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German Pages 116 [109] Year 1984
NATION UND SELBSTBESTIMMUNG IN POLITIK UND RECHT
ABHANDLUNGEN DES GÖTTINGER ARBEITSKREISES BAND 6
Nation und Selbstbestimmung in Politik und Recht
Mit Beiträgen von Wilfried Fiedler • Boris Meissner Helmut Rumpf · Wilfried Schlau Bernard Willms
DUNCKER &
HUMBLOT I BERLIN
Die in dieser Reihe veröffentlichten Beiträge geben ausschließlich die Ansichten der Verfasser wieder.
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek
Nation und Selbstbestimmung in Politik und Recht: (D. Beitr. fuß. auf Vorträgen, d. auf d. Fachtagung d. Göttinger Arbeitskreisesam 1. u. 2. Oktober 1982 in Göttingen gehalten wurden) I mit Beitr. von Wilfried Fiedler .. . Berlin: Duncker & Humblot, 1984 (Abhandlungen des Göttinger Arbeitskreises; Bd. 6) (Veröffentlichung/Der Göttinger Arbeitskreis; Nr. 433) ISBN 3 428 05612 4 NE: Fiedler, Wilfried (Mitverf.); Göttinger Arbeitskreis: Abhandlungen des Göttinger .. .; Göttinger Arbeitskreis: Veröffentlichung
Der Göttinger Arheitskreis: Veröffentlichung Nr. 433 Alle Rechte vorbehalten
@ 1984 Dunelter & Hurnblot, Berlln 41
Gedruckt 1984 bei Buchdruckerei A . Sayffaerth - E . L . Krohn, Berlin 61 Printed in Gerrnany ISBN
8-428·0~612-4
INHALT Die Nation in rechtlicher Sicht Von Prof. Dr. Helmut Rumpf, Bonn
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Der Nationsbegriff und die Frage nach dem Subjekt oder Träger des Selbstbestimmungsrechts Von Prof. Dr. Boris Meissner, Universität Köln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Nation und Volk in soziologischer Sicht Von Prof. Dr. Willried Schlau, Universität Mainz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Der Zielkonflikt zwischen westeuropäischer Integration und deutschlandpolitischer Option Von Prof. Dr. Wilfried Fiedler, Universität Kiel
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Überlegungen zur Zukunft der Deutschen Nation Von Prof. Dr. Bernard Willms, Ruhr-Universität Bochum. . . ... . . . ...
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Die Beiträge fußen auf Vorträgen, die auf der Wissenschaftlichen Fachtagung des Göttinger Arbeitskreisesam 1. und 2. Oktober 1982 in Göttingen gehalten wurden.
DIE NATION IN RECHTLICHER SICHT Von Helmut Rumpf
I. In den ersten zwanzig Jahren nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges war es die nur selten widersprochene Annahme von Politikern, Gelehrten und Publizisten, daß das Zeitalter des Nationalstaats, jedenfalls in Europa, zu Ende sei. Abkehr vom Nationalstaat hieß "Abschied von der alten Geschichte". Diese Auffassung fand in Deutschland, wo sie zugleich als Trost und Hoffnung wirkte, besonders eifrige Verfechter, wurde aber auch im westlichen Ausland vertreten. Sie fand Ausdruck im Vorspruch und in Art. 24 des Banner Grundgesetzes. Danach ist das deutsche Volk "von dem Willen beseelt", einerseits "seine nationale und staatliche Einheit zu wahren", andererseits "als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen . ..". Der Bund "kann durch Gesetz Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen übertragen" (Abs. 1) und "sich zur Wahrung des Friedens einem System kollektiver Sicherheit einordnen", wobei er "in die Beschränkung seiner Hoheitsrechte einwilligen" wird, "die eine friedliche und dauerhafte Ordnung in Europa und zwischen den Völkern der Welt herbeiführen und sichern" (Abs. 2). Der Gedanke des Art. 24 fand im Parlamentarischen Rat keinen grundsätzlichen Widerspruch. Der Abgeordnete Carlo Schmid erläuterte dazu, die Bereitschaft, "die Internationalisierung der politischen Wirklichkeit aktiv zu fördern" , habe dadurch ausgedrückt werden sollen, "daß wir für diesen Fall gerade kein verfassungsänderndes Gesetz verlangen, sondern ein einfaches Gesetz als genügend ansehen wollen" ...1 • Als Vorbild für Art. 24 konnte man sich auf einen Satz in der Präambel der französischen Verfassung von 1946 berufen: "Unter dem Vorbehalt der Gegenseitigkeit stimmt Frankreich den zur Organisation und Verteidigung des Friedens notwendigen Souveränitätseinschränkungen zu." In der gaullistischen Verfassung von 1958 ist dieser Satz allerdings nicht mehr enthalten. Die Verfassungsurkunden von Dänemark (Art. 20), Irland (Art. 29), Luxemburg (Art. 49 bis), der Niederlande (Art. 67), Norwegens (Art. 93) und seit 1981 auch Österreichs (Art. 9 Abs. 2) enthalten aber gegenwärtig ähnliche Bestimmungen. Adenauer erklärte den 1
Vgl. Jahrbuch des Öffentlichen Rechts, N. F., Bd. 1, 1951, S. 226.
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Hohen Kommissaren in seiner Rede anläßlich der Vorstellung des ersten Bundeskabinetts am 27. September 1949 unter anderem, er sei sich darüber klar, "daß die engen nationalistischen Ideen des 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts als überwunden gelten müßten. Aus ihnen sei der Nationalismus erwachsen, der eine Zersplitterung des europäischen Lebens fördere ..." 2 • Der Nationalstaat, der dem ersten Bundeskanzler und wohl den meisten seiner politisch bewußten Zeitgenossen in Westeuropa als ein Element der Zersplitterung erschien - andere sprechen sogar von internationaler Anarchie - war noch dreißig Jahre zuvor als Ordnungs- besser Neuordnungsfaktor vorgestellt und gepriesen worden, nämlich als Erfüllung oder doch Annäherung an das gerechte Prinzip der Identifizierung von Nation und Staat. Nach dem Motto "cuius regio, eius natio", wie Robert Redslob 1931 vor der Haager Akademie für Völkerrecht die Formel des Augsburger Religionsfriedens abwandelte3 . "Jede Nation ist berufen und berechtigt, einen Staat zu bilden ... . . . Jeder Staat ist eine Nation ...", hatte schon 1866 der Staatsrechtslehrer Bluntschli das Prinzip formuliert 4 • Im Postulat der Selbstbestimmung der Völker gelangte es vor allem durch Präsident Wilsons Botschaften und Reden zu erneuter Wirkung, nachdem es im 19. Jahrhundert nationale Einigungen (Italien, Deutschland) aber auch Trennungen (Belgien, Norwegen) hervorgerufen hatte. Wenige Jahre nach Adenauers dieturn erlebte der Nationalstaatsgedanke eine Wiedergeburt, eine Belebung nicht nur in den aus der Kolonialherrschaft entlassenen Entwicklungsländern Asiens, Afrikas und Lateinamerikas, sondern auch in Europa. Während im Westen des Kontinents die Integrationsbegeisterung in der Konfrontation mit dem "sacro egoismo" der europäischen Völker längst verflogen ist, regt sich im Osten immer stärker der nationale Widerspruch gegen die unter dem ideologischen Deckmantel des sozialistischen Internationalismus ausgeübte sowjetrussische Oberherrschaft. Hans Rothfels stellt in seinem Sonderbeitrag zum Stichwort "Die Nation" in Meyers Enzyklopädischem Lexikon 1976 fest, Europa als "Ersatznation" und dem "anationalen Flagellantentum" seien Gegenkräfte erstanden, der Kurswert der Nationen sei maßvoll wieder angestiegen. Dabei bezeichnet er die Nationen "nicht als autonome, wohl aber als schätzbare Einheiten im geschichtlichen Prozeß, deren Vielzahl im europäischen wie im Welt-Staatensystem dem innerstaatlichen Pluralismus der demokratischen Gesellschaft entspricht und hier wie dort auf Interessenausgleich drängt" 6 • Konrad Adenauer: Erinnerungen 1945 - 1953, Stuttgart 1965, S. 235. Robert Redslob: Le Principe des Nationalites, Rec. d. Cours, Bd. 37 111, s. 1, 13. 4 Johann K. Bluntschli: Allgemeine Staatslehre, 6. Aufl. 1866, S. 107. 2
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II. Der ideen- und ereignisgeschichtliche Wandel von Idee, Begriff und Institution des Nationalstaats, der vom gepriesenen Überwinder des imperialistischen Vielvölker- oder Nationalitätenstaates zum Hindernis inter- oder gar supranationaler Zusammenarbeit, vom Stifter neuer Ordnung zum Relikt überholten politischen Denkens umgewertet wurde, zeigt zugleich die Unsicherheit, ja Vertauschung der Begriffe Volk, Nation und Staat. Gewiß handelt es sich hierbei um idealtypische Betrachtungen, denn mit Ausnahme etwa Portugals, Norwegens und Schwedens gab und gibt es in Europa keine reinen Nationalstaaten im Sinne der Deckung von ethnischer Nation (Volkstum) und Staat als Gegenbild zum Nationalitätenstaat. Waren doch die nach dem Ersten Weltkrieg aus Österreich-Ungarn, dem Zarenreich und zuvor schon aus dem osmanischen Reich herausgeschnittenen neuen oder vergrößerten Staaten (Polen, CSSR, Jugoslawien, Ungarn, Rumänien und die baltischen Staaten) selbst in Wirklichkeit Nationalitätenstaaten im verkleinerten Maßstab. Andererseits bleibt der Nationalstaat auch als Gegenbild zum supranationalen Wunschstaat und als Voraussetzung und eigentliche Machtbasis zwischen- oder übernationaler Organisation in Theorie und Praxis unverzichtbar und für absehbare Zeit unüberwindlich. Nur - auch darin liegt der Grund begrifflicher Unklarheit und politischer Schwierigkeiten - ist von zwei Begriffsfüllungen die Rede: einmal steht das Verhältnis von Staat und ethnischer Nation, auf deutsch Volkstum, zur Diskussion, das andere Mal das Verhältnis von Staat und Souveränität. Daher deckt sich die Kritik am Nationalstaat in letzterer Beziehung mit der Kritik am sogenannten Dogma der Souveränität, werden die Begriffe Nationalstaat und Territorialstaat auswechselbar oder gar mit "Staat als ein konkreter an eine geschichtliche Epoche gebundener Begriff" im Sinne der Lehre von Carl Schmitt und Herbert Krüger gleichgesetzt. Von diesem Staatsbegriff her ergibt sich eine weiterreichende historische Perspektive, die vom mittelalterlichen heiligen Römischen Reich über den Territorial- und dann Nationalstaat zur internationalen Integration der Gegenwart führt . Staat ist hier ein Raumordnungsbegriff, der die ihm vorhergegangene Ordnung ablöste und nunmehr seinerseits "von Innen durch Pluralisierung, von außen durch Integrierung" geöffnet und schließlich überholt wird 6 • In der typischen angelsächsischen politologischen Terminologie 6 Hans Rothfels, in: Meyers Enzyklopädisches Lexikon, Bd. 16, 1976, S. 773 bis 776, 774. ' Carl Schrnitt: Staat als konkreter, an eine geschichtliche Epoche gebundener Begriff (1941), wieder abgedruckt in Verfassungsrechtliche Aufsätze, Berlin 1958, S. 375 ff., 385. Herbert Krüger: Allgemeine Staatslehre, Stuttgart, 2. Aufl. 1966, S. 1 - 10.
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spricht man angesichts dieser Erscheinungen von einer Entwicklung der internationalen Organisation "beyond the Nation State" oder vom "Niedergang des Territorialstaates" 7 •
m. Die in dieser und der ihr augepaßten deutschen Terminologie liegende Identifizierung von Nation und Staat ist nur eine der begrifflichen Voraussetzungen, deren sich ein Versuch, die Frage der Nation rechtlich zu bewerten, bewußt sein muß. Bliebe es allenthalben bei dieser Gleichsetzung, wäre kein juristisches, sondern höchstens ein politisches Problem vorhanden. Tatsächlich steht das juristische Denken aber vor einer Vielfalt nationaler und staatlicher Phänomene und vor einer noch größeren Vielfalt der Begriffe und Bezeichnungen. Am kompliziertesten ist die Terminologie in der deutschen Sprache mit ihren Unterscheidungen von Nation in Kulturnation und Staats- oder politische Nation, Volk, Volksgruppe oder Nationalität, Volkstum. Alle diese Begriffe und Namen kommen im Rechtsschrifttum, teilweise auch in Rechtsvorschriften vor. Um die Frage nach der rechtlichen Relevanz der Nation zu untersuchen, sind auch die erwähnten verwandten Begriffe zu berücksichtigen. Diese Frage aber, mein eigentliches Thema, läßt sich auch so formulieren: Als was und in welcher Weise nimmt die Rechtsordnung von der Nation Kenntnis? Drei Kategorien bieten sich an: das Rechtssubjekt, das Rechtsverhältnis und das Rechtsgut. Die Nation müßte, um rechtlich relevant und nicht nur politisch effektiv zu sein, entweder Rechtssubjekt oder Rechtsverhältnis oder von einer Rechtsordnung geschütztes Gut, ein Rechtswert, sein. Voraussetzung jeder Beantwortung dieser Unterfragen ist es natürlich, den soziologischen Tatbestand "Nation" zu begreifen oder wenigstens eine soziologische Definition heuristisch zu Grunde zu legen. Wie schillernd vieldeutig dieser Begriff ist, wurde oft beklagt. Die hier versuchte rechtliche Beurteilung hat allergings nur einen Sinn, wenn die als Nation bezeichnete menschliche Großgruppe - dies als Oberbegriff verstanden - nicht von vornherein mit dem Staat identifiziert wird, wie das der angelsächsische und französische Sprachgebrauch gemeinhin tut, worin ihm auch deutsche Autoren folgen. 7 Ernst B. Haas: Beyond the Nation State, Functionalism and International Organization, Stanford 1964. J ohn H. Herz: International Politics in the Atomic Age, New York 1959, zitiert nach der deutschen Ausgabe Weltpolitik im Atomzeitalter, Stuttgart 1961, insbesondere Teil I, S. 25- 64.
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Max Weber nennt in seinem posthum erschienenen großen Werk "Wirtschaft und Gesellschaft" "Nation" einen "Begriff, der, wenn überhaupt eindeutig, dann jedenfalls nicht nach empirischen gemeinsamen Qualitäten der ihr Zugerechneten definiert werden kann. Er besagt, im Sinne derer, die iihn jeweilig brauchen, zunächst unzweifelhaft: daß gewissen Menschengruppen ein spezifisches Solidaritätsempfinden anderen gegenüber zuzumuten sei, gehört also der Wertsphäre an". Weber findet keine Übereinstimmung bei der Abgrenzung durch objektive Merkmale, bemerkt aber, daß "Nation" im "üblichen" (gemeint ist wohl deutschen) "Sprachgebrauch" "nicht identisch mit Staatsvolk" ist8 . "Verschiedene Nationen haben einen verschiedenen Begriff nicht nur von dem, was ihre Nation ist, sondern von dem, was Nation überhaupt ist", mein Golo Mann9 • Nation als vorstaatlicher Begriff, wie er in dieser rechtlichen Betrachtung gebraucht werden soll, wird jedenfalls von verschiedenen objektiven und subjektiven Elementen konstituiert, deren Auswahl und Verbindung von Fall zu Fall und von Zeit zu Zeit wechseln. Abstammung, Landschaft, Sprache, Religion, politische Weltanschauung, Geschichte, Sitten und Gebräuche sind an der Bildung einer Nation einzeln oder gemeinsam ebenso beteiligt wie das Bewußtsein der Zusammengehörigkeit, das Bekenntnis, der Wille. Auswahl und Kombination der Merkmale sind nicht nur von der geschichtlichen Lage der betroffenen Nation sondern auch vom weltanschaulichen Standpunkt des Betrachters abhängig. In liberal-humanitärer Auffassung, die heute vorherrscht, wird das Bekenntnis ausschlaggebend, in kollektivistischer Denkart stehen die objektiven Elemente Sprache, Abstammung im Vordergrund. Dementsprechend knüpften auch Rechtsnormen, Gesetze wie völkerrechtliche Verträge, insbesondere Minderheitenschutzverträge, an verschiedene Merkmale an, die von der Rasse bis zur religiösen Konfession reichen. Gilt es einerseits von der westlich-liberalen Gleichsetzung der Nation mit dem Staat Abstand zu halten, so muß man sich andererseits im deutschen Sprachgebrauch der Gefahr des unbedachten Austausches mit dem Begriff des ethnisch verstandenen Volkes bewußt sein.
8 Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, 5. rev. Auflage besorgt von Johannes Winkelmann (Studienausgabe), Tübingen 1972, S. 258. Das Kapitel wurde vor 1914 geschrieben. 9 Golo Mann: Stichwort "Nationalismus" im Fischer-Lexikon "Außenpolitik", hrsg. von Golo Mann und Harry Pross, 1958, S. 203. Vgl. auch Kar! D. Bracher: Stichwort "Nationalstaat" im Fischer-Lexikon "Staat und Politik", hrsg. von Ernst Fraenkel und Karl D. Bracher, 1957, S. 210 ff., und ders.: Stichwort "Nationalismus" im Fischer-Lexikon "Internationale Beziehungen", 1969, s. 205 ff.
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IV. Wie immer diese oder jene Nation sich selbst als solche versteht, Rechtssubjekt kann sie nur als politische Einheit, als politische Nation, sein. Das heißt sie muß mindestens den Willen zum eigenen Staat haben. Im gegenwärtigen wie im überlieferten klassischen Völkerrecht ist jedoch die Nation an sich kein Völkerrechtssubjekt. Die Gegenthese wurde in der europäischen Völkerrechtswissenschaft im Januar 1851 von dem italienischen Professor Pasquale Stanisao Mancini in seiner Turiner Antrittsvorlesung verfochten, die seither oft erwähnt aber wohl nur selten gelesen worden ist. Ihr Titel lautet: ,.Della Nazionalita come Fondamento del Diritto delle Genti10 ." Mancini wollte den Nachweis erbringen, daß die ,.nazionalita", also das Volk im Sinne von Volkstum, die vernünftige Basis des Völkerrechts darstellt. Er definierte ,.nazionalita" als "una societa naturale di uomini da unita di territorio, di origine, di costumi e di lingua conformati a comunanza di vita e di coscienza sociale". An anderer Stelle bezeichnet er als Elemente: la Regione, la Razza, la Lingua, le Costumanze, la Storia, le Leggi, le Religioni11 • Die Erhaltung und Entwicklung der Nation (nazionalita) erklärt er nicht nur zu einem Recht sondern auch zu einer Rechtspflicht (dovere juridico) der Menschen12 • Seine eigentliche Völkerrechtliche These besteht aber in der Behauptung, die natürliche Nation (hier ,.la Nazione) und nicht der künstliche Staat bilde die elementare Einheit der Völkerrechtswissenschaft (l'unita elementare, la monade razionale della scienza) und das eigentliche Subjekt des Völkerrechts (il soggetto del diritto tra le genti)13 • Zwischen den Nationen aber besteht nach Mancini una ,.coesistenza . . . secondo la legge del Diritto . . ."a.
V. Mancinis Theorie wird heute als politische Zweckthese, ja als Waffe im Kampf um die Einheit Italiens gegen die habsburgische und bourbonische Fremdherrschaft und den Kirchenstaat gewertet. Sie brachte ihrem Erfinder einen diplomatischen Protest Österreichs am Hofe von Turin und die Beschlagnahme seines Vermögens im Köngreich NeapeJ1 5 • 10 Zitiert nach einer Sammlung seiner Vorlesungen: P. S. Mancini: Diritto Internazionale, Prelezioni, Napoli 1873, S. 37. 11 a.a.O., S. 27. n a.a.O., S. 37. t3 a.a.O., S. 42 - 45, 56. 14 a.a.O., S. 26, 56 - 58. ts a.a.O., S . VII, Anm. 1.
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Die internationale Völkerrechtswissenschaft ist längst darüber hinweggegangen und lehnt "die Völkerrechtspersönlichkeit von Völkern und Volksteilen als solchen ab" 16• Mancinis Landsmann Anzilotti ließ nach dem Ersten Weltkrieg dessen These höchstens als "idealen Grundsatz der Gerechtigkeit" gelten. Im Bereich des positiven Rechts sind Subjekte des Völkerrechts die Staaten, "nicht die Nationalitäten, weil die geltenden Völkerrechtssätze sich an jene und nicht an diese wenden, und es ist auch völlig gleichgültig, ob ein Staat auf nationaler Basis errichtet ist oder nicht ..."17. Die Lehre von den Subjekten des Völkerrechts kennt zwar seit geraumer Zeit - abgesehen vom heiligen Stuhl - auch andere zum Teil aus dem Staatswillen abgeleitete partikulare Völkerrechtssubjekte als Träger beschränkter Rechte, nämlich internationale Organisationen, Aufständische und Kriegsführende. Eine einflußreiche liberal-humanitäre Schule betont seit dem Zweiten Weltkrieg darüber hinaus die Rechtsfähigkeit von Individuen auch im Völkerrecht, denen tatsächlich durch Gewohnheit oder Staatsverträge gewisse Rechte und Pflichten, auch Verfahrensmöglichkeiten, besonders im Bereich der Menschenrechte, zuerkannt worden sind. Aber auch in den dergestalt erweiterten Kreis der Völkerrechtssubjekte sind Nationen und Nationalitäten nicht aufgenommen worden18• Die können schon deshalb keine Subjekte des positiven Völkerrechts sein, weil sie ohne Staat oder sonstige anerkannte Vertretung nicht handlungsfähig sind, weder verhandeln, paktieren, haften, Verträge ausführen, Sanktionen ergreifen, Krieg im Sinne des Völkerrechts führen können. In seiner bemerkenswerten Habilitationsschrift "Das deutsche Volk als Rechtsbegriff im Reichs- und Staatsrecht der Gegenwart" von 1927 kommt Hans Liermann zu dem Schluß, "daß das Volk des modernen Staats keine juristische Person ist, weder für sich aus Mangel an eigenem Willen, eigenen Organen und privatrechtlicher Verkehrsfähigkeit, noch in der Gleichsetzung mit dem Staat. Da diese Gleichsetzung unrichtig ist . . . der Begriff der juristischen Person versagt also, wenn wir unter ihm das Volk in das Recht einordnen wollen" .
VL Es sind vermutlich pragmatische Erwägungen gewesen, die es verhindert haben, Mancinis Theorie von der Völkerrechtssubjektivität der Friedrich Berber: Lehrbuch des Völkerrechts, Bd. I, 2. Aufl. 1975, S. 174. D. Anzilotti: Lehrbuch des Völkerrechts, 1929, Bd. 1, S. 93. 18 Vgl. Hermann Mosler: Die Erweiterung des Kreises der Völkerrechtssubjekte, Berichte der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht, H. 4, 1961, 1'
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s. 39-83.
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Nation trotz gewisser Parallelen in der historischen Lage auf Deutschlands Rechtslage nach 1945 anzuwenden. Meine eigenen publizistischen Hinweise auf diese Lehre sind jedenfalls auf Ablehnung gestoßen19 • Stattdessen hält die herrschende und auch die amtliche Meinung in der Bundesrepublik an der Rechtsfiktion vom Fortbestand des deutschen Reiches als Staat fest, wobei allerdings die spätere Theorie in einer Weise auf den Willen des deutschen Volkes zur Wiederherstellung seiner staatlichen Einheit als wesentliches Kriterium abstellt, daß ein Unterschied zum Postulat des Fortbestandes der Nation und ihres Selbstbestimmungsrechts kaum noch zu erkennen ist. Handlungsunfähig sind sie jedenfalls gegenwärtig beide: der fiktive deutsche Gesamtstaat oder das "Reich" und die deutsche Nation, ob sie nun als Kulturnation oder als politische Nation fortlebt. Die Aufrechterhaltung der gesamtdeutschen Staatsangehörigkeit im Recht der Bundesrepublik ähnelt dem Versuch der Nation, sich am eigenen Zopf aus dem Sumpf der staatlichen Teilung zu ziehen. Es ist im Grunde ein politisches Bekenntnis zur einen deutschen Nation, dessen nationalpolitischer Sinn bei weitem seine rechtswissenschaftliche Logik überwiegt20 •
VII. Trotz der eindeutigen Antwort des positiven Völkerrechts auf die Frage nach der Rechtspersönlichkeit darf damit die rechtliche Beurteilung des Phänomens "Nation" noch nicht abgeschlossen werden. Da sind einmal Lehrmeinungen, die das Wesentliche des Staates nicht in der Staatsgewalt, im Staatsapparat, sondern im Staatsvolk, dann auch Nation genannt, finden und auf diese Weise ein Volk auch nach dem Untergang seines Staates als Rechtsperson fortleben lassen. Hier liegt im Grunde die im westlichen politischen Denken gebräuchliche Identifizierung von Staat und Nation gleich Staatsvolk vor. "L'etat c'est la nation organisee" (Henry Berthelemy) nach französischer Auffassung21 • Wenn Verdross den Staat im Sinne des Völkerrechts in ähnlicher Formulierung als "das staatlich organisierte Volk" kennzeichnet, unterscheidet er davon ausdrücklich den ethnischen Begriff des Volkes22 • Selbst die nationalsozialistische Staats- und Völkerrechtslehre, die so überaus "völkisch" dachte, hatte diese Identifikation keineswegs auf19 Helmut Rumpf: Rechtsfragen der Wiedervereinigung Deutschlands (1957), in: Vom Niemandsland zum deutschen Kernstaat, 1979, S. 33, 34-37. 20 Ders.: Die deutsche Staatsangehörigkeit nach dem Grundvertrag (1974), a.a.O., S. 155 ff., Die Frage nach der deutschen Nation (1971), a.a.O., S. 107 ff. 21 Zitiert nach La Grande Encyclopedie Larousse, vol. 14, 1975, S. 8385. Unter "nation" wird auf das Stichwort "Etat" verwiesen. 22 A. Verdross: Völkerrecht, 2. Aufl. 1950, S. 68 u. 79. H. Rumpf, a.a.O., s. 34-37.
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gegeben und am Staat als eigentlichem Völkerrechtssubjekt festgehalten. Nur die politische Sinngebung des Staats- und Völkerrechts sollte aus dem rassisch-völkischen Art-Gedanken kommen23o. Aber kommt nicht auch der nicht im eigenen Staat organisierten Nationalität eine gewisse, wenn auch qualifizierte und beschränkte Rechtsträgerschaft zu? Sie ist immerhin - heute und in der Vergangenheit - Zurechnungspunkt verschiedener Arten von Rechtsgrundsätzen, Ansprüchen und Rechten. Zunächst ist an das Selbstbestimmungsrecht der Völker, oder wie es auch heißt, der Nationen, zu denken. Seine rechtliche Relevanz ist durch Satzung, Konventionen und Praxis der Vereinten Nationen deutlich verstärkt worden, mag sein Charakter als echte Rechtsnorm auch noch immer sehr umstritten sein24 • In den beiden Menschenrechtspakten der Vereinten Nationen vom 19. Dezember 1966 ist Art. 1 Abs. 1 gleichlautend: "Alle Völker haben das Recht auf Selbstbestimmung. Kraft dieses Rechts entscheiden sie frei über ihren politischen Status und gestalten in Freiheit ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung." "All peoples", "Tous les peuples" - auch in der englischen und französischen Originalfassung ist nicht von Nationen die Rede, so daß man wohl annehmen kann, Staatsnationen sind zumindest nicht in erster Linie gemeint, vielmehr auch wenn nicht primär, Völker im ethnischen Sinn und im vorstaatlichen Zustand. Diesen ist damit von der Organisation der Vereinten Nationen und von allen Vertragsparteien das internationale Recht auf Selbstbestimmung als eine Art natürliches Recht zuerkannt. Ausüben können dieses Recht, soll es nicht ein "inchoate title" bleiben oder gar einen bloßen Vorwand für Gewaltakte bilden, nur wahlberechtigte natürliche Personen in staatlich geordneten Abstimmungsverfahren. Als Beleg für einen Ansatz, staatlosen Nationalitäten Rechtspersönlichkeit im Völkerrecht zuzuerkennen, wird gelegentlich die Rolle des Tschechoslowakischen Nationalkomitees gegen Ende des Ersten Weltkriegs angeführt. Die tschechischen Exil-Politiker Benesch und Masaryk hatten es durchgesetzt, daß die alliierten Regierungen Frankreichs, Großbritanniens, Italiens und der Vereinigten Staaten zwischen Dezember 1917 und Frühjahr 1918 das aus ein paar Emigranten bestehende Nationalkomitee als legale Vertretung des sogenannten tschechoslowakischen Volkes als alliierter kriegsführender Partei anerkannten, n Ernst Rudolf Huber: Verfassungsrecht des Großdeutschen Reiches, 2. Aufl. 1937/39, S. 150: "Der politische Begriff des Volkes". Norbert Gürke: Volk und Völkerrecht, 1935, passim. u Vgl. Günter Decker: Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen, 1955, und Kurt Rabl: Das Selbstbestimmungsrecht der Völker, 1973.
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obwohl der Österreichische Staat zu diesem Zeitpunkt noch die effektive Herrschaft über Böhmen, Mähren und die Slowakei ausübte. Rudolf Laun, der diese Vorgänge in seinem umfangreichen Werk "Wandel der Ideen Staat und Volk als Äußerung des Weltgewissens" {Barcelona 1933) ausführlich beschrieben hat, glaubte darin ein "juristisches Novum", nämlich die Schaffung eines neuartigen Völkerrechtssubjekts zu erkennen, das ihm ein Präzedenzfall für das künftige Völkerrecht und das innerstaatliche Recht der Zukunft zu sein schien. "Die Idee des Volkes" so meinte er des weiteren, "hatte in der Rechtsordnung des Waffenstillstandsvertrages über das Dogma vom souveränen Staat gesiegt25." Tatsächlich handelte es sich nur um eine Kriegsmaßnahme der Alliierten, die nur durch den Ausgang des Krieges in volle staatliche Anerkennung erwachsen konnte. Das Völkerrechtslehrbuch der Akademie der Wissenschaften der UdSSR von 1957 beschreibt den Tatbestand schon realistischer, wenn es sagt: "In der Regel ist die für ihre Unabhängigkeit kämpfende Nation Völkerrechtssubjekt, wenn solche Organe vorhanden sind und sie sich im Stadium eines werdenden Staates befindet26." Nach wie vor kann nur die staatlich organisierte Nation Völkerrechtssubjekt sein.
vm. Etymologisch derselben Wurzel entstammend bezeichnen die Worte Nation und Nationalität im heutigen politischen, historischen und juristischen Sprachgebrauch verschiedene soziale Gruppen: ist die Nation das im Staat organisierte oder wenigstens zur Staatlichkeit tendierende Volk, also das Staatsvolk, so verstehen wir unter einer Nationalität eine ethnisch oder sprachlich bestimmte Minderheit innerhalb eines größeren Staatsverbandes. Im Deutschen spricht man auch von Volksgruppen, besonders, wenn es darauf ankommt, die paßrechtliche Staatsangehörigkeit auszuschließen. Die noch von John Stuart Mill 1861 verwendete Bezeichnung "Nationality" für Nation kann als altertümlich wohl auch im englischen vergessen werden27 . Da aus Nationalitäten auf Grund des Selbstbestimmungsrechts der Völker durch Verselbständigung im eigenen Staat Nationen werden können und geworden sind, gehört ihre rechtliche Behandlung und Bewertung in unseren Zusammenhang. a.a.O., S. 235. W. W. Jewgenew, in: "Völkerrecht", hrsg. von der Akademie der Wissenschaften der UdSSR, deutsche Übersetzung von Lotbar Schultz, 1960, S. 88. 27 John Stuart Mill: Representative Government 1861, Chapter XVI. 25
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Nach dem Ersten Weltkrieg wurde zum Ausgleich für die Vorenthaltung der nationalen Selbstbestimmung einigen Volksgruppen Minderheitenschutz gewährt, der teils auf völkerrechtlichen, teils aber auch auf staatsrechtlichen Rechtsgrundlagen beruhte. "Der Umstand, daß nur in wenigen Staaten alle Staatsbürger zu ein- und derselben Nationalität gehören und daß Staatsgrenzen nur in einigen Ausnahmefällen genau mit den Sprachgrenzen übereinstimmen, hat das Minderheitenproblem hervorgebracht." So beginnt der Motivbericht zum estnischen Autonomiegesetz vom 5. Februar 192528• Das im Gefolge der Versailler Friedensordnung entstandene Minderheitenrecht, dessen völkerrechtliches Musterbeispiel der Vertrag der alliierten und assoziierten Hauptmächte mit Polen vom 28. Juni 1919 war, ist mit dieser untergegangen. Sein Zweck war der Schutz von Volksgruppen in einheitlichen souveränen Staaten und nicht die Bildung oder Bewahrung von Staats-Nationen. Was hat denn also, so kann man fragen, der Schutz nationaler Minderheiten mit der Rechtslage einer in mehreren Staaten aufgeteilten Nation gemeinsam? Der Unterschied in der Zahl der betroffenen Bevölkerung, der historischen und der Machtlage, schließt Analogien nicht aus. Die Minderheitenverträge von damals enthielten rechtspolitische Grundsätze und zeitigten Erfahrungen, denen Antworten auf die nationale Frage im weiteren Sinne, auf das Problem der nationalen Solidarität im allgemeinen, entnommen werden können. Indem das Nationalitätenrecht den vom Mutterstaat getrennten Volksgruppen staatsbürgerliche Gleichberechtigung und kulturelle Autonomie versprach, gewährte es ihnen eine Kompensation für die verweigerte politische Selbstbestimmung und den Ausschluß aus dem angestammten Nationalstaat. Damit wurden aber die Berechtigung und der Wert völkischnationaler Eigenständigkeit anerkannt. Über die Zugehörigkeit zu einer Nationalität entschied das persönliche Bekenntnis, nicht objektive Merkmale. Mit dem Gebot der Gleichbehandlung nationaler und sprachlicher Minderheiten - die ebenfalls begünstigten religiösen Gruppen fallen nicht in unser Thema - wurde der menschenrechtliche Aspekt der nationalen Frage hervorgehoben. In diesem Aspekt lag aber auch ein doppelter Widerspruch zum Postulat der Nation: den Minderheiten konnten die Verträge und auch die Aufsicht des Völkerbundes den eigenen nationalen Staat nicht ersetzen, bedurften sie doch eines Mitgliedstaates, der sich ihrer Beschwerde im Völkerbundsrat annahm; dem Territorialstaat schienen sie eine lästige Souveränitätsbeschränkung und ein Hindernis auf dem Wege zur erstrebten nationalstaatliehen Homogenität durch Assimilation.
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Abgedruckt bei Herbert Kraus: Das Recht der Minderheiten, 1927, S. 199.
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Nach dem Zweiten Weltkrieg ist kein neues Volksgruppenrecht geschaffen worden und wird wohl auch nicht geschaffen werden, trotz dahinzielender Forderungen, besonders aus Kreisen der deutschen Vertriebenen. Artikel 27 des UN-Paktes für bürgerliche und politische Rechte von 1966 setzt die Tradition der Minderheitenschutzverträge von 1919 insofern fort, als er den Staaten, "in denen ethnische, religiöse oder sprachliche Minderheiten bestehen", verbietet, "den Angehörigen solcher Minderheiten" das Recht vorzuenthalten, "gemeinsam mit anderen Angehörigen dieser Gruppe ihre eigene Kultur zu pflegen, ihre eigene Religion zu bekennen und auszuüben oder sich ihrer eigenen Sprache zu bedienen". Besondere Minderheitenschutzverfahren fehlen jedoch. Nur vermittels der Rechte des Individuums wird also die andersartige, anderssprachige oder andersgläubige Minderheit geschützt. Die Volks-Sprach- oder Glaubensgruppe ist durch den Einzelnen mediatisiert. Gleichzeitig tendieren aber alle Menschenrechtsverträge "beyond the nation state". Mit ihren Interventions- und Kontrollmechanismen widerstreiten sie - einschließlich des den UN-Pakten vorangestellten Selbstbestimmungsartikels- der Idee des geschlossenen Nationalstaats, durchbrechen ihn und mindern seine Souveränität. Vor fast 60 Jahren veröffentlichte der Volkstheoretiker Max Hildebert Boehm ein Buch unter dem Titel "Europa Irredenta" (1923), das dann zum Schlagwort wurde. Heute hat es neue Aktualität bekommen. Von Irland bis Zypern, vom Baskenland bis in den Vielvölkerstaat der Sowjet-Union begehren alte und neu erwachte Minderheiten und Volksgruppen, ethnische, sprachliche und religiöse gegen die staatliche Ordnung auf. Der nationale Konflikt wird dabei oft durch den sozialen verschärft oder erst belebt. Zwei einander widersprechende Tendenzen kennzeichnen heute die internationalen Beziehungen in Europa und in anderen Erdteilen: die zur Integration und die zur Desintegration. Das Streben nach großräumigen Zusammenschlüssen wird in mehreren Gebieten Europas durch separatistische Bestrebungen unterlaufen. Das um seine wirtschaftliche und politische Integration ringende Europa wird nicht nur von nationalstaatliehen Egoismen sondern auch von unbefriedigten und unbefriedeten nationalen Minderheiten in Frage gestellt. Hier zeigt sich das Doppelgesicht des Nationalismus als integrierende und als auflösende Kraft.
IX. In der Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermords vom 9. Dezember 1948 wurde die nationale Kollektivität, das Volkstum, erstmalig vom Völkerrecht als ein sogar strafrechtlich zu
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schützendes Rechtsgut anerkannt. Dieser Sinn der Genacid-Konvention tritt in der politischen und wissenschaftlichen Darstellung gewöhnlich zurück hinter dem menschenrechtliehen Aspekt und hinter der Problematik des Völkerstrafrechts überhaupt, das heißt der völkerstrafrechtlichen Verantwortlichkeit von Einzelpersonen. Indem die Vertragsparteien (bis Ende 1970 75 Ratifikationen) bestätigen, "daß Völkermord, ob in Friedens- oder Kriegszeiten begangen, ein Verbrechen nach Völkerrecht ist, zu dessen Verhütung und Bestrafung sie sich verpflichten" (Art. 1), bestätigen sie den Rechtswert des Volkstums29 • Denn Völkermord bedeutet nach Art. II dieser Konvention eine der nachfolgend aufgeführten Handlungen, "die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören ...". Im englischen Originaltext wird von "national, ethnical, racial or religious groups" gesprochen. Solche Handlungen sind: "a) Tötung von Mitgliedern der Gruppe; b) Zufügung von schwerem körperlichem oder seelischem Schaden an Mitgliedern der Gruppe; c) vorsätzliche Unterwerfung der Gruppe unter Lebensbedingungen mit dem Ziel, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen; d) Verhängung von Maßnahmen, die auf die Geburtenverhinderung innerhalb der Gruppe gerichtet sind; e) gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe."
X. Die Rechtsstellung von Nationalitäten beruht seit jeher auch auf staatlichen, "nationalem" Recht, ohne dessen ergänzende und transformierende Mitwirkung völkerrechtliche Schutznormen wie die Minderheitenschutzklausein in Friedensverträgen und spezielle Minderheitenverträge, wirkungslos bleiben. Verfassungsnormen zum Schutz sprachlicher und nationaler Minderheiten haben in Deutschland und Österreich Tradition. So bestimmt § 188 der Reichsverfassung vom 28. März 1849: "Den nicht deutsch redenden Volksstämmen Deutschlands ist ihre volkstümliche Entwicklung gewährleistet, namentlich die Gleichberechtigung ihrer Sprachen, soweit deren Gebiete reichen, in dem Kirchenwesen, dem Unterrichte, der inneren Verwaltung und der Rechtspflege." Art. 113 der Weimarer Verfassung verbot, "die fremdsprachigen Volksteile des Reiches" durch Gesetzgebung und Verwaltung ..." in ihrer freien, volkstümlichen Entwicklung" usw., zu beeinträchtigen. u Wie hier auch Georg Dahm: Völkerrecht, Bd. I, 1958, S. 391, und Bd. 111, 1961, S. 293 u. 301. Vgl. schon Berthold Mosheim im Archiv des Völkerrechts, 2. Bd., 1950, S. 188 - 193. Der nationalpolitische Aspekt bleibt dagegen unbeachtet bei H. H. Jeschek: Stichwort "Genocidium", Wörterb. d. Völkerrechts, Bd. I, 1960, S. 658.
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Das estnische Autonomiegesetz von 1925 war seinerzeit ein vielgenanntes Beispiel für das Modell der Autonomie. Es war auf Drängen des Völkerbundes erlassen worden, beruhte aber auf Bestimmungen der Verfassung, des Grundgesetzes. Es schuf völkische Kulturselbstverwaltungsinstitutionen auf Grund eines Nationalregisters, in das sich die Angehörigen der Minderheiten nach dem Personalprinzip, d. h. ohne territoriale Begrenzung, eintragen konnten. Als Minoritäten galten "das deutsche, russische und schwedische Volk, sowie diejenigen auf estländischem Territorium lebenden Minoritäten, deren Gesamtzahl nicht kleiner als 3000 ist" (§ 8)30• Aus der Gegenwart ist das italienischösterreichische Südtirol-Abkornmen vorn 5. September 1946, das Gruber-de Gasperie-Abkornrnen, zu erwähnen, das eine Verbindung von Nichtdiskriminierung der einzelnen deutschsprachigen Bürger Italiens mit Maßnahmen zum Schutz ihres Volkscharakters und regionaler Autonomie in Gesetzgebung und Verwaltung vorsieht. Durch das italienische Verfassungsgesetz vorn 26. Februar 1948, das die Region Trentino-Alto-Adige mit den Provinzen Trento und Bozen schuf, wurden die Grundgedanken des Abkommens nur unvollkommen verwirklicht. So wie die Volksgruppen, die Nationalitäten ihren ethnischen Charakter, das Gemeinschaftliche, auf die Dauer nur in rechtlichen Institutionen, in autonomen juristischen Körperschaften, sei es auf personeller, sei es auf territorialer Basis bewahren können, so bedarf die Nation als Großgruppe zur Selbstverwirklichung des eigenen Staates. Nur in dieser Form ist sie Rechtsperson, nur im Staat bilden die Staatsbürger ein Rechtsverhältnis untereinander und zur Staatsgewalt, mögen Volkstum und Volksgruppe auch als Rechtswert im Völkerrecht wie im Staatsrecht verschiedener Nationen anerkannt sein. XI.
Was besagen nun die in diesem knappen Überblick über die rechtlichen Aspekte von Nation und Nationalität gewonnenen Erkenntnisse für die Lage Deuschlands nach dem Zweiten Weltkrieg? Bilden die Deutschen in den Grenzen des Reiches vom 31. Dezember 1937 ein Staatsvolk, eine Staatsnation, eine Kulturnation oder ein "eigenständiges Volk" im Sinne der soziologischen Volkstheorie Max Hildebert Boehms31 ? In der in nationalpolitischer Hinsicht wesentlich günstigeren Lage Deutschlands nach dem Ersten Weltkrieg wurde schon zwischen so Text bei Herbert Kraus, a.a.O., S. 191. Vgl. auch Christodoulos K. Yiallourides: Minderheitenschutz und Volksgruppenrecht im 20. Jahrhundert unter besonderer Berücksichtigung der Verhältnisse auf Zypern, Bochum 1980. 31 Max Hildebert Boehm, Das eigenständige Volk, 1932, Neudruck 1965.
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dem "Staatsvolk" und dem "Volk als natürlicher Einheit" unterschieden. Rudolf Laun definierte in seinem Beitrag zum "Handbuch des Deutschen Staatsrechts" (1930) das Staatsvolk als "die Summe aller Staatsangehörigen", und den Staat als "die organisatorische Zusammenfassung aller Staatsangehörigen", Volk aber als "eine unabhängig von Recht und Staat gegebene gesellschaftliche Gruppe" 32 . Zum deutschen Volk gehörten nach seiner Auffassung "auch die Deutschen der 1919 verlorenen Gebiete und des ehemaligen österreich" 33 . Die klare Unterscheidung zwischen Staatsvolk und Volk als natürlicher Einheit ist nach dem Zweiten Weltkrieg nicht nur durch die Teilung Deutschlands sondern auch durch Theorie und Praxis der Deutschlandpolitik verwischt und verunklart worden. Die nationalpolitisch gewiß nützliche Rechtsfiktion vom Fortbestand eines deutschen Gesamtstaates wurde u. a. mit dem Argument des Fortbestandes einer gesamtdeutschen Staatsangehörigkeit begründet, obwohl logisch die Staatsangehörigkeit den Staat voraussetzt. Solange und soweit die Bundesrepublik sich mit dem deutschen Reich identifiziert, ist das noch plausibel. Reichsangehörigkeit ist dann Bundesangehörigkeit geworden. Mit der völkerrechtlichen Anerkennung eines zweiten deutschen Staates und dessen besonderer Staatsangehörigkeit ist diese Rechtsposition praktisch zu einer "offenen Tür" für die Volksgenossen in der DDR geworden, um mit Ulrich Scheuner zu sprechen34. Ihr Zweck ist, als Band des Zusammenhalts der Nation als politischer Einheit zu dienen. Da es aber an der gesamtdeutschen staatsangehörigkeitsrechtlichen Rechte- und Pflichtensubstanz, vor allem am wesentlichen Verhältnis von Schutz und Gehorsam durch den Gesamtstaat fehlt, vermag dies Band allein diesen nicht zu ersetzen. Der Siedlungsraum des deutschen Volkes im ethnischen Sinne ist auch heute größer als das Territorium der beiden deutschen Staaten und der alten Reichshauptstadt. Der völkerrechtliche Territorialstatus ist durch die Ostverträge von 1970/72 zumindest vorläufig festgelegt. Aber auch in seinem zusammengeschrumpften Raum schwankt das deutsche Volk heute zwischen dem Status einer Kulturnation und dem einer politischen oder Staatsnation - ohne einheitlichen Staat. Ob es diese oder jene ist, hängt von seinem Nationalbewußtsein und seinem Willen zur Erneuerung eines einheitlichen deutschen Staates ab. Was 32 Rudolf Laun: § 21 Volk und Nation, Selbstbestimmung, nationale Minderheiten, Handbuch des deutschen Staatsrechts, hrsg. von. G. Anschütz und R. Thoma, 1. Band, 1930, S. 244. 33 a.a.O., S. 248- 250. 34 U. Scheuner: Diskussionsbeitrag im Symposium "Ostverträge - Berlinstatus - Münchner Abkommen usw.", Harnburg 1971, S. 298. Dazu H. Rumpf: Vom Niemandsland zum deutschen Kernstaat, 1979, S. 155 ff. Hubertus von Morr: Der Bestand der deutschen Staatsangehörigkeit nach dem Grundvertrag, 1977.
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für Nationalitäten und Minderheiten wahr ist, gilt erst recht für das Volk in der Mitte Europas mit seiner Jahrhunderte alten gesamtstaatlichen Tradition im Zeichen der Reichsbildung: die nationale Solidarität ist ein- wenn auch nicht der einzige- verpflichtender Wert. Wie zur Selbstverwirklichung der Volksgruppe eine zumindest kulturelle, möglichst aber auch lokale administrative Autonomie gehört, bedarf ein großes Volk mit historischer Staatstradition zu seiner Selbstverwirklichung des einen eigenen Staates. Die Wiederherstellung der staatlichen Einheit ist also die conditio sine qua non für die Bewahrung der Nation im politischen Sinne. Dies Postulat ist nicht zu kompensieren: Weder mit Betonung der Menschenrechte noch etwa mit Besuchs- und Verkehrserleichterungen und auch nicht mit der Lehre von Volkswesenheit und eigenständiger Volksperson - deren wissenschaftlicher und volkspolitischer Sinn nicht zu bezweifeln ist35 • Für den eigenen Staat gibt die Geschichte der Nation keinen Ersatz.
as M. H. Boehm, a.a.O., S. 265 ff.
DER NATIONSBEGRIFF UND DIE FRAGE NACH DEM SUBJEKT ODER TRÄGER DES SELBSTBESTIMMUNGSRECHTS Von Boris Meissner I. Die Entwicklung der Idee des Selbstbestimmungsrechts und ihre innerstaatliche Verwirklichung Thomas Jefferson, der die Verfassungsentwicklung der Vereinigten Staaten in entscheidendem Maße beeinflußt hat, hat als einer der ersten auf den universellen Charakter des Selbstbestimmungsrechts hingewiesen. Er erklärte 18021 : "Jedermann und jede Menschengruppe auf Erden besitzt das Recht auf Selbstregierung - ein Recht, das die Menschen in ihrem Dasein aus den Händen der Natur empfangen." Die individuelle Selbstbestimmung, die in den allgemeinen Menschenund Freiheitsrechten zum Ausdruck kam, ist in diesem Satz durch den Anspruch einer jeden Menschengruppe auf Selbstregierung und damit Selbstbestimmung ergänzt worden. Offen blieb die Beschaffenheit einer solchen Menschengruppe, die einen solchen Anspeuch auf kollektive Selbstbestimmung geltend machen konnte. Im Laufe des 19. Jahrhunderts fand im zunehmenden Maße eine Verknüpfung zwischen dem nationalen und dem demokratischen Gedanken statt, die einem als Gruppenrecht aufgefaßten Selbstbestimmungsrecht eine erhöhte Bedeutung zuwies. Die Verbindung mit dem Nationalitätsprinzip war dabei einerseits für Völker, die wie die Deutschen und Italiener nach staatlicher Einheit strebten, andererseits für Vielvölkerstaaten, wie die Habsburger Doppelmonarchie und das Russische Reich von Bedeutung. Im Gegensatz zu Karl Marx hat sein russischer Gegenspieler Michael Bakunin die Bedeutung des Selbstbestimmungsrechts, das er aus dem allgemeinen Freiheitsprinzip ableitete, durchaus erkannt. Bakunin schrieb 2 : 1 2
Zitiert nach E. Hölzle: Rußland und Amerika, München 1953, S. 50. Hölzle (Anm. 1), a.a.O., S. 226.
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"Jede Nationalität, ob groß oder klein, hat das unzweifelhafte Recht, für sich zu bestehen, ihrer eigenen Natur gemäß zu leben." Die revolutionäre Zeitschrift "Welikoruss", zu deren Mitarbeitern vermutlich auch Tschernyschewskij zählte, der auf Lenin einen wesentlichen Einfluß ausgeübt hat, ging noch weiter. Sie war bereit, den einzelnen Völkern Rußlands, darunter selbst den Ukrainern, das Recht auf Loslösung vom Russischen Reich und Bildung unabhängiger Nationalstaaten zuzugestehen. Damit war der Grundgedanke der Selbstbestimmungskonzeption Lenins, der neben der auf Jefferson zurückgehenden Selbstbestimmungsauffassung des amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson eine geschichtsgestaltende Bedeutung zukommen sollte, vorweggenommen. Tschernyschewskij, der sich ebenso wie Bakunin eingehend mit den amerikanischen Verfassungseinrichtungen befaßt hatte, leitete die Notwendigkeit einer föderalistischen Lösung aus der von ihm angestrebten demokratischen Ordnung ab3 : "Demokratie fordert Selbstregierung und diese drängt zum Föderalismus." Für eine föderative Gliederung des Russischen Reiches unter besonderer Berücksichtigung des Nationalitätsprinzips trat auch der aus der Ukraine stammende Historiker Dragomanow ein. Er knüpfte in seinen Überlegungen an die Verfassungspläne Nowossilzows, des Vertrauten Kaiser Alexander 1., von 1819/20 und eines Teiles der Dekabristen, der geheimbündlerischen Gruppen adliger Offiziere, an4 • Die zaristische Autokratie lehnte jedoch seit dem Dekabristenaufstand von 1825 und dem Polenaufstand von 1830 das Nationalitätsprinzip und die föderalistische Idee im gleichen Maße ab. Die Versuche der Nachfolger Kaiser Alexander I. die fehlende nationale Homogenität des rußländischen Vielvölkerstaates auf dem Wege der Russifizierung herzustellen, sollten keinen Erfolg haben5 .
Ebenda, S. 226. Vgl. V. G . Sokurenko: Demokraticeskie ucenija o gosudarstve i prave na Ukraine vo vtoroj polovine XIX veka (Demokratische Lehren vom Staat und Recht in der Ukraine in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts), Lernberg 1966. Zu den Verfassungsplänen Novosil'cevs und der Dekabristen vgl. G. von Rauch: Rußland. Staatliche Einheit und nationale Vielfalt, München 1953; D. von Mohrenschild: Toward a United States of Russia, East Brunswick 1981. Vgl. hierzu auch H. Lemberg: Die nationale Gedankenwelt der Dekabristen, Köln I Graz 1963. 5 Vgl. Rauch (Anm. 4), a.a .O., S. 87 ff., 95 ff., 111 ff., 126 ff., 137 ff. 8
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Die zunehmenden nationalen Spannungen als Folge dieser Politik sollten am Ausgang des 19. Jahrhunderts mit einem Aufschwung der revolutionären Bewegung zusammenfallen. Dieser wurde einerseits durch die kapitalistischen Formen der Industrialisierung, andererseits durch die Übernahme des liberal-demokratischen und sozialistischen Gedankenguts des Westens bedingt. Diese Entwicklung sollte dem Selbstbestimmungsgedanken in Rußland neuen Auftrieb geben. Dabei sollten sich auf dem Gebiete der nationalen Frage die programmatischen Leitsätze der II. Internationale und die aus der Praxis des Habsburger Vielvölkerstaates erwachsenden Auffassungen der Austromarxisten als bedeutend wirkungsvoller erweisen als das marxistische Ursprungskonzept. Marx und Engels, welche die nationale Frage unter dem Gesichtspunkt der Klassenstruktur betrachteten, unterschätzten die Bedeutung des nationalen Selbstbestimmungsgedanken und die Kraft des Nationalismus6. Sie waren der Auffassung, daß die nationalen Verschiedenheiten und Gegensätze im Laufe der von den Nationalstaaten zum Weltstaat führenden revolutionären Entwicklung allmählich geringer werden würden. Sie gingen dabei davon aus, daß der sozialistische Weltstaat die Vorstufe zu der von ihnen als Endziel angestrebten klassenlosen kommunistischen Weltgesellschaft bilden sollte. Sie sahen aber keine Verschmelzung der Nationen zu einem Menschheitskollektiv mit einer einzigen Weltsprache, wie später Lenin, vor. Marx und Engels waren ausgesprochene Gegner des Nationalitätsprinzips. Sie stellte ihm "das Recht der großen europäischen Nationen auf Absonderung und unabhängige Existenz" gegenüber. Aus diesem Recht leiteten sie vor allem den Anspruch der durch politische Gewaltakte zerstückelten "historischen Nationen", wie der deutschen und polnischen Nation, auf Wiederherstellung ihrer staatlichen Einheit ab7 • Es war vor allem die Österreichische Sozialdemokratie, die ausgehend von den besonderen Verhältnissen des Habsburger Vielvölkerstaates die Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts auf der Grundlage des Nationalitätsprinzips suchte. Besondere Bedeutung kam dabei den Schriften von Karl Renner und Otto Bauer zu8 , die für eine weitgehende nationale Selbstverwaltung 6 Vgl. H. Cunow: Die Marxsche Geschichts-, Gesellschafts- und Staatslehre, Bd. II, Berlin 1921, S. 23 ff.; S. F. Bloom: The World of Nations. A Study of the National Implications in the Work of Kar! Marx, New York 1941; Ch. C. Herod: The Nation in the History of Marxian Thought, The Hague
1976.
Vgl. Cunow (Anm. 6), a.a.O., S. 41. Vgl. K. Renner ("Synopticus"): Nation und Staat, Wien 1899; K. Renner ("Rudolf Springer"): Der Kampf der Österreichischen Nationen um den Staat, 7
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der einzelnen Völker unter Anwendung des exterritorialen Personalitätsprinzips eintraten. Eine umfassende Kulturautonomie bei verfassungsmäßig geordneten "Nationsrepräsentanzen" war das Ziel. Durch die Konstituierung der einzelnen Völker als Rechtspersönlichkeiten sollte eine föderative Ordnung auf der Grundlage des Nationalitätsprinzips ermöglicht werden, die über Österreich hinaus als Modell wirken konnte. Auch bei der Organisation der Österreichischen Sozialdemokratie war ein föderativer Aufbau vorgesehen. Bereits auf dem Wiener Parteitag 1897 wurden sechs selbständige nationale Gruppen innerhalb der Gesamtpartei gebildet. "Je eine deutsche, tschechische, polnische, ruthenische, italienische und südslawische). Sie sollten durch einen gemeinsamen Parteitag und ein gemeinsames Zentralkomitee verbunden sein. Auf dem Brünner Gesamtparteitag 1899 wurde eine Resolution über die nationale Frage gefaßt, die im wesentlichen auf einem Kamprarniß zwischen dem Personalitäts- und Territorialitätsprinzip beruhte. Sie forderte eine Umgestaltung Österreichs in einen demokratischen Nationalitäten-Bundesstaat. Gleichzeitig wurde das Zentralkomitee auf föderativer Grundlage umgebildet. Das Nationalitätenprogramm der Österreichischen Sozialdemokratie hat in Verbindung mit den Gedankengängen Renners und Bauers auf alle russischen demokratischen Parteien, insbesondere aber auf die sozialistischen einen starken Einfluß ausgeübt9 • Es hat sich damit entscheidend auf die Entwicklung der Selbstbestimmungsidee im modernen Rußland ausgewirkt. Die Probleme, die sich aus dem besonderen Charakter Rußlands als eines Vielvölkerstaates ergaben, haben Lenin früh veranlaßt, sich mit Lösungsmöglichkeiten der nationalen Frage auf der Grundlage des Selbstbestimmungsrechts der Völker zu befassen. Unter dem Selbstbestimmungsrecht verstand dabei Lenin von vornherein nur das Recht einer territorial genau bestimmten Nation, sich für das Ausscheiden oder das Verbleiben im bisherigen Staatsverband zu entscheiden, d. h. sich für die Möglichkeit nationalstaatlicher Unabhängigkeit oder territorialer Autonomie auszusprechen10• 1. Aufl. Leipzig I Wien 1902; 2. Aufl. (Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen in besonderer Anwendung auf Österreich), Leipzig I Wien 1918; 0. Bauer: Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie, 1. Aufl. Wien 1907; 2. Aufl. Wien 1924. e Vgl. R. Pipes: The Formation of the Soviet Union, Cambridge, Mass. 1954, s. 24 ff. 10 Vgl. Rauch (Anm. 4), a.a.O., S. 150 ff.
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Eine auf dem Personalitätsprinzip beruhende national-kulturelle Autonomie wurde von ihm entschieden abgelehnt, da ein föderativer Aufbau der Parteiorganisation nach österreichischem Vorbild seiner seit 1902 bedingungslos vertretenen Forderung nach einer straff zentralisierten Kaderpartei den Boden entzogen hätte. Dies war der Hauptgrund, warum er Stalin 1913 veranlaßte, sich kritisch mit den Gedankengängen von Karl Renner und Otto Bauer auseinanderzusetzen. Während des Ersten Weltkrieges fand in den sozialistischen und pazifistischen Kreisen eine rege Diskussion über das Selbstbestimmungsrecht der Völker und die Formen seiner Verwirklichung statt. Nach der Februarrevolution 1917 waren es in Rußland vor allem die Sozialrevolutionäre und die Parteien der einzelnen nichtrussischen Völker, die eine föderative Lösung der Nationalitätenfrage anstrebten. Stalin, der an der Seite Lenins zum führenden sowjetischen Nationalitätenpolitiker aufrücken sollte, ist dieser Aufgabe in einer in Wien verfaßten Schrift "Nationale Frage und Sozialdemokratie", die später unter der Bezeichnung "Marxismus und nationale Frage" verbreitet wurde, nachgekommen11 • Ihr sollte eine besondere Bedeutung zukommen, da sich Lenin die in ihr enthaltene Begriffsbestimmung der Nation, die auf dem Territorialitätsprinzip beruhte, zu eigen machte. Der Kongreß der Völker Rußlands, der vom 8. bis 15. September 1917 in Kiew stattfand, sprach sich für die Errichtung einer "Demokratischen Föderativen Republik Rußland" auf der Grundlage einer engen Verbindung des Personalitäts- und Territorialitätsprinzips aus. Die auf dem Kongreß hauptsächlich vertretenen sozialistischen nationalen Parteien hatten sich am 29. Mai 1917 in Petersburg zu einem Rat zusammengeschlossen und dabei die folgende Entschließung über das "Recht eines jeden Volkes auf nationale Selbstbestimmung" angenommen12 : "IV. Die sozialistischen nationalen Parteien werden für das Recht eines jeden Volkes auf jede beliebige der nachstehenden Erscheinungsformen des politischen Selbstbestimmungsrechts eintreten: a) national-territoriale Autonomie; 11 Vgl. G. Stökl: Die Entstehung der Sowjetunion und die nationale Frage, in: Th. Schieder (Hrsg.): Staatsgründungen und Nationalitätsfrage, München I Wien 1974, S. 74 f.; Pipes (Anm. 9), a.a.O., S. 38 ff.; Wolfe (Anm. 11), a .a.O., S. 691. Pipes ist der Ansicht, daß die Mängel in der Arbeit Stalins den Schluß zulassen, daß sie von ihm selbst, wenn auch nach Anleitung Lenins verfaßt worden ist. Wolfe nimmt dagegen an, daß der in Wien anwesende Bucharin dem in der deutschen Sprache unkundigen Stalin wesentlich geholfen hat. 12 S. M. Dimanstejn (Hrsg.): Revoljucija i nacional'nyj vopros (Die Revolution und die nationale Frage), Bd. 3, Moskau 1930, S. 451 f.
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b) national-personale (exterritoriale) Autonomie; c) Ausgestaltung der nationalen Gebiete auf föderativen Grundlagen innerhalb des Russischen Staates, soweit diese Forderung noch dieser oder jener Form des staatlichen Daseins den richtig und demokratisch zum Ausdruck gebrachten Willen der Bevölkerung des ganzen Gebiets (und bei exterritorialen Volksgemeinschaften) des ganzen Volkes und nicht nur den Willen einzelner Parteien darstellt. Der richtig und demokratisch zum Ausdruck gebrachte Wille des Volkes oder Gebiets wird entweder durch die (verfassungsgebende oder gewöhnliche) Vertreterversammlung dieses Volkes oder Gebiets, die auf Grund des allgemeinen, direkten, gleichen und geheimen Wahlrechts nach dem proportionalen System gebildet wird, oder durch eine allgemeine Volksabstimmung (Referendum) des betreffenden Volkes oder Gebiets bestimmt." Von dem "Völkerkongreß" sind eine Reihe weiterer Vorschläge zur Lösung der Nationalitätenfrage gemacht worden, die teilweise später in einem bolschewistischen Sinn verwirklicht wurden. Lenin hatte eine föderative Umgestaltung des Russischen Reiches zunächst abgelehnt. Erst nach der Oktoberrevolution benutzte er die föderalistische Idee als Mittel, um die Reichseinheit unter sowjetkommunistischen Vorzeichen wiederherzustellen18 • Das "Sammeln der russischen Erde", das im Verlauf des Bürgerkrieges mit Methoden erfolgte, die zu dem von Lenin proklamierten Selbstbestimmungsrecht der Völker in einem deutlichen Widerspruch standen, konnte bis 1922 im großen und ganzen abgeschlossen werden. Nur Finnland, die baltischen Staaten - Estland, Lettland, Litauen - sowie Polen konnten ihre staatliche Unabhängigkeit behaupten. Diese Entwicklung bot die Möglichkeit, nach vorheriger Herstellung konföderaler Bindungen in Gestalt einer "Vertragsföderation" die einzelnen kommunistisch regierten Sowjetrepubliken am 30. Dezember 1922 zu einem Bundesstaat zu vereinigen. Über die künftige Gestalt der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR oder Sowjetunion) gab es 1922 eine heftige Auseinandersetzung zwischen Lenin und Stalin14 • Während Lenin für eine föderative Lösung auf der Grundlage der Gleichberechtigung der 13 Vgl. B. Meissner: Entstehung, Fortentwicklung und ideologische Grundlagen des sowjetischen Bundesstaates, in: F. Chr. Schroeder I B. Meissner (Hrsg.): Bundesstaat und Nationalitätenrecht in der Sowjetunion, Berlin 1974, s. 14 ff. 14 Vgl. Meissner (Anm. 13), a .a.O., S. 30 ff.
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Sowjetrepubliken eintrat, befürwortete Stalin ihre Eingliederung in die stärker zentralisierte Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik (RSFSR). Lenin gelang es zwar, seine Vorstellung durchzusetzen. Die weitere Entwicklung des sowjetischen Bundesstaates entsprach jedoch mehr der von Stalin vertretenen Auffassung, die dem Bund im Verhältnis zu den Unionsrepubliken das Übergewicht sicherte. Dieses Übergewicht hat sich nach einer gewissen Wiederbelebung des Sowjetföderalismus unter Chruschtschow aufgrund der neuen Bundesverfassung der UdSSR von 1977 weiter verstärkt. Vor allem ist es die von Breshnew 1971 aufgestellte Theorie vom einheitlichen Sowjetvolk gewesen15 , die den Anstoß für eine verstärkte Russifizierung gegeben hat. Gegen diese wehren sich die nichtrussischen Nationalitäten unter Berufung auf ihr Selbstbestimmungsrecht und werden dabei auch von großrussischen Dissidenten, wie Professor Sacharow, moralisch unterstützt. Wenn die Nationalitätenfrage in der Sowjetunion bisher keine befriedigende Lösung gefunden hat, so liegt es einerseits an den ideologischen Schranken, andererseits an der besonderen Erscheinungsform des sowjetischen Einparteistaates. In Jugoslawien, das als ein Vielvölkerstaat eine freiere, autoritäre Grundform des Einparteistaates aufweist, ist nicht nur der Staat, sondern auch die herrschende kommunistische Partei föderativ aufgebaut. Zu den ideologischen Schranken gehört das starre Festhalten an dem Territorialitätsprinzip in Verbindung mit dem auf Stalin zurückgehenden Nationsbegriff, der eine Kulturautonomie für die verstreut lebenden Völker oder Volksgruppen nicht zuläßt. Entscheidend ist jedoch, daß die diktatorische Form der Einparteiherrschaft eine Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts der Völker, die für andere großräumige Zusammenschlüsse als Vorbild dienen könnte, nicht ermöglicht. In einer rechtsstaatliehen und vor allem demokratischen Gestalt, wofür in Jugoslawien nur Ansätze vorliegen, könnte die Sowjetföderation für die nichtrussischen und insbesondere nichtslawischen Völker annehmbarer werden, als dies heute noch der Fall ist. In jedem Fall dürfte die verfassungspolitische Bedeutung des föderativen Aufbaus des Sowjetstaates darin zu sehen sein, daß es sich bei ihm um den ersten Versuch handelte, eine Lösung der Nationalitätenfrage im Sinne eines internen Selbstbestimmungsrechts in einem Vielvölkerstaat herbeizuführen. Ebenso wie in der Innenpolitik hat sich Stalin auch in der Außenpolitik an die Forderungen, die Lenin mit dem Selbstbestimmungsrecht 15 Vgl. B. Lewytzkyj: "Sovetskij narod" 1983; Meissner (Anm. 13), a.a.O., S. 64 ff.
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verbunden hat, nicht gehalten. Die Annexion der baltischen Staaten 1940, die Nichteinhaltung der von ihm in J alta gebilligten "Deklaration über das befreite Europa" und die Teilung Deutschlands sind dafür bezeichnende Beispiele. Auf der anderen Seite hielt er nach außen am Selbstbestimmungsrecht der Völker fest, da er sich davon, ebenso wie später Chruschtschow, eine Beschleunigung des Entkolonisierungsprozesses und damit eine Destabilisierung der westlichen Welt erhoffte. Dies wird der Hauptgrund sein, warum die Sowjetunion wesentlich dazu beigetragen hat, daß das Selbstbestimmungsrecht in der Satzung der Vereinten Nationen verankert worden ist16 und damit an völkerrechtlicher Bedeutung wesentlich gewonnen hat.
II. Die Bedeutung des Nationsbegriffs für die Bestimmung des Rechtscharakters des Selbstbestimmungsrechts der Völker Die Idee der nationalen Selbstbestimmung hat - wenn auch in unvollkommener Form- wesentlich die Veränderungen bestimmt, die nach dem Ersten Weltkrieg in Europa stattgefunden haben. Der Selbstbestimmungsgedanke hat aufgrund des Zweites Weltkrieges und seiner Folgen weiteren starken Auftrieb bekommen. Über die Atlantik-Charta (1941) hat er Eingang in die Satzung der Vereinten Nationen (1945) gefunden. In den beiden Menschenrechtskonventionen der Vereinten Nationen vom 16. Dezember 1966 ist ebenso wie bei Jefferson die Verbindung zwischen den individuellen Menschenrechten und der kollektiven Selbstbestimmung hergestellt worden. Die nationale Selbstbestimmung ist ausdrücklich als ein Recht im jeweiligen Artikel 1 verankert und in seinen Grundzügen definiert worden. Der Artikellautet1 7 : "1. Alle Völker haben das Recht auf Selbstbestimmung. Kraft dieses Rechts steht es ihnen frei, ihren politischen Status zu bestimmen und ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung zu verfolgen. 2. Alle Völker können zu ihrem eigenen Nutzen frei über ihre Naturschätze und Wirtschaftskräfte verfügen, unbeschadet der Verpflichtungen, die aus der internationalen wirtschaftlichen Zusammenarbeit auf der Grundlage des Prinzips des gegenseitigen Nutzens 1& Vgl. B. Meissner: Das Selbstbestimmungsrecht der Völker nach Helsinki und die sowjetische Selbstbestimmungskonzeption, in: Die KSZE und die Menschenrechte, Berlin 1977, S. 115 ff. 11 General Assembly, Official Records (10th session), Document A/2929, Annexes, Part II, 1955, agenda item 28, S. 13; deutsche Übersetzung: Journal der Internationalen Juristen-Kommission, Genf, Bd. VIII, 1967, No. 1, S. 67.
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und aus dem Völkerrecht erwachsen. Auf keinen Fall darf ein Volk seiner Existenzmittel beraubt werden. 3. Alle Teilnehmerstaaten dieser Konvention, einschließlich derjenigen, die für die Verwaltung von Gebieten ohne Selbstregierung und Treuhandgebieten verantwortlich sind, sollen die Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts fördern und das Recht in Übereinstimmung mit den Bestimmungen der Charta der Vereinten Nationen achten." Auf den Inhalt des Selbstbestimmungsrechts ist in der UN-Deklaration über die "freundschaftlichen Beziehungen" vom 24. Oktober 1970 näher eingegangen worden. Dabei ist der universelle Charakter des Selbstbestimmungsrechts besonders betont worden. Eine kürzere Begriffsbestimmung findet sich in der Schlußakte der KSZE vom 1. August 1975, durch welche die Geltung des Selbstbestimmungsrechts für ganz Europa unterstrichen wurde18 • Obgleich der Selbstbestimmungsgedanke im 20. Jahrhundert in so entscheidender Weise auf die Gestaltung der Internationalen Ordnung und der Völkerrechtsgemeinschaft ausgewirkt hat, ist der Rechtscharakter des Selbstbestimmungsrechts in der westlichen Völkerrechtswissenschaft lange umstritten gewesen. Die Zahl der Völkerrechtler, die in dem Selbstbestimmungsrecht nicht nur eine politische Maxime von mehr moralischer als völkerrechtlicher Bedeutung, sondern auch einen wesentlichen Bestandteil des modernen Völkerrechts sahen, war verhältnismäßig gering19• Ihre Zahl ist seit der Annahme der UN-Menschenrechtskonventionen von 1966 und vor allem seit ihrem Inkrafttreten 1976 erheblich gewachsen2o. s Vgl. Meissner (Anm. 16), S. 124 ff. An deutschsprachigen Veröffentlichungen, in denen der Rechtscharakter des Selbstbestimmungsrecht betont wird, sind hervorzuheben: G. Decker: Das Selbstbestimmungsrecht der Nationen, Göttingen 1955; K. Doehring: Das Selbstbestimmungsrecht der Völker als Grundsatz des Völkerrechts (Berichte der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht, H. 14), Karlsruhe 1974; F. Ermacors, D. Blumenwitz, J. Hacker, H. Czaja: Menschenrechte und Selbstbestimmung, Bann 1980; W. Heidelmeyer: Das Selbstbestimmungsrecht der Völker, Faderborn 1973; H. Kloss (Red.): Beiträge zu einem System des Selbstbestimmungsrechts (Völkerrechtliche Abhandlungen, Bd. 2), Wien I Stuttgart 1970; H. Kraus: Das Selbstbestimmungsrecht der Völker, in: Das östliche Deutschland, Würzburg 1959; R. Laun: Der Wandel der Ideen Staat und Volk als Äußerung des Weltgewissens, Barcelona 1933; B. Meissner: Sowjetunion und Selbstbestimmungsrecht, Köln 1962; B. Meissner, Th. Veiter: Das Selbstbestimmungsrecht nach sowjetischer und westlicher Lehre (Völkerrechtliche Abhandlungen, Bd. 1), Wien I Stuttgart 1967; B. Meissner (Hrsg.): Das Selbstbestimmungsrecht der Völker in Osteuropa und China, Köln 1962; K. Rabl: Das Selbstbestimmungsrecht der Völker, 1. Aufl., München 1962, 2. Aufl., Köln 1 Wien 1973; H. Raschhofer: Das Selbstbestimmungsrecht, Bann 1960; Th. Veiter (Red.): System eines internationalen Volksgruppenrechts (Völkerrechtliche Abhandlungen, Bd. 3), Teile 1 - 3, Wien I Stuttgart 1970 - 1978. 1
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Heute dürfte der Rechtscharakter des Selbstbestimmungsrechts nur von wenigen Völkerrechtlern im Westen in Frage gestellt werden. Im Osten überwog die sowjetische Auffassung vom normativen Charakter des Selbstbestimmungsrechts bereits vor der Annahme der Menschenrechtspakte21. Das gleiche gilt für die "Dritte Welt", da der Entkolonisierungsprozeß sich größtenteils unter Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht vollzogen hat22 . Geblieben sind die Probleme, die einerseits mit der rechtlichen Struktur, andererseits mit der rechtlichen Anwendung des Selbstbestimmungsrechts verbunden sind. Das erste Problem hängt mit der Frage zusammen, ob es sich beim Selbstbestimmungsrecht um einen allgemeinen Grundsatz des Völkerrechts oder eine verbindliche Norm handelt. Ein Rechtssatz gibt ein subjektives, mit den Mitteln des Völkerrechts durchsetzbares Recht, während der Rechtsgrundsatz sich zwar in Normen zu verwirklichen sucht, an sich aber nur die Grundlage von Normen bildet23 . Ihm kommt in völkerrechtlicher Hinsicht eine besondere Bedeutung zu, wenn es sich um einen ius cogens-Grundsatz, damit um eine zwingende Grundnorm handelt, zu dem das völkerrechtliche Vertragsrecht nicht im Widerspruch stehen darf24 . In der westlichen Völkerrechtswissenschaft überwiegt die Auffassung, daß es sich beim externen Selbstbestimmungsrecht um einen völkerrechtlichen Grundsatz, aber nur in besonders geregelten Fällen um eine völkerrechtliche Norm handelt. Dabei ist offenbar nur eine Minderheit bereit, ihn als ein ius cogens-Prinzip zu qualifizieren. Trotz wachsender völkerrechtlicher Bedeutung muß das Selbstbestimmungsrecht immer im Zusammenhang mit zwei anderen Grundsätzen gesehen werden, die im System der völkerrechtlichen Grundprinzipien Vorrang besitzen. Auf der einen Seite ist es das Souveränitätsprinzip, das seinen 20 Zur Diskussion über den Rechtscharakter des Selbstbestimmungsrechts vgl. J. Delbrück: Selbstbestimmung und Völkerrecht, Jb. für Internationales Recht, Bd. 13, 1967, S. 180 ff.; ders.: Das Selbstbestimmungsrecht der Völker in Völkerrecht der Gegenwart - zum Stand der Diskussion, Universitas, 32. Jg., 1977, s. 747 ff. 21 Vgl. Meissner (Anm. 19), a.a.O., S. 38 ff. mit Literaturhinweisen. 22 Vgl. Rabl, 2. Aufl. (Anm. 19), a.a.O., S. 409 ff.; E. J. de Arecega: Die internationale Gemeinschaft und das Prinzip der Selbstbestimmung der Völker, Internationale Politik (Belgrad), 1982, H . 768, S. 12 ff. 23 Vgl. F. A. von der Heydte: Völkerrecht, Bd. I, Köln 1958, S. 293. u Vgl. H . Mosler: Jus cogens im Völkerrecht, Schweiz. Jb. d. Internationalen Rechts, 25. Jg., 1968, S. 9 ff.; M. Schweitzer: Jus cogens im Völkerrecht, Archiv des Völkerrechts, 15. Jg., 1971/72, S. 192 ff.; F. A. Mann: The Doctrine of Jus Cogens in International Law, in: Festschrift für Ulrich Scheuner zum 70. Geburtstag, Berlin 1973, S. 399 ff.; J. Sztucki: Jus Cogens and the Vienna Convention on the Law of Treaties. A Critical Appraisal, Osterr. Ztschr. f. öff. Recht, Suppl. 3, Wien I New York 1974.
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absoluten Charakter eingebüßt hat, aber weiterhin die Grundstruktur der Völkerrechtsgemeinschaft bestimmt. Im Verhältnis zu ihm stellt das Selbstbestimmungsrecht der Völker ein wichtiges Korrektiv dar. Auf der anderen Seite ist es das allgemeine Gewaltverbot, dessen ius cogens-Charakter unbestritten ist, das von vornherein die staatliche Souveränität in völkerrechtlicher Hinsicht begrenzt und zugleich der gewaltsamen Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts Schranken setzt. Die sowjetische Völkerrechtslehre ist bereits vor der Annahme der Menschenrechtspakte vom normativen Charakter des Selbstbestimmungsrechts der Völker ausgegangen25 • Von der überwiegenden Mehrheit der sowjetischen Völkerrechtler ist das Selbstbestimmungsrecht nicht nur als ein allgemeiner Grundsatz des Völkerrechts, sondern auch als völkerrechtliche Norm bezeichnet worden. Eine inhaltliche Abgrenzung hat dabei nicht stattgefunden. Man begnügte sich damit, die behauptete Normeigenschaft durch Hinweise auf die sowjetische Rechtsdefinition, die vor allem auf den Willen abstellt, zu unterbauen. Aus diesem Postulat leitete man das subjektive Recht jedes Volkes auf nationale Selbstbestimmung und gemäß der sowjetischen Begriffsbestimmung den Anspruch auf eigene Staatlichkeit ab. Diesem "Rechtsanspruch" wurde die Verpflichtung entgegengestellt, dem berechtigten Verlangen nach Selbstbestimmung nicht entgegenzuwirken, sondern es zu fördern. Diese Rechtspflicht ist im Hinblick auf die Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen besonders betont worden. In den neueren sowjetischen Veröffentlichungen wird das Selbstbestimmungsrecht der Völker überwiegend als ein allgemein anerkanntes völkerrechtliches Grundprinzip behandelt26 • Der normative Charakter des Selbstbestimmungsrechts wird zwar betont, doch wird auf die Frage, ob es sich bei ihm um ein ius-cogens-Prinzip handelt, meist nicht eingegangen. Anders sieht es bei Abhandlungen aus, die sich mit der ius-cogens-Problematik befassen27 • In ihnen werden alle völkerrecht25 Zu ihnen gehört Hector Gros Espiell. Vgl. H. G. Espiell: Der Begriff des Selbstbestimmungsrechts der Völker in heutiger Sicht, Vereinte Nationen, 1982, H. 2, S. 56 f. 26 Vgl. G. I. Tunkin: Teorija mezdunarodnogo prava, Moskau 1970, S. 70; Deutsch: Völkerrechtstheorie, Berlin 1972, S. 85; L. A. Modzorjan, N. F. Blatowa (Red.): Mezdunarodnoe pravo (Völkerrecht), Moskau 1970, S. 204 f.; N. M. Minasjan: Leninskoe ucenie o samoopredelenii nacij i mezdunarodnoe pravo (Die Leninsche Lehre vom Selbstbestimmungsrecht der Völker und das Völkerrecht), Sovetskij Ezegodnik mezdunarodnogo prava (Jahrbuch des Völkerrechts), abgekürzt SEMP 1970, Moskau 1972, S. 39 ff.; F. J . Kozevnikov (Red.): Kurs mezdunarodnogo prava (Lehrgang des Völkerrechts), Moskau 1972, S. 68; G. V. Ignatenko, D. D. Ostapenko (Red.): Mezdunarodnoe pravo (Völkerrecht), Moskau 1978, S. 97 f.; G. V. Starusenko: Mirovoj revoljucionnyj process i sovremennoe mezdunarodnoe pravo (Der weltrevolutionäre Prozeß und das moderne Völkerrecht), Moskau 1978, S. 82 ff.
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liehen Grundsätze, die in der Satzung der Vereinten Nationen, der UNDeklaration über die "freundschaftliche Beziehungen" von 1970 und der Prinzipienerklärung in der KSZE-Schlußakte von 1975 aufgeführt werden, als ius-cogens-Prinzipien angesehen. Eine gewisse Zurückhaltung in dieser Frage läßt Tunkin erkennen. Die Völkerrechtler der DDR gehen seit den Sechziger Jahren abweichend von der herrschenden Auffassung in der sowjetischen Völkerrechtslehre und im Widerspruch zu den eindeutigen Bestimmungen in den maßgebenden völkerrechtlichen Dokumenten beim Selbstbestimmungsrecht von der Priorität der sozialökonomischen Grundlage gegenüber der nationalen aus. Zwar wird auch in der Völkerrechtslehre der DDR seit einiger Zeit das Selbstbestimmungsrecht in erster Linie als völkerrechtliches Grundprinzip dargestellt28• Es werden jedoch gleichzeitig alle völkerrechtlichen Grundsätze und damit auch das Selbstbestimmungsrecht "als die von der internationalen Gemeinschaft als zwingendes Recht anerkannten allgemein verbindlichen Völkerrechtsnormen" bezeichnet29 • Auf die Frage in welchem Verhältnis die einzelnen völkerrechtlichen Grundsätze, die angeblich alle ius-cogensCharakter aufweisen, zueinander stehen, wird nicht weiter eingegangen. Das zweite Problem betrifft die Voraussetzungen für die Anwendung und Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts. Es ist mit der Frage nach dem Subjekt oder Träger des Selbstbestimmungsrechts unmittelbar verbunden. Die Aufnahme des Selbstbestimmungsrechts als ein "Recht" in die beiden UN-Menschenrechtskonventionen stellt zweifellos einen wichtigen Schritt vom völkerrechtlichen Grundsatz zur völkerrechtlichen Norm dar. Doch kann eigentlich nur dort, wo eine völlige Klarheit über das Subjekt des Selbstbestimmungsrechts besteht, von einem eindeutigen Rechtscharakter gesprochen werden. Nur in einem solchen Fall kann ein Rechtsanspruch geltend gemacht werden, da sich sonst der normative Gehalt des Selbstbestimmungsrechts infolge der Vieldeutigkeit des Volksbegriffs nicht erfassen läßt. Es sind drei Bezeichnungen, die in Verbindung mit der Frage nach dem Träger oder Subjekt des Selbstbestimmungsrechts der Völker 27 Vgl. L. A. Aleksidse: Problema ius cogens v sovremennom mezdunarodnom prave, SEMP 1969, Moskau 1970, S. 138 ff.; E. A. Pusmin: Ponjatie osnovnych principov meZdunarodnogo prava (Der Begriff der Grundprinzipien des Völkerrechts), SEMP 1978, Moskau 1980, S. 80 ff.; A. P. Movcan: Kodifikacija i progressivnoe razvitie mezdunarodnogo prava, Moskau 1972, deutsch: Kodifizierung und Weiterentwicklung des Völkerrechts, Berlin (Ost) 1974, s. 71 ff. 28 Vgl. J. Hacker: Das nationale Dilemma der DDR, in: B. Meissner, J . Hacker: Die Nation in östlicher Sicht, Berlin 1977, S. 43 ff. 29 H. Kroeger (Red.): Völkerrecht. Lehrbuch, Teil 1, 2. Auf!., Berlin (Ost)
1981,
s. 106 ff.
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gebraucht werden und eine verschiedene Bedeutung besitzen: Nation (nation, nacija), Nationalität (nationality, nationalite nacional'nost') und Volk (people, peuple, narod)ao. In jedem Fall handelt es sich um eine ethnische Größe, wobei von sowjetischer Seite die Völkerschaft (narodnost) als Vorstufe zur Nation angesehen wird. Nation ist mit Staatsvolk nicht ohne weiteres gleichzusetzen. Dem politisch-subjektiven Nationsbegriff im engeren westeuropäischen und amerikanischen Bereich, bei dem Staat und Nation zusammenfallen oder sehr eng miteinander verbunden sind, steht der kulturell-objektive Nationsbegriff gegenüber, der im mittel- und osteuropäischen Bereich überwiegt31 • Bei diesem zweiten Nationsbegriff, der durch den ideologischen Aspekt eine weitere Differenzierung erfahren hat, stellt die Nation, bei aller Staatsbezogenheit, eine eigenständige Größe dar. In beiden Fällen tritt uns das als Nation bezeichnete Volk als "Träger existentieller Geschichtlichkeit" (Stavenhagen) entgegen. Unter Nationalität wird im mittel- und osteuropäischen Bereich das Volk im "natürliChen" Sinn oder teilweise ein außerhalb der Staatsgrenzen des Kernvolkes geschlossen siedelnder Volksteil verstanden. Die Nationalität in dem letztgenannten Sinn als Volksteil kann durchaus ein selbständiges Staatsvolk oder ein Teil eines Staatsvolkes bilden und unterscheidet sich damit von einer Volksgruppe (Minderheit). Auch kleinere Völkerschaften werden als Nationalitäten bezeichnet. In der Sowjetunion wird die Nationalität auch als Oberbegriff für sämtliche ethnische Gemeinschaften verwandt. Die Nationalität als Gesamtvolk ist gemäß der Definition von Laun im Gegensatz zum Staatsvolk32 : "die aus Abstammungsgemeinschaft, Geschlechtsvermischung und Angleichung (Assimilation) entstandene und durch die Gleichheit der Sprache zu geistiger Einheit verschmolzene sittliche Gemeinschaft des persönlichen Bekenntnisses". Im Osten Europas pflegt man unter Nationalität auch Volkszugehörigkeit zu verstehen, im Westen dagegen Staatsangehörigkeit. Gerade in diesem unterschiedlichen Sprachgebrauch wird das Spannungsver30 Vgl. R. Laun: Allgemeine Staatslehre im Grundriß, 8. Auf!., 1961, S. 38 ff.; Tb. Veiter: Deutschland, deutsche Nation und deutsches Volk. Volkstheorie und Rechtsbegriffe, Beilage zur Wochenzeitung "Das Parlament", B 11/73, s. 11 ff. 31 Vgl. H. Rothfels: Die Nationsidee in westlicher und östlicher Sicht, in: Osteuropa und der deutsche Osten, Köln I Braunsfeld 1956, S. 7 ff.; ders.: Nationalität und Grenze im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, Vjh. für Zeitgeschichte, 9. Jg., 1961, S. 225 ff. a2 Laun (Anm. 30), a.a.O., S. 52.
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hältnis zwischen dem etatistischen und ethnischen Volksbegriff besonders deutlich. Der Begriff des Volkes kann aber noch in einem anderen Sinne gebraucht werden33 • Er kann einfach die Bevölkerung eines bestimmten Gebiets als Vorstufe eines Staatsvolkes oder in ideologischer Verengung die "Volksmassen" innerhalb eines Staatsvolkes bedeuten. Der sowjetische Nationsbegriff geht vor allem auf die Begriffsbestimmung der Nation in Stalins Schrift "Marxismus und nationale Frage" zurück. Die Nation (nacija) und nicht das Volk (narod) ist vom sowjetischen Standpunkt als der Hauptträger des Selbstbestimmungsrechts anzusehen. Nach der Definition Stalins34 ist die Nation "eine historisch entstandene, stabile Gemeinschaft der Sprache, des Territoriums, des Wirtschaftslebens und der sich in der Kulturgemeinschaft offenbarenden psychischen Eigenart". Nur wenn alle diese vier objektiven Merkmale vorliegen, ist für Stalin die Nation als Realität gegeben. Die Hinzuziehung eines fünften Merkmals, nämlich des Nationalstaates, ist von ihm ausdrücklich abgelehnt wordenss. Damit hat er den Unterschied zwischen Nation und Staatsvolk deutlich gemacht. Durch die Betonung des Territorialitätsprinzips hat er aber gleichzeitig die Nation gegenüber der Nationalität abgegrenzt. Indem Stalin die Nation ausschließlich als einen Territorialverband sieht und die mit dem Begriff der Nationalität verbundene Vorstellung eines Personalverbandes verwirft, fördert er die Hinwendung zu einem etatistischen Nationsbegriff, ohne den ethnisch-kulturellen Nationsbegriff ganz aufzugeben. Für Stalin ist die Nation das Ergebnis einer ganz bestimmten historischen Entwicklung, deren zeitliche Grenzen abzusehen sind. Daher war er überzeugt, daß die Nation beim Übergang vom Kapitalismus zum "Sozialismus" dahinschwinden würde. Erst 1929 revidierte er seine Konzeption, indem er neben den zum "Absterben" verurteilten "bürgerlichen Nationen" aufblühende "sozialistische Nationen" zu unterscheiden begann36 • Diese Wendung stand durchaus im Einklang mit der Auffassung Lenins, daß das Selbstbestimmungsrecht auch mit dem "Sozialismus" seine Bedeutung behalten würde. Ein neues MerkVgl. Veiter (Anm. 30), a.a.O., S. 8. J. Stalin: Marxismus und die nationale und koloniale Frage, Berlin 1950, s. 32. ss Vgl. Stalin (Anm. 34), a.a.O., S. 324. so Vgl. Stalin (Anm. 34), a.a.O., S. 325 ff. 33
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mal trat damit nicht hinzu. Der Hauptunterschied wurde in der besonderen Struktur der "Diktatur des Proletariats" gesehen und mit der Formel: "National der Form, sozialistisch dem Inhalt nach" umschrieben. Entscheidend war, daß Stalin davon ausging, daß sich dieser soziale Wandlungsprozell auf die ganze Nation bezog, soweit es sich nicht um einen Nationalitätenstaat, wie die Sowjetunion, handelte. Lenin hat in der Verwirklichung der Selbstbestimmung in zeitlicher Hinsicht der nationalen Selbstbestimmung vor einer sozialen im kommunistischen Sinn den Vorrang eingeräumt37 • Er hat außerdem in einer heftigen Auseinandersetzung mit Bucharin nach der Oktoberrevolution klargestellt, daß nur der Nation in ihrer Gesamtheit, auch wenn es sich noch um die bürgerliche Nation handelte, das Selbstbestimmungsrecht zukam38 • Es wäre falsch, an Stelle des "Selbstbestimmungsrechts der Nationen" das "Selbstbestimmungsrecht der Werktätigen" zu setzen. Von Stalin ist nach einigem Schwanken die gleiche Auffassung vertreten worden. Lenin hat die Frage des Trägers oder Subjekts des Selbstbestimmungsrechts von der jeweiligen Entscheidung über die Zweckmäßigkeit des Anspruchs auf Selbstbestimmung deutlich abgegrenzt. Nur die Nationen in ihrer Gesamtheit und nicht die "Werktätigen" waren von seinem Standpunkt als Subjekte des Selbstbestimmungsrechts anzusehen. Nur eine gesamtnationale Repräsentanz konnte diesen Willen zum Ausdruck bringen. Der Kommunistischen Partei blieb lediglich vorbehalten, über die Zweckmäßigkeit der Förderung oder Gewährung des Selbstbestimmungsrechts im einzelnen Fall zu entscheiden. Die Relativierung des Selbstbestimmungsrechts durch die weltrevolutionäre Zielsetzung wurde damit in einem wesentlichen Punkt eingeschränkt. Während Bucharin unter Berufung auf das angebliche Selbstbestimmungsrecht der Werktätigen die Spaltung von Nationen zu rechtfertigen versuchte, schloß Lenin mit seiner Auffassung eine solche Möglichkeit als Mittel der weltrevolutionären Expansion aus. Von sowjetischer Seite ist immer wieder betont worden, daß der Wille nur von der Bevölkerung selbst, nicht aber von einer kleinen privilegierten Gruppe oder einheimischen Hilfsorganen einer Besatzungsmacht zum Ausdruck gebracht werden könnte. Diese Grundeinstellung Lenins ist nach der 1923 erfolgten Selbstkritik Bucharins nie mehr in Frage gestellt worden. Seine Auffassung, 37 Vgl. die Äußerungen Lenins zum Begriff und Wesen des Selbstbestimmungsrecht, in: Meissner (Anm. 19), S. 154 ff. as Vgl. Meissner (Anm. 19), S. 48 f.
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daß nur die Gesamtnation als Subjekt des Selbstbestimmungsrechts anzusehen sei, ist daher auch weiterhin als ein integraler Bestandteil der marxistisch-leninistischen Ideologie in sowjetischer Auslegung anzusehen. In dem von Rumjanzew 1969 herausgegebenen Wörterbuch des wissenschaftlichen Kommunismus wird festgestellt, daß die Anwendung des Selbstbestimmungsrechts den Interessen der Werktätigen entsprechen muß, zugleich aber erklärt39 : .,Dies bedeutet nicht, daß das Selbstbestimmungsrecht der Nationen nur als Selbstbestimmungsrecht der Arbeiterklasse der Werktätigen aufzufassen ist, wie es die Antikommunisten verleumderisch behaupten ... Lenin hielt es selbst in den Fällen, wo der Wille der Nation durch die herrschenden Klassen ausgedrückt wurde, im Hinblick auf die spätere Annäherung der Völker für politisch vorteilhaft, das Recht auf Selbstbestimmung bis zur staatlichen Loslösung zu gewähren." Versuche zur Relativierung dieser Grundposition sind dennoch bei der Diskussion über den Nationsbegriff in der Sowjetunion von 1965 bis 197040 und in Verbindung mit der 1971 von Breshnew verkündeten These vom einheitlichen Sowjetvolk (Sovetskij narod) unternommen worden. Die Diskussion über den Nationsbegriff endete mit einer Bestätigung der Begriffsbestimmung Stalins von 191341 , während Breshnew sich im Hinblick auf die bereits erreichte Stufe des einheitlichen Sowjetvolkes auf dem XXVI. Parteikongreß der KPdSU 1976 wesentlich vorsichtiger äußerte42 • Die sowjetischen Lehrbücher des .,Historischen Materialismus" und der .,Theorie des wissenschaftlichen Kommunismus", ebenso wie die nationstheoretischen Veröffentlichungen gehen seit Beendigung der Diskussion über den Nationsbegriff von der Nationsdefinition Stalins aus, ohne allerdings in den meisten Fällen seinen Namen zu erwähnen43 • 39 A. M. Rumjancev: Naucnyj kommunism (Wissenschaftlicher Kommunismus). Slovar' (Wörterbuch), 3. Aufl., Moskau 1980, S. 249 f. 40 Vgl. B. Meissner: Der sowjetische Nationsbegriff und seine politische und rechtliche Bedeutung, in: B. Meissner, J . Hacker: Die Nation in östlicher Sicht, Berlin 1977, S. 15 ff. und das dort aufgeführte Schrifttum. 41 Vgl. den redaktionellen Schlußartikel .,K itogam diskussii po nekotorym problemam teorii nacii" (Zu den Ergebnissen der Diskussion über einige Probleme der Nationstheorie), Voprosy istorii (Fragen der Geschichte), 1970, Nr. 8, S. 86 ff. 42 Vgl. B. Meissner: Nationalitätenfrage und Sowjetideologie, in: G. Brunner, B. Meissner (Hrsg.): Nationalitätenprobleme in der Sowjetunion und Osteuropa, Köln 1982, S. 35 f. 43 Vgl. zum Beispiel die Begriffsbestimmungen bei N. M. Kaltachtschjan: Nation und Nationalität im Sozialismus, Berlin (Ost) 1976, S. 18; E. A. Bagramov: Die marxistisch-leninistische Theorie der nationalen· Beziehungen und
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Seitdem ist auch das Bestreben festzustellen, im Sinne einiger während der Diskussion gemachten Vorschläge eine Änderung der in der Definition enthaltenen Reihenfolge der einzelnen Merkmale unter besonderer Hervorhebung des ökonomischen Elements herbeizuführen. Ein entsprechender Vorschlag findet sich in der deutschen Ausgabe des von P. N. Fedossejew herausgegebenen Sammelbandes "Der Leninismus und die nationale Frage in der Gegenwart" 4 4, nicht aber in der ursprünglichen russischen Originalausgabe45 • Außerdem wird die Rolle der "sozialen Faktoren" im Verhältnis zu den "ethnischen Faktoren" besonders hervorgehoben46 • Es wird aber zugleich betont, daß die sozialistischen Nationen eine "einheitliche historische Entwicklungsreihe" mit den bürgerlich-kapitalistischen Nationen bilden würden47 • Mit dieser Betonung der Kontinuität in der Nationsentwicklung wird im Grunde der Rechtfertigung der Teilung einer Nation aus gesellschaftspolitischen Motiven und einer ausschließlich sozialökonomischen Begründung, wie sie sich in der Nationslehre der DDR findet und auch in der Völkerrechtslehre der DDR mit der Unterstützung einiger sowjetischer Völkerrechtler seit einiger Zeit vertreten wird 48 , der Boden entzogen. Anders sieht es im Hinblick auf den Träger oder das Subjekt des Selbstbestimmungsrechts im früheren oder jetzigen kolonialen Bereich aus, wo von sowjetischer Seite von einem erweiterten Volksbegriff ausgegangen wird, der faktisch mit der Bevölkerung eines bestimmten Territoriums zusammenfällt49 • In Verbindung mit der Theorie vom einheitlichen Sowjetvolk ist in der sowjetischen Nationstheorie die Auffassung vertreten worden, daß das Beispiel des Sowjetvolkes "die Gesetzmäßigkeiten und Wege des allmählichen Verwischens der nationalen Unterschiede" auch im internationalen Bereich sichtbar gemacht habe. In diesem Sinne sei das der gegenwärtige ideologische Kampf, in: Sozialismus und Nationen, Berlin (Ost) 1975, S. 53. 44 P. N. Fedossejew (Red.): Der Leninismus und die nationale Frage in der Gegenwart, Moskau 1974, S. 29. 45 P. N. Fedoseev (Fedossejew): Leninizm i nacional'nyj vopros v sovremmenych uslovijach (Der Leninismus und die nationale Frage unter den gegenwärtigen Bedingungen), Moskau 1972. Die deutsche Übersetzung, die interessanterweise "in Zusammenarbeit" zwischen dem Verlag Progrell (Moskau) und dem Dietz Verlag (Ost-Berlin) angefertigt wurde, stimmt im ersten Teil mit der russischen Originalausgabe überhaupt nicht überein, ohne daß darauf in der Einleitung hingewiesen worden wäre. 46 Vgl. Fedossejew (deutsche Ausgabe), a.a.O., S. 70 ff. 47 Vgl. M. I. Kulitschenko: Aktuelle Probleme der marxistisch-leninistischen Lehre von den Nationen und nationalen Beziehungen im Sozialismus, in: Sozialismus und Nationen (Anm. 43), S. 67. 4B Vgl. Kröger (Anm. 29), a.a.O., S. 152 f. 49 Vgl. Meissner (Anm. 40), a.a.O., S. 35.
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Sowjetvolk "eine der zwischennationalen Übergangsgemeinschaften der Menschen auf dem Wege von den nationalen Gemeinschaften der Menschen zur künftigen Weltgemeinschaft der gesamten Menschheit unter den Bedingungen des Sieges des Kommunismus in der ganzen Welt" 50 • In diesem Zusammenhang wird davon ausgegangen, daß sich "dieses Entwicklungsgesetz der Nationen im Sozialismus nicht nur im Rahmen eines einzelnen multinationalen Staates, sondern im gesamten sozialistischen Weltsystem auswirkt" 51 • Der "Internationalisierungsprozeß" geht somit nach dieser Auffassung nicht nur in der Sowjetunion, wo sich das Sowjetvolk auf dem Wege zur einheitlichen Sowjetnation befindet, sondern auch in der "sozialistischen Gemeinschaft", das heißt vor allem im engeren sowjetischen Hegemonialverband, dem auch die DDR angehört, vor sich52 • Auf der Grundlage des "proletarisch-sozialistischen Internationalismus" soll nicht nur der staatliche, sondern auch nationale Integrationsprozeß systematisch vorangetrieben werden. Die beschleunigte Annäherung zwischen den sozialistischen Staaten soll von einer gleichzeitigen Annäherung, d. h . der schrittweisen Assimilation der sozialistischen Nationen begleitet werden53 . Wesentlich ist, daß die Sowjetführung bei der ideologischen Begründung dieses von ihr angestrebten beschleunigten Integrations- und Assimilationsprozesses von einer bestimmten Auslegung des Prinzips des "proletarisch-sozialistischen Internationalismus", das von der Sowjetunion und der DDR als Grundlage eines "sozialistischen Völkerrechts" angesehen wird, ausgeht, die aufgrund der "Breshnew-Doktrin"54 weder mit der Selbsbestimmungskonzeption Lenins noch den Grundsätzen des allgemeinen Völkerrechts im Einklang steht55 •
50 Rumjancev (Anm. 39), S. 295; Wissenschaftlicher Kommunismus, Berlin (Ost) 1972, S. 470 ff. 51 F. V. Konstantinov: Osnovy marksistko-leninskoj filosofii, Moskau 1971, S. 332; deutsch: Grundlagen der marxistisch-leninistischen Philosophie, Frankfurt a. M. 1974, S. 382. 52 Vgl. E. Kalbe: Geschichte der sozialistischen Gemeinschaft, Berlin (Ost) 1981, s. 465 ff. 53 E. Schneider: Die "Annäherung der sozialistischen Nationen" im neuen Parteiprogramm der SED, Deutschland Archiv, 9. Jg., 1976, S. 398 ff.; ders.: Der Nationsbegriff in der DDR und seine deutschlandpolitische Bedeutung, Berichte des Bundesinstituts für ostwissenschaftliche und internationale Studien (Köln), 1981, Nr. 33, S. 16 ff. 54 Vgl. B. Meissner: Die "Breshnew-Doktrin". Das Prinzip des "proletarischsozialistischen Internationalismus" und die Theorien von den "verschiedenen Wegen zum Sozialismus", Köln 1969; Tb. Schweisfurth: Sozialistisches Völkerrecht? Darstellung - Analyse - Wertung der sowjetmarxistischen Theorie vom Völkerrecht "neuen Typs", Berlin u. a. 1979, S. 144 ff. 55 Vgl. Schweisfurth (Anm. 54), a.a.O., S. 464 ff.
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111. Die völkerrechtliche Stellung der Nation und das Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes Die geschilderte Entwicklung der sowjetischen Nationstheorie ist nicht nur für die Nationalitätenfrage in der Sowjetunion und im sowjetischen Hegemonialbereich, sondern auch für die Auseinandersetzung um die offene deutsche Frage von Bedeutung. Im deutschen Fall ist die Teilung wesentlich durch die Politik Stalins herbeigeführt worden56, ohne daß mit der Entstehung der beiden deutschen Teilstaaten die staatliche Kontinuität Deutschlands in Zweifel gezogen wurde. Die Begründung für die Vertiefung der Teilung unter Verneinung dieser Kontinuität ist erst unter den Nachfolgern Stalins nach der im Sommer 1955 aufgestellten Theorie von den zwei voneinander getrennten souveränen deutschen Staaten erfolgt. Chruschtschow ging auf ihrer Grundlage im Widerspruch zur Selbstbestimmungskonzeption Lenins von einer Unterordnung der nationalen Frage unter die soziale Frage aus und schloß daher die Anwendung des Selbstbestimmungsrechts auf den deutschen Fall aus57 • Ein weiterer Schritt, der in Verbindung mit dem Berlin-Ultimatum und dem Bau der Berliner Mauer erfolgte, war die These, daß die einheitliche deutsche Nation infolge der gegensätzlichen gesellschaftlichen Entwicklung in zwei unterschiedliche Völker zerfallen sei58 . Sie ist nur von wenigen sowjetischen Völkerrechtlern vertreten worden. In diesem Sinne erklärte Staruschenko59: 56 Vgl. B. Meissner: Die sowjetische Deutschlandpolitik 1945- 1949 und die Sowjetunion und Die deutsche Frage 1949 - 1955, in: D. Geyer (Hrsg.): Sowjetunion. Außenpolitik 1917- 1955 (Osteuropa-Handbuch), Köln I Wien 1972, s. 448 ff. 57 Vgl. die Äußerungen Chrutschschows aus Anlaß der Unterzeichnung des ersten bilateralen Bündnisvertrages zwischen der UdSSR und DDR vom 12. Juni 1964 (Pravda vom 12. 6. 1964) und in dem Interview mit einer japanischen Parlamentsdelegation vom 15. September 1964 (Pravda vom 20. 9.
1964).
&s Vgl. K. Iwanow: Über Selbstbestimmung und Banner Heuchelei, Pravda vom 22. Dezember 1961; deutsche Übersetzung, Beilage zum "Parlament" vom 18. April 1962, S. 197; dazu die Erwiderung von B. Dirnecker: Die deutsche Forderung nach Selbstbestimmung und das schlechte Gewissen Moskaus, ebenda, S. 189 ff. 59 G. Staruschenko: Wer verhindert eigentlich die Selbstbestimmung?, in: "Die Sowjetunion heute" vom 10. Dezember 1961, Nr. 35, S. 3/4. Die apologetischen Ausführungen Staruschenkos stehen im Widerspruch zu dem in einem früheren Aufsatz gebrauchten Satz: "Man kann nicht das Recht eines Volkes auf Selbstbestimmung anerkennen und ihm die Möglichkeit nehmen, Herr im eigenen Hause zu sein." G. B. Starusenko: Protiv izvrascenija principa samoopredelenija narodov i nacij (Gegen die Verdrehung des Prinzips der Selbstbestimmung der Völker und Nationen, Sovetskoe gosudarstvo i pravo (Sowjetstaat und Recht)), 1958, Nr. 1, S. 63.
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"Die einheitliche Nation teilte sich faktisch in zwei Völker, die sich unter den Bedingungen entgegengesetzter sozialer Systeme weiterentwickelten." Zur Begründung dieser Behauptung, die bereits aus Äußerungen Tunkins zum Selbstbestimmungsrecht zu entnehmen war, wurde teils auf den Zerfall Österreich-Ungarns als Folge des Ersten Weltkrieges teils auf die Trennung der Deutsch-Österreicher von dem deutschen Gesamtvolk im 19. Jhr. hingewiesen60 • Die dabei gebrachten Argumente waren in keiner Weise schlüssig, da es sich im deutschen Falle um die Folgen der Teilung eines Nationalstaates handelte, die in erster Linie aus machtpolitischen und nicht sozialen Gründen vollzogen worden war. In der DDR wurde auf der Grundlage der Zwei-Staaten-Theorie zunächst an der Einheit der deutschen Nation festgehalten. Im "Nationalen Dokument" von 196261 wurde von der "in zwei Staaten gespaltenen deutschen Nation" ausgegangen, zugleich aber behauptet, daß das Selbstbestimmungsrecht in der DDR verwirklicht worden sei. Im gleichen Sinne war das erste Parteiprogramm der SED von 196362 gehalten, das die Umgestaltung der gesamten deutschen Nation in eine "sozialistische Nation" als das angestrebte Ziel hervorhob. Die Völkerrechtler der DDR, die anfangs unter Zugrundelegung der Nationsdefinition Stalins die Einheit der deutschen Nation und das ihr zustehende Selbstbestimmungsrecht besonders betont hatten, waren bestrebt, die sowjetische These vorn Zerfall der deutschen Nation unter Hervorhebung des Vorranges der Selbstbestimmung auf einer sozialen Grundlage in einer modifizierten Form zu übernehrnen63 • So ging Arzinger in seiner 1964 verfaßten Habilitationsschrift zwar ebenfalls von zwei "Völkern" aus, die sich in Deutschland aufgrund der Teilung entwickelt hätten, erklärte aber zugleich, daß die deutsche Nation als Einheit fortbestehen würde64 • Er behauptete dabei, daß die eo Vgl. die Zuschrift des sowjetischen Völkerrechtlers und damaligen Leiters der Vertrags-Rechts-Abteilung des Außenministeriums der UdSSR G. I. Tunkin an die Izvestija vom 27. Mai 1959 und die deutsche Erwiderung im Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung vom 12. Juni 1959. Wortlaut: Internationales Recht und Diplomatie, 5. Jg., 1960,
s. 564 ff.
u Vgl. den Wortlaut mit der Analyse von A. Riklin in: A. Riklin, K. Westen: Selbstzeugnisse des SED-Regimes, Köln 1963, S. 11 ff. u Vgl. den Wortlaut mit der Analyse von A. Riklin, ebenda (Anm. 62),
s. 53 ff.
e3 Vgl. J. Hacker: Das Selbstbestimmungsrecht aus der Sicht der DDR, in: B. Meissner (Hrsg.): Das Selbstbestimmungsrecht in Osteuropa und China, Köln 1968, S. 168 ff.; ders.: Nation und Selbstbestimmungsrecht aus der Sicht der DDR, Internationales Recht und Diplomatie, Jg. 1972, S. 73 ff. u Vgl. R. Arzinger: Das Selbstbestimmungsrecht im allgemeinen Völkerrecht der Gegenwart, Berlin (Ost) 1966, S. 397. Vgl. dazu E. Kristof: Die Lehre
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beiden deutschen Völker, die er faktisch mit der Bevölkerung der beiden deutschen Teilstaaten gleichsetzte, allein als Subjekte des Selbstbestimmungsrechts in Frage kämen. Bei der Verteidigung seiner Schrift stieß Arzinger damals noch auf Kritik einiger seiner Kollegen, die ihm einerseits eine fehlende klare Abgrenzung des Nations- und Volksbegriffs vorwarfen, andererseits von dem Fortbestand des Selbstbestimmungsrechts des deutschen Gesamtvolks ausgingen65 • Eine gegenteilige Ansicht ging aus einer Äußerung des Gesandten Kegel, eines einflußreichen ZK-Mitarbeiters, anläßlich der Errichtung des "Staatssekretariats für gesamtdeutsche Fragen" im Januar 1966 hervor66 • Er erklärte, daß sich infolge der Teilung Deutschlands "zwei voneinander unabhängige deutsche Nationalstaaten" mit jeweils "einem deutschen Staatsvolk" auf einer "sehr unterschiedlichen Grundlage" herausgebildet hätten. Nur sie wären "Träger des Selbstbestimmungsrechts des Volkes". Diese Funktion könne nicht mehr "eine abstrakte einheitliche Nation ausüben, "die aus der staatlichen Wirklichkeit seit mehr als 16 Jahren verschwunden ist". Im Einklang mit der Forderung nach einer "Freien Stadt" Berlin war er bereit, auch der Bevölkerung West-Berlins ein eigenes Selbstbestimmungsrecht zuzugestehen. Trotz der Hervorhebung des angeblich abstrakten Charakters der deutschen Gesamtnation ist an ihrem Fortbestand in der zweiten Verfassung der DDR von 1968 und einigen weiteren offiziellen Dokumenten festgehalten worden. Die DDR wurde im Artikel 1 der Verfassung als ein "sozialistischer Staat deutscher Nation" bezeichnet. In der Präambel war gleichzeitig von der "Verantwortung" die Rede, "der ganzen deutschen Nation den Weg in eine Zukunft des Friedens und des Sozialismus zu weisen". Im Artikel 8 hieß es&7: "Die Herstellung und Pflege normaler Beziehungen und die Zusammenarbeit der beiden deutschen Staaten auf der Grundlage der Gleichberechtigung sind nationale Anliegen der Deutschen Demokratischen Republik. Die Deutsche Demokratische Republik und ihre Bürger erstreben darüber hinaus die Überwindung der vom Imperialismus der deutschen Nation aufgezwungenen Spaltung Deutschlands, die schrittvom Selbstbestimmungsrecht in der Völkerrechtsdoktrin der DDR, Frankfurt a. M. 1973; H. H. Mahnke: Träger des Selbstbestimmungsrechts in Deutschland- Sowjetzonale Ansichten, Recht in Ost und West, 11. Jg., 1967, S. 12 ff. 85 Vgl. J. Hacker (Anm. 63), a .a.O., S. 73 ff. 88 Vgl. G. Kegel: Der Betrug Banns mit dem Recht auf Selbstbestimmung, Neues Deutschland vom 16. 1. 1966. 87 Verfassung der Deutschen Demokratische·n Republik. Dokumente. Kommentar, Bd. 1, Berlin (Ost)1969, S. 308.
Boris Meissner weise Annäherung der beiden deutschen Staaten bis zu ihrer Vereinigung auf der Grundlage der Demokratie und des Sozialismus." Eine Wendung bewirkte die Bildung der sozialliberalen Koalition unter Bundeskanzler Brandt im Oktober 1961, die mit der Feststellung von "zwei Staaten in Deutschland" eine wesentliche Modifizierung der bisherigen Ost- und Deutschlandpolitik der Bundesrepublik herbeiführte. Der Versuch von Brandt, im ersten "Bericht zur Lage der Nation" am 14. Januar 1970, die besonderen Beziehungen zwischen den beiden deutschen Teilstaaten mit dem Fortbestand der deutschen Gesamtnation zu begründen, veranlaßte Ulbricht zur besseren Absicherung des Herrschafts- und Gesellschaftssystems der DDR, die These vom Zerfall der deutschen Nation zu übernehmen und zugleich die beiden deutschen Staaten als "Nationalstaaten" von unterschiedlicher Struktur zu charakterisieren68 • In einem Referat am 12. Dezember 1970 erklärte er69 : "Die bürgerliche deutsche Nation, die sich im Prozeß des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus entwickelt und die im Rahmen eines einheitlichen Staates von 1871 bis 1945 bestanden hatte, existiert nicht mehr. Die DDR ist der sozialistische deutsche Nationalstaat, in ihr vollzieht sich der Prozeß der Herausbildung einer sozialistischen Nation. Dafür sind bereits unwiderrufliche Tatsachen entstanden. Die BRD ist ein imperialistischer Staat der NATO und verkörpert den verbliebenen Teil der alten bürgerlichen deutschen Nation unter den Bedingungen des staatsmonopolistischen Herrschaftssystems." Honecker hat als Nachfolger Ulbricht auf dem VIII. Parteitag der SED im Juni 1971 dem Rechenschaftsbericht des Zentralkomitees die Zwei-Nationen-These zugrunde gelegt7°. Er hat gleichzeitig die gesamtnationale Perspektive, die unter Ulbricht verblieben war, im Verlauf der weiteren Entwicklung abgeschwächt. Eine wesentliche Rolle dürfte dabei die Reaktion auf die Auslegung des Grundlagenvertrages vom 21. Dezember 1972 im Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 31. Juli 1973 gespielt haben7t. Mit der Verfassungsänderung vom 7. Oktober 197472 ist jeder Hinweis auf die deutsche Nation weggefallen. Die DDR wird jetzt im Artikel 1 als "sozialistischer Staat der Arbeiter und Bauern" bezeichnet. Gemäß Vgl. J. Hacker (Anm. 28), a.a.O., S. 47 f. Deutschland-Archiv, 4. Jg., 1971, S. 309 f. 70 Deutschland-Archiv, 4. Jg., 1971, S. 771. Vgl. P. Ch. Ludz: Zum Begriff der "Nation" in der Sicht der SED. Wandlungen und politische Bedeutung, in: Deutschland-Archiv, 5. Jg., 1972, S. 17 ff. 7t Vgl. Hacker (Anm. 28), S. 52 ff. 72 VgL den Kommentar von Mampel zu der Verfassungsänderung in: S. Mampel: Die sozialistische Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik. Kommentar, Frankfurt a. M. 1982, S. 118 ff. 88 89
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der neuen Präambel "hat das Volk der Deutschen Demokratischen Republik" ... "sein Recht auf sozialökonomische, staatliche und nationale Selbstbestimmung verwirklicht und gestaltet die entwickelte sozialistische Gesellschaft". Gemäß dem Artikel 6 Absatz 2 ist die DDR "für immer und unwiderruflich mit der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken verbündet" und daher "untrennbar Bestandteil der sozialistischen Staatengemeinschaft", d. h . des sowjetischen Hegemonialverbandes. In dem Bündnisvertrag der DDR mit der Sowjetunion vom 7. Oktober 1975 und weiteren Verträgen mit Polen, der CSSR, Ungarn und Bulgarien hat sich die SED-Führung zu einer Politik verstärkter Annäherung nicht nur mit den Staaten, sondern auch den Nationen, die der "sozialistischen Gemeinschaft" beziehungsweise dem "sozialistischen Weltsystem" angehören, bekannt73 • Dies geschah nach der Unterzeichnung der KSZE-Schlußakte, die im Korb 3 von einer verstärkten Kommunikation zwischen Ost und West ausging. Die Abkehr vom Begriff der deutschen Nation in Verbindung mit der Verfassungsänderung von 1974 hat offenbar in der DDR Verwirrung ausgelöst. Sie veranlaßte Honecker auf der 13. ZK-Tagung der SED im Dezember 1974 die Nationsfrage dadurch zu modifizieren, indem er feststellte, daß die Staatsbürger der DDR "der Nationalität nach in der übergroßen Mehrheit Deutsche sind" 74 • Honecker machte sich damit die in der Sowjetunion übliche Unterscheidung zwischen Staatsangehörigkeit und Volkszugehörigkeit zu eigen. Er knüpfte zugleich an den Begriff Nationalität, wie er in der Diskussion um die föderative Umgestaltung Österreich-Ungarns eine Rolle gespielt hatte, an. Die Unterscheidung zwischen den Begriffen der Nation und der Nationalität ist in das zweite Parteiprogramm der SED von 197675 aufgenommen worden. In ihm kommt das Streben nach einer stärkeren nationalen Abgrenzung gegenüber der Bundesrepublik und die Bereitschaft zu einer verstärkten Integrations- und Assimilationspolitik gegenüber der Sowjetunion und ihren Gefolgsstaaten deutlich zum Ausdruck. Die "ständige Annäherung" wird dabei auf der Grundlage des "sozialistischen Internationalismus" als ein "gesetzmäßiger historischer Prozeß" bezeichnet. Andererseits wird im Parteiprogramm das 73 Vgl. Tb. Schweisfurth: Die neue vertragliche Bindung der DDR an die Sowjetunion, Europa-Archiv, 30. Jg., 1975, S. 757 f.; B. Meissner: Entwicklungsphasen des Ostpakt-Systems in Ost- und Mitteleuropa, in: Osteuropa. Berichte und Forschungen (Festschrift für Gotthold Rhode zum 65. Geburtstag), Stuttgart 1981, S. 494. 74 Deutschland-Archiv, 8. Jg., 1975, S. 93. 75 Wortlaut: Dokumente der Sozialistischen Einheitspartei Deutschland, Bd. XVI, Berlin (Ost), S. 30 ff.
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Interesse der SED betont "die Beziehungen zwischen der sozialistischen Deutschen Demokratischen Republik und der kapitalistischen Bundesrepublik Deutschland als Beziehungen· zwischen souveränen Staaten unterschiedlicher Gesellschaftsordnung auf der Grundlage der Prinzipien der friedlichen Koexistenz und der Normen des Völkerrechts entwickelt werden". Zu den Prinzipien der "friedlichen Koexistenz" gehört nach östlicher Auffassung auch das Selbstbestimmungsrecht der Völker, das nach der herrschenden Meinung in der Völkerrechtslehre der DDR als Grundprinzip ius cogens-Charakter besitzt und damit eine zwingende völkerrechtliche Norm darstellt76 • Auf die Konsequenzen, welche sich an der Gegenüberstellung der Begriffe Nation und Nationalität für die Frage des Selbstbestimmungsrechts ergaben, sind die Völkerrechtler der DDR bisher nicht eingegangen. Dem Nations-Experten der DDR Kosing und dem Historiker Walter Schmidt fiel die Aufgabe zu, die Begriffe "Nation" und "Nationalität" theoretisch genauer zu begründen und sie voneinander abzugrenzen. Das geschah in einem gemeinsamen programmatischen Artikel über "Nation und Nationalität in der DDR" im "Neuen Deutschland" vom 15./16. 2. 1975 und in der 1976 erschienenen Monographie von Kosing "Nation in Geschichte und Gegenwart", die durch einen Sammelband "Dialektik des Sozialismus", der unter seiner verantwortlichen Leitung 1981 erschien, ergänzt wurde. Während gemäß Kosing und Schmidt die "sozialistische Nation" sich erst entwickelte, hat sie sich nach einer Äußerung Honeckers auf dem X. Parteitag der SED im April 1981 bereits konstituiert. Nach Kosing77 ist die Nation "eine dialektische Einheit von ökonomischen, sozialen, politischen, ideologischen und ethnischen Faktoren, in welcher den ersteren die bestimmende Rolle zukommt, weil sie den historischen Typ der Nation (kapitalistische oder sozialistische Nation), den sozialen Inhalt und den Klassencharakter der nationalen Beziehungen wie der Nation insgesamt festlegen" . Die Nationen würden sich konkret voneinander "weder durch einen besonderen Nationalcharakter oder nationalen Willen" , sondern durch "zwei Gruppen von gesellschaftlichen Erscheinungen" unterscheiden. Die erste Gruppe bilden die mit der jeweiligen "ökonomischen Gesellschaftsfunktionen" verbundenen "historisch gewordenen Aspekte" der gesellschaftlichen Entwicklung. Zur zweiten Gruppe gehören die "spezifischen Nationalitätsunterschiede", die nicht an eine bestimmte Gesellschaftsformation gebunden sind und "jeder 76 77
Vgl. Kröger (Anm. 29), a.a.O., S. 121 ff., 151 ff. Vgl. A. Kosing: Nation in Geschichte und Gegenwart, Berlin (Ost) 1976,
s. 163 ff.
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Nation das charakteristische nationale Kolorit verleihen". Der jeweilige Nationstyp sei durch die "soziale Seite" der Nation bestimmt, der gegenüber der "ethnischen Seite" der unbedingte Vorrang zukommt. Die Schwäche der Arbeiten Kosings ist darin zu sehen, daß er wesentliche Strukturelemente der Nation nicht akzeptiert oder aufführt, die Rolle der sozialökonomischen Faktoren übertreibt und die Nationalität auf einige ethnische Merkmale reduziert. Die Begriffsbestimmung Kosings von einer Nationalität ist viel zu eng, während seine Argumente zur Begründung des besonderen Charakters einer "sozialistischen Nation" in der DDR und damit der ZweiNationen-These keineswegs schlüssig sind78 • Kosing stützte sich in seinen Ausführungen auf die mit Rücksicht auf die DDR veränderte deutsche Ausgabe des Sammelbandes von Fedossejew. Er übte Kritik an der Nationsdefinition Stalins, da die Zwei-Nationen-These der Begriffsbestimmung Stalins eindeutig widersprach. Von den von ihm genannten vier objektiven Merkmalen bestanden die Sprachgemeinschaft, der Territorialverband, die Kulturgemeinschaft weiter fort, während durch den innerdeutschen Handel eine besondere wirtschaftliche Beziehung zwischen den beiden Teilen der deutschen Nation weiter gegeben war. Bei diesem Stand der Behandlung des Nationsbegriffs in der DDR stellen sich zwei Fragen. Die erste Frage betrifft das besondere Wesen der Nation und ihre Unterscheidung von der Nationalität. Die zweite Frage bezieht sich auf das Verhältnis von Nation und Nationalität zum Selbstbestimmungsrecht. Zur Beantwortung der ersten Frage ist es am besten von der früher bereits zitierten Begriffsbestimmung Launs von der Nationalität als Volk im natürlichen Sinn auszugehen. Sie läßt erkennen, das der Nationalitätsbegriff nicht auf das Ethnische allein begrenzt sein kann und daß er durch Einbeziehung des subjektiven Elements sehr viel weiter zu fassen ist, wie dieses Kosing tut. Sie ermöglicht es zugleich festzustellen, welche Elemente, die für eine Nation konstitutiv sind, fehlen79 • Leibholz hat darauf hingewiesen, daß sich ein Volk zu einer Nation "durch einen Akt des Selbstbewußtseins und des Willens" erweitert80 • Auch Carlo Schmidt hat neben dem Nationalbewußtsein den politischen 78 Vgl. F. Kopp: Der Nationsbegriff in der DDR und in der Bundesrepublik Deutschland, in: Beiträge zur Konfliktforschung, 7. Jg., 1977, Nr. 4, S. 104 ff.; Hacker (Anm. 28), a.a.O., S. 57 ff. 79 Vgl. dazu auch R. Laun: Nationalgefühl und Nationalismus, in: Ostdeutsche Wissenschaft, Jb. d. Ostdeutschen Kulturrates, Bd. I, 1954, S. 94 ff. 80 G. Leibholz, in: Schicksalsfragen der Gegenwart, Bd. I, Tübingen 1957, S. 68 f. Vgl. hierzu auch H. Heller: Staatslehre, Leiden 1934, S. 161.
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Willen als entscheidendes Merkmal des Nationsbegriffs besonders hervorgehoben81. Dies hat auch Willy Brandt in seinem Bericht "Zur Lage der Nation" am 14. Januar 1970 getan82 • Die Betonung lag bei ihm dabei mehr auf dem subjektiven Zusammengehörigkeitsgefühl. Seine Begriffsbestimmung der Nation beinhaltete trotzdem mehr als nur den Rückgriff auf die Vorstellung von einer "Kulturnation". Im gleichen Sinne erklärte Scheuner83 , daß die Frage der nationalen Einheit in Zukunft vor allem das fortdauernde subjektive Bewußtsein der engeren Gemeinsamkeit sein werde. Eine wichtige Rolle bei der Erhaltung dieses Bewußtseins kommt zweifellos der gemeinsamen Geschichte und den damit verbundenen Traditionen zu84 • Conze85 betont in diesem Zusammenhang, daß ein nationales Zusammengehörigkeitsgefühl und Selbstbewußtsein sich nur dort bilden und erhalten kann, wo bestimmte objektive Bedingungen gegeben sind, die Möglichkeiten für seine Entfaltung bieten86 • Der politische Wille, der diese objektiven Bedingungen nutzt, ist erstens auf den menschlichen Zusammenhalt und damit auf die Erhaltung und Festigung der bestehenden nationalen Einheit gerichtet. Ein Erfolg bei diesen Bemühungen setzt ein hohes Maß von Kommunikation zwischen den einzelnen Teilen einer Nation voraus. Dies gilt in besonderem Maße für eine geteilte Nation, wie die deutsche. Insofern weist die Nation den von Karl Deutsch besonders hervorgehobenen Charakter einer Kommunikationseinheit oder Kommunikationsgemeinschaft auf87 • In den "Materialien zum Begriff der Lage der Nation 1974" werden Nationen im Sinne einer funktionalen Betrachtungsweise "als ebenso historisch-politisch wie sozioökonomisch geformte und gestaltete Ein81 C. Schmid, in: Die deutsche Nation - Aussagen von Bismarck bis Honecker, herausgegeben von C.-Chr. Schweitzer, Köln 1976, S. 465. sz W. Brandt, in: Die deutsche Nation (Anm. 81), a.a.O., S. 453. sa Vgl. U. Scheuner: Der Gedanke der nationalen Einheit im Verhältnis der beiden deutschen Staaten, Politik und Kultur, 1980, Nr. 1, S. 18. Skeptisch im Hinblick auf die Erhaltung des gemeinsamen nationalen Bewußtseins äußert sich Schweigler. Vgl. G. Schweigler: Nationalbewußtsein in der BRD und DDR, Düsseldorf 1973; ders.: Zum Nationalbewußtsein in der DDR, Politik und Kultur, 1977, Nr. 1, S. 61 ff. 84 Vgl. J. Hacker, H. Rögner-Franck (Hrsg.): Die DDR und die Tradition (Jahrbuch der Gesellschaft für Deutschlandforschung 1981), Heidelberg 1981. ss Vgl. W. Conze: Deutsches Selbstbewußtsein heute, Politik und Kultur, 1981, Nr. 1, S. 12 f. 8& Übereinstimmend W. Kocka: Nation und Gesellschaft, Politik und Kultur, 1981, Nr. 1, S. 12 f. 87 Vgl. K. W. Deutsch: Nationenbildung-Nationalstaat - Integration, Düsseldorf 1972. Weidenfeld spricht sich für die kommunikationstheoretische Betrachtung der Nation wegen ihrer empirischen Überprüfbarkeit aus. Vgl. W. Weidenfeld: Die Frage nach der Einheit der deutschen Nation, München I Wien 1981, S. 39 f.
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heiten" wie "besonders verdichtete Kommunikations- und Handlungsstrukturen" begriffen, "in denen die Menschen aufeinander bezogen und zu einer Einheit werden" 88• Es wird hinzugefügt: "Die Angehörigen einer Nation verbindet sowohl das handlungsorientierte Bewußtsein von der nationalen Identität als auch der Wille, eine solche Einheit zu gestalten und aufrechtzuerhalten." Mit diesen Formulierungen wird die richtige Einsicht zum Ausdruck gebracht, daß eine Nation nicht nur eine Bewußtseins- und Willens-, sondern auch eine Wirkungseinheit ist. Zweitens ist der politische Wille auf die organisatorische Sicherung der Entwicklungsmöglichkeiten der Nation nach außen und innen gerichtet. Diese Sicherung gewährte vor allem der Nationalstaat. Wo eine solche organisatorische Verfestigung nicht gegeben ist, wird der Wille vor allem die Herstellung der staatlichen Einheit anstreben. Die Nation ist immer staatsbezogen89• Sie unterscheidet sich aber aufgrund ihrer Bindung an ihre ethnischen Grundlagen und eines in subjektiver Hinsicht unterschiedlichen Bewußtseins vom Staatsvolk. Im Sinne einer ganzheitlichen Betrachtung ist die Nation mehr als die Summe der Staatsangehörigen. Nur bei einem sehr hohen Integrationsgrad in einem ethnisch sehr einheitlichen Nationalstaat ist die Nation mit einer Staatsnation gleichzusetzen90• Kimminich hat unter Bezugnahme auf Bluntschli und Robert von Mohl darauf hingewiesen, daß die Nation staatengründende Wirkungen zeitigen kann, ebenso wie der Staat auch nationenbildend wirken kann91 • Im Falle der deutschen Nation läßt sich beides feststellen. Die Nation, die zur Grundlage der Nationalstaatsgründung wurde, hatte sich schon um 1848 als eine eigenständige Größe, die mehr war als nur eine Nationalität, herausgebildet; sie ist aber im vollen Maße als Einheit erst durch den Nationalstaat seit 1871 geprägt worden92 • Schieder schreibt: "Wenn wir heute von der Nation sprechen, so meinen wir die Nation, die den Nationalstaat durchlaufen und ihn zur historischen Vorausset88 Materialien zum Bericht zur Lage der Nation 1974, herausgegeben vom Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen, S. 70. Wuthe findet es richtig, daß in den Materialien die sozio-ökonomischen Faktoren eine stärkere Berücksichtigung gefunden haben. Vgl. G. Wuthe: Zum Problem sozio-ökonomischer Bedingtheit der Nation, in: Beilage zur Wochenzeitung "Das Parlament", B 20- 21/83, S. 31 ff. 89 Vgl. Veiter (Anm. 30), a.a.O., S. 19 ff. 90 Vgl. H. 0. Zieger: Die moderne Nation, Tübingen 1931, S. 27; 0. Kimminich: Nation und staatliche Einheit, Politische Studien, 1979, Nr. 1, S. 116. 91 Vgl. Kimminich (Anm. 90), a.a.O., S. 108. 92 Vgl. Conze (Anm. 85), a.a.O., S. 6. Vgl. auch Th. Schieder: Der Nationalstaat in Europa als historisches Phänomen, Köln I Opladen 1964; U. Scheuner: Nationalstaatsprinzip und Staatenordnung seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts, in: Schieder (Anm. 11), a .a.O., S. 9 ff.
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zung hat. Vielleicht kann man diese Erscheinung als nachnationalstaatliche Nation bezeichnen93." Die Nation ist, soweit sie sich mit der Nationalität nicht völlig deckt, wie im deutschen Fall, als das Kernvolk anzusehen, das von seinem Namen und seiner Größe her, die Nationalität, d. h. das Gesamtvolk als Ganzes in einer bestimmten Hinsicht repräsentiert. Die Nation als eine politische Willens- und Wirkungseinheit, die sich in einer sie ganz umfassenden Staatlichkeit zu verwirklichen sucht, kann in einer Übergangszeit auch in mehreren Staaten bestehen. Die organisatorische Verfestigung zum Schutz der nationalen Substanz nach innen und Wirkungsmöglichkeiten nach außen kann notfalls auch im Rahmen einer Teilstaatlichkeit erfolgen. Es kommt nur darauf an, daß ein Teilstaat dazu bereit ist und stark genug ist, um die Interessen der Gesamtnation wahrzunehmen. Gegen eine Unterscheidung zwischen der Nation, wenn man ihre faktische Einheit nicht in Frage stellt, und der Nationalität, wenn man darunter das Gesamtvolk versteht, ist an sich nichts einzuwenden. Auch die Feststellung, daß sich eine Nation aus mehreren Nationalitäten bilden kann, ist vertretbar, wenn damit, wie im Falle der Schweiz, die freiwillige Integration von Teilen verschiedener Nationalitäten, darunter auch der Deutsch-Schweizer zu einer Staatsnation gemeint ist94 • Fragwürdiger ist die Annahme, daß aus einer Nationalität verschiedene Nationen hervorgehen können und erst recht die Behauptung, daß gegensätzliche Gesellschaftssysteme zwangsläufig unterschiedliche Nationstypen und damit Nationalstaaten der einzelnen Nationsteile ergeben würden. In dem einen Fall wird die Nation mit einem Staatsvolk gleichgesetzt. So gibt es zwar das Österreichische Staatsvolk, das deutscher Nationalität ist, doch haben die Bestrebungen in der Nachkriegszeit aus ihm eine besondere Österreichische Nation zu bilden, keinen Erfolg gehabt95 • Auch in der DDR liegt nur ein Staatsvolk vor, das aber im Unterschied zu Österreich nicht nur als Teil einer deutschen Na13 Vgl. Th. Schieder: Honeckers Spiel mit der Geschichte, Deutsche Zeitung vom 4. 10. 1974. In gleichem Sinne war auch die Äußerung von Bundeskanzler Kohl im "Bericht zur Lage der Nation" am 23. 6. 1983 gehalten. Dr. Kohl sagte: "Es gibt zwei Staaten in Deutschland. Aber es gibt nur eine deutsche Nation ... Die deutsche Nation war vor dem Nationalstaat da, und sie hat ihn auch überdauert; das ist für unsere Zukunft wichtig." 94 Vgl. J. R. von Salis: Nation: legitim oder illegitim?, Politik und Kultur, 1974, Nr. 2, S. 12. Als weitere Beispiele nennt von Salis Belgien und Kanada. 95 Vgl. H. Krejci: Dieser Dualismus des Gefühls ... wie deutsch ist Österreich, in: G.-K. Kaltenbrunner: Was ist deutsch? Die Unvermeidlichkeit eine Nation zu sein, Freiburg 1980, S. 108 ff.; Veiter (Anm. 88), a.a.O., S. 24; E. Scheuch: Was ist deutsch heute?, Politik und Kultur 1977, Nr. 1, S. 31 f., 35.
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tionalität, sondern auch der weiter fortbestehenden deutschen Nation anzusehen ist. Wenn man der Auffassung der SED-Führung folgte, dann würde die Argumentation ihrer Nationstheoretiker logischer Weise darauf hinauslaufen, daß es zur Zeit drei Staaten "deutscher Nationalität" unter Einschluß Österreichs gibt, die den Charakter von drei eigenständigen Nationen und nicht nur Staatsvölkern aufweisen. Andererseits haben ihre Argumente für die These vom Zerfall der deutschen Nation infolge der unterschiedlichen sozialökonomischen Grundlagen der Bundesrepublik und der DDR in keiner Weise überzeugen können. Weiterhin verbindet die Deutschen in der Bundesrepublik und der DDR mehr als selbst die Deutschen und die Deutschösterreicher96. Trotzdem ist die Frage nach dem Träger oder Subjekt des Selbstbestimmungsrechts, das zunächst nur auf die Nation bezogen war, durch den Rückgriff der DDR auf die Nationalität um einen neuen Aspekt erweitert worden. Im Hinblick auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker läßt sich diese Frage, die im deutschen Falle eine bestimmte Brisanz aufweist, am besten lösen, wenn zwischen dem Träger und dem Subjekt des Selbstbestimmungsrechts unterschieden wird. Im Artikel 1 der UN-Menschenrechtskonventionen ist klargestellt worden, daß sich das Selbstbestimmungsrecht nur auf Völker im ethnischen und politischen Sinn und nicht auf die Staatsvölker, die im westlichen Sprachgebrauch mit Nationen begrifflich gleichgesetzt werden, bezieht07 • Demnach wäre die deutsche Nationalität, d. h. das deutsche Volk im natürlichen Sinn, dem auch die Österreicher angehören, als Träger, die deutsche Nation dagegen als ein Subjekt des Selbstbestimmungsrechts anzusehen, dem eine bestimmte Rechtsfähigkeit zusteht. Mancini, der im 19. Jahrhundert mit seinen Gedankengängen in so starkem Maße zur Wiederherstellung der nationalen Einheit Italiens beigetragen hat, machte keinen Unterschied zwischen den Begriffen Nation und Nationalität. Er definierte sie als "eine natürliche Gemeinschaft von Menschen mit der Einheit des Territoriums, der Abstammung, der Sitten und der Sprache, vereint zu gemeinsamen Leben und sozialen Bewußtsein" 98• Die Gesamtheit dieser Elemente begründete nach seiner Auffassung die Individualität des einzelnen Volkes und brachte eine Rechtsgemeinschaft hervor. Ebenso Kocka (Anm. 86), a.a.O., S. 24. Veiter (Anm. 30), a.a.O., S. 23. es Zitiert nach A. Pieratoni: Geschichte der italienischen Völkerrechtsliteratur, Wien 1872, S. 108. ae
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In der Koexistenz der einzelnen Nationen sah Mancini die wahre erste Grundlage aller anderen Rechte im internationalen Bereich. Demzufolge ist für Mancini "nicht der Staat, sondern vielmehr die Nation die elementare Einheit im Völkerrecht". Sie bildet die "erste Zelle", von der die Völkerrechtswissenschaft auszugehen habe 99 • Aus der Völkerrechtssubjektivität der Nation leitete Mancini "das Recht der Reintegrierung für die in ihren Rechten gekränkten Nationen", d. h. den Anspruch auf den eigenen Nationalstaat, die freie Entwicklung des nationalen Lebens und den Schutz vor Eroberungskriegen und anderen Eingriffen von außen ab. In der westlichen Völkerrechtslehre hat sich die Auffassung Mancinis nicht durchgesetzt. In der Völkerrechtswissenschaft werden in der Regel nur Staaten als Subjekte des Völkerrechts angesehen100 • Auf der anderen Seite ist nicht zu übersehen, daß mit der Verankerung des Selbstbestimmungsrechts der Völker im modernen Völkerrecht, dem Inhaber dieses Rechts, wenn er genau festzustellen ist, eine bestimmte rechtliche Subjekteigenschaft zukommt. Darüber hinaus weist die Völkerrechtspraxis eine Reihe von Beispielen auf, wo einzelnen um ihre Unabhängigkeit kämpfenden Nationen, auch wenn es sich dabei zunächst nur um einen kleinen aktiven Teil handelte, die Völkerrechtssubjektivität durch fremde Staaten zuerkannt worden ist101 • Den Präzedenzfall stellte die Anerkennung der "tschechoslowakischen Nation" als kriegsführende Partei während des Ersten Weltkrieges und als ein neuartiges völkerrechtliches Rechtssubjekt durch die Westmächte zu einer Zeit dar, als die österreich-ungarische Monarchie nach Völkerrecht noch unzweifelhaft bestand und die überwiegende Mehrheit der Tschechen und Slowaken der bestehenden Staatsgewalt gehorchten. Die tschechoslowakische Nation ist von den Alliierten und Assoziierten Mächten somit als ein selbständiges Rechtssubjekt vor der Entstehung des tschechoslowakischen Staates anerkannt worden. Laun stellt in seinem Werk "Der Wandel der Ideen Staat und Volk" dazu fest1° 2 : "Bei der Anerkennung der tschechoslowakischen Nationalität haben sich ganz neue Rechtsgedanken Bahn gebrochen: erstens die Anerken99 Vgl. Pierantoni (Anm. 94), a.a.O., S. 110 f.; M. St. Korowicz: Introduction to International Law, The Hague 1964, S. 283. 100 Vgl. G. Dahm: Völkerrecht, Bd. I, Stuttgart 1958, S. 74; F. Berber: Völkerrecht, Bd. I, München I Berlin 1960; E. Menzel, K. Ipsen: Völkerrecht, 2. Aufl., München 1979, S. 101; I. Seidl-Hohenfeldern, 4. Aufl., Köln u. a. 1980, s. 136 f. 101 Vgl. Dahm, a.a.O., S. 182 ff.; Berber, a.a.O., S. 236 ff.; Menzel I lpsen, a.a.O., S. 130 f .; Seidl-Hohenveldern, a.a.O., S. 161 ff. 102 Laun (Anm. 19), a.a.O., S. 213 f.
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nung eines völkerrechtlichen Rechtsanspruches eines Volkes im soziologischen Sinn gegen den Staat, dem es nach Völkerrecht aufgrund der Regeln über die Gebietshoheit und die Staatsangehörigkeit zugehört, auf Unabhängigkeit und Bildung eines eigenen Staates, und zweitens die Anerkennung beschränkter völkerrechtlicher Rechtsfähigkeit des Volkes im soziologischen Sinn, um diesen Anspruch geltend zu machen." Als Interessenvertreter der tschechoslowakischen Nation trat der tschechoslowakische Nationalrat in Erscheinung, der nach einiger Zeit als provisorische tschechoslowakische Regierung anerkannt wurde. Die gleiche Funktion wurde im Hinblick auf die geteilte polnische Nation vom polnischen Nationalkomitee ausgeübt. Dieser Vorgang hat sich im Hinblick auf die Tschechoslowakei im Zweiten Weltkrieg, wenn auch in einer abgewandelten Form wiederholt. Nach Dahm103 handelte es sich in diesen Fällen bei den Nationen um Völkerrechtssubjekte eigener Art mit beschränkter Rechtsfähigkeit und zwar nur im Verhältnis zu den Staaten, von denen sie jeweils anerkannt worden sind. Die Anerkennung hat in Fällen dieser Art wie die der Kriegführenden konstitutive Bedeutung. Im Zuge des Entkolonisierungsprozesses nach dem Zweiten Weltkriege hat sich ein solcher Fall mehrfach wiederholt. Ein besonders charakteristisches Beispiel ist Algerien. Aus neuester Zeit ist die teilweise Anerkennung der PLO als Interessenvertretung des palästinensischen Volkes zu nennen. Bei der Erörterung des Palästinaproblems nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Jewish Agency und das Arabische Komitee für Palästina als Vertretung des jüdischen und arabischen Volkes in Palästina behandelt und zur Erörterung der Vereinten Nationen herangezogen10•. In der sowjetischen Völkerrechtslehre wird die These, daß nicht nur Staaten, sondern auch Nationen unter bestimmten Voraussetzungen Völkerrechtssubjekte sind, überwiegend bejaht1°5 • Diese Auffassung wird dadurch erleichtert, daß der Staat aufgrund der früher behandelten sowjetischen Nationslehre nicht als ein notwendiges Merkmal der Nation angesehen wird. Vgl. Dahm (Anm. 100), a .a .O., S. 392. Vgl. H. Klinghoffer: Palästina-Mandat, in: K. Strupp I H.-J. Schlochauer: Wörterbuch des Völkerrechts. Band 2, Berlin 1961, S. 723 f.; M. C. Bassiouni: "Self-Determination" and the Palestinians, Proceedings of the American Society of International Law, 65th annual Meeting, 1971, S. 31 ff. 1 os Vgl. B. Meissner: Der Souveränitätsgedanke in der sowjetischen Völkerrechtslehre, in: E. Kroker I Th. Veiter (Hrsg.): Rechtspositivismus, Menschenrechte und Souveränitätslehre in verschiedenen Rechtskreisen, Wien I Stuttgart 1976, S. 123 ff.; H. K. Mahnke: Die Nation als Völkerrechtssubjekt Sowjetische Auffassungen, Jb. für Ostrecht, Bd. VIII/I, 1967, S. 7 ff. 1o3
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Primäre Subjekte des Völkerrechts sind vom Standpunkt des modernen Völkerrechts in jedem Fall die Staaten. Bei Wahrnehmung des ihnen zustehenden Selbstbestimmungsrechts treten aber auch Nationen als sekundäre Subjekte des Völkerrechts in Erscheinung. In Ausnahmefällen können sie, wie wir sahen, in ihrer Rechtsstellung den Staaten weitgehend gleichgestellt werden. Die in der sowjetischen Staats- und Völkerrechtslehre getroffene Unterscheidung zwischen staatlicher und nationaler Souveränität erweist sich in diesem Zusammenhang als nützlich108. Über staatliche Souveränität verfügen in vollem Umfange nur unabhängige Staaten. Nationale Souveränität steht aber auch allen Nationen unabhängig von dem Grad oder Fehlen von Staatlichkeit zu. Mit der nationalen Souveränität ist das Selbstbestimmungsrecht und damit der Anspruch auf eine eigene Staatlichkeit unmittelbar verknüpft. Anerkennung einer solchen nationalen Souveränität bedeutet aber zugleich die völkerrechtliche Gewährleistung der Existenz und der Entwicklungsmöglichkeiten der jeweiligen Nation als ein eigenständiges Volk. Der Begriff der "nationalen Souveränität" ist daher auch für die Beurteilung der Rechtslage Deutschlands von besonderer Bedeutung. Dies gilt vor allem, wenn zwischen der Nation als (Gesamt-)Staatsvolk im Sinne des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 31. Juli 1973107 und der Nation im Sinne des eigenständigen Kernvolkes einer Nationalität, d. h. eines Volkes im natürlichen Sinn, unterschieden wird108 • Die verbliebene staatliche Souveränität des im völkerrechtlichen Sinne fortbestehenden deutschen Gesamtstaates erstreckt sich - unabhängig von der Frage des Staatsvolkes- vor allem auf das Territorium, bei dem die endgültige Festlegung der Grenzen einer gesamtdeutschen Friedensregelung vorbehalten ist. Die "nationale Souveränität" umfaßt dagegen neben der Berechtigung von Maßnahmen zur Erhaltung der nationalen Identität und Einheit auch den Anspruch auf Wiederherstellung der staatlichen Einheit in einem freiheitlichen Sinn109 . SoVgl. Meissner (Anm. 105), a.a.O., S. 118 ff. Wortlaut in: E. Cieslar I J. Hampel I F.-Chr. Zeitler (Hrsg.): Der Streit um den Grundvertrag, München I Wien 1973, S. 283 ff. 108 Auch Helmut Rumpf trifft diese Unterscheidung, die er allerdings als eine Alternative auffaßt. Außerdem geht er bei der Nation nur vom "Volk im ethnischen Sinne" aus, was mehr dem Begriff der Nationalität entspricht. Vgl. H. Rumpf: Die Frage nach der deutschen Nation, Ztschr. für Politik, 1971, s. 158 f. 109 Auf die Bindung der Nation an die Werte Menschenwürde, Freiheit, Demokratie und Recht hat Bundespräsident Prof. Dr. Carstens in seiner Rede zum dreißigjährigen Gedenktag an den 17. Juni 1953 hingewiesen. Nach Ruffmann ist im Nationsbegriff "die Garantie der individuellen und sozialen Freiheitsrechte mündiger, in diesem Ziel übereinstimmender Bürger, 10'
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lange die deutsche Nation eine Realität darstellt und mit friedlichen Mitteln diese Ziele unter Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht zu verwirklichen trachtet, ist sie im Sinne der Begriffsbestimmung von Dahm, für die Staaten, die diese Zielsetzung als legitim ansehen, die aber der These vom fortbestehenden deutschen Gesamtstaat nicht folgen oder in Zukunft nicht folgen sollten als ein "Völkerrechtssubjekt eigener Art" anzusehen. Das gilt auch für die Sowjetunion, die bei der Aufnahme der diplomatischen Beziehungen mit der Bundesrepublik Deutschland im September 1955 die Wiederherstellung der Einheit des deutschen demokratischen Staates als ein legitimes Ziel deutscher Außenpolitik anerkannt hat110 • So lange es eine deutsche Nation als eine Realität gibt, steht ihr aufgrund der "nationalen Souveränität" der Anspruch auf ein Sonderverhältnis zwischen den beiden deutschen Teilstaaten zu, das auch von den anderen Mitgliedern der Völkerrechtsgemeinschaft zu achten ist. In jedem Fall kommt ihr aufgrund des Selbstbestimmungsrechts ein klarer Rechtsanspruch auf die Verwirklichung der staatlichen Einheit zu111 • Die Erfüllung dieses Anspruchs setzt bestimmte gesamteuropäische Rahmenbedingungen voraus und braucht daher nicht unbedingt in einer nationalstaatliehen Form zu erfolgen.
die sich untereinander enger als mit anderen verbunden wissen" enthalten. Vgl. K.-H. Ruffmann: Was kann "Nation" für die Deutschen bedeuten?, in: Nation und Demokratie in unserer Zeit, Mainz 1969, S. 21. uo Vgl. B. Meissner: Moskau - Bonn. Die Beziehungen zwischen der Sowjetunion und der Bundesrepublik Deutschland 1955- 1973. Dokumentation, Bd. 1, Köln 1975, S. 19. m Auf das fortbestehende Selbstbestimmungsrecht des ganzen deutschen Volkes trotz der Zweistaatlichkeit weist Ress mit der Bemerkung hin, daß daneben die Möglichkeit des Beitritts aufgrund des § 23 Satz 2 GG weiter bestehen bleibt. Vgl. G. Ress: Das Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes, in: Fünf Jahre Grundvertragsurteil des Bundesverfassungsgerichts, Köln u. a. 1979, S. 288 f.
NATION UND VOLK IN SOZIOLOGISCHER SICHT Von Wilfried Schlau Vor fast genau 9 Jahren - am 7. Oktober 1973 - bemerkte ich in einem Vortrag in lngolstadt "Zur deutschen Situation der Gegenwart" u. a., die Diskussion um die Frage, ob es eine "deutsche Nation" gibt oder nicht gibt, erschiene mir zwecklos und nur geeignet, uns von den eigentlichen Existenzfragen des deutschen Volkes abzulenken. Viele der zu diesem Thema - schon damals - verfaßten Beiträge erinnerten mich jedenfalls an den Trostpreis für den Deutschen in dem internationalen Preisausschreiben über den Elefanten für seine Arbeit über "Das Wesen des Elefanten - Einleitung in 3 Bänden". (Den zweiten Preis erhielt nach dieser Version der Amerikaner für seinen KurzBeitrag "Wie macht man bessere und größere Elefanten?"; aber das erzählte man sich schon in den 50er Jahren, als noch niemand etwas von der Katastrophe in Vietnam ahnte.) Unter diesen Prämissen haben Sie sicher Verständnis dafür, daß ich den Vorschlag von Herrn Meißner, heute hier zum Thema "Nation und Volk in soziologischer Sicht" zu referieren, mit recht "gemischten" Geführen aufnahm und nicht gerade begeistert zusagte. Zu Beginn war zu prüfen, ob die zeitgenössische Soziologie diese beiden Begriffe überhaupt kennt und, wenn ja, was sie zu denselben zu sagen hat, und schon dieses Ergebnis war vielsagend und zwiespältig: Alfred Vierkandt brachte in seinem 1931 erschienenen "Handwörterbuch der Soziologie" noch einen 7-seitigen Beitrag von Waldemar Mitscherlich1 zum Thema "Volk und Nation" , in dem "Volk" u. a. als "Abstammungsgemeinschaft" definiert wird, die "ähnliches Wollen und Handeln, ähnliches Denken und ähnliche Gesinnungen hervorbringt, die alle noch eine Steigerung durch gemeinsame historische Lebensschicksale erfahren ... Eins der hervorragendsten Merkmale dieses sozialen Gebildes ist sein ,natürlicher' Ursprung. Die Volksgemeinschaft wird also durch natürliche Bande zusammengehalten, ist nichts durch politischen Willen Geformtes". 1 W. Mitscherlich: Volk und Nation, in: A. Vierkandt (Hrsg.), Handwörterbuch der Soziologie, Stuttgart 1931/2. Auflage 1959, S. 644- 652.
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"Aber" - und hier kommt schon die Einschränkung - "auch hier läßt sich nicht sagen, daß der dargestellte Vorstellungsinhalt einheitlich innegehalten wird; denn man spricht z. B. ganz allgemein vom Schweizer Volk. Das Schweizer Volk ist aber weder etwas durch einheitliche Abstammung Ausgezeichnetes - ... - noch verfügt es über eine einheitliche Sprache, noch ist es ein natürliches Gebilde. Die wichtigsten Merkmale treffen demnach nicht zu, und doch spricht man von einem Schweizer Volk, und zwar geschieht das nicht nur von der Masse der Nichtschweizer, die von all dem mit Ausnahme eines relativ kleinen Kreises von Gebildeten keine Kenntnis haben, sondern vom Schweizer selbst. Daran würde kein Dekret irgendetwas ändern". Bei den Schweizern handelt es sich also vermutlich bereits um eine Nation, und Hans Kahn konstatiert dementsprechend in seinem Aufsatz über den Schweizerischen Nationalgedanken, "die Schweiz sei ein Beweis dafür, daß der politische Charakter einer Nation nicht durch Rassen- oder Sprachgemeinschaft, sondern geschichtliche Entwicklung und Weisheit bestimmt werde", und daß "diese Nation eine Einigung von Völkergruppen repräsentiere, die von einer gemeinsamen geistigpolitischen Tradition beseelt seien" 2 • Sie sei eine Realität zumindest seit der Verfassung vom 12. September 1848, in deren Einführung "zum ersten Male, und auch das nur mit einigem Zögern", das neue Wort "schweizerische Nation" Verwendung gefunden habe3 • Trotzdem: Auch nach 100 Jahren ist diese sprachliche Unsicherheit anscheinend noch nicht behoben, wie die Formulierung des Manifestes der Schweizer Bundesversammlung anläßlich der Gedenkfeier an den "Rütli-Rapport 1940" im Juli 1967 zeigt; darin heißt es nämlich u. a. 4 : "Von der Völkerfamilie beanspruchen wir einzig das Lebensrecht als Nation und anerkennen unsere Pflicht zur Zusammenarbeit und zu Leistungen im Kampf gegen die Not, für die Menschlichkeit, die Freiheit und den Frieden in der Welt. Wir appellieren darum an unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger und nachdrücklich auch an die Jugend unseres Volkes, sich auf die Aufgaben der Eidgenossenschaft zu besinnen, die Einigkeit des Schweizervolkes zu fördern und ihrer Verantwortung gemäß für die Zukunft des Landes zu wirken." Nach außen hat man sich also inzwischen dem internationalen Sprachgebrauch angepaßt und verlangt, als "Nation" respektiert zu werden; z Hans Kohn: Der Schweizerische Nationalgedanke - Eine Studie zum Thema "Nationalismus und Freiheit", Zürich 1955, S. 7. 8 Ebd., S. 98. 4 Kleiner Stein für großen Tag Gedenkfeier an den Rütli-Rapport 1940, in: Die Tat (Zürich) vom 26. Juni 1967.
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nach innen dagegen versucht man, an dem Begriff des "Schweizervolkes" festzuhalten. So sind die Schwierigkeiten, die schon Mitscherlieh bei der Definition des Begriffes "Nation" hatte, nur zu verständlich. Er zählt im übrigen die Nation wie das Volk zu den "beweglichen" Begriffen, da sie es mit variablen Merkmalen zu tun hätten; aber diese Merkmale sind vielfältig und widersprüchlich. Entscheidend ist - nach Mitscherlieh - daß der Staat die Nation konstituiert und zwar vor allem durch die Gleichheit aller Staatsangehörigen vor dem Gesetz als Voraussetzung für das Entstehen eines "Gemeingeistes, der die Glieder eines Staates umfaßt. Über dem Einheitsstaat entstand die Nation. Sie verfügt über andere Bindemittel als das Volk". Diesem "Körperhaften der Nation" müsse auch ein "Geistiges" entsprechen, und das sei die Idee des Nationalismus: "Ohne Nation kein Nationalismus und ohne Nationalismus keine Nation5 ." Dabei distanziert Mitscherlieh sich jedoch ausdrücklich von Max Weber, Tönnies und anderen, die darüber hinaus das Streben nach einem gemeinsamen - politischen - Ziel als bestimmendes Merkmal für die Nation geltend machten6 • Sehr viel kürzer ist bereits Wilhelm Mühlmann's Beitrag zum Thema "Volk" in Bernsdorf's "Wörterbuch der Soziologie" 7 38 Jahre später, in dem "Volk" als "ein Pauschalbegriff zur Kennzeichnung der Verbindung einer bestimmten Bevölkerung mit einem bestimmten Kulturraum" definiert wird8 • "Zu den unwillkürlich gedanklich vorausgesetzten Kriterien, die auf Grund der europäischen Geschichtsresultate an einen ,erfüllten' Begriff von Volk zu stellen seien, gehörten daß die Population nicht zu klein sei, daß ihre Angehörigen die gleiche Sprache sprächen (Die Schweizer würden wir lieber als eine ,Nation' bezeichnen) und daß die Population auf einem wenigstens relativ ,geschlossenen Volksboden' säße; eine allzu große ,ethnische Gemengelage' erscheine als mit dem Begriff ,Volk' schwer verträglich" ... Darüber hinaus sei "die ,Entstehung' eines Volkes, durch welche Kräfte auch immer bewirkt, als ein Geschichtsprozeß zu begreifen", 5
W. Mitscherlich, a.a.O., S. 650.
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W. Bernsdorf (Hrsg.), Wörterbuch der Soziologie, Stuttgart 1969.
e Ebd., S. 648.
s Ebd., S. 1249- 1252.
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womit erneut die Konkurrenz mit dem Begriff ,Nation' deutlich wird, der nach Mühlmann jedoch "am besten für die politische Organisation eines Volkes zu reservieren sei" 9 • "Im internationalen Sprachgebrauch freilich gebe es keine Konkordanz; es bestünde auch keine Aussicht auf eine internationale Konvention in der Anwendung der einschlägigen Begriffe. Für die internationale Wissenschaftsverständigung über alle das Phänomen ,Volk' irgendwie betreffenden Tatsachen bliebe also nur der Ausweg der genauen Angabe jeder wissenschaftlichen Sparte oder jedes Autors, was darunter verstanden sein soll9 ." Die Begriffsverwirrung in Sachen "Volk" ist demnach vorerst nicht zu beheben und muß anscheinend als unabänderlich hingenommen werden. Ähnlich steht es mit dem Begriff "Nation", den Siegfried Landshut in Bernsdorf's Wörterbuch - bezeichnenderweise unter dem gemeinsamen Stichwort "Nation und Nationalismus" -als Produkt der Französischen Revolution interpretiert10 : "Die Nation findet ihre Einheit und Zusammengehörigkeit in der gemeinsamen Gesinnung ihrer Repräsentanten, der Freien und Gleichen, ihrer gemeinsamen geistigen Heimat ..." "Nach den Katastrophen, die die Übersteigerung und Entstellung der nationalen Idee heraufgeführt hätte, habe sie die Macht ihrer ausschließlichen Verbindlichkeit jedoch zum großen Teil eingebüßt. Die Überanstrengung der Idee der Nation habe zu einer Übermüdung geführt, und wirtschaftliche sowohl wie politische und strategische Bedürfnisse hätten dazu beigetragen, die früheren Nationen mehr und mehr in übergreifende ,übernationale' Organisationen zu integrieren11", womit sich der Gewichtsverlust der Nation bereits ankündigt. Auch Helmut Schoeck stellt 1969 zum Stichwort "Volk" lediglich fest, "es sei durch seine Übersteigerung bei ,völkischen' Schriftstellern und seinen Mißbrauch im Nationalsozialismus ein stark emotional wertender Begriff", und "seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges sage man im Deutschen vielfach ,die Gesellschaft' in Zusammenhängen, wo es bis 1945 ,das Volk' hieß". "Wertfrei bezeichne ,Volk' eine Bevölkerung von mindestens einigen Millionen, mit gleicher Sprache und Kultur, die einen Flächenstaat bewohnten und politische Autonomie hätten (oder beanspruchten). Staaten, deren Bevölkerung aus verschiedenen Sprachgruppen (mit eigenem e Ebd., S. 737. 10 Ebd., S. 737. 11 Ebd., S. 738.
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ethnischen Selbstverständnis) bestünde (z. B. Schweiz, Kanada), sollten nicht Volk, sondern Nation genannt werden. Auch die USA (the American people) sei eher eine Nation mit einer weitgehend ähnlichen Gesellschaftsstruktur (und einer Standardkultur über zahlreichen Subkulturen) und kein Volk12." Das Stichwort "Nation" dagegen fehlt bei Schoeck, bzw. es erscheint nur in den Verbindungen "Nationalcharakter" und "Nationalismus", und dazu wird lediglich festgestellt, "aufgrund der europäischen Geschichte seit der Französischen Revolution verstehe man unter Nationalismus eine gefährliche Übersteigerung, eine pathologische Überhitzung des an sich für die Existenz eines Staates notwendigen Nationalbewußtseins"13. Andererseits "sei entscheidend für das Verständnis der überseeischen Einwanderungsländer, daß hier nicht nur die Idee der Nation, sondern auch ein offensichtlicher Nationalismus für die fortwährende Integration der heterogenen Bevölkerungsteile eine unersetzliche Rolle spiele ... ; trotzdem sei das Eigenschaftswort ,national' z. B. in den USA ein neutraler, ein sachlicher Begriff geblieben" 13 • Diese "Neubewertung" bzw. "Entschärfung" der Begriffe "Nation" und "national" dürfte inzwischen auch in den anderen Ländern der westlichen Welt festzustellen sein; auch hier ist es inzwischen eine Selbstverständlichkeit, daß die Staaten der Welt in der UNO als "Nationen" , d. h. als Gesamtheit aller Staatsbürger, die den gleichen Paß besitzen, vertreten werden, denn die an und für sich richtigere Bezeichnung "Vereinigte Staaten" könnte zu störenden Verwechslungen führen. Man weiß genau, was eine Nationalmannschaft und eine Nationalbank ist und was ein "National Paper" in Großbritannien oder eine "Ecole Nationale" in Frankreich. "National" ist damit auch hier der neutrale Begriff, wie ihn etwa die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" mit dem nachstehenden immer wiederkehrenden - belehrenden Inserat für sich in Anspruch nimmt: "FRANKFURTER ALLGEMEINE" Zeitung für Deutschland (das Weltblatt mit nationaler Verbreitung*)
Günter Hartfiel definiert 1972 in seinem "Wörterbuch der Soziologie" die "Nation" dann wohl noch als eine "Gemeinschaft von Menschen mit a H. Schoeck: Kleines soziologisches Wörterbuch, Freiburg-Basel-Wien 1969, s. 346 u. 347.
Ebd., S. 239 u. 240. * Die offizielle Bezeichnung ,mit nationaler Verbreitung' gilt für eine Zeitung, die im ganzen Bundesgebiet verbreitet ist. 13
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dem Bewußtsein gleicher politisch-kultureller Vergangenheit und dem Willen zum gemeinsamen Staatswesen.... Das Problem der nationalen Einheit sei jedoch inzwischen vom Denken in weltanschaulichen, verschiedene Gesellschaftsordnungen repräsentierenden Blöcken ,überformt' worden" 14, und bei der Aufzählung der verschiedenen Bedeutungsinhalte des Stichwortes "Volk" tritt bei ihm erstmals unter (g) auch die marxistische Interpretation der "Volksmassen" auf - "als derjenigen Klassen und Schichten der Gesellschaft, die daran interessiert und objektiv dazu fähig seien, den gesellschaftlichen Fortschritt zu verwirklichen" 1s. Daneben steht freilich auch bei Hartfiel noch unverändert das Volk "als politisch und kulturell zustande gekommene Einheit, als Gesamtheit aller Menschen, die entweder durch gemeinsame Sprache oder durch gemeinsame Abstammung und Kultur ... miteinander verbunden sind und aus dieser tradierten Verbundenheit zu gemeinsamer Orientierung und Handlungsbereitschaft gelangen" 15. Im "Lexikon zur Soziologie", des Jahres 1973 gibt es dann nur noch das Stichwort "Nation, neue", als "Bezeichnung für eine ehemalige Kolonie, die erfolgreich gegen die Kolonialherrschaft revoltiert hat und staatlich unabhängig geworden ist. Die Politik der neuen Nationen betone oft die nationale Eigenart, um nach innen Integration sowie nach außen Unabhängigkeit zu demonstrieren18." Das Stichwort "Volk" aber ist gar nicht mehr vorhanden; lediglich unter "Volkskunde" heißt es, "das Festhalten an einem politisch überholten Volksbegriff habe der Volkskunde bisher die Zusammenarbeit mit den anderen Gesellschaftswissenschaften erschwert" 17. Von da ist es nicht mehr weit bis zu dem bereits 1971 beim gleichen Verlage erschienenen "Wörterbuch der marxistisch-leninistischen Soziologie"18 - erarbeitet von einem Kollektiv von Soziologen und Gesellschaftswissenschaftlern der DDR angesichts der "rapiden Entwicklung"19 der Soziologie unter direkter Betreuung durch das Zentralkomitee der Partei in den meisten Staaten des Ostblocks. Hier "vermag", wie es im Vorwort der Herausgeber heißt, "nicht der ,standpunktlose', ,neutrale' Kritiker eine sinnvolle und produktive soziologische Analyse 14 G. Hartfiel: Wörterbuch der Soziologie, Stuttgart 1972, S. 464. 1s Ebd., S. 668 u. 669. 18 W. Fuchs, R. Klima, R. Lautmann, 0. Rammstedt, H. Wienold (Hrsg.): Lexikon zur Soziologie, Opladen 1973, S. 462. 17 Ebd., S. 741. 18 W. Eichhorn I, E. Hahn, G. Heyden, M. Pusclunann, R. Schulz, H. Taubert (Hrsg.): Wörterbuch der marxistisch-leninistischen Soziologie, Opladen 1971. ' te Ebd., S. 8.
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der sozialistischen Gesellschaft zu liefern, sondern der Soziologie, der sein Anliegen als Auftrag der Arbeiterklasse und ihrer marxistischleninistischen Partei und diesen Auftrag als sein Anliegen begreift" 2 o. Entsprechend eindeutig wird die "bürgerliche" als eine "Vorform" der "sozialistischen Nation" dargestellt und definiert und zwar als "eine der Formen der menschlichen Gemeinschaft, die sich mit der Entwicklung des Kapitalismus gesetzmäßig herausbildet, als Entwicklungsform der Produktivkräfte und der Kultur der Völker eine bedeutende Rolle spielt und ihre historische Bedeutung erst lange nach dem Weltsieg des Sozialismus gesetzmäßig allmählich verlieren wird. Die Nation als Form der Gemeinschaft wird charakterisiert durch den wirtschaftlichen Zusammenschluß der Bevölkerung großer Territorien auf der Grundlage der Entwicklung eines inneren Marktes, durch die besonderen geschichtlichen Traditionen eines Volkes, durch die Gemeinsamkeit der Lebensweise und Sprache, d. h. der Kultur eines Volkes. Die Nation ist also stets eine konkret-historische Erscheinung, deren Charakter und Rolle durch die Konstellation und die Wirksamkeit der verschiedenen Klassenkräfte geprägt ist" 21 • Das Nachwirken der Definition Stalins in seiner 1913 verfaßten Schrift "Marxismus und nationale Frage" 22 ist so auch im Jahre 1971 noch deutlich zu spüren, selbst wenn er im weiteren Text "tröstend" heißt: "Mit der Beseitigung der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen im Innern der Nationen werden auch die Antagonismen zwischen den Nationen verschwinden" 23 , und wenn anschließend entsprechende Konsequenzen für die Überwindung der bürgerlichen ERDNation bzw. ihren Übergang in die sozialistische Nation gezogen werden. Auch im "Wörterbuch der marxistisch-leninistischen Soziologie" fehlt die Vokabel "Volk" bzw. ist sie nur im Stichwort "Volksmassen" enthalten, deren "Wesen die bürgerliche Soziologie nicht zu erklären vermag" 24 • In marxistisch-leninistischer Sicht sind die "Volksmassen" eben "nicht identisch mit Volk im Sinne von Gesamtbevölkerung eines Landes oder Staates oder einer historisch entstandenen sozialen Gemeinschaft zum Unterschied von Stamm oder Nation", sondern vielmehr "im politischsoziologischen Sinne alle werktätigen Klassen und Schichten sowie alle im Sinne des Fortschrittes handelnden Menschen" 25 • Ebd., S. 6. u Ebd., S. 305. 22 J. W. Stalin: Marxismus und nationale Frage (1913), 3. Aufl. Moskau 1945, s. 8 f. u. 19. 23 Wörterbuch der marxistisch-leninistischen Soziologie, a.a.O., S. 306. 24 Ebd., S. 498. 25 Ebd., S. 498. 20
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Insgesamt ist jedenfalls - abgesehen von diesem Exkurs in die als "Soziologie" ausgegebene marxistisch-leninistische Ideologie - eine Reduktion der mit dem Begriff der "Nation" verbundenen Mythen und Emotionen in den letzten 50 Jahren - zumindest in der Bundesrepublik - nicht zu bestreiten. Entsprechend skeptisch sind daher alle Versuche zu beurteilen, emotional entleerte "nationale" Vokabeln wieder "aufzuladen", wie es in der Bundesrepublik schon in den 60er Jahren - nach dem Berliner Mauerbau - erstmals "von oben" versucht wurde26 • Am Beginn dieser um die Weihnachtszeit 1964/65 anlaufenden ersten "nationalen Welle" standen Artikel bundesdeutscher Politiker und Journalisten verschiedenster Couleur - bis zu Sebastian Haffners "Neujahrsrede an die deutsche Nation" 27 , und später folgte dann die Empfehlung eines "neuen Nationalgefühls" für die Bundesrepublik durch den Politologen Kurt Sontheimer im Frühjahr 196728. Der Erfolg aber blieb aus, da die Initiatoren die völlig veränderte politisch-psychologische Situation wohl nicht richtig eingeschätzt hatten oder überhaupt nicht kannten. Auch das wäre nicht verwunderlich, war doch der Kreis der Fachleute, die sich- etwa seit der J ehrhundertwende - mit dem Thema "Volk und Nation" politisch, journalistisch und auch wissenschaftlich auseinandersetzten, nie sehr groß. Außerdem kam die Mehrzahl von ihnen nicht aus dem Gebiet des Deutschen Reiches, und der gebürtige Düsseldorfer Ethnologe und Soziologe Wilhelm Mühlmann dürfte unter seinen Fachkollegen fast eine Ausnahme sein. Die meisten der Autoren verschiedenster fachlicher Provenienz, die zu dieser Problematik in deutscher Sprache Stellung nahmen, stammten vielmehr aus Ost-Mitteleuropa und zwar - abgesehen von den Balten Ewald Amrriende (t 1936), Ferdinand von Uexküll-Güldenband (t 1939), Paul Schiemann (t 1944), Werner Hesselblatt (t 1958), Max Hildebert Boehm (t 1968)29 und Reinhard Wittram (t 1973)30 im wesentlichen aus dem Bereich der ehemaligen K. u. K. Monarchie. Beginnend mit den Sozialdemokraten Otto Bauer (* Wien 1882, t Paris 1939)31 und Karl 28 s. auch: Die nationale Welle, in: W. Schlau: Politik und Bewußtsein, Köln 1971, s. 580 ff. 27 S. Haffner: Neujahrsrede an die Deutsche Nation, in: Der Stern (Harnburg) vom 10. 1. 1965. 28 Siehe: Die Welt (Hamburg) vom 13. 2. 1967. 29 s. u. a.: M. H. Boehm: Europa Irredenta, 1923; Das eigenständige Volk, Göttingen 1932 I Neuauflage Darmstadt 1965; Das eigenständige Volk in der Krise der Gegenwart, Wien- Stuttgart 1971. 30 R. Wittram: Das nationale als europäisches Problem, 1954.
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Renner ('' Untertannowitz/Südmähren 1870, t Wien 1950)32 hat hier eine ganze Generation mit dieser Frage "gerungen", deren anscheinende Unlösbarkeit 1918 zum Auseinanderfallen des Staates der Habsburger führte. So ist es auch nur zu verständlich, daß von den bekannteren Autoren der Gegenwart, die sich von ihrem historischen und soziologischen Fachinteresse ausgehend der Problematik "Volk und Nation" zuwandten, viele aus diesem Raum kommen. Zu nennen sind hier u. a . der 1981 in Prag geborene - bereits erwähnte - Hans Kohn, Heinz Otto Ziegler (