesetzen, den Konservatismus als geistige Kraft aufzustellen und den Kampf gegen die Vorherrschaft des liberal-sozialistischen Gedankentums aufzunehmen. Es ging darum, so Keith Feiling, „to recall the existence of a Conservatism superior in age and vitality to the Conservative party; to sketch its component principles; to discover the present enemy of those principles; and to claim that for those principles there still exists a future which the existing party may, or may not, realize.“230 Diese Wiederbelebung konservativer Prinzipien blieb den „intellectual forces of the Right“ überlassen, so Douglas Jerrold. Von der Parteileitung erhoffte er sich keine Unterstützung. „The Central Office has anaesthetised Conservatism into a coma.“231 230 Keith

Feiling, What is Conservatism?, 231 Jerrold, Georgian Adventure, S. 315.

London 1930, S. 5.

132   4.  Neo-Toryismus als Weltanschauung

4.3.1  Die Wiederbelebung des Konservatismus als intellek­ tuelle Kraft: Criterion, Ashridge, Right Book Club Der Wunsch, mit einer konservativen Avantgarde jenes intellektuelle Territorium zurückzugewinnen, das man von den Liberalen und Sozialisten besetzt sah, war bereits direkt nach dem Krieg eine treibende Kraft des rechtsintellektuellen ­Milieus. Von großem Einfluß war die politische Philosophie des 1917 im Krieg gefallenen Autors T.E. Hulme, dessen Werk zum großen Teil erst posthum ver­ öffentlicht wurde.232 Hulme hatte 1914 Sorels Réflexions sur la violence ins Englische übersetzt und entwickelte, auf Sorels Theorien aufbauend und von Denkern der Action Française beeinflußt, seine eigene „Tory Philosophy“.233 Hulmes ­fundamentale Kritik des humanistischen Menschheitsideals, seine Verurteilung des liberalen Fortschrittsgedankens und schließlich sein radikaler religiöser ­Konservatismus beeinflußten eine Reihe literarischer Größen wie W.B. Yeats, Ezra Pound, James Joyce und Wyndham Lewis.234 Von besonderer Bedeutung war Hulmes Gedankengut für den späteren Nobelpreisträger T.S. Eliot. Bewundernd beschrieb er Hulme als „classical, reactionary and revolutionary […] the antipode of the eclectic, tolerant mind of the last century.“235 1922 gründete Eliot das Magazin Criterion – laut Eigenwerbung eine Plattform für die politische Philosophie eines ‚reinen‘ Toryismus.236 Obwohl der Criterion vornehmlich ein Literatur­ magazin war, rückte insbesondere nach 1926 der politische Kommentar in den ­Vordergrund. Eliot sah es geradezu als Aufgabe der literarischen Avantgarde, sich ­politisch zu äußern – insbesondere angesichts der welthistorischen Ereignisse der letzten zehn Jahre, womit er vor allem die Russische Revolution und der Aufstieg Mussolinis meinte. „All these events compel us to consider the problem of Liberty and Authority, both in politics and in the organisation of speculative thought. Politics has become too serious a matter to be left to politicians.“237 Aus tagespolitischen Fragen hielt sich der Criterion weitgehend heraus. Das ­Interesse Eliots und seiner Mitstreiter galt – neben literarisch-ästhetischen Problemen – den übergeordneten weltanschaulichen Fragestellungen. Von über­ ragender Bedeutung war dabei die Frage nach einer Antwort des christlichen Abendlandes auf die Herausforderung der russischen Revolution. Hier sah sich der Criterion als Teil einer intellektuellen europäischen Avantgarde. Gemeint war damit ausdrücklich nicht ein Internationalismus im sozialistischen Sinne, nicht die emotionale Verbrüderungsidee eines Romain Rolland und schon gar nicht der 232 Robert Ferguson, The Short Sharp Life of T.E. Hulme, London 2002. 233 Hoeres, T.E. Hulme. Ein konservativer Revolutionär aus England, S. 192 f. 234 Susser, Right Wings over Britain, S. 360 f. Vgl. auch Roy Forster, The Arch-Poet

1915–1939 (W.B. Yeats, A Life, Bd. 2)., Oxford 2003; Dietz, Gab es eine Konservative Revolution in Großbritannien?, S. 621 f. 235 The Criterion 11 (1924), S. 232. 236 Harding, The Criterion, S. 179. Zu Eliots politischen Überzeugungen in einem weiteren Kontext Richard Griffiths, Three Catholis Reactionaries. Claudel, T.S. Eliot and Saunders Lewis, in: Ders. (Hrsg.), The Pen and the Sword. Right-Wing Politics and Literary Innovation, S. 57–79. 237 The Criterion, November 1927, S. 386.

4.3  Vision eines radikalen Konservatismus in Opposition   133

humanitäre Geist des Völkerbundes, sondern ein die Grenzen übergreifender, konservativer Kulturpessimismus, der sich angesichts der sozialistischen Bedrohung auf die Wurzeln und Traditionen des christlichen Europas besann. Als Kronzeugen des „new European consciousness“ führte Eliot die französischen Autoren Paul Valéry und Henri Massis sowie Oswald Spengler an.238 Eliot und seine Mitarbeiter bemühten sich, diese Autoren dem britischen Publikum bekannt zu machen: Eliot finanzierte eine englische Übersetzung der Werke Valérys, der Criterion veröffentlichte eine Übersetzung von Massis’Essay Défense de l’Occident 239 und kaum ein deutscher Autor fand sich mit seinen Schriften so oft im Rezensionsteil der Zeitschrift wie Oswald Spengler.240 Eliots Ziel war es, mit dem Criterion das Forum für eine konservative europäische Geistesaristokratie zu schaffen und ihre einzelnen Vertreter miteinander in Verbindung zu bringen. Trotz des meist ästhetisch-distanzierten Gestus ist die politische Tendenz dieser Bemühungen offensichtlich – insbesondere im Zusammenhang mit Eliots Bewunderung für die Action Française. Im Dezember 1928 schrieb Eliot: „Most of the concepts which might have attracted me in Fascism I seem already to have found, in a more digestible form, in the work of Charles Maurras. I say in a more digestible form, because I think they have a closer ­applicability in England than those of Fascism.“241 Neben Hilaire Belloc und T.E. Hulme war es vor allem Eliot, der die Ideen Charles Maurras‘ und der Action Française in Großbritannien einführte und Maurras nach seiner Exkommunikation durch den Papst 1927 gegen seine Kritiker entschieden in Schutz nahm.242 Mit Maurras teilte er dessen elitären Anspruch, den radikalen Monarchismus, die Vorstellung einer korporativen Gesellschaftsordnung und zu einem gewissen Grad dessen Antisemitismus.243 Es ist sicher richtig, daß Eliot sich vom italienischen Faschismus und später auch von Maurras und der Action Française distanzierte.244 Er tat dies jedoch keineswegs aus liberaler Überzeugung oder aus Treue zur parlamentarischen Demokratie. Sein Konzept des Toryismus ist nicht demokratisch gedacht. Vielmehr legte er Wert darauf, daß ein ‚wahrer‘ Toryism sich philosophisch nicht mit jenem offiziellen Konservatismus identifizieren dürfe, „which has been overrun first by deserters from Whiggism and later by business men.“245 Ein ‚wahrer‘ Konserva238 The Criterion, August 1927, S. 98. 239 Harding, The Criterion, S. 209 f. 240 The Criterion, September 1927, S. 261–267;

The Criterion, Juli 1930, S. 731–737; The Criterion, Oktober 1932, S. 159–162; The Criterion, Juli 1934, S. 699–701. 241 The Criterion, Dezember 1928, S. 289. 242 T.S. Eliot, The Action Française, Mr. Maurras and Mr. Ward, in: The Criterion, März 1928, 195–203.

243 Julius, T.S. Eliot, Anti-Semitism, and

Literary Form. Vgl. zu Maurras’ Einfluß auf Eliot auch Michael Sutton, Le Maurrassisme de T.S. Eliot et le Legs de T.E. Hulme, in: Olivier Dard, Charles Maurras et l’Étranger. L’Étranger et Charles Maurras. L’Action Française. Culture, Politique, Société II; Bern 2009, S. 321–338. 244 Vgl. David Bradshaw, Politics, in: Jason Harding (Hrsg.), T.S. Eliot in Context, Cambridge 2011, S. 265–274. 245 The Criterion, Oktober 1931, S. 71.

134   4.  Neo-Toryismus als Weltanschauung tismus müsse sich zum Anwalt einer spirituellen Erneuerung machen, an deren Ende Eliot einen von Kirche und König geführten autoritären Staat und eine an einem mittelalterlichen Ideal orientierten, korporativen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung sah.246 Bezeichnenderweise hatte der Publizist und Romanist Ernst Robert Curtius 1927 in einem Nachruf auf Hugo von Hofmannsthal – dessen Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation für viel Aufmerksamkeit im ­Criterion gesorgt hatte247 – Eliot, Maurras und Hofmannsthal zusammen als ­Vertreter einer „konservativen Revolution“ im Sinne eines „westeuropäischen Gesamt­vorgangs“ apostrophiert.248 Für Neo-Tories wie Ludovici, Petrie, Wallop oder Jerrold war der Criterion nur bedingt ein Forum. Zwar wurden auch ihre Schriften durchaus positiv rezensiert, und Autoren wie Douglas Jerrold schrieben auch selbst ambitioniert kulturkritische Artikel. Letztlich war die Zeitschrift für diese Autoren aber nicht politisch genug. Die etablierten rechtskonservativen Zeitungen und Zeitschriften wie die Morning Post, der Patriot und die National Review wiederum konnten dem intellektuellen Anspruch der Neo-Tories nur bedingt genügen. Neben ihren eigenen Veröffentlichungen benötigte die intellektuelle und politische Opposition der Neo-Tories daher Ende der zwanziger, Anfang der dreißiger Jahre neue Foren. Eine Möglichkeit für die Neo-Tories, den in Großbritannien gut organisierten linken Intellektuellen auch institutionell zu begegnen, bot das 1928 gegründete Ashridge Bonar Law Memorial College. Das neue College, das unter dem Kurznamen Ashridge bekannt wurde, diente ursprünglich als dezidiert antisozialistisches Lehr- und Lernzentrum. Ashridge war als Stiftung des vermögenden Unternehmers Urban Broughton gegründet worden und war somit von der Konservativen Partei formal unabhängig. Dennoch entwickelte es sich in den dreißiger Jahren zum wichtigsten Zentrum der politischen Bildung der Tories.249 Direktes Vorbild dieses konservativen Think-Tanks war die sozialistisch-intellektuelle Fabian ­Society. Der Schwerpunkt lag auf der Konstruktion einer Tory interpretation of history, die der Whig interpretation of history und dem sozialistischen Materialismus entgegengesetzt werden sollte.250 Der Historiker Arthur Bryant wurde zum Sekretär des Education Departement von Ashridge ernannt und avancierte zum He­rausgeber des Ashridge Journal. Bryant hatte 1929 mit The Spirit of Conserva246 Michael

Stevens, T.S. Eliot’s Neo-Medieval Economics, in: Markets and Morality 2 (1999), S. 234–246. 247 Harding, The Criterion, S. 215 f. 248 Ernst Robert Curtius, Hofmannsthals deutsche Sendung, in: Neue Schweizer Rundschau 12 (Juli 1929), S. 583–588, hier 587. 249 Green, Ideologies of Conservatism, S. 135–138. Vgl. hierzu auch Clarisse Berthezène, Ashridge College, 1929–54: A Glimpse at the Archive of a Conservative Intellectual Project, in: Contemporary British History 19 (2005), S. 79–93; dies., Creating Conservative Fabians. The Conservative Party, Political Education and the Founding of Ashridge College, in: Past & Present 182 (2004), S. 211–240; dies., Les Conservateurs britanniques dans la Bataille des Idées. Le Ashridge Bonar Law College. Des Conservateurs Fabiens a la Conquête des Esprits, 1929–1954, unveröffentlichte Dissertation, Université Paris-II/La Sorbonne Nouvelle, 2003. 250 Berthezene, Creating Conservative Fabians, S. 211.

4.3  Vision eines radikalen Konservatismus in Opposition   135

tism seine eigene konservative Positionsbestimmung veröffentlicht.251 Aus seiner antiliberalen, antisemitischen und antikapitalistischen Haltung machte er in zahlreichen populärwissenschaftlichen Abhandlungen kein großes Geheimnis und entwickelte sich im Laufe der dreißiger Jahre zum Sympathisanten des Nazi-Regimes und des faschistischen Italiens.252 Höhepunkt dieser Entwicklung ist sein im ­Januar 1940 veröffentlichtes antisemitisches und mit dem Nationalsozialismus sympathisierendes Buch Unfinished Victory.253 Dem English Review-Zirkel um Douglas Jerrold gelang es schon früh, Vorträge in Ashridge zu halten und Artikel in der Zeitschrift Ashridge Journal zu plazieren. In Jerrolds Erinnerungen erscheint die ‚Infiltration‘ Ashridges mit den Autoren aus dem English Review-Kreis als ein ausdrücklicher Erfolg der Gruppe im Zuge ihrer Strategie, orthodoxe Parteigremien zu beeinflussen.254 So gehörten Douglas Jerrold, Arnold Wilson, Herbert Agar, A.G. Street, W.S. Morrison und Francis Yeats-Brown zu den Dozenten und Autoren in Ashridge. Lymington gab in Ashridge Vorlesungen, genauso wie Lord Philimore, der spätere Vorsitzende der Pro-Franco-Bewegung Friends of Nationalist Spain. Hugh Sellon hielt Vorträge über den korporativen Staat und Luigi Villari über Faschismus in Italien.255 Hinzu kam Charles Petrie, der ein sehr gutes Verhältnis zu Bryant pflegte und sich von Ashridge auch Verkaufserfolge für seine eigenen Publikationen, insbesondere die Biographien George Cannings und Mussolinis, erhoffte. In einem Tagebucheintrag vom 30. Mai 1932 heißt es: „Had Arthur Bryant to lunch at the club. He is the most likable fellow, and we fairly boxed the political and historical compass in our talk. I also arranged with him for Canning and Mussolini to be on sale at Ashridge, which should help them along.“256 Vor diesem Hintergrund ist es kaum verwunderlich, daß das Ashridge Journal zum Forum für die intellektuellen Suchbewegungen nach einem ‚reinen‘, ‚wahren‘ Konservatismus wurde. Die Krise des politischen Liberalismus wurde hier als Chance für eine umfassende konservative Wiedergeburt ‚zeitloser‘ konservativer Prinzipien begriffen. Die Bedingung war jedoch, so Christopher Dawson, eine selbstbewußte intellektuelle Positionierung, um in der battle of ideas bestehen zu können. „The need for a reassertion of Conservative principles is greater to-day 251 Arthur

Bryant, The Spirit of Conservatism, London 1929. 252 Roberts, Patriotism. The Last Refuge of Sir Arthur Bryant; Reba Soffer, History, Historians, and Conservatism in Britain and America. From the Great War to Thatcher and Reagan, Oxford 2009, S. 142–178; Reba Soffer, Political Ideas and Audiences. The Case of Arthur Bryant and the Illustrated London News, 1936–1945, in: Parliamentary History 27 (2008), S. 155–167; Julia Stapleton, Sir Arthur Bryant as a 20th-Century Victorian, in: History of European Ideas 30 (2004), S. 217–240. 253 Vgl. zu Bryants Antisemitismus Kapitel 5.4.4. 254 Jerrold, Georgian Adventure, S. 334. 255 Vgl. hierzu auch die Artikel Sellon, The Corporate State; Luigi Villari, Fascism and the Fascist State, in: The Ashridge Journal 4 (November 1930), S. 20–32. 256 Tagebücher Charles Petrie, 30. 5. 1932. Petrie hielt regelmäßig Vorträge in Ashridge, war ­jedoch nicht immer überzeugt von der intellektuellen Qualität seiner Studenten: „After tea I went down to Ashridge with Jerrold, and lectured on the ‚Continental Dictatorships‘. It is a very crowded course, but one of the most stupid“. Tagebücher Charles Petrie, 5. 10. 1934.

136   4.  Neo-Toryismus als Weltanschauung than at any other time in the last hundred years. The whole system of European political life as it was developed in the last century on the basis of parliamentarism, constitutionalism and democracy seems in a state of dissolution.”257 Daß sich die Neo-Tories in Ashridge, das ja immerhin ein halb-offizielles ­Organ der Konservativen Partei war, keineswegs mit ihrer Systemkritik und mit ihrer Vorstellung eines true toryism zurückhielten, zeigt ein Artikel von Charles Petrie im Ashridge Journal: Lastly, as the Tory looks round his world he sees discipline everywhere, save in Italy at a ­discount. […] The reaction against the ideals of the French Revolution is beginning at the Continent, and it will not be long in reaching this country. There will be no need for the Tory to put on a black shirt or a brown when that day arrives. All that has to be done is to remove from our national life and Constitution certain excrescences which the eighteenth and nineteenth centuries allowed to sap their vitality, in short, to revert to the fundamental principles of Toryism.258

Einige Auswüchse des bestehenden Systems gelte es zu korrigieren – das klang hier bewußt unradikal, doch die für alle Neo-Tories so typische historische Perspektive macht deutlich, daß das Konzept eines true toryism sich entscheidend vom Mainstream-Konservatismus unterschied. Der klassische Konservatismus war in Großbritannien – verkörpert durch die Konservative Partei – Träger des parlamentarischen Systems und auch seiner demokratischen Ausweitung geworden. Die Neo-Tories wollten diesen Prozeß nicht etwa nur korrigieren, sondern komplett revidieren. Sie sahen sich dabei Anfang der dreißiger Jahre als Teil einer europäischen Entwicklung. Dennoch hielten sie es für nicht notwendig, eine eigene Partei zu gründen. Eine Parteineugründung hätte angesichts des britischen Mehrheitswahlrechts sicherlich keine sonderlich großen Chancen gehabt. Interessanterweise wurde ein solcher Versuch nicht einmal erwogen. Die Gründe hierfür sind vielfältig. Die Neo-Tories lehnten das moderne Parteiensystem grundsätzlich ab. In ihren romantisch-korporativen Utopien spielen Parteien als legitimes Element der Politik keine Rolle. Ein Parlament, zusammengesetzt aus Parteipolitikern, die auf der Basis von territorialer Repräsentation von einem Großteil der Bevölkerung gewählt werden, war aus ihrer Sicht der Grund allen Übels. Dessen ungeachtet konnte aber allein die Konservative Partei das Vehikel einer nationalen Erneuerung sein. Sie sollte sich an die Spitze eines Prozesses zu Beendigung des Parteiensystems stellen. Die Lektion des faschistischen Italiens – so Charles Petrie in der English Review im Oktober 1932 – könne für Großbritannien nur bedeuten, daß die konservativen Kräfte in die Offensive gehen müssen: „We Tories are the real revolutionaries of the present age. The existing socialized State is not of our seeking, and it must be overthrown by any means that come to hand. For this fight there is more than one weapon that might with advantage be borrowed from the Fascist armoury.“259 257 Christopher

Dawson, Conservatism, in: The Ashridge Journal 11 (September 1932), S. 38– 50, hier 38. 258 Charles Petrie, A Tory Looks Around His World, in: The Ashridge Journal 15 (September 1932), S. 6–10, hier 8, 10. 259 Charles Petrie, Foreign Affairs, in: English Review 55 (Oktober 1932), S. S. 408–417, hier 410.

4.3  Vision eines radikalen Konservatismus in Opposition   137

Ashridge reichte aus Sicht der Neo-Tories jedoch nicht aus, um die Dominanz der intellektuellen Linken in der politischen Kultur Großbritanniens zu brechen. Vor diesem Hintergrund kam es 1936 zu der Idee eines explizit rechten Buchclubs. Mit Hilfe der Verleger W.&G. Foyle, deren Buchladen Foyles in der Londoner ­Charing Cross Road noch heute ansässig ist, wurde Anfang 1937 der Right Book Club gegründet. Daß es bei dem Club nicht lediglich um Literatur ging, wurde bereits beim Eröffnungslunch im Grosvenor House in London im April 1937 deutlich. Der ehemalige Vorsitzende der Konservativen Partei Lord Stoneheaven hatte den Vorsitz und formulierte seine Hoffnung, „that Britain and Italy would kiss and be friends“.260 Spezifischer war Derek Walker Smith, der die Nachfolge von ­Douglas Jerrold als Herausgeber der English Review angetreten hatte und der im Auswahlkomitee des Right Book Club saß:261 „It is the aim of the Right Book Club to provide ‚the public with vital, interesting, authoritative books on the leading political and social questions of our time‘ freed from the fashionable Left wing bias of the day.“262 In der Tat ist der Right Book Club als direkte Antwort auf ­Victor Gollancz‘ Left Book Club zu sehen. Eigentlich gehöre das Feld der Literatur nicht in das politische Tagesgeschäft und auch nicht in die ideologischen Auseinandersetzungen, doch die politische Allgegenwärtigkeit der linken Autoren habe jede vornehme ­Zurückhaltung unmöglich gemacht, so Walker-Smith.263 Der Club veröffentlichte im wesentlichen keine Neuerscheinungen, sondern ­legte ‚Klassiker‘ radikalkonservativen Denkens neu auf. In den drei Jahren seines Bestehens von März 1937 bis Dezember 1939 erschienen jährlich etwa 10 bis 12 Bücher. Die Mitgliedschaft war frei, als Abonnent verpflichtete man sich lediglich, das monatliche ‚right‘ book zu erwerben.264 Unter den Publikationen des Clubs befanden sich u. a. Charles Petries Franco-Mussolini-Apologetik Lords of the ­Inland Sea, Douglas Jerrolds frühe Autobiographie Georgian Adventure, ­George Ward ­Price‘ Diktatur-Hommage I know these Dictators, Lymingtons antisemitische Anleitung zu einer agrarisch-korporativen Neuordnung Englands ­Famine in England, Arnold Wilsons als Reisebericht und Tagebuch geschriebene Abrechnung mit dem politischen System Großbritanniens Thoughts and Talks und Hugh Kingsmills Sammelband The English Genius (mit Beiträgen von Ralph Inge, Hiliare Belloc, Douglas Woodruff, Charles Petrie, J.F.C. Fuller, Brian Lunn u. a.).265 260 Britain

and Italy. Reflections at „Right“ Book Club Luncheon, Manchester Guardian, 20. 4. 1937. 261 Vgl. hierzu Terence Rodgers, The Right Book Club. Text Wars, Modernity and Cultural Politics in the Late Thirties, in: Literature and History 12 (2003); E.H.H. Green, Ideologies of Conservatism. Conservative Political Ideas in the Twentieth Century, Oxford 2002, S. 135–156. 262 Derek Walker-Smith, Current Comments, in: English Review 64 (April 1937), S. 390–398, hier 397 f. 263 Walker-Smith, Current Comments, in: English Review 64 (April 1937), S. 397. 264 „Right is Might. Join the ‚Right‘ Book Club“, The Times, 26. 2. 1937. 265 Charles Petrie, Lords of the Inland Sea. A Study of the Mediterranean Powers, London 1937; Jerrold, Georgian Adventure; George Ward Price, I Know These Dictators, London 1937; Lymington, Famine in England; Arnold Wilson, Thoughts and Talks, 1935–37. The Diary of a Member of Parliament, London 1938; Hugh Kingsmill (Hrsg.), English Genius. A Survey of the English Achievement and Character, London 1939.

138   4.  Neo-Toryismus als Weltanschauung Was veröffentlicht wurde und was nicht, entschied neben Derek Walker-Smith der wohl radikalste Neo-Tory der Zwischenkriegszeit, Anthony Ludovici. Zu den Schirmherren des Clubs gehörten 33 konservative Abgeordnete des Unter- und Oberhauses. Darunter waren konservative diehards wie Leopold Amery, Lord Winterton und Henry Page Croft sowie junge Neo-Tories wie Duncan Sandys und Alan Lennox-Boyd. Insgesamt formierte sich der Right Book Club so als ­radikale, rechtsintellektuelle Speerspitze nicht nur gegen den politischen Gegner von links, sondern auch – und das wurde in der Forschungsliteratur, die sich mit der battle of the books isoliert beschäftigte,266 übersehen – gegen das bestehende politische System Großbritanniens. Niemand war das mehr bewußt als der Konkurrenz: Arthur Bryant hatte zu diesem Zeitpunkt bereits schon länger über einen rechten Buchclub nachgedacht und wurde von der schnellen Gründung des Right Book Club überrumpelt. Um so größer war seine Sorge, daß sein eigenes Projekt ins Hintertreffen geraten könne. Auch er sah die dringende Notwendigkeit, dem Left Book Club organisatorisch entgegenzutreten: „Since then Gollancz’s [Left Book Club] unmasked Communist propaganda has forced our hand and compelled us to come into the open.“ Um Gollancz und all die unbeugsamen Kräfte der universitären Intelligenzija zu bekämpfen seien aber schnell und schlecht gemachte Bücher im Colonel Blimp-Stil267 wenig hilfreich. Bryant sah die Gefahr, daß die radikal rechte Ausrichtung des Right Book Club eine breite Leserschaft verhindere und das ganze Projekt eines konservativen Buchclubs gefährde. „Their danger is that they will discredit not only themselves but us too.“ Um so entschlossener forcierte Bryant dennoch sein eigenes Projekt: „To counter Foyle’s Right Wing Book Club […] we have founded the National Book Club, with the plan of publishing a book every month.“268 Tatsächlich lagen aber der Right Book Club und die National Book Association, wie Bryant seinen Club schließlich nannte, inhaltlich nicht weit auseinander. Bryants anfängliche Distanz zur Konkurrenz dürfte vielmehr seinem eigenen Ehrgeiz und dem Wunsch, seine Freundschaft zu Stanley Baldwin für das Projekt nutzbar zu machen, geschuldet sein. Immerhin gewann er diesen für die Präsidentschaft der National Book Association. Daß es mit der politischen Mäßigung 266 Rodgers,

The Right Book Club; Green, Ideologies of Conservatism. Green sieht die politischen Ziele des „Right Book Clubs“ und Bryants „National Book Association“ übereinstimmend in „support for the Conservative-dominated National Government in general terms“ und in „the idea of the Conservative Party as the best expression of English national identity“. Green, Ideologies of Conservatism, S. 150. Daß dies eine sehr verallgemeinernde, die radikalen politischen Ziele der Neo-Tories kaschierende Einschätzung ist, sollte nicht nur in diesem Kapitel deutlich werden. 267 Colonel Blimp („Oberst Zeppelin“) war der Titel einer britischen Comicstripreihe, die in den dreißiger Jahren im Evening Standard erschien. Der Cartoonist und Schöpfer von Colonel Blimp stellte seine Hauptfigur als Klischee eines reaktionären, jähzornigen und aufge­ blasenen Konservativen und Imperialisten dar. 1943 erschien eine sympathischere Version von Blimp in dem englischen Filmklassiker The Life and Death of Colonel Blimp. Vgl. Kent Puckett, The Life and Death of Colonel Blimp, in: Critiqual Inquiry 35 (2008), S. 90–114; Peter Mellini, Colonel Blimp’s England, in: History Today 34 (1998), S. 30–37. 268 Arthur Bryant, 2. 4. 1937, Liddell Hart Centre for Military Archives, Bryant: C/53 1937.

4.3  Vision eines radikalen Konservatismus in Opposition   139

letztlich nicht übertrieben wurde, zeigt allerdings die Buchauswahl. Bryant hatte sich beispielsweise im Frühjahr 1937 intensiv um ein Buch von Francis YeatsBrown über Franco bemüht. Als dieser von Bryants Club hörte, war er sofort ­begeistert und willigte ein, Mitglied zu werden,269 mußte aber hinsichtlich des Franco-Buchs absagen, da er bereits Douglas Jerrold ein solches versprochen ­hatte.270 Bryant war enttäuscht, doch gab er zu verstehen, daß angesichts der ­englischen öffentlichen Meinung, die sich im Spanischen Bürgerkrieg tatsächlich mehrheitlich auf die republikanische Seite geschlagen hatte,271 selbst ein Buch von Yeats-Brown wenig Chance auf Verständnis hätte.272 Doch ein Buch des antisemitischen Rechtsaußen, Yeats-Brown,273 wollte Bryant offenbar um jeden Preis. „Would you consider writing something for me? So far as terms are concerned, I fancy we can offer you as good or better than anyone else, and for the rest, to get a book from you would be a tremendous aid to the National Book Association and an encouragement to everybody who thinks as you and I do.“ Als Thema schlug Bryant vor, Yeats-Brown solle sich in einem Buch dem Unbehagen der Kriegsveteranen in Europa und den damit verbundenen spirituellen und politischen Implikationen widmen.274 Der eigentliche Paukenschlag erfolgte, als Bryant eine englische Übersetzung von Hitlers Mein Kampf auf den Markt brachte. Bryant führte als Grund das allgemeine Interesse der britischen Öffentlichkeit an. Wer Rousseau und Marx auf englisch lesen könne, habe auch ein Recht, Hitler auf englisch zu lesen.275 Ein weiteres Motiv dürfte jedoch auch der zu erwartende kommerzielle Erfolg des Buches gewesen sein. Schon von der ersten, unvollständigen englischen Ausgabe, die 1933 beim Verlagshaus Hurst & Blackett erschienen war, verkauften sich bis 1940 über 100 000 Exemplare.276 Nicht zuletzt dürfte aber Bryants mit dem Nationalsozialismus sympathisierende, extrem deutschlandfreundliche Haltung eine entscheidende Rolle gespielt haben, Mein Kampf in die eigene Reihe aufzunehmen und den Abonnenten der National Book Association nach Hause zu schicken. Stanley Baldwin trat daraufhin als Präsident der NBA zurück.277 Bryant gab 269 „I

knew nothing of the National Book Association, which is doubtless stupid of me, and I shall certainly join.“ Francis Yeats-Brown an Arthur Bryant, 25. 7. 1937, Liddell Hart Centre for Military Archives, Bryant: E 39/2 1937. 270 Francis Yeats-Brown an Arthur Bryant, 9. 6. 1937, Liddell Hart Centre for Military Archives, Bryant E 39/3 1937. 271 Vgl. Kapitel 6.3. 272 Arthur Bryant an Francis Yeats-Brown, 10. 6. 1937, Liddell Hart Centre for Military Archives, Bryant: E 39/4 1937. 273 Vgl. Kapitel 5.5. 274 Arthur Bryant an Francis Yeats-Brown, 10. 6. 1937, Liddell Hart Centre for Military Archives, Bryant: E 39/4 1937. 275 Vgl. Green, Ideologies of Conservatism, S. 148. 276 Damit war die englische Ausgabe die erste Übersetzung des Werkes, noch vor einer italienischen Ausgabe, die 1934 erschien. Vgl. Othmar Plöckinger, Geschichte eines Buches. Adolf Hitlers „Mein Kampf“ 1922–1945, München 2006, S. 461ff; Clemens, Herr Hitler in Germany, S. 332; Stone, Responses to Nazism, S. 60. 69 f., 75, 121, 145. 277 Green, Ideologies of Conservatism, S. 143.

140   4.  Neo-Toryismus als Weltanschauung sich über diese Entscheidung überrascht. Er schrieb an Baldwins Sekretär, Geoffrey Fry, daß Mein Kampf gar nicht englandfeindlich sei: „Curiously enough the reverse is the case, for the parts omitted are on the whole friendly to England though less so to France.“278 Gemessen an ihrem Anspruch waren jedoch beide Clubs gescheitert. Die gefürchtete Dominanz ‚Bloomsburys‘, die Vorherrschaft der linken Intellektuellen, blieb ungebrochen. Während der Right Book Club auf 10 000, nach sehr optimistischen Schätzungen auf 20 000 Abonnenten und die National Book Association auf 5000 kam, blieb der Left Book Club bei seinen 50 000 Abonnenten. Kein Wunder, daß Vertreter der Linken über ihre politisch-literarischen Gegner spotteten. Auf eine Einladung von Christina Foyle, dem Right Book Club beizutreten, schrieb der Literat und Satiriker A. G. MacDonell am 3. November 1939: I have nothing but affection for Messrs Foyle’s Book Shop […] but I feel the bitterest animosity towards anything connected with the Right, and I have always trusted sincerely that the Right Book Club would very quickly come to the first stages of eternal damnation. I am sorry to see from your letter that it appears to be flourishing. I had no idea that there were twenty thousand members of the Right in politics who could read […] Please rest assured that I look forward eagerly to the demise of the Right Book Club.279

4.3.2  Der Neo-Toryismus der English Review-Gruppe In der English Review wurde die Zukunft des britischen Konservatismus bereits Mitte der zwanziger Jahre politisch-philosophisch diskutiert. Dieser Diskurs ­intensivierte sich mit dem Beginn von Douglas Jerrolds Current Comments 1929 und dessen Übernahme der Herausgeberschaft der Zeitschrift im Jahr 1931 maßgeblich. Unterstützt von einer Reihe prominenter Intellektueller wie Eliot und Belloc und einiger führender diehard-Oppositioneller wurde es das strategische Ziel der Zeitschrift, die innerparteiliche Opposition ideologisch zu untermauern. Zielsetzung der Zeitschrift war es, in einer politischen und wirtschaftlichen Krisensituation den Konservatismus als politische Kraft programmatisch und spirituell wiederzubeleben. „If Conservatism is to remain a political force, must it not formulate and publish its own principles?“280 hatte Jerrold in einem Brief an Arthur Bryant gefragt und gleichzeitig formuliert, was er seit Jahren tat. Für Jerrold und die anderen Redakteure der English Review war es entscheidend, ihr Konzept des real toryism von einem rein defensiven, reformfeindlichen Konservatismus abzusetzen. Jerrold erklärte im Juni 1931: If conservatism has nothing better to do than to delay the scientific application to collectivism to our present industrial chaos, thus prolonging the present dis-equilibrium; if it has nothing

278 Arthur

Bryant an Geoffrey Fry, 14. 12. 1939, Liddell Hart Centre for Military Archives, ­ ryant: C/62. B 279 Der Brief befindet sich im Privatbesitz der Familie Foyle. Zitiert nach Rodgers, The Right Book Club, S. 5. 280 Douglas Jerrold an Arthur Bryant, 24. 7. 1935, Liddell Hart Centre for Military Archives, Bryant E 21.

4.3  Vision eines radikalen Konservatismus in Opposition   141 better to do in world politics than to find formulae which will enable us to pay lip-service to the principles of the old world-order while acquiescing tacitly in the establishment of the new; if it has no more serious concern for the Christian social system than to express the pious hope that its overthrow will be unaccompanied by force; if these things represent the contribution of ­conservatism to our generation, conservatism is not merely a poor thing, but an evil thing.281

Ein ‚wahrer‘ Konservatismus könne somit gar nicht Teil des gegenwärtigen Gesellschaftssystems sein, sondern müsse dessen ideelle Voraussetzungen grundlegend herausfordern. Vor allem gelte es, so Jerrold, sich von jenem materialistischen Fortschrittsideal zu trennen, das maßgeblich für den chaotischen Zustand der modernen Zivilisation verantwortlich sei. Ein ‚wahrer‘ Konservatismus müsse sich so zunächst zum Anwalt der spirituellen Grundlagen und der tieferen Loyalitäten des Menschen machen und sich gegen seinen Hauptgegner, den Liberalismus, verteidigen.282 Die Neo-Tories waren überzeugt, daß eine in diesem Sinne reformierte Welt­ anschauung mehr als eine konservative Haltung sei. „Toryism“, schrieb Jerrolds Bündnispartner, Arnold Wilson „is not only a Party spirit but a way of life; not only a political attitude of mind but a regenerative social and moral force.“283 Auch für Dorothy Crisp war der Konservatismus seit dem Ersten Weltkrieg nicht mehr als ein „meaningless half-Socialism“. Trotz der Existenz einer offiziellen Konservativen Partei, die ja durchaus große Unterstützung erfahre, existiere wirklicher Konservatismus im heutigen England „only as a helpless desire, in many cases inarticulate, and, in almost all, without means of effective expression.“284 Die Konservative Partei, so Bryant Irvine von der English Mistery, hat sich in eine verwirrte und lächerliche Lage manövriert. Sie habe die bürokratischen Ideale des Sozialismus übernommen, obwohl diese dem ‚wahren‘ Toryismus grundsätzlich fremd seien. Gleichzeitig habe die Partei den klassenübergreifenden Patriotismus aufgegeben. „We have had half a century of such government and the nation as such hardly exists. […] As an entity the nation no longer lives.“285 In Jerrolds Aufsatz „What is Conservatism“ von 1931 ist das Konzept des true toryism noch recht abstrakt als Wunsch nach einer fundamentalen Veränderung der gesellschaftlichen Wirklichkeit gedacht. Der existentielle Ernst des Lebens sollte gegen seine liberal-materialistische Verflachung wieder in einen ursprünglichen Zustand zurückversetzt werden. Gegen die Aufsplitterung der pluralistischen Gesellschaft in konkurrierende Interessen setzte er das Ideal einer ursprünglichen Reinheit und autoritären Ordnung. Wenig später übersetzte Jerrold in der English Review seinen Kulturpessimismus in politische Kritik. In der Ausgabe vom Juli 1931 machte Jerrold deutlich, daß er die grundlegende Fehleinschätzung der politischen Natur des Menschen 281 Jerrold, What

is Conservatism, S. 51. is Conservatism, S. 60. 283 Wilson, Thoughts and Talks, S. 77. 284 Crisp, The Rebirth of Conservatism, S. 8. 285 Bryant Irvine, 1933 Looks at 1883, in: National Review 100 (Februar 1933), S. 241–247, hier 242. 282 Jerrold, What

142   4.  Neo-Toryismus als Weltanschauung durch den Liberalismus für die Ursache des notwendigen Scheiterns des „great democratic experiment“286 ansah. Als intellektuellen Gewährsmann berief er sich dabei auf den deutschen Publizisten und Herausgeber der jungkonservativen Zeitschrift Deutsches Volkstum, Wilhelm Stapel, und veröffentlichte in derselben Ausgabe einen Artikel Stapels unter dem Titel „The Coming Conservative Revolution“. Dazu kommentierte Jerrold: „The theory which he puts forward in this article is one of the cardinal principles animating that ‚stirring of the mind‘ of contemporary Europe which may be suitably called the Counter-Revolution and which is slowly rising to the intellectual leadership of our times.“287 Stapels Beitrag für die English Review ist im wesentlichen eine kulturpessimistische Bestandsaufnahme der europäischen Situation seit der Französischen Revolution. Der Liberalismus habe vornehmlich das Ziel gehabt, die tradierte, institutionelle Ordnung der Gesellschaft zu bekämpfen und durch rationale, Partikularinteressen vertretende Organisationen zu ersetzen. Doch jene nicht-materiellen und nicht-rationalen Kräfte – wie Religion, Nation und Rasse – ließen sich nicht ewig unterdrücken. „Thus, after the liberal revolution of the eighteenth century the conservative revolution is at hand.“288 Bemerkenswert ist, daß Stapel – der deutsche „Volkskonservative“289 – diese konservative Revolution als eine gesamteuropäische Entwicklung prophezeit. Wie Jerrold sah er sich als Teil einer geistesgeschichtlichen Gegenbewegung gegen den durch Aufklärung und französische Revolution ausgelösten Säkularisierungsprozeß. Gerade das Beharren auf der Gültigkeit übernationaler christlicher Werte und eines europäischen Kulturbestands gegen die Gefahren von materialistischer Auflösung und zivilisatorischer Pluralität ermöglichte eine transnationale Verständigung von Männern wie Jerrold und Stapel.290 Eine solche Verständigung mußte jedoch schnell an ihre ­Grenzen stoßen. Es ist unklar, wie gut Jerrold oder seine Mitarbeiter die Publizistik Stapels kannten, doch Stapels universelle Einigungsvision eines europäischen ­Reiches unter deutscher Vorherrschaft konnten sie nicht unterstützen. Hinsichtlich der konkreten politischen Forderungen, die sich aus diesem transnationalen Kulturpessimismus für Großbritannien ergaben, hielt sich Jerrold 1931 noch bedeckt. Ein Jahr später legte er seine Zurückhaltung ab. Zum Kern­ bestand der politischen Agenda der diehard-Konservativen hatte schon in der Vorkriegszeit die Forderung nach einer nachhaltigen Stärkung des House of Lords gehört. Gegen die beinahe routinemäßig wiederaufkommende Debatte wandte 286 Douglas Jerrold,

Current Comments, in: English Review 53 (Juli 1931), S. 137–147, hier 139. 287 Ebd., S. 140. 288 Wilhelm Stapel, The Coming Conservative Revolution, in: English Review 53 (Juli 1931), S. 166–172, hier 172. 289 Heinrich Kessler, Wilhelm Stapel als politischer Publizist. Ein Beitrag zur Geschichte des konservativen Nationalismus zwischen den beiden Weltkriegen, Nürnberg 1967, S. 237. 290 Im innerdeutschen Diskurs andererseits trennte dies Stapel von Theoretikern eines „deutschen Christentums“ und Vertretern einer „rassischen Religionsfindung“. Ascan Gossler, Publizistik und konservative Revolution. Das „Deutsche Volkstum“ als Organ des Rechtsintellektualismus 1918–1933, Hamburg 2001, S. 125 f.

4.3  Vision eines radikalen Konservatismus in Opposition   143

sich Jerrold im April 1932 mit aller Entschiedenheit. Ziel einer konstitutionellen Reform könne nicht einfach ein Oberhaus als politischer Puffer gegen ein weiterhin durch allgemeines Wahlrecht geformtes House of Commons sein. Denn auch dann bleibe das Grundproblem der Abhängigkeit der Regierung von Abgeordneten, deren politische Karrieren in der Hand des Wahlvolks lägen. Eine Lösung des konstitutionellen Problems war für Jerrold dennoch möglich: „It can be approached along the lines of the corporative state, to which the best minds on the Continent are working, or it can be approached along the lines of a quasi-permanent session, with yearly or biennial elections of a given proportion of its members.“291 In den folgenden Monaten entwickelte sich die Idee des korpora­ tiven Staates zum zentralen Fluchtpunkt der politischen Agenda Jerrolds und ­seiner Mitstreiter in der English Review. Maßgeblich für die politische Weiterentwicklung der politischen Agenda Jerrolds ist zunächst sein fundamentales Krisenbewußtsein, das Gefühl für eine nahende politische Zäsur auch in Großbritannien. Wenn grundlegende konservative Prinzipien nicht zum Zuge kämen, führe, so Jerrold, der Weg unausweichlich in eine sozialistische Revolution. Doch noch sei nicht alles verloren: […] for we have to-day, as the fruit of the revival of Conservative thought, for the first time for many years, a large, organized and growing body of opinion, more revolutionary than die-hard, young and enthusiastic rather than prejudiced and crabbed, which is determined that the chance of applying Conservative principles constructively should not be lost.292

Um seinen politischen Vorstellungen auch organisatorisch Gestalt zu geben, plante Jerrold ab April 1932 den English Review Luncheon Club.293 In monatlichen Treffen sollten jüngere Intellektuelle und Politiker mit Vertretern des konserva­ tiven Establishments zusammen kommen. Als eingeladener Teilnehmer war man gleichzeitig Abonnent der English Review, wobei ein Großteil der Clubmitglieder selbst Artikel für die Zeitschrift geschrieben hatten. Die Zusammenkünfte entsprachen dem elitären Politikverständnis der Neo-Tories und den englischen Gentlemen-Codes – Politik war hier kein administrativer Vorgang. Im halb-­ öffentlichen Raum des Clubs, ausschließlich unter Männern, mit Kleiderordnung und nach gesellschaftlicher Etikette, sprachen bei ausgefeilten Menüs in den edlen Londoner Restaurants Gatti’s oder Savoy wechselnde Hauptredner, die jeweils von einem ebenso wechselnden Vorsitz, dem chair am toptable vorgestellt wurden. Über die Gründungsphase geben Petries Tagebücher sehr genau Auskunft. Anfang April 1932 heißt es dort: „Lunched with Jerrold at Eyre and Spottiswoode. His idea is to form an English Review Luncheon Club with an annual subscrip291 Douglas Jerrold,

Current Comments, in: English Review 54 (April 1932), S. 339–349, hier 344. 292 Douglas Jerrold, Current Comments, in: English Review 55 (Oktober1932), S. 343–349, hier 343. 293 Charles Petrie war früh an den Planungen beteiligt: „Jerrold has got the idea of starting a luncheon club, and apparently Lymington is busy on it now.“ Tagebücher Charles Petrie, 4. 4. 1932.

144   4.  Neo-Toryismus als Weltanschauung tion which shall include the paper. I consider this to be the best scheme he has yet had.“294 Zu den treibenden Kräften hinter dem Club gehörten neben Jerrold und Petrie Arnold Lunn, Viscount Lymington, Lord Winterton, Lord Iddesleigh, ­Gresham Cooke und Sir Arnold Wilson.295 Obwohl zunächst von Jerrold und ­Petrie ein früherer Termin vorgesehen war, favorisierten die diehard-Konserva­ tiven Lord Winterton und Lord Lloyd einen Start des Clubs erst im Herbst 1932, da er so mit der geplanten Herausforderung der Indienpolitik der Regierung zusammenfallen würde und den Indienrebellen verstärktes intellektuelles Gewicht geben würde. Die Zusammenarbeit zwischen Neo-Tories und diehards sollte beiden Seiten dienen. Während sich die diehards intellektuelle Unterstützung für ihre konser­ vative Interessenpolitik und für ihren Widerstand gegen die Parteileitung im ­Central Office erhofften, wußten die Neo-Tories um den politischen Einfluß ihres Bündnispartners. Insbesondere Lord Lloyd wurde hier als Hoffnungsträger einer konservativen Revolution gehandelt. Lloyd rang up this morning immediately after breakfast to say how cordially he approved of the Luncheon Club, and to warn me that the Central Office would make great efforts to capture it. The way he blows hot and cold in these matters is most amusing, but he has a great reputation in the country, and may be a useful figure-head. He says we are in for a big fight over India this autumn.296

Nachdem der English Review Luncheon Club Anfang September offiziell angekündigt wurde, gingen die Einladungen heraus. Der Club war exklusiv, einfache Mitglieder der Konservativen Partei wurden nicht eingeladen. Zu den ersten Mitgliedern gehörten John Buchan, Leopold Amery, Campton MacKenzie und eine „whole covey of retired naval and military men“, wie z. B. der Admiral Sir Sydney Freemantle.297 Für das erste Treffen des Clubs am 12. Oktober 1932 wurden 110 Einladungen angenommen.298 Neben den bereits Genannten kamen außerdem u. a. Sir Alfred Knox, der Marquis of Moral und Bolín – beide sollten in der englischen Franco-Unterstützung eine entscheidende Rolle spielen299 – sowie der Maharadscha von Burdwan, was der Strategie der Indienrebellen einer Zusammenarbeit mit den indischen Prinzen entsprach.300 Charles Petrie übernahm den 294 Tagebücher

Charles Petrie, 5. 4. 1932. die folgenden Tagebucheinträge Petries: „Dined with Jerrold at the Athenaeum, and Arnold Lunn and Winterton completed the party. We decided to go ahead with the formation of an English Review Luncheon Club. Lunn struck me as rather a conceited and impractical fellow, but he may improve on acquaintance.“ Tagebücher Charles Petrie, 27. 4. 1932; „Tonight I had Lord Lymington, Sir Arnold Wilson, Jerrold, Arnold Lunn (who improved considerable upon acquaintance), and Cooke to dinner at home to launch the English Review Club, which we did very successfully.“ Tagebücher Charles Petrie, 1. 6. 1932; „Lunched at Eyre and Spottiswoode with Jerrold, Iddesleigh, and Cook ego over the final list of names for the Luncheon club.“ Tagebücher Charles Petrie, 15. 7. 1932. 296 Tagebücher Charles Petrie, 1. 9. 1932. 297 Tagebücher Charles Petrie, 8. 9. 1932. 298 Tagebücher Charles Petrie, 11. 10. 1932. 299 Vgl. Kapitel 6.3. 300 Vgl. Kapitel 5.2.3. 295 Vgl.

4.3  Vision eines radikalen Konservatismus in Opposition   145

Vorsitz und Lord Winterton hielt eine Eröffnungsrede, die laut dem Daily Telegraph wie das Treffen insgesamt außerordentlich erfolgreich war. „It was a very representative gathering of younger Conservative literary and political figures.“301 Das Treffen wurde allgemein als wichtiges Aufbruchssignal eines jungen, aggres­ siveren und intellektuell fundierteren Konservatismus wahrgenommen. Selbst Provinzzeitungen wie die Yorkshire Post aus Leeds berichteten: „This new luncheon club formed in connection with the ‚English Review‘, which recently took on new life and vigour under Mr. Douglas Jerrold, is intended as a common meeting place for Conservatives of the Right and Right-Centre.“302 In der Folge avancierte der English Review Luncheon Club zum wichtigsten Netzwerk der Neo-Tories der Jahre 1932–1934. Douglas Jerrold und Charles Petrie gelang es hier, die innerparteiliche Opposition von rechts mit dem Bedürfnis nach einer intellektuellen und ‚spirituellen‘ Erneuerung des Konservatismus zu verbinden. Viele Literaten und Politiker, die auch in den folgenden Jahren in den verschiedenen Organisationen am rechten Rand der Konservativen Partei eine Rolle spielen sollten, kamen hier erstmals zusammen. Ein Jahr bevor Lord Lloyd von der English Review-Gruppe zum Herausforderer Baldwins und schließlich zum Übergangsdiktator aufgebaut werden sollte,303 präsentierte dieser am 17. November 1932 im Rahmen des zweiten Treffens des Clubs eine ‚schonungslose‘ Abrechnung mit der Regierungspolitik. Den Vorsitz des politischen Lunchs hatte John Squire, der Herausgeber des London Mercury und spätere Vorsitzende des January Club,304 übernommen. In seiner Ansprache dankte Lloyd Jerrold und ­Petrie und allen anderen der English Review-Gruppe für ihre wichtige Initiative. Er hoffte, daß der Club dazu dienen möge, den Minderwertigkeitskomplex, unter dem so viele konservative Führer leiden würden, zu beseitigen. Es sei lediglich die Demutshaltung gegenüber Sozialismus und Pazifismus, die einem „great Conservative revival“ entgegenstünde. Konkreter wurde Lloyd nicht; im weiteren Verlauf seiner Rede ging es ihm vor allem um die Indienpolitik der Regierung.305 Beim Treffen des Clubs im Dezember 1932 übernahm Charles Petrie unter dem Vorsitz von Arnold Wilson die Ansprache an den Club. Die Rede zur internationalen Situation war, folgt man seinen Tagebuchaufzeichnungen, ein großer Erfolg. In seiner Ansprache plädierte Petrie für eine europaweite Wiedereinführung der Monarchie, insbesondere in Deutschland. Der deutsche Kaiser und der Kronprinz hätten zwar abgedankt, doch man könne die Krone dem ältesten Sohn des 301 Daily

Telegraph, 13. 10. 1932. 302 Yorkshire Post, 13. 10. 1932. Nur

Charles Petrie selbst war von dem ersten Treffen des English Review Luncheon Club nur wenig begeistert: „The first lunch of the English Review Luncheon Club was a great success in everybody’s opinion save mine, and I thought Winterton both dull and timid. The audience was excellent, alike in quantity and quality, […]. The top table consisted of Lloyd, the Maharjah of Burdwan, Denbigh, Winterton, Sir Alfred Knox, Marquis of Moral, Bolín, Jerrold, and myself in the chair.“ Tagebücher Charles Petrie, 12. 10. 1932. 303 Vgl. Kapitel 6.1. 304 Vgl. Kapitel 6.2. 305 Morning Post, 17. 11. 1932.

146   4.  Neo-Toryismus als Weltanschauung Kronprinzen antragen.306 Auch hier mangelte es nicht an prominenter Unterstützung: My speech on the ‚International Situation‘ at the English Review Lunch went off very well, and what I said seemed to be highly popular. Arnold Wilson took the chair for me, and I had Tristram Cippico for my guest. Others at the top table were the Earl of Radnor, Lord Rankeillour, and Admiral Sir Sydney Freemantle. There was an audience of about a hundred including Lord Askwith, Lord Bertie of Thame, Sir Alfred Knox, Michael Beaumont.307

Angesichts von soviel konservativer Prominenz war ein Korrespondent des in Manchester erscheinenden Daily Dispatch außerordentlich beeindruckt. Bei diesem Club hätte er mehr Staatsmänner, Diplomaten, Kolonialverwalter, Anwälte, Soldaten und Literaten gesehen als bei irgendeinem anderen Treffen in London: „They may be called the young Conservatives, not on the score of their years, but for the freshness and vigour of their thinking. They will put new life into the party, whether the ‚party‘ likes it or not.“308 Die Partei mochte es in der Tat nicht, stellte doch die English Review-Gruppe eine ernsthafte Herausforderung des pragmatischen Kurses der Führung der Konservativen Partei dar.309 Dabei verkörperte vor allem Stanley Baldwin, zunächst als konservativer Parteiführer, ab 1931 als ‚heimlicher‘ Premier des National ­Government und ab 1935 als Premierminister jenen auf Ausgleich setzenden Kurs der Konservativen Partei und der damit verbunden Öffnung der Partei für neue Wählerschaften. Die Auseinandersetzung um die Frage, was ‚wahrer‘ Konservatismus eigentlich sei, auf welche geistigen Grundlagen sich Konservatismus im 20. Jahrhundert zu berufen habe und welche Impulse des Faschismus es ernst zu nehmen galt, entzündete sich daher oft an seiner Person. Wenn aus Sicht der NeoTories eine Person die Fehlentwicklung des britischen Konservatismus nach dem Ersten Weltkrieg verkörperte und gleichzeitig einem true conservatism im Weg stand, so war es Stanley Baldwin.

4.3.3  Stanley Baldwin – der Antiheld der Neo-Tories Aus Sicht der Neo-Tories war Stanley Baldwin ein Parteiführer gegen die Stimmung in der eigenen Partei, gegen den konservativen Instinkt: „The sense of the party“, so schrieb Jerrold 1937, „has been overwhelmingly opposed to Mr. Baldwin, first on his fiscal policy; then, and still on his agricultural policy; always on his Indian policy; on his armament policy till he abandoned it; and on his foreign policy since he abandoned it.“310 Wie kein anderer Politiker verkörperte Baldwin aus Sicht der Neo-Tories den ‚feigen‘ Rückzug des Parteiestablishments, die Aufgabe konservativer Prinzipien und die Opferung all dessen, was ihnen heilig war, 306 Plea

for Restoration of European Monarchies, The Times, 8. 12. 1932. Charles Petrie, 7. 12. 1932. 308 Daily Dispatch, 10. 12. 1932. 309 Vgl. zur Zuspitzung des Oppositionskurses der English Review-Gruppe und dem Scheitern des innerparteilichen Putsches im November 1933 Kapitel 6.1. 310 Jerrold, Georgian Adventure, S. 338. 307 Tagebücher

4.3  Vision eines radikalen Konservatismus in Opposition   147

auf dem Altar der Massendemokratie. Baldwin gehörte in der Tat zum Establishment und war einer der erfahrensten Politiker der Zwischenkriegszeit. Bereits seit 1908 war der 1867 geborene, aus einer Familie von Stahl-Industriellen stammende Baldwin konservativer Abgeordneter. 1921 war er kurzzeitig Handelsminister, 1922 führte er den Sturz des Koalitionskabinetts Lloyd George herbei, wurde Schatzkanzler unter Bonar Law und folgte diesem 1923 als Parteiführer und Premier­minister. Nach einer neunmonatigen Labour-Regierung kam der Cousin ­Rudyard Kiplings im November 1924 wieder an die Macht und wurde erst wieder durch die zweite Labour-Regierung von 1929 abgelöst. Aus Sicht der Neo-Tories gehörte er zu den old men. Insbesondere die Tatsache, daß er im Ersten Weltkrieg nicht gekämpft hatte, wurde ihm übelgenommen und als Grund angeführt, daß er die jüngere Generation nicht verstehen könne. Francis Yeats-Brown schrieb an Arthur Bryant: „You say he was only 47 when war broke out: I feel he has been too physically comfortable to understand what Europe feels, and what our distressed areas feel.“311 Der einzige Neo-Tory, der eine gute Beziehung zu Stanley Baldwin hatte, war Arthur Bryant. Ihm verdankte er seine Karriere als ‚Chefhistoriker‘ der Regierung. Baldwin machte ihn zudem zum Leiter von Ashridge und der National Book ­Association. Baldwins Vertrauen ging so weit, daß er Bryant noch 1939 mit einem Vermittlungsauftrag nach Deutschland schickte, um die Appeasement-Politik der Regierung zu retten.312 Aber auch Bryant stimmte mit dem Vorwurf gegen Baldwin überein, daß dieser die Bedürfnisse der jungen Konservativen nicht verstehe. Im Briefwechsel mit Francis Yeats-Brown schrieb er: „What you say about S.B. is  very true. It touches the vital point that marks the misunderstanding in the ­post-war democratic world between rulers and ruled. Only where the physical suffering has been so acute that it has engendered revolution has that division ­ended.313 Es verwundert nicht, daß Baldwin die Neo-Tories reizte. Er verstand die ­Konservative Partei nicht als exklusive Kraft unabänderlicher monastischer ­Prinzipien, die die Demokratie bestenfalls akzeptierte, sondern als Volkspartei, die sich den neuen weiblichen Wählern und der Arbeiterschaft öffnen mußte. Für die Neo-Tories hingegen wurde „Baldwinism“314 zum Schlagwort für eine schwächliche Politik, die den Sieg von 1918 verschenkt und Großbritanniens imperiale Größe geopfert habe. In einem Artikel gegen die Indienpolitik Baldwins schrieb Lymington: Knowledge of his own pitiful lack of power in directing an irresponsible democracy at home should have led him to realise that there are other and more responsible forms of self-government for a melting-pot of peoples, whose one common factor is a 4000 year tradition utterly 311 Francis

Yeats-Brown an Arthur Bryant, 9. 6. 1937, Liddell Hart Centre for Military Archives, Bryant E 39/3. 312 Vgl. Kapitel 6.4. 313 Arthur Bryant an Francis Yeats-Brown, 10. 6. 1937, Liddell Hart Centre for Military Archives, Bryant E 39/4. 314 Jerrold, Georgian Adventure, S. 247.

148   4.  Neo-Toryismus als Weltanschauung opposed to democracy by ballot. […] Our prestige, not only in India, but throughout the East should stand at its zenith. It is not unfair to say that owing to Mr. Baldwin’s methods, it stands at its lowest.315

Nicht nur Baldwins Empire-Politik und die auf den Kompromiß mit Labour setzende Innenpolitik der Mitte erregte die Neo-Tories, auch seine Person entsprach ganz und gar nicht dem Wunsch nach einem entschlossenen-dynamischen Führer. Baldwin stilisierte sich gerne als einfachen, entspannten und Pfeife rauchenden countryman, der sich in volkstümlichen Radioansprachen aus seinem Wohnzimmer an die Briten wandte. Der Patriotismus, den er zur Schau stellte, war nicht laut-triumphal, sondern ländlich und friedlich.316 Obwohl er ein belesener Mann war, gab er sich als jemand, dem alles Intellektuelle fremd war. In einem Brief an Arthur Bryant vom Januar 1938 kommt diese Haltung zum Vorschein. Nachdem er sich bei Bryant für ein ihm zugesandtes Buch bedankte hatte, schrieb er am Ende des Briefes „I never regarded you as an intellectual! When you have got over the shock you may realise that that is the very nicest thing I could say of you.“317 In rechtskonservativen Zeitungen wurde Baldwins Image heftig kritisiert. „It takes more than a pipe and a pair of lamentable trousers to make an English ­gentleman, and I, for one, have never fallen for Mr. Stanley Baldwin’s pose of the simple, honest statesman who would never dream of deceiving the people or ­letting down a pal.“318 Baldwin sei kein einfacher und ehrlicher Staatsmann, so heißt es in dem Artikel in der Saturday Review vom November 1936 weiter, sondern ein Gauner und Verräter – halb gerissener Waliser, halb ehrgeiziger Schotte. Die Wochenzeitung Saturday Review führte in den dreißiger Jahren eine regelrechte Kampagne gegen Baldwin, die zum Teil persönlich verletzend war und sich am Rande der Verleumdung bewegte. Vor allem wurde ihm abgesprochen, überhaupt ein Konservativer zu sein. Unter dem Titel „Stanley Baldwin, Socialist“ wurde er – unter Berufung auf Douglas Jerrolds Buch England – in einem Artikel vom August 1935 als Verräter konservativer Prinzipien dargestellt, der England sukzessive in einen sozialistischen Staat umgewandelt habe. Unter dem Deck­ 315 Viscount

Lymington, Mr. Baldwin Versus the Empire, in: National Review 101 (Juli 1933), S. 41–46, hier 46. 316 Anne Perkins, Baldwin, London 2006; Andrew J. Taylor, Stanley Baldwin, Heresthetics and the Realignment of British Politics, in: British Journal of Political Science, 35 (2005), S. 429– 464; Philip Williamson, Baldwin’s Reputation. Politics and History, 1937–1967, in: Historical Journal, 47 (2004), S. 127–68; ders., Stanley Baldwin’s Reputation. The Making of an Historical Myth, in: The Historian, 82 (2004), S. 18–23; ders., Stanley Baldwin. Conservative Leadership and National Values, Cambridge 1999; Neal R. McCrillis, The British Conservative Party in the Age of Universal Suffrage. Popular Conservatism, 1918–1929, Columbus (OH) 1998; Stuart Ball, Stanley Baldwin, in: Richard N. Kelly und John Anthony Cantrell (Hrsg.), Modern British Statesmen 1867–1945, Manchester 1997, S. 161–78; Siân Nicholas, The Construction of a National Identity. Stanley Baldwin, „Englishness“ and the Mass Media in Inter-War Britain, in: Martin Francis und Ina Zweiniger-Bargielowska (Hrsg.), The Conservatives and British Society, 1880–1990, Cardiff 1996, S. 127–46. 317 Stanley Baldwin an Arthur Bryant, 19. 1. 1938, Liddell Hart Centre for Military Archives, Bryant C/62. 318 Saturday Review, 21. 11. 1936.

4.3  Vision eines radikalen Konservatismus in Opposition   149

mantel des Konservatismus habe er absichtlich „Conservatism’s greatest enemy“ in die Hände gespielt.319 Unter zwei großen Photos von Hitler und Mussolini, denen zwei kleinere und etwas unglücklich aussehende Photos von MacDonald und Baldwin gegenübergestellt wurden, stand in einer Ausgabe vom Juli 1936 fett gedruckt die Überschrift „England wants Conservatism.“ Die ersten Zeilen des Artikels lauteten: „Judas betrayed his master with a kiss. The Borgias poisoned their friends in the name of amity. Stanley Baldwin is ruining Britain in the name of the Con­ servatives.“320 Baldwin sei kein wirklicher Führer, ihm fehle alles Charismatische, er setze mit seiner sozialistischen Innenpolitik und seiner schwächlichen Außenpolitik, die fatalerweise nicht auf Rüstung setze, Englands Zukunft auf Spiel. In diesem Sinne heißt es auch im Dezember 1935: „We wish we had a Conservative leader with the red blood and determination of a Mussolini“. Und auch der zweite führende Konservative der Regierung, Außenminister Eden, genügte den Ansprüchen der Saturday Review nicht: „Mr. Anthony Eden is the symbol today of an effete and cowardly type of decadence, who like the wolf dares only to hunt in packs, and is endeavouring to use the antithesis of Con­servative principles to advance a policy which will lead us to war and humilia­tion.“321 Deutlich anspruchsvoller als die Kampagne der Saturday Review war ein Buch mit dem schlichten Titel Mr. Baldwin. A Study in Post-War Conservatism. Der Autor der Studie war John Green, ein junger Konservativer, der als Chairman of the Conservative Association der Universität Cambridge bereits 1931 einen aufschlußreichen Aufsatz für Dorothy Crisps Sammelband The Rebirth of Conservatism geschrieben hatte.322 Green widmete das Buch Viscount Lymington, „Leader of the English Mistery, with affection and hope.“323 Mit was für einem Autor man es hier zu tun hatte, blieb auch Rezipienten im nationalsozialistischen Deutschland nicht verborgen. In einem anglistischen Fachwerk hieß es: John Green steht der English Mistery nahe, dem Kreise von Theoretikern einer revolutionärkonservativen Politik, deren Anschauungen sich in mancher Hinsicht mit denen Moeller van den Brucks und seines Kreises vergleichen lassen. Die politische Dogmatik der English Mistery ist in William Sandersons Statecraft, ¹1927, ²1932 niedergelegt. Green legt die Maßstäbe dieser Ideologie an Persönlichkeit und Schaffen Stanley Baldwins an. Es ist einleuchtend, daß diese Maß­stäbe zu starr sind, um ein gerechtes Bild vom Führer der englischen Politik geben zu können. Im übrigen aber ist Greens Darstellung das tiefgründigste, was über Stanley Baldwin geschrieben wurde.324

Tiefgründig war das Buch vor allem in seiner 270-seitigen Verurteilung der britischen Konservativen Partei. Für Green war Baldwin nicht die Ursache des konser319 Thomas Polson, Stanley Baldwin, Socialist, Saturday Review, 3. 8. 1935. 320 „Historicus“, England wants Conservatism, Saturday Review, 18. 7. 1936. 321 Conservatives want Conservatism, Saturday Review, 14. 12. 1935. 322 John Green, Orthodox and Paradox, in: Dorothy Crisp (Hrsg.), The Rebirth

of Conservatism, London 1931, S. 139–174. 323 Lymington hatte sich bereits in einem Aufsatz von 1932 auf Green berufen. Vgl. Lymington, Principles of Agricultural Reconstruction I. 324 Wolfgang Schmidt, Englische Kultur in Sprachwissenschaftlicher Deutung, Leipzig 1936, S. 208 f.

150   4.  Neo-Toryismus als Weltanschauung vativen Übels, sondern lediglich die Personalisierung einer tieferen und längerfristigen Fehlentwicklung. Selbstverständlich habe er keine Vision und sei nicht der Führer, den die Nation brauche, doch gleichzeitig sei er das Beste, was die Nation hätte hervorbringen können.325 Baldwin selbst habe dem Konservatismus keinen neuen intellektuellen Impetus geben können, denn er erbte nach dem Krieg einen „betrayed political faith in a dead political system“. Baldwin habe in der Tat die Basis des Konservatismus erweitert. Doch zu welchem Preis? „In short, so broad has become the faith of the party that it has lost the criteria by which to differentiate a Whig from a Tory, a careerist from a patriot.326 Das Ziel eines ‚wahren‘ Konservatismus müsse es sein, so Green weiter, nationale Einheit wiederherzustellen. Diese nationale Einheit könne es nur zum Preis des jetzigen Regierungssystems geben. Denn – und hier treibt Green seine Toryinterpretation of history auf die Spitze – der englische Bürgerkrieg habe nie auf­ gehört, sondern „continued indefinitely under the modern name of party politics.“327 Sei das Ziel der nationalen Einheit erreicht, habe der Konservatismus seine Bestimmung erfüllt und damit seine Daseinsberechtigung verloren. „As ­Nietzsche said: ‚Man is something to be surpassed‘, so that is true of Toryism. Toryism surpasses itself to defeat party politics.“328 Die eigentliche Aufgabe des Konservatismus bestand also laut Green darin, das System der parlamentarischen Demokratie zu beenden und in einer neuen nationalen Einheit aufzugehen. Doch wie sollte diese neue nationale Einheit aussehen? Auch hier war Greens Antwort politisch extrem. Seine Vision eines Toryismus als umfassende Weltanschauung war eine radikale Antwort auf die Moderne: Autorität statt Vernunft, Disziplin statt Individualität, Royalismus statt Pluralismus. Die politische Konsequenz eines ‚wahren‘ Konservatismus war für Green nur logisch: „It cannot tolerate party politics because it is institutionalised truth.“329 „Institutionalised truth“ war Baldwins Politik in der Tat nicht und wollte es auch nicht sein. Entsprechend hatte Green nur mitleidige Verachtung für Baldwin übrig. Während in Italien, Deutschland, der Türkei und in der Sowjetunion sich gezeigt habe, welche Autorität das Zeitalter verlange, habe Baldwin seine Augen immer nur auf den Massen gehabt, ohne zu verstehen, daß eine Konzentration auf die wenigen Fähigen die englische Krise hätte beenden können. England erwarte wie ganz Europa „a renaissance of aristocratic thought and culture“, doch Baldwin zeige sich als impotenter Staatsmann, für manche ein „Enigma“, für manche ein Verräter. Hätte er nur seine Lektüre Jane Austens für Machiavellis Il Principe eingetauscht, dann wäre möglicherweise eine wahre nationale Regierung am Werk und nicht ein „hotchpotch of eccentrics and infidels“.330

325 John

Green, Mr. Baldwin. A Study in Post-War Conservatism, London 1933, S. vii. S. 162, 167. 327 Ebd., S. 169. 328 Ebd., S. 169. 329 Ebd., S. 176. 330 Ebd., S. 183. 326 Ebd.,

4.3  Vision eines radikalen Konservatismus in Opposition   151

4.3.4 Die absolute Monarchie und der korporative Staat als Fluchtpunkte des politischen Denkens der Neo-Tories True Toryism war Fundamentalopposition gegen liberal-konservativen Humanismus auf der einen und Ablehnung von Antiquiertheit und bloßer Reaktion auf der anderen Seite. Parlamentarische Demokratie habe ausgedient, die Konservative Partei sei hoffnungslos vom Liberalismus durchdrungen und Stanley Baldwin die Inkarnation der geistig-moralischen Fehlentwicklung. An Kritik ließen es die Neo-Tories nicht mangeln. Aber welche konkreten politischen Forderungen stellten sie eigentlich? Was bedeutete true Conservatism für das politische System Großbritanniens? Wie hätten sie den Staat gestaltet, hätten sie die Macht dazu bekommen? Eine Antwort auf diese Fragen ist nicht einfach, denn hinsichtlich ihrer tatsächlichen politischen Pläne blieben die Neo-Tories erstaunlich unpräzise. Doch es gibt vor allem zwei Fluchtpunkte, auf die ihr politisches Denken ausgerichtet war. Das ist zum einen die Wiederherstellung der absoluten Monarchie und zum anderen eine ‚englische Version‘ des korporativen Staats. Nicht in allen politischen Entwürfen waren diese Vorstellungen absolut, entscheidend waren vielmehr die Schritte dorthin. Das bedeutete einerseits die sukzessive Beschneidung der Macht des Parlaments und andererseits die Veränderung seiner Zusammensetzung. Parlamentarische Rechte und Befugnisse sollten zugunsten einer Stärkung der Exekutive, in der der König eine herausgehobene Stellung haben sollte, beschnitten und die Zusammensetzung des Parlaments, weg von regionaler Repräsentation hin zu einer berufsständigen Repräsentation, geändert werden. Wie immer diese Pläne im einzelnen aussahen, sie hatten die gleiche Konsequenz: der Ausschluß weiter Teile der Bevölkerung von politischer Partizipation und Mitbestimmung. „Toryism is not and cannot be democratic in the political sense of the word“331 hatte Viscount Lymington schon 1931, im selben Jahr, als er erstmals konservativer Abgeordneter wurde, klargestellt. Die Konkretisierung der politischen Vorstellungen der Neo-Tories vollzog sich im Spannungsfeld der Rezeption der totalitären Systeme und der historisch ab­ geleiteten Formulierung von true Toryism als antidemokratischem Kampfbegriff. Die Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 wirkte hierbei katalytisch. Zum einen gab sie neues politisches ‚Anschauungsmaterial‘ eines totalitären Systems, zum anderen erhöhte sich der Drang, sich vom deutschen Modell zu distanzieren und auf die explizit ‚englische‘ Natur der eigenen politischen Vorstellungen hinzuweisen. Deutlich zu sehen ist dies in der English Review der Jahre 1933 und 1934. Obwohl Jerrold und auch sein außenpolitischer Korrespondent Charles ­Petrie der Machtergreifung der Nationalsozialisten durchaus kritisch gegenüberstanden, bewies diese aus ihrer Sicht erneut die historische Überlebtheit des ­parlamentarischen Systems. Gleichzeitig erhöhte sich im Frühjahr 1933 der Druck auf Jerrold, eigene Vorstellungen einer politischen Alternative zu konkretisieren. Das Ergebnis dieser Überlegungen findet sich in dem in der American Review im 331 Lymington,

Ich Dien, S. 12.

152   4.  Neo-Toryismus als Weltanschauung Mai 1933 veröffentlichten Aufsatz „English Political Thought and the Post-War Crisis“,332 der hinsichtlich der politischen Überzeugungen Jerrolds als Schlüsseltext angesehen werden muß – insbesondere auch deshalb, weil der Text marginal verändert im Oktober 1933 in der English Review333 und 1935 als letztes Kapitel in Jerrolds politisch-historischem Großentwurf England wieder veröffentlicht wurde.334 Ausgangspunkt der Überlegungen Jerrolds war erneut ein radikal antiwhiggistisches Geschichtsbild. Die Niederlage der Krone in der Glorious Revolution von 1688/89 habe den Beginn einer bürgerlichen Klassenherrschaft ermöglicht, die mit Hilfe eines fortschrittsgläubigen Liberalismus nicht nur die Monarchie und den besitzenden Adel entmachtete, sondern die Idee des Staats als übergeordnete Instanz insgesamt bedeutungslos machte. Solange die Bourgeoisie sich selbst bereichern und somit auch den Rest des Landes versorgen konnte, war der tatsächliche Bankrott des Liberalismus zu verdecken. Mit dem Ersten Weltkrieg und den Nachkriegsjahren waren die Bedingungen dafür allerdings endgültig zerstört. Eine konservative Restauration sei jedoch jetzt unmöglich geworden: „Since the days of Charles  I we have never had a government in England; we have only had a succession of governing classes. […] We have no ancient regime; we not even have a façade behind which we can erect the machinery of the ­authoritarian State.“335 Der autoritäre Staat, der Jerrold hier vorschwebte, war jedoch auf keinen Fall zu verwechseln mit dem ‚Staatskapitalismus‘, wie er sich nach dem Ersten Weltkrieg immer mehr in England durchgesetzt habe. Dieser habe es der Bourgeoisie erlaubt, so Jerrold, mit Hilfe von gesetzgeberischer Gewalt ihre Monopole im Wirtschafts- und Finanzwesen auszubauen. Der Ruf nach nationaler Planung in der Öffentlichkeit – wie er sich in der Koalitionsregierung des National Government seit 1931 manifestierte – sei angesichts der wirtschaftlichen Turbulenzen verständlich, verdecke jedoch nur die eigentlichen Probleme. Als Lösung für die fundamentale wirtschaftliche und politische Krise plädierte Jerrold für eine Wiederbelebung der nationalen Energien in „an Anglo-Saxon version of the Ethical State“.336 Gemeint war damit im wesentlichen eine autoritäre Staatsform mit einer hierarchischen Gesellschaftsordnung und einem korporativen Wirtschaftssystem, basierend auf einer Zerschlagung der Großindustrie und einer möglichst breiten Neuverteilung des Eigentums im Sinne der Theorie des Distributism. Jerrold war sich bewußt, daß er hier nicht nur politische Korrekturen, sondern eine System­ änderung forderte. Erreichen wollte er diese jedoch nicht über eine revolutionäre 332 Douglas Jerrold, English

Political Thought and the Post-War Crisis, in: American Review 1 (Mai 1933), S. 150–178. 333 Douglas Jerrold, The Future of the English Political Parties, in: English Review 57 (Oktober 1933), S. 337–358. 334 Douglas Jerrold, England, London 1935. 335 Jerrold, The Future of the English Political Parties, S. 354. 336 Jerrold, English Political Thought and the Post-War Crisis, S. 174.

4.3  Vision eines radikalen Konservatismus in Opposition   153

Massenmobilisierung, sondern mit „State action of the most forceful kind“.337 Entscheidend für den Erfolg einer solchen ‚Revolution von oben‘ sei dabei eine strategische Allianz zwischen „Authoritarians“ (womit er die ‚diehard‘-Konservativen meinte), „new Conservatives“ (womit er neben sich und Leuten wie Petrie vor allem die jungen Tory-Abgeordneten meinte, die der English Review-Gruppe nahe standen) und „Individualists“ (womit er die antietatistische Gruppe um seinen ehemaligen Chef, den Verleger Ernest Benn, meinte). „These groups, outside the organized political parties, are growing in influence. If and when they consolidate their forces, their influence will certainly prevail.“338 Nach Jerrolds Auffassung sollten sich also sämtliche unzufriedenen Gruppen aus dem rechten Umfeld der Konservativen Partei zusammenschließen. Dabei sahen die Neo-Tories ihre politischen Aktivitäten und Bündnisse eher im Sinne einer dynamischen Aktion außerhalb der klassischen Parteipolitik und betonten die eigene Distanz zu formal organisierten Parteien. Klassische Parteipolitik trug aus ihrer Sicht den Makel des Liberalismus. Gleichzeitig betonten die Neo-Tories, daß sie inhaltlich wie organisatorisch keineswegs den Hort der Reaktion darstellten. „It is a common reproach against Toryism that it is a synonym for reaction, though in reality nothing could be further from the truth“, erklärte Charles Petrie den Lesern der Provinzzeitung Yorkshire Weekly Post. Dort heißt es weiter: „When we say we want to go back we do not mean to the conditions of the past, but rather to those principles which we believe to be eternal.“ Interessant ist nicht nur, was mit diesen ‚ewigen Prinzipien‘ gemeint ist, sondern auch, was nicht. Daß Petrie den liberalen Individualismus verurteilte, ist nicht weiter überraschend, doch auch der Nationalismus wurde als ‚französisches Prinzip‘ verurteilt. Als Doktrinen der französischen Revolution seien sowohl Individualismus als auch Nationalismus gescheitert. Einen ‚wahren‘ Tory könne das nur freuen: „The reaction against the ideals of the French Revolution is beginning on the Continent, and it will be not long in reaching this country. There will be no need for the Tory to don a black shirt or a brown one when that day arrives.“339 Autoritäre Gesellschaftsutopien ließen sich ab Mitte der dreißiger Jahre kaum noch ohne Referenz zum Naziregime entwickeln – teilweise sehr zum Ärger jener Neo-Tories, die dem Nationalsozialismus ablehnend gegenüberstanden. So beklagte Douglas Jerrold nach dem ‚Röhm-Putsch‘ im Juli 1934 weniger die ge­ waltsamen Ereignisse im Deutschen Reich als vielmehr die Tatsache, daß das ­politische Establishment Großbritanniens nun die typisch britischen Ängste vor revolutionärer Gewalt und Terror schüren und so Systemalternativen zur parlamentarischen Demokratie diskreditieren könne: „When they tell us, as they do, that this is the sort of thing which happens if you interfere in any way with the

337 Ebd., 338 Ebd.

S. 178.

339 Charles

1934.

Petrie, Democracy. Time to Reconsider its Claims, Yorkshire Weekly Post, 24. 2. 

154   4.  Neo-Toryismus als Weltanschauung Parliamentary system, they are telling a lie.“340 Es gelte vielmehr, so Jerrold, die Idee des korporativen Staats von einer Identifikation mit dem Nationalsozialismus zu befreien, denn dieser sei – im Gegensatz zur öffentlichen Darstellung – in Deutschland gar nicht etabliert worden. Es sei somit erste Pflicht eines jeden Bürgers, über eine Verfassungsreform hin zu einem korporativen Staat nachzudenken.341 Zugleich war es Jerrold aber wichtig, festzuhalten: „The present writer is not a Fascist, but like most people of his generation, he is unconvinced that our political institutions have suddenly, in this year of grace 1934, reached perfection.“ Selbstverständlich sei das politische System Großbritanniens in vielerlei Hinsicht vorbildlich, doch so wie der Rest der Welt vom englischen System gelernt habe, könne man doch nun auch von anderen Ländern lernen. England, so glaubte Jerrold, stehe sich dabei aber selbst im Wege: „In a sense our political genius is a handicap to us in an age which throws up so many new and formidable problems. Nations whose institutions were less developed, and therefore less ­hallowed by tradition and sentiment than our own, have been abler to inaugurate new and bold experiments in government.“342 Die Klarstellung, daß der korporative Staat mit dem nationalsozialistischen System wenig oder gar nichts gemein hatte, sondern letztlich eine moderne Realisierung alter, in der englischen Geschichte angelegter Prinzipien sei, war ein Hauptanliegen der Neo-Tories. Typisch hierfür sind auch die Äußerungen des konservativen Abgeordneten Hugh Molson. Molson veröffentlichte zusammen mit anderen konservativen Abgeordneten beider Häuser 1935 ein aufschlußreiches Buch zu konservativen Prinzipien und zur Frage der konstitutionellen Reform. Mit Lord Eustace Percy, Lord Iddesleigh und Molson waren drei der Autoren Mitglieder des January Clubs. Obwohl der January Club als Verbindungsinstanz zwischen den britischen Faschisten der British Union of Fascists und dem konservativen Establishment seinen Höhepunkt längst überschritten hatte, wurde das Prinzip des korporativen Staats in rechtskonservativen Kreisen weiter diskutiert. In seinem Aufsatz „The Future of the Constitution“ hob Molson hervor, daß immer wieder kritisiert werde, der korporative Staat sei ein ‚unenglisches‘ System. Dies sei jedoch ein Irrtum. The Bar Council and the Inns of Court, the Law Society and General Medical Council, even the central Midwives Board, are all Corporations entrusted by the State with government of im­ portant professions. Whereas Signor Mussolini had to create trade unions and employers’ associations in Italy and impose them the duty of making collective wage agreements, such bodies sprang up spontaneously in this country and already do that work.343

340 X,

German Terrorism and British Politicians, in: English Review 59 (August 1934), S. 133. Hinter dem Pseudonym X steckt mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit Douglas Jerrold, da der Artikel an Stelle seiner monatlichen Current Comments steht und auch inhaltlich überdeutlich die Handschrift Jerrolds aufzeigt. 341 X, German Terrorism and British Politicians, S. 136. 342 Ebd. 343 Hugh Molson, The Future of the Constitution, in: Thomas Cook (Hrsg.), Conservatism and the Future, London 1935, S. 221 f.

4.3  Vision eines radikalen Konservatismus in Opposition   155

Hugh Molson hatte sich schon länger mit den Prinzipien des korporativen Staats befaßt344 und ließ an seinen Ansichten, sehr zur Freude seines Bekannten Charles Petrie, auch im Parlament keinen Zweifel.345 Des weiteren plädierten auch Ludovici, Sanderson, Green und Lymington für eine grundsätzlich neue Staatsver­ fassung unter Rückgriff auf Strukturen des englischen Mittelalters. Die Landesstände, die von Edward III. einberufen wurden, so Lymington in seinem Leitfaden für Konservative Ich Dien. The Tory Path von 1931, basierten nicht auf einer ­Repräsentation der Individuen, sondern auf einer Vertretung ihrer Funktion in der Nation. Thus the Church and the Barons represented service to the Crown, spiritual, civil and military, together with the territorial side, the agriculture of England, while the burghers represented the guilds and trades of the country. Therefore if we could substitute for the present House a body representing the continuous life of the nation in its widest sense, we should get the vehicle of government to carry us forward on a national highway.346

Petries Genugtuung ob der zunehmenden Diskussion der Vor- und Nachteile des korporativen Staats in konservativen Zirkeln ist verständlich, leistete er doch schon seit Jahren ‚Aufklärungsarbeit‘ in diesen Kreisen. Bei einem der wöchentlichen Treffen des 1912 Club definierte er den korporativen Staat „as a managed State with an economic basis, in which not only the material but also the moral welfare of the citizen was taken into account“. In Italien habe er seine perfekteste Ausprägung gefunden, doch der Faschismus war keineswegs notwendig für die Errichtung des korporativen Staats. In Portugal beispielsweise gebe es einen korporativen, aber keinen faschistischen Staat. Auch in Großbritannien gebe es Schritte in die richtige Richtung: „What was needed above all in a Corporate State was a strong executive, but this seemed to be in any case the tendency of the age. Whatever might be thought of it, the Corporate State was, to quote Mr. Walter Elliot, ‚Europe’s latest experiment in political philosophy.‘“347 Das neueste politische Experiment Europas mit der ältesten Regierungsform der europäischen Zivilisation zu verbinden, war die eigentliche Aufgabe, der sich Charles Petrie in den dreißiger Jahren gewidmet hatte. Wie kein anderer Autor kombinierte er seine Beschäftigung mit dem korporativen Staat mit dem Studium der europäischen Monarchie. Aus seiner Sicht gehörte beides unweigerlich zusammen. Für Petrie galt das ja auch persönlich. Als Mussolini-Biograph, als enger Vertrauter Luigi Villaris und als Aktivist in einer ganzen Reihe anglo-italienischer Organisationen war er ein wichtiger britischer Ansprechpartner für das faschistische Italien und er widmete einen großen Teil seiner publizistischen Tätigkeit der 344 Hugh

Molson, Industry and Capital and Labour in the Fascist State, in: English Review 57 (November 1933) S. 459–468. 345 House of Commons Debates, 26. 11. 1934, Vol. 295 cc509–519. In seinem Tagebuch schrieb Petrie: „Lunched at the club with Iddesleigh, Whitehead, Hoskins, and Molson. The last made a very good speech in the House last night, and seems to have veered round to the Corporate State again.“ Tagebücher Charles Petrie, 27. 11. 1934. 346 Lymington, Ich Dien, S. 27. 347 Forms of the Corporate State, The Times, 12. 12. 1934.

156   4.  Neo-Toryismus als Weltanschauung Unterrichtung der britischen Öffentlichkeit über Italien, Mussolini und das italienische System. Zum anderen war sein historisches Werk, seine vielen wissenschaftlichen und halbwissenschaftlichen Arbeiten vor allem durch einen radikalen Royalismus geprägt, der in der absoluten britischen Monarchie das Ideal der Staatsverfassung sah. Es war daher nur folgerichtig, wenn er einen Artikel zur Erbmonarchie im Ashridge Journal mit einem Mussolini-Zitat beginnt: „Il Rè, simbolo delle Patria, simbolo della perpetuità della Patria.“348 In dem aufschlußreichen Aufsatz geht Petrie wie in so vielen anderen Artikeln von der Prämisse aus, daß die Demokratie als Staatsform ausgedient habe. Der Erste Weltkrieg wurde gefochten „to make the world safe for democracy“, doch paradoxerweise habe er in ganz Europa der Diktatur den Weg geebnet. Es sei nun nicht mehr nötig, so Petrie, dem modernen Bürger die Vorteile der Diktatur gegenüber der Demokratie zu erörtern, diese seien evident. Ein fundamentales Problem bliebe in den meisten Diktaturen hingegen ungelöst: Dictatorship is undoubtedly in every way preferable to democracy, but although the dictator may interpret the present aspirations of those whom he governs, the weakness of that system of government is that the prosperity of the country which adopts it is so often dependent upon the continued existence of one man, and the secret of immortality has yet to be discovered.349

Aus Sicht Petries konzentrierte sich die Diktatur mit ihrer Abhängigkeit vom politischen Genie und Charisma des Diktators zu sehr auf die Gegenwart. Damit sei die Diktatur gewissermaßen vergangenheits- und zukunftslos zugleich. In ihr gebe es weder die spirituelle Tradition und Legitimität noch die Stabilität, die dem dynastischen Prinzip innewohnte. „The king represents not only the present of his country, but its past and future, in a way that is impossible with any other form of government. He is a guarantee of the perpetuity of the national tradition, of which he is the outward and visible symbol.“ Schon das Beispiel des antiken Rom habe gezeigt, daß eine ungeregelte Nachfolge zum Untergang eines Empires führen kann. Für Petrie war somit klar: „The world would almost certainly be a far happier place to-day, if no such thing as a republic were to be found on the map.“350 Wie Petrie waren alle Neo-Tories überzeugte Monarchisten. In ihrem historisch orientierten politischen Denken gab die Monarchie dem Staat Legitimität, Stabilität und politische Ordnung. Darüber hinaus wurde die ‚mystische‘ Qualität der Monarchie beschworen. Viscount Lymington schrieb in einem Essay für seine Geheim­organisation English Array: „We speak of our Sovereign Lord the King. The phrase enshrines the deepest political instinct we have. It is not a sentiment of wishfulness; it is the strength which binds us back to our ancestors, and drives us forward to build the future with purpose derived from the binding back. It has

348 Charles

Petrie, A Plea for Hereditary Kingship, in: The Ashridge Journal 9 (März 1932), S. 20–23, hier 20. Vgl. auch den Aufsatz Charles Petrie, Has Monarchy a Future, Saturday Review, 9. 5. 1931. 349 Petrie, A Plea for Hereditary Kingship, S. 21. 350 Ebd., S. 23.

4.3  Vision eines radikalen Konservatismus in Opposition   157

two sides, mystical and practical.“351 Die eigentliche mystische Qualität der Monarchie lag für Lymington jedoch in der ‚Reinheit‘ des Bluts. Ganz im Sinne der von ihm und seinen Mitstreitern vertretenen Blut-und-Boden-Ideologie repräsentierte der König die höchste Form der ‚Blut-Reinheit‘, und daher leite sich auch seine göttliche Herrschaft ab.352 Diese Idee sei von der römisch-christlichen Tradition verdeckt worden, indem Könige unabhängig von ihrer Rasse gekrönt wurden. Dem stellte Lymington seine Vorstellung eines heidnischen Königsheils entgegen: „The true conception of the divine right of the kings comes from the pagan but real conception of blood and soil.“ In England sei der König heutzu­ tage hingegen nichts weiter als ein „Hereditary President“. Es sei kein Zufall, daß der englische König nur noch aus seinem ‚Käfig‘ gelassen werde, um Krankenhäuser und andere Institutionen zu eröffnen.353 Die English Array dachte ausschließlich an England. Petries glühende Unterstützung der Monarchie machte hingegen vor Staatsgrenzen keinen Halt. Sein politisches Ziel war die Restauration der Monarchie überall dort in Europa, wo sie von anderen Staatsformen abgelöst bzw. durch Parlamentarismus und Massendemokratie auf eine Repräsentationsfunktion reduziert worden war. Eine Plattform zu Verwirklichung dieser Idee fand Petrie in der neu gegründeten Royalist International, der er als Präsident vorstand. Die Repräsentanten der Organisation aus Österreich, Ungarn, Kroatien, Montenegro, Spanien, Rußland, Griechenland und Frankreich kamen im März 1932 in London zu einem Inaugurationstreffen zusammen. In der Zeitung The Truth hieß es am 2. März 1932 hierzu: „There are so many loyalists now scattered about Europe that it is hoped that useful work may be done in bringing them together, if only to resist Bolshevik tendencies and further the interest of peace.“354 Ein Schauplatz für dieses royalistische Revival war, bevor Petrie sich in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre auf Spanien und Griechenland konzentrierte, vor allem Österreich, wo er sich für eine Wiedereinführung der Habsburgermonarchie einsetzte.355 „I am going to do all I can to force the Habsburg restoration as the only solution for Austria“,356 schrieb er in sein Tagebuch. Seine Hoffnungen ruhten auf dem jungen Otto von Habsburg, dem späteren CSU-Abgeordneten des Europäischen Parlaments. Der Sohn des letzten Kaisers Österreich-Ungarns, Karl I., der zu diesem Zeitpunkt den Titel kaiserlicher Prinz und königlicher Prinz 351 Viscount

Lymington, An Essay on English Royalism, o. J., Wallop Papers (Gerald Vernon Wallop, 9th Earl of Portsmouth), Hampshire Record Office, Winchester, 15 M84 F 176. 352 Ebd. 353 Ebd. 354 The Truth, 2. 3. 1932. Vgl. The Times, 5. 2. 1932, „Royalist International Inaugurated“. ­Äußerst positiv berichtete auch der Evening Standard über das Treffen und plädiert für M. Daudet von der Action Française als Teil der Gruppe. The Evening Standard, 5. 2. 1932. 355 So beispielsweise in einem Brief an den Daily Telegraph am 29. 6. 1933. „A letter of mine on Austria recommending the Restoration of the Habsburgs has been given great prominence in the Daily Telegraph to-day, which is all to the good.“ Tagebücher Charles Petrie, 29. 6.  1933. 356 Tagebücher Charles Petrie, 27. 6. 1934.

158   4.  Neo-Toryismus als Weltanschauung von Ungarn, Erzherzog Otto von Österreich trug, war für Petrie angesichts der innenpolitischen Probleme Österreichs die einzige Lösung: „Will nothing con­ vince the statesmen of Europe that the only solution is Otto?“357 Petrie war mit Otto befreundet und traf diesen regelmäßig in dessen Exil auf Schloß Ham in Steenokkerzeel bei Brüssel.358 In einem ausführlichen Interview, das er dem ­Neuen Wiener Journal im Juli 1933 gegeben hatte, erläuterte Petrie: Es ist ein verhängnisvoller Irrtum, wenn manche Volksschichten, heute von verantwortungslosen Agitatoren zu dieser Ansicht getrieben, glauben, daß die Monarchie als Staatsform ausgespielt hat. Sie ist heute wie ehedem das Rückgrat eines Landes und die neuere Geschichte hat auch in den letzten Jahrzehnten bewiesen, daß sie das Symbol der überparteilichen ­Idealregierung ist. Die Monarchie kann jeder Verfassung eingebaut werden. Mussolini hat sie mit dem Faschismus verbunden, in England ist sie auf dem Boden der Demokratie fundiert, jener Demokratie, die als Alleinherrscherin in den meisten anderen Ländern vor dem Zu­ sammenbruch steht. Die Ausschaltung des Parlaments in so vielen Nachkriegsrepubliken ­beweist die Inferiorität der sogenannten Volksherrschaft, die politisch ungeschulten Männern anvertraut wurde, ­deren Verantwortungsbewußtsein nicht genügte, um ein Staatsschiff zu steuern.359

Petrie erklärte der österreichischen Zeitung, daß er sich in Großbritannien weiter für die Wiedereinsetzung der Habsburger einsetzen werde. Er war sich sicher, daß im Prinzip die maßgebenden Kreise mit einer solchen Lösung einverstanden seien. Als Beleg für sein Engagement führte Petrie eine Zusammenkunft mit zahlreichen Peers und konservativen Parlamentsmitgliedern an, vor denen er für seine Argumentation bezüglich der Königsfrage in Mitteleuropa spontanen Beifall erhalten habe. Die Reaktion, die er auf seine royalistische Agitation bekam, habe ihn in seiner Überzeugung bestärkt, daß England jedes Bestreben zur Habsburgerrestauration werktätig unterstützen würde.360 Doch anders als in dem Interview vertraute Petrie seinem Tagebuch deutliche – und ja durchaus berechtigte – Zweifel an, ob sein Kampf für ein royalistisches Revival realistisch war: „I often wonder if there will be a Restoration anywhere, or if the world isn’t too mad and bad to take the one step that might save it.“361 Petries Bemühungen um die Restauration der Monarchie in Österreich sind symptomatisch für die politischen Ambitionen der Neo-Tories. Zwar war man sich in der Ablehnung der parlamentarischen Demokratie einig, Gegenentwürfe waren aber angesichts der politischen Realitäten wenig aussichtsreich. Nicht weniger schwerwiegend war, daß im Kreis der Neo-Tories keine Einigkeit über die Ausgestaltung eines neuen ‚Systems‘ herrschte. Dies liegt vor allem an einer mehrdeutigen Interpretation des korporativen Staats. Paradigmatisch hierfür sind die

357 Tagebücher

Charles Petrie, 26. 6. 1934. morning we went to Steenockerzeel and found Otto in Great form; he was very grateful to me for coming to see him. He was very optimistic, and said there was nothing in his way now but the Little Entente. He thinks Gömbös will be out before the year is over. I also saw Mirbach, Degenfels, and Wiesner.“ Tagebücher Charles Petrie, 24. 10. 1935. 359 Charles Petrie, Monarchie der Zukunft, Neues Wiener Journal, 23. 7. 1933. 360 Ebd. 361 Tagebücher Charles Petrie, 24. 6. 1933. 358 „This

4.4.  Die Rezeption des italienischen Faschismus   159

oben ausgeführten politischen Vorstellungen von Jerrold, Petrie und Lymington. Jerrolds Version eines ethical state sah eine autoritäre Staatsform mit einer hierarchischen Gesellschaftsordnung und einem korporativen Wirtschaftssystem vor. Im Gegensatz zu seinem Mitstreiter Petrie sah er in der italienischen Lösung nur bedingt ein Vorbild, sondern plädierte für den korporativen Staat im Sinne der Theorie des Distributism. Kennzeichnend für diese katholische ‚Dritte-Weg-Theorie‘ ist die skeptische Haltung sowohl gegenüber kapitalistischen Monopolisten als auch gegenüber dem Staat als Wirtschaftsakteur. Daher sollte der geforderten Zerschlagung der Großindustrie keine Verstaatlichung folgen, sondern eine möglichst breite Neuverteilung des Eigentums. Der ausdrücklichen Orientierung am mittelalterlichen Gildensystem konnte sich auch Lymington anschließen, allerdings nicht unter katholischem Vorzeichen. Auch für ihn waren sowohl Kapitalismus als auch Sozialismus antitraditionalistische Kräfte der Aufklärung. Anders als Petrie und Jerrold erweiterte Lymington seinen Kampf gegen die Moderne um den Faktor der Rasse und des Blutes. Seine Forderung nach der ‚Reinheit‘ des Blutes betraf sogar den König, den er als ‚Erb-Präsident‘ ohne Verbindung zu englischem ‚Blut und Boden‘ ansah. Wenn auch nicht unter ‚rassischen‘ Gesichtspunkten träumte auch Petrie von einem monarchistischem Revival. Für die Vereinbarkeit von Monarchie und korporativem Staat sah Petrie, der anders als Jerrold und Lymington immer auch europäisch dachte, Italien durchaus als Vorbild. Ein starkes Interesse hatte Mussolinis Italien jedoch bei allen Neo-Tories schon lange geweckt.

4.4.  Vorbild Italien? – Die Rezeption des italienischen Faschismus bei den Neo-Tories In den vorrausgegangenen Kapiteln wurde gezeigt, wie sich im Großbritannien der Zwischenkriegszeit ein antiliberaler Neo-Toryismus gebildet hatte, der sich vom traditionellen Konservatismus sowohl programmatisch und taktisch als auch hinsichtlich seines politischen Selbstverständnisses unterschied. Die geistesgeschichtlichen Wurzeln dieses Phänomens wurden dabei in genuin britischen Traditionslinien identifiziert. Trotzdem spielte der intellektuelle Austausch mit dem europäischen Ausland eine nicht unerhebliche Rolle für die Formierung des NeoToryismus. Auf die Bedeutung Frankreichs, insbesondere der frühen Ideen von Charles Maurras und seiner Action Française, die durch Belloc, Hulme und Eliot für den britischen Diskurs nutzbar gemacht wurden, ist bereits hingewiesen worden. Eine grundverschiedene und eben nicht nur theoretische Relevanz hatte jedoch jenes Land, das seit Benito Mussolinis ‚Marsch auf Rom‘ die erfolgreiche Übernahme der Macht durch eine militante, antikommunistische Bewegung der radikalen Rechten repräsentierte. Das faschistische Italien war für die britische Rechte insgesamt von großer Wichtigkeit. Während jedoch für die faschistischen ­Parteien – insbesondere für Mosleys BUF – der italienische Faschismus „das unmittelbare

160   4.  Neo-Toryismus als Weltanschauung Vorbild“362 bildete, blieb die Rezeption des Italofaschismus bei den Neo-Tories ambivalent. Das lag vor allem auch an dem enorm heterogenen Erscheinungsbild des italienischen Faschismus. Wie Stefan Breuer es treffend für die Faschismus­ rezeption der deutschen ‚Konservativen Revolution‘ formuliert hat, konnte viel gemeint sein, wenn man sich positiv auf das italienische Vorbild bezog: der fascismo movimento der lokalen Schlägerbanden, die auf camaraderia und persönlicher Loyalität beruhten, ihre Führer per acclamationem wählten und eine Subversion der Institutionen betrieben, die persönliche Diktatur Mussolinis mit ihren cäsaristischen Zügen; die nationalistische Ideologie mit ihrer Lehre von der proletarischen Nation und dem socialismo nazionale; und last not least, die Verwirklichung dieser Ideologie durch einen autoritären Etatismus.363

Ähnlich trifft das auch für die britischen Rezipienten zu. Bedenkenswert ist allerdings noch ein weiterer Faktor: Die Bezüge auf den italienischen Faschismus richteten sich nicht nur auf das, was der Faschismus war, sondern auch teilweise auf das, was der Faschismus nicht war. Gerade dieses Gemenge aus Wunschvorstellung und Analyse, aus Apologie und Kritik offenbart einige der interessantesten Aspekte der neo-toryistischen Weltanschauung. Für die Eindämmung des Sozialismus durch einen integralen Nationalismus, für die Rolle von Monarchie und Kirche und vor allem für die Etablierung eines korporativen Wirtschafts- und Gesellschaftssystems bot das faschistische Italien empirisches Anschauungsmaterial, das für die Formulierung eigener Herrschaftskonzepte nutzbar gemacht werden konnte. Zugleich ist die kritische Beurteilung von revolutionärer Gewalt und der Beschneidung von Freiheitsrechten auch sehr aufschlußreich für das politische Selbstverständnis der Neo-Tories. Sie verweist auf die Fortdauer eines freiheitsrechtlichen Minimalkonsenses der erklärten Gegner der parlamentarischen Demokratie.

4.4.1  Faschismus und Universalismus In der britischen Forschungsliteratur wird darauf hingewiesen, daß die konservative Presse bis hin zur Times und eine Reihe konservativer Politiker dem faschistischen Italien und der Person Mussolinis überwiegend wohlwollend und teilweise sympathisierend begegneten. Dieses weitgehend positive Bild wurde nur kurz­ fristig durch außenpolitische Schwierigkeiten wie die Korfu-Krise 1923 getrübt. Bei aller Sympathie hatte man jedoch den Faschismus nur als ein für Italien geeignetes System angesehen, das für die Lösung der Probleme Großbritanniens ­ungeeignet schien.364 In diesen Zusammenhang passen die oftmals zitierten Sätze 362 Bauerkämper,

Die „radikale Rechte“ in Großbritannien, S. 226. Vgl. hierzu auch Claudia Baldoli, Anglo-Italian Fascist Solidarity. The Shift from Italophilia to Naziphilia in the BUF, in: Julie Gottlieb und Thomas Linehan, The Culture of Fascism. Visions of the Far Right in Britain, London u. a. 2004, S. 147–161. 363 Breuer, Anatomie der Konservativen Revolution, S. 125 [Hervorhebungen im Original]. 364 R.J.B. Bosworth, The British Press, Conservatives and Mussolini, 1920–34, in: Journal of Contemporary History 5 (1970), S. 168 f.; Griffiths, Fellow Travellers of the Right, S. 13 f. Vgl. hierzu auch Beate Scholz, Italienischer Faschismus als Export-Artikel (1927–1935). Ideologische und organisatorische Ansätze zur Verbreitung des Faschismus im Ausland,

4.4.  Die Rezeption des italienischen Faschismus   161

Winston Churchills „If I had been Italian, I am sure that I should have been with you from start to finish in your triumphant struggle against the bestial appetites and passions of Leninism. But in England we have not had to fight this danger in the same deadly form. We have our way of doing things.“365 In den Kreisen der britischen Intellektuellen war die Auseinandersetzung mit dem italienischen Faschismus intensiver. Dabei traten einige der prominentesten britischen Autoren wie Bernard Shaw, Wyndham Lewis und Ezra Pound in den zwanziger und frühen dreißiger Jahren als offene Bewunderer Mussolinis hervor.366 Zu den frühen Bewunderern des faschistischen Italiens gehörten jedoch insbesondere jene katholischen Denker, die sich in der von Belloc und Chesterton gegründeten Tradition des Distributism sahen. Dabei richtete sich ihre Anerkennung nicht nur auf den Antikommunismus des Faschismus, sondern sie erhofften sich von der Durchsetzung eines korporativen Staates die Realisierung ihrer Forderungen nach einem Instrument zur Bekämpfung der Macht von Großindustrie und Großfinanz. Belloc selbst war von Anfang an ein entschiedener Unterstützer Mussolinis. Basierend auf seiner Vorstellung eines umfassenden kulturellen Katholizismus sah er das faschistische Italien als eine Bastion der europäischen Zivilisation gegen die „hellish twins“367 des Monopolkapitalismus und internationalen Kommunismus. Im Unterschied zu vielen anderen britischen Intellektuellen sah Belloc sich auch nicht genötigt, sich von den totalitären Aspekten des Regimes zu distanzieren.368 Die ersten systematischeren Untersuchungen zum italienischen Faschismus in Großbritannien überhaupt stammen von Autoren mit einer direkten Beziehung zu Italien. Der 1892 geborene Publizist James Strachey Barnes wuchs in Italien auf, konvertierte 1914 zum Katholizismus und trat als Bewunderer Mussolinis in die Partito Nazionale Fascista ein. Barnes 1926 geschriebenes und 1928 in ­England erschienenes Buch The Universal Aspects of Fascism und seine folgenden Publikationen zum italienischen Faschismus waren trotz ihrer deutlichen Parteinahme – das Vorwort zu The Universal Aspects of Fascism stammt von Mussolini – auf­ lagenstarke Erfolge in England.369

­Trier 2001; sowie die kurze Studie Claudia Baldoli, Exporting Fascism. Italian Fascists and Britain’s Italians in the 1930s, Oxford u. a. 2003. 365 Winston Churchill bei einer Presseerklärung in Rom am 20. 1. 1927, zit. nach Griffiths, ­Fellow Travellers of the Right, S. 15. 366 Ulrich Broich, Ezra Pound, Shaw, Wyndham Lewis als Bewunderer von Lenin und Mussolini, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift 50 (2000), S. 464–479; Peter Firchow, Der Faschismus und die literarische Avantgarde in England zwischen den Weltkriegen, in: Reinhold Grimm und Jost Hermand (Hrsg.), Faschismus und Avantgarde, Königstein/Ts. 1980, S. 35–65. 367 Diese Bezeichnung stammt aus Hilaire Belloc, Capitalism and Communism. The Hellish Twins, in: English Review 54 (Februar 1932), S. 122–134. 368 Corrin, Catholic Intellectuals and the Challenge of Democracy, S. 209 f. 369 Griffiths, Fellow Travellers of the Right, S. 16 f.; Scholz, Italienischer Faschismus als Export-Artikel, S. 178–183.

162   4.  Neo-Toryismus als Weltanschauung Barnes Faschismus-Rezeption war apologetisch und offiziös, und dennoch ist sie in ihrem geschichtsbildlichen Kern typisch für eine Reihe katholischer Intellektueller, die sich in der Tradition des Distributism sahen. Sie bezogen sich selten auf die Bewegungsphase des Faschismus – Gewalt, Agitation, Demagogie waren ihnen suspekt –, sondern meist auf die Verwirklichung der faschistischen Idee in einem autoritären Staat, den sie als Anfang einer gesamteuropäischen Bewegung zur Wiederherstellung des mittelalterlichen Ordo-Gedankens deuteten. Diese Faschismus-Rezeption war dezidiert konservativ und etatistisch, verdrängte den Aspekt der revolutionären Gewalt, überinterpretierte die christlich-abendländische Legitimierung des Faschismus und konzentrierte sich meist auf den korporativen Staat. Dessen tatsächliche Verwirklichung wurde meist überschätzt,370 was ihn um so mehr zum Kristallisationspunkt der eigenen Herrschaftskonzepte werden ließ. Barnes’ generelle Definition des Faschismus lautete: Fascism may be defined generally as a political and social movement having as its objects the re-establishment of a political and social order, based upon the main current of traditions that have formed our European civilisation, traditions created by Rome, first by the Empire and subsequently by the Catholic Church. Conversely, Fascism may be described as the repudiation of that individualist mentality that found expression first in the Pagan Renaissance, then in the Reformation and later in the French Revolution, not to speak of the Industrial Revolution, which issued in ‚Capitalism‘ itself the product of the Reformation.371

Der italienische Faschismus war demnach kein politisches Experiment, kein isoliertes historisches Phänomen, sondern Ausdruck eines universellen Wettstreits von Ideen. Gemeint war damit der Kampf zwischen politischem und wirtschaft­ lichem Liberalismus und dem „revival of the older ideas under a modern and purified form“.372 Bolschewismus und Sozialismus stehen in dieser Interpretation auf der Seite des Liberalismus. Nach Barnes waren sie ja nicht nur Kinder desselben Geistes, sondern auch in den meisten kapitalistischen Ländern jene unheilvolle Allianz eingegangen, die sich im System des state socialism manifestierte. Indem Barnes den Aufstieg des Faschismus als ein universelles Phänomen identifizierte, konnte er die freiheitsrechtlichen Schattenseiten und den Terror des Regimes als situationsbedingte Übel abtun und die Diktatur als eine Übergangsphase auf dem Weg zu einer stabilen Ordnung mit checks and balances rechtfertigen. Mit dieser dezidiert konservativen Interpretation des Faschismus ließ sich auch eine faschistische Perspektive für England eröffnen. Anders als die konkrete Ausgestaltung des faschistischen Regimes, die notwendigerweise an die spezifisch ­italienischen Bedingungen geknüpft war, hatten die grundlegenden Ziele des ­Faschismus – gewissermaßen als Ausdruck einer umfassenden katholisch-konservativen Revolution – bei Barnes eine „universal validity“.373 Barnes deutete den 370 Mussolini

hatte nach seinem Sturz im Jahr 1943 beklagt, daß es „die größte Tragödie seines Lebens“ gewesen sei, daß es ihm nicht gelungen sei, „falsche[n] Korporativisten“ zu widerstehen, die in Wirklichkeit „Agenten des Kapitalismus“ gewesen seien. Zit. nach Payne, Geschichte des Faschismus, S. 153. 371 James Strachey Barnes, The Universal Aspects of Fascism, London 1928, S. 35. 372 James Strachey Barnes, Half a Life Left, London 1937, S. 324. 373 James Strachey Barnes, Fascism. A Reply, in: The Criterion, Oktober 1929, S. 70–83, hier 79.

4.4.  Die Rezeption des italienischen Faschismus   163

Faschismus, so Ernst Nolte, „mit den Begriffen der Neuscholastik Maritains als seine Art erneuerter katholischer Theokratie“.374 Als internationaler Experte mit direkten Kontakten zum italienischen Regime avancierte Barnes zum Generalsekretär des 1927 in der Schweiz gegründeten Centre International d’Études sur la Fascisme. Diese Organisation sollte ein internationales Zentrum zur Erforschung des Faschismus darstellen, war jedoch angesichts ihrer intensiven Kontakte zur faschistischen Partei Italiens – und trotz ­gegenteiliger Versicherung – alles andere als eine neutrale wissenschaftliche Einrichtung. Die Finanzierung der Organisation kam aus Italien, und im Vorstand des CINEF saßen neben Herman de Vries de Heekelingen und Marcel Boulenger der führende theoretische Sprecher der italienischen Faschisten und ehemalige Bildungsminister Giovanni Gentile.375 Andere prominente britische Gründungsmitglieder des CINEF waren der notorische Verschwörungstheoretiker des Pa­ triot, Lord Sydenham of Combe, Edmund Gardner, Professor an der London ­University, und Walter Starkie, Professor an der National University in Dublin.376 Charles Petrie saß im Verwaltungsrat des CINEF.377 Auch Douglas Jerrold sympathisierte mit dem CINEF. In seiner English Review hatte er auf die universellen Aspekte des Faschismus – insbesondere das Experiment des korporativen Staats – die beim CINEF ‚objektiv‘ erforscht werden könnten, hingewiesen. Es sei ein großes Unglück, so schrieb er 1929, daß das interessanteste Regierungsexperiment seit Alexander Hamilton von den Engländern fälschlicherweise mit einer autoritären Diktatur assoziiert werde: Fascism is allied only accidentally to the personal rule of Mussolini. It deserves to be, and should be, studied on its merits. The International Council for the Study of Fascism has been founded for this purpose. In the executive council is only one Italian, but representatives (mostly university professors) of no less than fourteen countries, including England and America. The council have just published their first year-book entitled ‚A Survey of Fascism‘ and the very objective character of the contents make it a book to read.378

Der CINEF gab Raum für nationale Spielarten der Faschismusrezeption. Der irische Professor Walter Starkie hatte sich selbst ein Bild vom faschistischen ­Italien gemacht und Mussolini für ein Interview getroffen.379 Seine ganz spezielle Begeisterung für den Faschismus speiste sich jedoch aus seinem irischen Nationalismus. Nach dem erfolgreichen Befreiungskampf im Zeichen des irischen Patriotismus bedürfe es, so Starkie in einem Beitrag für das Jahrbuch des CINEF von 374 Ernst

Nolte, Vierzig Jahre Theorien über den Faschismus, in: Ders. (Hrsg.), Theorien über den Faschismus, Köln 41976, S. 41. 375 Zur Entstehungsgeschichte und Arbeit des CINEF ausführlich Scholz, Italienischer Faschismus als Export-Artikel, S. 225–256. 376 A Survey of Fascism. The Year Book of the International Centre of Fascist Studies, Volume I, London 1928, S. 5; Webber, The Ideology of the British Right, S. 28, 147; Griffiths, Fellow Travellers of the Right, S. 16 f. 377 Scholz, Italienischer Faschismus als Export-Artikel, S. 217. 378 Douglas Jerrold, Current Comments, in: English Review 48 (Februar 1929), S. 129–142, hier 136 f. 379 Griffiths, Fellow Travellers of the Right, S. 19 f.

164   4.  Neo-Toryismus als Weltanschauung 1928, einer neuen und zukunftsorientierten Idee mit identitätsstiftendem Charakter für die junge irische Nation. Es gelte eine neue Zivilisation zu errichten, die den grundlegend agrarischen Charakter Irlands mit dem nationalen Idealismus in Verbindung bringe. Der ideelle Überbau für die neue irische Zivilisation müsse im Gegensatz zu Individualismus und Agnostizismus stehen, die bisher die Basis für die moderne politische Theorie dargestellt hätten.380 Bereits in den letzten Jahren habe es in Irland deutliche Anzeichen für ein spirituelles Erwachen gegeben. Daher sei es gut möglich, „that Ireland may come to assimilate a great deal of fascist political doctrine, properly understood“.381 Starkie war nicht der einzige irische Intellektuelle, der sich für den italienischen Faschismus begeisterte. Der bekannteste war der Schriftsteller und Nobelpreisträger William Butler Yeats. Die Parallelen zwischen den beiden katholischen Agrarstaaten hervorhebend, sah er schon früh im italienischen Faschismus das geeignete Beispiel für die vom Bürgerkrieg zerrüttete junge Nation.382 Yeats‘ Bewunderung für den Faschismus war jedoch keineswegs nur theoretisch. So unterstützte er aktiv für einige Monate die irischen Blueshirts, die unter der Führung des ­Generals Eoin O’Duffy durch paramilitärische Aktivitäten für Aufmerksamkeit sorgten, allerdings nie ein ernsthafter politischer Faktor in Irland waren.383 In der English Review verlief die ab Mitte der zwanziger Jahre verstärkt einsetzende Rezeption des italienischen Faschismus differenzierter. Auch hier erschien Mussolini oft als hervorragender Staatsmann und historische Größe,384 doch das Interesse galt vor allem den konkreten Erfolgen, die das faschistische System vorzuweisen hatte. In einem Artikel vom Oktober 1926 sah der Geistliche Dr. Biggs in der faschistischen Bewegung eine politische und spirituelle Transformation des Kameradengeistes des Ersten Weltkriegs in die Nachkriegszeit. Durch sie sei es gelungen, alle partikularen und privaten Interessen dem Wohlergehen des Vaterlandes unterzuordnen. Die neue nationale Einheit zeige sich besonders in dem neu errungenen wirtschaftlichen Frieden zwischen Arbeitern und Unternehmern, der auf einem Prinzip des „consultation and co-operation“ basierte. Auf diese Weise sei das Ziel der Vollbeschäftigung beinahe erreicht und vor allem die Streik380 Walter Starkie, Whither

is Ireland Heading. Is it Fascism? Thoughts on the Irish Free State, in: The Year Book of the International Centre of Fascist Studies, Volume I, London 1928, S. 233 f. 381 Starkie, Whither is Ireland Heading, S. 232. 382 Grattan Freyer, W.B. Yeats and the Anti-Democratic Tradition, London 1981; Hamilton, The Appeal of Fascism, S. 277–280. 383 Mike Cronin, The Blueshirts and Irish Politics, Dublin 1997, S. 102 f. Yeats distanzierte sich im Laufe des Jahres 1933 wieder von den Blueshirts, machte aber aus seinen antidemokratischen Ansichten auch danach kein Geheimnis und verband seine Vorstellung von der „Herrschaft der Besten“ mit eugenischen Forderungen als Mitglied der Eugenic Society. David Bradshaw, The Eugenics Movement in the 1930s and the Emergence of „On the Boiler“, in: Yeats Annual 9 (1992), S. 189–215. 384 Umberto Morelli, Mussolini. A Patriotic Socialist, in: English Review 42 (Februar 1926), S. 203–209.

4.4.  Die Rezeption des italienischen Faschismus   165

gefahr dauerhaft beseitigt worden: „The old nightmare of interruption and embarrassment to business is over“.385 Der ausgesprochen positiven Bewertung der wirtschaftlichen Erfolge der faschistischen Regierung entsprach zum einen eine tatsächliche Beruhigung in den Tarifbeziehungen – in dem Jahr vor Mussolinis Amtsantritt hatte es 680 Streiks und sieben Millionen verlorene Arbeitstage gegeben.386 Zum anderen ist sie aber auch, wenige Monate nach dem traumatischen Generalstreik in Großbritannien, Ausdruck eigener Hoffnungen auf eine dauerhafte Versöhnung der Klassengegensätze. Die freiheitsrechtlichen Implikationen der Errichtung der faschistischen Diktatur, die sich 1926, im ‚napoleonischen Jahr‘ des Faschismus, beschleunigt hatten,387 wurden dabei von Biggs – zumindest für eine Übergangsphase – als absolut gerechtfertigt angesehen: „That pernicious principle of the Mother of Parliaments, ‚The function of an opposition is to oppose‘ brought Italy so near to ruin that for the period of its reconstruction it was necessary to prevent opposition; and the freedom of the Press which has been curtailed is the freedom to be dirty, disloyal, and destructive.“388 Die Frage der Übertragbarkeit des italienischen Faschismus auf die politischen Verhältnisse in Großbritannien spielte in den Artikeln der English Review vor 1929 allerdings keine große Rolle. Typisch war vielmehr die Faszination des Beobachters und das Gefühl, Zeitzeuge von der Geburtsstunde einer historischen Umwälzung zu sein, die an Qualität und Bedeutung nur der Französischen Revolution gleichkäme.389 Der Aufstieg des Faschismus wurde als Beginn einer neuen Epoche, vor allem aber als der Beweis für das Ende der Epoche des Liberalismus interpretiert. Der Faschismus war demnach keineswegs nur eine neue politische Variante, sondern, so H.A. McClure Smith, eine neue revolutionäre Kraft, die sich aus der Koordination von drei verschiedenen Elementen speiste: Katholizismus, Nationalismus und Syndikalismus. Interessant ist die ‚geistige Ahnengalerie‘, die McClure Smith in diesem Zusammenhang heranzieht: Für die katholischen Wurzeln des Faschismus stünde die Lehre von Thomas von Aquin, für die nationalistischen Friedrich Nietzsche und für die syndikalistischen George Sorel. Um dem internationalen Bild auch eine angelsächsische Komponente hinzuzufügen, ergänzte McClure Smith es durch den amerikanischen Psychologen und Philosophen William James, der den ‚pragmatischen Charakter‘ des Faschismus repräsentierte. Auffällig ist hier die Vorstellung vom Faschismus als einer Synthese von Konservatismus und Modernismus. Während Katholizismus und Nationalismus als traditionelle Elemente dem Faschismus eine geistig-moralische Kraft gegen den hedonistischen Materialismus der modernen Demokratie verleihen würden, biete der Syndikalismus als materi385 Rev.

Dr. Biggs, Fascismo, in: English Review 43 (Oktober 1926), S. 399–402, hier 402. Geschichte des Faschismus, S. 148. 387 Ebd., S. 154. 388 Biggs, Fascismo, S. 402. 389 H.A. McClure Smith, The Spirit of Fascism, in: English Review 45 (Juli 1927), S. 51–60, hier 51. 386 Payne,

166   4.  Neo-Toryismus als Weltanschauung elles Ziel des Faschismus die notwendige Antwort auf die Probleme der modernen Industriegesellschaft.390 Damit sei der italienische Faschismus, so auch Frank Fox in der National Review im November 1927 „a lesson for all the world.“391 Ab 1929 stand die Faschismusrezeption in der English Review deutlich im Zeichen der Kritik an der parlamentarischen Demokratie in Großbritannien, die sich mit der Weltwirtschaftskrise noch verstärkte.392 Unter dem Eindruck der vermeintlichen Überlebtheit des parlamentarischen Systems bekam das faschistische Italien auch unter dem Gesichtspunkt der Systemalternative eine erhöhte Aufmerksamkeit, wenngleich man hinsichtlich der Realisierungschance einer Diktatur in Großbritannien sehr skeptisch war: Italy is the most obvious model, but Italy cannot be imitated in Britain. […] Perhaps there are amongst us a hundred potentially wise and just dictators, with all Mussolini’s genius for courageous leadership, but Britain, with all her faults, is never likely to give one of them his terrible opportunity.393

Eine direkte Übernahme des faschistischen Modells in Großbritannien lehnten die Neo-Tories ab. Petrie schrieb im Oktober 1932: „The fascist system is too essentially Italian (wherein lies its strength in Italy) to be suitable for export as such, but the Corporate State will clearly have to be adopted in some form by all ­nations unless civilization is to perish in a welter of political and economic chaos.“394 Nicht der italienische Faschismus, sondern die Idee des korporativen Staats war aus der Sicht der Neo-Tories der ‚Export-Artikel‘. Vor diesem Hintergrund empfahl Douglas Jerrold im Februar 1929 seinen Lesern die Schriften des CINEF als ‚objektives‘ und ‚prägnantes‘ Studienmaterial.395 In derselben Ausgabe konnte Lord Sydenham of Combe auch erste Ergebnisse des CINEF präsentieren, die er allerdings in einen direkten Zusammenhang mit der politischen Situation in ganz Europa stellte. Wie bei vielen sympathisierenden Faschismus-Interpreten verschwimmt auch bei Sydenham die Grenze zwischen Analyse der politischen ­Situation in Italien und einer transnationalen Krisenwahrnehmung der Epoche. Angesichts des allgemeinen Niedergangs demokratischer Institutionen und einer fundamentalen Gefährdung des zivilisatorischen Fortschritts ergebe es, so Syden390 Der

Faschismus repräsentiere, so H.A. McClure Smith, „a moral, political, and intellectual revolution every whit as apocalyptic, as cataclysmic, and as potentially universally valid as the French Revolution.“ McClure Smith, The Spirit of Fascism, S. 53 f. Vgl. auch Francis Toye, An Impression of Italy and Fascism, in: English Review 46 (Februar 1928), S. 149–156; G. A. Martelli, Fascism and the Monarchy, in: English Review 46 (April 1928), S. 437–440. 391 Frank Fox, Mussolini’s Work in Italy, in: National Review 90 (November 1927), 470–474, hier 474. 392 Vgl. Kap. 5.2.1. 393 Das Zitat entstammt einer Kritik an dem populären Theaterstück „Journey’s End“. Anders als Großbritannien habe Italien seinen Stolz wiedergefunden, da es als eines der wenigen Länder Journey’s End nicht zeigte. H.T.W Bousfield, Journey’s End, in: English Review 48 (Oktober 1929), S. 494. 394 Charles Petrie, Foreign Affairs, in: English Review 50 (Oktober 1932), S. S. 408–417, hier 408. 395 Douglas Jerrold, Current Comments, in: English Review 48 (Februar 1929), S. S. 129–142, hier 137.

4.4.  Die Rezeption des italienischen Faschismus   167

ham, auch gar keinen Sinn mehr, das Vorbild des faschistischen Italiens unter dem Hinweis von nationalen Eigenheiten und kulturellen Unterschieden zu verwerfen: „We can all learn from this heroic effort to find a national solution of patent existing evils.“396 Sydenham plädierte zwar nicht für eine direkte Übernahme des faschistischen Modells für Großbritannien. In der Abschaffung des korrupten Parteiensystems und dem stabilitätsgefährdenden allgemeinen Wahlrechts erkannte er allerdings große politische Erfolge mit Vorbildfunktion für Großbritannien.397 Und auch der Abgeordnete Viscount Lymington bezog sich bei seinem wichtigsten Thema, der nationalen Re-Organisierung der Landwirtschaft unter Autarkie-Gesichtspunkten, auf den italienischen Diktator. Im House of Commons erklärte er im Mai 1930: Yes, it would be better to have a Mussolini organising the agriculture of this country than to see it going to ruin as it is doing today. It wants leadership, a clear balancing of the differences ­between arable and pastoral agriculture, getting them in a sane light, and going through with it with bravery, courage and singleness of will and purpose.398

4.4.2  Der Europagedanke der Neo-Tories Neben den rechtskonservativen Zeitungen und Zeitschriften konnte sich der interessierte ‚Brite‘ Anfang der dreißiger Jahre auch im konservativen Studienzentrum Ashridge über den italienischen Faschismus informieren. Mussolinis Vertrauensmann in London und enger Freund Petries, Luigi Villari, hielt hier Vorträge,399 Hugh Sellon erklärte den korporativen Staat, und wenn dies Petrie tat, kamen auch die italophilen Muriel Currey400 und Professor Harold Goad.401 Goads Studien zum korporativen Staat übten großen Einfluß auf die britischen Neo-Tories aus.402 Goad führte das British Institute of Florence, ein 1917 privat 396 Lord

Sydenham of Combe, The Fascist State, in: English Review 48 (Februar 1929), S. 158– 167, hier 160. 397 Ebd., S. 167. 398 House of Commons Debates, 26. 5. 1930, Vol. 239, cc953. 399 Villari, Fascism and the Fascist State; ders., The Evolution of the Corporate State, in: English Review 61 (Oktober 1935), S. 412–423. 400 Muriel Currey beschäftigte sich auch mit der Gleichberechtigungsfrage im italienischen Faschismus. Muriel Currey, Woman and the Corporate State. Equality of the Sexes in Italy, Blackshirt, 1. 6. 1934. Vgl. hierzu Julie V. Gottlieb, Feminine Fascism. Women in Britain’s Fascist Movement, London 2000, S. 125, 127, 270. 401 „Worked all morning, and went to down to Ashridge in time for tea. I lectured there on The Corporate State at 8.30 and my remarks were very well received. Miss Currey and Goad came down for the lecture.“ Tagebücher Charles Petrie, 18. 6. 1933. Vgl. hierzu Harold Goad und Muriel Currey, The Working of the Corporate State, London 1934; Harold Goad, The Corporate State, in: International Affairs 12 (November 1933), S. 775–788; ders., The Principles of the Corporate State, in: English Review 56 (März 1933) S. 267–278. 402 Petrie schrieb in sein Tagebuch: „A quiet day, during which I read H.E. Goad’s really excellent ‚The Making of the Corporate State’. It is a first-class book, but I am afraid that it will have no effect here, for the old men who misgovern this country will never make any real changes, and the mass of the population is too fond of self-indulgence to awake to realities more often than once every five years.“ Tagebücher Charles Petrie, 30. 1. 1932. In einer Kritik

168   4.  Neo-Toryismus als Weltanschauung gegründetes Forschungsinstitut, das von der britischen Regierung anerkannt und durch das Foreign Office finanziell unterstützt wurde. Im Laufe der dreißiger Jahre wurde es zu einem Treffpunkt britischer Faschismussympathisanten.403 Wie Goad, Villari und Petrie gehörte Hugh Sellon zum engeren Kreis der Italophilen in London und hatte sehr gute Kontakte ins faschistische Italien. In einem Artikel für das Ashridge Journal vertrat er eine Sicht des korporativen Staats, die so wahrscheinlich von allen Neo-Tories unterschrieben worden wäre und gleichsam als Quintessenz ihrer Sichtweise auf das italienische Experiment gesehen werden kann. Das italienische Konzept des korporativen Staats sei der erste wirkliche Versuch, die klägliche Verwirrung in Ordnung zu bringen, in der sich die westliche Welt seit langer Zeit befunden habe. Aus dieser Sicht waren Reforma­ tion und ndustrielle Revolution die entscheidenden Weggabeln: The first weakened the medieval conception of the Republica Christiana in which an essential bond of unity between all men was forged by the link of a common faith and common church, and also – by a partial and faulty assimilation of the new mental freedom of the Renaissance – produced a belief in the virtue of unrestricted competition for material gain. The second destroyed the older, more stable, and essentially agrarian society of Europe, and concentrated the bulk of the population of the industrial states into vast cities, where, reduced to the rank of unattached wage-earners, the working classes were first exploited by their employers, and then, when organised strength came to them, repaid the ‚capitalist‘ class by resentment, suspicion, and disastrous economic war.404

Zum wichtigsten britischen ‚Experten‘ für den italienischen Faschismus avancierte jedoch Charles Petrie, der 1931 von Jerrold zum außenpolitischen Redakteur der English Review gemacht worden war. Im selben Jahr erschien auch seine umfangreiche Biographie Mussolini, die in der Reihe „Männer und Mächte“ des Kittler Verlags auch auf deutsch veröffentlicht wurde und über weite Strecken einer Apotheose Mussolinis gleichkommt. Petrie sah in Mussolini einen Staatsmann von historischer Größe, „als Schöpfer der modernen Zeit“405 eigentlich nur vergleichbar mit Augustus. Wie dieser habe Mussolini nach einer Phase der Instabiliempfahl er Goads Buch als „a book to be read (and bought), marked, learnt, and inwardly digested by all educated people.“ Charles Petrie, The Fascist Achievement, Saturday ­Review, 27. 2. 1932. Auch William Sanderson von der English Mistery kannte den italienischen Faschismus durch die Schriften Goads. In einem Brief an einen Oxforder Studenten rühmt er sich seiner Kontakte zu anderen Vertretern des italienischen Faschismus: „Though I have never met Mosley, there were four or five attempts to start Fascism in England some years ago, and in each case I was consulted. I have been in the closest touch with Dr. Pellizzi [Camillo Pellizzi, Theoretiker einer universalen faschistischen Elite, B.D.], Commendatore Villari [Luigi Villari, der Vertrauensmann Mussolinis in London, B.D.], and an English authority in Florence, named Goad. I think I know their writings and their aims. Grandi [Dino Grandi, zunächst Unterstaatssekretär im Außenministerium, dann Botschafter in London, B.D.], when he first became ambassodor in London dined with me several times, and ­attended the fourth anniversary dinner of the English Mistery.“ William Sanderson, „Letter to an Oxford Undergraduate on Fascism“, 8. 3. 1937, Wallop Papers (Gerald Vernon Wallop, 9th Earl of Portsouth), Hampshire Record Office, Winchester, 15 M84 F 176. 403 Harold Goad, History of the British Institute of Florence, Florenz 1939. 404 Sellon, The Corporate State, S. 16 f. Vgl. auch Hugh Sellon, Democracy and Dictatorship, London 1934. 405 Charles Petrie, Mussolini, Leipzig 1932, S. 177.

4.4.  Die Rezeption des italienischen Faschismus   169

tät und des Bürgerkriegs die Ordnung wiederhergestellt und dabei den Staat revolutioniert, ohne jedoch die alte Verfassungsform aufzugeben. Denn es gebe ja „heutzutage in Italien einen König, einen Ministerpräsidenten, einen Senat und eine Kammer wie vor dreißig Jahren.“406 Diese einseitige Einschätzung entspricht der generellen Tendenz in Petries Interpretation, die vermeintlich legitimitätsbildenden und traditionalen Elemente des Faschismus zu betonen. So stellte Petrie den Faschismus sogar in die Tradition der italienischen Einigungsbewegung des Risorgimento. Anders als im Deutschen Reich, wo kein Politiker die Nachfolge Bismarcks hätte antreten können, habe Italien das große Glück gehabt, eine ganze Reihe von großen Staatsmännern hervorgebracht zu haben: „Mazzini, Garibaldi, Cavour und Mussolini haben alle, mochten ihre Wege auch noch so verschieden sein, für das gleiche Ziel gekämpft.“407 Der Faschismus erscheint hier gewissermaßen als die Fortsetzung und Krönung des Nationalismus des 19. Jahrhunderts und Mussolini als Vollender der nationalen Einigungsbewegung. Noch viel mehr als den italienischen Nationalismus interessierte Petrie das Verhältnis des Faschismus zu jenen historischen Kräften, deren zeitgemäße Versöhnung mit den modernen Erfordernissen aus seiner Sicht für den Erfolg der gesamteuropäischen konservativen Gegenbewegung entscheidend war: Monarchie und Religion. Die Integration des Königs in eine autoritäre Staatsform hielt er in Italien für geglückt. Auch die Verständigung des Regimes mit Papst Pius XI. pries Petrie als Zeichen des unübersehbaren Erfolgs des Faschismus auf dem Weg zu einer neuen nationalen Einheit.408 Petrie definierte den Faschismus als „reinvocation of the ancient Roman spirit“. Die universelle Anwendung der grundlegenden Prinzipien sei möglich und eine Erneuerung der ‚römischen Tugenden‘ nötig, um Europa vor einem Rückfall in das Chaos zu bewahren.409 Anders als einige ‚konservative Revolutionäre‘ im Deutschen Reich, die gerade die revolutionäre Dynamik des korporativen Staates faszinierte hatte, und die sich angesichts der Konsolidierung des Faschismus in einem autoritären Etatismus enttäuscht abwendeten,410 war für Männer wie Petrie der fascismo regime der Beweis für die Ernsthaftigkeit des politischen Experiments Faschismus an sich. Revolutionäre Gewalt war aus dieser Perspektive nur ein notwendiges Übel auf dem Weg zu einer stabilen Ordnung, die Petrie seinen Landsleuten unter historischem Rückgriff plausibel machen wollte: „Those who may be alarmed at the apparently revolutionary nature of this system would do well to recollect that it was the basis

406 Petrie,

Mussolini, S. 175. Mussolini, S. 177. 408 Charles Petrie, Foreign Affairs, in: English Review 54 (März 1932), S. 315–322, hier 321. Ein halbes Jahr später traf Petrie nicht nur Mussolini, sondern auch den Papst, Tagebücher, Charles Petrie, 3. 11. 1932. 409 „Fascsim for All. Sir Charles Petrie on European Unity“, Morning Post, 16. 11. 1932. 410 Dies war allerdings keine einheitliche Haltung: Anders als etwa Moeller van den Bruck, Hans Zehrer und Ernst Niekisch beurteilten Oswald Spengler und Carl Schmitt das Regime positiv, „weil es den autoritären Staat auf Kosten des Pluralismus stärkte“. Breuer, Anatomie der Konservativen Revolution, S. 128. 407 Petrie,

170   4.  Neo-Toryismus als Weltanschauung of society in the Middle Ages, and that it would certainly have recommended ­itself to the Tories of an earlier day.“411 Petries Tagebücher zeigen recht ungeschminkt, mit welcher Begeisterung er zu dieser Zeit Mussolini wahrnahm. Nachdem er ihn bei einer Veranstaltung in Rom im November 1932 gesehen und gehört hatte, schrieb er: „The Duce was obviously in great form after his marvellous tour“.412 Die positiven Eindrücke verstärkten seinen Willen, sich dem Prinzip des korporativen Staats noch intensiver zu widmen: „Bought one or two books on the Corporate State, as I am determined to master that subject thoroughly this winter.“413 Schließlich konnte er über seine vielen Kontakte ein persönliches Treffen mit Mussolini arrangieren. Bei der Zusammenkunft am 9. November 1932 im Palazzo Venezia erklärte Petrie, daß er von Mosleys englischen Faschisten nicht viel hielt und erklärte dem Duce die ­Pläne der English Review-Gruppe zur Errichtung eines korporativen Staats in Großbritannien: I then said exactly what I thought about Mosley, which interested him very much, and he was most insistent that while Fascist ideas are universal, Fascist methods are not. I told him of the English Review group and of our plans, and he warned me that the chief difficulty in establishing the Corporate State is to prevent it being dominated by big business and the banks. We then discussed recent changes in Rome, and the Fascist Exhibition. I left the Palazzo Venezia mentally stimulated.414

Seine offensichtliche Begeisterung für Mussolini und seine positive Bewertung der Leistungen des faschistischen Regimes bescherten Petrie 1932 eine Einladung zum Convegno Volta – einer in Rom von der Königlichen Italienischen Akademie veranstalteten Tagung. Die in unregelmäßigen Abständen in Erinnerung an den Physiker Alessandro Volta abgehaltenen Kongresse standen im Zeichen der faschistischen Wissenschafts- und Kulturpolitik, auch wenn die Akademie sich intensiv um ein weltoffenes und tolerantes Image bemühte. Auch bei dem zum Thema Europa vom 14–20. November 1932 abgehaltenen Kongreß war eine politisch ­heterogene Teilnehmerschaft das Ziel der Akademie gewesen. Die wenigen ausdrücklichen Gegner des faschistischen Regimes konnten aber nicht darüber ­hinwegtäuschen, daß es sich bei der Zusammenkunft in der Villa Farnesina im ­großen und ganzen um ein Spitzentreffen der europäischen Rechten handelte.415 Die deutsche Delegation war noch vergleichsweise ausgeglichen. Zwar gab es auch hier keine Vertreter der politischen Linken, doch gehörten ihr mit den ­Nationalökonomen Alfred Weber und Erwin von Beckerath, dem Psychologen und Politiker Willy Hellpach und dem Historiker Erich Brandenburg Vertreter des liberalen Lagers an. Doch wog das politische Gegengewicht mit dem Nationalökonom Werner Sombart, dem ehemaligen Reichsbankpräsident Hjalmar 411 Charles

Petrie, Foreign Affairs, in: English 412 Tagebücher, Charles Petrie, 4. 11. 1932. 413 Tagebücher,

Review 55 (Oktober 1932), S. S. 408–417, hier 409.

Charles Petrie, 5. 11. 1932. Charles Petrie, 9. 11. 1932. 415 Simona Giustibelli, L’Europa nella riflessione del convegno della Fondazione Volta (Roma, 16–20 novembre 1932), in: Dimensioni e problemi della ricerca storica, 2002, S. 213. 414 Tagebücher,

4.4.  Die Rezeption des italienischen Faschismus   171

Schacht, dem Stahlhelm-Führer Franz Seldte, vor allem aber mit den Nazi-Größen Alfred Rosenberg und Hermann Göring schwer, zumal letzterer der Delega­ tionsleiter war.416 Insbesondere darüber war man in der deutschen Botschaft alles anderes als glücklich, wie man dort Petrie mitteilte.417 Zur englischen Delegation gehörte außer Lymington noch ein Mitglied des weiteren English-Review-Zirkels. Nach Lymingtons Erinnerungen hatte überhaupt erst die politische Tendenz des Kongresses ihn zu einer Annahme der Einladung bewogen.418 Die übrigen britischen Teilnehmer waren der Wirtschaftsjournalist und Autor des 1932 erschienenen The Economic Foundations of Fascism, Paul Einzig,419 der ehemalige britische Botschafter in Italien James Rennell Rodd420 und der katholische Journalist Christopher Dawson, der sich u. a. auch um die Propagierung der Theorien des Staatsrechtlers Carl Schmitt in Großbritannien bemüht hatte.421 Dawson gehörte wie Douglas Jerrold zu jener Gruppe von Publizisten, die sich in der antikapitalistischen Tradition des politischen Katholizismus von Belloc und Chesterton sahen und für die der italienische Faschismus vor allem hinsichtlich der Etablierung des korporativen Staates Vorbildcharakter ­hatte.422 Die englische Delegation bestand somit ausschließlich aus Männern, die mit dem italienischen Faschismus sympathisierten, auch wenn sich nicht alle kannten.423 Petrie und Lymington hatten in der English Review-Gruppe bereits zusammen gearbeitet, doch erst hier in Rom schienen die beiden sich persönlich näher 416 Frank-Rutger

Hausmann, Wo war Göring, als Papen stürzte? Bei seiner Reisegruppe in Rom. Wie Europa schon einmal den Zug zur Einheit verpasste, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30. 10. 2003. Wie jeder Delegationsleiter übernahm auch Göring an einem Tag den Vorsitz über die Veranstaltung. Nach Petries Erinnerungen führte dies allerdings zu Verwirrungen hinsichtlich der Etikette: „One afternoon when it was Göring’s turn to preside he made an announcement regarding the wearing of decorations at an official reception that evening, but his French was so execrable that no one could make out whether they were to be worn or not: we consulted our French colleagues, but they were equally in doubt, so at last we all decided to go decorated. We proved to be wrong, and the only person without decorations was Göring himself.“ Petrie, Chapters of Life, S. 185. 417 „As it was a sunny and invigorating morning I walked across Rome to present a letter of introduction from von Salzmann to Dr. Smend, the Counsellor of the German Embassy, but he was very busy, so I had to chat with one of the Secretaries. I didn’t get the impression that the presence of Rosenberg at the Convegno Volta will be welcomed at the German embassy.“ Tagebücher, Charles Petrie, 2. 11. 1932. 418 Lymington, A Knot of Roots, S. 153 f. 419 Obwohl Petrie Einzig offensichtlich nicht mochte, besprach er sein Buch The Economic Foundations of Fascism positiv. Vgl. Charles Petrie, The Fascist Experiment, Saturday ­Review, 1. 7. 1933. 420 Wie Petrie trat auch Rodd 1934 in den philo-faschistischen January Club ein. Vgl. Kap. 6.2. 421 Christopher Dawson, Introduction, in: Carl Schmitt, The Necessity of Politics. An Essay on the Representative Idea in the Church and Modern Europe (Römischer Katholizismus und Politische Form), London 1931, S. 9–34. 422 Stone, Responses to Nazism in Britain, S. 122–132; Corrin, Catholic Intellectuals and the Challenge of Democracy, S. 188–219. 423 „Lymington, Rodd, and Christopher Dawson arrived shortly after midnight. Apparently, the two former had rather a shock when Dawson boarded the train, as they didn’t know him, and thought it was the ghost of D.H. Lawrence.“ Tagebücher, Charles Petrie, 12. 11. 1932.

172   4.  Neo-Toryismus als Weltanschauung zu kommen. „Lymington and I took a long walk this morning by the Via dell’Imparo, the Palatine, and the Forum. He is a very good companion, but ­rather given to the women I should say, and therefore presumably does not get on well with his wife.“424 Auch mit den anderen britischen Delegierten – mit der Ausnahme von Paul Einzig, der erst 1929 britischer Staatsbürger geworden war – verstand sich Petrie offensichtlich hervorragend.425 Der Kongreß begann offiziell am 14. November 1932. Von Anfang an diente die Zusammenkunft vor allem der Kontaktaufnahme von verschiedensten Vertretern der europäischen Rechten. In Petries Tagebuch heißt es: This morning we had the formal opening of the Convegno Volta in the Julius Caesar Hall on the Capitol. We were seated in alphabetical order, and I was between Politics and Pernet. There were short speeches by Boncampagni, Marconi, Scialoja, Rodd, and the Duce. […] In the afternoon, I wrote some letters, and had a talk with Vicco von Bülow, who is here with Seldte and Schacht. After dinner there was a reception given by the Reale Accademia at the Farnesina. I met lots of people I know, including the Marconis, Formichi, Cippico, Bülow, Rosenberg, Depretis, the Alberti girls and I was introduced to Zucoli, who will, it is said, be Minster of Finance one day.426

Am nächsten Tag folgte Petries Vortrag mit dem Titel „The Fundamental Unity of European Civilization.“427 Petries Europa-Konzept hatte, wie das der anderen britischen Teilnehmer des Convegno Volta, mit dem progressiven Europa-Gedanken, wie er seit der Rede Aristide Briands vor dem Völkerbund am 5. September 1928 diskutiert wurde, wenig gemein. Ihnen ging es nicht um ein engeres politisches oder wirtschaftliches Zusammengehen der europäischen Staaten. Vielmehr diente der historische Rekurs auf die europäische Tradition vor allem dem Angriff auf die Moderne. „[I]f Europe is to go forward she must first of all go back“, hieß es in Petries Rede vor dem Konvent. Italien sei das erste Land, das dies verstanden hätte.428 Europa, so Petrie weiter, habe in seiner Geschichte den Bedrohungen durch die ‚Hunnen‘, die Araber, die Normannen und die Türken getrotzt – jetzt käme es darauf an, den Feind im Inneren zu bekämpfen. Seit römischen Tagen sei der ­‚Barbar‘ von außen gekommen, doch mit der Französischen Revolution, „one of the greatest tragedies in human history“,429 habe sich dies grundsätzlich geändert: 424 Tagebücher,

Charles Petrie, 13. 11. 1932. the other British representatives, Rodd is excellent company, and it is a real privilege to be in Rome with him; Dawson is a curious and shy fellow, but I like him; and Einzig is the nastiest bit of work I have struck for a long time.“ Tagebücher, Charles Petrie, 13. 11. 1932. 426 Tagebücher, Charles Petrie, 14. 11. 1932. Vgl. auch „European Problems Discussions At ‚Volta‘ Congress“, The Times, 15. 11. 1932. 427 „To my surprise I had to speak first at the opening session of the Convegno at the Farnesina this morning, but it went off very well, and all the evening papers have given me great prominence. Dawson spoke, and was good, but this afternoon De Fontenay was too general and Brugmans too platitudinous. After the afternoon session Rodd and I went to a reception at Margherita Sarfatti’s where I met a great number of people including Princess Colonna and Charles de Rohan, the latter is at the Convegno.“ Tagebücher, Charles Petrie, 15. 11. 1932. 428 Charles Petrie, The Fundamental Unity of European Civilization, in: Atti dei convegni. Convegni di scienze morali e storiche, 14–20 novembre 1932, Tema: L’Europa, hrsg. von der Reale Accademia d’Italia, Fondazione Volta, Bd. 1, Atti Preliminari. Processi Verbali, Rom 1933, S. 93. 429 Ebd., S. 86. 425 „Off

4.4.  Die Rezeption des italienischen Faschismus   173 Rousseau’s man is the type of the barbarian against whom we have to be on our guard, for at the root of the political unrest and of the economic disorder which are such distressingly prominent features of our Europe lies the moral anarchy of the age, and of this he is the embodiment.430

Petries Vortrag war offensichtlich ein großer Erfolg. Mussolini selbst hatte ihm gratuliert. „The Duce came up to me after dinner and congratulated me on my paper, which seems to have pleased him very much.“431 Auch das Medieninteresse an Petrie als englischer Fachmann für Faschismus und als Advokat des korporativen Staats in Großbritannien war groß. „I have given several interviews to Italian newspapers, and on the whole I feel that I have made a great hit here.“432 Die Besinnung auf das christlich-abendländische Erbe der europäischen Zivilisation wurde von den Neo-Tories nicht im Sinne des aufklärerischen Humanitätsideals eines überzeugten Europäers wie Stefan Zweig gesehen. Für Männer wie Dawson oder Petrie bestand das europäische Erbe in einer tiefen spirituellen Verwurzelung des Individuums in einer statischen Ordnung, die durch eine ständische Organisation der Gesellschaft, durch die Monarchie und durch die Kirche garantiert war. Dieser Europagedanke war daher alles andere als eine zukunftsorientierte politische Vision. Die Berufung auf Europa diente im publizistischen Kampf gegen die politische Moderne vielmehr der Betonung der vermeintlich traditionellen und legitimitätsstiftenden Elemente korporativer Gesellschaftsmodelle. Europäisches Bewußtsein war so vornehmlich das Bewußtsein für die Teilhabe an einer antimodernen und antiaufklärerischen, aber eben doch europäischen Gegenbewegung.433 In dieser Hinsicht konnte der italienische Faschismus – sozusagen als eine zwar experimentelle, aber vielversprechende Kombination von Tradition und Moderne – als antiliberale Speerspitze Europas begrüßt werden: „The country may be regarded as the microcosmos of the continent“.434 Als die Konferenz am 20. November 1932 endete, zog Petrie ein positives Fazit: „I do feel that we have achieved something“. Besonders bemerkenswert sei die Übereinstimmung in der Sichtweise der jüngeren Generation gewesen und dies erstaunlicherweise über alle Ländergrenzen hinweg.“435 Um so größer war für ­Petrie nach der Teilhabe an einer solchen ‚Internationale der Nationalisten‘ die Enttäuschung, in das seiner Meinung nach ‚rückständige‘ Großbritannien zurückzukehren: „To come back to this country from Italy is like returning to nonsense from sense. It gives me a feeling of utter hopelessness to see everything that is false extolled as true, and the anarchy in thought and deed strikes one more forcibly than ever.“436

430 Ebd.,

S. 93.

431 Tagebücher,

Charles Petrie, 17. 11. 1932. Charles Petrie, 18. 11. 1932. 433 Vgl. hierzu auch Nils Müller, Karl Anton Rohan (1898–1975): ‚Europa‘ als antimoderne Utopie der ‚Konservativen Revolution‘, in: Jahrbuch für europäische Geschichte 12 (2011), S. 179–203. 434 Petrie, The Fundamental Unity of European Civilization, S. 94. 435 Tagebücher, Charles Petrie, 20. 11. 1932. 436 Tagebücher, Charles Petrie, 23. 11. 1932. 432 Tagebücher,

174   4.  Neo-Toryismus als Weltanschauung Petries Begeisterung für Mussolini, für die britisch-italienische Freundschaft und insbesondere für die ‚universellen‘ Aspekte des Faschismus hatten zur Jahreswende 1932/33 einen Höhepunkt erreicht. In Organisationen wie den Friends of Italy, der Anglo-Italian Literary and Dante Society und der British Italian League machte er sich für seine Sichtweise des Regimes stark.437 Selbst an der Universität in Oxford gab es einen Italian Club, und auch hier unterrichtete Petrie, wie die Oxford Times im März 1933 berichtete.438 In regelmäßigen Abständen traf Petrie in den Jahren 1932 bis 1937 alle wichtigen Fürsprecher einer engeren italienischbritischen Freundschaft. Neben den britischen Theoretikern des korporativen Staats, Goad, Currey und Sellon, waren es vor allem Villari und Grandi, mit denen er regelmäßig in seinen Clubs, beim Tee oder Lunch zusammenkam. Petrie avancierte in diesen Jahren zu einer der wichtigsten Figuren innerhalb der italienischen Kreise in London.

4.4.3  Schwierigkeiten der positiven Faschismusrezeption ­unter dem Eindruck der Gewalt Die Vorbildfunktion Italiens hatte auch Rückwirkungen auf die Wahrnehmung des deutschen Nationalsozialismus. Die Machtergreifung der Nationalsozialisten wurde meist nur als weiteres Beispiel für das notwendige Scheitern von parlamentarischen Demokratien positiv bewertet. Insgesamt jedoch, so Petrie im Mai 1933, bedeute die Machtergreifung einen Bruch mit der europäischen Tradition: „Where Fascism, after the manner of Augustus, has always preferred to work through the old forms, the Nazis have deliberately broken with the past wherever possible.“ Der Nationalsozialismus habe kein europäisches Verständnis – anders als der italienische Faschismus, denn dieser stand „in the main stream of the great European tradition.“439 Es gab weitere Gründe für britische Intellektuelle der Rechten, sich vom Nationalsozialismus zu distanzieren. Dabei spielten nationalistische Ressentiments gegen den alten Kriegsgegner nur am Rande eine Rolle. Der Nationalsozialismus wurde meist als plebejische Gewaltideologie dargestellt, die die unselige Tradition des preußischen Militarismus mit unzivilisiertem Heidentum verband. Um so wichtiger war es für die britischen Mussolini-Sympathisanten, das ‚Experiment‘ des italienischen Faschismus vom deutschen Nationalsozialismus zu unterscheiden. Interessanterweise hatte der britische Theoretiker des italienischen Faschis437 Anglo-Italian

Amity. London Celebration of the New Regime, Morning Post, 13. 12. 1932. Stuarts in Italy. Lecture at Italian Club by Sir Charles Petrie, The Oxford Times, 3. 3. 1933. 439 Charles Petrie, Fascism and the Nazis, Saturday Review, 20. 5. 1933. Petrie hatte bereits die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler entschieden kritisiert. Er schrieb in sein Tagebuch: „The event of to-day has been the appointment of Hitler as Chancellor, which, in my opinion, is a disaster of the first magnitude.“ Tagebücher Charles Petrie, 30. 1. 1933. Douglas Jerrold sympathisierte hingegen, allerdings kurzfristig, mit dem deutschen Nationalsozialismus. „Jerrold shows signs of a pro-Hitler complex, which is a nuisance. His enthusiasms would be amusing if one did not have to work with him.“ Tagebücher Charles Petrie, 14. 3. 1933. 438 The

4.4.  Die Rezeption des italienischen Faschismus   175

mus James Barnes schon vor der Machtergreifung verdeutlicht, daß der Faschismus auf keinen Fall mit preußischem Militarismus zu verwechseln sei. In einem Leserbrief an den Observer vom 26. Januar 1929 stellte er kritisch klar, daß moderner Faschismus absolut nichts mit dem Pan-Germanismus eines Treitschke zu tun habe: „Fascism is indeed militant but it is far from being militaristic. […] The Christian Church, for instance, is certainly not militarist, but it is militant; and the same may be said of Fascism.“440 Auch der Antisemitismus der Nationalsozialisten war ein Grund, sich von ­Hitler-Deutschland zu distanzieren. Die Neo-Tories mißbilligten die gewalttätige Form des Antisemitismus– eine grundsätzliche Abneigung gegen Juden teilten die meisten Neo-Tories, wie im nächsten Kapitel gezeigt werden wird, mit den Nationalsozialisten gleichwohl. Schon früh führten auch außenpolitische Gründe zu einer ablehnenden Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus. So gab es unter den Neo-Tories einige Sympathisanten des ‚Austrofaschismus‘, dessen katholischkorporative Fundierung von Engelbert Dollfuss (bis zu seiner Ermordung am 25. Juli 1934 der Machthaber in der österreichischen „Defacto-Diktatur“441) ja ausdrücklich im Kontrast zum ‚heidnischen‘ Nationalsozialismus entwickelt worden war.442 Die Wochenzeitschrift Everyman hatte in ihrer kurzen Phase unter Francis Yeats-Brown reges Interesse an der Verwirklichung eines autoritär-korporativen Modells in Österreich entwickelt. Unter Anspielungen auf die politische Situation in Großbritannien wurde der österreichische Kanzler als Retter der ­Nation apostrophiert: Engelbert Dollfuss stepped to the front suddenly, in the hour of his country’s desperate need. In the fifteen months during which he has been Chancellor he has saved Austria from financial chaos, from civil war and from too ardent attentions of her neighbours to the north. […] In him, as in Cromwell, religion and politics stand together. The Chancellor sees himself as a man with a holy mission, as God’s chosen instrument to save Austria.443

Charles Petrie hatte schon früh vor einer Gefährdung des Dollfuß-Regimes und vor einem Anschluß Österreichs an das Deutsche Reich gewarnt. Dabei scheute er nicht die historische Analogie zur Belagerung Wiens durch die Türken: „It would have been a reproach to all Christendom had the Austrian capital fallen into the hands of the Sultan in the sixteenth and the seventeenth centuries, and will be the disgrace of Europe if it is now occupied by Hitler and his brown-shirted hooli­ gans.“444 Nicht nur die aggressive Außenpolitik der Nationalsozialisten erschwerte zunehmend eine positive Faschismusrezeption, zumal in der britischen Öffentlichkeit zwischen den beiden ‚faschistischen‘ Systemen immer weniger differenziert 440 The

Observer, 26. 1. 1929. 441 Payne, Geschichte des Faschismus,

S. 306. S. 307 f. 443 Dollfuss. The Unknown Dictator, Everyman, 8. 12. 1933. 444 Charles Petrie, The German Threat to Austria, Saturday Review, 1. 7. 1933. In der English Review führte diese Haltung schon früh zu der Forderung nach einem pro-österreichischen Engagement der britischen Regierung. J.O.P. Bland, Austria To-day, in: English Review 57 (November 1933), S. 534–540. 442 Ebd.,

176   4.  Neo-Toryismus als Weltanschauung wurde. Auch im innenpolitischen Kontext gerieten Freunde Mussolinis ab der zweiten Hälfte des Jahres 1933 unter stärkeren Druck. Für Mosley und seine BUF waren Mussolini und der italienische Faschismus direktes Vorbild und wichtiger finanzieller Unterstützer. Als die Daily Mail im April 1933 von der Freundschaft zwischen Mussolini und Mosley berichtete, schrieb Petrie in sein Tagebuch: „What they are playing at in Rome I cannot conceive, and they are going to make it very difficult for anyone to be pro-Italian here.“445 Die BUF verstand den Faschismus vor allem als öffentlich inszenierte Be­wegung und kopierten deren Mittel und Methoden – von der Stilisierung des Führers bis zur Farbe der Uniformen. Dem setzten die Neo-Tories ihr „We do not wear black shirts“446 entgegen. Mittel und Methoden des italienischen Faschismus wollten sie nicht übernehmen. In der schlichten Imitation eines an sich ausländischen Modells sahen sie gar den Grund für das Scheitern des britischen Faschismus. Charles Petrie schrieb rückblickend: „Mosley failed because of his methods, not because of his ends. His continued flirtation with Hitler and Mussolini caused his movement to be regarded as something not far removed from a foreign con­ spiracy.“447 Je stärker Faschismus in Großbritannien als ‚ausländische Verschwörung‘ interpretiert wurde, desto schwieriger wurde die differenzierte Faschismusrezeption der Neo-Tories, die den italienischen Faschismus lediglich als Ausdruck einer ­historischen Zurückweisung der ‚individualistischen Geisteshaltung‘ sahen. Die politische Gewalt, mit der die britischen Faschisten im Sommer 1934 für Aufmerksamkeit gesorgt hatten, machte eine Interpretation des Faschismus als ‚Retter der abendländischen Zivilisation‘ auch nicht unbedingt glaubhafter. Die ­außenpolitischen Ereignisse der Jahre 1935/36 erhöhten zusätzlich noch den Legitimationsdruck für alle, die sich mit politischen Systemalternativen von rechts beschäftigten. Im Herbst 1935 überfielen italienische Truppen das Kaiserreich Äthiopien, den einzigen noch unabhängigen Staat des afrikanischen Kontinents. Innerhalb des sechs Jahre währenden und mit äußerster Brutalität gegen die Zivilbevölkerung geführten Kriegs kamen zwischen 350 000 und 760 000 Äthiopier ums Leben. Die neuere Forschung reiht den Äthiopien- oder Abessinienkrieg in die Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts ein und kommt zu dem Ergebnis, daß er geradezu als ein „Experimentierfeld der Gewalt“ zu sehen ist:448 Die italienische Brutalität hatte zwar nicht das Ausmaß und die Qualität der später begangenen „national445 Tagebücher

Charles Petrie, 23. 4. 1933. Einen Tag später schreibt er: „More excitement about the Duce and Mosley as the former is reported in the Daily Mail to have said that he hoped Mosley would soon be dictator of England. What has happened I cannot imagine, but there will be a diplomatic incident if the Italians are not careful.“ Tagebücher Charles Petrie, 24. 4. 1933. 446 Everyman, 6. 10. 1933, S. 3. 447 Petrie, Chapters of Life, S. 168. 448 Aram Mattioli, Experimentierfeld der Gewalt. Der Abessinienkrieg und seine internationale Bedeutung 1935–1941, Zürich 2005; Giulia Brogini Künzi, Italien und der Abessinienkrieg 1935/36. Kolonialkrieg oder Totaler Krieg? Paderborn 2005.

4.4.  Die Rezeption des italienischen Faschismus   177

sozialistischen Megaverbrechen“ angenommen, doch ist der Abessinienkrieg als Rassenkrieg zu werten, in dem zum ersten Mal überhaupt die Zivilbevölkerung systematisch in Kriegshandlungen einbezogen wurde. Der Konflikt hatte somit eine neue, auf zukünftige Entwicklungen im Zweiten Weltkrieg verweisende ­Dimension erreicht und kann nicht mehr in kolonialen, sondern muß in genozidalen Kategorien gefaßt werden.449 In der britischen Öffentlichkeit wurde der Abessinienkrieg als ein unprovozierter Akt der Gewalt gegen ein Mitglied des Völkerbundes mit unverhältnismäßigen Mitteln gegen die Zivilbevölkerung wahrgenommen. Der Forderung der Öffentlichkeit nach Sanktionen gegen Italien kam die britische Regierung, wenn auch zögerlich, im November 1935 nach.450 Damit standen die Neo-Tories unter Druck, denn aus ihrer Sicht war die Abessinienkampagne Mussolinis gerechtfertigt. Ganz in der Logik des traditionellen Imperialismus wurde der Erwerb von Kolonien für die landwirtschaftliche Versorgung der eigenen Bevölkerung, als Ventil für den eigenen Bevölkerungsüberschuß und als Absatzmarkt für die eigenen Industriegüter gesehen. Von dem Fortschritt, den die kolonisierende Macht bringe, profitierten, so das Argument, letztlich auch die Eingeborenen. Auch angesichts der eigenen Kolonien könne man aus britischer Perspektive Italien solche nicht verweigern: „If the case of Abyssinia is upheld,“, heißt es in einem Artikel in der English Review vom September 1935, „and Italy is denied her right to expand as a healthy and progressive nation, it will establish an unhealthy principle of obstructing the natural growth and expansions of nations well qualified to carry European civilisation to the more remote parts of the earth.“451 Abessinien könne langfristig nur gewinnen, wenn es mit einer europäischen Macht wie Italien kooperiere, um seine Bodenschätze zu erschließen. Das Leiden, das eine solche Operation nun mal mit sich bringe, sei seit Jahrhunderten überfällig gewesen.452 Zum ‚Sprachrohr‘ der italienischen öffentlichen Meinung wurde in der English Review und Saturday Review einmal mehr Luigi Villari. Nach Villari empfanden es die Italiener als schlicht „unfair to place Italy, a highly civilized country with over twenty centuries of progress behind it, on the same footing as Abyssinia, a conglomerate of barbarous tribes, where the military caste of one of them governs, or rather misgoverns, all the others.“453 Der Abgeordnete Arnold Wilson hatte Mussolini persönlich getroffen und plädierte nun dafür, Abessinien den Italienern zu überlassen.454 Auch Petrie bezog in diesem Zusammenhang Stellung: Die ‚feindliche‘ Haltung der britischen Regierung gegenüber Italien sei dem Einfluß einer beispiellosen 449 Mattioli,

Experimentierfeld der Gewalt, S. 14. Waley, British Public Opinion and the Abyssinian War, 1935–36, London 1975. 451 E.W. Polson Newman, Abyssinia from Within, in: English Review 61 (September 1935) S. 340–346, hier 346. 452 Ebd. 453 Luigi Villari, Italy and Abyssinia. The Italian Case, in: English Review 61 (August 1935), S. 143–149, hier 146. 454 Wilson, Letter to the Times, The Times, 24. 9. 1935. 450 Daniel

178   4.  Neo-Toryismus als Weltanschauung Pressekampagne geschuldet. Für die britischen und internationalen Sozialisten sei der Abessinienkrieg gar ein Geschenk Gottes gewesen, so Petrie. „It has enabled them to force their policy upon the Government, and has given some show of reality to their campaign against Fascism.“455 Mit Hilfe des Völkerbunds sei es den Sozialisten gelungen, die Regierung zu erpressen und die Bevölkerung in ­ihrem Sinne zu beeinflussen: „[…] in this country the public has been allowed to listen to pacifist preaching for so long that it has lost all sense of reality. If this were not the case, the idea of a war in defence of peace, which is what sanctions really mean, would be laughed out of court.“456 Das Erstaunen der Neo-Tories angesichts der feindlichen Haltung gegenüber Italien war aufrichtig. Der politische Gegner, der noch wenige Jahre zuvor sich für ein pazifistisches Mahnen des Ersten Weltkriegs stark gemacht hatte, trat jetzt für eine Aufrechterhaltung des Friedens durch Waffen ein. Angesichts des eigenen konservativen Verständnisses von Krieg als einem anderen Mittel der Politik mußte es verwundern, auf der antiinterventionistischen, antibellizistischen Seite des innenpolitischen Konflikts zu stehen – ein Muster, das sich in der Auseinander­ setzung um den Spanischen Bürgerkrieg und die Appeasement-Politik gegenüber Hitler-Deutschland wiederholen sollte. „We cannot police the world“, hatte ­Arnold Wilson in einer Debatte im britischen Unterhaus zum Abessinienkonflikt seinen politischen Gegnern entgegengehalten.457 Gleichzeitig waren die Neo-Tories überzeugt, daß hier nicht nur die kolonialen Ambitionen Italiens unterbunden werden sollten, sondern einem ganzen politischen Experiment der Krieg erklärt wurde. „Public opinion before the crisis developed was already hostile to Italy“, erklärte Jerrold im Januar 1936. Alle Länder und politischen Experimente der Rechten würden in den gleichen Topf geworfen und nur unter dem Aspekt der politischen und religiösen Verfolgung bewertet. Es folgt ein Satz, der symptomatisch für die Frustration Jerrolds steht: „Public opinion did not trouble to distinguish between one dictatorship of the right and ­another. If Fascism spread liberty was in danger.“458 Hier protestierte ein Rechtsintellektueller, der sich ja tatsächlich vom Nationalsozialismus distanziert hatte, gegen politische Gleichmacherei und für mehr Differenzierung hinsichtlich der verschiedenen Erscheinungsformen der politischen Rechten. Damit unterschätzte Jerrold zu einem gewissen Grad die politische Polarisierung, die auch Groß­ britannien erfaßt hatte: In der öffentlichen Wahrnehmung war es Mosleys British Union of Fascists, die lautstark für den großen faschistischen Bruder auf englischen Straßen demonstrierte und auch vor Gewalt gegen den politischen Gegner nicht zurückschreckte.459

455 Charles

Petrie, Current Comments, in: English Review 61 (Oktober 1935), S. 389–398, hier 391. 456 Ebd. 457 House of Common Debates, 7. 6. 1935, Vol. 302, cc 2201. 458 Douglas Jerrold, Current Comments, in: English Review 62 (Januar 1936), S. 7–16, hier 8. 459 Pugh, „Hurrah for the Blackshirts!“, S. 264 f.

4.4.  Die Rezeption des italienischen Faschismus   179

Die Sanktionspolitik des Völkerbundes lehnten die Neo-Tories entschieden ab. Aus ihrer Sicht wurde der Völkerbund von ‚internationalen Kräften‘ instrumentalisiert und gegen ein unliebsames Land eingesetzt. Die Neo-Tories, die so argumentierten, bewegten sich am Rand der Verschwörungstheorie, auch wenn sie nur andeuteten, wer gemeint war.460 In jedem Fall hielten sie den Völkerbund in seiner existierenden Form für ein politisches Unding. Er repräsentierte aus Sicht der Neo-Tories lediglich jene Nationen, die ‚saturiert‘ waren und den Status quo akzeptierten, nicht jedoch jene Mächte, die wie Italien berechtigte koloniale Forderungen stellten. Eine wirklich am Frieden interessierte britische Regierung ­dürfe die Sanktionspolitik des Völkerbunds nicht unterstützen. In einem Brief an die Times gaben Jerrold, Petrie, Arnold Wilson und Hugh Sellon dieser Haltung Ausdruck: We ask you Sir, to allow us to state our belief that sufficient attention has not yet been given in this country to the strength of Italy’s case in her dispute with Abyssinia. We appeal to the ­Government to consider once more whether the success of the policy of sanctions might not ultimately prove more fatal to European unity and peace than its failure.461

Aus Sicht der Neo-Tories gossen die Sanktionen des Völkerbunds Öl ins Feuer. Ein zunächst lokal begrenzter Konflikt mit berechtigten italienischen Ambitionen wurde durch die Sanktionspolitik der internationalen Gemeinschaft erst zu einem großen Krieg – „It was indeed, and literally, what my friend General Fuller has called it: ‚The First of the League Wars‘“ schrieb Jerrold 1937.462 Für den Fall, daß es zu einem Krieg im Namen des Völkerbunds kommen sollte, rief die Saturday Review präventiv zur Kriegsdienstverweigerung auf: „English Youth refuses to fight for the League of Nations.“463 In keiner konservativen Zeitung wurde der Sieg Mussolinis – der sich allerdings nur als ein vorläufiger entpuppte – denn auch so überschwenglich gefeiert wie in der Saturday Review. In einem in der Zeitung abgedruckten Telegramm der Herausgeberin schrieb Lady Houston an Mussolini: „TEN THOUSAND TIMES BRAVO BRAVISSIMO: Oh! Splendid man!! I rejoice to know that your Excellency has triumphed over your enemies in Abyssinia and your enemies in England. And all your English FRIENDS congratulate you on your great victory. Long live Italy! Lucy Houston.“.464 Der Sieg im Abessinienkrieg, das verkündete man in der Saturday Review mehrfach, sei auch ein Sieg für England gewesen. Unter dem Titel „England saved by Mussolini“ hieß es: The victory of Signor Mussolini’s armies should be acclaimed not only in Italy but in England as well, for if Italy had not – contrary to all the predictions of her detractors –won the war in

460 Francis Yeats-Brown

zitiert in seinem Buch European Jungle eine „italienische Bekannte“, die beklagt, daß jüdisch-freimaurerische Kräfte hinter den Sanktionen stecken. Yeats-Brown, European Jungle, S. 100. 461 The Times, 6. 12. 1935. 462 Jerrold, Georgian Adventure, S. 351. 463 Saturday Review, 14. 3. 1936. 464 Lady Houston’s Telegram to Mussolini, Saturday Review, 9. 5. 1936. S. 3. Vgl. auch die Leserbriefe unter der Überschrift „Bravo Mussolini“, Saturday Review, 2. 5. 1936.

180   4.  Neo-Toryismus als Weltanschauung Abyssinia, it would have been Geneva who would have emerged victorious, and the victory of the Soviet Republics and it would have placed England under the heel of Russia.465

Petrie wiederum hoffte, daß nunmehr eine neue Phase des selbstbewußteren Faschismus beginnen würde. Er berichtete von einer Italienreise im Sommer 1936, daß es in der Tat so aussähe, als ob der Sieg in Abessinien einen neuen Geist in Italien erweckt habe. Der Italiener sei sich seiner selbst und seines Landes nun sehr sicher und vielleicht beginne auch er jetzt, ‚imperial‘ zu denken.”466 In der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre dominierten mit dem Spanischen Bürgerkrieg und der Auseinandersetzung mit dem nationalsozialistischen Deutschland andere Themen die ideologische Auseinandersetzung. Doch die Neo-Tories beendeten deswegen keineswegs ihre positive Rezeption des italienischen Faschismus. Viele ihrer Hauptwerke, die sich mit der politischen Situation in Europa beschäftigten, wie Yeats-Browns European Jungle oder Petries Lords of the Inland Sea, erschienen erst in den späten dreißiger Jahren. In ihnen war die Begeisterung für Mussolini und das faschistische Italien ungebrochen.467 Die Neo-Tories waren keine Faschisten. Sie akzeptierten weder Mittel und Methoden des Faschismus, noch sahen sie eine direkte Übertragbarkeit des Systems auf Großbritannien. In ihrer ambivalenten Rezeption des italienischen Faschismus bezogen sich die meisten Neo-Tories auf die ‚universellen‘ Aspekte des Faschismus und auf den korporativen Staat. Diese feine Unterscheidung war allerdings in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre immer schwerer zu vermitteln. Der gewalttätige Nationalsozialismus wurde, sehr zum Unwillen der Neo-Tories, auch als ‚Faschismus‘ gesehen. Die British Union of Fascists wurde als Kopie des italienischen Faschismus interpretiert und brachte Großbritannien die Erfahrung der politischen Gewalt. Und schließlich zeigte der Abessinienkrieg die brutale und expansionistische Seite des Mussolini-Regimes. Faschismus bedeutete nach 1934/35 für die Mehrheit der Briten Gewalt und Militarismus und sicher nicht die Wiederkehr des christlich-abendländischen Erbes der europäischen ­Zivilisation.

465 England

Saved by Mussolini, Saturday Review, 16. 5. 1936. Petrie, Foreign Affairs, in: English Review 63 (Juli 1936), S. 51–58, hier 51. 467 Der Parlamentsabgeordnete Robert Bernays schrieb über Lords of the Inland Sea: „This antidemocratic bias influences his approach to every problem. He is a blind admirer of the ­authoritarian state, preferably where it is expressed in an absolute monarchy. Where these conditions exist he accepts uncritically all the actions of the ruler.“ John O’London’s ­Weekly, 6. 8. 1937. 466 Charles

4.5  Der ‚Konsens-Antisemitismus‘ der Neo-Tories   181

4.5  „Little use to expel Jews to-day, for we all have ­become Jews“ – ‚Der Konsens-Antisemitismus‘ der ­Neo-Tories 4.5.1  Der britische Antisemitismus – Ein „Sonderweg in ­reverse“? „Antisemitism is on the increase“ konstatierte der Schriftsteller George Orwell in seinem Februar 1945 verfaßten Essay zum britischen Antisemitismus, das, obwohl nicht wissenschaftlich fundiert und den Umständen der Zeit geschuldet, durch seine analytische Schärfe und pointierte Kritik auch heute noch besticht.468 Gängige Rechtfertigungsversuche des Antisemitismus räumt Orwell gleich zu Beginn zur Seite. Von einer großen Zahl von Juden in Großbritannien könne keine Rede sein. Trotz der vielen jüdischen Flüchtlinge, die im Zuge von Hitlers Macht­ ergreifung und der Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden nach ­Großbritannien gekommen seien, betrage die Zahl der Juden in Großbritannien lediglich 400 000, so Orwell. Und trotz einiger weniger jüdischer Besitzer oder Teil­haber von Einkaufshäusern und Zeitungen sei das wirtschaftliche Leben Großbritanniens weit davon entfernt, von Juden beeinflußt oder gar dominiert zu werden. Selbstverständlich gäbe es jüdische Intellektuelle, meist politisch links, doch einen wirklichen, überdurchschnittlichen Einfluß hätten sie nicht. Ein jüdisches ‚Problem‘, eine ‚jüdische ‚Frage‘, existiere in Großbritannien allerdings nicht. Dennoch konstatierte Orwell einen ansteigenden Antisemitismus in seinem Land. Selbst humane und intelligente Leute seien keineswegs immun dagegen. „It does not take violent forms (English people are almost invariably gentle and law-abiding), but it is ill-natured enough, and in favourable circumstances it could have political results.“469 Hitler und die Verfolgung der Juden hätten den Antisemitismus in Großbritannien allerdings verändert, so Orwell. Während 30 Jahre zuvor Witze über Juden, Diskriminierung von Juden in Schule, Armee und Navy normal gewesen seien, und Intellektuelle wie Belloc und Chesterton antisemitische Ideen in gebildeten Kreisen verbreitet haben, sei nach 1933 der Antisemitismus in der britischen Mehrheitsgesellschaft sukzessive nicht-öffentlich, unterdrückt und schließlich tabuisiert worden. Dies mache einen rationalen oder gar wissenschaftlichen Umgang nicht leichter: „This feeling that antisemitism is something sinful and disgraceful, something that a civilised person does not suffer from, is unfavourable to a scientific approach, and indeed many people will admit that they are frightened of probing too deeply into the subject. They are frightened, that is to say, of 468 George

Orwell, Antisemitism in Britain, in: Sonia Orwell und Ian Angus (Hrsg.), The ­ ollected Essays, Journalism and Letters of George Orwell, London 1968, Bd. 3, S. 332–341. C Vgl. David Walton, George Orwell and Anti-Semitism, in: Patterns of Prejudice, 16 (1982), S. 19–34. 469 Orwell, Antisemitism in Britain, S. 333.

182   4.  Neo-Toryismus als Weltanschauung discovering not only that antisemitism is spreading, but that they themselves are infected by it.“470 Orwells Essay von 1945 wirft eine Reihe zentraler Fragen auf, die die Forschung zum modernen Antisemitismus in Großbritannien bis heute beschäftigen. Spielte Antisemitismus in der britischen Gesellschaft im europäischen Vergleich überhaupt eine Rolle oder ist er ein Randphänomen? Warum blieb der organisierte Antisemitismus auf Gruppierungen beschränkt, die die überwältigende Mehrheit der britischen Gesellschaft nicht unterstützte? Welche Bedeutung hatten der Aufstieg der Nationalsozialisten und die Verfolgung der Juden in Europa für anti­ semitische Tendenzen in Großbritannien? Daß die britische Gesellschaft in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts tatsächlich keineswegs frei von antisemitischen Tendenzen war, ist seit den bahnbrechenden Arbeiten von Colin Holmes und Gisela Lebzelter erwiesen.471 Die ­Arbeiten von Holmes und Lebzelter konzentrieren sich im wesentlichen auf den organisierten politischen Antisemitismus der britischen faschistischen Parteien und Splittergruppen. Historische Fallbeispiele zeigen allerdings, daß es eine antisemitische Traditionslinie jenseits faschistischer Gruppen wie The Britons, der Imperial Fascist League oder schließlich Mosleys British Union of Fascists gab. Hierzu gehören der starke Einfluß des dezidiert antisemitischen Agitationsvereins British Brothers’ League auf die Einwanderungsgesetzgebung 1905,472 die pogrom­ artigen Übergriffe auf Juden und ihr Eigentum in Süd-Wales 1911473 oder der Antisemitismus gegenüber osteuropäischen Juden aus dem East End Londons nach dem Ersten Weltkrieg.474 Ein wichtiges Beispiel für solche antisemitische Tendenzen ist die Ernennung des notorischen Antisemiten William JoynsonHicks zum Innenminister in Baldwins zweiter konservativen Regierung 1924.475 Die Zionist Review kommentierte dessen Ernennung: „As was to be expected, the advent of the new Government has brought with it an agitation against aliens, which, in the aggregate, is generally directed against Jews.“476 Dennoch wurde in Anlehnung und im Gegensatz zur Genese des deutschen Rassenantisemitismus der britische Antisemitismus von der Forschung als ein

470 Orwell, Antisemitism

in Britain, S. 336 f. Anti-Semitism in British Society, 1876–1939; Lebzelter, Political Anti-Semitism in England 1918–1939. 472 Bauerkämper, Die „radikale Rechte“ in Großbritannien, S. 79 f. 473 Geoffrey Alderman, The Anti-Jewish Riots of August 1911 in South Wales, in: Welsh History Review 6 (1972), S. 190–200. 474 Shmuel Almog, Antisemitism as a Dynamic Phenomenon. The Jewish Question in England at the End of the First World War, in: Patterns of Prejudice 21 (1987), S. 3–18; David ­Cesarani, Anti-Alienism in England After the First World War, in: Immigrants & Minorities 6 (1987) S. 5–29. 475 David Cesarani, Joynson-Hicks and the Radical Right in England After the First World War, in: Tony Kushner und Kenneth Lunn, Traditions of Intolerance. Historical Perspectives on Fascism and Race Discourse in Britain, Manchester 1989, S. 118–139. 476 Zionist Review 8 (1924/25), S. 87, zit. nach Cesarani, Joynson-Hicks and the Radical Right, S. 129. 471 Holmes,

4.5  Der ‚Konsens-Antisemitismus‘ der Neo-Tories   183

„Sonderweg in reverse“477 präsentiert. Während in Deutschland lange vor dem Aufstieg der Nationalsozialisten die bürgerliche Kultur des Kaiserreichs von einem antiliberalen, theoretisch fundierten, rassischen Antisemitismus durchtränkt gewesen sei, sei der britische Antisemitismus ein „parlour-antisemitism“,478 also eine Art ‚Wohnzimmer‘-Antisemitismus geblieben, der politisch unreflektiert und nicht in einer antiliberale Weltanschauung integriert gewesen sei. Demnach war der britische Antisemitismus ein dezidiert soziales Phänomen, an „affair of social exclusion“,479 und bedurfte keines theoretischen – also biologistischen oder pseudo­wissenschaftlichen – Hintergrunds. Gleichzeitig hätten die machtvollen Kräfte – jüdische Emanzipation, die liberale politische Kultur Großbritanniens und traditionelle religiöse Toleranz – ein Infragestellen der rechtlichen, politischen und religiösen Gleichstellung der Juden verhindert.480 Dieser Ansatz wird in jüngsten Arbeiten von Tony Kushner, Martin Pugh und Dan Stone kritisiert. Die Internierung von jüdischen Flüchtlingen 1940 ist für den Historiker Tony Kushner gar der Höhepunkt einer seit 1918 ansteigenden, stark antisemitischen Fremdenfeindlichkeit in Großbritannien und keineswegs „a temporary aberration by the normally liberal British“.481 Martin Pugh schreibt im Zusammenhang mit der Ernennung von Joynson-Hicks: In effect anti-Semitism was rife at all levels of British society and throughout the political system. Although this prejudice did not result in active discrimination except over immigration and naturalisation rights, it reflected the ubiquitous racist view of the supposed flaws and characteristics of Jewish people and an assumption that Jews were highly organised for sectional rather national interests.482

Diese wichtigen Forschungen zum britischen Antisemitismus in der Zwischenkriegszeit beziehen sich weiterhin meist auf die British Union of Fascists oder auf Antisemitismus im Zusammenhang mit der Integration von jüdischen Flüchtlingen. Eine ideengeschichtliche und quellennahe Untersuchung zum britischen rechtsintellektuellen Antisemitismus in den dreißiger Jahren gibt es bisher nicht. Daß in der Tat antisemitische Vorstellungen jenseits der faschistischen Gruppierungen reflektiert und theoretisch begründet wurden und Teil antiliberaler Ge477 Arthur

Strauss, Great Britain. The Minor Key, in: Ders. (Hrsg.), Hostages of Modernization. Studies on Modern Antisemitism, 1870–1933/39, Berlin 1992, S. 289–293, hier 289 [Hervorhebung im Original]. 478 Griffiths, Fellow Travellers of the Right, S. 65. 479 Julius, T.S. Eliot, Anti-semitism, and Litery Form, S. 12. 480 Susanne Terwey, Moderner Antisemitismus in Großbritannien 1899–1919. Über die Funk­ tion von Vorurteilen sowie Einwanderung und nationale Identität, Würzburg 2006. Vgl. ­hierzu außerdem Harry Defries, Conservative Party Attitudes to Jews 1900–1950, London 2001; Markku Ruotsila, The Antisemitism of the Eight Duke of Northumberland’s Patriot, 1922–1930, in: Journal of Contemporary History 39 (2004), S. 71–92; ders., Lord Sydenham of Combe’s World Jewish Conspiracy, in: Patterns of Prejudice 34 (2000), S. 47–64. 481 Tony Kushner, The Impact of British Anti-Semitism, 1918–1945, in: David Cesarani (Hrsg.), The Making of Modern Anglo-Jewry, Oxford 1990, S. 199. Zur Frage der Flüchtlingspolitik ebenfalls kritisch, doch um mehr Kontextualisierung bemüht Louise London, Whitehall and the Jews, 1933–1948. British Immigration Policy, Jewish Refugees and the Holocaust, Cambridge 2001. 482 Pugh, „Hurrah for the Blackshirts!“, S. 215. Vgl. auch Stone, Responses to Nazism in Britain.

184   4.  Neo-Toryismus als Weltanschauung schichtsinterpretationen und antikapitalistischer Wirtschaftsvorstellungen sein konnten, läßt sich mit einem ideengeschichtlichen Ansatz anhand der Neo-Tories zeigen.

4.5.2  Theoretisch fundierter Antisemitismus als Teil von ­antiwhiggistischer Geschichtsschreibung Der rechtsintellektuelle Antisemitismus war keineswegs lediglich antijüdisches Vorurteil oder Ausdruck einer sozial-exklusiven Abwehrhaltung gegenüber jüdischen Einwanderern, sondern – wenn auch nicht zentraler – Bestandteil elaborierter kulturpessimistischer Überlegungen und anderer Negativ-Ideologeme wie Antiliberalismus, Antikapitalismus, Antiurbanismus und Antisozialismus. Insbesondere in den historischen Ausführungen der Neo-Tories wurden die Juden als treibende Kraft von Liberalismus und Kapitalismus und damit der ‚Degeneration‘ von Englishness dargestellt. Ältere antijüdische Ressentiments ließen sich in das antiwhiggistische Geschichtsbild einbauen und so den Attacken gegen die negativen Auswirkungen der modernen, urbanisierten Industriegesellschaft eine zusätzliche Stoßrichtung geben, ohne sich in extremen Verschwörungstheorien zu verlieren. Ein biologistischer Rassen-Antisemitismus war das nicht, doch im Kontext von Antikapitalismus und antiwhiggistischem Geschichtsbild läßt sich durchaus von einem Konsens-Antisemitismus mit nationalistischer Ausrichtung sprechen. Denn am Ende der intellektuellen Suche nach dem Wesen von Englishness, nach dem undegenerierten, reinen England, nach dem Unschuldszeitalter der Nation, stand nicht nur die Exklusion der Juden aus dieser Gemeinschaft, sondern auch die Anklage der Juden, die ‚Degeneration‘ von Englishness genutzt oder gar sie vorangetrieben zu haben. Als Ausweg aus dem als unerträglich empfundenen politisch-ökonomischen System der Gegenwart suchten die Neo-Tories nach ‚Dritte-Weg-Theorien‘ zwischen Sozialismus und Kapitalismus. Im Kern basierten diese antiliberalen, anti­ urbanen und antikapitalistischen Modelle auf einer autarken, dezentralisierten, im wesentlichen agrarisch geprägten Wirtschaft.483 Die Glorifizierung ­mittelalterlicher Wirtschaftsorganisation war abstrakt. Niemand forderte tatsächlich eine Wiedereinführung der mittelalterlichen Gilden, aber der historische Rückgriff für die ­eigenen korporativen Modelle ist in diesem Zusammenhang dennoch sehr aufschlußreich. Zwar wurde die Juden nicht notwendigerweise explizit als die treibende Kraft der liberalkapitalistischen ‚Degeneration‘ dargestellt, aber im Rekurs auf die wirtschaftshistorische Wurzel allen Übels, die Einführung eines an der Marktwirtschaft orientierten Finanzwesens und damit des Zinswesens und des ‚Zinswuchers‘, war offensichtlich, wer im Zweifelfall schuldig war. Das alte Stereotyp des jüdischen Geldverleihers konnte in diesem Kontext systematisch angewandt werden, um den schädlichen Einfluß der ‚finanziellen Interessen‘ auf die Landwirtschaft, die stabile Ordnung der Gesellschaft und teil­ 483 Lymington,

Famine in England, S. 208.

4.5  Der ‚Konsens-Antisemitismus‘ der Neo-Tories   185

weise auf die Reinheit der englischen Rasse aufzuzeigen. Ein radikales Beispiel hierfür sind die Äußerungen des Journalisten Anthony Ludovici. Dieser schrieb in seinem Buch A Defence of Conservatism von 1926: Nor can we entirely exclude the fact of Jewish influence, when we consider the vicious development of the functionless ownership of property, which ever since the Grand Rebellion, has constituted one of the worst aspects of modern capitalism. To own property without responsibility, to own industrial interests without performing any function in regard to industry, these are two of the developments which ever since the Commonwealth have done most to bring discredit upon Capitalistic organisation; and, in the sense that they are inseparable from the purely usurious character of the modern financial control of trade, we are justified in at least formulating the question whether the return of the Jews in large numbers, ever since 1656, may not have had something to do with this un-English development of the country’s economic organisation.484

Ludovici spielte hier auf Oliver Cromwells Entscheidung von 1656 an, Juden in England wiederzuzulassen, nachdem sie von Edward  I. 1290 verbannt worden waren. Der Verbannung ging eine schrittweise Entrechtung, wie 1275 das Verbot des Geldverleihs für Zinsen und schließlich die Verfolgung und Ermordung von männlichen Juden, voraus. Der Besitz der Juden fiel an die englische Krone. Einige wenige Juden konvertierten und suchten sich eine neue Identität in England, aber der Großteil der Vertriebenen floh nach Frankreich. Erst nach 1656 siedelte sich eine kleine Zahl von Juden wieder in England an, und auch unter den Stuarts Charles  II. und James  II. genoß die neue jüdische Gemeinde Schutz vor Verfolgung.485 An dieses dunkle Kapitel der englisch-jüdischen Geschichte erinnerten gerne jene Autoren, die die Verfolgung der Juden im nationalsozialistischen Deutschland zu relativieren suchten. Nicht nur im Deutschen Reich, so das Argument, sondern schon immer und auch in England seien Juden verfolgt worden. Moralische Entrüstung sei daher unangebracht und mal solle sich nicht bei den Deutschen einmischen. Ein Beispiel für diese Haltung sind die Aufsätze von Randolph Hughes in verschiedenen Zeitschriften der Neo-Tories. Hughes, ein ehemaliger Universitätsdozent in Paris und London, war begeisterter Anhänger des nationalsozialistischen Deutschlands und verfaßte eine ganze Reihe von Artikeln, in denen er seine Sicht des ‚wiederauferstandenen‘ Deutschlands486 der britischen Leserschaft nahe zu bringen suchte. In seinem Artikel „The New Germany“ in der English Review schrieb er, daß die Engländer die letzten sein sollten, die jetzt Steine auf die Deutschen werfen. Denn ihre Vorfahren, die in vielerlei Hinsicht eine gesunde Urteilskraft gehabt hätten, hätten die Juden im 484 Ludovici,

A Defence of Conservatism. A Further Text Book for Tories, S. 152–154. Vgl. zu Ludovicis Antisemitismus Dan Stone, The Extremes of Englishness. The ‚Exceptional‘ Ideology of Anthony Mario Ludovici, in: Journal of Political Ideologies 4 (1999), S. 191–218; ders., Breeding Superman, S. 33–61. 485 Vgl. Todd M. Endelman, The Jews of Britain. 1656–2000, Berkeley u. a. 2002, S. 15–40. 486 Randolph Hughes, Germany Re-Arisen. A Brilliant, Impressionistic Account of a Visit to Germany and of the Amazing Pageant of the German National Congress, in: Anglo-German Review, November 1936, S. 11–13; ders., The New Germany, in: English Review 63 (November 1936), S. 464–479. Hughes hatte 1936 am Reichsparteitag der Ehre teilgenommen. Vgl. hierzu Markus Urban, Die Konsensfabrik. Funktion und Wahrnehmung der NS-Reichsparteitage, 1933–1941, Göttingen 2007, S. 334–336.

186   4.  Neo-Toryismus als Weltanschauung 13. Jahrhundert aus England hinausgeworfen, „and this expulsion was not conducted with exemplary kindness.“487 Ludovicis polemische Frage, ob nicht die Juden etwas mit der ‚unenglischen‘ Entwicklung des Wirtschaftslebens seit 1656 zu tun hätten, beschäftigte auch andere Neo-Tories. Der konservative Abgeordnete Viscount Lymington sah ebenfalls im Zinswucher das eigentliche Problem. In seinem Buch Ich Dien von 1931 griff er auf das Alte Testament zurück und beschrieb den ‚natürlichen‘ Instinkt der Völker, die Juden aus wirtschaftlichen Gründen zu vertreiben: Joseph, when he collected the corn of Egypt for seven years, bought at a low price and sold at a much higher one than his service in organisation and warehousing warranted. He insisted for generations after the famine in taking the full value of his money credit, while the Jews had the land of Goschen. It is hardly surprising to find that, when there arose a Pharaoh that knew not Joseph, the Egyptians had taken their revenge; and that the Jews, as a consequence of running the Egyptians, were turned out of Egypt. The same healthy instinct drove our ancestors to practise mediaeval dentistry on mediaeval moneylenders. Usury is precisely what we are suffering from to-day.488

Ob er auch „mittelalterliche Zahnheilkunde“ für moderne Geldverleiher befürwortete, sagte Lymington hier nicht. Wie Ludovici identifizierte er als Hauptproblem die ‚unenglischen‘ Organisation der Wirtschaft, und den Beginn der liberalkapitalistischen Fehlentwicklung setzte auch er mit der Wiederankunft der Juden in England zeitlich gleich. Mit dieser antisemitischen Interpretation der britischen Geschichte lagen Lymington, Sanderson und Ludovici auf einer Linie mit einem der unheilvollsten Theoretiker des Antisemitismus, Arthur Rosenberg. In seinem Mythus des 20. Jahrhunderts betont er, daß England „trotz einer sogenannten Volksvertretung“ über Jahrhunderte auf aristokratische Weise regiert worden sei, und „erst in neuerer Zeit ist mit dem Industrialismus und der Herrschaft des Finanzkapitals auch die französisch-jüdische Krankheit immer mehr zur Herrschaft gelangt.“489 Anders als die deutschen Theoretiker des Rassenantisemitismus bemühten sich die Neo-Tories allerdings nur vereinzelt um eine Verwissenschaftlichung oder Biologisierung ihrer Judenfeindschaft. Wenn auch nicht unter Berufung auf evolutionsbiologische Kategorien gab es doch Versuche, den Juden eine dezidiert ‚rassische‘ Andersartigkeit zu beweisen. In seinem Buch Statecraft bemüht sich William Sanderson um eine ‚rassische‘ Identifizierung der Juden und wendet sich entschieden gegen die Annahme, daß die jüdische nicht von der englischen Rasse getrennt werden könne. Denn selbst wenn die jüdische oder die englische Rasse nicht allein mit rein wissenschaftlichen oder rein politischen Kategorien unterschieden werden könne, bleibe diese Differenz dennoch bestehen. Neither of these contentions disturb the conception of the English or the Jews as identified races, because the English were welded into a pure race by adopting a common purpose; and the

487 Hughes,

The New Germany, S. 478 f. Vgl. auch ders., The New Germany, London 1936. Ich Dien, S. 52. 489 Arthur Rosenberg, Der Mythus des 20. Jahrhunderts. Eine Wertung der seelisch-geistigen Gestaltenkämpfe unserer Zeit, München 49–501935, S. 643. 488 Lymington,

4.5  Der ‚Konsens-Antisemitismus‘ der Neo-Tories   187 Jews might well change from long-headed noble type to a round-headed usurious type since they abandoned the pastoral and warlike philosophy of the Old Testament and took to intrigue and finance. It is, however, absurd to contend that the race characteristics of the English or the Jews are not clearly marked and easily distinguishable.490

Den systematischsten Versuch einer ‚Verwissenschaftlichung‘ des Antisemitismus stellt das Buch Jews dar, das Ludovici 1938 unter dem Pseudonym Cobbett veröffentlichte.491 Basierend auf einer abenteuerlichen Mixtur aus biologischen, anthropologischen und historischen Argumenten versuchte sich Ludovici in einer ‚neutralen‘ Wesensbeschreibung der Juden. Entschieden wendet er sich gegen die Behauptung, die Juden seien als Rasse nicht zu definieren. Bloß weil man das Wort ‚Rasse‘ nicht anwenden wolle, mache man damit den Juden noch nicht gleichwertig zu einem Deutschen oder Engländer: The error consists in supposing that, by debunking a word like ‚race‘ you can dispose of a belief which, after all, as we have seen above, has much to be said for it from the standpoint both of genetics and of history, and which the common man finds confirmed every time he happens to be confronted by a member of the Chosen People.492

Entscheidend für das Verständnis der jüdischen Rasse, so Ludovici, sei ihr asiatisch-beduinischer Ursprung. Diese rassischen Charakteristika seien verantwortlich für das nicht-territoriale Verständnis von Nationalität und ethnischer Einheit, die Unfähigkeit zu verantwortungsbewußtem Eigentum, die Abneigung zu körperlicher Arbeit, Härte gegenüber sich selbst und anderen, die Tendenz zu demokratischen und liberalen Einstellungen und das Überlegenheitsgefühl gegenüber jüngeren Völkern.493 Den antisemitischen Verschwörungstheorien, von denen Ludovici sich zu Beginn seines Buches distanzierte, kam er letztlich doch wieder sehr nah, insbesondere, wenn er die jüdische Unfähigkeit zu verantwortungs­ vollem Eigentum sowohl für den Siegeszug des Kapitalismus im 19. Jahrhundert, als auch für den des Sozialismus im 20. Jahrhunderts verantwortlich machte: The tendency of the Jew in decadent Europe may be due to his recognition of the fact that the system he has created, Capitalism, is inevitably doomed, and to his desire to secure himself a modicum of control, if not of leadership, in the new system which is Socialism or Communism. For it must be remembered that the Jew is congenitally incapable of visualizing or framing a 490 Sanderson,

Statecraft, S. 19. Pseudonym ist in Anlehnung an den englischen Politiker und Journalisten William Cobbett (1763–1835) gewählt, der durch seine antiurbane Kritik an der industriellen Moderne bekannt wurde. Dan Stone vermutet, daß Ludovici nicht unter seinem richtigen Namen veröffentlichte, weil ihm die Nähe zu antisemitischen Verschwörungstheoretikern wie Nesta Webster peinlich war und expliziter Antisemitismus in der englischen Gesellschaft abgelehnt wurde. Stone, Breeding Superman, S. 46 f. 492 Cobbett [Anthony Ludovici], Jews, and the Jews in England, London 1938, S. 27. 493 Ebd., S. 112 f. In einem Pamphlet von 1939 findet sich dieselbe Einschätzung der Juden als „ewige Nomaden“, die zu keinem Gemeinwesen fähig seien: „As hereditary nomads, they were accustomed to owe allegiance and loyalty to no man. When once the nomad has packed up his domestic goods and, after having exhausted the previous oasis along his path, has moved to a fresh oasis, he feels himself and his family, however large, as a self-contained unit, free from all social or other obligations to the rest of mankind, even including the other members of his race. He is, in fact, a particularist of the most hardened type.“ Ludovici, English Liberalism, S. 11. 491 Das

188   4.  Neo-Toryismus als Weltanschauung system of gregarious life based on the old ideas of limited property with responsibility and ­mutuality, and, therefore, when Capitalism fails, he can see no other alternative than Socialism or Communism.494

Bezogen auf das England seiner Gegenwart sah Ludovici das Problem weniger in den Juden an sich als in den jüdischen ‚Werten‘. „Modern English life is bristling with evidence of the victory of the Judaized Englishman and of Jewish values.“495 Wie Sanderson und Lymington war Ludovici Mitglied der antidemokratischen und antikapitalistischen Organisation English Mistery. Deren antiliberale Fundamentalkritik der modernen Industriegesellschaft hatte eine eindeutig antisemitische Stoßrichtung. Als Gegenmodell zur verhaßten Gegenwart diente die mythisierte Vorstellung einer männlichen, soldatischen, englischen Urgesellschaft, deren Werte durch Dekadenz, Individualismus und Parteienherrschaft verschüttet worden seien. „The purpose of the Mistery“, so heißt es in einer Propagandaschrift von 1934, „is to foster, encourage and guard the English breed, its characters and manners, and all that can be regarded with a wise pride as English life.“ Die Juden waren von dieser rassischen Vorstellung von Englishness grundsätzlich und kategorisch ausgeschlossen: „A Jew may be a good Jew, but will never be an English­ man.“496 Für die Nachfolgeorganisation der English Mistery, die nach dem Ausscheiden von Sanderson 1936 gegründete English Array, war der Antisemitismus von noch größerer Bedeutung.497Entscheidend ist jedoch, daß innerhalb des hier untersuchten britischen Neo-Toryismus Antisemitismus nicht auf diese sektiererischen Gruppen beschränkt war. Sowohl Radikalität als auch Reflexionsgrad des Antisemitismus variierten, doch in beinahe alle antiwhiggistischen Geschichtsreflexionen und Programmen zur Kontermodernisierung lassen sich judenfeindliche Tendenzen feststellen. Wenn auch nicht mit einer so deutlichen rassischen Komponente wie bei der English Mistery und der English Array,498 finden sich sowohl in den antiwhiggistischen Geschichtsinterpretationen als auch in den ‚DritteWeg-Theorien‘ der dreißiger Jahre antisemitische Argumentationen. So auch in der ökonomischen Philosophie des Distributism, die außerordentlich einflußreich bei britischen Rechtsintellektuellen war. Wichtigster Vordenker der Theorie war der Schriftsteller Hilaire Belloc.499 Die Wurzeln von Bellocs Antisemitismus lassen sich auf seine Zeit in Frankreich zurückdatieren, während der er zu einem Anhänger des antisemitischen 494 Cobbett, 495 Ebd.

496 English

Jews, and the Jews in England, S. 114.

Mistery, Leaflet of 1934; No. 2, S. 2.

497 Vgl. Stone, Breeding Superman, S. 49–53. 498 Der ausgesprochene Antisemitismus der Gruppe

erschwerte die Zusammenarbeit mit anderen Gruppierungen der Neo-Tories. Nachdem sich die English Mistery von der English ­Review-Gruppe vorübergehend zurückgezogen hatte, schrieb Petrie in sein Tagebuch: „The Mistery group are resigning from everything, but on the whole I am glad, as their anti-­ Jewish views make them undesirable colleagues.“ Tagebücher Charles Petrie, 9. 2. 1933. 499 Corrin, Catholic Intellectuals and the Challenge of Democracy, S. 176–187.

4.5  Der ‚Konsens-Antisemitismus‘ der Neo-Tories   189

Monarchisten Charles Maurras wurde und sich in der Ligue de Patriotes engagierte, die als radikaler Agitationsverein in der Dreyfus-Affaire aufgefallen war.500 Bellocs Vorstellung vom kontrollierenden Einfluß einer jüdischen Finanz-Elite auf Politik und Gesellschaft gewann während des Ersten Weltkriegs an Kontur und fand eine systematische Ausarbeitung in seinem erstmals 1922 veröffentlichten Buch The Jews. Dieses Buch versteht sich als ein ‚rationaler‘ Versuch, die ‚Wahrheiten‘ über ‚die jüdische Frage‘ offenzulegen: Die Juden seien eine fremde Rasse und würden sich niemals integrieren,501 ihre Loyalität gelte immer nur der eigenen Rasse – das erkläre auch die versteckte Zusammenarbeit zwischen jüdischer Hochfinanz und den jüdischen Bolschewisten in der Sowjetunion.502 Deswegen sei es notwendig, eine Atmosphäre zu schaffen, „wherein the Jews are spoken of openly, and they in their turn admit, define, and accept the consequences of a separate nationality in our midst, then, such a spirit once established, laws and regulations consonant to it will naturally follow.“503 Wie so viele intellektuelle Antisemiten distanzierte sich Belloc ausdrücklich vom gängigen propagandistischen Antisemitismus, da dieser in seiner gefähr­ lichen Emotionalität kontraproduktiv sei.504 Die Juden hätten von der unsach­ lichen Propagierung antisemitischer Hassgefühle nur profitiert. Es sei geradezu eine absichtliche Strategie der Juden gewesen, den agitatorischen Antisemitismus nicht zu bekämpfen, da dieser aufgrund seiner absurden Übersteigerung es den Juden erlaubt hätte, „to prevent all discussion of the Jewish question, though that question was increasing every day in practical importance and clamouring to be decided.“505 Douglas Jerrold war maßgeblich von den Schriften Bellocs beeinflußt,506 aber eine ‚jüdische Frage‘ hatte für ihn keine zentrale Bedeutung. Gleichwohl findet sich in seinen umfassenden kulturpessimistischen Ausführungen zur Krise der westlichen Zivilisation eine deutliche Abneigung gegenüber den Juden: Als Kräfte des internationalen Finanzwesens seien diese von Natur aus der christlichen Ordnung feindlich gesinnt.507 Jerrold war wie die meisten britischen Neo-Tories kein Anhänger eines rassischen Antisemitismus. Doch wie viele politischen Katholiken in der Tradition des Antisemiten Belloc sah er in seinem publizistischen Kreuzzug zur Rettung des christlichen Abendlandes die Juden nicht auf seiner Seite. Denn die beiden ‚internationalistischen‘ Bewegungen, der Liberalismus und der Sozialismus, teilten als ‚Erben der jüdischen Zivilisation‘ eine gemeinsame Abneigung

500 Ebd.,

S. 104 f. Belloc, The Jews, London 21928, S. 13. 502 Ebd., S. 61. 503 Ebd., S. 14. 504 Belloc rühmte sich seiner jüdischen Freundschaften; The Jews ist gar seiner jüdischen Sekretärin – „the best and intimate of our Jewish friends“ – gewidmet. 505 Belloc, The Jews, S. 62. 506 Douglas Jerrold, On the Influence of Hilaire Belloc, S. 12 f. 507 Douglas Jerrold, They That Take the Sword. The Future of the League of Nations, London 1936, S. 16. 501 Hilaire

190   4.  Neo-Toryismus als Weltanschauung gegen die christliche Kultur Westeuropas.508 „It is a formidable alliance“, so Jerrold sarkastisch.509 In seiner Zivilisationskritik bezog sich Jerrold neben Belloc vor allem auf den katholischen Publizisten und Historiker Christopher Dawson. Dessen geschichtsphilosophischer Ansatz bestand in einer Fundamentalkritik der europäischen Aufklärung und in einer britischen Variante der christlichen Abendland-Ideologie.510 Auch für Dawson waren die Juden die eigentlichen Nutznießer des modernen Zeitalters: „For centuries, Western civilisation has received its impetus from the humanist tradition, and the dying-away of that tradition naturally involves the temporary cessation of cultural creativeness.“ Aus dieser Perspektive sei es sehr bedeutsam, so Dawson, daß beinahe die einzig wirklich neuartigen Elemente in der Geisteswelt des neuen Zeitalters das Werk von Juden sei. In physical science the dominant figure is Einstein, in psychology it is Freud, in economics and sociology it is Marx – and each of them has exerted an influence on the thought of the age that far transcends the limits of his particular subject. And it is easy to understand the reason of this. The Jewish mind alone in the West has its own sources of life which are independent of the ­Hellenic and the Renaissance traditions. It has seen too many civilisations rise and fall to be discouraged by the failure of humanism. On the contrary it thrives in an atmosphere of determinism and historical destiny, which seems fatal to the humanist spirit.511

Auch Dawson war kein radikaler Antisemit. Aber Teil seiner kulturpessimistischen Betrachtungen, die viele katholische Intellektuelle der Zwischenkriegszeit wie ­Jerrold oder T.S. Eliot beeinflußt haben, ist eben auch die Vorstellung eines mittelalterlichen ‚Alten Westens‘, der christlich exklusiv definiert wurde, an dem die Juden keinen Teil hatten und von dessen liberal-kapitalistischer ‚Degeneration‘ sie zumindest profitiert hatten.512

4.5.3  Bekämpfung der ‚judaisierten‘ Werte statt Ausweisung der Juden Es ist auffällig, daß die Neo-Tories der dreißiger Jahre keine antisemitischen legislativen Forderungen stellten. Dies hängt eng mit ihrem konservativ-revolutionären Fundamentalismus zusammen. Denn selbst die rassistisch argumentierenden Neo-Tories sahen das ‚Problem‘ der Zeit nicht in den Juden als Personen oder als Volksgruppe an sich, sondern in den ‚jüdischen Werten‘, die es zu überwinden galt. Applaus für brutale, antisemitische Aktionen der Nationalsozialisten wie in der radikalkonservativen Wochenzeitschrift Patriot war von den Neo-Tories nicht zu erwarten. Antisemitische Gesetzesvorhaben, Einschränkung der jüdischen 508 Douglas Jerrold, 509 Ebd. 510 Vgl.

Current Comments, in: English Review 49 (Juli 1929), S. 3–13, hier 6.

Leucht, Christopher Dawson. Zur Abendland-Ideologie Dagmar Pöpping, Abendland. Christliche Akademiker und die Utopie der Antimoderne 1900–1945, Berlin 2002; Axel Schildt, Zwischen Abendland und Amerika. Studien zur Westdeutschen Ideenlandschaft der 50er Jahre. München 1999. 511 Christopher Dawson, Christianity and the New Age, London 1931, S. 18. 512 Vgl. Kap. 3.2.

4.5  Der ‚Konsens-Antisemitismus‘ der Neo-Tories   191

Emanzipation oder Ausweisung der Juden aus Großbritannien war aus ihrer Sicht sinnlos. In Ludovicis Jews heißt es: „No exclusion of the Jews from the administrative or cultural life of England, therefore, could be more than a piece of ­shallow, hysterical patriotism, if it did not contemplate and include the far more fundamental but infinitely more difficult task of freeing the country of its wrong values.“513 William Sanderson brachte diese Haltung auf die knappe Formel „It would be of little use to expel Jews to-day, for we all have become Jews.“514 Die Ablehnung des gewaltsamen Antisemitismus der British Union of Fascists durch die Neo-Tories ist auch vor diesem Hintergrund zu sehen. ‚Radau-Antisemitismus‘ war aus Sicht der Neo-Tories nicht nur unzivilisiert, er war auch sinnlos und lenke von den eigentlichen Problemen ab. In einem Briefwechsel des amerikanischen Schriftstellers Ezra Pound mit dem Gründer der extrem antisemitischen National Workers’ Party, Graham Seton Hutchinson, der auch Mitglied in der English Mistery war,515 wird diese Haltung deutlich. Der zu diesem Zeitpunkt in Italien lebende Pound hatte intensiven Kontakt zu verschiedenen rechten Organisation in Großbritannien, insbesondere mit der Social Credit-Bewegung um die Zeitschrift New English Weekly, die ebenfalls eine eindeutig antisemitische Stoßrichtung hatte.516 Pound bemühte sich von Italien aus, Hutchinson mit anderen Vertretern der britischen Rechten in Kontakt zu bringen, sah aber dessen radikalen Antisemitismus als eine Schwachstelle. Im Mai 1936 schrieb er Hutchinson: „What I want is the effective means to the end. The anti-Semitic fury blunts perception.“ Es sei das finanz-kapitalistische System, das es abzuschaffen gelte, dann würde die jüdi513 Cobbett,

Jews, and the Jews in England, S. 116. Lymington schrieb in Anlehnung an Ludovici „that to repeat the step of Edward  I and expel the Jews will be useless, unless we are prepared to go further and radically overhaul our whole national values, so as to get rid of two and a half centuries of ‚Judaisation‘, otherwise the expulsion of the Jew would merely leave England at the mercy of the judaised Englishman.“ The Quarterly Gazette of the English Array 5 (Oktober 1938). 514 William Sanderson, That Which Was Lost. A Treatise on Freemasonry and The English Mistery, London 1930, S. 78. 515 Lt.-Col. Graham Seton Hutchinson (1890–1946) war ein schottischer Soldat, der sich nach seiner militärischen Karriere in Veteranenvereinen engagierte. Hutchinson hatte offensichtlich sehr gute Kontakte zu führenden Nationalsozialisten und gründete 1933 seine National Worker’s Party nach dem Vorbild der NSdAP. Sein Antisemitismus ging so weit, daß er gar Mosleys BUF vorwarf, jüdisch beeinflußt zu sein. Vgl. Griffiths, Fellow Travellers of the Right, S. 101–103. Ein verbindendes Moment in den deutsch-britischen Beziehungen war aus Hutchinsons Sicht die deutsch-englische Kameradschaft. Auch Hitler sah er vornehmlich als Soldaten. In einem Brief an Ezra Pound schrieb er im Dezember 1934: „Look at Hitler’s War record. Front line soldier, Western Front for four years. Twice wounded, twice recommended for conspicuous gallantry. And for past 15 years qualities of highest courage.“ Seton Hutchinson an Pound, 31. 12. 1934, British Library, Manuscript Collections, Add Ms 74270. Sein antisemitisches Hauptwerk veröffentlichte er 1936. Vgl. Graham Seton Hutchinson, Truth. The Evidence in the Case. On the Political Influence of the Jews, London 1936. 516 Der Gründer der Social Credit-Bewegung, Major Clifford H. Douglas (1879–1952), entwickelte sich zu einem antisemitischen Verschwörungstheoretiker. Vgl. Stone, Responses to ­Nazism in Britain, S. 122 f.; Conford, Origins of the Organic Movement, S. 24, 161f, 168, 172, 196.

192   4.  Neo-Toryismus als Weltanschauung sche Macht von allein fallen; antisemitische Propaganda sei da nur kontraproduktiv und helfe den Juden. „As a soldier you ought to know that you attack a given objective. With a small force under your command you attacked in 1915, say a hill or a farm. You didn’t send your men against Köln, Berlin, Stuttgart and Bremen all at once. Cut thru[through] the money monopoly, break the strangle hold of international finance and the Jew power goes.“ Außerdem sei Hutchinsons Konzentration auf antisemtische Propaganda ein Problem, da diese Koalitionen im rechten Milieu verhindere: „I see in your printed matter several reasons, I mean reasonable reasons why people I have urged to coalesce with you, refuse to do so. Every appeal to pr[e]judice clouds the issue.“517 Auf Hutchinsons Einwand, daß das antisemitische Pamphlet Die Protokolle der Weisen von Zion, doch zumindest einen Kern Wahrheit hätte, antwortete ihm Pound: Percentage of truth in protocols is not the point. Point is all propaganda based on them is discounted by their being suspect, and the propaganders thought cranks. Point is; the fact that England needs to rearm, or at least is rearming should not be taken as excuse for country’s continuing to borrow its own money (and credit) from a gang of international crooks, or unconscious (and/or patriotic) enemies of the race.518

Der Antisemitismus, so fuhr Pound fort, sei ein Ablenkungsmanöver, ein red herring: „If you bash usury the Jew power falls. As long as you leave ‘em the cry of race ‚prejudice‘ it keeps people’s attention off the vital spot, which is ‚Et les moyens d’échange.‘“ In der Tat waren antisemitische Verschwörungstheorien den Neo-Tories eher fremd. Für Autoren wie Nesta Webster, die überall jüdische Komplotte witterte,519 hatte etwa Charles Petrie nur Verachtung übrig. In dem Tagebucheintrag vom 29. Januar 1932 schreibt er: „Mrs. Webster is quite mad about her Jews and Freemasons, and has not a grain of humour.“520 Allerdings lobte Petrie nur wenige Monate später in der English Review ein Buch, das wie keine andere britische Publikation der Zwischenkriegszeit gegen jüdische Einwanderung hetzte. Arthur H. Lanes The Alien Menace propagierte die Vorstellungen einer reinen und höherwertigen, durch die Insellage geschützten angelsächsischen ‚Urrasse‘ und warnte in alarmierendem Ton vor der ‚Überfremdung‘ durch jüdische Einwanderung.521 Die Neuauflage des Buches, so Petrie im Oktober 1932, sei sehr zu begrüßen. 517 Pound

an Seton Hutchinson, 9. 5. 1936, British Library, Manuscript Collections, Add Ms 74270. 518 Pound an Seton Hutchinson, 22. 7. 1936, British Library, Manuscript Collections, Add Ms 74270. Zu Pounds Antisemitismus vgl. Wendy Stallard Flory, Pound and Antisemitism, in: Ira Bruce Nadel (Hrsg.), The Cambridge Companion to Ezra Pound, Cambridge 1999, S. 284–300. 519 Vgl. Griffiths, Fellow Travellers of the Right, S. 62–64, 67–68, 89, 276, 324, 330, 354, 359, 369; Martha Frances Lee, Nesta Webster. The Voice of Conspiracy, in: Journal of Women’s History 17 (2005), S. 81–104. 520 Tagebücher Charles Petrie, 29. 1. 1932. 521 Arthur H. Lane, The Alien Menace. A Statement of the Case, London 1928. Das Buch ­wurde in den folgenden Jahren mehrfach wieder aufgelegt und wurde zur „bible of all those xenophobic tendencies in the thirties“. Griffiths, Fellow Travellers of the Right, S. 63.

4.5  Der ‚Konsens-Antisemitismus‘ der Neo-Tories   193 The author has brought the book up to date, and he shows very clearly indeed that the type of alien who is taking up his residence in our midst is the one that we could best spare. Particularly interesting are the chapters devoted to the alien influence both in education and in the B.B.C., and it is at least a curious coincidence that the aliens who play so prominent a part in our public life should invariably be on the Left in politics.

Das Buch sollten, so Petrie, alle lesen, die ebenso überzeugt sein, daß eine internationale revolutionäre Bewegung eine internationale Opposition erfordere. Das Werk sei um so wertvoller „for the fact that it contains several constructive ­proposals for dealing with the danger to which it calls attention.“522 Lanes ‚konstruktive‘ Vorschläge betrafen insbesondere die Deportation der Immigranten: „Undesirable and Criminal Aliens who refuse to be, or cannot be, deported to their own countries, or who claim no nationality, should be sent at an island at some distance from this country, as St. Helena, etc.“523 Daß es ein ‚jüdisches Problem‘ in Großbritannien gegeben habe, hielt Petrie noch in seinen Erinnerungen von 1972 fest. Hinsichtlich der britischen Faschisten war er aber überzeugt, daß Mosleys antisemitische Propaganda ihn Unterstützung gekostet habe: Then again there was grave mistrust among the sober-minded regarding the implications of his [Mosleys, B.D.] anti-Semitic policy. It is true that the Jewish problem in those days loomed very large, and it was assuredly not to be solved – any more than is the coloured problem today – by ignoring it, but Mosley’s intransigent attitude did him much more harm than good.524

Petrie und andere Neo-Tories distanzierten sich von der als plebejisch wahr­ genommenen BUF mit dem oftmals beschworenen „We do not wear a black shirt.“525 Zu der elitären Distanz gehörte auch die Ablehnung des gewaltsamen Antisemitismus der BUF. Um so mehr suchten die britischen Faschisten im kurzlebigen January Club von 1934, in dem sie Kontakte zu konservativen Politikern und Intellektuellen pflegten, den eigenen Antisemitismus in Taktik und Programmatik herunterzuspielen. Bei einem der Treffen im März 1934 im Londoner Hotel Splendide, an dem neben Charles Petrie, Francis Yeats-Brown, Lord William Scott, Lord Middleton und 120 weiteren Gästen auch der jüdische Abgeordnete Major Nathan teilnahm, versuchte Dr. Robert Forgan von der BUF, Nathans Befürchtungen zu beschwichtigen: „Jews loyal to the interests of Britain have nothing to fear when Fascism comes to power in Britain, and Fascism considers the whole Jewish question as being relatively unimportant as compared with the great national issues with which they are concerned.526 Wenn auch die Neo-Tories den agitatorischen und gewaltsamen Antisemitismus ablehnten, so waren sie überzeugt, daß Antisemitismus auf das tiefer liegende Problem der liberal-kapitalistischen Wirtschafts- und Finanzordnung verwies. 522 Charles

Petrie, Foreign Affairs, in: English Review 50 (Oktober 1932), S. S. 408–417, hier 416 f. 523 Lane, The Alien Menace, S. 48. 524 Petrie, A Historian Looks at His World, S. 114. 525 Everyman, 6. 10. 1933, S. 3. 526 The Fascist Week, 30. 3.–5. 4. 1934, S. 5. Zu Forgans Distanz zum Antisemitismus. Vgl. Kap. 5.2.2.

194   4.  Neo-Toryismus als Weltanschauung Statt nur antijüdische Parolen zu skandieren, gelte es, dieses direkt zu bekämpfen. Antisemitische Ressentiments in der Bevölkerung seien aber durchaus verständlich. Der Abgeordnete Arnold Wilson erklärte im Juli 1936 in einer Rede im House of Commons, daß es falsch sei, anzunehmen, daß die Judenhetze etwas mit dem Faschismus zu tun habe. Der Grund dafür sei vielmehr ein schon lange gefühlter Groll, der immer lauter werde und sich vor allem im Immobilienbereich, beim Ratenkauf und bei der Vermietung deutlich mache. Daher kam Wilson zu dem Schluß: The Government would do well to consider closely the economic and juridical bases of the growing feeling that certain classes of the community unquestionably have that they are the victims of one particular section of the community. I do not support that thesis, but it is sincerely and honestly held by decent men in regard to certain branches of the retail trade, and more particularly in regard to the ownership of some of the worst houses. Certainly the basis of anti-Jewish feeling is primarily economic; the sooner we realise that the better.527

Aus dem Antisemitismus der Neo-Tories lassen sich folgende Schlußfolgerungen ziehen: Der britische Antisemitismus der Zwischenkriegszeit war nicht nur ein unreflektiertes Vorurteil gegenüber Juden und auch nicht lediglich ein wesentlich sozial exklusiver ‚Wohnzimmer-Antisemitismus‘. In den historischen Ausführungen der Neo-Tories wurde der Antisemitismus in das radikal antiwhiggistische Geschichtsbild eingebaut und so den Attacken gegen die negativen Auswirkungen der modernen, urbanisierten Industriegesellschaft eine zusätzliche Stoßrichtung gegeben. Um einen biologistischen Rassen-Antisemitismus handelt es sich dabei meist nicht, und antisemitische Verschwörungstheorien mit Alleinerklärungsanspruch wurden abgelehnt. Doch Englishness wurde exklusiv und gegen die Juden definiert. Die Anklage an die Juden, von der ‚Degeneration‘ von Englishness profitiert oder gar sie vorangetrieben zu haben, war Teil der Suche nach dem undegenerierten, ‚reinen‘ England, nach dem Unschuldszeitalter der Nation. Entscheidend ist jedoch, daß die Neo-Tories meist keine legislativen Maßnahmen gegen Juden forderten. In ihrem konservativ-revolutionären, aber eben intellektuellen Fundamentalismus sahen sie das Problem der Zeit nicht in den Juden als Personen oder als Volksgruppe an sich, sondern in den ‚jüdischen Werten‘ der Zeit, die es zu überwinden galt. Antisemitische Gesetzesvorhaben, Einschränkung der jüdischen Emanzipation oder Ausweisung der Juden aus Großbritannien waren vor diesem Hintergrund sinnlos. Statt antijüdische Parolen zu skandieren, gelte es, die Ursachen des Problems zu bekämpfen, und diese sahen sie im britischen Finanzsystem und in der liberal-kapitalistischen Wirtschaftsordnung, die durch die ­‚jüdischen Werte‘ unenglisch geworden waren.

4.5.4  Appeasement und Antisemitismus Der Deutsche Akademische Austauschdienst hatte in einer Bestandsaufnahme der deutsch-englischen Beziehungen im April 1936 darauf hingewiesen, daß die 527 House

of Commons Debates, 10. 7. 1936, Vol. 314, cc. 1629.

4.5  Der ‚Konsens-Antisemitismus‘ der Neo-Tories   195

‚Juden­frage‘ die Freundschaft zwischen den beiden Ländern deutlich trüben könnte. „Die meisten Engländer glauben nun, daß die deutsche Judengesetzgebung von 1933 weit genug ging, um die bestehenden Schwierigkeiten zu beseitigen. Für die Politik von 1935 gibt es jedoch keine Beweisgründe, die auf allgemeines Verständnis in England rechnen dürften.“528 Für die Neo-Tories galt dies nur bedingt. Der Antisemitismus der Nazis wurde von ihnen nur am Rande verurteilt. Die in der Forschung vertretene Ansicht, der Antisemitismus sei „Hauptgrund“529 der Ablehnung des Nationalsozialismus durch britische Intellektuelle gewesen, stimmt für die Neo-Tories nicht. Zwar schrieb Jerrold im Juli 1933 in der English Review: „The world has been rightly shocked by the revival of the persecution of the Jews.“530 Es lohnt sich, aber auch den direkt folgenden Satz zu zitieren: „Unfortunately, it takes more calmly the far more widespread and infinitely more atrocious persecution of the Christians in Russia and Mexico, and in Spain during the last fifteen years.“ Jerrold sah zwar, daß die antijüdischen Kampagnen das Ansehen des Nazi-Regimes dauerhaft zerstört hätten, doch habe dies aus durchaus erklärbaren Gründen nicht zu einem echten Mitgefühl mit den Juden geführt: „There is a feeling that the Jews are at heart opposed to the European world order and in sympathy with the attacks on that order which have been so in­sistent ­during the last fifteen years.“531 Und selbst vorsichtige Distanzierung vom Anti­ semitismus der Nationalsozialisten hatte meist keine großen Konsequenzen für die Haltung gegenüber dem Deutschen Reich. Douglas Jerrold etwa trat 1935 der Anglo-German-Fellowship bei, die sich intensiv für die deutsch-britische Freundschaft engagierte.532 Die Neo-Tories hatten nicht nur kein Mitgefühl für die deutschen Juden, sie erkannten auch die Dringlichkeit der ‚jüdischen Frage‘ im Deutschen Reich an. In einem für die deutsch-britische Verständigung eintretenden Artikel in der Europäischen Revue hatte der konservative Politiker Duncan Sandys im Juli 1936 durchaus Verständnis für den deutschen Antisemitismus: Das deutsche Volk beobachtete mit wachsender Unruhe, wie eine Schlüsselstellung nach der anderen unter die Kontrolle von Juden kam, Macht und Einfluß auf jedem Gebiete gerieten in steigendem Maße in ihre Hände, ob im Wirtschaftsleben, im Handel, in der Industrie oder im Bankwesen, ob im politischen Leben, in der städtischen, provinzialen oder in der Reichsverwaltung. Dies allein hätte genügt, um das deutsche Volk argwöhnisch zu machen und zu beunruhigen. Was aber die Lage doppelt unerträglich für ein sich selbst achtendes Volk machen mußte, war erstens die Art von Juden, die an die Spitze gelangte, und zweitens deren politische und ­soziale Anschauungen. Der jüdische Kriegsgewinnler und der jüdische sozialistische Abenteurer

528 T.P.

Conwell Evans, Britisch-deutsche Beziehungen, in: Hochschule und Ausland. Monatsschrift für deutsche Kultur und zwischenvölkische geistige Zusammenarbeit. [Organ des Deutschen Akademischen Austauschdienstes], 14 (April 1936), S. 281–297, hier 290. 529 Bussfeld, „Democracy Versus Dictatorship“, S. 221. 530 Douglas Jerrold, Current Comments, in: English Review 57 (Juli 1933), S. 1–9, hier 7. Bussfeld zitiert den Satz fälschlich mit „I am appalled by the revival of the persecution of the Jews.“ Bussfeld, „Democracy Versus Dictatorship“, S. 221. 531 Jerrold, Current Comments, in: English Review 57 (Juli 1933), S. 7. 532 The Anglo-German Fellowship. List of Members, TNA, KV 5/3.

196   4.  Neo-Toryismus als Weltanschauung erlangten unter ihnen die Kontrolle über den Lebensstrom der Nation. Schritt um Schritt ­wurden sie zu einer Art herrschenden Klasse.533

Grundsätzlich war der deutsche Antisemitismus aus Sicht der Neo-Tories also durchaus berechtigt. Anders als das britische Zentralorgan für antisemitische ­Verschwörungstheorien, The Patriot, sahen aber die Neo-Tories im gewalttätigen Antisemitismus in Deutschland keinen Grund zum Jubel. Wenn der Patriot im Februar 1934 frohlockte „We have reason to thank Hitler for smoking out the Bolshevik Communist nests“,534 waren die Reaktionen in Zeitschriften wie der English Review auch schon deswegen distanzierter, weil man an eine jüdisch-­ bolschewistische Weltverschwörung nie geglaubt hatte. In der English Review wurde die ‚jüdische Frage‘ zwar nicht seitenweise diskutiert, doch auf ihre Existenz, gar auf die Notwendigkeit, sie als ein wichtiges Menschheitsthema anzusehen, wurde gleichwohl hingewiesen. In einer Buchkritik erklärte der Redakteur der Literaturseiten der English Review Herbert Agar im März 1934, daß es unsinnig ist, ein ‚jüdisches Problem‘ zu negieren. Selbstverständlich gebe es dieses: Bluntly, the Jewish problem is this: there are about 16 000 000 Jews living in the Christian world, and wherever the Jews are numerous, a goodly number of the Christians tend to dislike them. For all I know, the Jews may dislike the Christians even more, but that would be the Christian problem and is not under discussion here. Every aspect of the Jewish problem comes from this basic fact: that wherever they are numerous their Christian neighbours tend to dislike the Jews. This may be the fault of the Christians; it may be a misunderstanding; or it may be that there is something about Jews that Christians do not like. In any case the fact remains.535

Das Verständnis für den deutschen Antisemitismus war der Vorläufer für anti­ semitisch aufgeladene Appeasement-Politik gegen Ende der dreißiger Jahre. Ein Beispiel für den bemerkenswerten Zusammenhang von Antisemitismus und ­Appeasement findet sich im Briefwechsel von Charles G. Grey mit dem konserva­ tiven Abgeordneten John Moore-Brabazon.536 Grey war Herausgeber des Fliegermagazins The Aeroplane und einer der glühendsten britischen Antisemiten der Zwischenkriegszeit.537 In seiner Korrespondenz mit Moore-Brabazon werden aber auch die Grenzen eines paranoiden Rassenantisemitismus im konservativen Establishment deutlich. Grey schrieb in einem Brief vom 25. Januar 1938 über die Fehler der britischen Regierung: „Another thing they [die Politiker des National Government, B.D.] don’t realise is the strength of the anti-Jew feeling in this country.“538 Daraufhin antwortete Moore-Brabazon: „But you must remember that the Jew in England is first of all an Englishman, and then a Jew; in the rest of 533 Duncan

Sandys, Warum mißversteht England den Nationalsozialismus?, in: Europäische Revue 12 (Juli 1936), S. 533–540, hier 537. 534 The Nazis and the Jews, The Patriot, 8. 2. 1934. 535 Agar, Literary Notes, English Review 58 (März 1934), S. 359 f. 536 Zu Moore-Brabazons Aktivitäten vgl. Pugh, „Hurrah for the Blackshirts!“, S. 279, 297. 537 Charles G. Grey (1875–1953), gründete 1911 die Zeitschrift The Aeroplane und war ihr Heraus­geber bis 1939. Vgl. Griffiths, Fellow Travellers of the Right, S. 69 f. 538 C.G. Grey an Moore-Brabazon, 25. 1. 1938, Papers of John Moore-Brabazon, Royal Airforce Museum London, Ac 71/3Box II.

4.5  Der ‚Konsens-Antisemitismus‘ der Neo-Tories   197

Europe – especially in Eastern Europe – he is a Jew first and then a third rate of citizen.“539 Antisemitismus sei daher kontraproduktiv und der Antisemitismus der Nazis sei sowohl für die Verschlechterung der britisch-deutschen Beziehungen als auch für die Diskreditierung der faschistischen Idee in Großbritannien verantwortlich: „But the anti-Jew Fascist policy of Hitler has done more than anything else to alienate Anglo-German relationships. This country was never anti-Fascist over Mussolini as a system of government because he never worried about the Jews.“540 Nicht das nationalsozialistische System war das Problem für die britischdeutschen Beziehungen, sondern die Verfolgung der Juden – so argumentierten viele Sympathisanten Deutschlands, die wie Moore Mitglied der Anglo-German Fellowship geworden waren. Diese im Oktober 1935 von Ernest Tennant gegründete Organisation setzte sich zusammen mit ihrer Schwesterorganisation, der Deutsch-Englischen Gesellschaft, für eine freundschaftliche Beziehung der beiden Länder ein und richtete sich dabei vor allem an einflußreiche Politiker und Wirtschaftsleute.541 Nach den brutalen Ereignissen und antisemitischen Übergriffen in der Reichs­ pogromnacht am 9. November 1938 waren viele gemäßigte Sympathisanten Deutschlands entsetzt, und die Anglo-German Fellowship verlor innerhalb kürzester Zeit die Hälfte ihrer Mitglieder.542 Der Präsident der Gesellschaft, Lord Mount Temple, der sich zuvor als begeisterter Anhänger des NS-Regimes gezeigt und noch bei einem Treffen im Oktober 1938 gesagt hatte, daß er zwar nicht glaube, es zu erleben, daß England nach denselben Prinzipien wie Deutschland regiert werde, es aber leidenschaftlich hoffe,543 trat darauf aus Protest gegen die antisemitischen Übergriffe zurück. Welchen Gesinnungswandel der gewaltsame Antisemitismus der National­ sozialisten bezüglich der Haltung zu Deutschland auslösen konnte, zeigen auch die Tagebücher von Sir Henry Channon. Der geborene Amerikaner Channon war 1918 nach Großbritannien gekommen, wurde Abgeordneter für die konservative 539 Moore-Brabazon

an C.G. Grey, 26. 1. 1938, Papers of John Moore-Brabazon, Royal Airforce Museum London, Ac 71/3Box II. Die Unterscheidung von akzeptablen englischen Juden und unzivilisierten osteuropäischen Juden war verbreitet. Charles Petrie monierte bei einer Schiffsreise die Aussicht auf „unpleasant Central European Jews“ auf dem Achterdeck. Tagebücher Charles Petrie, 24. 5. 1936. 540 Moore-Brabazon an C.G. Grey, 26. 1. 1938, Papers of John Moore-Brabazon, Royal Airforce Museum London, Ac 71/3Box II. Grey widersprach in der Judenfrage: „The Jew is a Jew first and anything you like afterwards.“ Es gäbe auch gute Juden, aber nicht aus Dankbarkeit „It’s rather a feeling that because England is the best country in the world to live in, they had better do something to maintain it. […] And at the back of it all a Jew is a Jew and he will always sacrifice anything for another Jew.“ Wichtig ist für Grey vor allem der Unterschied zwischen semitischen Juden „and the Ashkenazim Jews“. „The Khazar Jews, being still stupid square headed fighting man, live in the slums of the East-End.“ C.G. Grey an Moore-Bra­ bazon, 28. 1. 1938, Papers of John Moore-Brabazon, Royal Airforce Museum London, Ac 71/3Box II. 541 Griffiths, Fellow Travellers of the Right, S. 182–186 Vgl. Kap. 5.4. 542 The Anglo-German Fellowship, 23. 11. 1938, TNA, KV 5/3. 543 Foreign Students, Trainees etc. Anglo-German Fellowship, TNA, KV 5/3.

198   4.  Neo-Toryismus als Weltanschauung Partei und war von 1938 bis 1941 Parliamentary Private Secretary für R.A. Butler im Foreign Office. Channon hatte Deutschland Anfang August 1936 besucht und war beeindruckt von der deutschen Charme-Offensive auf den Parties von Ribbentrop, Göring und Goebbels.544 Zudem war er ein enthusiastischer Befürworter der Appeasement-Politik. Nachdem sich in der Sudetenkrise eine Verständigung abzeichnete und Hitler Chamberlain nach München eingeladen hatte, war Channon begeistert. Am 15. September 1938 schrieb er in sein Tagebuch: „Of course some Jews and many of the more shady pressmen who hang about Geneva are furious. No war. No revenge on Germany – and they say that Hitler will insult Chamberlain, browbeat him as he bullied Schussnigg. No fear.“545 Unter dem Eindruck des 9. November 1938 änderte Channon seine Meinung. In seinem Tagebuch­eintrag vom 15. November beklagt er, wie Hitler durch die Pogrome Chamberlains Politik erschwert habe.546 Eine Woche später kam es dann zum Bruch mit dem nationalsozialistischen Deutschland. Am 21. November 1938 schrieb er: No-one ever accused me of being anti-German, but really I can no longer cope with the present régime which seems to have lost all sense and reason. Are they mad? The Jewish persecutions carried to such a fiendish degree are short sighted, cruel and unnecessary and now, so news­ papers tell us, we shall have persecutions of Roman Catholics too.547

Ungeachtet von solchen Distanzierungen war Antisemitismus auch in der Folge der Reichspogromnacht in der britischen Gesellschaft kein Tabu.548 Der britische Historiker Martin Pugh urteilt, daß in den späten dreißiger Jahren Antisemitismus in Großbritannien keineswegs ein auf exzentrische Splittergruppen begrenztes Phänomen war. Daran hatten auch die Ereignisse vom 9. und 10. November 1938 nichts geändert. Zwar hatte sich dadurch der Druck auf die britische Regierung erhöht, jüdische Flüchtlinge aufzunehmen, insgesamt aber blieb die britische Gesellschaft recht unbewegt von dem jüdischen Schicksal. Die Antwort der Regierung bestand gar darin, die bereits existierenden Einreisebedingungen zu verschärfen. Gerechtfertigt wurde diese Politik mit der Sorge, daß eine Masseneinwanderung Feindseligkeiten gegenüber den Juden provozieren würde.549 Dies fügt sich in die britische Beschwichtigungspolitik gegenüber dem deutschen Reich. Es zeigte sich, daß der britische Antisemitismus in der AppeasementPolitik ein neues Agitationsfeld gefunden hatte. Typisch für die rechtsextreme Rechtfertigung der Beschwichtigungspolitik war die Behauptung, daß weder die Juden Deutschlands, Österreichs, der Tschechoslowakei oder Polens den Verlust britischen ‚Blutes‘ wert seien. Die deutsche Judenpolitik sei eine interne Angelegenheit und ein europäischer Krieg würde nur dem internationalen Judentum 544 Robert

Rhodes James (Hrsg.), Chips. The Diaries of Sir Henry Channon, London 1967, S. 133–142. 545 James (Hrsg.), The Diaries of Sir Henry Channon, S. 207. 546 Ebd., S. 220. 547 Ebd., S. 221. 548 Stone, Responses to Nazism, S. 82, 85, 88, 104, 109. 549 Pugh, „Hurrah for the Blackshirts!“, S. 232 f.

4.5  Der ‚Konsens-Antisemitismus‘ der Neo-Tories   199

nutzen. „We will not permit the cream of the youth of our country and of the Empire to be sent again to the shambles to line the purses of Jews and their puppets.“550 zitierte die Duchess of Atholl aus einem Flugblatt der National Workers Party im House of Commons im Juli 1936 und verwies damit auf ein propagandistisches Argument, das von rechten Splittergruppen und, wenn auch in abgemilderter und verdeckter Form, am rechten Rand der Konservativen Partei in den Jahren 1936 – 1940 benutzt wurde. Selbst Premierminister Neville Chamberlain und dessen Mann für ‚schmutzige‘ Angelegenheiten, der ehemalige Geheimagent Joseph Ball, schreckten nicht davor zurück, Appeasement- Gegner durch antisemitische Propaganda anzufeinden. Ball war ein enger Freund von Premierminister Neville Chamberlain und seit 1930 Direktor des neuen Conservative Research Department.551 1936 kaufte er über einen Mittelsmann die Wochenzeitung Truth und legte das Blatt auf eine kompromißlose Unterstützung des Appeasementkurses fest. Politische Gegner Chamberlains wurden auch persönlich attackiert. Zu Balls Methoden gehörten dabei auch ganz gezielt antisemitische Angriffe. Der Historiker C.B. Cockett bilanziert: „From 1937 onwards, Truth adopted an overtly anti-semitic and racialist tone which sought to identify any opponents of Chamberlain as aliens and traitors, actuated by base and petty motives. Any opponent of appeasement came to be branded as a Jewish/Communist traitor to the true English cause.“552 Das Blatt schlug im Juni 1939 beispielsweise vor, die drei jüdischen Labour-Abgeordneten Harold Laski, Georg Strauss und Victor Gollancz nach Palästina zu schicken, um sie loszuwerden.553 Truth spielte Berichte über die Judenverfolgung im Deutschen Reich systematisch herunter554 und agitierte gleichzeitig gegen die Immigration von Juden nach Großbritannien. Im Juli 1939 bemühte sich das Blatt, seinen ­Lesern klar zu machen, daß Polen und Danzig es nicht wert seien, einen Krieg mit Deutschland zu führen. „If we set aside the ideological passions of Mr. Gollancz and his tribe in the tents of Bloomsbury, the truth is that no appreciable section of British opinion desires to reconquer Berlin for the Jews or see the Vistula run red with British blood.“555 Chamberlain wußte von Balls Kontrolle über das Blatt und stimmte zumindest taktisch auch damit überein. „If one can infer from this that Chamberlain was antiSemitic, he was hardly alone in his belief within the Conservative Party“,556 so ­Harry Defries in seinem Standardwerk zum Verhältnis der Konservativen Partei zum Judentum. Höhepunkt der Zusammenarbeit Balls mit Chamberlain war die 550 House

of Commons Debates, 10. 7. 1936, Vol. 314, c1571. C. Self, Neville Chamberlain. A Biography, Aldershot 2006, S. 338. Vgl. hierzu R. B. Cockett, Ball, Chamberlain and Truth, in: Historical Journal 33 (1990), S. 131–42. 552 Cockett, Ball, Chamberlain and Truth, S. 136. 553 Defries, Conservative Party Attitudes to Jews, S. 133. 554 Im November 1939 veröffentlichte die Zeitung einen Brief von Major-General Fuller, in dem er die Behauptung zurückweist, in Deutschland gebe es Konzentrationslager. Vgl. Truth, 24. 11. 1939. 555 Truth, 7. 7. 1939. 556 Defries, Conservative Party Attitudes to Jews, S. 134. 551 Robert

200   4.  Neo-Toryismus als Weltanschauung Kampagne gegen den jüdischen Kriegsminister Leslie Hore-Belisha, der am 5. Januar 1940 zurücktrat. Truth hatte schon seit geraumer Zeit die Kritik an Hore-Belisha antisemitisch unterfüttert; nach seinem Rücktritt sollte er mit einer gezielten antisemitischen Verleumdungskampagne als politische Kraft ausgeschaltet werden.557 Balls antisemitische Kampagnen dienten der taktischen und machtpolitischen Absicherung der Appeasement-Politik der Regierung. Es gab aber auch ideologische Gründe, die Beschwichtigungspolitik zu unterstützen.558 Man mußte kein glühender Anhänger Hitlers sein, um eine Beteiligung Großbritanniens an einem Krieg gegen das Deutsche Reich als einen historischen Fehler zu interpretieren, der lediglich all jenen Kräften diente, die man bekämpfte. Auch für Neo-Tories, die den Nationalsozialismus als heidnisch-primitiv kritisierten oder aufgrund außen­politischer Gründe ablehnten, gab es aus dieser Sicht keinen Grund für das ‚liberalkapitalistische Wirtschaftssystem‘ oder den ‚internationalen Kommunismus‘ oder eben die ‚Juden Europas‘ in den Krieg zu ziehen. Im April 1938 schrieb Viscount Lymington bezüglich der Gefahr einer britischen Intervention wegen des spanischen Bürgerkriegs oder des österreichischen ‚Anschlusses‘: „We must therefore use our influence wherever we can against hysteria and the popular lies on behalf of the Left. We must do what we can to save our country from being forced into a war which would mark the end of white civilisation.”559 Radikale Unterstützer der Appeasement-Politik sahen das Risiko für den Frieden auch nicht in Franco, Mussolini oder Hitler, sondern in bellizistischen Kräften innerhalb Großbritanniens. Der Dekan der Londoner St. Pauls-Kathedrale, William Ralph Inge, schrieb in der Church of England Newspaper im Mai 1939, daß Deutschland und Italien durchaus berechtigte Forderungen hätten. Is there the slightest reason for thinking that these dictators wish to ‚dominate the world by force‘. Is it likely that Germany wishes to attack either France or England? So far all that Hitler has done is to try to piece together some fragments of the two German Empires which where vindictively cut up by the Allies in 1919. […] The danger of war comes not from Germany or Italy, but from ourselves.560 557 Cockett,

Ball Chamberlain and Truth, S. 138 f. Kapitel 5.4. 559 Viscount Lymington, Attitude of the English Array Concerning Austria and Spain, in: Quarterly Gazette of the English Array 3 (April 1938), S. 1–2. 560 William Ralph Inge, The Prospect of Peace, Church of England Newspaper, 12. 5. 1939. Inge war zu diesem Zeitpunkt in der pro-nazistischen Organisation „British Council for Christian Settlement in Europe“ aktiv, die unter Beobachtung des britischen Geheimdienstes stand. Dort war man über Inges Mitgliedschaft zunächst überrascht und stellte Recherchen an: „We must confess that we are somewhat surprised to find the name of Dean Inge among the signatories of this proclamation, but our surprise was dispelled after we had consulted the back numbers of the Times and discovered a speech which the Dean made in the darkest days of the last war. On December 14th, 1914, the Dean declared at a public meeting ‚On the one side is the Prussian system – efficient, economical and honest… on the other side there is a squalid anarchy of democracy – wasteful, inefficient and generally corrupt.‘ We know therefore on which side of the fence the Dean was standing in the last war; we know too what ‚Christian Settlement‘ means for him. It means Prussian militarism.“ Copy of Report on Signatures of the British Council for Christian Settlement in Europe, –. 12. 1939, TNA, KV 5/2, 173x. 558 Vgl.

4.5  Der ‚Konsens-Antisemitismus‘ der Neo-Tories   201

Die eigentlichen Kriegstreiber seien die Kommunisten, und diese hätten einen mächtigen Verbündeten. „They are supported by the Jews (I am sure we cannot blame them!) who are using their not inconsiderable influence on the Press and in Parliament to embroil us with Germany.“561 Die Vorstellung eines starken jüdischen und kriegstreiberischen Einflusses auf die britische Presse findet sich in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre häufig. In einem Leserbrief an die Saturday Review heißt es: „Can it be that something like nine-tenths of the Press of this country is actually under Jewish control? The Jew is all for Bolshevism and therefore hates and dreads Germany and Italy, the only countries in Europe that have crushed Communism and cleansed themselves internally from Bolshevist in­ trigues.“562 Welche Schlußfolgerungen aus der Vorstellung einer ‚jüdischen Unterwanderung‘ gezogen werden konnten, zeigte sich auch in der Debatte zur britischen Einwanderungspolitik. Francis Yeats-Brown beschäftigte sich intensiv mit diesem Thema in seinem Buch European Jungle von 1938. Daß das Buch von der New York Times als „pro-Nazi“ eingestuft wurde, verwundert nicht.563 In der Tat handelt es sich um eine der wenigen Schriften der Neo-Tories, in der konkrete legislative Maßnahmen gegen Juden gefordert werden. Yeats-Brown verlangte einen grundsätzlichen Stop der Zuwanderung von Juden nach Großbritannien. Gleichzeitig machte er zur Bedingung für ein volles Bürgerrecht von Juden, daß auch jeder in England geborene Jude sich zu entscheiden habe, ob er ein Engländer oder ein Zionist sein wolle. Sei letzteres der Fall, so müsse der Person ein ‚zionistischer Pass‘ ausgestellt und sie vom politischen Leben Großbritanniens ausgeschlossen werden.564 Yeats-Browns Forderungen sind extrem, aber Klagen über die ‚jüdische Dominanz‘ in der Presse und die gleichzeitige Rechtfertigung von Appeasement-Politik mit antisemitischen Argumenten finden sich bei vielen Neo-Tories. In einem Artikel der Quarterly Gazette of the English Array, in dem Lymington die Lektionen aus der Sudetenkrise und dem Münchener Abkommen zu finden sucht, schreibt er: „The Press, for reasons of their own, carried out an unceasing propaganda for war on the worst values possible, and people though fearful of war, accepted it without hesitation. Few stopped to think that such a war would benefit no one but the Jews and the international communists.“565 Der Krieg sei zum Glück 561 William

Ralph Inge, The Prospect of Peace, Church of England Newspaper, 12. 5. 1939. Review, 18. 6. 1936, S. 757. 563 New York Times, 6. 12. 1939. 564 Yeats-Brown, European Jungle, S. 201. Auch die politischen Ziele des Zionismus in Palästina wollte Yeats-Brown auf keinen Fall unterstützen: „It is only political Zionism – the ambition to dominate all Palestine – that the Arabs will resist to death, and that all patriotic Englishmen should also resist. […] It is a safe bet that the ancestors of the majority of these Gentlemen, whose interests are being safeguarded by British soldiers in Palestine, once worshipped the Golden Calf. For them we are risking our traditional friendship with the whole Islamic world. Yeats-Brown, European Jungle, S. 198 f. Vgl. dazu auch den Artikel Francis Yeats-Brown, „Listen, Tommy!“ A Story of Palestine, in: The New Pioneer 2 (Juli 1939), S. 189–190. 565 Quarterly Gazette of the English Array 5 (Oktober 1938). 562 Saturday

202   4.  Neo-Toryismus als Weltanschauung v­ erhindert worden, denn die Tschechen wären keinen Krieg wert gewesen. Sowohl in der Diktion als auch inhaltlich nicht weit entfernt von nationalsozialistischer Propaganda, bezeichnet Lymington die Tschechen als die „white Jews of Europe“, deren Einfluß zu Recht gebrochen worden sei. Never once did we enquire, who are these Czechs? If we had, we would have realized that we proposed to sacrifice the best for the worst in Europe. The Czechs are in fact the inferioritycomplex whites of Europe. Their fellow slaves, the Serbians, have called them the white Jews of Europe. […] This was the people on whose behalf we were being asked to sacrifice, not only our own manhood, but all that was best in Germany, France and Italy. It was the perfect way to overthrow everything decent in Europe and leave a few master moneylenders, orientals, clever degenerates, and a mass of subhuman beings in control of Europe. Philosophically, we should have welcomed the destruction of the Czech influence in Europe. We must remember this and revalue if ever we are asked to fight again.566

Vor diesen Hintergrund wundert es nicht, daß Antisemiten wie Lymington sich entschieden dagegen aussprachen, den verfolgten Juden Europas in Großbritannien politisches Exil zu gewähren. Selbst wenn man Mitleid mit Juden hätte, so Lymington in einem Artikel für seine Zeitschrift New Pioneer, gäbe es einfach keinen Platz in den ohnehin schon überfüllten Slums der Großstädte. Auch würden die Juden keinen ordentlichen Berufen nachgehen, müßten also ebenfalls ‚gefüttert‘ werden. Diese ‚praktischen Gründe‘ gegen eine weitere Aufnahme jüdischer Flüchtlinge waren jedoch nicht entscheidend. Einen tieferen Grund gegen eine solche Immigration sah Lymington in der Gefahr der ‚Rassenmischung‘. Diese gelte es zu verhindern, denn schon die bisherige Einwanderung von Juden nach Großbritannien gliche einer ‚Invasion‘: „Any close observer must realise how our morals and customs have suffered from this type of invasion in the last 100 years. It is an invasion which controls much of our business, press, theatres and cinemas already.“567 Lymingtons Ausführungen lassen sich in zwei Grundaussagen zusammenfassen: Ein Krieg gegen Deutschland nütze nur den Juden, und jüdische Flüchtlinge aus Deutschland gefährden die britische Rasse. Diese rassistische und antisemitische Appeasement-Apologie ist sicher extrem. Die Unterstützung von Chamberlains Deutschlandpolitik mit antisemitischen Argumenten war jedoch in den ­Publikationen der Neo-Tories üblich. Prominentestes Beispiel ist Arthur Bryants Buch Unfinished Victory.568 In erschreckender Übereinstimmung mit der nationalsozialistischen Propaganda wurden hier die Juden für ihr Schicksal selbst verantwortlich gemacht. Während der Weimarer Republik sei ihr Anteil in allen ­höheren Berufen und an den Universitäten überproportional hoch gewesen. Die eigentlichen Opfer seien die ‚Arier‘ gewesen. „Every year it became harder for a Gentile to gain or keep a foothold in any privileged occupation. At this time it was not the Aryans who exercised racial discrimination. It was a discrimination 566 Ebd.

567 Viscount

Lymington, No Room for Refugees, in: The New Pioneer 2 (April 1939), S. 115– 117, hier 115. 568 Roberts, Patriotism. The Last Refuge of Sir Arthur Bryant, S. 287–322.

4.5  Der ‚Konsens-Antisemitismus‘ der Neo-Tories   203

which operated without violence. It was one exercised by a minority against a majority.“569 Auch im folgenden rekurriert Bryant auf antisemitische Stereotypen. Die Urbanität und Geldgier der Juden entstamme ihrer historischen Erfahrung: „Their inherited instinct was to skim the cream rather than to waste vain time and effort in making enduring things which would only be taken from them by their ­Christian oppressors before they could be enjoyed.“ Als Exponenten der „get-richquickly philosophy“ seien die Juden Verächter der Disziplin, Arbeit und Handwerkskunst, also jener Dinge, die der beständige und seßhafte einheimische ‚Teutone‘ mit ‚gründlich‘ meint.570 Bryants Argumente entstammen dem Standardrepertoire judenfeindlicher Propaganda. Bemerkenswert ist an seinem Buch darüber hinaus dreierlei. Erstens die Prominenz des Autors: Bryant war nicht nur ein Vertrauter von Premierminister Chamberlain, sondern ein sehr erfolgreicher Popularhistoriker. Zweitens der Zeitpunkt der Veröffentlichung: Unfinished Victory erschien ein halbes Jahr nach Kriegsbeginn im Januar 1940. Und drittens der Erfolg des Buchs: Der Historiker Richard Griffiths hat dokumentiert, wie noch in den ersten Monaten des Jahres 1940 das mit dem Nationalsozialismus sympathisierende und eindeutig antisemitische Buch überwiegend positiv rezipiert wurde.571 Auf die Problematik des Appeasements wird im letzten Kapitel noch ausführlich eingegangen. Versucht man Neo-Toryismus als Weltanschauung insgesamt zusammenzufassen, stechen zunächst vor allem zwei Dinge ins Auge: Zum einen die Vehemenz, mit der parlamentarische Demokratie und kapitalistisches Wirtschaftssystem angegriffen wurden, und zum anderen die Unschärfe, mit der die politischen Alternativen formuliert wurden. Neo-Toryismus als Weltanschauung war zu allererst eine Herausforderung der Konservativen Partei. Diese hatte sich aus Sicht der Neo-Tories fundamental kompromittiert, da sie den Prozeß der ­politischen Moderne nicht nur toleriert hatte, sondern sogar Teil derselben geworden war. Für diesen ideologischen Kern des Neo-Toryismus ist daher das ausgeprägte Geschichtsbewußtsein von so großer Bedeutung. Der Rückgriff auf die Geschichte diente vor allem dem Paradigma der ‚Degeneration‘. Im Zentrum des Niedergangs stand je nach Autor das politische System, die Nation, die englische Rasse, das britische Empire oder gar die abendländische Zivilisation. Ausdruck der degenerierten Moderne war aus Sicht der Neo-Tories das System der liberalkapitalistischen Demokratie. Einen Ausweg aus dieser Entwicklung sahen sie weder im Sozialismus noch im Nationalismus, noch in einer Kombination der beiden als nationalem Sozialismus. Autoritär sollte der Staat zwar sein, der ihnen vorschwebte, doch gleichzeitig dezentral, ländlich und korporativ organisiert. Die eigentümliche Radikalität dieses Konzepts zeigt sich insbesondere im Antisemitismus der Neo-Tories: Für sie waren die Juden die großen Nutznießer der engli569 Arthur

Bryant, Unfinished Victory, London 1940, S. 140 f. Unfinished Victory, S. 142. 571 Richard Griffiths, The Reception of Bryant’s Unfinished Victory. Insights into British ­Public Opinion in early 1940, in: Patterns of Prejudice 38 (2004), S. 18–36. 570 Bryant,

204   4.  Neo-Toryismus als Weltanschauung schen Niedergangsgeschichte, doch antisemitische Maßnahmen waren aus ihrer Sicht völlig sinnlos, weil das Gemeinwesen an sich ‚jüdisch‘ geworden war. In der Theorie war der Neo-Toryismus kompromißlos. Doch wie verhielt es sich mit der politischen Praxis? Wie versuchten die Neo-Tories, ihre politischen Vorstellungen umzusetzen? Anhand einer Reihe von Fallbeispielen soll dies im nächsten Kapitel dargestellt werden.

5.  Die politische Praxis am rechten Rand der Konservativen Partei Organisatorisch standen die Neo-Tories vor einem grundsätzlichen Problem. Angesichts des britischen Mehrheitswahlrechts hatten und haben Neugründungen von politischen Parteien wenig Chance auf politischen Erfolg bzw. Zugang zur Macht. Für eine Parteineugründung bedurfte es vor allem Geld, die publizistische Unterstützung einer der großen Pressebarone und eine oder mehrere prominente Führungspersönlichkeiten. Der Herausgeber der National Review, Leo Maxse, wurde beispielsweise im Sommer 1929 von einer Vielzahl von unzufriedenen Konservativen und diehards aufgefordert, eine neue rechtskonservative Partei zu gründen. Dieser sah hingegen die Gefahren und Probleme eines solchen Unternehmens und wiederholte „We must ginger up the old party“ – wir müssen die alte Partei in Schwung bringen.1 Ähnlich sahen das die Neo-Tories. Hinzu kam aber noch ein weiterer und letztlich schwerwiegender Punkt. Eine Parteigründung mit dem langfristigen Ziel ­einer parlamentarischen Mehrheit durch demokratische Wahlen entsprach in ­keinerlei Weise dem antidemokratischen Denken der Neo-Tories. So wie sie das Mehrheitsprinzip grundsätzlich ablehnten, so dachten sie auch nicht daran, ihm für ihre Zwecke zu folgen. Ludovici etwa schrieb: „It is not numbers or ­voices that ultimately count, as Liberals and democrats would have us believe, but only the firmness of purpose and energy of the individual members of a militant body.“2 Gleichzeitig widersprachen ihr elitäres Selbstverständnis, ihr Gentlemanideal und ihre intellektuelle Distanz der faschistischen Inszenierung von Politik als Bewegung. Die Mobilisierung der Straße, die ‚Paramilitarisierung‘ von Politik mit Uniformen, Aufmärschen, Fackeln und Trommeln lehnten die Neo-Tories ab. Doch welche Mittel und Wege der Umsetzung ihrer politischen Ideen hatten die Neo-Tories dann? In welchen Zirkeln und Netzwerken organisierten sie sich und wo lagen die politischen Möglichkeit und Grenzen des Neo-Toryismus in den dreißiger Jahren in Großbritannien? Anhand von vier Fallbeispielen sollen diese Fragen in der Folge beantwortet werden.

1 2

Dorothy Crisp, Leo Maxse. The Lost Leader, Saturday Review, 24. 11. 1934. Anthony M. Ludovici, English Liberalism. A „New Pioneer“ Pamphlet, London 1939, S. 34.

206   5.  Die politische Praxis am rechten Rand der Konservativen Partei

5.1  Aus der world of letters in die world of politics – von der Etablierung der Zeitschrift Everyman zum Lord Lloyd-Dinner im Herbst 1933 5.1.1  Lord Lloyd als britischer Diktator – Die Planungen der Neo-Tories im Sommer und Herbst 1933 Das politische Konzept der Neo-Tories war mit dem bestehenden politischen System nicht vereinbar. Zu seiner Realisierung bedurfte es einer ‚Revolution von oben‘. Trotz aller Kritik an den Parteien im allgemeinen sahen die Neo-Tories jedoch nur die Konservative Partei als mögliches Instrument, um eine solche Systemänderung durchzuführen. In Douglas Jerrolds Erinnerungen von 1937 heißt es: „We were not, of course, proposing to appeal primarily to the people. We decided that neither through the House of Commons nor through the electorate could salvation come, but through the party.“3 Nicht durch das Parlament, nicht durch die Wählerschaft, sondern durch die Konservative Partei wollten die Neo-Tories ihre Ziele erreichen. Für Jerrold und seine Mitstreiter war damit das erste taktische Ziel vorgegeben: Es galt zunächst, innerhalb der Partei Unterstützung für die eigene oppositionelle Position zu gewinnen, um dann mit einer radikalkonservativen Regierung das parlamentarische System auszuhebeln. Im Juni 1933 schrieb Jerrold: Finally, the Conservative party must turn its back on the present parliamentary system in favour of a system which will restore the reality of self-government in the appropriate spheres, and enable a strong central government to speak for the nation, and not merely for a class, on national issues. This means the adoption of the principle of functional not regional representation.4

Von entscheidender Bedeutung war daher eine politische Allianz mit den diehardKonservativen. Eine solche Kooperation mit den einflußreichen Vertretern des rechten Flügels der Partei bot sich Anfang der dreißiger Jahre an, da diese sich aufgrund der offiziellen, auf verstärkte Selbstverwaltung und Föderalismus ­setzenden Indien-Politik in offenem Widerstand zu der Regierung MacDonald/­Baldwin befanden.5 Einen Versuch, den diehard-Flügel der Konservativen Partei mit den jüngeren Neo-Tories zusammenzubringen, stellte die English Review-Gruppe und ihr in zweiwöchigem Abstand stattfindender Lunchclub dar. Wie oben bereits beschrieben, entwickelte sich diese Gruppe in den Jahren 1932 bis 1934 zu einer ernsthaften Herausforderung des offiziellen Kurses der Konservativen Partei.6 Neben den Journalisten um Jerrold und Petrie und einer Reihe jüngerer Abgeordneter wie Lymington und Arnold Wilson nahmen an diesen Treffen namhafte konservative Politiker wie Leopold Amery, Robert Horne, Lord Carson, Lord Winterton, Lord 3 Jerrold, Georgian Adventure, S. 342. 4 Douglas Jerrold, Current Comments, in: 5

Vgl. Kapitel 4.2.3. 6 Vgl. Kap. 4.3.

English Review 56 (Juni 1933), S. 593–600, hier 600.

5.1  Aus der world of letters in die world of politics   207

Iddesleigh, der Marquis of Salisbury, der Earl of Dalkeith, Walter Greaves-Lord, John Buchan,7 W.S. Morrison und Stephen Bull8 regelmäßig teil. Mit keinem anderen Vertreter des diehard-Flügels verbanden sich allerdings im Laufe des Jahres 1933 so große politische Hoffnungen der Neo-Tories wie mit Lord Lloyd, dem ehemaligen Hochkommissar von Ägypten und dem Sudan. George Ambrose Lloyd hatte sich nach seiner Rückkehr aus Afrika einen Namen als kompromißloser diehard und Anführer der Opposition gegen die IndienPolitik der Regierung im House of Lords gemacht.9 Gegen den Vorwurf der ­Illoyalität wehrte sich Lloyd entschieden, doch gleichzeitig war für ihn klar: „When the future of India is at stake, does Mr. Baldwin really expect that we should subordinate the fate of an Empire to consideration of party harmony?“10 Lloyds entschiedener Widerstand gegen die Indienpolitik der Regierung machte ihn in den Augen konservativer Oppositioneller zu einem potentiellen neuen ­Partei- und Regierungschef. In seinen Erinnerungen schrieb Jerrold, daß Lloyd der einzige Mann in der Konservativen Partei gewesen war, „who could rely on the support of the diehards and who could yet command a following among the young men.“11 Jerrold und seine English Review-Gruppe hatten Lloyd Ende Juli 1933 auserkoren, einen innerparteilichen Putsch anzuführen, um dann unter seiner Führung als autoritärer Premierminister oder Übergangsdiktator Großbritannien nach ihren Vorstellungen umzuwandeln. Petrie notierte in sein Tagebuch, nachdem er von den Plänen erfahren hatte: I hardly got home than Jerrold rang up in a great state of excitement to ask me to meet him at the Authors’ Club, which after hasty tea, I did. He dined with Lloyd last night, and says the latter has committed himself to the attempt to ­become Prime Minister or Dictator under our aus­ pices, which may be or may not be the case. According to Jerrold he is to be run by a junta consisting of himself, myself, Arnold Wilson, and Guy Kindersley.12

Ebenfalls ins Vertrauen gezogen wurden noch am selben Abend Lymington und ein Vertreter der Saturday Review.13 Wenige Wochen später gab Jerrold der Öffentlich­keit erste Hinweise, daß es Pläne mit Lord Lloyd gab. Im August 1933 schrieb er am Ende seiner Current Comments, denen direkt der Abdruck einer   7 Jerrold,

Georgian Adventure, S. 334; Petrie, Chapters of Life, S. 130. Petrie schrieb über ein Treffen im März 1933: „The English Review lunch to Salisbury took place to-day, and I had Greaves-Lord as my guest, and sat between him and Salisbury. Buchan was in the chair. Salisbury spoke on the reform of the House of Lords, but he didn’t take us very far.“ Tagebücher Charles Petrie, 2. 3. 1933.   8 Tagebücher Charles Petrie, 23. 3. 1933.   9 John Charmley, Lord Lloyd and the Decline of the British Empire, London 1987, S. 182. 10 Conservative Party and India. Lord Lloyd’s Reply to Mr. Baldwin, The Times, 2. 5. 1933. 11 Jerrold, Georgian Adventure, S. 343; Vgl. zum folgenden auch Dietz, Gab es eine Konservative Revolution in Großbritannien?, S. 629–634. 12 Tagebücher Charles Petrie, 20. 7. 1933. Die Pläne wurden noch am selben Abend dem Rest der Gruppe vorgestellt. In demselben Tagebucheintrag heißt es weiter: „At 5.30 we had the first meeting of the new committee of the English Review Luncheon Club, and I was elected chairman. We drew up an autumn programme, and they all seemed duly impressed with the news about Lloyd.“ 13 Tagebücher Charles Petrie, 20. 7. 1933.

208   5.  Die politische Praxis am rechten Rand der Konservativen Partei längeren Rede Lord Lloyds folgte: „But no great cause will ever lack a leader, and if a leader is here, we shall support him to the best of our powers.“14 Lord Lloyd als Führer einer neuen autoritären Regierung oder gar als Diktator – das war 1933 keineswegs nur die politische Phantasie von Rechtsintellektuellen wie Jerrold. Das auflagenstarke Massenblatt Daily Express veröffentlichte am 19. Juni 1933 ein begeistertes Portrait von Lloyd, das mit folgenden Sätzen begann: „Panther-like Lord Lloyd […] is regarded by some of his admirers as a possible future dictator. He would possibly make an excellent dictator – for say three years.“15 Lady Houston, die exzentrische und sehr wohlhabende Herausgeberin der Saturday Review, hatte Lloyd bereits im Herbst 1932 eine Summe von £ 100 000 angeboten, um eine Kampagne zur Übernahme der Regierung zu starten. Im November 1932 schrieb sie ihm: Go round the country – you can get the boys from Oxford and Cambridge, you can get the people everywhere to follow you. They are wanting a leader badly. […] Act and don’t waste a minute. I would gladly and willingly give £ 100 000 to see you P.M., as I feel that that would be the most patriotic thing I could possibly do for my Country. So never mind the expense where it is necessary. There is not a moment to be lost.16

Lord Lloyd lehnte allerdings ab. Offensichtlich war ihm zu diesem Zeitpunkt eine Abhängigkeit von Lady Houston zu gefährlich.17 Doch die Verbindung zu Lady Houston blieb bestehen. Ein Jahr später akzeptierte Lloyd ihr Geld. Am 10. Oktober 1933 bat er zunächst um lediglich £ 5000 zum Aufbau eines Büros zur Unterstützung seiner Kampagne.18 Drei Tage später wurde ein Bankkonto für Lloyd eingerichtet.19 Der politische Fokus der Kampagne war dabei zunächst auf einen Angriff der Indienpolitik der Regierung gerichtet. Laut Petrie hatte Lloyd aber auch großes Interesse an der Idee des korporativen Staates und sympathisierte zeitweilig auch mit den Mosley-Faschisten. Er war jedoch offensichtlich nicht bereit, sich Mosley als ‚Führer‘ der faschistischen Bewegung unterzuordnen. I remember one day lunching with Lloyd at his house in Portman Square, the only other person present being his wife, Blanche. When the servants were out of the room he asked us for our candid opinion as to whether he should or should not join Mosley. Blanche argued strongly against him doing so, and I concurred with this. Whether her advocacy swayed the balance I 14 Douglas Jerrold,

Current Comments, in: English Review 57 (August 1933), S. 113–122, hier 122. 15 Daily Express, 19. 6. 1933. 16 Lady Houston an Lord Lloyd, 21. 11. 1932, The Papers of Lord Lloyd of Dolobran, Churchill Archives Centre, Cambridge, GBR/0014/GLLD 19/2/20. Vgl. auch Charmley, Lord Lloyd and the Decline of the British Empire, S. 188 f. 17 Dies lag wohl auch an ihrem exzentrischen und schwierigen Charakter: „Her violence often defeated its own ends; for men of good will, who might have become her allies in her good cause, Lord Lloyd, for instance, whom she would have financed as a leader of a new party, shrank from so dangerous an association.“ Warner Allen, Lady Houston. A Memoir, London 1947, S. 114. 18 Lord Lloyd an Lady Houston, 10. 10. 1933, The Papers of Lord Lloyd of Dolobran, Churchill Archives Centre, Cambridge, GBR/0014/GLLD 19/2/36. 19 Joint Manager, Lloyds Bank an Lord Lloyd, 13. 10. 1933, The Papers of Lord Lloyd of Dolobran, Churchill Archives Centre, Cambridge, GBR/0014/GLLD 19/3.

5.1  Aus der world of letters in die world of politics   209 would not like to say, but Lloyd was certainly not the man to play second fiddle to one who had yet, in his opinion, to win his political spurs.20

Am entschiedensten sprach sich im Herbst 1933 die Wochenzeitschrift Everyman für eine politische Führungsrolle Lloyds aus.21 Dies war kein Zufall, da das ganze Projekt des neuen Everyman im wesentlichen von den Beiträgen der English Review-Gruppe getragen wurde. Neben Jerrold und J.B. Morton war dies vor ­allem der Herausgeber des London Mercury, Sir John Squire.22 Hinzu kamen ­Beiträge des ehemaligen Herausgebers der Eugenics Review, Eldon Moore, und des Dekans der Londoner St. Paul’s Cathedral, William Inge. Chefredakteur des Everyman wurde der bisherige stellvertretende Chefredakteur des Spectator, Francis YeatsBrown, der ebenfalls zum engeren English Review-Zirkel gehörte (Jerrold rühmte sich, Yeats-Brown entdeckt zu haben23). Nach der Übernahme der Chefredaktion durch Yeats-Brown konnte der Everyman laut eigener Angabe seine Auflage von 10 000 auf 40 000 Exemplare steigern.24 Yeats-Brown hatte als Korrespondent für den Spectator in Rußland gearbeitet und interessierte sich für die Möglichkeiten einer nicht-marxistischen Planwirtschaft in England. Noch wichtiger für seine politischen Vorstellungen war jedoch Mussolinis Italien.25 Als ihm im August 1933 die Chefredaktion des Everyman angetragen wurde, hatte er erneut einen längeren Aufenthalt in Italien hinter sich: „Yeats Brown returned from Italy more than ever convinced that this new poli­ tical order contained vital lessons for Great Britain“,26 so sein Freund und Biograph, John Evelyn Wrench, der auch zu den Herausgebern des Everyman ge­ hörte. Yeats-Browns Tagebücher, in denen er ausführlich Notizen und Entwürfe ­niederschrieb, geben Aufschluß über die Hoffnungen und Erwartungen, die er mit der Übernahme der Zeitschrift verband. „I believe I can edit a new paper in a new way“,27 schrieb Yeats-Brown im August 1933. Wenig später heißt es: „I want to alter the present state of England“28 und „We shall get better and better, every day in every way.“29 20 Petrie, A Historian Looks at His World, S. 115. 21 Vgl. zum folgenden auch Griffiths, Fellow Travellers of the Right, S. 45–49. 22 Vgl. zu Squire Kap. 2.2. und 5.2. 23 Jerrold, Georgian Adventure, S. 299. 24 Everyman, 13. 10. 1933. 25 Francis Yeats-Brown war in Italien geboren und besuchte das Land mindestens

einmal im Jahr. Der italienische Faschismus hatte für ihn in vielerlei Hinsicht Vorbildcharakter. In einem unveröffentlichten Manuskript aus dem Jahr 1928 zeigte Yeats-Brown sich begeistert vom italienischen System: „Half the nations of Europe, and now apparently, the United States, have copied the working plans of the Corporate State, and the other half may soon follow: it behoves us therefore, to know the truth about Fascism, even if it hurts. The truth, as I see it, is that Fascism gets things done, and democracy doesn’t.“ Francis Yeats-Brown, Fascism Today, 1928, unveröffentlichtes Manuskript, S. 2 f., Yeats-Brown Papers, Harry Ransom Humanities Research Center, The University of Austin, Texas. 26 Wrench, Francis Yeats-Brown, S. 167. 27 Francis Yeats-Brown, Diaries 1933, S. 18, Yeats-Brown Papers, Harry Ransom Humanities Research Center, The University of Austin, Texas. 28 Ebd., S. 19. 29 Ebd., S. 26.

210   5.  Die politische Praxis am rechten Rand der Konservativen Partei Der Everyman war eine Wochenzeitung, die sich bei einem Verkaufspreis von nur zwei Pence an ein breites Publikum wandte. Neben Nachrichten und Kommentaren gab es einen Unterhaltungsteil. Um so überraschender dürfte die erste Ausgabe unter Yeats-Brown für viele Leser gewesen sein, denn hier machte er ­unmißverständlich klar, wo er seine Zeitung politisch positionieren wollte: „We intend to be a power in England, a power to ‚strike a blow in the teeth of the wrong.‘“ Man sei gegen die unfruchtbaren Doktrinen des Sozialismus, Kommunismus und Klassenkampfes. Gleichzeitig sei man gegen den viktorianischen ­Individualismus, der, wenn er von der Freiheit des Menschen rede, die Freiheit des Geldes meine. Die alten politischen Lager hätten ihre Bedeutung verloren, erklärte Yeats-Brown, um dann unverhohlen klar zu machen, was er politisch wollte: „We believe therefore in a Constitution on the lines of the Corporate State. Italian fascism would not work in England, but we must be governed by a small group of men, elected by a popular vote, but with dictatorial powers, over a period of years.“30 Es ist kaum verwunderlich, daß sich Yeats-Brown nach diesem publizistischen Paukenschlag gegen den Vorwurf zur Wehr setzen mußte, er wolle den Faschismus in England einführen. Diesen Eindruck konnten auch die Leser der renommierten konservativen Wochenzeitung The Spectator bekommen, da Yeats-Brown auch in seinem alten Hausblatt für die Etablierung des korporativen Staates eintrat.31 In den nächsten Ausgaben des Everyman distanzierte sich Yeats-Brown dann sowohl vom italienischen Faschismus als auch von Oswald Mosleys British Union of Fascists.32 Wie so oft bei den britischen Neo-Tories erfolgte die Ab­ grenzung gegen die britischen Faschisten mit dem Argument, daß diese lediglich ein ausländisches Modell kopieren wollten, das an sich völlig ‚unenglisch‘ sei. Wie oben bereits ausgeführt hielt man vor allem das faschistische Verständnis von ­Politik als öffentlich inszenierte ‚Bewegung‘ mit der eigenen politischen Kultur unvereinbar. Paradigmatisch hierfür ist der in Variationen oftmals bemühte Satz: „We do not wear black shirts.“33 Daß man hinsichtlich der angestrebten Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung durchaus Gemeinsamkeiten mit den britischen Faschisten hatte, war den Neo-Tories bewußt. Eine taktische Allianz mit Mosley kam jedoch für sie nicht in Frage. Das politische Hauptziel, die Abschaffung der repräsentativen parlamentarischen Demokratie zugunsten einer korporativen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, wollten die Neo-Tories keineswegs revolutionär erreichen. „[A] constitutional system which can be brought into being by constitutional means“,34 so definierte Douglas Jerrold den korporativen Staat in einem seiner entschiedensten Plädoyers für eine Änderung des politischen Systems im Oktober 1933. Der korporative Staat sei die einzige Hoffnung, der mo30 Everyman, 31 Francis

22. 9. 1933. Yeats-Brown, Alternatives to Democracy. The Corporate State, The Spectator, 13. 10. 

1933.

32 Everyman,

29. 9. 1933, S. 3. 6. 10. 1933, S. 3. 34 Douglas Jerrold, The Corporate State in England, Everyman, 13. 10. 1933. 33 Everyman,

5.1  Aus der world of letters in die world of politics   211

mentanen Situation zu entkommen, aber er habe nicht notwendigerweise etwas mit dem Faschismus oder der Hemdfarbe eines Mannes zu tun.35 Nationalsozialistische Beobachter Englands zeigten sich von dem neuen Everyman begeistert. In der Neuphilologischen Monatsschrift, einer „Zeitschrift für das Studium der angelsächsischen und romanischen Kulturen und ihrer Bedeutung für die deutsche Bildung“ widmete man Yeats-Brown und seiner neuen Zeitung einen positiv gehaltenen Aufsatz: Also gegen den Marxismus solle es gehen? Allerdings; so steht es auch in den Leitsätzen, die der Herausgeber an ‚Jedermann‘ richtete: gegen Sozialismus, Kommunismus und Klassenkampf. Wenn wir die Leitsätze lesen, so trauen wir unseren eigenen Augen kaum. Beinahe Wort für Wort finden wie die Leitgedanken des deutschen Nationalsozialismus wieder.“36

Wer solche Fürsprecher hatte, brauchte sich nicht zu wundern, wenn er Probleme bekommen sollte: Den Herausgebern des Everyman, Sir Evelyn Wrench, Sir Julian Cahn und Angus Watson war das Blatt zu radikal geworden. Am 9. November 1933 erfuhr Yeats-Brown von seiner Entlassung,37 kurz bevor am 10. November die letzte Ausgabe unter seiner Führung erschien. Die Wochenzeitung Fascist Week nahm die Entlassung zum Anlaß, YeatsBrown für sich zu vereinnahmen. „The reason for the action of the directors is understood to be Major Yeats-Brown’s advocacy of the Corporate State. […] He has been an outspoken adherent of the view that the Corporate State was a ­higher form of economic development than the present of any suggested alternatives and that it was eminently applicable to Britain.“38 Unter Yeats-Brown sei der Everyman ein voller Erfolg geworden und die Auflage habe sich um 25 000 Stück erhöht. Für seine Entlassung seien daher andere Gründe ausschlaggebend gewesen. „Major Yeats-Brown is the latest victim of Old Gang conspiracy, and is one of the many people, both influential and otherwise who have recently been called upon to resign, or have definitely been ‚sacked‘ because of their Fascist sympathies.“39 Yeats-Brown war sich offenbar von Anfang an darüber im klaren, wie brisant sein Unternehmen war. In sein Tagebuch notierte er Ende August 1933: „In myself, I really don’t care whether or not Everyman sets the Thames on fire; but I do think it will be exciting and amusing to see how the public responds to the things in which I believe.“40 Nach dem Scheitern des Everyman näherte sich Yeats-Brown für eine Weile den britischen Faschisten an. Am Tag nach seiner Entlassung traf er

35 Ebd.

36 Erwin

Güntsch, Planwirtschaft und nationaler Sozialismus in England, in: Neuphilologische Monatsschrift. Zeitschrift für das Studium der angelsächsischen und romanischen Kulturen und ihrer Bedeutung für die deutsche Bildung 5 (1934), S. 87–89, hier 88. 37 Francis Yeats-Brown, Appointment-Books, 9. 11. 1933, Yeats-Brown Papers, Harry Ransom Humanities Research Center, The University of Austin, Texas. 38 The Fascist Week, 10.–16. 11. 1933, S. 2. 39 Ebd. 40 Francis Yeats-Brown, Diaries 1933, S. 36, Yeats-Brown Papers, Harry Ransom Humanities Research Center, The University of Austin, Texas.

212   5.  Die politische Praxis am rechten Rand der Konservativen Partei sich mit Oswald Mosley.41 Wenige Wochen später folgte ein langer Artikel YeatsBrowns in der Fascist Week, in dem er die Vorwürfe zu entkräftigen versuchte, das Ziel des Faschismus sei ein weiterer Krieg und die Unterdrückung der Frauen. Sein Verständnis von Faschismus sei vielmehr das eines ‚jugendlichen‘ Radikalkonservatismus, der sich keineswegs an Deutschland oder Italien zu orientieren hätte. „I do not think that Italian Fascism can be adopted in toto for Great Britain, nor, of course, does anyone think so in the British Union of Fascists. The British Corporate State will be based on our own soil and traditions.“42 Gleichzeitig teilte er der Demokratie eine klare Absage: „In the very word democracy there is an implied tyranny, Demos is to rule. Issues are to be decided not on the principle of justice but by a counting of heads.“43 Yeats-Brown war keineswegs ein Opfer einer antifaschistischen Verschwörung geworden, wie das die Fascist Week vermutet hatte. Sein Beispiel zeigt vielmehr, wo auch für einen berühmten Autor und gut vernetzten Journalisten wie YeatsBrown die Grenzen lagen. Sein ‚Flirt‘ mit dem Faschismus hatte ihm einen Karriereknick eingebracht. Auch wenn er kein Parteimitglied der BUF wurde und sich ein Jahr später grundsätzlich von Mosley abwenden sollte,44 so galt er in Teilen der Öffentlichkeit als Faschist. Als er sich 1939 kurz vor Kriegsausbruch mit Hilfe von Arthur Bryant eine Stelle an der britischen Botschaft in Rom verschaffen wollte, stand ihm dieser Ruf im Weg.45 Neben der Propagierung des korporativen Staates diente das Projekt des Everyman auch dem Aufbau von Lord Lloyd als zukünftiger Führungspersönlichkeit. Unter der Überschrift „Beaverbrook, Mosley, Cripps. What of Lloyd?“ hatte YeatsBrown Ende September 1933 die politischen und persönlichen Vor- und Nach­ teile möglicher Kandidaten abgewogen, wobei suggeriert wurde, daß die Zukunft Großbritanniens entweder in einer konservativen Empire-Schutzzollpolitik (repräsentiert durch den press lord Beaverbrook), in einem faschistischen Führerstaat (repräsentiert durch Oswald Mosley) oder in einem sozialistischen Planstaat mit diktatorischer Übergangsphase (repräsentiert durch den Labour-Abgeordneten und prominenten Linkssozialisten Stafford Cripps) liege. Als Ausweg und gleichzeitig als ideale Synthese der Vorteile der anderen Alternativen schlug Yeats-Brown schließlich Lord Lloyd vor: „the mystery-man of politics“.46 „Also kalte Revolution?“ hatte ein deutscher Beobachter des Everyman-Projekts die taktisch-politischen Ziele der Gruppe richtig eingeschätzt und schrieb weiter: „Man sieht das Rezept ist da; fehlt nur der Bäcker: Lord Lloyd ist noch ein unbeschriebenes Blatt in der Innenpolitik, aber, ‚das Land braucht einen Führer, und er 41 Francis

Yeats-Brown, Appointment-Books, 10. 11. 1933, Yeats-Brown Papers, Harry Ransom Humanities Research Center, The University of Austin, Texas. 42 Francis Yeats-Brown, War, Women and Fascism, The Fascist Week, 8.–14. 12. 1933 [Hervorhebung im Original]. 43 Francis Yeats-Brown, Real Liberty and True Justice, The Fascist Week, 29. 12. 1933–4. 1. 1934. 44 Vgl. Kap. 5.2. 45 Vgl. Kap. 5.4. 46 Everyman, 29. 11. 1933.

5.1  Aus der world of letters in die world of politics   213

könnte der Mann sein.‘“47 Yeats-Brown war überzeugt, daß Lord Lloyd der richtige Führer sei, „if the present triumvirate of MacDonald, Baldwin and Runciman were to retire.“48 Doch darauf wollte man in der Gruppe um die English Review nicht länger warten.

5.1.2  Das Lord Lloyd-Dinner im November 1933 Ende Juli 1933 hatten sich Jerrold und Petrie mit Arnold Wilson, Guy Kindersley und Lloyd in dessen Haus getroffen, um ein Programm zu entwerfen, „which shall be a definite challenge to the present Government.“49 In dem Tagebucheintrag Charles Petries heißt es weiter: Our procedure is to be first of all to work out draft memoranda covering Economic Nationalism and Tariffs, Wages and Prices, Agricultural Developments, and the Reform of Parliament. On Foreign Affairs we are agreed to the policy of the English Review, but I am to take charge of the memorandum relating to the Reform of Parliament.50

Die Herausforderung der Regierung wurde vor allem auf innenpolitischem Terrain geplant. Neben klassischen konservativen Themen wie Wirtschaftsprotektionismus und Schutzzollpolitik ging es den Neo-Tories vor allem um eine Parlamentsreform – weg von regionaler hin zu funktionaler Repräsentation. Offensichtlich erklärte man dem vorgesehenen Übergangsdiktator Lloyd die Tragweite des Unternehmens nicht bis ins Detail. „Lloyd is clearly not up to the scratch yet, but we have committed him too far, as he will soon realize.“51 Ende Oktober hatte Lord Lloyd eine Gruppe von oppositionellen Abgeordneten der Konservativen Partei um sich versammelt, um die Parteiführung herauszufordern. Auf einer Karte des Carlton Club hatte er seine wichtigsten Unter­ stützer handschriftlich festgehalten: U.a. waren dies Lymington, Duncan Sandys, der Marquess of Hartington, George Balfour, Henry Page Croft, Patrick Donner, ­Arnold Wilson, Guy Kindersley, Alan Lennox-Boyd, Francis Yeats-Brown sowie Henry Fairfax-Lucy und Henry Drummond-Wolf.52 In einem Ordner „Sympathisers“ sammelte Lloyd zudem Telegramme und Briefe von weiteren Unterstützern, die zum Teil große Hoffnung in ihn setzten. Darunter war eine große Zahl von Armeeoffizieren. Typisch für deren Erwartungshaltung ist der Brief des Majors G.W. Thacker. Er schrieb Lloyd am 19. Oktober 1933: I have always voted Conservative, but if the Conservative Party persists in this Socialist Policy, in particular the surrender of India, which they have no mandate to do, I shall at the Next General Election, find myself in the position of hundreds of thousands of other Conservatives, of being

47 Güntsch,

Planwirtschaft und nationaler Sozialismus in England, S. 89. 29. 11. 1933. 49 Tagebücher Charles Petrie, 27. 7. 1933. 50 Ebd. 51 Ebd. 52 Sympathisers, The Papers of Lord Lloyd of Dolobran, Churchill Archives Centre, Cambridge, GBR/0014/GLLD 19/6. 48 Everyman,

214   5.  Die politische Praxis am rechten Rand der Konservativen Partei unrepresented in Parliament. […] For the sake of God, our King and Empire, you who are particularly fitted to do so, lead us, and we will follow wherever you go.53

Für die Abgeordneten unter den Unterstützern Lloyds war eines der Hauptprobleme die strenge Partei- und Parlamentsdisziplin. Traditionell stellen in Großbritannien die sogenannten ‚Einpeitscher‘, die whips, sicher, daß die Mitglieder der eigenen Partei bei Abstimmungen anwesend sind und im Sinne der Parteiführung abstimmen. Lloyd erkannte, daß die Angst vor den whips für eine Reihe seiner Unterstützer ein Problem darstellte. In einem Brief an Lady Houston erklärte er: „But it is essential only to let those who will really come along without fear of the Whips. Better a small number of stout hearts than a larger number of faint ones. There are always so few in politics who will really ‚go over the top‘.“54 Die Hoffnung bestand darin, daß sich viele junge Abgeordnete anschließen würden, sobald sich die Dinge in Lloyds Richtung entwickeln würden. Laut den Tagebuchaufzeichnungen von Leopold Amery zählten zu dieser Zeit bereits 50 bis 60 Abgeordnete des Unterhauses zu den festen Unterstützern der Pläne Lloyds für eine Absetzung Baldwins.55 Die Gruppe um die English Review war an den Vorbereitungen für Lloyds politische Herausforderung der Regierung maßgeblich beteiligt, die schließlich auf einer großen Abendveranstaltung am 21. November 1933 verkündet werden sollte: „We organised a large and exceptionally influential audience for a dinner at which the challenge to the Government’s policy was to be launched.“56 Über 300 Konservative versammelten sich schließlich an jenem Abend um 7.45 Uhr im Londoner Hotel Savoy,57 darunter, so Amery, „many young men keen to hear a new gospel“.58 Auch Jerrold erinnerte sich an die hohen Erwartungen, die viele der Anwesenden mitgebracht hatten: „There was enough anti-political dynamite in that room to have unseated half a dozen leaders.“59 Doch zur Explosion kam dieses ‚Dynamit‘ nicht. Lloyds Rede war eine äußerst kritische Bestandsaufnahme der politischen Situation – eine ­direkte Herausforderung der Parteiführung oder ein Aufruf zum politischen Umsturz war sie nicht. Lloyd warf der Koalitionsregierung des National Government komplettes politisches Versagen vor und entfaltete einen radikalkonservativen Forderungskatalog. Angesichts der erschreckend hohen Arbeitslosigkeit bedürfe es der Schulung und Disziplinierung der Jugend zwischen 18 und 25 Jahren in einem nationalen 53 G.W.

Thacker an Lord Lloyd, 13. 10. 1933, The Papers of Lord Lloyd of Dolobran, Churchill Archives Centre, Cambridge, GBR/0014/GLLD 19/6. 54 Lord Lloyd an Lady Houston, 15. 10. 1933, The Papers of Lord Lloyd of Dolobran, Churchill Archives Centre, Cambridge, GBR/0014/GLLD 19/2/37. 55 John Barnes und David Nicholson (Hrsg.), The Empire at Bay, The Leo Amery Diaries 1929–1945, London 1988, S. 307 f. 56 Jerrold, Georgian Adventure, S. 343. Vgl. hierzu auch Griffiths, Fellow Travellers of the Right, S. 47 f. 57 Francis Yeats-Brown, Appointment-Books, 21. 11. 1933, Yeats-Brown Papers, Harry Ransom Humanities Research Center, The University of Austin, Texas. 58 Barnes, The Leo Amery Diaries, S. 310. 59 Jerrold, Georgian Adventure, S. 344.

5.1  Aus der world of letters in die world of politics   215

Arbeitsdienst. Zur wirtschaftlichen und politischen Überlebensfähigkeit des Empires sei eine rigide Schutzzollpolitik mit dem Ziel eines autarken Wirtschaftsraums, eine Wiederbelebung der eigenen Industrie, insbesondere der Kohle-Industrie und eine entschiedene militärische Aufrüstung nötig. Von zentraler Bedeutung war aus Lloyds Sicht die Landwirtschaft: „The problem today, as Lord Lymington has so clearly told us, is not for the State to save agriculture, but for agriculture to save the State.“60 Im wesentlichen waren dies klassische Forderungen des diehard-Konservatismus – von einer Abkehr vom parlamentarischen System war hier keine Rede. Auch die von vielen erhoffte organisatorische und personelle Alternative zu Baldwin bot Lloyd nicht: „I have seen it suggested that it is my intention to form a new party or a new section of an old party. You who have listened to me with such forbearance tonight, will realize that I have no such intention. It is not new parties we need but principles and the pluck to pursue them.“61 Für diese Prinzipien wolle er auch in Zukunft eintreten, denn der Ernst der Lage verbiete es zu schweigen: I intend, therefore, to do my best to warn people up and down the country that, if we continue as at present we may expect, overseas, the progressive decline of our position and the steady disruption of our Empire; and, at home, revolutionary experiments in our methods of government; and I shall urge all level-headed people, no matter to what political party they may ­belong, to apply themselves with energy and determination to the task of building up a large organised body of opinion pledged to make a vigorous stand in support of British security and regeneration.62

Diese letzten Sätze der Rede Lloyds waren zu abstrakt und vage, um damit auch nur ansatzweise einen parteiinternen Putsch zu verbinden. Die Enttäuschung ­vieler Anwesender war laut den Tagebuchaufzeichnungen Amerys entsprechend groß. Lord Lloyd reagierte deprimiert, da er seinen Zuhörern nicht das Aufbruchssignal gegeben hatte, das sie von ihm erwartet hatten.63 Tatsächlich ließ Lloyd das Potential für die Formierung einer innerparteilichen Rechtsopposition unter seiner Führung ungenutzt. Um die Aktion erfolgreich verlaufen zu lassen, hätte Lloyd – so Jerrold in seinen Erinnerungen – sich direkt als potentieller ­neuer Parteiführer positionieren müssen. Dabei räumte er auch eigene Fehler ein. Er habe unterschätzt, wie sehr die anwesenden Konservativen vor allem an Machtund Personalfragen interessiert gewesen seien. Man habe sich zu sehr auf die theoretische Fundierung einer neuen Politik konzentriert: „We failed to realise that our spokesman should be regarded as aiming at the leadership.“64 Diese 60 Advance

Copy of Speech to be Delivered by Lord Loyd, 21. 11. 1933, The Papers of Lord Lloyd of Dolobran, Churchill Archives Centre, Cambridge, GBR/0014/GLLD 22/13. Vgl. auch The National Government. Lord Lloyd’s Criticism, The Times, 22. 11. 1933. 61 Advance Copy of Speech to be Delivered by Lord Loyd, 21. 11. 1933, The Papers of Lord Lloyd of Dolobran, Churchill Archives Centre, Cambridge, GBR/0014/GLLD 22/13. Vgl. auch Charmley, Lord Lloyd and the Decline of the British Empire, S. 190. 62 Advance Copy of Speech to be Delivered by Lord Loyd, 21. 11. 1933, The Papers of Lord Lloyd of Dolobran, Churchill Archives Centre, Cambridge, GBR/0014/GLLD 22/13. 63 Barnes, The Leo Amery Diaries, S. 310. 64 Jerrold, Georgian Adventure, S. 344 f.

216   5.  Die politische Praxis am rechten Rand der Konservativen Partei r­ etrospektive Einschätzung Jerrolds ist einigermaßen erstaunlich, schließlich hatten er und seine English Review-Gruppe monatelang Lloyd als neue Führungsfigur in ihren Zeitschriften aufgebaut. Aber auch dafür hatte Jerrold eine Erklärung: „The audience consisted of devoted subscribers of the English Review who had never read a line of what had been written there. Conservative politicians never read.“65 Die Distanz des Intellektuellen Jerrold zu machtpolitischen Prozessen ist offensichtlich. Ob man aber aus Jerrolds Aussagen den Schluß ziehen kann, daß die Mehrheit der Anwesenden tatsächlich nur an einer Absetzung Baldwins interessiert war und ansonsten im Prinzip für eine Beibehaltung des politischen Status quo plädierte,66 ist zumindest zweifelhaft. Nach den wenigen vorhandenen zeitgenössischen Aufzeichnungen war es ja gerade die Unentschlossenheit Lloyds, seine programmatischen Vorstellungen mit einem „call for action“ zu verbinden, die bei den Anwesenden Enttäuschung hervorrief.67 Die Unzufriedenheit der Organisatoren des Dinners und der ihnen verbundenen, meist jungen Parteimitglieder richtete sich nicht allein gegen die Person Baldwins und das National Government, sondern auch gegen das, was sie aus ihrer Sicht politisch und institutionell repräsentierten: Das an das uneffektive Parteiensystem gebundene, dem politisch unmündigem Volk durch das allgemeine Wahlrecht ausgelieferte und gegenüber Großindustrie und Großkapital machtlose Gegenteil einer starken Regierungsform. Lord Lloyd selbst war sich bewußt: „Unless some asylum is found for right wing thought amongst all the young and middle-aged men in the party, these will break away from Conservatism to Fascism, or other such nostrums.“68 Seinen ­eigenen politischen Ton mäßigte Lloyd nicht und versuchte weiter, mit einer nationalistischen Wirtschaftspolitik gegen die Regierung zu punkten. Auf einem Treffen des Y.M.C.A. in der Londoner Church Army Hall erklärte er: We look to the Government to try and give us a real national policy. We want to see fewer aliens being allowed into this country. I have nothing against the alien, but when we have 2 000 000 of our men out of work, we have a right to say to the Government: Shut the door to the alien until our own men are employed.69

Schon zuvor hatte er aber deutlich gemacht, daß er die politische Herausforderung der Regierung nicht mit der Machtfrage verbinden wollte. In einer Rede in Manchester erklärte er wenige Wochen nach dem Dinner im Savoy: „It is not the personnel but with the policy of the Government that I am concerned.“70 Im Juni 1934 schloß Lord Lloyd das Bankkonto, das ihm Lady Houston für seine Kampagne gegen die Regierung zur Verfügung gestellt hatte. Von den insge65 Ebd.,

S. 344. Fellow Travellers of the Right, S. 48. 67 Charmley, Lord Lloyd and the Decline of the British Empire, S. 189 f. 68 So Lloyd in einem Brief an Lord Bledisloe vom 9. Juli 1934, zit. nach Ramsden, History of the Conservative Party. Bd. III, S. 336. 69 The Alien in Our Midst, The Patriot, 4. 1. 1934. 70 Lord Lloyd, National Policy, 12. 12. 1933, The Papers of Lord Lloyd of Dolobran, Churchill Archives Centre, Cambridge, GBR/0014/GLLD 22/13. 66 Griffiths,

5.1  Aus der world of letters in die world of politics   217

samt £ 10 000 hatte er lediglich £ 1800 verbraucht.71 Er war sich bewußt, daß er nicht erreicht hatte, was Lady Houston und viele andere Sympathisanten von ihm erwartet hatten. Zu seiner Rechtfertigung erklärte er in einem Brief an seine wohlhabende Unterstützerin, daß es ja nicht wirklich darum gegangen sei, die Regierung zu attackieren – außer in der Indien- und Verteidigungspolitik –, sondern dem linken Flügel der Koalitionsregierung klarzumachen, daß der rechte Flügel präsent und aktiv sei.72 Handelte es sich also um ein Mißverständnis? ­Wollte Lloyd von Anfang an nicht mehr, als dem National Government und der Bevölkerung zeigen, daß es weiterhin einen rechten, imperialen Flügel gab? Offensichtlich fielen zumindest die Hoffnung der Neo-Tories und Lloyds Handeln auseinander. Trotz monatelangen Pressekampagnen, des gut organisierten politischen Netzwerkes und der enormen Erwartungshaltung seiner Unterstützer sah sich Lloyd nicht als der von den Neo-Tories erhoffte new leader. Dazu beigetragen hatte wohl auch der Widerstand der Parteiführung. In einem Brief an Lady Houston erklärt er, daß die Parteizentrale, das Central Office, ihm und seiner Kampagne das Leben schwer gemacht habe und man mit parteiinternem Druck zu kämpfen gehabt habe.73 Genauer wird Lloyd hier nicht. Er war sich jedoch bewußt, daß er im Herbst und Winter 1933 ein großes politisches Potential ungenutzt gelassen hatte und artikulierte seine Enttäuschung freimütig: „I do not deny that I was disappointed with the immediate result and I realise that if a better speaker than I had been available swifter progress might have been achieved.“74 Der eigentliche Grund für das Scheitern der innerparteilichen Rechtsopposi­ tion im Herbst 1933 liegt aber wohl eher darin, daß jene Allianz zwischen NeoTories und den zum Parteiestablishment gehörenden diehards, wie sie Jerrold sich erträumt hatte, eine schwache Verbindung war. Dies hatte vor allem inhaltliche Ursachen. Lord Lloyd war nach seiner Nichtberücksichtigung für das National Government neben Winston Churchill einer der prominentesten Kritiker der ­Regierung und der konservativen Parteiführung. Doch anders als viele Neo-Tories erhofft hatten, sah er sich letztlich nicht als ‚Übergangsdiktator‘. Wie den meisten anderen diehards galt sein Augenmerk der Sicherung des Empire. Für Lloyd, der selbst von 1918 bis 1923 Gouverneur von Bombay gewesen war, stellte vor allem die Indienpolitik der Regierung den ‚nationalen Verrat‘ dar. Deswegen das parlamentarische System anzugreifen, wollte oder konnte Lloyd aber nicht. Für die Neo-Tories war der Aufstand gegen die Indienpolitik der Regierung verschwendete Energie.75 Zwar wollten auch die Neo-Tories das Empire keineswegs aufgeben, doch die Priorität lag für sie in der Schaffung eines neuen Gesell71 Lord

Lloyd an Lady Houston, 19. 6. 1934, The Papers of Lord Lloyd of Dolobran, Churchill Archives Centre, Cambridge, GBR/0014/GLLD 19/2/46. 72 Lord Lloyd an Lady Houston, 25. 6. 1934, The Papers of Lord Lloyd of Dolobran, Churchill Archives Centre, Cambridge, GBR/0014/GLLD 19/2/49. 73 Ebd. 74 Lord Lloyd an Lady Houston, 25. 6. 1934, The Papers of Lord Lloyd of Dolobran, Churchill Archives Centre, Cambridge, GBR/0014/GLLD 19/2/49. 75 Vgl. Kap. 5.2.3.

218   5.  Die politische Praxis am rechten Rand der Konservativen Partei schaftssystems und einer autoritären Führung. Die Politik der Indien-Rebellen war für sie hingegen rückwärtsgewandt und sentimental. Auf der anderen Seite dürften den meisten diehards die gesellschaftspolitischen Vorstellungen, wie sie in der English Review und im Everyman artikuliert wurden, zu weit gegangen sein. Innenpolitisch beschränkten sich ihre Forderungen meist auf eine Limitierung des Wahlrechts und eine Reform des House of Lords. Auch einige diehards des Parteiestablishments spielten in den dreißiger Jahren mit der Idee eines korporativen Wirtschaftsmodells.76 Korporativismus war aber bei Männern wie Leo Amery nicht im Sinne einer grundsätzlichen Systemalternative zur parlamentarischen Demokratie gedacht, sondern vor allem ökonomisch als zukunftsweisende Antwort auf das diskreditierte liberale System des laissez-faire verstanden. Auch wenn Amery als nationale Kontrollinstanz eine dritte Kammer im englischen Parlament – „a Chamber or House of Industries“77 – etablieren wollte, so standen diese Forderungen eher im Zeichen einer Effizienzsteigerung des bestehenden Systems als in einer grundsätzlichen Opposition zu diesem. Die Episode des Lord Lloyd-Dinners und seine Vorgeschichte zeigt vor allem vier wichtige Aspekte: 1. Neo-Toryismus oder true conservatism war nicht nur eine abstrakte Idee einiger Intellektueller, sondern auch das ideologische Banner für den aktiven Versuch einer inhaltlichen und personellen Neuausrichtung der Konservativen Partei mit dem Ziel, eine autoritäre Staatsordnung zu etablieren. Trotz eines hohen Potentials an politischer Unzufriedenheit am rechten Flügel der Konservativen Partei gelang es aber weder, eine einheitliche politische Forderung zu formulieren, noch eine direkte personelle Herausforderung der Parteiführung zu organisieren. 2. Das politische Terrain der Neo-Tories war sehr eng gesteckt: Vom traditionellen Konservatismus wollten sie sich lösen, da sie ihn als Teil der liberal-kapitalistischen ‚Degeneration‘ sahen, andererseits wollten sie die mäandernde Grenze zum Faschismus nicht überschreiten. Wenn sie es wie Yeats-Brown doch taten, gerieten sie in Argumentationsschwierigkeiten hinsichtlich der Respektabilität und Englishness ihrer politischen Ziele – ein Problem, das sich in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre verstärken sollte, als rechte Systemalternativen zunehmend als unpatriotisch und schließlich verräterisch galten. 3. Die Koalitionsregierung unter Baldwin und MacDonald erwies sich als außerordentlich stabil. Von dem Aufbegehren auf dem rechten Flügel zeigte sie sich unbeeindruckt und führte ihre Linie insbesondere in der Indienpolitik konsequent weiter. Außerdem konnte die Konservative Partei mit Hilfe der whips und des Central Office offensichtlich jederzeit den Druck auf die Abweichler erhöhen und den politischen Spielraum für Parteirebellen stark eingrenzen. 4. Die Strategie der Neo-Tories, keine neue Partei zu gründen, sondern die Konservative Partei zum Katalysator eines Systemwechsels zu machen, unter76 Luther

P. Carpenter, Corporatism in Britain, 1930–45, in: Journal of Contemporary History 11 (1976), S. 3–25. 77 Leopold Amery, The Forward View, London 1935, S. 412.

5.2  Politische Clubs in Nähe und Abgrenzung zur British Union of ­Fascists   219

schätzte die Macht und Beharrungskraft dieser Partei. Die Baldwinites, also die Männer des Parteizentrums um Stanley Baldwin, erwiesen sich nicht als die ­politischen Leichtgewichte, als die sie die Neo-Tories immer wieder bezeichnet hatten.

5.2  „We do not wear a black shirt“ – Politische Clubs in Nähe und Abgrenzung zur British Union of ­Fascists Das politische Ziel der Neo-Tories sollte durch eine ‚Revolution von oben‘ erreicht werden. Die öffentliche Inszenierung der Systemalternative als politische Bewegung wie sie die BUF betrieb, lehnten die Neo-Tories grundsätzlich ab. Durch ihre Herkunft und Sozialisation waren sie Mitglieder des club government, also jenes elitären politischen Systems, dessen Herrenclubcharakter für den inneren Kreis der Macht in Westminster und Whitehall kennzeichnend ist. Elitäre Clubs gab es natürlich auch im liberalen Lager. Für die Neo-Tories waren die Clubs allerdings mehr als ein informeller Ort zur Netzwerkpflege und Karriereplanung. Die Abwendung vom liberalen Prinzip der Öffentlichkeit durch politische Clubs und Bünde zum „Prinzip informeller Kooptation“78 ist das entscheidende Strukturmerkmal der Beziehung zwischen britischen Neo-Tories und konservativem Establishment gewesen. Die inoffizielle Welt der gentlemens’ clubs und der politischen Dinnerparties in den großen Hotels Londons entsprach dem elitären und exklusiven Politikverständnis der Neo-Tories und erlaubte es andererseits Vertretern des politischen Establishments, diskret rechtskonservative Planspiele zu diskutieren, ohne notwendigerweise die eigene politische Karriere zu gefährden. Insbesondere die Idee des korporativen Staats und seine Kompatibilität mit dem britischen politischen System war in diesen Kreisen das große Thema. Ein Forum für diese Diskussion stellte der am 1. Januar 1934 gegründete January Club dar – der erste organisatorische Versuch, sowohl das konservative politische Establishment als auch Intellektuelle und Mitglieder der britischen Faschisten ­zusammenzubringen. Aus der Sicht Oswald Mosleys und seiner British Union of Fascists war der January Club in erster Linie ein Versuch, einen Vorstoß in die höheren Kreise der Gesellschaft vorzunehmen. Mit Hilfe von Kontakten zu wichtigen Journalisten, Intellektuellen, Industriellen, Militärs und Vertretern des konservativen Partei­ establishments sollte die faschistische Bewegung gesellschaftsfähig gemacht werden und vor allem finanzielle Unterstützung aktiviert werden. In den wenigen Seiten, die in der Forschungsliteratur dem January Club gewidmet werden, gilt dieser daher meist als ‚Frontorganisation‘ der BUF, deren wahrer Charakter sich durch die zunehmende Infiltration des Clubs mit den Männern Mosleys gezeigt habe

78 Mommsen,

Das Trugbild der „nationalen Revolution“, S. 23. Vgl. Kapitel 2.2.

220   5.  Die politische Praxis am rechten Rand der Konservativen Partei und so die konservativen Mitglieder verschreckt hätte.79 Diese Deutung ist nicht falsch, aber insofern einseitig, als daß sie den Ernst, mit der die Systemalternative ‚korporativer Staat‘ diskutiert wurde, unterschätzt. Die beteiligten Neo-Tories und Vertreter des Parteiestablishments wandten sich in der Tat im Laufe des Jahres 1934 von Mosley ab, nicht jedoch von der Idee einer englischen Version des korporativen Staates. Mosley und seine faschistische Bewegung wiederum widersprachen zunehmend dem Politikverständnis der Neo-Tories. Der January Club hörte allerdings keineswegs im Sommer 1934 auf zu existieren, als sich nach den Krawallen von Olympia viele konservative Sympathisanten von Mosley distanzierten. Er wurde unter neuem Vorsitz weiter geführt, und es wurde nach Allianzen mit anderen rechtsintellektuellen Gruppierungen jenseits der BUF gesucht. Die Geschichte des January Clubs berührt sowohl das generelle Verhältnis zwischen politischen Ideen und politischer Praxis als auch das strukturelle Problem der Wechselbeziehung zwischen Intellektuellen und Politikern in informellen ­politischen Organisationsformen und Netzwerken. Darüber hinaus kann eine genauere Analyse dieser Episode zusätzlich Licht in jene „grey area between Conservatism and Fascism“80 bringen. Gerade in den ersten Monaten des Clubs kommen die unterschiedlichen politischen und taktischen Absichten und Hoffnungen seiner Teilnehmer wie unter dem Brennglas zum Vorschein.

5.2.1  Die Formierung des January Club Die Planungen für den January Club reichen zurück in den Herbst des Jahres 1933. Daran beteiligt waren Francis Yeats-Brown, Captain H. W. Luttman-Johnson, Sir John Squire, Sir Donald Makgill und – als einziger Vertreter der BUF – Dr. Robert Forgan. Der ehemalige Labour-Abgeordnete hatte sich bereits 1931 Mosley angeschlossen.81 „Chief job: efficiently directing the building up of the entire Movement throughout the whole of Great Britain“82 beschrieb die Fascist Weekly Forgans Hauptaufgabe. Doch tatsächlich ging es Ende 1933 vor allem ­darum, Kontakte zu ‚respektablen‘ Kreisen aufzubauen.83

79 Dorril,

Blackshirt, S. 258 f.; Pugh, „Hurrah for the Blackshirts!“, S. 146 f.; Griffiths, Fellow Travellers of the Right, S. 49–53; Bussfeld, „Democracy Versus Dictatorship“, S. 225 f.; Skidelsky, Oswald Mosley, S. 322 f. 80 Vgl. Kap. 1.2. 81 Dorril, Blackshirt, S. 258. 82 The Fascist Week, 15.–21. 12. 1933. 83 Forgan, der jüdische Freunde hatte, verließ im Sommer 1934 die BUF, weil ihn der zunehmende Antisemitismus störte, und versuchte dann durch ein Treffen mit Neville Laski (President of the Board of Deputies) am 29. Juli 1934 ein Arrangement für sich herauszuholen. Vgl. Geoffrey Alderman, Dr. Robert Forgan’s resignation from the British Union of Fascists, in: Labour History Review 57 (1992), S. 37–41. In einem Bericht des MI5 wird allerdings die versuchte Veruntreuung eines für die BUF vorgesehenen Schecks von £ 250 durch Forgan als Grund für den Bruch mit Mosley angesehen. Vgl. TNA, HO 144/20144/75. Mosley selbst machte Forgan für den generell schlechten Zustand der Finanzen der BUF verantwortlich. Vgl. TNA, HO 144/20145/223.

5.2  Politische Clubs in Nähe und Abgrenzung zur British Union of ­Fascists   221

In diesen gab es – wie schon im letzten Kapitel gezeigt – vor allem in den Jahren 1933 und 1934 ein ausgeprägtes Interesse an rechtskonservativen Planspielen. Nicht nur bei Teilen der britischen Aristokratie, den konservativen Pressemagnaten Beaverbrook und Rothermere und bei den diehard-Konservativen, sondern auch bei einer Reihe junger konservativer Abgeordneter verband sich die Furcht vor einem deutlichen Labour-Wahlsieg mit antiliberaler Demokratiekritik. In diesen Überlegungen war weder das britische System heilig noch ein konservativer Staatsstreich tabu. Symptomatisch für diese Stimmung sind die Tagebücher des konservativen Abgeordneten Cuthbert Headlam. In seinem Eintrag vom 13. Februar 1934 berichtet er von einem Treffen mit dem Earl of Winterton: He takes Oswald Mosley seriously – and I think he is right. Fascism may look and seem rather absurd in this country but, nevertheless, it may well come into its own in the event of a Socialist victory at the next General Election which may not be so impossible as most people imagine. If a Socialist HofC [House of Commons, B.D.] really went the whole hog, what would be the ­situation? I suppose constitutionally we should have to grin and bear things – but should we? It seems to me that many of us might well fall in with a Fascist coup d’état, preferring a bourgeois revolution to a proletarian one.84

So dachten Anfang 1934 viele am rechten Rand der Konservativen Partei. Der Abgeordnete für Aylesbury, Michael Beaumont, der nicht nur Mitglied des January Club war, sondern auch der rechtsradikalen Geheimorganisation English Mistery angehörte, erklärte im Juni 1934 in einer Rede im House of Commons: „I am not a Fascist, but as an avowed anti-Democrat and an avowed admirer of Fascism in other countries, I am naturally interested in this movement and its application in this country.“85 Der Journalist und English-Mistery-Mann Collin Brooks brachte diese politische Haltung auf die Formel: „I am too much of a democrat to be a Fascist though too much of a disciplinarian to be a democrat.“86 Die Vorstellung, daß angesichts eines möglichen Labour-Wahlsieges eine wie auch immer geartete Zusammenarbeit mit den britischen Faschisten sinnvoll sein könnte, um der Konservativen Partei einen juvenilen und aktivistischen Anstrich zu geben, war am rechten Rand der Konservativen Partei Anfang 1934 keine Seltenheit. Der konservative Abgeordnete Lieutenant Colonel T.C.R. Moore schrieb im April 1934 in der Daily Mail einen Artikel mit dem programmatischen Titel „The Blackshirts have what the Conservatives need“. Nach seitenlanger Auslotung der gemeinsamen Interessen und programmatischen Überschneidungen kam Moore zu dem Schluß: Finally, the Blackshirts want Britain to be strong enough, physically and morally, to maintain her great historical position as a leader of civilisation and guardian of world peace. That is a

84 Tagebucheintrag

Cuthbert Headlam, 13. 2. 1934, in: Stuart Ball (Hrsg.), Parliament and Politics in the Age of Baldwin and MacDonald. The Headlam Diaries 1923–1935, London 1992, S. 292 f. Vgl. hiezu auch die Einträge für den 13. 6. 1934, S. 306 und den 11. 6. 1935, S. 336. 85 House of Commons Debates, 14. 6. 1934, Vol. 290 cc1941. 86 Tagebucheintrag Collin Brooks, 15. 1. 1934, in: N.J. Crowson (Hrsg.), Fleet Street, Press Barons and Politics. The Journals of Collin Brooks, 1932–1940, London 1998, S. 56.

222   5.  Die politische Praxis am rechten Rand der Konservativen Partei fundamental demand in every truly Conservative heart. Where, therefore, is the gap between them? Not in policy, not in programme, not even in theory – only in action.87

Daher, so Moore weiter, könnte eine Zusammenarbeit zwischen Konservativer Partei und Faschisten zum Nutzen beider Parteien sein. Man müsse es einfach probieren: „If successful, the Conservative Party will be strengthened and rejuvenated by the spearhead of active eager, and intelligent youth, while the Blackshirts will have the support and influence of the best and most experienced elements in the State.“88 Welche kulturellen und sozialen Hürden es allerdings für konservative Intellektuelle und Politiker in der Kontaktaufnahme mit den britischen Faschisten zu überwinden galt, zeigte sich bereits im Herbst 1933, als die Möglichkeiten eines gemeinsamen Clubs ausgelotet wurden. An ein solches frühes Vorbereitungstreffen des January Club erinnert sich in seiner Biographie der Journalist und Verleger Cecil Roberts.89 Roberts war Anfang der dreißiger Jahre zutiefst unzufrieden mit dem politischen System in Großbritannien und stand mit einer Reihe neotoryistischer Intellektueller in Kontakt. Durch seinen Freund Yeats-Brown traf er im Herbst 1933 die Organisatoren des sich formierenden January Club. Seine Eindrücke sind in vielerlei Hinsicht symptomatisch und lohnen, ausführlich zitiert zu werden: I had no liking of fascists, aware of the arrogance of their credo, but my discontent with our rulers made me susceptible to alternatives. […] One day in October I was invited to a small dinner party at the Cavalry Club in Piccadilly, arranged by Yeats-Brown, to enable a few friends to meet Oswald Mosley, who would address them. I found myself in a mixed company, very few of whom I knew, but there were some well-known persons, among them the poet-critic J.C. Squire, editor of the influential London Mercury. Others were political candidates, barristers, business directors. They were mostly in the middle-forties united by one thing, their present discontent. Unhappily the ‚star‘ of the dinner was missing, Mosley was ill. After dinner the chairman called on some of us to speak. I learned that not one of us was in the Mosley Party: it was a missionary meeting. Our contributions made, we then adjourned to a large room at the back of the club, to find an audience gathered. We were to be addressed by the secretary of the party. He was a thin, pale intense man, extremely eloquent. I do not believe that Robespierre at the height of his power in the French Revolution ever addressed his followers with more venomous passion. I found him horrifying. He was loudly applauded. I did not know who the man was, his name conveyed nothing to me but the effect of his tirade was to kill any thought of belonging to a party that harboured such a man, I hurried out of the hall. Going down the steps into Piccadilly I was accosted by Squire, who complimented me on my speech. I asked what he thought of the meeting. ‚I’d sooner take rat poison than join up with a fellow like that. I don’t like Baldwin or Ramsay but damn it all, I’m an Englishman. Who the hell is that reptile anyhow?‘90

Es kann durchaus sein, daß dieser Dialog zwischen Cecil Roberts und John Squire genauso abgelaufen ist und die hier beschriebene tiefe Abneigung gegenüber der faschistischen Inszenierung von Politik nur zum Teil dem jahrzehntelangen Abstand und der Selbstrechtfertigung der eigenen Biographie geschuldet ist. Aller87 T.C.R. 88 Ebd.

89 Cecil

Moore, The Blackshirts Have what the Conservatives Need, Daily Mail, 25. 4. 1934.

Edric Mornington Roberts (1892–1976) war ein Autor und Journalist. Roberts, Sunshine and Shadow. Being the Fourth Book of an Autobiography. 1930– 1946, London 1972, S. 111.

90 Cecil

5.2  Politische Clubs in Nähe und Abgrenzung zur British Union of ­Fascists   223

dings hatte die elitäre Abscheu vor dem faschistischen Führungspersonal weder Roberts daran gehindert, in den January Club einzutreten, noch John Squire davon abgehalten, seinen Vorsitz zu übernehmen. Roberts und Squire hatten ihr Interesse an der Idee des korporativen Staates unabhängig von den britischen Faschisten entwickelt.91 Direkt nach dem Krieg gründete Squire 1919 das Literaturmagazin London Mercury und war sowohl als intellektueller Kopf als auch als einflußreicher Netzwerker von Bedeutung. Die Gruppe von Literaten, die sich um ihn gesammelt hatte und sich als ‚Squirearchy‘ bezeichnete, stand dabei in Auseinandersetzung mit anderen literarisch-politischen Zirkeln des Londoner Intellektuellenviertels Bloomsbury.92 Bereits in den 1920er Jahren hatte sich Squire von Mussolini begeistert gezeigt,93 und als er diesen schließlich auf einer Italienreise getroffen hatte, war er sowohl von der Persönlichkeit des Duce als auch vom Konzept des korporativen Staates überzeugt.94 Geradezu enthusiastisch hatte er Mussolini als einen ‚Poeten‘ beschrieben und berichtete in seiner Autobiographie angetan von Mussolinis Demokratieverständnis: „He ­talked with remarkable frankness and sense about foreign affairs; and for his ­domestic régime he summarized his exposition with the remark, made with an engaging smile: ‚Moi je suis démocrate comme Jules César.‘“95 Mit seinen Kontakten nach Italien und seinem Interesse für den korporativen Staat, vor allem aber wegen seiner Seriosität und intellektuellen Reputation war Squire der ideale Vorsitzende des Clubs – auch wenn gerade deswegen einige Unterstützer der BUF einen Mangel an Effizienz fürchteten: „The prestige point was overesti­mated.“96 Die Organisation des Tagesgeschäfts des Clubs lag in den Händen von Captain H. W. Luttman-Johnson, einem schottischen Landbesitzer und pensionierten ­Kavallerie-Offizier und Weltkriegsveteran. Luttman-Johnson war 1933 Mitglied der BUF gewesen, allerdings nur für einen Monat, dennoch wurde er 1940 von den britischen Behörden unter der Defence Regulation 18B inhaftiert.97 Aus der Internierungshaft schrieb Luttman-Johnson an seine Frau: 91 John

Squire hatte zusammen mit T.E. Hulme in Cambridge studiert, war von dessen intellektueller Rebellion gegen den Liberalismus begeistert und half ihm bei seiner Übersetzung der Texte Bergsons und Sorels ins Englische. Patrick Horwarth, Squire. „Most Generous of Men“. A Biography of Sir J. C. Squire, London 1963, S. 28. Vgl. auch seine Autobiographie John Squire, The Honeysuckle and the Bee, London 1937, S. 155 f. Mit seiner Bewunderung für Hulme stand Squire in den intellektuellen Kreisen Londons nicht allein. Hulmes fundamentale Kritik des humanistischen Menschheitsideals, seine Verurteilung des liberalen Fortschrittsgedankens und schließlich sein radikaler religiöser Konservatismus hatte auch eine Reihe literarischer Größen wie W.B. Yeats, Ezra Pound, James Joyce und Wyndham Lewis beeindruckt. Siehe Kapitel 1.2. 92 Alan Pryce-Jones, The Bonus of Laughter, London 1987, S. 55. 93 Horwarth, S. 214, 231. 94 Baldoli, Exporting Fascism, S. 103. 95 Squire, The Honeysuckle and the Bee, S. 128. 96 Peter Rodd an H. Luttman-Johnson, 14. 1. 1934, Luttman-Johnson Papers, 1, Imperial War Museum, London. 97 Brian Simpson, In the Highest Degree Odious: Detention Without Trial in Wartime Britain, Oxford 1992.

224   5.  Die politische Praxis am rechten Rand der Konservativen Partei I heard from H.O. [Home Office, B.D.] that the reason why I am here is that ‚I have been‘ a member of the British Union [of Fascists, B.D.]. But that was only for a month in 1933! Of course Francis, Squire and I founded the January Club as a platform for OM [Oswald Mosley, B.D.]. […] The British Union has never been declared illegal – nor the paper ‚Action‘. So what on earth wrong have I done? […] I have been a life long Conservative.98

Luttman-Johnsons Selbstwahrnehmung als lebenslanger Konservativer, der lediglich in Zeiten der Krise offen für neue, alternative Regierungsformen war und deswegen den Austausch mit den Faschisten gesucht hatte, geht hier deutlich hervor. Bereits in der Formierungsphase des January Club wurde versucht, eine zu starke Identifikation des Clubs mit den britischen Faschisten zu vermeiden. Als der Name für den Club diskutiert wurde, war Squire entschieden gegen eine zu starke programmatische Festlegung. Er schrieb an Luttman-Johnson: „Trust my mistrust. Clubs should not have too clearly defined names. The Fabian So­ ciety was not called the Slow-Papers-towards-Socialism-Club.“99 Offensichtlich wollte Squire den intellektuellen Charakter des Clubs betonen und war gegen eine verstärkte Ausrichtung des Clubs auf Offiziere des Militärs und der Marine. Gleichzeitig wandte er sich gegen den Vorschlag, dem Club den Namen „Cor­ porate ­State Club“ zu geben, da dies zu langweilig, formal und ohne „appeal“ gewesen wäre.100 Während es Squire vor allem um die intellektuelle und gesellschaftliche Reputation ging, spielten auf Seiten der BUF hauptsächlich finanzielle Interessen eine Rolle, und man hoffte auf wohlhabende potentielle Unterstützer. Robert Forgan wandte sich daher an Luttman-Johnson mit einer Liste potentieller Gründungsmitglieder für den Club und betonte die Notwendigkeit, auch kleine Geschäftsleute einzuladen, „if we are to be successful in getting financial support for the Movement.“101 Das Hauptkriterium der BUF für Mitgliedschaften im January Club war auch in der Folge vor allem Geld.102 Von einem weiteren einflußreichen Geschäftsmann erhoffte sich Forgan nicht nur einen substantiellen Mitgliedsbeitrag, sondern auch, daß dieser in Yorkshire eine dem January Club ähnliche Organisation aufbauen würde.103 Mit Annahme der vorgeschlagenen Mitgliedschaft wurden von den Mitgliedern des January Club finanzielle Beiträge erwartet. Einen Scheck über £ 1,10 schickte beispielsweise Sinclair Reid: „As I am very inter-

  98 H.

Luttman-Johnson an Mrs Luttman-Johnson, 3. 7. 1940, Luttman-Johnson Papers, 2, Imperial War Museum, London.   99 John Squire an H. Luttman-Johnson, undatiert, Luttman-Johnson Papers, 1, Imperial War Museum, London. 100 John Squire an H. Luttman-Johnson, 8. 12. 1933, Luttman-Johnson Papers, 1, Imperial War Museum, London. 101 Robert Forgan an H. Luttman-Johnson, 23. 12. 1933, Luttman-Johnson Papers, 1, Imperial War Museum, London. 102 Unbekannt (Briefkopf B.U.F.) an H. Luttman-Johnson, 4. 1. 1934, Luttman-Johnson Papers, 1, Imperial War Museum, London. 103 Robert Forgan an H. Luttman-Johnson, 10. 4. 1934, Luttman-Johnson Papers, 1, Imperial War Museum, London.

5.2  Politische Clubs in Nähe und Abgrenzung zur British Union of ­Fascists   225

ested in the Corporate State and in the principles of Fascism, I should be very pleased to join the Club.“104 Gleichzeitig schritt die Organisation des Clubs voran. Die Fascist Weekly berichtete von einem Formierungstreffen des Clubs im Dezember 1933: The Formation of a club for the purpose of furthering the Corporate State idea among the more intellectual sections of Great Britain was the main purpose of a dinner held at the Rendezvous Restaurant, Soho, last week. Over sixty people attended. Sir John C. Squire was in the chair, with Sir Oswald Mosley, Leader of the British Union of Fascist as guest of honour. Among the guests, also, were Professor Harold Goad, Professor Rushbrook Williams, and many eminent representatives of science, the law, and the Press.105

Mosley, so die Fascist Weekly weiter, habe in seiner Rede gesagt, daß es für ihn sehr ungewöhnlich sei, wie ein normaler Parteipolitiker nach einem Dinner zu sprechen. Er sei dennoch hoch erfreut über die Formierung eines Clubs, der ihn in Berührung mit den Trends der intellektuellen Meinung und wissenschaftlichen Denkens bringen würde, erklärte Mosley laut Fascist Weekly. Hinsichtlich seiner politischen Taktik zitiert ihn die Wochenzeitung allerdings als wenig kompromißbereit: „The way of Fascism, however, lay from the Street to Power“.106

5.2.2  January Club und Windsor Club Zum Gründungstreffen des January Club kam es am Neujahrstag 1934. Wie angekündigt, übernahm den Vorsitz der Herausgeber des London Mercury, John Squire. Nach seiner Aussage war der Club „not a Fascist organization, but the members, who belonged to all political parties, were for the most part in sympathy with the Fascist movement.“107 Die Ziele des Clubs bestanden darin, politisch Interessierte zusammenzubringen, die an ‚modernen‘ Regierungsformen interessiert waren. Mit dem Club sollte eine Plattform für Vordenker des Faschismus und des korporativen Staates geschaffen werden und darüber hinaus der Austausch zwischen Faschisten und politisch Interessierten gefördert werden.108 Damit waren die ­Ziele des Clubs allgemein genug gehalten, um auch konservative Politiker, die in keiner organisatorischen Verbindung zur BUF stehen wollten, anzuziehen. Die Mitgliederliste des January Club, die über die ersten Monate des Jahres 1934 zustande gekommen war, ist beachtlich. Squire, Yeats-Brown und Luttman104 N.

Sinclair Reid an H. Luttman-Johnson, 23. 12. 1933, Luttman-Johnson Papers, 1, Imperial War Museum, London. 105 The Fascist Week, 22.–28. 12. 1933. Mosley war nicht der einzige Redner: „Professor Harold Goad stated that there was no doubt whatever that Fascism was coming in this country – and coming very soon; the Corporate State idea was essentially British in its inception. Fascism was not the last stand of capitalism, as it had been described, but a democracy of real action, of service – and not of talk. Professor Rushbrook Williams spoke of the great service that Fascism could be in dealing with Indian problems; and that, in his work, he wished to keep in touch, always, with Fascist progress in Great Britain.“ 106 Ebd. 107 The January Club. Sir John Squire on Fascism, The Times, 22. 3. 1934. Vgl. dazu auch TNA, HO 144/20140/114 f. und Horwarth, Squire, S. 247. 108 Griffiths, Fellow Travellers of the Right, S. 51.

226   5.  Die politische Praxis am rechten Rand der Konservativen Partei Johnson nutzten ihre Kontakte mit außerordentlichem Erfolg und gewannen ein Netzwerk aus Politikern, Aristokraten, Militärs, Konzernchefs, Journalisten und Intellektuellen als Clubmitglieder oder als Gäste der Veranstaltungen. Unter den etwa 200 Mitgliedern waren eine ganze Reihe konservative Abgeordneter: Alan Lennox-Boyd, Michael Beaumont, Hugh Molson, Lord Erskine, Adrian Baillie, Arnold Wilson, Sir Philip Magnus-Allcroft und der National Labour-Abgeordnete Sir Ernest Bennett. Hinzu kamen die ehemaligen Abgeordneten Sir Warden Chilcott und Sir Henry Fairfax-Lucy sowie Duncan Sandys, der nach der Wahl 1935 erstmals ins Unterhaus eingezogen war. Mit Lord Lloyd, Lord Middleton, der seine Londoner Wohnung als Geschäftsstelle zu Verfügung stellte,109 Lord Londonderry, Lord Iddessleigh, Lord und Lady Russell of Liverpool, Lord High Constable Joss Erroll, Lord Francis Hill, Lord William Scott, dem Earl Jellicoe, dem Earl of Glasgow und dem Marquess of Travistock waren namhafte Vertreter des adeligen konservativen Establishments vertreten.110 Edward Metcalfe war als enger Freund des Prince of Wales ebenso Teilnehmer der Treffen wie die deutsch-englischen Adeligen Count und Countess Paul Münster.111 Zu den Treffen kam auch Wing Commander Sir Louis Greig, ein Gentleman Usher des britischen Königs.112 Von seiten des Militärs waren die beiden bekanntesten britischen Militärhistoriker der Zwischenkriegszeit, Major-General J.F.C. Fuller und Basil Liddell Hart eingeladen. Hinzu kamen der konservative Abgeordnete Brigadier-General Edward L. Spears und der General Sir Hubert Gough,113 dessen Interesse am January Club der britische Geheimdienst MI5 als Widerstand gegen die Irlandpolitik der letzten 20 Jahre wertete.114 Lieutenant-Colonel Norman Thwaites war eine weitere treibende Kraft hinter dem January Club und übernahm dessen Vorsitz im Jahr 1935. Militärische Themen waren regulärer Bestandteil der Treffen des January Clubs, der sich als Forum für Rüstungsforderungen anbot. Bei einem Treffen des Clubs im März 1934 betonte beispielsweise Air Commander J.A. Chamier die Gefahr von Luftangriffen und die notwendigen Rüstungsmaßnahmen: „There is no question about the air danger. […] If we had air power on a reasonable scale we should be reasonable secure.“115 Interessanterweise war es gerade die Teilnahme hochrangiger Militärs, die den January Club für die britischen Geheimdienste interessant machte. Der britische Inlandsgeheimdienst MI5 war über die Kontakte des Clubs zu britischen Armeeoffizieren bestens informiert und war über diese sehr besorgt: „These contacts lead MI5 to believe the Club was forging dangerous ties with the army. The Service was obsessed with the belief that such 109 The

Times, 22. 3. 1934. 110 Vgl. dazu auch Griffiths, Fellow

Travellers of the Right, S. 52f; Pugh, „Hurrah for the Blackshirts!“, S. 146; Dorril, Blackshirt, S. 237, 258–260, 293. 111 Vgl. Charles Higham, Wallis. Secret Lives of the Duchess of Windsor, London 1998, S. 84. 112 Dorril, Blackshirt, S. 258. 113 Luttman-Johnson Papers, 8, Imperial War Museum, London. Vgl. dazu auch Dorril, Blackshirt, S. 275. 114 TNA, HO 144/20142/216. 115 The Daily Mirror, 22. 3. 1934.

5.2  Politische Clubs in Nähe und Abgrenzung zur British Union of ­Fascists   227

links were the beginning of a potential ‚fifth column‘, though the evidence was thin.“116 Von seiten der Medien waren der Herausgeber des Daily Express und ehemalige Chefredakteur der konservativen Daily Mail sowie Gründer der Anti-Socialist Union Ralph D. Blumenfeld ebenso vertreten wie der ‚Presse-Baron‘ Lord Rothermere und die Daily-Mail-Journalisten George Ward Price117 und Esmond Harmsworth.118 Warner Allen von der Saturday Review versprach: „Of course I will do anything I can to help the January Club”, allerdings könne Lady Houston – die exzentrische Herausgeberin der Wochenzeitung – nicht kommen, da sie Mosley für dessen persönliche Attacken nicht vergeben habe.119 Hinzu kamen die NeoTories aus dem English Review-Zirkel. Neben Francis Yeats-Brown, der in die ­Organisation des Clubs involviert war und Charles Petrie, der auch als Redner des  Clubs auftrat und den konservativen Abgeordneten Wilson, Beaumont und Lennox-Boyd nahmen Herbert Agar, Douglas Jerrold und der Italienexperte ­Harold Goad an den Sitzungen teil. Ein Prominenter, der die Einladung zum January Club ausgeschlagen hatte, war T.E. Shaw, besser bekannt als Lawrence von Arabien. T.E. Lawrence war nach seiner Beteiligung am arabischen Unabhängigkeitskrieg unter dem falschen Namen Shaw im Dienst der Royal Air Force untergetaucht und versuchte ein Leben in der Anonymität zu führen. Lawrence war ein enger Freund von Yeats-Brown, und in zwei Briefen an Luttman-Johnson erläutert er die Gründe seiner Nichtteilnahme: Dear Captain L-J., when you do see Y-B, please tell him off from me. He knows I loathe dinner, that I do not possess any joy-clothes, that I can seldom afford to visit London. As for orders and decorations – help. They and the ladies would put the lid on an unhappy evening. No, when I want to make myself miserable, I dress up and go on parade, quite free of charge.120

Von seiten der BUF waren einige führende Offizielle der Partei Mitglieder des Clubs – neben Mosley und seinem Stellvertreter, Robert Forgan, auch der später 116 Dorril,

Blackshirt, S. 275. Price schrieb an Luttman-Johnson: „I am much obliged for your letter offering me, on behalf of the Committee, election as a Founder Member of the January Club. I shall be ­honoured to join.“ Ward Price an Luttman-Johnson, 10. 1. 1934, Luttman-Johnson Papers, 7, Imperial War Museum, London. Ward Price (1886–1961) galt als ausgewiesener FaschismusSympathisant. Er interviewte 1935 Hitler und schrieb zuvor begeisterte Artikel zur MosleyBewegung in der Daily Mail, z. B. im Januar 1934: „The orderliness, interest, and enthusiasm which marked this great meeting are the most eloquent possible testimony to the rapid progress which Blackshirt principles are making throughout the country.“ Daily Mail, 22. 1.  1934. 118 Dorril, Blackshirt, S. 271. 119 Warner Allen an H. Luttman-Johnson, 7. 2. 1935, Luttman-Johnson Papers, 7, Imperial War Museum, London. Diese waren laut Allen, ihrem Biograph, auch der Grund dafür, daß sie die £  200 000, die sie Mosley ursprünglich für seine Partei geben wollte, schließlich doch behalten habe. Allen, Lady Houston, S. 148. 120 T.E. Shaw an H. Luttman-Johnson, 1. 5. 1934, Luttman-Johnson Papers, 7, Imperial War Museum, London. Vgl. auch T.E. Shaw an H. Luttman-Johnson, 17. 5. 1934, Luttman-Johnson Papers, 7, Imperial War Museum, London. 117 Ward

228   5.  Die politische Praxis am rechten Rand der Konservativen Partei durch seine englischsprachigen Propagandasendungen im Radioprogramm der Nationalsozialisten als „Lord Haw-Haw“ bekannt gewordene William Joyce121 und der Chef-Ideologe der Partei, Alexander Raven Thomas.122 Trotz der Teilnahme führender britischer Faschisten, die bei den förmlichen Dinnerparties in den Londoner Hotels Savoy und Splendide in ihren schwarzen Uniformen auftraten und damit für skandalträchtige Aufmerksamkeit in dem Gesellschaftsmagazin Tatler sorgten,123 bemühte sich der Club um programmatische und personelle Offenheit. So gehörten dem January Club auch jüdische Mitglieder an. Der jüdische Parlamentsabgeordnete Sir Philipp Magnus-Allcroft berichtete, er sei „not quite the only one of my faith to have embraced the Club.“124 Soweit dies nachvollziehbar ist, waren im January Club Diskussionen über das Problem des Antisemitismus üblich, und Vertreter der BUF nutzten den Club als Plattform, um jüdischen Mitgliedern zu versichern, daß sie in einem faschistischen System nichts zu befürchten hätten. Zu einem Treffen des January Club Ende März 1934 im Londoner Hotel Splendide, bei dem über 120 Gäste teil­ genommen hatten, war beispielsweise auch der jüdische Parlamentsabgeordnete Major Nathan eingeladen worden. Laut des Berichts über das Treffen ergriff ­Nathan das Wort und warnte davor, daß er seinen Beruf als Anwalt aufgeben müsse und die britische Demokratie in Gefahr sei, sobald der Faschismus an der Macht sei. Daraufhin anwortete Forgan, daß Juden, die loyal zu Großbritannien stünden, nichts zu befürchten hätten und sowieso die ganze ‚jüdische Frage‘ vergleichs­weise unwichtig sei.125 Der politische Gegner beobachtete den January Club mit großer Sorge. In einem Bericht des Labour Research Department wurde dabei besonders der elitäre Charakter des Clubs, der Reichtum der Mitglieder und die Zugehörigkeit Mosleys zur Upper Class betont: The January Club holds its dinners at the Savoy and the Hotel Splendide. The Tatler shows pictures of the club assemblies, distinguished by evening dress, wines, flowers and a general air of luxury. The leader is enjoying himself among his own class. A striking feature of the British Union of Fascists and the January Club is the large number of Army officers in their personnel. ‚Many Blackshirts are former R.A.F. men‘ boasts Rothermere’s Sunday Dispatch (29.4.34). The next most striking thing is the amount of land and money represented.126

Insgesamt ist das enorme Interesse an dem January Club im britischen Establishment bemerkenswert. Bei den wenigsten Mitgliedern des Clubs dürfte es sich aller­dings um tatsächliche Anhänger von Oswald Mosley gehandelt haben. Eine aufschlußreiche Einschätzung zu den Motiven der vielen prominenten Mitglieder 121 Vgl.

Peter Martland, Lord Haw Haw. The English Voice of Nazi Germany, Richmond 2003. 122 Peter Richard Pugh, A Political Biography of Alexander Raven Thomas, unveröffentlichte Dissertation, Sheffieldd 2002, S. 112. 123 The Tatler, 30. 5. 1934. 124 Zitiert nach Dorril, S. 310. 125 The Fascist Week, 30. 3.–5. 4. 1934. Vgl. hierzu auch Kapitel 4.4. 126 Labour Research Departement, Who Backs Mosley? Fascist Promise and Fascist Performance, London 1934, S. 11.

5.2  Politische Clubs in Nähe und Abgrenzung zur British Union of ­Fascists   229

gibt Charles Petrie in seinen Erinnerungen aus dem Jahr 1972: „They were not enamoured of Fascism as such, but they were so weary of the drabness of the Baldwin regime that they were prepared to embrace almost any alternative.“127 Von diesen hauptsächlich an einer, wie auch immer gearteten, politischen Veränderung interessierten Teilnehmern unterscheidet Petrie eine zweite Gruppe: „Then there were others, among whom I include myself, who were attracted by the doctrine of the Corporate State in the hope that it might provide a solution for the uneasy relations between Capital and Labour: there was even a group at Chatham House where the possibilities of the Corporate State were exam­ ined.“128 In der Tat sahen Neo-Tories wie Petrie im January Club vor allem ein Forum, um das System des korporativen Staates zu diskutieren. Sie waren hinsichtlich des demokratischen Systems desillusioniert, doch nicht bereit, sich Mosley unkritisch unterzuordnen. Das partei- und lagerübergreifende Interesse an korporativen Ideen sollte daher genutzt werden. Der Italienexperte Harold Goad vom British Institute of Florence bemühte sich so um eine Öffnung des Clubs für Mitglieder, die Labour nahe standen und setzte sich gar dafür ein, Harold Macmillan in den Club einzubinden. Dieser wisse zwar nichts über das italienische Experiment, aber viele seiner Ideen hätten Ähnlichkeiten mit den Absichten des January Club.129 Thematisch gab sich der Club offen und in verschiedenen Ausschüssen, wie beispielsweise dem Ausschuß C für Wirtschaft und Finanzen und dem Ausschuß H für Indien,130 wurden Sitzungen vorbereitet und Fachleute angeworben. Ein weiteres prominentes Thema war Landwirtschaft, die eng verbunden mit antiurbanen Degenerationsvorstellungen und ökonomischen Autarkiegedanken diskutiert wurde. Der Eugeniker George Pitt-Rivers schrieb: „I am in sympathy with the objects of the Club and would be glad to keep in touch with your members. Believing that the agricultural policy of the Wessex Agricultural Defence Association is consistent with the Fascist agricultural policy, I should be glad to become a member.“131 Trotz des elitären Charakters des Clubs und seiner organisatorischen Unabhängigkeit von der BUF stellte für einige Mitglieder die Teilnahme an den Club-Treffen offensichtlich eine Gradwanderung dar. Die diskrete und informelle Atmosphäre des Clubs wurde geschätzt, eine öffentliche Identifikation mit Mosley war jedoch für viele Mitglieder unerwünscht. Der Ökonom und ehemalige Chef der Bank of England, Vincent C. Vickers, schrieb am 24. Februar 1934, daß er großes 127 Petrie, A

Historian Looks at His World, S. 113. S. 114. 129 Harold Goad an H. Luttman-Johnson, 11. 1. 1934, Luttman-Johnson Papers, 1, Imperial War Museum, London. 130 D. Thomson an Luttman-Johnson, 6. 4. 1934, Luttman-Johnson Papers, 7, Imperial War Museum London. 131 G. Pitt-Rivers an Luttman-Johnson, 29. 5. 1934, Luttman-Johnson Papers, 7, Imperial War Museum, London. 128 Ebd.,

230   5.  Die politische Praxis am rechten Rand der Konservativen Partei Interesse an dem Club und dessen neuer Vorgehensweise habe und sich daher geehrt fühlen werde, sollte das Komitee des Clubs ihn als Mitglied auswählen, er aber auf keinen Fall öffentlich sprechen könne.132 Bei einem Treffen des Clubs im Hotel Splendide im Mai 1934 hatte Lord Lloyd, der noch wenige Monate zuvor öffentlich als zukünftiger Diktator gehandelt wurde, eine lange Rede gehalten, jedoch darauf bestanden, daß diese nicht veröffentlicht werde.133 Der gesellschaftliche und politische Höhepunkt des January Clubs war Ende Mai 1934 erreicht. Bei einem Treffen im Savoy Hotel in London waren zahlreiche namhafte Vertreter des konservativen Establishments erschienen, um Oswald Mosley und Charles Petrie sprechen zu hören. Neben Squire, Yeats-Brown, Thwaites und Ward Price kamen unter anderem Lord Middleton, Lord Iddesleigh, die Countess Clonnell, Sir George Duckworth-King, Sir Henry und Lady Fairfax-­ Lucy, Major Metcalfe und Lady Metcalfe, Sir Philip Magnus, Mr. Ward Price, Sir T.L.H. Roberts, die Baroness Ravensdale, Eric von Salzman und Lord und Lady Russell of Liverpool.134 Petrie hielt neben dem britischen Faschistenführer die Rede des Abends und war überzeugt, daß er das indirekte Duell gewonnen hatte: „At 8.00 we foregathered at the Savoy for the January Club dinner, and there were about 250 there. Squire was in the chair, and after dinner I spoke for thirty ­minutes, then Mosley and after that we had ten minutes each. It was all relatively friendly, but I think I got the audience better than he did.“135 Über dieses Treffen berichtete auch das Gesellschaftsmagazin Tatler. In der Ausgabe vom 30. Mai war Oswald Mosley auf dem Cover, und auf den vielen Hochglanzfotos im Bericht waren Männer in ihrer Abendgarderobe neben BUFMännern im Schwarzhemd zu sehen: Whether we are in agreement with the Fascist movement or not, no one can deny that its founder and leader in this country has the rare gift of political courage. Mankind is on the move, and the pebble – or rock – that Sir Oswald has thrown into the somewhat stagnant pool of political controversy has undoubtedly arrested the interest of a large section of the British public.136

Im Laufe des Jahres 1934 war die Frage der gesellschaftlichen und politischen Respektabilität der BUF allerdings zunehmend zum Problem geworden. Für viele konservative Sympathisanten wirkte die Inszenierung der BUF als faschistische Bewegung mit den dazugehörigen Paraden, Uniformen und lauten Versammlungsreden radikal, unbritisch und ausländisch. Verstärkt wurde diese Wahrnehmung durch die Ereignisse im Deutschen Reich, als sich mit dem sogenannten ‚Röhm-Putsch‘ die mörderische Seite des Regimes zeigte. Die Entwicklungen in 132 Vincent

C. Vickers an H. Luttman-Johnson, 24. 2. 1934, Luttman-Johnson Papers, 1, Imperial War Museum, London. 133 „It was a condition of Lord Lloyd’s presence at the Club that his speech was not to be reported, and we regret, therefore, that no mention may be made of this. Among the present were: General Hubert Gough, the Spanish ambassador, Lord Erskine, General (Everest) Bruce, Wing Commander Sir Louis Greig, Major Yeats-Brown, and many other distinguished people.“ The Fascist Week, 4.–10. 5. 1934. 134 The Fascist Week, 25.–31. 5. 1934. 135 Tagebücher Charles Petrie, 17. 5. 1934. 136 The Tatler, 30. 5. 1934, S. 373.

5.2  Politische Clubs in Nähe und Abgrenzung zur British Union of ­Fascists   231

Deutschland waren auch im January Club ein Thema. Der konservative Abgeordnete Arnold Wilson hatte bei einem Treffen des Clubs am 18. Juli 1934 über ­seinen Besuch in Deutschland berichtet. In dem Bericht des MI5 heißt es: „He obviously intended his speech to be a fair and dispassionate account of conditions under the Nazi regime, but he showed that on the whole he considered that the objections to dictatorship outweighed the advantages.“137 Hinzu kam die Diskreditierung des organisierten britischen Faschismus durch die Krawalle im Juni 1934 in London, die einen Großteil der Sympathisanten in der Konservativen Partei und in der konservativen Presse auf Distanz gehen ließ. Bei der BUF-Versammlung im Olympia im Westen Londons hatten betrunkene Saalschützer der BUF dutzende Gegendemonstranten systematisch krankenhausreif geprügelt. Dieser Exzeß von politischer Gewalt beschäftigte die britische ­Öffentlichkeit tagelang. Die BBC zog Konsequenzen und sperrte Mosley nach ‚Olympia‘ für die nächsten 34 Jahre für ihre Rundfunkprogramme.138 In seiner Autobiographie schrieb Cecil Roberts fasziniert und angewidert zugleich über die Atmosphäre der Olympia-Versammlung, zu deren Besuch ihn Yeats-Brown überredet hatte: Die Veranstaltung habe eine ‚Pseudo-Nazi‘-Atmosphäre gehabt. Mosley sei von seinen Bodyguards den Gang zu einer gewaltigen Tribüne begleitet und die ganze Zeit von beweglichen Scheinwerfern angestrahlt worden. Eine Armee von Schwarzhemden hatte den Arm zum Gruß gehoben. „The whole thing was Hitlerian. Interrupters were violently evicted. Any lingering hopes I had about Mosley’s crusade for the revival of the national spirit were ­dispelled. He harangued his blackshirted cohorts for over an hour and a half. We were politically sick, but I preferred Baldwin’s ineptitude to Mosley’s brazen parade of power.“139 Viele Neo-Tories verteidigten das brutale Vorgehen der Saalschützer. In einem Leserbrief an die National Review schrieb der Abgeordnete Patrick Donner, der bei der Veranstaltung anwesend war, daß die Saalschützer provoziert worden wären, die antifaschistischen Gegendemonstranten mit Rasiermessern bewaffnet gewesen seien und die Gewalt von ihnen ausgegangen sei. Als ein Abgeordneter mit 137 TNA,

HO 144/20142/218. Richard Thurlow waren die Krawalle in Olympia „the turning point in the fortunes of the movement.“ Richard Thurlow, Fascism in Britain. From Oswald Mosley’s Blackshirts to the National Front, London 21998, S. 71. In diesem Sinne auch Jon Lawrence, Fascist Violence and the Politics of Public Order in Inter-War Britain. The Olympia Debate revisited, in: Historical Research 76 (2003), S. 238–267 und Dorril, Blackshirt, S. 295–315. Martin Pugh sah in „Olympia“ keinen Wendepunkt und betonte, daß es auch nach 1934 starke konservative Sympathien für Mosley gegeben habe. Pugh, „Hurrah for the Blackshirts!“, S. 167 ff.; Martin Pugh, The National Government, the British Union of Fascists and the Olympia Debate, in: Historical Research 78 (2005), S. 253–262. 139 Cecil Roberts, Sunshine and Shadow. Being the Fourth Book of an Autobiography. 1930– 1946, London 1972, S. 133 f. Petrie notierte in sein Tagebuch: „Mosley’s meeting at Olympia on Thursday night was marked by a great deal of rowdyism, and there is considerable criticism of the methods of the Fascist stewards. Violence towards Communists doesn’t worry me, but it is clear that Mosley is out to create the type of situation which will make Fascism necessary.“ Tagebücher Charles Petrie, 9. 6. 1934. 138 Für

232   5.  Die politische Praxis am rechten Rand der Konservativen Partei Londoner Wahlkreis könne er außerdem bezeugen, daß die „hooligans“, die zum Olympia marschiert waren, um 15 000 zahlende Gäste beim Zuhören zu stören, nichts anderes seien als „dregs of the docks and the scum of the East End.“140 Tatsächlich jedoch waren viele der Gegendemonstranten Juden, die bei antisemitischen Stellen in der Rede Mosleys aufsprangen, ihren Mißmut äußerten und dann von den Saalschützern herausgezerrt und brutal verprügelt wurden.141 In einem weiteren Leserbrief schrieb Luttman-Johnson: „Having been present myself at Olympia on the night in question, I can testify to the fine bearing of the young Blackshirt men and women, under extreme provocation.“ Außerdem dürfe man ja nicht vergessen, daß die Blackshirts zutiefst patriotisch seien; sie kämpften für den Union Jack, nicht für die rote Fahne.142 Ähnlich war auch die Argumentation der Neo-Tories im House of Commons, als sich das britische Parlament mit den Vorgängen beschäftigte. Eine Reihe von konservativen Abgeordneten verteidigte das Vorgehen der BUF-Saalschützer. Michael Beaumont erklärte: I do not believe that the wearing of a black shirt is one bit more provocative than the carrying of the Red Flag or remaining seated and covered during the playing of the National Anthem. These things are done in this country. […] From what I saw at that meeting, it was my honest opinion that no one there, as far as I could see, got anything more than he thoroughly deserved.143

Obwohl die Neo-Tories Mosley gegen den politischen Gegner verteidigten, ­sahen sie die Möglichkeit einer Zusammenarbeit im Laufe des Jahres 1934 zu­nehmend schwinden. Ein Grund dafür war auch der Wunsch nach geistiger und politischer Eigenständigkeit. Charles Petrie erinnerte sich: „What militated against Mosley and his movement from the very beginning was the impression he created that he wanted followers, not colleagues.“ Nur diejenigen, die bereit gewesen wären, ihm uneingeschränkt zu folgen, seien willkommen gewesen. Viel mehr prominente Zeitgenossen hätten sich Mosley angeschlossen, wäre dies auf einer Basis der Gleichheit und Kollegialität möglich gewesen. Aber sie seien nicht bereit gewesen, einfach nur als willfährige „Fascist yes-men“ mitzumachen.144 Petrie erklärte in seinen Erinnerungen, daß es Mosley versäumt habe, die konservative intellektuelle Klasse wirklich für sich zu gewinnen. Der January Club sei zwar dafür gegründet worden und sei kurzzeitig ein Erfolg gewesen, aber wichtige Intellektuelle wie Yeats-Brown oder Squire hätten sich schon bald von der unangenehmen und unfreien Atmosphäre verschreckt gefühlt.145 Gerade jene neo-toryistischen Mitglieder, die selbst programmatische Schriften veröffentlicht hatten und in anderen rechtsintellektuellen Zirkeln vernetzt waren, waren offensichtlich nicht bereit, den Club als ein Propagandawerkzeug der BUF anzuerkennen oder sich der Führer140 Donner,

Letter to the Editor, The National Review 103 (Juli 1934), S. 121. Blackshirt, S. 297. 142 Luttman-Johnson, Letter to the Editor, The National Review 103 (Juli 1934), S. 122 f. 143 House of Commons Debates, 14. 6. 1934, Vol. 290 cc1942 f. 144 Petrie, A Historian Looks at His World, S. 115. 145 Ebd. 141 Dorril,

5.2  Politische Clubs in Nähe und Abgrenzung zur British Union of ­Fascists   233

schaft Oswald Mosleys unterzuordnen. Der Journalist Ward Price schrieb über Yeats-Brown in einem Brief an John Evelyn Wrench: „And it soon became evident that Sir Oswald Mosley’s Blackshirt Movement saw in the January Club a ready made opening for propaganda. This led to Y.B.’s resignation from the body.“146 Yeats-Brown offenbarte in einem Brief an Wrench seine Desillusionierung über Mosley, aber auch sein Unverständnis für den lauten Antisemitismus, dem sich die BUF zunehmend verschrieb: „I am sick of him. […] Mosley is too vain to ever be any good, and not human enough.“147 In einem Bericht des britischen Geheimdienstes heißt es entsprechend: Major Yeats-Brown, the other mystically inclined soldier [neben Fuller, B.D.] who adopted Fascism, is apparently dropping out of the movement. It is understood that this is due to his forming a poor opinion of Mosley. He is interested in the Corporate State, but does not favour a dictatorship in Britain. The January Club, while still in being, is less active. Captain LuttmanJohnson continues to act as Secretary.148

Tatsächlich war der January Club jedoch noch nicht am Ende. Sowohl im weiteren Verlauf des Jahres 1934 als auch 1935 gab es eine Reihe von Versuchen, den Club auszubauen, neue Mitglieder zu rekrutieren und politische Allianzen mit anderen politischen Gruppierungen zu schmieden. Dabei bemühte man sich, eine zu starke Identifikation mit Mosley oder der BUF zu vermeiden. Ein großes Problem war allerdings der militante Antisemitismus, zu dem die BUF in ihrer Propaganda übergegangen war. In einem Bericht des britischen Geheimdienstes MI5 über ein Treffen des Clubs am 6. November heißt es: The arrangement was that Mosley was to answer questions. […] The second [question, B.D.] dealt with the Jews, the questioner suggesting that Mosley had made a tactical mistake in attacking them. Mosley said that he had not attacked until they attacked him, but he had nothing against the Jews who put Britain first, and Jewry second, etc., etc., etc.149

Der lauter werdende Antisemitismus verweist auch auf eine Strategieänderung der BUF. Mosleys Interesse, vor allem einflußreiche und gesellschaftlich bedeutende Unterstützer zu gewinnen, war im Sommer 1935 nicht mehr sonderlich groß. In den Tagebuchaufzeichnungen des Journalisten Collin Brooks über ein Gespräch mit Mosley im August 1935 wird dies deutlich. Auf den Hinweis Brooks, daß die BUF verstärkt Kleinkriminelle anziehen würde, antwortete Mosley, daß es in der Tat schwierig sei, die Organisation von solchen Leuten freizuhalten, aber daß für eine ‚Strategie der Straße‘, die ihm Mussolini empfohlen hatte, die Disziplin zunehmend verschärft werden müsse. 150 Genau mit dieser ‚Strategie der Straße‘ hatte Mosley viele konservative Sympathisanten verschreckt. Der January Club sollte denn auch nicht mehr vornehm146 Wrench,

Francis Yeats-Brown, S. 225. an Evelyn Wrench, 1. 11. 1934, in: Wrench, Francis Yeats-Brown, S. 184. 148 The Fascist Movement in the United Kingdom, Including Northern Ireland. Report Nr. IV, Developments During October/November 1934. TNA, KV3/59/190. 149 Ebd. 150 Collin Brooks, Tagebucheintrag 20. 8. 1935, in: Crowson (Hrsg.), The Journals of Collin Brooks, S. 122. 147 Yeats-Brown

234   5.  Die politische Praxis am rechten Rand der Konservativen Partei lich Vertreter des Establishments anziehen, sondern verstärkt Allianzen mit anderen rechten Organisationen und Splittergruppen suchen. Bei einem Treffen des Research Directory der BUF wurde am 15. März 1935 diese neue Vorgehensweise festgelegt: „Decided to support extension of the January Club to include other patriotic organisations, provided this does not lead in the direction of economic planning associations under Jewish influence.“151 Nach Forgans Ausscheiden aus der BUF wurde mit dieser Angelegenheit Robert Gordon-Canning beauftragt. Als Director of Contact Directory, der Politik- und Propagandaabteilung der BUF,152 sollte er Luttman-Johnson instruieren. Dieser sollte weithin die Geschäfte des Clubs leiten.153 Als neuer Vorsitzender des Clubs konnte Colonel Norman Thwaites gewonnen werden.154 Der Buren- und Weltkriegsteilnehmer und ehemalige Sekretär von Joseph Pulitzer war als Vorsitzende der Air League und Herausgeber der Zeitschrift Air als Lobbyist bekannt. Politisch war er um eine Internationalisierung der europäischen Rechten bemüht und eröffnete im Juli 1935 in London den Nationalist International Congress, der ein Jahr zuvor von Dr. Hans Keller in Zürich begründet worden war. Bezüglich der Zukunft des January Clubs und der Frage des Vorsitzes schlug Norman Thwaites eine Kooperation mit anderen Organisationen, vor allem aber mit Lymingtons English Mistery vor.155 Erneut wurde das Ziel formuliert, den Club zu erweitern, aber sich gleichzeitig von Mosley und seiner BUF zu distanzieren. In der Diskussion war ein Sammelbecken für unzufriedene Konservative, die aber nicht mit Mosleys BUF identifiziert werden wollten. Durch einen Informanten, der an einem Treffen des Research Directory der BUF am 19. März 1935 teilgenommen hatte, war auch dem britischen Geheimdienst MI5 die neue Zielvorsetzung bekannt: Es ging darum „to form a new Club in conjunction with the members of patriotic organisations, to supersede the January Club“.156 Als Nachfolgeorganisation des January Clubs wurde im Sommer 1935 der Windsor Club gegründet, der seine Geschäfte unter Luttman-Johnsons Führung in London aufnahm. Der Club residierte in 25 Grosvenor Place, einem Haus, das der Duke of Westminster vermietete. Der Windsor Club hatte schnell 170 Mit-

151 TNA,

HO 144/20144/116. HO 144/20145/289. 153 TNA, HO 144/20144/116. 154 Lieutenant-Colonel Norman G. Thwaites wurde am 24. 7. 1872 als Sohn eines Pfarrers geboren. Thwaites ging auf das St. Lawrence College, Kent, und später zur Bildung nach Deutschland. Er nahm am Burenkrieg teil, war Sekretär von Joseph Pulitzer von der New York World, wurde im Ersten Weltkrieg verletzt. Nach dem Krieg war er Sekretär der „Air League“ und Herausgeber von Air, er saß im Selection Committee des Right Book Club. Vgl. dazu: The Times, 11. 7. 1935. Zu Thwaites Leben vgl. Obituary Norman Thwaites, The Times, 27. 1. 1956 und dessen Autobiographie Norman Thwaites, Velvet and Vinegar, London 1932. 155 Norman Thwaites an H. Luttman-Johnson, 3. 2. 1935, Luttman-Johnson Papers, 1, Imperial War Museum, London. 156 TNA, HO 144/20144/102. 152 TNA,

5.2  Politische Clubs in Nähe und Abgrenzung zur British Union of ­Fascists   235

glieder, von denen aber nur 50–60 zu den Veranstaltungen kamen.157 Die politischen Vorstellungen der Mitglieder schätzte der britische Geheimdienst wie folgt ein: „A considerable proportion of the members are not Fascists and some at least are ignorant of any connection with Mosley’s movement.“ 158 Der Windsor Club war keine Frontorganisation der BUF. Organisiert und finanziert wurde er von Luttman-Johnson. Captain Robert Gordon Canning von der BUF kam zu einigen der Treffen, um zu sehen, ob der Club für die BUF nützlich sein könnte (wahrscheinlich vor allem finanziell). Die Mitglieder des Windsor Club waren allerdings generell der Ansicht, daß der Faschismus in Großbritannien gescheitert war.159 An den kurzzeitigen Erfolg des January Club konnte der Windsor Club dennoch nicht anknüpfen. Gerade konservative Politiker betonten in ihren Absageschreiben an Luttman-Johnson ihre grundsätzliche Sympathie mit den politischen Zielen des Clubs, wollten sich aber nicht wieder in die Nähe der BUF begeben. John Rodes etwa erklärte seine Absage mit der Mannigfaltigkeit der politischen Clubs – „admirable though their aims may be“. Es käme darauf an, die Kräfte gegen den politischen Feind zu bündeln – und dafür sei die Konservative Partei immer noch am besten geeignet: „I happen to have been engaged for the past six months in work for the National Government and have become so impressed with paramount necessity of combating Socialism that I can’t help feeling that anything I am or will be able to do shall be done directly for the Conservative or National Organisations.“160 Die eigentliche Problematik des Windsor Club war seine Positionierung zwischen dem konservativen Establishment und den britischen Faschisten. Anhand der folgenden beiden Absagen an eine Mitgliedschaft läßt sich dies gut nachvollziehen. John H. Horne war eingetragenes Mitglied der BUF, aber in seinem Brief an Luttmann-Johnson betonte er, daß er nicht bereit sei, auf das Tragen seiner faschistischen Uniform zu verzichten – wie dies die Statuten des Clubs ausdrücklich verlangten: I notice, however, that the Committee have made a rule barring the wearing of uniform when attending the Club. Whilst I admit there is very little likelihood of my ever visiting the Windsor Club in a Blackshirt Uniform, I must, however, point out that I cannot allow this ruling to go unchallenged. […] I wish it to be made quite clear that under no circumstances will I refrain from wearing a uniform which, to me, is a symbol of my political faith.161

Hinzu kam für Horne noch ein weiterer Grund, nicht in den Windsor Club einzutreten. Er sei davon ausgegangen, daß der Club überparteilich sein sollte, so der britische Faschist. Nun hatte er entdecken müssen, daß nicht nur Vertreter der 157 Report

Nr. VII. Developments from November 1935 to February 1936, 2. 3. 1936, TNA, KV3/59, 214a. 158 Ebd. 159 Ebd. 160 John Rhodes an H. Luttman-Johnson, 14. 8. 1938, Luttman-Johnson Papers, 1, Imperial War Museum, London. 161 John H. Hone an H. Luttman-Johnson, 23. 10. 1935, Luttman-Johnson Papers, 1, Imperial War Museum, London.

236   5.  Die politische Praxis am rechten Rand der Konservativen Partei alten politischen Parteien Mitglieder seien, sondern das Parteiensystem grundsätzlich nicht in Frage gestellt wurde. Aber damit konnte sich Horne nicht abfinden: „As a Fascist, you will understand that it is quite out of the question for me to support or to approve of any man who desires to maintain the existing social democratic system, whether it be called Conservative, Liberal, or Labour.“162 Eine ganz andere und deutlich kürzere Absage erteilte hingegen Lord Russell of Liverpool: „I should have liked to have joined the Windsor Club but as I am still a serving officer I think perhaps it is better that I should not do so and in any case I should never be able to find any time to take part in or attend a debate or discussion.“163 Sein Offiziersstatus und Mangel an Zeit hatten Lord Russel of ­Liverpool ein Jahr zuvor noch nicht daran gehindert, Mitglied des January Clubs zu werden. Doch im Sommer 1935 wollten viele Vertreter des Establishments, trotz ihres grundsätzlichen Interesses für rechte Systemalternativen, nicht mit ­einer Bewegung identifiziert werden, die als gewalttätig, vom Ausland finanziert und somit als ‚unenglisch‘ wahrgenommen wurde. Anhand der Beispiele des January Club und des Windsor Club lassen sich somit zentrale Probleme der politischen Rechten in der Zwischenkriegszeit aufzeigen: Eine einheitliche Vorstellung von einer Zusammenarbeit zwischen Faschisten, neo-toryistischen Intellektuellen und Vertretern des Parteiestablishments gab es nicht, und auch sonst fanden die unterschiedlichen Strömungen der britischen Rechten jenseits der konservativen Partei keinen gemeinsamen Nenner. Anders als die BUF wollten die Neo-Tories die Mittel und Methoden des italienischen Faschismus nicht übernehmen. In der schlichten Imitation eines an sich ausländischen Modells sahen sie gar den Grund für das Scheitern des britischen Faschismus. Charles Petrie schrieb rückblickend: „Mosley failed because of his methods, not because of his ends. His continued flirtation with Hitler and Mussolini caused his movement to be regarded as something not far removed from a foreign conspiracy.“164 Der January Club war insofern eine Frontorganisation der BUF, als mit Robert Forgan einer der Initiatoren Mitglied der britischen Faschisten war und Mosley die Treffen des Clubs als Plattform nutzte. Allerdings lagen der Vorsitz des Clubs, 162 Ebd.

163 Lord

Russel an H. Luttman-Johnson, 24. 9. 1935, Luttman-Johnson Papers, 1, Imperial War Museum, London. 164 Petrie, Chapters of Life, S. 168. In seiner anderen Autobiographie schreibt er: „In retrospect it is difficult to avoid the conclusion that Mosley really failed because of his methods, which were obvious, not of his ends, which were concealed. His continued flirtation with Hitler and Mussolini caused his movement to be regarded as something not far removed from a foreign conspiracy: had he put his followers into blue pullovers instead of black shirts much would have been forgiven him – he has admitted this mistake in his autobiography. Then again there was grave mistrust among the sober-minded regarding the implications of his anti-Semitic policy. It is true that the Jewish problem in those days loomed very large, and it was assuredly not to be solved – any more than is the coloured problem today by ignoring it, but Mosley’s intransigent attitude did him much more harm than good. Finally, when the Second World War came and Fascism was felt to be unpatriotic its fate was sealed.“ Petrie, A Historian Looks at His world, S. 114.

5.2  Politische Clubs in Nähe und Abgrenzung zur British Union of ­Fascists   237

seine Organisation und vor allem die Attraktion prominenter Unterstützer in der Hand der Neo-Tories. Ohne John Squire, Francis Yeats-Brown und Charles Petrie wäre es kaum gelungen, Politiker und Intellektuelle des konservativen Establishments in dieser Zahl für den Club zu interessieren. Squire, Yeats-Brown und Petrie sahen den Club zunächst als eigenständige Organisation, und alle drei distanzierten sich schließlich vom January Club, als Mosleys verstärkte Einflußnahme auf den Club deutlich wurde. Der faschistische Führergedanke war mit dem britischen Prinzip des club government unvereinbar. Mit seinem inoffiziellen Charakter gab der January Club einerseits rechtskonservativen Planspielen Raum. Prominente Politiker wie Lord Lloyd konnten vor einem semi-öffentlichen Publikum programmatische Reden halten und sich für einen autoritären Systemwechsel anbieten, aber dabei auf die Verschwiegenheit der Teilnehmer zählen. Der January Club entsprach damit dem elitären und exklusiven Politikverständnis der NeoTories. Andererseits zeigte er aber der Realisierung einer Allianz mit den britischen Faschisten deutliche Grenzen auf. Mosleys Herrschaftsanspruch und die militaristische Inszenierung seiner Partei als Bewegung mit Uniformen und Aufmärschen war mit den gesellschaftlichen Codes des konservativen Establishments unvereinbar. Das Auftreten der britischen Faschisten in den vornehmen Hotels Londons in ihren schwarzen Uniformen wurde von den konservativen Teilnehmern meist mit ironischen Kommentaren begleitet und ist Ausdruck der sozial-kulturellen Distanz. Nirgendwo zeigen sich diese Distanz und die Verletzung der sozial verankerten Codes so deutlich wie in der Sprache. Konservative Augenzeugen, die an einer Parteiveranstaltung der BUF teilgenommen hatten, berichteten beinahe immer mit einer angewiderten Faszination von den Reden der führenden britischen Faschisten. Deren Imitierung der Redetechniken Mussolinis, Hitlers oder Goebbels’ wurde als ‚tierisch‘, ‚ausländisch‘ und ‚un-englisch‘ wahrgenommen. Es war auch nicht der Antisemitismus an sich, der viele Konservative von der BUF Abstand nehmen ließ, sondern die antisemitischen Haßtiraden, zu denen die Redner der BUF im Verlauf des Jahres 1934 übergegangen waren. In rechtskonservativen Kreisen war es kein Widerspruch, einerseits die Existenz der ‚Judenfrage‘ anzuerkennen, sich aber gleichzeitig angewidert von antisemitischer Hetzrhetorik zu distanzieren. Es war auch nicht Mosleys Kritik am liberalen System des Kapitalismus oder der parlamentarischen Demokratie, die ihn für die Konservativen allianzunfähig machte. Hier gab es durchaus Überschneidungen. Der britische Faschismus ist am rechten Rand der Konservativen Partei nicht an einer tief verwurzelten Überzeugung von der Überlegenheit des demokratischparlamentarischen Systems gescheitert. In weiten Kreisen des konservativen Parteiestablishments gab es nicht nur die programmatische Vorstellung von der Notwendigkeit, sondern auch die pragmatische Vorstellung von der Möglichkeit einer Veränderung entweder im Stile einer ‚Revolution von oben‘ oder zumindest im Sinne einer autoritären Systemkorrektur. Als Partner hierfür kam der organisierte britische Faschismus nach 1934 allerdings nicht mehr in Frage. Und auch dieser wollte sich nicht einfach vom britischen Konservatismus vereinnahmen lassen. In

238   5.  Die politische Praxis am rechten Rand der Konservativen Partei der Fascist Weekly machte ein Kommentator unmißverständlich klar: „Oswald Mosley had no intention of winning elections for the Tory Party. […] We are fighting on both flanks; we will fight the Tories till we smash them and we will fight the Socialists till we smash them as well. Neither Toryism nor Socialism has anything to do with Fascism. We despise them equally.“165

5.2.3  British Movement Der January Club setzte die Frage nach der Möglichkeit eines politischen Austauschs und einer eventuellen Zusammenarbeit rebellischer Tories mit britischen Faschisten auf die Tagesordnung. Gleichzeitig forderte der Erfolg Mosleys ­während seiner ‚honeymoon-Phase‘ mit dem britischen Establishment – vor allem im ersten Halbjahr 1934 – die Neo-Tories programmatisch und organisatorisch heraus. Unmittelbares Ergebnis dieser Entwicklung ist die Formierung einer ­weiteren politischen Organisation am rechten Rand der Konservativen Partei, die British Movement.166 Diese Organisation verstand sich als neue Sammelbewegung unzufriedener Konservativer, die gegen Baldwin rebellierten und sich mehr oder weniger deutlich für eine konservative ‚Revolution von oben‘ aussprachen, gleichzeitig aber vor einer Diktatur der Faschisten oder Sozialisten warnten. Die sympathisierende rechtskonservative Tageszeitung Morning Post faßte am 13. April 1934 die Ziele dieser „New Political Movement“ wie folgt zusammen: „Parliament is losing touch with the people. It is in danger of being replaced by a dictatorship. The Constitution must be strengthened and brought up to date – but on British lines.“167 Der Gründer und das politische Zugpferd der British Movement war der junge konservative Politiker Duncan Sandys. Sandys, der auch Mitglied im January Club war, galt als großes politisches Talent und war innerhalb des konservativen Establishments sehr gut vernetzt, wozu auch seine Heirat mit der Tochter Winston Churchills Diana Spencer-Churchill im Jahre 1935 beitrug. Zuvor war es vor allem Lord Lloyd, der ihn protegierte und ihm – nachdem seine eigene Kampagne gescheitert war – Gelder und Räumlichkeiten für die British Movement zur Verfügung stellte.168 Sandys machte nach dem Krieg eine steile politische Karriere 165 The Black 166 Vgl. hiezu

Shirt Will Test Tory Courage, The Fascist Weekly, 4.–10. 5. 1934. auch Gary Love, The British Movement, Duncan Sandys, and the Politics of Constitutionalism in the 1930s, in: Contemporary British History 23 (2009), S. 543–558. Ansonsten wird die British Movement in der Literatur nicht weiter behandelt, außer sehr kursorisch bei Ronald Butt, The Power of Parliament, London 1967, S. 153 f. 167 New Political Movement. British Spirit and Principles. War on Apathy, Morning Post, 13. 4. 1934. Über die Gründung der British Movement wurde auch in Provinzzeitungen berichtet. Vgl. Jersey Evening Post, 13. 4. 1934 und Yorkshire Herald, 14. 4. 1934. 168 In einem Brief an Lady Houston schrieb Lloyd: „About the offices: I think I did tell you at the time where they were – in St. Stephen’s House: they are being temporarily used by the British Movement, a body of young men that came into being as result of our efforts last winter who are trying to strengthen right wing feeling in the Conservative party and are ­doing quiet but useful work.“ Lord Lloyd an Lady Houston, 25. 6. 1934, The Papers of Lord Lloyd of Dolobran, Churchill Archives Centre, Cambridge, GBR/0014/GLLD 19/2/50.

5.2  Politische Clubs in Nähe und Abgrenzung zur British Union of ­Fascists   239

und war Minister in mehreren konservativen Regierungen. Nachdem er seinen Nachlaß dem Churchill Archive der Cambridge University bereits übergeben hatte, zog er im Jahre 1982 alle Akten zur British Movement (vom September 1933 bis zum Dezember 1934) wieder zurück. Auch wenn die Organisation nur kurz­ lebig und ihr tatsächlicher politischer Einfluß sicher nicht sonderlich groß war, kommt die British Movement sowohl inhaltlich als auch organisatorisch der Umsetzung jenes antidemokratischen Neo-Toryismus, wie er von den konservativen Intellektuellen der Zwischenkriegszeit formuliert wurde, am nächsten. Die Mitgliedschaft in der British Movement war – anders als die beim January Club – ­kostenlos, und die Organisation verstand sich explizit nicht in Konkurrenz zur Konservativen Partei. Die Times schrieb: There is no question of forming a new party; membership of the movement, it is stated, is in no way incompatible with membership of any party or organization. What the organizers seek to achieve is building of organized opinion, pledged to make a vigorous stand in support of British ideals, and capable of making its influence felt throughout the country.169

Eine taktische Zusammenarbeit mit den britischen Faschisten wollte man aber offensichtlich nicht ausschließen. Wie die Tagebücher Petries zeigen, trafen sich Vertreter der British Movement wie Murray Lawes und Charles Petrie mit Gefolgsleuten Mosleys wie Sir George Duckworth-King: „The Fascists clearly want to co-operate with the British Movement, but it is not going to be too easy.“170 Petrie spielte bei der Organisation der British Movement eine zentrale Rolle, auch wenn er in der aktiven Gestaltung der Organisation lediglich wenige Monate beteiligt war. In den ersten Monaten arbeitete er beinahe täglich im Hauptquartier der British Movement. Dabei ging es zum einem um organisatorische Details und Kontaktarbeit: „There are a thousand and one details to be settled.“171 Ebenso wichtig war allerdings die programmatische und inhaltliche Arbeit, für die ­Petrie hauptsächlich verantwortlich war. Seine wohl radikalste politische Schrift The British Problem schrieb er während der Gründungsphase der Organisation, und es war sein Ziel das Buch zur ‚Bibel‘ der British Movement zu machen.172 In einem fünfseitigen Memorandum, das Charles Petrie Luttmann-Johnson unter dem Gebot der Geheimhaltung am 22. März 1934 geschickt hatte, sind die wichtigsten Punkte der British Movement festgehalten. „Party labels have lost all meaning“, heißt es dort. Deswegen bedürfe es einer neuen Einheit der Nation. „Mutual respect, comradeship and understanding between all sections of our people is essential to healthy national life.“ Die Verfassung wurde als nicht mehr zeitgemäß angesehen: „Vote catching is bringing democracy into disrepute“. Sie müsse daher gestärkt und aktualisiert werden. Allerdings wollte man eventuellen Vorwürfen, man plane die Übernahme eines ausländischen Systems, vorbeugen: „Reform must be effected in accordance with British traditions, and not by the 169 Revival

of the British Spirit. New Movement Aims, The Times, 13. 4. 1934. Charles Petrie, 2. 4. 1934. 171 Tagebücher, Charles Petrie, 4. 4. 1934. 172 Tagebücher, Charles Petrie, 6. 4. 1934. 170 Tagebücher,

240   5.  Die politische Praxis am rechten Rand der Konservativen Partei importation of ready made foreign institutions.“173 Wie eine solche Reform aussehen sollte, blieb aber unklar. Nur am Rande wurden in dem Dokument die Stärkung des House of Lords, die Übertragung einiger Aufgaben des Parlaments an eine nicht weiter definierte Stelle, wirtschaftlicher Protektionismus, nationale Planwirtschaft und eine Stärkung der britischen Landwirtschaft gefordert.174 Ähnlich versteckt formulierte Duncan Sandys die Ziele der Gruppe in einem Artikel für die National Review. Dieser erschien zusammen mit einem Artikel von John Green von der English Mistery unter dem Titel „Youth Speaks Out“.175 ­Sandys Artikel war zunächst recht vorsichtig formuliert. Er lobte die Erfolge des National Government, betonte, daß die schwerste Krise vorüber sei, diese aber neue Bedingungen in der Welt geschaffen habe, denen man sich anzupassen hätte. Um so mehr sei der politische Mut gefordert, etwas Neues zu wagen. Nach diesen politischen Allgemeinplätzen konkretisierte Sandys schließlich doch noch, um was es ihm ging: If Conservatism could be stripped of its class characteristics as property owners’ defence league, its long tradition of imperialism and national service could be a real force in the country. If Socialism, in its turn, be disassociated from the idea of class warfare, the country could, in a new era of national planning, accept with advantage the Socialist conception of the authority of the State. What the country is, in fact, looking for is a British form in which to give expression to the new political force of this generation. The spirit is already here in Britain, seeking an outlet ­under different guises.176

Für seine neue nationale Bewegung wollte Sandys vom Konservatismus den ­Imperialismus und das ‚Dienen‘ an der Nation und vom Sozialismus ‚nationale ­Planung‘ und die Autorität des Staates übernehmen. Daß es sich hierbei um einen alle Klassengrenzen überwindenden ‚nationalen Sozialismus‘ handeln solle, geht auch daraus hervor, wer laut Sandys die Adressaten der British Movement waren: Konservative, die das Interesse der Nation vor das der Partei stellten; ­Sozialisten, die Arbeiterinteressen als deckungsgleich mit nationalen Interessen interpretierten; und Desillusionierte, die sich an die radikalen Parteien gewandt hatten.177 An den Planung und der Organisation der British Movement waren neben Sandys und Petrie vor allem Eric Long, Murray Lawes, Home Gordon und Guy Kindersley178 beteiligt. Douglas Jerrold war laut Petrie über die positive Resonanz

173 Draft

of a Policy Document for a Proposed Political Movement, Sir Charles Petrie an Luttman-Johnson, 22. 3. 1934, Luttman-Johnson Papers, 6, Imperial War Museum, London. 174 Ebd. 175 Youth Speaks Out, National Review 103 (August 1934), S. 215. 176 Duncan Sandys, The British Movement, in: The National Review 103 (August 1934), S. 215– 219, hier 218. 177 Ebd., S. 219. 178 „The rest of the day I spent at the British Movement, and I dined at the club with Murray Lawes, Eric Long, Home Gordon, and Guy Kindersley. Sandys like Jerrold, spends his time in putting obstacles in people’s way, but I have too much experience to worry about anything.“ Tagebücher Charles Petrie, 5. 4. 1934.

5.2  Politische Clubs in Nähe und Abgrenzung zur British Union of ­Fascists   241

der Organisation in der Presse ein wenig eifersüchtig.179 Sein insgesamt wohlwollender Kommentar in der English Review ist entsprechend nicht frei von Kritik: We welcome the British Movement, because it reflects the wide anxiety of the majority of Conservatives as to the direction in which they are being led. We should welcome it more warmly, however, if it entered the political lists with a few clearly-defined principles. […] We note that our distinguished contributor, Sir Charles Petrie, is one of the founders of the movement. If he can induce his colleagues to work on the same rigid application of just principles at home that he himself recommends in regard to our foreign policy in the current number of this Review, the British Movement will grow and prosper.180

Tatsächlich ‚wuchs und gedieh‘ die British Movement jedoch nur in bescheidenem Maße. In der Anfangsphase im April 1934 freute sich Petrie noch über die zahlreich eintreffenden Mitgliedschaftsanträge.181 Schon Anfang Mai machte er sich jedoch Sorgen, ob die British Movement nicht zu spät gegründet worden war. Es schien so, als läge die Opposition von rechts gegen die Konservative Partei bei Mosley. Petrie notierte in sein Tagebuch: „Worked at my Spanish book all morning, and then lunched at the club with Eric Long. I don’t share all his ideas re Mosley, but I am beginning to wonder if The British Movement is not too late. […] After that we had a further consultation at The British Movement. We are still under the 2,000 mark.“182 Weniger später äußerte sich Petrie drastischer. Am 11. Mai 1934 hatte er ein „Council meeting of The British Movement, of which, to tell the truth, I am getting heartily sick.“183 Die Schwierigkeiten für die British Movement waren offenbar zu groß. Im Frühling zogen Oswald Mosley und der January Club die Aufmerksamkeit auf sich. Die britischen Faschisten erlebten eine Hochphase der gesellschaftlichen Akzeptanz. Es schien zunehmend unwahrscheinlich, daß die British Movement bei der von den Neo-Tories angestrebten politischen Veränderungen eine Rolle spielen sollte. Petrie schrieb in sein Tagebuch: „Lunched at the club with Eric Long, who is also very doubtful about the British Movement. The truth is that the whole political situation is at melting point.“184 Petrie distanzierte sich in der Folge immer mehr von der British Movement und trat unter einem Vorwand am 3. Juni 1934 aus dem council der Organisation zurück.185

179 „Lunched

at the club with Jerrold and Kenneth Pickthorn. The former was rather subdued as the British Movement has been very well received in the Times and the Morning Post. After lunch I went across to the office with Eric Long, but there was a lull between the storms.“ Tagebücher Charles Petrie, 13. 4. 1934. 180 Douglas Jerrold, Current Comments, in: English Review 58 (Mai 1934), S. 519–528, hier 525. 181 „Then I went to the British Movement, where I find the enrolments are coming in quite well.“ Tagebücher Charles Petrie, 19. 4. 1934. 182 Tagebücher Charles Petrie, 8. 5. 1934. 183 Tagebücher Charles Petrie, 11. 5. 1934. 184 Tagebücher Charles Petrie, 25. 5. 1934. 185 „This morning I wrote to Gosling resigning from the Council of the British Movement on the ground of my new wok in connection with the film institute.“ Tagebücher Charles ­Petrie, 3. 6. 1934.

242   5.  Die politische Praxis am rechten Rand der Konservativen Partei Für zeitgenössische Beobachter war die British Movement ein interessanter Fall einer weiteren Opposition gegen die Konservative Partei von rechts. Quentin Hogg,186 der in den siebziger Jahren als Lord Hailsham of St Marylebone Kabinettsmitglied und Lordsiegelbewahrer werden sollte, empfand die Situation, in der sich die Konservative Partei 1934 befand, hochexplosiv. „The present situation within the Conservative Party is interesting. For the first time for many years ­effective political bodies have appeared outside the Conservative Party and to the right of it, and the influence of these bodies within the party itself has not been small.“187 Hogg identifizierte drei Gruppen von Rechtsopposition. Zum einen die diehards, also den imperialen Flügel um die Pressebarone und die „Empire ­crusaders“, zum zweiten Mosley und seine britischen Faschisten und schließlich die British Movement: „The other extra-Conservative Right-Wing body“. Unter ihrem fähigen und jungen Vorsitzenden Duncan Sandys sagte Hogg der Gruppe eine große Zukunft voraus:188 „Conservatives are now becoming afraid, for the first time ­since the war, of losing their Right-Wing supporters.“189 Duncan ­Sandys sah hingegen bald eine bessere Chance als die British Movement für seine politischen Ambitionen. Nachdem er 1935 Diana Spencer-Churchill geheiratet hatte, schloß er sich seinem Schwiegervater Winston Churchill an und gehörte zu dessen Gruppe der anti-appeasers, die sich in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre immer deutlicher gegen die Außenpolitik der britischen Regierung positionierte. Die British Movement war ein Fehlschlag. Von Anfang an hatte die Organisa­ tion finanzielle Schwierigkeiten. Nur einige wenige konservative Abgeordnete schlossen sich ihr an, und Ende 1934 hörte die British Movement auf zu existieren. Zu der Bedeutung der Gruppe hat sich zuletzt der britische Historiker Gary Love geäußert. Love porträtiert die British Movement als eine zwar rechtskonservative, aber schließlich doch der Konservativen Partei treuen Gruppe. Er versteht seine Ergebnisse „as a servere warning to scholars who exaggerate the importance of the relationship between members of the Conservative Party and British fascism.“190 Wie für andere britische Historiker vor ihm gibt es für Love lediglich die Alternativen Faschismus oder Konservatismus. Love bietet weder eine ideengeschichtliche Verortung noch eine Kontextualisierung der British Movement innerhalb der vielen rechtskonservativen Netzwerke. Er konzentriert sich ganz auf den Karrierepolitiker Duncan Sandys und vernachlässigt die organisatorische und programmatische Arbeit Charles Petries und anderer Neo-Tories. Nur durch diese isolierte Betrachtungsweise kann Love zu der fragwürdigen Schlußfolgerung 186 Hogg

wurde von Petrie für den January Club vorgeschlagen, denn dieser sei „the brightest of the Conservative ‚jeunes‘“. Sir Charles Petrie an Luttman-Johnson, 28. 6. 1934, LuttmanJohnson Papers, 1, Imperial War Museum, London. 187 Quintin Hogg, National or Conservative, in: The Nineteenth Century and After 116 (Juli 1934), S. 29–38, hier 29. 188 Ebd., S. 31. 189 Ebd. 190 Love, The British Movement, S. 544.

5.3  Friends of Nationalist Spain   243

kommen, daß es sich bei der British Movement um eine ‚demokratische‘ und ‚verfassungstreue‘ Gruppe handelte. Doch die British Movement ist – wie oben gezeigt – nicht aus dem Nichts entstanden, sondern war sowohl ideengeschichtlich, als auch hinsichtlich der sie tragenden Personen ein Produkt der Neo-Tories; sie war weder der erste noch der letzte Versuch, dem Neo-Toryismus eine organisatorische Form zu geben.

5.3  Friends of Nationalist Spain – Erfolge und Miss­ erfolge einer rechtsintellektuellen Pressure-Group 5.3.1  Die Bedeutung Spaniens für die Neo-Tories Wie kaum ein Krieg zuvor hatte der Ausbruch des spanischen Bürgerkriegs im Juli 1936 die Intellektuellen Europas und Amerikas zu leidenschaftlichen Parteinahmen veranlaßt. Über den Krieg zu schreiben war vielen bald nicht mehr genug, und sie zogen als aktive Kämpfer, meist auf der republikanischen Seite in der Internationalen Brigade, in den Bürgerkrieg. Einer der berühmtesten unter ihnen war der englische Schriftsteller George Orwell, dessen präzise Beobachtungen hier erneut ein Kapitel einleiten sollen. In seinen Erinnerungen Looking Back on the Spanish War spart er allerdings keineswegs mit Kritik an der romantischen Verklärung des Krieges durch einen großen Teil der britischen Intelligenzija. Jene Intellektuelle, die wenige Jahre zuvor in der Folge von Remarques Im Westen nichts Neues dem Krieg grundsätzlich jede Berechtigung abgesprochen und dabei vor allem den Horror und den Ekel beschrieben hatten, hätten nun die romantische Seite des Krieges entdeckt. If there was one thing the British intelligentsia were committed to, it was the debunking version of war, the theory that war is all corpses and latrines and never leads to any good result. Well, the same people who in 1933 sniggered pityingly if you said that in certain circumstances you would fight for your country, in 1937 were denouncing you as a Trotsky-Fascist if you suggested that the stories in New Masses about freshly wounded men clamouring to get back into the fighting might be exaggerated. And the Left intelligentsia made their swing-over from ‚War is hell‘ to ‚War is glorious‘ not only with no sense of incongruity but almost without any intervening stage.191

Tatsächlich lag, wie wenige Jahre zuvor in der Debatte um die literarische Dar­ stellung des Ersten Weltkriegs, auch jetzt die Deutungshoheit innerhalb der bri­ tischen Intelligenz bei der politischen Linken. Als Intellektueller konnte man ­offensichtlich dem spanischen Bürgerkrieg nicht gleichgültig gegenüberstehen. Zu bedeutend war die ideologische Dimension dieses ‚Weltbürgerkriegs‘ auch für britische Autoren, und für die meisten bedeutete dies eine Parteinahme für die republikanische Seite. „Are you for, or against, the legal Government and the ­people of Republican Spain? Are you for or against, Franco and Fascism?“ lautete 191 George

Orwell, Homage to Catalonia and Looking Back on the Spanish War, Harmondsworth 1984, S. 227.

244   5.  Die politische Praxis am rechten Rand der Konservativen Partei die Frage in einer von Nancy Cunard im Juni 1937 gestarteten Umfrageaktion. Die Ergebnisse erschienen als eigene Publikation mit dem Titel Authors Take Sides on the Spanish Civil War. Von den 148 befragten Schriftstellern waren 127 für die Republik, 17 neutral und nur fünf gegen die Republik.192 Während etwa Samuel Beckett mit einem ebenso schlichten wie eindeutigen „!Up the Republic!“ Stellung bezog, gab sich T.S. Eliot neutral: „While I am naturally sympathetic, I still feel convinced that it is the best that at least a few man of letters should remain isolated, and take no part in these collective activities.“ Ezra Pound formulierte seine Kritik an der Parteinahme der britischen Intellektuellen weniger höflich: „Questionnaire[s] [are] an escape mechanism for young fools who are too cowardly to think; too lazy to investigate the nature of money, its mode of issue, the control of such issue by the Banque de France and the Bank of England. […] Spain is an emotional luxury to a gang of sap-headed dilettantes.“ Der englische Schriftsteller Evelyn Waugh schrieb: „If I were a Spaniard I should be fighting for General Franco. As an Englishman I am not in the predicament of choosing ­between two evils. I am not a Fascist nor shall I become one unless it were the only alternative to Marxism. It is mischievous to suggest that such a choice is imminent.“193 Während Pound, Eliot und Evelyn Waugh zwar Franco nahestanden, aber die intellektuelle Distanz des Dichters zur Politik wahrten, hatten die Neo-Tories keinerlei Berührungsängste mit der nationalistischen Sache. Schon vor dem Bürgerkrieg hatten sie gegen die Republik und gegen das soziale und wirtschaftliche Chaos, das aus ihrer Sicht unweigerlich mit der Abschaffung der Monarchie verbunden war, angeschrieben. Nach Ausbruch des Bürgerkriegs ergriffen sie leidenschaftlich Francos Seite und spielten eine entscheidende Rolle in der pro-nationalistischen Propaganda außerhalb Spaniens. Der spanische Bürgerkrieg hatte nicht nur wegen der Auseinandersetzung zwischen Reds und Nationalists eine so große Bedeutung für die Neo-Tories. Für Jerrold, Petrie, Lunn, Fuller, Yeats-Brown, Luttman-Johnson u. a. entschied sich in dem Krieg ganz grundsätzlich, ob eine konservative Reaktion gegen die politische Moderne möglich war. Spanien war zunächst die große Ausnahme in dem von ihnen beschriebenen, anscheinend naturgesetzhaften Niedergang der demokratischen Regierungsweise. Als schließlich 1936 der Bürgerkrieg ausbrach, unterstützten die Neo-Tories die nationalistische Seite mit Verve. Ein Grund dafür war ihr flammender Antikommunismus. Jerrold schrieb 1937: „The apostles of militant Communism meant to establish control of the West as of the East, and if they succeeded before we were awake, that was the end.“194 Anders als im Fall Italiens und Deutschlands waren die Sympathien der NeoTories viel eindeutiger, da man sich nicht notwendigerweise auf die Seite einer 192 „Authors

Take Sides on the Spanish Civil War“. A Left Review Pamphlet, London 1937; vgl. Hugh D. Ford, A Poet’s War. British Poets and the Spanish Civil War, London 1965, S. 88 f. 193 „Authors Take Sides on the Spanish Civil War“. 194 Jerrold, Georgian Adventure, S. 364.

5.3  Friends of Nationalist Spain   245

faschistisch-revolutionären Bewegung zu stellen hatte, sondern Francos Rebellion als die Wiederherstellung der ‚natürlichen‘ Ordnung der Monarchie und der Kirche interpretieren konnte. Gewissermaßen war der spanische Bürgerkrieg für die Neo-Tories die konservative Revolution im Ernstfall: die Reaktion gegen die politische Moderne zur Wiederherstellung der autoritären, statischen Ordnung mit modernen Mitteln. Tatsächlich war die Ideologie der ursprünglichen Falange in vielerlei Hinsicht weniger faschistisch als von einem ultra-konservativen, kulturellen und religiösen Traditionalismus geprägt. Der Bürgerkrieg ging auf nationalistischer Seite mit ­einem neotraditionalistischen Revival einher.195 Vor allem – aber keineswegs ­ausschließlich – die katholischen Neo-Tories identifizierten sich daher mit La Cruzada, wie der Kriegseinsatz auf nationalistischer Seite genannt wurde. Vielfach war es die Sehnsucht nach einer vor-modernen, prä-industriellen, prä-urbanen Zeit, in der die Klarheit und Ordnung der Autoritäten das Leben regelten, die die Neo-Tories veranlaßte, sich ‚instinktiv‘ hinter Franco zu stellen. Franco-Anhänger konnten somit durchaus von der ‚romantischen‘ Seite des Bürgerkriegs berührt werden. Vor diesem Hintergrund spricht es Bände, wenn Douglas Jerrold sich bei seiner Reise in den nationalistischen Teil Spaniens, die er zusammen mit Fuller und Yeats-Brown im März 1937 machte, an einen natürlichen und unschuldigen Urzustand erinnert fühlte: For this was England again, the England of my youth. In all the open spaces men were drilling – boys and fathers of families and the inevitable drill instructors, and young officers who needed drilling as badly as their own men. And in the lines before Madrid the same memories came to life. The same humour, the same courage, the same queer, heroic and untidy characters […] Surely this must be the Hawke Battalion? [Jerrolds Einheit im Ersten Weltkrieg, B.D.]196

Während der Internationalismus für die politische Linke zum ideologischen Kernbestand gehörte, ist die Tatsache, daß britische Intellektuelle für die spanischen Nationalisten propagandistisch vehement tätig waren und politische und logistische Unterstützung organisierten, bemerkenswert. Schon zuvor gab es Kontakte und Vernetzungen innerhalb der politischen Rechten Europas, aber der spanische Bürgerkrieg stellte einen neuen Höhepunkt der Internationalisierung der europäischen Rechten dar, und Großbritannien spielte hier eine wichtige Rolle. In der Tat wurde dank der britischen Neo-Tories und ihrer Verbindungen zu spanisch-nationalistischen Kreisen London zum Zentrum der pro-nationalistischen Propaganda außerhalb Spaniens und der Achsenmächte. Allerdings befanden sich die Unterstützer Francos innerhalb der britischen Gesellschaft in einer Minderheit. Der Favorisierung der Republik bei den linken und liberalen britischen Intellektuellen entsprach einer generellen Unterstützung der republikanischen Seite durch die britische Öffentlichkeit. Das British Institute of Public Opinion ermittelte im Januar 1937, in einer der frühesten politischen Um195 Stanley

G. Payne, Franco and Hitler. Spain, Germany and World War II, New Haven 2008, S. 13 f. 196 Jerrold, Georgian Adventure, S. 378.

246   5.  Die politische Praxis am rechten Rand der Konservativen Partei fragen überhaupt, daß 86% der Briten die demokratisch gewählte Regierung der Zweiten Spanischen Republik als die legitime Regierung Spaniens ansahen, während sich lediglich 14% für General Franco aussprachen. Dabei unterstützte eine große Mehrheit der Bevölkerung die Nichtinterventionspolitik der britischen ­Regierung.197 Innerhalb der Presse orientierte sich die Meinung entlang der po­ litischen Ausrichtung der Zeitungen. Während die Times streng die Regierungs­ haltung wiedergab, unterstützen die konservativen Zeitungen Morning Post, Daily Mail, Daily Sketch, Observer und abgeschwächt der Daily Telegraph die nationalistische Seite. Rückhalt bekam Franco auch durch katholische Blätter wie Tablet und The Universe.198 Die Labour nahestehenden Zeitungen Daily Express und Daily Mirror hatten hingegen republikanische Sympathien, sprachen sich jedoch nicht direkt für eine Interventionspolitik aus. Deutlichere Kritik an der Haltung der Regierung kam hingegen von den liberalen Blättern Manchester Guardian, News Chronicle und Reynolds News, die eine Unterstützung der republikanischen Seite forderten.199 Schon vor dem eigentlichen Ausbruch des Bürgerkriegs spielte die politische ­Situation Spaniens in den Publikationen der Neo-Tories eine große Rolle. 1933 erschien eine unumwunden negative Bestandsaufnahme der Republik mit dem ironischen Titel A Survey of two Years of Progess. Hinter dem Autor „Anonymous“ des bei Eyre and Spottiswoode erschienenen Pamphlets standen die drei zentralen Figuren der britisch-spanischen Unterstützung für Franco: der Großbritannien-Korrespondent der monarchistischen Zeitung ABC, Luis Bolín,200 der Marquis del Moral201

197 Tom

Buchanan, Britain and the Spanish Civil War, Cambridge 1997, S. 23. Vgl. dazu auch ders., „A Far Away Country of Which We Know Nothing“? Perceptions of Spain and its Civil War in Britain, 1931–1939, in: Twentieth Century British History 4 (1993), S. 1–24; Jill Edwards, The British Government and the Spanish Civil War 1936–1939, London 1979; Kenneth W. Watkins, Britain Divided. The Effect of the Spanish Civil War on British Public Opinion, London 1963; David Deacon, British News Media and the Spanish Civil War. Tomorrow May Be Too Late, Edinburgh 2008. 198 Kevin L. Morris, Fascism and British Catholic Writers 1924–1939: Part 1, in: New Black­ friars 80 (1999), S. 32–45; ders., Fascism and British Catholic Writers 1924–1939: Part 2, in: New Blackfriars 80 (1999), S. 82–95; Corrin, Catholic Intellectuals and the Challenge of ­Democracy; James Flint, Must God Go Fascist? English Catholic Opinion and the Spanish Civil War, in: Church History 56 (1987), S. 364–374; Thomas R. Greene, The English Catholic Press and the Second Spanish Republic, 1931–1936, in: Church History 45 (1976), S. 70– 84. 199 Buchanan, Britain and the Spanish Civil War, S. 25. 200 Luis Bolín (1897–1969) war zunächst Presse-Attaché an der spanischen Botschaft in London, schrieb dann für ABC und wurde 1936 Francos Presse-Direktor. 1938 wurde er zum Chef des Spanish State Tourist Departement ernannt und organisiert Reisen in das nationalistische Spanien. Vgl. Obituary Luis Bolín, The Times, 6. 9. 1969. 201 Frederick Ramón Bertodano y Wilson, der Marquis del Moral (1871–1955) war in Australien geboren, besaß sowohl den spanischen als auch den britischen Paß und kämpfte drei mal für das britische Empire. Vgl. Obituary Marquis del Moral, The Times, 28. 2. 1955. Nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs hatte Moral zeitweilig als Informant des Foreign Office gearbeitet. Vgl. TNA, FO 371/24526.

5.3  Friends of Nationalist Spain   247

und Douglas Jerrold.202 Alle drei Männer sind den Neo-Tories zuzuordnen und waren Gründungsmitglieder des English Review-Club.203 In ihrer Schrift zeichnen die Autoren zunächst ein äußerst positives Bild der Zeit vor der Republik. König Alfonso habe aller politischen Probleme zum Trotz Spanien eine ungewohnte und außerordentlich erfolgreiche Phase der Prosperität gebracht, und „General Primo de Rivera’s mild and constructive Dictatorship consolidated this work.“204 Mit der Republik sei dann aber das politische und wirtschaftliche Chaos gekommen, und schon jetzt zeige sich, daß die Mehrheit der Spanier sich von der „republican bubble“205 abgewandt habe. Während die Arbeiterklasse von den Versprechungen der Regierung enttäuscht sei, würde sich auch die Mittelschichten von der Republik abwenden, weil die Steuern so hoch wie noch nie seien. Der endgültige Beweis für den Fehlschlag der Republik sei die Tatsache, daß Regierungsmitglieder nicht ohne Personenschutz in die Öffentlichkeit treten könnten, während sich Primo de Rivera frei in der Öffentlichkeit bewege.206 Zusammenfassend heißt es: „Spain to-day is in a state of political, economic and social confusion, which is the direct outcome of two years of anarchy and confusion.“207 Als Ausweg aus dieser allgemeinen Misere waren den Verfassern der Schrift allgemeine Wahlen als erster Schritt durchaus willkommen, denn sie prognostizierten einen Triumph der extremen Rechten. Die Autoren des Pamphlets favorisierten dabei sowohl Gil Robles, „the brilliant young leader of Accion Popular, an organisation with a million active members in all parts of the country and with ample resources and capacity“, aber auch den Führer der monarchistischen Renovación Espanola, Antonio Goicoechea.208 Insbesondere die Verbindungen zu den spanischen Royalisten wurden von den britischen Neo-Tories intensiv gepflegt. Als Verbindungsmann trat dabei Bolín auf, durch den ein direkter Kontakt zum 202 Ebenfalls

entscheidend beteiligt an den Planungen und am Inhalt des Pamphlets war Charles Petrie. Vgl. Tagebücher Charles Petrie, 14. 3. 1933: „In the evening I dined with Moral at his house with Jerrold and Bolín. We settled the details about the publication of the pamphlet on Spain, and also decided the line to be taken with the King.“ 203 Vgl. den Tagebucheintrag Charles Petries vom 12. 10. 1932: „The first lunch of the English Review Luncheon Club was a great success in everybody’s opinion […]. The audience was excellent, alike in quantity and quality[…]. The top table consisted of Lloyd, the Maharajah of Burdwan, Denbigh, Winterton, Sir Alfred Knox, Marquis of Moral, Bolín, Jerrold, and myself in the chair.“ 204 Anonymous, A Survey of Two Years of Progress, London 1933, S. 3. Vgl. zur positiven Beurteilung Primo de Riveras auch einen Aufsatz Charles Petries von 1926, in der die „sanfte Diktatur“ gelobt wird. „From the Pyrenees to the Straits of Gibraltar, and from Cadiz to Barcelona, there is a new spirit abroad in Spain. The old pessimism and indifference are ­giving way before the energy of the Directory, and, after twenty years of searching, King ­Alfonso has at last found a Government that is in sympathy with his ideals.“ Charles Petrie, General Primo de Rivera. A Study, in: Empire Review 43 (Februar 1926), S. 150–157, hier 157. 205 Anonymous, A Survey of Two Years of Progress, S. 129. 206 Ebd., S. 130. 207 Ebd., S. 136. 208 Ebd., S. 140.

248   5.  Die politische Praxis am rechten Rand der Konservativen Partei spanischen König möglich war. Jerrold hatte König Alfonso bereits im März 1931 getroffen und war von seiner Person und seinen politischen Ansichten begeistert.209 Die spanische Seite nutzte ihre britischen Kontakte ganz gezielt für die Öffentlichkeitsarbeit und um die britische Presse zu beeinflussen.210 Jerrold, Petrie und Yeats-Brown machten sich schon Jahre vor dem Bürgerkrieg mit Begeisterung die Sache der spanischen Rechten zu eigen. In seinen Tagebüchern beschrieb Charles Petrie ein Treffen mit Bolín im November 1933 „Bolín came round to see me after tea as he is just back from Paris, where he saw the King of Spain and the leading Royalists. His view, which is mine, is that Azana211 is sawing off the branch on which he is sitting, and Unamuno’s212 criticism will do the Republic infinite harm.“ Dies bedeute, daß man sich auf einen coup d’état vorbereiten müsse. Dem Royalisten Petrie schien zu einer Wiederherstellung der Monarchie jedes Mittel recht: „What is important is that the reaction should at once result in the restoration of the monarchy. We are going to get a small group going here to be ready for any emergency. What is significant is that the republican representatives abroad are letting it be known that they are monarchists at heart.“213 Petries glühende Unterstützung der Monarchie machte vor Staatsgrenzen keinen Halt. Sein politisches Ziel war eine Restauration der Monarchie überall dort in Europa, wo sie von anderen Staatsformen abgelöst worden war, und die Wiederherstellung ihrer Macht und Bedeutung überall dort, wo sie durch Parlamentarismus und Massendemokratie auf eine Repräsentationsfunktion reduziert worden war.214 Ein realistisches Betätigungsfeld für das royalistische ‚Revival‘ war Spanien. Petrie war intensiv an den Planungen der spanischen Rechten und insbesondere der Royalisten beteiligt, und zusammen mit Moral und Bolín wurden die außerspanischen Aktivitäten koordiniert. In seinem Tagebucheintrag vom 12. Dezember 1932 heißt es über ein gemeinsames Dinner in Morals Haus: „Moral, Bolín, and I had a serious talk, and we decided to go ahead on the lines I had suggested. The two first steps are to find out the King’s own views, and to see how far Carmona215 and Salazar216 will co-operate, because they will have to face the fact that a restoration in Madrid will mean one in Lisbon.“217 Offensichtlich gelang es, den spanischen König von diesem Vorschlag zu überzeugen. Einen Monat 209 Jerrold,

Georgian Adventure, S. 355. z. B. den Tagebucheintrag Charles Petries vom 8. 1. 1932: „The King of Spain’s manifestoes arrived last night, so I took them along to the Daily Telegraph to-day. I saw Lakin, and also the editor, A.E. Watson, both of whom seemed very glad to have them.“ 211 Maunel Azana y Diaz (1880–1940), spanischer Ministerpräsident und letzter Präsident der Zweiten Spanischen Republik. 212 Miguel de Unamuno (1864–1936), spanischer Philosoph und Schriftsteller. 213 Tagebücher Charles Petrie, 3. 11. 1932. 214 Vgl. Kapitel 4.3.3. 215 Antonio Oscar de Fragosa Carmona (1869–1951), portugiesischer General und Präsident Portugals von 1926–1951. 216 Antonio de Oliveira Salazar (1889–1970), Ministerpräsident und Diktator von Portugal. 217 Tagebücher Charles Petrie, 12. 12. 1932. 210 Vgl.

5.3  Friends of Nationalist Spain   249

später schrieb Petrie: „I dined with Moral at his house to talk over our Spanish projects, and Bolín and Raikes [der konservative Abgeordnete Victor Raikes, B.D.] were there too, also two of Moral’s daughters. We decided to press for the formation of a committee in Paris, now that we have got the King’s approval of our plan.“218 Im Verlauf der Jahre 1933–1936 trafen sich Petrie, Bolín, Moral, Jerrold, Victor Raikes, Ian Colvin219 und vereinzelt andere Mitgliedern der English Review-Gruppe in regelmäßigen Abständen. Sie waren über die politischen und taktischen Planungen der spanischen Rechten bestens informiert und teilweise beteiligt.220 Ein Tagebucheintrag Charles Petries vom April 1933 zeigt, wie der Marquis del Moral an der Planung für eine gemeinsame rechte Front für eine Konterrevolution in Spanien beteiligt war: To-night I dined with Moral to hear his account of his visit to Spain, where he succeeded beyond our wildest expectations. He has persuaded Gil Robles, Goicoechea, and the tradicionalistas to work together for the overthrow of the republic, and he has brought back with him a signed document to his effect. He saw King Alfonso in Paris, and told him plainly that if he attempted to play the politicians off against one another now he was lost for ever, while if he did what he was told the monarchy would be restored before long. Jerrold, Bolín, and I are delighted. Moral is very impressed with Gil Robles and with his organisation, the Accion Popular. It is organised on Fascist lines and has over 750 000 paying members.221

Obwohl es zu einem solchen Putsch zunächst nicht gekommen war und bei den Neuwahlen zum Parlament im November 1933 ein Bündnis aus reaktionärer, konservativer und liberaler Partei entstanden war, setzten die Neo-Tories ihre Kampagne gegen die ‚gottlosen‘ Republikaner fort. Dabei standen sie in regem Austausch mit ihren hervorragenden Kontakten in Spanien. Neben Bolín und Moral gehörte dazu der König selbst und namhafte Vertreter der verschiedenen rechten Gruppierungen Spaniens wie Ramiro de Maeztu, Antonio Goicocchea, José Calvo Sotelo, und der Marqués Merry del Val.222 Eine wichtige Verbindungsrolle „spielte der Duke of Alba.223 Alba wurde im Januar 1929 in dem die Diktatur Primo de Rivera ablösenden Kabinett des Generals Berenguer Unterrichtsminister und Ende März 1930 Außenminister und behielt diesen Posten bis zum Rücktritt des Gesamtministeriums im Februar 1931. Nach der Anerkennung 218 Tagebücher

Charles Petrie, 21. 1. 1933. Duncan Colvin (1877–1938), Journalist für die konservative Morning Post. Über Colvin schreibt Petrie: „I saw a good deal of Colvin when we were colleagues on the Spanish Committee. He had the bitterest pen, but the kindest heart in Fleet Street.“ Petrie, Chapters of Life, S. 125. An anderer Stelle vergleicht er ihn mit Léon Daudet von der Action Française. Ebd., S. 189. 220 Ebd., S. 100. 221 Tagebücher Charles Petrie, 20. 4. 1933. 222 Jerrold, Georgian Adventure, S. 362. 223 Der 1878 in Madrid geborene Jacobo Maria del Pilar, Carlos Manuel Fitz James-Stuart y Falco, 10. Duke of Berwick und 17. Duque de Alba de Tormes gehörte einem der ältesten Adelsgeschlechter Europas an. Der spanische Herzogstitel Alba de Tormes war im Mannesstamm erloschen und hatte sich infolge der Heirat des 3. Duke of Berwick, des Enkels des Königs Jakob II. von England, mit einer Enkelin des letzten de Alba de Tormes 1738 auf die englische Familie Berwick vererbt. 219 Ian

250   5.  Die politische Praxis am rechten Rand der Konservativen Partei Francos durch England wurde Alba von 1939 bis 1945 spanischer Botschafter in London.224 Alba war „an extremely well connected figure“225 im britischen Establishment. Wenn er im Londoner White’s Club auftrat, um seine Hintergrundgespräche zu führen, wurde er von Winston Churchill als ‚Cousin‘ angesprochen.226 Alba war ein enger Freund von Charles Petrie, den dieser in seinen Eighteen Club227 einlud. Petrie wiederum wurde von Alba zum Mitglied der spanischen Real Academia de la Historia gemacht, deren Präsident er war.228 Die britischen Franco-Anhänger hatten durch Alba einen direkten Draht zur Spitze der spanischen Nationalisten und zu Franco selbst. Noch während des Bürgerkriegs und bevor die britische Regierung die Franco-Regierung offiziell anerkannte, war Alba – sehr zum Ärger von oppositionellen Abgeordneten von Labour und den Liberalen – der inoffizielle ‚Botschafter‘ Francos in Großbritannien. In einer sehr emotionalen Debatte im House of Commons am 4. April 1938 war der quasi-diplomatische Status Albas Gegenstand mehrerer Wortmeldungen, die die britische Regierung für diesen verdeckten Zug zu einer schrittweisen Anerkennung des Franco-Regimes scharf kritisierten. Im Laufe der Debatte kam es schließlich zu Handgreiflichkeiten, als der konservative Abgeordnete Robert Bower, den jüdischen, in London geborenen Labour-Abgeordneten Emmanuel Shinwell aufforderte: „Go back to Poland.“229 Der Verdacht der Opposition war durchaus begründet. Bereits am 18. März 1938 hatte das Innenministerium auf Weisung des Außenministers die Metropolitan Police darüber informiert, daß dem Duke of Alba ein quasi-diplomatischer Status zukomme. Stellvertreter Albas in allen großen Städten Großbritannien sollten dieselben Rechte bekommen. Zwar dürfe man den diplomatischen Status formal nicht gewähren, da dies eine De-jure-Anerkennung der Franco-Administration nach sich ziehen würde, doch mit dieser Einschränkung „it may be assumed that the duties of the Spanish gentlemen named in the first paragraph of this letter are analogous to those of members of the Diplomatic Body.“230 Schon in den Jahren zuvor war Alba zu einem zentralen Verbündeten der NeoTories geworden. Mit ihm hatten die Anfang 1937 gegründeten Friends of Natio224 Internationales

Biographisches Archiv 47/1953. for the Blackshirts!“, S. 269. 226 Antoy Beevor, Der Spanische Bürgerkrieg, München 2006, S. 175. 227 Der Eighteen Club wurde 1930 von Petrie für konservative Oxford-Absolventen gegründet. Aufnahmebedingung war lediglich ein Abschluß in Oxford nach dem 11. 11. 1918. Zu den monatlichen Treffen konnten die Mitglieder einen Gast mitbringen. Vgl. hierzu „The Eighteen Club“, Daily Telegraph, 6. 5. 1933; Petrie, Chapters of Life, S. 90 f. 228 Ebd., S. 90, 110. 229 Wie auch die Abgeordneten Ridley, Gallacher, Shinwell und der spätere Premierminister Attlee, kritisierte der Abgeordnete George Strauss, daß der Duke of Alba quasi-diplomatischen Status habe und fragte, „why Parliament was not informed of this further step towards the recognition of General Franco?“ Vgl. House of Commons Debates, 4. 4. 1938, Vol. 334, cc4–7. 230 Duke of Alba. Appointed Agent in London for General Franco’s Administration, 18. 3. 1938, TNA, MEPO 3/730, 225 Pugh, „Hurrah

5.3  Friends of Nationalist Spain   251

nalist Spain ein außerordentlich wichtiges Mitglied. Neben der Etablierung dieses Netzwerks britisch-spanischer Journalisten, Politiker und Diplomaten lag zuvor der Hauptschwerpunkt der Arbeit der britischen Neo-Tories auf der Beeinflussung der öffentlichen Meinung und in der Denunziation der spanischen Republik als chaotisch und gottlos.231 Die Bedeutung dieser Kampagne lag unter anderem darin, konfessionsübergreifend Widerstand gegen die Republik und später Unterstützung für Franco zu organisieren. Bolín selbst betont in seinen Erinnerungen Spain: The Vital Years diesen Punkt: In English-speaking countries Catholics supported the Nationalists because for them the issue was crystal clear, but they were far from being our only supporters in these countries. Dean Inge – the Dean of St Paul’s – appeared on English platforms defending our cause, and Sir Henry Lunn, a prominent methodist, was a member of the Friends of Nationalist Spain Committee, whose chairman, Lord Phillimore, rendered great service to the same cause. So did Douglas Woodruff, the editor of the Tablet. Sir Martin Melvin, the proprietor of the Universe, was told by Mr. Neville Chamberlain that had it not been for the Catholics he might have had to blockade the Nationalists and intervene against them.232

Ob Chamberlain dies tatsächlich so gesagt hat, läßt sich nicht belegen. Aber es scheint in der Tat keineswegs abwegig, die kleine, aber hervorragend vernetzte pro-nationalistische Pressure-Group der Neo-Tories für die Haltung der britischen Regierung zumindest mitverantwortlich zu machen. Angesichts einer größtenteils pro-republikanischen britischen Öffentlichkeit sowie der Unterstützung Francos durch das nationalsozialistische Deutschland und das faschistische Italien waren, wie im folgenden Kapitel zu zeigen sein wird, die Aktivitäten der Neo-Tories keineswegs unerheblich.

5.3.2  Die Neo-Tories und die Franco-Rebellion Am 30. Juni 1936 traf sich Charles Petrie mit dem Duke of Alba zu einem Abendessen in dem vornehmen Londoner Restaurant Claridge’s. Erneut ging es bei diesem Treffen um den Kampf gegen die spanische Republik. Nach dem Dinner stieß der spanische König zu den beiden. Jerrold, Moral, Bolín, und der seit 1925 in England lebende spanische Pilot und Flugzeugbauer Juan de la Cierva ergänzten 231 Vgl.

Arthur Loveday, The New Spanish Republic, in: National Review 96 (Juni 1931), S. 777–780. 232 Luis Bolín, Spain. The Vital Years, London 1967, S. 3. Vgl. hierzu die Ansprache Inges bei einem Treffen der Friends of Nationalist Spain: „This is the first, and I hope will be the last, occasion at which I shall appear on a political or semi-political platform. I am not a politician; I have no sympathy with Fascism, and I hold no brief for the Roman Catholic Church in Spain. […] But there are many decent people who are entirely misled by this unscrupulous propaganda. Everywhere they tell you they believe what is said, that this war is a rebellion fostered by reactionary parties against a duly and properly elected democratic Government. That is grotesquely untrue. […] Spain will assuredly be delivered in God’s good time from this invasion of Anti-Christ. But let us earnestly hope and pray that our nation may be freed from complicity with any attempt to destroy religion, civilisation and humanity in Spain.“ Friends of Nationalist Spain, The Case of Nationalist Spain as Presented at the Great Queen’s Hall Meeting 23. March 1938, London 1938, S. 4–6.

252   5.  Die politische Praxis am rechten Rand der Konservativen Partei die Runde.233 Petrie und der spanische König sinnierten über die Restauration in Spanien, doch der Rest der Gruppe folgte wenig später anderen Plänen. Anfang Juli 1936 trafen sich Bolín und Juan de la Cierva mit Jerrold im tradi­ tionsreichen Restaurant Simpson’s zu einem Lunch. Folgt man seinen Erinnerungen, wußte Jerrold zunächst nicht, warum man sich traf und war lediglich etwas überrascht, wie beharrlich seine beiden Gesprächspartner auf einem Tisch beharrten, der weit genug von den anderen Gästen entfernt war, um ein Mithören des Gesprächs zu verhindern, bevor Bolín seine Anliegen klar machte: „I want a man and three platinum blondes to fly to Africa tomorrow.“234 Wie sich bald herausstellte, sollten die Blondinen als touristische Tarnung dienen und der Flug von England auf die kanarischen Inseln als eine Privatreise dargestellt werden. Nachdem er zunächst George Fairfax und Yeats-Brown als mögliche Kandidaten für die Reise in Erwägung gezogen hatte, rief Jerrold aus dem Simpson’s seinen Freund, den ehemaligen Armee-Offizier Major Hugh Pollard an, denn „he had experience of Moroccan, Mexican and Irish revolutions. And he knew Span­ish.“235 Man traf sich noch am selben Tag, einigte sich über Geld und weitere Details, und Pollard willigte in das Unternehmen ein. Zusammen mit seiner Tochter Dorothy, einer Freundin und dem Piloten, dem ehemaligen Royal Air Force-Piloten Captain William Henry Cecil Bebb, verließ Pollard am 11. Juli 1936 den Flughafen in Croydon südlich von London mit dem Reiseziel Kanarische Inseln. Das Unternehmen hatte Brisanz, denn Pollards Auftrag bestand darin, den auf die ­kanarischen Inseln versetzten General Franco nach Marokko zu bringen, von wo aus der Aufstand der rebellischen Militärs gegen die Republik beginnen sollte. Das aus den Wahlen vom Februar 1936 hervorgegangene linksliberale Regierungsbündnis war sich der Gefahr Francos durchaus bewußt und hatte diesen auf die Kanarischen Inseln versetzt. Ein spanisches Flugzeug hätte sofort Verdacht ausgelöst. Pollard war der richtige Mann für ein solches Unternehmen. Der 1888 geborene Katholik war wie Jerrold ein leidenschaftlicher Anhänger Francos. Jerrold und Pollard kannten sich aus Schultagen an der Westminster School. In Oxford arbeiteten die beiden zusammen an ihrem ersten Zeitungsprojekt, der Oxford Fortnightly.236 Pollard war nach dem Krieg viel herumgekommen, galt als Waffenexperte und schrieb für das Magazin Hunting Life. Pollard war allerdings nicht nur ein Abenteurer und Waffennarr. Wie seine Personalakte in den National Archives in London zeigt, war er ein ausgebildeter Geheimagent und stand 1940, nachdem 233 Tagebücher

Charles Petrie, 30. 6. 1936. Georgian Adventure, S. 371. Vgl. zu dieser Episode auch die Erinnerungen von ­Bolin, Spain. The Vital Years, S. 9–54; Frederick Hale, Marching Towards the Cruzada. Douglas Jerrold’s Road to Nationalist Spain, in: Acta Theologica (2002), S. 71–89; Hugh Thomas, The Spanish Civil War, New York 52001, S. 190–194; Judith Keene, Fighting for Franco. International Volunteers in Nationalist Spain During the Civil War 1933–39, London 2001, S. 49. 235 Jerrold, Georgian Adventure, S. 371. Vgl. auch Thomas, The Spanish Civil War, S. 193 f. 236 Jerrold, Georgian Adventure, S. 93.

234 Jerrold,

5.3  Friends of Nationalist Spain   253

er bereits im ersten Weltkrieg und im irischen Bürgerkrieg für den britischen Geheimdienst tätig war, erneut auf der Gehaltsliste des MI6.237 Seine politischen Ansichten störten die Leute vom MI6 offenbar nicht. Pollard war stellvertretender Vorsitzender seines örtlichen konservativen Parteiverbands, doch diese Angaben seiner politischen Zugehörigkeit ergänzte er mit „and extreme Right“.238 Auf die Sorgen des Schwestergeheimdienstes MI5, daß Pollard ein ‚glühender Faschist‘ sei und daß er 1936 Franco geholfen hatte, antwortete der zuständige Sachbearbeiter von MI6: „Thank you. We have no comment. Major Pollard’s history is known to us.“239 Ob die britischen Behörden auch von der wahren Natur jenes Flugs von Croydon auf die Kanarischen Inseln im Juli 1936 wußten, läßt sich nicht abschließend sagen. Immerhin wurden die wenigen internationalen Flüge von der geheimdienstlichen Einheit der britischen Polizei, Special Branch, in Croydon beobachtet.240 Der Pilot Bebb erinnerte sich darüber hinaus später in einem Zeitungsbeitrag, wie er an der Garnison in Las Palmas auf Franco wartete und dort auf den britischen Konsul traf. Dabei machte dieser zu Bebb einige „very favourable comments on the mission I was about to take part in.“241 Bebb startete sein englisches Flugzeug und brachte Franco am 18. Juli 1936 mit einem Begleiter nach Marokko, genau zu jenem Zeitpunkt, als der Aufstand gegen die spanische Republik begann. Was auch immer der britische Geheimdienst im einzelnen wußte, der Flug des General Franco von Teneriffa nach Marokko und somit der Beginn des Spanischen Bürgerkriegs war eine in London geplante Aktion mit präzisem Timing. Die kleine, aber erfolgreiche britische Intervention wurde denn auch nicht vergessen: Der Pilot des Flugzeugs Bebb, Pollard und seine Begleiterinnen erhielten am Ende des Bürgerkriegs Auszeichnungen für ihre Unterstützung Francos.242 Mit dem Aufstand der konservativen spanischen Militärs unter Führung des General Franco am 17./18. Juli 1936 gegen die republikanische Regierung begann der dreijährige Spanische Bürgerkrieg. Petrie notierte in sein Tagebuch: „The Spanish revolt looks like succeeding, which would be admirable for Europe in general and myself in particular.“243 Petrie begrüßte den Aufstand, doch Franco war für ihn nur Mittel zum Zweck: „Wrote to Bolín to say that every pressure must be put on Franco to restore the monarchy.“244 Die Neo-Tories sahen es nun als ihre Mission an, nicht nur gegen die republikanische Seite zu schreiben, sondern auch die britische Öffentlichkeit und ins­ besondere die politisch-intellektuelle Öffentlichkeit über das nationalistische 237 Graham

D. Macklin, Major Hugh Pollard, MI6 and the Spanish Civil War, in: Historical Journal 49 (2006), S. 277–280. 238 Hugh Pollard. Note of Interview, 23. 2. 1940, TNA, HS 9/1200/5. 239 Minute Sheet, 23. 6. 1940, TNA, HS 9/1200/5. 240 Vgl. hierzu Paul Preston, Flying for Franco, in: BBC History Magazine, July 2001; Michael Alpert, A New International History of the Civil War, New York 1994, S. 19 f. 241 The Guardian, 26. 6. 1966. 242 Hale, Marching Towards the Cruzada, S. 88. 243 Tagebücher Charles Petrie, 20. 7. 1936. 244 Tagebücher Charles Petrie, 21. 7. 1936.

254   5.  Die politische Praxis am rechten Rand der Konservativen Partei S­ pa­nien aufzuklären. Dabei galt es zunächst die Legitimität von Francos Aufstand aufzuzeigen und von dem Vorwurf des unrechtmäßigen Putsches zu befreien. J.F.C. Fuller, der das nationalistische Spanien besucht und Franco getroffen hatte, versuchte dies mit einem Rückgriff auf Abraham Lincoln: In other words, no true democracy is possible, or for that matter, any form of government based upon the ideal of freedom, unless what both Lincoln and Lord Bryce called the „sacred right of revolution“ is acknowledged, or what John Locke called ‚the appeal to heaven‘.[…] Yet, when General Franco raised his standard in July last, did the democratic powers recognise this ‚sacred right of revolution?‘ No!245

Die britische Sicht auf den spanischen Bürgerkrieg, so Jerrold, dürfe nicht wie die auf ein beliebiges anderes außenpolitisches Problem sein. Zu bedeutend sei, was in diesem Krieg auf dem Spiel stehe.246 Selbstverständlich gehe es darum, die Kommunisten und Anarchisten zu schlagen, doch es müsse auch anerkannt ­werden, für welches System in diesem Krieg gekämpft werde. Jerrold sah die ­Bedeutung des spanischen Bürgerkriegs nicht lediglich in einem realpolitischen Antikommunismus, sondern als Kampf für elementare historischer Kräfte des christlichen Abendlands. Aus dieser Perspektive waren die spanischen Nationalisten auch keine Faschisten: „The Spanish […] will never be Fascists because they are God’s last, and therefore effective and sufficient, protest against the machine age.“247 Aus christlicher Sicht war somit von Spanien auch mehr zu lernen als vom faschistischen Italien. Spanien sei, so Jerrold in seinem Buch The Future of Freedom von 1938, Anschauungsmaterial für eine neue Synthese der christlichen Ordnung mit Freiheit. „The working out of such a synthesis, if it be successful, will be a matter of profound importance for the whole of Europe. The Italian Corporate State is an interesting experiment, but the new Spanish state will be of far greater interest to Christians in Northern Europe and also throughout America.“248 Die Faszination des nationalistischen Spaniens lag für die meisten Neo-Tories in der Tatsache, daß hier die Kräfte der Tradition im Zeitalter der Massen und Maschinen aufbegehrten, und daß sich hier eine konservative Revolution tatsächlich vollzog. Fuller schrieb: „A new Spain is emerging from out of chaos: a Spain of historic traditions and of future hopes. The urge of the Conquistadores is once again abroad, and it is a proud, valiant and all-conquering spirit.“249 Die Neo-Tories frustrierte die ‚Ignoranz‘ und ‚Unwissenheit‘ der britischen ­Bevölkerung. In einem langen Brief an den britischen Historiker und liberalen

245 J.F.C. Fuller, The 246 In einem Brief an

Conquest of Red Spain, London 1937, S. 6. Herbert A.L. Fisher schrieb Jerrold am 26. Oktober 1938: „Politics apart, I do not think you do justice to what seems to me the most astonishing feature of the whole civil war, and that is the improvisation of a complete system of government and a complete army by Franco.“ Douglas Jerrold an H.A.L. Fisher, 26. 10. 1937, Bodleian Library, Western Manuscripts, Mss Fisher 76.67. 247 Jerrold, Georgian Adventure, S. 367. 248 Jerrold, The Future of Freedom, S. 254. 249 Fuller, The Conquest of Red Spain, S. 14.

5.3  Friends of Nationalist Spain   255

Politiker Herbert A.L. Fisher, in dem Jerrold ausführlich seine Interpretation des spanischen Bürgerkriegs erläutert, heißt es: „I had half-a-dozen Members of Parliament to dinner the other day to meet some of my Spanish friends, and found that none of them was even aware that Navarre was a Basque province!“250 Vor allem bei der britischen Regierung beklagte Jerrold eine fundamentale Unwissenheit über die spanischen Verhältnisse: I am horrified at Eden’s statement that Spanish opinion is divided fifty-fifty. It is fantastic to base an estimate on the refugees, because naturally the refugees, mainly from the Basque provinces, were active anarchists and communists who feared (perhaps rightly) that they might have a rough time at Franco’s hands.251

Daß wirksame ‚Öffentlichkeitsarbeit‘ auf der nationalistischen Seite ein Manko darstellte, hatte Charles Petrie schon direkt nach dem Ausbruch des Krieges ge­ sehen. Im August 1936 schrieb er in sein Tagebuch: „Things seem to be going all right in Spain, but the Right are making a terrible mess of their publicity.“252

5.3.3  Friends of Nationalist Spain Um die britische Bevölkerung, vor allem aber die britische Regierung über die ‚wahre‘ Natur des spanischen Bürgerkriegs aufzuklären und um ein Gegengewicht gegen die rote Propaganda zu schaffen, gründete Jerrold im Januar 1937 zusammen mit einer Reihe neo-toryistischer Mitstreiter die Gesellschaft Friends of ­Nationalist Spain. In ihrem Gründungsaufruf heißt es: „For some months past a small group of friends of National Spain have been working informally together with a view to combating the flood of propaganda emanating from Valencia and Moscow, lectures and meetings, the real facts about the present disastrous conflict in Spain.“253 Die Regierung in Valencia unterdrücke auf grausame Art und Weise die Praktizierung des christlichen Glaubens. Sollten die Kräfte der Anarchie und des Atheismus mit der Hilfe der westlichen Demokratien gewinnen, wäre die Sache der Demokratie selbst mit militantem Atheismus befleckt und würde im ganzen westlichen Europa niedergehen. Daher sei der spanische Bürgerkrieg auch für einen jeden Engländer von großer Bedeutung: Every cause for which Englishmen of all classes and all creeds have fought in the past – liberty of conscience, freedom of worship, the sanctity of human life, the supremacy of law, the maintenance of public order, and the freedom of lawful trade – are being fought for in Spain by the armies of the Nationalist forces.254 250 Douglas

Jerrold an H.A.L. Fisher, 29. 10. 1937, Bodleian Library, Western Manuscripts, Mss Fisher 76.72. 251 Douglas Jerrold an H.A.L. Fisher, 2. 11. 1937, Bodleian Library, Western Manuscripts, Mss Fisher 76.80. 252 Tagebücher Charles Petrie, 29. 8. 1936. 253 Friends of Nationalist Spain, A Letter Proposing the Foundation of the Society and Inviting Support, London 1937. Vgl. hierzu auch Keene, Fighting for Franco, S. 50, 61, 111, 117 f.; Pugh, „Hurrah for the Blackshirts“, S. 268 f.; Griffiths, Fellow Travellers of the Right, S. 231 f., 260–264. 254 Friends of Nationalist Spain, A Letter Proposing the Foundation of the Society.

256   5.  Die politische Praxis am rechten Rand der Konservativen Partei Der Aufruf war neben den Journalisten Jerrold, Henry S. Lunn und Yeats-Brown von den konservativen Abgeordneten Alan Lennox-Boyd, Henry Page Croft, ­Victor A. Cazalet, Nairne Stewart Sandeman sowie von Lord Newton, Lord Phillimore und Arthur F. Loveday unterzeichnet. Ebenfalls zu der Gruppe gehörten die Abgeordneten J.F. Crowley und Sir Alfred Knox, sowie der Marquis del Moral, Lawrence Venn,255 Brig.Gen. P.R.C. Groves,256 W.R. Inge, Arnold Lunn und ­Walter Maxwell-Scott.257 Außerdem wurde die Gruppe unterstützt von den Abgeordneten Patrick Donner, Patrick Hannon, Henry Channon, Arnold Wilson, Viscount Castlereagh, Alfred Denville sowie von Lord Londonderry und dem Earl of ­Home.258 Die Friends of Nationalist Spain verstand sich als Pressure-Group, die durch die Publikation von Materialen die öffentliche Meinung formen und die ‚Wahrheit‘ über die Vorgänge in Spanien ans Licht bringen wollte, vor allem aber die Haltung der britischen Regierung zu beeinflussen suchte. In ihren Statuten wurden die Absichten der Gruppe in sechs Punkten knapp formuliert: 1. Verteidigung der christlichen Religion gegen die Anti-Gott-Kampagne, 2. Verteidigung der spanischen Zivilisation und damit der ganzen westlichen Zivilisation gegen den Angriff der bolschewistischen Kommintern, 3. Pflege guter Beziehungen zwischen dem Britischen Empire und dem Spanien der Zukunft, 4. Unterstützung der britischen Regierung bei der Bildung einer hinlänglich informierten öffentlichen Meinung, 5. Einrichtung eines permanenten Studienzentrums für spanische Angelegenheiten und Verbesserung der anglo-spanischen Beziehungen und 6. Verhinderung von Interventionen in spanische Angelegenheiten.259 Übergeordnetes Ziel war eine möglichst freundliche Haltung der britischen Regierung zu der Franco-Administration in Salamanca, sowie eine allgemeine Verbesserung der britisch-spanischen Verhältnisse durch die Etablierung eines Zentrums für Spanish Affairs.260 Die Pro-Nationalisten interpretierten den spanischen Bürgerkrieg als einen Überlebenskampf der westlichen Zivilisation insgesamt. Der Krieg war demnach keine interne Angelegenheit Spaniens, sondern habe universelle Bedeutung. Schon Lenin hätte gewußt, so Douglas Jerrold in einer öffentlichen Veranstaltung der Friends of Nationalist Spain im März 1938,261 daß die Zerstörung der traditionel255 The

Friends of Spain, [kein genauer Titel, Pamphlet eingeklebt in eine Sammlung von ähnlichen Flugblättern], London März 1939. 256 Friends of Nationalist Spain, Objects of the Society, London 1938. 257 Friends of Nationalist Spain, The Case of Nationalist Spain as Presented at the Great Queen’s Hall Meeting 23. March 1938, London 1938. Maxwell-Scott hatte Spanien mehrfach bereist und bezeichnete General Franco als seinen Freund. Vgl. Ebenda, S. 18. 258 Simon Haxey, Tory MP, London 1939, S. 214–218. Vgl. auch Pugh, „Hurrah for the Blackshirts!“, S. 268. 259 Friends of Nationalist Spain, Objects of the Society. 260 Ebd. 261 Im Observer heißt es zu Phillimores Vorsitz: „When the Friends of National Spain hold their meeting at the Queen’s Hall next Wednesday the chair will be taken by Lord Phillimore. Although he is not so well known to the general public as he should be, Lord Phillimore has for some years played an important part behind the scenes in Right Wing politics. He manages to combine dignity and courtesy without the slightest trace of condescension,

5.3  Friends of Nationalist Spain   257

len Zivilisation von Spanien ausgehen mußte. Ein kommunistisches Spanien würde unweigerlich Frankreich bedrohen und wäre somit dann auch eine unmittelbare Gefahr für England. Denselben Gedankengang formulierte der Abgeordnete Patrick Donner in einer Debatte im House of Commons noch prägnanter: „If you had a Communist Russia at one end of Europe and a Communist Spain at the other, the rest of Europe would become like a nut in a nut-cracker.“262 In seinem Vortrag zur Situation in Spanien zog Jerrold eine für die Bewertung der Neo-Tories aufschlußreiche, wenn auch inhaltlich fragwürdige Parallele zum ‚Anschluß‘ Österreichs an das Deutsche Reich: We meet, if words mean anything, at a very favourable moment for our cause, because Labour and Socialist politicians have been recently appealing for sympathy to the British public, at the spectacle of the Austrian nation – the symbol of the historic civilisation of Europe – being compelled, under threat of force, to relinquish her political independence, and possibly to jeopardise her religious liberty.263

Diese außenpolitischen Sympathien zeigen erneut, wie unscharf eine Kategorisierung von Männern wie Jerrold als Fellow Travellers of the Right ist. Die weltanschauliche Orientierung an einem christlichen Ständestaat, an dem Ideal eines europäischen Universalismus und einem radikalkonservativen Traditionalismus ließ Jerrold jede Gefährdung von staatlichen Verfassungen, die seiner Sicht nach diesem Ideal am nächsten kamen, attackieren. Dies galt unabhängig davon, ob diese Gefährdung nun von rechts oder von links kam. Hinsichtlich der zukünftigen Verfassung Spaniens gab es allerdings durchaus feine Unterschiede in den Vorstellungen der Neo-Tories. Während Petrie sich vor allem für eine Wiedereinsetzung der Monarchie stark machte, spielte für Jerrold die Verletzung des Gottesgnadentums eine geringere Rolle: „It was not the spectacle of a Spanish king exiled from Spain which moved me to indignation, but that of the English people exiled from truth on the Spanish question.“264 Grundsätzlich einig war man sich in der Tatsache, daß die britischen Interessen am besten von General Franco verteidigt würden. Entsprechend betrieben die Friends of Nationalist Spain ‚Öffentlichkeitsarbeit‘ auf verschiedenen Ebenen: Luttman-Johnson wiederholte in einem Brief an die National Review eine Stelle aus dem Gründungsaufruf der Friends of Nationalist Spain. Er schrieb, daß alles, wofür Engländer aller Klassen je gekämpft hätten – Gewissens- und Religions­ freiheit, die Unantastbarkeit des menschlichen Lebens, die Aufrechterhaltung der ­öffentlichen Ordnung und die Handelsfreiheit – jetzt von der nationalistischen and his kindliness of manner is perhaps his most prominent characteristic. As a chairman he is an adept at pouring oil on the most troubled of waters. Lord Phillimore has been for some years closely connected with the Imperial Policy Group, of which Mr. Victor Raikes, M.P., is one of the leading members, and he has often taken the chair at meetings held ­under its auspices in the committee-rooms of the House of Commons.“ The Observer, 20. 3. 1938. 262 House of Commons Debates, 6. 5. 1937, Vol. 323, cc1350 f. 263 Friends of Nationalist Spain, The Case of Nationalist Spain as Presented at the Great Queen’s Hall Meeting 23. March 1938, London 1938, S. 6. 264 Jerrold, Georgian Adventure, S. 360.

258   5.  Die politische Praxis am rechten Rand der Konservativen Partei Seite in Spanien verteidigt werde.265 Walter Maxwell-Scott hatte wie fast alle Mitglieder der Friends of Nationalist Spain das nationalistische Spanien besucht und seitenlange Berichte an das Foreign Office gesandt, in denen er die britischen Interessen bei Franco am besten vertreten sah.266 Auch der konservative Abgeordnete Victor A. Cazalet, wie Maxwell-Scott Mitglied der Friends of Nationalist Spain, hatte sich vor Ort ein Bild gemacht. In einem langen Aufsatz für die New York Herald Tribune bemühte er sich, Franco von den ‚üblichen‘ Vorurteilen freizusprechen und ihn als einen Mann der Stabilität und des Frieden zu präsentieren. Dabei kam er zu einem erstaunlichen Ergebnis: „He himself is the antithesis of what a military dictator is usually supposed to be. […] He has never been a Fascist as the word is understood in this country, and in the past he has taken various opportunities of opposing such organizations. He is no bigoted Catholic nor ­narrow-minded reactionary.“267 Neben den weltanschaulichen und politischen gab es auch wirtschaftliche Gründe für Vertreter des britischen Establishments, sich der nationalistischen ­Sache anzuschließen. Arthur Loveday beispielsweise war nach seiner Zeit als Korrespondent der konservativen Morning Post in Spanien zeitweilig Vorsitzender der British Chamber of Commerce in Spain und setzte sich für die Interessen der britischen Wirtschaft in Spanien ein. Ökonomische Argumente, die Aufrechterhaltung des Handels mit dem nationalistischen Spanien und die Wahrung der britischen Interessen spielten auch in der Folge für die Propaganda der Friends of Nationalist Spain eine große Rolle.268 Dies zeigte sich etwa in Vorträgen in der konservativen Akademie in Ashridge. Dank Arthur Bryant diente Ashridge als Plattform für die Verbreitung des pro-nationalistischen Standpunkts. Für eine Konferenz zum spanischen Bürgerkrieg im Dezember 1937 hatte Bryant die beiden ‚Friends of Nationalist Spain‘ Loveday und Jerrold sowie den pro-nationalistischen Professor Allison Peers eingeladen. Als pro-republikanisches Gegengewicht kam lediglich die Duchess of Atholl.269 Diese schrieb in einem Brief an den Militärhistoriker Basil Liddell Hart über den Vortrag Lovedays: The next lecture was by Mr. Arthur Loveday, ex-Chairman of the British Chamber of Commerce in Barcelona on ‚British Business Interests in Spain‘. He is strongly pro-Franco. […] He tried to show that British business was carried on as usual in General Franco’s territory and to that end read the part of last April of the Rio Tinot Company. He stopped, however, before the part in which it was reported that the Company could not earn any profits on account on General Franco’s regulations! When this portion was read out afterwards he lost his temper.270

265 Luttman-Johnson,

Letter to the Editor, National Review 110 (März 1938), S. 391. Sir W. Maxwell-Scott, Situation in General Franco’s Territory, 19. 3. 1937, TNA, FO 371/21287. 267 Victor A. Cazalet M.P., A Britain Views the Rebels, New York Herald Tribune, 25. 2. 1937. 268 In einem Brief Lovedays an die Times schreibt er: „British interests in Spain would cease to exist if Barcelona were to win.“, The Times 21. 3. 1938. Vgl. auch Arthur F. Loveday, British Business in Spain, The Times, 6. 4. 1938. 269 Buchanan, Britain and the Spanish Civil War, S. 89. 270 Duchess of Atholl an Liddell Hart, 23. 12. 1937, Liddell Hart Centre for Military Archives, Lidell: 15/3/390 1937–1940. 266 Major-General

5.3  Friends of Nationalist Spain   259

Lovedays Argumentation war auch sonst problematisch. In seinem 1939 erschienenen und mit einem Vorwort des konservativen Abgeordneten Arnold Wilson versehenen Buch World War in Spain vermischte er wirtschaftliche Argumente und Antikommunismus mit antisemitischen Verschwörungstheorien. Für die Revolution machte er orientalische Freimaurer, eine Sektion des Judentums sowie die Kommintern verantwortlich.271 In dem Buch findet sich auch der Abdruck eines Interviews, daß der Autor laut eigener Aussage mit Franco im May 1937 geführt hat. Nachdem Loveday sich eingangs für die feindliche britische Presse und Regierung entschuldigt hat, gibt Franco eine Antwort, die gebündelt auch der Position des Autors entspricht: I thank you for your words and I desire to co-operate with those in England who are on our side. The difficulties of the situation in England are quite clear to me. These are due to your systems of Government and Press, which result in Parliament being guided and controlled by a Press which is in the hands of groups of individual industrialists, Jews and people with definite political tendencies, who are not necessarily patriotic or primarily interested in the welfare of your country. As long as you continue to have these systems in England, such situations as that existing to-day will occur.272

Hier zeigt sich ein Grundmuster der Argumentation der Pro-Nationalisten: Wenn auch selten mit antisemitischer Stoßrichtung, so zieht sich der Argwohn gegenüber einer Verschwörung der liberalen und der Arbeiter-Presse, die eine wahrheitsgetreue Darstellung der Vorgänge in Spanien beinah unmöglich mache, durch alle Publikationen der Pro-Nationalisten.273 Eine pro-republikanische Dominanz in der britischen Presse beklagte beispielsweise der konservative Abgeordnete John T.C. Moore-Brabazon in einem Brief an C.G. Grey: „Normal people like myself are pro-Franco but day after day in every paper – and the Times is the worst of the lot – nothing is published but Valencia’s propaganda. Nothing is published for Franco, yet he stands more for our form of government than anybody else in this country.“274 Wie schon in der Debatte über die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg, wußten die Neo-Tories um ihr Außenseitertum in diesem Diskurs und auch hier stilisierten sie sich als intellektuelle Avantgarde, als die wenigen Klarsichtigen angesichts einer „conspiracy of lies“.275 In einem Brief an Arthur Bryant schrieb Charles Petrie im September 1936: „I do so heartily agree with what you say about the public attitude towards Spain, and the only conciliation is that facts in the end must prevail over theories, and we always accept a fait accompli.“276 271 Arthur

F. Loveday, World War in Spain, London 1939, S. 42. Interessant ist auch die Widmung des Buches: „Dedicated to Spain. The Savior of Western Europe. From The Crescent, Lepanto, 1571. From the Sickle and Hammer, 1936–1939.“ Vgl. Griffiths, Patriotism Perverted, S. 140. 272 Loveday, World War in Spain, S. 111. 273 Vgl. auch Arthur Loveday, The BBC and Spain, Saturday Review, 29. 8. 1936. 274 Moore-Brabazon an C.G.Grey, 26. 1. 1938, Papers of John Moore-Brabazon, Royal Airforce Museum London, Ac 71/3Box II. 275 Vgl. Father F. Woodlock, Truth about Spain; and this Conspiracy of Lies, Saturday Review, 5. 9. 1936. 276 Charles Petrie an Arthur Bryant, 21. 9. 1936, Liddell Hart Centre for Military Archives, Bryant: E/3 1931–82 [Hervorhebung im Original]. Vgl. dazu auch den Brief an Bryant vier Tage

260   5.  Die politische Praxis am rechten Rand der Konservativen Partei Interessanterweise hatten sich die Vorzeichen allerdings verkehrt: Ging es in der Kriegsbuchdebatte noch darum, einem emotionalen Pazifismus die ‚wahre‘ Natur des Krieges entgegenzuhalten, war es jetzt ein emotionaler Interventionismus oder gar linker Bellizismus, der die Masse der Gesellschaft aus Sicht der NeoTories erfaßt hatte und dem es die ‚Wahrheit‘ über den spanischen Bürgerkrieg entgegenzuhalten galt. (Hier wiederholten die Neo-Tories eine Argumentation, die sie bereits im Zusammenhang mit dem Abessinienkrieg vorgebracht hatten.277) Den Vorwurf der ideologischen Inkonsistenz griff der Abgeordnete Henry Page Croft in einer seiner vielen pro-nationalistischen Reden im House of Commons im Januar 1937 auf: The Leader of the Opposition also insisted that the farce of non-intervention should be ended. Let us understand what that statement means. It means that he is insisting that we should intervene. If he is doing that, where comes all the story of his party for the past 10 or 15 years? Again and again through the years we have listened to impassioned speeches saying that Britain should do everything possible to keep out of war, that we should not allow munitions to go anywhere, that we should not allow our industries in this country to produce weapons for the slaughter of people, in other countries, and now that party are saying ‚intervene‘.278

Gegen Vorwürfe, daß sie eine Intervention der britischen Regierung auf Seiten Francos wünschten, wandten sich die britischen Anhänger des nationalistischen Spaniens entschieden.279 Aber einer direkten militärischen Intervention Großbritanniens bedurfte es nach dem Eingreifen Italiens und Deutschlands in den Konflikt auch gar nicht. ‚Aufklärung‘ über das nationalistische Spanien, informelle Unterstützung, diplomatische Anerkennung der Vertreter Francos, Wahrung von Handelsinteressen – dies waren die Ziele der britischen Anhänger Francos im eigenen Land. Einen besonderen Stellenwert erlangte in der Auseinandersetzung um die Deutungs­hoheit über den spanischen Bürgerkrieg aber auch die Frage der Kriegsverbrechen. Während die Bombardierung von Guernica verharmlost oder als Tat der republikanischen Truppen dargestellt wurde, versuchten Jerrold und seine Mitstreiter gleichzeitig ihre Version der ‚Wahrheit‘ republikanischer Verbrechen zu verbreiten – und dies mit außerordentlichem Erfolg. zuvor: „My feelings about the press and Spain have long passed the bounds of ordinary and measured indignation, but I feel it is useless to protest; in this country the only thing is to give fools enough rope to hang themselves; fortunately in the end they nearly always do so and with the minimum of bloodshed to others.“ Charles Petrie an Arthur Bryant, 17. 9. 1936, Liddell Hart Centre for Military Archives, Bryant: E/3 1931–82. 277 Vgl. Kapitel 4.4.3. 278 House of Commons Debates, 19. 1. 1937, Vol. 319, cc147. 279 Douglas Jerrold etwa griff in einer Replik auf eine Besprechung seines Buches The Necessity of Freedom den verantwortlichen Autor scharf an und machte klar, daß er auf keiner Seite in seinem Buch ausdrücklich eine Intervention forderte. In einer Stellungnahme dazu zeigte sich der Autor jedoch unbeeindruckt: „On rereading his twelfth and thirteenth chapters, it still seem to me that the a priori duty of giving active support to the Spanish insurgents is implicit in the argument, with its frequent reproaches to English indifference, its use of the text ‚he that is not with me, is against me’, and its reference to non-intervention only ‚on prudential grounds‘ as ‚a practical necessity‘“. The Times Literary Supplement, 11. 6. 1937.

5.3  Friends of Nationalist Spain   261

5.3.4 Guernica und die Propaganda der Neo-Tories Die Friends of Nationalist Spain waren eine politische Lobbygruppe. Neben der Lancierung von Artikeln und Pamphleten zur Beeinflussung der öffentlichen Meinung bemühten sie sich um eine direkte Einflußnahme auf die britische Außen­politik. Von großer Bedeutung war hier der einflußreiche konservative Abgeordnete Sir Henry Page Croft. Croft verfügte über hervorragende Kontakte zum Foreign Office280 und ermöglichte den Friends of Nationalist Spain den Zugang zu weiteren Abgeordneten. Bei einem solchen Treffen am 26. Mai 1937 im Committee Room Nr. 10 des House of Commons gab der Marquis del Moral eine ­aufschlußreiche Ansprache – „strictly private and not for publication“.281 Nachdem Croft den Marquis, um eventuellen Mißverständnissen hinsichtlich seines ­Namens vorzubeugen, als einen ‚echten‘ Engländer vorgestellt hatte, der in drei ­Kriegen für das britische Empire gekämpft habe, begann dieser: Mr. Chairman, My Lords, Ladies and Gentlemen, When I went to Spain recently, on the 8th May, I did so for a certain definite purpose: the question of Guernica had nothing whatever to do with this. While I was there I considered that in the view of the publicity and the many contradictory and misleading statements that had been made that it was of the utmost importance that I should go and see the place with the object of arriving at independent conclusions. I asked General Franco’s special permission to make this investigation and had this entire concurrence in my doing so. My purpose was that the truth might be made known to you and the British public.282

Diesem Eingangsstatement ließ der Marquis eine ausführliche Apologetik der Bombardierung von Guernica folgen. Zunächst behauptete er, daß die Republikaner, wie bereits zuvor andere spanische Städte, Guernica selbst angezündet hätten. Gleichzeitig wandte er sich entschieden gegen die Behauptung, daß Guernica kein militärisches Ziel gewesen sei und ließ eine ausführliche Erläuterung der militärischen und strategischen Bedeutung der Stadt folgen.283 Während ‚Rot-Spanien‘ in einem Meer aus Anarchie, Unordnung, Gewalt, Hinrichtungen und Raubüberfällen untergehe, prosperiere das nationalistische Spanien in allen Bereichen: „One cannot but be impressed by the spirit of enthusiasm and patriotic fervour, together with the calm determination which imbues the whole population, men and woman – a cold determination which will ensure victory at any cost.“284 Nach einer ausführlichen Darstellung Francos als hervorragendem Soldat, galantem Gentleman und schließlich als der Retter von Zivilisation und Christentum 280 Pugh, „Hurrah

for the Blackshirts!“, S. 269.

281 The Marquis del Moral, Address Given to Members of

the House of Commons on Wednesday, May 26th, 1937, London 1937, S. 3. 282 Ebd., S. 4. Vgl. Herbert Southworth, Guernica! Guernica! A Study of Journalism, Diplomacy, Propaganda and History, Berkeley 1977. 283 The Marquis del Moral, Address Given to Members of the House of Commons, S. 5–11. Die Bedeutung Guernicas als Produktionsstätte der spanischen Waffenindustrie hatte der ‚Waffenexperte‘ Hugh Pollard hervorgehoben, daher seien Guernica und auch die Stadt Eibar „perfectly legitimate objectives for attack.“ Vgl. Hugh B.C. Pollard, Bombing of Guernica, The Times, 3. 5. 1937. 284 The Marquis del Moral, Address Given to Members of the House of Commons, S. 13.

262   5.  Die politische Praxis am rechten Rand der Konservativen Partei schloß der Marquis mit der Übermittlung von Francos Wunsch nach guten Be­ ziehungen zur britischen Regierung, die durch die Propaganda von Teilen der ­britischen Presse getrübt worden seien.285 In der anschließenden Diskussion zeigt sich deutlich, wie es den Friends of Nationalist Spain gelang, die Debatte über Spanien und über den außenpolitischen Kurs der Regierung zu beeinflussen. Als erste meldete sich die Duchess of Atholl zu Wort, die mit einer Reihe kritischer Fragen die Position des Marquis in Zweifel zog.286 Die konservative Abgeordnete hatte sich schon seit einiger Zeit im House of Commons und in den konservativen Blättern Daily Telegraph und Morning Post als Kritikerin des nationalistischen Spaniens profiliert und war so zur Zielscheibe der Pro-Nationalisten geworden.287 Auf die Kritik an seinem Bericht reagierte der Marquis ausweichend. Bezüglich der Bombardierung Guernicas könne man nicht so genau sagen, ob es stimme, daß der Tag der Bombardierung ein Markttag gewesen sei und wenn, würde dies keine Rolle spielen, „because in warfare Sundays, market days or any other days of the week cannot be taken into account.“288 Die Widersprüchlichkeiten in dem Bericht des Marquis waren offensichtlich. Wenn nicht die Nationalisten, sondern die Republikaner die Stadt zerstört hätten, warum war es dann so wichtig, die Legitimität von Guernica als militärisches Ziel darzustellen? Andere Pro-Nationalisten kamen Moral zu Hilfe. Der konservative Abgeordnete Patrick Donner versuchte es mit einer Suggestivfrage: Was it true that the Basque troops dug lines of trenches immediately outside Guernica and so close to the town that when these trenches and fortifications of Guernica were bombed, and rightly bombed as military objectives, it was necessary for aeroplanes to fly over the town and since they were flying low it was perfectly easy for the inhabitants to believe that the noise they heard and the explosions came from within the town and not from the trenches? Would it not be extremely difficult for the inhabitants to distinguish between dynamite in the town and the bombing of the trenches outside?289

Selbstverständlich stimmte der Marquis Patrick Donner zu. Auch die Wortmeldung des Abgeordneten Ramsay zielte darauf ab, die Widersprüchlichkeiten in Morals Darstellung zu glätten. Der Marquis wolle doch im wesentlichen sagen, so Donner, daß General Franco Guernica nicht zerstört hatte, aber das andererseits, wenn er es getan hätte, es völlig berechtigt gewesen wäre.290 Zur gleichen Strategie hatten pro-nationalistische konservative Abgeordnete bereits zuvor in den ­Debatten im House of Commons gegriffen. Während Nairne Stewart Sandeman Guernica als militärisches Ziel rechtfertigte – „Is it not the case that Guernica is the centre of the small arms manufacture in the Basque country?“291 – bemühte sich Patrick 285 Ebd.,

S. 16. S. 17. 287 Griffiths, Fellow Travellers of the Right, S. 235. 288 The Marquis del Moral, Address Given to Members of the House of Commons, S. 17. Vgl. hierzu auch das Kapitel „The Guernica Myth“, in: Bolin, Spain. The Vital Years, S. 274–282. 289 The Marquis del Moral, Address Given to Members of the House of Commons, S. 18. 290 Ebd., S. 21. 291 House of Commons Debates, 3. 5. 1937, Vol. 323, cc768. 286 Ebd.,

5.3  Friends of Nationalist Spain   263

Donner um eine Relativierung der Ereignisse: „Is it not a fact that in same week as the bombing of Guernica, three open towns were bombed and bombarded by the Madrid Government.“292 Sollte es daher eine internationale Kommission geben, wie sie von einer Reihe von Abgeordneten gefordert wurde, dann müsse es vergleichbare Untersuchungen geben zu all jenen Orten, so Henry Page Croft, „which were deliberately burnt down by retiring Government troops.“293 Daß die Abgeordneten so gut über republikanische ‚Verbrechen‘ informiert waren, lag wiederum an den Friends of Nationalist Spain, deren Propagandatätigkeit in diesem Bereich besonders rege war. Jerrold, Yeats-Brown, Fuller, Loveday und andere hatten das nationalistische Spanien besucht und rühmten sich nun, eine realistische Sicht der Situation in Spanien zeigen zu können. Dabei nutzten sie auch ihre Kontakte ins Foreign Office, um der britischen Regierung ihre Lageeinschätzungen mitzuteilen. In einem Schreiben des britischen Botschafters in Spanien an Außenminister Anthony Eden berichtete dieser von einem Treffen mit Francis Yeats-Brown, nachdem dieser zusammen mit Jerrold und Fuller von ­Franco im März 1937 empfangen worden war. Franco kannte die drei bereits, da er die Bücher von Yeats-Brown und Fuller gelesen hatte und Jerrold seinen Flug nach Marokko verdankte. Die drei britischen Besucher, so berichtete der Botschafter weiter, waren in Malaga und den Außenbezirken Madrids und wurden überall mit großer Höflichkeit empfangen. Major Yeats-Brown versprach dem Botschafter, seine Eindrücke an seine Kontakte im Außenministerium weiter zu geben. „I hope it may be possible for more gentlemen of that calibre to make ­visits to ­General Franco.“294 Dort war man insgesamt etwas zurückhaltender. In dem Kommentar zu dem Bericht des Botschafters heißt es, daß es ohne Zweifel gut sei, diese Kontakte weiter zu pflegen. Doch seien die Informationen von ­Leuten, die lediglich die eine Seite des Landes besuchten und in ihrer Meinung bereits fest­gelegt seien, mit Vorsicht zu genießen. Außerdem wurde ergänzt: „It may be mentioned that Yeats-Brown is a Fascist.“295 Die Vorsicht des Außenministeriums war berechtigt. Objektive Berichte über die Situation in Spanien wollten die Neo-Tories nicht liefern. Daß sie statt dessen bereitwillig Propaganda für Franco machten, zeigt ein Brief von Douglas Jerrold an Arthur Bryant vom Januar 1937. Arthur Bryant hatte eingewilligt, das Vorwort für das Propagandabuch Communist Atrocities zu schreiben, das sich mit angeb­ lichen kommunistischen Verbrechen an der Zivilbevölkerung beschäftigte und bei  Jerrolds Verlag Eyre and Spottiswoode 1937 erscheinen sollte. Zu Bryants ­Einwänden, man müsse auch die Fehler der nationalistischen Seite aufnehmen, schrieb Jerrold: You will be the first to realise that the Spanish Government who are paying for this publication [sic!] cannot appear to lend currency to anything in the way of a formal and hostile verdict on

292 House

of Commons Debates, 6. 5. 1937, Vol. 323, cc1250. of Commons Debates, 5. 5. 1937, Vol. 323, cc1134. 294 Sir Chilton Hendaye an Anthony Eden, 11. 3. 1937, TNA, FO 371/21287. 295 Minutes. Sir Chilton Hendaye an Anthony Eden, 11. 3. 1937, TNA, FO 371/21287. 293 House

264   5.  Die politische Praxis am rechten Rand der Konservativen Partei the policies followed by many of their present supporters. Actually there’s no reason to doubt that Franco shares your view as to the mistakes made in the past, but obviously this is not the time for criticising the past nor are all the facts available on which a final judgment will have to be based.296

Es ist wenig erstaunlich, daß die Franco-Regierung für Publikationen der Friends of Nationalist Spain zahlte. Die Organisation war in den Jahren des Bürgerkriegs zum wichtigsten Propagandasprachrohr der Franco-Regierung in den westlichen Demokratien geworden. Es ist somit auch kein Zufall, daß britische Neo-Tories maßgeblich an einem der größten Propagandaerfolge des Franco-Regimes beteiligt waren, der im folgenden behandelt wird.297 Eines der dringlichsten Probleme der britischen Pro-Nationalisten in ihrer Unterstützung Francos war die Frage der Legalität der nationalistischen Rebellion. Nicht nur war der Putsch Francos gegen eine Regierung gerichtet, die aus freien Wahlen hervorgegangen war, sondern es war nach dem konservativem Grundverständnis der Pro-Nationalisten ganz grundsätzlich jede Herrschaft abzulehnen, die sich revolutionär gegen eine vorherrschende Ordnung etablierte. Es galt daher zum einen, die Legitimität der demokratisch gewählten Regierung anzuzweifeln und zum anderen für Franco ein Interventionsrecht zur Wiederherstellung der ‚rechtmäßigen‘ Kräfte geltend zu machen. Henry Page Croft versuchte dies in einer Rede im House of Commons, in der er zwar den Sieg der republikanischen Regierung anerkannte, aber gleichzeitig feststellte, daß ein so knapper Wahlausgang keine so dramatischen und Legitimität zerstörenden Folgen für die unterlegene Seite haben dürfe: My contention is that the voting was so close that it did not justify a complete revolution of ideas in that country. From the moment the election took place terrorism began. I was informed at the time by numerous friends of mine in business in Spain, Englishmen, that churches were being destroyed, that law and order were no longer running, and that people with any form of property were being absolutely terrorised, with the Government taking no steps whatever to protect them.298

Die Schlußfolgerung aus dieser Analyse war, daß von einer echten Demokratie zu Beginn des Bürgerkriegs keineswegs die Rede gewesen sein könne. Ähnlich äußerte sich auch der Abgeordnete Patrick Donner in einer Parlamentsrede: „That is not democracy. That is anarchy, that is riot, that is terror, that is arson, that is the negation of government, the breakdown of all law and all authority. It is a democracy which did not stop at murder.“299 Nicht nur die Legitimität der spanischen Regierung wurde angezweifelt. Zur Rechtfertigung des Franco-Putsches bemühte man sich nachträglich, einen zusätzlichen, die Gewalt rechtfertigenden Ausnahmezustand bzw. eine Gegenmaßnahmen erfordernde akut-revolutionäre Gefahrensituation zu konstruieren. Hier296 Douglas

Jerrold an Arthur Bryant, 12. 1. 1937, Liddell Hart Centre for Military Archives, Bryant: E/21 1932–54. 297 Vgl. Herbert R. Southworth, Conspiracy and the Spanish Civil War. The Brainwashing of Francisco Franco, London 2002. 298 House of Commons Debates, 19. 1. 1937, Vol. 319, cc148. 299 House of Commons Debates, 28. 2. 1939, Vol. 344, cc1173.

5.3  Friends of Nationalist Spain   265

bei sorgte nicht allein die Propagandamaschinerie Francos für Abhilfe. Vielmehr hatte Franco in den britischen Pro-Nationalisten aktive Komplizen, die maß­ geblich an der Entstehung der Legende des für den Juni 1936 bevorstehenden kommunistischen Putsches und an der Fälschung von ‚Dokumenten‘, die diesen beweisen sollten, beteiligt waren. Bei den mit I – IV bezeichneten Dokumenten handelt es sich um angebliche Berichte und Befehle des kommunistischen Hauptquartiers in Spanien, die beweisen sollten, daß die spanischen Kommunisten für Juni 1936 einen Aufstand geplant und die Exekution von potentiellen Konterrevolutionären vorgesehen hätten. Ziel sei es in Zusammenarbeit mit der Kommintern gewesen, Spanien im Zug der Weltrevolution in ein kommunistisches Land umzuwandeln.300 Die allgemeine Schlußfolgerung aus den Dokumenten, daß der Putsch Francos keineswegs als eine Usurpation, sondern als eine legitime Vorbeugemaßnahme zu sehen sei, war in konservativen Kreisen Allgemeingut. Beispielhaft hierfür ist ein gemeinsamer Leserbrief der konservativen Abgeordneten Alfred Knox, Nairne Sandeman, Cooper Rawson, Alan Gramham, E.A. Taylor und Victor Raikes an die Times: „All we know of General Franco is that he is a gallant soldier. He has been goaded into action not by personal ambition but by witnessing the increasing outrages in Spain under a Government that in its subservience to the Left refused to govern. His rising only forestalled by a few days the projected Red revolution.“301 Diese Ansicht teilten auch Organisationen am rechten Rand der Neo-Tories. Die Haltung der antichristlichen Organisation English Array zu Spanien faßte Viscount Lymington zusammen: „About Spain it is only necessary to say that Franco’s is not a military rebellion, but a popular rising against great material odds to save Spain from a foreign planned Communist revolution.“302 Bezeichnenderweise tauchten die Dokumente zum erstenmal in England auf. Der Marquis del Moral sandte die Dokumente I, II und III an einen Beamten des Foreign Office. In dem beigelegten auf den 30. August 1936 datierten Brief heißt es: I have secured, after much difficulty, certain secret reports and orders of the Socialist-Communist Headquarters in Spain for the rising projected between 3 May and 29 June but postponed. The document is valuable for the list of Ministers of the ‚National Soviet‘, liaison officers and other details of their colleagues of the French Socialist Party. I enclose a photocopy and I shall be glad if you will communicate it to the Foreign Office with my compliments. The man who sent it has risked his life in doing so. Unfortunately, I only received it three days ago.303

Das Foreign Office bezweifelte die Echtheit der Dokumente.304 Das hinderte aber weder Moral noch andere Mitglieder der Friends of Nationalist Spain, diese zu verbreiten und sich in ihren Schriften auf sie als offizielle Beweise zu berufen. Im Oktober 1936 wurde auf die Dokumente in einer Publikation Bezug genommen. Der lange und bewußt offiziell klingende Titel der bei Jerrolds Verlag Eyre and 300 Southworth,

Conspiracy and the Spanish Civil War, S. 2–4. Franco, The Times, 10. 12. 1936. 302 Quarterly Gazette of the English Array 3 (April 1938). 303 Zitiert nach Southworth, Conspiracy and the Spanish Civil War, S. 4. 304 Ebd., S. 4 f. 301 General

266   5.  Die politische Praxis am rechten Rand der Konservativen Partei Spottiswoode erschienenen Propagandaschrift lautete: A Preliminary Official Report on the Atrocities Committed in Southern Spain in July and August 1936, by the Communist Forces of the Madrid Government, together with a Brief Historical Note on the Course of Recent Events in Spain.305 Erstmals zitiert wurden die Dokumente im April 1937 in einem längeren Artikel Jerrolds, der in der renommierten Zeitschrift The Nineteenth Century and After erschienen war.306 Dort heißt es über die Veschwörungspläne der Kommunisten: In May of last year the detailed plans were laid for a Communist rising in Spain for July 1936. These plans have been for some months in the possession of the Salamanca [Franco] government and the documents containing them are known to many journalists in England. They provide a careful timetable for the outbreak of revolutionary cadres and give the personnel of the revolutionary government, with Largo Caballero at its head.307

Die Friends of National Spain sorgten für die weitere Verbreitung der Dokumente. 1938 veröffentlichen sie in einem Neudruck fünf ‚geheime‘ Dokumente unter dem Titel Exposure of the Secret Plan to Establish a Soviet on Spain.308 Arthur Loveday stützte sich in seinem Buch World War in Spain ausführlich auf die Schriftstücke.309 Die Existenz der Dokumente war schnell in aller Munde jener, die sich mit dem Spanischen Bürgerkrieg beschäftigten. Die Duchess of Atholl fragte in einem Brief an Arthur Bryant, ob dieser Informationen über „the rising said to have been planned by Spanish Communists for July 1936“ habe.310 In einer ­parlamentarischen Anfrage wandte sich die Abgeordnete an den Außenminister Eden, „whether a document which came into the hands of His Majesty’s Government prior to 17th July, 1936, and which purported to give instructions for a general Communist rising and revolution in Spain, was regarded by them as authentic; and was it communicated to the Spanish Government of that date?“ Eden bestätigte, daß ein solches Dokument eingegangen sei, jedoch nicht vor dem 17. Juli 1936. Daraufhin fragte die Herzogin nach. Sie wollte wissen, ob nicht die Behauptung, daß bereits zwei Monate vor dem angeblichen kommunistischen Aufstand eine 250 000 Mann starke Miliz organisiert worden sei, auf eine Fälschung des Dokuments hinweise. Denn es sei doch nun offensichtlich, wie schlecht die republikanische Seite vorbereitet gewesen sei. Daraufhin antwortete Eden: „Clearly, I cannot enter into details of a report from which I am not quoting. I think I indicated to the House that it 305 A

Preliminary Official Report on the Atrocities Committed in Southern Spain in July and August 1936, by the Communist Forces of the Madrid Government, Together with a Brief Historical Note on the Course of Recent Events in Spain, London 1936. 306 Douglas Jerrold, The Issues of Spain, in: The Nineteenth Century and After 122 (April 1937), S. 1–34. 307 Ebd., S. 2 f. 308 Friends of National Spain, Exposure of the Secret Plan to Establish a Soviet on Spain, London 1938. 309 Loveday, World War in Spain, S. 176–183. 310 Duchess of Atholl an Arthur Bryant, 1. 11. 1937, Liddell Hart Centre for Military Archives, Bryant: C/63 1935–39. Die Herzogin plante ein Buch über den spanischen Bürgerkrieg und wiederholte ihre offenbar erfolglose Anfrage wenige Monate später. Duchess of Atholl an Arthur Bryant, 11. 3. 1938, Liddell Hart Centre for Military Archives, Bryant: C/63 1935–39.

5.3  Friends of Nationalist Spain   267

reached us after 17th July, and that no communication was made to the Spanish Government. The House will draw their own conclusions from that.“311 Die logische Schlußfolgerung war, daß die Dokumente eine Fälschung waren und die britische Regierung sie als solche erkannt hatte. Dies änderte allerdings nichts an dem grundsätzlich Franco-freundlichen Kurs der Regierung. In der überarbeiteten Fassung seiner umfangreichen Gesamtdarstellung zum spanischen Bürgerkrieg beurteilt der britische Historiker Antony Beevor ihre Haltung äußerst kritisch. Neville Chamberlain und Anthony Eden hatten sich hinter der britischen Initiative eines europäischen Abkommens des Nicht-Interventions-Komitees versteckt, um die Fassade der Neutralität aufrechtzuerhalten, während die britische Navy heimlich die Nationalisten unterstützte.312 Die pro-nationalistische Tendenz zeigte sich im Detail: Der Entschluß der britischen Regierung zur Rückführung von internationalen Freiwilligen und das Verbot des Waffenhandels halfen Franco mehr als der republikanischen Seite, die so noch mehr auf die Unterstützung der Sowjetunion angewiesen war. „The whole course of our policy of Non-Intervention – which has effectively, as we all know, worked in an entirely one-sided manner – has been putting a premium on Franco’s victory“, bilanzierte der Chief Diplomatic Adviser der Regierung, Sir Robert Vansittart, in einem Memorandum vom 16. Januar 1939.313 Es ist nicht überraschend, daß die den Friends of Nationalist Spain zugehörigen Parlamentarier die britische Politik der Nicht-Intervention begrüßten. In einer Debatte im House of Commons im Juli 1937 sah sich der Abgeordnete Lennox-Boyds, der die Regierungsvorschläge für das Non Intervention Committee verteidigte, dem Vorwurf ausgesetzt, er sei ein „fairly definite supporter of General Franco“. Lennox-Boyds Reaktion bestand lediglich in einem zustimmenden „indicated assent.“314 So sah das auch die oppositionelle Presse, die Lennox-Boyd als „Franco’s little friend“315 und als „Franco’s deputy“316 betitelte. Ein Jahr späte gehörte Lennox-Boyd als Parliamentary Secretary ebenfalls zur Regierung – sehr zum Jubel der verbündeten Neo-Tories. „You are our hope for the future, so take care of yourself!“317 schrieb Yeats-Brown an Lennox Boyd, und Francos Botschafter, der Duke of Alba, bezeichnete ihn als „un gran amigo personal mio.“318 311 House

of Commons Debates, 16. 2. 1938, Vol. 331, cc1857. Beevor, Der Spanische Bürgerkrieg, München 2006, S. 413–465. 313 Zitiert nach Enrique Moradiellos, The British Government and General Franco During the Spanish Civil War, in: Christian Leitz und David J. Dunthorn (Hrsg.), Spain in an International Context, New York 1999, S. 51. Vgl. auch ders., The British Image of Spain and the Civil War, in: International Journal of Iberian Studies 15 (2002), S. 4–13. 314 House of Commons Debates, 15. 7. 1937, Vol. 326, cc1619. 315 The Tribune, 27. 5. 1938. 316 Daily Worker 26. 3. 1938. Vgl. auch die Karrikatur Lennox-Boyds als Franco-Unterstützer im Daily Herald, 29. 3. 1938. 317 Francis Yeats-Brown an Lennox-Boyd, 28. 4. 1939, Bodleian Library, Western Manuscripts Mss Eng. C 3459/202. 318 Duke of Alba an Lennox-Boyd, 7. 6. 1939, Bodleian Library, Western Manuscripts Mss Eng. C 3459/205. 312 Antony

268   5.  Die politische Praxis am rechten Rand der Konservativen Partei Die spanische Seite wußte die britische Unterstützung zu schätzen und tat alles, um eventuelle britische Befürchtungen bezüglich einer zu engen Kooperation mit dem faschistischen Italien oder dem nationalsozialistischen Deutschland (sowie Sorgen britischer Investoren vor den Falangisten) zu zerstreuen. Franco selbst übergab seinem Mann in London, dem Duke of Alba, eine entsprechende Anweisung, die dieser im Juli 1937 seinem Kontaktmann in der britischen Regierung zukommen ließ: We have no longer imperial ambitions. We only wish to reconstruct Spain with the help of England, with whom we wish to maintain our old and good friendship […] Dividends in Spain will be good. […] There will be no concessions regarding naval bases or the passage of troops. The national character of our Movement also rules this out. […] As has always been the case every help will be given for the export of pyrites, iron, minerals, etc. Spain has no quarrel with England. If Bolshevism were to triumph in Spain (and then no doubt extend to Portugal) it would be as a result of Russia. In the struggle between the two ideas one has to be victorious.319

Der Duke of Alba war nicht der einzige Vertrauensmann Francos in London. Nachdem auf britischen Druck im Juli 1938 die französisch-spanische Grenze geschlossen wurde und definitiv die Isolierung der Republik sicher war, schickte Franco eine vertrauliche Nachricht des Danks an Premierminister Chamberlain; der Überbringer der Nachricht war der Vorsitzende der Friends of Nationalist Spain, Lord Phillimore.320 Keine andere Organisation der Neo-Tories war so erfolgreich wie die Friends of Nationalist Spain. Das selbsterklärte Ziel, als Verbindungsorganisation zwischen Franco und der britischen Regierung zu fungieren, wurde erreicht. Gleichzeitig wurde durch die Friends of Nationalist Spain London zum Zentrum der Propaganda des nationalistischen Spaniens in den westlichen Demokratien. Der spanische Historiker Enrique Moradiellos läßt in seiner Untersuchung zum Verhältnis der britischen Regierung zu Franco während des Bürgerkriegs keinen Zweifel, daß die britische Regierung einen entscheidenden Einfluß auf den Ausgang des Spanischen Bürgerkriegs hatte und zitiert aus den Erinnerungen von Pedro Sainz Rodriguez, einem prominenten Monarchisten und Bildungsminister unter Franco: Many Spaniards, disorientated by the anti-English propaganda of the Franco regime, honestly believe that we gained our victory exclusively through Italian and German aid; [I] am convinced that, though this did contribute, the fundamental reason for our winning the war, was the English diplomatic position opposing intervention in Spain.321

Innerhalb Großbritanniens war die Politik der Regierung äußerst umstritten. Nach der Anerkennung Francos durch die britische Regierung wurde in einer aufschlußreichen Debatte im House of Lords im März 1939 eine Bilanz der Spanienpolitik gezogen. Lord Snell, der Führer Labours im britischen Oberhaus, 319 Zitiert

nach Moradiellos, The British Government, S. 49. S. 50. Vgl. auch ders., Albion’s Perfidity. The British Government and the Spanish ­Civil War, in: Jim Jump (Hrsg.), Looking Back at the Spanish Civil War. The International Brigade’s Memorial Trust’s Len Crome Memorial Lectures, 2002–2010, S. 93–110. 321 Ebd., S. 51. 320 Ebd.,

5.3  Friends of Nationalist Spain   269

sparte nicht mit Kritik. Er könne die tiefe Überzeugung nicht unterdrücken, daß die Regierung Seiner Majestät für das Opfer einer demokratisch gewählten Regierung in Spanien und die dazugehörige Brutalität eine schwere und schandvolle Verantwortung trage. Der Verlauf des Konflikts sei gewollt gewesen. What has happened they intended to happen. They wished the end and they willed the means. They adopted, as we see it, a policy of fraudulent non-intervention; they consistently ignored the fact of effective intervention of foreign nations in the internal disputes of another country […] They remained passive while dangers to the vital communications of the Empire were steadily increased, and they thus gave aid and comfort to rebels against their rightful Government while denying to that Government the means of self-defence that were their undoubted right. […] We have indeed been obedient followers of General Franco!322

Mit dem Ende des Bürgerkriegs hörte die Tätigkeit der Friends of Nationalist Spain keineswegs auf. Nachdem der ‚Untergang der westlichen Zivilisation‘ verhindert worden war, galt es nun die Beziehungen zwischen Großbritannien und dem Franco-Regime auszubauen. Die Organisation versuchte daher unter leicht verändertem Namen weiterhin, einflußreiche Mitglieder zu gewinnen. In einem Brief an Arthur Bryant versuchte Jerrold diesen als Vizepräsident für die Organisation anzuwerben: As you probably know the organisation which we set up, under the title of ‚Friends of National Spain‘, to put the Spanish National case before British public during the Civil War, has been ­reconstituted on a wider basis under the title of ‚Friends of Spain‘. The twin purposes of this organisation are to promote friendly relations between Great Britain and Spain, and to interpret the new Spain to the British public, so as to prevent, as far as possible, such a complete misunderstanding of Spain’s problems as nearly led us to intervention on the wrong side during the recent conflict.323

Da der Krieg gewonnen sei und Spanien wieder eine legitime Regierung habe, so die Friends of Spain in ihrem Gründungsaufruf, hätte Großbritannien keine gerechtfertigten Interessen mehr an den internen Angelegenheiten Spaniens. Deshalb sei man nur an dem neuen Spanien und an einer Förderung der britischspanischen Beziehungen interessiert. „The highest interests of Great Britain and Spain alike require that the recognition of General Franco’s Government shall not be merely a matter of form, but from now onwards the expression of a real understanding between the two peoples.“324 Dessenungeachtet galt es für die Neo-Tories weiterhin, die ‚Wahrheit‘ über die ‚Fakten‘ des Spanischen Bürgerkriegs zu verteidigen. Die Auseinandersetzung mit dem ideologischen Gegner wurde dabei vor allem auch im eigenen Land geführt. Das Flugblatt „What Communism has done for Spain“ etwa, war eine Denunzierung der britischen Unterstützer des republikanischen Spaniens. Nach einer Aufzählung der Menschenleben und materiellen Kosten, die der Kommunismus gekostet habe, heißt es: „This is the cause that the Popular Front and the Left 322 House

of Lords Debates, 9. 3. 1939, Vol. 112, c79 f. Jerrold an Arthur Bryant, 5. 7. 1939, Liddell Hart Centre for Military Archives, ­Bryant: E/21 1932–54. 324 The Friends of Spain, [kein genauer Titel, Pamphlet eingeklebt in eine Sammlung von ähnlichen Flugblättern], London 1939. 323 Douglas

270   5.  Die politische Praxis am rechten Rand der Konservativen Partei Book Club in Great Britain has been espousing in direct opposition to the policy of Non-Intervention and Neutrality adopted by the Parliament. The leaders of the Popular Front and Left Club are: Victor Gollancz, Harry Pollitt, John Strachey, Professor Laski, and Sir Stafford Cripps.“325 Durch den militärischen Sieg des nationalistischen Spanien fühlten sich die britischen Franco-Anhänger bestätigt und sonnten sich im seltenen Gefühl des Erfolgs. Doch das ‚Glück‘ der Neo-Tories sollte nicht allzulang währen. Nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs gerieten alle rechtsgerichteten Organisationen in Großbritannien unter erheblichen Druck. Da ideologische Nähe zum Faschismus als unpatriotische Haltung ausgelegt werden konnte, gerieten auch die NeoTories, die sich schon vorher vom Nationalsozialismus distanziert und ihre Vorbilder eher in Mussolini oder Franco gesehen hatten, in Erklärungsschwierig­ keiten. Sympathie mit rechtsgerichteten Organisationen oder Personen konnte als Unterstützung für den Feind interpretiert werden – britischer Patriotismus war antifaschistisch geworden. Sehr aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang eine parlamentarische Anfrage zu den Friends of Spain, zu der es noch im Februar 1944 gekommen war: Mr. Driberg asked the Secretary of State for the Home Department if he is keeping under observation the pro-Fascist organisation known as the ‚Friends of Spain‘, formerly ‚Friends of Nationalist Spain‘; and if he is in possession of a complete list of its present and former members, in case of any risk of assistance to the enemy or obstruction of the Allied war effort through their activities.326

In seiner Antwort versicherte der britische Innenminister, Herbert Morrison, daß die Organisation seit dem Ausbruch des Kriegs inaktiv sei und daß er keinen Grund zu der Annahme habe, daß es von dieser Seite eine Gefahr hinsichtlich einer Unterstützung des Feindes oder einer Behinderung der Alliierten gebe. Dies ließ den Abgeordneten Captain Alan Graham einwenden, daß die Bezeichnung „pro-Fascist“ doch sehr mißverständlich sei und daß jemand, der antikommunistisch sei, doch nicht notwendigerweise für die Faschisten sei. Darauf antwortete der Abgeordnete Tom Driberg: „Is it not interesting to note the readiness with which some hon. Members always seize the opportunity to identify themselves with the cause of the enemy?“ Das wollte Graham nicht auf sich sitzen lassen und wandte sich an den Vorsitzenden des Unterhauses: „On a point of Order. May I ask your protection, Mr. Speaker, against the implication which has been made against me by the hon. Member opposite?“ Doch der Speaker antwortete ihm lediglich: „There is so much noise going on that I really cannot hear. I do not think that the hon. and gallant Member wants my protection; I rather think that he put a provocative question.“327

325 Friends of

Spain, What Communism Has Done for Spain [Flugblatt], London [undatiert, ca. 1939]. 326 Parliamentary Question „Friends of Spain“, 3. 2. 1944, TNA, FO 371/39768. 327 Parliamentary Question „Friends of Spain“, 3. 2. 1944, TNA: FO 371/39768.

5.4  Appeasement als Fokus und Finale der Neo-Tories   271

5.4  Appeasement als Fokus und Finale der Neo-Tories 5.4.1  Die ideologisch motivierte Appeasement-Politik der Neo-Tories Im angelsächsischen Raum gibt es wohl wenige politisch-historische Schlagworte, die derart emotionsgeladen sind wie der Begriff appeasement. Immer wieder werden historische Analogien zur britischen Außenpolitik gegenüber dem Deutschen Reich und speziell zum Münchener Abkommen von 1938 gezogen, um eine außen­politische Haltung als unentschlossen, naiv-pazifistisch und inkompetent zu brandmarken. Die Remember Munich-Analogie erwies sich dabei als äußerst vielseitig. Sie wurde etwa als Slogan gegen Vietnamkriegsgegner oder gegen Abrüstungsgespräche mit der Sowjetunion genutzt. Im Kampf gegen „the rising threat of a new type of fascism“ – so der amerikanische Verteidigungsminister Donald Rumsfeld im August 2006 – diente sie in jüngster Zeit sowohl zur Rechtfertigung des Regimewechsels im Irak als auch für die Fortsetzung der amerikanischen Besatzung.328 Die fortdauernde und populäre Sichtweise, in der die Außenpolitik der britischen Premierminister Stanley Baldwin und insbesondere Neville Chamberlain – der „guilty men“329 – als historischer Fehler erscheint, ist früh und maßgeblich von ihrem direkten Nachfolger Winston Churchill bestimmt worden. Im ersten Band seiner Kriegserinnerungen The Gathering Storm von 1948 prägte Churchill das negative Bild der Außenpolitik seiner Vorgänger für Generationen. Demnach war Chamberlain verantwortlich für „grave misjudgements of facts, having deluded himself and imposed his errors on his subservient colleagues and upon the unhappy British public opinion“. Die britische Außenpolitik im Jahr vor dem Kriegsausbruch sah Churchill als „sad tale of wrong judgments formed by wellmeaning and capable people“ und letztlich als „a line of milestones to disaster“.330 In den ersten zwei Nachkriegsjahrzehnten hat die Geschichtswissenschaft die Erinnerungen von Winston Churchill, Anthony Eden und anderen beteiligten Staatsmännern noch weitestgehend unkritisch behandelt. Zu einer Neuinterpretation kam es erst seit den 1960er und 1970er Jahren mit einer ganzen Welle revisionistischer Bücher und Artikel. A.J.P. Taylor in seinem 1961 veröffentlichten Werk The Origins of the Second World War331 und in seiner Folge eine Vielzahl anderer Historiker – darunter David Dilks, Maurice Cowling, Paul Kennedy und 328 Los

Angeles Times, 30. 8. 2006. der Titel eines populären Buches, das von den drei Journalisten Michael Foot, Peter Howard und Frank Owen unter dem Pseudonym „Cato“ veröffentlicht wurde. Cato, Guilty Men, London 1940. 330 Winston S. Churchill, The Gathering Storm (The Second World War, Bd. 1), London 1971, S. 309–311. Von geschichtswissenschaftlicher Seite wurde diese These in jener frühen Phase vertreten von Lewis B. Namier, Diplomatic Prelude, 1938–39, London 1948 und J.W. Wheeler-Bennett, Munich. Prologue to Tragedy, London 1948. 331 Alan J.P. Taylor, The Origins of the Second World War, London 1961. 329 So

272   5.  Die politische Praxis am rechten Rand der Konservativen Partei John Charmley – relativierten dabei nicht nur das Bild Chamberlains als eines schwachen und ineffektiven Politikers, sondern behandelten vor allem auch die historischen Wurzeln und die wirtschaftlichen, militärischen und parteipolitischen Bedingungen der Appeasement-Politik.332 Zurückblickend resümiert Frank McDonough die Folgen dieser Forschungen: „It has now become a commonplace to view Chamberlain not as a weak and ineffective leader following moral bankrupt policy, but as a complex and able leader with a clear sighted approach to foreign policy“.333 Das zentrale Argument der ‚Revisionisten‘ ist, daß appeasement und rearmament zusammengehören, also die Politik der Verhandlungen und Zugeständnisse unmittelbar mit der Aufrüstungskampagne der späten dreißiger Jahre verbunden ist. Nach dieser Interpretation versuchte Premierminister Chamberlain in der Tat sein Bestes, um einen Krieg mit Nazi-Deutschland zu vermeiden, gleichzeitig gelang es ihm so, die nötige Zeit zu gewinnen, um Großbritannien militärisch auf einen Krieg vorzubereiten. Auch führende Militärs hätten diese AppeasementPolitik für richtig gehalten.334 Neuere ‚post-revisionistische‘ Studien bemühen sich inzwischen um ein ausgewogeneres Bild der Appeasement-Politik. Prominentestes Beispiel ist der Historiker R.A.C. Parker, der Appeasement zwar betont nicht als Politik der Schwäche und der Kapitulation beschreibt, andererseits aber pointiert aufzeigt, daß Handlungsspielräume und politische Alternativen viel zu wenig gesehen wurden.335 Die Neo-Tories waren allesamt Anhänger des Appeasements. Auch sie waren der Auffassung, daß enorme Rüstungsanstrengungen in Großbritannien unternommen werden müßten. Gleichzeitig hatte ihre auf Ausgleich setzende Politik gegenüber den Achsenmächten ideologische Gründe. Nicht alle Neo-Tories waren Sympathisanten des Hitler-Regimes, und Männer wie Jerrold und Petrie hatten den Nationalsozialismus scharf kritisiert. Doch angesichts der zunehmenden ideologischen Polarisierung in der europäischen Außenpolitik, deren vorläufiger Höhepunkt der spanische Bürgerkrieg darstellte, wollten die Neo-Tories ihr Land auf keinen Fall auf der Seite Frankreichs und der Sowjetunion im Kampf gegen den Faschismus sehen: „Whatever may be said against Signor Mussolini and Herr 332 Paul

Kennedy, The Tradition of Appeasement in British Foreign Policy 1865–1939, in: British Journal of International Studies (1976), S. 195–215; David Dilks (Hrsg.), Retreat from Power. Studies in Britain’s Foreign Policy of the Twentieth Century, London 1981; Maurice Cowling, The Impact of Hitler, 1933–40, Cambirdge 1974; John Charmley, Churchill. The End of Glory, London 1993, Extrem kritisch mit der Appeasementpolitik war hingegen ­Anthony Adamthwaite, The Making of the Second World War, London 1977; ders., France and the Coming of the Second World War 1936–39, London 1977. 333 Frank McDonough, Hitler, Chamberlain and Appeasement, Cambridge 2002, S. 83. 334 So auch neuerdings wieder James Levy, Appeasement and Rearmament. Britain 1936–1939, Lanham 2006. Zu der Problematik des Buchs Bernhard Dietz, Rezension von: James Levy: Appeasement and Rearmament. Britain 1936–1939, Lanham 2006, in: sehepunkte 7 (2007), Nr. 10 [15. 10. 2007], URL: http://www.sehepunkte.de/2007/10/12625.html. 335 Robert A. C. Parker, Chamberlain and Appeasement. British Policy and the Coming of the Second World War, Basingstoke 1993; ders., Churchill and Appeasement, London 2000.

5.4  Appeasement als Fokus und Finale der Neo-Tories   273

Hitler, they at least spared their respective countries the horrors from which Spain has suffered.“ Für Großbritannien, so Petrie im September 1936, bedeute das: „If Conservatism allows itself to become entangled with the Soviets in an anti-­ German front in a quarrel which is none of England’s, then it will have signed its own death-warrant.“336 Zur Zeit des Münchner Abkommens war der Spanische Bürgerkrieg noch nicht ausgefochten, Gruppen wie die Friends of Nationalist Spain waren noch aktiv, und der innenpolitische Gegner mobilisierte weiterhin gegen die ‚Kräfte des Faschismus‘. Daneben gehörten auch Antisemitismus, antikapitalistischer Isolationismus und Germanophilie zum Motivbündel der Neo-Tories, die AppeasementPolitik zu unterstützen. Dominant war jedoch zunächst die Auffassung, daß ­Italien und Deutschland berechtigte Forderungen stellten und Nationen wie die Tschechen kein englisches ‚Blut‘ wert seien.337 Die wenigsten der Neo-Tories blieben bei dieser Haltung. Im Laufe des Jahres 1939, spätestens mit dem Beginn des Westfeldzugs im Mai 1940, gaben sie ihre Hoffnungen auf einen Verständigungsfrieden mit Deutschland auf und unterstützten die Regierung Winston Churchills. Mit dem Scheitern der AppeasementPolitik endeten auch die Hoffnungen der Neo-Tories auf einen politischen System­wechsel in Großbritannien. Wunschvorstellungen eines autoritären, kor­ po­rativen Staats wurden als unpatriotisch bewertet und Aktivitäten, die als philofaschistisch und somit als Vaterlandsverrat ausgelegt wurden, konnten gar zur Internierung durch die britischen Behörden führen. „Finally, when war came ­Fascism was felt to be unpatriotic“, schrieb Petrie in seinen Erinnerungen.338 Aus dem engeren Zirkel der Neo-Tories wurde niemand interniert – auch wenn es laut Selbstaussage bei Lymington knapp war.339 Lediglich in jenen Fällen, bei denen eine enge Verbindung zu Mosleys BUF oder zu nationalsozialistischen Kreisen in Deutschland nachgewiesen werden konnte – wie etwa bei dem ehemaligen Geschäftsführer des January Club, Luttman-Johnson, oder bei dem Eugeniker Pitt-Rivers, – kam es zu einer Inhaftierung unter der Defence Regulation 18B.340 Das Interesse der britischen Geschichtswissenschaft galt bisher vor allem jenen radikalen Zirkeln, die sich mit aller Entschiedenheit für einen deutsch-britischen Ausgleich stark gemacht hatten und so, wie etwa der Abgeordnete Captain ­Ramsay und der Right Club,341 ins Visier der britischen Behörden kamen.342 Das leitende 336 Charles

Petrie, Foreign Affairs, in: English Review 63 (September 1936), S. 247–254, hier 249. 337 Vgl. allgemein zur Haltung der Konservativen Partei zur Außenpolitik des Deutschen Reichs N.J. Crowson, Facing Facism. The Conservative Party and the European Dictators, 1935– 1940, London 1997, S. 82–120. 338 Petrie, Chapters of Life, S. 168 f. 339 Lymington, A Knot of Roots, S. 197. 340 Gottlieb, Defence Regulation 18B; Goldman, Defence Regulation 18B. Vgl. Kap. 4.1. 341 Richard Griffiths, Patriotism Perverted. Captain Ramsay, the Right Club and English Antisemitism 1939–40, London 1998. 342 Griffiths, Fellow Travellers of the Right, S. 344–367; Pugh, „Hurrah for the Blackshirts!“, S. 261–319.

274   5.  Die politische Praxis am rechten Rand der Konservativen Partei Motiv bei der Forschung zu „Hitler’s Englishmen“ war vor allem die Frage des Landesverrats.343 Im folgenden soll es nicht noch einmal darum gehen, jene radikalen pro-nazistischen Zirkel nachzuzeichnen. Statt dessen soll gefragt werden, wie die Neo-Tories ihre Appeasement-Politik begründeten. Denn es stimmt zwar, daß radikale Pro-Nazigruppen in den Jahren 1938/39 zunehmend isoliert wurden.344 Ideologisch motivierte Appeasement-Politik war allerdings nicht auf radikale Splittergruppen begrenzt. Männer wie Jerrold und Petrie waren äußerst skeptisch gegenüber dem Nationalsozialismus, doch verbündet sein wollte man weder mit der ‚bolschewistischen‘ Sowjetunion, noch mit Frankreich, das man als instabil und unter dem Einfluß linksradikaler Gruppen sah.345 Die Neo-Tories unterstützten die Außenpolitik Chamberlains gegen ihre Kritiker, die sowohl aus den eigenen Reihen, insbesondere von Winston Churchill, als auch vom politischen Gegner von links kam. Die Unterstützung der Regierung fiel den Neo-Tories auch deshalb leichter, weil Chamberlain Anfang 1938 mit Alan Lennox Boyd, dem Earl of Winterton und eingeschränkt mit Henry ‚Chips‘ Channon wichtige politische Verbündete in die Regierung aufgenommen hatte.346 Mit welchen Argumenten setzten sich also die Neo-Tories für einen Ausgleich mit Deutschland ein? Und wie weit mußte Hitler gehen, um sie zu desillusionieren? Ab welchem Zeitpunkt galt für sie der alte englische Wahlspruch right or wrong, my country? Appeasement war nicht nur Fokus, sondern auch Finale des hier beschriebenen Neokonservatismus. Zwar wurden aus den Neo-Tories mit dem britischen Kampf gegen den europäischen Faschismus nicht über Nacht überzeugte Demokraten, aber neokonservative Forderungen nach einer autoritären Gesellschaftsordnung behielt man inzwischen besser für sich. 343 Adrian

Weale, Patriot Traitors. Roger Casement, John Amery and the Real Meaning of Treason, London u. a. 2001; ders., Renegades. Hitler’s Englishmen, London 2002. 344 Dies betont vor allem Griffiths, der aber die Neo-Tories-Zirkel um Jerrold, Petrie, Bryant, Yeats-Brown u. a. aus dem Auge verliert. Griffiths, Fellow Travellers of the Right, S. 307– 367. 345 Über Frankreich schrieb Petrie: „It is the weakness of France not the strength of Germany, that is the real danger to the balance of power. She is rent asunder by feuds for the parallel to which one would have to go back the Fronde or the Wars of Religion, and the present Government is at the mercy of the extreme Left.“ Charles Petrie, Foreign Affairs, in: English Review 64 (Mai 1937), S. 587–594, hier 587. 346 Winterton, der zum engsten Organisationszirkel der Engish-Review-Gruppe gehörte, hatte schon 1935 Ansprüche auf einen Regierungsposten gestellt. Daraufhin schrieb ihm Stanley Baldwin: „You have every right to make that request and I am always prepared to consider such requests. But the General Election has been unique in this that every member of Government has come back with the exception of two of our Labour colleagues. Now it is obvious that having appealed as a National Government and been returned as such by an overwhelming majority, it is my duty to try and secure election for my defeated colleagues.“ Stanley Baldwin an Winterton, 22. 11. 1935, Bodleian Library, Western Manuscripts, Mss Winterton 66. Nachdem er von Chamberlain in die Regierung aufgenommen wurde und dessen Appeasement-Politik verteidigte, schrieb ihm der Premierminister: „I get plenty of abuse and criticism, so it is pleasant sometimes to hear the other side. With many thanks for your continued support and help.“ Neville Chamberlain an Winterton, 1. 5. 1939, Bodleian Library, Western Manuscripts, Mss Winterton 66.

5.4  Appeasement als Fokus und Finale der Neo-Tories   275

5.4.2  Österreich, München, Prag, Danzig – Stationen der ­Appeasement-Politik In den Jahren vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges gab es eine Reihe Veränderungen innerhalb der wichtigsten Zeitschriften der Neo-Tories. Douglas Jerrold, die zentrale Figur in vielen Neo-Tory-Netzwerken, beendete seine Herausgeberschaft der English Review Ende 1935, als sein Verlag Eyre and Spottiswoode die Zeitschrift verkaufte. Unter dem Herausgeber Wilfried Hindle, der nach nur sechs Monaten von Derek Walker-Smith abgelöst wurde, existierte die Zeitschrift bis Juli 1937 und wurde dann mit der National Review unter der Herausgeberschaft von Lady Milner fusioniert. Das wichtigste Organ des Neo-Tory-Diskurses stand somit für Kommentare zum Münchner Abkommen, dem Einmarsch deutscher Truppen in die Tschechoslowakei und dem Überfall auf Polen nicht mehr zur Verfügung.347 Nach Jerrolds Abgang nahm die English Review in ihrer noch eineinhalbjährigen Existenz hingegen eine deutlich pro-deutsche Wendung. Gab es auch vorher deutschlandfreundliche Artikel, so wurden sie doch meist von den kritischen Kommentaren von Jerrold oder Petrie relativiert. Dies änderte sich unter dem Herausgeber, Derek Walker-Smith, der in den sechziger Jahren zu einer wichtigen Figur in der antieuropäischen Anti-Common Market League werden sollte. Im Sommer 1936 erschienen hintereinander drei Deutschland-Artikel Anthony Ludovicis, der wie Walker-Smith im Auswahlkomitee des Right Book Club gesessen hatte. In der Artikelfolge zeichnete Ludovici ein begeistertes Porträt des nationalsozialistischen Deutschlands, das sich etwas genauer zu betrachten lohnt. Das Land sei von etwas wie einem religiösen Eifer erfaßt worden, der die Menschen wehmütig, aber dennoch leichtherzig und selbstbewußt in ihrer Ernsthaftigkeit gemacht habe, schrieb er einleitend im ersten Artikel. „It is as if they had been not only raised from the dust, but also shown a star or ball of fire which will lead them to the fulfilment of their destiny.“348 Ludovici war sich sicher: „The last great movement of anything like the same importance as National Socialism was the Reformation.“349 In seinem zweiten Artikel widmete sich Ludovici der nationalsozialistischen Politik im einzelnen. Ausgehend von seinen eigenen Interessen war dies vor allem die Gesundheits- und Bevölkerungspolitik. Überall sah er seine eigenen politischen Forderungen erfüllt: Es gäbe eine politische Landbewegung, die Reichsstelle für die Auswahl deutscher Bauernsiedler sorge dafür, daß „desirable people“350 in ländlichen Gegenden siedelten; der Reichsarbeitsdienst gebe den jungen Menschen Disziplin und reiße Klassenbarrieren ein, so daß eine echte nationale Ein347 Petrie,

Chapters of Life, S. 131f; Griffiths, Fellow Travellers of the Right, S. 237. M. Ludovici, Hitler and the Third Reich I, in: English Review 63 (Juli 1936), S. 35– 41, hier 35. 349 Ebd., S. 36. 350 Anthony M. Ludovici, Hitler and the Third Reich II, in: English Review 63 (August 1936), S. 147–152, hier 148. 348 Anthony

276   5.  Die politische Praxis am rechten Rand der Konservativen Partei heit entstehen könne.351 In seinem dritten Artikel kam Ludovici dann zu seinem eigentlichen Thema, der nationalsozialistischen Rassenhygiene, von der der Theoretiker der ‚Degeneration‘ und Advokat eugenischer Reformen in Großbritannien tief beeindruckt war. Gleich in den ersten Zeilen des Artikels heißt es: „Great as are the reforms discussed in my last article, and wonderful as is the tribute their success pays to the inspiration of the Fuehrer, they are, however, as nothing compared with his innovations in a far more difficult and pitfall-strewn field — the field of human biology.“ Überall in Europa habe Industrialisierung, Urbanisierung und sokratische Werte zu einer allgemeinen ‚Degeneration‘ geführt. Die ­Folgen dieser Entwicklung waren für Ludovici: „We imagine that human rubbish and human foulness can give us good laws, good poetry, good science and good art“.352 Mit diesen Vorstellungen habe Adolf Hitler aufgeräumt und verschiedene Maßnahmen ergriffen, die eine gesündere nächste Generation möglich mache. Ausführlich und begeistert erklärte Ludovici seinen englischen Lesern im folgenden das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“.353 Die Artikelserie beendete er mit einer Entgegnung eines typischen englischen Vorwurfs gegenüber Deutschen: „No sense of humour? – Lucky Germany!“354 Eine solche Verherrlichung nationalsozialistischer Rassenhygiene überrascht bei Ludovici keineswegs – typisch für die Neo-Tories war sie nicht. Doch auch diejenigen, die wie der Katholik Douglas Jerrold kein Interesse an Eugenik hatten, setzten sich für die deutsch-englische Annäherung ein. Jerrold war Mitglied der Anglo-German Fellowship, die sich intensiv für die deutsch-britische Freundschaft engagierte und sich vor allem an einflußreiche Politiker und Wirtschaftsleute wandte. Zu ihren Mitgliedern gehörten 50 Abgeordnete beider Häuser des Parlaments, drei Direktoren der Bank of England und viele Generäle, Admirale, Bischöfe und Bankiers.355 Nicht nur materielle Erwägungen, Verwandtschaftsbeziehungen oder ein generelles Gefühl des ‚schlechten Gewissens‘356 hinsichtlich des Versailler Vertrags ließen Teile des britischen Establishments zu Apologeten des Nazi-Regimes werden. Es war vor allem der ‚neue Geist‘, den dieses Deutschland angeblich erfaßt hatte und das sich während der Olympischen Spiele als ordentliches und diszi-

351 Ebd.,

S. 152. M. Ludovici, Hitler and the Third Reich III, in: English Review 63 (September 1936), S. 231–239, hier 233. 353 Ebd., S. 234–236. 354 Ebd., S. 239. 355 Haxey, Tory MP, S. 198–299. Vgl. Kapitel 4.5. 356 Detlev Clemens betont in diesem Zusammenhang die Kritik von John Manynard Keynes und im Rückblick in den Erinnerungen von Harold Nicolson und David Lloyd George am Versailler Vertrag. „Sie festigten das in England verbreitete Schuldbewußtsein, für die Verschärfung der europäischen Konflikte in der zweiten Hälfte der 30er Jahre mitverantwortlich zu sein.“ Clemens, Herr Hitler in Germany, S. 412. Dan Stone weist aber zu Recht darauf hin, daß nicht alle Kritiker des Versailler Vertrags Sympathisanten des Nazi-Regimes waren. Stone, Responses to Nazism in Britain, S. 65. 352 Anthony

5.4  Appeasement als Fokus und Finale der Neo-Tories   277

pliniertes Land der Welt präsentierte, der viele beeindruckte.357 Auch jenen NeoTories, die Nazi-Deutschland kritisch gegenüberstanden, imponierte Disziplin und ‚nationale Gesundheit‘. Gerade diejenigen, die wie Ludovici, Wilson, YeatsBrown und Gardiner Deutschland Mitte der dreißiger Jahre besucht hatten, ­sahen angesichts der im eigenen Land wahrgenommenen ‚Degeneration‘ einer militärischen Konfrontation mit Deutschland nicht gerade optimistisch entgegen. Sich sowohl für einen friedlichen Ausgleich mit Deutschland einzusetzen als auch für eine verstärkte Aufrüstung einzutreten war vor diesem Hintergrund nicht ungewöhnlich. Vereinzelt wurde auch über ein Bündnis mit Deutschland mit antibolschewistischer Stoßrichtung nachgedacht. In der English Review erschien im Juni 1937 etwa ein Artikel, in dem eine anglo-amerikanisch-deutsche Allianz propagiert wurde. Unter Rückgriff auf Oswald Spenglers Buch Jahre der Entscheidung hieß es dort: The recently and all too soon deceased Oswald Spengler has predicted that a century of terrible world wars has just begun and that one nation of a new pattern – a Faustian nation composed of peoples of the same ‚Wahlverwandtschaften‘ – will finally emerge as the master of a new ­imperium mundi. Be that as it may; however, it is clear that a new world war is brewing, and if they cannot prevent the outbreak it is the duty of far-seeing men to see to it that, at least, the right Powers are on the right side.358

In einer solchen apokalyptischen Vision waren die offensichtlichen Unterschiede zwischen Nazi-Deutschland, der parlamentarischen Monarchie Großbritannien und den demokratisch-republikanischen USA nicht mehr wichtig. Verglichen mit dem gemeinsamen Erbe und den gemeinsamen Ideen, vor allem aber angesichts der gemeinsamen Feindschaft gegen die bolschewistische Unterdrückung und dem gemeinsamen Wunsch nach einer neuen Pax Romana, müßte eine Einigung gelingen, so der Artikel. .359 Selten wurde ein deutsch-britisches Bündnis so direkt vorgeschlagen, doch gegen Deutschland, auf der Seite der Sowjetunion, wollte kein Neo-Tory stehen. Der Vorsitzende der Anglo-German Fellowship, Lord Mount Temple, machte auf einem Treffen der Gesellschaft klar: „If another war comes – Well, I must not say what I was going to say – I hope the partners will be changed.“360 Arnold Wilson erklärte: „Unity is essential and the real danger to the world to-day does not come from Germany or Italy […] but from Russia.“361 Man mußte jedoch in konservativen Kreisen kein deutsch-britisches Bündnis anstreben, um davon überzeugt zu sein, daß Deutschland hinsichtlich seiner revisionistischen Außenpolitik berechtigte Forderungen stellte. Teile der britischen Öffentlichkeit waren wegen der als zu hart angesehenen Konditionen des ­Versailler 357 Vgl.

Griffith, Fellow Travellers of the Right, S. 157, 173, 213 f., 219–222. 358 Hermann D. F. Kirchhoff, Speculations upon a Triple Alliance Between Britain, and the United States, English Review 64 (Juni 1937), S. 676. 359 Ebd., S. 672. 360 News Chronicle, 20. 7. 1936. 361 Sir Arnold Wilson, M.P., Manchester Guardian, 11. 6. 1938.

Germany, Great

278   5.  Die politische Praxis am rechten Rand der Konservativen Partei Vertrags bereit, deutschen Gebietsansprüchen entgegenzukommen.362 Der Bezug auf die Ergebnisse des Ersten Weltkriegs spielte auch bei der Bewertung des ‚Anschlußes‘ Österreichs eine wichtige Rolle. Mit dem Einmarsch deutscher Truppen und der De-facto-Annexion Österreichs hatte Hitler erneut und nicht zum letzten Mal England und Frankreich vor vollendete Tatsachen gestellt. Die britische Regierung wertete die Vorgänge als eine deutsch-österreichische Angelegenheit. Wie immer im Zusammenhang mit der Appeasement-Politik gingen die NeoTories einen Schritt weiter. Francis Yeats-Brown machte sich im Frühjahr 1938 selbst ein Bild von den Vorgängen in Österreich: „I was there during the Anschluß, and saw what happened.“363 Seiner Überzeugung nach war es seit 1919 der Wunsch des österreichischen Volkes gewesen, in das Reich zurückzukehren. Von den Reaktionen auf den Einmarsch deutscher Truppen wußte Yeats-Brown aus Kitzbühel zu berichten: The joy of the people was real; they felt that everyone must be delighted at the swift movement of troops, at this dramatic, decisive ending of uncertainty. No longer was Austria a lone child; now she was part of the most powerful nation in Europe. Austria was German, and answered the call of the blood. Seen from the London angle, the march of the German army looked like an act of aggression. Seen from the Kitzbühel angle, the troops were brothers, come to save ­Austria.364

Ähnlich begeistert war auch Rolf Gardiner. Gardiner, der, um seine Kompetenz zu unterstreichen, gerne seine österreichische Abstammung betonte, hatte schon nach der Ermordung des österreichischen Kanzlers Dollfuss darauf hingewiesen, daß Österreich nur durch internationale Unterstützung als unabhängiger Staat existieren könne und ein Anschluß an das Deutsche Reich nur natürlich sei.365 Wenn andererseits Charles Petrie gegen das Vorgehen der Nationalsozialisten in Österreich protestierte, so tat er dies nicht aus demokratischer Sorge oder weil er das Selbstbestimmungsrecht der Völker bedroht sah, sondern weil er sein Projekt einer Wiedereinsetzung der Habsburgermonarchie durchkreuzt und die Interessen Italiens verletzt sah.366 Bereits vor dem Münchner Abkommen war man in Neo-Tory-Kreisen auch bereit, den Deutschen in der Sudetenfrage entgegenzukommen. Arnold Wilson etwa erklärte am 8. September 1938, daß die deutsch-tschechische Grenze neu zu ziehen sei.367 Mit welcher Freude das Münchner Abkommen bei manchen Abgeordneten im Parlament aufgenommen wurde, zeigen eindringlich die Tagebuchaufzeichnungen von Henry Channon. Als er am 14. September 1938 davon 362 Clemens,

Herr Hitler in Germany, S. 38 f., 124 f.; Vgl. auch Thomas Wittek, Auf ewig Feind? Das Deutschlandbild in den britischen Massenmedien nach dem Ersten Weltkrieg, München 2005. Vgl. zu diesem Buch Bernhard Dietz, Rezension von Thomas Wittek, Auf ewig Feind? Das Deutschlandbild in den britischen Massenmedien nach dem Ersten Weltkrieg, München 2005, in: Patterns of Prejudice 43 (Juli 2008), S. 331–333. 363 Yeats-Brown, European Jungle, S. 129. 364 Ebd., S. 133. 365 Rolf Gardiner, Austria and Germany, The Times, 20. 8. 1934. 366 Vgl. hierzu Kapitel 4.3.3 und 4.4.3. 367 The Times, 9. 9. 1938.

5.4  Appeasement als Fokus und Finale der Neo-Tories   279

hörte, daß Chamberlain Hitler treffen wollte, reagierte er begeistert.368 Nach einer leidenschaftlichen Debatte im House of Commons am 28. September 1938, bei der Chamberlain verkündete, daß Hitler ihn und Mussolini nach München eingeladen hatte, kannte sein Enthusiasmus keine Grenzen: [E]very heart throbbed and there was born in many, in me, at least, a gratitude, an admiration for the PM which will be eternal. I felt sick with enthusiasm, longed to clutch him – he continued for a word or two and then the House rose and in a scene of riotous delight, cheered, bellowed their approval. We stood on our benches, waved our order papers, shouted – until we were hoarse – a scene of indescribable enthusiasm – Peace must now be saved, and with it the world.369

Das Münchner Abkommen wurde insgesamt von den Neo-Tories begrüßt370 und bewegte selbst den dem Nationalsozialismus gegenüber sehr kritisch eingestellten Douglas Jerrold zur Unterzeichnung des sogenannten Link Letter. Der Link war eine radikale, äußerst nazifreundliche Organisation des Abgeordneten Barry Domvile. Domvile war ein Bekannter des deutschen Botschafters von Ribbentrop, ging mit Heinrich Himmler jagen und wurde auch von Hitler persönlich mehrfach empfangen.371 Der britische Geheimdienst beobachtete Domvile daher intensiv und prüfte seine mögliche Internierung. In einer zusammenfassenden Begutachtung vom Juli 1940 hieß es: Whilst M.I.5 feel that it is perhaps unlikely that Admiral Domvile would, in the present crisis, take any active steps to assist an enemy in the event of invasion, his record extending over the last 4 years is not as such as to inspire confidence. His fanatical admiration for Germany and the Nazi system appear to have clouded his judgement. The only reason why Admiral Domvile has not yet been detained is because, so far as we are aware, he is not, and never has been, a member of the British Union.“372

Der Link stand unter Beobachtung des britischen Geheimdiensts. Als radikalere Organisation hatte er deutlich weniger einflußreiche Mitglieder als die AngloGerman Fellowship.373 Um so erstaunlicher war die Unterzeichnung des Link ­Letter zum Münchner Abkommen durch 26 zum Teil prominente Konservative.374 368 James

(Hrsg.), The Diaries of Sir Henry Channon, S. 206. S. 213. 370 Vgl. Collin Brooks, Can Chamberlain Save Britain? The Lesson of Munich, London 1938. 371 Haxey, Tory MP, S. 208. Vgl. auch Griffiths, Fellow Travellers of the Right, S. 307–317, Pugh, „Hurrah for the Blackshirts!“, S. 279–284. 372 Notes on the Case of Admiral Sir Barry Domvile, 3. 7. 1940, TNA, KV2/834, 12a. 373 Der britische Geheimdienst hatte gleich von Beginn eine Quelle in der Organisation „Link“. Offensichtlich war die deutsche Seite von der Anglo-German Fellowship enttäuscht, und man sah den „Link“ als geeigneteres Medium der Auslandspropaganda in Großbritannien. Auch Mosleys Faschisten waren hier aktiv. In einem Bericht über ein Treffen im März 1939 heißt es: „Our source was amazed at the attitude of the audience and the amount of enthusiasm shown for a pro-German cause. There were between two and three hundred persons present, amongst whom was a strong section of the British Union of Fascists in ordinary clothes, who had apparently been instructed to attend in order to increase the atmosphere of enthusiasm“ 28. 3. 1939, TNA, KV 5/2, 72a. 374 Den Brief unterzeichnet hatten: Lord Arnold, Captain Bernard Ackworth, Prof. Sir Raymond Beazley, C.E. Carroll, Sir John Smedley Crooke, W.H. Dawson, Admiral Sir Barry Domville, A.E.R. Dyer, Lord Fairfax of Cameron, Viscount Hardinge of Penshurst, Edward Inlgefield, F.C. Jarvis, Douglas Jerrold, Sir John Latta, Prof. A.P. Laurie, Marquess of Londonderry, 369 Ebd.,

280   5.  Die politische Praxis am rechten Rand der Konservativen Partei In ihrem offenen Brief an die Times erklärten die Unterzeichner zunächst ihren Wunsch nach Freundschaft und Kooperation zwischen Großbritannien und Deutschland, deren Verbundenheit für den Frieden in Westeuropa und der Welt essentiell sei. Doch dann wird der Text deutlicher. Man mißbilligte alle Versuche, das Münchner Abkommen zu sabotieren. Deswegen wurde klargestellt: We believe that the Munich Agreement was nothing more than the rectification of one of the most flagrant injustices of the Peace Treaties. It took nothing from Czechoslovakia to which the country could rightly claim and gave nothing to Germany which could have been rightfully withheld. We see in the policy so courageously pursued by the Prime Minister the end of a long period of lost opportunities and the promise of a new era compared to which the tragic years that have gone since War will seem like a bad dream.375

Briefe an die Times waren in diesen Jahren eine häufig genutzte Form der politischen Agitation. Allein oder in Gruppen verfaßt, sorgten diese kurzen pointierten Statements für Aufmerksamkeit und gaben Aufschluß über politische Allianzen und Bündnisse. In den Tagebuchaufzeichnungen Charles Petries wird an mehreren Stellen deutlich, welch ein zeitraubendes Unterfangen ein Gruppenbrief an die Times sein konnte. Wer mit wem was unterschrieb war dabei eine Frage der Taktik, aber auch der persönlichen Sympathien und Eitelkeiten. Aber auch in ihren eigenen Publikationen befürworteten Neo-Tories das Münchner Abkommen. In seinem Buch European Jungle, das die Abonnenten des Right Book Club Ende 1938 zugeschickt bekamen, verwies Yeats-Brown auf den schlechten Zustand der britischen Rüstung. Es wäre in Großbritannien eine ­Revolution ausgebrochen, so Yeats Brown, hätte die Bevölkerung im Falle eines Kriegs im September 1938 davon gewußt. Und ein Krieg für was?, fragte er rhetorisch: „Not for Czechoslovakia surely, which had refused to give the Sudeten Germans their undoubted rights. If the Isle of Wight had been occupied for twenty years by foreigners, who had maltreated our kinsmen, would we not have done much what the Germans did in September, 1938?“376 In einem anderen Buch des Right Book Club hieß es: „Are we to complete our ruin by bloody adventures on behalf of Russia or Czechs? The answer, I believe in the minds of the English ­people, is very definitely: No!“377 Einen anderen Weg an die Öffentlichkeit schlug Viscount Lymington ein. Nachdem weder English Review, noch National Review und Saturday Review für ihn als Publikationsort in Frage kamen, gründete er im Herbst 1938 eine eigene Monatszeitschrift mit dem Titel New Pioneer. Mit der Zeitschrift hatte er große Pläne. Während seine rechtsradikale, nach bündischen Prinzipien organisierte English Array zur Keimzelle einer neuen Gesellschaft werden sollte, sollte die Monatsschrift New Pioneer vor allem einflußreiche Unter-

Vice-Admiral V.B. Molteno, Captain A. H. Maule Ramsey, Wilmot Nicholson, Lord Redesdale, Captain Lane-Fox, Pitt-Rivers, Captain Arthur Rogers, Arthur Solly-Flood, Nesta Webster, Bernard Wilson. The Times, 12. 10. 1938. 375 The Times, 12. 10. 1938. 376 Yeats-Brown, European Jungle, S. 211 f. 377 Philip Gibbs, Ordeal in England, London 1938, S. 410. Vgl. zu den pro-nazistischen Tendenzen im Right Book Club auch Stone, Responses to Nazism, S. 141.

5.4  Appeasement als Fokus und Finale der Neo-Tories   281

stützer gewinnen. Geplant waren dafür exklusive Abendveranstaltungen im Stil von Doulgas Jerrolds English Review-Club: „It is planned that this Magazine starts monthly publication suppers not only in London but in various provincial centres. These would be regarded as a centre for the spread of ideas and leadership. Moreover, pamphlets and broadsheets could be issued through the magazine.“378 Lymington gewann schnell Rückhalt außerhalb seines engeren Zirkels. Der Schriftsteller Ezra Pound schrieb Lymington, daß er die Zeitschrift abonnieren möchte (wenn er garantieren könne, daß sie nach Italien geliefert werde, wo Pound lebte).379 Yeats-Brown war „delighted to get the first number of the New Pioneer.“380 Nesta Webster war ebenfalls begeistert und hatte lediglich Sorge, daß das neue Magazin Leser von der Wochenzeitung Patriot abziehen würde, für die sie regelmäßig Artikel verfaßte.381 Auch Philipp Mairet war angetan, hatte aber auch Kritik. Die Öffentlichkeit müsse den Eindruck gewinnen, bei der Zeitschrift handele es sich um eine der extremen Rechten, da ja auch einige Autoren dabei seien, die früher für Mosley geschrieben haben. Die starke Unterstützung der Appeasement-Politik Neville Chamberlains sei richtig, aber die Berichte über Yachten und teure Autos auf der anderen Seite gebe dem Magazin einen zu eli­ tären Charakter. Ein frischer Anfang müsse jedoch massentauglicher daher kommen, auch Aspekte der Linken berücksichtigen und die politische Mitte ansprechen.382 Massentauglich war die Zeitschrift jedoch sicher nicht, dafür war sie zu radikal. Die Beiträge für den New Pioneer stammten von Lymingtons Gefolgsleuten wie Anthony Ludovici, Baron de Rutzen und Rolf Gardiner, dem Vorsitzenden der Friends of Nationalist Spain, Lord Phillimore, von verbündeten konservativen Abgeordneten wie Arnold Wilson und P.C. Loftus, von Schriftstellern wie Wyndham Lewis, von Vertretern des Guild Socialism wie Philip Mairet, aber auch von Männern wie Fuller und A.K. Chesterton die – zumindest zeitweise – Mitglieder der 378 Viscount

Lymington, Memorandum for a Political Program for Great Britain, undatiert, Wallop Papers (Gerald Vernon Wallop, 9th Earl of Portsmouth), Hampshire Record Office, Winchester, 15 M84 F 179. 379 Ezra Pound an Lymington, 7. 12. 1938, Wallop Papers (Gerald Vernon Wallop, 9th Earl of Portsmouth), Hampshire Record Office, Winchester, 15 M84 F 207. 380 Yeats-Brown an Lymington, 26. 11. 1938, Wallop Papers (Gerald Vernon Wallop, 9th Earl of Portsmouth), Hampshire Record Office, Winchester, 15 M84 F 207. 381 Nest Webster an Lymington, 21. 12. 1938, Wallop Papers (Gerald Vernon Wallop, 9th Earl of Portsmouth), Hampshire Record Office, Winchester, 15 M84 F 207. 382 Philip Mairet an Lymington, 6. 11. 1938, Wallop Papers (Gerald Vernon Wallop, 9th Earl of Portsmouth), Hampshire Record Office, Winchester, 15 M84 F 207. In den elitären Kreisen der Rechten erhoffte man sich hingegen viel von der Zeitschrift. In einem Brief an den He­ rausgeber schrieb Luttman-Johnson: „It is to be hoped that the time is not far off when publications such as yours may be united into one important Daily Paper which will serve to enlighten the people of this country on Foreign Affairs, and awaken the people to some sort of National Unity – in fact, provide a Rallying Point for patriotic opinion. Needless to say all readers of your monthly (and others of the same calibre, and thank God, there are some more of the same calibre) must some day be united in one great Nationalist Party, that is if we are to survive as a great nation.“ Brief Luttman-Johnson, The New Pioneer 2 (Januar 1939), S. 44.

282   5.  Die politische Praxis am rechten Rand der Konservativen Partei BUF gewesen waren. Die Radikalität des New Pioneer zeigt auch das Mitwirken von Hans Grimm. Der nationalsozialistische Schriftsteller und Verfasser des Kolonialromans Volk ohne Raum schrieb drei Artikel für die Zeitschrift, die auf Vor­ trägen an englischen Universitäten beruhten.383 Angesichts seiner Autoren ist es kaum verwunderlich, wenn die Zeitschrift zum Organ einer antisemitisch, anti­ sowjetisch und antikapitalistisch motivierten Appeasement-Politik wurde. Hier wurde ein Aufnahmestop jüdischer Flüchtlinge propagiert,384 Demokratie als ein „euphemism for effeminization and sloth“385 beschrieben und der deutsche Arbeitsdienst als Schritt zur Gesundung der Nation gepriesen.386 Vor allem ging es den Autoren der Zeitschrift um eine Klärung der politischen Fronten. Die eigentliche Auseinandersetzung dürfe nicht zwischen autoritären Systemen und Demokratien verlaufen, sondern zwischen den Kräften des internationalen Finanzsystems und jenen Kräften, die sich wie Deutschland und Italien dafür einsetzten, das Finanzsystem in den Dienst der Nation zu stellen.387 Deutschland und Italien hätten versucht, sich dem internationalen Finanzsystem zu entziehen, und sollten, nach Ansicht ihrer Gegner, daher bestraft werden.388 Solche Einschätzungen waren nicht mehr weit von antisemitischen Verschwörungstheorien entfernt, und tatsächlich wurde die Kriegsgefahr von Ludovici und insbesondere auch von George Pitt-Rivers als das Ergebnis eines internationalen Komplotts beschrieben.389 Aber auch solch radikalen Vertretern der Appeasement-Politik wie den Autoren des New Pioneer erschwerte das nationalsozialistische Regime die Argumentation. Als deutsche Truppen im März 1939 ohne Absprache mit den Unterzeichnern des Münchner Abkommens in die Tschechoslowakei einmarschierten, reagiert selbst Lymington empört. „The New Pioneer, which has always wished to see AngloGerman co-operation and understanding, is bound to say that Herr Hitler’s ­actions have put the friends of Germany into an impossible position“. Zwar sei das deutsche Volk und die interne Regeneration Deutschlands so hervorragend, 383 Grimm

wurde von Lymington als Mann der deutsch-britischen Verständigung gepriesen: „His passionate plea for Germany’s ‚place in the sun‘ has never prejudiced his admiration for the British character and the achievements of England on the Seven Seas. His insight into the fatal failure of Englishmen and Germans not to talk at cross-purposes is combined with a deep conviction that the British and the Germans, together with other ‚Northern Peoples‘ have a common responsibility for the maintenance of civilisation.“ The New Pioneer 2 (August 1939), S. 220. 384 Viscount Lymington, Notes of the Month, in: The New Pioneer 1 (Januar 1939), S. 34. 385 Anthony M. Ludovici, Political Misuse of Words, in: The New Pioneer 2 (Januar 1939), S. 47–49, hier 47. 386 Rolf Gardiner, Origin of Labour Service in Germany, in: The New Pioneer 2 (Januar 1939), S. 50–52. 387 Viscount Lymington, Notes of the Month, in: The New Pioneer 2 (Februar 1939), S. 62. 388 A.K. Chesterton, Financial Imperialism and War, in: The New Pioneer 2 (Januar 1939), S. 45–46, hier 45. 389 Vgl. z. B. Anthony M. Ludovici, A Phase of the World War Plot, in: The New Pioneer 2 (Februar 1939), S. 81–83. Ludovici bezieht sich hier auf die antisemitische Verschwörungstheorie von George Pitt-Rivers, The Czech Conspiracy, London 1938.

5.4  Appeasement als Fokus und Finale der Neo-Tories   283

daß eine deutsch-britische Verständigung für die Zukunft der europäischen Zivilisa­tion unablässig sei. Doch: „Germany’s methods in this case have been stupid and in such bad faith“. Das unwichtige Böhmen sei es nicht wert gewesen, die Zukunft Europas aufs Spiel zu setzen. Die Pflege der deutsch-britischen Freundschaft sei nun sehr schwer geworden.390 Was die Autoren des New Pioneer an den Vorgängen im März 1939 störte, war Hitlers brutales Vorgehen und der unprovozierte Wortbruch. Das Risiko des Kriegsausbruchs mußte auf alle Sympathisanten Deutschlands desillusionierend wirken. An die Tschechen dachte man dabei weniger. Wie sehr man sich in dem deutschen Diktator getäuscht sah, zeigt das Unverständnis und die Verärgerung, mit der sie auf den Einmarsch deutschen Truppen in Böhmen reagierten. So fragte sich auch Yeats-Brown: „But what justification was there for the tanks, the aeroplanes, and the Gestapo that descended so swiftly on Bohemia on March 15th? Where was the hurry? What reason was there for not consulting France, ­Italy, and Great Britain, as Herr Hitler had promised in Munich? The reasons given are entirely unconvincing.“391 Nichtsdestotrotz wurde im New Pioneer weiter über deutsche Gebietsansprüche spekuliert. Als wichtiges Terrain hatte Rolf ­Gardiner im Mai 1939 die baltischen Staaten ausgemacht, die ein natürliches Einflußgebiet der Deutschen seien: „Estonia […] has been a watch tower of German civilisation since early times“. Es sei geradezu Aufgabe der Deutschen, die baltischen Staaten zu kolonisieren. „But in any case this is the natural field of German responsibility, as ours in overseas, and it would be suicidal to oppose Germany in fulfilling it.“392 Angesichts solcher Artikel sah Lymington sich immer mehr den Vorwürfen ausgesetzt, eine pro-nationalsozialistische und unbritische Politik zu verfolgen. Es war ihm daher wichtig klarzustellen: „We are not pro-Nazi, pro-Italian or proFrench, or pro any external power. We are pro-British; we stand for the protection and maintenance of the best of the British types, English, Scots, Welsh and Irish.“393 Die Haltung gegenüber Deutschland sei hingegen maßgeblich von drei Überlegungen bestimmt: erstens von der Frage, ob Deutschland eine Gefahr für Großbritannien darstellte. Bisher hatte aber nichts darauf hingedeutet, so Lyming­ ton. Hinzu kam, zweitens, daß Ost- und Südeuropa kein Einflußgebiet der Briten war und diese „agglomeration of racial enclaves“ einer starken Schutzmacht bedurfte. Dies konnte nur Deutschland sein. Drittens würde ein Krieg mit Deutschland das Ende der ‚weißen‘ Zivilisation bedeuten – „the sacrifice of the best of the blood of half Europe twice in twenty five years“. Trotz einer solch grundsätzlichen deutschlandfreundlichen Position sah sich Lymington auf keinen Fall als Pazifist. So lange es jedoch keinen wirklichen Grund gebe, gegen Deutschland in den

390 Viscount

Lymington, Notes of the Month, 391 Yeats-Brown, European Jungle, S. 215. 392 Rolf

in: The New Pioneer 2 (April 1939), S. 113 f.

Gardiner, Germany and the Baltic States, in: The New Pioneer 2 (Mai 1939), S. 147– 148, hier 147 f. 393 Viscount Lymington, Notes of the Month, in: The New Pioneer 2 (Juli 1939), S. 191.

284   5.  Die politische Praxis am rechten Rand der Konservativen Partei Krieg zu ziehen, so lange gelte es, Großbritannien zu regenerieren und zu einen.394 Auch die Verfolgung der Juden wurde nicht als Kriegsgrund anerkannt. Denn aus der Sicht Lymingtons gab es durchaus Ursachen für die Wut der Deutschen auf die Juden: „We may dislike the German treatment of the Jews, while we recognise that they are justified in removing the Jews from all places of influence in national life, after the corruption and degradation which the Jews had brought about in the defeated and demoralised post war Germany.“ Selbstverständlich, so Lymington im Juli 1939 im New Pioneer, habe die Geheimpolizei unschöne Dinge gemacht, und vieles in Nazi-Deutschland sei der britischen Tradition völlig fremd. Doch abgesehen davon bestehe ein Großteil der Aktivitäten des neuen Regimes in vernünftiger Arbeit, von der auch Großbritannien lernen könne: Probably more than fifty per cent is working on universal principles from which we might learn much that is useful, and which is not particular to Germany but was common to ourselves in the best periods of our tradition. The constant ridicule and lies of the Press pours such scorn on anything German, and influences people so strongly that simply to propose what is essentially English in the way of sound reforms is turned down because the Nazis have adopted parallel measures, which have nothing to do with dictatorships, storm troopers and rubber truncheons.395

Für Hitler-Apologeten wie Lymington war die Diskreditierung der eigenen Gesellschaftsutopien durch die nationalsozialistische Außenpolitik frustrierend geworden. Zwar suchte man den deutsch-britischen Ausgleich und war um Verständigung bemüht, doch nationalsozialistische Gewalt im Inneren wie Äußeren machte eine Betonung der ‚englischen‘ Traditionen autoritärer Staatsformen und ‚universeller‘ Prinzipen des Faschismus immer unglaubhafter. Je mehr die Polarisierung in Europa anhand der Gegensätze Demokratie und Diktatur voranschritt, desto mehr war davon auch die ideologisch begründete Appeasement-Politik betroffen. Die Hoffnungen, die durch das Münchner Abkommen geschürt worden waren, so Rolf Gardiner im August 1939, seien durch vier Ereignisse zerstört worden: erstens durch die bösartigen Beschuldigungen der negativ eingestellten britischen politischen Klasse; zweitens von der deutschen „insensitiveness“ gegenüber den Wirkungen, die drastische Maßnahmen gegen Juden haben würden; drittens durch den steigenden Einfluß von Flüchtlingen in Großbritannien, die an die ­britischen Humanität appellieren würden und viertens von Hitlers Unfähigkeit, seinen Wortbruch über die Eingliederung der Tschechen in das größere Reich zu rechtfertigen.396 Trotz derartiger Rückschläge bemühten sich Neo-Tories wie Lymington, Ludovici, Gardiner, Bryant, Wilson und Yeats-Brown auch in den letzten Monaten vor Kriegsausbruch noch um eine deutsch-britische Verständigung. Yeats-Brown

394 Ebd. 395 Ebd. 396 Rolf

Gardiner, Europe and Reality. Rezension von Francis Yeats-Brown, European Jungle, The New Pioneer 2 (August 1939), S. 228.

5.4  Appeasement als Fokus und Finale der Neo-Tories   285

wollte zu diesem Zweck gar eine neue Wochenzeitschrift gründen.397 In der Tat fehlte durch den Wegfall der English Review ein Forum für jene ideologisch motivierten ‚Appeaser‘, denen der New Pioneer zu radikal und sektiererisch war. Die National Review blieb bei ihrem stramm rechtskonservativen, doch auch gleichzeitig antideutschen Kurs. Ob unter dem alten Herausgeber Leopold Maxse oder unter Lady Milner, in der National Review hatte man den Deutschen noch nie vertraut. In der Dezember-Ausgabe nach dem Münchner Abkommen hieß es, daß es mit Deutschland eben die „same old story“ sei. Deutsche Politik und deutsche Methoden seien immer die gleichen, von Friedrich dem Großen zu Bismarck und von Bismarck zu Hitler. Worauf es in Großbritannien daher ankomme, sei ein nationaler Arbeitsdienst, landwirtschaftliche Reorganisation, Entwicklung des Empire und Ausbau der militärischen Kooperation mit Frankreich.398 Auch die Saturday Review war als auflagenstarke Wochenzeitung für kürzere und polemischere Artikel ab Januar 1937 für die Neo-Tories keine Alternative mehr, nachdem die Herausgeberin Lady Houston gestorben war und ihre Nachfolger eine andere politische Richtung einschlugen. Der neue Ton, der hier herrschte, ist angesichts der offenen Mussolini- und Hitlerverehrung in den Jahren zuvor bemerkenswert. Nach dem ‚Anschluß‘ Österreichs hieß es: „It is impossible any longer to entertain any doubts that in Hitler we have as ruthless an exponent of power politics as the world has ever seen.“ Sein gesetzloser Überfall auf Österreich könne nur als ein Omen für die Zukunft gesehen werden.399 Auch die radikalkonservative Tageszeitung Morning Post, das klassische Organ des diehard-Konservatismus, ging 1939 im gemäßigten Daily Telegraph auf. Es bot sich demnach eine Lücke auf dem ­Zeitungsmarkt, und genau in diese wollte Yeats-Brown mit einer neuen großangelegten Wochenzeitung stoßen. Er suchte dabei die Unterstützung von Douglas Jerrold, der jedoch für längere Zeit nach Amerika ging,400 und von Lymington, dem er erklärte, daß es ihn nicht darum gehe, eine „new right-wing paper“ im Stile des Spectator zu produzieren, sondern um ein Blatt von Leuten, die aktiv für eine Veränderung der Bedingungen kämpfen wollten.401 Yeats-Brown hoffte auch auf die Unterstützung von Arthur Bryant, den er als „godfather“ seines Buchs European Jungle bezeichnete,402 und der ja wiederum sehr gute Kontakte zu Baldwin und Chamberlain pflegte. In einem Memorandum, das er am 26. Mai 1939 an Bryant schickte, erläuterte er seine Vorstellungen: Die neue Wochenzeitung solle zwar im Stile des Spectator daherkommen, aber mit einem wichtigen Unterschied: „Very different in tone; that is, 397 Francis

Yeats-Brown an Arthur Bryant, 3. 4. 1939, Liddell Hart Centre for Military Archives, Bryant: E 39/20. 398 National Review 111 (Dezember 1938), S. 694. 399 Saturday Review, 19. 3. 1938, S. 182. 400 Yeats-Brown an Lymington, 10. 5. 1939, Wallop Papers (Gerald Vernon Wallop, 9th Earl of Portsmouth), Hampshire Record Office, Winchester, 15 M84 F 207. 401 Ebd. 402 Francis Yeats-Brown an Arthur Bryant, 23. 5. 1939, Liddell Hart Centre for Military Archives, Bryant: E 39/21A.

286   5.  Die politische Praxis am rechten Rand der Konservativen Partei wholeheartedly supporting Mr. Chamberlain’s policy of appeasement.“ Das Projekt sollte nicht mehr als £ 150 000 bis 200 000 kosten und im September 1939 starten. Yeats-Brown wollte den Chefredakteursposten nicht übernehmen und sich im Hintergrund halten, da seine politische Position, wie er sie in European Jungle formuliert hatte, zu extrem war. Das Journal sollte nicht zu teuer sein und sich an eine breite Leserschaft wenden. Yeats-Brown wollte Neville Chamberlain für einen Beitrag für die erste Ausgabe gewinnen. „I am convinced that there is not only an ­urgent need but a real public demand for an organ in which the fallacies of the Left can be exposed, and in which fair reviews of Right-wing books can be read.“403 Aus dem Projekt wurde aber angesichts der steigenden Kriegsgefahr nichts mehr. Zudem hatte Yeats-Brown aufgrund seiner politischen Ansichten seine eigenen Schwierigkeiten. Nachdem er noch im Mai 1939 dem pro-nazistischen und extrem antisemitischen Right Club des exzentrischen konservativen Abgeordneten Archibald Ramsay beigetreten war,404 versuchte Yeats-Brown im Sommer 1939 seine guten politischen Kontakte zu nutzen und seine Karriere zu retten. Lord Lloyd hatte sich für ihn an das Foreign Office gewandt und ihn als Presse­ attaché an der britischen Botschaft in Rom empfohlen.405 Offensichtlich war Yeats-Brown jedoch mit seiner ideologisch motivierten Appeasement-Politik zu weit gegangen. In einem Brief an Arthur Bryant, der sich für ihn bei Außenminister Lord Halifax eingesetzt hatte, schrieb er: „George Lloyd has written to say that the Foreign Office think me too Fascist for the post of the Press attaché in Rome.“ Zwar werde er sich weiter bemühen, doch sei dies in diesen Zeiten schwierig.406 Es ist nicht eindeutig festzustellen, ob die Gefährdung seiner Karriere oder die drohende Kriegsgefahr den uneingeschränkten Patrioten in Yeats-Brown weckten. Nach dem offensichtlichen Scheitern aller Vermittlungsbemühungen hatte die Verteidigung des Vaterlands im August 1939 für ihn oberste Priorität. So schrieb er am 8. August 1939 an Bryant: More than ever I think Chesterton’s words prophetic: The wall of gold entomb us, The swords of scorn divide: Take not Thy thunder from us, But take away our pride! Take away our pride… it has been taken: we are no longer arrogant bleating pacifists, but English again, and getting down to our own affairs, including the protection of our homes.407 403 Francis Yeats-Brown an Arthur Bryant, Memorandum „Private and Confidential“, 26. 5. 1939,

Liddell Hart Centre for Military Archives, Bryant: E 39/22A. Right Club war ein Versuch, die verschiedenen radikalen Splittergruppen der Rechten zu sammeln. Seine Zielvorgabe beschrieb Archibald Ramsay in seinem Buch „The Nameless War“: „The main object of the Right Club was to oppose and expose the activities of Organized Jewry, in the light of the evidence which came into my possession in 1938. Our first objective was to clear the Conservative Party of Jewish influence, and the character of our membership and meetings were strictly in keeping with this objective.“ Archibald Ramsay, The Nameless War, London 1955, S. 75. Vgl. zum Right Club außerdem Griffiths, Patriotism Perverted; Pugh, „Hurrah for the Blackshirts!“, S. 280 f., 290, 293, 301, 305. 405 Olga Yeats-Brown an Arthur Bryant, 23. 6. 1939, Liddell Hart Centre for Military Archives, Bryant: E 39/28. 406 Francis Yeats-Brown an Arthur Bryant, 29. 7. 1939, Liddell Hart Centre for Military Archives, Bryant: E 39/31A. 407 Francis Yeats-Brown an Bryant, 8. 9. 1939, Lidell Hart Centre for Military Archives, King’s College, London, Sir Arthur Bryant Papers E 39/32A. 404 Der

5.4  Appeasement als Fokus und Finale der Neo-Tories   287

5.4.3  Appeasement und der Patriotismus der Neo-Tories vor und nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs Die Neo-Tories distanzierten sich zu unterschiedlichen Zeitpunkten von der Appeasement-Politik. Eine erste Zäsur war, wie oben gesehen, der Einmarsch deutscher Truppen in Prag, der das Abkommen mit Hitler als nutzlos erscheinen ließ. Charles Petrie konstatierte: „The bad faith of Herr Hitler rendered necessary the abandonment of appeasement.“408 Doch für ihn war vor allem der Einmarsch italienischer Truppen in Albanien im April 1939 entscheidend, um mit dem Mussolini-Regime und endgültig mit der britischen Appeasement-Politik zu brechen. „I feel so strongly on the attack that I do not think I can associate myself with any Italian activities until there is a change of policy in Italy“, hieß es im Daily Express.409 Aus Protest legte er sein Amt im Rat der Anglo-Italian Cultural Association nieder.410 Der konservative Abgeordnete Arnold Wilson suchte hingegen auch noch im Juli 1939 während der Danzig-Krise einen Ausgleich mit Deutschland. Wilson hatte sich selbst ein Bild gemacht und war mehrfach nach Danzig gefahren. Er zeigte sich beeindruckt von dem deutschen Wiederaufstieg, der in den letzten Jahren dort stattgefunden habe: „It is once more what it was in 1919, a microcosm of that part of Prussia, to which it belongs geographically and racially.“411 Bereits bei einem Treffen der Winchester Conservative Association im April 1939 hatte er als Reaktion auf die britische Garantie für Polen erklärt, daß diese hoffentlich dazu führen würde, daß Polen die Verhandlung über eine Rückkehr Danzig zum deutschen Reich verweigere. Dies sei eine nicht unvernünftige Forderung, wie jeder, der die Karten studiere und die Geschichte Danzigs kenne, wissen müßte. Zudem stehe hinter Hitler eine geeinte, männliche und kraftvolle Nation, die allen eine Lektion in den Tugenden und Vorteilen von Disziplin und Selbstopfer erteilt habe: We, and our allies, could keep the peace only if we followed the example of the totalitarian states in certain aspects. We should make training in one of the national defence services obligatory forthwith. We should make strikes in munitions factories illegal, and we should introduce ­forthwith some element of control by Government over newspapers, and particularly over news bills and headlines.412 408 Charles

Petrie, Letter to the Editor, The Times 8. 4. 1939. Express, 12. 4. 1939. 410 Sir Charles Petrie and Albania, The Times, 12. 4. 1939. 411 Arnold Wilson, Danzig Today. Letter to the Editor, The Times, 7. 7. 1939. 412 Anti-British News in Germany. Sir Arnold Wilson on Discipline, The Times, 17. 4. 1939. Auch Douglas Jerrold erklärte Ende April 1939 in einem Brief an die Times, daß die britische Garantie für Polen nicht bedeuten dürfe, daß es von nun an keine Verhandlungen mehr geben könne: „Mr. Arthur Bryant is profoundly right in saying that the present unity of English public opinion in support of the Prime Minister constitutes the real chance for a policy of appeasement. But only on one condition, and that is that the great stand of the democracies for settlement by negotiation instead of force does not take the form, the moment they possess force themselves, of an indignant refusal to negotiate with anyone about anything.“ Douglas Jerrold, Letter to the Editor, The Times, 5. 4. 1939. 409 Daily

288   5.  Die politische Praxis am rechten Rand der Konservativen Partei Vor diesem Hintergrund lassen sich Grundelemente der neo-toryistischen Unterstützung von Appeasement aufzeigen: Ein Jahrzehnt lang hatten die Neo-Tories vor den Schwächen des demokratischen Systems, vor ‚Degeneration‘ und ‚Verweiblichung‘ gewarnt, und nun sollte man gegen die ‚disziplinierten‘, ­‚männlichen‘ Nationen Deutschland und Italien in den Krieg ziehen? Und das zur Aufrechterhaltung eines Versailler Vertrags, der aus ihrer Sicht voller Ungerechtigkeiten war? Das Hauptproblem war aber, daß die Neo-Tories – und nicht nur sie – Hitlers Außenpolitik mit einem ‚normalen‘ Revisionismus verwechselten. Dieses Mißverständnis betraf insbesondere die nationalsozialistische Verknüpfung von Außenpolitik mit Rassenideologie. Arnold Wilson hatte Mein Kampf gelesen und zeigte Verständnis für die ‚jüdische Frage‘, wie er im House of Commons betonte,413 aber die Radikalität der Motive für Hitlers rassistischen Vernichtungskrieg hatte er wie alle Neo-Tories unterschätzt. Gleichzeitig waren die Neo-Tories über die Erfolgsaussichten weiterer Verhandlungen skeptisch. Charles Petrie forderte Ende Mai 1939 daher, daß man zunächst die britischen Friedensziele eindeutig definieren solle. Vermutlich sei eine neue Regelung analog zum Münchner Abkommen in Großbritannien und Frankreich grundsätzlich akzeptabel. Aber es gebe nicht die geringste Wahrscheinlichkeit, daß Deutschland und Italien einem Friedensvorschlag auf der Basis des Status quo ante folgen würden, da sie seit September Böhmen und Albanien annektiert hätten. „Are the Western powers prepared to order them to relinquish these conquests?“414 Petrie verlangte auf diese Frage eine klare Antwort. Zeit zu gewinnen und die Wiederaufrüstung des Landes voranzubringen, war für ihn keine Option. „For this reason I earnestly suggest that in the interests of peace we should make up our minds exactly what we want from Germany and Italy, and so leave neither them nor our friends abroad in any doubt as to our ultimate intentions. If there is to be continued uncertainty, then let the responsibility for it not be at our door.“415 Daß eine eindeutige britische Position fehlte, lag allerdings auch an den NeoTories selbst. Denn die verschiedenen Vermittlungsmissionen, die im Sommer 1939 in mehr oder weniger offiziellen Reisen nach Deutschland unternommen wurden, waren für eine kompromißlose Haltung der britischen Regierung in der Frage der Garantie für Polen wenig hilfreich. Die Bedeutung von Vermittlungsversuchen wie Arthur Bryants Reise nach Deutschland sollte man sicher nicht überschätzen. Es bleibt allerdings unverständlich, warum sich Chamberlain eine Vertretung einer Position der Stärke ausgerechnet von Bryant erwartete, dessen politischen Ansichten so problematisch waren, daß seine Anstellung im Foreign Office auf erheblichen Widerstand der Opposition stieß. So fragte der LabourAbgeordnete George Russell Strauss, ob das britische Außenministerium sich

413 House

of Commons Debates, 31. 7. 1939, Vol. 350, cc2041. Petrie, What is Peace?, Letter to the Editor, The Times, 18. 5. 1939.

414 Charles 415 Ebd.

5.4  Appeasement als Fokus und Finale der Neo-Tories   289

wirklich von jemand beraten lassen wolle, „whose Fascist sympathies are well known.“416 Bryant war 1938/39 zum intellektuellen Chefverteidiger der Regierung gegen Kritiker des Appeasements avanciert. Bevor er Teil der Regierung wurde, vertrat er leidenschaftlich den Ausgleichskurs mit Deutschland in Ashridge,417 in der National Book Association,418 in Briefen an die Times419 und auch in der Wochenzeitung Illustrated London News. Hier hatte er erklärt, daß die Sudetenkrise die Aufregung nicht wert sei. Es wäre ein deutlich geringeres Desaster, wenn die ganze Tschechoslowakei unter den „hammer blows of Hitler’s army“ verschwinden ­würde, als wenn es zu einem Weltkrieg käme.420 Nach dem Einmarsch deutscher Truppen in Prag schlug er in einem Brief an den Chef der BBC R.C. Norman vor, daß Hitler nach England eingeladen werden sollte und sich in einer Radioansprache direkt an das britische Volk wenden und Deutschlands Bedürfnisse erklären solle. Im Gegenzug könne Chamberlain über das deutsche Radio an das deutsche Volk sprechen.421 Einen vorläufigen Höhepunkt erreichten die Vermittlungsaktivitäten Bryants mit seiner Reise vom 9. bis zum 12. Juli 1939 nach Berlin und Salzburg. Premierminister Chamberlain hatte ihm klargemacht, daß dies keine offizielle Reise sein könne und nicht der Eindruck aufkommen dürfe, daß er von ihm geschickt worden sei. Wenn die Reise auch nicht offiziell war, so wurde sie dennoch vom Büro des Premierministers bezahlt, und Bryant schickte ausführliche Memoranden an Chamberlain, die dieser an Außenminister Halifax weitergab.422 Bryants wichtigste Kontaktperson und Verhandlungspartner auf deutscher Seite war der Ständige Beauftragte des Reichsaußenministers beim Führer, Walter Hewel.423 416 House

of Commons Debates, 19. 6. 1939, Vol. 348, cc1794. Bryant schrieb daraufhin wütend an die Times: „They may be well known to Mr. Strauss but they are certainly not well known to me.“ Arthur Bryant, Letter to the Editor, The Times, 20. 6. 1939. Vgl. Zu Bryants Rolle 1938/39 Roberts, Patriotism, S. 298–309. 417 Arthur Bryant, Munich. Some Charges and their Answers, in: The Ashridge Journal 36 (Christmas 1938), S. 23–33. 418 Vgl. Kapitel 5.3.1. 419 The Times, 3. 4. 1939. 420 Illustrated London News, 10. 9. 1938. In derselben Zeitung rechtfertigte er wenig später die Pogrome gegen Juden im November 1938. Zwar sei die Gewalt sehr bedauerlich, doch könne man es den Deutschen es nicht verübeln, schließlich seien die Pogrome eine Reaktion auf „a murderous attack made by half-crazed Jewish youth who fired at a distinguished representative of Germany. Illustrated London News, 10. 11. 1938. 421 Bryant an R.C. Norman, 5. 4. 1939, Liddell Hart Centre for Military Archives, Bryant: C/66. 422 Bryant an Chamberlain, 1. 9. 1939, Liddell Hart Centre for Military Archives, Bryant: C/68; Büro des Premierministers an Bryant, 2. 9. 1939, Liddell Hart Centre for Military Archives, Bryant: C/68. 423 Hewel war ein alter Gefolgsmann Hitlers, der mit diesem nach dem Münchner Putschversuch von 1923 im Gefängnis gesessen hatte. Er gehörte zu jener letzten Gruppe von HitlerGetreuen, die am 1. Mai 1945 einen Ausbruchsversuch von der Reichskanzlei unternahmen. Hewel erschoß sich einen Tag später in der Nähe der Schultheiß-Brauerei in Berlin. Ernst Klee, Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945. Frankfurt a. M. 2005, S. 252; Christa Ossmann-Mausch, Alles begann in Berlin. Eine Jugend in Zeiten des Krieges, Berlin 2007, S. 345.

290   5.  Die politische Praxis am rechten Rand der Konservativen Partei Das Memorandum, das Bryant von seiner Unterredung mit Hewel an Chamberlain sendete, zeigt wie kaum ein zweites Dokument die Bedingungen und Irrtümer der ideologisch motivierten Appeasement-Politik der Neo-Tories. Bryant traf am 9. Juli zunächst in Berlin ein und traf sich mit Hewel zwei Tage später am 11. Juli in Salzburg. Hewel stand in ständigem Kontakt mit Hitler, der sich zu diesem Zeitpunkt in Berchtesgaden aufhielt. Hewel begann die inhaltliche Auseinandersetzung mit der Forderung, daß Danzig und Ost-Preußen zurück ins Reich müßten. Daraufhin antwortete Bryant, daß Großbritannien gar nicht so sehr wegen Danzig an sich besorgt sei, sondern wegen der Frage der Gewalt gegen Polen. Seinem deutschen Gesprächspartner erklärte Bryant im folgenden, daß die britische öffentliche Meinung über alliierte Ungerechtigkeiten an Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg nicht sonderlich gut informiert wäre. Bryant machte dafür den schädlichen Einfluß der linken Presse in Großbritannien verantwortlich, die grundsätzlich sehr wenig über Deutschland wisse. Gewalt aus deutscher Hand spiele aber den britischen Linken nur in die Hände: I gave it as my view that if Germany wanted to attain her legitimate ambitions without a world war she would have first to convince British public opinion of her peaceable intentions, and that once British opinion was so convinced, as it was very far from being at present, the man in the street would feel no more jealousy than I did of a strong German Reich with her own proper economic sphere in eastern and south-eastern Europe.424

Auch die Frage der deutschen Kolonien hätte, so Bryant, leichter gelöst werden können, wenn die Ereignisse des letzten März nicht gewesen wären. „After my reference to Prague, Hewel mentioned Herr Hitler’s bitter disappointment that the friendly understanding reached between yourself and him at Munich had ­immediately been dishonoured in spirit by Britain.“ Der Wortwechsel zwischen Bryant und Hewel kam inhaltlich nicht weiter. Bryant beschwor Hewel, daß Deutschland sanftere Methoden anwenden solle, wenn es die öffentliche Meinung in Großbritannien für seine natürlichen Ambitionen gewinnen wollte. Etwas Geduld und der Zeitfaktor würden für Deutschland spielen. Hewel hingegen blieb bei seiner Position, daß Hitler genau diesen britischen „good-will“ bezweifele, da die Regierung offenbar die Presse nicht unter Kontrolle bringen könne und Deutschland seinen berechtigten Status als Weltmacht nicht gewähren wolle. „Hewel said that only the previous night Hitler had been speculating in conversation what would have happened if Britain had accepted his earlier offers of ­collaboration on a basis of equality, and said how gladly Germany would have supported Britain in her present dispute with Japan.“425 Die Diskussion zwischen Bryant und Hewel ging am nächsten Tag weiter, doch Hewel war müde und offenbar schlecht gelaunt – „having been up till 3 a. m. with Hitler on both previous nights“. Auch jetzt drehten sich die Diskussionen um die Wahrscheinlichkeit eines Krieges. Zu einer Basis für eine Verständigung kam es 424 Bryant

an Chamberlain, 13. 7. 1939, Liddell Hart Centre for Military Archives, Bryant: C/68; Büro des Premierministers an Bryant, 2. 9. 1939, Liddell Hart Centre for Military Archives, Bryant: C/68. 425 Bryant an Chamberlain, 13. 7. 1939, Liddell Hart Centre for Military Archives, Bryant: C/68.

5.4  Appeasement als Fokus und Finale der Neo-Tories   291

aber nicht. Bryant selbst hatte den Erfolg seiner Reise als gering eingeschätzt. „I should very much doubt if my visit did any good, though I do not think it did the least harm.“ Ob das allerdings stimmte und Bryants verständnisvolle Haltung keinen Schaden angerichtet hatte, kann man zumindest bezweifeln. Denn so vergleichsweise marginal die Reise auch gewesen sein mag, trug sie nicht gerade dazu bei, die Meinung von führenden Nazis zu ändern, daß Großbritannien seine ­Garantie für Polen nicht zu einem Kriegsgrund werden lassen wollte. „London erklärt: trotz Russenpakt steht England zu seiner Verpflichtung. Na, wir werden ja sehen.“ hatte Joseph Goebbels in sein Tagebuch am 23. August notiert.426 In der letzten Debatte des House of Commons vor der Sitzungspause im Sommer 1939 machte Arnold Wilson eine Reihe von Vorschlägen, wie Deutschland in letzter Minute doch noch von einem Krieg abgehalten werden könne. Der erste Vorschlag betraf das ‚jüdische Problem‘. Die britische Regierung solle mit anderen Mächten ein Programm „for Jewish settlement on a larger scale“ finanzieren. Als Zielland dachte Wilson dabei an British Guayana, denn Palästina könne nicht mehr als 100 000 zusätzliche Juden aufnehmen, „and there are another 4 000 000 or 5 000 000 awaiting settlement“. Außerdem sollte man die ökonomische Hegemonialstellung Deutschlands und Italiens im Donautal anerkennen. Solange die politische Unabhängigkeit der Donaustaaten gewährt bleibe, könnten Deutschland und Italien hier eine bevorzugte Position haben. Der dritte Vorschlag betraf die Kolonien. Äquatorialafrika müßte insgesamt international verwaltet werden, und auch für Deutschland sollte ein Zugang zu Goldressourcen geschaffen werden.427 Auf den Einwand des Abgeordneten Crossley, daß man Deutschland ein Jahr zuvor bereits weitgehende Zugeständnisse gemacht und es trotzdem alle Versprechungen gebrochen habe, erklärte Wilson: If Germany has not the courage to approach us we as the older, the senior and the wiser Power must again take the initiative. Because we failed once it does not follow that we may not succeed a second time. It is difficult — and nobody realises it more than I — to speak of appeasement or to make suggestions for further negotiations. If these proposals which I have suggested were to be rejected I would fight myself, and I would urge others to fight to the utmost limit. I am no pacifist.428

Doch der Krieg konnte nicht mehr aufgehalten werden. Am 1. September 1939 griffen die Truppen der Wehrmacht Polen an und lösten somit die Kriegserklärung Großbritanniens und Frankreichs an das Deutsche Reich am 3. September 1939 aus. Damit befanden sich auch die Neo-Tories als britische Staatsangehörige im Krieg mit den Achsenmächten. Verhandlungen, wie sie Arthur Bryant noch wenige Wochen zuvor geführt hatte, waren von nun an Landesverrat. Mit der Internierung von Verrätern hielten sich die britischen Behörden jedoch sehr zurück. Im Herbst 1939 und im Frühjahr 1940 drohte für britische Faschisten noch nicht unmittelbar das Gefängnis. Mosleys Partei führte gar im Frühjahr 1940 mit eige426 Ralf

Georg Reuth (Hrsg.), Joseph Goebbels. Tagebücher. Bd. 3. 1935–1939, München 1992, S. 1320. 427 House of Commons Debates, 31. 7. 1939, Vol. 350, cc2043 f. 428 House of Commons Debates, 31. 7. 1939, Vol. 350, cc2044.

292   5.  Die politische Praxis am rechten Rand der Konservativen Partei nen Kandidaten bei drei Nachwahlen für vakant gewordenen Unterhaussitze ­einen Anti-Kriegs-Wahlkampf.429 Erst unter der Regierung Churchill und unter dem Eindruck von Invasionsängsten kam es im Mai 1940 zu einer Verhaftungswelle, in deren Folge Oswald Mosley und über 800 Funktionäre der British Union of Fascists oder der Partei nahestehende Personen interniert wurden.430 Mit Hitlers Friedensangebot nach seinem Sieg über Polen verbanden sich bei einigen Neo-Tories Anfang Oktober 1939 noch einmal kurzfristig Hoffnungen auf eine friedliche Lösung, die jedoch von der ‚feindlichen Reaktion‘ der britischen Presse schnell wieder zerstört wurden. Luttman-Johnson schrieb in sein Tagebuch am 7. Oktober: „Hitler’s peace speech[,] which coming from a man who had gained such astonishingly rapid victories in a month over Poland – were [sic] very reasonable – have [sic] been scornfully received by the so-called ‚democratic‘ countries. Hence hopes of peace dwindle“.431 Der Schriftsteller Edmund Blunden drückte sich in einem Brief an Arthur Bryant einen Tag später gewählter aus. Er stimmte mit Bryant darüber überein, daß jetzt der Moment gekommen sei, innezuhalten und nachzudenken. Aber er fragte sich, ob das Ziel, das Nazi-Regime zu zerstören, wirklich die damit verbundenen großen Opfer wert sei. Vielleicht sei es doch besser, den Osten Europas den Deutschen zu überlassen: There is a good deal of Hitler’s speech which contains a core of real sense. We are a nation profoundly ignorant of the Slavic mentality and the Slav incapacity for decentralised civilisation. We always fall into the danger of idealising these easterly nations. The Germans, however brutal and casuistic their methods, have long experience of these people and it is for them to learn how to achieve a modus vivendi with them not for us to teach them.432

Die meisten Neo-Tories hatten jedoch von Aktivitäten, die sie in irgendeine Nähe zum Feind hätten rücken können, Abstand genommen. Selbst Viscount Lymington hielt sich angesichts der Kriegssituation zurück. In einem Aufruf an die Mitglieder der English Array erklärte er im August 1939: „Should there be war, it must be treated as an interval in full Array activities.“433 Zwei Monate später erklärte er seinen Lesern in der ersten Ausgabe seines New Pioneer nach Kriegsausbruch in dramatischem Stil die neue Lage: Night has fallen; this is no place or time to cry for the lost moon, to allocate blame or to dissect the policies which led to darkness. Destiny has taken the little power from our hands who strove for some peace and understanding in Europe. It is small consolation to us to point out how

429 Bei

keiner der Wahlen kam die Partei über 2,9% hinaus, und bei der letzten Wahl im Mai wurde Mosley kurz vor seiner Internierung von einer aufgebrachten Menge beinahe gelyncht. Pugh, „Hurrah for the Blackshirts!“, S. 291 f. 430 Pugh, „Hurrah for the Blackshirts!“, S. 292–319; Dorril, Blackshirt, S. 504–534; Graham Macklin, Very Deeply Dyed in Black. Sir Oswald Mosley and the Resurrection of British Fascism after 1945, London 2007, S. 9–28. 431 Tagebücher Luttman-Johnson, 3. 10. 1939, Luttman-Johnson Papers, 5, Imperial War Museum, London. 432 Edmund Blunden an Arthur Bryant, 8. 10. 1939, Liddell Hart Centre for Military Archives, Bryant: E/10. 433 Viscount Lymington, Men of the English Array, August 1939, Wallop Papers (Gerald Vernon Wallop, 9th Earl of Portsmouth), Hampshire Record Office, Winchester, 15 M84 F 176.

5.4  Appeasement als Fokus und Finale der Neo-Tories   293 steadily we have condemned the Russian pact, and how clearly we have outlined Stalin’s purpose to involve Europe in fratricide.434

Auch jene, die diesen Krieg haßten, so Lymington, würden nun zu Recht den Stolz auf britische Kriegs- und Waffenkunst in sich spüren und an die Geschichten der Ritterlichkeit denken, die zwischen tapferen Feinden erzählt werden.435 Der Krieg habe nicht den Zweck und die Prinzipien, für die der New Pioneer gegründet wurde, geändert, doch „[i]t has circumscribed our opportunity. We must wait to begin again on the real necessities of the peoples of this Island and in our Empire.“436 Lymington stellte den New Pioneer im Januar 1940 ein. Zu diesem Zeitpunkt hielten nur noch wenige Neo-Tories daran fest, Deutschlands ‚berechtigte‘ Forderungen zu verteidigen. Höhepunkt dieser späten Nazi-Apologetik war das schon mehrfach zitierte Buch Arthur Bryants Unfinished Victory, das im Februar 1940 erschien.437 Das antisemitische Buch wurde indes auch Bryant selbst bald sehr unangenehm, und er versuchte, möglichst vieler Kopien habhaft zu werden und zu vernichten. Bei seinen Freunden war das Buch gleichwohl ein Erfolg. Edmund Blunden sah in dem Buch „a clear and humane work as an exception to the flood of war fomenters.“ Die Mehrheit der Briten könne offenbar nicht anerkennen, wie sehr Deutschland 1918 gelitten habe, und daß es endlich „fair play“ verdiene.438 Man mußte jedoch kein Nazi-Apologet sein, um die Konstellation dieses Krieges zu mißbilligen. Auch Charles Petrie hoffte noch kurz nach Kriegsausbruch auf eine Allianz der ‚Kräfte der Rechten‘ gegen Deutschland. Der deutsch-russische Pakt und die Invasion Polens, erklärte er in einem Memorandum vom 20. September 1939, habe eine exzellente Möglichkeit eröffnet, die Kräfte der europäischen Rechten gegen das Nazi-Regime zu mobilisieren. Die Rechte Europas habe schon immer dem Nationalsozialismus wegen seiner Haltung zu Religion und Monarchie skeptisch gegenübergestanden, aber diesen wegen seiner feindlichen Haltung gegenüber dem Bolschewismus toleriert – „now that both their opponents were in the same camp it should not be difficult to rally Right feeling to the side of Great Britain, which is a Christian and monarchical Power, in the struggle against Berlin and Moscow.“ Spanien und Portugal wären erste Adressaten einer solchen Propaganda-Initiative für die rechten Kräfte Europas gegen Nazi-Deutschland und Rußland. Hinzu könnten Italien, Ungarn, die Baltischen Staaten und Lateinamerika kommen.439 434 Lymington, 435 Ebd.

436 Lymington,

Editorial Notes, The New Pioneer 2 (Oktober 1939), S. 257.

On the New Pioneer, The New Pioneer (November 1939). Kap. 4.5.3. Wie Andrew Roberts es in seinem polemischen Artikel zu Bryant gesagt hat, überrascht die unglaubliche Chuzpe und Kühnheit, ein solches Buch zu diesem Zeitpunkt auf den Markt zu bringen. Roberts, Patriotism, S. 311. 438 Edmund Blunden an Arthur Bryant, 18. 2. 1940, Liddell Hart Centre for Military Archives, Bryant: E/10. 439 Charles Petrie, Memorandum on the Influence of Right Opinion in Europe in Favour of the Allies, in: Ders., Twenty Year’s Armistice and After. British Foreign Policy since 1918, London 1940, S. 247. 437 Vgl.

294   5.  Die politische Praxis am rechten Rand der Konservativen Partei Petrie hatte sein Memorandum an Premierminister Chamberlain geschickt, der es in einem Antwortschreiben für interessant befunden und an das Außenministerium weitergeben hatte. Doch dies war kaum mehr als Höflichkeit gegenüber einem Freund, der ihn und seiner Familie mit The Chamberlain Tradition ein außer­ordentlich positives Buch gewidmet hatte.440 Das Informationsministerium erklärte schließlich, daß man Petries Memorandum nicht weiter verfolgen könne, da man zu Kriegszeiten sehr besorgt sei, „not to introduce any sort of class distinction in our propaganda.“441 Petries Idee einer propagandistischen Mobilisierung der rechten Kräfte des ‚christlichen Abendlands‘ gegen die ‚Kräfte der heidnischen Barbarei‘ hatte keine Chance gegen das tatsächliche propagandistische Motto des Krieges: democracy versus fascism. Mit dem Ausbruch des Kriegs waren seine Hoffnungen auf eine royalistisch-christliche ‚Wiedergeburt‘ Europas, auf eine konservative Revolution in Europa obsolet geworden. Petrie zog sich nach der Ablehnung seines Memorandums aus der Politik zurück. Im Auftrag des Informationsministeriums reiste er nun durch Südengland, um die Bevölkerung auf eine mögliche Invasion vorzubereiten. In den weiteren Kriegsjahren arbeitete er als Dozent für die britische Armee und unterrichtete Offiziere in Diplomatiegeschichte.442 Auch für Petrie galt nun der Ausspruch right or wrong – my country! Arnold Wilson hatte nach dem Ausbruch des Krieges seinen politischen Irrtum eingestanden und sich als 55jähriger Abgeordneter und Familienvater freiwillig für den Kriegsdienst gemeldet. Wilson erklärte, daß er jetzt in dem Moment, in dem sein Vaterland bedroht war, keineswegs gewillt sei, sich zu verstecken. „Once I am convinced, that the issue between Germany and England must be fought out to a finish, as I am now convinced, I have no desire whatever to shelter myself and live in safety behind the ramparts of the bodies of millions of young men.“443 Nach kurzem Training in der Royal Air Force wurde Wilson Heckschütze an Bord eines Kampfflugzeugs, „perhaps the most dangerous job in the armed services“, so die New York Times in einem Artikel über Wilsons ‚Sühne‘, die auch jenseits des Atlantiks für Aufmerksamkeit gesorgt hatte.444 Nachdem er mehrere Monate in Norwegen gekämpft hatte und für die sporadischen Sitzungen des House of Commons nach London zurückgekehrt war, schlugen mehrere Abgeordnete Wilson vor, es jetzt gut sein zu lassen. Doch Wilson erklärte: „These young fellows look to me now, and I wouldn’t let them down.“ Im November 1940, fünf Monate nachdem seine Maschine abgeschossen worden war, wurde Arnold Wilson für tot erklärt.445 440 Charles

Petrie, The Chamberlain Tradition, London 1938. In der deutschen Ausgabe wird Petrie als „politischer Freund und persönlicher Vertrauter des gegenwärtigen englischen Ministerpräsidenten“ vorgestellt. Charles Petrie, Die Chamberlains. Joseph – Austen – Neville Chamberlain, Leipzig 1939, S. 5. 441 Petrie, Chapters of Life, S. 282. 442 Ebd., S. 283–297. 443 Sir Arnold Wilson to Join R.A.F, The Times, 20. 10. 1939. 444 Disillusioned Tory Made „Atonement“, New York Times, 10. 6. 1944. 445 Obituray Sir Arnold Wilson, The Times, 28. 11. 1940.

6.  Schlussbemerkung Mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs verlor der Neo-Toryismus seine politische Bedeutung. Der britische Kampf gegen den europäischen Faschismus machte aus den Neo-Tories nicht unbedingt überzeugte Demokraten. Die Hoffnungen auf die Verwirklichung ihrer politischen Vorstellungen von einem autoritär-korporativen Staat gaben sie auf. Einige der Neo-Tories machten in der Konservativen Partei Karriere und übernahmen wie Duncan Sandys oder Lennox-Boyd in den konservativ geführten Nachkriegsregierungen Ministerämter. Andere schrieben kulturpessimistische Betrachtungen und beschworen das christliche Abendland angesichts der sowjetischen Gefahr. Douglas Jerrold und Charles Petrie gründeten zu diesem Zweck die New English Review. Beide waren weiterhin erzkonservative Publizisten. Petrie etwa schrieb in seinen Erinnerungen von 1950: „I am a Tory not a Conservative, and when I criticize Conservatism it is because […] it has departed from what I believe to be the basic principles of Toryism.“1 Die Zeit für Neo-Toryismus als Systemalternative in Großbritannien war allerdings vorbei. Für Viscount Lymington, seit 1943 Earl of Portsmouth, war das Grund genug, das Land zu verlassen. Er begann ein neues Leben als Farmer in Kenia.2 Anthony Ludovici fand in Südafrika publizistisches Asyl und schrieb Artikel wie „The black invasion of Britain“ und „Woman’s contribution to Britain’s national decline“ für den South African Observer.3 Andere fanden in der britischen Anti-Europa-Bewegung ein neues Betätigungsfeld. Arthur Bryant entwickelte sich wie der ehemalige Herausgeber der English Review, Derek Walker-Smith, in den sechziger und siebziger Jahren zu einem entschiedenen Kämpfer gegen Großbritanniens Eintritt in die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft. Bryant suchte weiterhin den Kontakt zur Macht und unterstützte Margaret Thatchers Aufstieg in der Konservativen Partei.4 Der Feind von Englishness war jetzt nicht mehr der Liberalismus des 19. Jahrhunderts, sondern die Bürokraten in Brüssel. Bryant befand sich nun im ideologischen Fahrwasser einer anderen, moderneren konservativen Revolution.5 Doch inwiefern waren die britischen Neo-Tories Teil der ‚klassischen‘ ‚Konservativen Revolution‘ der Zwischenkriegszeit? Wie die ‚konservativen Revolutionäre‘ der Weimarer Republik waren die britischen Neo-Tories in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen zu entschiedenen Gegnern der parlamentarischen Demo1

Petrie, Chapters of Life, S. 151. Lymington, A Knot of Roots, S. 215–298. 3 Anthony M. Ludovici, The Black Invasion of Britain, in: The South African Observer 1 (1955), S. 5–6; ders., Woman’s Contribution to Britain’s National Decline, in: The South African Observer 2 (1956), 9–10. Die Fortsetzung des Artikels zog sich über dutzende weitere Ausgaben der Zeitschrift. 4 Stapleton, Arthur Bryant and National History, S. 259–274. 5 Dominik Geppert, Thatchers konservative Revolution. Der Richtungswandel der britischen Tories 1975–1979, München 2000. 2

296   6.  Schlussbemerkung kratie geworden. Anfang der dreißiger Jahre entwickelte sich Neo-Toryismus als ein radikalisierter, zutiefst antiliberaler und antidemokratischer Konservatismus, der aufgrund seiner ‚Gesellschaftsfähigkeit‘, seiner Anziehungskraft auf viele ­junge desillusionierte Konservative und aufgrund seiner netzwerkartigen Verbindungen zur Spitze der Macht ein größeres Gefahrenpotential für die etablierte Ordnung darstellte als die britischen Faschisten. Das Scheitern rechtsautoritärer Gesellschaftsvorstellungen und die Stabilität der liberalen Demokratie in Großbritannien kann daher nicht mit dem Scheitern der BUF gleichgesetzt und erklärt werden. Ausgehend von einem äußerst pessimistischen Menschenbild wandten sich die Neo-Tories gegen das Gleichheitspostulat der modernen Gesellschaft. Sie mißtrauten dem Glauben an Technik und Fortschritt zutiefst. Für sie befanden sich Gesellschaft, Staat und Empire im Zustand des Verfalls. Historischer Hauptfeind der Neo-Tories war zunächst der Liberalismus, dessen materielles Gewinnstreben die Nation moralisch ausgehöhlt und zu der schleichenden ‚Degenera­ tion‘ geführt habe. Ausdruck der ‚Degeneration‘ war aus ihrer Sicht das Aufkommen ­eines urbanen Industrieproletariats, dessen politische Partizipation eine effektive und rationale Exekutivgewalt verhindere. Gegen den Pluralismus divergierender Interessen setzten sie das Ideal einer statischen Ordnung des Ganzen. Gegen Monopol-Kapitalismus und Urbanisierung wendeten sie die mythische Beschwörung einer ländlich-agrarischen, dezentralen Urgesellschaft. Dem entsprach die Utopie einer hierarchisch gegliederten Gesellschaft, an deren Spitze ein Monarch mit starker Exekutivgewalt stehen sollte. Der Neo-Toryismus entwickelte eine spezifisch englische Herleitung seiner politischen Ideen. Maßgeblich war hierfür ein radikal antiwhiggistisches Geschichtsbild, das die englische Geschichte seit der Glorious Revolution von 1688/89 als Niedergangsgeschichte darstellte. Dieses Geschichtsbild diente als historischer Anker in einer politischen Abwehrschlacht gegen Liberalismus und Sozialismus auf der einen Seite und den als ­‚unenglisch‘ wahrgenommenen Faschismus auf der anderen Seite. Der Hauptkampf der Neo-Tories galt jedoch der parlamentarischen Demokratie. Auch für sie war dieses System eine „Herrschaft der Minderwertigen“.6 Doch anders als für Edgar Jung in seiner populären Schrift von 1927 und anders als bei der Vielzahl der anderen deutschen Variationen dieses Themas war für die NeoTories parlamentarische Demokratie eben nicht das System des ‚Westens‘. In ihren antiwhiggistischen Geschichtsrekursen bemühten sie sich ja gerade, das Unenglische des liberal-demokratischen Systems zu identifizieren.7 Der ‚Westen‘ war somit für diese Autoren auch nicht ein polemisch genutzter, ideologischer Sammelbegriff, sondern vielmehr eine historische Größe im Sinne des christlichen Abendlandes. Anders als im Deutschen Reich war das System des ‚Westens‘ nicht das System des Siegers. Eine Ordnungsvorstellung, die im fundamentalen Gegensatz zur liberalen Demokratie stand, traf also von Anfang an nicht auf ein vergleich6

So der Titel von Edgar Julius Jung, Die Herrschaft der Minderwertigen, ihr Zerfall und ihre Ablösung durch ein Neues Reich, Berlin 1927. 7 Vgl. hierzu auch Dietz, Gab es eine Konservative Revolution in Großbritannien?, S. 637.

6.  Schlussbemerkung   297

bares nationalistisches Potential, wie es sich im Deutschen Reich aus den psychologischen Folgen der Kriegsniederlage und durch den Versailler Vertrag gebildet hatte. Bei den meisten Autoren der ‚Konservativen Revolution‘ kulminierten die Sehnsüchte nach Ordnung, Gemeinschaft und Stabilität in der Idee eines nahenden ‚dritten Reichs‘. Die mythische Vorstellung einer Versöhnung aller Gegensätze und Vollendung der deutschen Geschichte in einem dritten und endgültigen Reich hatte Arthur Moeller van den Bruck aufgegriffen und schon früh gegen die Republik instrumentalisiert.8 Sein Hauptwerk von 1923 Das dritte Reich wurde „dem neuen Nationalismus zur Bibel“.9 Das Reich diente als der Gegenbegriff zur Republik und zum Nationalstaat westlicher Prägung. Mit dem Reichsmythos bekam die Agitation gegen Weimar und Versailles eine ‚positive‘ Utopie, die es noch dazu erlaubte, Expansionsansprüche in Mitteleuropa zu legitimieren.10 Einen vergleichbar erfolgreichen Mythos hat es in Großbritannien nicht gegeben. Der Kult um das britische Empire hatte einen viel säkulareren, ja sogar pragmatischeren Charakter – eine heilsgeschichtliche Fundierung wie beim Reichsmythos gab es so nicht. Außerdem war das britische Empire zwar geschwächt, aber es existierte – als Fokus einer nationalen Erneuerung taugte es nicht.11 Die britischen Neo-Tories interessierte das Empire auch nur sekundär. Aus ihrer Sicht war das Empire mit dem Makel eines liberalistischen Materialismus behaftet. Eine reine Verteidigung des Status quo war aus ihrer Sicht sinnlos – zunächst galt es, die Kräfte des britischen Mutterlandes zu revitalisieren. Mythisiert wurde hingegen das englische Mittelalter, das sowohl den katholischen als auch den protestantischen Autoren als Leitbild in ihrem antimodernen Abwehrkampf diente. Der historische Rückgriff auf das Mittelalter sollte gerade auch von der revolutionären Dynamik alternativer Gesellschaftsmodelle ablenken. Die Idee des korporativen Staats konnte so als harmonische Synthese von Tradition und Moderne beschworen werden. Kontinuität und Legitimität spielten insgesamt eine sehr große Rolle in den Überlegungen der Neo-Tories – die britische Monarchie wurde beispielsweise von keinem der hier untersuchten Neo-Tories in Frage gestellt. Selbst mit der metaphorischen Verwendung des Begriffs ‚Revolution‘ waren die Neo-Tories vorsichtig. Anders als etwa in Oswald Spenglers Preußentum und Sozialismus, bemühten sich die Neo-Tories auch nicht darum,   8 Hans-Joachim Schierskott, Arthur

Moeller van den Bruck und der revolutionäre Nationalismus in der Weimarer Republik, Göttingen 1962; Rolf Peter Sieferle, Die Konservative Revolution und das „Dritte Reich“, in: Dietrich Harth und Jan Assmann (Hrsg.), Revolution und Mythos, Frankfurt a. M. 1992, S. 178–205; Herfried Münkler, Das Reich als politische Macht und politischer Mythos, in: Ders., Reich – Nation – Europa. Modelle politischer Ordnung, Weinheim 1996, S. 11–59; Hans-Georg Meier-Stein, Die Reichsidee 1918–1945. Das mittel­ alterliche Reich als Idee nationaler Erneuerung, Aschau 1998, S. 143–157.   9 Jean F. Neurohr, Der Mythos vom Dritten Reich. Zur Geistesgeschichte des Nationalsozialismus, Stuttgart 1957, S. 63. 10 Winkler, Der lange Weg nach Westen, Bd. 1, S. 524. 11 Allgemein hierzu Franz Bosbach und Hermann Hiery (Hrsg.), Imperium, Empire, Reich. Ein Konzept politischer Herrschaft im deutsch-britischen Vergleich, München 1999.

298   6.  Schlussbemerkung den Begriff ‚Sozialismus‘ zu einem für die konservative Rechte verfügbaren Schlagwort zu machen. Auf Abbau von Klassenspannungen zielende Gemeinschaftskonzepte wie die ‚Volksgemeinschaft‘ wurden von den Neo-Tories nicht entwickelt. Damit verbunden ist eine geringere Bedeutung des ‚Antibolschewismus‘. Die Angst vor Gewalt, vor Chaos, Anarchie und Bürgerkrieg, vor ‚russischen‘ Zuständen war in der Weimarer Republik für die Empfänglichkeit von rechten Ordnungsvorstellungen von großer Bedeutung. Dabei gab es bei Teilen der intellektuellen Rechten durchaus eine gewisse Faszination für Rußland, das als Seelenverwandter im Kampf gegen den westlichen Rationalismus verstanden werden konnte.12 So weit gingen die Neo-Tories nicht. Ihr Antikommunismus war, obwohl eine kommunistische Partei in Großbritannien nie eine große Rolle gespielt hatte, nicht ambivalent, sondern eindeutig. Maßgeblich für die politische Argumentation war der Antikommunismus jedoch nur während des spanischen Bürgerkriegs. Es gibt weitere Faktoren, die die britischen Neo-Tories ‚konservativer‘ erscheinen lassen als die ‚konservativen Revolutionäre‘ der Weimarer Republik. Militaristischer Nationalismus spielte in den untersuchten Kreisen keine und Antisemitismus nur eine untergeordnete Rolle. Einem Führerkult wollten sich die Neo-Tories nicht unterordnen. Als Denkrichtung und politisches Programm hat der Neo-Toryismus allerdings nie einen Adressatenkreis erreicht, der über jene von den Neo-Tories als our class bezeichneten wenigen zehntausend Menschen hinausging. Ein radikalisiertes Bürgertum, das Adressat der Neo-Tories hätte sein können, gab es in England nicht. Anders als im Deutschen Reich gab es so keine breite Begegnung zwischen radikalisiertem Bürgertum und politischen Literaten. Doch genau darin bestand, so Panajotis Kondylis, die eigentliche Bedeutung der ‚Konservativen Revolution‘: „Ohne die Niederlage ausgerechnet durch die liberal-parlamentarischen Mächte des Westens und ohne Versailles wäre das ‚Revolutionäre‘ bei der ‚Konservativen Revolution‘ – eben das was die Radikalisierung von Teilen des Bürgertums ideologisch widerspiegelte – höchstwahrscheinlich fortgefallen.“13 Außerdem gab es in Großbritannien keine Organisationen wie den Stahlhelm, bei denen die Ideen der ‚Konservativen Revolution‘ auf fruchtbaren Boden hätte fallen können. Eine „staatspolitische Abteilung der nationalen Revolution“14 – so Edgar Jung bezüglich der DNVP – ist die Konservative Partei zum Verdruß der Neo-Tories nie geworden. Das Scheitern des Neo-Toryismus muß allerdings vor allem aus der britischen Geschichte der Zwischenkriegszeit heraus erklärt werden. Aus dieser Sicht waren vier Gründe entscheidend:

12 Louis

Dupeux, „Nationalbolschewismus“ in Deutschland 1919–1933. Kommunistische Strategie und konservative Dynamik, Frankfurt a. M. 1988. 13 Panajotis Kondylis, Konservatismus. Geschichtlicher Gehalt und Untergang, Stuttgart 1986, S. 470. 14 Zit. nach Fritzsche, Politische Romantik, S. 269.

6.  Schlussbemerkung   299

1. Die Deutungshoheit der Linken blieb in intellektuellen Kreisen bestehen. Die gegründeten rechtsintellektuellen Studienzentren und Buchclubs blieben weit hinter dem Erfolg ihrer linken Vorbilder zurück. An den britischen Universitäten spielte der Neo-Toryismus keine dominante Rolle. Die highbrow-Kultur blieb mehrheitlich links. 2. Die Mehrheit in der Konservativen Partei wollte von einer intellektuellen Neuausrichtung und Radikalisierung nichts wissen, da sich die Öffnung und ­Modernisierung der Partei als ausgesprochener Erfolg erwiesen hatte. Die An­ passungsfähigkeit des britischen Konservatismus, die Öffnung für neue Wählerschaften und eine patriotisch-friedliche Definition von Englishness ist dabei das Verdienst der Parteiführung um Premierminister Stanley Baldwin, der nicht in Freund-Feind-Schemata dachte, sondern kompromißbereit mit Teilen der Labour-Partei eine außerordentlich stabile Koalitionsregierung führte. 3. Eine rechte Allianz zwischen Neo-Tories, dem imperialen Flügel der diehards, den ‚Presse-Baronen‘ Lord Beaverbrook und Lord Rothermere und den britischen Faschisten ist nicht zustande gekommen. Zu den Faschisten waren die gesellschaftlichen Gegensätze und das konträre Verständnis von Politik und Gewalt unüber­brückbar. Eine Allianz mit dem imperialen Flügel der diehards scheiterte, weil diese ihren Radikalkonservatismus auf klassische konservative Themen wie Schutzzollpolitik und Empire begrenzten. Sowohl britische Faschisten als auch die diehards fielen als potentielle Bündnispartner 1934 bzw. 1935 aus. 4. Mit zunehmender Militanz der deutschen Außenpolitik und der ideologischen Spaltung Europas in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre wurden rechtsautoritäre Planspiele zunehmend als unpatriotisch diskreditiert. Die Neo-Tories bemühten sich zwar, ihre politischen Vorstellungen als genuin englisch darzustellen, doch für die meisten Briten klang ‚korporativer Staat‘ und ‚hierarchische Gesellschaftsordnung‘ nach Mussolini und Hitler und somit bald nach dem Feind. Britischer Patriotismus wurde zunehmend deckungsgleich mit der Verteidigung von Freiheit und liberaler Demokratie. Ihre Propagandatätigkeit für Franco, Mussolini und Hitler ließ jedoch die Beschwörung des genuin englischen Charakters ihrer autoritären Gesellschaftsentwürfe wenig glaubhaft erscheinen. Das Scheitern von Appeasement war somit auch das Ende des Neo-Toryismus.

7.  Quellen und Literatur 7.1  Quellen a)  Nachlässe: Churchill Archives Centre, Cambridge The Papers of Lord Lloyd of Dolobran. Privatbesitz Familie Petrie, Lestre, Frankreich Charles Petrie Papers. British Library, London Korrepondenz Ezra Pounds mit Graham Seton-Hutchison. Imperial War Museum, London H.W. Luttman-Johnson Papers. King’s College, London Arthur Bryant Papers, Liddell Hart Centre for Military Archives. Basil Liddell Hart Papers, Liddell Hart Centre for Military Archives. Royal Airforce Museum, London John Moore-Brabazon Papers. Wellcome Library, London William Ralph Inge Papers, Eugenics Society Archive. Anthony Ludovici Papers, Eugenics Society Archive. George Pitt-Rivers Papers, Eugenics Society Archive. Bodleian Library, Oxford H.A.L. Fisher Papers. Alan Lennox-Boyd Papers. T.E. Lawrence Papers. Violet Milner Papers. Winterton Papers. Hampshire Record Office, Winchester Lymington, Viscount (Gerald Vernon Wallop, 9th Earl of Portsmouth) Papers. University of Texas, Austin, USA Francis Yeats-Brown Papers, Harry Ransom Humanities Research Center.

b)  The National Archives, Kew: FO 371/20538. FO 371/21287. FO 371/22334. FO 371/24526. FO 371/39768. HO 144/20140/114. HO 144/20142/216. HO 144/20144/116. HO 144/20144/267. HO 144/20145/289. HS 9/1200/5. KV2/834. KV3/59. KV3/59/214. KV 5/2. MEPO 3/730.

302   7.  Quellen und Literatur

c)  Parlamentsprotokolle: Hansard’s Parliamentary Debates: House of Commons: Vol. 239, Vol. 279, Vol. 280, Vol. 295, Vol. 296, Vol. 302, Vol. 317, Vol. 319, Vol. 323, Vol. 326, Vol. 331, Vol. 334, Vol. 350. House of Lords: Vol. 112.

d)  Zeitungen und Zeitschriften: Anglo-German Review Ashridge Journal British Legion Scottish Journal Daily Dispatch Daily Express Daily Mirror Daily Worker Europäische Revue Evening Chronicle Evening Standard Everyman Fascist Week Indian Empire Review International Affairs Jersey Evening Post John O’London’s Weekly Journal of Mental Science Junge Freiheit London Mercury Los Angeles Times Manchester Guardian Nash’s Pall Mall Magazine Neue Schweizer Rundschau Neues Wiener Journal New York Herald Tribune News Chronicle Our Empire Radio Times Saturday Review South African Observer The American Review The Bookman The British Controversialist and Literary Magazine The British Journal of Medical Psychology The British Lion The Bystander The Cape Times The Chicago Evening Post The Church of England Newspaper The Criterion The Daily Mail The Daily Telegraph The English Review The Eugenics Review The Fascist Bulletin

7.1  Quellen   303 The Fortnightly Review The Independent The Journal of Psychological Medicine The London Evening News The Morning Post The National Review The New Age The New English Weekly The New Pioneer The New Witness The New York Times The Nineteenth Century The Nineteenth Century and After The Observer The Patriot The Plain Dealer The Quarterly Gazette of the English Array The Spectator The Tatler The Times The Times Literary Supplement The Yorkshire Herald The Yorkshire Post The Yorkshire Weekly Post Truth Zionist Review

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Abstract Between the two world wars parliamentary democracy was replaced in many European states by a dictatorship. Yet ultimately Britain’s political system survived the “crisis of classical modernity” unscathed. Why was this? The failure of right-wing/authoritarian social systems and the stability of liberal democracy have classically been equated with and explained by the failure of the “British Union of Fascists” (BUF). Using this party as an example, most studies have demonstrated that due to the strong and unbroken tradition of par­ liamentary democracy, fascism could never really have any chance of success in Britain. Yet the threat to parliamentary democracy came from a different quarter from what has so far been assumed, namely – and this is the core of my work – from a network of British Conservatives who in this dissertation are systematically analysed for the first time and described as Neo-Tories. The anti-liberal and anti-democratic Conservatism of this influential group represented a far greater threat than the BUF, and for three reasons: 1) Neo-Toryism offered an alternative to parliamentary democracy derived from English history and was therefore very attractive to many young, disillusioned Conservatives.. 2) Because it was “socially acceptable” in its rejection of force and agitation it could, unlike the BUF, link up with Britain’s political culture. 3) Thanks to its network-like connections to those at the top of the Conservative party a real danger of a “revolution from above” emerged, which in the end was far more likely than a BUF election victory or a “revolution from below”. In this book the criticism of democracy and liberalism made by neo-Tory intellectuals and politicians is examined in terms of intellectual history, in the interesting and tense relationship between traditional conservatism and fascism, and the roots of such criticism in British history are explained. Furthermore, the important transfer of ideas amongst the European Right in the inter-war period (so far neglected) is examined. The dissertation can thus be regarded as a contribution to the European dimension of the “Conservative Revolution”. The history of political ideas is not, however, dealt with in a vacuum. Instead the social interdependences, repercussions and communicative processes of Neo-Toryism are taken into account as well. What has emerged is a “discourse history” that presents the Neo-Tories’ various advances into the political public but which at the same time seeks to include the relevant political events and processes of social change. A group of British Conservatives are portrayed in revolt against democracy and political modernity, and they are all the more fascinating today because it is on their ultimate failure that the success of British democracy rests. Thus the history of the failure of Neo-Toryism can, conversely, also be seen as the success story of British liberal democracy in the 1930s.

Personenregister Ackworth, Bernard  279 (Fn.) Agar, Herbert  118, 135, 196, 227 Aitken, William Maxwell (Lord Beaverbrook)  114 f., 120, 211, 221, 299 Alba, Duke of  siehe Fitz-James Stuart, Jacobo Allen, Warner  227 Amery, Leopold  32, 120, 128, 138, 144, 206, 214 f., 218 Armstrong, Charles  85 f., 91 Attlee, Clement  250 (Fn.) Aquin, Thomas von  165 Ashley, Wilfrid William (Lord Mount Temple)  197, 277 Askwith, Lord  146 Austen, Jane  150 Azana y Diaz, Maunel  248 Baillie, Adrian  35, 226 Baldwin, Stanley  5 (Fn.), 7, 32, 35, 38, 99 (Fn.), 104, 118 f., 120–122, 126 f., 129, 138– 140, 145–151, 182, 206 f., 213–216, 218 f., 222, 229, 231, 271, 274 (Fn.), 285, 299 Balfour, Harald  35 (Fn.), 213 Ball, Joseph  199 f. Barnes, Ernest William  90 (Bischof von Birmingham) Barnes, James Strachey  161–163, 175 Beaumont, Michael  35 (Fn.), 37, 100, 146, 221, 226 f., 232 Lord Beaverbrook  siehe Aitken, William Max­well Beazley, Raymond  279 (Fn.) Bebb, William Henry C.  252 f. Beckett, Samuel  244 Belloc, Hilaire  23 f., 28, 29 (Fn.), 67, 72, 96, 103, 133, 137, 140, 159, 161, 171, 181, 188 f. Benn, Ernest  28, 153 Bennett, Ernest  226 Berenguer, Dámaso  249 Bernays, Robert  180 (Fn.), Bertie, Vere Frederick (Lord Bertie of Thame)  146 Bertodano y Wilson, Frederick Ramón (Marquis de Moral)  144, 145 (Fn.), 246, 247 (Fn.), 249, 251, 256, 261 f., 265 Biggs (Reverend)  164 f. Bismarck, Otto von  169, 285 Blacker, Carlos Paton  20, 88, 95 Blumenfeld, Ralph D.  227 Blunden, Edmund  29, 47, 70, 102, 292 f. Bolín, Luis  144, 145 (Fn.), 246, 247–249, 251 f., 253

Boris III. Zar von Bulgarien  39 Boulenger, Marcel  163 Bower, Robert  250 Boyd-Carpenter, John  92 Brentford, Lord  siehe Hicks, William Joynson Briand, Astride  172 Brooke, Rupert Chawner  53 Brooks, Collin  38, 109, 221, 233 Broughton, Urban Hanlon  134 Bryant, Arthur Wynne Morgan  20, 23 (Fn.), 39, 64, 67, 70, 73, 99, 102, 118 f., 134 f., 138– 140, 147 f., 202 f., 212, 258 f., 260 (Fn.), 263, 266, 269, 274 (Fn.), 284–286, 287 (Fn.), 288–293, 295 Bryant, Francis Morgan  39 (Fn.) Buchan, John  52 (Fn.), 144, 207 Bull, Stephen  207 Bülow, Vicco von  172 Burke, Edmund  69, 105, 105 (Fn.) Burke, Wilfrid Andrew  104 (Fn.) Butler, Richard Austen.  35 (Fn.), 198 Butterfield, Herbert  63 f. Cahn, Julian  211 Calvo Sotelo, José  249 Campell, Roy  28 Canning, George  135 Carlyle, Thomas  105 Carmona, Antonio Oscar de Fragosa  248 Carnegie, Andrew  82 Carrington, Charles Edmund  27 f. Carson, Edward Henry (Lord Carson)  32, 206 Castlereagh, Viscount  siehe Vane-TempestStewart, Robin Cavendish, Edward William Spencer (Marquess of Hartington)  213 Cazalet, Viktor Alexander  256, 258 Chamberlain, Neville  19, 99 (Fn.), 128 (Fn.), 198 f., 202 f., 251, 267 f., 271 f., 274, 274 (Fn.), 279, 281, 285 f., 288–290, 294 Chamier, John Adrian  226 Channon, Henry  35, 35 (Fn.), 197 f., 256, 274, 278 Chesterton, Arthur Kenneth.  281 Chesterton, Cecil Edward  24 Chesterton, Gilbert Keith.  29 (Fn.), 68, 72, 96, 103, 161, 171, 181 Chilcott, Warden  116, 226 Chrichton-Browne, James  80 Churchill, Randolph  129

330   Personenregister Churchill, Winston  40, 52, 108, 122, 127– 129, 161, 217, 238, 250, 271, 273 f., 292 Cierva, Juan de la  251 f. Clarke, George Sydenham (Lord Sydenham of Combe)  29, 107, 122, 123 (Fn.), 163, 166, 167 Cobbett, William  187 (Fn.) Colvin, Ian  249 Cooke, Gresham  144 Cooper, Duff  25, 121 Courtauld, Jack  126 Cripps, Stafford  212, 270 Crisp, Dorothy  92 f., 124, 141, 149 Croft, Henry Page  34, 120, 122 f., 138, 213, 256, 260, 261, 263 f. Cromwell, Oliver  185 Crooke, John Smedley  279 (Fn.) Crossley, Anthony Crommelin  291 Crowley, J. F.  256 Cunard, Nancy  244 Currey, Muriel  167, 174, Curtius, Ernst Robert  134 Curzon, Mary Irene, Baroness Ravensdale  230 Dalkeith, Earl of  207 Darwin, Leonard  85–87 Daudet, Léon  31 (Fn.), 157 (Fn.), 249 (Fn.) Dawson, Christopher  72, 135, 171, 172 (Fn.), 173, 190 Dawson, W. H.  279 (Fn.) Defries, Harry  199 Denville, Alfred  256 Disraeli, Benjamin  118 Dollfuss, Engelbert  175, 278 Domvile, Barry  279 Donner, Patrick  34, 121, 124, 127, 129, 213, 231, 256 f., 262–264 Dorman-Smith, Reginald Hugh  37, 99 Douglas, Clifford H.  191 (Fn.) Driberg, Tom  270 Drummond-Wolff, Henry  35, 127, 213 Duchess of Atholl  siehe Murray, Katharine Marjory Stewart Duckworth-King, George  230, 239 Eden, Anthony  149, 155, 263, 266 f., 271 Edmonds, Charles  siehe Carrington, Charles Edmund Einzig, Paul  171–172 Eliot, Thomas Stearns  3, 10, 14 (Fn.), 16, 28, 53, 73, 107, 132–134, 140, 190, 244 Elliot, Walter  155, 159 Earl of Erroll (Lord High Constable Joss Erroll)  siehe Hay, Josslyn Victor

Erskine, John Francis Ashley (Lord Erskine)  226 Fairfax, George  252 Fairfax-Lucy, Henry  213, 226, 230 Fairfax-Lucy, Lady  230 Falls, Cyril  49 Feiling, Keith  131 Fisher, Herbert Albert Laurens  20, 254 (Fn.), 255 Fisher, Ronald A.  87 Forgan, Robert  193, 220, 224, 227 f., 234, 236 Franco, Francisco  34, 114, 139, 200, 244–246, 250–270, 299 Freemantle, Sydney  144, 146 Freud, Sigmund  190 Fry, Geoffrey  140 Foot, Michael  271 (Fn.) Fox, Frank  50, 51 (Fn.), 57, 109, 166 Foyle, Christina  140 Fuller, John Frederick Charles  137, 179, 226, 233, 244 f., 254, 263, 281 Galton, Francis  77 f., 82 Gandhi, Mohandas Karamchand  128 Gardiner, Rolf  4, 10, 26, 29 (Fn.), 36 f., 59 f., 62, 98–100, 102, 277, 278, 281, 284 Gardner, Edmund  163 Garibaldi, Guiseppe  169 Gaxotte, Pierre  31 (Fn.) Gentile, Giovanni  163 George, David Lloyd  28, 147, 276 Glasgow, Earl of  226 Goad, Harold  167 f., 174, 225, 227, 229 Goebbels, Joseph  198, 237, 291 Goethe, Johann Wolfgang von  49 Goicoecchea, Antonio  247, 249 Gollancz, Victor  137 f., 199, 270 Gordon-Canning, Robert  234 f. Gordon, Home  240 Göring, Hermann  36, 171, 198 Goubinau, Arthur de  95 Gough, Hubert  226 Gramham, Alan  265, 270 Grandi, Dino  174 Graves, Robert  47, 50 Greaves-Lord, Walter  207 Green, John  38, 92, 149 f., 155, 240 Gregory, Adrian  61 Greig, Louis  226 Grey, Charles G.  196, 259 Grey, Richard de  38 Griffin, Nick  72 (Fn.) Grimm, Hans  282 Groves, P. R. C.  256

Personenregister   331 Habsburg, Otto von  157 Halifax, Lord  siehe Wood, Edward Frederick Lindley Hallam, Henry  64 f. Hamilton, Alexander  163 Hannon, Patrick  256 Hardinge, Alexander Henry Louis (Baron Hardinge of Penshurst)  279 (Fn.) Harmsworth, Harold Sidney (Lord Rother­ mere)  114 f., 120, 221, 227, 299 Harmsworth, Esmond  227 Hart, Basil Liddell  29 Hartington, Marquess of  siehe Cavendish, Edward William Spencer Hay, Josslyn Victor, Earl of Erroll (Lord High Constable Joss Erroll)  226 Headlam, Cuthbert  221 Hearnshaw, Fossey John Cobb  70, 90 f., 111 Hellmann, Günter  26 Hemingway, Ernest  50 Herbert, Alan Patrick  28 Hewel, Walter  289 f. Hicks, William Joynson (Lord Brentford)  127 Hill, Arthur Francis Henry (Lord Francis Hill)  226 Himmler, Heinrich  92 (Fn.), 279 Hindle, Wilfried  275 Hitler, Adolf  34, 36, 75 (Fn.), 198, 200, 106, 114 f., 149, 174 (Fn.), 176, 181, 236 f., 272 f., 276, 278 f., 282 f., 285, 287–290, 292, 299 Hobbes, Thomas  112 f. Hofmannsthal, Hugo  11 (Fn.), 134 Hogg, Quintin McGarel (Lord Hailsham of St. Marylebone)  242 Home, Earl of  256 Home, Alan Douglas  40 Hope, James Fitzalan (Lord Rankeillour)  146 Hopkinson, Austin  117 Hore-Belisha, Leslie  200 Horne, John H.  235 f. Horne, Robert  206 Houston, Dame Fanny Lucy (Lady Houston)  126 (Fn.), 179, 208, 214, 216 f., 227, 238 (Fn.), 285 Howard, Peter  271 (Fn.) Hughes, Randolph  185 Hulme, Thomas Ernest  14 (Fn.), 24, 59, 132 f., 159, Hunter, Andrew  23 (Fn.) Iddesleigh, Lord  siehe Northcote, Henry Stafford Inge, William Ralph (Dean Inge)  84 f., 90, 107, 113 (Fn.), 137, 200, 209, 251, 256

Inglefield, Edward  279 (Fn.) Irvine, Bryant Godman  37, 92, 141, James, William  165 Jarvis, F. C.  279 (Fn.) Jellicoe, Earl  226 Jerrold, Douglas  1, 3, 5 f., 10, 14 (Fn.), 16, 20, 22–25, 27–29, 32–35, 38 (Fn.), 41, 52–54, 56 f., 59, 67–69, 72 f., 96, 107, 111, 113, 117, 128 f., 131, 134 f., 137, 139–146, 148, 151– 154, 159, 163, 166, 168, 171, 178 f., 189 f., 195, 206–210, 213–217, 227, 240, 241 (Fn.), 244 f., 247–249, 251 f., 254–258, 260, 263, 265 f., 269, 272, 274–276, 279, 281, 285, 287 (Fn.), 295 Joyce, James  132 Joyce, William  228 Joynson-Hicks, William  182 f. Jung, Edgar Julius  11 (Fn.), 296, 298 Jünger, Ernst  52, 57 Keller, Hans  234 Kerr, Hamilton W.  107 Keynes, John Maynard  28 (Fn.), 276 (Fn.) Kidd, Benjamin  83 Kindersley, Guy  207, 213, 240 Kingsmill, Hugh  24, 24 (Fn.), 137 Kiplings, Rudyard  147 Knox, Alfred  144–146, 247 (Fn.), 256, 265 Lanes, Arthur H.  192 f. Laski, Harold Jopseph  199, 106 Latta, John  279 (Fn.) Law, Bonar  147 Laws, Murray  239 f. Lawrence, David Herbert  10, 171 (Fn.), Lawrence, Thomas Edward (Lawrence von Arabien)  33, 227 Lenin, Wladimir  256 Lennox-Boyd, Alan  31, 34, 39 f., 127, 138, 213, 226 f., 256, 267, 274, 295 Levy, Oscar  38, 95 Lewis, Wyndham  3, 10, 23, 24, 28, 132, 161, 281 Hart, Basil Henry Liddell  226, 258 Lincoln, Abraham  254 Lloyd, Blanche Isabella (Lady Lloyd)  208 Lloyd, George Ambrose (Lord Lloyd)  6, 18, 20, 31 f., 122, 127–129, 144 f., 206–209, 212– 218, 226, 230, 237 f., 247, 286 Locke, John  112, 254 Loftus, Pierre C.  100, 281 Lombroso, Cesare  79 (Fn.) Londonderry, Lord  siehe Vane-Tempest-Stewart, Charles Stewart Henry Long, Eric  35, 240–241

332   Personenregister Loveday, Arthur F.  256, 258 f., 263, 266 Love, Gary  242 Ludovici, Anthony  20, 38, 42 f., 58 f., 67, 91, 93–95, 100 f., 107, 110, 119, 134, 138, 155, 185–188, 191, 205, 275–277, 281 f., 284, 295 Lunn, Arnold  22 (Fn.), 24, 137, 144, 244, 251, 256 Luttman-Johnson, H. W.  20, 31, 220, 223– 227, 232–235, 239, 244, 257, 273, 281 (Fn.), 292 Lymington, Viscount  siehe Wallop, Gerard Vernon Macaulay, Thomas Babington  64 f. MacDonald, Ramsay  115, 121 f., 149, 206, 212, 218 MacDonell, Archibald Gordon  140 Machiavelli, Niccolò  150 MacKenzie, Campton  144 Macmillan, Harold  40, 229 Maeztu, Ramiro de  249 Magnus-Allcroft, Philip  226, 228, 230 Makgill, Donald  220 Mallet, Bernard  88 Mairet, Philip  38, 102, 181 Mann, Thomas  11 (Fn.), 92 (Fn.) Marx, Karl  139, 190 Massis, Henri  133 Massingham, Harald John  98, 102 Maurras, Charles  16, 31 (Fn.), 112, 133 f., 159, 189 Maxse, Leopold  205, 285 Maxwell-Scott, Walter  256, 258 Mazzini, Guiseppe  169 McClure Smith, H. A.  165, 166 (Fn.) McDonough, Frank  272 Melvin, Martin  251 Merry del Val, Marqués  249 Metcolfe, Edward  226, 230 Metcolfe, Lady  230 Middleton, Lord  siehe Willoughby, Michael Guy Percival Milner, Violet Georgina (Lady Milner)  127, 275, 285 Milner, Alfred  83 Moeller van den Bruck, Arthur  98, 149, 169 (Fn.), 297 Molson, Hugh  35, 154 f., 226 Molteno, V. B.  280 (Fn.) Montagu, Edwin  127 Montagu-Douglas-Scott, William (Lord Wil­ liam Scott)  193, 226 Moore-Barbazon, John T. C.  196 f., 259 Moore, Eldon  87, 209 Moore, T. C. R.  221 f.

Moral, Marquis de  siehe Bertodano y Wilson, Frederick Ramón Morel, Benedict-Augustin  79 (Fn.) Morrison, Herbert  270 Morrison, William Shepherd  135, 207 Morton, John B.  29, 209 Mosley, Oswald  4, 6, 8, 31, 35, 87, 114, 159, 168 (Fn.), 176, 178, 182, 191 (Fn.), 193, 208, 210–212, 219–225, 227–239, 241 f., 273, 279 (Fn.), 281, 291 f. Mount Temple, Lord  siehe Ashley, Wilfrid William Münster, Paul  226 Murray, Katharine Marjory Stewart (Duchess of Atholl)  199, 258, 266 Mussolini, Benito  31, 106–108, 114–117, 132, 135, 149, 155 f., 158–169, 173 f., 176 f., 179 f., 197, 200, 209, 223, 236 f., 270, 285, 299 Nathan, Harry Louis  193, 228 Newton, Lord  256 Nicolson, Harold  276 (Fn.), 280 (Fn.) Nietzsche, Friedrich  12, 38, 59, 92 (Fn.), 95, 112, 165 Niekisch, Ernst  169 (Fn.) Nolte, Ernst  13, 163 Norman, R. C.  289 Northbourne, Lord  102 Northcote, Henry Stafford (Lord Iddesleigh)  144, 154, 207, 226, 230 O’Donner, William  89 O’Duffy, Eoin  164 Orwell, George  3, 181 f., 243 Owen, Frank  271 (Fn.) Peers, Allison  258 Percy, Eustace Sutherland Campbell (Lord Eustace Percy)  109, 154 Petrie, Cecilia  71 Petrie, Charles  1, 3, 6, 10, 20, 24, 29–33, 35, 37, 39, 54 (Fn.), 64–67, 70 f., 107 f., 111 f., 117, 119 f., 125 (Fn.), 134–137, 143–145, 151, 153, 155–159, 163, 167–169, 171–180, 188 (Fn.), 192 f., 206, 208, 213, 227, 229 f., 231 (Fn.), 232, 236 f., 239–242, 244, 247 (Fn.), 248–253, 255, 257, 259, 272–274, 275, 278, 280, 287 f., 293–295 Petrie, Peter  20, 22 Phillimore, Walter Godfrey (Lord Phillimore)  135, 251, 256 f., 268 Pickthorn, Kenneth  241 (Fn.) Pitt-Rivers, George  87 f., 229, 273, 280 (Fn.), 282 Pollard, Dorothy  252 Pollard, Hugh  252 f.

Personenregister   333 Pollitt, Henry  270 Pound, Ezra  10, 20, 132, 161, 191 f., 244, 281 Price, George Ward  137, 227, 230, 233 Pulitzer, Joseph  234 Radnor, Earl of  146 Raikes, Victor  35, 35 (Fn.), 249, 257, 265 Rankeillour, Lord  siehe Hope, James Fitzalan Ramsey, Archibald  33, 222, 262, 273, 280 (Fn.), 286 Rawson, Cooper  265 Read, Herbert  48 Reid, Sinclair  224 Remarque, Erich Maria  47, 49–52, 57 Rendel, George William  39 Renn, Ludwig  51 Ribbentrop, Joachim von  198, 279 Rivera, Primo de  30, 247, 249 Roberts, Cecil  222 f., 231 Roberts, T. L. H.  230 Rodd, James Rennell  171 f. Rodes, John  235 Rogers, Arthur  280 (Fn.) Rohan, Charles de  172 (Fn.) Robles, Gil  247, 249 Rosenberg, Alfred  31 (Fn.), 32 (Fn.), 171, 186 Rosenstock-Husseys, Eugen  98 Rothermere, Lord  siehe Harmsworth, Harold Sidney Rousseau, Jean-Jaques  112 f., 139, 173 Rumsfeld, Donald  271 Runciman, Walter  213 Rutzen, John de  38, 281 Russel, Bertrand  59 Russell, Edward Frederick Langley (Lord Russell of Liverpool)  226, 230, 236 Russell of Liverpool, Lady  226, 230 Sainz Rodriguez, Pedro  268 Salazar, Antonio de Oliveira  248 Salisbury, Marquis of  207 Salzman, Eric von  171 (Fn.), 230 Sandeman, Nairne Stewart  256, 262, 265 Sanderson, William John  36 (Fn.), 37, 42, 67, 149, 155, 168 (Fn.), 186, 188, 191 Sandys, Duncan  40, 127, 138, 195, 213, 226, 238, 240, 242, 295 Sassoon, Siegfried  50, 53 Schacht, Hjalmar  170, 172 Schiller, Ferdinand  86, 107 Schmitt, Carl  169 (Fn.), 171 Schopenhauer, Arthur  38 Scott, William, Lord  siehe Montagu-Douglas-Scott, William Seldte, Franz  171 f. Sellon, Hugh  65 (Fn.), 135, 167 f., 174, 179

Seton-Hutchison, Graham  20, 57, 191 f. Shaw, Bernard  106, 161 Shinwell, Emmanuel  250 Smith, Iain Duncan  23 (Fn.) Snell, Henry (Lord Snel)l  268 Solly-Flood, Arthur  280 (Fn.) Sorel, Georges  59, 132, 165 Spears, Edward L.  226 Spencer-Churchill, Diana  40, 238, 242 Spengler, Oswald  16, 75, 133, 169 (Fn.), 277, 297 Stalin, Josef  106 Stapel, Wilhelm  142 Starkie, Walter  163 Stoneheaven, Lord  137 Stuart, Jacobo Fitz-James (Duke of Alba)  249–251, 267 f. Strachey, John  270 Strauss, George R.  199, 250 (Fn.), 288, 289 (Fn.) Street, Arthur George  135 Sutton, Claude  113 (Fn.) Squire, John  28, 29 (Fn.), 51, 145, 209, 220, 222–225, 230, 232, 237 Sydenham of Combe, Lord  siehe Clarke, George Sydenham Tennant, Ernest  197 Thacker, G. W.  213 Thatcher, Margeret  129 Thomas, Alexander Raven  228 Thomas, Freeman Freeman (Lord Willingdon)  126, 138, Thwaites, Norman  226, 230, 234 Travistock, Marquess of  226 Turner, Derek  23 (Fn.) Turnour, Edward  32, 144 f., 206, 221, 247 (Fn.), 274 (Lord Winterton) Quinton, René  56 Unamuno, Miguel de  248 Unruh, Fritz von  50 Valéry, Paul  133 Valois, Georges  56 Vane-Tempest-Stewart, Robin (Viscount Castlereagh)  156 Vane-Tempest-Stewart, Charles Stewart Henry (Lord Londonderry)  226, 256, 279 (Fn.) Vansittart, Robert  267 Venn, Lawrence  256 Vickers, Vincent C.  229 Victoria, Königin von Großbritannien  68, 110

334   Personenregister Villari, Luigi  119, 155, 167 f., 174, 177 Vries de Heekelingen, Herman de  163 Wallop, Gerard Vernon, Earl of Portsmouth (Viscount Lymington)  1, 6, 9 f., 20, 22, 34 (Fn.), 35–37, 42, 67, 71, 93, 96 f., 99 (Fn.), 101, 102, 104 f., 107, 124–127, 134 f., 137, 144, 147, 149, 151, 155–157, 159, 171 f., 186, 188, 200–202, 206 f., 273, 280–285, 292 f., 295 Walker-Smith, Derek  38 (Fn.), 137 f., 275, 295 Watson, Angus  211 Waugh, Evelyn  3, 244 Webster, Nesta  187 (Fn.), 280 (Fn.) Wells, H. G.  106 Wentworth, Thomas  112 (Earl of Strafford) White, Arnold  83 Wilhelm II., Kaiser des Deutschen Reichs  110 Willingdon, Lord  siehe Thomas, Freeman Freeman, Williams, Rushbrook  225 Willoughby, Michael Guy Percival (Lord Middleton)  193, 226, 230

Wilson, Arnold  22, 34, 36, 194, 104, 135, 137, 141, 144–146, 177, 179, 194, 206 f., 213, 226, 227, 231, 256, 259, 277 f., 280 (Fn.), 281, 284, 287 f., 291, 294 Wilson, Bernard  280 (Fn.) Winterton, Lord  siehe Turnour, Edward Wood, Edward Frederick Lindley (Lord Halifax)  39, 286, 289 Woodruff, Douglas  29, 137, 251 Woolf, Virginia  43 Wrench, John Evelyn  209, 211, 233 Yeats-Brown, Francis  10, 20, 22, 23 (Fn.), 31–35, 39, 58, 135, 138, 147, 175, 179 (Fn.), 180, 193, 201, 209–213, 218, 220, 222, 225, 227, 230–233, 237, 244 f., 248, 252, 256, 263, 267, 274 (Fn.), 277 f., 280, 281–286 Yeats, B. William  10, 132, 164 Young, Hilton  89 Zehrer, Hans  169 (Fn.) Zweig, Arnold  47, 50 f. Zweig, Stefan  31