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German Pages 288 Year 2015
Meike Becker-Adden Nahtstellen
In großer Dankbarkeit gegenüber meinem Doktorvater Prof. Dr. Jürgen Link sowie meinem Betreuer Prof. Dr. Martin Geck und in Liebe zu meiner Familie
Meike Becker-Adden (Dr. phil.) promovierte an der Universität Dortmund, war dort wissenschaftliche Angestellte und Mitarbeiterin am Forschungsprojekt »Normalismus« und ist derzeit im Schuldienst mit den Fächern Deutsch und Musik tätig.
Meike Becker-Adden Nahtstellen. Strukturelle Analogien der »Kreisleriana« von E.T.A. Hoffmann und Robert Schumann
Die vorliegende Arbeit wurde im Jahre 2005 als Dissertation an der Universität Dortmund im Fachbereich Kulturwissenschaften unter dem Titel »Wie weit gehen strukturelle Analogien zwischen Literatur und Musik? Das Konzept eines Kreislerianums bei E.T.A. Hoffmann und Robert Schumann als exemplarischer Fall« eingereicht. Die Arbeit wurde unterstützt durch ein Promotionsstipendium der Universität Dortmund sowie durch den Dissertationspreis 2005 der Universität Dortmund.
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© 2006 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung und Innenlayout: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: E.T.A. Hoffmann, »Der Kapellmeister Kreisler im Wahnsinn«, Bleistiftzeichnung, 1822 Lektorat & Satz: Meike Becker-Adden Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 3-89942-472-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
INHALTSVERZEICHNIS
Einleitung 7
TEIL I DIE THEMATISIERUNG VON KUNST UND KÜNSTLERTUM IN E.T.A. HOFFMANNS KREISLERIANA UND DEM ROMAN LEBENS-ANSICHTEN DES KATERS MURR 17
Die Musikerfigur Johannes Kreisler 19
Das Faszinationsmoment der Kreisler-Figur: Robert Schumann und das Konzept eines Kreislerianums 28
TEIL II DIE WECHSELSEITIGE WIDERSPIEGELUNG DER KÜNSTE: MIMESIS IM KONZEPT DES KREISLERIANUMS BEI E.T.A. HOFFMANN UND ROBERT SCHUMANN 35
Musikbeschreibung und Musikevokation in E.T.A. Hoffmanns Kreisleriana 37
Musikalische Widerspiegelung von Literatur oder poetische Musik der Romantiker? 43
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TEIL III ANALOGIEN AUF DER EBENE DER OBERFLÄCHENSTRUKTUR 55
Vorbemerkungen zur Terminologie (Oberflächenstruktur, Tiefenstruktur, Phänotext, Genotext) 57
Geschlossene und offene Form – Kriterien und Merkmale zur Untersuchung des Phänotextes 61
Der Phänotext der Hoffmann’schen Kreisleriana und des Romans Lebens-Ansichten des Katers Murr 75
Zur Bestimmung einer musikalischen Oberflächenstruktur 116
Die Oberflächenstruktur der Kreisleriana op.16 von Robert Schumann 119
Die Oberflächenstruktur eines Kreislerianums bei E.T.A. Hoffmann und Robert Schumann 141
TEIL IV ANALOGIEN AUF DER EBENE DER TIEFENSTRUKTUR 155
Kurze Vorüberlegung 157
Das Programm der ›Neuen Mythologie‹ als Basiskonzept eines Kreislerianums 158
Mythos und Musik – ein strukturalistisches Konzept nach Claude Lévi-Strauss 178
Die semiotische chora im Genotext von Literatur und Musik 192
Das Konzept eines Kreislerianums – ein genotextuelles Phänomen in Literatur und Musik 271
Literaturverzeichnis 277
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EINLEITUNG
»Mein ästhetischer Ansatz kommt ganz woanders her. Womit ich mich beschäftige, ist nicht die Wirklichkeit, sondern die zweite Natur. Wie sich Wirklichkeit in Oberflächen-Phänomenen der Medien niederschlägt – das ist schon eine zweite Natur. Ich spiele mit Oberflächen-Phänomenen und zwinge sie, aufzubrechen und eine andere zweite Wahrheit preiszugeben, die darunter liegt.«1
»Unsere Sprache – sie war am Anfang viel musicalischer und hat sich nur gerade prosaisirt, so enttönt [...] Sie muß wieder Gesang werden.«2 So klingt das musik- und sprachphilosophische Postulat zu Beginn des 19. Jahrhunderts bei Novalis. Das Zitat spiegelt die allgemeine frühromantische Vorstellung einer natürlichen, musikalisch-poetischen Ausdrucksform wider und formuliert die Auffassung einer ursprünglichen Einheit von Musik und Sprache. Die Musikästhetik des 18. Jahrhunderts beschäftigte sich mit verschiedenen Theorien über den Ursprung der Musik und der Sprache,3 wobei in der Gegenüberstellung der unterschiedlichen Ansätze, wie z.B. Herders, Rousseaus und Forkels, deutlich wird, dass die einzelnen Theorien von einem einheitlichen Ursprung der sprachlichen und musikalischen Artikulationsform ausgehen. Aus dieser ursprünglichen Einheit von Sprache und Musik beobachten die Philosophen und Musiktheoretiker eine Entwicklung in unterschiedliche Richtungen, so dass sich die beiden
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Elfriede Jelinek zitiert nach Sigrid Löffler, »Herrin der Unholde und der Gespenster« in: Literaturen, Dezember 2004, S. 12. Novalis, »Allgemeines Brouillon Nr. 245«, in: Novalis, Das dichterische Werk, Tagebücher und Briefe, hrsg. v. Richard Samuel, München 1978, Bd. 2, S. 517, zitiert in: Christine Lubkoll, Mythos Musik: poetische Entwürfe des Musikalischen in der Literatur um 1800, Freiburg im Breisgau: Rombach 1995, S. 9. Vgl. Christine Zimmermann: Unmittelbarkeit: Theorien über den Ursprung der Musik und der Sprache in der Ästhetik des 18. Jahrhunderts, Frankfurt/M.: Lang 1995. 7
NAHTSTELLEN
Kommunikationsformen zu zwei eigenständigen Zeichensystemen ausbildeten.4 Aufgrund dieser Ursprungstheorien wurde in der frühaufklärerischen Musiktheorie der Sprachcharakter der Musik noch mit den Kriterien der Rhetorik und der Grammatik beschrieben, die Sprache galt als das der Musik übergeordnete Medium, an deren Maßstäben sich die Musik zu messen hatte und der sie sich unterordnen musste. Doch mit dem aufkommenden Subjektdenken und dem wachsenden Anspruch auf individuellen Ausdruck beginnt auch der Zweifel an der Macht der Sprache. Im Zuge einer Sprachkritik bekommt die Musik zunehmend einen Eigenwert und letztlich eine privilegierte Rolle gegenüber der Sprache zugeschrieben.5 Die Sprache »muß wieder Gesang werden« lautet die Forderung der Frühromantik, und der »Versuch, bestimmt durch die Musik zu sprechen«6, wird zur Maxime der Literatur seit dem späten 18. Jahrhundert. Die Problematisierung des dichterischen Zeichensystems und die Phantasien und (Sprach-)Utopien über den Sprachcharakter der Musik begründen das Programm einer musikalischen Poesie. Es entsteht die Idee einer musikalisierten Sprache, die von den spezifisch musikalischen Ausdrucksmöglichkeiten der Musik fasziniert ist. Dieses Konzept des Musikalischen findet sich in den Texten E.T.A. Hoffmanns exemplarisch umgesetzt. In seinen Musik- und Musikererzählugen wie Ritter Gluck, Rat Krespel oder Die Fermate findet eine musiktheoretische und philosophische Reflexion der Musik als Zeichensystem statt, die sowohl die Utopien und Phantasien als auch die Aporien des musikalischen Sprachkonzepts aufzeigt und problematisiert.7 In dem Hoffmann’schen Text der Kreisleriana (1814/15) findet eine Verdichtung sämtlicher Aspekte der Thematisierung von Musik und Musikerexistenz sowie eine umfassende Reflexion der Musik als Zeichen- und Schriftsystem statt. Mit seiner literarischen Figur des Kapellmeisters Johannes Kreislers gelingt es Hoffmann, musiktheoretische Reflexionen sowie die Problematisierung der romantischen Diskussion über die verschiedenen Grenz-Erwägungen 4
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Vgl. hierzu Christine Zimmermann: Unmittelbarkeit, insbesondere die Kapitel »Die sprachsingende Zeit. Eine Sprache in ihrer Kindheit: Projektionen ins Gewesene«, S. 54 ff.; »Die Geographie der Musik. Die Sprachen des Ursprungs und die Musik darin«, S. 84 ff.; »Die leserliche Natur. Die Trennung von Musik und Sprache«, S. 136 ff. Vgl. Christine Lubkoll: Mythos Musik, S. 52. Novalis: »Allgemeines Brouillon Nr. 245«, S. 9. Vgl. Christine Lubkoll: Mythos Musik, S. 12. 8
EINLEITUNG
von Musik und Sprache mit einem poetischen Konzept zu verbinden. Dieser literarische Entwurf einer musikalischen Poesie prägt das Konzept eines Kreislerianums, das Hoffmann in dem Zyklus der Kreisleriana definiert und realisiert. Eine Fortführung des Kreislerianums findet in dem Roman Lebens-Ansichten des Katers Murr nebst fragmentarischer Biographie des Kapellmeisters Johannes Kreisler in zufälligen Makulaturblättern statt. Während sich die Literatur um 1800 zunehmend einer Thematisierung des Musikalischen bzw. eines musikalischen Sprachkonzepts widmet und literarische Phantasien des Musikalischen entwirft, prägt diese musikalische Poesie die spätere Musikentwicklung. Die literarische Idee einer freien, ›unbestimmten‹ Musik als einer »allgemeine[n] Sprache der Natur«8 entwickelt sich zum musikalischen Programm der romantischen Musik. Robert Schumann, der die romantische Literatur intensiv studierte und insbesondere Jean Paul, Novalis, aber auch E.T.A. Hoffmann zugetan war, sah eine Verbindung von Musik und Sprache auch in umgekehrter Richtung vorliegen: »Wenn ich Beethovensche Musick höre, so ists, als läse mir jemand Jean Paul vor; Schubert gleicht mehr Novalis, Spohr ist der leibhaftige Ernst Schulze oder der Carl Dolci der Musick.«9 An diesem Aphorismus wird deutlich, dass Schumann Literatur und Musik als verwandte Ausdrucksformen ansieht. Doch bemerkt er nicht nur eine allgemeine Beziehung zwischen den Künsten, sondern verweist auf spezifische Verbindungen. Indem er den verschiedenen Komponisten jeweils bestimmte Schriftsteller zuordnet, möchte er wohl weniger auf inhaltliche Parallelen als vielmehr auf konkrete ausdrucksästhetische und strukturelle Analogien aufmerksam machen. Auch der vielzitierte Ausspruch Schumanns: »Kennen Sie nicht Jean Paul, unseren großen Schriftsteller? Von diesem habe ich mehr Contrapunkt gelernt, als von meinem Musiklehrer.«10 deutet darauf hin, dass Schumann nicht nur seine Inspirationen, sondern auch
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E.T.A. Hoffmann: Kreisleriana (1814/15), hrsg. v. Hanne Castein, Stuttgart: Reclam 1986, S. 124. 9 Robert Schumann, Tagebücher, Bd. 1, 1827-1838, hrsg. v. Georg Eismann , Leipzig 1971, S. 97; zitiert in: Ulrich Tadday, Das schöne Unendliche: Ästhetik, Kritik, Geschichte der romantischen Musikanschauung, Stuttgart, Weimar: Metzler 1999, S. 116. 10 Robert Schumann in einem Brief an Simonin de Sire vom 15. März 1839; zitiert in Martin Geck, Von Beethoven bis Mahler: die Musik des deutschen Idealismus, Stuttgart, Weimar: Metzler 1993, S. 149. 9
NAHTSTELLEN
kompositionstechnische und stilistische Anregungen für seine musikalischen Werke durch die Literatur bezog. Hinsichtlich der engen stilistischen Verflechtung von Literatur und Musik sowie der Entwürfe einer musikalischen Poesie bei E.T.A Hoffmann und der Umsetzung einer poetischen Musik bei Robert Schumann sollen in dieser Arbeit keine inhaltlichen Vergleiche erfolgen, sondern strukturelle Parallelen untersucht werden. Die gleichnamige Überschrift der Hoffmann’schen und Schumann’schen Kreisleriana legt einen solchen Vergleich dieser beiden Werke nahe, der gemeinsame Titel lässt eine einheitliche Idee vermuten. Nach einem struktural-funktionalen Ansatz soll das Konzept eines Kreislerianums bei E.T.A. Hoffmann und Robert Schumann auf seine Erzählhaltungen und Kompositionstechniken, seinen technischen Aufbau und seine stilistische Umsetzung, also auf seine Strukturmerkmale hin analysiert werden. Für diese wechselseitige Erhellung der Künste wird ein Modell von Jürgen Link zugrunde gelegt, das den Vergleich in vier Schritten vorsieht bzw. auf vier Ebenen betreibt:11 1) Thematisierung (hier von Musik und Musikerexistenz) 2) wechselseitige Mimesis der beiden Künste a) Musik-Beschreibungen und -Evokationen in der Literatur b) Programmmusik 3) Analogien auf der Ebene der Oberflächenstruktur bzw. des Phänotextes 4) Analogien auf der Ebene der Tiefenstruktur bzw. des Genotextes Ausgehend von den Untersuchungsergebnissen der Thematisierung von Musik und Musikerexistenz in den Kreisleriana und dem Roman Lebens-Ansichten des Katers Murr von E.T.A. Hoffmann sollen im ersten Teil dieser Arbeit einzelne Anhaltspunkte der thematischen Umsetzung herausgearbeitet werden, die eine Faszinationskraft auf Robert Schumann ausgeübt haben mögen und die eine Begründung darstellen könnten, weshalb ihn gerade dieser musik-poetologische Entwurf Hoffmanns angesprochen haben könnte. 11 Mit diesen Untersuchungsschritten beziehe ich mich auf das Modell zur wechselseitigen Erhellung der Künste, das Prof. Dr. Jürgen Link in dem interdisziplinären Seminar: Musik und Literatur in der Romantik: Das Problem der Normalität am Beispiel E.T.A. Hoffmanns, Beethovens und Schumanns, gehalten von Prof. Dr. Martin Geck und Prof. Dr. Jürgen Link im Wintersemester 1999/2000 an der Universität Dortmund, vorstellte. 10
EINLEITUNG
Für die Umsetzung eines musikalischen Konzepts und die Thematisierung von Musik in der Literatur sind die Aspekte der poetischen Nachahmung von musikalischen Artikulationsformen, aber auch die Erfindung und Beschreibung fiktiver Musikwerke und musikalischer Hörerlebnisse von wesentlicher Bedeutung. Aus diesem Grund soll im zweiten Teil der Untersuchung die poetische Widerspiegelung von Musik thematisiert werden. Die Kreisleriana und auch der Kater Murr-Roman bieten entsprechende Beispiele für mimetische Momente in Form von musikalischen Rezensionen, in der Beschreibung fiktiver und realer Musikwerke sowie durch die Schilderung von Hörerlebnissen und Evokationen bei der Rezeption von Musik. Umgekehrt finden literarische Ideen eine musikalische Widerspiegelung, eine Umschreibung oder Übersetzung in Musik in der Programmmusik, hier werden außermusikalische Inhalte tonmalerisch umgesetzt und literarische Handlungselemente nachgeahmt. Im Zusammenhang mit der Mimesis literarischer Stoffe in einer musikalischen Komposition soll ein Exkurs zur historischen Entwicklung der ›absoluten Musik‹ und ihre Abgrenzung zur Programmmusik in die Arbeit eingefügt werden. Auch die differenzierte Einstellung Schumanns zu dieser Thematik soll berücksichtigt werden, um die Schwierigkeiten einer Untersuchung der Schumann’schen Kreisleriana auf mimetische Momente bzw. auf eine programmatische Widerspiegelung einer literarischen Vorlage in seiner Musik verständlich zu machen. Die letzten beiden Kapitel beschäftigen sich ausschließlich mit den Strukturverwandtschaften von Literatur und Musik am Beispiel der beiden Kreisleriana von Hoffmann und Schumann. Die Differenzierung der Untersuchung hinsichtlich des Phänotextes und des Genotextes geht auf die Terminologie von Julia Kristeva12 zurück. Zunächst werden die Strukturmerkmale des Phänotextes verglichen und auf ihre strukturellen Analogien hin überprüft. Kriterien und Merkmale für die Betrachtung der Oberflächenstruktur liefert das Konzept der geschlossenen und der offenen Form nach Heinrich Wölfflin. Da hierbei die Strukturen der romantischen Ironie eine wesentliche Rolle spielen, wird der Analyse des Textes ein Exkurs zur Theorie der romantischen Ironie vorangestellt, in dem das Konzept der romantischen Ironie von Friedrich Schlegel erläutert werden soll. Um die strukturelle Ver12 Julia Kristeva: Die Revolution der poetischen Sprache, aus dem Franz. übers. und mit einer Einleitung versehen von Reinhold Werner, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1978 (Franz. Orig. Paris 1974). 11
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gleichbarkeit zwischen dem Schlegel’schen Ironie-Postulat und dem Schumann’schen Begriff des romantischen Humors aufzuzeigen, wird auch der Jean Paulsche Terminus des romantischen Humors, an dem sich Schumann orientierte, kurz dargestellt werden. Erst im letzten Teil der Arbeit sollen die Elemente der Tiefenstruktur untersucht werden. Die Analyse tiefenstruktureller Analogien von Literatur und Musik stellt ein in der Forschung noch weitgehend unberücksichtigtes Gebiet dar, so dass für diese Arbeit auf nahezu keine konkreten Ergebnisse und bereits gewonnen Erkenntnisse zurückgegriffen werden konnte. Zunächst wird das Konzept einer ›Neuen Mythologie‹, wie es von Schlegel und auch Hegel, Hölderlin und Schelling entworfen wurde, für die Tiefenstruktur der beiden Kreisleriana ausgewertet. Dieses Konzept einer ›Neuen Mythologie‹ soll durch einen Exkurs erläutert und anschließend nach einem Ansatz von Jürgen Link operativ übersetzt werden. Mit Hilfe des operativen Instrumentariums wird eine Struktur nach der Praxis und Wirkung einer ›Neuen Mythologie‹ für das Konzept eines Kreislerianums bei Hoffmann und Schumann nachzuweisen sein. In einem zweiten Schritt gilt es einen weiteren mythentheoretischen Ansatz für den Analogievergleich nutzbar zu machen. Die Kreisleriana werden auf mythische Strukturen hin zu untersuchen sein, die Claude Lévi-Strauss im Hinblick auf Strukturanalogien zwischen Mythos und Musik herausgearbeitet hat. Lévi-Strauss versteht den Mythos und die Musik als zwei Zeichensysteme, welche die gesprochene Sprache transzendieren: die Musik klanglich und der Mythos sinnbildhaft. Diesen strukturalistischen Ansatz gilt es für den Analogievergleich nutzbar zu machen. Neben diesen Analysen mit Blick auf ,mythologische Strukturanalogien‹ gilt es symptomatisch-unbewusste Entsprechungen hinsichtlich Körperlichkeit und dem Begriff der chora nach Julia Kristeva auf tiefenstruktureller Ebene zu untersuchen. Das Konzept eines heterogenen Sinngebungsprozesses eröffnet der Zeichentheorie neue vorsprachliche und psychosomatische Dimensionen, welche von eminenter kunsttheoretischer Bedeutung sind. Indem Kristeva Subjektgenese und Sinnbildung miteinander verknüpft, entwickelt sie eine Theorie, in der dem Symbolischen, im Sinne Lacans verstanden als alle Phänomene, die strukturiert sind wie eine Sprache, das Semiotische als das stimmlich-gestische, körperliche und rhythmische der präödipalen Phase gegenübersteht. Die Setzung des Semiotischen und der semiotischen chora als amorphem Raum des Körperlichen ermöglichen eine differenzierte Annäherung an die affekt- und triebgeladenen Momente 12
EINLEITUNG
beim Kunstgenuss. Unter Bezugnahme auf die Philosophie Susanne K. Langers soll die Relevanz des Konzepts für die Musik nachgewiesen werden und für den musikalischen Sinngebungsprozess adaptiert werden. Da den zwei Modalitäten des Semiotischen und des Symbolischen bei Kristeva die zwei Textzeiten des Genotextes und des Phänotextes entsprechen, ergibt sich ein Vergleich der Künste auf zwei Ebenen. Die genotextuelle Analyse der beiden Werke soll aufgrund der Sprachphilosophie Julia Kristevas eine Bestimmung der choraLust innerhalb des Konzepts eines Kreislerianums ermöglichen und somit die tiefenstrukturellen Analogien des literarischen und des musikalischen Konzepts beschreiben. Der vierte Teil soll als ein Problemaufriss verstanden werden, der einen möglichen Ansatz für den Vergleich von Literatur und Musik auf der Ebene des Genotextes vorstellt und auf eine Weiterführung durch die Gegenüberstellung weiterer Beispiele aus Literatur und Musik hofft. Die vorliegende Arbeit ist einer interdisziplinären komparatistischen Forschungsrichtung von Strukturverwandtschaften zwischen Musik und Literatur zuzuordnen.13 Ihr Ziel ist es, strukturelle Analogien zwischen Literatur und Musik aufzuzeigen und den Rezipienten literarischer und musikalischer Werke für die Strukturverwandtschaften und die partiellen strukturellen Analogien der Künste zu sensibilisieren. Die Untersuchung gliedert sich hiermit in die Schule der wechselseitigen Erhellung der Künste ein. Der interdisziplinäre Vergleich der Künste gehört zu den immer wieder diskutierten Themen der Geisteswissenschaften. Unter Philosophen, Sprach-, Literatur- und Musikwissenschaftlern ist das enge Verwandtschaftsverhältnis von Literatur und Musik unumstritten und Gegenstand zahlreicher Studien. Insbesondere Oskar Walzel und Fritz Strich belebten Anfang des 20. Jahrhunderts die Diskussion des Stilvergleichs aufs Neue. Unter dem Titel Wechselseitige Erhellung der Künste entwarf Walzel14 jedoch einen Ansatz, der aufgrund seiner intuitiv-einfühlenden und ›impressionistischen‹ Vergleichsbasis heute als umstritten gilt. Auch andere 13 Vgl. zur aktuellen Situierung innerhalb des komparatistischen Forschungsstands Ulrich Weisstein: »Die Wechselseitige Erhellung von Literatur und Musik. Ein Arbeitsgebiet der Komparatistik?«, in: Steven Paul Scher (Hg.), Literatur und Musik. Ein Handbuch zur Theorie und Praxis eines komparatistischen Grenzgebietes, Berlin West: Erich Schmidt Verlag 1984, S. 40-60. 14 Oskar Walzel: Wechselseitige Erhellung der Künste. Ein Beitrag zur Würdigung kunstgeschichtlicher Begriffe, Berlin: Reuther & Reichard 1917. 13
NAHTSTELLEN
einschlägige Untersuchungen zu allgemeinen Stilvergleichen und künstlerischen Ausdrucksformen, wie z.B. die Vergleichsstudie Fritz Strichs15, gehen immer auf das Beziehungsgeflecht zwischen Literatur und Musik ein, doch werden die Analogien hier ebenfalls intuitiv erfasst. Es geht um Gemütszustände und evokativen Sprachgebrauch, die jedoch keine eindeutigen Vergleichskriterien darstellen und die Analogie auf einen undefinierten, emotionalen, schwer fassbaren Bereich beschränken. Die Schwierigkeit eines Vergleichs der Künste ist auch heute noch aktuell. Im Alltagsgespräch sowie in den Wissenschaften werden immer wieder spontane Vergleiche zwischen Literatur und Musik angestellt und das enge Verwandtschaftsverhältnis der Künste thematisiert. Es wird die Gegenüberstellung zur gegenseitigen ›Erhellung‹ der Künste genutzt, obwohl das eigentliche Problem eines Analogievergleichs weiterhin besteht. Hier ist es die Aufgabe der Forschung, den bestehenden Klärungsbedarf zu decken. Diese forschungsrelevante Fragestellung nach der eigentlichen Beziehung zwischen Literatur und Musik gilt es neu zu untersuchen.16 Mit Hilfe einer systematischen Strukturanalyse der literarischen und musikalischen Kreisleriana sollen übertragbare Kriterien entwickelt werden, anhand derer strukturelle Gemeinsamkeiten in Ausdruck und Darstellung von Literatur und Musik erhellt werden können. Die aktuelle Forschungslage beschäftigt sich einerseits mit der Bedeutung der Musik für eine veränderte Sprachauffassung und moderne Sprachkritik, so weist Sabine Bayerl in ihrer Arbeit Von der Sprache der Musik zur Musik der Sprache der Musik den Stellenwert eines Instrumentariums zur Erweiterung der Sprache zu.17 Ihr Anliegen ist es, die Spracherweiterungskonzepte bei Adorno, Kristeva und Barthes hinsichtlich einer ›musikalischen‹ Sprache zu beleuchten, ihr Interesse gilt nicht der Bestimmung einer eigenständigen Struktur der Musik noch der Entdeckung einer strukturellen gemeinsamen Basis von Sprache und Musik. Claudia Albert blickt in umgekehrter Richtung 15 Fritz Strich: Deutsche Klassik und Romantik oder Vollendung und Unendlichkeit. Ein Vergleich, Bern: Francke 1962. 16 Vgl. hierzu den Band: Literatur und Musik. Ein Handbuch zur Theorie und Praxis eines komparatistischen Grenzgebietes, Steven Paul Scher (Hg.); sowie den Band: Musik und Literatur; komparatistische Studien zur Strukturverwandtschaft, Albert Gier/Gerold W. Gruber (Hg.), Europäische Hochschulschriften: Reihe 36, Frankfurt/M.: Lang 1995. 17 Sabine Bayerl: Von der Sprache der Musik zur Musik der Sprache. Konzepte zur Spracherweiterung bei Adorno, Kristeva und Barthes, Würzburg: Königshausen & Neumann 2002. 14
EINLEITUNG
auf das Verhältnis von Musik und Literatur, wenn sie die »›Musik‹ in der deutschen und französischen Erzählprosa des 18. und 19. Jahrhunderts« unter dem Titel Tönende Bilderschrift beschreibt.18 Sie analysiert die Thematisierung von Musik durch die Schriftsteller der Romantik als ein ›unendliches Schreibprogramm‹, an dem sich die Sprache abarbeitet. In dem Kater Murr-Roman von Hoffmann sieht sie »musikalische Strukturen tatsächlich in literarische Formen umgesetzt [...]: Teilen die parallelen Lebensgeschichten des Katers und des Kapellmeisters das Thema Musik, so sind sie darüber hinaus in einer Weise ineinander verwoben, die Zweistimmigkeit, Kontrapunkt oder gar Polyphonie suggeriert«19. Die im Text selbst verwendete musikalische Terminologie wird als metaphorische Umschreibung der literarischen Verfahren interpretiert. Die komparatistische Arbeit Christine Lubkolls20 schildert ausgehend vom musikästhetische Diskurs und den Musikerzählungen um 1800 den Mythos des Musikalischen und arbeitet musikalische Gestaltungselemente als literarische Organisationsprinzipien heraus. Sie bezeichnet beispielsweise das Modell des ›Kontrapunkts‹ als das poetologische Prinzip der Hoffmann’schen Kreisleriana.21 Ihr Versuch gilt der direkten Übertragung musikalischer Formprinzipien auf die Textgestalt, wobei sie die punktuellen Schwierigkeiten des Transfers bemerkend von der »Faszinationskraft einer strukturellen Grundidee«22 spricht, diese jedoch nicht näher bestimmt. Die aufgedeckte Leerstelle dient vielmehr dazu, den Mythos des Musikalischen zu begründen. Ihr Anliegen ist es, weniger die Strukturen von Sprache und Musik zu erkunden und auf Gemeinsamkeiten zu überprüfen, was der Problemstellung der vorliegenden Arbeit entspräche, als vielmehr den Paradigmenwechsel innerhalb des Musikdiskurses um 1800, weg von der mimetischen Funktion der Musik hin zu einem freien Zeichenspiel, zu thematisieren und die Faszinationskraft dieser losgelösten Struktur als konstitutives Moment des Mythos zu bestimmen. Die Analyse Lubkolls gehört zum wissenschaftlichen Kontext der neu ausgerichteten Intertextualitätsforschung
18 Claudia Albert: Tönende Bilderschrift. ›Musik‹ in der deutschen und französischen Erzählprosa des 18. und 19. Jahrhunderts, Heidelberg: Synchron 2002. 19 Claudia Albert: Tönende Bilderschrift, S. 77. 20 Christine Lubkoll: Mythos Musik. 21 Ebd., S. 241. 22 Ebd., S. 227. 15
NAHTSTELLEN
und liefert wichtige Erkenntnisse auf dem komparatistischen Gebiet von Literatur und Musik.23
23 Weitere Studien, die diesem Forschungsgebiet angehören und somit für die Entwicklung der vorliegenden Arbeit von Relevanz sind, sollen an den entsprechenden Stellen angeführt werden. 16
TEIL I
DIE THEMATISIERUNG VON KUNST UND K Ü N S T L E R T U M I N E.T.A. H O F F M A N N S KREISLERIANA UND DEM ROMAN L E B E N S -A N S I C H T E N D E S K A T E RS M U R R
I. DIE THEMATISIERUNG VON KUNST UND KÜNSTLERTUM
D i e M u si k e r f i g u r J o h an n e s K r e i sl e r »Kapellmeister wie auch verrückter Musicus par excellence« (75)1, so benennt sich E.T.A. Hoffmanns Musiker-Figur Johannes Kreisler in seinem Brief an den Baron Wallborn in den Kreisleriana. Kreisler ist die Zentralfigur der Kreisleriana, die E.T.A Hoffmann 1814 und 1815 in den Sammelbänden Fantasiestücke in Callot’s Manier veröffentlichte. Die Figur des Kapellmeisters Kreisler war dem Publikum bereits aus Musikrezensionen und Zeitschriftenbeiträgen bekannt. Mit Hilfe seiner Kreisler-Figur gelingt es E.T.A. Hoffmann, Musik und Musikerexistenz zu Beginn des 19. Jahrhunderts zu thematisieren. In Rezensionen, Aphorismen, Briefen, kunsttheoretischen Aufsätzen, Beiträgen zu aktuellen musikästhetischen Fragen, aber auch in humorvollen, ironischen Anekdoten und autobiographischen Aufzeichnungen schildert der fiktive Autor der Kreisleriana-Stücke Johannes Kreisler seine Erfahrungen als Musiker in der bürgerlichen Gesellschaft. Er berichtet von Konzerterlebnissen und seiner Wahrnehmung von Musik, verarbeitet Vorurteile und Musikauffassungen, mit denen er konfrontiert wird und rechnet mit gesellschaftlichen Konventionen ab. Mit den Kreisleriana formuliert Hoffmann seine eigenen musikästhetischen Ansichten, seine Ideen und Gefühle, seine Kritiken und Theorien.2 Die Kreisleriana werden häufig als »Ouvertüre« zu dem Roman Lebens-Ansichten des Katers Murr gesehen, doch die Figur des Johannes Kreislers hat in ihren wesentlichen Zügen bereits in den Kreisleriana ihren endgültigen Charakter erreicht.3 Die Kreisleriana sind eine wichtige Voraussetzung für den Kater Murr-Roman, da sie Hoffmanns Kunstauffassung demonstrieren. Diese Informationen erleichtern das Verständnis einiger Anspielungen, Zusammenhänge und zentraler Motive im Kater Murr. Eine wichtige Ausformung erfährt der Affe Milo aus den Kreisleriana zum Kater Murr in den LebensAnsichten des Katers Murr. 1 2
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Alle in den Text dieser Arbeit eingefügten Seitenangaben beziehen sich auf E.T.A. Hoffmann, Kreisleriana, Stuttgart: Reclam 1983. Dass die Kreisler-Figur autobiographische Züge Hoffmanns trägt, ist allgemeiner Konsens der Forschung, vgl. z.B. Klaus-Dieter Dobat: Musik als romantische Illusion. Eine Untersuchung zur Bedeutung der Musikvorstellung E.T.A. Hoffmanns für sein literarisches Werk, Tübingen: Niemeyer 1984, S. 155 f. Vgl. Hanne Castein im Nachwort zu: E.T.A. Hoffmann, Kreisleriana, S. 151. 19
NAHTSTELLEN
Der Musiker und sein soziales Umfeld »Wo ist er her? – Niemand weiß es! – Wer waren seine Eltern? – Es ist unbekannt! – Wessen Schüler ist er? Eines guten Meisters [...]« (3). Kreislers Herkunft, seine Familie, sein Stand sind unbekannt, er wird ohne Biographie eingeführt und taucht als eine quasi »Unperson«, wie Manfred Momberger4 formuliert, in der bürgerlichen Gesellschaft auf. Indem Hoffmann auf eine biographische Festlegung der Kreislerfigur verzichtet, macht er sie »ortlos«. Kreislers Sonderrolle wird von vornherein als die des gesellschaftsexternen Künstlers definiert, was ihm als Musiker eine Autonomie gewährt, die sich auch in seinem Subjektivitätsbegriff und der Wahrnehmung seines sozialen Umfeldes widerspiegelt. Was wir über Kreislers Vergangenheit erfahren, beschränkt sich auf die Information, dass Johannes Kreisler als ein unsteter »schalkhafter« Geist, der, zu keinerlei Konformismus fähig, seine Stellung als Theaterdirektor verloren hat und sich deshalb nun gezwungen sieht, als Musiklehrer in bürgerlichen Häusern tätig zu sein und bei Gesellschaften als Begleiter und Unterhalter Klavier zu spielen. Die hier gesammelten Erfahrungen sind Gegenstand zahlreicher Anekdoten, die in den Kreisleriana beschrieben werden. In ironischem Ton werden das Philisterhafte, das Banausentum und der Dilettantismus geschildert, denen Kreisler begegnet und die er als seine »musikalischen Leiden« erlebt. Mit subtiler Ironie schildert Kreisler den Missbrauch, der »mit der herrlichen, heiligen Musika« (11) getrieben wird, wenn er die Gesangskünste der Damen bei einem abendlichen Diner in gutbürgerlichem Haus beschreibt: »Das Talent der Fräulein Röderlein ist wirklich nicht das geringste. Ich bin nun fünf Jahre hier und viertehalb Jahre im Röderleinschen Hause Lehrer; für diese kurze Zeit hat es Fräulein Nanette dahin gebracht, daß sie eine Melodie, die sie nur zehnmal im Theater gehört und am Klavier dann höchstens noch zehnmal durchprobiert hat, so wegsingt, daß man gleich weiß, was es sein soll. Fräulein Marie faßt es schon beim achten Mal, und wenn sie öfters einen viertels Ton tiefer steht, als das Piano, so ist das bei solch niedlichem Gesichtlein und den ganz leidlichen Rosenlippen am Ende wohl zu ertragen.«(8)
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Manfred Momberger: Sonne und Punsch. Die Dissemination des romantischen Kunstbegriffs bei E.T.A. Hoffmann, München: Wilhelm Fink Verlag 1986, S. 72. 20
I. DIE THEMATISIERUNG VON KUNST UND KÜNSTLERTUM
Mehr noch als unter dem Dilettantismus leidet Kreisler jedoch unter der Geringschätzung des Künstlertums und der Musik. »[...] neben dem Tee, Punsch, Wein, Gefrorenen etc. wird auch immer noch etwas Musik präsentiert, die von der schönen Welt wie jenes eingenommen wird« (7). Diese Konsumhaltung gegenüber der Kunst spiegelt die konventionelle Musikauffassung und die Distanz der Gesellschaft zur Musik wider. Kreisler wird mit einem Musikverständnis konfrontiert, das sich auf die Bewunderung von Fingerfertigkeit und Virtuosentum beschränkt und lediglich den hohen Unterhaltungswert von Musik zu schätzen weiß. Das Kreislerianum Gedanken über den hohen Wert der Musik ist eine Hommage auf dieses bürgerliche Verständnis vom eigentlichen »Zweck der Musik« (19). Während für Kreisler die Musik dem Menschen die Möglichkeit bietet, sein »höheres Prinzip« (23) erahnen zu können, er mit ihrer Hilfe »Himmelsbalsam in die Wunden gießt, welche alle Mißtöne des Tages« (13) ihm schlugen und in ihr das »Reich des Ungeheuern, des Unermeßlichen« (14) findet, braucht das breite Publikum die Kunst zur »angenehmen Unterhaltung und Zerstreuung« (21). Das Musizieren ist ein Prestigemittel und gehört zur guten Erziehung, »weshalb man denn in jedem Haus, das nur irgend etwas bedeuten will, ein Klavier, wenigstens eine Gitarre findet.« (19) »Ernste Männer« und »pflichtbewußte Damen« (22) genießen Musik jedoch nur passiv oder zur Zerstreuung als »Geistesdiät« (19), denn ihre eigentliche Aufgabe ist es, »ein nützliches Mitglied des Staates« (25) zu sein. Künstler, die »ihr ganzes Leben einem, nur zur Erholung und Zerstreuung dienenden Geschäft widmen«, haben deshalb keinen eigentlichen Wert für die Gesellschaft und sind lediglich »als ganz untergeordnete Subjekte zu betrachten« (23). Kreisler treibt die Aufzählung stereotyper Vorurteile und somit seine Selbstironie soweit, dass er das Künstlertum als eine unfreiwillige, sich aus familiären und gesellschaftlichen Gründen zwangsläufig ergebende Existenz rechtfertigt. Indem er auf die finanziellen Schwierigkeiten hinweist, gibt er zu bedenken, »daß beinahe kein Künstler es aus reiner, freier Wahl wurde, sondern sie entstanden und entstehen noch immer aus der ärmeren Klasse. Von unbegüterten Eltern oder wieder von Künstlern geboren macht sie die Not, die Gelegenheit, der Mangel an Aussicht auf ein Glück in den eigentlich nützlichen Klassen zu dem, was sie wurden.« (24 f.) In dieser Polemik spiegeln sich autobiographische Erlebnisse wider. Hoffmann schildert hier eigene Erfahrungen in der bürgerlichen Gesellschaft und thematisiert seine permanenten Geldsorgen. Kulturelle Klischees und stereotype Meinungsbilder werden 21
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bei E.T.A. Hoffmann überpointiert dargestellt und mit geheucheltem Verständnis für die Musikauffassung des Bildungsbürgertums wird zynisch bestätigt, »daß die Musik eine herrliche, nützliche Erfindung des aufgeweckten Tubalkain sei, welche die Menschen aufheitere, zerstreue, und daß sie so das häusliche Glück, die erhabenste Tendenz jedes kultivierten Menschen, auf eine angenehme, befriedigende Weise befördere.« (26) Die Unvereinbarkeit der bürgerlichen Welt mit der des Künstlers wird in dem Kreislerianum Nachrichten von einem gebildeten jungen Mann durch die Figur des Affen Milo mit besonderer Schärfe thematisiert. Indem das Tier das menschliche Verhalten nachahmt, nach Bildung und Anerkennung strebt und sich bürgerliche Wertvorstellungen und Konventionen zu eigen macht, verkörpert es das »höchstkultivierte Genie« (92) und die Ideale des Bürgertums. Doch gelegentlich kommt das Animalische in ihm durch, und der Affe Milo verfällt in seinen »ehemaligen rohen Zustand« (93). Das Tier im Bildungsbürger wird entlarvt und die Philosophie der Aufklärung in ihrem Glauben an die unbegrenzte Bildbarkeit des Menschen verspottet.5 Aus der Perspektive des Tieres, das uneingeschränkt an die Konventionen des Bildungsphilisters glaubt, stellt sich die Kunst als ein Handwerk der Fingerfertigkeit dar, der wahre künstlerische Wert, dem Anerkennung gebührt, ist das Virtuosentum. Zudem dient die Kunst dem Künstler dazu, gesellschaftliches Ansehen und Erfolg zu erreichen und eine Quelle der »inneren Ruhe und Behaglichkeit« (93) zu sein. Dieser Vorstellung von unkomplizierter Selbstbestätigung, von materiellem Erfolg, »höchster Selbstzufriedenheit« (92) und einem puren Lustgewinn für den Künstler, stehen Kreislers Erfahrungen und seine Art des Kunsterlebens konträr gegenüber. Seine innere Zerrissenheit zwischen der Welt und der Kunst, sein Zwiespalt von Wahnsinn und Musik, sein Kampf mit den zwei unvereinbaren Prinzipien des »Höheren« und des »Irdischen«, dem Unendlichen der Musik und dem Endlichen der Welt kennt nichts von dieser Harmonie. In dem Roman Lebens-Ansichten des Katers Murr wird die Perspektive des Affen Milo auf den Kater Murr übertragen und zu einer eigenen Biographie ausgestaltet. Murr verkörpert das Philistertum der bürgerlichen Gesellschaft. Er ist ebenso naiv und selbstgefällig wie Milo und sein vermeintliches Künstlertum wird durch Eitelkeit und Bequemlichkeit begründet. Obwohl die Murr-Geschichte äußerlich ei5
Vgl. Hartmut Steinecke im Nachwort zu: E.T.A. Hoffmann, LebensAnsichten des Katers Murr, Stuttgart: Reclam 1972, S. 503. 22
I. DIE THEMATISIERUNG VON KUNST UND KÜNSTLERTUM
nen der Kreisler-Biographie vergleichbaren Künstlerroman darstellt, ist Murr jedoch der Antipode zu Kreisler. Er ist anpassungsfähig und lebt in Harmonie mit der bürgerlichen Gesellschaft. Kreisler hingegen ist der kompromisslose, authentische, romantische Künstler, der mit seiner unkonventionellen Persönlichkeit keinen Anschluss in der feudalen Welt findet. Die parodistischen Anekdoten aus den Kreisleriana werden zur Satire der höfischen Gesellschaft. Hoffmann stellt das Unzeitgemäße und Unwirkliche des höfischen Lebens dar und parodiert die Scheinhaftigkeit und das Festhalten an sinnentleerten, tradierten Formen und gesellschaftlichen Konventionen. Die Rolle der Musik am Hof ist ähnlich der in den bürgerlichen Häusern. Sie hat »im gemütlichen Zirkel, wo freundliche Unterhaltung obenanstehen soll«6 der Zerstreuung und des Amüsements zu dienen. Für Kreisler ist das Wesen der Musik die seelische Bewegung und die Darstellung des ›höheren Prinzips‹ und dementsprechend musiziert und komponiert er auch. Doch diesem Anspruch an die Musik folgt die höfische Gesellschaft nicht. Nachdem er und Julia, die Tochter der Rätin Benzon, die Kreisler durch ihren Gesang betört, ein von ihm stammendes, äußerst bewegendes Abschiedsduett gesungen haben, reklamiert die Prinzessin Hedwiga, »daß man da extravagante Sachen auftischt, die das Innere zerschneiden, deren gewaltsamen zerstörenden Eindruck man nicht verwinden kann«.7 Von seiner sozialen Umwelt wird Kreisler als Außenseiter behandelt, sie gestattet ihm »keine Freistatt, kein Plätzchen gönnt [sie, M.B.-A.] ihm auf dieser Erde«, so beschreibt Meister Abraham in dem Kater Murr-Roman Kreislers exponierte Stellung in der Gesellschaft: »Seht, der Kreisler trägt nicht eure Farben, er versteht nicht eure Redensarten, der Stuhl den ihr ihm hinstellt damit er Platz nehme unter euch, ist ihm zu klein, zu eng; ihr könnt ihn gar nicht für eures gleichen achten, und das ärgert euch. Er will die Ewigkeit der Verträge, die ihr über die Gestaltung des Lebens abgeschlossen, nicht anerkennen, ja er meint, daß ein arger Wahn, von dem ihr befangen, euch gar nicht das eigentliche Leben erschauen lasse, und daß die Feierlichkeit mit der ihr über ein Reich zu herrschen glaubt, das euch unerforschlich, sich gar spaßhaft ausnehme, und das alles nennt ihr Verbitterung. Vor allen Dingen liebt er jenen Scherz, der sich aus der tiefern Anschauung des 6
7
E.T.A. Hoffmann: Lebens-Ansichten des Katers Murr, S. 144. Im Folgenden wird diese Literaturangabe mit »Kater Murr-Roman« abgekürzt werden. Kater Murr-Roman, S. 144. 23
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menschlichen Seins erzeugt und der die schönste Gabe der Natur zu nennen, die sie aus reinsten Quellen ihres Wesens schöpft. Aber ihr seid vornehme ernste Leute, und wollet nicht scherzen – Der Geist der wahren Liebe wohnt in ihm doch vermag dieser ein Herz zu erwärmen, das auf ewig zu Tode erstarret ist, ja in dem niemals der Funke war, den jener Geist zur Flamme aufhaucht? Ihr möget den Kreisler nicht, weil euch das Gefühl des Übergewichts, das ihr ihm einzuräumen gezwungen, unbehaglich ist, weil ihr ihn, der Verkehr treibt mit höheren Dingen als die gerade in euren engen Kreis passen, fürchtet.«8
Kreisler bleibt ein unverstandener Fremdling in der sozialen Welt. Während er in den Kreisleriana zu einer Selbsterkenntnis »Ich wie Du« gelangt und der Lehrbrief einen optimistischen Ausblick auf eine Zeit enthält, in der »Kreisler auf seine eigene Weise in der Welt herumhantieren« (116) wird, bleibt Kreisler im Murr-Roman zerrissen. Als eine exzentrische Persönlichkeit kann und will Kreisler sich nicht gesellschaftlich integrieren und bleibt im Widerspruch mit seinem sozialen Umfeld. Eine Harmonie zwischen seinen Träumen und der Außenwelt, ein Einklang von innerer musikalischer Seligkeit und dem gewöhnlichen Leben gelingt ihm nicht.9
Der Künstler als (krankes) Genie Johannes Kreisler wird als ein lebhafter, unberechenbarer, nervöser, mit einer blühenden, »aufglühenden Phantasie« (3) ausgestatteter Charakter geschildert. Seine Freunde behaupten, »die Natur habe bei seiner Organisation ein neues Rezept versucht und der Versuch sei mißlungen« (3), seinem »überreizten Gemüte« (3) sei »zuwenig Phlegma beigemischt und so das Gleichgewicht zerstört worden« (4). Kreisler fehlt Phlegma, ihm fehlt die nötige Erdgebundenheit und Realitätsnähe, er lebt aus der »zerstörenden Flamme der Fantasie«. Die Nähe zum Irdischen fehlt ihm schon durch sein unvermitteltes Auftreten zu Beginn der Kreisleriana. Durch das ebenso unerklärliche und plötzliche Verschwinden bekommt die Figur des Kreislers eine weltflüchtige, geheimnisvoll mystische Facette. Mit diesen Charaktereigenschaften des Unsteten und der Instabilität und den Phänomenen des Verschwindens und des Flüchtigen, die für das Konzept der Kreisler8 9
Kater Murr-Roman, S. 248. Vgl. Brigitte Feldges/Ulrich Stadler: E.T.A Hoffmann: Epoche – Werk – Wirkung, München: Beck 1986, S. 233 ff. 24
I. DIE THEMATISIERUNG VON KUNST UND KÜNSTLERTUM
Figur konstitutiv sind, beschäftigte sich Robert Schumann, wenn er schrieb: »Das Merkmal unserer Zeit ist das Unstäte, die Flucht u. Jagd aller Ideen, Träume, Meinungen, Glauben.«10 Mit dem literarischen Motiv des Verschwindens und des Weltflüchtigen nimmt Hoffmann ein Lebensgefühl der Romantiker auf. Neben manisch-depressiven Zügen (vgl. 4) werden Kreisler auch »Spuren des Wahnsinns« (5) nachgesagt. Das soziale Umfeld nimmt Kreisler als ein Original wahr, das in seiner eigenen, abgeschlossenen Welt lebt, das seine Individualität in Opposition zu gesellschaftlichen Konventionen stellt und somit den Inbegriff des Genies darstellt. Kreislers gesteigerte Individualität steht im Gegensatz zu allem Kalkulierbaren, allem Normier- und Vergleichbaren und entspricht in keiner Weise den Erwartungen der Gesellschaft:11 »Schon lange galt der arme Johannes allgemein für wahnsinnig, und in der Tat stach auch sein ganzes Tun und Treiben, vorzüglich sein Leben in der Kunst, so grell gegen alles ab, was vernünftig und schicklich heißt, daß an der inneren Zerrüttung seines Geistes kaum zu zweifeln war.«(63) Insbesondere seine Fähigkeit zur synästhetischen Wahrnehmung kennzeichnet das Geniale oder den (vermeintlichen) Wahnsinn Kreislers. So begründet er seine bevorstehende Flucht mit »der unglücklichen Liebe einer Nachtigall zu einer Purpurnelke, das Ganze sei aber (meinte er) nichts als ein Adagio und dies nun wieder ein einziger, ausgehaltener Ton Juliens, auf dem Romeo in den höchsten Himmel voll Liebe und Seligkeit hinaufschwebe.« (63) Die »Übereinkunft von Farben, Tönen und Düften« (39) taucht immer wieder in Kreislers Beschreibungen von Sinneseindrücken auf. Synästhesie gilt ihm als das Phänomen wahren Musikertums, denn dem Musiker wird »das Sehen ein Hören von innen« (123), aus allem, was sein Auge erfasst, ertönt Musik. Die Schilderung der Begegnung mit Baron Wallborn sei hierfür exemplarisch angeführt. Kreisler nimmt diese Begegnung äußerst intensiv wahr und beschreibt sie mit Akkorden, Intervallen und Tonarten. Gesten werden zu Akkordwechseln, Harmonien, Tonarten und Rhythmus stehen symbolisch für die Charaktere und Eigenschaften, 10 Robert Schumann, Tagebücher, Bd. 1, Georg Eismann (Hg.), Basel, Frankfurt 1971, S. 310, hier zitiert aus: Barbara Meier, Robert Schumann, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1995, S. 34. 11 Vgl. Gerhard Plumpe: Epochen moderner Literatur, Opladen: Westdeutscher Verlag 1995, S. 82. Vgl. auch zum Begriff der »Subjektivität« in der Romantik und zum Genie-Begriff Gerhard Plumpe, Epochen moderner Literatur, S. 80 ff. 25
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für Stimmungen, für Übereinkunft oder Diskrepanz der Gesprächspartner: »Als heute im Theater eine kräftige, jugendliche Gestalt in Uniform, das klirrende Schwert an der Seite, recht mannlich und ritterhaft auf mich zutrat, da ging es so fremd und doch so bekannt durch mein Inneres, und ich wußte selbst nicht welch sonderbarer Akkordwechsel sich zu regen und immer höher und höher anzuschwellen anfing. Doch der junge Ritter gesellte sich immer mehr und mehr zu mir, [...] – der wilde Akkordwechsel zerfloß in zarte Engelsharmonien, die gar wunderlich von dem Sein und Leben des Dichters sprachen, und nun wurde mir, da ich, wie Ew. Hoch- und Wohlgeboren versichert sein können, ein tüchtiger Praktikus in der Musik bin, die Tonart, aus der das Ganze ging, gleich klar. [...] Als ich einige Ausweichungen versuchte und als meine innere Musik lustig und sich recht kindisch und kindlich freuend in allerlei munteren Melodien, ergötzlichen Murkis und Walzern hervorströmte, da fielen Ew Hochund Wohlgeboren überall in Takt und Tonart so richtig ein, dass ich gar keinen Zweifel hege, wie Sie mich auch als den Kapellmeister Johannes Kreisler erkannt und sich nicht an den Spuk gekehrt haben werden, den heute abend der Geist Droll nebst einigen seiner Konsorten mit mir trieb.« (72)
Tonarten spielen für Kreisler in der Wahrnehmung eines anderen Menschen eine große Rolle. Jeder Charakter besitzt seine eigene Tonart, die seiner Persönlichkeit entspricht bzw. seine individuellen Eigenschaften repräsentiert. Kreislers Natur ist jedoch nicht auf eine Tonart festgelegt. Durch andere »Vorzeichnung«, durch veränderte Vorzeichen also, wechselt er seine Tonart und somit seine Identität, aus dem Kapellmeister Kreisler wird Doktor Schulz aus Rathenow (73). Der Tonartwechsel ermöglicht ihm einen Charakterwechsel, er veranstaltet ein Maskenspiel. Mit Kreislers Synästhesie werden musikalische Gesetzmäßigkeiten auf soziale Kontexte bezogen. Wenn sich das Fortgehen des Publikums am Ende eines Konzertes beispielsweise »an dem Zischeln, Scharren, Räuspern, Brummen durch alle Tonarten« (5) bemerkbar macht, ist dieser »Gang durch alle Tonarten« eine metaphorische Parallele zur Kadenz am Ende eines Musikstückes, auch hier wird noch einmal durch die Tonarten geführt bis der Schlussakkord auf der Tonika, also der Grundtonart des Stückes endet. Auch die »unaufgelösten Dissonanzen«, die nach einem Gespräch stehen bleiben und als »schlangenzüngige Septimen« in eine »lichte Welt freundlicher Ter26
I. DIE THEMATISIERUNG VON KUNST UND KÜNSTLERTUM
zen« (71) übergehen wollen, beschreiben die Wahrnehmung menschlicher Kommunikation mit Hilfe der symbolisch verwendeten Musikterminologie. Mit den »schlangenzüngigen Septimen« (71), dem Spuk der Noten, die »wie kleine schwarze, vielgeschwänzte Teufelchen« (74) empor springen oder mit der »übermäßigen Quinte« als Mordwaffe bricht Hoffmann mit dem Stereotyp der sentimentalen Musikbeschreibung und verwendet eine mystisch dämonische Musik-Symbolik. Einer außergewöhnlichen Variante von synästhetischem Erleben entspricht Kreislers Schilderung eines Kleides, »dessen Farbe in cis-Moll geht« und das einen »Kragen aus Es-Dur-Farbe« (73) trägt. Der Musiker Kreisler erlebt sich als eine Integrationsfigur zweier opponierender Welten, einer musikalischen, metaphysischen und einer irdisch menschlichen Welt, er trägt beide in sich, doch ihre Vermittlung gelingt ihm nicht. Die Melodie, als die Empfindung höchster Seligkeit und als »höhere Sprache des Geisterreichs« (122), wohnt in ihm, in seiner »menschlichen Brust« und bleibt doch für sich isoliert, denn der »Geist versteht nur die Sprache des Geistes« (111) und findet »im Irdischen keinen Ausdruck« (101): »[...] die Musik bleibt allgemeine Sprache der Natur, in wunderbaren, geheimnisvollen Anklängen spricht sie zu uns, vergeblich ringen wir danach, diese in Zeichen festzubannen, und jenes künstliche Anreihen der Hieroglyphe erhält uns nur die Andeutung dessen, was wir erlauscht.« (124) Den Versuch der Notation und des Aufschreibens, des Übersetzens von tief empfundener Musik in die kommunikativen Strukturen des Irdischen, der menschlichen Welt versteht der Künstler als eine Bedrohung seiner Identität. »Unser Reich ist nicht von dieser Welt, sagen die Musiker« (122) und durch den Eintritt in die gesellschaftliche Kommunikation verlieren sie den Kontakt zum »Geisterreich der Musik« und können nicht mehr authentisch bleiben.12 Das nötige Gleichgewicht, um mit dem Irdischen in Kontakt zu treten, »mit der Welt zu leben und ihr Werke zu dichten, wie sie dieselben, selbst im höhern Sinn, eigentlich brauch[t]« (4), fehlt Kreisler. Besäße er das geforderte Gleichgewicht, wäre er kein (genialer) Musiker. Erst im Außen der Gesellschaft, als gesellschaftsexternes Subjekt, kann er die »Anregungen des Musikers, das Entstehen der Melodien im Inneren, das bewußtlose oder vielmehr das in Worten nicht darzulegende Erkennen und Auffassen der geheimen Musik der Natur« (123) verspüren, nur dort existieren seine synästhetischen Wahrnehmungen,
12 Vgl. Gerhard, Plumpe: Epochen moderner Literatur, S. 83. 27
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dort erlebt er das Reich der Melodien und dort findet er seine autonome »Identität«. Die Nähe zum Wahnsinn deutet sich nicht nur in Kreislers synästhetischen Wahrnehmungen an, sondern macht sich auch in seinem Verhalten und seinen Handlungen bemerkbar. So kommt es vor, dass er »einige besondere Gesichter zu schneiden« pflegt (72) oder, wie im Kater Murr-Roman beschrieben, »zu den Sprüngen des St. VeitsTanzes«13 gezwungen wird. Das wilde, unheimliche Lachen, die Faxen, Sprünge und Grimassen, die er vollzieht, sind immer Ausdruck seines Zwiespalts zwischen seinem Inneren und der Außenwelt. Kreislers Verhalten lässt ihn für wahnsinnig erscheinen, doch letztendlich sind es keine krankhaften Äußerungen eines Irren, sondern vielmehr Schutzmechanismen, über die er sein Gefühl der Zerrissenheit abreagiert und die ihn vor dem Zerbrechen und einem realen Wahnsinn schützen.14 Von sich selbst behauptet er, dass ihn »Musik halb verrückt« mache bzw. in »wahnsinnige Exaltationen« (95) treiben könne, was sich unter anderem in seiner Art des Phantasierens am Klavier äußert. In dem Kreislerianum Kreislers musikalisch-poetischer Klub steigert Kreisler sich derart emphatisch in seine Klavier-Improvisation, dass er sich vom Teufel verfolgt glaubt und seinen eigenen Wahn erkennend ausruft: »Es ist der Wahnsinn – Johannes, halte dich tapfer.« (79) und mit einem Zug von Selbstironie diagnostiziert er: »[...] allein die Kaiser und Könige im Irrenhause mit der Strohkrone auf dem Haupt sind auch glücklich.« (24)15
D a s F a s z i n a ti o n s m o m e n t d e r K r e i s l e r - F i g u r : R o b e r t S c hu m an n u n d d a s K o n z ep t ei n e s K r e i sl e r i a n u m s Hoffmanns Darstellung von Musik und Musikertum spiegelt ein Lebensgefühl der romantischen Künstler wider. Er verarbeitet die komplizierte Bewusstseinstruktur der Romantiker auf eine humoristische 13 Kater Murr-Roman, S. 71. 14 Vgl. Brigitte Feldges/Ulrich Stadler: E.T.A Hoffmann: Epoche-WerkWirkung, S. 234. 15 Zum medizinischen Diskurs in der Literatur um 1800 und zur Thematisierung des Kranke[n] (Künstlers) in der Gesellschaft vgl. Friedhelm Auhuber, In einem fernen dunklen Spiegel. E.T.A. Hoffmanns Poetisierung der Medizin, Opladen: Westdeutscher Verlag 1986. 28
I. DIE THEMATISIERUNG VON KUNST UND KÜNSTLERTUM
aber durchaus ernst gemeinte Weise. Die poetischen Musikrezensionen und Hoffmanns Art der Musik-Beschreibung machen seinen literarischen Stil insbesondere für einen romantischen Musiker wie Robert Schumann interessant. Welche möglichen Faszinationsmomente es gegeben haben möge, die Robert Schumann als Menschen, Musiker und Komponisten angesprochen haben, soll im Folgenden anhand von Parallelen zwischen Kreisler bzw. Hoffmann und Schumann herausgearbeitet werden. Hierbei kann es sich jedoch lediglich um Vermutungen handeln, da keine Zeugnisse von Schumann bezüglich seiner Rezeption der Hoffmann’schen Kreisleriana existieren. Dass eine intensive Auseinandersetzung mit Hoffmann und den »Leiden des Kapellmeisters Kreisler« stattgefunden hat, geht aus der Information hervor, dass Schumann eine »poetische Biographie« E.T.A. Hoffmanns plante und sich mit dem »Leiden an der Gegenwart« des Johannes Kreislers identifizierte.16 Robert Schumann lebte Zeit seines Lebens in innerer Zerrissenheit sowie in einem Kampf mit sich und der Welt und wurde ständig von einer unbestimmten Angst vor der Zukunft geplagt.17 Als Musiker und Komponist umstritten, kannte er nicht die Selbstzufriedenheit, den Erfolg und Ruhm und das Gefühl von innerer Harmonie eines Milo oder Murr. Die Erfahrung, dass der Künstler kein »nützliches Kammrad in der Walkmühle des Staates« (19) ist und meistens in finanziellen Schwierigkeiten steckt, teilt Schumann mit E.T.A. Hoffmann. Wenn er auch nicht in die Zwangslage kam, Klavierlehrer und Unterhaltungsmusiker sein zu müssen, so kannte er dennoch finanzielle Not und das Leiden am Dilettantismus und Banausentum der musizierenden Bürgerlichen. Der Davidsbund, eine letztlich mehr imaginär als real existierende Verbindung, der Schumann angehörte, war eigens als eine Kampfansage gegen die Mittelmäßigkeit des bürgerlichen Kulturbetriebs und gegen das »Philistertum« gegründet worden. Außerdem wollte der Bund der sozialen Isolierung des Künstlers entgegenwirken und auf die Degradierung des Künstlertums reagieren.18 Das Leitwort des ersten Heftes der Neuen Zeitschrift für Musik, deren Herausgeber Schumann war, spricht ebenfalls vom »Kampf gegen das Philistertum, gegen all das, was der großen Kunst der Zukunft in ästhetischer und ideologischer Bedeutung entgegensteht: Kampf gegen
16 Vgl. Barbara Meier, Robert Schumann, S. 64. 17 Vgl. ebd., insbes. S. 121 ff. 18 Vgl. Barbara Meier: Robert Schumann, S. 42 f. 29
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die Talentlosen!«19 Schumann wird politisch, er greift offensiv auf, was Hoffmann in humorvolle Ironie verpackt thematisiert. Wenn in den Kreisleriana den Eltern geraten wird, »daß die Kinder, sollten sie auch nicht das mindeste Talent zur Kunst haben [...] doch zur Musik angehalten werden« (22) sollten, entspricht diese ironisch verschlüsselte Kritik der Auffassung Schumanns, man müsse gegen den zunehmenden Dilletantismus vorgehen, ist jedoch wesentlich liebevoller formuliert als in dem oben zitierten Leitwort. Der Begriff des »untergeordneten Subjekts« aus den Kreisleriana scheint in enger Beziehung zu Schumanns Menschenscheue zu stehen. Kreislers Gebrauch des »untergeordneten Subjekts« bezieht sich auf die ironisch dargestellte Position des Künstlers in der gesellschaftliche Hierarchie, er meint hier die soziale Sonderrolle des Musikers, die allgemeine Respektlosigkeit gegenüber seiner Ästhetik, seinen Gefühlen und Bedürfnissen und das Unverständnis für ihn als Künstler, wie er es z.B. in dem Stück Der Musikfeind beschreibt. Durch den ohnehin schwierigen gesellschaftlichen Stand des Künstlers und dessen soziale Isolation, wird Schumanns Wesenszug einer persönlichen Kommunikationsschwäche noch bestärkt. Schumann klagte immer wieder unter »Mißbehagen in Gesellschaft«, wo er sich »stumpf« und »steif«20 vorkam und sein Dasein als eine »Sub-jekt«- Existenz fristete. »Von jeher hatte er die fixe Idee, daß der Wahnsinn auf ihn lauere«21, wird im Kater Murr-Roman über Johannes Kreisler berichtet. Über die »fixe Idee, [...] wahnsinnig zu werden«22 klagt auch Robert Schumann. Sein Leben lang kannte er die Angst, dem Wahnsinn zu verfallen. Bedingt durch eine chronisch psychiatrische Krankheit hatte er Phasen von Melancholie, zeigte phobische Reaktionen und litt unter »Nervenschwäche«.23 Neben der manisch-depressiven, überreizten Persönlichkeit und dem Hang zum Wahnsinn, treffen noch weitere Charakterzüge und Eigenschaften der Kreisler-Figur auf Schumann zu. Kreisler nimmt sich beispielsweise als Doppelcharakter wahr, wenn es heisst »[...] und so unterschreibe ich mich denn – Ich wie Du« 19 Robert Schumann, in: Neue Zeitschrift für Musik, zitiert nach: Norbert Linke, Gustav Kneip (Hg.), Zur Aktualität romantischer Musik, Wiesbaden: Wilhelm Fink Verlag 1978. 20 Barbara Meier: Robert Schumann, S. 39. 21 Kater Murr-Roman, S. 163. 22 Robert Schumann, Tagebücher , Bd. 1, S. 419, zitiert in: Barbara Meier, Robert Schumann, S. 40. 23 Vgl. Gerhard Böhme: Medizinische Porträts berühmter Komponisten, Bd. 2, Stuttgart, New York: Fischer u.a. 1987, S. 115. 30
I. DIE THEMATISIERUNG VON KUNST UND KÜNSTLERTUM
(125) oder andere Maskenspiele treibt. Die Faszination des Karnevalistischen, des Verkleidens, des Wechselns von Masken und Identitäten äußert sich auch in Schumanns Klavierkompositionen, hier spielt er häufig mit musikalischen Doppeldeutigkeiten und Uneindeutigkeiten, arbeitet mit Überraschungen, lässt harmonische Zusammenhänge ungeklärt, offen oder ungelöst stehen und betont diesen Charakter seiner Klavierwerke durch Titel wie Carnaval, Davidsbündlertänze oder Faschingsschwank aus Wien. Das Phänomen des Doppelcharakters fasziniert ihn einerseits und ist andererseits Teil seiner Persönlichkeit. Schumann erlebt den Zwiespalt tatsächlich, wenn er unter Gehörshalluzinationen leidend »gute« und »böse« Geister um sich zu hören glaubt. Diese innere Gespaltenheit in gute und böse Stimmen ist Anzeichen für seine Schizophrenie, die später als ein Moment seiner psychiatrischen Krankheit diagnostiziert wird.24 Schumanns Vorliebe für das Polyperspektivische äußert sich nicht nur in seiner Musik, sondern trägt auch zu seiner Erfindung der Künstlercharaktere des aufbrausenden, temperamentvollen Florestan, des lyrisch sanften, melancholischen Eusebius und des zwischen beiden vermittelnden Meister Raro, für dessen Namen Schumann ein Silbenspiel mit Clara und Robert treibt.25 Diese Charaktere sind Ausdruck eines Spiels mit Masken, sie ermöglichen es Schumann, sich aus unterschiedlichen Perspektiven mit gegensätzlichen Charaktereigenschaften und konträrem Temperament zu einem Sachverhalt zu äußern. Ähnlich wie Hoffmann mit Hilfe seiner Kreisler-Figur in den Kreisleriana und unter Verwendung unterschiedlicher literarischer Formen die Darstellungen variiert, gestaltet auch Schumann seine Zeitungsartikel. Seine Musikkritiken sind narrative oder novellistische Interpretationen, Satiren und Aphorismen sowie fiktive Briefe der Phantasiegestalten Eusebius, Florestan und Meister Raro. Diese literarisch gestalteten Rezensionen zeigen Schumanns schriftstellerische Fähigkeiten und sein ständiges Bestreben, Musik und Literatur in seinem Leben zu verbinden. Schon zu Schulzeiten gründete er ein Jugendorchester und einen literarischen Verein und organisierte »musikalischdeklamatorische Abendunterhaltungen«26, die an den »musikalischpoetischen Klub« Johannes Kreislers sowie an den vielseitig talentierten, künstlerisch, literarisch und musikalisch begabten E.T.A. Hoffmann erinnern. Schumann konnte sich lange Zeit nicht entscheiden, in 24 Vgl. ebd., S. 106 u. 112. 25 Vgl. Martin Geck: Von Beethoven bis Mahler, S. 143. 26 Vgl. Barbara Meier: Robert Schumann, S. 11. 31
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welchem Medium er seinem künstlerischen Ausdrucksbedürfnis nachkommen sollte, ob als Schriftsteller in der Literatur oder als Musiker und Komponist in der Musik. Sein Lebensgefühl glich wohl häufig dem des »musikalisch-poetischen Laboratoriums« (12) Johannes Kreislers bzw. der Vielseitigkeit des Schriftstellers und Komponisten E.T.A. Hoffmann. Eine ganz besondere Möglichkeit der Identifikation bietet die Kreisler-Figur für Schumann in ihrer Art des Improvisierens und Phantasierens am Klavier. Kreisler spielt gerne Stücke von Bach, denn z.B. die »kontrapunktischen Verschlingungen« der Goldberg-Variationen faszinieren ihn. Diese Bewunderung für die Musik Bachs teilt Schumann. Er beschäftigt sich viel und intensiv mit dessen Kompositionstechnik und studiert Bachs Fugen und Kontrapunkt.27 Die verträumte »Spielerei des Akkordsuchens« (98), das Lauschen auf den Nachklang der Harmonien und das Suchen nach »viel Ausdruck und Zusammenhang« (120) ist eine beliebte Beschäftigung Kreislers. Sein Phantasieren am Klavier wird in dem Stück Der Musikfeind ausführlich beschrieben: »Einen vorzüglichen Grund, [...] nahm meine Tante aus dem Umstande her, daß ich oft, wenn der Vater zufällig den Flügel nicht zugeschlossen, ich mich stundenlang damit ergötzen konnte, allerlei wohlklingende Akkorde aufzusuchen und anzuschlagen. Hatte ich nun mit beiden Händen drei, vier, ja wohl sechs Tangenten gefunden, die, auf einmal niedergedrückt, einen gar wunderbaren, lieblichen Zusammenklang hören ließen, dann wurde ich nicht müde, sie anzuschlagen und austönen zu lassen. Ich legte den Kopf seitwärts auf den Deckel des Instruments; ich drückte die Augen zu; ich war in einer andern Welt; aber zuletzt mußte ich wieder bitterlich weinen, ohne zu wissen, ob vor Lust oder vor Schmerz.« (97)
Eine solche subtile Schilderung einer individuellen Erlebnisweise des Klavierspiels findet sich auch in einem Essay von Martin Geck wieder. Dieser Aufsatz steht in dem Kontext einer kurzen Biographie Robert Schumanns und ist betitelt mit Komponieren am Klavier.28 Geck umschreibt hier seine beim Hören der Toccata op. 7 geweckte Assoziation mit der Szene »Schumann daheim am Klavier: unter Spannung seinen Ausdruck suchend.«29 Die Affinität zu dem schöpferischen, 27 Vgl. ebd., S. 100 ff. 28 Martin Geck: »Komponieren am Klavier«, in: Ders., Von Beethoven bis Mahler, S. 139-142. 29 Martin Geck: Von Beethoven bis Mahler, S. 142. 32
I. DIE THEMATISIERUNG VON KUNST UND KÜNSTLERTUM
emotionalen Klavierspiel in den Hoffmann’schen Kreisleriana spiegelt sich auch in dem Zitat Schumanns wider: »Wer hätte nicht einmal in der Dämmerungsstunde am Clavier gesessen (ein Flügel scheint schon zu hoftonmäßig) und mitten im Phantasieren sich unbewußt eine leise Melodie dazu gesungen?«30 Zahlreiche Einzelheiten, aber auch wesentliche Charaktereigenschaften der Figur des Kapellmeisters Kreisler, weisen Parallelen zu dem Lebensgefühl Robert Schumanns auf, so dass eine Faszinationskraft des Hoffmann’schen Kreislerianums verständlich und nachvollziehbar erscheint.
30 Robert Schumann: Neue Zeitschrift für Musik, 1835, zitiert in: Martin Geck, Von Beethoven bis Mahler, S. 140. 33
T E I L II
DIE
WIDERSPIEGELUNG KÜNSTE: MIMESIS IM KONZEPT DES K R E I S L E R I A N U M S B E I E.T.A. H O F F M A N N R O B E R T S C H U MA N N WECHSELSEITIGE
DER UND
II. DIE WECHSELSEITIGE WIDERSPIEGELUNG DER KÜNSTE
Musikbeschreibung und Musikevokation in E . T . A . H o f f m a n n s K r e i s le r i an a Mit Hilfe seiner literarischen Figur des Musikers Johannes Kreisler als einem mit den Worten Mittenzweis »wortkünstlerischem Ersatz«1 für die musikalischen Phantasien und Vorstellung des Autors, sucht Hoffmann den musikalischen Ausdruck zu umschreiben und widerzuspiegeln. Er betreibt eine poetische Reflexion von musikalischen Erlebnissen, bedient sich metaphorischer Vergleiche, formuliert MusikEvokationen und macht sogar den Versuch, seine Texte zu ›musikalisieren‹. Indem er die Musik in seinen Kreisleriana jedoch über alles Irdische erhebt, prägt er auch gleichzeitig den romantischen Unsagbarkeitstopos, die ›Unsagbarkeit‹ von Musik. Er stellt die Musik als ein selbstständiges, autonomes Kommunikationssystem dar, das sich im Grunde allem weltlichen Ausdruck entzieht. Musik ist »die Seligkeit, welche sich über das Irdische hebt und daher auch im Irdischen keinen Ausdruck zu finden vermag« (101). Hinsichtlich der Charakterisierung und Beschreibung Beethovenscher Musik kommt der in den Kreisleriana enthaltenen Rezension der 5. Symphonie Beethovens eine besondere Bedeutung zu. Aufgrund der neuartigen, poetischen Art der Musikkritik und der Begriffsbestimmung des romantischen Wesens Beethovenscher Musik als einer »(rein) romantischen« Kunst, liefert diese Besprechung einen zentralen Beitrag zur ästhetischen Revolution der Romantik. Die ursprüngliche Fassung, die als Rezension der 5. Symphonie Beethovens 1810 in der Leipziger Musikalischen Zeitung erschien, war wesentlich umfangreicher als das vorliegende Kreislerianum.2 Für die Fantasiestücke in Callots Manier kürzte Hoffmann die technisch-harmonische Analyse und den musiktheoretischen Teil der Rezension, der den Konventionen einer herkömmlichen Musikkritik entsprach, so dass das Stück, wie es in den Kreisleriana abgedruckt ist, eine ausschließlich poetische Besprechung der Symphonie darstellt. Zwar ist auch hier noch der Musiker und Komponist Hoffmann herauszuhören, wenn z.B. von »Modulationen« oder »dem dominanten Akkorde Dur – den der Baß als Tonika des folgenden Themas in Moll aufgreift« 1
Johannes Mittenzwei: Das Musikalische in der Literatur, Halle a.d. Saale: Verlag Sprache und Literatur 1962, S. 132. 2 Vgl. hierzu John Neubauer: »Die Sprache des Unendlichen« in: Alain Montandon (Hg.), E.T.A. Hoffmann et la musique, Bern: Lang1987, S. 25-33. 37
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(32) die Rede ist, einzelne Themen an ihren Tonarten festgemacht werden oder Hoffmann bemerkt, dass »alle Neben- und Zwischensätze durch ihr rhythmisches Verhältnis [...] den Charakter des Allegros, den jenes Hauptthema nur andeutete,« (31) entfalten, doch das Hauptgewicht der Rezension liegt auf einer romantischen oder gar ›romantisierenden‹ Beschreibungsebene der Musik. Für Hoffmann ist das eigentliche Wesen der Romantik die »unendliche Sehnsucht« (29). Schon in dieser wenig fasslichen Wesensbeschreibung liegt etwas von dem dichterischen Unsagbarkeits-Topos, der die romantische Musikästhetik nach Carl Dahlhaus konstituiert.3 Musik habe »einen höheren Ausdruck, als ihn geringe Worte, die nur der befangenen irdischen Lust eigen, gewähren können« (36), schreibt Hoffmann. Dennoch zeigt die Rezension der Beethovenschen Symphonie den Versuch einer poetischen Musikbeschreibung, einer Widerspiegelung des – heute nahezu topisch verfestigten – »Zauber der Musik« (27) zu geben. Die Instrumentalmusik ist für Hoffmann die »romantischste aller Künste« (26), da sie sich ohne den Zusatz von Poesie als eine Sprache »aus dem Geiste zum Geiste« (32) dem irdischen Zugriff entzieht. Sie ist die »allein echt romantisch[e], denn nur das Unendliche ist ihr Vorwurf« (26). Das Unendliche als eine dem Menschen unvorstellbare Kategorie und unerreichbare Größe erfüllt den Anspruch des Unsagbarkeitstopos und erhebt die Musik in überirdische, göttliche Sphären. Es ist die Rede vom »unbekannten Reich« (26), einem »Geisterreich des Unendlichen« (30), des »Unaussprechlichen«, »Geheimnisvollen«, »Ungeheuren und Unermeßlichen«. Hoffmann spiegelt die Musik Beethovens als einen Moment des Erhabenen wider, wenn der »Genius ernst und feierlich [...] von tiefen, geheimnisvollen Dingen [...], nie in gemeinen, sondern nur in erhabenen, herrlichen Worten« (36) redet. Er mythisiert die Musik als eine romantische Kunst, die alle durch Begriffe »bestimmten Gefühle zurückläßt, um sich einer unaussprechlichen Sehnsucht hinzugeben«4 und weist ihr eine »magische Kraft« (27) zu, die »wie das wunderbare Elixier der Weisen« (27) wirkt. Konkrete poetische Bilder findet Hoffmann für die Beschreibung der Musik Haydns und Mozarts. Ihre Kompositionen atmen zwar ge3
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Vgl. Ulrich Tadday: Das schöne Unendliche: Ästhetik, Kritik, Geschichte der romantischen Musikanschauung, Stuttgart, Weimar: Metzler 1999, S. 123. Vgl. Ulrich Tadday: Das schöne Unendliche, S. 72. 38
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meinsam den »gleichen romantischen Geist« (28), doch unterscheiden sie sich in ihrem Ausdruck sowohl untereinander als auch von der Musik Beethovens. Während Haydns Symphonien »unabsehbare grüne Haine«, »ein lustiges buntes Gewühl glücklicher Menschen«, ein »Leben voll Liebe, voll Seligkeit wie vor der Sünde, in ewiger Jugend« evozieren und dabei ein »süßes, wehmütiges Verlangen« (28) hervorrufen, wird bei Mozart die »Ahnung des Unendlichen« (28) spürbar. Hoffmann sieht hier »Gestalten, die, freundlich uns in ihre Reihen winkend, in ewigem Sphärentanz durch die Wolken fliegen« (28). Von einem »Leben voll Liebe« steigert sich die Wahrnehmung über die »Ahnung des Unendlichen« bis hin zum Erleben vom »Schmerz der unendlichen Sehnsucht« (29) in der Musik Beethovens. Hier existiert der »Schmerz, der Liebe, Hoffnung, Freude in sich verzehrend, aber nicht zerstörend, unsere Brust mit einem vollstimmigen Zusammenklang aller Leidenschaften zersprengen will« (29). Der Musik werden hier metaphysische Fähigkeiten zugesprochen, sie wird als gottähnliche Macht beschrieben, die zwar Angst, Furcht und Schmerz bereitet, diese jedoch auch wieder aufzuheben und zu heilen vermag und in ein transzendentales Medium überführt, sie erfährt durch Hoffmann eine Apotheose, wodurch das Erhabene in der Rezension bestärkt wird. Die angedeuteten Bilder spiegeln psychische Prozesse wider, die durch musikalische Entwicklungen, durch ein musikalisches Erlebnis ausgelöst werden. Hoffmann beschreibt die Musik psychologisch und beginnt somit Musik psychologisierend zu deuten und ihr psychologisierende Funktionen zuzuordnen. Auffällig ist die Charakterisierung der unterschiedlichen Musiktypen, die Hoffmann herausarbeitet: Während Haydns Musik das Menschliche thematisiert, nimmt Mozart das Übermenschliche in Anspruch und Beethovens Musik versetzt das gesamte menschliche Triebleben in Aufruhr, um jene »unendliche Sehnsucht« zu erwecken, die, wie es bei Hoffmann heisst, »das Wesen der Romantik ist« (29) und im Grunde doch die Überhöhung über sich selbst, über sein menschliches Unbewusstes zum Unendlichen hin meint.5 Charakteristisch für die Beschreibung von Musik ist die Metaphorik in der Sprache Hoffmanns. Durch seine Gleichnisse und Bilder 5
Näher zu untersuchen wäre an dieser Stelle, inwieweit hier bereits die Freudsche Psychoanalyse anklingt. Die Psychologisierung der Musik und die im Folgenden noch zu erläuternde Lichtmetaphorik bestätigen Sloterdijks These, die Romantik habe die Psychoanalyse vorweggenommen (vgl. Ders, Der Zauberbaum, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1985). 39
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zieht sich eine Lichtmetaphorik, die das ganze Spektrum von Licht und Finsternis abdeckt, Hoffmann spricht von »hellen Lichtern und tiefen Schattierungen« (34). Momente, die wie »blendendes Sonnenlicht strahl[en]« (32), »glänzende« Gestalten vorüberziehen lassen (31), »Lichtpunkte«, die »bald funkelnd und blitzend« (35) verschweben. Musik, die »in lichten, funkelnden Kreisen [...] tausendfarbig glänzend« (37) die Menschen umfängt, wird abgelöst von »Wetterwolken« (31), »Blitzen« (32) und »tiefster Nacht« (28), und alles erscheint im »Purpurschimmer der Romantik« (27). Auffällig ist die Verwendung der Lichtmetaphorik bei der Beschreibung der Kompositionen der Trias Haydn, Mozart und Beethoven: Sie beginnt mit dem »Glanz des Abendrotes« bei Haydn, setzt sich fort mit der hereinbrechenden Nacht »in hellem Purpurschimmer« in der Mozartschen Symphonie und endet schließlich bei Beethoven im »Reich der tiefsten Nacht«, das von »glühenden Strahlen« erzeugte »Riesenschatten« birgt. Die zunehmende ›Verdunklung‹ der Musik erklärt sich durch das Bild der Aufklärung als dem erhellten Zeitalter. Mit den Schlagworten Natur, Mensch und Menschenrechte wird die Vernunft zum Prinzip erhoben, und mit Hilfe dieses »natürlichen Lichts« sollten alle sozialen, wirtschaftlichen und philosophischen Probleme gelöst werden. Dieser distanzierten, nach außen gerichteten und vernünftigen Betrachtung der Welt fehlt die Nähe »der geliebten Gestalt« (28), menschliche Intensität und subjektives Erleben. Das Streben »nach den freundlichen Gestalten« (28), nach intimer Menschlichkeit erfüllt sich in der Romantik. Dort geht es nicht länger um die Erhellung der Außenwelt, sondern die Innensicht wird gesucht. Ziel ist es, die eigene »Brust mit einem vollstimmigen Zusammenklang aller Leidenschaften« (29) zu erleben, in die »tiefste Nacht« (28), den dunklen »Schmerz der unendlichen Sehnsucht« (29) einzutauchen, um dort eine neue Identität zu finden. Mit dieser Beschreibung der Musik Beethovens als einem Ort reiner subjektiver Intensität bekommt die Musik den Stellenwert einer Kunstreligion. Die Apotheose der Musik ist ein wesentliches Bestimmungsmoment von Musik und spielt für die Darstellung von Musik-Evokationen in Hoffmanns literarischem Werk eine zentrale Rolle. Auch die Pflanzen- oder Naturmetaphorik ist ein stilistisches Mittel der Musik-Beschreibung. Die von Hoffmann betonte »Besonnenheit« (30) Beethovens äußert sich in dem Aufbau, der Form der Symphonie, in ihrer »inneren Einheit« und dem »inneren Zusammenhang«, der wie »ein schöner Baum, Blätter, Blüten und Früchte, aus 40
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einem Keim treibend, erwächst« (30). Ein weiteres Beispiel für die arabeskenhafte Metaphorik sind die Beethovenschen Trios, von denen der Kapellmeister Kreisler »in den mit allerlei seltenen Bäumen, Gewächsen und wunderbaren Blumen umflochtenen Irrgängen eines phantastischen Parks« (33) umhergeführt wird. Das hier evozierte Bild eines wilden, naturbelassenen Gartens ist ein Topos der Romantik, die ihren landschaftsästhetischen Stilbegriff in der Natürlichkeit und Freiheit englischer Gärten zum Ausdruck gebracht sah.6 Wenn Hoffmann in seiner Rezension, das Unaussprechliche der Musik Beethovens mit Hilfe landschaftsästhetischer Begrifflichkeiten versucht auszudrücken, greift er auf ein Motiv der Romantik zurück, das sich in der Vorschule der Ästhetik von Jean Paul wiederfindet. Dort wird in dem Paragraphen 80 über die Poetische Landschaftsmalerei die zentrale Bedeutung von Landschaftsbeschreibungen in der romantischen Dichtung dargestellt. Jean Paul erläutert die Bedeutung von Farbwahl und Farbkörnern, er warnt vor einem »allgemeinen Farbenbrei des Himmels und der Erde«7 und spricht außerdem von dem »Gleichsetzen der Poesie und Malerei; eine dichterische Landschaft muß ein malerisches Ganzes machen.«8 Er beobachtet zudem einen wichtigen Zusammenhang bzw. eine Ergänzung der romantischen Landschaftsästhetik durch die musikalische Umschreibung. Diejenigen Gefühle, »welche unaussprechlich blieben, bis man die ganze körperliche Nachbarschaft der Natur, worin sie wie Düfte entstanden, als Wörter zu ihrer Beschreibung gebraucht«9, werden nun von der Romantik als musikalische Empfindungen geschildert. Das ›Malerische‹ der äußerlich unbestimmten, romantischen Landschaft wird auf die innerlich unbestimmten Gefühle des ›Musikalischen‹ übertragen. Es entsteht eine Wechselwirkung: die Musik wird metaphorisch beschrieben und die Landschaftsmalerei und -poesie soll musikalisch sein.10 Das Ineinandergreifen, die Überschneidungen und Grenzüberschreitungen der Künste, die hier bei Jean Paul anklingen, äußern sich auch in anderen visuell-synästhetischen Evokationen, z.B. in der Schilderung des Gesangs in dem Kreislerianum Ombra adorata!. Dort fließt der Gesang »dahin wie ein silberheller Strom zwischen leuch6 7 8 9 10
Vgl. Ulrich Tadday: Das schöne Unendliche, S. 16. Vgl. Jean Paul: Vorschule der Ästhetik, S. 291. Vgl. Jean Paul: Vorschule der Ästhetik, S. 289. Vgl. ebd., S. 290. Vgl. Ulrich Tadday: Das schöne Unendliche, S. 17 ff. 41
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tenden Blumen« und die Koloraturen einer Arie rufen eine Assoziation von »glänzendem Schmuck« (17) hervor. Die Schwierigkeit oder die Unmöglichkeit, die durch Musik geweckten Empfindungen zu beschreiben, zeigt sich in dieser Bildhaftigkeit der Sprache. Auch in dem Roman Lebens-Ansichten des Katers Murr bedient sich Hoffmann einer metaphorischen Bildsprache, um das musikalische Erlebnis Julias und Kreislers widerzuspiegeln. Hier erheben sich »beide Stimmen auf den Wellen des Gesanges wie schwimmende Schwäne, und wollten bald mit rauschendem Flügelschlag emporsteigen zu dem goldnen strahlenden Gewölk, bald in süßer Liebesumarmung sterbend untergehen in dem brausenden Strom der Akkorde, bis tief aufatmende Seufzer den nahen Tod verkündeten, und das letzte Addio in dem Schrei des wilden Schmerzes, wie ein blutiger Springquell herausstürzte aus der zerrissenen Brust«.11 Die Wirkung von Musik ist also nicht nur eine heilende, sie ist nicht nur »Himmelsbalsam in die Wunden« eines Musikers. Musik evoziert auch Schrecken und Todesvisionen. Die Musik arbeitet mit »metallnen, glühenden Armen« (15) und betätigt »die Hebel der Furcht, des Schauers, des Entsetzens, des Schmerzes«. (29) So heißt es in den Kreisleriana »die Musik mache ihn [den Musikfeind, M.B.-A.] halb verrückt« und treibe ihn in »wahnsinnige Exaltation« (95). Am deutlichsten wird die zerstörende Kraft der Musik in dem Kreislerianum Kreislers musikalisch-poetischer Klub, Kreisler gerät durch die Improvisation in den einem Delirium ähnlichen Zustand, die Musik wirkt auf ihn stimulierend aber auch zerstörend. Sie ist seine Droge, mit der er dem Irdischen entflieht und sich in eine Welt der Phantasien begibt. Dieser ›Trip‹ kann Trost spendend wirken und das tiefempfundene ›Glück unendlicher Sehnsucht‹ auslösen, er kann jedoch auch Teufelsvisionen und Todesängste hervorrufen. In dem Stück Kreislers musikalisch-poetischer Klub werden Worte regelrecht »musikalisiert«. Kreisler phantasiert hier am Flügel und improvisiert zu den unterschiedlichen angegebenen Tonarten stimmungsvolle Texte. Mittenzwei betont einen der Musik angepassten Rhythmus und stellt eine den Tonarten entsprechende Sprachmelodie heraus. Durch die Rekurrenz der Vokale »e« und »i«, des Diphtongs »ie« sowie der Umlaute »ü« und »ö« analysiert er eine Hebung und Senkung der Stimme, die die Charakteristik der jeweiligen Tonart unterstreicht und die musikalische Anweisung umsetzt. So soll der Es11 Kater Murr-Roman, S. 143; zu einer psychoanalytischen Deutung dieser Textstelle und der Rolle der Musik vgl. Teil IV dieser Arbeit. 42
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Dur-Akkord beispielsweise forte erklingen, was sprachstimmlich durch eine dicht aufeinanderfolgende Hebung der Stimme und kurze Ausrufe in ein- bis zweisilbigen Wörtern imitiert wird: »Zieh’ ihm nach! – zieh’ ihm nach! – Grün ist sein Kleid wie der dunkle Wald – süßer Hörnerklang sein sehnendes Wort! [...]« (79) In der Umsetzung des as-Moll-Akkordes wird das geforderte mezzo forte durch die Wiederholung des Vokals »a« und mehrsilbige Wörter erreicht. Es entsteht ein dunkel gefärbter, schleppender Toncharakter.12 Hoffmann versucht mit Hilfe sprachlicher Mittel den musikalischen Klang und Ausdruck zu evozieren und umgeht dadurch die begriffliche Unbestimmbarkeit von Musik, er sucht nicht die Begriffe, um Musik nachzuschreiben, sondern findet den sprachlichen Ton, um Musik nachzuahmen.
Musikalische Widerspiegelung von Literatur o d e r p o e ti sc he M u s i k d e r R o m a n ti k e r ? Die Kreisleriana op. 16 von Robert Schumann auf eine Widerspiegelung des Hoffmann’schen Kreislerianums hin zu untersuchen, setzt die Annahme voraus, Schumann habe die Fantasiestücke in Callots Manier als literarische Vorlage für seine Klavierkomposition genutzt. Es kann – und soll – nicht geklärt werden, inwieweit Schumann sich an den Schriften des Kapellmeisters Kreisler als einer programmatischen Folie orientierte, oder ob er sein Opus 16 unabhängig von einem Programm als eine unbestimmte, ›absolute‹ Musik konzipierte, deren Titel allenfalls eine Themenaffinität oder eine »poetische Idee« benennen soll. Mit diesen Überlegungen sind bereits zentrale Gedanken der musikästhetischen Diskussion des 19. Jahrhunderts angesprochen, in der die Begriffe »Programmmusik« und »absolute Musik« geprägt und in Opposition zueinander gesetzt wurden. Noch heute gilt Schumann als der (Mit-)Begründer und »Meister der ›absoluten‹ Musik«.13 Seine Musik entspricht jedoch keineswegs der allgemeinen Auffassung von ›absoluter‹ Musik als einer integralen, selbstbezüglichen, formorientierten und autonomen Musik, wie sie Eduard Hanslick in seinem Es12 Vgl. Johannes Mittenzwei: Das musikalische in der Literatur, S. 136 f. 13 Constantin Floros: »Schumanns musikalische Poetik«, in: Heinz-Klaus Metzger, Rainer Riehn (Hg.), Robert Schumann, Musikkonzepte, Sonderband I, München: edition text + kritik 1981, S. 97. 43
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say Vom Musikalisch-Schönen (1854) prägte. Da dennoch der Terminus der ›absoluten‹ Musik häufig im Zusammenhang mit Robert Schumann genannt wird,14 soll im Folgenden zunächst auf die Entstehung und Entwicklung des Begriffs eingegangen werden. Erst im Anschluss hieran, wird Schumanns Verständnis einer musikalischen Poesie ins Gewicht fallen. Exkurs: Zum Begriff der ›absoluten‹ Musik Bis zum Zeitalter des Barock galt einspruchslos der antike Begriff von Musik, der neben der Harmonie und dem Rhythmus die Sprache als Teilelemente umfasste.15 Musik diente dazu, Texte auszugestalten und angesprochene Affekte darzustellen. Oberster Primat der (Vokal-) Musik war ihre deutliche und bestimmte Wirkung, ausgerichtet an einer Textvorlage, die den Inhalt und die auszuschmückenden Charaktere vorgab. Dem Komponisten blieb nur wenig Freiraum für individuelle Gestaltung. Emphatischer Ausdruck und subjektive Gefühlsdarstellungen, wie sie das Geniezeitalter suchte, entwickelten sich deshalb in der weniger festgelegten, inhaltlich ungebundenen Instrumentalmusik. Hier versuchte der Komponist vorgefertigten Formen und der Kontrolle des Textes zu entkommen und das bisher gültige barocke Ideal der Bestimmtheit zu revolutionieren.16 Eben eine solche Theorie des unbestimmten, ungebundenen, »interesselosen Wohlgefallens« entwickelte Kant im §2 seiner Kritik der ästhetischen Urteilskraft (1790).17 Die im Zentrum seiner Kunstästhetik stehende »ästhetische Idee« definierte er als »diejenige Vorstellung der Einbildungskraft, die viel zu denken veranlaßt, ohne daß ihr doch irgend ein bestimmter Gedanke, d.i. Begriff, adäquat sein kann.« (§ 49) In der Kunst werden nach Kant also Inhalte ausgedrückt, die erlebt und auch umschrieben werden können, in ihrer ästhetischen Qualität jedoch nicht sprachbegrifflich bestimmbar sind. Doch trotz aller Unbestimmtheit und Begriffslosigkeit, die Kant der künstlerischen Seinsweise als Erkennungsmerkmal zuordnet, gilt für ihn die »ästhetische Idee« als »eine einem gegebenen Begriff beigesellte Vorstellung der Einbildungskraft [...], die also einem Begriff viel Unnennbares hinzu denken läßt« (§ 49). Somit wirft er der Musik ihre Unbestimmt14 Vgl. Constantin Floros: Schumanns musikalische Poetik. 15 Vgl. Carl Dahlhaus: »Metaphysik der Instrumentalmusik«, in: Carl Dahlhaus, Michael Zimmermann (Hg.), Musik - zur Sprache gebracht. S.173 ff. 16 Martin Geck: Von Beethoven bis Mahler, S. 127. 17 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, Bd.4. 44
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heit als Mangel vor; sie spreche »durch lauter Empfindungen ohne Begriffe«, ohne dass sie »etwas zum Nachdenken übrig bleiben läßt« und habe deshalb »weniger Werth, als jede andere der schönen Künste« (§ 53). Wie später für E.T.A. Hoffmann ist auch für Hegel die Musik neben der (neuzeitlichen) Malerei und der Poesie eine »romantische« Kunst18, die dazu verhilft, die »Elemente der unbestimmten Innigkeit« zu »festeren Anschauungen und allgemeineren Vorstellungen zum Bewußtsein«19 zu bringen. Doch ähnlich wie Kant wirft Hegel der Musik und insbesondere der Instrumentalmusik in seiner Ästhetik (1835-1838) vor, dass ihr durch die Loslösung von einem Text »der geistige Inhalt und Ausdruck abgeht« und sie »leer« und »bedeutungslos«20 werde. Die Musik komme nicht weiter als »zu einem immer unbestimmteren Sympathisieren« und die »Losgerissenheit von einem für sich schon klaren Gehalt« führt für Hegel zu einer Substanz- und Inhaltslosigkeit der Musik. Wie schon angedeutet erfährt gerade dieser Kritikpunkt Kants und Hegels, der Vorwurf der »subjektiven Innerlichkeit« und des »Unbestimmten« eine Umwertung durch die Romantiker. Tieck, Wackenroder und E.T.A. Hoffmann formulieren eine »Kunstreligion«, die die »Gefühlsinnenseite«, die durch Musik ausgedrückt werden kann, als Fluchtmöglichkeit vor dem Irdischen feiern.21 Sie prägen eine romantische Gefühlsästhetik, die der Musik einen metaphysischen Stellenwert verleiht und ihre ›Unbestimmtheit‹ in ›Grenzenlosigkeit‹, ›Unendlichkeit‹, ›Begriffslosigkeit‹ und ähnliche gottähnliche Eigenschaften der ›Unsagbarkeit‹ ummünzt. Hierbei ist vorrangig die funktionslose, ›reine‹ Instrumentalmusik gemeint, die keines Programms oder der »Beimischung einer anderen Kunst (der Poesie)« bedarf, sie ist »allein echt romantisch, denn nur das Unendliche ist ihr Vorwurf« (26). Den Begriff der ›absoluten Musik‹ prägt Richard Wagner 1846 in einer programmatischen Schrift zu Beethovens 9. Symphonie. Während die ersten drei Sätze der Symphonie noch den »unendlichen und unentschiedenen Charakter« der »reinen Instrumentalmusik« tragen, verlässt das Finale nach Wagner nahezu schon »die Schranken der ab18 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Ästhetik, in: Carl Dahlhaus/Michael Zimmermann (Hg.), Musik – zur Sprache gebracht, S. 163. 19 Ebd., S. 157 f. 20 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Ästhetik, S. 159. 21 Vgl. Carl Dahlhaus, in: Ders./Michael Zimmermann (Hg.), Musik - zur Sprache gebracht, S. 185. 45
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soluten Musik«, um zum »bestimmten, sicheren Ausdruck« des Wortes zu gelangen.22 Schon hier kündigt sich eine Distanz zur absoluten‹ Musik an und in seinem offenen Brief Über Franz Liszts symphonische Dichtungen (1857) verteidigt Wagner die Programmmusik ganz entschieden. Wenn er schreibt: »Hierüber sind wir uns also einig und gestehen zu, daß der göttlichen Musik in dieser menschlichen Welt ein bindendes, ja – wie wir sahen – bedingendes Moment für die Möglichkeit ihrer Erscheinung gegeben werden mußte.«23, wird deutlich, welche Funktion die Vorgabe eines Programms für Wagner erfüllt: Die Musik braucht ein »Motiv zur Formgebung«24, einen Grund, da zu sein, und dieser liegt entweder im Tanz oder in der Sprache. Die Musik bekommt durch das Formmotiv ihre Wesenheit und da die Sprache die Möglichkeit zur Entwicklung in sich birgt, während der Tanz das Prinzip des Wechsels – Hauptsatz, Seitensatz, Wiederholung des Hauptsatzes – verfolgt, stellt die Sprache das Motiv dar, das »edler und befreiender für sie [die Musik, M.B.-A.] ist«25. »Tönend bewegte Formen sind einzig und allein Inhalt und Gegenstand der Musik«26, lautet die Antwort auf Wagners Postulat. Das bekannte Zitat entstammt Eduard Hanslicks Abhandlung Vom Musikalisch-Schönen (1854). Als vehementer Verfechter der absoluten Musik lehnt Hanslick Programmmusik ab, für ihn hat allein die reine, absolute Tonkunst künstlerischen Wert. Das genannte Zitat isoliert eine Spitze in den Ausführungen Hanslicks und reduziert seine Aussage auf jenen ›nihilistischen Formalismus‹, dessen er in der Regel beschuldigt wird. In seinem Buch Von Beethoven bis Mahler weist Martin Geck darauf hin, dass Hanslick zwischen ästhetischem und pathologischem Aufnehmen von Musik unterscheidet, zwischen dem »bewußten reinen Anschauen eines Tonwerks« und dem Erleben »der Gefühlswirkung der Musik«. Die dieser Rezeption entsprechende Kunstform ist für Hanslick die ›absolute Musik‹, die ohne Bezug nach außen sich 22 Wagner, Richard, zitiert nach Martin Geck, Von Beethoven bis Mahler, S. 128. 23 Richard Wagner: »Über Franz Liszts symphonische Dichtungen (1857)«, in: Gesammelte Schriften und Dichtungen, Leipzig 1871-1880, Bd. 4; zitiert in: Carl Dahlhaus/Michael Zimmermann (Hg.), Musik – zur Sprache gebracht, S. 310. 24 Ebd., S. 319. 25 Ebd., S. 310. 26 Eduard Hanslick: »Vom Musikalisch-Schönen. Ein Beitrag zur Revision der Ästhetik der Tonkunst«, Leipzig 1854; Ders. in: Carl Dahlhaus /Michael Zimmermann, Musik –zur Sprache gebracht, München, Kassel 1984, S. 301. 46
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selbst genügt. Ein gewisses »elitäres und sinnenfeindliches Moment« kann ihm jedoch auch hier nicht abgesprochen werden.27 Es wird deutlich, dass sich erst im Laufe des 19. Jahrhunderts die Begriffe der absoluten und der Programmmusik entwickelt haben, sich verhärteten und zu scharfen, musikästhetischen Kontroversen führten.28 Und auch heute noch besteht die Tendenz, Musik in diese zwei Kategorien zu unterteilen und die ›Idee der absoluten Musik‹ als das Paradigma der romantischen Musikanschauung zu verstehen. Ulrich Tadday hat in seinem Buch Das schöne Unendliche versucht, die Geschichte der romantischen Musikästhetik neu aufzuarbeiten und zu zeigen, dass sich die Musikanschauung des 19. Jahrhunderts nicht einseitig auf den Begriff der ›absoluten Musik‹ bringen lässt. Er arbeitet seine These anhand von drei seiner Meinung nach für die romantische Musikanschauung wesentlicher Begriffe ab: der Aporie, der Autonomie bzw. des Metaphysischen und des Poetischen, wobei das Poetische später als die zentrale Kategorie der romantischen Musikanschauung herausgestellt wird.29 Tadday widerlegt mit Hilfe dieser drei Aspekte das Verständnis der ›absoluten Musik‹ als ausschließlicher Kategorie romantischer Musik. Im Hinblick auf unsere Beschäftigung mit E.T.A. Hoffmann und Robert Schumann, sollen im Folgenden einige wesentliche Argumente Taddays herausgestellt werden. Die Aporie, dass Musik als »gegenstands- und begriffslose Instrumentalmusik eine Sprache ›über‹ der Sprache sei« und Musik ausdrücke, »was Worte nicht einmal zu stammeln vermögen«, wird in der Musikästhetik als konstitutives Element der romantischen Musikanschauung verstanden.30 Tadday sieht diese Auffassung nicht nur bei Tieck und Novalis widerlegt, sondern führt außerdem ein Zitat Robert Schumanns an, an dem deutlich wird, dass Musik sehr wohl auch eine irdische Sprache zu sprechen vermag. Schumann versteht die Musik als eine »Sprache, in der man sich mit dem Jenseits unterhalten kann« und betont die Fähigkeit der Musik, »poetische Seelenzustände« zur Sprache zu bringen: »Das wäre eine kleine Kunst, die nur klänge und
27 Vgl. Martin Geck: Von Beethoven bis Mahler, S. 129. 28 Vgl. Carl Dahlhaus: »Zwischen absoluter und Programmusik«, zitiert in: Ders./ Michael Zimmermann (Hg.), Musik – zur Sprache gebracht, S. 285. 29 Vgl. Ulrich Tadday: Das schöne Unendliche, S. 123 ff. 30 Vgl. ebd., S. 123. 47
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keine Sprache noch Zeichen für Seelenzustände hätte! Fl.«31 Hiermit wird der Begriff der Metaphysik ebenfalls in ein anderes Licht gerückt. Die Vorstellung, dass Musik sich vom Anschaulichen und Affektiven löse und gerade dadurch das Absolute offenbare, wird durch das Schumann Zitat in Frage gestellt. Es ist vielmehr die idealistische oder formalistische Ästhetik, die an die unmittelbare Offenbarung des Absoluten durch die Kunst glaubt und das Absolute in der Kunst symbolisch repräsentiert sieht.32 Der romantischen Auffassung entspricht weniger der Ausdruck als die Ahnung des Absoluten, ihr Begriff des Metaphysischen äußert sich in dem ›unendlichen‹ Weg der ästhetischen Reflexion, der sich dem Absoluten nähert, es jedoch nie erreicht. Deshalb liegt das Charakteristische der romantischen Kunstform auch im Fragmentarischen, der Arabeske, dem Phantastischen und Sentimentalen, dem ironisch oder humoristisch Gebrochenen und poetisch Reflektierten.33 Diese Eigenschaften des ›Romantischen‹ widersprechen dem Begriff der Autonomie ›absoluter Musik‹ nach Dahlhaus, der die Kunst nicht als ein innerhalb der Gesellschaft neu ausdifferenziertes Teilsystem versteht, sondern die Autonomie auf die geschlossene Form und motivisch-thematische Arbeit festlegt.34 Durch dieses Verständnis von ›romantischer‹ Musik beschränkt sich der Musikbegriff nach Tadday auf eine emphatische Ästhetik des Kunstwerks, die sich insbesondere auf die Gattungen der Symphonie und des Streichquartetts konzentriert. Wie oben dargestellt, steht diese Auffassung jedoch im Gegensatz zur Charakteristik der romantischen Musikform und entspricht eher dem idealistischen, formalistischen Kunstwerk, außerdem lässt dieser Autonomie-Begriff die Oper und die Programmmusik als ›trivial‹ erscheinen, wenn nicht gar, so Tadday, als »trivialromantisch«.35 Die Oper oder Programmmusik wurde von den Romantikern jedoch nicht von vornherein abgelehnt, geschweige denn als ›trivial‹ diskriminiert. Floros stellt die differenzierte Haltung Schumanns gegenüber der Programmmusik anhand dessen Rezension der Symphonie fantastique von Berlioz dar.36 31 Schumann, Robert: » Aus Meister Raros, Florestans und Eusebius’ Denk- und Dichtbüchlein«, zitiert in: Ulrich Tadday, Das schöne Unendliche, S. 136. 32 Vgl. Ulrich Tadday: Das schöne Unendliche, S. 130 f. 33 Vgl. ebd., S. 131. 34 Vgl. ebd., S. 128. 35 Ebd., S. 128. 36 Floros, Constantin, »Literarische Ideen in der Musik des 19. Jahrhunderts«, in: Hamburger Jahrbuch für Musikwissenschaft, Nr. 2, 1977, S. 44 ff. 48
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Schumann lehnt demnach ausführliche Programme, die die Fantasie des Zuhörers einschränken, ab und stellt die Rechtmäßigkeit in Frage, Anlass und Schaffensprozess einer Komposition vor der Öffentlichkeit zu offenbaren. Schumann hält Programme nicht für nötig, da ein guter Komponist auch ohne sie in der Lage ist, den Charakter der Musik und das Vorgestellte zu evozieren, hält andererseits die Vorlage einer Idee oder eines Bildes beim Komponieren für möglich: »Unbewußt neben der musikalischen Phantasie wirkt oft eine Idee fort, neben dem Ohre das Auge, und dieses, das immer tätige Organ, hält dann mitten unter den Klängen und Tönen gewisse Umrisse fest, die sich mit der vorrückenden Musik zu deutlichen Gestalten verdichten und ausbilden können. Je mehr nun der Musik verwandte Elemente die mit den Tönen erzeugten Gedanken oder Gebilde in sich tragen, von je poetischem oder plastischem Ausdrucke wird die Komposition sein, – und je phantastischer oder schärfer der Musiker überhaupt auffaßt, um so mehr wird sein Werk erheben oder ergreifen. [...] Die Hauptsache bleibt, ob die Musik mit oder ohne Text und Erläuterung an sich etwas ist, und vorzüglich, ob ihr Geist inwohnt.«37
Schumann geht es also um durch »Töne erzeugte Gedanken oder Gebilde«, seine ›romantische‹ Auffassung von Musik als Produkt kompositorischer Phantasie bedarf der »poetischen« Reflexion. Dass Komposition und Interpretation »in einem Reflexionsprozeß, der durch die ›poetische Idee‹ bedingt wird«, stehen, bezeichnet Tadday als das »poetische« Verfahren, das der »romantischen« Musikanschauung wesentlich ist.38
Die poetische Musikauffassung Schumanns Im Folgenden soll nun die romantische Klavierkomposition der Kreisleriana op. 16 von Schumann vor dem Hintergrund dieser poetischen Musikauffassung betrachtet werden. Schumanns Musikästhetik geht davon aus, dass Musik außermusikalische Inhalte ausdrücken kann und soll. Der Instrumentalkomponist sollte die Komposition eines Stücks nicht mit dem festen Vorsatz beginnen, ein vorgefertigtes Pro37 Robert Schumann, »Sinfonie von H. Berlioz«, in: Martin Kreisig (Hg.), Gesammelte Schriften über Musik und Musiker von Robert Schumann, Bd. 1, Leipzig: Breitkopf & Härtel 1914, S. 84 f. 38 Vgl. Ulrich Tadday: Das schöne Unendliche, S. 142 f. 49
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gramm in Musik umzusetzen, da der Schaffensprozess ansonsten nicht mehr unbewusst und unerklärbar ist. Das Streben nach Charakteristik und ›Poesie‹ bedeutet für Schumann, das Romantische, das ›Geheime‹ und Originelle, das Phantasievolle und Phantastische zu schaffen. Hat eine Komposition das ›Spezielle‹ zum Gegenstand, so hält Schumann eine Überschrift zwar für notwendig, warnt jedoch davor, die Überschriften über zu bewerten und den Wert der Musik an sich zu vernachlässigen, denn, so vermerkt er, die Hauptsache bleibe, ob die Musik ohne Text und Erläuterungen Gehalt und Geist habe.39 Schumanns Musikästhetik steht somit nicht in einem Gegensatz zur sogenannten ›Programmmusik‹, sie lehnt lediglich detaillierte Programmvorlagen ab, die eine freie Entfaltung der Phantasie verhinderten. Außerdem geht er davon aus, dass es das Recht und die Pflicht des Komponisten sei, den Anlass und den Prozess seines Schaffens zu verschleiern, denn so schreibt Schumann bezüglich des Programms der Symphonie fantastique von Berlioz: »Es besitzt der Mensch eine eigene Scheu vor der Arbeitsstätte des Genius: er will gar nichts von den Ursachen, Werkzeugen und Geheimnissen des Schaffens wissen, wie ja auch die Natur eine gewisse Zartheit bekundet, indem sie ihre Wurzeln mit Erde überdeckt. [...] Wir würden schreckliche Dinge erfahren, wenn wir bei allen Werken bis auf den Grund ihrer Entstehung sehen könnten.«40
Aufgrund dieser Ästhetik liegen vielen Werken Schumanns ›innere‹ Programme zugrunde, die er entweder verschweigt oder als eine geheime Botschaft in die Musik einkomponiert. Dieses Verschweigen entspricht dem Bedürfnis, eine Musik nicht für die Öffentlichkeit oder den allgemeinen Kulturbetrieb zu schreiben, sondern vielmehr Musik als Ausdruck einer ›Gesinnung‹ zu komponieren. Martin Geck, der den Begriff der ›absoluten‹ Musik ideengeschichtlich betrachtet, weist auf das Lebensmotto »Frei aber einsam« des Geigers Joachim als einen Ursprungsgedanken der Entstehung ›absoluter‹ Musik hin: »Das künstlerische Individuum nimmt sich in seiner erhabenen Einsamkeit, seiner einsamen Erhabenheit absolut ernst.«41 Es geht ihm weniger um 39 Vgl. Constantin Floros: »Schumanns musikalische Poetik«, in: HeinzKlaus Metzger/Rainer Riehn (Hg.), Robert Schumann I, Sonderband I der Reihe Musikkonzepte, München: edition text + kritik 1981, S. 106 f. 40 Robert Schumann, »Sinfonie von H. Berlioz«, S. 83. 41 Martin Geck: Von Beethoven bis Mahler, S. 125. 50
II. DIE WECHSELSEITIGE WIDERSPIEGELUNG DER KÜNSTE
das Bekenntnis zu einer Sache als zu sich selbst. Während im subjektiven Erleben die innere und die äußere Welt verschmelzen, gilt dieses auch für die künstlerische Gestaltung. Das künstlerische Individuum nimmt mit seiner Musik also nicht einfach ein vorliegendes Programm oder einen Text auf und reflektiert ihn nach außen, ohne selbst daran teilzunehmen, vielmehr nutzt es einen Gedanken oder ein Programm, um sich selbst in den musikalischen Ausdruck einzubringen. Es gestaltet einen inneren, persönlichen Ausdruck, der immer noch verallgemeinerbar und vermittelbar bleiben muss.42 Die Romantiker verstehen ihr Schaffen als den permanenten Versuch, immer wieder darzustellen, dass das Wesen des ›Absoluten‹ ein nicht fassliches, nicht darstellbares ist. ›Absolute‹ Musik changiert, mit den Worten Gecks gesprochen, zwischen »Unsagbarkeit und Sagbarkeit, Unbestimmtheit und Bestimmtheit, Ewigkeit und Endlichkeit, Selbstbezüglichkeit und Deutungsbedürftigkeit.«43 Die romantische Musik arbeitet mit musikalischen Motiven, die sich selbst genügen, die in sich schlüssig und eigenständig sind und dennoch einem verborgenen Kontext angehören. Eine ›geheime, widersprüchliche Botschaft‹ wohnt der ›absoluten‹ Musik inne, die sich dem Hörer nicht erschließt und nicht erschließen soll. Der Hörer hat an dem Diskurs des Komponisten teil und das reicht aus, ihm wird von der Musik nichts vorenthalten, doch auch nichts über sie hinaus mitgeteilt.44 In diesem Sinne sind in der ›absoluten‹ Musik verborgene, geheimnisvolle Botschaften und innere Programme enthalten. Auch bei Schumann finden sich derartige programmatische Anspielungen wieder. Indem er mit der Wahl des Tonmaterials experimentiert, verschlüsselt er Zusammenhänge aus seinem Alltag. Er greift eine ästhetische Kategorie auf, die Geck als »Poetisierung des Alltäglichen«45 bezeichnet. So widmet Schumann z.B. sein Opus 1 einer Bekanntschaft aus seiner Heidelberger Studentenzeit, Meta Abegg, und verwendet für das Thema dieser Klavier-Variationen die Töne a-b-e-g-g. Oder er verschlüsselt den Heimatort »Asch« seiner Verlobten Ernestine von Fricken sowie den gleichnamigen Schauplatz eines imaginären Festes und zugleich das Sigel seines eigenen Namens SCHumAnn in dem Tonmaterial a-es-c-h des Zyklus
42 43 44 45
Vgl. ebd., S. 125. Ebd., S. 125. Vgl. ebd., S. 126. Ebd., S. 143. 51
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Carnaval op.9.46 Dieser unmittelbaren ›Literarisierung‹ von Musik stellt Schumann weitere Möglichkeiten gegenüber, den poetischen Charakter seiner Kompositionen zu betonen. Eine Widerspiegelung von Literatur findet durch die Installationen imaginärer Charaktere oder Gesellschaften statt. Beispielsweise sind die Davidsbündler, die in dem Titel Davidsbündlertänze op.6 auftauchen und in den Figuren Florestan und Eusebius konkretisiert werden, zwar eine reale Tafelgesellschaft, doch existiert der Bund mehr imaginär in Anlehnung an die Serapionsbrüder von E.T.A. Hoffmann.47 Auch andere Titel deuten auf eine enge Verbindung zu literarischen Formen bzw. auf lyrische Charakterstücke hin. Manche Überschriften nennen den inhaltlichen Bezugsrahmen, z.B. Carnaval, Faschingsschwank, Kinderszenen, oder orientieren sich in ihrem Erzählgestus an konkreten literarischen Vorlagen, ohne jedoch einen Erzählinhalt festzulegen. Beispielsweise sind die Titel Noveletten und Blumenstücke nach Texten von Jean Paul, die Nachtstücke nach einer Textsammlung von E.T.A. Hoffmann, der Titel Arabeske nach Friedrich Schlegel benannt. Die Überschrift Burla lehnt sich an ›Burleske‹ an und Humoreske und Märchenerzählung an weitere literarische Genres. Andere Klavierminiaturen umschreiben poetische Stimmungsbilder wie Des Abends, Am Kamin oder Träumerei, oder setzen Seelenzustände in Musik um, z.B. Erster Verlust, Aufschwung oder Leides Ahnung. Eine direkte Bezugnahme auf einen literarischen Text stellt der Titel der Kreisleriana op. 16 dar. Auch den Untertitel dieser Stücke Fantasien entlehnt Schumann der Hoffmann’schen Werküberschrift Fantasiestücke in Callots Manier. Schumanns Klavierwerke stellen Folgen einzelner, kurzer Charakterstücke dar, in denen Schumann einen poetischen Ausdruck sucht. Die ›kleinen Formen‹, z.B. die Etüde, die Variation, der Tanz, das Impromptus oder die Fantasie, ermöglichen ihm die »Musik als Vermittlerin seiner ›Seelenzustände‹«48 zu nutzen und den ›poetischen Charakter‹ des Alltäglichen zu veranschaulichen, wobei für ihn – wie für E.T.A. Hoffmann – Poesie nicht Dichtung im engeren Sinn bedeutet, sondern die »höhere«, im Gegensatz zur prosaischen stehende, mit Jean Paul ausgedrückt, »die einzige zweite Welt in der hiesigen.«49 In den Kinderszenen op. 15 wird der Bezug zwischen Poesie und Alltag 46 47 48 49
Vgl. Barbara Meier: Robert Schumann, S. 53. Ebd., S. 58 f. Martin Geck: Von Beethoven bis Mahler, S. 138. Jean Paul: Vorschule der Ästhetik, S. 30. 52
II. DIE WECHSELSEITIGE WIDERSPIEGELUNG DER KÜNSTE
besonders deutlich. Mit den Titeln Haschemann, Von fremden Ländern und Menschen, Bittendes Kind, Schnitterlied oder Wilder Reiter werden konkrete Situationen assoziiert, die dem musikalischen Charakter der Musik nachzuempfinden sind. Das poetische Moment bzw. die musikalische Poesie werden nachvollziehbar. Indem die Überschriften möglichen Inhalt und Ausdruck der Komposition umreißen, bieten sie dem Interpreten und dem Hörer als imaginative Bezugsgröße ein Sujet, auf das sie sich einlassen können, aber nicht müssen, denn Schumann legt Wert darauf, dass eine Komposition auch ohne ihren Titel ästhetisch für sich bestehen können muss.50 In den Kreisleriana op. 16 wird auf derartige programmatische Titel sowie symbolische Tonreihen verzichtet. Schumann zeigt sich mit diesem Zyklus als ein »wahrhaft romantischer«51 Ton-Poet, der die kleine Form des Charakterstücks nutzt, um seiner Ästhetik Ausdruck zu verleihen und seinen persönlichen Stil zu prägen. Martin Geck spricht von einer eigenen »Esoterik« in der Musik der Kreisleriana, die nichts »Fremdes oder Äußerliches ins Gespräch bringen muss, um ihr geheimnisvolles Wesen darzustellen.«52 Schumann versteht die Musik als eine ›Seelensprache‹, womit er sich von fremden Programmen, außermusikalischen Stoffen und Inhalten distanziert und sich an keine kompositionstechnischen Vorgaben und musikalischen Formen mehr gebunden sieht. Sein einziges Ziel ist nunmehr die musikalische Poesie, eine ›Seelensprache‹, die es so in Musik zu übersetzten gilt, »daß ihr Zauber nicht verloren gehe und ihr Geheimnis nicht verraten werde.«53
50 Vgl. Bernhard R. Appel, Artikel »Charakterstück«, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, Stuttgart, Weimar: Bärenreiter 1994, S. 640. 51 Martin Geck: Von Beethoven bis Mahler, S. 144. 52 Ebd., S. 144 u. 148. 53 Ebd., S. 138. 53
T E I L III
ANALOGIEN AUF DER EBENE DER O B E R F L Ä C H E N ST R U K T U R
III. ANALOGIEN AUF DER EBENE DER OBERFLÄCHENSTRUKTUR
Vorbemerkung zur Terminologie ( O b e r f l ä c h e n s tr u k tu r , T i e f e n st r u k tu r , P hä n o t e x t , G e n o te x t) In den folgenden zwei Kapiteln steht die Beschäftigung mit den Strukturen von Literatur und Musik im Mittelpunkt. Vor dem Hintergrund der inhaltlichen Erschließung sollen nun anhand der Kreisleriana von E.T.A. Hoffmann und Robert Schumann strukturelle Analogien zwischen dem literarischen Werk und der musikalischen Komposition herausgearbeitet werden. Die Analyse wird sich in zwei Schritte gliedern, zunächst soll die Oberflächenstruktur und später die Tiefenstruktur der beiden Werke untersucht und verglichen werden. Die Unterscheidung dieser zwei Textformen beruht auf der Theorie der Sprachwissenschaftlerin und Semiologin Julia Kristeva. Ihre Texttheorie ist zunächst der generativen Grammatik Noam Chomskys ähnlich. Chomsky versteht unter der Oberflächenstruktur die endgültigen, konkret ausgebildeten Sätze, also die äußere Form der syntaktischen Komponente, die die phonetische Interpretation des Satzes bestimmt. Welchen konkreten Satz ein Einzelner hervorbringt, wird in der generativen Grammatik als die »Performanz«1 bezeichnet. Unter der großen Anzahl von Möglichkeiten verschiedenartiger Ausprägungen der Oberflächenstruktur verbirgt sich eine kleinere Anzahl von Tiefenstrukturen. Diese innere Form des Satzes, die sogenannte Basis, bringt eine Reihe einfacher Satzmuster hervor, die sowohl die semantische Interpretation des Satzes determinieren als auch die Konkretisierung und Ausprägung der Oberflächenstruktur bestimmen. Dieses Grundlegende in der Grammatik ist die »Kompetenz«2, es ist die Fähigkeit des Subjekts zu entscheiden, was ein grammatikalisch richtiger oder falscher Satz ist. Die Tiefenstruktur ist das Grundmuster eines Satzes und die Oberflächenstruktur seine stilistisch individuelle Ausformung.3 Julia Kristeva geht in ihrer Texttheorie von einer vergleichbaren Unterscheidung der Satzstrukturen aus.4 Sie sieht jedoch das ›Sprach1
2 3 4
Vgl. Noam Chomsky: »Aspekte der Syntax-Theorie«, in: Hans Blumenberg, Jürgen Habermas, Dieter Henrich, Jakob Taubes (Hg.), Theorie 2, Frankfurt/M., Berlin: Suhrkamp 1969, S. 30. Ebd. Vgl. ebd., S. 29 ff. Textgrundlage ist Julia Kristeva, La révolution du language poétique, Paris 1974, in einer Übersetzung v. Reinold Werner, Die Revolution der poetische Sprache, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1978. 57
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äußerliche‹ in einer solchen formalen Linguistik, wie sie Chomsky vertritt, vernachlässigt. Ihre Kritik richtet sich gegen das Fehlen von ›Äußerlichkeit‹, gegen eine Linguistik, deren Gegenstand Sprache ist, ohne Berücksichtigung des Subjekts, allenfalls im Sinne eines transzendentalen Ego. Kristeva unterscheidet zwei Tendenzen der modernen Linguistik, die beide versuchen, das ›Äußerliche‹ an das Formale der Sprache zu koppeln: Die eine beschäftigt sich mit der »willkürlichen Beziehung zwischen Signifikant und Signifikat und prüft dabei Zeichensysteme, in denen sich diese Beziehung als ›motiviert‹ darstellt.«5 Diese Motivation wird psychoanalytisch begründet und lässt nach Kristeva ein dialektisches Verständnis vom ›Prozeß der Sinngebung‹ eines Satzes oder Textes vermissen. Die zweite Tendenz nimmt ein ›Subjekt des Aussagens‹ an und sieht die Relation der Sprecher beim Sprechakt in einer Schicht der semiosis, einer Tiefenstruktur verwirklicht. In dieser Tiefenstruktur werden logische, semantische, interkommunikative und quasi historische Kategorien artikuliert.6 Diese beiden linguistischen Richtungen benennt Kristeva mit den Begriffen des ›Semiotischen‹ und des ›Symbolischen‹, die sie in ihrer Theorie im ›Prozeß der Sinngebung‹ vereint sieht.7 Kristeva versteht das Symbolische im Sinne Lacans als zeichenhaft bzw. sprachlich sozialen Terminus, ihr Symbolbegriff grenzt sich somit deutlich von demjenigen bei Goethe oder auch Freud ab.8 Das Semiotische bezieht sich auf eine Zeichenebene, die noch vor der Phase des Spracherwerbs liegt und in das körperliche Funktionieren des Säuglings eingeschlossen ist. Kristeva stützt sich mit ihrem Terminus sowohl auf den Begriff der »Semiologie« im Sinne Saussures, dessen Theorie alle sprachanalogen, distinktiv-binär-arbiträr aufgebauten Zeichensysteme meint, und der erweiterten Form dieses Verständnisses durch Pierce als triadischem Modell, als auch auf den Begriff der »Semiotik«, der alle Zeichen überhaupt, auch nicht binär-arbiträre Zeichen umfasst, wie bei Eco oder Barthes. Kristeva distanziert sich jedoch von diesen Begriffen, indem sie durch ihr Konzept des Semiotischen eine Zeichenebene des frühkindlichen Stadiums beschreibt und den Begriff auf eine vorsprachliche Zeit fokussiert: Es ist die Zeichenhaftigkeit der prä-
5 6 7 8
Vgl.Julia Kristeva: Die Revolution der poetische Sprache, S. 33. Vgl. ebd., S. 34. Vgl. ebd., Kapitel I, Das Semiotische und das Symbolische, S. 32 ff. Zum Begriff des Symbolischen bei Lacan und Kristeva vgl. auch Teil IV, Entwicklung einer Texttheorie in dieser Arbeit. 58
III. ANALOGIEN AUF DER EBENE DER OBERFLÄCHENSTRUKTUR
ödipalen Phase, die Sigmund Freud als »polymorph pervers«9 bezeichnet, wenn er über die Vielfalt der körperlichen Lustfähigkeit des Säuglings schreibt. Das Semiotische bei Kristeva meint den amorphen, noch nicht gerichteten oder gefestigten Raum in Abhängigkeit vom Körper der Mutter. Die zwei Modalitäten, das Symbolisch und das Semiotische, lassen sich im Prozess der Sinngebung nicht trennen, sondern bedingen einander. Durch diese dialektische Beziehung gelingt es Kristeva auch nicht-verbale Zeichensysteme, die ausschließlich auf dem Semiotischen aufbauen, wie z.B. die Musik, in ihre Texttheorie vom Prozess der Sinngebung zu integrieren. Der Musik scheint zunächst die symbolische Komponente zu fehlen, doch Kristeva relativiert diese Ausschließlichkeit, da das Verhältnis der beiden Modalitäten im Prozess der Sinngebung ein dialektisches, also auf Wechselseitigkeit beruhendes und dem Subjekt wesentlich ist: »Da das Subjekt immer semiotisch und symbolisch ist, kann kein Zeichensystem, das von ihm erzeugt wird, ausschließlich ›semiotisch‹ oder ›symbolisch‹ sein, sondern verdankt sich sowohl dem einen wie dem anderen.«10 Erst durch den Einschnitt, den das Symbolische in die Praxis des Textes einführt, bekommt das Semiotische bzw. die semiotische chora11 nach Kristeva eine präziser definierte Aussage. Der ursprüngliche Primat des Semiotischen ist dem Symbolischen inhärent und benötigt dessen Einschnitt, um sich erst dann so komplex artikulieren zu können, wie es in den künstlerischen Praktiken der Musik oder Poesie geschieht.12 Zudem bezieht Kristeva sich bei der Betrachtung des Textes immer wieder auf seine psychologischen Aspekte. So sieht sie mit den Begriffen der Freudschen Psychoanalyse die semiotischen Bahnungen und Triebstasen in die Signifikanten eingebunden, so dass das Semiotische »als eine Art ›zweiter‹ Rückkehr der Triebfunktionalität in das Symbolische« eintritt und somit das Semiotische als Negativität definiert wird, »die in das Symbolische eingeschleust wird und seine Ordnung verletzt.«13 Unter diesem Aspekt des Semiotischen und Symbolischen, der hier nur in Ansätzen umrissen werden kann, befasst sich Kristeva mit der Funktionsweise von Texten. Die dialektische Beziehung des 9 10 11 12 13
Sigmund Freud: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, Wien: Deuticke 19478, S. 65. Vgl. Julia Kristeva: Die Revolution der poetische Sprache, S. 35. Auf den Begriff der chora wird im letzten Kapitel Teil IV dieser Arbeit intensiver eingegangen. Vgl. Julia Kristeva: Die Revolution der poetische Sprache, S. 77. Ebd., S. 78. 59
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Semiotischen und Symbolischen im »Prozess der Sinngebung umfaßt demnach den Genotext ebenso wie den Phänotext, denn nur in der Sprache kann sich eine signifikante Funktionsweise verwirklichen (selbst wenn diese Verwirklichung nicht das Material der Sprache benutzt)«.14 Den beiden Aspekten des Semiotischen und des Symbolischen, dem signifikanten System und den gesellschaftlichen Vorgängen, werden zwei Zeiten des Textes gegenübergestellt, die des Phänotextes und die des Genotextes.15 Unter dem Begriff Phänotext versteht Kristeva eine Sprache, die der Kommunikation dient und von der Linguistik in ›Kompetenz‹ und ›Performanz‹ unterteilt wird. »Der Phänotext ist eine Struktur, die man im Sinne der generativen Grammatik generieren kann; er gehorcht den Kommunikationsregeln und setzt ein Subjekt des Aussagens bzw. einen Empfänger voraus.«16 Der Genotext hingegen ist ein Prozess. Er durchquert »Zonen relativer Begrenzungen und Übergänge« und »besteht aus einem Durchlauf, der nicht von den zwei Polen univoker Information zweier Subjekte blockiert wird.«17 Er umfasst »alle semiotischen Vorgänge (Triebe, ihre Dispositionen, den Zuschnitt, den sie dem Körper aufprägen, und das ökologische und gesellschaftliche System, das den Organismus umgibt: die Umweltobjekte, die präödipalen Beziehungen zu den Eltern) aber auch die Heraufkunft des Symbolischen (Auftauchen von Objekt und Subjekt, Konstituierung von Sinnkernen, die auf eine Kategorialität verweisen: semantische und kategorielle Felder).«18 Das bedeutet, dass der Genotext als ein ›Transportmittel für Triebenergien‹ sich in der Sprache zwar artikuliert und dort erkennbar ist, dass er aber im Sinne der strukturalistischen oder generativen Linguistik nicht sprachlich ist. Er ist ein Prozess, der sich in ›flüchtigen‹ und ›nichtsignifikanten‹ Strukturen äußert, er ist im Gegensatz zum phänotextuellen »Vernünftig-Berechenbaren« das »Vital-Quereinschlagende«, wie Martin Geck in seinem Artikel Musik als Körpersprache formuliert.19 Kristeva geht davon aus, dass »die Aussagematrizen das Ergebnis der Wiederholung von Triebladungen sind [...] unter biologi14 Ebd., S. 96. 15 Reinold Werner in der Einleitung zu Julia Kristeva, Die Revolution der Sprache, S. 12 f. 16 Julia Kristeva: Die Revolution der poetische Sprache, S. 96. 17 Ebd., S. 96. 18 Ebd., S. 94. 19 Martin Geck: »Musik als Körpersprache. Julia Kristeva zum 60. Geburtstag«, in: kultuRRevolution nr. 43, Essen: klartext verlag 2001, S. 91. 60
III. ANALOGIEN AUF DER EBENE DER OBERFLÄCHENSTRUKTUR
schen, ökologischen und soziofamilialen Einwirkungen [...], daß sie die Stabilisierung der Bahnung in Stasen sind, deren jeweilige Umweltstruktur die Symbolisierung begünstigt und auf die sie Einfluß nimmt«20 und der Genotext somit die Grundlage der Sprache bildet. Vor diesem Hintergrund sollen die beiden Texte der Kreisleriana von E.T.A. Hoffmann und Robert Schumann untersucht werden, zunächst die kommunikative Struktur des Phänotextes und die sprachstilistischen sowie kompositionstechnischen Gestaltungsmittel auf der Ebene der Oberflächenstruktur und im weiteren der Inhalt und Ausdruck der Tiefenstruktur bzw. die Triebenergien sowie die SubjektObjekt-Konstellationen des Genotextes.
Geschlossene und offene Form – K r i te r i e n u n d M e r k m al e z u r U n te r s u c hu n g d e s P hä n o t e x t e s Kriterien für die Analyse des Phänotextes liefert die Unterscheidung von geschlossener Form und offener Form nach Heinrich Wölfflin.21 Diese beiden Formtypen konstituieren sich durch unterschiedliche Kompositionstechniken. Wölfflin charakterisiert die geschlossene Form als eine strenge, regelmäßige Darstellungsform von begrenzter Erscheinung und stets auf sich selbst zurückdeutend, sie besitzt vollkommene Symmetrie sowie ein stabiles Gleichgewicht und beherrscht die Einordnung des Inhalts in einen festgesteckten Rahmen. Die offene Form hingegen weist einen eher freien, irregulären, unbegrenzt erscheinenden und überall über sich selbst hinausweisenden, fragmentarischen Charakter auf, sie verfügt über keine reine Symmetrie, über ein lediglich labiles Gleichgewicht und entfremdet ihren Inhalt dem vorgegebenen Rahmen.22 Vielheit und Dispersion sind ihre Kennzeichen, es herrscht keine Einheit der einzelnen Komponenten, wie z.B. die Einheit von Handlung, Raum und Zeit, vor. Der Inhalt geht über den Rahmen hinaus, so dass das Geschehen unvermittelt einsetzt sowie unvermittelt endet. Die offene Form verflüssigt die strenge Gesetzmäßigkeit der geschlossenen Form und fügt ihr das Regellose, die 20 Ebd., S. 95. 21 Heinrich Wölfflin: Kunstgeschichtlich Grundbegriffe. Das Problem der Stilentwicklung in der neueren Kunst, Basel: Schwabe & Co. AG Verlag 199118, S. 264. 22 Vgl. Heinrich Wölfflin, S. 147 f. und 175. 61
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Phantastik, die Dissonanz und den Aspekt des Zufälligen ein. Zeitliche und räumliche Dimensionen sind nicht mehr kontinuierlich durchgängig geführt, wie in der geschlossenen Form, sondern verfügen über situationsbedingte spezifische Qualitäten. Dem stetigen, einheitlichen Zeitfluss wird die Intensität des jeweiligen Augenblicks gegenüber gestellt. Die spezifische Zeitlichkeit und Räumlichkeit betont den einzelnen Moment und die Darstellung des Ganzen in Ausschnitten. Dem repräsentativen Abgerundetem, der Geschlossenheit des »Ausschnitts als Ganzem« steht das offene Kompositionsprinzip »Das Ganze in Ausschnitten« zu beschreiben gegenüber.23 Diese Darstellungsform der offenen Form stellt ein ästhetisches Kriterium für die Phänotextanalyse dar. Dem Konstruktionsschema des Einheitlichen der geschlossenen Form tritt das mannigfaltige Wechselspiel der Einzelelemente der offenen Form gegenüber. Es entstehen Juxtapositionen, Wechsel- und Kontraststrukturen, die unterschiedliche künstlerische Verfahrenswiesen der Vermittlung erfordern. Diese ›Koordination der Einzelmomente‹ ist eine zweite Kategorie der Darstellungsform, es gilt das Verhältnis zwischen dem Teil und dem Ganzen sowie das Zusammenspiel der Teile untereinander zu klären. Die geschlossene Form wählt den Ausschnitt als Ganzes, so dass die Teile sich durch ihre symmetrische, teleologische, ausgewogene Komposition dem Ganzen verschreiben und subordinieren. Diesem Gerundetem steht eine interruptive, dem Augenblick verhaftete, reihende, koordinierende, »afinale Kreisbewegung« der offenen Form gegenüber. Das Subjekt wird nicht mit einer Person, einem klar definiertem anderen Subjekt konfrontiert, sondern sein Gegenpart ist die Mannigfaltigkeit der Welterscheinungen: »Von allen Seiten auf ihn eindringend macht sie den Helden zum Monagonisten und unterwirft die Handlung einer afinalen Kreisbewegung. Entsprechend ist das vorwiegende Kompositionsprinzip das einer kreisenden Variation von Weltaspekten.«24 Eine dritte Kategorie der Darstellung soll die absolute, vollständige Klarheit in Abgrenzung zur relativen, unbestimmten Klarheit sein. Die Kategorie der Klarheit steht nach Wölfflin in enger Verbindung zu dem Gegensatzpaar »Linear und Malerisch«.25 Während das 23 Vgl. zu diesen beiden Beschreibungen der geschlossenen und der offenen Form Volker Klotz: Geschlossene und offene Form im Drama, München: Hanser 1999 (1960). 24 Volker Klotz: Geschlossene und offene Form im Drama, S. 219. 25 Vgl. Heinrich Wölfflin: Kunstgeschichtliche Grundbegriffe, S. 28, 241. 62
III. ANALOGIEN AUF DER EBENE DER OBERFLÄCHENSTRUKTUR
Lineare dem Tastbaren, Körperlichen und seiner isolierten, begrenzten Erscheinung verhaftet ist und dementsprechend plastisch gestaltet, geht das Malerische über den bloßen Schein hinaus und sieht vorrangig die Gesamtheit. Ähnlich verhält es sich mit dem Gegensatzpaar »Klarheit und Unklarheit« bzw. vollständige und unbestimmte Klarheit. Eine Darstellung mit absoluter, vollständiger Klarheit gebraucht ihre Ausdruckskomponenten, um das Motiv zu zeigen. Dem unklaren oder unbestimmten, relativen Ausdruck gilt das Motiv nicht mehr als Selbstzweck der Darstellung, es kommen vielmehr die nicht-plastischen Qualitäten zum Ausdruck, die einzelnen Strukturkomponenten bekommen einen Eigenwert.26 Auch die Subjekt-Position differenziert sich und ist in der jeweiligen Kategorie eine andere. Während in der geschlossenen Form eine vollständige Klarheit und abgerundete, in sich geschlossene Subjektivität vorherrscht, wird das Subjekt der offenen Form dem jeweiligen Augenblick ausgesetzt. Wirklichkeitsnähe und Alltagskontakt brechen die Geschlossenheit des Charakters auf, machen das Subjekt unfrei und führen zur Dezentrierung desselben. Das Subjekt verliert die Besonnenheit, das kontrollierte Selbstbewusstsein sowie das Vermögen zur Selbstreflexion. Dieser Charakter unbestimmter Klarheit setzt sich in den weiteren Strukturkomponenten fort, beispielsweise in der Syntax und der Wortwahl oder dem Rhythmus und der Harmonik. Es wird sich schnell zeigen, dass das Konzept eines Kreislerianums bestimmt ist durch die strukturellen Merkmale der offenen Form, dass das Ganze geprägt ist durch die Darstellung in Ausschnitten und dass eine Koordination statt Subordination der Einzelmomente vorliegt. Die stilistischen Mittel, mit denen die offene Form konstituiert wird, lassen sich zum größten Teil aus dem philosophischen Konzept der ›romantischen Ironie‹ nach Friedrich Schlegel erschließen. Das dem Kreislerianum historisch adäquate Modell der ›romantischen Ironie‹ stellt den kunstästhetischen Hintergrund dar und liefert die Terminologie zur Bestimmung des Phänotextes.
26 Ebd, S. 28 f. 63
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Exkurs: Die romantische Ironie Schlegels Konzept der ›romantischen Ironie‹ Mit dem Begriff der ›romantischen Ironie‹ als einem philosophischästhetischen Problem und einer künstlerischen Ausdrucksform hat sich Ingrid Strohschneider-Kohrs in ihrer Schrift Die romantische Ironie in Theorie und Gestaltung eingehend beschäftigt.27 Auf ihre Untersuchung des Ironie-Begriffs bei Friedrich Schlegel und des HumorBegriffs Jean Pauls wird in den folgenden Ausführungen Bezug genommen. Aus der Kunsttheorie und der ästhetischen Philosophie der Romantik werden zwei Problemstellungen formuliert, die den Entwurf der romantische Ironie bestimmen und im Ironie-Postulat eine Antwort suchen. Es geht zum einen um die Frage nach dem künstlerischen Schaffensprozess und dessen Entstehungsbedingungen und zum anderen um die Formen und Mittel bzw. die Gestaltungsprinzipien, derer sich die moderne Kunst zum Vortrag ihres ästhetischen Sinns bedient. In seiner Konzeption der ›romantischen Ironie‹ greift Friedrich Schlegel diese Problemstellung auf und definiert den Ironie-Begriff als ein ästhetisches Phänomen und ein künstlerisches Prinzip romantischer Kunst. Zur Bestimmung formaler Kriterien, die das Prinzip der romantischen Ironie im objektivierten Kunstwerk bezeichnen, ist es notwendig, die wichtigsten Kategorien in Schlegels Ironie-Begriff zu isolieren. Unter Verweis auf die Sokratische Ironie betont Schlegel die rationale, philosophische Komponente der Ironie. Ironie ist nach Schlegel »ein philosophisches, kein poetisches Vermögen«, sie soll als philosophisches Bewusstsein in der Poesie wirksam werden.28 Schlegels Ironie-Begriff beruht auf philosophischen Überlegungen. Für ihn gehören die Philosophie, der Logos bzw. die Verstandeskraft zu den mitwirkenden, inneren Bedingungskräften des künstlerischen Schaffensprozesses. Somit legt er als eine Kategorie der ›romantischen Ironie‹ das Bewusstsein fest. Nach Schlegels Auffassung ist es »das eigentlich Widersprechende in unserm Ich, daß wir uns zugleich endlich und unendlich fühlen.«29 Die bewusste Reflexion dieses metaphysischen Gegensatzes von Endlichem und Unendlichem, 27 Ingrid Strohschneider-Kohrs: Die romantische Ironie in Theorie und Gestaltung, Tübingen: Niemeyer 19772. 28 Vgl. Ingrid Strohschneider-Kohrs, S. 17 f. 29 Friedrich Schlegel, KA XII, 335, 4, zitiert nach Manfred Frank, Einführung in die frühromantische Ästhetik. Vorlesungen, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1989, S. 287. 64
III. ANALOGIEN AUF DER EBENE DER OBERFLÄCHENSTRUKTUR
von Bedingtem und Unbedingtem ist wesentliche Voraussetzung für Schlegels Ironie-Konzept. Der unauflösliche Widerspruch wird von der Ironie nicht nur wahrgenommen, sondern er verleiht ihr eine spezifische Selbstbewegung, eine innere Dynamik: Die Ironie bewegt sich zwischen diesen Gegensätzen, zwischen dem Bedingten und dem Unbedingten des Ich, zwischen dem Sagbaren und dem Unsagbaren. Ihre wesensmäßige Unfähigkeit, das Unsagbare dennoch zu sagen, treibt sie in einen Akt der Reflexion. Indem die poetische Sprache auf sich selbst zurückgreift, sich und ihren Entstehungsprozess thematisiert, reflektiert sie sich und ihre Bedingtheit. Für die Ironie ist diese Verbindung von Gegensätzen konstitutiv, sie steht als ein agens zwischen diesen Polen. Schlegel definiert gerade den Zwiespalt als den Aktionsraum der Ironie.30 Er kennzeichnet die Ironie als eine »unendliche Kraft«, die auf einer permanenten Wechselwirkung, einer sich fortzeugenden inneren Dialektik von ›Selbstschöpfung‹ und ›Selbstvernichtung‹ beruht.31 Der Darstellung des Geschaffenen folgt unvermittelt die Darstellung des Akts des Schaffens, dem Sagen folgt reflexiv, in zeitlicher Abfolge die Aufhebung des Gesagten. Indem das tatsächlich Gesagte auf seinen Entstehungsprozess, seine Bedingtheit durch eine schöpferische Quelle verweist, identifiziert es sich als Teil des Sagens und hebt sich somit für den Moment auf. Schlegel nennt diese Dialektik das Wechselspiel von ›Selbstschöpfung und Selbstvernichtung‹.32 Er fasst diesen fortwährenden Prozess innerer Selbstbewegung unter seinen Ironie-Begriff: Ironie ist das Pendeln zwischen Position und Negation, wobei die Negation die dialektische Bewegung immer wieder neu auslöst und somit eine innere Unendlichkeit, eine »in die Relation zum Unbedingten höherführende Negation« schafft.33 Die Kategorien des Schlegel’schen Ironie-Konzepts sind somit Bewusstsein und Bewegung. Die Ironie ist ein Bewusstsein, dessen agens Schlegel als Negation und als – durch diese Negation bewirkte – Höherführung bezeichnet.34 Die durch die Höherführung mögliche Erhebung über Bedingtes meint bei Schlegel auch die Erhebung über die eigene Kunst und über das eigene Selbst. Die hiermit angedeutete künstlerische Haltung und das künstlerische Verfahren der romantischen Ironie werfen die Frage 30 Vgl. Ingrid Strohschneider-Kohrs, S. 25 f. 31 Vgl. ebd., S. 39 f. 32 Vgl. Manfred Frank: Einführung in die frühromantische Ästhetik, S. 365. 33 Ingrid Strohschneider-Kohrs, S. 35. 34 Vgl. ebd., S. 88. 65
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nach der Subjektivität und der Objektivität in Schlegels IronieKonzept auf. Wenn die Ironie in der Dichtung als die Erhebung über Bedingtes, also auch als Erhebung über die eigene Kunst und das eigene Selbst beschrieben wird, ist hier nicht eine Selbst-Erhebung gemeint, die mit Subjektivismus gleichgesetzt wird. Das Verhältnis von Subjektivität und Objektivität in dem von Schlegel postulierten Prinzip ist differenzierter als es im modernen Sinne verstanden wird. Es lässt sich nach Strohschneider-Kohrs am ehesten mit dem von Fichte verwendeten Begriff der »Subjekt-Objektivität« oder mit dessen Satz der freien Selbstsetzung des Ichs fassen. Demnach setzt die Ironie die hohe selbstbewusste Souveränität des sich zur Freiheit bestimmenden Ichs voraus. Schlegel sieht die Freiheit des Künstlers bzw. der Kunst überhaupt durch den dialektischen Prozess der ›Selbstschöpfung und Selbstvernichtung‹ gegeben. Diese Wechselbeziehung von Schaffen und Vernichten ist die notwendige Voraussetzung für eine freie Selbstbestimmung.35 Sie gibt Aufschluss über den Begriff der freien Selbsterhebung bei Schlegel und ist gleichzeitig kennzeichnend für dessen Ironie-Begriff. Unter Bezugnahme auf den Fichteschen Begriff der ›Schranke‹, der den dialektischen Vorgang innerer Selbstbestimmung bezeichnet und die Beziehung von Realität und Negation kennzeichnet: »Etwas einschränken heißt: die Realität desselben durch Negation nicht gänzlich, sondern nur zum Theil aufheben«36, entwickelt Schlegel sein Verständnis von der ›Selbstbeschränkung‹ als dem Ausdruck höchster Selbstbestimmtheit und ›unendlicher Kraft‹. Schlegel definiert Selbstbeschränkung als ein Resultat von Selbstschöpfung und Selbstvernichtung. Selbstbeschränkung meint die Freiheit von selbstbezogener und objektgerichteter Bindung. Mit der dialektisch zu vollziehenden Selbstbeschränkung fordert Schlegel von dem Künstler ein reflektiertes Verhalten, das ihn vor Selbstbezogenheit und Gegenstandsverfallenheit schützt und eine freie Form der künstlerischen Darstellung gewährleistet. Der Begriff der Objektivität, von Schlegel als die innere Organisation eines Kunstwerks verstanden, kennzeichnet nach Strohschneider-Kohrs die Ironie im künstlerischen Schaffen als »die Ermöglichung künstlerischer Objektivität«.37 Die dargestellten Kategorien des von Schlegel entworfenen IronieKonzepts können und sollen Auswirkung auf die Gestaltung eines 35 Vgl. Ingrid Strohschneider-Kohrs, S. 28. 36 Johann Gottlieb Fichte, Werke I,1 S. 108, Grundlage der ges. Wiss. Lehre, zitiert nach Ingrid Strohschneider-Kohrs, S. 29. 37 Vgl. Ingrid Strohschneider-Kohrs, S. 89. 66
III. ANALOGIEN AUF DER EBENE DER OBERFLÄCHENSTRUKTUR
Kunstwerks haben. Bestimmte Wesenszüge eines Werkes werden durch das Prinzip der romantischen Ironie geprägt. Deutlich wird dieses an Momenten der bewussten Herauslösung aus der gegenständlichen oder erlebnisbedingten Darstellung. Die Durchbrechung einer Illusion oder die Einfügung der Ebene einer Reflexion, die den Künstler die Umstände des Schaffensprozesses oder das Konzept seiner Darstellung im objektivierten Werk offen legen lässt, ist Hinweis auf eine künstlerische Selbstbeschränkung im Sinne der romantischen Ironie. Das Aufdecken des Verfahrens, die Thematisierung von Geschaffenem und Schaffendem, also der Generativismus des Kunstwerks ist ein zentrales Kriterium des Schlegel’schen Ironie-Postulats. Von zentraler Bedeutung ist hierbei die unaufgelöste, beibehaltene Mitte zwischen Dargestelltem und Darstellendem. Produkt und Produzent bleiben als Antithese nebeneinander existent und werden nicht in die Synthese überführt. Dieses Spannungsmoment definiert Schlegel als die ›poetische Reflexion‹, welche sich im Werk mit darstellt und somit eine Potenzierung der Reflexion, eine reflektierende Reflexion als eine sich endlos fortsetzende Reihe von Spiegeln bewirkt. Diese Leistung der romantischen Ironie bezeichnet Schlegel als das transzendentale Vermögen und mit den Worten Strohschneider-Kohrs als »ein Verhalten zu sich selbst, in dem das Handelnde die Bedingungen seiner Möglichkeit einbezieht und zu nennen vermag«.38 Die Forderung nach einer Selbstdarstellung der Poesie prägt einen ästhetischpraktischen Ausdruck der Besonnenheit, der sich als dialektisch ausgewogene Selbstbeschränkung durch die reflektierende Distanz als künstlerischer Freiheit äußert. Eine weitere Auswirkung der inneren Dialektik und der reflektierenden poetischen Reflexion ist ihre fortzeugende Bewegung, die unendliche Dynamik. Die zyklische Methode der reflektierenden Spiegelung, der »Selbstbespiegelung« als einer inneren Unendlichkeit im endlichen Werk, stellt sich als formales Merkmal im Nebeneinander von Geschaffenem und Schaffendem dar.39 Ein sich ebenfalls in formalen Kriterien äußerndes Moment des Ironie-Konzepts ist das der Verweisung. Auf die kunstphilosophische Frage nach der besonderen Beziehung der Kunst zum Ganzen der Welt antwortet Schlegel mit Begriffen wie ›Tendenz‹, ›Allegorie‹ und ›Bedeutung‹. In ihrem Verhältnis vom Teil zum Ganzen ist die Kunst
38 Ingrid Strohschneider-Kohrs, S. 47. 39 Vgl. ebd., S. 51. 67
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»nur ferne Nachbildung« vom »Spiele der Welt«.40 Sie kann das Höchste, das Unendliche, das Universale nicht ausdrücken, da es unaussprechlich und nur allegorisch zu umschreiben ist. Die didaktische Poesie oder auch ›wissende Poesie‹, in der sich Poesie und Philosophie verbinden und in der geistige Darstellung und Bildung Ausdruck finden sollen, weiß um ihre Bedingtheit und Unfähigkeit das Unbedingte und Höchste durch Reflexion positiv zu erreichen und äußert sich deshalb in der Allegorie. Unter Allegorie versteht Schlegel nicht die symbolische Darstellung des Ganzen, sondern eine wie Strohschneider-Kohrs formuliert »besondere Art des bewußt Zeichenhaften, eines reflektierenden Hinweisens«.41 In diesem Sinne des Verweisens verwendet Schlegel auch den Begriff der ›Tendenz‹. Aus der engen Beziehung zum Ganzen, zum Unendlichen, zum Wissen um das Ganze und der »Ahnung des Ganzen«42 ergibt sich für Schlegel der Charakter des ›Verweisens‹, des über die eigentliche Darstellung Hinausweisenden in der Kunst. Die Forderung der Kunst nach einer Tendenz auf einen unendlichen Sinn fasst Schlegel auch unter den Begriff der ›Bedeutung‹, wenn er fordert: »jedes Werk soll das Ganze bedeuten [...] und durch die Bedeutung und Nachbildung auch wirklich und in der That sein, weil außer dem Höheren, worauf sie deutet, nur die Bedeutung Dasein und Realität hat.«43 Die Kunst als Tendenz, als Allegorie, als Bedeutung und Nachbildung, als ein Verweisen auf den unendlichen Sinn soll nach Schlegel das »ganze Spiel des Lebens als Spiel« nehmen und auch als solches darstellen.44 Indem sie in ihrer Darstellung das Spiel des Lebens und nur dieses nachbildet, bewegt sie sich ausschließlich im ästhetischen Bereich; die Kunst soll sich somit auf sich selbst und auf den ästhetisch künstlerischen Bereich der Darstellung beschränken. In ihrer Beschränkung verdeutlicht sie ihr Verhältnis zum Ganzen als ›Zeichen‹, sie akzeptiert den Abstand zwischen sich und dem Absoluten, dem Unendlichen und gestaltet sich in ihrer Zeichenhaftigkeit als Teil des Ganzen. Wenn Schlegel die Beschränkung der Kunst auf sich selbst fordert, ihr einen hinweisenden Charakter zuspricht und sie als Stückwerk des Ganzen ansieht, versteht er dennoch nichts Vages oder Unbestimmtes unter romantischer Kunst, sondern meint mit den Worten Strohschneider-Kohrs 40 41 42 43 44
Ebd., S. 65. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 66. Friedrich Schlegel, zitiert nach Ingrid Strohschneider-Kohrs, S. 69. Vgl. Ingrid Strohschneider-Kohrs, S. 68. 68
III. ANALOGIEN AUF DER EBENE DER OBERFLÄCHENSTRUKTUR
»die Realität und die Erscheinung der Kunst als eben das Verweisen selbst. In und als Relation zum Unendlichen ist die Kunst von Bestimmtheit und Form.«45 Die Ironie ist nun jenes philosophische Vermögen und besonnene Bewusstsein, das den Abstand der Kunst zum Ganzen realisiert. Indem sie die Erhebung über das Dargestellte und die künstlerische Selbstbeschränkung fasst, ist die Ironie ein Mittel, das es der Kunst ermöglicht, als Teil und in ihrer Beschränkung im ästhetischen Sinn, Selbständigkeit zu erlangen. Die Ironie ist das Vermögen, durch Verweisung auf die Kunst als Zeichen, als Allegorie und Mittel zur Anschauung des Ganzen hinzudeuten, sie ist Medium und agens zugleich, sie ist »Mittel der Selbstrepräsentation von Kunst.«46 Wie sich das Darstellungsprinzip der Ironie formal im Kunstwerk äußert, welche Kriterien es zur Verdeutlichung und Vergegenwärtigung der ästhetischen Realität konkret ausbildet, kann nur an Formen des Verweisens am künstlerischen Gegenstand selbst untersucht und gezeigt werden. Festzumachen ist, dass Schlegels Ironie-Postulat eine bewusste Abkehr von jeder Art des Sentimentalismus fordert und in der Betonung des Logos und der Absichtlichkeit expressiven Ausdruck sowie Selbst- und Gegenstandsverfallenheit ablehnt. Durch die Perspektive eines endlosen Werdens, der reflektierenden poetischen Reflexion und der Erhebung der Kunst über sich selbst, des Verweisens über das Geschaffene hinaus, erschließt sich der künstlerischen Gestaltung durch Schlegels Ironie-Konzept eine neue ästhetische Wirklichkeit. Strohschneider-Kohrs hebt den Aspekt der Autonomie des Kunstwerks bei Schlegel durch eben diese ästhetische Realität besonders hervor. Schlegels Postulat löst sich von der künstlerischen Gestaltung vorgegebener Stoffe und Gegenstände als dem wesentlichen Moment der Kunst. Vielmehr sieht er die Selbstständigkeit der Kunst dadurch verwirklicht, dass die Inhalte bzw. die Kunst selbst als autonome ästhetische Wirklichkeit durch den Charakter der Verweisung Transparenz bekomme für ein Unendliches und Absolutes. ›Romantischer Humor‹ bei Jean Paul Im Hinblick auf die Beschäftigung mit E.T.A. Hoffmann und Robert Schumann darf der Ironie- oder Humor-Begriff bei Jean Paul nicht unberücksichtigt bleiben. Jean Paul unterscheidet in seiner »Vorschule der Ästhetik« zwischen Ironie und Humor. Die Ironie gilt ihm hier 45 Ebd., S. 69. 46 Ebd., S. 70. 69
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»als reiner Repräsentant des lächerlichen Objekts«, sie ist für ihn »der Ernst des Scheines«,47 sie setzt nicht die Phantasie, sondern den Verstand und »ein fortgehendes Ansichhalten oder Objektivieren« voraus, die Ironie hat ihre Pointe in »prosaische[r] Verstandeslosigkeit statt in poetischer Ungereimtheit«.48 Indem Jean Paul unter dem Begriff der Ironie Verstellung oder eine indirekte Aussage versteht, die den »Ernst des Scheins« wahrt und sich nicht erklärt, drückt er ein allgemeines Verständnis von bitterer, rhetorischer Ironie aus, von dem Schlegel jedoch Abstand nimmt.49 Der Ironie-Begriff wird von Jean Paul und Schlegel konträr definiert. Jean Paul distanziert sich weniger von dem strukturellen Begriff der romantischen Ironie, wie ihn Ingrid Srohschneider-Kohrs herausarbeitet, sondern vielmehr von dem philosophischen Begriff der romantischen Ironie nach Fichte und Schlegel. Beide Parteien, Jean Paul und die Philosophen Fichte und Schlegel, gehen von einer inneren Dialektik aus, doch während Jean Paul ein eher antithetisches, dualistisches Verständnis dieser Dialektik hat, betont Schlegel den progressiven Charakter der inneren Dialektik als einer sich fortzeugenden Bewegung. Jean Paul richtet sich in seiner Vorschule der Ästhetik gegen den »vernichtenden Idealismus der Philosophie« und meint »Viel dürfte zur Tollheit auch der poetische Idealismus in seinem Bunde mit dem Zeitgeist hinwirken.«50 Er kritisiert die Dichtkunst derjenigen, die »erstlich Streben schon für Zweck und Palmenpreis, statt für Mittel und Weg«51 halten und mit seinem Vorwurf »Freilich lebt man jetzo mehr im Vernichten als im Erschaffen«52 richtet er sich explizit gegen Schlegels Postulat der »Erhebung über sich selbst«, gegen die Forderung der romantischen Ironie als einem permanenten Akt der Selbstschöpfung und Selbstvernichtung.53 Die Auffassung von Humor bei Jean Paul scheint dem Schlegel’schen Ironie-Postulat näher zu kommen, wenn Jean Paul von dem Zwiespalt des Bedingten und Unbedingten, dem Erreichen des Unendlichen durch Vernichtung ausgeht: »Der Humor, als das umgekehrte Erhabene, vernichtet nicht das Einzelne, sondern das Endliche durch den Kontrast mit der Idee. [...] er erniedrigt 47 48 49 50 51 52 53
Jean Paul: Vorschule der Ästhetik, S. 148. Ebd., S. 154. Jean Paul: Vorschule der Ästhetik, S. 148. Ebd., S. 401. Ebd., S. 382. Ebd., S. 383. Vgl. ebd., S. 151. 70
III. ANALOGIEN AUF DER EBENE DER OBERFLÄCHENSTRUKTUR
das Große, aber – ungleich der Parodie – um ihm das Kleine, und erhöhet das Kleine, aber – ungleich der Ironie – um ihm das Große an die Seite zu setzen und so beide zu vernichten, weil vor der Unendlichkeit alles gleich ist und nichts.«54
Eine eindeutige Analogie scheint sich zu zeigen, wenn Jean Paul sich selbst in den Zwiespalt von Endlichkeit und Unendlichkeit setzt und sein Ich in den »endlichen und unendlichen Faktor« zerspalten sieht.55 Die Differenz zum romantischen Ironie-Postulat klingt in einer anderen Formulierung Jean Pauls an: »Nach jeder pathetischen Anspannung gelüstet der Mensch ordentlich nach humoristischer Abspannung.«56 Schlegels Ironie-Konzept geht von einem Aushalten des Spannungsmomentes aus, denn aus dem Zwiespalt gewinnt die Ironie ihre Triebkraft, ihre innere Dynamik. Die Ironie ist die Spannung, das Verhältnis von Endlichem zu Unendlichem, sie ist das Agieren im künstlerischen Schaffensprozess zwischen Bedingtem und Unbedingtem. Im Gegensatz zu diesem dialektischen Prozess der Ironie bei Schlegel befindet sich das stehende, an einen Standort gebundene Moment des Humors bei Jean Paul: »Wenn der Mensch, wie die alte Theologie tat, aus der überirdischen Welt auf die irdische herunterschauet: so zieht diese klein und eitel dahin; wenn er mit der kleinen, wie der Humor tut, die unendliche ausmisset und verknüpft: so entsteht jenes Lachen, worin noch ein Schmerz und eine Größe ist.«57
Dieser Humor-Begriff bezeugt eine Anschauung des irdischen Lebens, die lächelnd über Gegenstand und Inhalt des Lebens hinwegsieht und im Bewusstsein des Unendlichen sich der Betrachtung des Zwiespalts von Endlichkeit und Unendlichkeit hingibt. Gemeinsame praktisch-formale Kriterien des Humors und der Ironie lassen sich in den ästhetischen Verfahren der Selbstreflexion der Kunst und der Illusionsstörung feststellen. Jedoch liegen hier nach Strohschneider-Kohrs zwei verschiedene Auslegungen eines Phänomens vor.58 Jean Paul geht davon aus, dass »im Humor das Ich paro-
54 55 56 57 58
Ebd., S. 125. Ebd., S. 133. Jean Paul: Vorschule der Ästhetik, S. 130. Ebd., S. 129. Vgl. Ingrid Strohschneider–Kohrs, S. 153 f. 71
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distisch heraustritt« und »wir uns poetisch als Toren setzen«.59 Der Humor versetzt das Ich in eine Position außerhalb der Endlichkeit und nutzt die Illusionsstörung als eine Form der Anschauung, sie wird zum Anschauungsbild des Humors. Für Schlegel ist die Selbstreflexion jedoch die Verweisung über sich hinaus. Die Illusionsstörung wird zum Kunstmittel, mit dessen Hilfe das Dargestellte überwunden wird und auf die ästhetische Realität, die Aussage an sich verweist. Erst das verweisende, den Schaffensprozess und die Entstehungsbedingungen einbeziehende Zeichen ermöglicht den transzendentalen Charakter des Schlegel’schen Ironie-Postulats. Der Vergleich des Humor-Begriffs bei Jean Paul mit dem des Ironie-Begriffs bei Schlegel lässt eine unterschiedliche Kunstauffassung deutlich werden. Während Jean Paul in der Poesie Gehalt und Darstellung des Lebens sucht und ihr eindeutige Positionen zuordnet, entweder den erhabenen Pathos oder den lächelnd »abspannenden« Humor, stellt Schlegel die Kunst als eine ästhetische Realität dar, die sich über sich selbst als Bedingtes erheben möchte; für ihn besitzt die Kunst eine innere dialektische Bewegung, die sich sowohl im Schaffensprozess als auch im vollendeten Kunstwerk als Ironie und mit der Ironie äußert und die der Kunst die Verweisung auf das Unbedingte ermöglicht.60 Die Kategorien der ›Ironie‹ und des ›Humors‹ bei E.T.A. Hoffmann E.T.A. Hoffmann äußert sich zum Begriff der Ironie dahingehend, dass er unter Ironie oder einem ›ironischen Ton‹ den Moment versteht, in dem das Poetische mit der Alltagswelt in Berührung kommt, das Phantastische unvermittelt in Erscheinung tritt oder der »versteckte Poet« sich bemerkbar macht.61 Oft verwendet Hoffmann die Begriffe Ironie und Humor in enger Verbindung oder synonym.62 Aus Hoffmanns kunsttheoretischen Äußerungen kann letztendlich nicht geschlossen werden, ob und welche Unterscheidung er trifft. Die Betrachtung seines literarischen Werks deutet jedoch darauf hin, dass für Hoffmann Humor und Poesie die Kräfte »tieferen Gemüths« sind, und die Ironie als logisches Vermögen den Intellekt und die Reflexion be59 60 61 62
Jean Paul: Vorschule der Ästhetik, S. 135 f. Vgl. ebd., S. 154. Vgl. ebd., S. 156. Ingrid Strohschneider-Kohrs führt hierfür einige Beispiele und Zitate an. 72
III. ANALOGIEN AUF DER EBENE DER OBERFLÄCHENSTRUKTUR
müht. Die Einflüsse der Ästhetik Jean Pauls sind für Hoffmanns Schaffen von großer Bedeutung. Strohschneider-Kohrs verweist auf die Anlehnung einzelner Motive in Hoffmanns Capriccios an Formulierungen aus der Vorschule der Ästhetik. Die Betonung des Verstandes, des Bewusstseins und des Gedankens als die Kräfte, die dem Phantastischen, dem poetisch Gegebenen den bestimmten Ausdruck im objektivierten Kunstwerk verleihen, entsprechen jedoch dem Ironie-Konzept Friedrich Schlegels. Für Hoffmann sind die Kategorien des ›Bewusstseins‹ und der ›Bewegung‹ bzw. der ›Negation‹ und der durch Negation erzielten ›Höherführung‹ relevant und finden künstlerischen Ausdruck in seinem literarischen Werk. Somit greift Hoffmann die Gedanken des Schlegel’schen Ironie-Postulats auf und setzt sie in konkrete praktisch-ästhetische Gestaltungsprinzipien um. Hoffmann nutzt die Ironie als Darstellungsmittel und literarisches Verfahren, um einen poetisch-humoristischen Ausdruck der Welt zu erzielen. ›Romantischer Humor‹ als musikästhetische Kategorie bei Robert Schumann Schumann hat die Schlegel’sche Theorie der ›romantischen Ironie‹ nicht rezipiert, so dass er von der philosophischen Diskussion um den Ironie-Begriff unberührt blieb. Sein Verständnis von Ironie ist durch seine intensiven Jean Paul-Studien geprägt und ein rein strukturell ästhetisches.63 In seiner Rezension über die Sinfonie fantastique von Berlioz gesteht Schumann zwar der französischen Ironie einen gewissen Stellenwert zu: »Wollte man gegen die ganze Richtung des Zeitgeistes, der ein Dies irae als Burleske duldet, ankämpfen, so müßte man wiederholen, was seit langen Jahren gegen Byron, Heine, Victor Hugo, Grabbe und ähnliche beschrieben und geredet worden. Die Poesie hat sich auf einige Augenblicke in der Ewigkeit die Maske der Ironie vorgebunden, um ihr Schmerzensgesicht nicht sehen zu lassen; vielleicht, daß die freundliche Hand [eines Genius, M.B.-A.] sie einmal abbinden wird.«64
Doch im Grunde, so arbeitet Ulrich Tadday heraus, nimmt Schumann Abstand von der Kompositionsweise der französischen Neuromantiker und lehnt in einem Schreiben an seinen ehemaligen Kompositionsleh63 Vgl. zum Ironie-Begriff bei Schumann Ulrich Tadday: Das schöne Unendliche, S. 112 f. 64 Robert Schumann: »Sinfonie von H. Berlioz«, S. 85. 73
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rer Heinrich Dorn ihren ironischen Sarkasmus ab: »Schleicht sich aber schon Ironie in unsere Kunst, so ist wahrhaftig zu befürchten, sie stehe ihrem Ende wirklich so nahe, als manche vermuten, wenn anders kleine lustige Kometen das größere Sonnensystem aus seiner Ordnung zu bringen vermöchten.«65 Im Gegensatz zur ›Ironie‹ ist der ›Humor‹ von zentraler Bedeutung für die Musikästhetik des 19. Jahrhunderts. Er stellt die einzige musikästhetische Kategorie dar, die als wahrhaft »romantisch« gilt.66 Vorbereitet wird diese Vorstellung, wie bereits angedeutet, in Jean Pauls Vorschule der Ästhetik. Hier werden die Begriffe »romantisch«, »humoristisch« und »musikalisch« gleichgestellt, wenn Jean Paul über den »unbestimmte[n] romantische[n] Charakter der Musik«67 schreibt. In § 33 seiner Vorschule der Ästhetik stellt Jean Paul fest: »Etwas der Keckheit des vernichtenden Humors Ähnliches, gleichsam einen Ausdruck der Welt-Verachtung kann man bei mancher Musik, z.B. der Haydnschen, vernehmen, welche ganze Tonreihen durch eine fremde vernichtet und zwischen Pianissimo und Fortissimo, Presto und Andante wechselnd stürmt.«68
An diesem Zitat wird das vernichtende, aufhebende, unbestimmte Wesen des Jean Paulschen »Humor«-Begriffs deutlich. Für die Musikästhetik der Romantik und insbesondere für Robert Schumann hat das Verständnis vom »vernichtenden Humor« zur Konsequenz, dass die Idee des Unendlichen in der Musik erst durch den Kontrast musikalischer Teilmomente, also durch den Kontrast zum Endlichen erklingt.69 Was Jean Paul als »ganze Tonreihen durch eine fremde vernichtet« bezeichnet, umschreibt Schumann für seinen Klavierzyklus Carnaval mit folgender Formulierung: »Im Carnaval hebt immer ein Stück das andere auf«70. Schumanns musikästhetischer »Humor«-Begriff und 65 Robert Schumann, H. Dorn, ›L’aimable Roué‹, Divertissement (Cmajeur) oe. 17, in: Gesammelte Schriften über Musik und Musiker, S. 185. 66 Vgl. Ulrich Tadday: Das schöne Unendliche, S. 113 f. 67 Jean Paul: Vorschule der Ästhetik, S. 94. 68 Ebd., S. 132. 69 Vgl. Ulrich Tadday: Das schöne Unendliche, S. 114. 70 Robert Schumann in einem Brief an Clara Wieck, Wien 26.01.1839, veröffentlicht in: Clara und Robert Schumann: Briefwechsel. Kritische Gesamtausgabe. Hrsg. v. Eva Weissweiler, III Bde., Bd. II. 1839, Basel, Frankfurt/M. 1987, S. 367 f.; zitiert in: Ulrich Tadday, Das schöne Unendliche, S. 114. 74
III. ANALOGIEN AUF DER EBENE DER OBERFLÄCHENSTRUKTUR
seine praktisch-ästhetische Umsetzung ins Künstlerische nimmt direkten Bezug auf Jean Pauls Ästhetik bzw. geht Schumann über diese noch hinaus: Während Jean Paul Mozart, Beethoven und Haydn als die »echten Humoristen« der Musik versteht, gilt für Schumann Bach als der musikalische Ursprung des »romantischen Humors«, ihm gesteht er das »Tiefcombinatorische, Poetische und Humoristische der neueren Musik« zu. 71 Dass die philosophisch-ästhetische Bedeutung des Schlegel’schen Ironie-Postulats und die Kategorien des ›Fragments‹, des ›Witzes‹ oder der ›Allegorie‹ keine wesentliche Rolle für die romantische Musikanschauung spielt, ist nach der Ansicht Taddays zum einen damit zu begründen, dass Schlegels Philosophie den Frühromantikern noch nicht vollständig veröffentlicht vorlag, andererseits betont Tadday die Schwierigkeit der Übertragung literaturästhetischer Kategorien auf die Musik.
D e r P hä n o t e x t d e r H o f f m a n n ’ s c h e n K r e i s le r i an a u n d d e s R o m a n s L e b e n s - A n s i c h t e n de s K a t e r s M u r r Für die Gestaltung der Oberflächenstruktur eines Kreislerianums bedient E.T.A. Hoffmann sich einiger wesentlich romantischer sowie auch realistischer Stilmittel. Phänomene des Phantastischen, des Arabeskenhaften und des Grotesken sind strukturelle Merkmale und die Theorie der romantischen Ironie nach Friedrich Schlegel findet eine künstlerisch-ästhetische Ausprägung. Diese Strukturmerkmale sollen im Folgenden an konkreten Textstellen aus den Kreisleriana und dem Roman Lebens-Ansichten des Katers Murr belegt und untersucht werden. Dabei werden die Merkmale der offenen Form nach Heinrich Wölfflin die übergeordneten Kriterien liefern und der richtungsweisende Faden sein, an dem sich die Untersuchung orientiert. 72 71 Vgl. Ulrich Tadday: Das schöne Unendliche, S. 115. 72 Zur besseren Übersicht über das Kapitel werden Zwischentitel eingefügt, die einzelne Strukturmerkmale der jeweiligen Kategorie benennen. Nicht alle strukturellen Merkmale werden als Zwischentitel aufgeführt werden können, so dass es unter den einzelnen Überschriften immer wieder zur Erwähnung weiterer oder zur Wiederholung bereits erwähnter Strukturmerkmale kommt. Dieses lässt sich aufgrund der engen Verknüpfung der Merkmale nicht vermeiden und zeigt gleichzeitig auch die hohe Dichte der Struktur. 75
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Das Ganze in Ausschnitten Asymmetrie und »Gleichgewichtsverschiebung«73 Es wird deutlich, dass die oben beschriebenen Merkmale einer offenen Form auf die Struktur der Hoffmann’schen Kreisleriana zutreffen: Der Gesamtaufbau des Textes unterliegt keiner strengen Ordnung und erscheint ohne klare Gesetzmäßigkeit, die unterschiedlichen Schreibstile und Perspektiven reihen sich aneinander ohne gebundene Ordnung. Auch die Aufteilung der Kreisleriana in zwei Teile erfolgt asymmetrisch: der erste Teil setzt sich aus sechs und der zweite Teil aus sieben Stücken zusammen. Der Kater Murr ist in zwei Bänden erschienen, die sich in jeweils zwei Kapitel unterteilen. Diese symmetrische Einteilung ergibt sich aus der ironisch überspitzten, biedermeierlichen Schilderung des Murrschen Lebenswegs, welche als ein Bildungsroman par exellance angelegt ist. Dem steht die Geschichte Johannes Kreislers gegenüber, die als Kriminalroman konzipiert die Murr-Geschichte durchwebt. Durch das Wechselspiel dieser beiden Ebenen ergibt sich keinerlei symmetrisches Muster, die Abschnitte sind von unterschiedlicher Länge und während der Kreisler-Teil mit dem eigentlichen Ende des Geschehens beginnt, folgt der Murr-Teil stringent der chronologischen Abfolge. Jedes Gefühl von Gleichgewicht wird durch den Spannungsbogen innerhalb der KreislerBiographie und dem langatmigen Erzählstil des Katers umgehend zunichte gemacht. Es ergeben sich, um mit einem Begriff Heinrich Wölfflins zu sprechen, permanente »Gleichgewichtsverschiebungen«. Indifferenz von Anfang und Ende Kennzeichnend für das Oberflächenkonzept eines Kreislerianums bei Hoffmann ist auch die unbegrenzte, offene Art der Gestaltung des Anfangs und des Schlusses. Dem Phänotext wird eine Grenzstellung zugewiesen, die sich »[...] in der Welt, dicht an der großen Dornenhecke, der Grenze der Vernunft« (63), befindend, in ihrem Beginnen und Enden nicht näher bestimmen lässt. »Sie sind alle fortgegangen« (5), mit diesen Worten beginnt das erste Kreislerianum. Ohne Einleitung oder Vorbereitung wird der Leser direkt in das Zentrum einer Handlung gestellt, gleich einem Tagebucheintrag oder einem Brief wird eine Klärung des Kontextes ausgespart bzw. werden Kenntnisse über das Vorhergegangen vorausgesetzt. Sowohl die Kreisleriana als auch der Roman Lebens-Ansichten des Katers Murr beginnen ohne detaillierte 73 Heinrich Wölfflin, Kunstgeschichtliche Grundbegriffe, S. 148. 76
III. ANALOGIEN AUF DER EBENE DER OBERFLÄCHENSTRUKTUR
Beschreibung oder Charakterisierung der Kreisler-Figur. In den Kreisleriana scheitert der Versuch, die Herkunft Kreislers näher zu bestimmen; es bleibt mit unbeantworteten Fragen ein unbestimmter Beginn. Im Kater Murr wird dieser Versuch von vornherein nicht unternommen. Hier setzt die Kreisler-Biographie völlig unvermittelt mit dem Höhepunkt, der eigentlichen Schlussszene ein. Norbert Miller bezeichnet diesen Anfang als eine »Abwandlung des Nicht-Anfangs«. Durch die fragmentarische Verkürzung in einzelne Makulaturblätter versucht Hoffmann den Beginn medias in res zu gestalten, den Anfang zu umgehen bzw. zu verwischen.74 Inhalt und Rahmen Hinsichtlich des Zusammenspiels von Inhalt und Rahmen entspricht das Hoffmansche Kreislerianum ebenfalls den Kriterien der offenen Form. Wölfflin sieht in der geschlossenen Form eine verbindliche Abhängigkeit von Inhalt und Rahmen, sie beherrscht die Einordnung des Inhalts in einen festgesteckten Rahmen. In der offenen Form besteht ein entfremdetes Verhältnis zwischen Inhalt und Rahmen, hier »soll das Ganze mehr als ein zufälliger Ausschnitt aus der sichtbaren Welt erscheinen.«75 Es gilt, das Kunstwerk »nicht als ein bestehendes Stück Welt erscheinen zu lassen, sondern als ein Schauspiel, das vorübergeht und an dem der Beschauer nur gerade auf einen Augenblick teilzunehmen das Glück hat.«76 Für das Hoffmann’sche Kreislerianum gibt es keinen Rahmen, der eine Geschlossenheit garantierte, der Inhalt ist dem Rahmen nicht eingepasst, sondern scheint ihn zu übersteigen und über ihn hinauszuweisen. So wird der gesetzte Rahmen eines fiktive Herausgebers des auf der Rückseite zufällig zusammengewürfelter Kreisler-Texte geschriebenen Kater Murr-Romans in dem Moment brüchig, wenn die angeblich konzeptlos gefügten Übergänge der Murr-Biographie zur Kreisler-Biographie thematisch ineinander greifen: beispielsweise die Duettgesänge der Liebenden77 oder die Satzübergänge zwischen dem Kreisler-Teil und dem Murr-Teil: »»Toll, ganz toll müsste es ja – (M.f.f.)« aber sein, wenn dergleichen Un-
74 Norbert Miller: Der empfindsame Erzähler. Untersuchungen an Romananfängen des 18. Jahrhunderts, München: Hanser 1968, Anmerkg. 9, S. 331. 75 Heinrich Wölfflin, Kunstgeschichtliche Grundbegriffe, S. 149. 76 Ebd. 77 Julia und Kreisler S. 143, Hedwiga und Kreisler S. 166, Murr und Miesmies S. 210. 77
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schicklichkeiten vorfielen an heiliger Stätte [...]«78, sowie »Es ist nun an der Zeit, daß jene verhängnisvolle Frage des Biographen: »Du – « (M.f.f.) » – liebst mich also, holde Miesmies? [...]«79 Der Rahmen wird auch durchbrochen, wenn die Realität mit der Phantasiewelt verflochten erscheint, wie beispielsweise in der Ankündigung der Briefe des Baron Wallborn und Kreislers, deren tatsächliches Erscheinen in einem Heft der Musen in den fiktionalen Text eingebunden wird.80 Inhalt und Rahmen entfremden sich, das Ganze wird mehr als zufälliger Ausschnitt, als vorübergehender Augenblick betrachtet, das Kunstwerk ist nicht länger ein eigenes, selbstständiges Stück Welt von Bestand, sondern vielmehr ein flüchtiges Schauspiel.81 Die Gestaltung des Rahmens, seine Relevanz für einen über sich selbst hinausweisenden, öffnenden Charakter spielt auch in der Theorie Friedrich Schlegels eine zentrale Rolle, weshalb der Rahmenstruktur ein gesonderter Unterpunkt gewidmet werden soll. Verschachtelte Rahmenstruktur Hoffmann entwirft zur Ausgestaltung seines Anfangs eine verschachtelte Rahmenstruktur, die sich in den Fantasiestücken auf folgenden Ebenen konstituiert: Der Sammelband der Stücke wird von einem »reisenden Enthusiasten«82 verfasst, die Kreisleriana als zwei Einzelbände werden von einem fiktiven Herausgeber ediert, der zunächst als ›treuer Freund‹ (5) vorgestellt wird und dessen Identität mit dem »reisenden Enthusiasten« erst im zweiten Band in Kreislers musikalischpoetischer Klub geklärt wird: »[...] und nur der reisende Enthusiast und treue Freund (beide sind, wie es hier ausdrücklich bemerkt wird, in einer Person vereinigt) blieben noch bei dem Kreisler zurück.« (80). Die einzelnen Kreisleriana-Stücke sollen wiederum unter der Autorschaft des Kapellmeisters Kreislers entstanden sein. Eine ähnliche Verschachtelung findet sich im Kater Murr-Roman. Hier wird mit Hilfe einer fiktiven Biographen- bzw. Herausgeber-Figur zunächst eine »Umrißzeichnung«83 der Rahmenhandlung gegeben. Auf der stän78 Kater Murr-Roman, S. 185. 79 Ebd., S. 209. 80 Zum Verhältnis Realität und Fiktion vergleiche auch den Unterpunkt Realisitsche Elemente. 81 Vgl. Heinrich Wölfflin, Kunstgeschichtliche Grundbegriffe , S. 149. 82 E.T.A. Hoffmann: Fantasie- und Nachtstücke, hrsg. v. Walter MüllerSeidel, S. 3. 83 Zu Hoffmanns Idee der »Umrißzeichnung«, vgl. Norbert Miller: Der empfindsame Erzähler, Anmerkg. 9, S. 15. 78
III. ANALOGIEN AUF DER EBENE DER OBERFLÄCHENSTRUKTUR
digen Suche nach originellen, genuinen Romananfängen fügt Hoffmann seinen Erzählungen häufig eine Ebene der Reflexion ein. Durch die Narration einer fiktiven Autor- oder Herausgeberrolle thematisiert er das generative Verfahren des Schreibprozesses. Er deckt das Schreibverfahren auf und erschließt unterschiedliche narrative Ebenen. Diese Form des Generativismus, das Spiel mit dem Erzähler, der über seine Rolle räsoniert,84 und das Gespräch mit einem fiktiven Leser als einer Fiktion in der Fiktion, wird beispielsweise an der einleitenden Erklärung des Kreislerianums Brief des Barons Wallborn an den Kapellmeister Kreisler deutlich: »Verschlossen wurde der Brief aufbewahrt und es dem Zufall überlassen, jenen Freund und Gefährten näher zu bezeichnen. Es traf ein. Der Wallbornische Brief, gütigst von de la Motte Fouqué mitgeteilt, setzte es nämlich außer allen Zweifel, daß Kreisler unter jenem Freunde niemand anders als den Baron Wallborn gemeint hatte. Beide Briefe wurden von Fouqué und Hoffmann in dem dritten und letzten Heft der ›Musen‹ abgedruckt, sie dürfen aber wohl auch hier schicklich den Kreislerianis, die der letzte Band der ›Phantasiestücke‹ enthält, vorangehen, da das eigene Zusammentreffen Wallborns und Kreislers dem geneigten Leser, insofern er dem wunderlichen Johannes nur einigermaßen wohl will, nicht gleichgültig sein kann.« (64)
Diese Zusammenführung von Dargestelltem und Darstellendem (unter Einbezug des Rezipienten) ist eine praktisch-ästhetische Leistung der poetischen Reflexion, in der sich für Schlegel das transzendentale Vermögen der Poesie äußert. Die Hinzufügung einer Ebene der Reflexion, die sowohl den Künstler als auch den Schaffensprozess und die Entstehungsbedingungen im objektivierten Werk benennt, verursacht eine Zerstörung der Illusion und ist gleichzeitig ein Gestaltungsprinzip der romantischen Ironie.85 Realistische Elemente Desillusionierend wirkt auch der Einbezug reeller Personen, wie z.B. der des Baron Friedrich de la Motte Fouqué, oder die Erwähnung von Städtenamen, wenn ein Zusammentreffen der Schriftsteller in Berlin (63) stattfindet sowie die verschlüsselten Andeutungen nicht-fiktiver 84 Vgl. Norbert Miller: Der empfindsame Erzähler, S. 24. 85 Vgl. Ingrid Strohschneider-Kohrs: Die romantische Ironie in Theorie und Gestaltung, S. 89. 79
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Ortsangaben, wie in der Bemerkung der »Direktion des ...r Hoftheaters« (3). Auch die Thematisierung politischer Realitäten durch die Problematisierung bzw. Polemisierung der Burschenschaften im Kater Murr-Roman, die einer politischen Stellungnahme des Juristen Hoffmanns in seiner Funktion als Mitglied der »Immediat-Commission zur Ermittlung hochverrätischer Verbindungen und anderer gefährlicher Umtriebe«86 gleicht, hat einen illusionszerstörenden Effekt auf den Leser. Für Schlegel gehört die Realität unmittelbar in den romantische Roman, so schreibt er in seiner Abhandlung Gespräch über die Poesie, »daß wahre Geschichte das Fundament aller romantischen Dichtung« sei.87 Das Phänomen der Phantastik Die Realität ist jedoch nicht vorherrschendes Element in der Hoffmann’schen Erzählung. Die reine Nachahmung der Außenwelt wird verworfen. Das Künstlersubjekt soll sich an der Realität ›entzünden‹, es kommt nicht auf die Darstellung, die Physiognomie derselben an, sondern auf die von ihr ausgehende anregende und inspirierende Kraft. Hoffmann nutzt den Impuls der Imagination und verknüpft das Phantastische mit der Realität, so dass keine klare Trennung mehr zwischen den beiden Ebenen der Illusion und der Wirklichkeit möglich ist.88 Dieses literarische Verfahren realisiert das Kriterium des Phantastischen nach Tzvetan Todorov: »Die Ambiguität bleibt bis zum Ende des Abenteuers gewahrt: Wirklichkeit oder Traum? Wahrheit oder Illusion? [...] entweder handelt es sich um eine Sinnestäuschung, ein Produkt der Einbildungskraft, und die Gesetze der Welt bleiben, was sie sind, oder das Ereignis hat wirklich stattgefunden, ist integrierender Bestandteil der Realität. Dann aber wird diese Realität von Gesetzen beherrscht, die uns unbekannt sind. [...] Das Fantastische liegt genau im Moment dieser Ungewißheit; sobald man sich für die
86 Vgl. Gabrielle Wittkop-Ménardeau: E.T.A. Hoffmann, S. 157. 87 Friedrich Schlegel: Gespräch über die Poesie, S. 337. 88 Vgl. die Erläuterungen zum Serapiontischen Erzählprinzip in: Brigitte Feldges/Ulrich Stadler (Hg.), E.T.A. Hoffmann: Epoche – Werk – Wirkung, S. 54 ff. 80
III. ANALOGIEN AUF DER EBENE DER OBERFLÄCHENSTRUKTUR
eine oder andere Antwort entscheidet, verläßt man das Fantastische [...].«89
Zudem darf nach Todorov der Leser das Geschehen nicht als allegorisch oder in irgendeiner Weise poetisch auffassen können, sondern muss dass Übernatürliche als ein »factum brutum« in der fiktiven Welt des Werkes hinnehmen.90 Das Phantastische gehört zur Struktur des Hoffmann’schen Kreislerianums in der synästhetischen Wahrnehmungen von Farben, Düften, Musik sowie anderen Menschen oder in der Vorstellung übernatürlicher Fähigkeiten Kreislers, in seinem chinesischen Schlafrock aus dem Fenster zu fliegen: »Ach, Freund!« erwiderte Kreisler, »ein düstrer Wolkenschatten geht über mein Leben hin! – Glaubst du nicht, daß es einer armen, unschuldigen Melodie, welche keinen – keinen Platz auf der Erde begehrt, vergönnt sein dürfte, frei und harmlos durch den weiten Himmelsraum zu ziehen? – Ei, ich möchte nur gleich auf meinem chinesischen Schlafrock wie auf einem Mephistophelesmantel hinausfahren durch jenes Fenster dort!« – »Als harmlose Melodie?« fiel der treue Freund lächelnd ein. »Oder als basso ostinato, wenn du lieber willst«, erwiderte Kreisler, »aber fort muß ich bald auf irgendeine Weise.« Es geschah auch bald, wie er gesprochen.» (81)
Intertextualität Ähnlich wie das Phantastische oder der Einbezug von Realität in eine Erzählung zu einem Schnitt in der Fiktion führt, hat die Verwendung von Zitaten ebenfalls einen Bruch der Illusion zur Folge.91 Durch den 89 Tzvetan Todorov: Einführung in die fantastische Literatur, München 1972, S. 25 f., zitiert in: Brigitte Feldges/ Ulrich Stadler (Hg.), E.T.A. Hoffmann: Epoche – Werk – Wirkung, S. 55. 90 Dieter Penning: »Die Ordnung der Dinge«, in: Christian W. Thomsen/ Jens Malte Fischer (Hg.), Phantastik in Literatur und Kunst, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1980, S. 36. 91 Der Begriff der Intertextualität wird hier im deskriptiven Sinne gebraucht, als Oberbegriff für intentionale oder spezifische Bezüge eines Autors auf das Werk eines anderen Autors im Gegensatz zum ontologischen Begriffsverständnis, das die Intenionalität marginalisiert und bei Intertextualität von einer Eigenschaft aller Texte schlechthin ausgeht. Diese poststrukturalistische Definition von Intertextualität wurde im Wesentlichen von Bachtin, Barthes und Kristeva geprägt und wird erst im weiteren Verlauf der Arbeit, im Zusammenhang mit der Genotext-Analyse eine Rolle spielen. (vgl. zum Begriff der Intertextualität auch den entsprechenden Artikel in »Metzler Lexikon. Literaturund Kulturtheorie: Ansätze-Personen-Grundbegriffe«, hrsg. von Ansgar Nünning, Stuttgart/ Weimar: Metzler 2001) 81
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intertextuellen Verweis auf ein anderes Werk wird dem Dargestellten eine Ebene eingefügt, die den Bezug nach außen, zu einer dem eigentlichen Werk wesensfremden Realität herstellt und somit die Fiktion zerstört. Die Illusion einer fiktiven Einheit wird in Frage gestellt. E.T.A. Hoffmann bezieht sich mit dem Beginn seiner Kreisleriana auf den Romananfang Jaques le fataliste et son maître von Denis Diderot.92 In ihrer Arbeit Der Lehrbrief des (Kapell-) Meisters weist Christine Lubkoll auf zwei weitere literarische Bezüge hin. Sie entdeckt ein Spannungsverhältnis von ›Autonomie‹ und ›Bildung‹, denn Kreisler ist autonom durch seine utopische Herkunftslosigkeit und zudem Autodidakt bzw. sein eigener Meister, »Ich wie du Johannes Kreisler«, so unterschreibt er als Lehrer und Schüler in Personalunion seinen Lehrbrief. Die Rede vom ›guten Meister‹ und das Verhältnis von ›Autonomie‹ und ›Bildung‹ in der Figur des Kapellmeisters sowie in der Bildungsgeschichte des Affen Milo versteht Lubkoll als intertextuelle Verweise auf Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre. Der Lehrbrief Kreislers erscheint nicht nur als ein intertextueller Verweis, sondern als eine radikale Umkehrung des klassischen Bildungsromankonzepts, als ein Anti-Bildungsroman. Eine weitere literarische Verknüpfung wird zu dem Romanfragment Die Lehrlinge zu Sais von Novalis hergestellt, auf das Hoffmann des öfteren Bezug nimmt. In dem Stück Johannes Kreislers Lehrbrief bezeichnet Kreisler sich selbst als »Hamlet« und bezieht sich somit auf Shakespeare. In den Lebens-Ansichten des Katers Murr verarbeitet Hoffmann ebenfalls Elemente des klassischen Bildungsromans und führt sie an der Figur des Katers Murr ad absurdum. Als stilistisches Vorbild verweist Hoffmann auf Goethes Egmont und zitiert zu Beginn der Kreisler-Biographie aus dem Singspiel Die Geisterinsel von Friedrich Wilhelm Gotter.93 Durch die Einbindung des KreislerKonzepts in andere literarische Zusammenhänge, wird das stilistische Mittel der Intertextualität zu einem Strukturmerkmal des Hoffmann’schen Kreislerianums. Es verweist über seinen eigentlichen Inhalt und den gesteckten Rahmen hinaus und kennzeichnet die Form eines Kreislerianum als eine offene.
92 Vgl. Hanne Castein im Nachwort zu E.T.A. Hoffmann, Kreisleriana, S. 127. 93 Vgl. E.T.A. Hoffmann: Lebens-Ansichten des Katers Murr, S. 449. 82
III. ANALOGIEN AUF DER EBENE DER OBERFLÄCHENSTRUKTUR
Intratextuelle Bezüge Neben den oben erwähnten intertextuellen Verweisen, knüpft Hoffmann häufig intratextuelle Verbindungen. Das Zitieren werkinterner Textstellen führt zu einer Rekurrenz gleicher Vokabeln und zu einer Formelhaftigkeit der Sprache. In den Beschreibungen von Musikerlebnissen tauchen z.B. immer wieder Formulierungen wie »das im Innern Empfangene«, »das Innere tief durchdringend«, »Empfindungen höherer Kraft« oder »inbrünstige, unendliche Sehnsucht empfindend« auf. Einerseits nutzt Hoffmann Wiederholungen für ironische Abwandlungen oder parodierte Variationen eines Themas, so z.B. wenn er seine enthusiastischen Beschreibungen der »romantischsten aller Künste« (26) aus der Beethoven-Rezension in dem Stück Gedanken über den hohen Wert der Musik einem Kunstbanausen in den Mund legt und dieser von den »unnützen Spielereien des Kontrapunkts« (23) spricht. Andererseits kennzeichnet sich Hoffmanns Sprachstil durch das Schablonenhafte, trivial Formelhafte, das Fehlen von Subtilität, den Verzicht auf Nuancen und eine relative Klarheit aus.94 Die schablonenhafte Wirkung und die unbestimmte Klarheit der darstellerischen Mittel ergibt sich aus der häufigen Wiederholung ganzer Redewendungen, wie z.B. die der »kontrapunktischen Verschlingungen« aber auch einzelner Metaphern. Zum Beispiel zieht sich das Bild des Feuers durch die einzelnen Abschnitte der Kreisleriana hindurch, wenn die Musik dem Klavierspieler als »elektrisches Feuer [...] durch die Fingerspitzen in die Taste« (11) fährt, oder wenn die Feuermetaphorik zur Schilderung enthusiastischen Musikerlebens dient: »dein Blut glüht« und »in dem Feuer der Begeisterung, das deine Brust entflammt, entzünden sich Töne, Melodien, Akkorde« (110) und wenn Beethovens gewaltiger Geist »mich wie mit metallnen, glühenden Armen umfaßt« (15). Ebenso zieht sich das Bild funkelnder, aufblitzender, glühend sprühend herausfahrender Salamander durch die Erzählungen, wenn sie »wie in einer Feuergarbe zusammenhaltend, zum flammenden Bilde werden« (18). Der Metaphernstil95 durchbricht die Einheit der Narration und die Struktur gestaltet sich gleich einem Katachresen-Mäander, einer Aneinanderreihung von Bildbrüchen.96 94 Zu Sprache, Stil und Poetik vgl. Brigitte Feldges/Ulrich Stadler (Hg.), E.T.A. Hoffmann. Epoche-Werk-Wirkung, S. 46 ff. 95 Vgl. auch die Metaphorik in Hoffmanns Musik-Beschreibung (Teil II.1 dieser Arbeit). 96 Zum Begriff des ›Katachresen-Mäander‹ vgl. Jürgen Link: »metamorphosen der romantischen kulurrevolutuion. Diskurshobelspäne«, in: kuluRRevolutuion, nr. 12, Bochum: klartext verlag 1986, S. 48. 83
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Die paradigmatische Ebene wird besonders hervorgehoben, so dass die syntagmatischen Zusammenhänge immer wieder zerstört werden. Während Hoffmann die Musik als eine »der Plastik geradezu entgegengesetzte Kunst« (27) betrachtet, die ohne bestimmten Ausdruck auskommt, bedient er sich auch in seinem Sprachstil dieses Ausdrucks. Hoffmann erreicht einen eher allgemeinen als bestimmten, einen unbestimmten, einen ›musikalischen‹ Sprachgestus von relativer Klarheit. Was er an der Musik schätzt, überträgt er in die Sprache. Die intratextuellen Bezüge öffnen die Einzelstücke untereinander und verhindern eine absolute Geschlossenheit, sie kennzeichnen das Kreislerianum als eine Darstellung des Ganzen in Ausschnitten, prägen einen Charakter der Reihung, der Koordination statt Subordination des Einzelnen und bedienen durch die formelhafte, wiederholungsreiche Sprache zudem die Kategorie der relativen, unbestimmten Klarheit. Die häufigen Wiederholungen, die auch unter dem Aspekt der Zeitlichkeit eine Rolle spielen werden, fügen dem Hoffmann’schen Kreislerianum auch an dieser Stelle das Moment des Kreisens ein, der Sprachgestus tritt auf der Stelle, er unterläuft die angelegte Progression, die fortschreitende Entwicklung des Kater Murr-Romans und fügt ihr die Kreisbewegung ein. Spezifische Zeitlichkeit und Räumlichkeit Zum Aspekt des Ganzen in Ausschnitten gehört eine fehlende Einheit von Zeit und Ort. Zum Wesen eines Kreislerianums gehört die spezifische Zeitlichkeit sowie die in Korrespondenz damit stehende wechselnde Räumlichkeit. In den Kreisleriana verfügt jedes Stück über seine eigene Zeit- und Raumqualität: Schilderung einer Teegesellschaft bei Röderleins oder eines musikalischen Erlebnisses im Konzertsaal erzählt aus der Perspektive der Rückschau, Reflexionen über Musik, die gleich einem inneren Monolog zeitdeckend erzählen, Briefe aus unterschiedlichen Zeiten und von wechselnden Orten, mit fiktiven Autoren (Wallborn/Kreisler/Milo) und realistischen Übermittlern (Fouqué/Hoffmann) sowie phantastischen und realistischen Ortsangaben bei der Adresse (»dicht an der großen Dornenhecke, der Grenze der Vernunft« [64]/Nordamerika [83]), Stücke aus Kreislers Gegenwart sowie Kindheitserinnerungen. Der Kater Murr-Roman folgt in seiner Darstellung der Kater-Biographie der geordneten, chronologischen Abfolge von der Geburt über Kindheit, Jugendzeit, Lehrmonaten bis hin zu den reiferen Jahren. Die Geschichte Johannes Kreislers hingegen ist zeitlich und räumlich im doppelten Sinne 84
III. ANALOGIEN AUF DER EBENE DER OBERFLÄCHENSTRUKTUR
vollständig zerrissen. Wie oben bereits dargestellt,97 liegt die Eingangsszene zeitlich noch hinter dem eigentlichen Schluss des Romans, sie schildert die Festszene im Garten Fürst Irenäus, welche im Brief der Schlussszene erst angekündigt wird. Durch die Verwirrung der Kreisler-Biographie entsteht eine Vielzahl an zeitlichen und räumlichen Dimensionen, die Schauplätze wechseln zwischen dem fürstlichen Garten, dem Hof, Waldszenen, dem Klosteraufenthalt bis hin zu spanischen Jahrmarktszenen aus früherer Zeit. Der chaotischen, bruchstückhaft verwirrten, vielschichtig verschlungenen Kreisler-Biographie steht die wohlgeordnete, lineare Murr-Geschichte gegenüber, die sich räumlich auf das Haus Meister Abrahams sowie den Radius des Katerreviers beschränkt. Diese bewusste Unklarheit und Mannigfaltigkeit der Kreisler-Biographie konstituiert das Kompositionsprinzip der offenen Form, die Welt in Ausschnitten, in selbstständigen, flüchtigen Augenblicken darzustellen. Charakteristisch am Erzählstil Hoffmanns sind die Wiederholungen. Die Zeitstruktur eines Romans muss nicht kontinuierlich fortschreiten, sie kann Rückgriffe enthalten, dem Geschehen vorgreifen, doch schreitet sie stets fort auf einen Zeitpunkt, der vom Vorgriff eingeholt und von dem ausgehend die Erinnerungsarbeit geleistet wird. Als eine fortschreitende Bewegung sieht sie die Wiederholung nicht vor, Wiederholung bedeutet Stillstand sowie ein stetes Wiederkehren des Schon-Gewesenen, Anfang und Ende heben sich auf. Es gibt keinen Ursprung und keine Entwicklung auf ein Ziel hin, die Wiederholung ist ateleologisch. Die Kreisleriana verfügen durch ihre Indifferenz von Anfang und Ende und insbesondere durch die Reihung unterschiedlicher Stücke über keine teleologische Kohärenz. Diese fehlende Ausrichtung wird verstärkt durch die zahlreichen Wiederholungen. Die Wiederkehr gleicher Formulierungen verhindert einen strengen Wechsel, eine klare Abgrenzung zwischen den Stücken und erzeugt Momente des Stillstandes und Verharrens.98 Dieses Moment der Wiederkehr des Gleichen ist eine charakteristische Zeitstruktur der Hoffmann’schen Erzählung und verhindert seine Geschlossenheit. In der Murr- und auch in der Kreisler-Biographie lassen sich Progression und Entwicklung finden, doch diese werden stets unterminiert durch ein latentes Moment der Wiederholung. Ein ganzes Arsenal an Motiven erzeugt eine ständige Wiederkehr des Gleichen: 97 Vgl. den Unterpunkt Indifferenz von Anfang und Ende. 98 Zum Thema »Wiederkehr des Gleichen« vgl. auch den Unterpunkt Intratextuelle Bezüge. 85
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das Unheimliche, das Phänomen des plötzlichen Verschwindens, elektrische Schläge, gleiche Naturmetaphern, der weibliche Gesang, Musik schlechthin, Tod und Wahnsinn oder auch die Wiederholung ganzer Handlungsmuster, wie bei Nathanael, Anselmus oder Rat Krespel, sind solche Motive. Die stete Wiederkehr des Gleichen als eine permanent vorhandene, der progressiven Entwicklung unterlegte Zeitstruktur ist ein charakteristisches Moment des Hoffmann’schen Kreislerianums und kennzeichnet es als offene Form durch Wiederholung.99 Brüche und Juxtapositionen, Wechsel- und Kontraststrukturen Charakteristisches Merkmal der Kreisleriana ist der Übergang der Perspektiven, der Positionen und der Wechsel der Stimmungen und Töne zwischen Ernst, Ironie, Reflexion oder Scherz. Ein besonderes Beispiel eines Wechsel des Tons ist das Stilmittel des Duzens und Siezens. Die Form der Anrede besagt viel über das soziale Verhältnis und das Hierarchiegefälle zwischen zwei Personen aus. Jeder Titel und jede Art des Duzens und Siezens bringt einen anderen Ton in die Kommunikation und ermöglicht andere und neue Gesprächsthemen. Es wird automatisch ein den Konventionen entsprechendes Feld abgesteckt, in dem sich beide Partner bewegen und dass je nach Anrede privat, intim, vertraulich oder eher offiziell, förmlich, distanziert ist. Unbewusst oder bewusst legen sie einen Diskurs, eine ›Grenze der Sagbarkeit‹100 fest, an die sie gebunden sind. Mit dieser gesellschaftlichen Konvention spielt Hoffmann in dem Brief des Kapellmeisters Kreisler an den Baron Wallborn. Während Kreisler eingangs den Baron mit dem Titel »Ew. Hoch- und Wohlgeboren« anspricht und ihn formvollendet siezt, wählt er bereits nach der Schilderung seines Identitätswechsel zu »Doktor Schulz aus Rathenow« auch für seinen Adressaten eine geänderte Anrede und spricht ihn mit »Baron Wallborn« an, duzt ihn unvermittelt und erlaubt es sich, den Baron »Du freundlicher, milder Ritter« (75) zu nennen. Der Ton Kreislers wird immer vertraulicher, bis er die Identitätsgrenze zwischen sich und dem Baron 99 Vgl. hierzu auch Manfred Momberger: »Wiederholung und Teleologie – Anmerkungen zum Zeitbegriff bei Hoffmann«, in: Ders., Sonne und Punsch. Die Dissemination des romantischen Kunstbegriffs bei E.T.A. Hoffmann, München: Fink 1986, S. 160 f. 100 Michel Foucault definiert den Diskurs-Begriff als eine »Menge von Aussagen, die einem gleichen Formationssystem zugehören«, (Michel Foucault: Archäologie des Wissens, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1973, S. 156), weshalb der jeweilige Diskurs in seinen Ausdrucksmöglichkeiten eingeschränkt ist und sich innerhalb seiner ›Grenzen der Sagbarkeit‹ bewegen muss. 86
III. ANALOGIEN AUF DER EBENE DER OBERFLÄCHENSTRUKTUR
aufhebt und in Aussicht stellt, dass er die Identität des Barons annehmen wird, »daß ich dann Du sein will« (74) und dass »Dein Wort meine Melodie und meine Melodie Dein Wort sein könnte« (75). Thomas Bourke hat sich in seinem Buch Stilbruch als Stilmittel mit dem Phänomen der Illusionszerstörung durch unvermittelte Brüche und mit abrupt wechselnden, unverbunden Textstrukturen im Kater Murr-Roman beschäftigt.101 Während die Kreisleriana durch den Einsatz von Stilbrüchen mittels Genre- und Perspektivenwechsel äußerst subtil und vielschichtig strukturiert sind, gestaltet sich die Wahl der Stilmittel in dem Roman Lebens-Ansichten des Katers Murr anders. Dadurch, dass hier nicht länger das Thema Musik ausschließlicher Mittelpunkt der Darstellung ist, sondern die zwei Themenkomplexe des Banal-Alltäglichen, des Philisterhaften, des VernünftigProsaischen einerseits und des Außergewöhnlichen, des GeniehaftKünstlerischen, des Phantastisch-Poetischen andererseits unversöhnlich gegenüber gestellt werden, ergibt sich eine antagonistische Kontraststruktur. Der Makrotext wird durch die Wechselstruktur zweier Erzählstränge konstituiert: dem prosaisch philisterhaften der MurrBiographie und dem poetisch künstlerisch-phantastischen der Kreisler-Biographie. Jeder dieser Stränge verfolgt ein Prinzip; der MurrTeil proklamiert die ›Philisterexistenz‹ und der Kreisler-Teil die unkonventionelle, geniehafte ›Künstlerexistenz‹. Diese beiden antagonistischen Prinzipien bzw. Erzählebenen stehen in einer scheinbar willkürlichen Abfolge, die mit einem – selbst-verständlich fiktiven – drucktechnischen Versehen begründet wird. Mit den Worten Bourkes ergibt sich ein »ungelöst[es], provokativ[es] und zeitweise irritierend[es]n »strukturironische[s] Bruchsystem« des Romans.102 Statt einer Vermittlung und Versöhnung der Gegensätzen, bleiben im Kater Murr die Kontraste bestehen, so dass eine Wechselstruktur mit abrupt voneinander getrennten Elementen entsteht. Hoffmann betont diese Juxtapositionen, die Beimischung statt der Vermischung der Erzählstränge, mit seinem Titel Lebens-Ansichten des Katers Murr nebst fragmentarischer Biographie des Kapellmeisters Kreisler in zufälligen Makulaturblättern. Das Prosaische erscheint nebst dem Poetischen, denn das Kreisler-Buch stellt den Störfaktor in der eigentlichen Erzäh101 Thomas Bourke: Stilbruch als Stilmittel: Studien zur Literatur der Spät- und Nachromantik; mit besonderer Berücksichtigung von E.T.A. Hoffmann, Lord Byron und Heinrich Heine, Frankfurt/M.: Lang 1980. 102 Vgl. ebd., S. 61. 87
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lung, der Murr-Biographie dar. Dennoch benötigt die Murr-Biographie die Kreisler-Episoden, um Witz und Humor zu bekommen, während die Kreisler-Biographie trotz ihres fragmentarischen Charakters für sich stehen kann, ohne dass ihrem Ton oder ihrer Intention etwas verloren ginge. Die primär humoristische, scherzhafte MurrBiographie greift den parodistischen Charakter des Milo-Briefes aus dem Kreislerianum Nachrichten von einem gebildeten jungen Mann auf, doch erscheint nach Bourke die essayistische Behandlung dieser Art Parodie eher geeignet als die epische Ausführlichkeit des MurrRomans.103 Die überpointierte Darstellung von Blasiertheit, Hochmut, Eitelkeit und Selbstgefälligkeit des Katers wird erst durch die Wechselwirkung mit dem Kreisler-Ton verständlich. Der Effekt des parodistischen Elements benötigt für seine Wirksamkeit die KreislerBiographie. Die Makrostruktur des Romans konstituiert sich somit durch ein bedingtes und ein unbedingtes Element. Das Kreisler-Buch als das unbedingte Element stellt das in sich abgeschlossene, vollkommene Fragment dar. Es stiftet eine Einheit im Chaos, es lenkt die Aufmerksamkeit auf die Einheit eines Einzeldings und löst gleichzeitig die Einheit des Ganzen auf. Somit resultiert kein geschlossenes System, sondern Zusammenhanglosigkeit, Uneinigkeit und Unbeständigkeit. Der Effekt der Inkohärenz und »Asystasie« ist kennzeichnend für die Ästhetik des Fragments bei Schlegel.104 Die Wechselstruktur der beiden Erzählstränge produziert immer wieder eine voraus- bzw. rückwirkende Sprachentwertung und stilistische Umpolung an den Übergängen.105 Ähnliche Grundsituationen werden stilistisch unterschiedlich eingebunden und gestaltet. Exemplarisch hierfür sei die in beiden Biographien vorkommende DuettSzene. Während im Kreisler-Teil der Gesang erotische Gefühle verkörpert und Julia und Kreisler in der Musik zu einer ekstatischen Vereinigung gelangen, wird das gemeinsame Singen im Murr-Teil als bewusst gewähltes Mittel zum Zweck der Bekämpfung des Verliebtseins genutzt. Durch die Gegenüberstellung paralleler Situationen mit entgegengesetztem Ausdruck und verändertem Ton entstehen harte Schnitte und abrupte Übergänge, es ergibt sich eine Kontraststruktur, die nach dem romantisch-ironischen Prinzip der Selbstschöpfung und 103 Vgl. ebd., S. 64. 104 Vgl. Manfred Frank: Einführung in die frühromantische Ästhetik, S. 295 ff. 105 Vgl. hierzu die ausführlichen Untersuchungen in Thomas Bourke: Stilbruch als Stilmittel, insbesondere die Kapitel 2.3., 2.5. und 2.6. 88
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Selbstvernichtung konzipiert ist und einerseits desillusionierende, andererseits aber auch progressive Wirkung hat.
Koordination der Einzelelemente Interdiskursive Verknüpfungen Diese bewusst fragmentarische Struktur findet sich auch auf der Mikroebene des Textes wieder. Es entstehen Brüche und Juxtapositionen durch interdiskursive Verknüpfungen, was exemplarisch an der folgenden Stelle aus dem Roman Lebens-Ansichten des Katers Murr gezeigt werden soll: »In den Flammen des Abendrots stand das ferne Gebürge, und der goldne glühende Widerschein gleitete spielend über den Wiesenplan, durch die Bäume, durch die Büsche, wie getrieben von dem Abendwinde der sich säuselnd erhoben. Kreisler blieb mitten auf der Brücke stehen, die über einen breiten Arm des Sees nach dem Fischerhäuschen führte, und schaute in das Wasser hinab, in dem sich der Park mit seinen wunderbaren Baumgruppen, der hoch darüber emporragenden Geierstein, der seine weißblinkende Ruinen auf dem Haupte, wie eine seltsame Krone trug, abspiegelte in magischem Schimmer. Der zahme Schwan, der auf den Namen Blanche hörte, plätscherte auf dem See daher, den schönen Hals stolz emporgehoben, rauschend mit den glänzenden Schwingen. [...] Selbst wußte Kreisler nicht, was ihn plötzlich so tief bewegte, er stützte sich auf das Geländer, schloß unwillkürlich die Augen. Da hörte er Julias Gesang, und ein unnennbar süßes Weh durchbebte sein Inneres. Düstere Wolken zogen daher, und warfen breite Schatten über das Gebürge, über den Wald, wie schwarze Schleier. Ein dumpfer Donner dröhnte im Morgen, stärker sauste der Nachtwind, rauschten die Bäche, und dazwischen schlugen einzelne Töne der Wetterharfe an, wie ferne Orgelklänge, aufgescheucht erhob sich das Geflügel der Nacht, und schweifte kreischend durch das Dickicht. Kreisler erwachte aus dem Träume, und erblickte seine dunkle Gestalt im Wasser. Da war es ihm, als schaue ihn Ettlinger, der wahnsinnige Maler, an aus der Tiefe. »Hoho«, rief er herab, »hoho«, bist du da geliebter Doppeltgänger, wackerer Kumpan? – Höre mein ehrlicher Junge, für einen Maler der etwas über die Schnur gehauen, der in stolzen Übermut fürstliches Herzblut verbrauchen wollte, statt Firnis, siehst du passabel genug aus. – Ich glaube am Ende, guter Ettlinger, daß du illustre Familien genarrt hast mit deinem wahnsinnigen Treiben! – Je länger ich dich anschaue, desto 89
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mehr gewahre ich an dir die vornehmsten Manieren, und so du magst, will ich der Fürstin Maria versichern, du wärst was deinen Stand und deine Lage im Wasser betrifft, eine Mann von dem importantesten Range, und sie könne dich lieben ohne weitere Umstände. – Willst du aber, Kumpan, daß die Fürstin noch jetzt deinem Bilde gleiche, so mußt du es nachtun dem fürstlichen Dilettanten, der seine Porträts ausglich mit den zu Porträtierenden, durch geschicktes Anpinseln der letztern. [...] Aber bin ich so recht in voller Lust ihr zu beweisen, daß ich kein schnöder Revenant bin, sondern der Kapellmeister Kreisler, dann kommt mit der Prinz Ignatius in die Quere, der offenbar an der Paranoia laboriert, an einer fatuitas, stoliditas, die nach Kluge eine sehr angenehme Sorte der eigentlichen Narrheit ist. – Mache mir nicht alle Gesten nach, Maler, wenn ich ernsthaft mit dir rede! – Schon wieder? Fürchtete ich mich nicht vor dem Schnupfen, ich spränge zu dir herab, und verprügelte dich erklecklich. – Schere dich zum Teufel halunkischer Mimiker!« (170 ff.)
Die Szene endet in der absurden Begründung Kreislers, aus Angst vor dem »Schnupfen« eine Begegnung mit Ettlinger und damit eine Begegnung mit seinem »Doppeltgänger«, dem Wahnsinn, zu vermeiden. Die Banalität eines Schnupfens im Vergleich zum realen Wahnsinn stellt einen stilistischen Bruch dar, der jedoch in seiner Härte und ursprünglichen Schockwirkung durch den vorangegangenen Text abgemildert ist. Bourke analysiert dieses »Schnupfenmotiv« auch an anderer Stelle der Kreisler-Biographie und entdeckt in ihm ein wiederholtes Stilbruchmittel, das die »Gesundheitsbeflissenheit eines Bürgertums« der »Weltabgewandtheit der Romantik« entgegensetzt und die »Unwesentlichkeit« und das »unwürdige Erscheinungsbild« mit einer »›romantischen‹ Krankheit wie Schwindsucht« in Kontrast setzt.106 Die Anfangs geschilderte Idylle wird als eine klischeehaft romantische Naturbeschreibung ausgestaltet. Interdiskursanalytisch operativ gelesen stellen stereotype Bilder wie die »Flammen des Abendrots«, der »Park mit seinen wunderbaren Baumgruppen«, der »mit glänzenden Schwingen daherschwebende Schwan«, die »weißblinkende Ruine« und Kreislers »brünstige Sehnsucht« eine »zentrierte Total-Abbildung«107 des ›weiß-romantischen‹ Diskurses dar. Diese »Ganzheitlichkeit« des Diskurses ist nach Jürgen Link der Effekt romantischer Fixierung und entspricht somit der ›weißen Romantik‹ als einer reter106 Vgl. Thomas Bourke: Stilbruch als Stilmittel, S. 66 f. 107 Jürgen Link: »metamorphosen der romantischen kulturrevolution. Diskurshobelspäne«, S. 51. 90
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ritorialisierten Tendenz.108 Im Fortgang des Textes deterritorialisiert sich die »wunderbare Baumgruppe des Parks« in einen »Wald«, als ein Kollektivität konnotierendes, entgrenzendes Bild, das von »düsteren Wolken« überschattet wie in »schwarze Schleier« gehüllt erscheint. Der schwarz-romantische Diskurs löst die »kitschig« wirkende, weiß-romantische Darstellung ab. Das Unheimliche taucht in der dunklen Gestalt des Malers Ettlinger auf, der gemäß dem Topos des ›wahnsinnigen Genies‹ und in Entsprechung zu Kreisler ebenfalls als wahnsinnig charakterisiert wird. Es findet ein Stimmungswechsel statt, der vom Tenor der ›schwarzen Romantik‹ getragen und geprägt wird.109 Der Ton der Szene ändert sich unvermittelt und abrupt. Das Schwärmerische, Sehnsüchtige weicht einem harten Realismus. Kreisler bringt das moralische Fehlverhalten des Malers zur Sprache, problematisiert dessen Stellung als Künstler und kritisiert damit auch die politischen und sozialen Missstände. Aus einem Traum erwachend, reagiert Kreisler auf den Anblick seines Spiegelbildes ambivalent. Er schwankt zwischen Spott, anzüglicher Anspielung auf Intimitäten Ettlingers in vulgär umgangssprachlichen Ton und gestelzter Hof- und Juristensprache, gespieltem Zorn und ehrlich gemeintem Vorwurf und benutzt Fremdwörter und medizinische Fachtermini. Hoffmann verknüpft staatliche Standespolitik mit persönlicher Tragik und kombiniert medizinischen und politischen Diskurs. Aus solcher Diskurskombinatorik und Diskursinterferenz ergibt sich eine mäandrische Narration, ihr Resultat ist der Witz.110 Durch die Diskursinterferenz bleibt dem Text eine diskursive Einheit versagt. Die unterschiedlichen Diskurse bleiben unvermittelt nebeneinander stehen und »entzünden« sich aneinander. Dieses Moment des Unvermittelten umschreibt Schlegel mit der Metapher des »Blitzes«, »punktuelles Aufblitzen der Einheit von Einheit und Unendlichkeit im Endlichen«111 ist Kennzeichen des Witzes. Nach Schlegel entsteht der Witz durch die Zusammenführung und Vereinheitlichung der Fülle bzw. durch die »fragmentarische Genialität«. Sein Effekt ist die momentane Einheit. Der Witz stellt – neben der Allegorie – ein konstitutives Merkmal der romantischen Ironie dar. 108 Vgl. ebd., S. 45 ff. 109 Zum Begriff der »schwarzen Romantik« vgl. Mario Praz: Liebe, Tod und Teufel, München: Hanser 1981. 110 Vgl. Jürgen Link, »metamorphosen der romantischen kulturrevolution. Diskurshobelspäne«, S. 49. 111 Vgl. Manfred Frank: Einführung in die frühromantische Ästhetik, S. 295. 91
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Mäandrischer Erzählstil und Kollektivsymbol Die beschriebene mäandrische, schweifende und kombinierende Erzählweise ist ein Strukturmerkmal der arabeskenhaften Narration. Die Aneinanderreihung von Einzelnem zu einem fragmentarischen Bruchsystem strukturiert sich durch semantische Entsprechungen sowohl ergänzender als auch oppositioneller Art. Es ergeben sich Katachresen-Mäander, die sich zu einer Arabeskenstruktur des Phänotextes verbinden. Ergebnis solcher Diskursinterferenzen ist in dieser Textstelle z.B. die Kollektivsymbolik des Spiegels. In der Kombination von naturwissenschaftlichem und philosophischem Diskurs taucht das Kollektivsymbol des Spiegels in dem oben zitierten Textauszug im Sinne der schwarzen Romantik als eine Spaltung und Auflösung des Charakters der Kreisler-Figur in seinen Doppelgänger Ettlinger auf. Auch in dem im Titel Kreisleriana angelegten und in dem Namen Kreisler aufgenommene Motiv des »Kreisels« ergibt sich eine Diskursinterferenz zwischen Naturwissenschaften, Psychologie und Philosophie. Die Polysemie des Kreisels liegt in seiner Signifikanz als mathematisch geometrische Figur, dem Kreis, als physikalischem Phänomen der Bewegung, des »Im-Kreis-« oder »Um-die-eigeneAchse-Drehens«, des »Kreisens« aber auch des »Kreiselns«, des Verschiebens der Mitte, sie konnotiert ein dynamisches, ein sowohl zyklisches wie auch zirkulierendes Moment. In seiner psychologischen Bedeutung deutet er ein »In-sich-Kreisen« der Gefühle an. Hierzu dient insbesondere der Topos des »treuen Claviers«. Das Lauschen auf den Nachklang, den Widerhall des Klaviers, wie Kreisler es z.B. in dem Stück Der Musikfeind schildert, deutet Ruth E. Müller psychologisch als die Verdeutlichung und die Vergegenwärtigung unbewusster Gefühle, das Klavier ersetzt einen Gesprächspartner, indem der Respons seiner Töne einer Klärung des Seelenzustandes dient. Kreisler lässt seine Gefühle in das Klavier hinein fließen und empfängt in einem scheinbaren Dialog eine Echo-Antwort, durch diesen psychologisierenden Effekt seiner eigenen Musik entsteht eine zyklische Wechselwirkung. Das »In-sich-Kreisen« der Gefühle ist exemplarisch für die Psychologie der Empfindsamkeit.112 Der Kreis verkörpert im philosophischen Sinne die »Kreise unseres Seins«, die uns gefangen halten und nicht heraustreten lassen, wie Kreisler es selbst beschreibt.113 Der Kreis weist auf eine unendliche, absolute Einheit, auf die Korrektur 112 Vgl. Ruth E. Müller: Erzählte Töne, Stuttgart: Steiner 1989, S. 107 ff. 113 Kater Murr-Roman, S. 71. 92
III. ANALOGIEN AUF DER EBENE DER OBERFLÄCHENSTRUKTUR
des Schemas eines linearen Verfließens der Dinge durch die Wechselwirkung von Endlichem und Unendlichem hin zu einer höheren Einheit, er weist auf den Weg des Erkennens nicht als einer geraden Linie sondern als einem Kreis. Dieser zyklische, zirkulierende Charakter, die Versinnbildlichung des unendlichen »Kreise(l)ns« taucht in dem Schlegel’schen Begriff der »Cyclisation«114 auf. Der Verweischarakter der Kunst, die Ahnung eines höheren Ganzen durch die Kunst verwirklicht sich durch die innere Dialektik als eine sich fortzeugende Bewegung in der Kunst. Diese unendliche Progression stellt sich nicht als ein geradliniger Prozess ad infinitum dar, sondern drückt sich nach Schlegel als Zyklisation innerer Unendlichkeit aus. Der Kreis oder das zyklische Moment ist ein konstitutives Strukturmerkmal des arabeskenhaften Erzählens.115 Neben der mäandrischen Syntax und dem arabeskenhaften Erzählstil, tauchen auch in der Gesamtkonzeption des Hoffmann’schen Kreislerianums Aspekte der Schlegel’schen Arabeske auf. Strukturelle Einheit der Gesamtkonzeption Schlegel hält die »Arabeske für eine ganz bestimmte und wesentliche Form oder Äußerungsart der Poesie.«116 Er vergleicht den Eindruck der Arabeske mit demjenigen »witziger Spielgemälde«, und sieht ihre »Fülle des Witzes«, frei von »sentimentalen Beimischungen«117, als kennzeichnend für die Arabeske an. Für ihn ist die Arabeske kein Kunstwerk der »eigentlichen Stände der Prosa«, der »sogenannten Gelehrten und gebildeten Leute«, sondern sie ist eine »Naturpoesie«, als Naturprodukt lebt sie aus einer »seltenen Originalität der Fantasie«, die je »weit kränklicher, also weit wunderlicher und fantastischer sie ist« um so höher von Schlegel angesehen wird. 118 Das Phantastische noch phantasiereicher darstellen, das »Chaos der Ritterwelt noch einmal verwirren«, das versteht Schlegel unter der »romantischen Form« eines Romans, unter der »wahren Arabeske«.119 Trotz des ›Chaos‹, der 114 Friedrich Schlegel: Philosophie der Philologie, S. 51; zitiert in: Ingrid Strohschneider-Kohrs: Die romantische Ironie in Theorie und Gestaltung, S. 41. 115 Zum Begriff der ›Cyclisation‹ vgl. auch den gesonderten Unterpunkt zu ›Cyclisation‹. 116 Friedrich Schlegel: »Brief über den Roman«, in: Gespräch über die Poesie, mit einem Nachwort von Hans Eichner, Stuttgart: Metzler 1968, S. 331. 117 Ebd., S. 331. 118 Ebd., S. 331. 119 Ebd., S. 337. 93
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›Verwirrung‹ und des ›Fantastischen‹ muss nach Schlegel jedoch immer eine bewusste Struktur zugrunde liegen und »die Beziehung der ganzen Komposition auf eine höhere Einheit« verweisen.120 Inwieweit dieser Begriff von Arabeske in E.T.A. Hoffmanns Kreislerianum poetisch umgesetzt wird, inwieweit hier Verwirrung, Chaos und Willkür auf einer strukturellen Einheit basieren, soll im Folgenden untersucht werden. Die Oberflächenstruktur soll auf Merkmale des Arabeskenhaften hin betrachtet werden Der Gesamtstruktur der Kreisleriana wird in der Literaturwissenschaft kaum Beachtung geschenkt121, was sicherlich nicht zuletzt auf die Entstehungsgeschichte der zwei Bände zurückzuführen ist. E.T.A. Hoffmann hatte bereits vor dem Verfassen seiner Kreisleriana die Figur des Kapellmeisters Kreisler entworfen und einige Kreisleriana-Stücke als Musikrezensionen oder Zeitschriftenartikel veröffentlicht. So konnte er im ersten Teil der Kreisleriana, der 1814 erschien, auf die Arbeiten Johannes Kreislers, des Kapellmeisters musikalische Leiden, Gedanken über den hohen Wert der Musik und Beethovens Instrumentalmusik zurückgreifen. Für den zweiten Band von 1815 schrieb Hoffmann lediglich die Einleitung und das Stück Kreislers musikalisch-poetischer Klub. Die Briefe Wallborns und Kreislers entstanden als eine Gemeinschaftsarbeit mit Friedrich de la Motte Fouqué und die übrigen Kreisleriana lagen bereits als Zeitschriftenbeiträge vor. Hoffmanns Kreisleriana stellen somit eine Sammlung von Arbeiten dar, die voneinander unabhängig entstanden und collagenartig aneinander gereiht sind. Den fragmentarischen Charakter seines Werks betont Hoffmann auch in der Vorrede zu den Kreisleriana. So erklärt er den fiktiven Entstehungsprozess mit der Schilderung, dass sich »auf den weißen Rückseiten mehrerer Notenblätter kleine, größtenteils humoristische Aufsätze, in günstigen Augenblicken mit Bleistift schnell hingeworfen, befanden« (5) und weist hiermit auf eine fehlende Kohärenz und eine willkürliche Aneinanderreihung der Stücke hin. Eine solche vermeintliche Zusammenhanglosigkeit, die vorgetäuschte Nachlässigkeit und die Zufälligkeit bei der Komposition des Materials ist ein stilistisches Gestaltungsmittel des Kreislerianums bei E.T.A. Hoffmann. Auch in seinem Roman LebensAnsichten des Katers Murr betont er die Willkür der Erzählstruktur, wenn er die Einstreuung der Kreisler-Biographie mit der Entschuldi120 Ebd., S. 336. 121 Vgl. Hanne Castein im Nachwort zu: E.T.A. Hoffmann, Kreisleriana, S. 146. 94
III. ANALOGIEN AUF DER EBENE DER OBERFLÄCHENSTRUKTUR
gung des Herausgebers als »fremde Einschiebsel [...] aus Versehen mit abgedruckt«122 erklärt. Dass die Zusammenstellung der Kreisleriana jedoch nicht völlig willkürlich ist, sondern durchaus einem thematischen und strukturellen Konzept folgt, lässt sich aus der Tatsache schließen, dass Hoffmann nicht die chronologische Reihenfolge seiner Arbeiten beibehält, sondern ein neues System kreiert. Dass die Chronologie bei der Komposition eines Werkes keine Rolle spielt, verdeutlicht Hoffmann bereits in seinem Kreislerianum Höchst zerstreute Gedanken. Hier weist er auf die Schwierigkeit hin, eine Arbeit zu beenden, und hält es deshalb für notwendig, mit dem Finale bzw. dem letzten Akt zu beginnen und die Ouvertüre bzw. den Prolog zum Schluss fertig zustellen (50). Callotsche Manier und Bachsche Variationen Hoffmann benennt zwei Prinzipien, die die Struktur der Kreisleriana bestimmen. So schreibt er in seiner Vorrede zu den Fantasiestücken: »Kein Meister hat so gut wie Callot gewußt, in einem kleinen Raum eine Fülle von Gegenständen zusammenzudrängen, die ohne den Blick zu verwirren, nebeneinander, ja ineinander heraustreten, so daß das Einzelne als Einzelnes für sich bestehend, doch dem Ganzen sich anreiht.«123 Dieses Formprinzip nimmt Hoffmann zum Vorbild seiner Fantasiestücke in Callots Manier. Die künstlerische Gestaltungsästhetik, die Hoffmann in den Bildern Callots zu entdecken weiß, legt er seinem Konzept eines Kreislerianums zugrunde. So bestehen sowohl die Kreisler-Biographie im Kater Murr als auch die Kreisleriana aus aneinandergereihten Fragmenten. Sie sind Einzelstücke oder »das verworrene Gemisch fremdartiger Stoffe durcheinander«124. Erschließt sich der innere Zusammenhang des Fremdartigen, das »ineinander Heraustreten« des unabhängigen Einzelnen nicht dem ersten Blick, so macht Hoffmann doch auf die innere Kontinuität seiner Kreisleriana schon im ersten Stück Johannes Kreislers, des Kapellmeisters, musikalische Leiden aufmerksam. Kreisler notiert hier seine Erlebnisse und Erinnerungen auf der Rückseite von Notenblättern, es sind die Goldberg-Variationen von Johann Sebastian Bach, die – im wahrsten Sinne des Wortes – den Hintergrund der Kreisleriana darstellen. Diejenigen, die »das Blatt umwenden und lesen, [...] erraten gleich den wahren Zusammenhang« (6). Wem diese innere Einheit nicht ersichtlich ist, 122 Kater Murr-Roman, S. 7 f. 123 E.T.A. Hoffmann: Fantasie- und Nachtstücke, S. 12. 124 Kater Murr-Roman, S. 8. 95
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dem ergeht es wie den »ästhetischen Meßkünstlern«, die die vollkommene Struktur der Werke Shakespeares nicht erkennen, und deren schwaches ästhetisches Empfinden nicht ausreicht, die wahren Zusammenhänge zu empfinden (30). Neben der Struktur nach »Callots Manier« dient Hoffmann das Kompositionsprinzip der Bachschen Variationen als Vorbild. Immer wieder ist die Rede von den »kontrapunktischen Wendungen und Verschlingungen« als der »Struktur des Ganzen« (35). Innerhalb dieser Gesamtkonzeption »wechseln in rastlosem Fluge die wunderbarsten Bilder, in denen Freude und Schmerz, Wehmut und Wonne neben- und ineinander hervortreten.« (35) Hoffmanns Werk ist jedoch kein Zufallsprodukt. Der scheinbaren Willkür liegt eine strukturelle Einheit zugrunde. Die harten Schnitte, die ständigen Wechsel der Töne und Juxtapositionen, die Wiederholungen, ironischen Abwandlungen und parodierenden Variationen in den Kreisleriana stehen nicht unverbunden nebeneinander, sondern sind kontrapunktisch ineinander verschlungen. Hoffmanns Begriff des Kontrapunkts entspricht weniger dem traditionellen musiktheoretischen Verständnis der Kontrapunkttechnik als vielmehr einer Verbindung unabhängiger, eigenständiger Elemente, die durch Abwandlung, Variation oder Weiterführung zu einem Ganzen verbunden werden. Dieses Kompositionsprinzip spiegelt sich in den Goldberg-Variationen wider. Jede der Variationen kann separat gespielt werden ohne unverständlich oder unvollständig zu wirken, doch in ihrer Gesamtstruktur tauchen immer wieder die gleichen Themen und Motive in modifiziertem, variiertem und weitergeführtem Charakter auf. Die Variationen sind teilweise durch einzelne Töne miteinander verbunden, die sowohl als Schlusston des einen Stücks als auch als Anfangston des Folgenden fungieren, so dass sich eine komplizierte, vielschichtige Verknüpfung ergibt. Der Pianist Glenn Gould charakterisiert die Goldberg-Variationen als eine »Textur der ›Arabesken‹« und schreibt: »Viele jener Nummern von ›unabhängigem Charakter‹ spinnen winzige thematische Zellen zu einem kunstreichen [...] Gewebe aus.«125 Wie Hoffmann dieses arabeskenhafte »Verspinnen zu einem kunstreichen Gewebe«, das »Ineinandergreifen« unabhängiger Stücke zu einem Ganzen in seinen Kreisleriana poetisch umsetzt, hat Jocelyne
125 Glenn Gould: Die Goldberg-Variationen, in: Ders., Von Bach bis Boulez, München: Piper 1986, S. 49 u. 50. 96
III. ANALOGIEN AUF DER EBENE DER OBERFLÄCHENSTRUKTUR
Kolb in ihrem Aufsatz E.T.A. Hoffamnn’s Kreisleriana: A la recherche d’une forme perdue? untersucht.126 ›Enharmonische Verwechselungen‹ Kolb sieht in dem Stück Höchst zerstreute Gedanken die Gesamtstruktur der Kreisleriana in Miniaturform reflektiert. Hier stehen einzelne, in sich abgeschlossene Abschnitte nebeneinander. Zwischen den separaten Darstellungen und dem strukturellen Nebeneinander von Ernst, Humor und Ironie bestehen thematische Verknüpfungsmomente, z.B. leitet die Erwähnung der »musikalischen Bibliothek« (45) Forkels und der darin publizierten Kritik der Oper Iphigenia in Aulis von Gluck über in die Thematisierung der musikästhetischen Debatte zwischen den »Gluckisten« und »Piccinisten« (45). Eine Variante der Verknüpfung bietet die unmittelbare Übernahme eines Motivs aus dem vorangegangenen in den folgenden Gedanken durch Abwandlung, Kontrastierung oder ironische Umkehrung des Kontextes. Der Übergang vom vierten zum fünften Gedanken leistet solch eine motivisch-thematische Arbeit, indem die Formulierung »das größte Lob« (44) aus dem Schlusssatz des vierten Abschnitts in den folgenden Abschnitt mit der Formulierung »Sie lassen sich gar zu gerne loben« (44) übernommen wird. Das Motiv des ›Lobes‹ wird rekurriert, doch erfährt es einen wesentlichen Wandel. Wird es im fünften Abschnitt noch positiv, als ehrliches Lob verstanden, klingt im sechsten Gedanken ein kritischer Unterton mit. Lob wird eingefordert und bedient lediglich das ›fishing for compliments‹, die Eitelkeit und das Geltungsbedürfnis, das manche »Große Dichter und Künstler« (44) zu haben pflegen. Durchgehendes Thema aller »Gedanken« ist der Kapellmeister und somit die Musik. Ändert sich auch der Ton der Abschnitte, der Gegenstand bleibt. Die Kreisleriana stellen quasi eine Bearbeitung, einen Variations-Zyklus des Motivs »Musik« dar. Kolb weist darauf hin, dass dieses konstant durchgeführte Thema einem jeweils durchgehaltenen Ton zwischen den einzelnen Akkordwechseln der Klavierimprovisation Kreislers in seinem »musikalisch-poetischen Klub« gleicht, so z.B. in dem Akkordwechsel von as-Moll zu E-Dur, in dem der Ton As bzw. Gis gleich bleibt.127 Ähnlich der enharmonischen Verwechslung, der harmonisch funktionalen Umdeutung eines Tons, 126 J ocelyne Kolb: E.T.A. Hoffamnn’s Kreisleriana: A la recherche d’une forme perdue?, in: Monatshefte Vol. 69, No. 1, 1977, S. 34-44. 127 Vgl. Jocelyne Kolb: E.T.A. Hoffamnn’s Kreisleriana, S. 37. 97
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erscheint auch die Musik aus immer anderer Perspektive, und in ständig wechselndem Kontext wird auch ihre Funktion umgedeutet. Die enharmonische Verwechslung übt auf Kreisler eine vergleichbare Faszination aus wie die kontrapunktischen Verschlingungen. Er spricht von den »enharmonischen Ausweichungen, die eben jene geheime Beziehung in sich tragen und deren oft gewaltige Wirkung sich nicht bezweifeln läßt« (114). Das Prinzip der enharmonischen Verwechselung und der motivisch-thematischen Arbeit kann als ein Aspekt des arabeskenhaften Erzählstils und somit als ein strukturbestimmendes Merkmal der Kreisleriana betrachtet werden. Nach dem Vorbild der »enharmonischen Verwechslung« zieht sich das Thema der Musik nicht nur durch die Höchst zerstreuten Gedanken, sondern bildet auch den roten Faden der Kreisleriana als Ganzem. Arabeske und Groteske Das Grundproblem der romantischen Poetik, die Darstellung des Unendlichen, des eigentlich Unaussprechlichen, spiegelt sich in dem Kompositionsprinzip der »kontrapunktischen Verschlingung« wider. »Unendliche Fülle« kann durch die Form nicht dargestellt, sondern nur angedeutet werden. Die Kunst kann lediglich eine Verweisfunktion auf das Unendliche erfüllen und hieran schließt sich Schlegels Verständnis der ›Arabeske‹ an. Als ›arabesk‹ gilt, wie Karl Konrad Polheim ermittelt, »jene durch die Dichtungskraft (oder die Einbildungskraft oder den Witz) hervorgebrachte Form, in der sich die unendliche Fülle ahnungsweise manifestiert«.128 Diese Ahnung unendlicher Fülle sieht Hoffmann in der Callotschen Gestaltungstechnik, wenn in seiner Vorrede zu den Fantasiestücken von den »aus Tier und Mensch geschaffenen grotesken Gestalten« die Rede ist, die »dem ernster, tiefer eindringenden Beschauer alle die geheimen Andeutungen, die dem Schleier der Skurrilität verborgen liegen«129, enthüllen. In diesem Zitat kommt dem Grotesken der Callotschen Gestalten die Verweisfunktion zu. Thomas Cramer spricht von dem Verweischarakter der Groteske und von ihrer Hindeutung auf die verdeckte Idealität, wenn er »das Groteske als Offenbarung eines dahinterliegenden Idea-
128 Karl Konrad Polheim: Die Arabeske. Ansichten und Ideen aus Friedrich Schlegels Poetik, München, Paderborn, Wien: Schöningh 1966, S. 57. 129 E.T.A. Hoffmann: Fantasie- und Nachtstücke, S.12. 98
III. ANALOGIEN AUF DER EBENE DER OBERFLÄCHENSTRUKTUR
len, dessen verzerrter Ausdruck es ist« beschreibt.130 Hoffmann selbst kombiniert das Groteske mit dem Arabesken in seinen Titelbildern zu dem Roman Lebens-Ansichten des Katers Murr. Dort sind groteske Wesen in eine Arabeske eingebunden und umrahmen die sich in menschlichen Posen zeigenden Gestalten des Katers Murr und der Katze Miesmies. Ähnlich dieser bildlichen Darstellung benutzt Hoffmann die Verbindung von Groteskem und Arabeskem auch als ein literarisches Verfahren. So wird z.B. in dem Kreislerianum Johannes Kreislers Lehrbrief geschildert, wie das »mit vielen Dolchstichen ermordete« (119) arme Fräulein unter einem »von allerlei wunderbaren Moosen und rötlichen Adern« (117) durchwachsenem Stein liegt, »aus dem Blute [des armen Fräulein, M.B.] entstanden aber die wunderlichen Moose und Kräuter, die jetzt auf dem Stein in seltsamlichen Farben prangen.« (119) Intention des arabeskenhaften Erzählstils Hoffmanns ist die strukturelle Einheit bei einer scheinbaren Willkür.131 Die verschachtelte Rahmenstruktur, die Auflösung der chronologischen Abfolge von Geschehnissen und die wechselnden Perspektiven des fiktiven Herausgebers und des fiktiven Biographen erwecken den Eindruck einer bewusst kreierten Willkür über die faktisch vorhandene Willkür hinaus. »Diese künstlich geordnete Verwirrung, diese reizende Symmetrie von Widersprüchen, dieser wunderbare ewige Wechsel von Enthusiasmus und Ironie« kennzeichnet Schlegel als den »großen Witz der romantischen Poesie«.132 Der permanente »Wechsel von Enthusiasmus und Ironie«, der für die Kreisleriana konstitutives Merkmal ist, findet sich ebenfalls in der Aneinanderreihung von Künstler- und Liebesepisoden im Kater Murr-Roman wieder. Rotermund macht die zeitliche, räumliche aber auch personelle »künstlich geordnete Verwirrung« des Kreisler-Buches an ihrer bewusst gestalteten Diskontinuität der Erzählabfolge fest, indem er die Kreisler-Geschichte als einen Kriminal- oder Detektivroman versteht. Die Vorwegnahmen und Rückgriffe sollen die Gegenwartshandlung erklären und stellen somit lediglich eine Komplizierung der Narration dar. Die unabhängigen, eigenständigen Szenen und Reflexionen unterbrechen die 130 Vgl. Thomas Cramer: Das Groteske, München: Wilhelm Fink Verlag 1970 (1966), S. 82. 131 Vgl. Erwin Rotermund: Musikalische und dichterische ›Arabeske‹ bei E.T.A. Hoffmann, in: Poetica, 2. Bd., München: Niemeyer 1986, S. 58. 132 Friedrich Schlegel: Rede über die Mythologie, in: Ders., Gespräch über die Poesie, Stuttgart 1968, S. 318 f. 99
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Rekonstruktion der Vorgeschichte, so dass lediglich Elemente des Kriminalromans auftauchen. Rotermund sieht hierin eine »schematisierende Verfestigung« des arabesken Romans nach Schlegel.133 Das Fragmentarische und Verwirrte, die verwischte und unbestimmte Klarheit des arabesken Erzählens impliziert bei Hoffmann häufig das Groteske als Andeutung und als Verweis auf das Unendliche. Es lässt die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Phantasie unbestimmt. Arabeskenhafte Verknüpfungsmomente zwischen den einzelnen Kreisleriana-Stücken Die zweiteiligen Kreisleriana sind in einmal sechs und einmal sieben Stücke unterteilt. Sie zählen also insgesamt dreizehn Einzelnummern. Kolb zieht die beiden Briefe zu Beginn des zweiten Teils der Kreisleriana zu einem Stück zusammen, so dass sie auf eine gleiche Anzahl von Nummern in den beiden Teilen kommt. Sie rechtfertigt dieses mit Hoffmanns Veröffentlichung der Briefe als einer Arbeit und sieht sich durch die entstehende Symmetrie – zweimal sechs Kreisleriana – bestätigt.134 Doch Hoffmanns bewusste Aufteilung des Wallborn Briefs und des Kreisler Briefs in zwei separate Nummern und die dadurch entstehende Asymmetrie entspricht seinen Hinweisen auf versteckte Strukturen. Christine Lubkoll z.B. sieht in dem Schluss des letzten Kreislerianums Johannes Kreislers Lehrbrief eine »Ouvertüre« (116), die sie als eine »Schaltstelle«, als ein zusammenfassendes Stück versteht, das das Ende an den Anfang wieder anschließt und damit die lineare Ausrichtung des Textes in eine zyklische transponiert.135 Zudem gliedert sich das Stück Höchst zerstreute Gedanken ebenfalls in dreizehn Abschnitte, so dass hier die inhaltliche Entsprechung zum Ganzen um die strukturelle ergänzt wird. Dieses fragmentarisch Unsymmetrische einer Struktur ist einerseits Merkmal der offenen Form andererseits die Parallele zum Arabeskenhaften bei Schlegel. Dem Brief des Baron Wallborn kommt für die Gesamtkomposition der Kreisleriana eine gesonderte Rolle zu. Er entstammt nicht der fiktiven Autorschaft Kreislers und stellt außerdem einen Rückbezug auf den ersten Teil der Kreisleriana dar: »Für jetzt geht mein Bestreben dahin, Ew. Wohlgeboren einen kleinen Beitrag zu den von 133 Vgl. Erwin Rotermund: Musikalische und dichterische ›Arabeske‹ bei E.T.A. Hoffmann, S. 60. 134 Erwin Rotermund: Musikalische und dichterische ›Arabeske‹ bei E.T.A. Hoffmann, S. 60. 135 Vgl. Christine Lubkoll: Mythos Musik, S. 231. 100
III. ANALOGIEN AUF DER EBENE DER OBERFLÄCHENSTRUKTUR
Ihnen aufgezeichneten musikalischen Leiden zu liefern.« (67) Als eine Antwort auf die vorangegangenen Kreisleriana enthält er Zweifel und Kritik an den von Kreisler postulierten musikalischen und gesellschaftlichen Ansichten. Dass Kreisler »häusliches Glück, als der erhabensten Tendenz jedes kultivierten Menschen« (vgl. 26) sarkastisch ablehnt und als die »häusliche Idylle« (21) verschmäht, wird in seiner Rigorosität durch Wallborn abgeschwächt: »Du kommst mir mit dem, was Du gegen alle ungeniale Musik eiferst, bisweilen sehr hart vor. Gibt es denn absolut ungeniale Musik? Und wieder von der anderen Seite, gibt es denn absolut vollkommene Musik als bei den Engeln?« (69) Wallborn mildert Kreislers Spott über die Hausmusik der Kinder ab, indem er »wahrhaftig ein wenig Engelsharmonie [...] allen unreinen Erdentönen zum Trotz« (70) heraus hören kann. Mit dem Brief formuliert Hoffmann eine Gegenposition zu den von Kreisler vertretenen Standpunkten und stellt somit das Vorausgegangene in Frage. Da das folgende Kreislerianum Brief des Kapellmeisters Kreisler an den Baron Wallborn keine Antwort auf Wallborns Schreiben und somit auch keine Relativierung, Abschwächung oder gar Ironisierung des Vorigen ist, werden Kreislers Ansichten als die eines »wahren«, anerkannten Musikers nun in ihrer Glaubwürdigkeit hinterfragt. Und dadurch dass Wallborns Brief eigenständig und als separates Kreislerianum ohne eine direkte, relativierende Antwort Kreislers dasteht, gelingt es Hoffmann, das Vorangegangene zu parodieren bzw. in seinem ernsten Charakter zu vernichten. Diese Technik der Annihilation ist strukturbestimmend für Hoffmanns Kreislerianum und ein Aspekt der romantischen Ironie. Ein Vergleich der verschiedenen Briefe innerhalb der Kreisleriana zeigt einen ähnlichen Wechsel der Töne zwischen Ernst, Ironie oder Humor. Hoffmann nutzt die Möglichkeiten der Briefform, um mit Perspektivenwechseln und Erzähldistanzen zu jonglieren. Im ersten Teil der Kreisleriana ist kein Stück vollständig in Briefform geschrieben, der zweite Teil hingegen enthält drei Briefe. Eine Überleitung zu diesem Genrewechsel stellt der Schluss des Kreislerianums Der vollkommene Maschinist dar. Dieses Kreislerianum beschließt mit einem Brief den ersten Teil der Kreisleriana und bereitet damit die Schreiben Wallborns und Kreislers vor. Der humoristische Brief Milos gleicht in seinem Aufbau einem Lehrbrief aus einem ›klassischen‹ Bildungsroman, er bezieht sich somit auf das letzte Kreislerianum Johannes Kreislers Lehrbrief, sticht jedoch parodistisch von diesem Lehrbrief und dessen ernsthaften Überlegungen und Reflexionen ab. Die Kon101
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traststruktur zwischen ernstem und humoristisch scherzhaftem Ton spielt bei Hoffmann eine zentrale Rolle, doch wird der Wechsel nie berechenbar oder regelmäßig eingesetzt. Hoffmann vermeidet das Vorhersehbare und legt Wert auf verdeckte unregelmäßige Prinzipien, denn, so formuliert er in Über einen Ausspruch Sacchinis und über den sogenannten Effekt in der Musik, »es ist ja nur der Geist, der, die Mittel in freier Willkür beherrschend, in jenen Werken die unwiderstehliche Gewalt ausübt« (111). Ihm kommt es nicht auf die interessante Kombination, sondern auf den Effekt an, so »ist es mit der Wahl der Tonart, mit dem Forte und Piano, das aus dem tiefen Charakter des Stücks hervorgehen und nicht etwa der Abwechslung wegen dastehen soll« (115). Der Begriff der Willkür ist hier nicht als gesetzloses Ausleben subjektivistischer Ungebundenheit, sondern im Schlegel’schen Sinne als ein Vermögen freier Selbstbestimmung zu verstehen,136 also der »Besonnenheit des wahren Genies« entsprechend, der Hoffmann in dem Kreislerianum Beethovens Instrumentalmusik höchste Priorität zuspricht. Die kontrapunktische Verschlingung zweier einzelner Kreisleriana erreicht Hoffmann an anderer Stelle durch die Ankündigung bzw. Übernahme des ernsten Tons aus dem Stück Johannes Kreislers, des Kapellmeisters, musikalische Leiden in das folgende Kreislerianum Ombra adorata!. Der hier angeschlagene, emphatische Ton und die tiefe Begeisterung für die Musik scheinen sich auch in dem Titel Gedanken über den hohen Wert der Musik fortzusetzen, doch stellt sich dieses Kreislerianum als eine Parodie, als ein Kontrast zu dem Vorhergegangenen heraus. Es imitiert zwar den seriösen Ton des Stücks Ombra adorata!, doch negiert es dessen Intention. Dieser Effekt der Annihilation wird nicht zuletzt durch ein Zitieren des nächsten Kreislerianums Beethovens Instrumentalmusik erzielt: »Von der Musik hegen diese Wahnsinnigen [die Musiker, M.B.] nun vollends die wunderlichsten Meinungen; sie nennen sie die romantischste aller Künste, da ihr Vorwurf nur das Unendliche sei« (23). Wie bereits erwähnt, sind die Gedanken über den hohen Wert der Musik Worte eines Kunstbanausen. Hoffmann nutzt diesen Effekt des Perspektivenwechsels, um sein eigenes Kompositions- bzw. Kombinationsprinzip zu parodieren, wenn er sich über die »ganz unnützen Spielereien des Kontrapunkts, die den Zuhörer gar nicht aufheitern« (23 f.) beklagt. 136 Vgl. Ingrid Strohschneider-Kohrs: Die romantische Ironie in Theorie und Gestaltung, S. 27. 102
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Es wird deutlich, dass die ersten Kreisleriana erst im Zusammenhang mit dem Stück Beethovens Instrumentalmusik verständlich werden. Dieses Kreislerianum relativiert den Sarkasmus der Gedanken über den hohen Wert der Musik und greift in weniger schwärmerischem Ton die Wertschätzung der Musik aus dem Stück Ombra adorata! auf. Außerdem wird erst hier Kreislers emphatische Begeisterung für die ›kontrapunktischen Wendungen und Verschlingungen‹ aus dem Kreislerianum Johannes Kreislers, des Kapellmeisters, musikalische Leiden begründet. Es verbindet musikästhetische, musiktheoretische und lyrische Elemente. Den Übergang zu der parodistischen Nummer Der vollkommene Maschinist schaffen die Höchst zerstreuten Gedanken. Hier werden theoretische, technische und ästhetische Aspekte der Musik sowohl ernst als auch ironisch thematisiert und auf die Gebiete der Literatur und des Theaters erweitert. Sie bereiten somit den sarkastischen Ton des Kreislerianums Der vollkommene Maschinist vor und leiten den thematischen Wechsel von Musik zum Theater ein. Ähnliche Verknüpfungsmomente bestehen in dem zweiten Teil der Kreisleriana. Die Unterschrift Kreislers »Kapellmeister wie auch verrückter Musikus par excellence« kündigt Kreislers Wahnsinn an, der in dem folgenden Stück Kreislers musikalisch-poetischer Klub während einer Klavierimprovisation zum Ausbruch kommt. Die Texte, die Kreisler zu seiner Akkordimprovisation spricht, greifen charakteristische Phrasen der übrigen Kreisler-Texte wieder auf. So ist z.B. von »flammenden, geheimnisvoll verschlungenen Kreisen«, »holden Geistern« und »herrlichen Klängen und Akkorden«, von »unendlicher Sehnsucht« und »geheimen Ahnungen die deine Brust beengen« die Rede und auch »die Strohkrone auf dem kahlen, glatten Schädel« taucht als Motiv für Wahnsinn oder Irrsinn wieder auf (77 ff.). An dieser auffälligen Wiederholung einzelner Vokabeln oder ganzer Phrasen wird erneut die bereits thematisierte Formelhaftigkeit des Hoffmann’schen Sprachstils deutlich. In dem Kreislerianum Nachrichten von einem gebildeten jungen Mann setzt E.T.A. Hoffmann seinen Begriff von Ironie literarisch um. In seinem Vorwort zu den Fantasiestücken in Callots Manier definiert Hoffmann, dass »die Ironie, welche, indem sie das Menschlichen mit dem Tier in Konflikt setzt, den Menschen mit seinem ärmlichen Tun und Treiben verhöhnt«. Medium dieser Ironie sind z.B. der autobiographisch reflektierende Kater Murr oder der Briefe schreibende Affe Milo in den Kreisleriana. Das folgende Stück Der Musikfeind be103
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schreibt auf äußerst humorvolle und selbstironische Art die Sensibilität eines Künstlerindividuums. Der Effekt von Musik auf einen feinfühligen Charakter wird weniger dramatisch und tragisch geschildert als es in Kreislers musikalisch-poetischen Klub der Fall war. Vielmehr parodiert das Stück das Virtuosentum und den Dilettantismus einiger Musiker, die sich als selbstsichere Künstler mit »besonderen Grimassen und komischen Bewegungen« (95) in Szene setzen. Der Topos der Musik, die den Musiker »halb verrückt« (95) mache und bis an die Grenzen des Wahnsinns oder gar des Todes treibe, erfährt eine parodistische Verfremdung in der komischen Figur des Geigers Musewius. Dieser scheint während des Musizierens einen ähnlichen Anfall von Wahnsinn zu bekommen wie Kreisler bei seiner Klavierimprovisation. Doch der Eindruck erweist sich als falsch: »Einmal machte er doch eine vollkommene Störung der Musik, so daß mein Vater vom Flügel aufsprang und alle auf ihn zustürzten, einen bösen Zufall, der ihn ergriffen, befürchtend. Er fing nämlich an, erst etwas weniges mit dem Kopf zu schütteln, dann aber in einem fortsteigenden Crescendo immer stärker und stärker den Kopf hin und her zu werfen, wozu er gräßlich mit dem Bogen über die Saiten hin und her fuhr, mit der Zunge schnalzte und mit dem Fuß stampfte. Es war aber nichts als eine kleine, feindselige Fliege, die hatte ihn, mit beharrlichem Eigensinn in demselben Kreise bleibend, umsummt und sich, tausendmal verjagt, immer wieder auf die Nase gesetzt. Das hatte ihn in wilde Verzweiflung gestürzt.« (96)
Die unkontrollierten Kopfbewegungen, das Lallen und Schnalzen der Zunge und das Auftreten mit dem Fuß assoziieren zunächst einen epileptischen Anfall oder erinnern zumindest an eine akute Störung des Nervensystems oder an hysterischen Wahnsinn. Durch die Kombination des Wahnsinns-Diskurses und eines Diskurses völliger AlltagsBanalität durch die Fliege entsteht eine Diskursinterferenz, deren Effekt hier der Witz ist. Die unerwartet witzig-banale Begründung wird mit dem Ernst der Todesvision Kreislers aus dem »musikalischpoetischen Klub« in Kontrast gesetzt und zerstört die existentielle Not Kreislers in seinem Wahn. Das romantisch-ironische Prinzip der ›Selbstschaffung und Selbstvernichtung‹ schlägt sich hier durch Annihilation bereits erwähnter Ereignisse nieder. Gleichzeitig findet mit dem Stück Der Musikfeind ein Spiel mit der Zeit bzw. mit unterschiedlichen Zeitverläufen und Zeitebenen
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III. ANALOGIEN AUF DER EBENE DER OBERFLÄCHENSTRUKTUR
statt. Da das Kreislerianum Der Musikfeind eine Kindheitserinnerung schildert, werden hier Entwicklungsstufen und Erlebnisse beschrieben, die im Grunde die Ausgangssituation für die vorherigen KreislerianaStücke stellen. Dieser Rückgriff auf den Anfang, auf einen Zeitraum vor dem bisher Geschilderten, verleiht dem Werk einen kreisförmigen oder zyklischen Charakter. Der Sprung in die Vergangenheit hat synchronisierende Funktion, durch die Diskontinuität der Erzählung und den Aufbruch der Chronologie entsteht der Eindruck einer unendlichen Vielzahl von Zeitebenen. Es findet eine Progression, eine dynamische Entwicklung statt. Da sich durch den Rückgriff neue Zusammenhänge erschließen, werden neue Perspektiven geschaffen, die als Selbstschöpfungsprozess verstanden werden können und die innere Dialektik einer reflexiven Bewegung nach dem Vorbild romantischironischer Strukturen auslösen. Eine Irritation verursacht die Schwierigkeit der Autorbestimmung: Bis zum Schluss scheint Kreisler der Autor des Stückes zu sein. Die charakteristischen Merkmale des »Musikfeindes«, wie z.B. der empfindliche Magen, die extremen Reaktionen auf Musik und der ironische Ton in der Art der Beschreibung der gutbürgerlichen Gesellschaft, treffen auf Johannes Kreisler zu und scheinen auf ihn als den Verfasser zu verweisen. Doch schließlich ist von dem »echten, wahren Musiker« (104), dem Kapellmeister Kreisler, als demjenigen die Rede, der das musikalische Talent des »Musikfeindes« anerkennt. Die ungeklärte Autorschaft lässt offen, ob Baron Wallborn, der »reisende Enthusiast«, der »treue Freund«, diese beiden in Personalunion oder doch »Ich wie du, Johannes Kreisler« (125) selbst in seiner Doppelrolle, der Charakterspaltung des verrückten Musikers Verfasser dieses Kreislerianums ist. Das Auftauchen Kreislers versetzt das Stück Der Musikfeind in das richtige Licht; oder anders: Der Schlussteil fügt den Ton des Stückes in die richtige Tonart ein. Der Vergleich des »Musikfeinds« mit dem »Lehrling in dem Tempel zu Sais« (104) macht die gesonderte, elitäre Rolle des Verfassers deutlich. Kreisler schwärmt von Novalis und dessen Schriften und gleichzeitig stellt sich heraus, dass niemand diese »herrliche[n]« (105) Werke liest; der Trost des »Musikfeindes« ist der des verkannten Genies. Die halb scherzhafte und halb ernsthafte Erwähnung Novalis‘ bereitet auf das Stück Über einen Ausspruch Sacchinis und über den sogenannten Effekt in der Musik vor. Die musiktheoretische und musikästhetische Auseinandersetzung ist ein Parallelstück zu dem Kreislerianum Beethovens Instrumentalmusik. Die 105
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»kontrapunktische Verflechtung« der Sacchini-Nummer mit dem letzten Stück Johannes Kreislers Lehrbrief besteht aus einer thematischstilistischen Verknüpfung und dem gemeinsamen ernsthaften, reflektierenden Charakter der beiden Nummern sowie der Übernahme sprachlicher Elemente. In beiden Stücken wird das Problem der Verschriftlichung und der Zeichenhaftigkeit, des Effekts, des Sinns und des Gehalts von Musik thematisiert.137 Insbesondere der Begriff der »Hieroglyphe« erhält eine zentrale Bedeutung. Er taucht in beiden Stücken auf und trägt zu der Verflechtung der beiden letzten Kreisleriana bei. In Über einen Ausspruch Sacchinis und über den sogenannten Effekt in der Musik gilt es, das »im Innern Empfangene mit höherer Kraft festzuhalten in den Hieroglyphen der Töne (den Noten)« (109). In Kreislers Lehrbrief, wo er die »Hieroglyphe (den Buchstaben der Schrift)« (124) ebenfalls benennt, ist die Rede davon, »das ungezwungene, geläufige Vorstellen der Zeichen (Noten)« (124) zu praktizieren. Eben dieses Problem der Verschriftlichung von Musik bzw. die Umsetzung von Musik und das Transkribieren von Tönen und Melodien in Notenschrift wird bereits in der Vorrede zu dem ersten Teil der Kreisleriana angesprochen. Hier wird berichtet, »daß die Freunde es nicht dahin bringen konnten, daß er [Kreisler, M.B.-A.] eine Komposition aufschrieb oder wirklich aufgeschrieben unvernichtet ließ.« (4) Wenn Kreisler schreibt, dann sind es fragmentarische, skizzenhafte, flüchtige, »mit Bleistift schnell hingeworfene« (5) Notizen, und wenn er komponiert, dann zumeist »die seltsamsten Themas in kontrapunktischen Wendungen und Nachahmungen« (4). Eine weitere »kontrapunktische Verschlingung« erfahren das letzte Kreislerianum und der Beginn der Kreisleriana durch das Motiv des Dolchs. Kreisler verschwindet aus der Stadt mit »zwei Rastralen« (5) – im übrigen ein Hilfsmittel zur schriftlichen Fixierung von Musik und somit ebenfalls ein Hinweis auf Kreislers Auseinandersetzung mit dem Problem der Verschriftlichung von Kompositionen – und einem »Dolch« ausgestattet. Das Motiv des ›Dolchs‹ wird erneut in der zweiten Vorrede aufgenommen, wenn Kreisler angekündigt haben soll, sich »mit einer übermäßigen Quinte zu erdolchen« (64). »[...] mit vielen Dolchstichen ermordet und verscharrt, die Laute des Fremden aber neben ihr [dem armen Fräulein, M.B.-A.] zertrümmert« (119), so endet die Geschichte des Chrysostomus in Johannes Kreislers Lehrbrief. Die kontra137 Vgl. hierzu auch Christine Lubkoll, Phantasieren oder Aufschreiben? Das Problem der Schrift (mit einem Exkurs zum Ritter Gluck), in: Dies., Mythos Musik, S. . 106
III. ANALOGIEN AUF DER EBENE DER OBERFLÄCHENSTRUKTUR
punktischen Verschlingungen sind ein zentrales Strukturmerkmal des Hoffmann’schen Kreislerianums. Wie oben bereits beschrieben, sind sie Effekte einer thematisch-motivischen Arbeit, eines formelhaften, arabeskenhaften Erzählstils, der sich auch in der Kreisler-Biographie des Romans Lebens-Ansichten des Katers Murr nebst fragmentarischer Biographie des Kapellmeisters Johannes Kreislers in zufälligen Makulaturblättern wiederfindet. Das Arabeskenhafte im Kater Murr-Roman Auch die Murr-Biographie enthält arabeskenhafte Züge. Sie ist in Anlehnung an den klassischen Bildungsroman konzipiert und im Tone eines eitlen Selbstbekenntnisses verfasst, wie es Schlegel umschreibt: »Besonders die Confessions geraten meistens auf dem Wege des Naiven von selbst in die Arabeske [...]«.138 Er ist klar durchstrukturiert, chronologisch dargestellt und knüpft sogar immer an den im vorangegangenen Abschnitt abgebrochenen Satz an. Die tatsächliche Zerrissenheit der Sätze betont die Abruptheit der Übergänge zu den fragmentarischen Kreisler-Teilen. Die Wahl der Kapitelüberschriften »Die Monate der Jugend«, »Lebenserfahrungen des Jünglings«, »Die Lehrmonate« oder »Die reiferen Monate des Mannes« deuten auf die parodistische Imitation des Bildungsromans hin. Zudem wird das »Prosaische«, das Reelle in politischer, gesellschaftlicher und privater Hinsicht in der Murr-Handlung durch die Burschenschaften, die Pudelaristokratie oder die Ehescheidung ausführlich thematisiert. Murrs Lebenswandel in den Verbindungen, sein Versuch, sich in die Pudelgesellschaft zu integrieren, und der Verlauf seines Privatlebens spiegeln soziale und politische Zustände wider und konstituieren eine Realsatire. Der arabeskenhafte Charakter des Zusammenspiels der beiden Biographien entsteht durch die thematische Verflechtung von Kunst, Liebe und Gesellschaft. Die beiden Teile ergänzen einander. Während der Murr-Teil die bürgerliche Welt parodiert, stellt der Kreisler-Teil die höfische Welt satirisch dar. Murr ist jedoch eine integrationswillige, anpassungsfähige Persönlichkeit, die selbstgefällig ihre Bildung und ihre Fähigkeiten zur Schau stellt und auf naive Weise den Anspruch hoher Kunst mit einem philisterhaften Geist zu verbinden sucht. Kreisler hingegen steckt in dem Zwiespalt zwischen notwendiger Anpassung an gesellschaftliche Konventionen und der Not des 138 Friedrich Schlegel: »Brief über die Poesie«, in: Gespräch über die Poesie, S. 338. 107
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eigensinnigen Genies sowie der sozialen Minderwertigkeit der Künstlerexistenz. Hoffmann nutzt die unterschiedlichen Perspektiven als ein Mittel, die politische und soziale Realität, sowie das Sein selbst in ihrer Heterogenität zu erfassen. Wulf Segebrecht prägte hierfür den Begriff der ›Duplizität des Seins‹ bei Hoffmann. Der Stilbruch zwischen den Erzählsträngen ist Ausdruck dieser ›Duplizität des Seins‹.139 Die polyperspektivische Gestaltung einer künstlerischen Produktion ist ein Aspekt des Arabeskenhaften, der ›Indikation auf unendliche Fülle‹, wie Schlegel es versteht. Die Gesamtstruktur verknüpft die zwei heterogenen, ironisch aufeinander bezogenen Elemente miteinander und erzielt somit das ›ineinander Heraustreten des Einzelnen zu einem Ganzen‹ der Callotschen Manier. Rotermund weist darauf hin, dass die Murr-Geschichte nicht nur als Ganzes eine Kontrastfolie zu der Kreisler-Biographie abgibt, sondern dass durch die regelmäßige Wechselstruktur – auf jeden Murr-Abschnitt folgt ein Kreisler-Fragment – auch einzelne Episoden und Motive in Kontrast miteinander gesetzt werden.140 Es ergibt sich ein Konzept zweier unterschiedlicher Welten, die durch Kontraste, aber auch situative Parallelen ineinander verschachtelt und aufeinander bezogen sind. Das Prinzip der Beimischung statt der Vermischung zu einem Ganzen, das Hoffmann in dem ausführlichen Titel benennt, wird durch die inhaltlichen Bezüge der beiden Stränge realisiert. Dass der Murr-Teil nebst der KreislerBiographie erscheint, entspricht Hoffmanns »Programm der Integration des Heterogenen«.141 Wulf Segebrecht formuliert dieses Programm hinsichtlich Hoffmanns Konzepts nach »Callots Manier«. Er entdeckt hier das Kompositionsverfahren des Heterogenen, der Integration des Einzelnen zu einem Ganzen. Er erschließt die »notwendige Einsicht in die Heterogenität der Teile«. Ohne die Erkenntnis der »Duplizität des Seins« sei nach Hoffmann keine künstlerische Gestaltung möglich, so Segebrecht. Kreisler bleibt diese (Selbst)Erkenntnis versagt, ihm bleibt die Einsicht verborgen, dass sein Leiden an der Gesellschaft und seine Sehnsucht nach der Unendlichkeit in der Poesie Voraussetzung für sein Künstlertum sind und sein müssen und dass er aus diesem Widerspruch existiert. Kreislers Biographie wird von der »Ungebrochenheit der problemlosen Existenz« 139 Vgl. hierzu Wulf Segebrecht: Heterogenität und Integration: Studien zu Leben, Werk und Wirkung E.T.A. Hoffmanns, Frankfurt/M. u.a.: Lang 1996. 140 Vgl. Erwin Rotermund: Musikalische und dichterische ›Arabeske‹ bei E.T.A. Hoffmann, S. 63 f. 141 Vgl. hierzu Wulf Segebrecht: Heterogenität und Integration, S. 21 ff. 108
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des Katers zerrissen, er gelangt nicht zu einer Selbstfindung oder Selbsterkenntnis und bleibt der »Zerrissene«. Die Poesie kann nicht mehr ihre Funktion einer »symbolischen Erkenntnis« erfüllen, weil deren Voraussetzung, die Selbsterkenntnis, fehlt. Segebrecht betont hiermit, dass in dem Kater Murr-Roman die Integration in einen Zusammenhang nicht erfolgt, er spricht von dem »zerrissenen Zusammenhang«.142 Das Prinzip der Unterbrechung und der MontageTechnik und die gegenseitige Einschränkung in ihrer Unbedingtheit und die Kontrastierung bzw. Kommentierung der beiden Teile weisen nach Segebrecht auf eine humoristische Konzeption. Segebrecht sowie Rotermund sehen keine humoristische Synthese,143 keine Integration des Heterogenen, der Humor stellt lediglich die konzeptionelle Basis des Romans jedoch nicht das integrierende Moment. Der Hinweis des – fiktiven – Herausgebers zu Beginn des zweiten Romanbandes verweist auf eine zukünftige Möglichkeit der Integration des Heterogenen zu einem Ganzen. Indem er berichtet, dass der Murr-Teil für immer Fragment bleiben werde, da der Kater verstorben sei und keine wieteren Aufzeichnungen vorhanden seien, von der Keisler-Biographie jedoch noch »so manche Reflexionen und Bemerkungen« vorlägen, kündigt er einen Kreisler-Roman an, der nur noch »an schicklichen Stellen« und wo es »der weitern Mitteilung wert erscheint« unterbrochen sein wird.144 Dieser Ausblick übernimmt die eigentliche Verweisfunktion der Kunst auf eine unbedingte Einheit und stellt einen Zusammenhang des Zusammenhanglosen in Aussicht.145 Für die Untersuchung der Oberflächenstruktur wird deutlich, dass Hoffmann in dem Roman Lebens-Ansichten des Katers Murr zwei kontrastierende Prinzipien nebeneinander stellt, ohne ihre Integration oder ihre Versöhnung herbeizuführen. Die durch harte Schnitte und abrupte Übergänge zerrissene Oberfläche ist gekennzeichnet durch Unverbundenheit, Unabhängigkeit und Juxtapositionen. Dass diesem scheinbar willkürlichen, fragmentarischen Nebeneinander von Elementen jedoch ein Konzept, eine strukturelle Einheit zugrunde liegt, wurde anhand der mäandrischen, arabeskenhaften Verschlingung der Einzelteile miteinander gezeigt.
142 Wulf Segebrecht: Heterogenität und Integration, S. 38. 143 Erwin Rotermund: Musikalische und dichterische ›Arabeske‹ bei E.T.A. Hoffmann, S. 63. 144 Kater Murr-Roman, S. 443. 145 Wulf Segebrecht: Heterogenität und Integration, S. 40. 109
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»Cyclisation«146 Auch der stilistische Effekt des Zyklischen schafft eine Kohärenz der Vielheit. Neben dem Effekt des Zerrissenen, der Brüche und Juxtapositionen, leben die Kreisleriana aus diesem kreisläufigen Strukturmoment. Einige Indizien des Zyklischen wurden bereits erwähnt.147 Durch die Rückgriffe und Querverweise innerhalb des Textes entsteht eine kreisförmige, zirkulierende Struktur. Beispielsweise taucht die Anspielung auf Kreislers Wahnsinn aus der Einleitung zu dem ersten Teil in dem Vorwort zum zweiten Teil erneut auf. Kreislers Wahnsinn wird hier anhand der Geschichte über die unglückliche Liebe einer Nachtigall zu einer Nelke begründet. In dem Stück Johannes Kreislers Lehrbrief tauchen die Nachtigall und die Nelke wieder auf, so dass diese Wiederholung am Ende der Kreisleriana den Beginn kreisläufig, als Ankündigung der ewigen Wiederkehr des Gleichen erneut aufnimmt. Möglich wird der zyklische Charakter des Kreisleriana-Konzepts erst durch die offene Gestaltung von Anfang und Ende. Bereits in der Vorrede ist vom Verschwinden Kreislers die Rede: »Auf einmal war er, man wußte nicht wie und warum, verschwunden.« (4f.) und am Ende prophezeit er entsprechend: »[...] wenn Du mich gar nicht mehr finden solltest [...]« (125). Dadurch dass die Kreisleriana mit dem Lehrbrief enden, verweisen sie auf eine Zukunft, z.B. auf bevorstehende ›Wanderjahre‹. Doch die Ankündigung Kreislers, er wolle gehen, um sich mit einer »übermäßigen Quinte« (64) zu erdolchen, könnte ebenfalls in Erfüllung gegangen sein, zumal Kreisler seinen Brief an den verstorbenen Baron Wallborn mit der Anschrift versieht: »Abzugeben in der Welt, dicht an der großen Dornenhecke, der Grenze der Vernunft« (64). Schickt Kreisler den Brief also bereits aus einer anderen Sphäre als der irdischen Welt? Oder definiert er die Welt über die Vernunft und fühlt sich ihr deshalb nicht zugehörig? Das Verbleiben Kreislers bleibt in jedem Falle geheimnisvoll und ungelöst. Ebenso wie seine Herkunft wird auch sein Verschwinden, »seine Entfernung« (63) ungeklärt stehen gelassen. Hoffmann verwischt Anfang und Ende, er vermeidet eine lineare, teleologische Entwicklung, so dass der zyklische, kreisläufige Charakter des Konzepts seines Kreis-
146 Friedrich Schlegel: Philosophie der Philologie, S. 51; zitiert in: Ingrid Strohschneider-Kohrs, Die romantische Ironie in Theorie und Gestaltung, S. 41. 147 Vgl. hierzu den Zwischentitel Mäandrischer Erzählsstil und Kollektivsymbol. 110
III. ANALOGIEN AUF DER EBENE DER OBERFLÄCHENSTRUKTUR
lerianums sich entfalten kann, jedoch ohne eine in sich abgeschlossene Struktur aufzuweisen.
Unbestimmte Klarheit der Personen und der Sprache Darstellungstechnik der Figur Zur Darstellungskategorie der unbestimmten Klarheit gehört die Groteske, da sie im Gegensatz zur eindeutigen und realistischen Beschreibung ihren Gegenstand verzerrt, absonderlich, übertrieben und stark übersteigert darstellt. Einzelheiten werden in den Vordergrund geholt und vollständige, klare Darstellungen vermieden. Indem ganz bewusst mit relativen Klarheiten gearbeitet wird, bekommen die Figuren wenig Tiefe, sie sind flächig, stereotyp und nicht entwicklungsfähig. Diese Wirkung beruht auf der Verwendung von motivischen Wiederholungsstrukturen. Hoffmanns Protagonisten bleiben schemenhaft und scheinen eher den Figuren der Commedia dell’Arte als den psychologisch ausgearbeiteten Helden der Entwicklungsromane zu gleichen. Es gibt die Wahnsinnsfigur, den Magier, den Meister, den Philister oder die Frauengestalt mit der besonderen Stimme. Die Darstellung der Figuren erfüllt die Ästhetik des Schlegel’schen Ironie-Postulats insofern, als dass sie einem Schema gleich einer Maske entspricht. Ingrid Strohschneider-Kohrs erschließt, dass das Wesen der Dinge und der menschlichen Charaktere nach Schlegel zwar porträtiert werden soll, jedoch nicht detailliert und ausgeschmückt, sondern auf seine zentralen Inhalte reduziert.148 Die Charaktere bleiben »Marionetten« oder »allegorisches Spielwerk«149 und somit in ihrer bewussten Beschränkung auf das Wesentliche Teil und Zeichen eines Ganzen. In ihrer Erhebung über das Einzelne verweisen und beziehen sie sich nach Schlegel auf das Unendliche und erfüllen somit eine zentrale Funktion der Poesie. Hoffmann bezeichnet dieses stilistische Phänomen in seinen Kreisleriana als die »poetische Erhebung über das Gemeine« (24), welches er durch eben diese unbestimmte Klarheit in der Darstellung seiner Figuren erreicht.
148 Vgl. Ingrid Strohschneider-Kohrs: Die romantische Ironie in Theorie und Gestaltung, S. 73. 149 Friedrich Schlegel: Prosaische Jugendschriften, J. Minor (Hg.), Wien 1882, 2. Bd, S. 181; zitiert in: Ingrid Strohschneider Kohrs, Die romantische Ironie in Theorie und Gestaltung, S. 73. 111
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Unbestimmte Klarheit der Figuren (dargestellt am Beispiel der Frauengestalten) Die Beschränkung auf wesentliche Anhaltspunkte in der Darstellung von Figuren, wie es Wölfflin für die Ausdrucksform der relativen Klarheit vorsieht, dient dazu, die Persönlichkeit soweit zu charakterisieren, wie es für den Gesamtzusammenhang ausreicht. Hoffmanns Figuren sind nicht Selbstzweck ihrer Darstellung, es kommt nicht auf eine möglichst plastische Beschreibung an, sondern auf einige wesentliche, oft formelhafte, typologisierte Eigenschaften. Ihre Konzeption geschieht mit Blick auf das Ganze. Insbesondere die Frauenfiguren in Hoffmanns Werk entsprechen einer solchen unbestimmten Darstellung. Ein Frauentyp ist die jugendliche, schöne und unschuldige Mädchengestalt, wie Cäcilie im »Berganza«, Veronika im »Goldenen Topf« oder Julia im »Kater Murr«. Anmut, Grazie, Sensibilität aber auch Naivität, mangelnde Selbstreflexion und fehlendes Bildungsinteresse sind weitere Kennzeichen dieser Frauengestalten. Hoffmanns Frauenbild ist das eines antiintellektuellen, naiv naturhaften, sinnlichen und empfindsamen Wesens.150 Besondere Eigenschaft des Weiblichen ist eine klare Gesangsstimme (Julia im Kater-Murr, »die glockenhelle Stimme eines Frauenzimmers« (16), das »blutjunge[s] Burgfräulein« [118], die Sängerin im »Don Juan«, die Tochter des »Rat Krespel«), häufig werden diese Frauengestalten jedoch kaum weiter psychologisiert und durchlaufen keinerlei Entwicklung. Auch die Abgrenzung zwischen Julia und Hedwiga geschieht durch einen simplen Kräftedualismus: Julia als der reine, unschuldige Charakter, bannt durch ihren Gesang die dämonischen Kräfte in Kreisler, Hedwiga jedoch löst diese Kräfte aus und initiiert ihre Wirkung. Während Julia dem sonstigen Frauen-Typ der Hoffmann’schen Erzählungen entspricht, teilt Hedwiga ihre Weiblichkeit mit den Eigenschaften des Künstlertyps, ist labil, empfindsam und nervenleidend. Ähnlich wie Kreisler ist sie dämonischen Kräften ausgesetzt, nicht Herrin ihrer Sinne und körperlich stark kränklich. Auch die Frauengestalt der Rätin Bezon nimmt eine schematisierte Rolle ein. Sie entspricht dem Figurentyp der Tante des Musikfeindes sowie Tante Füßchen151 und auch dem Fräulein Rosabelverde aus Klein Zaches genannt Zinnober. Diese Frauengestalten haben mütterliche, verständnisvolle Züge und verfü-
150 Vgl. Otto Nipperdey: Wahnsinnsfiguren bei E.T.A. Hoffmann, Köln 1957, S. 18 f. 151 Kater Murr-Roman, S. 101. 112
III. ANALOGIEN AUF DER EBENE DER OBERFLÄCHENSTRUKTUR
gen über eine starke, selbstbewusste Persönlichkeit, mit der sie der philisterhaften, männerdominierten Welt gegenübertreten. Das Groteske Durch groteske Darstellungsweisen entstehen lächerliche, absurde Wirkungen, die in der phantastischen Kunst eine wichtige Rolle spielen. Auch der Karikaturist arbeitet mit den Mitteln der Groteske, den Übertreibungen und Verzerrungen. Hoffmann als leidenschaftlicher und guter Karikaturist hat einen besonderen Blick für das Absurde und seine Darstellung. Nach Callotscher Technik verbindet er Tier und Mensch, um das Groteske zu erzeugen.152 Tierische Eigenschaften dienen Hoffmann häufig dazu, seine Figuren zu beschreiben und ihre eigentliche Natur bewusst zu machen. Er lässt Tiere sprechen, wie in der Nachricht von den neuesten Schicksalen des Hundes Berganza, dem Brief des Affen Milo oder dem Kater-Murr-Roman, und charakterisiert menschliches Verhalten durch Zuweisung tierischer Eigenschaften: »Sie sind alle fortgegangen. – Ich hätt’ es an dem Zischeln, Scharren, Räuspern, Brummen durch alle Tonarten bemerken können: es war ein wahres Bienennest, das vom Stocke abzieht, um zu schwärmen« (6). »Das Fräulein sprang auf, verbeugte sich sehr zereminös, flog dann aber schnell zum Zimmer heraus, wie ein Vogel, dem man den Käfig geöffnet.« 153
Hoffmann steigert seine Darstellung bis hin zum fließenden Übergang von Mensch und Tier wie in dem Märchen Das fremde Kind, in dem der Magister Tinte zur Fliege regelrecht zu mutieren scheint. Hier geht die Grenze zwischen Sein und Schein verloren und die Figur wird ad absurdum geführt. Auch das Spiel mit dem Wahnsinn dient zur Verzerrung von Personen, so z.B. in dem Stück Der Musikfeind: »Einmal machte er (der pflaumenfarbene Advokat, M.B.-A.) doch eine vollkommene Störung in der Musik, so dass mein Vater vom Flügel aufsprang und alle auf ihn zustürzten, einen bösen Zufall, der ihn ergriffen, befürchtend. Er fing nämlich an, erst etwas weniges mit dem Kopf hin und her zu werfen, wozu er grässlich mit dem Bogen über die Saiten hin und her fuhr, mit der Zunge schnalzte und mit dem Fuß stampfte. Es war 152 Vgl. E.T.A. Hoffmann: Fantasie- und Nachtstücke, S. 12, vgl. auch den Unterpunkt Arabeske und Groteske in dieser Arbeit. 153 Kater Murr-Roman, S. 159. 113
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aber nichts als eine kleine, feindselige Fliege, die hatte ihn, mit beharrlichem Eigensinn in demselben Kreise bleibend, umsummt und sich, tausendmal verjagt, immer wieder auf die Nase gesetzt.« (96)
Die Beschreibung Kreislers entspricht der eines spindeldürren, verrückten Nervenbündels: sein skurriler Habitus (»zwei übereinander gestülpte Hüte«, »zwei Rastralen, wie Dolche in den Leibgürtel gesteckt« [5], einen »chinesischen Schlafrock« tragend [81]), die ständige Angst vor dem Wahnsinn (ekstatischer Zustand in Johannes Kreislers musikalisch-poetischer Klub, Begegnung mit Ettlinger, »fixe Idee, dass der Wahnsinn auf ihn lauere«154 sowie seine mangelnde Körperbeherrschung, welche durch abrupte Bewegungsabläufe, durch Springen und Tänzeln, Tränen und schauriges Lachen gekennzeichnet ist (»solch Muskelspiel im Gesicht«155, Sprünge des St-Veits-Tanzes156). Diese körperlichen Skurrilitäten sind kennzeichnend für Hoffmanns Figuren. Es ist nicht nur die Wiederholung des seltsamen Schlafrocks »von gelbem, großgeblümtem, seidenem Zeuge«157, den Meister Abraham trägt, auch die Parallel zwischen den »zwei Rastralen, wie Dolche in den roten Leibgürtel gesteckt« (5) bei Kreisler und dem Habitus Rat Krespels: »Um den Leib hatte er ein schwarzes Degengehenk geschnallt, doch statt des Degens einen langen Violinbogen hineingesteckt.«158 sowie der Verlust der Körperbeherrschung durch eine Fliege, wie in dem Stück Der Musikfeind.159 Hoffmanns Figuren sind grotesk, wenn sie tanzen, unbeholfen agieren, schauerlich Lachen oder körperlich soweit von der Norm abweichen, dass sie einer Fliege gleichkommen. Die Person der offenen Form Die Hoffmann’schen Figuren erfüllen wesentliche Kriterien von Personen der offenen Form.160 Das Personenarsenal ist nicht beschränkt auf einen bestimmten Stand, sie vertreten das Künstlertum, das Bürgertum und den Adel, wobei ihre Standeszugehörigkeit irrelevant ist, von wert ist alleine ihre poetische Ader, ihre musischen Qualitäten. 154 155 156 157 158 159 160
Ebd., S. 163. Kater Murr-Roman, S. 53. Ebd., S. 71. Ebd., S. 313. E.T.A. Hoffmann: Rat Krespel, Stuttgart: Reclam 2000 (1964), S. 18. S.o. Zitat aus Der Musikfeind (96). Vgl. hierzu auch Volker Klotz: Geschlossene und offene Form im Drama. 114
III. ANALOGIEN AUF DER EBENE DER OBERFLÄCHENSTRUKTUR
Hierarchien werden unterlaufen, indem sie der Lächerlichkeit preisgegeben werden. So überführt Hoffmann beispielsweise das Verhalten des Bürgertums der Bequemlichkeit, der Geldgier und des Banausentums, er erniedrigt in dem Stück Gedanken über den hohen Wert der Musik die Künstler als gänzlich »untergeordnete Subjekte« (23) und überspannt somit das Klassendenken und die Hierarchien des Bürgertum auf ironische Weise. Ebenso wenn er in dem gleichen Stück von der wichtigen »Geistesdiät« (19) spricht, bei der anspruchsvolle Literatur oder fesselnde Musik störend wirken. Ein weiteres Beispiel ist die Schilderung der Zustände am Fürstenhof Irenäus. Dieser funktionslos gewordene Kleinstaat, der nur noch fiktiv existiert, inszeniert die fürstlichen Feste und Zeremonien dafür um so gewissenhafter und entlarvt somit die leere Hülle des Adels. Geistige Armut und Naivität herrschen hier vor und werden von Hoffmann karikaturistisch verzerrt dargestellt, z. B. der intellektuell sehr schwerfällige Fürst Irenäus oder sein blöder, Tassen sammelnder Sohn. Diese beiden Figuren oder auch die oben beschriebenen Frauengestalten sind Personenfragmente, nicht vollständig ausgeführt, ohne Individualität oder Entwicklungsfähigkeit. Hoffmann stattet seine Figuren nach relativ festgelegten Schemen aus, er hat gewisse Typvorstellungen, die sich in seiner formelhaften Sprache und Darstellungsweise immer ähneln. Dadurch erscheinen sie unfrei, nur beschränkt mündig und oft nicht in der Lage, ihre Situation richtig einzuschätzen. Eine wesentliche Eigenschaft der Personen der offenen Form ist ihre betonte Körperlichkeit. Hoffmanns Figuren reagieren auf äußerliche Eindrücke, auf Naturerlebnisse oder auf Musik körperlich, sie empfinden physische Schmerzen oder Schläge, reagieren mit Nervenzusammenbruch oder fallen in Ekstase ähnliche Zustände, beispielsweise Hedwiga und ihr Nervenleiden nach der Begegnung mit Kreisler, die Wahrnehmung eines Kusses beim Hören des Don Juan, der immer wieder Auftauchende elektrische Schlag beim Zusammentreffen von Personen, z.B. zwischen Hedwiga und Kreisler, die Tränen, die Übelkeit, der Ekel und der Magenschmerz des Musikfeindes ausgelöst durch Musik, die Ekstase im Stück Ombra adorata! oder Auftauchen seltsamer Erscheinungen im Stück Der Musikfeind. Die synästhetischen Wahrnehmungen Kreislers zeigen ebenfalls die körperliche und sinnliche Nähe äußerer Eindrücke. Diese direkte, unvermittelte Wahrnehmung von Begegnungen und insbesondere von Musik, die Bedeutung von Gefühlen und Ahnungen ordnet die Figuren der offenen Form zu und kennzeichnet sie als vom Unbewussten geprägte 115
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Personen. Mangelnde Selbstreflexion, der fehlende Blick für das Ganze und stattdessen ein Bann des Augenblicks sind charakteristisch für Hoffmanns Figuren, sie sind Akteure einer Struktur, die das Ganze in Ausschnitten betrachtet. Der Aspekt einer Gleichgewichtsverschiebung war bereits im Zusammenhang mit der Gesamtstruktur thematisiert worden.161 Auch die Personenaufstellung zeigt eine solche Unausgewogenheit: Während die geschlossene Form über ein Gleichgewicht von Spiel und Gegenspiel verfügt, steht hier der einzelnen Person nicht eine gleichwertige andere Person gegenüber, sondern »die Welt in der Fülle ihrer Einzelerscheinungen.«162 Es erfolgt die Konzentration auf ein zentrales Ich, was mit dem Titel Kreisleriana und dem darin enthaltenen Eigennamen schon angedeutet wird. Eine Bindung der einzelnen KreislerianaStücke entsteht folglich nicht nur durch das verbindenden Thema der Musik und, wie noch zu zeigen sein wird, durch die metaphorische Verklammerung der bildhaften Sprache, sondern auch durch die zentrale Figur des Kreislers. Klotz sieht in dieser Konzentration ein Kreisen der Handlung. Während sich die geschlossene Form auf ein Telos ausrichtet und linear fortschreitet, befindet sich die offene Form zwischen den zentrifugalen Kräften der Welt, versucht diese mit Hilfe des Themas und des zentrales Ichs zu binden und gerät dadurch in eine afinale Kreisbewegung.163
Z u r B e st i m m u n g e i n e r m u s i k a l i sc he n O b e r f l äc he n st r u k tu r Für die Analyse des Phänotextes eines Musikstückes sollen dieselben Kriterien und Überlegungen herangezogen werden, wie in den Vorüberlegungen zu der literarischen Textanalyse. Die Übertragung der sprachwissenschaftlichen Kategorien auf die musikalische Struktur wird durch die Definition des musikalischen Phänotextes und Genotextes legitimiert. Aus diesem Grund sollen die sprachphilosophischen Definitionen Chomskys und Kristevas durch eine Darstellung der musikwissenschaftlichen Überlegungen zur Oberflächen- sowie zur Tiefenstruktur erweitert werden. 161 Vgl. den Unterpunkt Asymmetrie und Gleichgewichtsverschiebung. 162 Volker Klotz: Geschlossene und offene Form im Drama, S. 219. 163 Vgl. Volker Klotz: Geschlossene und offene Form im Drama, S. 108 und 219. 116
III. ANALOGIEN AUF DER EBENE DER OBERFLÄCHENSTRUKTUR
Die Oberflächenstruktur eines Musikstücks wird durch die musikalischen Formelemente bzw. durch den spezifischen musikalischen Sinn konstituiert. Hans Heinrich Eggebrecht unterscheidet in diesem Zusammenhang zwischen der Struktur und der Aussage, der Form und dem Inhalt, zwischen dem Sinn und dem Gehalt einer Komposition.164 Unter dem musikalischen Sinn versteht er dabei »dasjenige, was das als Musik intendierte Tönende (Klingende, Hörbare) den Sinnen sinnvoll macht, so daß das Klingende in seiner Aussage, seiner Mitteilung, verstanden werden kann.«165 Beispielsweise entspricht ein Dominantseptakkord, der sich gemäß der regulären Fortschreitung innerhalb der funktionalen Harmonik in die Tonika auflöst einem musikalischen Sinn, er macht das Erklungene sinnvoll. Der musikalische Gehalt hingegen spricht dasjenige an, »was die Form ihrem Gehalt, ihrem Inhalt oder Ausdruck, ihrer Aussage nach bedeutet.«166 Diese Bedeutung ist im Gegensatz zum Sinn vielschichtig, sie spielt sich auf mehreren Ebenen ab. So kann z.B. im Blick auf den sich auflösenden Dominantseptakkord der Wechsel von Dissonanz zu Konsonanz eine Beruhigung von Spannung in Entspannung bedeuten; oder die Auflösung in die Tonika entspricht einer Erwartung, die eine gewisse Gefangenschaft des Denkens bekundet; ebenso kann solche Musik, die erwartete Schemata aufgreift bzw. bestätigt, in ihrer Bedeutung statt zu Revolution oder Widerspruch zu Affirmation neigen; oder es manifestiert sich in dem DominanteTonika-Verhältnis ein geschichtsbedingtes Gefallen des Menschen an der Eindeutigkeit von Erwartung und Erfüllung.167 Musik ist also nach Hans Heinrich Eggebrecht Form, Sinn und Aussage und sie hat Inhalt, Gehalt und Struktur. Beide Aspekte, das musikalische ›Sein‹ und das ›Haben‹, gehen zwar ineinander, Eggebrecht verweist jedoch auf die zu treffende Unterscheidung in das »Erscheinen und das Entstehen« dieses ›Ist‹- und ›Haben‹- Zustands. Das »Erscheinen«, oder vielleicht besser: das ›Erscheinungsbild‹ entspricht dem phänomenalen Verhältnis von Sinn und Gehalt. Im Erklingen konkreter Musik treten Sinn und Gehalt, Struktur und Aussage in Erscheinung, wobei die Form hier das Primat hat. Erst durch das Vorhandensein des akustischen Phänomens, erst durch das Ertönen der musikalischen Struktur 164 Vgl. Hans Heinrich Eggebrecht: Sinn und Gehalt in der Musik, in: Ders., Musik im Abendland. Prozesse und Stationen vom Mittelalter bis zur Gegenwart, München: Piper 19982 (1991), S. 677 ff. 165 Ebd., S. 677. 166 Ebd., S. 678. 167 Vgl. Hans Heinrich Eggebrecht: Sinn und Gehalt von Musik, S. 679. 117
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kann die intendierte Aussage, der Gehalt dargestellt werden. Das »Entstehen« hingegen betrifft das genetische Verhältnis von Sinn und Gehalt, hier ist der Inhalt oder die Aussage der Impuls zur Ausgestaltung der Form. Dem Genotext eines Musikstücks entspricht somit die musikalische Aussage und ihr Gehalt, während der Phänotext durch den musikalischen Sinn bzw. die musikalische Form konstituiert wird.168 Die musikalische Form ist wiederum Resultat des Zusammenwirkens unterschiedlicher Teilmomente von Musik, die sich in die Parameter Harmonik, Kontrapunkt, Dynamik, Rhythmus und Melodik unterteilen lassen.169 Die einzelnen Teilmomente entfalten durch ihre gegenseitigen Wechselwirkungen, Abhängigkeiten und Verknüpfungen den musikalischen Sinn bzw. die musikalische Struktur. Während in der klassischen Ästhetik die wechselseitige Bezogenheit von Form und Inhalt den höchsten Stellenwert hat, stehen im lyrischen Klavierstück der Romantik Form und Aussage eher nebeneinander. Der originelle Stil einer unnachahmlichen poetischen Idee bildet den ästhetischen Wert und äußert sich z.B. in den ausgefallenen Werküberschriften.170 Im charakteristischen oder im durch den Titel charakterisierten Klavierstück rechtfertigt das Sujet eine Loslösung von dem an einen einzigen Affekt gebundenen style d’une teneur. Hier sind Kontrastreichtum, harmonische Experimentierfreudigkeit und sonstige Aufhebungen des tradierten Regelwerks erlaubt.171 Auch Robert Schumann zeigt in den meisten seiner lyrischen Klavierstücke keine Verpflichtung gegenüber den klassischen Formmodellen. Er löst sich von den tradierten satztechnischen Gesetzmäßigkeiten wie der Sonatenhauptsatzform, der Liedform oder dem strengen Fugensatz und orientiert sich, wie bereits erwähnt, an den freien ›kleinen Formen‹, z.B. den Impromptus, den Moments musicaux oder den Etüden.172 Durch die Wahl seiner Titel stellt er freie poetischassoziative Bezüge her, was sich sowohl in den Kreisleriana als auch in den anderen zyklisch angelegten Charakterstücken in einer freien Satztechnik und -gestaltung niederschlägt.
168 Vgl., ebd., S. 687. 169 Vgl. Clemens Kühn: Artikel »Form«, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, S. 607. 170 Vgl. Clemens Kühn: Artikel »Form«, S. 608. 171 Vgl. Bernhard R. Appel: Artikel »Charakterstück«, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, S. 640. 172 Vgl. Teil II dieser Arbeit. 118
III. ANALOGIEN AUF DER EBENE DER OBERFLÄCHENSTRUKTUR
Im Rahmen dieser Arbeit kann keine detaillierte Analyse der zahlreichen harmonischen Kühnheiten, der komplexen Kontraststrukturen und aufgelösten Formelemente innerhalb der Schumann’schen Kreisleriana erfolgen. Darum sollen einige charakteristische Momente exemplarisch herausgegriffen werden, die stellvertretend für weitere Stellen mit gleichen oder ähnlichen Strukturmerkmalen Geltung besitzen und an denen das strukturelle Konzept des musikalischen Phänotextes deutlich wird.
D i e O b e r f l ä c h e n s tr u k tu r d e r K r e i s le r i an a op.16 von Robert Schumann Die Kompositionstechnik der Schumann’schen Kreisleriana weist wesentliche Momente der romantischen Ironie auf. Das kunstästhetische Konzept Friedrich Schlegels lässt sich an zahlreichen Stellen wiederfinden und prägt die Oberflächenstruktur maßgeblich. Die bereits für die Untersuchung des Hoffmann’schen Textes gewählte übergeordnete Kategorie der geschlossenen und der offenen Form nach Heinrich Wölfflin soll auch hier zur Bestimmung wesentlicher Merkmale und Kriterien dienen. Die Schumann’schen Kreisleriana werden im Hinblick auf Strukturelemente der offenen Form, auf das Darstellungsverfahren des Ganzen in Ausschnitten sowie auf den Aspekt der Koordination der Einzelstücke untersucht. Mit Hilfe der romantischironischen Stilmittel sollen diese Kategorien beschrieben werden. Das Moment der relativen Klarheit bezieht sich auf die Darstellung des Gegenständlichen und wird deshalb in der Betrachtung der Klavierstücke keine Rolle spielen.
Das Ganze in Ausschnitten Strukturmerkmale der offenen Form Die Schumann’schen Kreisleriana op. 16 setzen sich aus einer Folge von acht einzelnen Fantasie-Stücken zusammen, in denen »unter Einsatz aller musikalischen Mittel wie Tonart, Takt, Tempo, Phrasierung, Registertechnik, Satzweite und Pedalisierung [...] scharf voneinander unterschiedene Charaktere«173 geschaffen werden. Es entsteht eine 173 Gerhard Dietel: Eine neue poetische Zeit: Musikanschauung und stilistische Tendenzen im Klavierwerk Robert Schumanns, Kassel 1989, S. 20 f. 119
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Wechsel- und Kontraststruktur mit betonten Gegensätzen zwischen den jeweiligen Fantasien. Auch innerhalb der einzelnen Stücke werden häufig unterschiedliche Charaktere nebeneinander gesetzt. Ihr individuelles und relativ abgeschlossenes musikalisches Wesen erhalten die Charakterelemente durch eine eigene musikalische Struktur, die Gerhard Dietel in der »flächigen Ausbreitung« prägnanter »Muster« sieht.174 Unter diesen ›Mustern‹ versteht Dietel die als Gesamtsatz konzipierte substanzielle Struktur eines Einzelsatzes, auf deren Grundlage sich der musikalische Ablauf entfaltet. Somit entsteht eine Aneinanderreihung einzelner freier und voneinander unabhängiger musikalischer Charaktere, die für die Kreisleriana als einer Folge von Charakterstücken kennzeichnend und konstitutiv sind. Diese Vielheit an Einzelstücken deutet bereits auf eine offene Form hin. Ihre freies, irreguläres Wesen entbehrt einer reinen Symmetrie, Rhythmus und Harmonik konstituieren ein Bruchsystem von Gleichgewichtsverschiebungen und labiler Stabilität. Es existiert keine zeitliche oder räumliche Kontinuität, so dass die jeweilige Situation, die Intensität des Augenblicks einen besonderen Stellenwert bekommt. Statt einer einheitlichen Ausrichtung auf ein Ganzes, entsteht ein mannigfaltiges Wechselspiel der Einzelmomente, die sich reihend zu einer afinalen Kreisbewegung koordinieren. Zum Charakter der offenen Form gehören diese Vielfalt und Dispersion, das Regellose, Momente der Phantastik sowie der Charakter des Zufälligen. Unbestimmtheit des Anfangs Das zufällige, unabhängige, freie, unbestimmte, irreguläre und von Formgebundenheit losgelöste Wesen spiegelt sich bereits in der Gestaltung des Anfangs wider. Das erste Stück der Kreisleriana op. 16 beginnt völlig unvermittelt ohne Einleitung oder Vorbereitung auf die Komposition. Durch den fehlenden Kontext wirkt es zusammenhanglos, wie aus einer geschlossenen Phrase gerissen und überrascht den Hörer mit einem unbestimmt losbrechenden Wirbel. In Sechzehnteltriolen schnellt die rechte Hand über eine Phrasenlänge von acht Takten ausgehend vom A permanent in die Höhe, bis sie im Sforzato auf d‘‘‘ jäh abreißt (Notenbeispiel 1).
174 Gerhard Dietel: Eine neue poetische Zeit, S. 28.
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III. ANALOGIEN AUF DER EBENE DER OBERFLÄCHENSTRUKTUR
Notenbeispiel175 1: Robert Schumann, Kreisleriana op. 16, Fantasie Nr. 1, Takt 1-8
Innerhalb einer relativ kurzen Phrase durchmisst die Oberstimme einen unerwartet großen Tonraum und vollzieht einen Registerwechsel aus der tiefen Basslage in den hohen Diskant. Die linke Hand verunsichert und verwirrt den Rhythmus der Melodie, indem sie ihre schweren Oktaven synkopisch versetzt gegen die Oberstimme verlaufen lässt. Der Anfang schwankt in seiner rhythmischen Struktur, er vermittelt eine gespannte, nervöse Stimmung, die über den Hörer unvermittelt, unbestimmt und unmotiviert hereinbricht. Der Komponist Dieter Schnebel hat in seiner Arbeit mit der Überschrift Rückungen – Verrückungen über die rhythmische Vieldeutigkeit der Kreisleriana hinaus auf eine große polyphone Vielschichtigkeit in der Stimmführung hingewiesen. Durch unterschiedliche Lesarten hat er in der vermeintlich schlichten Melodielinie eine »Vielfalt sprechender Stimmen« aufgezeigt. So wird sowohl eine »interne Dreistimmigkeit« deutlich, in der »die erste Stimme in Sekundschritten verläuft, die zweite in Terzschritten und die dritte ebenfalls in Terzschritten, aber methodischer und in langsamerem Zeitmaß«, sowie ein »Alternieren von me175 Alle Notenbeispiele werden mit freundlicher Genehmigung des G. Henle Verlages abgedruckt. 121
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lodischen und gebrochen akkordischen Dreiergruppen« als auch das »Gegeneinander von engen Sekundschritten und weiträumig gespreizten Akkorden«.176 Das Verwirrende des Anfangs beruht somit auf einer strukturellen Vielschichtigkeit der Komposition. Der Gesamtsatz der ersten Fantasie differenziert sich »in Einzelstimmen, deren rhythmisches Eigenleben sich zu einem gemeinsamen Grundpuls ergänzt«177, über dieser festgelegten Textur können dann Melodie und Harmonie variieren. Hier wird die Kompositionstechnik Schumanns als eine Arbeit mit determinierten Strukturen oder nach Dietel mit »Mustern« deutlich. In der »flächigen Ausbreitung« eines solch prägnanten, rhythmischen Musters konstituiert sich der individuelle und in sich relativ abgeschlossene musikalische Charakter innerhalb der ersten Fantasie. Das Phantastische (dargestellt am Beispiel der offenen Form des Schlussstückes) Charakteristisch für das Konzept eines Kreislerianums bei Schumann ist die musikalische Gestaltung des Schlusses. Bereits die verbale Spielanweisung Schumanns »Die Bässe durchaus leicht und frei« macht auf das unkonventionelle, außergewöhnliche Wesen dieser Fantasie aufmerksam. In der Klangrealisation bekommt der gleichmäßig durchgehende rhythmische Ostinatobass als ein gigueähnlicher Rhythmus eine penetrante, monologische Wirkung (vgl. Notenbeispiel 2). Gabriele und Norbert Brandstetter geben in ihrem Essay Phantastik in der Musik den Hinweis auf die Interpretation der Kreisleriana op. 16 durch den Pianisten Vladimir Horowitz. Dieser setzt die Anweisung bezüglich der Basslinie in der Weise um, dass die meist oktavverstärkten Bässe anschlagstechnisch mit eigenem Ausdruck einen von den übrigen Stimmen völlig losgelösten Charakter erhalten und somit ihre synkopische Struktur zusätzliches Gewicht bekommt.
176 Dieter Schnebel: Rückungen – Ver-rückungen. Psychoanalytische und musikanalytische Betrachtungen zu Schumanns Leben und Werk, in: Robert Schumann I, Musikkonzepte, Sonderband I, München: edition text + kritik 1981, S. 51. 177 Gerhard Dietel: Eine neue poetische Zeit, S. 22. 122
III. ANALOGIEN AUF DER EBENE DER OBERFLÄCHENSTRUKTUR
Notenbeispiel 2: Robert Schumann, Kreisleriana op. 16, Fantasie Nr. 8, Takt 1-8
Brandstetters sehen hierin eine »durch die Interpretation bewirkte Zerrüttung musikalischer Realität, die wie durch eine Stimme aus einer anderen Welt gespalten wird«.178 Dieser ›phantastische Effekt‹ wird durch eine umgekehrt zum Anfang verlaufende rhythmische Struktur konstituiert. Während der Beginn der Kreisleriana zunächst mit metrischen Verschiebungen arbeitet und durch Synkopen den Zeitpuls in der Schwebe hält, im Verlauf des Stückes jedoch zunehmend an Stabilität gewinnt und sich ein klares Metrum am Ende einstellt, gerät die letzte Fantasie in einen allmählichen Auflösungsprozess. Der bis auf die vorletzte Phrase in achttaktige Perioden gegliederte Dreier-Rhythmus in der rechten Hand wird durch synkopische Akzente in der linken Hand begleitet. Dadurch dass im ersten Teil viele Impulse noch auf eine betonte Zählzeit des Taktes fallen, ist eine metrische Sicherheit gegeben. Auch das Kadenzschema einer VI-V-I-Verbindung in 178 Gabriele und Norbert Brandstetter: »Phantastik in der Musik«, in: Christian W. Thomsen, Jens Malte Fischer (Hg.), Phantastik in Literatur und Kunst, S. 524. 123
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den ersten acht Takten ist im regelmäßigen Metrum gehalten, die Subdominante erklingt auf der eins des Taktes, die Dominante auf der vier, der zweiten betonten Zählzeit und die Tonika wird auf der eins des folgenden Taktes erreicht, wobei zur zusätzlichen Klarheit und Eindeutigkeit der Kadenz die Grundtöne der Funktionsharmonien immer im Bass liegen. Doch diese strenge Kompositionstechnik löst sich zunehmend auf. Bereits in Takt 52 beginnt die Kadenz mit einem Quartsext-Akkord und die Dominante erklingt synkopisch nachgeschlagen erst auf der Zählzeit sechs. Zwar folgt hierauf im nächsten Takt sofort die funktionsharmonisch richtige Grundtonart, doch wird die Kadenz vom Bass unterlaufen. Der Tonikagrundton G bleibt die ganze VI-V-I-Verbindung über im Bass liegen, so dass der KadenzCharakter verwischt wird. Der gleiche Sachverhalt wiederholt sich in Takt 56 und im weiteren.179 Die betonten Zählzeiten werden vermieden und die Akzente im Bass verschieben sich aperiodisch. Bis in der letzten Phrase, in Takt 138 die Dominante auf der Hälfte des Taktes erklingt und eine vollständig ausgeführte Kadenz im regelmäßigen Metrum in Takt 140 folgt. Ab hier stürzen die zwei Oberstimmen ohne Ritardando jedoch decrescendierend in die Kontra-Lage des Klaviers hinab. Die achte Fantasie der Schumann’schen Kreisleriana endet offen und unbestimmt, sie setzt das Phantastische in Musik um, indem sie mit »dem phantastischen Effekt einer mit musikalischen Mitteln dargestellten Schizophrenie« beschließt.180 Sie verflüchtigt sich bis die Musik quasi im Nichts verschwindet, bis nur noch die einzelnen Töne Kontra-D und Kontra-G im vorsichtigen Stacatto angeschlagen in ein Piano-Pianissimo verklingen. Das Stück verläuft in ein extrem tiefes Bassregister, das nach tradierten Tonsatzregeln für eine Komposition dieser Art, des lyrischen Klavierstücks, unkonventionell ist. Kleine musikalische Formen, wie das Charakterstück umfassen in der Regel keinen so großen Tonraum.181 Schumann war sich der befremdenden Wirkung bewusst, denn er schreibt an Clara: » [...] Im letzten Stück würde ich aber dann das dimin. zum Schluß in ein crescendo umändern und mit ein paar starken Akkorden schließen, sonst
179 Vgl. Deborah Crisp, The Kreisleriana of Robert Schumann and E.T.A. Hoffmann, S. 17. 180 Gabriele und Norbert Brandstetter: Phantastik in der Musik, S. 524. 181 Vgl. Deborah Crisp: The Kreisleriana of Robert Schumann and E.T.A. Hoffmann, S. 17. 124
III. ANALOGIEN AUF DER EBENE DER OBERFLÄCHENSTRUKTUR
bleibt der Beifall aus.«182 Dass Schumann den Schluss dennoch unverändert ließ, ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass er bewusst die Irritation, die Zerstörung von Illusionen und die Enttäuschung von Erwartungen in seine Musik einkomponierte. Er sah sich nicht an die musikalisch-klassischen Kompositionsregeln oder feste Satztechniken gebunden, sondern verfolgte vielmehr die musikalische Umsetzung einer frühromantischen Ästhetik nach literarischem Vorbild. Für Schumann gehörten Literatur und Musik in ihrer Ästhetik, ihrem Sinn und ihrem Ausdruck immer eng zusammen. Ein bekanntes Zitat Schumanns belegt dessen Überzeugung von Strukturparallelen zwischen Literatur und Musik. »Kennen sie nicht Jean Paul, unseren großen Schriftsteller? Von diesem habe ich mehr Contrapunkt gelernt, als von meinem Musiklehrer.«183 Rhythmische Instabilität sowie harmonische Vieldeutigkeiten Durch unterschiedliche Interpretationen des oben beschriebenen Rhythmus der ersten Fantasie184 ergeben sich immer wieder andere Zusammenhänge und neue Perspektiven auf die Konzeption des Einzelsatzes. Eine solche poly-perspektivische, strukturelle Vieldeutigkeit ist den Kreisleriana wesentlich. Das Spiel mit metrischen Strukturen, das diskutieren der eigenen Metrik ist ein kennzeichnendes Merkmal. So wechseln innerhalb des zweiten Kreislerianums die Taktarten von einem 2/4 Takt in einen 3/4 Takt und wieder zurück in einen 2/4 Takt. Oder das Metrum des vierten Stückes wird durch eine verschachtelte Synkopenstruktur in Frage gestellt und scheint im nächsten Moment aus dem Gleichgewicht geraten zu können. Ebenso unsicher stolpert die fünfte Fantasie ohne metrischen Halt dahin. Die Melodie erhält durch die fragmentarische Struktur und die rhythmischen Verschiebungen und Variationen einen flüchtigen, grotesken Charakter. Neben den metrischen Verwirrungen durch unregelmäßige Gliederung von Perioden, Taktwechseln und Taktverschiebungen komponiert Schumann auch mit harmonischen Vieldeutigkeiten. Durch gehaltene, nachschlagende oder vorgezogene Noten scheint nicht nur die rhythmische Stabilität bedroht zu sein, sondern auch das harmonische 182 Robert Schumann, in einem Brief vom 4. 12. 1838, zitiert in Wolfgang Boetticher, Vorwort zum Notentext der »Kreisleriana« op. 16, München: G. Henle Verlag 1977. 183 Robert Schumann, in einem Brief an Simonin de Sire vom 15.03.1839, zitiert in: Martin Geck, Von Beethoven bis Mahler, S. 149. 184 Vgl. den Unterpunkt Unbestimmtheit des Anfangs. 125
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Gerüst aus den Fugen zu geraten. Die Synkopen der linken Hand im Anfangsstück beispielsweise sind keine harmonischen Ver-rückungen im Sinne von Vorhalten oder Nachschlägen. Denn, so stellt Martin Geck fest, »man kann sich nicht einmal auf das Prinzip systematischer ›Verrückung‹ verlassen!«185 Ein ›Geraderücken‹ der Bässe würde keine harmonische Auflösung oder Klärung bewirken, es entstünden scharfe Dissonanzen, wie z.B. eine kleine Sekunde in Takt 4. Bei einem Vorziehen des Basstons auf die betonte Zählzeit klängen die Töne gis und a zusammen. Die beiden Stimmen sind zwar aufeinander bezogen, doch behält jede ihren eigenen Charakter, wirkt unabhängig von der anderen und verkörpert eine weitere musikalische Perspektive. Öffnung der harmonischen Räume Der Schluss der zweiten Fantasie ist charakteristisch für ein weiteres strukturkonstitutives Merkmal eines Schumann’schen Kreislerianums: dem Spiel mit konventionellen Hörerfahrungen und die Enttäuschung der Erwartungen des Hörers. Der letzte Abschnitt des zweiten Kreislerianums greift wie bereits erwähnt den Anfang wieder auf. Die Affirmation der Ausgangsfigur suggeriert ein eindeutiges, bestimmtes Ende. Doch diese Erwartung wird durch einen vieldeutigen, den Hörer verunsichernden Harmoniewechsel enttäuscht. Dem DominantseptAkkord in Takt 158 folgt funktionsharmonisch korrekt als Schlussakkord die Tonika in Takt 159. Doch das vermeintliche Ende der Fantasie wird weitergeführt und über Cm7 hin nach Ges- bzw. Fis-Dur geleitet. Dieser Akkord in Takt 161 fungiert als Dominante zu H-Dur. Er wird durch eine Fermate zusätzlich verlängert und kann somit als Ruhepunkt der Phrase verklingen, so dass die letzten Takte (161-165) als Reminiszenz an den Anfang oder als Echo einer fremden Stimmung des angekündigten H-Dur nachklingen. Durch die verklingende Wirkung des Klaviertons wird die Härte der weiten Modulationen abgeschwächt. Dennoch bleibt ein funktionsharmonisches Bruchsystem bestehen. Jede neue Harmonie vernichtet die Funktion der vorherigen bzw. deutet sie in einem romantisch-ironischen Wechselspiel von Vernichtung und Neuschaffung nachträglich um.
185 Martin Geck: Von Beethoven bis Mahler, S. 145. 126
III. ANALOGIEN AUF DER EBENE DER OBERFLÄCHENSTRUKTUR
Notenbeispiel 3: Robert Schumann, Kreisleriana op. 16, Fantasie Nr. 2, Takt 1-4
Notenbeispiel 4: Robert Schumann, Kreisleriana op. 16, Fantasie Nr. 2, Takt 158-165
Mit jedem Harmoniewechsel wird ein neuer Kontext hergestellt und der Blick in eine andere Richtung gelenkt. Die unvermittelten Modulationen enttäuschen die Hörerwartungen und zerstören den Eindruck von linearer Kontinuität. Es entstehen Brüche und ständige Wechsel der harmonischen Räume. Das vieldeutige, polyperspektivische Verfahren der metrischen Struktur wiederholt sich auf der Ebene der harmonischen Struktur. Zudem gelingt es durch die Verfremdung der Hörerwartung über den Rahmen des Werks hinauszuweisen, ihm eine neue Dimension einzuschreiben und es somit zu öffnen. ›Romantischer Witz‹ und musikalischer Humor Die beschriebene Modulation von B-Dur nach H-Dur am Ende der zweiten Fantasie erfolgt für den Hörer überraschend. Die Erwartung des Rezipienten, eine IV-V-I-Kadenz zu hören, findet keine Bestätigung. Indem zwei funktionsharmonisch äußerst entfernte Tonräume, hier diejenigen von B-Dur und H-Dur, zusammengeführt werden, entsteht ein der Schlegel’schen Kategorie des ›romantischen Witzes‹ ver-
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gleichbares Phänomen. Da jede Tonart und jeder Tonraum einen eigenen Charakter besitzt und über eigene Grenzen der Sagbarkeit verfügt, also einen selbstständigen Diskurs darstellt, bedeutet die Verknüpfung zweier völlig verschiedener Tonräume eine Diskurskombination auf musikalischer Ebene. Der durch den Dominantsept-Akkord angekündigte Tonraum von H-Dur ›entzündet‹ sich an dem ursprünglichen Tonraum des Stückes, an B-Dur. Es entsteht eine Zusammenführung von Gegensätzlichkeiten, die den ›romantischen Witz‹ konstituieren.186 Auch das vierte Kreislerianum greift dieses kompositionstechnische, stilistische Mittel des harmonischen Verfremdungseffektes auf und endet ebenfalls in unerwarteter Richtung. Es beschließt nicht in der Grundtonart B-Dur und auch nicht wie durch die Modulation vorbereitet in einem Es-Dur-Akkord, sondern völlig unvermittelt auf einem D-Dur-Klang. Unvermittelt und bruchstückhaft werden unterschiedliche Tonräume eröffnet, ohne in ihnen zu verweilen, ohne dem Hörer die Chance zu geben, sich auf die neue Perspektive einzulassen oder sich in dem neuen Raum orientieren zu könne. Die Struktur wird humoristisch gebrochen. Es wird im Sinne »der Keckheit des vernichtenden Humors« nach Jean Paul eine »Tonreihe durch eine fremde vernichtet«187 bzw. »hebt immer ein Stück das andere auf«188, wie Schumann für sich den musikalischen Humor definiert. Brüche und harte Schnitte entstehen häufig auch auf der Makrotextebene, wenn nicht nur die satztechnischen Details mit harmonischen Kühnheiten operieren, sondern die Teilstrukturen eines ganzen Kreislerianums, die einzelnen Sätze sich gegenseitig aufheben. Die übergeordnete Struktur der Fantasien konstituiert sich häufig durch Juxtapositionen und kontrastierende Elemente. Die »Musikalische Romantik« der Kreisleriana scheint »in’s Willkürliche, Exzentrische, Formlose überschroben«189 zu sein, so dass sich eine unsymmetrische, unregelmäßige und unausgewogene Struktur der Makrotexte ergibt. Wie flüchtig hingeworfene, skizzenhaft fragmentarische
186 Zum ‚romantischen Witz‘ vgl. die Ausführungen in Teil III.1 dieser Arbeit. 187 Jean Paul: Vorschule der Ästhetik, S. 132. 188 Robert Schumann in einem Brief an seine Frau Clara vom 26.01.1839, zitiert in: Ulrich Tadday, Das schöne Undendliche, S. 114. 189 Carl Kossmaly: Über Robert Schumann’s Clavierkompositionen, in: Allgemeine Musikalische Zeitung, Nr. 2, Leipzig 1844, S. 19. 128
III. ANALOGIEN AUF DER EBENE DER OBERFLÄCHENSTRUKTUR
Genrebilder reihen sich die Kreisleriana aneinander und realisieren in ihrer Asymmetrie einen Moment der Schlegel’schen Arabeske. Wechsel- und Kontraststrukturen Nicht nur durch metrische und harmonische Verwirrungen werden Brüche und Juxtapositionen erzeugt, sondern auch durch dynamische Gegensätze und starke Tempowechsel entstehen antagonistische Charaktere. Dynamik und Tempo bedingen ebenfalls die Kohärenz von Musik. Zur Betonung eines Stimmungswechsels finden häufig extreme Dynamikwechsel statt, wie z.B. in dem ersten Kreislerianum. Hier hebt sich der Mittelteil durch ein unvermitteltes Piano von dem vorangegangenen Fortissimo des Anfangsteils ab. Eine ähnliche dynamische Kontraststruktur findet sich in dem fünften Stück wieder, in dem ein Piano-Abschnitt von einem Fortissimo-Teil abgelöst wird, welcher wiederum in einen Pianissimo-Abschnitt mündet. Ein weiteres kennzeichnendes Stilmittel der Kreisleriana sind die unkonventionellen Tempoangaben und die großen Temposchwankungen. Häufig im Superlativ formulierte Bezeichnungen wie »Etwas bewegt«, »Äußerst bewegt«, »Sehr innig und nicht zu rasch«, »Sehr langsam«, »Sehr lebhaft«, »Sehr rasch« und Steigerungen von »Sehr aufgeregt« hin zu »Noch schneller« oder »Mit aller Kraft« ergeben eine nervöse und unausgeglichene Stimmung. Die extremen Tempowechsel tragen zu den harten Übergängen und Schnitten bei und unterstützen die sich permanent abrupt ändernde, fragmentarische, romantisch-ironische Struktur des Ganzen. Ein eben gefestigter Charakter wird gleich zerstört und ein völlig neues Bild geschaffen. Es entsteht weniger der Eindruck eines in sich geschlossenen Werkes als vielmehr derjenige einer Folge verschiedener, teils ähnlicher teils gegensätzlicher Miniaturen, die gleich einer Sammlung unterschiedlicher Genrebilder willkürlich, ohne einen expliziten Anfang oder ein angestrebtes und erreichtes Ende nebeneinander existieren. Die Musik erklingt nicht zielgerichtet auf ein Telos hin, sie entwickelt sich nicht linear, sondern vielmehr kreisförmig, endlos fortzeugend und damit zyklisch. Sie setzt den Schlegel’schen Gedanken einer »progressiven« Poesie, einer »inneren Unendlichkeit als Zyklisation«190, einer Universalpoesie mit romantischironischen Strukturen in Musik um. Sowohl die Oberflächenstruktur der Gesamtkomposition der Kreisleriana als auch die der Einzelstücke ist fragmentarisch, humo190 Ingrid Strohschnieder-Kohrs: Die romantische Ironie in Theorie und Gestaltung, S. 40. 129
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ristisch gebrochen organisiert. Es stehen nicht nur die Fantasien in Juxtaposition zueinander, sondern auch innerhalb der einzelnen Kreisleriana befinden sich unterschiedliche Charaktere unverbunden nebeneinander. Es lassen sich keine eindeutigen Formstrukturen oder Kompositionstechniken nach musikalisch-klassischem Vorbild analysieren. Die Schumann’schen Kreisleriana entbehren der musikalischen Logizität des klassischen Werkes, in dem die Form den Sinn vermittelt und das Werk ganz allein durch sich und aus sich selbst heraus verständlich wird.191 Tradierte Kadenzschemata, Rondo-Figuren oder liedhafte Formen tauchen zwar auf, werden jedoch nicht durchgehalten, sondern abgebrochen, aufgelöst oder vernichtet. Während klassische Strukturen durch Vorder- und Nachsatz, durch Haupt- und Nebenthema konstituiert werden, die einzelnen Themen sich also zergliedern lassen, auf Variation und Neukombination angelegt sind und Entwicklungen durchführen, sind mit den Themen der Schumann’schen Komposition lediglich kleine Modulationen möglich.192 Dadurch dass sich die Schumann’schen »Muster« nicht zergliedern, variieren, transformieren oder kombinieren lassen, müssen sie fortwährend von neuen Themen und Gedanken abgelöst werden. Jeder musikalische Gedanke wird als etwas Positives »zugleich gesetzt und von einer nachfolgenden Position auch wieder dementiert bzw. vernichtet.«193 Der permanente Wechsel der Einfälle unterliegt somit einem Zeitfluss, der sich auf ein Unbestimmtes, Unendliches ausdehnt. Ohne die Schlegel’sche ›innere Dialektik einer sich fortzeugenden Bewegung‹194 in der Vernichtung des Vorangegangenen und der spontanen Neukreation des nächsten »Musters« ist die Schumann’sche Musik nicht existent, löst sie sich auf und verliert sich in ein Nichts. Mit dieser Eigenschaft verkörpert sie das Wesen der romantischen Ironie. Es ergeben sich Juxtapositionen die in ihrer Abgeschlossenheit durch Aufhebung und Vernichtung des Vorangegangenen bzw. des Folgenden eine nicht endende Endlichkeit erzeugen, die strukturkonstitutiv für die romantische Ironie ist. Wie sich das fragmentarische Bruchsystem und die Juxtapositionen in den einzelnen Fantasie-Stücken der Kreisleriana formieren
191 Vgl. Hans-Joachim Bracht: Schumanns »Papillons« und die Ästhetik der Frühromantik, in: Archiv für Musikwissenschaft, Heft 1, Wiesbaden, Stuttgart 1993, S. 83. 192 Vgl. Gerhard Dietel: Eine neue poetische Zeit, S. 23. 193 Manfred Frank: Einführung in die frühromantische Ästhetik, S. 310. 194 Ingrid Strohschneider-Kohrs: Die romantische Ironie in Theorie und Gestalt, S. 41. 130
III. ANALOGIEN AUF DER EBENE DER OBERFLÄCHENSTRUKTUR
und sich eine romantisch-ironische Struktur ergibt, soll im Folgenden untersucht werden.
Koordination der Einzelstücke Romantisch-ironische Strukturen der Gesamtkomposition Das erste Kreislerianum verfährt übersichtlich und besonnen mit den Wechselstrukturen und soll deshalb exemplarisch an den Anfang der Betrachtung gestellt werden. Durch die regelmäßige Form ergeben sich in der ersten Fantasie Einschnitte zwischen dem Mittelteil und den beiden Ecksätzen. Konstitutiv für den Bruch sind der Tonartwechsel von d-Moll nach B-Dur sowie die dynamische Zurücknahme vom Fortissimo ins Piano. Im B-Teil wird auf die Vieldeutigkeit der verschobenen Akzente und Synkopen des Anfangs und des Schlusses verzichtet und es entsteht dadurch eine vereinfachte metrische Struktur. Zudem wird die komplex verschachtelte, internen Dreistimmigkeit der beiden A-Teile auf ein schlichte, einstimmige Melodie reduziert. Der Mittelteil hebt sich damit durch veränderte Dynamik, Harmonik, Rhythmik und Stimmführung kontrastiv von den Ecksätzen ab. Das zweite Kreislerianum erweitert die regelmäßige, überschaubare A-B-A-Form des ersten Stückes und arbeitet auf mehreren Ebenen mit Schnitten und Juxtapositionen. Brüche und Kontraste entstehen, indem zunächst das Ausgangsmotiv als ein »Sehr innig und nicht zu rasch« zu spielendes, pentatonisch liedhaftes Thema vorgestellt wird, dem in einem harten Stimmungswechsel unvermittelt ein »Sehr lebhaft« aufgeregtes Intermezzo folgt. Die anfängliche, ruhig cantable Melodie wird abgelöst von einer nervösen, im Staccato phrasierten Sechzehntellinie. Es folgt erneut ein abrupter Bruch, wenn anschließend das Anfangsthema wieder aufgenommen wird. Ein zweites Intermezzo gliedert sich weniger kontraststark an und leitet über in den letzten Abschnitt, der zwar das erste Tempo wieder aufnimmt, jedoch mit völlig neuem Tonmaterial und anderen Strukturen arbeitet. Er hebt sich von der schlicht pentatonischen Melodie des Anfangs durch eine, wie oben schon geschilderte, verschlungene und kompliziert verschachtelte, chromatisch modulierende Stimmführung ab, aus der sich erst später das ursprüngliche Thema herausschält. Die thematische Struktur ist wesentlich komplexer als in der ersten Fantasie und die Modifikation der Übergänge vielseitig. Dadurch dass nicht nur Brüche sondern auch überleitende Wechsel stattfinden, werden nicht das Abrupte und der Kontrast zum Regelfall oder zum Prinzip erhoben, son-
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dern jeder neue Charakter erfährt eine andere Angliederung an den Vorherigen und überrascht mit seinem Auftritt. Schumann nutzt das künstlerische Stilmittel der Brüche und harten Schnitte auch für Zwecke der Verfremdung. So scheint beispielsweise die fünfte Fantasie zunächst über einen klassischen, regelmäßigen Rondo-Aufbau zu verfügen. Ihre Satzstruktur ist formal betrachtet in eine in sich schlüssige zusammenhängende A-B-A-C-D-C-B-A-Form gegliedert. Doch in der musikalischen Realisation, in der subjektiven Hörerfahrung kann diese Regelmäßigkeit nicht nachvollzogen werden. Die Übergänge sind abrupt und unvermittelt komponiert und zwischen den Sätzen entstehen harte Schnitte und Kontraste, so dass der Höreindruck völlig verwirrend ist. Die konträren Stimmungen und Charaktere der einzelnen Abschnitte werden nicht miteinander verbunden, und es entsteht eine unregelmäßige, asymmetrische Komposition mit fragmentarischen Juxtapositionen. Der Hörer verliert die musikalische und strukturelle Orientierung und es entsteht wiederholt der Eindruck, dass bereits ein neues Stück begonnen habe. Die Kontraststruktur nihiliert nicht nur die Rondo-Form, sondern die komplette Einheit des Kreislerianums, so dass lediglich die Fragmente des Ganzen nebeneinander existieren. In ähnlicher Weise wird in der dritten Fantasie eine regelmäßige Satzform bis zur Unkenntlichkeit verfremdet. Der dreiteilige Aufbau ist formal in die Teile A-B-A gegliedert, was der tradierten Liedform entspricht. Doch dadurch dass der erste Abschnitt lediglich 32 Takte umfasst und diese in sehr schnellem Tempo – »Sehr aufgeregt« – gespielt werden sollen, verfliegt der A-Teil regelrecht und tritt hinter dem Mittelteil zurück. Mit einer Länge von 104 Takten wirkt der langsame, lyrische B-Teil gegenüber dem Anfang und dem folgenden wiederholten A-Teil dominant, und es entsteht der Höreindruck einer Einteilung in Vorspiel, Hauptsatz und Nachspiel. Zudem wird der Wiederholung des Anfangs eine gesteigerte Variante des A-Teils angehängt, die eine vermeintliche Regelmäßig auflöst. Das Tempo wird in diesem Schlussteil angezogen – »Noch schnellern –, die Dynamik vom Forte ins Fortissimo gesteigert und die harmonische Struktur erweitert, so dass diese Coda schneller, lauter und wesentlich dissonanter erklingt als der Anfang. Die Bezeichnung A‘ scheint nicht mehr zutreffend zu sein, vielmehr wird hier eine Annihilation des Anfangs vollzogen. Der ekstatische, persiflierende und deshalb das Vorangegangene quasi vernichtende Schluss nihiliert und parodisiert den ursprünglichen A-Teil, und die Struktur des Ganzen als einer regelmäßi132
III. ANALOGIEN AUF DER EBENE DER OBERFLÄCHENSTRUKTUR
gen Form wird durch die Übersteigerung nach dem Konzept der romantischen Ironie zerstört. Ähnlich dem dritten ist das siebte Kreislerianum aufgebaut. Es existiert ein einprägsames Motiv, das wiederholt auftritt. Über eine relativ kurze Phrase entfaltet sich das Thema bevor eine neue, in ihrem Wesen der ersten ähnliche Phrase beginnt. Nach einer Wiederholung des Anfangsmotivs schließt sich ein Abschnitt an, der als ein »integriertes Fugato«195 konzipiert sich von dem Beginn distanziert. Er kontrastiert zu dem anfänglichen Charakter des Stückes insbesondere durch seine polyphone Struktur, leitet jedoch in einem fließenden Übergang in die Wiederholung des zweiten Themas über. Dieses wiederum mündet in das Ausgangsmotiv. Dem Schluss fehlt der fließende, bewegte Charakter der anderen Teile. Ihm ist im Gegensatz zur streng polyphonen Stimmführung des Fugatos eine Choral ähnlich homophone Struktur eigen, die durch ein zurückgenommenes Tempo und verhaltene Dynamik einen Kontrast zu dem Vorherigen bildet. Es ergibt sich die Abfolge der Teile A-B-A-C-B-A-D und somit eine regelmäßige Rondo-Form, die durch ein stark kontrastierendes Element unterbrochen und durch ein weiteres beendet wird. Diese sehr unterschiedlichen Makrostrukturen der einzelnen Kreisleriana-Stücke wirken willkürlich angeordnet und scheinen keinen inneren Zusammenhang zu besitzen. Deborah Crisp macht jedoch auf eine gewisse Systematik innerhalb der einzelnen Fantasien aufmerksam, die auf die Willkür als bewusst eingesetztes Stilmittel schließen lassen. Die Satzbezeichnungen des zweiten Kreislerianums dienen ihr hierbei als Hinweise auf ein narratives Verfahren als einem verdeckten Prinzip. Die beiden Intermezzi der zweiten Fantasie als wesensfremde, separate Einschübe in das eigentliche Stück gedeutet, entdecken das Konzept einer zweiten, fragmentarischen Ebene, die einer zusätzlichen Perspektive, quasi einer weiteren narrativen Ebene in der Musik gleicht. Dieses Prinzip auf die unterschiedlichen Kreisleriana angewandt, ergibt neue Blickwinkel und Zusammenhänge, die für die Konzeption schlüssig erscheinen. So gedeutet stellt sich der dreiteilige Mittelteil C-D-C der fünften Fantasie als ein Einschub bzw. eine zweite narrative Ebene in ein in sich abgeschlossenes, regelmäßiges, formal korrektes Rondo dar: A-B-A-(C-D-C)-B-A. Eine Übertragung auf das siebte Stück bedeutet die kurze Eingangsphrase von acht 195 Vgl. Siegmar Keil: Untersuchungen zur Fugentechnik in Robert Schumanns Instrumentalschaffen, Hamburger Beiträge zur Musikwissenschaft, Bd. 11, Hamburg: Wagner 1973, S. 138 f. 133
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Takten als ein zusätzlich eingefügtes Element zusehen, so dass sich eine symmetrische, dreiteilige A-B-A-Aufteilung mit einer anschließenden Coda ergibt. Aus der A-B-A-C-B-A-D-Form kristallisiert sich eine verschachtelte Rahmenstruktur heraus die sich nach Crisp in Erzähler-A-Erzähler-B-A-Erzähler-Coda aufgliedert.196 Diese Struktur wird durch die asymmetrische Komposition des Verhältnisses von 8 Takten gegenüber 25 Takten bestätigt. Das Prinzip einer zweiten, fragmentarischen Ebene erklärt auch das ungleiche Längenverhältnis der Einzelsätze in der dritten Fantasie. Das Anfangsthema stellt mit seinen 8 Takten ein Fragment einer Episode dar, das von einer anderen längeren Erzählung über 104 Takte gehend unterbrochen wird. Anschließend wird das anfängliche Fragment wieder aufgenommen und fortgesetzt. Durch das Prinzip zweier Erzählebenen in der Musik entstehen nicht nur neue Perspektiven und Zusammenhänge, es gestalten sich außerdem äußerst verschachtelte, vielschichtige und vieldeutige Rahmenstrukturen. Das Arabeskenhafte Das Phänomen der Unverbundenheit von Oberstimme und Bass, der Zusammenführung und dem Auseinanderdivergieren harmonischer Bewegungen, ist ein strukturelles Stilmittel der Kreisleriana. Die rechte und linke Klavierhand überkreuzen sich häufig, so dass die Stimmführungen ineinander verflochten werden und nicht mehr eindeutig voneinander zu trennen sind. Es entsteht eine Engführung der Melodien und eine dichte, in eng verschlungenen Wendungen sich bewegende Struktur. Dieser arabeskenhafte Charakter, wie er oben bereits beschrieben wurde,197 wird in der Forschung häufig mit einer Natur- oder Pflanzenmetaphorik umschrieben. So sieht Carl Kossmaly in seinem Zeitungsartikel Über Robert Schumann’s Claviercompositionen sich »wie eingeschlossen in einen dichten, wildwachsenen Wald, nur mit genauer Noth, alle Augenblicke durch mächtige Baumstämme oder knorriges Wurzelwerk aufgehalten, bald von gewaltigem Schlingkraut gehemmt und von Dornen zerfetzt«198 in den Schumann’schen Klavierstücken umherirren. Er betont das ›Natürliche‹ 196 Vgl. Deborah Crisp: The Kreisleriana of Robert Schumann and E.T.A. Hoffmann: some musical and literary parallels, Musicalogy Australia 1993, vol. 16, S. 14. 197 Zur Arabeske vgl. Teil III.1 dieser Arbeit. 198 Carl Kossmaly: Über Robert Schumann’s Clavierkompositionen, S. 18. 134
III. ANALOGIEN AUF DER EBENE DER OBERFLÄCHENSTRUKTUR
gegenüber dem ›Künstlichen‹ in der Musik Schumanns und kennzeichnet ihr Wesen somit als arabeskenhaft, weniger als »Kunstwerk«, sondern vielmehr als »Naturprodukt«, wie es Schlegel zur Definition der Arabeske in seiner Romantheorie formuliert.199 Auch Martin Geck fühlt sich durch die Kreisleriana an eine »wuchernde DschungelFlora« erinnert, »aus der jeweils einzelne Blüten herausragen.«200 Selbst Schumann schreibt zur Zeit der Komposition seiner Kreisleriana an seine Frau Clara: »Meine Musik kömmt mir jetzt selbst so wunderbar verschlungen vor bei aller Einfachheit«.201 Der ›verschlungene‹, verwobene, verwischte Charakter innerhalb der einzelnen Fantasien, das Fehlen formaler Strenge ist ein Aspekt des organisch wuchernden Wesens der Schlegel’schen Arabeske als eines der »wenigen romantischen Naturprodukte unseres Zeitalters«.202 Dieses Verweben und Verschlingen der einzelnen Stimmen in- und miteinander und die daraus resultierende Verwirrung und Vieldeutigkeit ist insbesondere für das zweite Kreislerianum stilistisch wesentlich. Hier ist der Schlussteil arabeskenhaft gestaltet, er zeichnet sich durch eine kunstvoll verwobene Struktur aus. Eine Fülle von figurativen, kontrapunktisch arabeskenhaften Verschlingungen knüpft kleine Motive zu einem vieldeutig polyphonen Ganzen zusammen. Die chromatisch geführte Vierstimmigkeit wird durch akrobatische, scheinbar ziellos unbestimmte, mäandrisch verlaufende Modulationen geführt, um sich letztlich selbst aufzulösen und das ursprüngliche, schlichte, liedhafte Thema neu zu entfalten. Intertextualität Kennzeichnend für das Konzept eines Kreislerianums bei Robert Schumann sind die Reminiszenzen an Bachsche Kompostitionstechniken. Wie das erwähnte Fugato in der siebten Fantasie ein Ergebnis der Bachschen Fugenstudien Schumanns ist, so erinnert z.B. der polyphone Mittelteil des zweiten Kreislerianums an die Fugendurchführungen aus dem Wohltemperierten Klavier, und Martin Geck verweist darauf, dass das »eigenwillige Kopfmotiv des fünften Stücks der Kreisleriana (Notenbeispiel 5) ein ideelles Vorbild zum Beispiel in
199 V gl. Friedrich Schlegel: Gespräch über die Poesie, S. 331. 200 Martin Geck: Von Beethoven bis Mahler, S. 147. 201 Robert Schumann in einem Brief vom 13.04. 1838, zitiert in: Martin Geck, Von Beethoven bis Mahler, S. 148. 202 Friedrich Schlegel: Gespräch über die Poesie. 135
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der D-Dur-Fuge aus dem 1.Teil des Wohltemperierten Klaviers« habe (Notenbeispiel 6).203 Notenbeispiel 5: Robert Schumann, Kreisleriana op. 16, Fantasie Nr. 5, Takt 1-4
Notenbeispiel 6: Johann Sebastian Bach, Wohltemperiertes Klavier I, Fuge Nr. 5, D-Dur
Intertextuelle Bezüge stellen auch das vierte und das sechste Kreislerianum her. Im präludierenden zweiten Teil des vierten Stücks wird Bachs Stil reflektiert und im sechsten Kreislerianum erklingen die Bach-Reminiszenzen im verfremdenden Kontext einer volksliedhaften Melodie.204 Schumann zitiert auch seine eigenen Werke, so greift z.B. das fünfte Stück nicht nur die D-Dur-Fuge aus dem Wohltemperierten Klavier auf, sondern stellt gleichzeitig ein Selbstzitat des Intermezzos op.4, Nr.1 (Notenbeispiel 7) dar205 und die sechste Fantasie (Noten-
203 Martin Geck: Von Beethoven bis Mahler, S. 149. 204 Vgl. Barbara Meier: Robert Schumann, S. 64. 205 Diesen Hinweis verdanke ich Martin Geck: Von Beethoven bis Mahler, S. 150. 136
III. ANALOGIEN AUF DER EBENE DER OBERFLÄCHENSTRUKTUR
beispiel 8) imitiert den Marsch des Davidsbündlers aus dem Zyklus Carnaval op. 9 (Notenbeispiel 9).206 Notenbeispiel 7: Robert Schumann, Intermezzo op. 4, Nr. 1
Notenbeispiel 8: Robert Schumann, Kreisleriana op. 16, Fantasie Nr. 6, Takt 19-25
206 Vgl. Deborah Crisp: The Kreisleriana of Robert Schumann and E.T.A. Hoffmann, S. 12. 137
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Notenbeispiel 9: Robert Schumann, Carnaval op. 9, Marsch des Davidbündlers, Takt 56-71
Auffällig sind die Analogien der ersten beiden Takte und der Takte 26 und 27 des vierten Stücks (Notenbeispiel 10.1 und 10.2) zu Schumanns Komposition Der Dichter spricht (Notenbeispiel 11). Notenbeispiel 10.1: Robert Schumann, Kreisleriana op. 16, Fantasie Nr. 4, Takt 1 u. 2
Notenbeispiel 10.2: Robert Schumann, Kreisleriana op. 16, Fantasie Nr. 4, Takt 26 und 27
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III. ANALOGIEN AUF DER EBENE DER OBERFLÄCHENSTRUKTUR
Notenbeispiel 11: Robert Schumann, Kinderszenen op. 15, Der Dichter spricht, Takt 1-8
Das Kreislerianum verarbeitet das Stück der Kinderszenen weiter. Die Ähnlichkeiten in der Melodieführung und dem Rhythmus sind eindeutig, doch erklingen sie weniger als eine Reminiszenz, sondern vielmehr als eine ›Fantasie‹ über das Thema. Der ausnotierte Vorschlag beispielsweise wird übernommen und in einen mehrstimmigen Doppelschlag ausgebaut, so dass die einfache musikalische Umspielung in ihrem Gestus gewichtiger, schwerer und bestimmter wird. Insgesamt verdichtet sich die Struktur des Stückes, es werden weitere Lagen hinzugefügt und der Doppelschlag dreistimmig wiederholt. Das unsicher fragende, das unvollständige und suchende Wesen des ursprünglichen Themas, in dem die Koloratur ohne Zielton bleibt und damit unbestimmt offen endet, wird in den Kreisleriana affirmativ erweitert und zu einer intensiveren Problematisierung und Diskussion geführt. Alles weist darauf hin, dass der Schluss in regulärer Weise beendet wird, und tatsächlich scheint der Vorschlag in der Schlusszeile die Kadenz zur Tonika vorzubereiten. Doch statt des erwarteten B-Dur erklingt ein B-Dur7-Akkord, der als Dominantseptakkord umgedeutet nach EsDur moduliert. Der dreistimmige Doppelschlag, dessen Bassstimme zusätzlich nach unten oktaviert ist, bereitet eine Es-Dur-Kadenz vor, und abermals wird die Hörerwartung enttäuscht. Keine der drei Stimmen wird in die funktionsharmonisch vorbereitete Richtung weitergeführt. Der Überraschungseffekt des D-Dur-Akkordes bricht so unvermutet über den Hörer herein, dass der Stimmungswechsel abrupt und unvorbereitet wirkt, der Schnitt vernichtet den affirmativen Ton des Vorherigen und zerstört die Illusion eines einheitlichen Gestuses. Die angeführten Musik-Zitate stellen die Kreisleriana in einen musikalischen Kontext, sie stellen Bezüge nach ›außen‹, über sich hinausweisend her und schaffen eine Verknüpfung der einzelnen Kreisleriana-Stücke untereinander.
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Intratextuelle Bezüge Auch die intratextuellen Ähnlichkeiten der Stücke tragen zu einer Verknüpfung bei. Der Melodiebogen des zweiten Kreislerianums (Notenbeispiel 12) wird beispielsweise in der Oberstimme des dritten Stückes wieder aufgenommen (Notenbeispiel 13). Der Takt hat sich von einem 3/4 in eine 2/4 Takt geändert und die Phrase hat sich etwas verlängert, doch der liedhafte, lyrisch-cantable Gestus ist geblieben. Notenbeispiel 12: Robert Schumann, Kreisleriana op. 16, Fantasie Nr. 2, Takt 1-4
Notenbeispiel 13: Robert Schumann, Kreisleriana op. 16, Fantasie Nr. 3, Takt 33-36
Schumann stellt das Material in einen neuen Kontext und betrachtet es somit aus einer anderen Perspektiv als zuvor. Hierin wird nicht nur die Verflechtung der Stücke untereinander deutlich, sondern auch der Charakter betont, immer wieder innerhalb einzelner Ausschnitte auf das Ganze hinzuweisen. Das Moment des Zyklischen In diesem Sinne des Über-Sich-Hinausweisens, des Öffnens auf ein Ganzes hin, ist das Schumann’sche Kreislerianum durch das Moment des Zyklischen geprägt. Ein Aspekt der Melodielinie des zweiten 140
III. ANALOGIEN AUF DER EBENE DER OBERFLÄCHENSTRUKTUR
Kreislerianums ist die bogenartige Stimmführung, die sich in Sekundsowie Terzschritten kontinuierlich nach oben und wieder hinunter bewegt, sie beschreibt einen Halbkreis bzw., dadurch dass sie zu ihrem Ausgangston zurückkehrt, einen musikalischen Kreis. Diese Zirkelbewegung wird stilistisch verstärkt durch die Tonrepetition in dem dritten Kreislerianum. Die Mittelstimme wiederholt permanent den Ton es‘ bzw. ab Takt 57 den Ton des‘ und erzeugt dadurch einen Effekt des »Auf-der-Stelle-Tretens« oder des »Sich-im-Kreis-Derhens«.207 Die Musik wirkt zirkulierend, die Bewegung ruht in sich – ähnlich dem Effekt der nachklingenden Akkorde am Ende der zweiten Fantasie – und scheint gleich einem perpetuo mobile endlos weiter ›kreisen‹ zu können und somit eine musikalische Umsetzung des Schlegel’schen Begriffs der »Cyclisation«208 zu sein.
D i e O b e r f l ä c h e n s t r u k t u r e i n e s K r e i s l e r i an u m s bei E.T.A. Hoffmann und Robert Schumann Nach der Einzelanalyse der beiden Kreisleriana von E.T.A. Hoffmann und Robert Schumann sollen nun die strukturellen Analogien der Phänotexte beider Werke aufgezeigt werden. Es ist bereits deutlich geworden, dass sowohl das Konzept des literarischen als auch des musikalischen Kreislerianums die Merkmale der offenen Form erfüllt und sich romantisch-ironischer, arabeskenhafter, grotesker sowie phantastischer Stilelemente bedient. Hieraus ergeben sich Analogien der Strukturkonstituentien beider Kreisleriana. Die Gesamtkonzeption der Oberflächenstruktur und zahlreiche Details, die das Wesen des Phänotextes eines Kreislerianums prägen, sind in der literarischen sowie in der musikalischen Realisation vergleichbar. Im Folgenden sollen die stilistischen Phänomene einander gegenübergestellt und auf ihre strukturellen Analogien hin untersucht werden.
207 Deborah Crisp verweist in ihrer Arbeit: The Kreisleriana of Robert Schumann and E.T.A. Hoffmann, S. 11, auf diese musikalische Figur des ‚spinning top‘ als einer Thematisierung des Zeit-Begriffs bzw. als einer musikalischen Umsetzung des Wortspiels »Kreis« und »Kreisel« der Überschrift »Kreisleriana«. 208 Vgl. Ingrid Stohschneider-Kohrs, Die romantische Ironie in Theorie und Gestaltung, S. 41. 141
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Das Ganze in Ausschnitten Signifikant für die Struktur eines Kreislerianums ist seine Gestaltung nach den Kriterien der offenen Form. Beide Kreisleriana weisen in ihrer Oberflächenkonzeption wesentliche Merkmale dieser Darstellungsform nach Wölfflin auf. In den einzelnen untersuchten Kategorien wurde immer wieder deutlich, dass ein Kreislerianum sich nach dem Prinzip, das Ganze in Ausschnitten zu beschreiben, konstituiert. Die Einzelmomente sind frei, asymmetrisch und irregulär gestaltet, sie verfügen über keine Einheit von Zeit oder Raum, sondern bevorzugen das Einmalige, den Augenblick und das Besondere. Sie zeichnen sich durch Vielheit und Dispersion aus, und durch ihren offenen, unabgeschlossenen, fragmentarischen Charakter bekommen sie eine Tendenz, über sich selbst hinauszuweisen. Offene Gestaltung von Anfang und Ende Ein charakteristisches Strukturmerkmal der beiden Kreisleriana ist die Unklarheit, die Unbestimmtheit und offene Gestaltung von Anfang und Ende. Die Grenzstellung, die dem Hoffmann’schen Text zugewiesen wird, und die unbeantworteten Fragen nach der Herkunft und der Biographie Kreislers lassen sich in dem unvermittelten Beginn der Schumann’schen Kreisleriana wiederfinden. Während in dem Hoffmann’schen Kreislerianum entsprechend der Schlegel’schen Romantheorie die Kreisler-Figur allegorisch und ohne eine Einbettung in charakterisierende Zusammenhänge bleibt, ist auch das Schumann’sche Kreislerianum auf das Wesentliche reduziert. Es fehlt an Durchführungen oder Überleitungen, so dass der Hörer ohne Vorbereitungen oder klärende harmonische Hinweise auskommen muss. Das Umgehen und Verwischen eines eindeutigen Anfangs, ein Beginn ohne Einbindung in einen Kontext und ohne Einleitung oder Vorstellung des Charakters ist kennzeichnend für die Hoffmann’schen und Schumann’schen Kreisleriana. Ebenso das Ende, welches keinen eindeutigen Schluss, keine Quintessenz und keine Lösung präsentiert, sondern sich vieldeutig und offen auflöst, ist ein signifikantes Charakteristikum des Konzepts. Ein Kreislerianum entschwindet dem Blickfeld des Rezipienten. Sowohl der Kapellmeister Kreisler als auch das letzte Kreislerianum des Schumann’schen Klavier-Zyklus verlaufen ins Ungewisse, sie verschwinden in einen endlosen Raum, ihr Verbleiben ist ungelöst und geheimnisvoll. Diese Tendenz des Verschwindens ist ein Indiz für den 142
III. ANALOGIEN AUF DER EBENE DER OBERFLÄCHENSTRUKTUR
progressiven Verweischarakter der romantisch-ironischen Kunst auf eine Totalität, eine Endlosigkeit und Unbestimmtheit hin zum Absoluten. Diesem Verweischarakter entspricht auch die Entfremdung des Verhältnisses zwischen Inhalt und Rahmen. Indem das Kreislerianum mit Hilfe unterschiedlicher Verfahrensweisen über sich selbst hinausweist, wird seine offene Form, das Ganze in Ausschnitten darzustellen, keine eigene Welt von Bestand, sondern vielmehr ein Schauspiel, die Intensität des Augenblicks und des Flüchtigen zu beschwören, konstituiert. Eine verschachtelte Rahmenstruktur Durch die vielschichtige, uneindeutige Gestaltung des Anfangs ergibt sich eine verschachtelte Rahmenstruktur. Beide Werke geben mit dem Begriff von Norbert Miller wesentliche »Umrißzeichnungen« des Geschehens, die durch weitere Ebenen ergänzt werden. Was Hoffmann mit Hilfe von fiktiven Herausgeber- und Autorrollen und durch den Kunstgriff des Generativismus erreicht, schafft Schumann mit der Unterteilung der einzelnen Kreisleriana-Stücke in eine Vielzahl von separaten Charakteren. Beide Kreisleriana wechseln die Perspektiven, das Tempo und die Dynamik und variieren die Stimmung durch den Erzählton bzw. die Tonart, so dass sich eine vielschichtige Rahmenstruktur und eine unabgeschlossene, offene Form ergibt. Verschiedene kontrastierende Episoden sowie unterschiedliche narrative Ebenen konstituieren ein verschachteltes, irreguläres System mehrerer Handlungs-, Stimmungs- oder Erzählebenen. Die Musik thematisiert zwar nicht ihren Entstehungsprozess wie die Literatur, die mit Hilfe des Generativismus ihren Schreibprozesses reflektiert, doch durch die scheinbar unstrukturierte, willkürliche Aneinanderreihung der musikalischen Episoden und Gedanken und die Diskussion des harmonischen und metrischen Materials wird auch der Musik eine Ebene der Reflexion eingefügt. Der Zuhörer kann sich nicht mit der Musik identifizieren, da er ständig in neue Situationen gestellt wird und die geweckten Erwartungen und versprochenen Kadenzen nicht erfüllt werden. Seine Illusionen werden ebenso zerstört wie durch den Hoffmann’schen Realismus und er wird genauso in Distanz zu dem Werk gesetzt wie durch den Generativismus. Er wird in den Entstehungsprozess eingebunden und an der Komposition beteiligt wie in der Hoffmann’schen Erzählung, wenn der Leser unvermittelt direkt angesprochen und Teil der Handlung wird.
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Thematisierung von Zeit Das verweisende, ›progressive‹ Moment der Schlegel’schen Universalpoesie, wie es durch die Gestaltung von Anfang und Ende entsteht, aber auch die unterschiedlichen Rahmenstrukturen sind außerdem durch die Thematisierung von Zeit innerhalb der Hoffmann’schen und Schumann’schen Kreisleriana bedingt. Das Phänomen der Zeit spielt für beide Kreisleriana eine zentrale Rolle. Das Konzept des Kreislerianums bei E.T.A. Hoffmann und Schumann beruht auf dem Aspekt des »Kreisens« und »Kreiselns«. Während bereits der Titel ein Wortspiel mit dem Begriff »Kreis« impliziert, zeigen sich auch in beiden Werken praktisch-ästhetische Umsetzungsformen des Phänomens »kreisender« oder »kreisförmiger« Bewegungen und afinaler, zyklischer Momente. Wie bereits die künstlerische Ausgestaltung des Anfangs und des Endes einen Hinweis auf Unbegrenztheit, endlose Zusammenhänge und eine Progression hin zum Absoluten geben, so assoziieren die Momente des Schöpfens und Schaffens in der Folge von Vernichtung, Auflösung oder Zerstörung einen Eindruck von Unbestimmtheit und Endlosigkeit, von ewig »kreisendem« Dasein und zyklischer Totalität. Beide Kreisleriana bestehen aus unverbundenen Einzelelementen, die als widerstreitende, antagonistische Prinzipien sich durch harte Schnitte und Brüche voneinander abheben. Ihre Wechselstruktur ist gekennzeichnet durch ernste, ironische und humoristische Momente, die sich parodieren, gegenseitig nihilieren und aufheben. Jede Einheit fügt sich als Fragment, als »fremdes Einschiebsel«, wie es zu Beginn des Kater Murr-Romans heißt, in einen größeren Zusammenhang ein, so dass sich ein »zerrissenes« Ganzes, eine fragmentarisch unterbrochene Diskontinuität der Oberflächenstruktur ergibt. Dadurch dass die jeweiligen Einzelstücke einander beigemischt statt vermischt sind, bewahrt sich jeder Einschub, jede separate Nummer ihre Eigenständigkeit und eine in sich abgeschlossene Einheit im Chaos. Es entstehen endliche Einheiten in einem offenen, unbegrenzt endlosen System. Das Resultat sind die bereits erläuterten Strukturmerkmale der offenen Form sowie der Ästhetik des Fragments nach Friedrich Schlegel: Zerstörung des Zusammenhangs, Zusammenhanglosigkeit, Uneinigkeit, Unbeständigkeit sowie Inkohärenz. Perspektivenwechsel Der mit dieser fragmentarischen Oberflächenstruktur einhergehende häufige Wechsel der Stimmungen, der Intentionen und Töne wird in den Hoffmann’schen Kreisleriana durch Genrewechsel, durch unter144
III. ANALOGIEN AUF DER EBENE DER OBERFLÄCHENSTRUKTUR
schiedliche Zeitebenen und permanente Perspektivenwechsel ausgelöst sowie durch den Wechsel von Ernst und Scherz oder durch das Spiel mit dem Duzen und Siezen einer Person. Die Schumann’sche Musik erzielt solche Stimmungswechsel durch abrupte Tonart- oder Registerwechsel, sie nutzt die Mittel der funktionsharmonischen Umdeutung, der enharmonischen Verwechslungen, der Modulationen, der Gegenüberstellung verschiedener Kompositionstechniken, wie z.B. der Homophonie und Polyphonie, sie wirkt polyperspektivisch durch Akzentverschiebungen und komplexe Synkopenstrukturen, durch vieldeutige Stimmführung, große Dynamikschwankungen sowie durch extreme Tempowechsel. Romantische Ironie und romantischer Witz Den Prozess der Annihilation vollzieht die Musik ebenso wie die Literatur. Wenn die Sprache ihr eben Dargestelltes durch Ironie oder Parodie aufhebt bzw. vernichtet, erreicht die Musik diesen humoristischen Effekt, indem »der Wechsel zu rasch, die Farben zu bunt sind und der Zuhörer noch die vorige Seite im Kopf hat, während der Spieler bald fertig ist«209, wie Robert Schumann über seine Papillons op.2 schreibt. Er bezeichnet diesen Effekt der rasant wechselnden Kontraste als das »Sich-selbst-vernichten« der Musik und urteilt, dass das »vielleicht etwas Kritisches, aber gewiß nichts Künstlerisches« habe.210 Die romantisch-ironischen Strukturelemente des Selbstvernichtens und Selbstschaffens sind dem literarischen wie dem musikalischen Kreislerianum wesentlich. Ebenso stellt die Umsetzung des romantischen Witzes durch Diskurskombinatorik eine strukturelle Analogie dar. Während Hoffmann unterschiedliche Diskurse miteinander verknüpft und dadurch den Witz konstituiert, verbindet Schumann verschiedene musikalische Diskurse untereinander. Nicht nur durch die Verwendung von Zitaten aus unterschiedlichen Werken verschiedener Epochen (Bach/Barock; Schumann/Romantik), sondern auch durch die Aneinanderreihung fremder, funktionsharmonisch nicht zusammengehöriger Tonräume erzielt Schumann eine musikalische Diskursinterferenz, die den »gro-
209 Robert Schumann: Tagebücher, Bd. 1, 1827-1838, Georg Eismann (Hg.), Leipzig 1971, S. 407; zitiert in Ulrich Tadday: Das schöne Unendliche, S. 115. 210 Ebd. 145
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ßen Witz der romantischen Ironie«211 nach der Theorie von Friedrich Schlegel konstituiert. Das Phantastische Durch die Verwendung von Zitaten212 wird die Realität in das Kunstwerk integriert. Wirklichkeit und Traum, Wahrheit und Illusion werden miteinander verbunden und konstituieren das Phänomen des Phantastischen. Dem Rezipienten beider Kreisleriana bleibt eine Identifikation mit dem Werk versagt, die permanenten Brüche und Wechsel der Ebenen, die Stimmungsschwankungen und Perspektivenwechsel, die ›Modulationen‹ von Ernst zu Ironie und die ›Umregistrierungen‹ von Realität zu Illusion lassen ihn häufig in einer Ungewissheit, die dem Phantastischen wesentlich ist. Das Changieren zwischen Realität und Illusion in der Literatur und zwischen funktionsharmonisch ›klassischen‹ Wendungen und harmonischen Brüchen und Irreführungen fordert die Phantasie des Rezipienten. Er wird an der Kreation des Werkes beteiligt, indem er ›nachschaffen‹ und konträre Positionen und antagonistische Prinzipien mitverfolgen muss. Es konstituiert sich das Phänomen des Phantastischen in beiden Werken. Sowohl die Hoffmann’schen als auch die Schumann’schen Kreisleriana sind mit der zusätzlichen Überschrift Fantasiestücke bzw. Fantasien betitelt, beiden ist das Phantastische programmatisch vorgegeben. Diese Ergänzungen verweisen auf die strukturelle Analogie des Phantastischen, der ›Fantasie‹, des Exzentrischen, des Außergewöhnlichen und des freien Umgangs mit tradierten ›klassischen‹ Formen. Sowohl Hoffmann, der die literarische Form des Bildungsromans parodiert, als auch Schumann, der mit metrischen und harmonischen Traditionen bricht und die Form des Rondos und der Fuge frei variiert, phantasieren über ›klassische‹ Themen und Formverläufe. Auch die Darstellung unterschiedlicher Affekte, der Wechsel zwischen lyrischen, gefälligen Stimmungen und aggressiven, aufbrausenden Tönen, das Überraschende und scheinbar Disparate, das »Komponieren aus der Seele heraus«213 sind kompositionstechnische, strukturelle Phänomene der ›Fantasie‹, die sich in den Kreisleriana von Hoffmann und Schumann wiederfinden lassen.
211 Friedrich Schlegel: Rede über die Mythologie, in: Gespräch über die Poesie, S. 318. 212 Vgl. hierzu auch den Unterpunkt Zitate und Verfremdungen. 213 Hans Heinrich Eggebrecht: Musik im Abendland, S. 515. 146
III. ANALOGIEN AUF DER EBENE DER OBERFLÄCHENSTRUKTUR
In sich abgeschlossene Einheiten, Juxtapositionen, Brüche, abrupte Übergänge Sind die Kreisleriana von E.T.A. Hoffmann tatsächlich unabhängig voneinander entstanden und scheint ihre Zusammensetzung zunächst willkürlich und ebenso zufällig wie die Einschübe der KreislerBiographie in die Murr-Erzählung, so komponierte Schumann seine Kreisleriana zwar von vornherein als ein Werk, doch der Charakter der Willkür und Zufälligkeit ist auch seinem Konzept eigen. Das flüchtig »mit Bleistift schnell hingeworfen« (5) Skizzenhafte, das Collagenartige des literarischen Konzepts eines Kreislerianums, die vermeintliche Zusammenhanglosigkeit, die vorgetäuschte Nachlässigkeit und Zufälligkeit der Komposition deckt sich mit dem Eindruck des Schumann’schen Kreislerianums. Während das Hoffmann’sche Kreislerianum seine zufällige Entstehungsweise und innere Gegensätzlichkeit betont und sich insbesondere in dem Kater Murr-Roman in zwei widerstreitende, antagonistische Erzählstränge, in das »Philister-« und das »Künstlerprinzip«, gliedert, bleiben auch bei Robert Schumann die Kontraste widerstrebender musikalischer Tendenzen nebeneinander existent. Die Beobachtung Thomas Bourkes zur Beschreibung der Hoffmann’schen Erzählstruktur gilt auch für die Oberflächenstruktur des Schumann’schen Kreislerianums. Es lässt sich auf beide Phänotexte gleichermaßen beziehen, wenn Bourke das »strukturironische Bruchsystem« eines Kreislerianums als »ungelöst, provokativ, und zeitweise irritierend« charakterisiert.214 Auch den Schumann’schen Stücken liegt ein generatives Prinzip zugrunde, das auf Juxtapositionen, auf der Nebeneinanderstellung kontrastierender Einzelstücke beruht, scheinbar ohne Rücksicht auf innere Ausgeglichenheit, Balance oder Symmetrie auskommt und an dem sich kein systematisches Verfahren oder ein Prinzip innerer Folgerichtigkeit und Zusammengehörigkeit festlegen ließe. Beide Phänotexte sind in ihrer Gesamtstruktur durch die Aneinanderreihung von in sich abgeschlossenen Einheiten gekennzeichnet. Somit prägen Juxtapositionen, Brüche, abrupte Übergänge und harte Schnitte die Oberfläche eines Kreislerianums, und es entsteht der Eindruck von Chaos, Verworrenheit, Unregelmäßigkeit und Willkür. Die zerrissene, aufgelöste Struktur gestaltet sich entsprechend der Ästhetik des Fragments nach Friedrich Schlegel inkohärent und asymmetrisch.
214 Thomas Bourke: Stilbruch als Stilmittel, S. 61. 147
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Erzähl- und Hördistanz Durch das Flüchtige der Brüche und Juxtapositionen und insbesondere durch die Genrewechsel und polyperspektivischen Blickwinkel gelingt es Hoffmann und Schumann mit Erzähldistanzen bzw. Hördistanzen zu experimentieren. Der Phänotext lässt dem Rezipienten keine Möglichkeit, einen »festen und bleibenden Blick«215 auf einen Charakter zu richten, sondern wechselt permanent, mit einer »Technik des unaufhörlich schnellen Variierens«216 die Perspektiven und handelt nach einem Verfahren, das »durch eine gar zu rasche Abfolge sinnlicher Reize und weit auseinander liegender semantischer Gehalte die nachvollziehende Urteilskraft gleichsam matt setzt.«217 Der Effekt der Wechsel- und Kontraststruktur ist die ständige Distanzierung des Rezipienten zum Geschehen. Der Leser oder Hörer kann sich nicht mit der Handlung oder dem Formverlauf identifizieren, da er immer wieder auf die Erzähl- oder Kompositionstechnik aufmerksam gemacht und durch unerwartete Gegensätze und Durchbrechungen des Erzählrahmens distanziert wird. Auf die Relativität des Dargestellten wird permanent hingewiesen und die Illusionen des Rezipienten werden zerstört.
Koordination der Einzelmomente Zur Steuerung dieser auseinander divergierenden, vielheitlichen Einzelmomente verfügt das Kreislerianum über Strategien der Bindung, die das Einzelne eigenständig lassen, es jedoch in ein gleichberechtigtes Beieinander mit den anderen Einzelelementen bringt. Das Arabeskenhafte Die fragmentarischen Einzelelemente beider Kreisleriana können separat und unabhängig voneinander existieren, sie sind nicht einem übergeordneten Motiv subordiniert und nicht einer Gesamtstruktur des Ganzen verpflichtet. Dennoch weisen diese in sich abgeschlossenen Einheiten Verknüpfungsmomente untereinander auf, so dass sich für Hoffmanns Werk durch das konstante Thema ›Musik‹, durch die zentrale Figur des Kreislers sowie durch die repetitive Metaphorik eine mäandrische, arabeskenhafte Erzählstruktur ergibt. Für die Schumann’schen Kreisleriana gilt dieser Aspekt der Arabeske nach Schle215 Manfred Frank: Einführung in die frühromantische Ästhetik, S. 381. 216 Ebd. 217 Ebd., S. 422. 148
III. ANALOGIEN AUF DER EBENE DER OBERFLÄCHENSTRUKTUR
gel nur eingeschränkt, da sich kein Motiv oder Thema durch die Stücke hindurchzieht. Doch einige Einzelstellen existieren, die sich kontrapunktisch verschlungen, mäandrisch gestalten. Zudem gleicht der Höreindruck der Gesamtkonzeption einer arabeskenhaften Struktur, da für den Hörer die Übergänge der Einzelstücke verschwimmen, es ist häufig nicht nachvollziehbar, ob bereits eine neue Fantasie begonnen hat oder nur ein anderer Charakter dominiert. Das Groteske Neben dem Arabeskenhaften tritt auch das Groteske in beiden Werken als Gestaltungsmittel auf. Hoffmann integriert das Groteske in seine literarische Darstellung, z.B. in der Schilderung des außer Kontrolle geratenen Feuerwerks beim Fest am Hof des Fürsten Irenäus, und er gestaltet seine Umschlagzeichnungen zu dem Kater Murr-Roman als Arabesken, die er mit grotesken Figuren ausschmückt. Diese literarische und bildliche Darstellung des Grotesken wird durch entsprechende Beschreibungen der Beethovenschen Musik ergänzt. Außerdem bedient er sich häufig der Entgegensetzung von Tier und Mensch, was kennzeichnend für die Verfahrensweise der Groteske ist. Die musikalisch praktisch-ästhetische Umsetzung Hoffmanns allegorischer Beschreibungen findet sich in Schumanns Kreisleriana in der fünften Fantasie wieder. Die Melodieführung dieses Stückes ist außergewöhnlich und eigenwillig und seine Motivgliederung gestaltet sich asymmetrisch, fragmentarisch flüchtig und metrisch vieldeutig. Der Höreindruck ist schwer fasslich, verwirrend und klingt grotesk. Das Arabeskenhafte und Groteske dieses Kreislerianums weckt die Assoziation an E.T.A. Hoffmanns allegorische Beschreibung der Musik Beethovens: »Seltsame Gestalten beginnen einen luftigen Tanz, indem sie bald zu einem Lichtpunkt verschweben, bald funkelnd und blitzend auseinanderfahren und sich in diesem aufgeschlossenen Geisterreich horcht die entzückte Seele der unbekannten Seele der unbekannten Sprache zu und versteht alle die geheimsten Ahnungen, von denen sie ergriffen.« (35)
Zitate und Verfremdungen Ein weiteres stilistisches Gestaltungsmittel, das analog in beiden Kreisleriana eingesetzt wird, ist die Verwendung von Zitaten. Sowohl E.T.A. Hoffmann als auch Robert Schumann arbeiten mit intertextuellen Bezügen. Sie stellen Zusammenhänge zu anderen Werken her, 149
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indem sie zitieren oder fremde Verfahren übernehmen. Die Übernahme tradierter Formen bedeutet bei Hoffmann und Schumann auch eine Verfremdung dieser Strukturen. Beide greifen ›klassische‹ Formen wie den Bildungsroman oder die Rondo-Form auf und gestalten sie neu, was einerseits zu einer Parodisierung andererseits aber auch zu einer Öffnung, Weiterführung oder Flexibilisierung der tradierten Schemata führen kann.218 Hoffmann und Schumann bedienen sich mit ihren Zitaten auch eigener Kompositionselemente. Bei Hoffmann führt dieses durch konsequente intratextuelle Wiederholungen zu einer Formelhaftigkeit des Ausdrucks und beschreibt aufgrund des schematisierten Wiederholungsaspekts eher den Zeitaspekt und die Darstellung des Ganzen in kleinen Ausschnitten. Bei Schumann bedeuten intratextuelle Rückgriffe zumeist eine Weiterführung des eigenen Materials, eine Weiterentwicklung der ursprünglichen Idee. Schumann wiederholt nur selten einen musikalischen Gedanken, er greift eher alte Inhalte auf, um sie bestätigend weiterzuverarbeiten oder anders weiterzuführen, was dann zu einer reihenden, verbindenden Koordination der Einzelelemente führt. Bachsche Musik und das Prinzip der ›kontrapunktischen Verschlingung‹ Bemerkenswert im Zusammenhang mit Zitaten und der Übernahme fremder Verfahren ist die Rolle der Musik Johann Sebastian Bachs. In beiden Werken kommt Bachs Fugentechnik und seiner kontrapunktischen Arbeit ein zentraler Stellenwert zu. Schumann zitiert den Stil Bachs an mehreren Stellen und, wie bereits gezeigt, lassen sich Anlehnungen an Stücke aus dem Wohltemperierten Klavier in seinen Kreisleriana entdecken. Bach ist Schumanns musikalisch stilistisches Vorbild. Hoffmann nennt die Goldberg-Variationen und das Kompositionsprinzip der »kontrapunktischen Wendungen und Nachahmungen« (4) als die den Kreisleriana hinterlegte Struktur, sie stellen den höchsten Wert der Musik dar und gelten als das musikalische Prinzip schlechthin. Christine Lubkoll versucht in ihrer Arbeit Mythos Musik 218 Stärker als in der Literatur wirkt das intertextuelle Zitat in der Schumann’schen Musik als Mittel der Koordination, als verbindende Komponente zwischen den einzelnen Stücken, weshalb der Aspekt der Intertextualität bei der Hoffmannschen Oberflächenuntersuchung dem Verfahren »das Ganze in Ausschnitten« darzustellen zugeordnet wird, bei dem Schumann’schen Werk jedoch mehr dem Kriterium der Koordination der Einzelstücke anzugehören scheint. 150
III. ANALOGIEN AUF DER EBENE DER OBERFLÄCHENSTRUKTUR
die »kontrapunktischen Verschlingungen« als tatsächliches Kompositionsprinzip der Hoffmann’schen Kreisleriana zu deuten und versteht Johannes Kreisler als »Basso ostinato« der einzelnen Stücke, doch setzt dieser Versuch die metaphorische Umschreibung eines literarischen Verfahrens mit strukturellen Phänomene der Musik gleich. Das gleichzeitige Erklingen mehrerer Stimmen, wie es in der Musik möglich ist und die gegenläufige Bassstimme, die Ton für Ton eine Ergänzung der Melodie darstellt, kann nicht in Literatur umgesetzt werden, dafür sind die medialen Möglichkeiten zu unterschiedlich. Wohl kann eine »kontrapunktische Verschlingung« eines Textes im metaphorischen Sinne stattfinden, wie es bereits anhand der inhaltlichen Verknüpfungen der Hoffmann’schen Kreisleriana gezeigt wurde, doch die formale Gesetzmäßigkeit des Kontrapunkts ist in Literatur nicht umsetzbar. Auch die Figur des Kapellmeisters als einen ostinaten Bass zu verstehen, sagt lediglich aus, dass Kreisler sich durch eine ständige Anwesenheit in den Kreisleriana auszeichnet und somit eine Eigenschaft des Ostinatos erfüllt, doch diese semantische Überschneidung des permanenten Mitklingens, Vorhandenseins und Begleitens der Oberstimmen, als die Lubkoll die unterschiedlichen Charaktere und deren Perspektiven sowie die wechselnden Genres der Kreisleriana deutet, entspricht mehr einem metaphorischen Zusammenhang, einer semantischen Vergleichbarkeit des Begriffs »Basso ostinato« mit der Titelfigur Kreislers als einer tatsächlichen, strukturellen Analogie. Auf die Schwierigkeit, musikalische Strukturkonzepte auf Literatur anzuwenden, weist Ulrich Tadday hin, wenn er Robert Schumann wie folgt zitiert: »Wenn ich Beethovensche Musick höre, so ists, als läse mir jemand Jean Paul vor; Schubert gleicht mehr Novalis, Spohr ist der Leibhaftige Ernst Schulz oder der Carl Dolci der Musick.«219 und darauf aufmerksam macht, dass »niemand auf die umgekehrte Idee verfallen [würde, M.B.-A.], einen der genannten Literaten oder Philosophen durch die Musik Beethovens, Schuberts und Spohrs erklären zu wollen.«220 Wenn Hoffmann die Bachschen Variationen als Konzept seiner Kreisleriana benennt, so lässt sich das als Hinweis auf eine strukturelle Einheit hinter der vermeintlichen Willkür verstehen. Die »kontrapunktischen Verschlingungen« verdeutlichen die inhaltliche Verflechtung der Einzelteile zu einem Ganzen. Das Kompositions219 Robert Schumann: Tagebücher, Bd. 1, 1827-1838, Hrsg. v. Georg Eismann, Leipzig 1971, S. 97; zitiert nach Ulrich Tadday, Das schöne Unendliche, S. 116 f. 220 Ulrich Tadday: Das schöne Unendliche, S. 117. 151
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prinzip der »kontrapunktischen Verschlingung« antizipiert die Intention der »Callotschen Manier« nach der »eine Fülle von Gegenständen [...] nebeneinander, ja ineinander heraustreten, so daß das Einzelne, als Einzelnes für sich bestehend, doch dem Ganzen sich anreiht.«221 Dieses Sich-Ergänzen der fragmentarischen Einzelteile zu einem Werk, dieses Sich-Verweben und –Verflechten unabhängiger Charaktere zu einem Ganzen ist das Strukturprinzip der beiden Kreisleriana, das durch die »kontrapunktischen Verschlingungen« Ausdruck findet und beiden Werken gemeinsam ist.
Zusammenfassung Die Analyse der beiden Phänotexte lässt strukturelle Analogien zwischen den Kommunikationssystemen von Literatur und Musik deutlich werden. Die Stilmittel sind vergleichbar und konstituieren Parallelen auf der Ebene der Oberflächenstruktur, die dem Konzept der offenen Form nach Heinrich Wölfflin entsprechen und sich in ihrer konkretisierten äußeren Form im wesentlichen an der Theorie der romantischen Ironie von Friedrich Schlegel und dessen Romantheorie orientieren. Bei spezifisch literarischen Phänomenen wie dem Metaphernstil, dem Katachresen-Mäander, dem Generativismus oder dem Realismus sowie hinsichtlich musikalischer Techniken wie rhythmischer Verschiebungen oder harmonischer Modulationen sind der Vergleichbarkeit von Literatur und Musik zunächst Grenzen gesetzt, und die Entsprechungen beschränken sich auf metaphorische Formzusammenhänge. Doch der Effekt – auch solcher vom literarischen oder musikalischen Medium abhängiger Verfahren – prägt den Phänotext mit der gleichen Oberflächenstruktur, so dass sich einige Strukturmerkmale als analoge Phänomene der literarischen sowie musikalischen äußeren Form betrachten lassen. Auch auf die Gefahr einer Redundanz hin sollen die strukturellen Analogien der Oberflächenstruktur noch einmal stichpunktartig aufgeführt werden: Thematisierung von Zeit, das Moment des Zyklischen, Unklarheit von Anfang und Ende, verschachtelte Rahmenstruktur, polyperspektivische Darstellung, Juxtapositionen, Brüche, abrupte Übergänge, harte Schnitte, das Moment des Flüchtigen, Charakter der Willkür und Zufälligkeit, Eindruck von Chaos, Verworrenheit, Unre221 E.T.A. Hoffmann: Fantasie- und Nachtstücke, S. 12. 152
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gelmäßigkeit, Inkohärenz, Asymmetrie, Umsetzung des Fragmentarischen, des Arabeskenhaften und Grotesken, Einbindung von Realität, Inter- und Intratextualität, Illusionszerstörung, Relativierung des Dargestellten und Distanz zum Werk, Phantastik, Verfremdung tradierter Formen, Diskursinterferenzen, Diskurskombinatorik zur Konstitution des romantischen Witzes, Annihilation durch Selbstschaffung und Selbstvernichtung (romantisch-ironisches Verfahren).
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T E I L IV
ANALOGIEN AUF DER EBENE TIEFENSTRUKTUR
DER
IV. ANALOGIEN AUF DER EBENE DER TIEFENSTRUKTUR
Kurze Vorüberlegung Um sich der Tiefenstruktur eines Werkes zu nähern, muss dessen innere Form erschlossen werden. Die hinter der vielfältigen Oberflächenstruktur liegende kleinere Anzahl an tiefenstrukturellen Elementen heißt es zu entdecken. Nachdem anhand einer Analyse der stilistisch individuellen Ausformung der Phänotexte oberflächenstrukturelle Analogien aufgezeigt wurden, soll nun eine Annäherung an das Grundmuster, die Basis der konkretisierten Ausprägung der Oberflächenstruktur der Hoffmann’schen und der Schumann’schen Kreisleriana erfolgen. Ein erster Ansatz knüpft unmittelbar an die Untersuchung der Oberflächenstruktur an und widmet sich dem Konzept einer Neuen Mythologie. Die Forderung nach einem modernen Mythos ist eng verknüpft mit der romantischen Ironie, sie stellt, wie noch zu zeigen sein wird, das Gestaltungsprinzip, die Umsetzung einer Neuen Mythologie dar. Da die Strukturen des Phänotextes in wesentlichen Teilen das Konzept der romantischen Ironie nach Friedrich Schlegel poetologisch und musikalisch umsetzen, soll im Folgenden zunächst die tiefenstrukturelle Dimension dieses Postulats untersucht werden. Es wird zu zeigen sein, dass das ästhetische Phänomen der romantischen Ironie der frühromantischen Forderung nach einer Neuen Mythologie als künstlerisches Gestaltungsprinzip dient. Die Vorstellung einer neuen Form der Dichtung, die Erschaffung einer Neuen Mythologie bildet den Ausgangspunkt für Schlegels dichtungstheoretische Überlegungen und somit die philosophische Basis seines Ironie-Konzepts. Die Idee einer Neuen Mythologie soll somit wesensbestimmend für die Tiefenstruktur eines Werkes sein. Inwieweit das Konzept eines Kreislerianums Schlegels Vorstellung einer Neuen Mythologie erfüllt und ihrer Umsetzung dient, oder ob die Gestaltungsprinzipien der romantischen Ironie hier auf ihrer tiefenstrukturellen Ebene bereits die Idee der Neuen Mythologie modifizieren, wird zu untersuchen sein. Aufgrund der Übersetzung ins operative werden sich auch Anknüpfungspunkte zur Theorie Julia Kristevas ergeben. Doch zunächst sei ein weiterer Ansatz im Zeichen des Mythos thematisiert. Rund hundertfünfzig Jahre nach der Setzung des Postulats einer Neuen Mythologie entwickelt der Ethnologe und Kulturtheoretiker Claude Lévi-Strauss ebenfalls eine ›musikalische‹ Mythentheorie, die durch ihre enge Verbindung zur Musik für den strukturel157
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len Vergleich von Literatur und Musik von großem Interesse ist.1 Nach seinem strukturalistischen Ansatz gleicht die Struktur des Mythos der Organisation einer Orchesterpartitur, weshalb die Lesart eines Mythos derjenigen einer Musikpartitur gleicht. Er sieht Dichtung und Musik im Mythos ganz unmittelbar verbunden.2 Die Überlegungen zu Inhalt und Form der Neuen Mythologie führen zu einem Strukturvergleich zwischen den Eigenschaften einer mythologischen Dichtung und der Beschaffenheit von Musik, wie es sich bei Lévi-Strauss zeigt. Zahlreiche Aspekte der Idee einer Neuen Mythologie zielen auf eine neue, erweiterte Verwendung von Sprache. Ein solches Konzept der Spracherweiterung bzw. des erweiterten Verständnisses sprachlicher Möglichkeiten findet seine Fortsetzung bei poststrukturalistischen Theoretikern wie Julia Kristeva und Roland Barthes.3 Ihre Ansätze sollen auf die tiefenstrukturelle Ebene der Kreisleriana angewendet werden und auf ihr Potential hinsichtlich eines strukturellen Vergleichs bzw. einer gegenseitigen Erhellung von Literatur und Musik untersucht werden. Zugrunde gelegt werden hier Kristevas Habilitationsschrift Die Revolution der poetische Sprache4 und einige Essays aus Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn5 von Barthes.
Das Programm der ›Neuen Mythologie‹ als B as i s k o n z e p t e i n e s K r e i sl e r i an u m s Die Analyse der Oberflächenstruktur zeigte die Relevanz der frühromantischen Ästhetik für das Konzept der Kreisleriana. Insbesondere die Dichtungstheorie Friedrich Schlegels findet ihre Umsetzung in den beiden Werken. Sein Modell der romantischen Ironie äußert sich deutlich im Aufbau der Kreisleriana: Phänomene wie die offene Form 1 2
3 4 5
Claude Lévi-Strauss: Die Struktur der Mythen, in: Ders., Strukturale Anthropologie, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1972. Zur Analyse nach dem strukturalistischen Konzept von Lévi-Strauss vgl. auch die Arbeitsergebnisse Christine Lubkolls zum Thema ›Mythos Musik‹in: Christine Lubkoll, Mythos Musik. Vgl. hierzu die umfangreiche Arbeit von Sabine Bayerl: Von der Sprache der Musik zur Musik der Sprache. Julia Kristeva: Die Revolution der poetischen Sprache, übers. von Reinold Werner, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1978. Roland Barthes: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays III, übers. von Dieter Hornig, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1990. 158
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oder ineinander greifende Rahmenstrukturen, die Phantastik, das Fragmentarische, die Arabeske oder die Strukturen des Witzes sind kennzeichnend für das Ironie-Postulat. Diese Kennzeichen erzielen den Effekt der poetischen Reflexion, der konstitutiv für die progressive Universalpoesien ist, und sie realisieren den Verweischarakter auf das Unendliche. Das zentrale Anliegen der Frühromantiker ist die Darstellbarkeit des Absoluten, das Unbedingte, das Unendliche und eigentlich nicht darstellbare, soll in der endlichen Poesie formuliert werden. Das Bewusstsein von der Unmöglichkeit und Notwendigkeit einer vollständigen Mitteilung sowie die Auffassung, dass der eigentliche Widerstreit in unserem Ich die Tatsache ist, dass wir uns zugleich endlich und unendlich fühlen6, sind die Voraussetzungen für das Entstehen der romantischen Ironie. Mit der Ironie als Medium und agens entwirft Schlegel ein Konzept der Überführung des Unendlichen in die endliche Form.7 Die Ironie ist das literarische Mittel, mit dem die Dynamik der Selbstschöpfung und der Selbstvernichtung auf ein Unendliches verweist. Sie soll den inneren Widerspruch zwischen Bedingtem und Unbedingtem aufheben und eine Annäherung an die vollständige Mitteilung sein. Die Umsetzung des Ironie-Konzepts hat nach Schlegel einen neuen künstlerischen Ausdruck zur Folge: die Idee einer Neuen Mythologie. Eine ästhetische Revolution, wie sie sich hier durch Schlegels Theorie der Ironie ankündigt, setzt Kritik am Bestehenden und den Willen zum Umbruch voraus. Da das Ironie-Konzept sich als konstitutives Merkmal der Kreisleriana dargestellt hat, soll im Folgenden untersucht werden, welche Kritik bzw. welche Intention sich hinter dem Konzept der romantischen Ironie und dem Programm einer Neuen Mythologie verbirgt. Das Ergebnis muss anschließend auf seine Relevanz für den tiefenstrukturellen Vergleich der beiden Kreisleriana überprüft werden. Exkurs: Das Postulat einer Neuen Mythologie Das Bestreben Friedrich Schlegels, eine neue universelle Dichtung zu begründen, die Philosophie und Poesie zusammenführt, literarische Theorie und Praxis, reflexiven Diskurs und fiktionale Schöpfung sowie Endlichkeit und Unendlichkeit miteinander verbindet, beruht auf einer allgemein verbreiteten Geisteshaltung der Frühromantiker. Seit 6 7
Friedrich Schlegel, zitiert in: Manfred Frank, Einführung in die frühromantische Ästhetik, S. 287. Vgl. Teil III dieser Arbeit: Exkurs zur romantischen Ironie. 159
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der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde die Aufklärung und ihr Umgang mit Rationalität als abstrakt analytisch betrachtet, ihre Wirkung als äußerst destruktiv, demontierend und zergliedernd empfunden und der Verlust jeder synthetischen Positivität beklagt. Die Legitimationskrise der aufgeklärten, vernunftbetonten Gesellschaft sollte überwunden werden. Rationalität und Sinnlichkeit sollten wieder verbunden und eine neue synthetisierende Mythologie erschaffen werden. Die Idee einer Neuen Mythologie wird explizit durch die sogenannte Gründungsakte des deutschen Idealismus »Das älteste Systemfragment des deutschen Idealismus«8 (1796/97) formuliert. Die Autorschaft dieses Schriftstücks ist ungeklärt, es werden Schelling, Hölderlin und Hegel als mögliche Verfasser diskutiert, das Programm ist jedoch eindeutig: »Zuerst werde ich hier von einer Idee sprechen, die soviel ich weiß, noch in keines Menschen Sinn gekommen ist – wir müssen eine neue Mythologie haben, diese Mythologie aber muss im Dienste der Ideen stehen, sie muss eine Mythologie der Vernunft werden.«9 Gefordert wird also eine Mythologie aus dem Geiste des Idealismus. Wobei die oberste Idee, diejenige der absoluten individuellen Freiheit ist: »Die erste Idee ist natürlich die Vorstellung von mir selbst, als einem absolut freien Wesen.«10 Die Konsequenz hieraus ist eine menschliche Gemeinschaft mit Freiheit und Gleichheit für alle Mitglieder. Der Argumentation des Systemprogramms zufolge entspricht der Staat einer solchen Forderung nicht, »denn jeder Staat muß freie Menschen als mechanisches Räderwerk behandeln; und das soll er nicht; also soll er aufhören.«11 Der hier angeführte Vergleich des Staates mit einer Maschine reiht sich ein in eine historisch gewachsene Verwendung des Begriffspaars Maschine/Organismus. Während die Teile einer Maschine nicht über die Information des Ganzen verfügen und ohne Funktionsschwierigkeiten ausgetauscht werden können, ist den einzelnen Gliedern des Organismus, wie in die Zellen des Körpers, Zweck und Idee des Ganzen eingeschrieben.12 Maschine und 8
Georg Wilhelm Hegel, Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Friedrich Hölderlin: »Ältestes Systemfragment des deutschen Idealismus«, 1796/97 in: Herbert Uelings (Hg.), Theorie der Romantik, Stuttgart: Reclam 2000. 9 »Ältestes Systemfragment des deutschen Idealismus«, S. 55f. 10 Ebd., S. 54. 11 »Ältestes Systemfragment des deutschen Idealismus«, S. 54. 12 Manfred Frank: Der kommende Gott, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1986, S. 155f. 160
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Organismus entsprechen somit der Unterscheidung von analytischem und synthetischem Geist. Diese anarchistische Staatskritik des Textes zeigt die politische Dimension der Idee einer Neuen Mythologie. In einem Maschinenstaat findet kein organisches, synthetisch funktionierendes Miteinander von privatem und öffentlichem Leben statt, es kommt zur Entfremdung von Menschen und Staatswesen. Diese Aufspaltung führt zu einem Legitimationsverlust des Staates, es gibt also keine Idee vom Staat, »weil der Staat etwas mechanisches ist, so wenig als es eine Idee von einer Maschine gibt.«13 Das Systemprogramm wird vorgestellt als Eine Ethik.14 Es bezieht sich hierin auf die Ethik Spinozas, die sich deduktiv, aus einem Grund- oder Glaubenssatz entwickelt. Kants Axiom ist das Postulat einer Idee: »[...] so wird diese Ethik nichts anderes als ein vollständiges System aller Ideen, oder, was dasselbe ist, aller praktischen Postulate sein.«15 Die Idee als oberster Grundsatz ist also eine Vorstellung der praktischen Vernunft, um dem System der theoretischen Sätze einen Bezugspunkt, eine Begründung, einen Zweck zu bieten.16 Da Zwecke nicht als Tatsachen sondern als Entwürfe existieren, erfordern sie ein freies Wesen, das handeln kann. Außerdem setzt die Wahrnehmung und Realisierung von Zwecken Vernunft voraus, denn während der Verstand das reine Denkvermögen, die Verstehensleistung von mechanischen Vorgängen bedeutet, ist die Vernunft nach Kant »das Vermögen der Zwecke«, sie ist das Vermögen, Zwecke in die Wirklichkeit umzusetzen.17 Die »Vorstellung von mir selbst als einem absolut freien Wesen«18 bedeutet somit das Bewusstsein, nach Zwecken und nicht nach Ursachen zu handelt. Zugleich gilt dieses Be13 14 15 16
»Ältestes Systemfragment des deutschen Idealismus«, S. 54. Ebd. Ebd. Der Zweck ist nach Kant eine Vorstellung, der zugetraut wird, »Ursache von der Wirklichkeit des Gegenstandes dieser Vorstellung zu sein.« (Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, zitiert in: Manfred Frank, Der kommende Gott, S. 157) Die Wirklichkeit eines Gegenstandes hat dann einen Zweck, wenn es eine Vorstellung, einen Seinsgrund, einen Willen gibt, als deren Konsequenz sie erscheint. Existiert ein Gegenstand unabhängig von einer Vorstellung oder einer Absicht, also rein mechanisch, so ist sein Erscheinen ohne Zweck. Ein Zweck ruft einen Zustand nicht als zwangsläufige Konsequenz vorangegangener Zustände hervor, sondern er begründet einen Zustand aus der Vorstellung von der Zukunft der Wirklichkeit. 17 Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft, zitiert in: Manfred Frank: Der kommende Gott, S. 158. 18 »Ältestes Systemfragment des deutschen Idealismus«, S. 54. 161
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wusstsein, frei zu sein, als Grundsatz der Philosophie, ihm ist kein weiterer fundamentalerer Grund vorausgeschaltet. Das Systemprogramm geht von der Idee aller Ideen aus, dem frei handelnden Ich. Im Anschluss hieran stellt sich die Frage, wie die Natur beschaffen sein müsse, um diese Idee zu manifestieren. Sie muss organisch sein, jedem Teil der Natur muss die Idee vom Zweck des Ganzen innewohnen, damit ihre Vorgänge nicht rein kausal maschinell funktionieren, sondern auf ein Telos ausgerichtet sind. Die Natur als Organismus gedacht bekommt eine Begründung aus Zweck-Ursachen, sie wird »als Resultat eines vernünftigen Willens (einer Freiheit) angesehen, der ihr einen Sinn, einen verallgemeinerbaren Endzweck« verleiht.19 Vor dem Hintergrund dieser Idee der Zweckmäßigkeit wird die Kritik am Staat als unnatürlicher Maschine ohne verbindender Idee nachvollziehbar. Funktioniert der Staat maschinell ohne einer Vorstellung von der Wirklichkeit der Dinge rein kausal, analytisch und ohne einer Idee vom verbindenden Endzweck für das Ganze, entfremden sich Staat und Gesellschaft, und es kommt zum Legitimationsverlust des Staates. Ideenlos, ohne Zweck-Ursache beruht er nicht auf Freiheit und wird nicht durch Vernunft verwirklicht, er entbehrt einer Absicht, eines Willens, einer Begründung und somit seiner Legitimation. Die Kritik am Staat als Maschine, als einem Apparat, der sich von seiner Begründung durch die Idee der Freiheit entfernt hat und die verbindenden, interaktiven Prozesse nicht mehr auf einen vernünftigen Zweck hin orientiert sowie seine Mittel nicht in den Dienst einer verallgemeinerbaren Idee stellt, sondern als Selbstzweck nutzt, mündet in die Forderung nach einer organischen Gemeinschaft mit »Absolute[r] Freiheit für alle Geister, die die intellektuelle Welt in sich tragen, und weder Gott noch Unsterblichkeit außer sich suchen dürfen.«20 Der Legitimationsverlust des Staates erfordert eine neue, gemeinschaftsstiftende Mythologie, »diese Mythologie aber muss im Dienste der Ideen stehen, sie muss eine Mythologie der Vernunft werden.«21 Die Lösung dieser Konfliktstrukturen sieht der Verfasser des Systemprogramms in der »Idee, die alle vereinigt, die Idee der Schönheit«22. Entwickelte sich die bisherige Argumentation des Textes aus einer gesellschaftspolitischen Kritik heraus, erfolgt an dieser Stelle die 19 20 21 22
Manfred Frank: Der kommende Gott, S. 161. »Ältestes Systemfragment des deutschen Idealismus«, S. 56. Ebd., S. 56. Ebd., S. 55. 162
IV. ANALOGIEN AUF DER EBENE DER TIEFENSTRUKTUR
Wende zum poetologischen Charakter der Neuen Mythologie: »Ich bin nun überzeugt, dass der höchste Akt der Vernunft, der, indem sie alle Ideen umfasst, ein ästhetischer Akt ist, und dass Wahrheit und Güte, nur in der Schönheit verschwistert sind«23. Eine Vereinigung von theoretischer Philosophie und praktischer Vernunft, also die Philosophie im Dienste der Idee der Freiheit, findet im ästhetischen Akt statt. Hier finden Theorie und Praxis ihren gemeinsamen Ausdruck. Das Kunstprodukt entsteht durch Freiheit, es ist Darstellung der Idee eines Vernunftzwecks, aber auch der Güte. Die Idee der Güte kommt im Kunstwerk zur Anschauung und wird Gegenstand theoretischer Betrachtung. Die Freiheit, die im ästhetischen Akt dargestellt wird, ist die Wahrheit. Das Rezipieren dieser Wahrheit erfordert ebenso wie das Produzieren den Gebrauch der Freiheit. Nicht das rein sinnliche Wahrnehmen und das theoretische Nachvollziehen eines Kunstausdrucks führen zur Ästhetik des Werks: die Idee der Freiheit kann erst erspürt werden, wenn sich der Rezipient seiner eigenen Freiheit bedient. Er aktiviert das sinnlich-theoretische fixierte Moment für sich und betrachtet somit das Kunstwerk als Symbol der Idee der Freiheit. Die Kunst verbindet Philosophie, Theorie und Gesetzmäßigkeit mit Poesie, Praxis und Zweckmäßigkeit, sie schafft ein gesetzmäßig organisiertes Ganzes im Dienste einer Idee. Dies ist der Symbolcharakter der Kunst, die Synthese von sinnlich Wahrnehmbarem und rationalem Erkennen, die ästhetische Darstellung einer Idee. Aufgrund ihrer synthetischen Eigenschaft soll die Poesie wieder werden, »was sie am Anfang war – Lehrerin der Menschheit«24. »Am Anfang: d.h. im Zustand des Mythos«25, der als Volkserzählung die synthetische Funktion von Erkenntnisquelle und »sinnlicher Religion« erfüllte. Der Legitimationsverlust des modernen Staates kann also auch als Verlust des Mythos, einer Begründung aus Zwecken, aus der Idee der Freiheit begriffen werden. Deshalb fordert das Systemprogramm eine Neue Mythologie im Dienste der Ideen, es fordert außerdem die Versinnlichung dieser Ideen, die »ästhetisch d.h. mythologisch«26 gemacht werden sollen. Die Gleichsetzung von ästhetisch und mythologisch macht deutlich, dass eine neue Mythologie nicht ohne Poesie gedacht werden kann, bzw. das Mythologie synonym mit ästhetischer Sprache 23 Ebd. Unter Wahrheit wird die Eigenschaft von Äußerungen des empirisch kontrollierten Gebrauchs der theoretischen Vernunft verstanden, unter Güte die Eigenschaft von Handlungen der reinen Vernunft. 24 »Ältestes Systemfragment des deutschen Idealismus«, S. 55. 25 Manfred Frank: Der kommende Gott, S. 185. 26 »Ältestes Systemfragment des deutschen Idealismus«, S. 56. 163
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und Dichtung verwendet wird. In diesem Sinne bekäme die Poesie »eine höhere Würde, sie wird am Ende wieder, was sie am Anfang war – Lehrerin der Menschheit«27, sie soll die Aufgabe übernehmen, die analytische Konzeption von Vernunft in eine mythologische Form der Poesie zu überführen. Die Neue Mythologie nimmt als eine synthetische und allgemeine symbolische Dichtung die Zusammenführung von Staat und Gesellschaft vorweg. Sie ist die Verkünderin eines neuen Zeitalters, in dem Philosophie und Poesie wieder vereint sind, »Keine Kraft wird mehr unterdrückt werden, dann herrscht allgemeine Freiheit und Gleichheit der Geister.«28 Die Integration von Ratio und Sinnlichkeit, die die Neue Mythologie als Repräsentantin des angestrebten gesellschaftlichen Idealzustandes zu leisten hat, stellt an sie die Forderung, das Übersinnliche und Unendliche darzustellen. Diese Verbindung von Philosophie und Poesie in der Neuen Mythologie bedeutet für die Frühromantiker das Streben nach dem Ausdruck des Unbedingten im Bedingten, des Unendlichen im Endlichen. Die Gründung einer solchen Neuen Mythologie ist auch das Anliegen der Dichtungstheorie Friedrich Schlegels. In den Fragmenten und insbesondere in der Rede über die Mythologie (1800) entwirft er sein Konzept vom Wesen und von der Beschaffenheit einer solchen idealen Poesie. Ziel ist, wie für den Verfasser des Systemprogramms, eine Poesie, die sich gegen die zunehmende ›Versplitterung‹ wehrt und einen neuen ›Mittelpunkt‹ sucht. Als Vorbild gilt Schlegel die antike Mythologie. Sie stellt eine harmonische Welt dar, in dem sich alle Gedichte des Altertums zu einem Ganzen zusammen geschlossen haben.29 Ein solches gemeinsames großes Gedicht fehlt der modernen Dichtkunst. Schlegel ruft zur Erschaffung einer solchen Poesie auf, die wieder über einen gemeinsamen Mittelpunkt verfügt, er fordert eine Neue Mythologie. »Alles Wesentliche, worin die moderne Dichtkunst der antiken nachsteht läßt sich in die Worte fassen: Wir haben keine Mythologie.«30 Welche Kriterien die antike Mythologie erfüllt und wodurch sie zu charakterisieren ist, versucht die Rede über die Mythologie herauszuarbeiten. Als die eigentliche Grundform des mythologischen Gedichts bestimmt Schlegel das Chaos. »Denn das ist der Anfang aller Poesie, 27 Ebd., S. 55. 28 Ebd., S. 56. 29 Friedrich Schlegel: Rede über die Mythologie, in: Ders., Gespräch über die Poesie, S. 313. 30 Ebd. 164
IV. ANALOGIEN AUF DER EBENE DER TIEFENSTRUKTUR
den Gang und die Gesetze der vernünftig denkenden Vernunft aufzuheben und uns wieder in die schöne Verwirrung der Fantasie, in das ursprüngliche Chaos der menschlichen Natur zu versetzen.«31 In Bezug auf die antike Mythologie stellt er fest: »Aber die höchste Schönheit, ja die höchste Ordnung ist denn doch nur die des Chaos, nämlich eines solchen, welches nur auf die Berührung der Liebe wartet, um sich zu einer harmonischen Welt zu entfalten, eines solchen wie es auch die alte Mythologie und Poesie war.«32 Die Aufspaltung der Lebens- und Wissenschaftsbereiche, die Trennung von Wissen und Kunst, von Ratio und Sinnlichkeit als Folge des analytischen Zeitalters führen zu dem Bedürfnis nach Chaos und gegenseitiger Durchdringung dieser Bereiche. Die Forderung nach Chaos meint jedoch nicht das völlige Durcheinander sondern vielmehr eine Schönheit des Chaos, die sich durch die Integration und Verbindung der Einzelelemente zu einem harmonischen Ganzen fügt, wobei die neugewonnene Ordnung durch die formgebende Kraft der Liebe ausgelöst wird. Dieses Vereinen von Heterogenem zu einem Ganzen als das Wesensmerkmal der antiken Mythologie umschreibt Schlegel an anderer Stelle mit dem Bild des ›bunten Gewimmels der alten Götter‹ und verallgemeinert diesen Charakter der »künstlich geordneten Verwirrung, diese reizende Symmetrie von Widersprüchen« 33 als mythologische Eigenschaft schlechthin. Der Unterschied zwischen der alten und der neuen Mythologie liegt in ihrem Ursprung, während sich die antike Mythologie im unmittelbaren Anschluss an das Naturhafte ausdrückt, muss die neue Mythologie »aus der tiefsten Tiefe des Geistes herausgebildet werden; es muß das künstlichste aller Kunstwerke sein, denn es soll alle andern umfassen«34. Eine Form der Poesie die nicht aus der Phantasie sondern aus dem Geist entsteht, bedeutet die Synthese von Einbildungskraft und Vernunft und entspricht somit dem Ziel einer Mythologie im Dienste der Ideen. Folglich ist die philosophische Basis des Konzepts einer Neuen Mythologie der Idealismus. Denn dieser kündet die Kraft der Revolution, die »alle Wissenschaften und alle Künste« ergreifen wird sowie »den geheimen Zusammenhang und die innre
31 32 33 34
Ebd., S. 319. Ebd., S. 313. Ebd., S. 318 f. Friedrich Schlegel: Rede über die Mythologie, in: Ders., Gespräch über die Poesie, S. 312. 165
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Einheit des Zeitalters«35 an. Es ist die Aufgabe der Neuen Mythologie, diesen revolutionären Geist des Idealismus poetisch umzusetzen. Die Umsetzung der Ideen in das Bild des Kunstwerks geschieht durch den Symbolcharakter der Kunst. »Wir halten uns nur an die Bedeutung des Ganzen; was den Sinn, das Herz, den Verstand, die Einbildung einzeln reizt, rührt, beschäftigt und ergötzt, scheint uns nur Zeichen, Mittel zur Anschauung des Ganzen, in dem Augenblick, wo wir uns zu diesem erheben.«36 Das Kunstwerk ist also die symbolische Darstellung des Ganzen. Vorbild für diese Kunstauffassung ist der Symbolcharakter der Natur, denn »das Göttliche kann sich in der Sphäre der Natur nur indirekt mitteilen und äußern.«37 Die Natur bildet also das Göttliche, das Höchste symbolisch ab und verbindet somit das Unendliche des Geistes mit dem Endlichen des Sinnlichen. Sie ist der symbolische Ausdruck des Absoluten: »Und was ist jede schöne Mythologie andres als ein hieroglyphischer Ausdruck der umgebenden Natur in dieser Verklärung von Fantasie und Liebe?«38 Die Leistung der Poesie besteht in der realen sinnlich geistigen Darstellung der Ideen. Ist der Idealismus zwar Grundlage und gleichsam Quelle der Neuen Mythologie, so betont Schlegel auch den unendlichen Charakter des Idealismus und stellt fest, dass der Idealismus selbst nicht ohne den Realismus funktionieren kann.39 Wie schon sein Konzept der romantischen Ironie zeigte, ist das Verweisen auf das Unendliche nur möglich durch die ständige Konfrontation des Bedingten mit dem Unbedingten. Nur der stete Wechsel von Selbstschöpfung und Selbstvernichtung und die unendliche Reflexion des poetischen Prozesses ermöglichen ein Aufzeigen des Unendlichen im Endlichen sowie die Darstellung der Idee im Bild. So »[...] wie es das Wesen des Geistes ist, sich selbst zu bestimmen und im ewigen Wechsel aus sich heraus zu gehen und in sich zurückzukehren [...] so ist derselbe Prozeß auch im ganzen und großen jeder Form des Idealismus sichtbar. [...] Der Idealismus in jeder Form muß auf eine oder andre Art aus sich herausgehn, um in sich zurückkehren zu können, und zu
35 Ebd., S. 314. 36 Friedrich Schlegel: Gespräch über die Poesie, S. 323. 37 Friedrich Schlegel: Brief über den Roman, in: Ders., Gespräch über die Poesie, S. 334. 38 Ebd. 39 Vgl. hierzu auch Tea Won Yoon, Der Symbolcharakter der neuen Mythologie im Zusammenhang mit der kritischen Funktion der romantischen Ironie bei Friedrich Schlegel, Frankfurt/M.: Lang 1996. 166
IV. ANALOGIEN AUF DER EBENE DER TIEFENSTRUKTUR
bleiben was er ist. Deswegen muß und wird sich aus seinem Schoß ein neuer ebenso grenzenloser Realismus erheben; [...].«40
Der Realismus erscheint hier als ein Bestandteil des Idealismus. Schlegel will weder dem Natur-Realismus Spinozas noch der idealistischen Wissenschaftslehre Fichtes die alleinige Gültigkeit zusprechen, sondern er strebt im Sinne des synthetischen Geistes und der damit einhergehenden romantischen Sehnsucht nach Unendlichkeit die Vereinigung dieser beiden philosophischen Richtungen an. Der Idealismus gilt ihm als »die Philosophie des Lebens und der Tätigkeit«, doch das spinozistische System der Naturanschauung als »Träger und Ruhepunkt der Fantasie«, hier sieht er »den Anfang und das Ende aller Fantasie, den allgemeinen Grund und Boden, auf dem Euer Einzelnes ruht«41. Die Neue Mythologie stellt die Synthese von Idealismus und Realismus dar. Indem sie auf der »Harmonie des Ideellen und Reellen beruhen soll«42, ist sie ein Ideal-Realismus in Form von Poesie. An diesem Konzept der Neuen Mythologie als einem neuen Realismus idealistischen Ursprungs wird deutlich, dass das Absolute, das Ideal weder in der unendlichen Sehnsucht noch im abstrakten Begriff zu finden ist. Es muss in eine sinnlich geistige Gestalt gebracht werden, die das Wissen und die Einbildungskraft, die Philosophie und die Poesie zu einer ideellen Realität verbindet. Die Umsetzung dieses Konzepts ist der Neuen Mythologie vorbehalten, in ihr sehen die Frühromantiker die Möglichkeit, dass »Aufgeklärte und Unaufgeklärte sich die Hand reichen«, hier muss die Mythologie »philosophisch werden, und das Volk vernünftig, und die Philosophie mythologisch werden, um die Philosophie sinnlich zu machen. Dann herrscht ewige Einheit unter uns. [...] dann herrscht allgemeine Freiheit und Gleichheit der Geister!«43 Die im Systemprogramm unter gesellschaftspolitischem Aspekt angestrebte Integration von Philosophie und Poesie spiegelt den Kerngedanken der Frühromantiker wider, eine Synthese zwischen Ratio und Sinnlichkeit zu erzielen. Das Konzept der romantischen Ironie und die Struktur des Witzes stellen die literarischen Mittel dieser angestrebten Integration dar. Während die Ironie durch die Konfrontation von Selbstschaffen und Selbstvernichten, durch Sagen und Aufhe40 41 42 43
Friedrich Schlegel: Rede über die Mythologie, S. 314 f. Ebd., S. 316 f. Ebd., S. 315. »Ältestes Systemfragment des deutschen Idealismus«, S. 56. 167
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bung des Gesagten die Verbindung von Bedingtem und Unbedingtem schafft und durch stetes Reflektieren eine Ebene der Unendlichkeit in das Werk einführt, beruht das Verfahren des Witzes auf der »künstlich geordnete[n] Verwirrung, dieser reizenden Symmetrie von Widersprüchen«44 und somit ebenfalls auf der Verknüpfung von Gegensätzlichem zu einem Ganzen. Diese Ordnung heterogener Elemente zu einer Einheit ist ein Charakteristikum der Neuen Mythologie. Durch das literarische Mittel der Ironie und auch des Witzes bekommt das Absolute, das Unendliche eine bedingte, endliche Form. Das Undarstellbare und Unmitteilbare, das der Dichter dennoch vermitteln möchte, bekommt im Kunstwerk einen konkreten, sinnlichen Ausdruck. Dieser künstlerische Ausdruck bleibt jedoch mittelbar, indirekt oder symbolisch, denn »alle Schönheit ist Allegorie. Das Höchste kann man eben weil es unaussprechlich ist, nur allegorisch sagen.«45 Somit wird das Kunstwerk zum Symbol des Unendlichen und Transzendenten. Die Umsetzung erfolgt nach der Idee der Romantiker in poetologischer Weise durch die Neue Mythologie, da diese das Absolute, das Transzendente, »das Höchste« mit dem Sinnlichen, dem Irdischen, »dem Gebildeten« verbinden soll. Konstituiert nun diese Auffassung von romantischer Dichtung die Tiefenstruktur eines Kreislerianums? Der Freiheits-Gedanke, das Chaos, die hieroglyphische Darstellung der Natur, die Opposition von Organismus und Maschine, die Kontraste zwischen Phantasie und Vernunft sowie zwischen Künstlertum und Philisterdasein spielen eine zentrale Rolle in den Hoffmann’schen Kreisleriana. Die Freiheit des Individuums wird thematisiert, die Gegenüberstellung von Ratio und Sinnlichkeit, von Realismus und Idealismus, von Theorie und Praxis sowie die Konfrontation von Enthusiasmus und Ironie finden statt, so dass wesentliche Punkte des Postulats einer Neuen Mythologie erfüllt sind. Doch wird eine Synthese der Gegensätze im Sinne Schlegels in Aussicht gestellt? Gelingt ein harmonisches Zusammenspiel der Dif44 Friedrich Schlegel: Rede über die Mythologie, S. 318f. 45 Friedrich Schlegel: Gespräch über die Poesie, S. 324; Schlegel verwendet die Begriffe »symbolisch« und »allegorisch« synonym. So heißt es in der Erstausgabe des Textes »Gespräch über die Poesie« an der hier zitierten Stelle, das Höchste ließe sich nur »allegorisch« sagen, in der zweiten Fassung von 1823, es ließe sich nur »symbolisch« sagen. Zum analogen Gebrauch der Begriffe des Symbolischen und Allegorischen vergleiche auch Tae Won Yoon: Der Symbolcharakter der neuen Mythologie im Zusammenhang mit der kritischen Funktion der romantischen Ironie bei Friedrich Schlegel, Kapitel III,» Symbol und Allegorie bei Fr. Schlegel«. 168
IV. ANALOGIEN AUF DER EBENE DER TIEFENSTRUKTUR
ferenzen unter dem Einfluss der Liebe oder die Entstehung eines ›schönen Chaos‹ mit Ausrichtung auf Harmonie, wie es Schlegel anstrebt? Lässt sich die teleologische Ausrichtung der romantischen Ironie auf das Absolute, die Zentrierung auf das Transzendentale der Neuen Mythologie im Hoffmann’schen Konzept eines Kreislerianums finden? Die Figur des Johannes Kreisler scheitert an sich und seinem Lebensplan und bleibt eine in sich gespaltene Persönlichkeit, » – Ich wie Du Johannes Kreisler«, es wird keine letzte Harmonie in Aussicht gestellt. Eine ähnliche Disparität zeigen Schumanns Kreisleriana. Auch hier findet sich keine Versöhnung, die Musik bleibt in ihren Abruptheiten, ihrem Schwanken, Zögern, Davonrennen, ihren Aufhebungen, ihrer Ziel- und Haltlosigkeit verhaftet. Sie endet im Verschwinden und in der Auflösung, es dominiert die Leere, statt die Ausrichtung auf ein Höheres oder Absolutes. Erfüllt das Konzept eines Kreislerianums somit die Forderungen an eine Dichtung als einer neuen Mythologie nicht?
Das Hoffmann’sche Kreislerianum als neuer Mythos Manfred Momberger widerspricht in seiner Studie Sonne und Punsch46 der Vergleichbarkeit des Konzepts einer Neuen Mythologie nach Schlegel mit der Dichtungstheorie und -kunst E.T.A. Hoffmanns. Die Potenzierung der Sprache zum Absoluten hin durch eine transzendentale Universalpoesie wie sie Schlegel fordert, bedeutet zunächst die Aufnahme des Anderen, des Nichtidentischen, des Sinnlichen, der Phantasie, des Wahns und des Hässlichen in die Literatur und meint gleichzeitig, so Momberger, die Aufhebung eben dieses Disperaten im Absoluten. Momberger betont die Harmonie, die Einheit und letzte Ordnung hinter aller Differenz bei Schlegel. Die romantische Kunst wird zur Darstellerin des Absoluten. E.T.A. Hoffmann thematisiert in seinen Werken ganz explizit das Exzentrische, das Andere, den Wahnsinn, das Heterogene des Seins. Doch ob diese Heterogenität und Disparität auf eine ursprüngliche Dissonanz und Differenz hinter allem verweisen soll und destruktiv sowie depotenzierend und somit entgegengesetzt der Schlegel’schen Intention wirkt, wie es Momberger in seiner Arbeit herausstellt, oder ob diese Heterogenität bei Hoffmann gerade als integrative, systematisierte Einheit gemeint ist, wie es 46 Manfred Momberger: Sonne und Punsch. Die Dissemination des romantischen Kunstbegriffs bei E.T.A. Hoffmann. 169
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wie es Segebrecht in seiner Studie Heterogenität und Integration47 begründet, und somit als ein Verweis auf das Transzendentale gesehen werden kann, oder ob gar Schlegel selbst schon nicht mehr die Einheit hinter allem Chaos suchte, sondern vielmehr die Vielheit der Postmoderne vorwegnahm, wie es Yoon in Abgrenzung zum Begriff der Postmoderne nach Welsch beschreibt, lässt sich auf dem hermeneutischen Wege nicht beantworten. Die Bedeutungen der Kategorien des »Absoluten« oder des »Transzendentalen« können nicht hermeneutisch erfasst werden, ohne die Diskulturalität48 zu ignorieren, die uns von diesen Begrifflichkeiten trennt. Um die Relevanz des Konzepts einer Neuen Mythologie für die Tiefenstruktur eines Kreislerianums festzustellen und zu beurteilen, soll das Konzept der Neuen Mythologie zunächst operativ übersetzt werde. Mit diesem neu gewonnenen Instrumentarium soll die Praxis der Romantiker erschlossen und die Effekte ihrer Verfahren beschrieben werden. Als Arbeitsgrundlage dienen die Überlegungen Jürgen Links zu den Metamorphosen der romantischen Kulturrevolution.49 Die Idee der Neuen Mythologie ergibt sich, wie oben dargestellt, aus der Kritik an der Entfremdung des aufgeklärten Zeitalters, dem Primat der Vernunft und der Trennung aller Lebensbereiche. Deshalb fordert Schlegel die Wiedervereinigung von Philosophie und Poesie. Dem Konzept der Neuen Mythologie schreibt er diese integrierende Kraft zu, wobei ihm als Vorbild die antike Mythologie dient. In dieser polytheistischen Mythologie waren die einzelnen Götter an unterschiedliche Lebens- und Erfahrungsbereiche gekoppelt, sie vertraten quasi verschiedene Spezialdiskurse. Das Kommunizieren und Interagieren der Götter untereinander führte zu einer Verflechtung der einzelnen Erfahrungsbereiche, so dass auf arabeskenhafte Weise Natur und Kultur sowie Arbeitsteilung in der Mythenwelt integriert wurden. Das romantische Programm einer Neuen Mythologie fordert ebenfalls eine verbindende Struktur des Heterogenen, unterschiedliche Diskurse sollen hier arabeskenhaft miteinander kombiniert werden. Diese Idee kann nach Link wie folgt ins operative übersetzt werden: Ausgangspunkt sind Diskursinterferenzen, ein »gewimmel von einzelnen elementar-literarischen formen (z.B. symbolen)«, diese 47 Wulf Segebrecht: Heterogenität und Integration. 48 Zum Begriff der ›Diskulturalität‹ vgl. »kleines Begrifflexikon«, in der Zeitschrift: kultuRRevolution nr.3, S. 67. 49 Jürgen Link: metamorphosen der romantischen kulturrevolution. Diskurshobelspäne, S.45ff. 170
IV. ANALOGIEN AUF DER EBENE DER TIEFENSTRUKTUR
werden vorläufig, teilweise in Katachresen-Mäandern nach semantischen Äquivalenzen, Oppositionen o.ä. gegliedert, unter Hinzufügung von handelnden Figuren entstehen schließlich »symbolische narrationen mit arabeskenstruktur« und es können »neue mythen« generiert werden.50 Bleibt zu überprüfen, ob die Kreisleriana »symbolische narrationen mit arabeskenstruktur« sind und in diesem Sinne einen neuen Mythos darstellen. Gleich dem Jakobsonschen Grundgesetz müssen zunächst paradigmatische Kategorien von elementar-literarischen Formen ermittelt werden. Bei Hoffmann lassen sich Diskursinterferenzen zwischen Philosophie, Naturwissenschaften, Literatur, Kunst und Juristik bzw. Politik finden. Philosophische Überlegungen zu Natur und Mensch (z.B. im Lehrbrief), physikalische Experimente und Magie (bei Meister Abraham im Kater Murr-Roman), Literaturzitate und Kunsttheoretisches, Obrigkeitsgehorsam und Burschenschaftsepisoden (z.B. im Murr-Teil des Kater-Murr-Roman) werden als Spezialdiskurse immer wieder miteinander variiert und verflochten.51 Ebenso tauchen charakteristische Kollektivsymbole wie Gebäude (Kloster), Pflanze (Nelken, Baum, Wald) oder Maschine (metaphorisch für die Verhältnisse am Fürstenhof) auf. Die Betrachtung der romantischen Symbolfelder unter dem Aspekt der Entgrenzung, der Deterritorialisierung und der neuen Fixierung, der Reterritorialisierung ergibt einen permanenten Wechsel zwischen diesen Tendenzen.52 Der Text erfährt eine Dynamisierung, eben gesetzte Zentrierung wird im nächsten Schritt wieder aufgelöst, so dass der Charakter des Ausschweifens und der Arabeske sich manifestieren. Kreislers Klosteraufenthalt beispielsweise lässt sich zunächst der restaurativen Reterritorialisierung zu schreiben. Doch die sakrale Ordnung und Strenge des Klosters bekommt einen ambivalenten Charakter, wenn die Machenschaften des neuen Abtes entdeckt werden und Mord sowie kriminelle Energien Einzug halten. Es erfolgt keine neue Zentrierung, Kreisler flieht aus dem kirchlichen Schutz, das Kloster stellt keine Fixierung dar, sondern bekommt einen Aspekt des Ausschweifens, der Arabeske. Ebenso unterliegen Hof und fürstlicher Garten einer Form von Entgrenzung, wenn in den eigentlich geschlossenen Park ein ›Fremder‹, es ist Kreisler, ungesehen ein50 Jürgen Link: metamorphosen der romantischen kulturrevolution, S. 49. 51 Vgl. die Ausführungen zum Arabeskenhaften im Teil III dieser Arbeit. 52 Vgl. Jürgen Link: metamorphosen der romantischen kulturrevolution, S. 48. 171
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dringt oder sich dort ›dunkle Gestalten‹ aufhalten, ihr Unwesen treiben und wieder verschwinden. Familiäre Idyllen werden stets zersetzt, entpuppen sich als Fassaden und unterliegen dem Verfall, so nicht nur am Hofe des Fürsten Irenäus, dessen dunkle Vergangenheit nach und nach offenbart wird, auch die Familienbilder in den Kreisleriana dienen als ironisches Diskrepanzsignal, z.B. in dem Stück Gedanken über den hohen Wert der Musik. Die Pflanzensymbolik ist ebenfalls stets von dem Aspekt des Schweifens geprägt. Nahezu formelhaft sind Wendungen wie »wunderlich verschlungene Moose, Kräuter und Blumen« (24) oder der Wald als deterritorialisierender Ort, so z.B. wenn der Knabe im letzten Stück der Kreisleriana aus dem geschlossenen Garten hinaus in den freien Wald geht, um dort den Stein mit den »wunderlichen Moosen und Kräutern« zu suchen. Das Organische der Pflanzennatur aber auch der menschlichen Natur wird bei Hoffmann gegen die Automate und die Maschine ausgespielt. Er greift die bereits beschriebene Kritik der Romantiker am Verhältnis zwischen Mensch und Staat auf, wenn er beispielsweise vom menschlich einwandfreien und nützlichen Funktionieren innerhalb des Staates spricht: dass der Mensch »zu dem eigentlichen Zweck seines Daseins zurückkehren, d.h. ein tüchtiges Kammrad in der Walkmühle des Staates sein (und ich bleibe in der Metapher) haspeln und trillen lassen kann.« (19) Hoffmann hebt hier sein literarisches Verfahren, das der Metapher, hervor und betont somit den Stellenwert der Maschinensymbolik als ein sehr bewusst gewähltes Bild. Die durch spontane Diskursinterferenzen entstehende Kollektivsymbolik generiert ebenfalls die Struktur einer neuen Mythologie. Mit der bereits dargestellten Kollektivsymbolik des Spiegels ist ein zentrales Symbol für den Bereich der Charakter- und Subjektbildung benannt. Es beschreibt bei Hoffmann die Tendenz zur Spaltung, Dezentralisierung und Auflösung des Subjekts und hat somit stark deterritorialisierenden Charakter. Auch der Gebrauch von Flut-Symbolen verweist auf Entgrenzung, so wird Kreisler »von seinen inneren Erscheinungen und Träumen wie auf einem ewig wogenden Meer dahin – dorthin getrieben« (4). Weitere Motive wie Feuer, Wahnsinn, Tod oder Weiblichkeit ziehen sich durch das Hoffmann’sche Kreislerianum hindurch. Durch die enge Verbindung von Tod und Weiblichkeit gestaltet sich eine Nahtstelle, Psyche, Körperlichkeit und Entseelung begegnen sich. Diese Interdiskursbastelei öffnet den Text für neue subjekt- und gesellschaftsbildende Effekte, sie ermöglicht die Integration eines Anderen, eines Heterogene, wodurch das Unbewusste berührt, das ›Transzendentale ange172
IV. ANALOGIEN AUF DER EBENE DER TIEFENSTRUKTUR
zapft‹ und Enthusiasmus hervorgerufen wird. Gerade der Enthusiasmus, die Euphorie und Ekstase spielen bei Hoffmann im Zusammenhang mit Musikbeschreibungen eine wesentliche Rolle. Das Stück Beethovens Instrumentalmusik widmet sich in äußerster Euphorie der Besprechung einiger Musikstücke, zudem gerät Kreisler beim Kunstgenuss häufig in Zustände des Entzückens und der Entrückung.53 Die dargestellten Intensitäten des Enthusiasmus werden literarisch durch die thematische Zentrierung von Musik umgesetzt. Indem sich insbesondere in den Kreisleriana alle Stücke auf eine Weise mit Musik beschäftigen, erfährt das Thema eine polyperspektivische Beleuchtung und eine diskursinterferierende Stellung. Durch die Subsumierung unterschiedlicher Diskurse unter einen Themenbereich, bekommt die Musik einen interdiskursiven Charakter, der ihr das Moment des Euphorischen einschreibt.54 Die romantische Diskursposition beschreibt Link als die ›Verabscheuung der realistischen Diskursposition‹, was eine Umwertung überbrachter Symbole bedeutet. Bei Hoffmann erfahren Motive wie Wahnsinn und Feuer oder Nacht einen Bedeutungswechsel, ihre ursprünglich negative Konnotation bekommt eine positive Wertung. Existiert bei Kreisler zwar einerseits die Angst vor dem wahren Wahnsinn, so weiß er ihn als gespielte Verrücktheit andererseits für sich zu nutzen. Indem er eine Form von Wahnsinn vortäuscht, grenzt er sich von seinen Mitbürgern ab und stellt sie in ihrer Konformität und Intoleranz bloß. Der inszenierte Wahnsinn gilt ihm als Merkmal seiner Andersartigkeit und als Auszeichnung seines Künstlertums, so unterschreibt er seinen Brief an den Baron Wallborn mit »Johannes Kreisler Kapellmeister wie auch verrückter Musikus par exellence.« (75) Im Zuge der antirevolutionären Haltung erfuhren Symbole wie ›Gewitter‹ oder ›Brand‹ eine negative Bewertung. Hoffmann konnotiert Feuer jedoch als positive Energie, wenn er von der ›im Feuer arbeitenden Phantasie‹ (30) spricht und ihm Töne »wie in einer Feuergarbe zusammenhaltend, zum flammenden Bilde werden« (18). Die für die Aufklärung negativ besetzte Dunkelheit erfährt ebenfalls eine Aufwertung, es ist vom »Reich der Nacht« die Rede, und für Kreisler ist die Nachtzeit die helle, schöpferische, an- und aufregendeste Zeit (4). Die romantische Basisopposition von Alltag und Poesie, Umwertungen, 53 Auf die Wirkung von Musik wird später im Zusammenhang mit der Theorie Kristevas noch detaillierter einzugehen sein, vgl. Teil IV.3. 54 Zum Begriff des ›Enthusiasmus‹ durch Interdiskursbastelei vgl. Jürgen Link, metamorphosen der romantischen kulturrevolution, S. 47. 173
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Diskursbasteleien sowie das Schwanken zwischen De- und Reterritorialisierung sind konstitutiv für das Hoffmann’sche Kreislerianum. Katachresen-Mäander und Diskurskombinatorik begründen die Arabeske sowie den Witz, so dass ein moderner Mythos generiert wird. Innerhalb eines Kreislerianums ergibt sich eine poetische Integration der unterschiedlichen Lebensbereiche durch Diskurskombinatorik. Harnischfeger wirft den Hoffmann’schen Kreisleriana vor, einer gewissen »privaten Mythologie«55 verhaftet zu sein, da die Kommunikationsfähigkeit ihres Protagonisten eingeschränkt bleibt. Dem sei entgegenzusetzen, dass die Figur des Johannes Kreisler sicherlich keine Integrationsfigur oder gar eine Trixtergestalt ist, die Gegensätze vereint und vermittelnde Funktionen erfüllt. Doch das Konzept eines Kreislerianums besteht aus vielen Komponenten, sein Protagonist stellt eine Position der Basisopposition von Alltagsbereich und transzendentalem Bereich dar, die andere Seite wird durch Nebenfiguren auf wechselnden Schauplätzen repräsentiert. Eine private Mythologie dürfte von nur einem individuell verständlichen Spezialdiskurs bestimmt sein, was der Definition von Mythos an sich schon widerspräche, das Hoffmann’sche Kreislerianum bedient sich jedoch zahlreicher Diskurse und verknüpft diese miteinander. Durch die Interdiskursbastelei erzielt es, mit einem Begriff von Jürgen Link ausgedrückt, einen »magischen« Effekt.56 Der Wechsel von Diskursdifferenzen und dem Verknüpfen unterschiedlicher Diskurse untereinander hat subjektbildende, aber auch kultur- und gesellschaftsbildende Folgen. Wird ein Diskurs einem anderen eingeschrieben, kommt das einer Aufforderung der Subjektintegration an die Individuen gleich, der Gebrauch einer Einheit verschiedener Diskurse durch unterschiedliche Individuen produziert ein Stück Vergesellschaftung dieser Individuen. Die gesellschaftlichen Folgen der Diskursintegration stellen für die Romantiker den ›magischen‹ Effekt als die Folge eines »gelungenen anzapfens des ›transzendentalen‹ bereichs«57 dar. Die Einschränkung des Kreislerianums auf einen eng umrissenen Privatbereich scheint aufgrund dieser Überlegungen hinfällig zu sein, im Gegenteil muss dem Konzept eine gesellschaftliche Relevanz zugestan-
55 Johannes Harnischfeger: Die Hieroglyphe der inneren Welt, Opladen: Westdeutscher Verlag 1988, S. 11. 56 Jürgen Link: metamorphosen der romantischen kulturrevolution, S. 47. 57 Ebd. 174
IV. ANALOGIEN AUF DER EBENE DER TIEFENSTRUKTUR
den werden, die seine Struktur als diejenige eines modernen Mythos bestimmt. Ob Schlegel mit seinem Konzept der Neuen Mythologie mehr die Vielheit oder mehr die Einheit gefordert hat, ob es ihm eher um die Differenz oder die Harmonie im Chaos ging, ob Hoffmann die ursprüngliche Dissonanz hinter allem gesehen hat oder vielmehr Heterogenität als integrative, systematisierte Einheit darstellen wollte, wäre nur unter Verleugnung der vorherrschenden Diskulturalität zu beantworten. Deutlich ist, dass Schlegel die Integration der unterschiedlichen Diskurse fordert, wenn er von einer synthetischen Funktion des Mythos spricht, Theorie und Praxis, Ratio und Sinnlichkeit, Philosophie und Poesie will er vereint sehen. Schlegel betrachtet die Neue Mythologie als im Dienste der Ideen, der Vernunft und der Versinnlichung stehend, und als obersten Grundsatz setzt er die Freiheit aller Geister. Doch was dieses Postulat konkret bedeutet, muss an der Praxis der Romantiker selbst analysiert werden. Die Frage verschiebt sich dahin, mit welchen kunstästhetischen Verfahrensweisen die Romantiker gearbeitet haben und mit welchem Effekt sie das getan haben. Link weist daraufhin, dass es nicht wie in der oben angedeuteten Diskussion darum gehen kann, die Widersprüche, das Heterogene und Ambivalente einer romantischen Struktur auf Einheit hin zu deuten oder seine Intention in der Inkohärenz zu suchen. Vielmehr gilt es mit Hilfe des operativen Instrumentariums die Verfahren der »punktuellen diskurskombinatorik sowie die abneigung gegen reterritorialisierung«58 als tiefenstrukturell verankerte Ursache dieser Disparität und als strukturelles Kennzeichen eines neuen Mythos zu bestimmen. Aufgrund dieser tiefenstrukturellen Merkmale entstehen erst Inkohärenz, Juxtapositionen und Widersprüche auf der Oberflächenstruktur. Hoffmann bedient sich einiger von Schlegel geforderter Elemente wie beispielsweise der Inszenierung des Chaos im Kater MurrRoman, Schlegel betrachtet das Chaos als die eigentliche Grundform des mythologischen Gedichts. Auch die ästhetische Darstellung einer Idee scheint bei Hoffmann literarisch umgesetzt zu sein, indem er die Synthese zwischen sinnlich Wahrnehmbarem, als interdiskursiver Musikdarstellung und rationalem Erkennen in Form von musiktheoretischen Momenten verfolgt. Festzuhalten bleibt, dass das Arabeskenhafte der Interdiskursbastelein und der Katachresen-Mäander, die Diskursinterferenzen und die Verwendung von Kollektivsymbolik sowie
58 Ebd., S. 50. 175
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eine stete Vermeidung von Fixierung und Zentralisierung in dem Hoffmann’schen Kreislerianum einen neuen Mythos generieren.
Schumanns Kreisleriana und die Neue Mythologie Dominieren die gleichen Verfahrensweisen die Kreisleriana von Robert Schumann? Es scheint sinnvoll zu sein, wie bereits bei der Analyse des Hoffmann’schen Textes, nicht hermeneutisch vom romantischen Postulat einer Neuen Mythologie ausgehend die Musik zu beleuchten, sondern direkt den operativen Weg einzuschlagen und zu untersuchen, mit welchen Verfahren welche Effekte in den Schumann’schen Kreisleriana erzielt werden. In den Schumann’schen Kreisleriana ist ebenfalls ein ›Blütenstaub‹ von einzelnen elementar-musikalischen Motiven gesammelt und miteinander verflochten worden, wobei die arabeskenhaften Strukturen bereits nachgewiesen wurden.59 Unterschiedliche musikalische Diskurse (Fugenteile, Choralelemente, Bachscherstil, gesangliche und virtuose Teile) werden aufgeführt und zu einem verschlungenen Ganzen zusammengeführt, welches sich gleich einer Diskursinterferenz gestaltet. Jeder Formtyp, ob Fuge oder Choral, Rondo oder polyphoner Barockstil, verfügt über eigene Ausdruckmöglichkeiten und eigene ›Grenzen der Sagbarkeit‹.60 Es kann von einer Diskurskombination gesprochen werden, welche die synthetisierende Funktion einer neuen Mythologie erfüllt. Nicht nur diese Interdiskursbastelei auch rhythmische Verrückungen und harmonische Verschiebungen entzünden sich, sie erzeugen eine romantische Witzstruktur und lassen keine Fixierungen zu. Das Kombinierte, das Spezifische und das Extreme konstituieren einerseits eine inkohärente, widersprüchliche Kontrastlandschaft, die andererseits durch arabeskenhafte Elemente, durch Integration und mäandrische Stimmführung interferiert wird. Bezeichnender Weise wird die Arabeskenstruktur der Kreisleriana von Seiten der Rezeption mit der Assoziation eines wild wuchernden, in sich verschlungenen Dschungels in Verbindung gebracht61, was dem romantischen Kollektivsymbol der Pflanze entspricht: »wuchernder urwald, dschungel«62 bezeichnen eine kollektive Deterritorialisie59 Vgl. Teil III 5.2. dieser Arbeit. 60 Zum Diskursbegriff und den ›Grenzen der Sagbarkeit‹ vgl. in dieser Arbeit Teil VI, 2. 61 Vgl. Teil III 5.2. dieser Arbeit. 62 Jürgen Link: metamorphosen der romantischen kulturrevolution, Tabelle S. 48. 176
IV. ANALOGIEN AUF DER EBENE DER TIEFENSTRUKTUR
rung, betonen somit die Abneigung gegen neue Fixierung und propagieren ein Ausschweifen und Entgrenzen. Das Schumann’sche Kreislerianum verweigert eine Reterritorialisierung, indem es immer wieder aufbricht, sich keinem Stil, keiner Harmonik oder Rhythmik gegenüber verpflichtet sieht und nach kurzer Ruhephase oder Selbstfindung wieder ›losläuft‹ zu neuen Orten. Bereits die erste Fantasie, deren hochschnellendes Anfangsmotiv durch den ruhig fließenden, piano gehaltenen und wesentlich gesanglicheren Mittelteil ›geerdet‹ zu sein scheint, verfällt wieder in sein Anfangsmotiv und endet in einem einzigen großen, Aufbruch im Fortissimo. Diese Phänomene, die bereits als Merkmale der Oberflächenstruktur beschrieben wurden, sind Ursache für die Dominanz von Inkohärenz und Widersprüchen. Auf der Basis operationaler Überlegungen generieren die Schumann’schen Kreisleriana einen neuen Mythos aus folgenden Überlegungen: Sie verfügen über arabeskenhafte Strukturen, die sich durch Diskurskombinatorik und ständige Aufhebung des eben Gesetzten, also durch Abneigung von Reterritorialisierung auszeichnen. Diese Tendenz scheint in dem letzten Stück durch den verschwindenden, sich auflösenden Charakter, aber auch durch fehlende Kohärenz und permanentes Fortstreben in neue Landschaften während des gesamtes Werkes bestätigt zu werden. Heterogenität und Kontraststruktur sind die Folge dieser Diskurskombinatorik und dem steten Drang zur Entgrenzung. Effekt dieser Heterogenität und Widersprüche ist wiederum die Berührung des Unbewussten. Durch die bewusste Inkohärenz, das punktuelle Aufblitzen von Schaltstellen zwischen einzelnen Kontrasten werden disparate Elemente miteinander kombiniert und berühren das Unbewusste wesentlich intensiver als kohärente Strukturen.63 Hieraus ergibt sich eine subjekt- und gesellschaftsbildende Funktion, die dem modernen Mythos eigen ist. Sie erzielt einen ähnlichen ›magischen‹ Effekt, wie er bereits beschrieben und als einer Mythenstruktur wesentlich definiert wurde.
Zusammenfassende Betrachtung Das Konzept eines Kreislerianums operativ betrachtet arbeitet nach diesen Überlegungen mit dem Wechsel von Deterritorialisierung und Reterritorialisierung, es herrschen punktuelle Diskurskombinatorik sowie eine Abneigung gegen jegliche Art von Zentralisierung und Fixie63 Vgl. hier zu auch Jürgen Link: metamorphosen der romantischen kulturrevolution, S. 50. 177
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rung vor. Effekt dieses kunstästhetischen Verfahrens ist ein ständiges Finden und Verlieren, ein kurzfristiges Setzen und sofortiges Aufbrechen und Ausschweifen, »diese künstlich geordnete Verwirrung, diese reizende Symmetrie von Widersprüchen, dieser wunderbare Wechsel von Enthusiasmus und Ironie«64 prägen Inkohärenz und Widerspruch. Es wird weder eine letzte Einheit oder eine Harmonie der Widersprüche noch die ursprüngliche Dissonanz hinter allem in Aussicht gestellt, vielmehr drängt sich durch Diskurskombinatorik ein permanentes ›Anzapfen transzendentaler Energien‹ mit seinem magischen subjekt- und gesellschaftsbildenden Realeffekt in den Vordergrund sowie ein stetes Umwerten des Vorangegangenen und ein Ausschweifen des eben Gesetzten.
M y t ho s u n d M u s i k – e i n s tr u k tu r al i s ti sc h e s K o n z e p t n ac h C l a u d e L é v i - S t r a u s s Mit seinem Entwurf eines Kreislerianums schließt E.T.A. Hoffmann sich einer Reihe frühromantischer Musik- und Musikererzählungen an, die sich unter musiktheoretischen und philosophischen Aspekten mit Musik als Zeichensystem beschäftigen. Die Idealisierungen aber auch die Aporien der Musik als Sprache werden thematisiert, Widersprüchlichkeiten des musikalischen Sprachkonzepts der Frühromantiker werden reflektiert und problematisiert. Die Umsetzung einer solchen Musikpoetologie geschieht nach der These Christine Lubkolls durch den Mythos Musik. Lubkoll sieht hierin »die Bewältigungsform einer unlösbaren poetologischen Aporie: des Versuchs, Grenzen des Sagbaren sprachlich zu überschreiten bzw. das Vergebliche dieser Anstrengung poetisch zu überspielen.«65 Indem der Hoffmann’sche Prosatext einem Organisationsmodell von Aporien gleicht und versucht, »Unbegreifliches und Unlösbares in eine erträgliche Form zu gießen«66, erfüllt er die Funktion eines Mythos im Sinne von LéviStrauss. Der Mythos existiert nach Lévi-Strauss gleichzeitig in der Sprache und jenseits der Sprache, da ihm die Rolle des Vermittlers »zwischen den Mächten oben und der Menschheit unten zufällt«67, 64 65 66 67
Friedrich Schlegel: Gespräch über die Poesie, S. 318 f. Christine Lubkoll: Mythos Musik, S. 12 f. Ebd. Claude Lévi-Strauss: Mythos und Bedeutung. Fünf Radiovorträge. Gespräche mit Claude Lévi-Strauss, hrsg. v. Adelbert Reif, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1980, S. 45. 178
IV. ANALOGIEN AUF DER EBENE DER TIEFENSTRUKTUR
und er ist »die Versöhnung des in der Vernunft und in der Kultur Unversöhnlichen in der Erzählung; eine Befriedigung dessen, was sich synchronisch bekämpft, im Diachronischen.«68 Der Mythos besitzt demnach die Fähigkeit, scheinbar unvermittelbare Gegensätze, wie den Antagonismus der Idee einer unbestimmten »allgemeine[n] Sprache der Musik« und den »Versuch, bestimmt durch die Musik zu sprechen«69 zu überwinden, so formuliert Novalis den Widerspruch des Mythos Musik, der mit der Schlegel’schen Idee einer »Neuen Mythologie« innerhalb der ästhetischen Diskussion der Frühromantik einhergeht.70 Friedrich Schlegel definiert in seiner Schrift Rede über die Mythologie: »Die Mythologie ist ein solches Kunstwerk der Natur. In ihrem Gewebe ist das Höchste wirklich gebildet; alles ist Beziehung und Verwandlung, angebildet und umgebildet, und dieses Anbilden und Umbilden eben ihr eigenthümliches Verfahren, ihr inneres Leben, ihre Methode wenn ich so sagen darf.«71
Hieraus leitet Lubkoll den strukturellen Aspekt einer »potentiellen Unabschließbarkeit«72 des Mythos ab. Mythen sind zwar statisch, da sie sich in einem geschlossenen System bewegen, doch innerhalb dieses Systems werden »ein und dieselben mythologischen Elemente immer neu kombiniert«.73 Diese konstitutiven Einheiten des Mythos, diese Ereignis- oder Beziehungsbündel, die sogenannten Mytheme, ergeben eine konstante Gesamtstruktur, die sich in einem permanenten dynamischen Prozess befindet. Die Organisationsstruktur des Mythos hat Claude Lévi-Strauss mit einer Orchesterpartitur verglichen. Beide, der Mythos und die Partitur, können nicht als eine kontinuierliche Abfolge verstanden werden, sie können nicht »Zeile für Zeile, von links nach rechts« gelesen werden, da sonst ihr Sinn nicht begriffen werden kann. Sie müssen als ein Ganzes, also sowohl horizontal als auch vertikal gelesen werden. Den Mythos und die Musik versteht LéviStrauss als zwei Zeichensysteme, welche die gesprochene Sprache 68 Ebd., S. 266. 69 Novalis, »Allgemeines Brouillon Nr. 245«, S. 9. 70 Zur ›Neuen Mythologie‹ der Frühromantik vgl. auch Manfred Frank, Der kommende Gott, S. 266. 70 Novalis ›Neuen Mythologie‹ der Frühromantik vgl. auch Manfred Frank: Der kommende Gott. 71 Friedrich Schlegel: Rede über die Mythologie, S. 318. 72 Christine Lubkoll: Mythos Musik, S. 13. 73 Claude Lévi-Strauss: Mythos und Bedeutung, S. 53. 179
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transzendieren: die Musik klanglich und der Mythos sinnbildhaft. Während die Musik mit der Sprache auf der lautlichen Ebene korrespondiert, trifft sich der Mythos in der Sprache mit dem Wort, ihnen gemeinsam ist der Satz.74 Eine erste Zusammenführung von Musik und Mythos sieht Lévi-Strauss in den Kompositionen Richard Wagners, durch dessen Leitmotivtechnik erstmals eine Analyse der Mythen stattgefunden habe. Indem jedes Motiv einem oberflächenstrukturellen logischen Handlungselement zugeordnet ist, entsteht ein Paradigma, so dass die Handlung über die Musik synchronisiert wird. Schicksalhafte, rational nicht fassbare Verknüpfungen werden durch die Musik bewusst und sichtbar gemacht. Die Musik fungiert als ein Katalysator hinsichtlich der Überwindung von Antagonismen. Um die Tiefenstruktur eines Mythos zu erkennen, müssen die Mytheme, die konstitutiven Beziehungsbündel, als wiederkehrende Elemente synchronisiert werden und zwischen ihnen eine Äquivalenz- und Oppositionsrelation erstellt werden. Der Mythos muss also diachron gelesen werden und synchron verstanden werden: »Basiert in der Partitur die Zuordnung in der Vertikalen auf dem Prinzip der Harmonie, so beim Mythos auf dem der Äquivalenz.«75
Die Hoffmann’schen Kreisleriana mit Claude Lévi-Strauss gelesen In der Lesart einer Orchesterpartitur die Tiefenstruktur der Hoffmann’schen Kreisleriana im Sinne Lévi-Strauss zu analysieren, bedeutet eine rational nicht fassbare Äquivalenz- und Oppositionsrelation innerhalb des Textes zu entdecken, die als ein konstitutives Ereignisbündel, als ein Mythem der Struktur zugrunde liegt. Die Verknüpfung des Zeichenbegriffs bzw. des Problems der Schrift mit Tod, Weiblichkeit und Musik ist eine solche logisch zunächst nicht nachvollziehbare Konstellation, die als ein rekurrierendes Beziehungsbündel für Hoffmanns Kreisleriana konstitutiv ist. Dieses Mythem beschreibt Manfred Momberger als das für den Text relevante »Verhältnis von Schrift (Buchstabe, Schreibweise, écriture) und Musik und ihre wechselseitige Verflechtung mit Sexus und Tod.«76 Bereits in der Vorrede zu den Kreisleriana wird Kreisler als mit »zwei Rastralen, 74 Vgl. Cornelia Klettke: »Die Affinität zwischen Mythos und Musik«, in: Albert Gier, Gerold W. Gruber (Hg.), Musik und Literatur, S. 61-82. 75 Cornelia Klettke: Die Affinität zwischen Mythos und Musik, S. 64. 76 Manfred Momberger: Sonne und Punsch, S. 75 f. 180
IV. ANALOGIEN AUF DER EBENE DER TIEFENSTRUKTUR
wie Dolche in den roten Leibgürtel gesteckt« (5) beschrieben. Die Rastralen als Hilfsmittel zum Malen von Notenlinien dienen der schriftlichen Fixierung von Musik, doch der Vergleich mit zwei Dolchen spielt bereits auf das Problem der Schrift an. Die Dolche als Signifikanten für den Zeichenbegriff werden in der folgenden Erzählung zu (Selbst-)Mordinstrumenten, wenn Kreisler ankündigt sich mit einer ›übermäßigen Quinte zu erdolchen‹ (vgl. 64), oder wenn das Burgfräulein in der Erzählung des Chrysostomos von »vielen Dolchstichen ermordet und verscharrt« (119) aufgefunden wird. Hier ist bereits der Bezug zum Weiblichen gegeben. Die weibliche Stimme spielt auch in anderen Kreisler-Erzählungen eine zentrale Rolle. So wird Johannes Kreisler z.B. in dem Kreislerianum Ombra adorata! von dem Gesang einer »herrlichen Sängerin« (17) betört, und in dem Stück Der Musikfeind ist es die Stimme der Tante, die den »Musikfeind« in höchste Rührung versetzt (97). In dem Kater Murr-Roman bedeutet der Gesang der Julia die einzige Entschädigung für Kreislers ›musikalische Leiden‹ und in der Berganza-Erzählung betet Kreisler die von ihm hochgeschätzte Gesangskünstlerin »Fräulein Cäcilia« an.77 Schließlich ist in Johannes Kreislers Lehrbrief von dem »herrlichen Gesang des Fräuleins« (120 f.) die Rede. Der Lehrbrief Kreislers stellt eine Zusammenführung oder – mit einem musikalischen Terminus ausgedrückt – eine ›Engführung‹ der Komponenten von Schrift, Tod, Weiblichkeit und Musik dar. Der Mord durch zahlreiche Dolchstiche verweist auf den Dolch als Signifikanten für die Schrift – »Rastralen wie Dolche« (5) – und stellt den Bezug zwischen Tod und Weiblichkeit her. Der weibliche Gesang liegt mit der Laute, dem Instrument eines Unbekannten, unter einem Stein ›begraben‹. Indem der Fremde aus der Erzählung die Stimme des Fräuleins schulte und ihren Gesang auf seiner Laute begleitete, übernahm er die weibliche Musik, doch schafft er aus dieser Verbindung keine neuen, eigenen Kompositionen. Durch die Ermordung der Frau und die Zertrümmerung der Laute vereinen sich weibliche Stimme und männliches Instrument in einem gleichzeitigen Tod sowie einem gemeinsamen Grab unter dem Stein und kreieren ein neues Zeichensystem: Die Oberfläche des Steins zeichnet sich durch »rötliche Adern« (119) aus, die in »geheimen, wundervollen Zeichen« (120) die »Lieder des Fräuleins in den leuchtenden Tönen ihrer anmutigen Stimme« (120) in eine geheime Chiffrenschrift verschlüsseln. Die Musik der toten Frau ist in den lesbaren
77 Diesen Hinweis verdanke ich Christine Lubkoll: Mythos Musik, S. 274. 181
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Moosen des Steins zu Text geworden und offenbart dem Chrysostomos seine künstlerische Identität: »Ich sah den Stein – seine roten Adern gingen auf wie dunkle Nelken, deren Düfte sichtbarlich in hellen, tönenden Strahlen emporfuhren. In den langen, anschwellenden Tönen der Nachtigall verdichteten sich die Strahlen zur Gestalt eines wundervollen Weibes, aber die Gestalt war wieder himmlische, herrliche Musik!« (122)
Bezeichnend für die Rolle des Chrysostomos ist, dass er selbst nie die Stimme des Fräuleins gehört hat und dennoch durch die Betrachtung des Steins »holde, herrliche Geisterstimmen« (122) vernimmt, die ihn zu seinen Kompositionen inspirieren. Der weibliche Gesang tritt durch den Tod in lesbaren Zeichen an die Oberfläche und ermöglicht Chrysostomos eine Erkenntnis seiner selbst: »[...] im Grase liegend, an den Stein gelehnt, hörte ich oft, wenn der Wind durch des Baumes Blätter rauschte, es wie holde, herrliche Geisterstimmen ertönen, aber die Melodien, welche sie sangen hatten ja längst in meiner Brust geruht und wurden nun wach und lebendig.« (122) Christine Lubkoll sieht hierin eine kulturell tradierte, eine bereits mythische Konstellation, denn »die Ausschließung des Weiblichen, seine Verortung im Bereich des Imaginären und der damit zugleich stattfindende ›Textraub‹«78 sei z.B. für den Roman Hildegard von Hohenthal von Wilhelm Heinse konstitutiv, und auch die Texte Rat Krespel und Die Fermate von E.T.A. Hoffmann thematisieren die weibliche Stimme und setzten sie in ein vergleichbares Verhältnis zum männlichen Instrument. Friedrich A. Kittler versteht das Zusammenspiel von weiblicher Stimme und männlichem Instrument als wesentliches Merkmal und zentrale Errungenschaft der Auffassung von Sprach- und Leseerwerb und von Schrift um 1800. Während zuvor die Rolle der Frau außerhalb der Bildungskarriere des Kindes verortet wurde, begann mit den Reformpädagogen durch die Herausgabe expliziter »Fibeln für Mütter« eine Schulung der Mütter zu Sprachlehrerinnen. Das darin umgesetzte revolutionierte Verständnis vom Buchstaben als Laut statt als arbiträrem Schriftzeichen betont den Klang, den Körper, die Stimme und die Oralität: »Sie [die Sprache, M.B.-A.] hat eine vibrierende Natur angenommen, die sie vom sichtbaren Zeichen löst, um sie der Mu78 Christine Lubkoll: Mythos Musik, S. 274. 182
IV. ANALOGIEN AUF DER EBENE DER TIEFENSTRUKTUR
siknote anzunähern.«79 Das Instrument, auf dem diese Musik gespielt wird, ist der Mund, so dass die Sprache als die Musik des Mundinstruments verstanden wird und das Schreiben/die Buchstaben die Komposition/die Noten für dieses Instrument darstellen. Die Fertigkeiten zur Beherrschung des Mundinstruments vermittelt die Mutter. Sie bedient den Muttermund, den Körper, die Stimme. Es folgt eine Aufgabenteilung, die der Mutter die Mündlichkeit, das Singen, die Sprache sowie das Lesen und dem Vater das Schreibenlernen und den Umgang mit dem Schreibinstrument zuweist: »Von Weibern muß man reden, von Männern schreiben lernen.« Die Verbindung von Natur und Weiblichkeit ist ebenfalls in dieser Aufteilung von Mündlichkeit und Frau und Schriftlichkeit und Mann begründet. Dadurch dass die Funktion der Frau im Aufschreibesystem um 1800 darin gesehen wurde, Menschen hier also Männern die Sprache zu vermitteln, wurde ihr die Aufgabe übertragen, den Übergang vom Naturlaut zum Sprachlaut zu fördern. Weiblichkeit integriert Natur und Kultur in Form von Stimme, Gesang und Sprache. Das Vorkommen einer ›Urschrift‹ in der Natur bleibt also zunächst immer mit Weiblichkeit und der weiblichen Stimme verbunden bzw. kann nur durch die Frau verstanden werden. Urschrift wie sie in der Literatur um 1800 verstanden wurde, kann nicht gelesen werden und bleibt ohne Bedeutung, was auch bei Hoffmann deutlich wird: Die Mutter Natur selbst verschließt sich in Rätseln, »in geheimen, wundervollen Zeichen« (120), doch sie schürt ein Verlangen, wie am Beispiel der Moose, des Steins und dem »geheimnisvolle[n] Ort unter dem Baum« (122) zu sehen, das durch die Rede ihrer Liebhaber, hier durch Chrysostomos, zur Sprache kommt. Auf diese Weise schafft die Natur eine Form erster Mündlichkeit und gebirt, mit Kittler gelesen, den Sprachursprung. Diese die Sprache gebärende Mütterlichkeit findet sich in der häuslichen Situation wieder, wenn das Kind von der Mutter zunächst das Sprechen und später auch das Lesen erlernt und verknüpft durch frühkindliche Erfahrung Weiblichkeit mit Stimme, Klang bzw. Musik. Es ergibt sich eine Abhängigkeit von Weiblichkeit und Schriftverständnis, so dass nur durch das imaginäre Vorhandensein der Frau und ihrer Stimme die Urschrift gelesen werden kann:
79 Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt/M. 1966/1971, S. 348f., zitiert in: Friedrich A. Kittler, Aufschreibesysteme 1800/1900, München: Wilhelm Fink Verlag, S. 38. 183
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»Sooft das Pförtchen in der Gartenmauer nicht verschlossen war, schlüpfte ich hinaus zu meinem lieben Stein, an dessen Moosen und Kräutern, die die seltsamsten Figuren bildeten, ich mich stattsehen konnte. Oft glaubte ich die Zeichen zu verstehen, und es war mir, als sähe ich allerlei abenteuerliche Geschichten, wie sie die Mutter mir erzählt hatte, darauf abgebildet, mit Erklärungen dazu.« (119f.)
Die Moose und Kräuter haben einerseits die Bildqualität von Naturzeichen und sind darüber hinaus durch die Stimme des toten Mädchens bestimmt. Diese Kombination macht die Hieroglyphen des Steins verständlich: »Wie beim Lautieren werden optische Zeichen vom imaginären Nachhall des Muttermundes derart umwoben, daß statt der Signifikanten deren Signifikate zu ›sehen‹ sind. Als wäre der Text ein Film.«80 In weiteren Arbeiten und an unterschiedlichen Textbeispielen wurde in der jüngeren Literaturgeschichtsschreibung auf dieses Beziehungsbündel von Weiblichkeit, Stimme und Tod hingewiesen.81 Die Rolle der Frau und ihrer Stimme untersucht Susanne Asche, die den Zusammenhang von Kunst, Tod und Weiblichkeit an dem Texten Die Elixiere des Teufels sowie an dem Kreislerianum Johannes Kreislers Lehrbrief herausarbeitet. Sie stellt fest, dass »Hoffmanns Verbindung von Natur und Weiblichkeit [...] die Natur mit einem weiblichen Körper [unterlegt, M.B.-A.], dessen Tod Voraussetzung ist für die ›himmlische, herrliche Musik‹. Der Komponist erweckt etwas zum Leben, was tot ist, was tot sein muß, damit Kunst entstehe. Eine mörderische Verbindung von Musik, Natur und Weiblichkeit.«82 Aus ihrem Konzept, dass Musik, Natur und Weiblichkeit notwendig mit dem Tod verbunden sein müssen, um Kunst bzw. Musik zu er80 Friedrich A: Kittler: Aufschreibesysteme 1800/1900, S. 92. 81 Christine Lubkoll verweist auf: Elisabeth Bronfen, Over her dead body. Death, feminity and the aesthetic. Manchester 1992; Renate Berger, Inge Stephan (Hg.), Weiblichkeit und Tod in der Literatur, Köln, Wien 1987; Susanne Asche, Die Liebe, der Tod und das Ich im Spiegel der Kunst. Die Funktion des Weiblichen in Schriften der Frühromantik und im erzählerischen Werk E.T.A. Hoffmanns, Königstein/Ts. 1985; Manfred Momberger, Sonne und Punsch. Die Dissemination des romantischen Kunstbegriffs bei E.T.A. Hoffmann, München 1986. 82 Susanne Asche: Die Liebe, der Tod und das Ich im Spiegel der Kunst. Die Funktion des Weiblichen in Schriften der Frühromantik und im erzählerischen Werk E.T.A. Hoffmanns, Königstein/Ts.: Hain 1985, S. 105; Asche verweist außerdem auf einen Vortrag von Marianne Schuller, Literarische Szenerien und ihre Schatten. Orte des ‚Weiblichen‘ in literarischen Produktionen, gehalten am 28. Juni 1979 in Marburg. 184
IV. ANALOGIEN AUF DER EBENE DER TIEFENSTRUKTUR
zeugen, entwickelt Asche ihre Theorie einer Poesie vor dem Spiegel.83 Dadurch dass sich der weibliche Gesang auf die Oberfläche des Steins sichtbar überträgt, erfüllt der Stein für Chrysostomos die Funktion eines Spiegels. Hier wird seine Ich-Spaltung, die in der Unvereinbarkeit des väterlichen Gartens mit der Ära des Steins angedeutete Identitätsproblematik des Chrysostomos deutlich. Während Chrysostomos als Kind beim Betrachten des Steins von »wunderbarem, wonnevollen Schmerz« (121), von einer Sehnsucht und ›unbekannten Gesängen‹ wie von Geisterstimmen erfüllt wird, sucht er später die Distanz zu diesem Gefühl der Nähe und Innigkeit, so dass die Gesänge verstummen. Asche bezeichnet dieses als einen »Tod, der erst die Aneignung des Steins als Erkennen der in ihm bewahrten Wahrheit ermöglicht. Die Kunst und das Ich tragen die Zeichen des Todes – wie auch der ›Lehrbrief‹ insgesamt.« »Da Du, mein lieber Johannes, mir nun wirklich aus der Lehre laufen und auf Deine eigene Weise in der weiten Welt herumhantieren willst, so ist es billig, daß ich als Dein Meister Dir einen Lehrbrief in den Sack schiebe, den Du sämtlichen musikalischen Gilden und Innungen als Passport vorzeigen kannst. Das könnte ich nun ohne alle Umschweife tun, indem ich Dich aber im Spiegel anschaue, fällt es mir recht wehmütig ins Herz.« (116)
So beginnt das Kreislerianum Johannes Kreislers Lehrbrief, in das die Geschichte des Chrysostomos eingebunden ist. Bereits hier kündigt sich der Spiegel als eine Symbol für ein gespaltenes Ich an. Kreisler schreibt den Brief an sich selbst auf der Suche nach einer Zusammenführung seines sich selbst betrachtenden Ichs. Doch am Ende des Briefes steht das Sigel des Todes, das Kreuz. Die Versöhnung des zwiespältigen Subjekts wird nicht vollzogen, stattdessen bleiben der Brief und das Du im Spiegel bzw. das Spiegelbild. Kreisler und Chrysostomos als eine Doppelung Kreislers befinden sich auf der Suche, den Zwiespalt ihrer Reflexion zu überwinden.84 Chrysostomos gelingt eine einheitliche Reflexion durch die nachträgliche Betrachtung seines Spiegelbildes auf der Oberfläche des weiblich geprägten Steins, erst durch den Tod der weiblichen Stimme ist es ihm möglich, sich zu erkennen. Ebenso notwendig ist der Tod für Kreisler als das schreibende Ich, er findet den Tod vor dem Spiegel schreibend in der Schrift. Der Versuch einer einheitlichen Selbsterkenntnis wird zu 83 Ebd., S. 97 ff. 84 Ebd., S. 107. 185
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einem Gespräch mit dem Spiegelbild. Der Künstler kann alleine nicht zur (Selbst-)Erkenntnis und somit nicht zu einer Wahrheitsproduktion gelangen.85 Er muss zunächst ›sterben‹, um sein Ich als Abbild seiner Versuche einer Selbsterkenntnis im Spiegel betrachten zu können. Hoffmann vertritt hiermit eine Philosophie, die eine künstlerische Reflexion als unbedingt notwendig für den künstlerischen Schaffensprozess ansieht. Er praktiziert die Theorie der ›poetischen Reflexion‹ nach Friedrich Schlegel, diese »sich selbst reflektierende Reflexion ergibt den Fortgang zu einer endlosen Reihe von Spiegeln.«86 Der Spiegel Kreislers reflektiert das durch den Schreibprozess vernichtete Ich, er wird zum Kulminationspunkt der konstitutiven Beziehungsbündel, indem alles noch einmal Revue passieren soll: »Ich möchte Dir noch einmal alles sagen, was wir zusammen gedacht und empfunden« (116) und der Spiegel symbolisiert das für die romantische Kunst wesentliche Merkmal der ›poetischen Reflexion‹. Außerdem verweist das Gespräch mit dem Spiegelbild, also der ›Lehrbrief‹ Kreislers auf den kulturell tradierten Themenkomplex von Kunst, Tod und Weiblichkeit und greift somit den Gedanken des permanenten Fortschreibens und der potentiellen Unabschließbarkeit, des unendlichen ›Anbildens und Umbildens‹ des Mythos auf, den Schlegel in seiner Rede über die Mythologie formuliert. Diese romantische Idee einer Neuen Mythologie, über die es in dem Gespräch über die Poesie im Anschluss an den oben zitierten Abschnitt heißt: »Da finde ich nun eine große Ähnlichkeit mit jenem großen Witz der romantischen Poesie, der nicht in einzelnen Einfällen, sondern in der Konstruktion des Ganzen sich zeigt, und den unser Freund uns schon so oft an den Werken des Cervantes und des Shakespeare entwickelt hat. Ja, diese künstliche geordnete Verwirrung, diese reizende Symmetrie von Widersprüchen, dieser wunderbare ewige Wechsel von Enthusiasmus und Ironie, der selbst in den kleinsten Gliedern des Ganzen lebt, scheint mir schon selbst eine indirekte Mythologie zu sein. Die Organisation ist dieselbe, und gewiß ist die Arabeske die älteste und ursprünglichste Form der menschlichen Phantasie.«87
85 Vgl. Susanne Asche: Die Liebe, der Tod und das Ich im Spiegel der Kunst, S. 108. 86 Ingrid Strohschneider-Kohrs: Die romantische Ironie in Theorie und Gestaltung, S. 47. 87 Friedrich Schlegel: Rede über die Mythologie, S. 316 f. 186
IV. ANALOGIEN AUF DER EBENE DER TIEFENSTRUKTUR
übersetzt Jürgen Link in eine operative Lesart. Den ›großen romantischen Witz‹ als Diskursinterferenzen deutend, ergibt sich eine Analogie zwischen dem Verfahren des Witzes und dem des Kollektivsymbols. Während der Witz die semantische Strukturierung des Materials durch Äquivalenz- und Oppositionsbeziehungen bzw. durch Katachresen-Mäander bewusst vollzieht, generiert sich das Kollektivsymbol durch spontane Diskurskombinationen.88 Eine solche verfremdete Diskursinterferenz findet sich in der Kombination von Kunst, Tod und Weiblichkeit, sie wird durch den Aktanten Kreisler zu einer »symbolische[n] narration [...] mit arabeskenstruktur«89 angereichert und generiert somit einen modernen Mythos. Wie bereits erwähnt verweist Jürgen Link darauf, dass ein Beispiel solcher Diskursinterferenzen das Kollektivsymbol des Spiegels ist.90 Es wäre wahrscheinlich nicht angemessen zu sagen, dass die Hoffmann’schen Kreisleriana auf der Basis des Spiegels einen modernen Mythos kreierten, ihr Ausgangsphänomen ist wohl vielmehr der ›Mythos Musik‹, doch nach Susanne Asche spielt zumindest für das letzte Kreislerianum Johannes Kreislers Lehrbrief das Symbol des Spiegels eine zentrale Rolle.91 Die Kreisleriana reflektieren die Musik als ein Zeichensystem durch ihre poetologische Umsetzung von Musik in Musik- bzw. Musikererzählung. Sie sind bestimmt von einer »Überführung des Rätsels der ›Klangrede‹ in eine beherrschbare Struktur-Spekulation, die ihrerseits gleichsam als der perfekte ›Super-Mythos‹ erscheint.«92 Die Thematisierung von Kunst, Tod und Weiblichkeit entspricht dabei keinem individuellen Kennzeichen der Hoffmann’schen Kreisler-Erzählungen, sondern beruht auf einer etablierten, mythischen, tiefenstrukturellen Themenkonstellation. Die Kreisleriana sind somit in einen kulturellen Kontext gestellt und reihen sich einer Textproduktion im Sinne des ›Mythos Musik‹ an. So entspricht die Beschreibung einer Musik der Naturzeichen, der klingenden ›Chiffern‹ und ›Hieroglyphen‹ dem Verständnis vom ›Mythos Musik‹. Lubkoll verweist darauf, dass die vermeintlichen Naturzeichen in Johannes Kreislers Lehrbrief sich als bereits geäußerte literarische Postulate heraus88 Vgl. Jürgen Link: metamorphosen der romantischen kulturrevolution, S. 49. 89 Ebd. 90 Vgl. Teil III.1 dieser Arbeit zum Begriff des Kollektivsymbols ›Spiegel‹. 91 Vgl. Susanne Asche: Die Liebe, der Tod und das Ich im Spiegel der Kunst, S. 97 ff. 92 Christine Lubkoll: Mythos Musik, S. 290. 187
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stellen: in der Intertextualität zu dem Märchen Die Lehrlinge zu Sais von Novalis und im intratextuellen Bezug durch die Geschichte des Chrysostomos, in der wiederum auf die Erzählung des Vaters und auf »abenteuerliche Geschichten« (120) der Mutter zurückgegriffen wird.93 Aus dieser Einbindung in einen literarischen Kontext ergibt sich ein ›unendliches Sprechen‹ der Kreisler-Figur. Dieser von Michel Foucault94 geprägte Begriff impliziert auch die Textexistenz Kreislers, der sich ebenfalls als eine literarische Figur in den Diskurs der Literatur einreiht und somit Teil des ›unendlichen Sprechens‹ wird. Die Verwendung von literarisch tradierten Themenkonstellationen, von Äquivalenz- und Oppositionsbeziehungen und von Diskursinterferenzen sind wesentliche Tendenzen des modernen Mythos der Hoffmann’schen Kreisleriana.
Musikalische Mythenstruktur nach Lévi-Strauss Bei seiner Analyse zahlreicher Indianermythen beobachtete Claude Lévi-Strauss eine strukturelle Entsprechung zwischen Mythos und Musik. Sie müssen seiner Meinung nach nicht nur auf die gleiche Art gelesen werden, sondern sie verfügen auch über einen ähnlichen Aufbau. Lévi-Strauss geht davon aus, dass Analogien in der Struktur der Sätze vorliegen, die durch ›die methodische Ähnlichkeit von Mythenanalyse und Musikverständnis‹ deutlich werden. Diese These belegt er an der Leitmotivtechnik Richard Wagners, der nach Lévi-Strauss’ Ansicht als erster die Struktur der Mythen mit Hilfe der Musik analysiert und dargestellt hat. Wagner arbeitet die Ereignisbündel eines Mythos heraus und ordnet jedem Mythem ein musikalisches Motiv zu, so dass die Leitmotive vom Orchester gespielt die tiefenstrukturellen, logisch zunächst nicht nachvollziehbaren Beziehungen aufzeigt, während die übergeordnete Singstimme als eine ›unendliche Melodie‹ die logisch fortschreitende Handlung weiterführen. Die Schumann’schen Klavierkompositionen verfügen über keine Leitmotive, die tiefenstrukturelle Bezüge herstellen oder einzelne Ereigniskonstellationen darstellen könnten. Es existiert auch kein Prinzip von Thema, Wiederholung und Variation, das eine generative Einheit des gesamten Werkes erkennen ließe, und auch keine inhaltliche Wei93 Vgl. ebd. 94 Vgl. Michel Foucault: »Das unendliche Sprechen«, in: Ders., Schriften zur Literatur, aus dem Französischen übersetzt v. Karin v. Hofer u. Anneliese Boternd, München: Fischer 1974, S. 90-103. 188
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terentwicklung einzelner, konstitutiver Gedanken, die dem Ganzen als Basis dienten. Der Versuch, musikalische Motive für die Verknüpfung von Kunst, Tod und Weiblichkeit zu finden, (entsprechend der Methode von Lévi-Strauss, das Mythem aus Rheingold und Wallküre von Gold, Schwert und Frau in dem musikalischen ›Entsagungsmotiv‹ wieder zu entdecken) ist somit kein adäquates Verfahren. Die strukturalistische Vorgehensweise von Claude Lévi-Strauss, die motivischthematische Arbeit der Musik in dem Mythos als eine ursprünglich mythische Struktur ausgestaltet zu sehen, scheint zunächst nicht realisierbar. Doch die Verworrenheit, die strukturelle Freizügigkeit und das Chaos der Schumann’schen Gesamtkomposition unterliegen ebenso einem Konzept wie die festgelegten Regelwerke klassischer Kunst. So ist z.B. das Prinzip des ›künstlichen Anreihens‹ (124) kein individuell spezifisches Phänomen der Kreisleriana op. 16, sondern ein Prinzip, das sich in vielen Kompositionen Schumanns, z.B. in den Papillons, dem Carnaval oder den Nachtstücken, wiederfinden lässt. Zudem entspricht dieses Prinzip auch einer generellen Struktur zahlreicher Werke E.T.A. Hoffmanns. Dieser reiht ebenfalls häufig einzelne Erzählungen in einem Gesamtwerk aneinander, wie z.B. in den Fantasiestücken nach Callots Manier oder in den Nachtstücken, auch die Serapionsbrüder bestehen aus vielen Einzelepisoden. Kennzeichnend für den Genotext der Schumann’schen Klavierkomposition ist zudem ein unendliches Fortsetzen der Melodie. Die musikalischen Phrasen reihen sich aneinander, ohne dass ein formgebendes Prinzip erkennbar wäre. Die Musik scheint potentiell endlos weitergeführt werden zu können und somit einen Aspekt der später von Richard Wagner geprägten Idee einer ›unendlichen Melodie‹ vorwegzunehmen. Schumanns Musik realisiert nicht nur bereits die erweiterte Harmonik und die satztechnischen Freiheiten Wagners, sondern auch dessen stetig fortfahrendes, weiterführendes, erzählendes Kompositionsverfahren hinsichtlich der Singstimmen. Während die Musik der Klassik in strenge Vorder- und Nachsatzstruktur mit genau festgelegten Halbund Ganzschlüssen gegliedert ist sowie über geregelte funktionsharmonische Wendungen und eindeutige Wiederholungs- und Variationsprinzipien verfügt, lösen sich diese Formen in der romantischen Musik auf. Der streng organisierte, ›quadratische‹ Aufbau weicht einer offeneren, flexibleren, ›poetischen‹ Kompositionsweise. Schumanns lyrische Klavierkompositionen veranschaulichen den romantischen Stil exemplarisch. Seine Musik basiert nicht auf Vorder- und Nachsatzstrukturen, sie vollzieht vielmehr ein endloses Weiterschrei189
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ben von musikalischen Gedanken. Die Kreisleriana beschreiben eine ›unendliche Melodie‹ insofern, als dass sie nicht mit Wiederholung, Durchführung und Variation, mit Themavorstellung und Motivverarbeitung verfahren, sondern unvermittelt beginnen und ungeklärt, ohne musikalisches Resümee oder eine funktionsharmonische Lösung enden. Zudem konstruieren sie einen intertextuellen Bezugsrahmen dadurch, dass sie fremde Kompositionstechniken aufgreifen und aus anderen Werken Schumanns Melodieabschnitte zitieren. Es ergibt sich eine tiefenstrukturelle Analogie zwischen dem Moment der ›unendlichen Melodie‹ und dem Aspekt des ›unendlichen Sprechens‹: Indem beide Kreisleriana, die Hoffmann’schen und die Schumann’schen, intertextuelle Bezüge herstellen, reihen sie sich einem bereits existierenden literarischen bzw. musikalischen Diskurs an und setzen diesen mit einer Tendenz zum Endlosen in einer Form des ›unendlichen Sprechens‹ fort. Außerdem gehen die Hoffmann’schen Kreisleriana bzw. der von ihnen beschriebene Mythos Musik von einer unendlichen Fortspinnung der ›kontrapunktischen Verschlingungen‹ aus, von einer ewigen Existenz der Musik als »allgemeine[r] Sprache der Natur« (124), die sich in dem Gedankenmodell Wagners von einer ›unendlichen Melodie‹ als einer natürlichen, sich ewig fortsetzenden Erzählung wiederfindet und in der Schumann’schen Komposition bereits anklingt. Einen weiteren strukturalistischen Aspekt der tiefenstrukturellen Analyse bietet der Versuch, hinter der Inkonsequenz, dem Chaos und der Verworrenheit der Kompositionen, hinter dem Prinzip des ›künstlichen Anreihens‹ und dem Charakter des endlosen Weiterschreibens, eine Einheit oder einen ›roten Faden‹ auf der Ebene der Tiefenstrukturen zu entdecken. Dem Konzept der Inkonsequenz, der Zusammenhanglosigkeit und der Flüchtigkeit scheint der ›rote Faden‹ zu fehlen. Wie Ulrike Kranefeld in ihrer Arbeit Der nachschaffende Hörer. Rezeptionsästhetische Studien zum Schaffen Robert Schumanns herausgearbeitet hat, kennt Schumann unterschiedliche Erscheinungsformen der Kategorie des ›Fadens‹.95 So differenziert er in seiner Rezension der Klaviersonaten von Löwe den optisch und musikalisch konkret wahrnehmbaren von dem bloß erahnbaren Faden: »Wenn in der brillanten Sonate der Faden mehr sicht- und fühlbar war, so spinnt er sich 95 Vgl. Ulrike Kranefeld: Der nachschaffende Hörer: rezeptionsästhetische Studien zum Schaffen Robert Schumanns, Stuttgart: Metzler 2000. 190
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in der elegischen mehr geistig fort.«96 Schumann selbst versteht den Faden in seinem Klavierzyklus Papillons als ›kaum wahrnehmbar‹ und dieses Phänomen trifft auch auf die Kreisleriana zu, die bezüglich ihrer Struktur den Papillons ähnlich sind. Die Überschriften der Kompositionen mögen Teil des ›kaum sichtbaren Fadens‹ sein und weniger auf eine bildlich-inhaltliche Analogie anspielen als vielmehr Hinweis auf eine ästhetische Entsprechung sein. Indem die frühromantische Ästhetik mit ihrem Fragmentarismus, ihrem Arabeskenhaften, ihrem Grotesken, Unheimlichen und Phantastischen sowie ihren romantischironischen Strukturen sowohl dem Hoffmann’schen als auch dem Schumann’schen Werk eigen ist, existiert das Prinzip des Unbestimmten, des Bruchstückhaften und des Flüchtigen als gemeinsamer ›roter Faden‹. Es ergibt sich das romantische Paradox, dass die Selbstvernichtung, das destruktive Moment der romantischen Ironie den konstruktiven Faden der Kompositionen darstellt. Unabhängig von einer analysierbaren Verknüpfung des literarischen oder musikalischen Materials existiert ein poetisch-ästhetischer Faden. Der – fiktive – Herausgeber der Murr-Biographie hofft, dass der Leser den ›Faden‹ beim Lesen nicht verlieren möge und liefert dennoch ein verworrenes Bruchsystem biographischer Fragmente, Kreisler bemüht sich, seinen »Lebensfaden weiterzuspinnen« (12) und scheitert trotzdem an den äußeren Umständen, die Schumann’schen Kreisleriana hoffen und bemühen sich erst gar nicht um einen ›sicht- und fühlbaren Faden‹, ihnen liegt von vornherein das ›geistige, poetisch-ästhetische‹ Prinzip der Zusammenhanglosigkeit und des Flüchtigen als einziger ›Faden‹ zugrunde. Der Rezipient muss als ›nachschaffender Hörer‹ die Musik auf einer Ebene der Schöpfung, des Selbst-Schaffens nachempfinden, um den Sinn und den Faden zu erfassen. Ähnlich wie Hoffmann »das nachsingen oder auf dem Klavier nachspielen« (121) in dem Kreislerianum Der Musikfeind beschreibt und den ›aktiven, kreativen‹ Leser fordert, der ›das Blatt umwendet und hinter die Fassade schaut‹ (vgl. 6), um die wahren Zusammenhänge zu verstehen, spricht Schumann von den »nachsingenden Stimmen«, die er bei einer Komposition »immer erst hinterdrein entdecke«97, und schreibt in einer Kritik über Franz Schuberts C-Dur-Sinfonie: »Und diese himmlische Länge der Sinfonie, wie ein dicker Roman in vier Bänden etwa von Jean Paul, 96 Robert Schumann, Gesammelte Schriften I, 1998/1999; zitiert in: Ulrike Kranefeld, Der nachschaffende Hörer. 97 Robert Schumann in einem Brief an Clara vom 17. März 1838; zitiert in: Martin Geck, Von Beethoven bis Mahler, S. 149. 191
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der auch niemals endigen kann und aus den besten Gründen zwar, um auch den Leser hinterher nachschaffen zu lassen ...; man fühlt überall, der Komponist war seiner Geschichte Meister, und der Zusammenhang wird dir mit der Zeit wohl auch klar werden. Diesen Eindruck der Sicherheit gibt gleich die prunkhaft romantische Einleitung, obwohl hier noch alles geheimnisvoll verhüllt scheint.«98 Das Moment des Nachschaffens, der ›poetischen Reflexion‹99 ist dem romantischen Kunstwerk inhärent und ein gemeinsames tiefenstrukturelles Merkmal des Genotextes der Hoffmann’schen und der Schumann’schen Kreisleriana. Es muss zunächst davon ausgegangen werden, dass derartige mythemische Entsprechungen in Form von Ereignisbündeln und Beziehungsverhältnissen, wie es das strukturalistische Konzept von LéviStrauss vorsieht, nicht vorliegen. Und dennoch sind strukturelle ›Ähnlichkeiten und Kontiguitäten‹100 der Genotexte erkennbar, die auf tiefenstrukturelle Analogien im Aufbau eines literarischen und musikalischen Kreislerianums hinweisen. Strukturmerkmalen wie das ›künstliche Anreihen‹, das Moment der ›poetischen Reflexion‹ und des nachschaffenden Rezipienten sowie das romantische Paradoxon, dass sich der ›rote Faden‹, das konstitutive Element der Komposition aus dem Destruktiven, dem Flüchtigen und Fragmentarischen der romantischen Ästhetik ergibt sind beiden Kreisleriana wesentlich.
D i e se m i o ti sc he c h o r a i m G e n o t e x t v o n L i t e r a t u r u n d M u si k Während Claude Lévi-Strauss nach strukturalistischer Manier den Text auf Ereignisbündel und Beziehungskonstellationen hin untersucht, ihn synchronisch betrachtet und das Zeichen als in sich geschlossene Einheit akzeptiert, verfolgt Julia Kristeva hierin poststrukturalistisch verfahrend die Textgenese einen Schritt weiter. Diachronisch denkend verbindet sie Subjektgenese mit Textarbeit, sieht nicht nur die Trennung von Signifikant und Signifikat sondern konzipiert 98 Robert Schumann: »Die C-dur-Sinfonie von Franz Schubert«, zitiert in: Ulrich Tadday, Das schöne Unendliche, S. 38. 99 Vgl. zum Begriff der »poetischen Reflexion« bei Schumann auch die Ausführungen zum Begriff der ›absoluten Musik‹ in dem Teil II.2 dieser Arbeit. 100 Vgl. Claude Lévi-Strauss: Mythos und Musik, in: Claude Lévi-Strauss, Mythos und Bedeutung, S. 57. 192
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auch auf der Textebene zwei Zeiten, den Geno- und den Phänotext. Hier geraten das Semiotische und das Symbolische miteinander in Beziehung und konstituieren somit den Sinn als fortwährenden Prozess des Heterogenen. Für Kristeva ist der Sinngebungsprozess ein sozial und historisch determinierter Prozess, der sich in der Textarbeit zwischen Signifikant und Signifikat, äußert. Die ahistorische, statische Sichtweise überwindend entwickelt sie eine neue historisch orientierte, prozesshafte Texttheorie. Die hierin formulierten Gedanken und Thesen zum Sinngebungsprozess sowie zur Subjektgenese sind, wie zu zeigen sein wird, von äußerster Relevanz für den interdisziplinären Vergleich von Literatur und Musik.
Entwicklung einer Texttheorie101 Kristevas Denken verbindet gesellschaftstheoretische und psychoanalytische Theorien. Gesellschaftliche Entwicklungen und ihre Auswirkungen auf den Prozess der Sinngebung sowie auf den Prozess der Subjektgenese stehen im Mittelpunkt ihrer Texttheorie.102 101 Die folgenden, in die Kristeva’sche Texttheorie einführenden Erläuterungen mögen zunächst redundant wirken (vgl. Einführung in die Terminologie des Prozesses der Sinngebung), haben jedoch eine gänzlich andere Zielrichtung und weiterführenden Charakter. Es ergibt sich die Besonderheit, dass die Strukturanalyse dieser Arbeit im Ganzen auf der Kristeva’schen Unterscheidung von Geno- und Phänotext basiert, so dass diese Begriffe anfangs definiert werden mussten. Der hier vorliegende Abschnitt befasst sich mit dem kunsttheoretischen Konzept Kristevas allgemein. Durch diese Verquickung lassen sich Wiederholungen nicht vermeiden, sollen aber so gering wie möglich gehalten werden. 102 Die Marx’sche Theorie bildet den Rahmen für Kristevas Textkonzept und ihre materialistische Dialektik. Indem Marx den Menschen nicht als unmittelbar in die Natur eingebunden sieht und die menschliche Geschichte als eine permanente Auseinandersetzung mit der Natur versteht, gelten Arbeit und die Entwicklung der Produktivkräfte als unbedingte Notwendigkeit zur Vermittlung zwischen Mensch und Natur. Die Gesellschaftsstruktur konstituiert sich durch diese Produktionsverhältnisse, und Natur wird als das dem Menschen Gegenüberstehende wahrgenommen. Gesellschaft und Natur lassen sich nur noch in Bezug zueinander definieren. Je nach Art des Verhältnisses der Natur zum Menschen bzw. der Auseinandersetzung des Menschen mit der Natur wird das Verständnis geprägt und die Gesellschaftsstruktur geformt. Hierbei geht es nicht nur um die Beherrschung der äußeren Natur, sondern auch um die Veränderungen der eigentlich menschlichen Natur im Zuge eines veränderten Umgangs mit Natur und den daraus resultierenden gesellschaftlichen Umstrukturierun193
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Für ihr Konzept der Sinngebung hält die Gesellschaftstheorie von Marx Erkenntnisse über die Triebkräfte gesellschaftlicher Entwicklungen sowie deren Materialität bereit, Subjektgenese und Subjektivität lassen sich jedoch hierdurch nicht vollständig erklären. Kristeva sieht ein ständiges Abarbeiten des Subjekts an seiner eigenen Naturhaftigkeit, welches zwar innerhalb einer gesellschaftlichen Struktur stattfindet und somit auch von der Gesellschaftsform beeinflusst wird, sich als dynamischer Prozess jedoch immer wieder der gesellschaftlichen Ordnung entzieht. Sie setzt somit etwas der Gesellschaft Heterogenes und behauptet ein Naturhaftes, nicht Integrierbares des Menschen. Ihr Augenmerk liegt auf eben diesem Anderen, Gesellschaftsexternen des Subjekts und dessen Entwicklung innerhalb bestimmter gesellschaftlicher Ordnungen. Diese symbolischen Ordnungen einer Gesellschaft, innerhalb derer sich das Subjekt konstituiert unterliegen einem steten Prozess. »Marx untersucht die Entwicklung der gesellschaftlichen Verhältnisse, die die Produktion der Gebrauchsgüter organisieren, Kristeva dagegen die Entwicklung der Verhältnisse, die die verschiedenen Formen individueller Subjektivität hervorbringen.«103 Hierbei haben die Thesen des französischen Psychoanalytikers und Schriftstellers Jacques Lacans großen Einfluss auf das Werk Julia Kristevas und stellen die Basis ihrer Theorie dar. Lacan, der die Theorien Freuds auf seine Weise neu interpretierte, untersucht das menschliche Subjekt, seine Position im sozialen Gefüge sowie die Sprache und ihr Verhältnis zu ihm, was ihn besonders für die Literaturwissenschaft interessant werden lässt.104 So greift auch Kristeva in ihrer Theorie der Sinngebung häufig auf die Terminologie Jacques Lacans zurück, ihr Konzept von Sinn und Subjekt als ständig im Prozess gen. Das Verhältnis der Menschen zu ihrer eigenen Natur, ihrem Körper, aber auch ihrem Geist in den unterschiedlichen Gesellschaftsformen wird von der Marxschen Gesellschaftstheorie nicht mehr untersucht. Sie thematisiert die Struktur des menschlichen Zusammenlebens ohne die Entwicklung der menschlichen Psyche zu berücksichtigen. Erst die Psychoanalyse widmet sich den Bereichen des menschlichen Naturzustandes, die sich den gesellschaftlichen Prozessen und ihren Strukturen entziehen. (Vgl. auch Inge Suchsland: Kristeva zur Einführung, Hamburg: Junius 1992, Abschnitt ›Materialistische Dialektik‹, S. 70 ff.) 103 Inge Suchsland: Kristeva zur Einführung, Hamburg: Junius 1992, S. 73. 104 Terry Eagleton: Einführung in die Literaturtheorie, Stuttgart, Weimar: Metzler 19974,S. 152. 194
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begriffene Entitäten unterscheidet sich jedoch wesentlich von der Sichtweise des französischen Psychoanalytikers. Dieser sieht Sinn und Subjektivität von einer in sich geschlossenen Sprachordnung konstituiert, der sich das Individuum zu unterwerfen hat.105 Kristeva hingegen betont den vermittelnden Charakter der beiden Instanzen, Sinn und Subjektivität changieren zwischen Besonderem und Allgemeinem und ermöglichen somit Individualität innerhalb von Gesellschaftlichkeit. Der Schritt des Spracherwerbs spielt für die Subjektbildung sowohl bei Kristeva als auch bei Lacan die entscheidende Rolle. Der Eintritt in die symbolische Ordnung der Sprache konstituiert die Menschen als Subjekte. Das menschliche Bewusstsein funktioniert nach Lacan als ein Symbolsystem, erst durch die Möglichkeit der Symbolisierung wird etwas zur Tatsache. Der Umgang mit den Bezeichnungen erfolgt jedoch nicht als bewusst gesteuertes Einsetzen der unterschiedlichen Symbole, sondern erfolgt vielmehr unbewusst. Lacan beschreibt das Symbolsystem der Sprache als eine dem Unbewussten identische Struktur.106 Das Unbewusste ist für Lacan strukturiert wie eine Sprache und wird durch dieselbe hervorgebracht. Gleichzeitig ist das Symbolsystem der Sprache eine vorgegebene Ordnung, ein kommunikatives sowie soziales und somit dem Individuum vorausgehendes, ein das Individuum unterwerfendes, sein Unbewusstes sowie seine gesellschaftliche Identität konstituierendes System. Lacan definiert das Symbolische somit als zeichenhaft sozial oder sprachlich soziales System. Sinn oder Bedeutung als Effekt des sprachlichen Systems ist niemals eindeutig. Signifikant und Signifikat folgen keiner festgelegten, unumstößlichen Zuordnungsregel, sondern funktionieren lediglich durch Unterscheidungsmerkmale. Diese differenzierenden Grenzen ergeben sich nach Lacan mit dem Signifikanten, während das Signifikat sich der Zuordnung ständig wieder entzieht. Dieses ständige Wirken des Signifikats beschreibt Lacan mit Saussure als das permanente Gleiten des Signifikats unter dem Signifikanten. Die unbewusst vorhandene Aktivität des Signifikats führt zu Entstellungen im Freudschen Sinne auf der Signifikantenseite. Die Welt der Wahrnehmungen, Empfindungen oder Vorstellungen verfährt nicht nach den Verfahrensweisen klarer Abgrenzung und Eindeutigkeit, sondern sie kennt die fließenden Übergänge, Verschiebungen und Verdichtungen. Es kommt zur ›Überlastungsstruktur‹ des Signifikanten, zur Verdich105 Vgl. Jacques Lacan: Schriften II, Olten/Freiburg: Walter 1975, S. 26. 106 Vgl. ebd., S. 34 ff. 195
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tung, in der sich die Metapher äußert sowie zu Verschiebungen, zu Umstellungen der Bedeutung, was sich in der Metonymie zeigt.107 Dem Eintritt in die symbolische Ordnung schaltet Lacan die imaginäre Phase vor. Bevor das Kind durch den Spracherwerb eine symbolische Beziehung zu sich und seiner Umwelt eingeht, lebt es in einer Einheit, die Lacan das Imaginäre nennt.108 Ausgelöst durch die Begegnung mit dem Spiegelbild bzw. einer Person, die diese Funktion für das Kind übernimmt, beginnt das Kleinkind eine bzw. seine autonome Einheit zu imaginieren. Das sogenannte »Spiegelstadium«, das ab dem sechsten Monat ausgelöst werden kann, bewirkt bei dem Kind eine euphorische Aufnahme seines Spiegelbildes. Das gegenübergestellte Bild bedeutet jedoch nicht nur die als positiv empfundene Identifizierung mit einem Ideal-Ich, sondern birgt nach Lacan auch das Bild des vollkommenen Konkurrenten, der mit dem Subjekt in den Kampf um die Einheit tritt. Zudem erzeugt das Spiegelbild eine Imago, die nicht mit der Realität, dem unbeholfenen, unorganisierten Körper übereinstimmt. Das Subjekt muss im Zuge dieser Identifizierung Zustände hinter sich lassen oder verdrängen, es fühlt sich in seiner Existenz bedroht und stellt die Einheit des Ichs in Frage. Jegliches Aufkommen von triebhaften Kräften erscheint ihm die Gefahr der Auflösung, des Ichzerfalls zu bergen. Während nach Lacan das Spiegelstadium mit dem Eintritt in die symbolische Ordnung beendet wird, bleibt die Wahrnehmungs- und Zustandsempfindung des Imaginären als Hinter- und Untergrund des Symbolischen bestehen. Das bedeutet, dass ein Begehren nach Einheit fortwährend existiert, auch nach der Überwindung des Ödipuskomplexes, wenn das Kind die Trennung von der Mutter akzeptieren lernen muss und als gespaltenes, in Signifikant und Signifikat zerrissenes Subjekt weiter existiert. Das Unbewusste hört in Lacans Theorie niemals auf, die Einheit des imaginären Stadiums, das ursprüngliche Objekt zu suchen. Es thematisiert ständig die Bedeutung der Aussage des Subjekts, die es als den Sinn des Signifikanten nicht anerkennen kann, da es nach dem eigentlichen, nicht greifbaren Signifikat strebt, der bloß im Imaginären vorhandenen vollkommenen Einheit. Lacan sieht nun Sprache als ständige Präsenz dieser menschlichen Unvollkommenheit, als Erinnerung an die Spaltung, die Leere zwischen Signifikant und Signifikat, welche die Subjektivität erst konstituiert. Diese Leerstelle, die weder symbolisierbar noch imaginär fassbar gemacht werden kann, diese Aufhebung aller 107 Jacques Lacan: Schriften II, S. 36. 108 Jacques Lacan: Schriften I, Olten/Freiburg: Walter 1973, S. 62. 196
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Trennung, dieses reale Ungetrenntsein, das der Tod ist, benennt Lacan mit dem Begriff des Realen,109 einem Seinszustand »absolut ohne Riß«110. Indem Lacan das Thema der wiederzuerlangenden Einheit als das der Sprache wesentliche Element betrachtet, setzt er das Unbewusste mit der Sprache gleich. Er geht davon aus, dass »das Unbewusste radikal die Struktur von Sprache hat«111, wobei das Symbolische als ein in sich geschlossenes System existiert und dem Präsymbolischen keinen Durchlass gewährt. Für Lacan bedeutet das Eindringen von Imaginärem, Vorsymbolischem und Realem, von Außersymbolischem, von Phänomenen des Ungetrenntseins eine Bedrohung und Auflösungserscheinung des Subjekts. Kristeva hingegen sieht diese Phänomene als bleibende Bestandteile der Subjektgenese an. Sie verweist auf die vorsprachlichen Elemente in der Sprache und schließt somit auf ein Zusammentreffen sowohl sprachlicher als auch vorsprachlicher Strukturen in der Sphäre des Unbewussten. Das Semiotische als das Andere, das Heterogene der Sprache prägt den Ausdruck, es äußert sich im Puls, in der Melodie, in der Atmung und dem Rhythmus, als körperliche und materielle Energie der Sprache aber auch auf der semantischen Ebene in Form von Unterbrechungen, Pausen, Widersprüchen, logischen Brüchen und in der Aufhebung von Raum- oder Zeitdimensionen. Zwei Modalitäten, das Semiotische und das Symbolische, gelten ihr als die Strukturkonstituenten in der sinngebenden Praxis. Die zwei Modalitäten des Sinngebungsprozesses: das Semiotische und das Symbolische Den Begriff des Semiotischen wählt Kristeva unter Berufung auf dessen griechische Bedeutung von Unterscheidungsmal, Spur, Aufdruck, Hinweis oder Vorzeichen, denn das Semiotische ist diejenige Modalität im Sinngebungsprozess, die Verweise und Spuren aus der vorsymbolischen Zeit des späteren Subjekts artikuliert. Kristeva entwickelt den Terminus des Semiotischen aus der Saussurschen »Semiologie«, einem Zeichenbegriff, der sprachanaloge distinkt-binär-arbiträre strukturierte Systeme meint, und einem weiter gefassten »Semiotik«Begriff, der auch nicht binär-arbiträre Zeichen wie Körperbewegungen, Lachen, Tanzen, Gestikulieren oder Rhythmen und Melodien
109 Jacques Lacan: Schriften I, S. 164 ff. 110 Gerda Pagel: Lacan zur Einführung, Hamburg: Junius 1991, S. 59. 111 Jacques Lacan: Schriften I, S. 182. 197
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umfasst.112 Im Gegensatz zum Symbolischen, das all die Phänomene begreift, die gleich einer Sprache strukturiert sind, umfasst das Semiotische das gesamte Spektrum der rhythmischen Bewegungen und brabbelnden Lautbildungen des Babys vor seinem Eintritt in die symbolische Ordnung. Das undifferenzierte Kontinuum, als das das Kind sich, den mütterlichen Körper und seine Umgebung wahrnimmt, diese »ausdruckslose Totalität«113, nennt Kristeva die semiotische chora. Sie lässt sich charakterisieren als einheits-, identitäts- und gottlos, eine kinetische Funktionalität vor der Setzung des Zeichens, die jedoch Reglementierungen und Auflagen unterworfen ist, sie äußert sich im rhythmischen, stimmlichen und gestischen Zeichenspektakel des Babys. Unbestimmte Energieströme durchlaufen den kindlichen Körper und werden nach und nach durch biologische, familiäre und gesellschaftliche Strukturzwänge unterschiedlich markiert und gegliedert. Die Triebströme werden aufgehalten, gestaut und gelenkt. Es entstehen mit der Freudschen Psychoanalyse ausgedrückt »Bahnungen«, dauerhaft erregte Wahrnehmungsspuren, die Diskontinuitäten innerhalb des Kontinuums ausprägen. Durch die immer wiederkehrenden biologischen Bedürfnisse und gesellschaftlichen Zwänge verfestigen sich die Bahnungen, das chaotische Durcheinander der verschiedenen Eindrücke und Empfindungen wird allmählich differenziert. Es ergeben sich Verbindungen, die sich nach den Kategorien von Ähnlichkeit und Opposition durch Verschiebung und Verdichtung äußern. Das Semiotische zeichnet sich also dadurch aus, dass es noch keinen Sinn, keine Bedeutung aufweist, es gibt nur vorläufige Diskontinuitäten, »Bahnungen, Energieschübe, Zergliederung des körperlichen, sozialen Kontinuums wie auch des signifikanten Materials«114, fließende Grenzen, Impulse, Stauungen und unterschiedliche Intensitäten. Da es ohne klare Abgrenzungen und konventionelle Vereinbarungen auskommt, steht es im Gegensatz zu den Prinzipien des Symbolischen. Das Semiotische kann kein Kommunikationsmedium wie die Sprache konstituieren. Andererseits kann die symbolische Ordnung nur auf der Basis von solchen Diskontinuitäten funktionieren. Kristevas Begriff des Semiotischen begreift die Primärvorgänge der Psychoanalyse als ein vorsprachliches, psychosomatisches Zeichensystem. Die Stimmen, 112 Vgl. hierzu den Artikel von Ursula Link-Heer: »Julia Kristeva«, in: Julian Nida-Rümelin, Monika Betzler (Hg.), Ästhetik und Kunstphilosophie. Von der Antike bis zur Gegenwart in Einzeldarstellungen, Stuttgart: Kröner 1998, S. 469 ff. 113 Julia Kristeva: Die Revolution der poetischen Sprache, S. 36. 114 Julia Kristeva: Die Revolution der poetischen Sprache, S. 52. 198
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Gesten und Bewegungen oder, wie Link-Heer es treffend, fast lautmalerisch umschreibt, das »unartikulierte Lallen, Wackeln und Zappeln«115 des Babys stellen ein nicht distinkt-binär-arbiträres System dar. Kristeva bezeichnet diesen gestaltlosen, amorphen Raum unter Bezug auf Platons Timaios als chora.116 Die stimmlich-gestischrhythmische, die mit der Bezeichnung Kristevas gesprochene semiotische chora ist unmittelbar verflochten mit den körperlichen Bedürfnissen des Säuglings, sie gehört somit einem Stadium des Ungetrenntseins, des Seins ohne Riss, des Außersymbolischen an und verkörpert gleichsam das Mütterlich-Weibliche: Da der ort- und gestaltlose Raum der semiotischen chora seinen Ursprung im präödipalen Stadium hat, generiert sich das Semiotische aus der gemeinsamen chora von Mutter und Kind. Das nicht binär-arbiträre Zeichensystem des Säuglings wird von der Mutter verstanden, so dass die erste signifikante Struktur unmittelbar aus dem Körperkontakt zwischen Mutter und Kind erwächst und quasi als materielle Basis für die Bildung distinkt-binär-arbiträrer Zeichen dient. Kristeva stellt das Semiotische somit dem Symbolischen Lacans komplementär gegenüber; während Lacan der symbolischen Ordnung das Reglement des väterlichen Gesetzes zuordnet, stellt Kristeva diesem Moment die dynamische, trieb- und affektgeladene Seite des Sinngebungsprozesses, das Semiotische als die mütterlich-weibliche Modalität gegenüber. Die Trennung dieser zwei Modalitäten erfolgt durch den thetischen Einschnitt. Erst dieser ermöglicht die Setzung von Grenzen, die Trennung von Innen und Außen, von Subjekt und Objekt Die Diskontinuitäten im semiotisierbaren Material wie Geste, Rhythmus, Stimmlage oder Melodie können bedeutungsdifferenzierende Merkmale des Symbolischen bilden, so dass das Semiotische die materielle Basis zur Ausbildung eines distinkt-binär-arbiträren Zeichensystems stellt. Aus dem quasi flüssigen, amorphen Raum der stimmlich-gestisch-körperlich und rhythmisch strukturierten chora kristallisieren sich feste Verbindungen zu einem Signifikant-Signifikat-System heraus. Mit diesem Konzept manifestiert Kristeva ihren Entwurf einer »Revolution der poetischen Sprache«. Die Genese des 115 Ursula Link-Heer: Julia Kristeva, S. 471. 116 Vgl. Julia Kristeva: Die Revolution der poetische Sprache, S. 36; vgl. auch Ursula Link-Heer: »Das Rätsel der Lust am Text«, in: Ludwig Pfeiffer u.a., Theorie als kulturelles Ereignis, Berlin, New York 2001, S. 155 ff., insb. FN 2, S. 166; sowie die Ausführungen zum Begriff der chora bei Sabine Bayerl, Von der Sprache der Musik zur Musik der Sprache, S. 146 ff. 199
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Signifikanten aus dem Semiotischen der Primärprozesse bedeutet eine ursprüngliche, permanent latent vorhandene Verbundenheit zwischen symbolischer Ordnung und körperlichem Erleben. Der durch Lust/Unlust geprägte Raum der chora bricht immer wieder, auch beim Erwachsenen, auf revolutionäre Weise in das Symbolische ein. Als »poetische Sprache« ist derjenige Text zu verstehen, der mit Hilfe literarischer Verfahren das Lust-/Unlusterleben und die Intensitäten der semiotischen chora hervorzurufen und wiederzubeleben vermag, also den stimmlich-gestisch-körperlichen und rhythmisch bestimmten Genotext unterhalb bzw. innerhalb des Symbolischen spürbar werden lässt.117 Möglichkeiten des Semiotischen sich dem Symbolischen einzuschreiben Um sich die Tiefenstruktur eines Zeichensystems zu erschließen, muss der Genotext einer Gesamtstruktur freigelegt werden. Die Erfassung des Genotextes kann ausschließlich über eine Bestimmung der semiotischen Prozesse, der Energieschübe sowie der Triebstrukturen gelingen. In seiner Prozesshaftigkeit und Flüchtigkeit gleicht seine Existenz eher dem eines Volumens als einer klaren Struktur.118 Da der Genotext vorsymbolisch und somit nicht bezeichenbar ist, müssen zunächst seine möglichen Strategien sich dem Symbolischen einzuschreiben erkundet werden. Kristevas Modell entwickelt sich aus dem Konzept des russischen Literaturwissenschaftlers Michael Bachtin. Sein Modell von »Dialogizität« und karnevalesker Strukturen liefert Anhaltspunkte zur Ermittlung des Genotextes. Bachtin entwirft mit seinem Konzept ein dynamisches Verständnis von literarischen Texten, in denen »die literarische Struktur nicht ist, sondern sich erst aus der Beziehung zu einer anderen Struktur herstellt.«119 Das literarische Wort oder die poeti117 In Abgrenzung zum »Text« oder zur »poetischen Sprache« unterscheidet Kristeva drei weitere Typen der Sinngebung: die Erzählung, die Metasprache und die Kontemplation. Jedem dieser Textformen ordnet Kristeva einen bestimmten Grad an Heterogenität, also an Bestimmtsein durch den unendlichen Prozess und die semiotische chora zu. Vgl. hierzu Julia Kristeva, Die Revolution der poetischen Sprache, S. 98-113. 118 Vgl. Julia Kristeva: Die Revolution der poetischen Sprache, S. 94 ff. 119 Julia Kristeva: »Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman«, in: Jens Ihwe (Hg.), Literaturwissenschaft und Linguistik. Ergebnisse und Perspektiven. Bd. 3. Zur linguistischen Basis der Literaturwissenschaft, II. Frankfurt/M.: Athenäum 1972, S. 346. 200
IV. ANALOGIEN AUF DER EBENE DER TIEFENSTRUKTUR
sche Struktur wird hier nicht linear, punktuell oder flächig verstanden, sie ist räumlich, in drei Dimensionen organisiert: die Ebenen des Subjekts/Schriftstellers, des Adressaten und die des gegenwärtigen oder vorangegangene Kontextes, die in einen Dialog miteinander treten. Der Text ist nicht länger eindimensional, ihm wird eine horizontale Achse (Subjekt-Adressat) sowie eine vertikale Achse (Text-Kontext) zugeschrieben. Indem Bachtin Gesellschaft und Geschichte in den Text integriert, wird die literarische Struktur erweitert und geöffnet. Die unterschiedlichen, miteinander dialogisierenden Schreibweisen können nicht mehr rein linguistisch analysiert werden, sondern erfordern translinguistische Verfahren zur Betrachtung ihrer Strukturen. Bachtin unterscheidet zwei Diskurse, den monologischen und den dialogischen. Während der Monologismus der epischen Erzählung, dem historischen und wissenschaftlichen Diskurs zugeordnet wird und logisch, ›gesetzestreu‹ arbeitet, äußert sich der Dialogismus im sokratischen Dialog, in der Menippea, im polyphonen Roman durch eine karnevaleske Sprache. Der Karneval verfährt nach der Logik des Traums, er durchbricht das moralische Gesetzt sowie die linguistischen Regeln und legt durch dieses Unterlaufen der literarischen Produktivität das Unbewusste der Struktur frei.120 Er integriert das Andere, eine andere Logik als die aristotelische in seinen Diskurs und wird somit zu einer Verfahrensweise des Prozesses der Sinngebung; seine Struktur gleicht derjenigen des Semiotischen. Durch die karnevaleske Sprache gelingt es der semiotischen chora, sich dem Symbolischen einzuschreiben und die symbolische Ordnung mit dem Genotext zu konfrontieren. Um diesem Genotext auf die Spur zu kommen, definiert Kristeva zwei dynamische Strukturelemente: Mimesis und Negativität. Die Mimesis unterminiert die symbolische Setzung. Die Thesis, die als Voraussetzung für jegliche Aussage, für Bedeutung und somit für die symbolische Ordnung gilt, diese Setzung von Subjekt und Objekt, die als Garant für das Funktionieren von Denotation steht, wird von der Mimesis unterlaufen: »Die mimesis wäre die Herstellung eines Gegenstandes, der nicht wahr, sondern wahrscheinlich ist, in dem Maße nämlich, wie er als solcher gesetzt (d.h. abgetrennt, notiert, aber nicht denotiert) wurde [...].«121 Die Folgen der Mimesis für die symbolische Ordnung sind die Zersetzung der denotativen Funktion sowie die Auflösung des aussa120 Ebd., S. 361f. 121 Julia Kristeva: Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman , S. 66. 201
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genden Subjekts. Indem sie die grammatikalische Regelhaftigkeit bloß imitiert und ein triebgesteuertes Objekt setzt, unterläuft sie die denotativen Bedeutungsmöglichkeiten und den syntaktischen Sinn. Die Infragestellung des Sinns, der Setzung des Aussagens und somit der Setzung des Subjekts, ist gleichzeitig ein Überschreiten der thetischen Grenze wahr/falsch. Somit begibt sich die Mimesis auf ein Terrain jenseits von wahr und falsch. Ihr Objekt ist ein wahrscheinliches Objekt, das »am Absolutheitsanspruch dieses Einschnitts, der die Wahrheit einleitet, zweifeln«122 lässt. Die Mimesis vervielfältigt die Denotation, sie öffnet das Symbolische für seinen Prozess der Sinnsetzung, fügt ihm sein Heterogenes, seine materielle Basis ein. Die Strategien, mit denen die Mimesis das Symbolische unterläuft, sieht Kristeva zum einen in den Verfahren der Metapher und der Metonymie, zum anderen in der Intertextualität. Metapher und Metonymie meinen die Primärvorgänge des Verdichtens und Verschiebens, sie greifen auf die Verfahren und das Material der semiotischen chora zurück und stellen somit eine Durchbruchstelle des Semiotischen in das Symbolische dar. Intertextualität beschreibt den Übergang von einem Zeichensystem in ein anderes.123 An dieser Operation sind nicht nur die Strategien des Verdichtens und Verschiebens beteiligt, sondern auch die Transposition der thetischen Setzung in ein neues Zeichensystem. Um den Terminus der Intertextualität von reiner Quellenkritik abzugrenzen, bedient Kristeva sich des Begriffs der Transposition, mit dem sie gleichzeitig die zwingend erforderliche »Neuartikulation des Thetischen beim Übergang von einem Zeichensystem zu einem anderen«124 betont sieht. Kristeva hebt außerdem hervor, dass die Transposition von einem oder mehreren Zeichensystemen in ein neues, sowohl im selben Zeichenmaterial bleiben kann als auch in ein anderes wechseln kann, wobei die Darstellbarkeit, »die spezifische Weise, in der sich Semiotisches und Thetisches innerhalb eines Zeichensystems artikulieren«, in dem neuen Zeichensystem gewährleistet sein muss.125 Die Mimesis erweitert das Thetische, indem sie ihm die semiotische Triebenergie per Verdichtung, Verrückung und/oder Verschiebung einbaut, der se-
122 123 124 125
Julia Kristeva: Die Revolution der poetischen Sprache, S. 68. Ebd., S. 69. Ebd. Julia Kristeva: Die Revolution der poetischen Sprache, S. 70. Diese Erweiterung des Transpositionsvorgangs auf andere Medien ist im Hinblick auf das Anliegen dieser Arbeit, zwei verschiedene Zeichenmaterialien zu vergleichen, von besonderem Interesse. 202
IV. ANALOGIEN AUF DER EBENE DER TIEFENSTRUKTUR
miotischen chora einen Platz innerhalb der symbolischen Ordnung erschleicht und auf diese Weise die Bedeutung pluralisiert. Die zweite dynamische Kraft des Genotextes ist die Negativität oder das Verwerfen. Negativität ist zunächst das Semiotische, das als eine negative Kraft dem Symbolischen eingeschrieben wird, um dessen Ordnung zu zerstören. Gelingt ihr die Auflösung des Thetischen, sind der Verlust des symbolischen Funktionierens und im äußersten Fall Schizophrenie ihre Konsequenzen.126 Der auf Hegel zurückgehende Terminus der Negativität stellt Ursache, Triebquelle und »logische Funktionsweise« eines Prozesses der Bewegung dar. Er dynamisiert das Abstrakte, das Gesetz des Binären von Sein und Nichts, von Allgemeinem und Besonderem, von Bestimmtem und Unbestimmtem. Während die dialektische Triplizität Hegels ein Oberflächen-Phänomen ist, operiert die Negativität von der Tiefenstruktur aus nicht als rein destruktive Kraft, sondern vielmehr als Garant des Zusammenhalts, als Generator neuer Strukturen: »[...] materialistisch verwirklicht sich eine solchermaßen entwickelte Logik, unterstützt von den Entdeckungen Freuds, erst dann, wenn die Negativität als die Bewegung der heterogenen Materie gedacht wird, die nicht zu trennen ist von ihrer Differenzierung in eine symbolische Funktion.«127 Deshalb spricht Kristeva auch von »Verausgabung« oder »Verwerfen«, um dieses dynamisch energetische Wesen der Negativität zu kennzeichnen. Negativität ist die materielle Bewegung der Trennung, der Widersprüche, des Spaltens und des Verwerfens immer in Hinblick auf eine produktive Auflösung in Heterogenität. Unter Bezug auf die Theorie Freges nimmt die Negativität des Verwerfens eine Position außerhalb der Sprache und vor der Subjektsetzung ein: Der Gedanke befindet sich bereits in einer Zeit der thetischen Setzung, er wird gefasst und nicht erst erzeugt, existiert somit ohne den Prozess der Entstehung und nur aufgrund der vorausgegangenen Setzung des (denkenden) Subjekts. Das Verneinen gehört dem Sein ohne dem Prozess des Werdens an, doch ohne Erzeugung ist die Verneinung nicht möglich, sondern immer schon Teil der thetischen Setzung und somit eine Bejahung. Kristeva zieht die Schlussfolgerung, dass Verneinung nur außerhalb des subjektiven Bewusstseins möglich sei. Der Bereich des Bewusstseins, des gesetzten Subjekts, der Raum der Sprache muss verlassen werden, und nur eine Theorie des Unbewussten kann eine solche jenseits der Logik bzw. die Logik 126 Vgl. Julia Kristeva: Die Revolution der poetischen Sprache, S. 78 ff. 127 Ebd., S. 118. 203
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erst konstituierende Negativität bestimmen.128 Das von Freud beobachtete »Fort-Da«-Spiel des Kleinkindes gilt als eine Schlüsselstelle zur Bestimmung der Negativität. Der Trieb des Verwerfens gehört hier in einen vorsprachlichen, körperlich-gestischen, biologischen und bereits sozialen Raum, der jedoch noch ohne eine symbolische Ordnung auskommt. Erst durch die Erfahrung des Verwerfens, der Negativität wird ein Objekt vom eigenen Körper getrennt, als abwesend gesetzt und bekommt somit Zeichenwert. Die Negativität ist die Kraft, welche sowohl an der Subjektgenese als auch am Prozess der Sinngebung ursächlich beteiligt ist. Sie generiert aus dem psychosomatischen Bereich der Triebe heraus ein bezeichenbares Objekt, welches als Teil des signifikanten Systems dem Subjekt untergeordnet wird. Als Akt des Verwerfens konstituiert sie die zwei Ebenen des Symbolsystems: die vertikale Ausrichtung in sprechendes Subjekt und ›Draußen‹ sowie die horizontale Dimension der Sprache mit der Ordnung in syntaktisches Subjekt und Prädikat.129 Soll diese Triebenergie des Genotextes freigelegt werden, dann nur durch die Beobachtung der Setzung, in ihr schreibt sich der Trieb des Verwerfens, die Bewegung der Trennung ein. Veränderungen des Phänotextes hinsichtlich der syntaktischen Struktur oder lexikalischer Bedeutungen, Widersprüche, Auflösung festgelegter Einheiten, Oppositionen oder Sinnstrukturen kennzeichnen die Dynamik der Negativität, häufige Negationen deuten in der Psychose auch auf den Kampf zwischen These und Verwerfen hin. Dieses Aneinander-Aufreiben von Setzung und Negativität gefährdet die Existenz des Symbolischen und kann ihre Auflösung zur Folge haben. Der poetische Text stellt für Kristeva eine Übersetzung dieses Kampfes, eine »Grenzerfahrung«130 dar. Der Nahtstellencharakter des Sinngebungsprozesses, das Changieren zwischen dem Pol der biologischen und sozialen Strukturen und dem thetisch-signifikanten Moment des Prozesses wird in den poetischen Text eingeschrieben.131 Die Verfahrensweisen der Mimesis und die Dynamik der Negativität sind Zeugen eines Subjekts im Prozess, »dem es gelingt – aus biographischen und historischen Gründen –, die zeitgeschichtlich geläufige signifikante Vorrichtung umzubilden und die Vorstellung von einem neuen Verhältnis zu den natürlichen Objekten, den
128 129 130 131
Julia Kristeva: Die Revolution der poetischen Sprache, S. 126. Vgl. ebd., S. 128 f. Vgl. ebd., S. 131. Vgl. ebd., S. 129. 204
IV. ANALOGIEN AUF DER EBENE DER TIEFENSTRUKTUR
gesellschaftlichen Apparaten und dem eigenen Körper zu produzieren. Dieses Subjekt durchquert die Sprache und bedient sich ihrer, um – wie über eine Anapher oder eine Hieroglyphe – deutlich zu machen, daß es kein von jeher gesetztes und auf immer vom Triebprozeß losgelöstes Reales darstellt, sondern daß es den objektiven Prozeß praktisch oder experimentell erprobt, indem es in ihn eintaucht und aus den Trieben hervor wiederauftaucht.«132
Das Subjekt, das sich der Mimesis und der Negativität bedient, ist ein Subjekt der Bewegung, des Rhythmus, der Trennung, der Verwerfung und des Verausgabens, das mit seiner Energie und Motilität die symbolische Ordnung durchquert und ihr das Semiotische, die semiotische chora einschreibt.133 Mimesis und Negativität sind als zwei dynamische Strategien des Genotextes bestimmt: Die Mimesis als Verfahrensweise der Verdichtung und der Verschiebung, die semiotische Negativität als Kraft der Setzung und des Verwerfens. Beide bewegen und rhythmisieren die symbolische Ordnung, sie konfrontieren das Symbolische mit dem Semiotischen und holen die chora-Lust wieder ein. Dabei stellen sie den Wahrheitsanspruch der thetischen Setzung immer wieder in Frage. Der Mimesis gelingt es unter dem Deckmantel der Systemtreue, die Signifikant-Signifikat-Struktur mit Hilfe vorsymbolischer Verfahrensweisen zu unterlaufen. Die Negativität verstößt bewusst gegen signifikante Zuordnungen und thematisiert somit die Möglichkeit nicht festgesetzter, sich ständig wandelnder Zeichenrelationen und die Darstellung des ›Draußen‹, des Außerbegrifflichen. Das als einzig wahr und richtig geltende distinktiv-binär-arbiträr strukturierte Zeichensystem wird an seine materielle Basis angebunden. Durch die (zurück-)gewonnene Präsenz der Triebenergien wird die Verbindung zur Nahtstelle der Subjektgenese und des Sinngebungsprozesses (wieder) hergestellt. Es wird eine andere Wahrheit, eine Wahrheit der Wahrscheinlichkeit, des Materiellen, der Heterogenität und der Indifferenz, eine flüssige, ›ortlose‹, unscharfe, keinem binär-arbiträren System zuzuordnende, amorphe Wahrheit, die Wahrheit der körpernahen semiotischen chora dem Symbolischen eingeführt.
132 Julia Kristeva: Die Revolution der poetischen Sprache, S. 132. 133 Vgl. ebd. 205
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Der Genotext der Hoffmann’schen Kreisleriana Wie die ausführliche Darstellung der Kristeva’schen Texttheorie bereits zeigte, wird das Modell nur bedingt auf den Hoffmann’sche Text angewendet werden können, denn das Konzept der Sinngebung nach Kristeva wurde in letzter Konsequenz erst seit Ende des 19. Jahrhunderts verwirklicht. Mit Schriftstellern wie Mallarmé, Joyce, Woolf oder Artaud beginnt eine bestimmte Richtung moderner Literatur, die den Prozess der Sinngebung zelebriert; es ist vom Leser nicht länger »lexikalisch-syntaktisch-semantische Entzifferungsarbeit« zu leisten, vielmehr gilt es hier die Genese des Textes nachzuvollziehen.134 Der spätromantische Stil ist sicher noch weit entfernt von dieser literarischen Entwicklung, und dennoch lassen sich bei Hoffmann Elemente finden, die auf das Auftauchen der chora-Lust hinweisen, dem Phänotext des Kreislerianums sind Triebenergien eingeschrieben, die den Genotext bezeugen und Aussagen über das Subjekt im Prozess zu lassen. Wie bereits beschrieben, ist für Kristeva die Sprache des Karneval charakteristisch für eine dynamische Textarbeit. Mimesis und Negativität gelten ihr als diejenigen Strategien des Genotextes, die sich dem Phänotext einschreiben. Das Hoffmann’sche Konzept eines Kreislerianums soll nun auf diese beiden Taktiken hin untersucht werden, um eine Aussage über den Genotext eines Kreislerianums machen zu können. Die Signifikanz, der heterogene Prozess der Sinngebung wird zu untersuchen sein, um bestimmen zu können, ob das Subjekt der Kreisleriana und des Kreisler-Teils im Kater Murr mit dem des MurrTeils übereinstimmt oder ob sich hier signifikante Unterschiede feststellen lassen, die auf einen differierenden Genotext hindeuten. Mimesis – Verdichtungen und Verschiebungen im Hoffmann’schen Kreislerianum Die Hoffmann’sche Sprache zeichnet sich durch eine große Dichte an metaphorischen Wendungen aus, die in seinem Werk immer wieder auftauchen. Insbesondere die Beschreibung von Musik und musikalischen Ereignissen schränkt sich auf einen begrenzten Formelschatz ein, so dass sich die Bilder stets wiederholen. Musik wird, wie oben bereits dargestellt, durch Lichtmetaphern, Pflanzen- und Naturbilder sowie Maschinenvergleiche beschrieben.135 Umgekehrt dienen Ele134 Julia Kristeva: Die Revolution der poetischen Sprache, S. 111. 135 Vgl. Teil II dieser Arbeit. 206
IV. ANALOGIEN AUF DER EBENE DER TIEFENSTRUKTUR
mente aus dem musikalischen Diskurs als Metaphern für menschliches Verhalten oder auch für Gegenstände. Der metaphorische Gebrauch in Bezug auf Gegenstände wurde bereits an anderer Stelle erwähnt, er bezieht sich auf die Schilderung eines Kleides, »dessen Farbe in cisMoll geht« sowie des Kragens »aus E-Dur-Farbe« (17). Menschliche Eigenschaften werden mit Musikmetaphern belegt, beispielsweise wenn Kreisler von den Plänen des Prinzen Hektor erfährt und ihn daraufhin »für einen verdammten Quartquinten-Akkord, der aufgelöst werden muss«136 hält, oder wenn Prinzessin Hedwiga »einer hell und klar hinströmenden Melodie«137 gleicht. An anderer Stelle »ließen die zu stark gespannten Saiten nach, und die Melodien die nun aus ihrem Inneren heraustönten, waren weicher, milder, jungfräulicher, zarter.«138 Einen ähnlichen Vergleich stellt Kreisler in Bezug auf sich an: »Glaubst du nicht, daß es einer armen, unschuldigen Melodie, welche keinen – keinen Platz auf der Erde begehrt, vergönnt sein dürfte, frei und harmlos durch den weiten Himmelsraum zu ziehen?« und weiter: »– Ei, ich möchte nur gleich auf meinem chinesischen Schlafrock wie auf einem Mephistophelesmantel hinausfahren durch jenes Fenster dort!« (81) Der Mephistophelesmantel taucht auch an anderer Stelle als Metapher auf, wenn Kreisler seinen Weinrausch beschreibt: Daran dass er nicht mehr Klavierspielen kann, ist sein »alter herrlicher Freund« Schuld, der ihn »schon wieder einmal, wie Mephistopheles den Faust auf seinem Mantel, durch die Lüfte getragen hat« (6). Allgemeinere Metaphern sind die musizierende Tochter des Hauses, die als »ehrliches Röschen« den Dessauer Marsch und »Blühe liebes Veilchen« vorträgt (21), die Ironie Kreislers, die als sein sich bäumendes »Steckenpferd«139 bezeichnet wird, die Rätin Benzon, die als Marionettenspielerin »die Fäden des Puppenspiels an diesem Miniaturhofe« zieht140 oder Meister Abraham, der »als das belebende Prinzip der Hofmaschine« bezeichnet wird.141 Ein metaphorisches Feld sind die Ersetzungen menschlicher Charaktere oder Verhaltensweisen mit tierischen Eigenschaften. Im Zusammenhang mit der Groteske wurde diese Entgegensetzung bereits thematisiert, ein noch nicht benanntes Beispiel der Tiermetaphern sei noch hinzugefügt: »Nichts ist dem herrlichen Bräutigam geschehen, mein ehrlicher Johannes, aber 136 137 138 139 140 141
Kater Murr-Roman, S. 217. Ebd., S. 216. Ebd., S. 199. Ebd., S. 77. Ebd., S. 42. Ebd., S. 47. 207
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seinem Adjutanten soll im Walde ein Wespe gestochen haben.« »Hoho«, erwiderte Kreisler, »hoho! eine Wespe, die er mit Feuer und Dampf vertreiben wollte!«142 Das Bild der Wespe wurde bereits vorbereitet, als Kreisler Meister Abraham gegenüber den Wunsch äußert, sich »bei schicklicher Gelegenheit in eine Wespe zu verwandeln, und den fürstlichen Hund dermaßen zu turbieren, daß er aus seinem verfluchten Konzept kommt!« Diese arabeskenhafte Verknüpfung verstärkt den Witz der späteren Metapher, indem ihr dieses Moment der Verschiebung hinzugefügt wird. Wollte Kreisler sich ursprünglich in eine Wespe verwandeln können, um »den Hund«, den Prinzen Hektor aus dem Konzept zu bringen, dachte er später, er habe ihn gar aus dem Leben gebracht. Diese Momente der Verdichtung, in denen sich dem manifesten Signifikanten ein latenter Signifikant unterschiebt und somit eine Verdichtung der unterschiedlichen Signifikate entsteht, sind exemplarisch aus dem großen Fundus an metaphorischen Bildern im Hoffmann’schen Kreislerianum herausgenommen. Sie werden ergänzt durch das Verfahren der Verschiebung, das auf der Ebene des Syntagmas divergierende Signifikanten miteinander verbindet. »Die Leute verlieben sich leichtlich in ein paar schöne Augen, strecken beide Ärme nach der angenehmen Person, aus deren Antlitz besagte Augen strahlen, schließen die Holde ein in Kreise, die, immer enger und enger werdend, zuletzt zusammenschrumpfen zum Trauring, den sie der Geliebten an den Finger stecken, als pars pro toto – Sie verstehen einiges Latein, gnädigste Prinzeß – als pars pro toto sag ich, als Glied der Kette, an der sie die in Liebschaft Genommene heimführen in das Ehestandsgefängnis.«143
Die ›schönen Augen‹ liefern eine positive, mit ›strahlend‹ und ›hold‹ verknüpfte Bedeutung von rund, sowie das In-die-Arme-schließen der ›angenehmen Person‹ eine Liebesgeste des ›Schließens‹ beschreibt. ›Rund‹ und ›schließen‹ münden syntagmatisch in »Kreise, die immer enger und enger werdend« bereits in ihrer liebenswerten, harmonischen Assoziation zu kippen drohen. Der ›Kreis‹ wird zum ›Trauring‹, der immerhin der ›Geliebten‹ an den Finger gesteckt wird, also durchaus noch Wohlwollen implizieren kann. Sie bekommt ihn als ›pars pro toto‹, obgleich dieser literaturwissenschaftliche Terminus Diskrepanz142 143
Kater Murr-Roman, S. 304. Ebd., S. 164. 208
IV. ANALOGIEN AUF DER EBENE DER TIEFENSTRUKTUR
und somit bereits Ironie-Signal ist, bezeichnet er den Trauring als einen symbolischen Teil für das Ganze der Liebe und des Eheversprechens. Der Einschub, durch Gedankenstriche gekennzeichnet und somit auch optisch hervorgehoben, leitet eine inhaltliche Wende ein. Er hebt von der ursprünglichen Thematik der Liebe und der Ehe auf den Bildungsstand ab und vergewissert sich der Verständlichkeit der Darstellung: »Sie verstehen einiges Latein, gnädigste Prinzeß«. Diese rhetorische Frage unterstützt das Ironiesignal durch den diskursiven Bruch. Die Wiederholung des ›pars pro toto‹ signalisiert ganz deutlich die inhaltliche Wende. Der (Trau-)Ring ändert seinen Bezug als pars pro toto und wird zum ›Glied einer Kette‹, der Gefangenenkette des ›Ehestandsgefängnisses‹. Der Textabschnitt bekommt durch die Techniken der Mimesis eine dynamische Kraft, wie sie für den Durchbruch des Genotextes in den Phänotext charakteristisch ist. Diskursinterferenzen Zentrale Verfahrensweise der folgenden Textpassage ist die Verknüpfung verschiedener Diskursbereiche. Es ergibt sich eine dichte Verflechtung an Diskursinterferenzen, die eine ironische Witzstruktur konstituieren. Dieses entspricht der Strategie des Semiotischen, sich per Interdiskursbastelei dem Symbolischen einzuschreiben und auf diese Weise das Unbewusste zu berühren, die chora-Lust in den Text zu holen: Nachdem Kreisler vergeblich versucht hat, auf seiner Gitarre zu spielen und sie daraufhin wutentbrannt ins Gebüsch geworfen hat, hebt Julia, die gemeinsam mit ihrer Freundin Prinzessin Hedwiga Kreisler belauscht hatte, die Gitarre auf und beginnt ausgesprochen schön zu musizieren. Die Musik hörend sucht Kreisler die beiden Mädchen auf und äußert seine Begeisterung über den Gesang und das Spiel gegenüber Julia. Hedwiga fährt dazwischen, ihre Macht als Prinzessin betonend tadelt sie Kreislers plötzliches Erscheinen im fürstlichen Park. Kreisler ignoriert zunächst den Vorwurf, doch als er aus seiner Ekstase erwacht, reagiert er auf die Kritik: »Plötzlich verwandelte sich das Antlitz des Fremden wieder in jene skurrile Larve und er sprach mit hohen schneidenden Ton: ,Eigentlich hat mir das Schicksal oder mein Kakodämon einen sehr bösen Streich gespielt, daß ich hier so ganz ex abrupto, wie die Lateiner und nach anderer ehrliche Leute sagen, vor Ihnen erscheinen muß, meine hochverehrtesten Damen! – O Gott gnädigste Prinzessin, riskieren Sie es, mich anzuschauen
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von Kopf bis zu Fuß. Sie werden denn aus meinem Ajustement zu entnehmen geruhen, daß ich mich auf einer großen Visitenfahrt befinde. – Ha! Ich gedachte eben bei Sieghartsweiler vorzufahren, und der guten Stadt, wo nicht meine Person, doch wenigstens eine Visitenkarte abzugeben. – O Gott! Fehlt es mir denn an Konnexionen meine gnädigste Prinzessin? – War nicht sonst der Hofmarschall Dero Herrn Vaters mein Intimitus? – Ich weiß es, sah er mich hier, so drückte er mich an seine Atlasbrust und sagte gerührt, indem er mir eine Prise darbot: ›Hier sind wir unter uns, mein Lieber, hier kann ich meinem Herzen und den angenehmsten Gesinnungen freien Lauf lassen.‹ – Audienz hätte ich erhalten bei dem gnädigsten Herrn Fürsten Irenäus und wäre auch Ihnen vorgestellt worden, o Prinzessin! Vorgestellt auf eine Weise, daß ich mein bestes Gespann von Septim-Akkorden gegen eine Ohrfeige setze, ich hätte Ihre Huld erworben! – Aber nun! – hier im Garten am unschicklichsten Orte, zwischen Ententeich und Froschgraben, muß ich selbst mich präsentieren, mir zum ewigen Malheur! – O Gott, könnt ich nur was weniges hexen, könnt ich nur subito diese edle Zahnstocherbüchse (er zog eine aus der Westentasche hervor) verwandeln in den schmuckesten Kammerherrn des Irenäusschen Hofes, welcher mich beim Fittich nähme und spräche: ›Gnädigste Prinzessin hier ist der und der! Aber nun! – che far, che dir! – Gnade – Gnade, o Prinzessin, o Damen! – Herren!‹ Damit warf sich der Fremde vor der Prinzessin nieder, und sang mit kreischender Stimme: ›Ah pietà pietà Signora!‹«144
Gegliedert wird der Textauszug durch Interjektionen, diese leiten jeweils die sechs Punkte innerhalb der Rede ein. Jeder Interjektion folgt eine Kopplung unterschiedlicher Diskursbereiche: 1. ›Eigentlich‹: Lateiner – ehrliche Leute sagen 2. ›O Gott!‹: meine Person – eine Visitenkarte abgeben 3. ›O Gott!‹: meinem Herzen – den angenehmsten Gesinnungen freien Lauf lassen 4. ›o Prinzessin!‹: bestes Gespann von Septim-Akkorde – gegen eine Ohrfeige 5. ›O Gott‹: edle Zahnstocherbüchse – in schmuckesten Kammerherrn verwandeln 6. ›o Prinzessin, o Damen! o Herren!‹: Opernarie – Entschuldigungsgeste, gesungen mit kreischender Stimme
144 Kater Murr-Roman, S. 61f. 210
IV. ANALOGIEN AUF DER EBENE DER TIEFENSTRUKTUR
Die emotionalen Äußerungen der Interjektionen täuschen ein Einvernehmen mit der fürstlichen Ordnung vor, sie wahren den Eindruck von Ernst und Betroffenheit seitens Kreislers. Jeder Interjektion folgt ein Ironiesignal in Form einer Diskurskopplung. Durch die Diskursinterferenzen ergeben sich Bedeutungsverschiebungen auf syntagmatischer Ebene. Die ›Lateiner‹ als Angehörige einer Sprachgruppe werden gleichgesetzt mit ›ehrlichen Leuten‹. Während die Lateiner jedoch das ›ex abrupto‹ gebrauchen, weil es ihrer Alltagssprache zugehört, benutzten die ›ehrlichen Leute‹ es der Etikette wegen. Unter ›ehrlichen Leuten‹ sind rechtschaffene Bürger zu verstehen, die Wert legen auf ein gebildetes, gepflegtes Erscheinungsbild und dafür auch bereit sind, sich in ihrer kleinen Welt mit ›fremden Federn‹ zu schmücken, also einen Schein vorzutäuschen, welcher der Wahrheit nicht entspricht und somit gar unehrlich zu werden. Die semantische Bedeutung von ›ehrlich‹ wird negiert und in ihr Gegenteil verkehrt. Die Diskurskombination von Person und Visitenkarte geschieht mittels eines Zeugmas, beide beziehen sich auf das Verb ›abzugeben‹. Kreisler imitiert eine aufgesetzte Vornehmheit, indem er vorgibt, lediglich seine Visitenkarte abgeben zu wollen. Doch durch die Gleichsetzung des unpersönlichen Abgebens einer Visitenkarte mit der Abgabe seiner Person, bekommt die Ankunft am Hof einen bitteren Beigeschmack. Die Kopplung deutet auf die Abgabe der Persönlichkeit, die Aufgabe der eigenen Person, auf die eindimensionale Stigmatisierung und Einschränkung auf wesentliche Funktionsbereiche der Person hin. Auch das Wortspiel des Hofmarschalls intendiert eine ähnliche Kritik. Durch das Zeugma wird erwartet, dass es möglich sei, seinem Herzen und seinen angenehmsten Gefühlen freien Lauf zu lassen, stattdessen wird diese Erwartung zerstört. Es heißt den ›angenehmsten Gesinnungen‹ kann freier Lauf gelassen werden. ›Angenehme Gesinnungen‹ ist eine Kombination von Ästhetik und Moral. Die eigene Moral wird ästhetisch manipuliert und unter praktischen Gründen der ›Annehmlichkeit‹ gehändelt. Trotz der Abgeschiedenheit draußen im Park (»Hier sind wir unter uns«) darf nur die zensierte und verschönte Meinung geäußert werden. Ehrlichkeit gibt es nur außerhalb des Hofes. Die Zersetzung und Negierung des Hofwesens wird auch durch die nächste Diskursinterferenz fortgesetzt. Sein bestes Gespann an Septim-Akkorden ist ein hoher Einsatz gegenüber einer Ohrfeige. Diese Höhe des Einsatzes betont Kreislers Sicherheit, dass die Mechanismen der Zeremonien am Hof zuverlässig funktionieren, die Zuneigung Hedwigas ist eine reine Frage der Inszenierung. Der geringe Gegen211
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wert, eine Ohrfeige, zeigt jedoch, dass Kreislers Interesse an dieser Akzeptanz sehr gering ist. Durch die unerwartete Kombination der Diskursbastelei wird eine Witzstruktur konstituiert. Wie oben bereits beschrieben, produzieren Witzstrukturen und Diskursinterferenzen, nach Link, Inkohärenzen, die auf solchen Katachresen-Mäandern basieren.145 Sie dynamisieren den Phänotext auf eine Weise, die es ihm ermöglicht, das Unbewusste zu berühren, das Semiotische durchquert ihn und schreibt ihm den Genotext ein. Interdiskursbastelei ist eine weitere Strategie des Semiotischen, sich dem Symbolischen einzuschreiben. Auch die metaphorische Gegenüberstellung von einer ›edlen Zahnstocherbüchse‹ und einem ›schmucken Kammerherrn‹ entspricht einem Katachresen-Mäander, das den Genotext im Phänotext durchscheinen lässt. Der groteske Vergleich karikiert den Kammerherrn als geschmückte Hülle, die lediglich funktionalen Wert für den Adel besitzt, der Mensch wird zum Gebrauchsgegenstand, zum überflüssigen Luxusartikel negiert. Das Stilmittel der Karikatur verwendet Hoffmann häufig, wenn er seine Figuren nur durch wenige groteske Details skizzenhaft beschreibt.146 Manfred Momberger macht darauf aufmerksam, dass hier das Verfahren der Metonymie, bzw. der Synekdoche vorliegt,147 so z.B. wenn die zwei übereinandergestülpten Hüte und Rastralen am Leibgürtel für die Charakterisierung Kreislers ausreichen. In der Karikatur wird der Mensch als Ganzes negiert, er existiert nicht mehr als Einheit sondern in überdimensionalen, verzerrten Einzelteilen, seine Ganzheit wird auf einige Details reduziert, so dass eine verschobene Wahrnehmung entsteht. Die Karikatur, beispielsweise des Kammerherrn, erfüllt den Status einer genotextuellen Taktik. Die letzte Einheit, in der die Opernarie »Ah pietà, ah pietà Signore!« verfremdet wird, dynamisiert die Entwicklung der Rede hin zu ihrem Höhepunkt. Kreisler ruft nun dreimal aus und führt dabei den Inhalt über den Rahmen hinaus, die Szene wird geöffnet: »o Prinzessin, o Damen! – o Herren!« Ursprünglich richtet sich die Rede an die Prinzessin, hier am Ende spricht er auch Julia an, wenn er ausruft »o Damen!«, zum Abschluss fügt er der Vollständigkeit halber einfach die Männer auch noch hinzu »o Herren!«. Wieder wird der Ernst der Rede unterlaufen und negiert. Ambivalent erscheint die Beschreibung des 145 Vgl. Teil IV, 2. Das Programm der Neuen Mythologie als Basiskonzept eines Kreislerianums. 146 Zur Groteske vgl. ausführlicher Teil III den Unterpunkt Arabeske und Groteske. 147 Manfred Momberger: Sonne und Punsch, S. 112. 212
IV. ANALOGIEN AUF DER EBENE DER TIEFENSTRUKTUR
Parks, wird er zum einen als Ort der Abgeschiedenheit, des Friedens und der Ruhe charakterisiert: »Hier sind wir unter uns [...], hier kann ich meinem Herzen [...]« bekommt er zum anderen das Attribut des ›unschicklichen Ortes‹, was noch durch die Konfrontation mit dem absolut Profanen unterstrichen wird: »zwischen Ententeich und Froschgraben«. Während der Ententeich noch als gesellschaftlich anerkannter Bestandteil eines fürstlichen Parks betrachtet werden kann, repräsentiert der Froschgraben das wirklich Schmutzige, Niedere und bricht mit der Erwartungshaltung. Kreislers Sprache zeichnet sich durch permanente Ironiesignale aus, durch ständige Aufhebung des gerade Gesagten. Hoffmann fügt das Heterogene in seinen Diskurs ein, ohne es zu integrieren, er belässt die Inkohärenz. Dass diese heterogene, von der semiotischen chora durchbrochene und dynamisierte Rede im fürstlichen Park gehalten wird, führt zu einem Effekt der Deterritorialisierung. Der ursprünglich als geschlossen und zentriert, als reterritorialisiert konnotierte Park, bekommt einen Aspekt des Ausschweifens, der Arabeske. Dieser Wechsel von Re- und Deterritorialisierung, wie er von Link für die Romantik analysiert wird, dynamisiert den Text und kann ebenfalls als Durchbruchstelle und Strategie des Semiotischen betrachtet werden. In dem Textabschnitt sind unterschiedliche Durchbruchstellen des Genotextes freigelegt worden, die überwiegend der Strategie der Mimesis angehören. Der Hoffmann’sche Text ist gespickt mit Einbrüchen der semiotischen chora. Karnevaleske Struktur Beispiel für die Durchbruchstellen des Semiotischen in den Phänotext der Kreisleriana ist das extreme Spannungsverhältnis innerhalb des Stücks Der vollkommene Maschinist. Der Text, bestehend aus einem einleitenden Teil und einem Brief, wendet sich gegen die aristotelische Konzeption der Katharsis, gegen den Total-Effekt auf der Bühne. Ursprüngliche Aufgabe des Maschinisten ist es, die Technik der Repräsentationselemente der Darstellung so unterzuordnen, dass sie verschwindet und sich der Total-Effekt einstellen kann. Gegen diese Art der Inszenierung richtet sich Hoffmann in seinem Brief Der vollkommene Maschinist. Er ruft die Maschinisten zum Kampf gegen das Illusionstheater aus: »Krieg den Dichtern und Musikern – Zerstörung ihrer bösen Absicht, den Zuschauer mit Trugbildern zu umfangen und ihn aus der wirklichen Welt zu treiben.«148 Die Maschinisten sollen 148 »Der vollkommene Maschinist«, in: Kreisleriana, S. 54. 213
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nun gegen diese Tendenzen der Illusion anarbeiten und den Zuschauer in jedem Moment daran erinnern, dass er im Theater sitze. Die ausführlichen Beschreibungen offensichtlicher Missgeschicke und Unfälle während der Aufführungen, sowie die Anregungen für möglichst einfache, improvisierte Kulissendarstellungen, haben den Charakter von Ironie-Signalen. Es scheint zunächst so, als ziele der Text darauf ab, dass genaue Gegenteil des Gesagten zu intendiere, als beschreibe der Brief eine Wahrnehmung der Dinge, die er durch die Art der Beschreibung auf das Schärfste kritisiere. Was für das Textverständnis hieße, dass sich Kreisler gegen das Unvermögen und das Ungeschick der Maschinisten wendete und gleichzeitig den Philister kritisierte, der sich aus seinem Alltag nicht durch totale Illusion »aus der wirklichen Welt, in der es ihm doch recht gemütlich ist«149, herausreißen lassen wolle. Diese Lesart würde bedeuten, dass es Kreisler primär um das »phantastische Land der Poesie«150 und gegen die Konsumorientierung des Philistertums gehe. Bereits der Vorspann lässt eine solche Informationsebene als letztgültige jedoch nicht zu. Hier ist das »phantastische Land der Poesie« ein Effekt ›höchster Illusion mit tiefer Erkenntnis und gereinigtem Geschmack angeordneter Dekoration‹. Es schwingt der Vorwurf einer totalen und künstlichen Illusion mit, die ›tiefe Erkenntnis‹ und der ›gereinigte Geschmack‹ beschreiben die Scheinwelt des Philistertums. Es gibt folglich zwei Bereiche, die auf dem Total-Effekt der Illusion aufbauen: die künstlerisch-ästhetische und die philisterhaftreale Scheinwelt. Beide gilt es in ihrer Geschlossenheit aufzubrechen und miteinander in Konflikt zu setzen. Die zweite Ebene der Ironie richtet sich gegen das geschlossene, homogene, kohärente und von allem Heterogenen gereinigte Kunstwerk. Die Kunst soll den Zuschauer nicht psychologisieren und ihn emotional vereinnahmen, soll ihm aber auch nicht zur reinen Unterhaltung dienen, sondern sie soll ihn in kritische Distanz zum Geschehen setzen, indem sie sowohl ihre als auch die Welt des Zuschauer öffnet. Bestätigung findet diese Lesart der doppelten Ironie im Schluss, wenn eine externe Autorität, nämlich Shakespeare durch seine Figur des Webermeisters Zettel zitiert wird. Dieser proklamiert eine Theaterpraxis der permanenten Desillusionierung. Es geht also um eine Form der Darstellung, die weder realistisch noch absolut poetisch ist, sondern sich in ihrer Präsentation ständig selbst repräsentiert, sich selbst als inszeniert darstellt. Inhaltlich be149 Ebd., S. 53. 150 Ebd., S. 51f. 214
IV. ANALOGIEN AUF DER EBENE DER TIEFENSTRUKTUR
trachtet postuliert Hoffmann hier eine Kunstästhetik der offenen Form.151 Er fordert eine Darstellung des Ganzen in Ausschnitten, so dass eine Vielheit an offenen Einzelteilen sich mehr als zufällige Ausschnitte aneinander reihen, keine eigene geschlossene Welt erschaffend, sondern das Flüchtige des Augenblicks bewahrend, nicht als für sich bestehendes Stück Welt existierend, sondern als Schauspiel inszeniert. Hoffmann praktiziert diese Ästhetik in seinem literarischen Werk, er thematisiert die Entstehung der Texte, gestaltet sie fragmentarisch, offen und flüchtig und behandelt seine Figuren wie Marionetten mit maskenhaften Charakteren und vor theaterähnlichen Kulissen agierend. Die offene Form ist die Voraussetzung für ein vitales und dynamisches Subjekt. Das Kreislerianum, als offene Form bereits bestimmt, weist auch genotextuell Strukturen des erweiterten Theaters auf: den Karneval bzw. die karnevaleske Sprache. Auf seine Sprachstruktur hin betrachtet changiert das Stück Der vollkommene Maschinist ständig zwischen den zwei Informationsebenen. Es ergeben sich Widersprüche, während beispielsweise zu Beginn von der »für den Zuschauer wohltuenden Täuschung« die Rede ist, wird später das Gegenteil behauptet, nämlich dass es die Illusions-Kunst darauf abgesehen habe, den Rezipienten »mit allen nur möglichen Empfindungen und Leidenschaften, die der Gesundheit höchst nachteilig, zu quälen.« (53) Widersprüche, Übertreibungen und Verzerrungen sowie die Struktur der doppelten Ironie fügen dem Text eine dynamische Kraft ein, die beim Leser einen disparaten, heterogenen Eindruck hinterlassen und ihn verwirren. Das Subjekt des Textes ist ein Subjekt der Bewegung, das mit Sinnstrukturen und ihren Auflösungen spielt, ohne seiner Motilität ein Zentrum geben zu könne. Schließlich bleiben zwei Lesarten möglich, bzw. es scheinen während des Lesens beide Ironie-Ebenen neben dem Ursprungstext parallel zu existieren und gleich einer Kippfigur ständig abrufbar zu sein. Negativität Die Energie des Verwerfens und Verausgabens, die charakteristisch ist für die Dynamik der Negativität, äußert sich auch in Kreislers Verhalten, wenn es um Schrift und Verschriftlichungen geht. Das Problem der Schrift, der schriftlichen Fixierung von Musik in den Hoffmann’schen Kreisleriana spielt auf eine vorsprachliche Funktionalität der Musik an. Auf eben diese Zeit vor der Setzung des Zeichens bezieht sich auch die Funktionalität der semiotischen chora. Musik und 151 Vgl. Teil III dieser Arbeit Geschlossene und offene Form. 215
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chora leben aus dem Rhythmus, sind bestimmt durch eine »allgemeine Sprache der Natur« (124) und existieren aus einer vorsymbolischen Triebenergie, »in wunderbaren, geheimnisvollen Anklängen spricht sie zu uns, vergeblich ringen wir danach, diese Zeichen festzubannen«(124). Christine Lubkoll verweist außerdem auf die vorsymbolische Körpererfahrung des pianistischen Phantasierens, was sich in der kindlichen Spielart des ›Musikfeindes‹ äußert: »Ich legte den Kopf seitwärts auf den Deckel des Instruments; ich drückte die Augen zu; ich war in einer anderen Welt; aber zuletzt mußte ich wieder bitterlich weinen, ohne zu wissen, ob vor Lust oder vor Schmerz.« (97)152 Der Übergang vom Semiotischen zum Symbolischen, wie ihn Kristeva beschreibt, wird in dem Stück Kreislers musikalisch-poetischer Klub deutlich. Hier unterlegt Kreisler seine freie Klavierimprovisation mit einer Rede, die mit der weiterführenden Akkordfolge an Zusammenhang verliert und schließlich im »tot – tot – tot« endet. Kreislers Begleittext löst sich zunehmend auf, so dass die symbolische Ordnung der Syntax aufgehoben wird, und der Text sich einer vorsymbolischen Artikulationsform nähert. Doch wird es nicht bei der Darstellung des Semiotischen belassen, denn Kreisler fixiert seine Improvisationen in der Schrift und überführt sie somit in den Bereich des Symbolischen: »Hab ich doch gar während des Spielens meinen Bleistift hervorgezogen und Seite 63 unter dem letzten System ein paar gute Ausweichungen in Ziffern notiert mit der rechen Hand, während die Linke im Strome der Töne fortarbeitete!« (6) Kreisler fährt fort: »Ich verlasse Ziffern und Töne, und mit wahrer Lust, wie der genesene Kranke, der nun nicht aufhören kann zu erzählen, was er gelitten, notiere ich hier umständlich die höllischen Qualen des heutigen Tees.« (6) Die ›wahre Lust‹ sowohl am Schreiben von kleinen Anekdoten und Aufsätzen als auch an der Niederschrift von Noten ist nur eine Seite Kreislers. Ihr steht eine notwendige Vernichtung des Geschriebenen gegenüber. Sofort zu Beginn der Kreisleriana wird die Ambivalenz des Schreibens thematisiert: »So kam es denn auch das Freunde es nicht dahin bringen konnten, daß er eine Komposition aufschrieb oder, wirklich aufgeschrieben, unvernichtet ließ. Zuweilen komponierte er zur Nachtzeit in der aufgeregtesten Stimmung; - er weckte den Freund, der neben ihm wohnte, um ihm alles in der höchsten Begeisterung vorzuspielen, was er in unglaublicher Schnelle aufgeschrieben – er vergoß Tränen der Freude über das gelungene Werk – 152 Vgl. auch Christine Lubkoll: Mythos Musik, S. 261. 216
IV. ANALOGIEN AUF DER EBENE DER TIEFENSTRUKTUR
er pries sich selbst als den glücklichsten Menschen, aber den anderen Tag – lag die herrliche Komposition im Feuer.« (4)
Kreislers Habitus verbindet diese zwei widersprüchlichen Aspekte des Improvisierens und der Verschriftlichung. Indem er »zwei Rastralen, wie Dolche in den roten Leibgürtel gesteckt« (5) bei sich trägt, integriert er das Semiotische und das Symbolische, er bildet eine »Einheit von Körper und Zeichen – das Schreibgerät und der Leibgürtel«.153 Doch das ambivalente Verhältnis zur Schrift bleibt. Einerseits dient das Zeichen der ›Genesung des Erkrankten‹, und einem erfüllten Augenblick in »höchster Begeisterung« mit »Tränen der Freude«. Andererseits muss Kreisler seine Kompositionen immer wieder vernichten. Es wird die Schwierigkeit der Übersetzung der körperlichen Empfindung, des sinnlichen Erlebens in tote Buchstaben deutlich. Der unbestimmte Charakter der Musik geht verloren und die Unmittelbarkeit des künstlerischen Erlebens wird vernichtet. Die Schrift entbindet das Werk dem »Reich des Ungeheuern, des Unermeßlichen« (15), dem ›unbekannten Reich, das nichts gemein hat mit der äußern Sinnenwelt‹154 und überführt es in ein irdisches System der Zeichen. Christine Lubkoll spricht von einem »Erkenntnis- und ProduktivitätsModell«155 bei Hoffmann, das die Grenzstellung künstlerischer Produktivität zwischen dem Semiotischen und dem Symbolischen problematisiert. Dieser Übergang von Körperlichkeit zu Zeichenhaftigkeit thematisiert den thetischen Einschnitt und eröffnet die Frage nach wahr und falsch, er fordert eine Öffnung des Symbolischen hin zum Semiotischen und die Integration der materiellen Basis. Dieses Verlangen äußert sich in der metaphorischen Umschreibung des ›Hinwerfens‹, »mit Bleistift schnell hingeworfen« (5), und der fieberhaften, »unglaubliche[n] Schnelle« des Komponierens. Durch diese körperlichen Metaphern wird eine Affinität zwischen Körper und Schrift bzw. der Übergang vom Semiotischen zum Symbolischen deutlich. Julia Kristeva bezeichnet diesen Übergang mit dem Begriff des ›Verwerfens‹. So wie Kreisler ›Negativität‹ und ›Verwerfen‹ verbindet, indem er seine Aufsätze und Kompositionen schnell auf das Papier ›wirft‹ und zumeist anschließend seine Werke ins Feuer ›wirft‹ und somit
153 Christine Lubkoll: Mythos Musik, S. 264. 154 Vgl. »Kreisleriana«, S. 26. 155 Christine Lubkoll: Mythos Musik, S. 269. 217
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vernichtet, kombiniert Kristeva ›Negativität und Verwerfen‹ als zwei Kräfte des Genotextes.156 Die Körperlichkeit spielt auch an anderen Stellen eine wesentliche Rolle im Konzept des Kreislerianums. Kreisler ist eine vom Wahnsinn bedrohte Figur, er neigt dazu, in die »Sprünge des St. Veits-Tanzes«157 zu verfallen, er tänzelt und zuckt, sein Gesicht vibriert »in einem seltsamen Muskelspiel an tausend Falten und Furchen«158, er gleicht einer »skurrilen Larve«159 und zeigt ein »toll verzehrtes Lächeln«160. Züge von manisch-depressiven Zwängen scheinen ihn zu beherrschen, wenn er zunächst »Tränen der Freude« (4) vergießt und wenig später von autoaggressiver Hoffnungslosigkeit ist. Kennzeichnend für ihn ist das Lachen, sei es als »rasende Lache«161 oder als sein »Hoho«-Lachen, das ihn ständig begleitet. Das Lachen hat in der Theorie Kristevas einen besonderen Stellenwert, da es eine Äußerung ist, die das Semiotische in das Symbolische einschließt, das lustbetonte Lachen befindet sich auf der Nahtstelle zwischen Körper und Psyche und es gehört zur karnevalesken Sprache dazu, die der Struktur des Semiotischen gleicht.162 Bezeichnenderweise ist das Lachen signifikant für die Figur Kreislers, der Rätin Benzon wird es jedoch explizit abgesprochen: »›O Kreisler‹, rief die Rätin, ein wenig lächelnd, niemals lachte sie stark und laut [...]«163, was die ›gewisse Kälte ihres Charakters‹164 unterstreicht. Die Sprache der ›Erzählung‹ – im Murr-Teil ›Erzählung‹ ist hier im Gegensatz zu ›Text‹ zu verstehen. Erzählung meint bei Kristeva die Form der Sinngebung, welche die Thesis nicht in Frage stellt, sondern mimetisch beschreibt, das Subjekt wird einheitlich dargestellt und das Heterogene, die Kraft des Semiotischen wird möglichst harmonisch integriert: »Der semiotische Triebstrom wird den gewichtigen Kraftlinien des Erzählens untergeordnet und
156 Vgl. Julia Kristeva: Die Revolution der poetischen Sprache, Kapitel II: Negativität oder Verwerfen, S. 114-170. 157 Kater Murr-Roman, S. 71. 158 Ebd., S. 70. 159 Ebd., S. 60. 160 Ebd., S. 59. 161 Ebd., S. 24. 162 Vgl. auch Michail Bachtin: Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur, München: Ullstein 1969. 163 Kater Murr-Roman, S. 74. 164 Ebd., S. 42. 218
IV. ANALOGIEN AUF DER EBENE DER TIEFENSTRUKTUR
zeugt bloß noch zaghaft vom Prozeß der Sinngebung«.165 Die Erzählung ist die Form der Sinngebung des Mythos, Epos und Romans. Während die Metasprache die Sprache der Wissenschaft ist und lediglich über ein entpersonalisiertes, anonymes Subjekt verfügt, verlässt der vierte Typ der Sinngebung, die Kontemplation, die symbolische Ordnung nicht mehr. Neben dem Text, der Erzählung und der Metasprache ist die Kontemplation die Analyse der thetischen Setzung, die ohne die Betrachtung des Heterogenen als ihrem Ursprung, die Thesis zerlegt und wieder rekonstruiert, »die Religionen, die Philosophie und auch deren von der Psychoanalyse betriebenen Abbau«166 gelten Kristeva als Formen eines derartigen Sinngebungsprozesses. Dem äußerst dynamischen, bewegten, körperlichen und rhythmisierten Subjekt des Verausgabens in der Kreisler-Biographie steht die Bestimmung der genotextuellen Struktur des Murr-Teils gegenüber, dessen Sprachstil sich eindeutig von demjenigen des Kreisler-Teils unterscheidet. Zeichnen sich die Makulaturblätter Kreislers durch den Einsatz zahlreicher Metaphern aus und sind dominiert durch einen mäandrisch ›wuchernden‹ Sprachstil, betont die Murr-Geschichte mehr die metonymische Ebene und gestaltet sich klar strukturiert. Durch den Gebrauch von Stereotypen und etablierten Metaphern ergibt sich ein präkonstituierter Sprachgebrauch, der eine geschlossene symbolische Ordnung suggeriert, das Thetische wird mimetisch beschrieben und das Subjekt der Aussage als einheitlich dargestellt. Indem Murr konventionalisierte Redewendungen und sprachliche Bilder auf seine Situation anpasst, werden diese ihres metaphorischen Bereichs beraubt und bekommen ihre ursprüngliche Bedeutung zurück.167 Es wird an der Sprache, um im metaphorischen Gestus zu bleiben, ›Rückbau‹ betrieben. »[...] und so wird es, da ich selbst nichts Entscheidendes darüber weiß, immerdar ungewiß bleiben, ob ich im Keller, aus dem Boden, oder in dem Holzstall, das Licht der Welt erblickte, oder vielmehr nicht erblickte, sondern nur in der Welt erblickt wurde von der teuren Mama.«168 Das Bild »das Licht der Welt erblicken« metaphorisch gebraucht für das Geboren-Werden, wird mit der Katzenrealität des Blind165 Julia Kristeva: Die Revolution der poetischen Sprache, S. 100. 166 Julia Kristeva: Die Revolution der poetischen Sprache, S. 104. 167 Zur Verwendung von Sprichwörtern oder Redewendungen im Kater Murr-Roman vgl. die Studie von Ute Späth: Gebrochene Identitäten. Stilistische Untersuchungen zum Parallelismus in E.T.A. Hoffmanns »Lebens-Ansichten des Katers-Murr«, Göppingen: Kümmerle 1970. 168 Kater Murr-Roman, S. 14. 219
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Geboren-Werdens konfrontiert. Dieser ›Rückbau‹ ist eine Verschiebung von Bildmaterial auf die syntagmatische Ebene. Insgesamt betont der Sprachstil der Murr-Biographie stark das Syntagma. So z.B. wenn Murr das Kratzen seiner Krallen mit »jenem Muskelspiel der Pfoten«169 bezeichnet oder durch langatmige Ausführungen einen kurzen Sachverhalt oder einen einzigen profanen Gegenstand beschreibt: »Bald darauf erfaßte sie [die Hand, M. B.-A.] mich aber aufs neue beim Kopf und drückte ihn nieder, so daß ich mit dem Mäulchen in eine Flüssigkeit geriet, die ich, selbst weiß ich nicht, wie ich darauf verfiel, es mußte daher physischer Instinkt sein, aufzulecken begann, welches mir eine seltsame innere Behaglichkeit erregte. Es war wie ich jetzt weiß, süße Milch die ich genoß [...].«170
Die häufigen Übersetzungen von Begriffen in eine ›Katersprache‹ bringen keinen inhaltlichen Gewinn und unterstreichen den langatmigen, ausschweifenden und unnötig gestelzten Sprachstil der MurrBiographie. Sie wirken häufig ›glatt‹, sie verfügen nicht über die ›gegen den Strich gebastelten Katachresen-Mäander‹171 und entbehren deshalb einer zündenden, aggressiven Witzstruktur sowie einer körperlichen, energetischen Dynamik. Ihre Ironie ist subtiler, da sie mit einem philisterhaft konventionellen Sprachgebrauch übereinstimmen und diesen gegen sich selbst ausspielen: »Die Nacht ist etwas frisch und ich wollte – doch jeder der dies lieset oder nicht lieset, begreift nicht meine hohe Begeisterung, denn er kennt nicht den hohen Standpunkt, zu dem ich mich hinaufgeschwungen! – Hinaufgeklettert wäre richtiger, aber kein Dichter spricht von seinen Füßen, hätte er auch deren viere so wie ich, sondern nur von seinen Schwingen, sind sie ihm auch nicht angewachsen, sondern nur Vorrichtung eines geschickten Mechanikers.«172
Murrs Sprache zeichnet sich durch einen gekünstelten, hypotaktischen Stil aus, der besonders genial und poetisch klingen soll. Doch Murr verliert hier den Faden und bringt seinen begonnen Satz »Die Nacht ist etwas frisch und ich wollte [...]« nicht zu Ende, so dass der 169 Kater Murr-Roman, S. 15. 170 Ebd., S. 15. 171 Vgl. Jürgen Link: metamorphosen der romantischen kulturrevolution, S. 50. 172 Kater Murr-Roman, S. 13. 220
IV. ANALOGIEN AUF DER EBENE DER TIEFENSTRUKTUR
Sprachstil ad absurdum geführt wird. Ebenso wird die Metapher des »Hinaufschwingens zu höchster Erkenntnis«, des »geflügelten Wortes« oder »des Dichters Schwingen, die hinauf in höchste Sphären tragen« dem Tier, seinem profanen ›Hinaufklettern‹ auf einen ›hohen Standpunkt‹, zumeist auf einen Baum und nicht in dichterische Sphären, entgegengesetzt und somit ironisch verfremdet. Es ergibt sich ein Katachresen-Mäander. Die Natur des Katers und das Dichtertum kollidieren und dem Künstler-Diskurs wird in der Schlussbemerkung die Technik, die Mechanik angeknüpft: Sind die ›Füße‹ des Katers denotativ und die ›Schwingen‹ des Künstlers bereits metaphorisch gebraucht, so gehören beide der körperlichen Natur an. Die Interferenz der Schwingen als Vorrichtungen eines geschickten Mechanikers führt auf eine neue Diskursebene und somit zum Bildbruch. Das Jonglieren mit Stereotypen, Metaphern und Redewendungen ist ein bezeichnendes stilistisches Mittel der Murr-Biographie: »Dabei darf ich auch nicht unterlassen, die merkwürdige Beobachtung mitzuteilen, die ich rücksichts des vollkommenen Verstehens der menschlichen Sprache gemacht. Ich habe nämlich mit vollem Bewußtsein beobachtet, daß ich gar nicht weiß wie ich zu diesem Verstehen gekommen bin.«173
›Mit vollem Bewusstsein nicht zu wissen, wie ich zu diesem Verstehen gekommen bin‹ erzeugt ein ›rhetorisches Paradoxon‹174. Diese widersprüchliche Struktur lässt unter dem Deckmantel des philosophischen Satzes »Ich weiß, dass ich nichts weiß« die Kraft der semiotischen chora durchscheinen. Eine ähnliche stilistische Vorlage liegt der »Trauerrede« zugrunde. Sie thematisiert explizit die Mittel der Rhetorik und bindet diese Erläuterungen in den Text der Rede ein. »[...] lasst uns solchen tiefsinnigen Betrachtungen nicht nachhängen, sondern uns ganz der Klage um den viel zu früh verlorenen Freund Muzius zuwenden. – Es ist gebräuchlich, daß der Trauerredner den Anwesenden die ganze vollständige Biographie mit lobpreisenden Zusätzen und Anmerkungen vorträgt und dieser Gebrauch ist sehr gut, da durch einen solchen Vortrag auch der betrübteste Zuhörer der Ekel der Langeweile erregt werden muß, dieser Ekel aber nach der Erfahrung und dem Ausspruch bewährter Psychologen am besten jede Betrübnis zerstört, weshalb der
173 Kater Murr-Roman, S. 37. 174 Vgl. Ute Späth: Gebrochene Identität, S. 110. 221
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Trauerredner beide Pflichten, die, dem Verewigten die gehörige Ehre zu erweisen und die, die Hinterlassenen zu trösten, auf einmal erfüllt.«
Es ergibt sich eine Wechselstruktur zwischen Pathos, Theorie und Ironie, die zu einer ironischen Bruchstruktur führt. Pathetische Erinnerungsbilder leiten die Rede ein, doch die Reflexion über den Aufbau einer Trauerrede distanziert von dem vorherigen und die anschließende Darstellung der Vorzüge einer solchen rhetorischen Taktik, nämlich den Ekel zu erregen und auf diese Weise den Trauernden seines Schmerzes zu entfremden, ihn gar mit Hilfe des Ekelgefühls zu trösten, führt zur ironischen Überhöhung des Ganzen. Im Anschluss an diese Überzeugungstaktik erwartet der Rezipient die Durchführung, doch diese bleibt aus: Der »treue Freund und Bruder« des Verstorbenen weiß nicht genug über dessen Vita. Die Verstrickung in Widersprüche geht weiter, wenn der Redner nun doch keinen ›langweiligen Sermon‹ verbreiten möchte und sich statt dessen kurz fassen will, was in einer langatmigen Rede endet. Solche Kontraststrukturen wurden bereits für den Phänotext des Kreislerianums aufgezeigt. Die Momente der Annihilation des Vorangegangenen, des Nebeneinander von Pathos und Theorie, von Ekstase und Profanem erzeugen durch ihre Inkohärenz einen Durchbruch des Semiotischen. Sie ermöglichen die Einbindung des Heterogenen und damit die Logik des Traums. Die Widersprüchlichkeiten des Textes lassen eine negative Triebenergie des Genotextes freilegen. Trotz seiner Ankündigung, aufgrund von Unkenntnis keine Rückschau halten zu wollen, beginnt der Redner Hinzmann doch eine Laudatio. Mit allen Mitteln der Rhetorik wahrt er eine korrekte Form: Einleitend wird Muzius beschrieben als »ein würdiges Glied der Katzengesellschaft, ein guter treuer Gatte, ein vortrefflicher liebender Vater, ein eifriger Verfechter der Wahrheit und des Rechts, ein unermüdlicher Wohltäter, eine Stütze der Armen, ein treuer Freund in der Not!«175 Jede dieser einzelnen gesellschaftlichen Stellungen wird im Lauf der Rede einzeln wieder aufgenommen, durch eine rhetorische Frage eingeleitet und sofort bejaht, der Bejahung folgt die Begründung, welche sofort negiert wird: »Ein würdiges Glied der Katzengesellschaft? – Ja! denn immer äußerte er die besten Gesinnungen und war sogar zu einiger Aufopferung bereit, wenn geschah was er wollte, feindete auch nur ausschließlich diejenigen
175 Kater Murr-Roman, S. 342. 222
IV. ANALOGIEN AUF DER EBENE DER TIEFENSTRUKTUR
an, die ihm widersprachen und seinen Willen sich nicht fügten. Ein guter treuer Gatte? – Ja! denn er lief anderen Kätzchen nur dann nach, wenn sie jünger und hübscher waren als sein Gemahl und unwiderstehliche Lust ihn dazu trieb. [...]«176
Im Weiteren werden immer wieder Sinnstrukturen negiert und gegeneinander ausgespielt. Der Text erfährt eine Dynamisierung, jedoch nicht im Sinne von Diskursbasteleien oder Negativität, sondern ganz dem Sprachgestus verhaftet. Ein Einschreiben des Semiotischen findet durch die enttäuschte Erwartungshaltung statt, jedoch dient dieser Bruch lediglich zur Unterstützung der eigentlichen symbolischen Ordnung. Unter dem Vorwand einer Trauerrede und dem Deckmantel eines ruhigen, rhetorischen Sprachgestus’, der für Bildung, Autorität und Rechtschaffenheit einsteht, wird eine Triebenergie entwickelt, die das Symbolische auf sehr subtile Weise berührt, es aber nicht bedroht oder zerstört oder seine ›glatte‹ Oberfläche bewahrt. Assoziationsketten Als eine Strategie, die bisher noch nicht berücksichtigt wurde, soll im Folgenden ein Beispiel für die Assoziationskette als Verfahrensweise der Traumlogik gegeben werden, denn Verschiebungen können sich auch in Assoziationsketten äußern, so dass sich die Bedeutung auf der syntagmatischen Ebene immer weiter von der Ausgangssituation entfernt. Ein Beispiel hierfür ist das erste Makulaturblatt im Kater MurrRoman, es beginnt mit einer Anekdote Meister Abrahams, die er als Antwort auf die Frage von Fürst Irenäus nach den Ursachen des missglückten Hoffestes gibt. Der Einstieg in das Gespräch beginnt unvermittelt, da die Kreislerbiographie als Fragment und zufällig der MurrBiographie eingefügt ist. Dem Leser fehlt jede Information über den Kontext und deshalb auch jedes Verständnis für den Sinn der Anekdote vom Sturm auf dem Pontneuf: Einem Pariser Advokaten wird nachts auf dem Pontneuf unter dem Vorwand, es wehe ein starker Sturm, der Hut, der Mantel und der Stock von drei Soldaten entrissen. Fürst Irenäus versucht vergeblich, den Sinn der Geschichte zu entschlüsseln: »›Ich weiß‹ erwiderte der Fürst, als ich dies gesprochen, ,ich weiß gar nichts, und begreife überhaupt nicht, wie Ihr, Meister Abraham, mir solches wirres Zeug vorschwatzen könnt. Den Pontneuf kenne ich allerdings, 176 Kater Murr-Roman, S. 342. 223
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er befindet sich zu Paris und bin ich zwar niemals darüber zu Fuße gegangen, wohl aber oft darüber gefahren, wie es meinem Stande geziemt. Den Advokaten Rabelais habe ich niemals gesehen und um Soldatenstreiche in meinem Leben mich nicht bekümmert. Als ich in jüngeren Jahren noch meine Armee kommandierte, ließ ich wöchentlich einmal sämtliche Junkers durchfuchteln für die Dummheiten die sie begangen oder künftig begehen möchten, das Prügeln der gemeinen Leute war aber die Sache der Lieutnants, die damit auch meinem Beispiel gemäß allwöchentlich verfuhren, und zwar sonnabends, so daß sonntags es keinen Junker, keinen gemeinen Kerl in der Armee gab, der nicht seine gehörige Tracht Schläge erhalten, wodurch die Truppe, nächst der eingeprügelten Moralität, auch ans Geschlagenwerden überhaupt gewöhnt wurden, ohne jemals vor dem Feinde gewesen zu sein und in diesem Fall nichts anders tun konnten als schlagen. – Das leuchtet Euch ein, Meister Abraham, und nun sagt mir um tausend Gottes Willen, was wollt Ihr mir Eurem Sturm, Euren auf dem Pontneuf beraubten Advokaten Rabelais, wo bleibt Eure Entschuldigung, daß das Fest sich auflöste in wilder Verwirrung, daß mir eine Leuchtkugel ins Toupet fuhr, daß mein teurer Sohn in das Bassin geriet und von verräterischen Delphinen bespritzt wurde über und über, daß die Prinzessin entschleiert mit aufgeschürztem Rock wie Atalanta durch den Park fliehen mußte, daß – daß – wer zählt die Unglücksfälle der verhängnisvollen Nacht! – Nun Meister Abraham, was sagt Ihr?«177
Meister Abrahams Erläuterung zu der Erzählung basiert bereits auf einem inhaltlichen Verwirrspiel, er deklariert Rabelais als Autor der Anekdote, während die tatsächliche Grundlage das Kapitel »Das Fragment: Paris« aus Laurence Sterns Roman Empfindsame Reise durch Frankreich und Italien ist.178 Fürst Irenäus Reaktion ist ebenfalls verwirrt: »›Ich weiß‹ [...] ›ich weiß gar nichts [...]‹«, sein zweiter Satz ist syntaktisch unkorrekt und holprig formuliert, der Fürst ›stolpert‹ in seiner Irritation. Die gebrochene Satzstruktur erfährt eine Dynamik der Negativität. Dieses fällt besonders ins Gewicht, wenn beachtet wird, dass der zweite Satz über die einzigen drei Positivvermerke (»kenne ich«, »befindet sich«, »darüber gefahren«) der direkten Entgegnung auf Abrahams Feststellung: »Sie wissen das alles gnädigster Herr!« verfügt. Eingerahmt wird der bejahende Teil von verstärkten Negationen (»weiß gar nichts«, »begreife überhaupt nichts«, »niemals gesehen«, »in meinem ganzen Leben mich nicht be177 Kater Murr-Roman, S. 19 f. 178 Vgl. Anmerkungen zum Kater Murr-Roman, S. 496. 224
IV. ANALOGIEN AUF DER EBENE DER TIEFENSTRUKTUR
kümmert«). Inhaltlich wird die irritierende Angabe der falschen Autorschaft unbewusst durch Irenäus fortgeführt, dieser hat weder die unkorrekte Quellenangabe bemerkt noch begriffen, dass es sich überhaupt um den Namen eines Schriftstellers handelt und nicht um die Namensnennung des Advokaten. Das Verwirrspiel und die Irritation haben ein inhaltliches Abirren zur Folge, was sich im Satzbau widerspiegelt. Den drei ersten, kurz und stockend rhythmisierten Sätzen folgt ein langes, hypotaktisch gebautes Satzgefüge, in dem Irenäus endlich Sicherheit bekommt. Die Sprache gewinnt an Fahrt, und Irenäus gibt seinen Erinnerungen und Assoziationen freien Lauf. Durch die Umdeutung der geschilderten Soldatenstreiche vom Pontneuf in bereits begangene und zukünftige Dummheiten, die es zu bestrafen gilt, fühlt der Fürst sich in seinem Element. Objektiv betrachtet entbehrt die Darstellung der Armeemethoden jedes Sinns, sie basiert auf einer Schein-Logik. Aus dem Stichwort »Soldatenstreiche« entwickelt sich eine Assoziationskette, die einerseits ausgehend von »Soldaten« dem Strang ›Armee‹, ›Soldaten‹, ›Junkers‹, ›gemeine Leute‹, ›Lieutenants‹, ›Truppen‹ und ›Feinde‹ folgt und andererseits das Ausgangswort »Streiche« zugrunde legt und hieraus die ›Dummheiten‹ bzw. ›durchfuchteln‹, ›das Prügeln‹, ›Tracht Schläge‹, ›eingeprügelte Moralität‹, ›Geschlagenwerden‹ und ›schlagen‹ ableitet. Der Fürst gibt sich einer Kettenreaktion hin, die ihn von den beschriebenen Soldatenstreichen über das Schlagen von Soldaten und das Gewöhnen an solches Geschlagenwerden bringt. Das Geschlagenwerden erfährt eine subtile Umdeutung, indem aus dem pädagogischen Geschlagenwerden durch die Lieutenants ein Geschlagenwerden durch den Feind wird. Dieses entspricht ausdrücklich keinem realen Ereignis: »[...] ohne jemals vor dem Feinde gewesen zu sein« und dennoch löst der Gedanke an die Front (»vor dem Feinde«) in Irenäus weitere Gedanken aus. Die Soldaten müssen sich verteidigen, doch statt des eindeutigen »sich schlagen« müssen im Sinne einer Verteidigungshandlung heißt es lediglich, dass sie »nichts anders tun konnten als schlagen« und wertet das Schlagen als siegreiche Handlung. Durch geschicktes Umdeuten und Formulieren gelingt es dem Fürsten eine stimmige Schein-Welt zu inszenieren, die Form so gedreht, dass am Ende alles logisch geschlussfolgert erscheint, selbst die Absurdität und Sinnentleertheit »eingeprügelter Moralität«, das Gewöhnen »ans Geschlagenwerden [...], ohne jemals vor dem Feinde gewesen zu sein« stellt Irenäus als logische und einleuchtende Konsequenzen dar. Meister Abraham, der dieser scheinlogischen, inszenierten und verdrehten Form nicht genüge leis225
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tet, wird angeklagt und zur Verteidigung animiert: »Nun, Meister Abraham, was sagt ihr?« Obwohl Irenäus sich gedanklich weit entfernt hat, beziehen sich seine Ausführungen immer noch auf das Verhalten der Soldaten vom Pontneuf, er liefert eine indirekte Begründung für ihr Benehmen und somit auf einer weiteren Ebene auch für Abrahams Verhalten, der die Rolle der Soldaten beim Fest des Fürsten inne hat: Beide, die Soldaten und Abraham, werden geprügelt bzw. für schuldig angesehen, egal ob sie Dummheiten begangen haben oder nicht. Die gesamte Textpassage ist, wie beschrieben, von Umdeutungen, scheinlogischen Schlüssen und assoziativen Kettenreaktionen geprägt. Ein weiteres dynamisches Moment bekommt die Szene durch ihren Zirkelcharakter: Ein großer Zirkelschluss – Meister Abrahams Aussagen zur Begründung der Ereignisse lassen sich auf »eigentlich nicht der Sturm [...], sondern ein Grenadier« und schließlich doch der Sturm (»was war an allem Unheil schuld, als der Sturm – das grässliche Unwetter welches einbrach«) reduzieren – umrahmt den kleineren Zirkel – Nicht-Begreifen der Anekdote bzw. der Umstände, assoziierte Erinnerung ohne weitere Erkenntnis, Wiederaufgreifen des Rätsels. Die gedankliche Kettenreaktion des Fürsten, der auffallende Satzbau sowie die Umdeutungen und scheinlogischen Schlüsse weisen auf Kräfte hin, die eine symbolische Ordnung manifestieren und in denen das Semiotische zur Bestätigung dieser Ordnung dient. Intertextualität Eine weitere Strategie des Semiotischen sich dem Symbolischen einzuschreiben ist diejenige der Intertextualität. Kristevas Konzept von Intertextualität meint den Übergang von einem Zeichensystem in ein anderes, bzw. die Transposition der thetischen Setzung von einem System in ein nächstes. In diesem Falle gilt es also nicht die Durchbruchstellen des Semiotischen zu bestimmen, sondern das Subjekt des Geotextes von einem System in ein anderes übersetzt zu sehen. Die Beschreibung intertextueller Zusammenhänge wird insbesondere Aufgabe des interdisziplinären Vergleichs zwischen dem literarischen und dem musikalischen Kreislerianum sein. Doch auch innerhalb der Hoffman’schen Kreisleriana sowie dem Kater Murr-Roman gibt es Intertextualität. Das Medium der Systeme bleibt zwar identisch, doch die Textarten ändern sich. Die Kreisleriana setzen sich aus unterschiedlichen Texttypen zusammen, ernsthafte Schilderung von Musikerlebnissen stehen neben ironisch inszenierten Texten, musik226
IV. ANALOGIEN AUF DER EBENE DER TIEFENSTRUKTUR
theoretische Abhandlungen werden abgelöst von fiktiven Briefen und im Kater Murr-Roman sind pathetischer Bildungsroman und chaotisch organisierte Künstlerbiographie einander gegenüber gestellt. Doch wie bereits die Untersuchung des Phänotextes gezeigt hat, ziehen sich die Stilelemente durch alle Textsorten hindurch, die gleiche metaphorisch formelhafte Sprache sowie arabeskenhafte Verknüpfungsmomente, Verdichtungen zu momentaner Einheit in den Witzstrukturen durch Diskurskombinatorik und Katachresen-Mäander, immer wieder Thematisierung des Hässlichen, des Anderen, des Fratzenhaften und des Wahnsinns sowie ständige Sinnverschiebungen und Doppeldeutigkeiten. Dadurch dass die Texttypen sich ändern, variieren auch die Sprachstile, jedoch bleibt ein signifikanter Sprachgestus erhalten. Als Kennzeichen einer karnevalesken Sprache bleiben Mimesis und Negativität durchgehende Bestandteile der Kreisleriana sowie der Kreisler-Biographie und kennzeichnen den häufigen Durchbruch des Semiotischen in das Symbolische. Die Subjektposition im Murr-Teil sowie im Kreisler-Teil Wie bereits oben beschrieben, dominiert in der Murr-Biographie die syntagmatische Ebene. Hier dienen Wortspiele insbesondere dazu, die Realität zu setzten, statt sie zu hinterfragen und mit dem Phantastischen zu konfrontieren. Der Fürst Irenäus als das ›Oberhaupt der Philister‹ und auch der philisterhafte Kater Murr nutzen Sprache, um Realität zu erzeugen bzw. um die realen Umstände ihrer Vorstellung von Welt anzupassen, sie deuten um und ziehen scheinlogische Schlüsse. Der fürstliche Hofstaat beruht auf Fassade und Illusion, er wird künstlich aufrecht erhalten, der Fürst inszeniert ein einziges großes Schauspiel, »indem er einen süßen Traum ins Leben treten ließ, in dem er selbst mit seiner Umgebung, sowie ganz Sieghartsweiler figurierte.«179 Er selbst hat die Rolle des Herrschers an diesem ›träumerischen Hof‹, die er »mit dem wirkungsvollsten Pathos«180 ausübt. Dass er keinen Sinn für Allegorien oder Doppeldeutigkeiten hat, wurde bereits dargestellt, und dass er sich in diesem Fall in Assoziationsketten über seinen Staat und seine ausgesprochen gut funktionierende Staatsmacht verliert, zeigt die eigentliche Wirklichkeitsferne des Fürsten. Auch Murr schreibt sich seine Wirklichkeit selbst, mit Hilfe von Bedeutungsverschiebungen und sprachlichen Analogien passt er sie seinen Gegebenheiten an. Die Philisterwelt entpuppt sich als eine fik179 Kater Murr-Roman, S. 41. 180 Ebd. 227
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tive, eine irreale Phantasiewelt. Ihre Sprache produziert eine neue Wirklichkeit, die Widersprüche und Ambivalenzen sind unbewusst und lediglich dem Leser ersichtlich. Für das Triebsubjekt dieses Textteils bedeutet das, eine äußerst subtile Präsenz, seine Energie schreibt sich dem Phänotext defensiv und vorsichtig ein, so dass die Sprache den Schein von Kohärenz und Geschlossenheit bewahrt. Ihr Witz und ihre Ironie bedrohen nicht die symbolische Ordnung, sondern belassen ihre ›glatte‹ Struktur. Das Symbolische dominiert, die semiotische chora steht hinter der symbolischen Struktur zurück und das Subjekt leugnet seine materielle Basis, so dass es sich selbst entfremdet und sich eine Schein-Identität zulegt. Das Subjekt des Kreisler-Teils stellte sich als äußerst energiegeladen und bewegt dar. Es weist eine starke Präsenz der semiotischen chora auf, integriert somit seine Triebenergien, ist dadurch sich selbst treu und bleibt authentisch. Diese Darstellung scheint dem Phänotext des Hoffmann’schen Kreislerianums zu widersprechen, gilt doch gerade der Künstler Kreisler als gespaltene Persönlichkeit, die sich vom Wahnsinn bedroht sieht, skurril ist und ohne wirkliche Identität dem ständigen Doppelgänger ausgesetzt ist. Kreisler stellt sich jedoch seiner inneren Zerrissenheit, er behält den Blick für das Wesentliche und legt die Verlogenheit und den Etikettenschwindel der Philisterwelt offen. Die Darstellung der Kreisler-Figur unterstreicht die Authentizität nicht nur sprachlich sondern liefert auch inhaltliche Indizien, so ist Kreislers Herkunft beispielsweise tatsächlich unbekannt, während Murr seinen Geburtsort bewusst in Frage gestellt wissen will, um als Genie gelten zu können.181 Oder an anderer Stelle sieht sich Meister Abraham gegenüber dem Professor gezwungen, Murr mit seinen Fähigkeiten zu verleugnen, während er im Gegenzug für die Identität Kreislers eintritt und dessen wahres Wesen der Rätin eröffnet. Die Scheinwelt der Philister steht der Wahrheit bzw. der Suche nach Wahrheit in der Kreisler-Welt gegenüber. Mimesis und Negativität, die Strategien der semiotischen chora, die sich im Phänotext des Kreislerianums vehement äußern, dienen dazu das Thetische zu unterlaufen, sie stellen die Setzung von wahr und falsch in Frage und produzieren Wahrscheinlichkeiten.182 Für diese Suche nach Wahrheit ist Kreislers Verhältnis zur Kunst signifikant. Die Musik spielt für ihn eine zentrale Rolle in seinem Leben und ist Teil seines Wesens. Der 181 Vgl. Kater Murr-Roman, S. 14. 182 S.o. Möglichkeiten des Semiotischen sich dem Symbolischen einzuschreiben. 228
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Philisterwelt bedeutet die Musik Zerstreuung, angenehme Unterhaltung, sie ist ein Zeichen für Bildung, Anstand sowie guter Etikette und in diesem Sinne wird auch über Musik geurteilt. Sie darf nicht stören und auf keinen Fall poetisch sein. ›Poetisch‹ ist hier ganz im Sinne Kristevas zu verstehen, für die das Poetische hinsichtlich der Sprache alle Verfahrensweisen umschließt, welche dazu dienen die Triebambivalenzen und die chora-Lust in den Phänotext zu holen bzw. sie zu reaktivieren. Die Welt der Philister will dieses (wieder) auftauchen der materiellen Basis verhindern. Genauso wie ihre Musik keine Berührung mit dem Semiotischen erlaubt, unterbindet auch ihre Sprache den Durchbruch der semiotischen chora. Diese halb bewusste und halb unbewusste Ausgrenzung des Körperlichen sowie des Unbewussten aus der Sprache und der Musik führt zur eigentlichen Nicht-Identität. Nicht Kreisler, sondern die Philister sind die Zerrissenen, diejenigen, die mit dem Riss zwischen ihrem Dasein in der symbolischen Ordnung und ihrer materiellen Basis leben und ihn praktizieren. Für Kreisler hingegen muss die Musik poetisch sein, sie eröffnet ihm den Zugang zu seinem ›tiefsten Inneren‹, zu seiner energetischen chora und aktiviert seine ambivalenten Triebenergien. Dieses äußert sich insbesondere in seinen körperlichen bzw. psychosomatischen Reaktionen auf Musik. Musik ist in der Lage, sein Gleichgewicht und somit seine Körper-Seele-Einheit wieder in Einklang zu bringen183, sie kann jedoch auch das Gegenteil bewirken, ihn gewaltsam berühren und Schmerz zufügen. Durch die aktive Präsenz der semiotischen chora im Phänotext der poetischen Musik, findet eine ständige Wiederaufnahme der chora-Lust sowie die Wiederholung von Triebambivalenzen statt. Damit verfügt die Musik über eine große Nähe zum Körperlichen des Subjekts. Dieses körperliche Erleben von Musik, diese Stimulanz und Berührung der Triebstruktur wird von Kreisler erfahren und thematisiert. Wenn »sein Geist in ein Reich entwich, wohin ihm niemand ohne Gefahr folgen konnte« (4), dann war Kreisler in die Sphären des Unbewussten, in eine Grenzlandschaft »dicht an der großen Dornenhecke, der Grenze der Vernunft« (64) eingetaucht. Im Sinngebungsprozess der Musik dominiert, wie oben dargestellt184, das Semiotische. Dieses wird von Hoffmann sprachlich umgesetzt, indem er seine Musikbeschreibungen in ganz besonderer Weise sprachlich gestaltet. Hier dominiert ebenfalls das Semiotische, es schreibt sich dem Symbolischen ein durch Verdichtungen, Verschiebungen 183 »Kreisleriana«, S. 16. 184 Vgl. den Punkt Musik mit Kristeva betrachtet 229
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und letztlich auch durch Intertextualität, denn die Schilderung eines Musikstücks bedeutet die Übersetzung, die Transposition der thetischen Setzung von einem Zeichensystem in ein anderes. Das Stück Beethovens Instrumentalmusik beispielsweise bespricht Musik auf eine Weise, die körperliche Assoziationen aufnimmt und metaphorisch, mit dem Verfahren der Traumfiguren in das literarische Zeichensystem transformiert. Es wurden bereits zahlreiche Beispiele für Musikbeschreibungen und -evokationen gegeben, an denen sich der Durchbruch der ambivalenten Triebenergien sowie die (Re-)Aktivierung der chora-Lust zeigen ließ.185 Ergänzend sollen zwei Textstellen zitiert werden, die beide die Beschreibung eines Frauengesangs bzw. den gemeinsamen Gesang mit einer Frau zum Anlass haben. Die erste ist dem Murr-Teil des Kater Murr-Romans entnommen, sie schildert eine Duett-Szene zwischen Murr und Miesmies. »Miesmies sang nun mit seltner Geläufigkeit, mit ungemeinem Ausdruck, mit höchster Eleganz das bekannte: Di tanti palpiti etc.etc. Von der heroischen Stärke des Rezitativs stieg sie herrlich hinein in die wahrhaft kätzliche Süßigkeit des Andantes. Die Arie schien ganz für sie geschrieben, so daß auch mein Herz überströmte und ich in ein lautes Freudengeschrei ausbrach. Ha! – Miesmies mußte mit dieser Arie eine Welt fühlender Katerseelen begeistern! – Nun stimmten wir noch ein Duett an [...]. Die himmlischen Rouladen gingen glanzvoll aus unserem Inneren heraus, da sie meistenteils aus chromatischen Gängen bestanden.«186
Die zweite Passage beschreibt Kreislers Reaktion auf Julias Gitarrenspiel und ihren Gesang bei seiner ersten Begegnung mit Julia und der Prinzessin im Park des Fürsten. »Der wunderbare Geist des Wohllauts, der diesem kleinen seltsamen Ding [seiner Gitarre, M. B.-A.] befreundet, wohnt auch in meiner Brust, aber eingepuppt, keiner freien Bewegung mächtig; doch aus Ihrem Innern, mein Fräulein, schwingt er sich auf zu den lichten Himmelsräumen, in tausend schimmernden Farben, wie das glänzende Pfauenauge. – Ha mein Fräulein! als Sie sangen, aller sehnsüchtige Schmerz der Liebe, alles Entzücken süßer Träume, die Hoffnung, das Verlangen, wogte durch den
185 Vgl. insbesondere Teil II, 1. dieser Arbeit, aber auch Teil IV. 186 Kater Murr-Roman, S. 210. 230
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Wald, und fiel nieder wie erquickender Tau in die duftenden Blumenkelche, in die Brust horchender Nachtigallen!«187
Der Unterschied im Sprachstil ist signifikant. Murr bewertet die Musik nach ihrer Eleganz, ihrer Süßigkeit, ihrem Glanz sowie ihrer Begeisterungsfähigkeit, nach relativ prosaischen Maßstäben. Für »eine ganze Welt von Katerseelen« singt Miesmies, dieser metonymische Ausdruck lässt Murrs Enthusiasmus durchbrechen, scheint jedoch in Anbetracht einer ›wackren Sängerin‹ wenig überzeugend und wird für den Leser ironisch gebrochen. Der Gesang wird mit musikalischen Fachtermini, wie ›Rezitativ‹ und ›Arie‹, ›Andante‹, ›chromatisch‹ und ›Rouladen‹ beschrieben und bleibt einem Diskurs verhaftet. Diese Metasprache lässt keine Integration des Subjekts zu, es bleibt außerhalb des Systems, in dem es sich das Symbolische völlig zu eigen macht. Der Adressat ist ein »wir«, die Welt der Katerseelen, unterschiedslose Subjekte, die sich mit Hilfe der vereinheitlichenden symbolischen Ordnung verständigen. Die Negativität wird in das System eingeschlossen.188 Die zweite Textpassage bedient sich einer poetischen Sprache, sie arbeitet mit Ersetzungen, personifiziert den Gitarrenklang und den Schmerz der Liebe, lässt den einen hoch in ›Himmelsräume‹ steigen und den anderen hinab in ›Blumenkelche‹, ›in die Brust horchender Nachtigallen‹ fallen. Der Raum wird geöffnet über die Szene hinaus, Naturmetaphorik dient einer semantischen Verdichtung der Passage, Bedeutungsgrenzen werden verwischt und entwickeln sich nach der Logik der Träume weiter. Interdiskursive Verknüpfungen entwickeln einen mäandrischen Stil des Ausschweifens, der durch das romantische Kollektivsymbol ›Wald‹ eine deterritorialisierende, dynamische Kraft entwickelt. Die symbolische Ordnung wird von einem bewegten, vitalen Subjekt unterlaufen und von dessen semiotischer chora ständig durchbrochen. Auffallend ist die Rolle des weiblichen Gesangs auch insofern, als dass für Kristeva das Semiotische in enger Verknüpfung zum Weiblichen gesehen wird, das Symbolischen wird dem Männlichen, dem Gesetz zugeordnet. Das Ineinanderübergehen von Frau und Musik und die anschließende Umwandlung von Musik in ›herabfallende Liebessehnsucht‹ zeigt nicht nur das assoziative und fließende Verfahren der Traumarbeit, sondern auch eine unmittelbare 187 Kater Murr-Roman, S. 60. 188 Zum Texttyp der Metasprache vgl. Julia Kristeva: Die Revolution der poetischen Sprache, S. 102. 231
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Nähe zwischen Weiblichkeit und Musik und Semiotischem. Die gleiche Verquickung findet sich in dem Stück Johannes Kreislers Lehrbrief, in dem es heißt: »Ich sah den Stein – seine roten Adern gingen auf wie dunkle Nelken, deren Düfte sichtbarlich in hellen, tönenden Strahlen emporfuhren. In den langen, anschwellenden Tönen der Nachtigall verdichteten sich die Strahlen zur Gestalt eines wunderbaren Weibes, aber die Gestalt war wieder himmlische, herrliche Musik!« (122)
Das Verfahren traumähnlicher Umwandlungsprozesse geht häufig einher mit synästhetischen Wahrnehmungsweisen. Musikbeschreibungen bei Hoffmann sind, wie auch an diesem Textbeispiel erneut deutlicht wird, oft mit amodalen Wahrnehmungen verknüpft, es sei nur exemplarisch an die folgende Stelle erinnert: »[...] auch hatte ich gerade ein Kleid an, [...] dessen Farbe in cis-Moll geht, weshalb ich zu einiger Beruhigung der Beschauer einen Kragen aus E-Dur-Farbe daraufsetzen lassen[...].« (73) Die Synästhesie ist ein weiterer Moment des Einschreibungsprozesses semiotischer Triebenergien, sie erinnert an eine Fähigkeit aus dem vorsymbolischen menschlichen Entwicklungsstadiums, an die amodale Wahrnehmung und wiederholt somit das Erleben einer chora-Lust, die Synästhesie aktiviert einen Affekt des amorphen, körpernahen Raums. Die Säuglingsforschung hat Erkenntnisse über transmodale Fähigkeiten von drei Wochen alten Babys gewonnen. Diese Säuglinge treffen audio-visuelle oder auch haptischvisuelle transmodale Zuordnungen absoluter Intensitätsgrade. Dieser Fähigkeit, »die in einer bestimmten Sinnesmodalität aufgenommene Informationen irgendwie in eine andere Sinnesmodalität übersetzen zu können«189, diese amodale Warnehmung der Säuglinge kennzeichnet die Synästhesie als frühkindliche Erfahrung, sie ist dem Spiegelstadium vorangestellt und gehört zum präödipalen, vorsymbolischen Lusterleben des Säuglings. Deshalb gilt die synästhetische Form der Wahrnehmung als eine Reaktivierung der stimmlich-gestisch-körperlichen und rhythmischen chora-Lust und somit auch als eine Durchbruchstelle des Semiotischen in der symbolischen Ordnung des Textes. Die amodale Wahrnehmung von Gestalt, Intensität und Zeit ist ein Indiz für die strukturelle Einheit der Sinne und materielle Basis für 189 Vgl. Daniel Stern: Die Lebenserfahrung des Säuglings, aus dem Amerik. übers. v. Wolfgang Krege, Stuttgart: Klett-Cotta 19933 (1985), S. 79. 232
IV. ANALOGIEN AUF DER EBENE DER TIEFENSTRUKTUR
Metaphernbildung. Dadurch dass Hoffmann sich innerhalb des Kreisler-Teils häufig der Beschreibung von Synästhesien bedient, sind sie ein weiteres Kennzeichen für ein äußerst bewegtes und dynamisches Subjekt, das sich in ständiger Auseinandersetzung mit seinem unbewusstem Anderen, dem vorsymbolischen körpernahen Erfahrungsbereich befindet und somit nach Einheit und Wahrheit strebt, ohne diese wirklich zu erlangen. Zusammenfassende Betrachtung zur Signifikanz Der eher prosaische Stil des Murr-Teils ist dem Kreisler-Teil entgegengesetzt, dem verkennenden und verdrängenden Subjekt steht das Subjekt der Textpraxis entgegen, der Text des Kreislerianums verfügt deshalb auch über einen anderen Genotext als die Erzählung des Murr-Teils. Zwar konstituieren sich beide Phänotexte im gegenseitigen Wechselverhältnis zueinander und arbeiten sich aneinander ab, damit befinden sich auch ihre Tiefenstrukturen in enger Verflechtung miteinander, doch das Subjekt der Schein-Welt bleibt dem Symbolischen verhaftet. Es bindet das Semiotische so in seine symbolische Ordnung ein, dass es keine Unterminierungen, keine erschütternden Durchbrüche erlaubt. Erfährt der Phänotext dennoch eine ›Störung‹, so dient das Ereignis der Verfestigung im Symbolischen und ist nur im Hinblick auf den anderen Teil und nur für den Leser spürbar, die eigentliche Schein-Identität wird nicht gebrochen. Der Murr-Teil entspricht der signifikanten Praxis der Erzählung, die die Gegensätzlichkeit der Triebdyade leugnet und damit das Semiotische mit dem Symbolischen verschmelzen lässt.190 Das Subjekt der realen PhantasieWelt leugnet seine materielle Basis nicht, es sucht nach neuen Wahrscheinlichkeiten und begibt sich in die Grenzbereiche des Erfahrbaren. Das genotextuelle Subjekt des Kreislerianums bei Hoffmann kann als ein bewegtes und dynamisches, als ein Subjekt des Rhythmus, des Verwerfens und des Verausgabens beschrieben werden. Es schreibt sich mit seiner Energie und seinen Triebambivalenzen immer wieder dem Phänotext des Kreislerianums ein, so dass es als semiotische Kraft dem Kreislerianum wesenhaft ist, es mitbestimmt und ihm seinen Nahtstellencharakter verleiht. Diese gelingt ihm durch das Wirken der Mimesis, durch die Kraft der Negativität, aber auch durch die Verfahrensweisen einer neuen Mythologie wie Interdiskursivität, Umwertung, dem Wechsel von Re- und Deterritorialisierung und dem damit 190 Julia Kristeva: Die Revolution der poetische Sprache, S. 100. 233
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verbundene Aspekt des Ausschweifens und der Arabeske. Das Changieren zwischen verschiedenen Erzählebenen und Sprachstilen zeigt seine Ortlosigkeit, es ist dezentriert und stellt »keine Einheit dar, sondern eine vielfältige Totalität mit identitätslosen, distinkten Gliedern, die zum Ort der Triebrealisierung werden.«191 Charakteristisch für dieses Subjekt ist die Kreisbewegung, das Kreisen und Kreiseln um die Nahtstelle zwischen Semiotischem und Symbolischem, zwischen innerem Empfinden und äußerer Etikette, zwischen Wahrheits- und Identitätssuche und der Setzung von ScheinWahrheiten und Schein-Identitäten. Zwischen der Akzeptanz des Körperlichen, der stimmlich-gestischen und rhythmischen chora und dem Leugnen poetischer Tendenzen durch Ausklammerung des Semiotischen bewegt sich das Subjekt und fühlt sich am wohlsten in der musikalischen Improvisation, einem Zustand ohne klarem Anfang und festgesetztem Ende, ohne einer symbolischen Ordnung von Gesetzen und Regeln, einem Zustand des freien Kreiselns.192 Die offene Gesamtstruktur unterstützt diesen Aspekt der Kreisbewegung durch ihr unvermitteltes Beginnen und Enden, durch die spezifischen Zeit- und Räumlichkeiten, die sich weniger linear, geschlossen als vielmehr zyklisch und offen gestaltet. Auch die statische oder variierte Wiederholung als Grundgebärde des Textes, die textinternen Spiegelungen sowie das Doppelgängermotiv weisen ein bewegtes Subjekt des Kreisens und Kreiseln aus, in den Lebens-, Zauber- und Schicksalskreisens sich drehend und um das Gleichgewicht zwischen ambivalenter, triebenergetischer chora-Lust und symbolischer Setzung der eigenen Identität ringend. Dieses Kreisen, vom Lusterleben rhythmisiert, macht das Subjekt des Kreislerianums »lachen«, macht es wahnsinnig, zumindest närrisch.193 Das Lachen, wie bereits beschrieben, der ständig gegenwärtige Wahnsinn, das Weibliche und das Närrische bzw. das Musikalische194 kennzeichnen die Thesis eines kreiselnden Subjekts.
191 192 193 194
Julia Kristeva: Die Revolution der poetische Sprache, S. 109. Vgl. »Kreisleriana«, S. 97. Julia Kristeva: Die Revolution der poetische Sprache, S. 22. Vgl. Kater Murr-Roman, hier werden ›närrisch sein‹ und ›musikalisch sein‹ gleichgesetzt: Kreisler berichtet hier über seinen musikalischen Werdegang, den sein Oheim begleitete. Dieser entgegnete auf Lobesreden hinsichtlich Kreislers musikalischen Talents: »Ja der kleine Neveu ist närrisch genug.« 234
IV. ANALOGIEN AUF DER EBENE DER TIEFENSTRUKTUR
Die Relevanz der Texttheorie von Kristeva für den Vergleich von Musik und Literatur Die kunsttheoretische Bedeutung der Texttheorie Kristevas liegt darin, dass sie mit ihrem Entwurf des Semiotischen und der gestaltlosen, körpernahen chora der Zeichentheorie die vorsprachlichen und psychosomatischen Prozesse von Sprache erschließt. Sie dynamisiert und öffnet den Zeichenbegriff, so dass eine bislang nicht erreichte Annäherung an die affekthaltigen, triebhaften, vitalen von Lust/Unlust bestimmten Dimensionen von Sprache möglich wird.195 Die Struktur des Unbewussten ist nicht länger diejenige einer Sprache, nicht die homogene, geschlossene Ordnung, wie es noch Lacan in seiner Arbeit darstellt. Das Unbewusste des Kristeva’schen Ansatzes öffnet sich, es ist dem Nicht-Sinn, dem Heterogenen, Flüchtigen, dem Amorphen und Energetischen unterlegen, welches sich ständig vernichtet und wieder neu setzt. Es schreibt sich als die semiotische Modalität des Sinngebungsprozesses ständig dem Symbolischen wieder ein und wird an die Oberfläche der symbolischen Ordnung geholt, um sich hier auf der Ebene des Phänotextes zu wiederholen. Auf diese Weise äußert sich die stimmlich-gestisch-körperlich-rhythmische chora in der symbolischen Form einer sinngebenden Praxis beispielsweise als literarischer Text. Kristevas Konzept eröffnet der Sprache, dem Text, allgemeiner der Ästhetik diese neue Dimension, sie erschließt eine Ebene, die nicht nur Gallerte für die Bildung distinkt-binär-arbiträrer Zeichensysteme ist, sondern aus deren Stoff sich auch andere ästhetische Sinngebungspraxen rekrutieren, beispielsweise die Musik. Die Setzung einer spürbaren und nachvollziehbaren Existenz der semiotischen chora in ästhetischen Phänomenen196 wie poetischer Sprache und Musik stellt einen operativen Ansatz für den interdisziplinären Vergleich dar, sie macht eine Gegenüberstellung von Musik und Literatur plausibel, legt den Vergleich regelrecht nahe. Für die operative Anwendung des Kristeva’schen Konzepts auf Musik sollen zunächst einige grundsätzliche Überlegungen angestellt werden. Die Modalität des Semiotischen lebt durch ihre Abgrenzung 195 Vgl. Ursula Link-Heer: Julia Kristeva, 470. 196 Kristeva ist seit 1978 auch als Psychoanalytikerin und –therapeutin tätig. Aufgrund ihrer hier gesammelten Erfahrungen arbeitet sie seitdem an möglichen Verknüpfungspunkte von ästhetischen und analytischen Ausdrucksformen, die semiotische chora ist für Kristeva somit nicht nur auf ästhetischer Ebene, sondern auch im Bereich der Psychoanalyse von großer Relevanz. 235
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zum Regelwerk des Symbolischen. Die Sinngebung entsteht im Prozess des Zusammenspiels beider Textzeiten, so dass eine permanente, latent vorhandene Verbundenheit zwischen der symbolischen Ordnung und dem Anderen, dem Heterogene, dem Nicht-Sinn, dem Vitalen und Energetischen herrscht. Kristeva stellt ein ständiges Auftauchen der semiotischen chora fest. Um diese Struktur eines Zeichensystems auf seine Relevanz und seinen Aussagewert für Musik zu überprüfen, soll untersucht werden, inwiefern Musik eine sinngebende Praxis darstellt, welche Rolle folglich die Begriffe des »Zeichens«, der »Bedeutung« und des »Ausdrucks« in Bezug auf Musik spielen und ob ein ähnlicher Prozess der Sinngebung sich in der Musik wiederfindet. Zeichenhaftigkeit, Bedeutungs- und Ausdrucksvermögen der Musik197 Unter Zeichen wird eine physikalische Entität verstanden, welche über seine materiale Existenz hinausweist und aufgrund (relativ) fest zugeordneter Kombinationen von Bezeichnendem und Bezeichnetem Informationen sowie Bedeutungen vermittelt. Jedem Zeichen ist eine Bedeutung inhärent, so dass gilt: Zeichen ohne Bedeutung gibt es nicht.198 Bedeutung existiert jedoch nach Martin Heidegger jenseits und vor aller Zeichenhaftigkeit.199 Die Unterscheidung von denotativen und klassifikatorischen Bedeutungsbildungen soll dies verdeutlichen. Zeichen bzw. Signifikanten ordnen sich aufgrund ihres Verweischarakters einem eigentlichen Sein, ihrem Signifikat unter. In ihrer Eigenschaft als Substituend sind sie lediglich Repräsentant des Substituts, ihm subordiniert. Die klassifikatorische Bedeutungsbildung hingegen beruht auf einem Beziehungsgeflecht von Klassifikat und Klasse, dem ein Verhältnis von Enthaltensein und Nicht-Enthaltensein entspricht.200 Das Klassifikat substituiert nicht die Klasse, es ist vielmehr in ihm enthalten, quasi als Teil einer größeren paradigmatischen 197 Zum Begriff des musikalischen Zeichens vgl. insbesondere Christian Kaden, Artikel »Zeichen«, in: MGG, Bd. 9, Spalte 2149 ff. 198 Ausnahmen sind Phänomen der Sinnentleerung, vgl. hierzu G. Knepler: Geschichte als Weg zum Musikverständnis. Zur Theorie, Methode und Geschichte der Musikgeschichtsschreibung, Leipzig 1977, S. 97. 199 Martin Heidegger: »Ursprung des Kunstwerks« (1935/36) in: Ders., Holzwege, Frankfurt/M.: Klostermann 1977, S. 38. 200 Derrida unterscheidet zwischen der ontologischen différence und der semiologischen différance. Vgl. Jaques Derrida: Grammatologie (1974), in: Christian Kaden, Artikel »Zeichen«, Spalte 2156. 236
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Reihe zu sehen. Klassifikat und Klasse existieren gleichwertig nebeneinander, während bei der denotativen Bedeutungsbildung die Differenz von Vorder- und Hintergrund, von Signifikant und Signifikat regelrecht hervorgehoben wird. Ist das »Zeichen«, vereinfacht betrachtet, eine Einheit, die sich durch Subordination konstituiert, die durch ein Differenzgefälle zwischen Zeichen und Denotat gekennzeichnet ist und ohne Gemeinsamkeiten, Ähnlichkeiten oder semantischen Mengendurchschnitt auskommt, wird deutlich, dass die Bezeichnungsmöglichkeiten äußerst weit gefasst sind. Die klassifikatorische Bedeutungsbildung ist demgegenüber einem kleineren, noch vor der eigentlichen Zeichenhaftigkeit, jedoch schon der Bedeutung zugehörendem Lebensbereich zuzuordnen. Damit ein Zeichen als Zeichen benannt werden kann, muss es zunächst als solches klassifiziert werde. Die Klassifikation geht somit der Zeichenbildung voraus, muss diese jedoch nicht zwangsläufig nach sich ziehen. Ob sich ein Zeichen generiert, sich dem bloßen Medium also noch ein Verweischarakter zugesellt, kristallisiert sich erst im Prozess heraus. Dieser Umstand erweist sich für die Musiksemiotik als zentraler Punkt: Musik kann Bedeutungsträger sein, ohne denotativ oder signifikativ zu wirken. Ihre Bedeutung kann sich sowohl auf die Ebene des Erzeugens musikalischer Formen konzentrieren als auch auf der Ebene des Rezipierens musikalischer Gestalten verbleiben. Klangfiguren erzeugen und Klangfiguren erkennen gehört somit einem Prozess der Bedeutungsbildung und Verstehensleistung an, der noch vor jeglicher Zeichenhaftigkeit steht.201 Kaden weist zurecht darauf hin, dass es sich in den Beziehungen einzelner musikalischer Motive zu weiteren Motiven und auch zwischen größeren Formteilen, Themen, Harmonien, Rhythmen und anderen Parametern nicht um signifikative Relationen handelt: »Meist geht es bei ihnen um Gleichheit und Verschiedenheit, um Ähnlichkeit und Kontrast, Größer- oder Kleiner-Sein, auf einer Ebene der ontischen Ko-Ordination (différence), nicht der semiotischen Subordination (différance).«202 Dass es in bestimmten musikalischen Zusammenhängen durchaus signifikative Momente gibt, ist unumstritten, beispielsweise bei Vorhalten, Kadenzbewegungen oder Signalmotiven. Musik verfügt also durchaus über ein größeres Repertoire an Bedeutungsmöglichkeiten als lediglich über die der différence. 201 Vgl. Christian Kaden: Artikel »Zeichen«, Spalte 2157. 202 Ebd., der Begriff des Semiotischen wird bei Kaden im Unterschied zum Kristeva’schen Terminus im Sinne von Zeichenhaftigkeit gebraucht. 237
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Kaden orientiert sich in seinen Überlegungen zum Zeichenbegriff an der semiotischen Matrix, die sich aus den Peirceschen Termini Icon, Symbol und Index sowie dem Begriff der Setzung, von Kaden ergänzt, rekrutiert.203 Ikon und Symbol beschreiben den Grad der Ähnlichkeit zwischen Zeichen und Denotat, ikonisch bildliche Ähnlichkeit oder symbolische Abstraktion. Index und Setzung beziehen sich auf den Grad der pragmatisch kausalen Verbindung, der energetisch-stofflichen Gleichheit. In der semiotischen Matrix werden die vier Kategorien so angeordnet, dass Ikon (1) und Symbol (2) auf einer vertikalen Achse liegen und Index (1) und Setzung (2) die horizontale Achse bilden. Es ergeben sich vier Kombinationsmöglichkeiten und somit vier verschieden Zeichentypen: ikonische (1) und symbolische (2) Indices (1), z.B. ein Fußabdruck (ikonisch indexikalisch, 11) und der Rauch eines Feuers (symbolisch indexikalisch, 21), sowie ikonische (1) und symbolische (2) Setzungen (2), z.B. Piktogramme (ikonische Setzungen, 12) und Buchstaben (symbolische Setzungen, 22). Anhand der Operatoren 1 und 2 lassen sich unterschiedliche »semiotische Intensitätsstufen« bestimmen. Ikonische Indices mit einem Intensitätsgrad von 11 befinden sich somit in größter Nähe zum Denotat, während symbolische Setzungen die größte Entfernung aufweisen, sie haben sich sowohl morphologisch wie kausal am wietesten von ihrem Denotat distanziert.204 Die Sprache bzw. die Schrift gilt es in dieser Matrix auf der Intensitätsstufe 22 anzuordnen, sie bedient sich symbolischer Setzungen. Onomatopoetische Ausdrücke hingegen liegen in ihrem Grad semiotischer Intensität bei 12. Wird die Matrix auf Musik bezogen, so lässt sich die Wertigkeit 22 für die symbolische Setzung nur in den seltensten Fällen wiederfinden, beispielsweise in der barocken Zahlensymbolik oder in Tonhöhenkryptogrammen wie bei Bachs BACH (Die Kunst der Fuge BWV 1080) oder in Schumanns ASCH (Carnaval op.9, Nr. 10). Neben diesen abstrakten, symbolisch gesetzten musikalischen Gestalten gibt es die sogenannten Klangsymbole, wie z.B. das Kreuzeszeichen, dargestellt durch entsprechenden Tonhöhenverlauf, oder Richard Wagners Ringmotiv, das die ausgewogene Kreisform des Ringes durch rotierende Melodik und Harmonik widerspiegelt. Diese Klangsymbole setzen unbeseelte Dinge auf anschauliche Weise in Musik um, so dass sie primär ikonischen Charakter erhalten. Die musikalische Darstellung körpernaher, seelenvoller Umstände gestaltet sich 203 Vgl. Christian Kaden, Artikel »Zeichen«, Spalte 2158. 204 Ebd. 238
IV. ANALOGIEN AUF DER EBENE DER TIEFENSTRUKTUR
ebenfalls ikonisch, sei es in Form von Wagners Wesens-Motiven, wie das der Riesen, des Wurms, der Zwergen, Helden und Bösewichte, oder in der sogenannten musikalisch-rhetorischen Figurenlehre, die sowohl Redemuster als auch Bewegungsgesten bildlich umsetzen. Auch nach der Auffassung hochbarocker Affekttheorien werden Emotionen zwar anschaulich jedoch nicht zwangsläufig indexikalisch in Musik umgesetzt. Affektdarstellung gehört somit nicht einer stofflichenergetischen Identität, sondern vielmehr einer gesetzten Bildhaftigkeit an. Sie changiert quasi zwischen Zeichenhaftigkeit und deren Aufhebung. Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts beginnt sich der Begriff des Ausdrucks zu wandeln und führt zu einer neuen, sensualistischen Ästhetik im 19. Jahrhundert. In Abkehr zu dem ursprünglich auf intellektuelle Darstellungstechniken konzentrierten Ausdruck gewinnt nun das künstlerische Subjekt an Gewicht, sein Gefühlsleben steht in unmittelbarem Vordergrund des Ausdrucks.205 Mit der neuen Ausdrucksästhetik bekommt das Emotionale, der Affekt einen persönlichen Wert, den es ausgehend vom Komponisten dem Hörer möglichst direkt und unmittelbar präsent zu machen gilt. Der Grad der Zeichenhaftigkeit wird von der ikonischen Setzung zum ikonischen Index zurückgesetzt, der Zeichencharakter schwindet nahezu und verschmilzt mit dem Denotat. Zeichenhaftigkeit oder Sinnbildung ist folglich ein dynamischer Prozess, was sich im Spannungsgefälle der Semiotizitätsgrade widerspiegelt. In der Musik lassen sich verschiedene semiotische Intensitätsstufen von unterschiedlicher Mittelbarkeit ausmachen, vom arbiträr-gesetzten Zeichen über bildhafte Setzung bis hin zum ikonischen Symptom. Musik übernimmt also in äußerst wechselndem Ausmaße Zeichenfunktion an. Mit Blick auf Umberto Ecos Reflektionen zu einer Semiotik der Kunst und der Musik gilt die Form und ihr Eigenwert als konstitutiv für das künstlerische Zeichen. Diese Priorität der Form in der Kunst bleibt unbestritten, doch darf sie nicht, mit dem vielstrapazierten Zitat Eduard Hanslicks gesprochen, zur ›tönend bewegten Form‹ werden. Gerade dadurch dass die Form durch das künstlerische Verfahren einen Eigenwert besitzt, wird ›etwas‹, eben dieser Wert dargestellt und zum Ausdruck gebracht. Das Kunstwerk changiert somit zwischen Sinn und Gehalt, zwischen Bedeutungsbildung aufgrund denotativer Differenzbildung und klassifikatorischem Ineinander, zwischen Bedeutungsbildung mit oder ohne signifikativer Funktion.
205 Vgl. hier zu Anselm Gerhard, Artikel »Ausdruck«. 239
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Die Diskussion um die Zeichenhaftigkeit von Musik ist immer, bis zu neuesten Forschungsansätzen, verknüpft mit Begriffen wie »Sprachähnlichkeit«, »Sprachcharakter«206 oder »Sprache der Musik«207 und lässt den Vergleich von Sprache und Musik folgen. Historisch betrachtet war die Mousike bei den Griechen der Antike der Ausdruck für das Musische, die Einheit von Dichtung, Ton und Tanz208, und Platons Begriff des Melos vereint logos, harmonia und rhythmos.209 Auch im Gregorianischen Choral ergänzen sich Melodie und Wort noch in gleichberechtigter Weise. Eine untergeordnete Rolle gegenüber der Sprache nimmt die Musik erst seit dem 16. Jahrhundert ein. Mit dem Aufkommen des Madrigals und dem folgenden Stil der Monodie setzt eine Versprachlichung und bewusste Zurücksetzung der Musik hinter den Text ein. So schreibt Guilio Caccini in seiner Vorrede zu »le nuove Musische« (1601), »daß Musik keine Wertschätzung verdient, wenn sie Worte unvollkommen verstehen lässt oder wenn sie, dem Sinn und Versmaß entgegen, Silben verlängert und verkürzt. Lediglich dem Kontrapunkt zu liebe. Das ist Zerreißen der Dichtung. [...] Musik [sei] zunächst Sprache und Rhythmus [...] und erst dann Ton, nicht umgekehrt. Mir kam daher der Gedanke, eine Art von Musik zu setzen, in der man gleichsam harmonisch zu sprechen vermag infolge der Einführung einer edlen Zurücksetzung des eigentlichen Gesanges gegenüber dem Worte.«210
Die Musik, ursprünglich eine der Septem Artes Liberales und somit als Wissenschaft gleichberechtigt mit der Rhetorik, wird zur Dienerin des Textes. Das affektgeladene Sprechen, die künstlich ins Schauspielerische gesteigerte Erregtheit der Sprache, wird von der Musik imitiert und anschaulich umgesetzt. Die Musik erlangt gestalterische, imitatorische Bildhaftigkeit. Aufgabe des Komponisten ist es, den Affekt des Sprechens musikalisch zu gestalten. Schmerz, Trauer und Klage 206 Vgl. Helga de la Motte-Haber: »Musik als Sprache: Funktionsweisen des Verstehens«, Kapitel I, in: Dies.,Handbuch der Musikpsychologie, Laaber: Laaber-Verlag 1985, S. 11ff. 207 s. Titel der Arbeit von Sabine Bayerl. 208 Corina Caduff: »Vom Urgrund zum Supplement. Musik in den Sprachtheorien von Rousseau, Nietzsche und Kristeva«, in: Musik und Ästhetik, Heft 3, Stuttgart 1997, S. 37. 209 Vgl. Christian Kaden: Artikel »Zeichen«, Spalte 2167. 210 Guilio Caccini: »Vorrede zu ,le nuove Musische’«, in: Ulrich Prinz, Albrecht Scheytt (Hg.), Musik um uns, Hannover: Metzler 1996, S. 172. 240
IV. ANALOGIEN AUF DER EBENE DER TIEFENSTRUKTUR
sollen von der Musik versinnlicht werden, so dass die Hörer ebenfalls in jenen affekthaltigen Zustand geraten.211 Somit ist die Musik zwar dem Text untergeordnet, entwickelt jedoch einen eigenen Zeichenwert, sie signifiziert den Textgehalt auf ihre Weise, indem sie ihn gestisch, im Modus des Zeigens darstellt. Diese Unterscheidung in einen Modus des Sagens sowie in einen Modus des Zeigens bestimmt bis heute die wissenschaftliche Diskussion, wenn es um die Differenzierung von Sprache und Musik geht.212 Manfred Bierwisch entwickelt ein entsprechendes Konzept von logischen und gestischen Formen213, wobei er die logischen Formen als digital-unanschaulich, tendenziell symbolisch charakterisiert und ihnen aufgrund ihrer grammatikalischen Fähigkeiten, zwischen Substantiv und Attribut, Subjekt und Prädikat, zwischen der Dingrepräsentation und der Repräsentation ihrer Eigenschaften zu unterscheiden, eine Kombinationsgabe dieser Einzelelemente zuspricht. Sie sind somit zeitunabhängig, ihre rhetorische Figur ist nicht abhängig von tatsächlichen Zeitfaktoren. Anders verhält es sich mit den gestischen Formen. Sie kennen keine grammatikalischen Differenzierungen und führen deshalb Subjekt und Prädikat, Substantiv und Attribut bildhaft zusammen. Ihre Durchformung orientiert sich am Raum und an der Zeit des darzustellenden Affekts in analog-anschaulicher Weise. Gemütszustände wie Bedrohung oder Freude, Wut oder Trauer geben von sich aus die Dynamik und das Tempo vor. Eile würde niemals durch ein langsames Tempo umgesetzt werden, zunehmende Empörung nicht durch Decrescendo und Klage kann nicht durch kurze Impulse dargestellt werde. Musik als Code von Emotionen, als Expressivkunst ist folglich Zeitkunst, während die Sprache aufgrund ihrer propositionalen Eigenschaften relativ zeitunabhängig agiert. Scheint hiermit der essentielle Unterschied der beiden Zeichensysteme endgültig definiert, auf der einen Seite die weitgehend ikonische Zeitkunst, auf der anderen Seite das als überwiegend symbolisch organisierte Zeichensystem, so kritisiert Kaden diese Einteilung zurecht als simplifizierte Sichtweise auf Sprache.214 Wie bereits oben dargestellt, verfügt Sprache nicht nur über einen rein symbolhaften Zeichenwert, sie konstituiert sich ebenfalls durch ex211 Arnold Feil: Metzler Musik Chronik vom frühen Mittelalter bis zur Gegenwart, Stuttgart, Weimar: Metzler 1993, S. 168 f. 212 Christian Kaden: Artikel »Zeichen«, Spalte 2168. 213 Manfred Bierwisch: »Musik und Sprache. Überlegungen zu ihrer Struktur und Funktionsweise«, in: Jahrbuch der Musikbibliothek Peters 1978, S. 9-102. 214 Christian Kaden: Artikel »Zeichen«, Spalte 2169. 241
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pressive Anteile oder, wie Kristeva es formuliert, durch den Modus des Semiotischen. Kaden schreibt auch der Verschriftlichung »Intonation« und »Temperament« zu und spricht von »Aussage-Artikulation« und »logischer Artikulation«, die in jedem Fall auch einen Zeitfaktor darstellen. Sprache und Schrift verfügen über ein komplexes Zeichensystem, dem zeitunabhängige propositionale, zeitabhängige logischartikulatorische sowie gestisch-affektive Elemente angehören.215 Wird Musik nun Sprachähnlichkeit oder Sprachcharakter zugeschrieben, gilt es ihren Anteil an dem beschriebenen Zeichensystem Sprache zu ermitteln. Der Vergleich auf der Ebene der gestisch-affektiven Elemente zeigt nicht nur die Analogie dieses Strukturelements, sondern hebt einen regelrechten Kompetenzvorsprung der Musik gegenüber der Sprache hervor. Propositionale Gefüge lassen sich in reiner Instrumentalmusik nicht finden, sie liegen nicht im Rahmen ihrer Darstellungsmöglichkeiten. Zeitabhängige logische Artikulationsmoment kann Musik in Verbindung mit einem Text nachvollziehen und ausgestalten, jedoch nicht von sich aus hervorbringen. Kaden macht darauf aufmerksam, dass die mehrtextigen Motteten des 15. Jahrhunderts der Umsetzung logischer Artikulation am nächsten kommen, allerdings nicht aus ihrer musikalischen Struktur heraus, sondern indem sie sich der logischen Konfiguration des Textmaterials bedient, ob und wie Musik Zeichen ausbildet, bleibt immer eine gattungsspezifische, historische und für den jeweiligen Einzelfall zu klärende Frage.216 Einem ›essentiell‹-musikalischen Zeichenbegriff lässt sich über den Sprachvergleich nicht näher kommen, und auch die semiotische Matrix der Zeichentypen wird nur teilweise von der Musik ausgefüllt. Hinsichtlich struktureller Analogien kann jedoch aus der Sicht des musikalischen Zeichenbegriffs festgehalten werden, dass Musik und Sprache über zeitabhängige, gestisch-affektive Elemente verfügen und auch der Bereich der logischen Artikulation von der Musik im Zusammenspiel mit Worttext abgedeckt wird. Die Auswertung der semiotischen Matrix zeigt eine Überschneidung insbesondere auf dem Feld der ikonischen Setzung, wobei die Kategorie der symbolischen Set-
215 Christian Kaden: Artikel »Zeichen«, Spalte 2169. 216 Vgl. hierzu die detaillierte Darstellung des historischen Wandels hinsichtlich musikalischer Zeichen bei Christian Kaden, Artikel »Zeichen«, Spalte 2174 ff. Diese Feststellung begründet noch einmal das Vorhaben, den strukturellen Vergleich von Literatur und Musik am konkreten Beispiel durchzuführen. 242
IV. ANALOGIEN AUF DER EBENE DER TIEFENSTRUKTUR
zung der Sprache vorbehalten ist217 und die stofflich-energetische Echtheit eines Zeichens, die ikonische Indexikalisierung, eher einem Wesenszug der Musik entspricht. Es bleibt jedoch festzuhalten, dass Musik im historischen Rückblick, aber auch aktuell betrachtet über ein weites Spektrum an Möglichkeiten der Bedeutungsbildung verfügt. Auf der Grundlage informationstheoretischer und biokommunikativer Forschungsergebnisse wurde eine Zweiteilung entworfen, die zum einen der Musik quasi endlose Möglichkeiten der semantischen Setzung zuerkennt, solange diese über kein konventionalisiertes Zeichensystem verfügt, und zum anderen in der Musik eine Nähe zu angeborenen, auslösendenen Mechanismen bewahrt sieht, die sich jeglichem bewussten Zeichengebrauch verschließt.218 Die von Kaden aufgezeigten theoretischen Wege verlaufen ohne konkretes Ergebnis für einen semiotischen Zeichenbegriff von Musik und zeigen zunächst die Schwierigkeiten, die eine solche zeichentheoretische Betrachtung von Musik mit sich bringt. Er stellt die Annahme von Musik als einem, mit Carl Dahlhaus gesprochen, semiotisch »defizientem Modus« zur Diskussion. Sein Verweis im Hinblick auf dieses Forschungsdesiderat zielt darauf ab, Musik mit Dichtung statt mit prosaischer Alltagssprache zu vergleichen oder »Bezüglichkeiten zu Ekstase, Meditation zur Erfahrung des ›Weltlaufs‹, des Zahlhaften – und dessen, was allem Zählen oder Messen entzogen bleibt« zu untersuchen.219 Im Folgenden soll genau dieses reflektiert werden und in der Konfrontation mit Kristevas Konzept ein neuer Weg gesucht werden, Musik und Literatur auf ihre tiefenstrukturellen Analogien hin zu untersuchen. Auch die Anknüpfungspunkte zu Ekstase, Lust und Wollust gilt es anhand der Arbeiten des französischen Literatur- und Kulturtheoretikers Roland Barthes zu thematisiert, der als Semiologe und Schriftsteller sich auf essayistische Weise zu Phänomen der Lust am Text und an der Musik geäußert hat.220 217 Einschränkungen siehe oben oder vergleiche Kaden, Artikel »Zeichen«, Spalte 2158 ff. 218 An dieser Stelle wird Bezug genommen auf G. Tembrock, »Biokommunikation, Musik und Sprache«, in: Beiträge zur Musikwissenschaft 32, 1990, S. 241-246.; als weitere Quelle nennt Kaden: D. Stockmann, »Musik als kommunikatives System. Informations- und zeichentheoretische Aspekte insbesondere bei der Erforschung mündlich tradierter Musik«, in: Deutsches Jahrbuch der Musikwissenschaft für 1969, Seite 76-95. 219 Vgl. Christian Kaden, Artikel »Zeichen«, Spalte 2171. 220 Roland Barthes: Die Lust am Text, aus dem Französischen übers. von Traugott König, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1974 sowie Ders., »Der 243
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Das System Musik mit Kristeva betrachtet Es sei zunächst noch einmal an den Hauptgedanken Julia Kristevas erinnert, um dann den Transfer von der Sprachstruktur zur Struktur der Musik zu unternehmen und eine vorläufige These zu formulieren. Kristeva geht davon aus, dass der Prozess der Sinnbildung in der Sprache ursächlich mit der Subjektgenese zusammenhängt. Das vorindividuelle, nicht binär-arbiträre Zeichensystem der semiotischen chora, das sich aus dem körpernahen Funktionieren des Säuglings erzeugt, bildet die Gallerte für das spätere dinstinktiv-binär-arbiträre Signifikat-Signifikanten-System der Sprache. Die materielle Basis des körperlichen Fundaments durchbricht immer wieder die Ordnung der Sprache. Die Primärprozesse bleiben auch in der symbolischen Ordnung präsent, so dass eine Wechselwirkung und Interaktion zwischen Semiotischem und Symbolischem den sprachlichen Sinnbildungsprozess prägt. Die These soll nun lauten: Musik stellt einen Prozess der Sinngebung dar, der – ebenso wie die Sprache – eng mit der Subjektgenese verbunden ist; sie kann nur durch das thetische Moment ihre Heterogenität, den historischen Sinn und das rein semiotische Funktionieren221 ausbilden und konstituiert sich somit durch zwei Modalitäten, dem Semiotischen und dem Symbolischen. Musikalische Sinngebung funktioniert aufgrund desselben Prozesses wie Sprache, allerdings mit einer größeren Dominanz und Präsenz der semiotischen chora. Um diese These zu begründen, soll ein Zwischenschritt eingefügt werden. Wie oben dargestellt, wird Musik, von Ausnahmen abgesehen, dem Zeichentyp des ikonischen Indices oder noch häufiger der ikonischen Setzung zugeordnet. Sie verkörpert somit unbestritten ein sinnbildendes System, jedoch kein reines Symbolsystem. Musik verfügt nicht über distinktiv-binär-arbiträre Zeichenstrukturen.222 Ihre Bedeutung oder Sinnhaftigkeit beruht vielmehr auf einer gestisch-affektiven Aussagekraft nicht binär-arbiträrer Zeichen. Sie bedeutet, ohne signifikativ zu sein223 aufgrund ihrer spezifisch musikalischen StruktuKörper der Musik«, in: Ders., Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays III, übers. von Dieter Hornig, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1990, S. 247ff. 221 »Semiotisches Funktionieren« im Sinne Kristevas; vgl. auch Julia Kristeva: Die Revolution der poetischen Sprache, S. 72. 222 Ausnahmen s.o. (Tonhöhenkryptogramm, Zahlensymbolik). 223 Zur Möglichkeit der Bedeutung ohne Signifikanz vgl. die oben dargestellte Unterscheidung von denotativer und klassifikatorischer Bedeutungsbildung. 244
IV. ANALOGIEN AUF DER EBENE DER TIEFENSTRUKTUR
ren. Um den Sinnbildungsprozess innerhalb der Musik mit Kristevas Konzept der zwei am Sinnbildungsprozess beteiligten Modalitäten zu analysieren, scheint es notwendig zu sein, diese spezifischen musikalischen Eigenschaften näher zu definieren. Da das Phänomen Musik ein nahezu unendlich weites Spektrum umfasst, muss zunächst der Gegenstand eingegrenzt werden. Die ausführliche Darstellung Kadens zeigt, dass Musik zu unterschiedlichen Zeiten mit verschiedensten Aufgaben und Funktionen belegt war. Doch das Zeitalter der Mousike ist aufgrund mangelnder Überlieferungsmöglichkeiten heute nicht mehr vorstellbar, das Zeitalter der Gregorianischen Gesänge und mehrtextigen Motetten ebenfalls vergangen. Musik existiert spätestens seit dem 19. Jahrhundert (auch) in semantisch »abgelöster«, absoluter Form. Für den Strukturvergleich von Musik und Literatur scheint es also wichtig und richtig zu sein, sich auf die sogenannte ›absolute‹ Musik zu beschränken, da Musik hier weder als Dienerin der Sprache noch als Programm- und Textausdeuterin fungiert.224 Semantisch abgelöste Musik gilt es nun auf ihre Struktur hin zu untersuchen. Wie oben schon angedeutet ist es allgemeiner Konsens, dass reine Instrumentalmusik gestischer Art ist und der ikonischen Setzung von Affekten dient. Susanne K. Langer entwirft mit ihrem philosophischen Konzept ein Isomorphie-Modell, anhand dessen sie den Zusammenhang zwischen Musik und Gefühlen zu erfassen versucht.225 Für sie sind musikalische Strukturen durch ihre Ähnlichkeit zu dynamischen Organisationsformen menschlicher Erfahrung bestimmt, zu Formen des geistigen, emotionalen sowie intellektuellen Lebens.226 Sie sieht formale Analogien zwischen musikalischen Kategorie wie Bewegung, Rhythmus oder Dynamik und physischen wie psychischen Zuständen menschlichen Erlebens, »Musik kann statt spezifischer, benennbarer Bedeutungen die Morphologie des Gefühls widerspiegeln.«227 Unter der »Morphologie der Gefühle« sind Lebensfunktionen emotiver und intellektueller Art zu verstehen, die den musikali224 Eine weiteres Argument für die Auswahl absoluter reiner Instrumentalmusik ist, dass der zu untersuchende Gegenstand, die »Kreisleriana«, ebenfalls der absoluten Musik zugerechnet werden müssen. 225 Susanne K. Langer: Philosophie auf neuem Wege, Frankfurt/M.: Fischer 1992 (1942). 226 Diese Auffassung steht, nach M. Huppertz, in langer Tradition so bei Schopenhauer, Wagner, u.a.; vgl. Michael Huppertz: »Musik und Gefühl«, in: Ludwig Holmeier, Richard Klein, Claus-Steffen Mahnkopf (Hg.), Musik und Ästhetik, Heft 26, Stuttgart 2003.; vgl. auch Susanne Langer: Philosophie auf neuen Wegen, S. 223. 227 Susanne Langer: Philosophie auf neuem Wege, S. 234. 245
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schen Formen gleichen, Kategorien wie »Ruhe und Bewegung, Spannung und Entspannung, Übereinstimmung und Unstimmigkeit, Vorbereitung, Erfüllung, Erregung, plötzliche Wechsel usw.«228 Diese Kategorien ergeben sich, nach den Ergebnissen der Säuglingsforschung zu urteilen, aus den präödipalen Erfahrungen des Kindes. Hier wird festgestellt, dass Säuglinge und Kinder die Morphologie der Gefühle oder, wie Daniel Stern sie nennt, die Vitalitätsaffekte durch »ihre Interaktion mit dem eigenen Verhalten und den eigenen körperlichen Vorgängen sowie durch Beobachtung und Prüfung des Sozialverhaltens, das auf sie einwirkt, sie umgibt und auf das sie reagieren«229, kennen lernen. Die elementaren Vorgänge des Lebens, das körperliche Funktionieren sowie die elterlichen Handlungsweisen bilden einen amorphen Raum, ein Rezeptakulum der Eindrücke, aus dem sich eine Morphologie der Gefühle entwickelt. Diese Vitalitätsaffekte beschreiben somit Kategorien von Form, Intensität und Zeit und unterscheiden sich von den kategorialisierten Affekten. Die Affektkategorien wie Trauer, Wut, Freude, Furcht, Interesse, Überraschung, Ekel oder Scham werden zwar in zwei Dimensionen erlebt: der Aktivierung, also Intensität oder Dringlichkeit sowie dem hedonischen Tonus, das Ausmaß an Lust oder Unlust230, jedoch ermöglicht dieses Verfahren nach Stern nicht die Erfassung aller Gefühle des affektiven Erlebens. Mit seiner Theorie der Vitalitätsaffekte sieht er eine Form von Gefühlen erfasst, die nicht auf kategoriale Affektsignale angewiesen ist, sie treten zwar in Verbindung mit diesen auf, stellen sich aber auch ohne sie ein. Insbesondere in der Musik und im Ausdruckstanz sieht Stern diese Vitalitätsaffekte umgesetzt. Hier werden Formen des Fühlens präsentiert, ohne auf eine Handlung oder kategoriale Affekte zu verweisen.231 Die Vitalitätsaffekte stellen keinen spezifischen Gefühlsinhalt dar, sondern drücken eine Form des Fühlens aus, die sich mit dynamisch kinetischen Qualitätsmerkmalen »wie ›aufwallend‹, ›verblassend‹, ›flüchtig‹, ›explosionsartig‹, ›anschwellend‹, ›abklingend‹, ›berstend‹, ›sich 228
229 230 231
Ebd., S. 225; Auf Langers »Morphologie der Gefühle« oder auch »Arten des Fühlens« greift die aktuelle Säuglingsforschung zurück, um den Wandel von der Wahrnehmung zum Gefühl zu bestimmen. So bezieht sich Daniel Stern in seiner Studie »Die Lebenserfahrung des Säuglings« auf Langers Versuch, ,logische Formen’ als abstrakte Kategorie in Abgrenzung zu real empfundenen Gefühlen zu definieren. Vgl. Daniel Stern: Die Lebenserfahrung des Säuglings, S. 228f. Daniel Stern: Die Lebenserfahrung des Säuglings, S. 229. Ebd., S. 85. Ebd., S. 87, 221. 246
IV. ANALOGIEN AUF DER EBENE DER TIEFENSTRUKTUR
hinziehend‹ usw.« beschreiben lassen und ihren Ursprung in den elementaren Lebenserfahrungen haben.232 Für Langer besteht eine Übereinstimmung von Musik und Gefühl in der ›logischen Form‹. Dadurch dass diese ›logische Form‹ keinen realen Gefühlsinhalt, sondern eine abstrakte Dimension bezeichnet, bekommt Musik einen Eigenwert. Sie bildet keine Gefühle ab und repräsentiert sie auch nicht, sondern sie schafft eigene Formen und Zusammenhänge. Diese Hervorhebung der musikalischen Eigenständigkeit ist ein zentraler Punkt, der sie beispielsweise von der Theorie der »gestischen Formen« bei Bierwisch unterscheidet.233 Musik generiert aufgrund ihrer ›logischen Formen‹ ein System, das eine symbolische Verwendung ermöglicht, ohne dass ihr eine Signifikant-Signifikat-Struktur im Sinne von Sprache zugewiesen werden kann.234 Das musikalische Werk bedient sich eigener Mittel, die formale Ähnlichkeit zur Welt der Gefühle aufweisen doch durchaus über sie hinaus gehen und neue Gefühlsintensitäten schaffen können. Sei zunächst von dieser gefühlsmächtigen Wirkung, zu der Musik in der Lage ist, abgesehen,235 so lässt sich eine kognitive Beziehung zwischen Musik und Gefühl ermitteln. Demnach verhilft Musik zu (neuen) Erkenntnissen über menschliche Emotionen, der Rezipient erfährt aufgrund paralleler Strukturen etwas über mögliche Gefühle: »Wie die erste Wirkung, welche die Sprache auf die geistige Entwicklung ausübt, so besteht die bleibende Wirkung der Musik darin, daß Dinge begreifbar, nicht Aussagen gespeichert werden. Nicht zur Kommunikation, sondern zur Einsicht verhilft die Musik, zum Wissen darum, was es schlicht gesagt ›mit den Gefühlen‹ auf sich hat. [...] die bleibende Resonanz der Musik im aufnehmenden Geist ist emotionale Befriedigung, intellektuelle Zuversicht und ein durch Musik vermitteltes Verstehen.«236
Musik ist aufgrund ihrer Fähigkeit, die Morphologie der Gefühle widerzuspiegeln, in der Lage, das Wissen über Affekte und das Verstehen menschlicher Lebensformen zu erweitern. Sie ist, wie oben schon dargestellt, ein Bedeutungsträger noch vor jeder Zeichenhaftigkeit. 232 Ebd., S. 83, 84, 87. 233 Manfred Bierwisch: Musik und Sprache. Ihre Strukturen und Funktionsweisen. 234 Vgl. Susanne Langer: Philosophie auf neuem Wege, S. 234. 235 Hierauf wird später im Zusammenhang mit den Überlegungen zu Roland Barthes Konzept einzugehen sein. 236 Susanne Langer: Philosophie auf neuem Wege, S. 239. 247
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Ohne denotativ oder signifikativ zu sein, arbeitet sie auf der Basis ›logischer Formen‹ mit einer Morphologie der Gefühle. Ihre symbolische Ordnung ist nicht diskursiv, binär-arbiträr strukturiert, sondern simultan, integral, präsentativ.237 Diese nicht-diskursiven Symbole lassen sich nicht isolieren und beliebig kombinieren, sie bilden einen großen Kontext und existieren in dieser Gesamtheit. Langers Konzept ist kein Repräsentationsmodell, es bedient vielmehr den Prozess, das Unscharfe, Unstete und Fließende, es gesteht Musik nicht nur eine eigene Gestaltungsform zu, sondern auch eine Artikulationsmöglichkeit völlig eigener Inhalte. Wie sich diese gestaltabhängigen Inhalte fassen lassen, versucht Langer in einer ihrer späteren Schriften zu verdeutlichen: »The work [of art, M.B.-A.] seems to be embued with the emotion or mood or other vital experience that it expresses. That is why I call it an ›expressive form‹, and call that which it formulates for us not its meaning, but its import. The import of art is perceived as something in the work, articulated by it but not further abstracted; as the import of a myth or a true metaphor does not exist apart from its imaginative expression.”.238
Der »import« von Musik bezieht sich auf Lebensintensitäten, Gefühle und Stimmungen, die in der Musik artikuliert werden. Wie solche Erfahrungen des inneren Lebens nach ›außen‹ in Musik übertragen werden können, lässt sich mit Langers Verweis auf Mythen und Metaphern erklären. Den Vergleich mit dem Mythos hatte Langer schon an das Ende ihrer früheren Arbeit »Philosophie auf neuem Wege« gestellt: »Die Musik ist unser Mythos des inneren Lebens«239. Mythos gilt es hier wie dort im Sinne Cassirers nicht als defizitäres Symbol237 Langer arbeitet hier mit einer Unterscheidung präsentativer und diskursiver Formen, wobei zu beachten ist, dass ihr Diskursivitätsbegriff sich deutlich von demjenigen Michel Foucaults abgrenzt. Während Foucault den Diskurs als Machteffekt von historischen Aussageformationen betrachtet, versteht Langer den Diskursbegriff im Sinne Jürgen Habermas’ als reines Kommunikationsmittel, als eine Form der Interaktion herrschaftsfreier Kommunikation mit rationalem Austausch von Argumenten. Vgl. Langers Unterscheidung diskursiver und präsentativer Formen in: Dies., Philosophie auf neuem Wege, S. 86 ff. 238 Susanne Langer: »The Art Symbol and the Symbol in Art”, in: Problems of Art, New York 1957, S. 34; zitiert in: Michael Huppertz: Musik und Gefühl, S. 15. 239 Susanne Langer: Philosophie auf neuem Wege, S. 240. 248
IV. ANALOGIEN AUF DER EBENE DER TIEFENSTRUKTUR
system, sondern vielmehr als Form von Sozialität und Handlungsmustern, als Interaktion zu verstehen.240 Der »import« konstituiert sich durch eine wechselseitige Ergänzung und Stimulanz von innerem Erleben und musikalischen Strukturen. Dieses Moment der Interaktion von Gefühl und Musik dient zur Überwindung des Repräsentationsmodells und lässt schlussfolgern, dass das Wesenselement der Musik die Berührung und die Stimulanz der menschlichen Triebstruktur ist. Es bleibt festzuhalten, dass Musik ein nicht-diskursives, präsentatives System ist, welches auf der Basis der Morphologie der Gefühle eine eigenständige Artikulationsform ausbildet. Sie ist somit eine sinnbildende Praxis, die sich abhängig vom Subjekt in einer ständigen Interaktion mit dessen Affekten und Trieben befindet. An dieser Stelle wird deutlich, dass Langers präsentative Formen einige Eigenschaften mit dem Semiotischen bei Kristeva teilen. Beide beziehen sich auf einen Bereich, der sich der sprachlichen Darstellung entzieht und damit dem diskursiven Bereich entgegengesetzt steht. Langers präsentative Formen bezeichnen jedoch ein Symbolsystem, es sind keine vorsymbolischen Formen und somit nicht mit dem Semiotischen bei Kristeva gleichzusetzen. Sie gehen vielmehr ebenfalls aus der vorangegangenen Trennung des Symbolischen vom Semiotischen hervor, ihre materielle Basis ist – genau wie für die Sprache – das vorsymbolische Semiotische.241 Die anfangs formulierte These lässt sich bekräftigen: Musik stellt eine sinnbildende Praxis dar, die von einem Subjekt und dessen Genese, also dessen Historizität abhängig ist; ihr Entstehungsprozess beruht damit ebenfalls auf den zwei Modalitäten der Sinngebung.242 Den Entstehungsprozess und die Verankerung präsentativer Formen der Musik innerhalb der Subjektgenese gilt es wie folgt zu beschreiben: Das Subjekt durchlebt zunächst eine Phase, die von der empfundenen Einheit zwischen Mutter und Kind dominiert wird und in der es durch ein rein körperliches, nicht distinkt-binär-arbiträres Kommunikationssystem mit seiner Umwelt verbunden ist. Die in diesem Stadium gesammelten Eindrücke und ihre Verarbeitung prägen das Subjekt und seine Fähigkeit zur Sinnbildung aus. Die semiotische chora bildet sich heraus, wird facettenreicher und befindet sich in ei240 Vgl. Michael Huppertz: Musik und Gefühl, S. 16. 241 Vgl. hierzu auch Bettina Schmitz: Arbeiten an der Grenze der Sprache: Julia Kristeva, Königstein/Ts.: Helmer 1998, S. 84 ff. 242 Vgl. hierzu auch die Arbeiten Daniel Sterns, der die Ergebnisse Susanne Langers für die Säuglingsforschung nutzbar machte. 249
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befindet sich in einem ständigen Prozess des Umbildens und Variierens. Die stimmlich-gestisch-körperliche und rhythmische Struktur der chora dient als materielle Grundlage für die Bildung des Symbolischen. Zur Ausbildung eines distinkt-binär-arbiträren Zeichensystems spaltet sich das Symbolische nach dem thetischen Einschnitt in Bedeutung und Bezeichnung. Die Musik als nicht binärarbiträres System ist ebenfalls dem Symbolischen zuzuordnen, denn auch sie benötigt die Thesis, die Setzung von Sinn und Subjekt, als Voraussetzung ihrer präsentativen Struktur, um Formen und musikalische Gesetze zu formulieren. Im Gegensatz zur Sprache nimmt sie jedoch keine weitere Spaltung in distinktiv-binär-arbiträre Zeichen vor. Die Musik akzeptiert die Notwendigkeit einer Thesis, einer Unterscheidung von Subjekt und Objekt, um sich als sinnbildende Praxis zu konstituieren und verbindet sich gleichzeitig als symbolisches System mit der komplementären Modalität des Semiotischen. Im Moment des Musizierens und auch des Rezipierens dient die stimmlich-gestisch-körperliche, rhythmische, auf Lust/Unlust beruhende chora als materielle Basis. Das Zappeln, Wackeln, Strampeln, aber auch das Brabbeln und Schreien des Säuglings stellen unstete, fluktuierende Rhythmen und unspezifische Töne und Geräusche dar, die als materielle Basis für die spätere Ausbildung musikalischer Fähigkeiten dienen, somit ist die Musik stets latent mit dem amorphen, noch nicht konsolidierten Raum der semiotischen chora verbunden. Aus der Gesamtheit der stimmlich-gestisch-vokalischen, rhythmischen und körperlichen chora werden rudimentäre musikalische Ordnungselemente und Einheiten ausgewählt und zu nicht binär-arbiträren, präsentativen Formen ausgebildet. Diese musikalischen Formen können auf unterschiedliche Weise gestaltet sein, sie können sich dicht an der Ebene des amorphen Raums bewegen und die rudimentären Elemente des Semiotischen aufgreifen oder auf sehr viel weiterentwickelter Ebene komplizierte, intellektuelle Formen ausbilden, sie können die chora-Lust in ihren Phänotext integrieren oder vom Semiotischen als heterogene, den Phänotext zersetzende, dynamische Kraft permanent attackiert sein. Regelmäßige und eingängige, am menschlichen Puls orientierte Rhythmen wiederholen eine chora-Lust, die das Körperliche unmittelbar berührt und stimuliert. Tanz- oder Marschrhythmen greifen auf solche Zusammenhänge zurück. Schumann, um bei dem exemplarisch gewählten Komponisten zu bleiben, bedient sich solch rudimentärer, musikalischer Gestaltungsmittel, beispielsweise wenn er im Faschingsschwank aus 250
IV. ANALOGIEN AUF DER EBENE DER TIEFENSTRUKTUR
Wien op. 26 die Marseillaise verarbeitet und ihren eingängigen Rhythmus aufgreift. Ebenso sprechen die schlichten, gesanglichen Melodien aus den Kinderszenen op. 15 eine Sprache frühkindlicher Eindrücke und Erlebnisweisen, indem sie einerseits den Gestus der durch die Mutter vermittelten Kinderlieder und Schlaflieder aufgreifen, andererseits das Semiotische in seinen sensiblen, vorsichtigen, tastenden und fragenden, zarten Regungen von Spannungen und Entspannungen in den Phänotext einflechten, beispielsweise im ersten Stück Von fremden Ländern und Menschen oder im dreizehnten Stück Der Dichter spricht oder auch im Album für die Jugend op. 68 im Stück Nr. 6 Armes Waisenkind. Die Kreisleriana geben ein Beispiel für eine harmonisch und rhythmisch äußerst komplizierte und vielschichtige, präsentative Form von Musik, in der die chora-Lust sich auf eine spröde, die Ordnung unterlaufende und zersetzende Weise einschreibt und sich eher schockartig und vehement dem Rezipienten offenbart. Doch immer greift das Musikalische auf die körperliche, rhythmische, materielle Basis der semiotischen chora zurück und konstituiert sich aus ihr. Die semiotische chora stellt die materielle Basis nicht nur für die Bildung von diskursiven, distinktiv-binär-arbiträren Signifikantensystemen, sondern auch für die Ausprägung von präsentativen, musikalischen Gestalten. Musik stammt somit aus der körperlichen, semiotischen chora und bleibt permanent latent mit ihr verbunden. Diese genotextuelle Verankerung in der semiotischen Modalität der Sinngebung stellt die tiefenstrukturelle Analogie zwischen Sprache und Musik dar. Zur Veranschaulichung sei an dieser Stelle ein Schema eingefügt:243
243 Vgl. auch das Schema zur Signifikanz in: Bettina Schmitz, Arbeiten an der Grenze der Sprache: Julia Kristeva, S. 87, das hier verändert und erweitert wird. 251
NAHTSTELLEN
Sprache als in sich geteiltes distinktivbinär-arbiträres System
Musik als nicht binärarbiträres System
DAS SYMBOLISCHE
Thetischer Einschnitt ----------------------------------------SEMIOTISCHE CHORA ___________________________ Körper
Die symbolische Ebene der Sprache besteht aus einem distinktivbinär-arbiträren Zeichensystem, einem Signifikat ist immer ein Signifikant zugeordnet. Diese Zweiteilung des Symbolischen gilt für die Musik nicht. Wie ausführlich erläutert, verfügt sie über eine Bedeutungsbildung ohne denotativ oder signifikativ zu sein. Ihre symbolische Ordnung rekrutiert sich unmittelbar aus der materiellen Basis, der Interaktion mit Triebstrukturen ohne eine weitere Teilung einzufügen. Die Nähe zur semiotischen chora ist somit direkter, unmittelbarer als bei der Sprache, die Präsenz der chora größer und ihre Verfahren dominanter. Dennoch stellt Musik ein äußerst komplexes, intellektuell durchdachtes System dar, das sich ebenso wie die Sprache durch zwei Modalitäten konstituiert. Die bedeutungsbildende Ordnung auf der Ebene des Phänotextes, wie sie bereits schon beschrieben wurde244, basiert auf der vorsymbolischen chora und ihrem permanenten, latenten Vorhandensein ›unterhalb‹ der musikalischen Form. Langer verweist hinsichtlich des »imports« von Musik nicht nur auf den Mythos, sondern auch auf das Phänomen der Metapher. Bei Kristeva gilt die Metapher als ein Einbruch des Semiotischen in das Symbolische, sie verkörpert die Präsenz der materiellen Basis, der Triebintensitäten und kennzeichnet gleichzeitig ein Verfahren der Primärprozesse innerhalb der Sprache. Die Metapher gilt für Kristeva als eine Verfahrensweise 244 Vgl. Teil III dieser Arbeit. 252
IV. ANALOGIEN AUF DER EBENE DER TIEFENSTRUKTUR
der poetischen Sprache, die dazu dient, die semiotischen Kräfte an die Oberfläche zu holen, sie dem Phänotext einzuschreiben und damit ein Wiederholen der Triebenergien und der chora-Lust zu ermöglichen. Mit Langers Vergleich von musikalischem und metaphorischem »import« wird diese Strategie der poetischen Sprache als ein musikalisches Strukturprinzip beschrieben. Auch in der Musik gibt es Werke, die den Prozess der Sinngebung mehr oder weniger intensiv thematisieren. Die Strategie der Metapher wird hinsichtlich ihrer Kraft des Verschiebens durch rhythmische Verrückungen umgesetzt, das Moment des Verdichtens entspricht der harmonischen Gestaltung der Musik, ihren harmonischen Erweiterungen. Rhythmische und harmonische Brüche sowie ›Diskurswechsel‹, die die Struktur insgesamt in Frage stellen und zu zerstören drohen, spiegeln die dynamische Kraft der Negativität wider. Wollte man den Begriff des Poetischen so definieren, dass er alle künstlerischen Verfahren umfasst, die zur (Re-)Aktivierung der Triebenergien und der chora-Lust dienen, müsste auch von einer ›poetischen Musik‹ die Rede sein. Gemeint wäre eine musikalische Struktur, der sich die semiotische chora ständig wieder einschreibt und in der gesellschaftliche und körperliche Prozesse auf diese Weise thematisiert werden. Langers Gleichsetzung von Musik und Metapher legt es nahe, die Verquickung des diskursiven und des präsentativen Systems in der poetischen Form zu sehen. Es wird nochmals bestätigt, dass der Prozess der Interaktion zwischen Triebstruktur und dem jeweiligen Medium sowohl für Musik als auch für Sprache wesentlich ist. Beide Systeme basieren auf dem amorphen Raum der semiotischen chora und konstituieren sich durch den heterogenen Prozess der Sinngebung. An Susanne Langers Modell wurde auf mehreren Ebenen Kritik geübt. Neben Kadens Einwand, Langer beschränke ihre Betrachtungen »auf abgelöst-formalisierte (nicht-mehr-indexikalische) Ausdruckswerte«245, gibt es drei weiterführende Kritikpunkte. Zum einen differenziere Langer zu wenig zwischen den unterschiedlichen Musikparametern und begrenze ihre Ausführungen auf dynamische Aspekte. Zum zweiten gilt Langers Gefühlsdefinition als eindimensional, es heißt, sie reduziere Gefühl auf eine formale dynamische Existenz und auf rein inneres Empfinden. Zum dritten drohe ihr IsomorphieModell Musik als Erkenntnishilfe für Emotionen zu degradieren, die spezifisch musikalische Bedeutung verkomme zur Informationsquel-
245 Christian Kaden, Art. «Zeichen«, Spalte 2207. 253
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le.246 Kadens Kritikpunkt muss zurückgewiesen werden, da es, wie oben dargestellt, notwendig ist, das weite Spektrum an musikalischen Erscheinungsvarianten einzuschränken. Will man sich mit musikalischen Formen beschäftigen und sich ihren Wesenszügen nähern, bietet es sich an, die Auswahl auf reine, ›abgelöst-formalisierte‹ Instrumentalmusik zu begrenzen. Zudem lässt sich Langers Modell durchaus auch auf weitere musikalische Formen übertragen.247 Die Kritik an der Undifferenziertheit in Langers Ausführungen ist durchaus berechtigt und muss hinsichtlich des weiteren Arbeitsverlaufs um Parameter wie Melodik und Harmonik, Tonalität und Klangfarbe erweitert werden, doch stellt dieses bezüglich Langers Grundkonzept keine Schwierigkeit dar. Die Morphologie der Gefühle und ihre logischen Formen lassen durchaus eine solche Erweiterung zu. Der zweite Kritikpunkt ist insbesondere für den vorliegenden Kontext von Bedeutung. Der psychosomatische Charakter inneren Erlebens spielt für den Stellenwert der lebendigen Formen innerhalb der Gefühlswelt und für die Musik eine zentrale Rolle. Dieser Aspekt wird durch Kristevas Modell für die musikphilosophische Forschung gewinnbringend herausgestellt. Durch die Verortung von Affekten und Trieben in der semiotischen chora bekommen die Emotionen einen Stellenwert, der sie nicht in die Tiefen der inneren Seele verbannt, sondern der ihnen eine ständige Präsenz und Artikulationsform auch auf der Ebene der symbolischen Ordnung zugesteht. Was bei Langer in der Andeutung einer Analogie zwischen Musik, Mythos und Metapher stecken bleibt, kann mit Kristevas Konzept weitergeführt und für die Bestimmung der musikalischen Struktur nutzbar gemacht werden. Die Setzung der semiotischen chora als eines amorphen, noch nicht festgelegten, flüssigen Raums nahe den körperlichen Funktionen eröffnet auch für die Musik eine bisher noch nicht erreichte Annäherung an die triebhaften, energetisch vitalen, affekthaltigen, von Lust/Unlust bestimmten Dimensionen musikalischer Strukturen. Die semiotische chora scheint die
246 Vgl. Michael Huppertz: Musik und Gefühl, S. 11. 247 Es sei darauf verwiesen, dass Kristeva ihren Gegenstand der Sprache ebenfalls in verschiedene Kategorien (Erzählung, Metasprache, Kontemplation und Text) einteilt, da sie hier unterschiedliche Formen des Umgangs mit der semiotischen chora feststellt; für ihre ästhetischen Analysen verwendet sie ausgewählte Texte, die sich einer bestimmten Form der Sinngebung bedienen, welche in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beispielsweise durch Mallarmé, Lautréamont, Proust oder Joyce geprägt wird.
254
IV. ANALOGIEN AUF DER EBENE DER TIEFENSTRUKTUR
prägnanteste Form der Bestimmung einer ›letzten‹ gemeinsamen tiefenstrukturellen Ebene von Literatur und Musik zu sein. Während der Vergleich der beiden Phänotexte die strukturellen Analogien auf der Ebene der Kommunikation darstellte, zeigen die Überlegungen zum Aufbau des musikalischen Genotextes, dass Sprache und Musik auch über eine gemeinsame materielle Basis verfügen. Die jeweiligen symbolischen Ordnungen weisen ähnliche Verfahrensweisen auf, so dass die Strategien des Semiotischen, sich dem Phänotext einzuschreiben, ebenfalls vergleichbar sein müssten. Es bleibt zu überprüfen, ob die gemeinsame materielle Energiequelle, die semiotische chora zu analogen dynamischen Prinzipien, zu karnevalesken Strukturen, zum Verfahren der Mimesis, zur Kraft der Negativität sowie zur Intertextualität innerhalb des Symbolischen eines Kreislerianums führt. Dies soll mit Blick auf die genotextuelle Analyse des Hoffmann’schen Kreislerianums am Beispiel der Schumann’schen Kreisleriana untersucht werden.
Der Genotext der Schumann’schen Kreisleriana Untersucht werden soll, wodurch sich der Genotext der Schumann’schen Kreisleriana auszeichnet und ob er mit demjenigen des Hoffmann’schen Kreislerianums strukturell vergleichbar ist. Aufgrund des gleichnamigen Titels ist zu vermuten, dass Schumann genotextuelle Analogien zwischen seinem Klavierzyklus und dem Hoffmann’schen Text wahrgenommen hat. Die Analyse der Phänotexte bestätigte bereits eine weitgehende Vergleichbarkeit der Oberflächenstrukturen. Nach den Überlegungen zur Relevanz des Kristeva’schen Konzeptes für einen interdisziplinären Vergleich konnte festgehalten werden, dass sich die Musik, wie die Sprache, aus der vorsymbolischen chora und ihren Triebenergien selektiv produziert, also über die gleiche materielle Basis und somit über einen gleichstrukturierten Genotext verfügt. Um diesen musikalischen Genotext zu bestimmen, »müßte man die Energieschübe der Triebe freigelegen«248, welche die Kreisleriana op.16 bestimmen. Es gilt, den »import« der Kreisleriana zu beschreiben, also keine gestaltabhängigen Inhalte oder Bedeutungen, sondern ihre eigene Form, die sich generiert aus innerem Erleben und musikalischen Strukturen.
248 Julia Kristeva: Die Revolution der poetische Sprache, S. 94. 255
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Der musikalische Gehalt – Versuch einer Bestimmung Die Ausführungen zur Bestimmung einer musikalischen Oberflächenstruktur249 ergaben eine komplementäre Relation zwischen Form und Aussage für das lyrische Klavierstück der Romantik, wobei die Form das ›Erscheinungsbild‹ und die Aussage das ›Entstehen‹ von Musik meinen. Diese Unterscheidung bedeutet die Notwendigkeit einer Bestimmung des Gehalts der Musik. Um das ›Entstehen‹, den genetischen Prozess im Verhältnis von Sinn und Gehalt zu erfassen, muss die musikalische Aussage ermittelt werden. Schumann selbst äußert sich zum Gehalt seiner Kreisleriana nur in wenigen kurzen Brieftextstellen an seine Frau Clara SchumannWieck. »›Kreisleriana‹ will ich es nennen, in denen Du und ein Gedanke von Dir die Hauptrolle spielen, und will es dir widmen, ja Dir und niemand anders, da wirst Du lächeln so hold, wenn Du Dich wiederfindest. Meine Musik kommt mir jetzt so wunderbar verschlungen vor bei aller Einfachheit, so sprachvoll aus dem Herzen, und so wirkt sie auch auf alle, denen ich sie vorspiele, was ich gern und häufig tue jetzt.«250
Clara und ein Gedanke von ihr stehen hier für Schumann im Zentrum der Musik. Die große Distanz zur Braut und das lange, sehnsüchtige Warten auf ein Wiedersehen finden demnach ihren Platz im Ausdruck der Kreisleriana. Begehren und starkes Verlangen sowie existenzielle Verzweiflung zum Zeitpunkt der Komposition, finden Ausdruck, wenn Schumann eine »rechte ordentlich wilde Liebe« und »Dein Leben und meines und mancher deiner Blicke« in den Kreisleriana entdeckt. Es lässt sich ein Zustand großer innerer Sehnsucht, Verzweiflung und manisch-depressive, triebhafte Erregung herauslesen. Schumann versucht den Gehalt seiner Musik so zu bestimmen, wie es seiner synästhetischen Vorstellung entspricht. Nach Schumanns Verständnis verfügt Musik über eine Oberfläche, die wie eine »aus buntem Glase zusammengesetzte Scheibe« ist, wodurch der Gegenstand
249 Vgl. Teil III, 5 dieser Arbeit. 250 Robert Schumann in einem Brief an Clara vom 14. April 1838, in: Robert und Clara Schumann, Roman einer Liebe. Von Ihnen selbst in Briefen und Tagebüchern erzählt, Tübingen: Stuttgarter Hausbücher 1950, S. 70. 256
IV. ANALOGIEN AUF DER EBENE DER TIEFENSTRUKTUR
»jetzt rosaroth wie im Abendglanz, jetzt golden wie Sonnenmorgen« erscheint.251 In der Musikpsychologie hat sich ein Verfahren etabliert, mit dessen Hilfe konnotative Bedeutungen, also musikalische Aussagen emotionaler Qualität analysiert werden sollen: das sogenannte Polaritätsprofil. Das Polaritätsprofil soll darüber Aufschluss geben, welche emotionalen Eigenschaften, welche affektiven Qualitäten dem Musikstück zugeordnet werden und welchen musikalischen Gehalt es besitzt.252 Diese Art der Sprache über Musik bedarf jedoch einiger Er251 Arnfried Edler: Robert Schumann und seine Zeit, Laaber: LaaberVerlag 1982, S. 127. 252 Das Polaritätsprofil, auch »semantisches Differenzial« genannt, ermöglicht im Gegensatz zu anderen Methoden, wie dem Adjektivzirkel oder den Adjektivlisten, eine genauere Messung der Qualitäten und auch Intensitäten, da es über größere Differenzierungsmöglichkeiten verfügt und mehrere Dimensionen erfassen kann (vgl. hierzu »Musikpsychologie«, Jahrbuch der Deutschen Gesellschaft für Musikpsychologie, Bd.13, hrsg. von Klaus-Ernst Behne, Günter Kleinen, Helga de la Motte-Haber). Es besteht aus einer sechsstufigen Skala, die den Intensitätsgrad zwischen zwei Polen von Adjektiven entgegengesetzter Bedeutung misst. Die Adjektive sollen sich auf unterschiedliche Aspekte beziehen und differenzierbar sein, ihre Anzahl ist nicht festgelegt. Ein solches Polaritätsprofil wurde zur dritten Fantasie der Schumann’schen Kreisleriana erstellt, um ein Bild vom Ergebnis einer solchen Befragung zu bekommen und um ihren Aussagewert für die Bestimmung des Genotextes zu überprüfen. Die dritte Fantasie wurde aufgrund ihres extremen Charakters, ihrer großen Tempo- und Dynamikschwankungen sowie ihrer melodischen Ausbrüche als kennzeichnend für den Gesamtcharakter der Kreisleriana ausgewählt. Das Profil samt seiner Auswertung befindet sich im Anhang (Anlage 2), befragt wurden 27 Medizinstudenten, die alle Mitglieder eines studentischen Medizinerorchesters sind. Das semantische Differenzial ergab die eindeutige Zuweisung folgender Eigenschaften: fließend, gefühlvoll, kreisförmig, aktiv, geistig, rund, dynamisch, eindeutig, hell, wahnsinnig, sprunghaft, verschoben, belebt, assoziativ, überraschend, natürlich, zielgerichtet, zwiespältig, differenziert, authentisch, und frei. Unentschieden blieben die Begriffspaare geschlossen/offen, männlich/weiblich, kontrolliert/unkontrolliert sowie angespannt/gelöst. Die eindeutig zugeordneten Adjektive beschreiben einen Charakter, der dem oben bereits ermittelten dynamischen dezentrierten Subjekt entspricht. Große Intensität und Authentizität, traumlogische Züge (fließend, assoziativ, verschoben) und Triebenergien wie Sprunghaftigkeit, Dynamik, Aktivität oder die ambivalente Zwiespältigkeit. Die unentschiedenen Gegensatzpaare deuten auf den fehlenden Zusammenhang bei geschlossen/offen hin, zeigen die fehlende Eindeutigkeit und sehr subjektive Bestimmung von männlich/weiblich, lassen das ambivalente Verhältnis der unkontrollierten Kontrolle des Unbewussten erschei257
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gänzungen, um den Genotext zu erfassen. Es werden zwar Eigenschaften der musikalischen Aussage benannt, doch ihr Entstehungsprozess, ihre materielle Basis, aus der die Aussage erwächst, bleibt unbeachtet. Die Suche nach der »Rauheit« – der Kategorie des Körpers Gegen eine solche Beschreibung von Musik, die sich auf den Ausdruck beschränkt und diesen mittels Benennung wesentlicher Eigenschaften zu erfassen versucht, wehrt sich Roland Barthes in seinen musikkritischen Essays. Für ihn dient das Adjektiv der Postulierung eines musikalischen Ethos, der Zuweisung eines »regulären (natürlichen oder magischen) Bedeutungsmodus«253, gegen das er sich vehement wehrt. Barthes sieht durch die adjektivische Beschreibung ein Imaginäres der Musik gesetzt, dessen Kraft darin besteht, dem Rezipienten Gewissheit zu geben und ihn zu konstituieren. Um diese imaginäre Eigenschaft zu umgehen, die Setzung eines Ethos und somit auch das Adjektiv als einziges Mittel der Beschreibung von Musik auszuklammern, fordert er einen neuen Zugang zu Musik, eine neue Semiologie und eine neue Wahrnehmungs- und Erkenntnisebene. Dieser verlagerte »Berührungsstreifen zwischen Musik und Sprache« 254 zielt auf die Betonung der Materialität von Musik und trifft sich hierin mit der Definition des Genotextes nach Kristeva, welche den Genotext als die triebenergetische und somit als materielle Basis beschreibt. Barthes adaptiert das Konzept der zwei Textzeiten und überträgt es in den musikalischen Diskurs, indem er vom »Phänogesang« und vom »Genogesang« spricht.255 Während der Phänogesang der Kommunikation dient und die Darstellung sowie den Ausdruck bezeichnet, meint der Genogesang das »Volumen«, in ihm sollen sich Materialität und (chora-)Lust äußern. Durch diese Differenzierung verlagert Barthes die Beschreibung des Aussagegehalts musikalischer Strukturen auf eine wesentlich körperliche Ebene. Er sieht eine unmittelbare Verknüpfung von Körper und Musik: nen, das sich ständigem Wechsel zwischen angespanntem und gelöstem Zustand befindet. Die Adjektivsammlung zeigt wenig neue Erkenntnisse und scheint keine Näherungsform an den Genotext zu sein. 253 Roland Barthes: »Die Rauheit der Stimme«, in: Ders., Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn, S. 270. 254 Ebd. 255 Ebd., S. 272. 258
IV. ANALOGIEN AUF DER EBENE DER TIEFENSTRUKTUR
»Der Körper geht in die Musik ein ohne ein anderes Verbindungsglied als den Signifikanten. Dieser Übergang – diese Überschreitung – lässt die Musik zu einem Wahnsinn werden: nicht nur in der Musik Schumanns, sondern jegliche Musik. Im Vergleich zum Schriftsteller ist der Musiker immer wahnsinnig (und der Schriftsteller kann es nicht sein, da er zum Sinn verurteilt ist).«256
Seine Kategorie des Körpers ist die «Rauheit», die Rauheit der Stimme, wie sie beim Gesang hinsichtlich der Sprache und der Musik erklingt, aber auch die Rauheit des Klavierspielers, dessen Fingerkuppen statt dessen Muskelmasse beim Spiel wahrnehmbar sind. In der Rauheit sind Materialität und Lust miteinander verquickt, denn die Rauheit ist der Körper und der Körper die Erotik.257 Diese Körperund Lustbetontheit der Musik sieht Barthes in der Signifikanz, dem Oszillieren zwischen Symbolischem und Semiotischen verankert, sie äußert sich in der Musik durch die Bewegung von Materie, durch die Materialität des Körpers und im Vernehmen einer Wollust. Die Schwierigkeit, dieses Volumen, diesen Genogesang von Musik frei zu legen und zu beschreiben, thematisiert Barthes selbst: »Was ich über die Rauheit zu sagen versuche, wird natürlich nur die scheinbar abstrakte Seite, die unmögliche Schilderung einer individuellen Lust sein [...]«258 Unterhalb der Melodie, unterhalb des Phänotextes gilt es den Ausdruck des »geeinten Leibs«259 zu hören, die Einheit von Symbolischem und Semiotischen zu vernehmen. Die Bewegung des körperlichen Materials, den Rhythmus und die Schläge, die Triebenergien müssen freigelegt werden. Auf diese Weise nähert sich Roland Barthes dem Genotext der Schumann’schen Kreisleriana. Karnevaleske Struktur Generell attestiert Barthes Schumann eine große Nähe zur semiotischen chora, wenn er ihn als »Musiker des Kindes, das keine andere Bindung als die an die Mutter hat« beschreibt. 260 Seine Musik gilt ihm als radikal, individuell und existentiell, »Sie dringt durch die Schläge ihres Rhythmus’ in den Leib, in die Muskeln und durch die Sinnlichkeit ihres melos in die Eingeweide [...]«261 Das grundlegende 256 257 258 259 260 261
Roland Barthes: Rasch, S. 308. Roland Barthes: Die Rauheit der Stimme, S. 272f. Ebd., S. 271. Ebd., S. 289. Ebd., S. 293. Ebd., S. 294. 259
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Verfahren der Schumann’schen Musik und insbesondere der Kreisleriana, mit dem sich der Körper der Musik einschreibt, ist das der karnevalesken Struktur. Der Inkohärenz und der Kontraststruktur seiner kurzen, fragmentarischen Formen liegt das dezentralisierte Subjekt des Karnevals zugrunde.262 Schumanns Nähe zum Karnevalesken äußert sich außerhalb der Kreisleriana in den Titeln der Klavierwerke Carnaval op. 9 und Faschingsschwank aus Wien op. 26 sowie in den Davidsbündlertänze op. 6, die sich auf die von Schumann geschaffenen Charaktere des Florestan und Eusebius beziehen und somit ebenfalls auf das Maskenspiel des Karnevals hindeuten. Für die Kreisleriana gilt eine Umsetzung der dialogischen Struktur des Karnevals, die derjenigen des Semiotischen gleicht. Die Beschreibung des dialogischen Diskurses durch Kristeva scheint das Verfahren der Kreisleriana selbst zu charakterisieren: »Innerhalb ihrer eigenen Strukturen liest die Schreibweise eine andere Schreibweise, liest sich selbst und baut sich in einer zerstörerischen Genese auf.«263 Dieses ›Sich-Selbst-Lesen‹ der eigenen Schreibweisen ergibt sich für die Musik durch zwei Zustandsweisen: Einerseits orientiert sie sich an Vergangenem und gestaltet die Darstellung des Ernstzunehmenden, des Vernunftmäßigen aus, andererseits beginnt sie ein Spiel mit ihren Möglichkeiten des Ausagierens, sie gestaltet Fantasiegewebe, deren Existenz in der Realität nicht denkbar und nachvollziehbar wären, jedoch das ganze Spektrum der Phantasie abtasten und ihre Verfahrensweisen nutzt. Die zwei Zustandsweisen innerhalb der Kreisleriana gestalten sich einerseits durch den verausgabten, ›u-topischen‹ Charakter des Phantastischen und andererseits durch den verorteten Charakter des Vergangenen, welcher wiederum durch Verfremdung umgewertet und somit ebenfalls nicht als reterritorialisierendes Moment fungieren kann, sondern wieder deterritorialisiert wird. Dazwischen gestalten sich Momente, die das gerade Vorangegangen des Kreislerianums lesen, memorieren und in unterschiedlichster Weise fortführen: konstruktiv, indem das geistige Zentrum eines Themas oder Musters variiert oder mit anderen Gestalten in Zusam262 Wenn im Zusammenhang mit der Besprechung von Musik ebenfalls die Rede von einem Subjekt ist, liegt das darin begründet, dass Musik, wie bereits dargestellt, stets mit der vorsymbolischen Ebene der Subjektgenese verbunden ist und ihre Basis in der semiotischen chora liegt. Zudem wurde bereits gezeigt, dass Musik über einen Aussagewert verfügt, indem sie ihren Sinn ausagiert, produziert sie Gehalt. Musik verfügt folglich über das historische Subjekt des Aussagens sowie über ein Subjekt der Aussage. 263 Julia Kristeva: Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman, S. 360. 260
IV. ANALOGIEN AUF DER EBENE DER TIEFENSTRUKTUR
anderen Gestalten in Zusammenhang gebracht wird oder destruktiv, indem es zerstört und nihiliert wird. Mimesis – Verdichtung und Verschiebung Die erste Fantasie eröffnet das Gesamtwerk mit einer ›u-topischen‹, deterritorialisierenden Melodieskizzierung. Unter dem Deckmantel einer symbolischen Ordnung dieses schemenhaften Motivs, droht die Verschiebung der verspäteten Bässe im Zusammenspiel oder besser Gegenspiel mit den Triolen der rechten Hand, auch dieses flüchtige Melodiemoment noch zu zerstören. Es droht zu kippen, hört jedoch immer wieder früh genug auf und beginnt das Spiel von neuem. Diese ›zerstörerische Genese‹ wird vom Interpreten physisch mitvollzogen. Der Spieler muss sich quasi spalten, um die divergierenden Betonungen und Akzente seiner beiden Hände zu koordinieren und muss gleichzeitig die Entscheidung darüber treffen, welcher Stimme er im Moment den Vorrang gibt, ob die sprunghafte Aufwärtsbewegung der rechten Hand dominieren soll oder ob die Basslinie herausgearbeitet wird. Hier soll eine Entscheidung getroffen werden, die den Spieler in Konflikt bringt, durch die zusätzliche technische Herausforderung erfährt er eine psychische wie physische Zerrissenheit. Der Zwischenteil fließt wie abwesend dahin, lässt jedoch keine Erschöpfung zu, sondern scheint vielmehr den Beginn zu memorieren und in einer Art zu verarbeiten, die ihn dessen Spannung beibehalten lässt. Wurde hier durch die verschobene Basslinie das Semiotische in die Musik eingeführt, durchquert es in der zweiten Fantasie die Ordnung durch harmonische Überraschungseffekte. Harmonische Verrückungen und Verzerrungen setzten das Verfahren der Mimesis musikalisch um. Unter dem Deckmantel harmonischer Gesetzmäßigkeiten wird das System unterlaufen. Wie bereits beschrieben, ergibt sich hier eine Interdiskursbastelei, die zu einem Durchbruch des Semiotischen in dem Moment führt, in dem sich die neue Tonart H-Dur an der ursprünglichen B-Dur Tonalität ›entzündet‹. Das gleiche harmonische Verfahren des Verschiebens harmonischer Diskurse wurde für die vierte Fantasie nachgewiesen. Auch hier kann der Genotext im harmonischen Bruchsystem freigelegt werden.264 Durch die programmatische Enttäuschung aufgebauter Hörerwartungen tritt eine dynamische Kraft hervor, die Sinnstrukturen unterminiert und festgelegte symbolische Ordnungen zerstört. Die harmonischen Verdichtungen, die über ihre Grenzen der Sagbarkeit 264 Vgl. hierzu die Phänotextanalyse im Teil III dieser Arbeit, Abschnitt 5.1. Romantischer ›Witz‹ und musikalischer Humor. 261
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sich einem neuen harmonischen Diskurs öffnen, sind durch diese quasi Interdiskursbastelei in der Lage, das Unbewusste und die choraLust zu stimulieren und stellen somit eine Strategie des Semiotischen dar, sich dem Symbolischen einzuschreiben. Roland Barthes sieht die »›Dienste‹, die die Tonalität dem Körper erweist« mit ähnlich semiotischer, dynamischer Kraft ausgestattet, wenn er der Dissonanz und der Modulation Varianten des Schlags zu spricht und in der Tonalität selbst die »stärkste, die beständigste der Traumfiguren: das Hinaufsteigen (oder Herabsteigen) einer Treppe« sieht.265 Negativität Die dritte Kreisleriana verkürzt das triolische Motiv der ersten Fantasie noch einmal, wodurch der Rhythmus weiter an Gewicht gewinnt und einen ›nächtlichen‹, silhouettenhaften Charakter entstehen lässt. Mit einem weiteren Erinnerungsmoment, diesmal der zweiten Kreisleriana entnommen, beruhigt sich die Fantasie, die bogenartige Melodielinie arbeitet einen Vitalitätsaffekt des Genießens und Reckens aus. Das Anfangsmotiv wieder aufnehmend (A-B-A-Form) stellt sich durch die Wiederholung ein Erinnerungseffekt ein, der Sicherheit und Halt assoziiert und hinsichtlich der Struktur und auch der Thesis bestätigend wirkt. Nach einem vollständigen Durchlauf des A-Teils wird das Ende der Fantasie erwartet, doch diese Erwartung wird nicht erfüllt, statt dessen erhebt sich die Musik, springt in einem Dezimensprung nach oben, um von dort mit gesteigerter Intensität fortzurasen. Verstärkte Dynamik und erhöhtes Tempo bauen Intensitäten auf, die ein Subjekt bezeugen, dass mit seiner Motilität, seinen Triebenergien und seiner ganzen materiellen Körperlichkeit die symbolische Ordnung durchquert und ihr das Semiotische einschreibt: Der rhythmisch stockende Charakter beginnt sich zu verselbstständigen, die Kontrolle über den Verlauf geht verloren, die eben noch bestätigte Ordnung wird attackiert, dynamisch gesteigert und bis zum h’’ in den hohen Diskant gejagt, so dass jeder Halt zerstört und die Ordnung gekippt wird.266 Dieser Ausbruch kennzeichnet ein dynamisches Subjekt, das sich bis zum Selbstverlust in eine andere Sphäre katapultiert und dort verausgabt. Das Subjekt der Sinngebung stellt sich der Auseinandersetzung mit dem Semiotischen, dem anderen Teil seiner selbst. Das 265 Roland Barthes: Rasch, S. 308. 266 Vgl. hierzu nochmals das bereits unter Karnevaleske Strukturen erwähnte Zitat von Kristeva: »[...] liest sich selbst und baut sich selbst in einer zerstörerischen Genese auf« aus: Dies., Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman. 262
IV. ANALOGIEN AUF DER EBENE DER TIEFENSTRUKTUR
Semiotische gewinnt die Oberhand, die belebte chora-Lust zerreißt mit einer aufbrausenden sowie berauschenden Kraft der Negativität den symbolischen Halt. Die Labilität der Thesis wird unmittelbar erfahrbar und die vorher inszenierte Wahrheit, die Sicherheit und Bestätigung des Subjekts in Frage gestellt. Schumann nutzt die Möglichkeiten der Musik, Fantasiegebilde durchzuformen, die in der symbolischen organisierten Realität unmöglich und ›zu gefährlich‹ wären.267 Der absolute Durchbruch des Semiotischen in der dritten Fantasie kennzeichnet nicht nur die Präsenz der semiotischen chora, sondern zeigt gleichzeitig die Fähigkeit der Musik, in einer Weise zu agieren, die die Struktur des Psychischen vollends erfasst und das Subjekt in der semiotischen chora einzutauchen bzw. unterzugehen droht. Das dem Realistischen, dem Symbolischen Fremde wird hier von der Musik ausagiert. Traumlogik In der vierten Fantasie vollzieht sich das Gegenteil: Durch permanente synkopische Einsätze, geht das Gefühl für die erste Taktzeit verloren. Der Einsatz auf der Zählzeit ›1+‹ mit einer Viertelnote, der noch zwei weitere Viertelnotenwerte folgen, verwischt sowohl den ersten Taktschlag, den eigentlich betonten Schlag des Taktes, als auch den zweiten, den dritten sowie den vierten Taktschlag. Erst mit dem Beginn des zweiten Taktes wird für den Hörer die Eins des Taktes deutlich, bis dahin hat er ein vorgetäuschtes Empfinden für den Takt gehabt oder sogar die Unsicherheit des Metrums, das Schwebende der Musik gespürt. Schumann nutzt hier die Möglichkeit der Verschiebung auf horizontaler Ebene, wodurch dem Körper jede Möglichkeit entzogen wird, den Bodenkontakt zu wahren. Das Verfahren dominiert den ganzen ersten Teil der Fantasie und verleiht ihr einen tastenden, schwebenden Charakter und evoziert ein Abheben, einen noch nicht konsolidierten, flüssigen Raum, der demjenigen der semiotischen chora gleicht. Der improvisierende Charakter gestaltet eine fließende, tastende Bewegung, er verfügt über keine Setzungen und arbeit sich somit an den Strategien des Semiotischen ab. Das Fehlen einer stabilen Thesis eröffnet die Möglichkeit einer neu formulierten Wahrheit, einer Wahrheit des Materiellen und des Körperlichen. In267 Vgl. hierzu Schumanns Angst vor dem zerstörenden Wahnsinn, die ›fixe Idee vor dem Wahnsinn‹, aber auch Kreislers Erlebnis in dem Stück »Kreislers musikalisch-poetischer Klub«, in dem er ebenfalls von Kräften und Energien der semiotischen chora überwältigt wird und der Garant seiner Thesis verloren zu gehen droht. 263
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dem das Amorphe und noch nicht Konsolidierte, das Körpernahe der semiotischen chora sich durch Indifferenzen der harmonischen Fortbewegung sowie des Metrums dem Kreisleriana-Stück einschreibt, agiert die Musik auf der materiellen Basis des Körpers und des Traums. Diese aktivierte Präsenz der Triebenergien thematisiert die Nahtstelle zwischen der semiotischen chora und dem Symbolischen in den Sinngebungsprozesses, sie berührt diese nicht, sondern umkreist sie vielmehr, sie stellt das Wissen und die Erfahrung eines Anderen in Aussicht. Die vierte Fantasie ist die Erinnerung und/oder der Traum vom Anderen, jedoch nicht dessen ausagierte Präsenz und aktive Umsetzung, wie es im dritten Stück ›ausgehandelt‹ wurde. Enharmonik und Bachscher Kompositionsstil als Strategien des Semiotischen Das Präludierende des zweiten Teils der vierten Fantasie erweckt die Assoziation an den Bachschen Kompositionsstil, ebenso verspielt präludierend erscheint der erste Abschnitt der sechsten Fantasie, welcher sich durch den Fortgang durch zahlreiche Tonarten auszeichnet. Permanente enharmonische Verwechslungen und harmonische Umdeutungen verschieben die Tonräume, so erklingt der durch die Fermate besonders hervorgehobene Akkord in Takt acht statt in F-Dur in HDur. H-Dur als Tonika wird weitergeführt über die Subdominantparallele cis-Moll zur Dominante Fis-Dur, jedoch wird nicht die erwartete Zieltonart H-Dur sondern die eigentlich als dis-Moll erscheinende hier enharmonisch in es-Moll umgedeutete Mediante erreicht. Diese Verschiebungen der harmonischen Räume geschehen durch enharmonische Verwechselungen, in Takt acht wird ges’’ zu fis’’ umgedeutet und in Takt neun wird gis’ zu ges’ enharmonisch umgeschrieben. Die enharmonische Verwechselung ist ein Verfahren, das mit Hilfe von Umdeutung unter dem Deckmantel der symbolischen Ordnung arbeitet und somit mimetischer Art ist. Sie führt einen Bruch herbei, der mit der Strategie der Primärprozesse arbeitet und in der Lage ist, das Unbewusste zu berühren. In der vierten und sechsten Fantasie stellen die präludierenden Abschnitte Reminiszenzen an den Bachschen Kompositionsstil dar, auch das Fugato sowie der choralartige Schluss der siebenten Fantasie nehmen Bezug auf barocke Kompositionsweisen. Jedoch erscheinen die Reminiszenzen verfremdet. Der Fugenteil verfügt zwar über einen Dux und einen Comeseinsatz, doch gelingt der zweite Stimmeinsatz nur unsauber, er beginnt statt mit der Oberquinte mit der Oberquarte, 264
IV. ANALOGIEN AUF DER EBENE DER TIEFENSTRUKTUR
und imitiert den Dux nicht in seiner originalen Form: Das Intervall zwischen Stimmeinsatz und sechster Achtel umfasst im Comes eine Quarte, im Dux liegt hier jedoch eine Quinte vor, und die originale Abwärtsbewegung von der zweiten Achtel an wird im Comes hinausgezögert und auf die dritte Achtel verschoben. Statt der großen Terz von es nach h im Dux (Takt 42) führt der Comes eine kleine fallende Terz von b’ nach fis’’ aus (Takt 46). Auch der Kontrapunkt wird nicht formal korrekt auskomponiert, er wird nicht intervallgetreu imitiert, und statt mit dem dritten Stimmeinsatz (Takt 48) der beginnenden Dreistimmigkeit genüge zu leisten, erklingen die zwei Begleitstimmen als gedoppelte Oktave, was keinem zweitstimmigen Kontrapunkt entspricht. Zudem ergibt sich hierdurch eine Stimmdominanz des Dux, die fugenuntypisch ist. Das Wiederholen dieser ersten zwölf Takte stellt eine weitere Verfremdung der Fugenform dar, und geht es anschließend mit einem vierten Stimmeinsatz weiter, löst sich hier der Fugencharakter zunehmend auf. Statt drei Begleitstimmen gibt es nur zwei, die sich auch nicht kontrapunktisch, sondern vielmehr in eigenen kleinen Melodien ergehen. Die rechte Hand führt in Sequenzen ihre Stimme höher, die Begleitung folgt ihr. Die Dynamik wird gesteigert bis sich die Oberstimme repetierend ›festbeißt‹ (Takt 58-60). Die Akkordfolge in Takt 60 leitet den Höhepunkt ein, ihre Homophonie signalisiert den endgültigen Abschied von der polyphonen Fuge und im Fortissimo mit gesteigertem Tempo ›Noch schneller‹ rast die Fantasie weiter. Barbara Meier schreibt in ihrer Schumann-Monographie über die Kreisleriana: »Mit der Erinnerung an Vergangenes enthalten die Stücke aber zugleich eine Vorstellung von Maß und Geborgenheit«268 Die ›Erinnerung an Vergangenes‹, an alte Kompositionstechniken scheint jedoch keinerlei ›Maß‹ und ›Geborgenheit‹ geben zu können, sondern eher einem Maskenspiel vergleichbar zu sein. Wie oben beschrieben, wird die Form von Beginn an nicht ernsthaft umgesetzt und letztlich gar ad absurdum geführt. Der unkorrekte Comeseinsatz könnte noch als humorvoller Umgang mit der Bachschen Fuge c-Moll aus dem 1. Teil des Wohltemperierten Klaviers (Bsp. 8) verstanden werden: Der Anfang dieser äußerst bekannten Fuge wird bei Schumann imitiert, beginnt die Bachsche Fuge jedoch auf c’ und der Comes auf g’’, kehrt Schumann dieses um, indem er seinen Dux auf g und den Comes auf c’ einsetzen lässt, wodurch sich der formal unkorrekte Einsatz auf der Oberquarte erklären ließe.
268 Barbara Meier: Robert Schumann, S. 64. 265
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Notenbeispiel 15: Robert Schumann, Kreisleriana op. 16, Fantasie Nr. 7, Takt 41-52
Notenbeispiel 16: Wohltemperiertes Klavier I, Fuge Nr. 2, c-Moll, Takt 1-4
266
IV. ANALOGIEN AUF DER EBENE DER TIEFENSTRUKTUR
Diese im deskriptiven Sinne verstandene Intertextualität kann zunächst als eine Verortung in den historischen Kontext, als eine quasi Reterritorialisierung der Musik gedeutet werden, ihr folgt jedoch die sofortige Deterritorialisierung, indem die Fuge, von Anfang an nicht ernsthaft durchgeführt wird, sich zunehmend auflöst, am Ende gar ›zu kippen‹ droht und der Dynamik, dem Tempo, der Triebkraft ausgeliefert zu sein scheint. Der dezentrierte, ausreißende Charakter ergibt sich einerseits aus den formalen Verstößen und der aufbrausenden Intensitätssteigerung in Tempo und Dynamik, andererseits durch die Bestimmung des Grundtempos als ›Sehr rasch‹ zu spielend. ›Rasch‹ meint nicht einfach schnell und lebhaft, sondern vielmehr flüchtig, dahingeworfen oder gar verworfen. Das Flüchtige, Fliehende lässt sich noch als Wesensmerkmal der Fuge verstehen, ›rasch‹ bedeutet jedoch eine Steigerung dieser Eigenschaft, die das Fugenhafte über sich hinaustreibt, es formuliert eine Bewegung, die dem komplizierten, äußerst durchdachten Aufbau einer Fuge nicht mehr gerecht werden kann und ihre ursprüngliche, polyphone Transparenz und Klarheit verwischt. Roland Barthes als französischer Muttersprachler hört ›rasch‹ so, als ob er »einen vom Wind, von der Peitsche mitgerissenen, ausgerissenen und auf einen genauen, aber unbekannten Ort der Streuung zutreibenden Körperteil besäße.«269 Eine mitgerissene, ausgerissene, ›ortlose‹ Fuge stellt eine Umwertung dar und hat somit den ontologischen Intertextualitätsbezug lediglich im Sinne einer verfremdeten Transposition der Thesis von einem System in ein anderes. Der intertextuelle Bezug dient hier einem Maskenspiel, der Phänotext wird genutzt, um den geänderten Genotext einzufügen. Die flüchtige Form sowie das flüchtige Tempo konstituieren ein neues Subjekt, das Fugato bekommt den Charakter einer Erinnerung an eine Fuge während eines Traumzustandes, verzerrt, verwischt, überdimensional und verschoben. Dem manifesten Traumbild der Fuge entspricht ein latentes, unmittelbar mit den Triebenergien der chora verbundenes Subjekt: Unter dem Deckmantel der symbolischen Ordnung einer Fuge beginnt sich das Semiotische dem Phänotext einzuschreiben, das dynamische, gehetzte, ›ortlose‹ und dezentrierte Subjekt durchquert mit zunehmender Intensität das Symbolische und droht es zu zerstören. Schumann gestaltet hier eine Verfahrensweise, die den revolutionären Strategien der poetischen Sprache bei Kristeva strukturell sehr ähnlich sind und den gleichen Effekt erzielen, nämlich die chora-Lust zu stimulieren und zu berühren. 269 Roland Barthes: Rasch, S. 310. 267
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Rhythmik – als Zeichen von Körperlichkeit und Taktik des Semiotischen Als unbewegliches Element in diesem Wirbel macht Barthes den Schmerz als ein statisches Moment aus, er identifiziert ihn als den Schmerz des Wahnsinns. Die Gewalt des Wahnsinns schlägt sich auch in der Gewalt des Rhythmus nieder. Wie bereits dargestellt270, ist die rhythmische Struktur der Kreisleriana durch Verrückungen und Verschiebungen, durch Synkopen und große Regelfreiheit geprägt. Der Rhythmus spielt eine wesentliche Rolle für das Konzept eines Kreislerianums bei Schumann, denn er fügt sich keiner symbolischen Ordnung ein, sondern entzieht sich dem »Dienst einer dualen, oppositionellen Organisation der Welt.«271 Diese Charakterisierung beschreibt das Subjekt der Schumann’schen Klaviermusik als ein Subjekt des Verwerfens und Verausgabens, das Semiotische schreibt sich mit Hilfe der dynamischen Kraft der Negativität dem Phänotext ein. Die genannten Momente der karnevalesken Struktur, aber auch der choraLust und des Wahnsinns deuten bereits auf die zentrale Position der Nahtstelle zwischen Symbolischem und Semiotischem im Konzept eines Kreislerianums hin. Es ist ein Ausklinken aus vorherrschenden Verhältnissen, ein Ausagieren des heterogenen Anderen, des Triebhaften, des Wahnsinns und des Phantastischen, wodurch ein neue Möglichkeit des musikalischen Handelns, des Agens genutzt wird und die materielle Basis Eingang in den Phänotext findet. Die Körperpräsenz und Körpersprache der Kreisleriana wird durch Barthes Essay Rasch auf einzigartige Weise beschrieben. Sein Weg, den Genotext der Schumann’schen Kreisleriana freizulegen, sich den Triebenergien und der chora-Lust von Musik zu nähern, zielt darauf ab, die Körperlichkeit direkt zu benennen. Er betont die Körpersprache der Kreisleriana und will sie als vorsymbolische, semiotische »Figuren des Körpers«272 verstanden wissen. Der Rhythmus gilt ihm als Primat: »Die Betonung ist die Wahrheit der Musik«273, und er entdeckt gleichzeitig die »Geste einer Stimme«274, so dass er hier einen Aspekt der semiotischen chora beschreibt, welche nach Kristeva »keine andere Analogie als den Rhythmus von Stimme und Geste«275 duldet. Den »triebhaften Körper« nimmt Barthes durch ›Schläge‹ 270 271 272 273 274 275
Vgl. Teil III, 5. Roland Barthes: Die Rauheit der Stimme, S. 297. Roland Barthes: Rasch, S. 305. Ebd., S. 302. Ebd., S. 305. J ulia Kristeva: Die Revolution der poetischen Sprache, S. 37. 268
IV. ANALOGIEN AUF DER EBENE DER TIEFENSTRUKTUR
wahr, die ihm als »die einzigen strukturalen Elemente des musikalischen Textes« gelten: »Aus den Kreisleriana von Schumann höre ich eigentlich keine Note, kein Motiv, keine Zeichnung, keine Grammatik und keinen Sinn heraus, nichts, anhand dessen sich irgendeine intelligible Struktur des Werks rekonstruieren ließe. Nein, was ich höre, sind Schläge: ich höre das im Körper Schlagende, das den Körper Schlagende oder besser: diesen schlagenden Körper.«276
Er schildert eine vorindividuelle, sinnliche Erlebnisweise der Musik, ein Spiel »auf dem Register des sozialisierten Körpers«277 und verhindert somit die Setzung eines Ethos durch Adjektive. Unter Vermeidung einer rein adjektivischen Sprache beschreibt Barthes die Kreisleriana im Sinne einer genotextuellen Oberflächenzersetzung durch die semiotische chora als ein ›Transportmittel für Triebenergien‹: »[...] in der ersten Kreisleriana rollt es sich und dann webt es, in der zweiten streckt es sich; dann erwacht es: es sticht, es stößt, es glitzert dunkel, in der dritten dehnt es sich, dehnt sich aus: aufgeregt, in der vierten spricht es, spricht sich aus, jemand spricht sich aus, in der fünften duscht es ab, schert aus, erschaudert, steigt laufend, singend und polternd hinauf, in der sechsten sagt es, buchstabiert es, lässt sich das Aufsagen zum Singen hinreißen, in der siebten klopft es und pocht, in der achten tanzt es, beginnt aber auch zu grollen und Schläge auszuteilen.«278
Diese »es«, dem Barthes die körperlichen Erfahrungen hier zuweist, erinnert stark an das ›Es‹ von Sigmund Freud. Von Triebenergien gesteuert lebt dieses ›Es‹ aus einer Körperlichkeit heraus, die auf der Schnittstelle von Psyche und Soma kreist. Barthes verortet die Kreisleriana auf der Nahtstelle, die im Zentrum des Sinngebungsprozesses steht: die Konfrontation von chora-Lust und symbolischer Ordnung. 276 Roland Barthes: Rasch, S. 299. 277 Julia Kristeva: Die Revolution der poetische Sprache, S. 37. 278 Roland Barthes: Rasch, S. 145. 269
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Durch die Setzung des »es« gelingt nicht nur die weitgehende Ausklammerung des Adjektivs, sondern auch die Setzung eines Subjektbereichs, der es dem Zuhörer nicht länger gestattet, sich einen symbolischen Rahmen zu schaffen, sich selbst zu konstituieren und eigene Gewissheit zu erlangen. Die Schumann’schen Kreisleriana erhalten mit dieser Art der Musikbeschreibung eine tiefenpsychologische Dimension, welche eine erweiterte Erkenntnis über das Vorindividuelle, das Unbewusste, das rhythmische Schlagen vor jeder ›Evidenz und Wahrheit, Räumlichkeit und Zeitlichkeit‹ herausarbeitet. Diese Wahrnehmungsebene verhilft dazu, den Genotext der Kreisleriana bloßzulegen, den Bezug zum Semiotischen herzustellen und die Triebenergien sowie die chora-Lust im Symbolischen zu (re-)aktivieren. Einführung von Körperlichkeit durch muttersprachliche Elemente Einen weiteren Anhaltspunkt für die Körperlichkeit der Kreisleriana geben die Tempoanweisungen. Schumann bedient sich nicht der üblichen italienischen Codierung, sondern schreibt die Tempoangaben in seiner Muttersprache über die Sätze. Barthes deutet dieses Auftauchen der Muttersprache in den musikalischen Text als »die erklärte Wiederherstellung des Körpers«279 im Gegensatz zur Distanz und Verflachung der italienischen Termini, die einer rein spieltechnischen, metronomischen Angabe entsprechen. Die Begriffe wie ›bewegt‹, ›aufgeregt‹, ›innig‹ oder ›rasch‹ weisen der Musik einen körperlichen Aktionsraum zu, sie öffnen den musikalischen Text für die semiotische chora und akkumulieren seine Signifikanz. Barthes deutet die muttersprachlichen Wörter als Einbruchstellen des Semiotischen in das Kreislerianum. Zusammenschau der genotextuellen Strukturmomente Diese zweite Semiologie, eine Semiologie des Körpers im Zustand der Musik, ist in der Lage, den Genotext, den heterogenen Prozess der Sinngebung in der Musik zu bestimmen. Für das Konzept eines Kreislerianums bei Schumann ergibt diese Semiologie eine karnevaleske Struktur, eine Struktur, die derjenigen des Semiotischen gleicht, sie arbeitet mit den Verfahren des Verschiebens, Verrückens und Verdichtens. Die Kraft der Mimesis äußert sich dabei in den systemtreuen, die symbolische Ordnung wahrenden Strategien der rhythmischen 279 Roland Barthes: Rasch, S. 309. 270
IV. ANALOGIEN AUF DER EBENE DER TIEFENSTRUKTUR
Verrückung aber auch der harmonischen Überraschungseffekte durch Verdichtungen, enharmonische Verwechselungen und Verschiebungen der harmonischen Tonräume. Durch die Verschiebungen und Kopplungen unterschiedlicher harmonischer Diskurse ergeben sich tonale Interdiskursbasteleien, die als Taktik des Semiotischen sich dem Symbolischen einzuschreiben dienen. Verzerrungen durch überdimensionale Dynamik- und Tempowechsel, sowie Ausbrüche aus jeder rhythmischen Sicherheit sind in der Lage, die Ordnung zu zerstören und zum ›Kippen‹ zu bringen. Diese Auflösung festgelegter Strukturen und Einheiten und der Angriff der Sinnstrukturen zeigt die dynamische Kraft der Negativität, wie sie Kristeva als eine semiotische Taktik definiert, hier wird nicht länger die Thesis unterlaufen sondern angegriffen und vehement in Frage gestellt. Die karnevaleske Struktur äußert sich im musikalischen Material wie gerade beschrieben und weist den Schumann’schen Kreisleriana damit ein dezentriertes Subjekt zu, das sich durch seine permanenten Attacken auf die symbolische Ordnung im steten Kreisen um die Nahtstelle zwischen Subjektgenese und Sinnbildung befindet und auf der Suche nach seiner Identität dieses Kreisen kultiviert. Nicht die Einheit und die Geschlossenheit des Symbolischen wahrend und somit einen Teil seiner selbst verleugnend, sondern sich dem Körper und seinen ambivalenten Triebstrukturen stellend, riskiert es die (Re-)Aktivierung der chora-Lust.
Das Konzept eines Kreislerianums – e i n g e n o t e x t u e l l e s P h än o m e n i n L i t e r a tu r und Musik Kristevas Konzept des Semiotischen ermöglicht eine Annäherung an das ästhetische Empfinden von Affekten, Intensitäten und Lust-/Unlustgefühlen beim Kunstgenuss. Künstlerisches Schaffen bedeutet für sie ein Experimentieren mit Körperlichkeit und Zeichenhaftigkeit; Triebenergien und Affekte werden in eine neue, eigenständige Form gebracht, die sich eines anderen Mediums bedient als dem der reinen Emotion. Aufgrund der Setzung eines amorphen, noch nicht konsolidierten Raums, der semiotischen chora, ergibt sich nicht nur eine Vergleichsebene für die Künste, sondern auch ein Weg der wechselseitigen Erhellung unterschiedlicher Kunstformen: Die Einschreibung der ambivalenten Triebenergien und das Wiederauftauchen der choraLust in der symbolischen Ordnung sind die Kennzeichen des The271
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tischen. Es gilt diese thetische Setzung des Subjekts in dem jeweiligen Zeichensystem zu identifizieren und mit einem anderen Zeichensystem zu konfrontieren. Eine vorhandene Analogie der Thesis bzw. die Möglichkeit, diese Thesis zu transportieren, bestimmt den intertextuellen Bezug und die genotextuelle Vergleichbarkeit zwischen zwei Zeichensystemen. Im vorliegenden Vergleich sind ein literarisches und ein musikalisches Konzept auf ihren Phänotext sowie ihren Genotext hin untersucht worden und das Ergebnis zeigt eine große Bandbreite an strukturellen Kongruenzen. Die Analogien auf der phänotextuellen Ebene wurden bereits dargestellt280, durch den genotextuellen Vergleich lässt sich ein äußerst aktives, bewegtes und dezentriertes Subjekt der Aussage bestimmen, das mit ständigen Durchquerungen der symbolischen Ordnung den Prozess der Sinngebung und die Setzung der Thesis thematisiert, es führt das Semiotische in das Symbolische ein, so dass Sinn und Subjekt keine festen Einheiten mehr darstellen, sondern variabel und fragil werden, die Labilität der Thesis wird unmittelbar erfahrbar. Beide Subjekte sind vom Lusterleben skandiert, ›lachend‹, wahnsinnig sowie karnevalesk und umkreisen in ständiger Bewegung die Nahtstelle zwischen Subjektgenese und Sinngebung. Das literarische Konzept eines Kreislerianums imaginiert die semiotische chora insbesondere durch die Musik, aber auch durch das Weibliche, den Wahnsinn und den Tod, das musikalische Kreislerianum führt die chora-Lust durch rhythmische und harmonische Verdichtungen und Verschiebungen, die sich als körperliche Schläge äußern, der musikalischen Ordnung ein. Das Moment der Lust ist beiden Konzepten wesentlich, da sich beide Zeichensysteme, hierin intertextuell identisch, auf die chora-Lust des Kreise(l)ns um die Nahtstelle beziehen, beiden ist die Lust am Anderen, Nichtdiskursiven, der Reiz an der Berührung des Bereichs jenseits der Vernunft gemeinsam. Das Rätsel der Lust am Text und an der Musik Das Lustmoment, das sowohl Wesensmerkmal der »Rauheit« als auch der semiotischen chora ist, konnte in seiner Entstehung nachvollzogen werden. Indem die strukturellen Strategien untersucht wurden, konnten die Verfahrensweisen bestimmt werden, welche für die Evokation sinnlicher Intensitäten verantwortlich sind. Die Lust im Text und in der Musik entsteht nur durch die Interaktion mit dem Rezipienten und 280 Vgl. die Zusammenfassung von Teil III dieser Arbeit. 272
IV. ANALOGIEN AUF DER EBENE DER TIEFENSTRUKTUR
ist deshalb auch gleichzeitig die Lust am Text und an der Musik. Offen bleibt, welcher Art diese Lust ist. Ursula Link-Heer stellt sich diese Frage in ihrer Arbeit Das Rätsel der Lust am Text281. Sie widmet sich dem Phänomen der Lust bei Roland Barthes und Julia Kristeva als einem Unterscheidungskriterium zwischen Strukturalismus und Poststrukturalismus. Aus Barthes Schrift Die Lust am Text sowie aus Kristevas Setzung der chora ermittelt sie ein zunächst sexuell konnotiertes Lusterleben. Auch die Beschreibungen der »Rauheit« berufen sich auf sexuelle Energien, wenn Barthes von einer »Beziehung der Liebe« spricht, von der Stimme, die »über die französische Sprache gleitet wie ein Begehren«, einer von der »Kraft des Begehrens beseelte Stimme« oder eine »Stimme im Zustand der Erektion«.282 Die Lust, welche von der dritten Fantasie der Schumann’schen Kreisleriana ausgehend evoziert wird, präsentiert sich Barthes als »›aufgerichtet‹ (aufgeregt), erhoben, gespannt, erigiert«283. Das Musikerleben im Hoffmann’schen Text ist ebenfalls häufig mit Lustgefühlen verbunden, die einen Ekstase ähnlichen Zustand hervorrufen: »Richte dein Haupt auf, du Gebeugter! Ziehe mit uns, ziehe mit uns in das ferne Land, wo der Schmerz keine blutende Wunde mehr schlägt, sondern die Brust, wie im höchsten Entzücken, mit unnennbarer Sehnsucht erfüllt!« (18) Ekstase und Lust löst auch die Musik Beethovens aus: »[...] wir werden Riesenschatten gewahr, die auf- und abwogen, enger und enger uns einschließen und uns vernichten, aber nicht den Schmerz der unendlichen Sehnsucht, in welcher jede Lust, die schnell in jauchzenden Tönen emporgestiegen, hinsinkt und untergeht, und nur in diesem Schmerz, der Liebe, Hoffnung, Freude in sich verzehrend, aber nicht zerstörend, unsere Brust mit einem vollstimmigen Zusammenklang aller Leidenschaften zersprengen will, leben wir fort und sind entzückte Geisterseher!« (29)
Die mystische Ekstase wird jedoch von der Psychoanalyse, so LinkHeer, »als hysterische Konversion des Orgasmus« erklärt.284 Weniger mystisch ist die Lustempfindung während des Duetts zwischen Julia 281 Ursula Link-Heer: »Das Rätsel der Lust am Text«, in: Ludwig Pfeiffer (Hg.), Theorie als kulturelles Ereignis, Berlin, New York 2001, S. 155 ff. 282 Roland Barthes: »Die Musik, die Stimme, die Sprache«, in: Ders., Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn, S. 280 f., 284. 283 Roland Barthes: Die Musik, die Stimme, die Sprache, S. 303. 284 Ursula Link-Heer: Das Rätsel der Lust am Text, S. 159. 273
NAHTSTELLEN
und Kreisler, hier ist die Bildhaftigkeit eindeutig und beschreibt den Höhepunkt sexueller Lust auf eindeutige, arabeske Weise: »Bald erhoben sich aber beide Stimmen auf den Wellen des Gesanges wie schimmernde Schwäne, und wollten bald mit rauschendem Flügelschlag emporsteigen zu dem goldnen strahlenden Gewölk, bald in süßer Liebesumarmung sterbend untergehen in dem brausenden Strom der Akkorde, bis tief aufatmende Seufzer den nahen Tod verkündeten, und das letzte Addio in dem Schrei des wilden Schmerzes, wie in blutiger Springquell herausstürzte aus der zerrissenen Brust.«285
Da die Musik als Imagination der semiotischen chora innerhalb des Hoffmann’schen Kreislerianums dient, scheint auch hier die besondere Intensität des Erlebten sowie die des Textes nur mit Hilfe einer sexuellen Bildlichkeit beschrieben werden zu können. Dabei bleibt es bei einem absoluten Gebrauch dieser Metaphorik, einen adäquater Bildempfängerbereich scheint es nicht zu geben.286 Schlussfolgerung wäre eine Form der Sublimierung sexueller Triebenergien beim Kunstgenuss. Ursula Link-Heer gelingt es jedoch, eine weitere Isotopie bei Barthes und Kristeva aufzuspüren, die der Lust am Text als ›tanzender Kommunion‹, als einer »paradoxen Vorstellung von einem ›utopischen‹, doch notwendig einsamen ›Fest‹ des Lesers«287. Die Frage danach, woher die Lust beim Hören und Lesen stammt, bleibt ungeklärt, doch das Modell des utopischen Kinder-Tanz-KommunionFestes scheint eine Annäherung an das ›Woher‹ zu sein. Nach den Studien Daniel Sterns ist der Tanz neben der Musik diejenige Ausdrucksform, die am ehesten in der Lage ist, eine Vielfalt an Vitalitätsaffekten vorzuführen. Ohne konkrete Handlung oder den Bezug zu kategorialen Affekten werden ›Arten des Fühlens‹ zum Ausdruck gebracht. Das Kind, dem amodale Wahrnehmung noch nicht fremd ist, hat noch einen engen, körpernahen Kontakt zur ›Morphologie der Gefühle‹. Der kindliche Tanz steht dadurch ganz im Zeichen des körperlichen Ausdrucks von Stimmungen. Im Zusammenhang mit dem Kommunionsfest, das durch seinen religiösen Hintergrund in Verbindung zum Transzendentalen, zum Imaginären steht, wird der Weg der Träume und der Phantasien betreten und die Arbeit der Primärprozesse angeregt. So lässt sich »das High-Sein der Konvivialität des Kin285 Kater Murr-Roman, S. 143. 286 Vgl. Ursula Link-Heer: Das Rätsel der Lust am Text, S. 160. 287 Ebd., S. 164. 274
IV. ANALOGIEN AUF DER EBENE DER TIEFENSTRUKTUR
derfestes«288 auf ein Zusammentreffen aller wesentlich am Entstehungsprozess von Lust beteiligter Komponenten zurückführen: die Fähigkeit der amodalen Wahrnehmung, der Synästhesie-Empfindung, die Verwendung der ›Morphologie der Gefühle‹ in einem anderen Material als dem Gefühle selbst sowie die Verfahrensweisen des Traums. Das Kinder-Tanz-Kommunion-Fest ist eine Metapher für die unmittelbare Intensität der chora-Lust. Weniger die sexuelle Konnotation, die eine spezielle, sublimierte Lusterfahrung meint, als vielmehr die Lust der kindlichen Konvivialität im Tanz gibt eine Vorstellung des ›Woher‹ der Lust am Text und an der Musik, es scheint eine adäquate, stimmige Isotopie für das Lustgefühl der chora zu sein, das beim Lesen bestimmter Texte oder beim Hören bestimmter Musik bei bestimmten Rezipienten (re-)aktiviert wird. In der historischen Entwicklung stand lange Zeit das ›Was‹ im Vordergrund der kunstästhetischen Debatte, es wurde die Frage diskutiert, ob göttlicher oder weltlicher Inhalt den sowohl literarischen als auch musikalischen künstlerischen Ausdrucks bestimmen sollten. Dieses ›Was‹ wurde von der Dominanz des ›Wie‹, der Frage nach der Form, seit Shakespeare, Lessing und Schiller abgelöst. Heute gilt es nach dem ›Woher‹, der Nähe zur körperlichen, stimmlich-gestischrhythmischen chora in der Kunst zu schauen. Mit den Autoren der Romantik beginnt die Suche nach dem Seltenen, die Integration des Extremen, des heterogenen Anderen und die Erschließung neuer literarischer Verfahrensweisen (Umwertungen, Diskurskombinatorik, Mimesis und Negativität als dynamisch Kräfte, u.a.), die mit neuen Effekten, beispielsweise mit der Berührung des Unbewussten, verbunden sind. Die Kategorie des ›Woher‹ wird insbesondere in den Texten von James Joyce, Mallarmé, Virginia Woolfe und auch Elfriede Jelinek relevant. Auch in der Musik lässt sich eine solche Tendenz feststellen. Bis zum Barock wird Musik als Sprache betrachtet und mit Termini aus der Rhetorik beschrieben, es gilt bestimmte Inhalte einer Textvorlage auszugestalten, die gleichzeitig das ›Was‹ der Darstellung vorgeben. Diese mimetische Funktion behält die Musik auch dann noch bei, wenn sich die verschiedenen Formtypen, das ›Wie‹ entwickeln (Motette, Oratorium, Präludium, Fuge, Sonate, u.a.). Das Ideal der ›Bestimmtheit‹ wird mit der Romantik aufgehoben, die Vorstellung von Musik als einem losgelösten, ›unbestimmten‹ Zeichensystem versucht der Text- und Programmgebundenheit zu entkommen und festgelegte Formen 288 Ursula Link-Heer: Das Rätsel der Lust am Text, S. 165 275
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aufzuweichen. Spätestens seit Schubert und Schumann werden Bereiche jenseits der Vernunft für den musikalischen Diskurs erschlossen und als Ausdruck des subjektiven Erlebens eines Gedankens oder eines Programms in die Musik integriert und etabliert. Insbesondere im Jazz, beispielsweise bei Steve Colman oder in der Musik John Zorns, spielt die Kategorie des ›Woher‹ heute eine zentrale Rolle. Diese ›poststrukturalistische‹ Kategorie der semiotischen chora ermöglicht bei allen Schwierigkeiten eine Annäherung an eine Ebene der Affekte, Triebenergien und Lust/Unlustempfindungen bei der Rezeption einer künstlerischen Darstellung, die bis dahin in dieser Präzision noch nicht erreicht wurde.289 Die strukturelle Analogie zwischen Literatur und Musik ist der Prozess der Sinngebung, das Zusammenspiel der beiden Modalitäten des Semiotischen und des Symbolischen. Wie gezeigt wurde, gilt die chora nicht nur als materielle Basis für das Sprachliche, sondern auch für die Musik. Die Aktivierung bzw. Reaktivierung der chora-Lust stellt nicht nur für die Literatur sondern auch für die Musik die Kategorie des ›Woher‹ dar, so dass der amorphe, körpernahe und noch nicht konsolidierte Raum der chora die bisher ›letzte‹ und prägnanteste Dimension einer strukturellen Analogien zwischen Literatur und Musik bedeutet.
289 Vgl. Ursula Link-Heer: Julia Kristeva. 276
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April 2006, ca. 220 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN: 3-89942-420-4
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Jens Schröter, Gregor Schwering, Urs Stäheli (Hg.) Media Marx Ein Handbuch Juni 2006, ca. 500 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN: 3-89942-481-6
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Volker Pantenburg Film als Theorie Bildforschung bei Harun Farocki und Jean-Luc Godard März 2006, 324 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 3-89942-440-9
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