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German Pages 320 Year 2015
Dunja Brötz Dostojewskis »Der Idiot« im Spielfilm
2008-09-02 10-52-01 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 027f188247685464|(S.
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Meinen Eltern Josef und Martha, in Liebe und Dankbarkeit Meinem Vater zu seinem 80. Geburtstag
Dunja Brötz (Mag. Dr. phil.) lehrt und forscht an der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen auf dem Gebiet der Intermedialität, der Forschung zu Literatur und Film, der slawistischen Literaturwissenschaft in Theorie (russischer Formalismus, Bachtin) und Praxis (Puskin-, Dostoevskij- und Cechov-Forschung), der Schauspiel- und Theatertheorie (Stanislavskij, Mejerchol’d, Artaud, Brecht), sowie der Erforschung von nonverbaler Kommunikation in Literatur und Film. ^
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Dunja Brötz Dostojewskis »Der Idiot« im Spielfilm. Analogien bei Akira Kurosawa, Saˇs a Gedeon und Wim Wenders
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Diese Publikation entstand mit finanzieller Unterstützung des Vizerektorats für Forschung der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck, der Aktion D. Swarovski & Co 2008 und der Stiftung Fürstl. Kommerzienrat Guido Feger, Vaduz.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2008 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Dunja Brötz Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-89942-997-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
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INHALT Vorwort 9
1. Einleitung 13
2. Ein Roman und drei Filme - Handlungsaufbau 19
2.1 Fëdor Dostoevskijs Roman Der Idiot (1868/69) 27
2.2 Akira Kurosawas Film Hakuchi (1951) 32
2.3 Saša Gedeons Film Návrat idiota (1999) 37
2.4 Wim Wenders’ Film The Million Dollar Hotel (2000) 49
3. Das komparatistische Forschungsgebiet der Intermedialität – Literatur und Film 59
3.1 Intermedialität – Begriff und Entwicklung 59
3.1.1 Intertextualität und Intermedialität 60
3.1.2 Definition des Forschungsgebiets 64
3.1.3 Typologie und literaturzentrierte Intermedialität (Werner Wolf) 67
3.2 Literatur und Film – Forschungsübersicht 74
3.2.1 Frühe Hinweise auf Wechselwirkungen 74
3.2.2 Die Position der russischen Formalisten 76
3.2.3 Die Diskussion über Film als Kunstform im deutschsprachigen Raum 78
3.2.4 Neue Impulse nach 1945 aus der Germanistik und der Filmkritik 80
3.2.5 Die Diskussion über die Sprache des Films in Frankreich und Italien 83
3.2.6 Die deutschsprachige Filmphilologie 87
3.2.7 »Literatur und Film« als Teilgebiet der Intermedialitätsforschung 89
3.3 Literaturverfilmungen - Forschungsübersicht 96
3.3.1 Das »Werktreue-Axiom« 96
3.3.2 Gegenströmungen innerhalb der anglo-amerikanischen Filmwissenschaft 100
3.3.3 Adaptationstypologien 108
4. Ein intermedialer Vergleich 113
4.1 Die narrativen Ebenen (Roland Barthes) 114
4.1.1 Funktionen 115
4.1.2 Handlungen 120
4.1.3 Narration 122
5. Trianguläres Begehren (René Girard) 125
5.1 Exkurs: Das strukturalistische Dreiecksmodell in Der Idiot (Rudolf Neuhäuser) 131
5.2 Trianguläres Begehren in Der Idiot 134
5.3 Trianguläres Begehren in Hakuchi 143
5.4 Trianguläres Begehren in Návrat idiota 149
5.5 Trianguläres Begehren in The Million Dollar Hotel 158
5.6 Fazit: Die Visualisierung des triangulären Begehrens im Film 172
6. Karnevalistische Skandalszenen (Michail Bachtin) 175
6.1 »Polyphonie« und »Dialogizität« 175
6.2 Dostoevskijs Werk und die Gattungstradition des karnevalistischen Romans 179
6.3 Karnevalistische Skandalszenen in Der Idiot 185
6.4 Karnevalistische Skandalszenen in Hakuchi 190
6.4.1 Exkurs: Die japanischen Karnevalsphänomene »Yuki Matsuri« und »Ējanaika« 203
6.5 Karnevalistische Skandalszenen in Návrat idiota 206
6.6 Karnevalistische Skandalszenen in The Million Dollar Hotel 217
6.7 Fazit: Die Darstellung karnevalistischer Skandalszenen im Film 230
7. Filmische Erzähltechnik, Erzählperspektive und Phänomenologie der Verkennung (Horst-Jürgen Gerigk) 233
7.1 Das filmische Erzählen 233
7.2 Der unzuverlässige, filmische Erzähler 235
7.2.1 Exkurs: Die Begriffe »innerfiktional« und »außerfiktional« 237
7.3 Dostoevskijs Der Idiot als Phänomenologie der Verkennung 239
7.4 Verkennung und filmisches Erzählen in Hakuchi 250
7.4.1 Verkennung 251
7.4.2 Filmisches Erzählen und filmischer Erzähler 262
7.5 Verkennung und filmisches Erzählen in Návrat idiota 266
7.5.1 Verkennung 266
7.5.2 Filmisches Erzählen 274
7.6 Verkennung und filmisches Erzählen in The Million Dollar Hotel 277
7.6.1 Verkennung 278
7.6.2 Filmisches Erzählen und filmischer Erzähler 284
8. Schlusswort 293
9. Bibliographien, Filmlisten und Abbildungsverzeichnis 299
9.1 Primärwerke von Dostoevskij 299
9.2 Sekundärliteratur zu Dostoevskij 299
9.3 Sekundärliteratur von und zu Akira Kurosawa 304
9.4 Sekundärliteratur von und zu Saša Gedeon 305
9.5 Sekundärliteratur von und zu Wim Wenders 305
9.6 Sekundärliteratur zu Intermedialität 306
9.7 Sekundärliteratur zu Literatur und Film 307
9.8 Sekundärliteratur zu Literaturverfilmungen 310
9.9 Filmliste 311
9.10 Chronologische Liste der Verfilmungen von Dostoevskijs Der Idiot 313
9.11 Abbildungsverzeichnis 313
VORWORT Diese Publikation stellt eine leicht überarbeitete und gestraffte Fassung meiner Dissertation dar, die im April 2007 an der Philologisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck eingereicht wurde. Die geringfügigen Änderungen betreffen v.a. die formale Gestaltung der Arbeit und erfolgten aufgrund technischer und editorischer Vorgaben. Bei der Umschrift russischer Eigennamen, Wendungen und Zitate ins Deutsche folge ich innerhalb des Textes dem in der Slawistik gängigen wissenschaftlichen Transliterationssystem, bei dem für bestimmte Buchstaben des kyrillischen Alphabets diakritische Zeichen wie das Haček verwendet werden. Für den Titel der Publikation habe ich mich jedoch aufgrund des größeren Bekanntheitsgrades der transkribierten Schreibweise dazu entschlossen, der allgemein geläufigeren Dudentranskription zu folgen. Aus diesem Grund wird der Name des berühmten russischen Schriftstellers, um den sich diese Arbeit dreht, im Titel mit »Dostojewski« angeführt, während er im Text als »Dostoevskij« wiedergegeben wird. Über die korrekte Aussprache der wichtigsten Transliterationszeichen soll die folgende Tabelle einen kleinen Überblick geben: Tabelle 1: Die wichtigsten russischen Transliterationszeichen Cc
Wird wie »z« in »Ziege« ausgesprochen. In der Verbindung »ck« sind beide Laute getrennt als »z-k« zu sprechen.
Čč
Wird wie »tsch« in »Entschuldigung« ausgesprochen.
Šš
Ist als stimmloses, scharfes »sch« wie in »Schimmel« oder »Asche« auszusprechen.
Šč šč
Ist als stimmloses, gedehntes »sch« zu sprechen. Wie etwa im deutschen Zischlaut »Pscht!«.
Zz
Ist als stimmhaftes »s« wie in »Rose« auszusprechen.
Žž
Ist als stimmhaftes, weiches »sch« wie im französischen »jour« oder »journal« auszusprechen.
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DOSTOJEWSKIS »DER IDIOT« IM SPIELFILM
Ëë
Wird als »jo« mit offenem »o« ausgesprochen.
Ėė
Wird im Gegensatz zum »e« (ohne Punkt), das nach Vokalen, am Wortanfang und nach ь sowie ъ mit J-Vorschlag ausgesprochen wird, immer wie »e« gesprochen.
Quelle: Vgl. Duden. Rechtschreibung der deutschen Sprache. 21., völlig neu bearbeitete und erweiterte Auflage. Herausgegeben von der Dudenredaktion, Mannheim: Brockhaus 1996, S. 86. Zu den verbalen Zitaten aus den drei in dieser Arbeit analysierten Spielfilmen muss noch erläutert werden, dass ich mich im Falle von Wim Wenders’ The Million Dollar Hotel an der Tonspur der englischen Originalfassung orientiert habe, wie sie auf der offiziellen Kauf-DVD von »Concorde Home Entertainment« zu hören ist. Die Zitate aus Akira Kurosawas Hakuchi basieren auf den englischen Untertiteln der offiziellen Kauf-DVD von »Panorama Entertainment« und jene aus Saša Gedeons Film auf den deutschen Untertiteln der am 23. Oktober 2002 auf dem Fernsehsender »ARTE« ausgestrahlten Version. Nach diesen formal-organisatorischen Erläuterungen ist es jedoch an der Zeit, mich bei jenen Personen zu bedanken ohne deren Hilfe und Unterstützung die Realisierung diese Arbeit schlicht undenkbar gewesen wäre. In allererster Linie gilt mein Dank deshalb meiner langjährigen Freundin und Kollegin, Frau Dr. Barbara Aufschnaiter, deren wertvolle Anregungen, Ratschläge und engagierte, kritische Lektüre, sowie deren schier unerschöpfliches Wissen über Dostoevskij wesentlich zur Qualität dieser Publikation beigetragen haben. Auch ist es Barbara Aufschnaiters Ansporn und Optimismus zu verdanken, dass diese Arbeit in einem zeitlich vertretbaren Rahmen abgeschlossen werden konnte. Eine zweite große Stütze während des Entstehungsprozesses meiner Dissertation war mir Prof. Dr. Klaus Zerinschek, der mich immer wieder auf wesentliche Neuerscheinungen auf dem Gebiet der Intermedialitätsforschung hinwies, mir wertvolle Ratschläge zum intermedialen Forschungsbereich Literatur und Film erteilte und mich in Zeiten des Zweifels auch seelisch aufbaute. Ihm danke ich an dieser Stelle von ganzem Herzen für seinen Beistand und seine Hilfe. Ein ganz besonderes Dankeschön geht an Frau Dr. Marta PelinkaMarková, die mir bei der Klärung einiger wichtiger Fragen zu Saša Gedeons Film behilflich war und an Herrn Dr. Milan Klepikov, der sogar persönlich Kontakt mit dem Regisseur aufnahm, um ihm meine Fragen zu unterbreiten. Auch bedanke ich mich herzlich bei meiner Freundin
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VORWORT
Frau Dr. Viktoria Macek für ihre Hilfe bei der Übersetzung eines Interviews mit Saša Gedeon. Meiner Betreuerin, Frau Prof. Maria Deppermann, danke ich für die gewissenhafte, termingerechte Korrektur der Arbeit, ihre wertvollen Anregungen und ihr Wohlwollen während all der Jahre, in denen wir gemeinsam am Projekt »Experiment der Freiheit« gearbeitet haben. Last but not least gilt mein Dank allen weiteren MitarbeiterInnen der Abteilung für Vergleichende Literaturwissenschaft des Instituts für Sprachen und Literaturen der Universität Innsbruck: Frau Dr. Beate BurtscherBechter, Frau Dr. Beate Eder-Jordan, Herrn Prof. Dr. Martin Sexl sowie Frau Evelyne Kiss und Frau Herta Sprenger. Ihnen allen danke ich für ihre Unterstützung, Kollegialität und Hilfsbereitschaft während der letzten Jahre.
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1. E I N L E I T U N G »Wenn ich Schuld und Sühne drehen würde, käme jedenfalls kein guter Film dabei heraus.« (Alfred Hitchcock)1
Als François Truffaut Mitte der 1950er Jahre Alfred Hitchcock interviewte, stellte er ihm die Frage, warum er noch nie ein literarisches Meisterwerk wie Dostoevskijs Schuld und Sühne (Prestuplenie i nakazanie 1866) verfilmt habe. Hitchcock antwortete, dass er so etwas nie tun werde, »weil Schuld und Sühne schon das Werk eines anderen«2 sei. Und detaillierter erklärt er kurz darauf: »Nehmen Sie einen Roman von Dostojewski, nicht nur Schuld und Sühne, egal welchen; sie bestehen aus vielen Wörtern, die alle eine Funktion haben. […] Und um dasselbe nun filmisch auszudrücken, müsste man, wenn man die Wörter durch Kamerasprache ersetzt, einen Film von sechs oder zehn Stunden drehen. Sonst wäre das nicht ernstzunehmen.«3
Für Hitchcock und auch für Truffaut, der ihm mit den Worten »ein Meisterwerk ist etwas, das seine vollkommene, seine definitive Form gefunden hat«4 voll und ganz beipflichtet, kommt die Verfilmung großer klassischer Literatur beinah einem Sakrileg gleich, denn Hitchcock wirft im Rahmen dieses Gesprächs seinen Hollywood-Kollegen sogar vor, mit ihren Verfilmungen literarische Meisterwerke zu verunstalten. Unterhaltungsliteratur gegenüber hatten die beiden Meisterregisseure allerdings keine derartigen Skrupel, dies belegen eindrucksvoll Truffauts Verfilmungen von Henri-Pierre Rochés Roman Jules et Jim (erschienen 1952 verfilmt 1962) und Ray Bradburys Science-Fiction-Roman Fahrenheit 451 (1953 / 1966), sowie Hitchcocks berühmte Adaptationen von Daphne du Mauriers Rebecca (1938 / 1940) und The Birds (1952 / 1963).
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François Truffaut: Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht? München: Heyne 2005, S. 60. Ebd. Ebd., S. 61. Ebd. 13
DOSTOJEWSKIS »DER IDIOT« IM SPIELFILM
Die beiden Regisseure vertraten somit eine recht traditionelle Auffassung von Kunst und Literatur, die es zwar erlaubt, populäre, künstlerisch »tiefer stehende« Werke zu »veredeln«, gleichzeitig aber große Kunstwerke als unantastbar betrachtet. Aus heutiger Sicht erstaunt Hitchcocks und Truffauts Einstellung auch deshalb, weil man sich unweigerlich die Frage stellt, wie viele große Opern, Ballette, Bilder, Filme etc. nie entstanden wären, wenn die Neu- oder Bearbeitung der Meisterwerke anderer, Künstler generell derart abgeschreckt hätte. In diesem Fall hätte sich etwa Giuseppe Verdi niemals erlauben dürfen Schillers Don Carlos oder Shakespeares Othello und Macbeth als Grundlagen für seine Opern zu verwenden, Pëtr Il’ič Čajkovskij hätte sich durch die Opern Evgenij Onegin und Pique Dame »schuldig« gemacht, da sie auf Puškins literarischen Meisterwerken basieren, und selbst Truffauts guter Freund Claude Chabrol hätte durch seine Verfilmung von Flauberts Madame Bovary ein »Verbrechen« wider die Kunst begangen. Dass Hitchcock und Truffaut auch ihre eigenen Adaptationen5 eher als Mittel zur Vervollkommnung schlechter Literatur betrachteten, denn als Transformation bestimmter Formen und Inhalte in eine andere Kunstform bzw. ein anderes Medium, belegt auch eine Aussage Hitchcocks über die Romanvorlage zu seinem Film The Birds: »Wenn mir die Grundidee zusagt, übernehme ich sie, ich vergesse das Buch vollkommen und mache Kino. Ich wäre völlig außerstande, Ihnen die Geschichte von The Birds von Daphne du Maurier zu erzählen. Ich habe sie nur einmal, ganz schnell, gelesen.«6 Über die Werke Dostoevskijs sprechen Hitchcock und Truffaut mit ganz anderer Hochachtung, und daraus lässt sich zwangsläufig schließen, dass sich die beiden Regisseure, die immerhin zu den innovativsten der Filmgeschichte zählen, in Fragen der Literatur noch einem traditionellen Kanon verpflichtet fühlten. Zwei der in dieser Studie untersuchten Filme – Akira Kurosawas Hakuchi (1951) und Saša Gedeons Návrat idiota (1999) – zählen nun gerade zu jenen von Hitchcock und Truffaut so skeptisch betrachteten Adaptationen literarischer Meisterwerke. Und noch dazu haben sich Kurosawa und Gedeon ausgerechnet an jenen Schriftsteller gewagt, den Hitchcock und Truffaut für so gut wie unverfilmbar hielten: an Fëdor Michajlovič Dostoevskij. Eine der in dieser Arbeit vertretenen Thesen, die am Beispiel von Hakuchi und Návrat idiota nachgewiesen werden soll, lautet deshalb, dass Verfilmungen großer Meisterwerke nicht notwendigerweise zum Scheitern verurteilt sein müssen, sondern dass durch die Übertra5 6
Die Begriffe Literaturverfilmung, Adaptation und Adaption werden in dieser Studie als Synonyme verwendet. F. Truffaut: Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht, S. 60. (Kursive Hervorhebungen im Original) 14
EINLEITUNG
gung wichtiger, narrativer Bausteine von einem Medium ins andere ein neues, selbständiges und beeindruckendes Kunstwerk entstehen kann. Dieses – im speziellen Fall – filmische Kunstwerk ist aber in einen anderen historischen und kulturellen Kontext eingebettet und erfüllt deshalb auch ganz andere Funktionen als seine literarische Vorlage, die in Anlehnung an Gérard Genette als Hypotext7 bezeichnet werden soll. Zur Erklärung dieses Begriffs sei hier ein kurzer, auf den theoretischen Teil dieser Untersuchung vorgreifender Absatz eingefügt: Genette unterscheidet in seiner berühmten Studie zur Textanalyse Palimpsestes. La littérature au second degré zwischen Hypotexten, die sich auf irgendeine Weise in einem anderen literarischen Text widerspiegeln, und Hypertexten, die auf einen anderen literarischen Text auf irgendeine Weise rekurrieren. Diese beiden Begriffe lassen sich nun nicht nur für rein literarische Bezüge verwenden, sondern – wie Genette es auch selbst praktiziert hat8 – auf andere Kunstformen ausdehnen, wenn man deren Hervorbringungen ebenfalls als eine Art zu entziffernden Text auffasst. Geht man allerdings, wie in dieser Studie beabsichtigt, von einem engen, auf literarische Werke begrenzten Textbegriff aus, muss im Falle eines intermedialen Vergleiches zwischen literarischer Textvorlage und Filmadaptation von »Hypotext« und »Hyperfilm« gesprochen werden. Bei dem in dieser Studie untersuchten, den Hyperfilmen zugrunde liegenden Hypotext handelt es sich um den zweiten von Dostoevskijs fünf großen Romanen: Der Idiot (1868/69). Dostoevskij verfasste ihn während seiner zweiten ausgedehnten Europareise in Genf, Vevey, Mailand und Florenz und lässt zu Beginn des Romans den an Epilepsie leidenden Fürsten Lev Nikolaevič Myškin aus der Schweiz in seine Heimat Russland zurückkehren. Mit ähnlichen Heimreisen beginnen auch die beiden Literaturverfilmungen, doch bereits die Darstellung dieses ersten Handlungsdetails lässt gänzlich andere Intentionen als bei Dostoevskij erkennen: Während bei Akira Kurosawa der ehemalige Soldat Kameda im Nachkriegsjapan des Jahres 1951 auf einem Fährdampfer von den südlichen Okinawa-Inseln zur Nordinsel Hokkaido reist, kehrt bei Saša Gedeon im Tschechien der späten 1990er Jahre der aus einer Nervenheilanstalt entlassene František in sein heimatliches, tristes und namenloses 7
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Vgl. Gérard Genette: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1993 (Edition Suhrkamp 1683, Neue Folge 683), S. 14f., S. 18f. Anja Müller-Muth: »Hypotext«, in: Ansgar Nünning (Hg.), Metzler Lexikon. Literatur- und Kulturtheorie, Stuttgart, Weimar: Metzler 2004, S. 271. Genette vergleicht beispielsweise Woody Allens Film Play it again, Sam (1972) mit dem Humphrey-Bogart-Klassiker Casablanca (1942) von Michael Curtiz. (Vgl. G. Genette: Palimpseste, S. 215ff.) 15
DOSTOJEWSKIS »DER IDIOT« IM SPIELFILM
Provinzstädtchen zurück. Die Handlung des Dostoevskij-Romans wurde in beiden Adaptationen in die räumliche und zeitliche Gegenwart der beiden Regisseure verlegt, und damit steht fest, dass die Filme keinesfalls werktreu ihrem Hypotext folgen, der im St. Petersburg und Pavlovsk der späten 1860er Jahre spielt. Auch der dritte in dieser Studie untersuchte Film – Wim Wenders’ The Million Dollar Hotel (2000) – beginnt genau genommen mit zwei »Reisen«, wenn auch im übertragenen Sinne. Zunächst springt der Kind gebliebene Held Tom Tom lächelnd und mit weit ausgebreiteten Armen vom Dach des heruntergekommenen »Million Dollar Hotels«, womit er eine Reise in den Tod antritt, und gleich darauf kehrt seine Off-Stimme aus dem Jenseits zurück, und ein Schnitt versetzt die Filmhandlung in die Vergangenheit, wodurch eine Zeitreise beginnt, während der Tom Toms letzte Lebenstage geschildert werden. Wim Wenders’ Film hat keinerlei direkten Bezug zu Dostoevskijs Roman. Dies wurde mir, auf meine Nachfrage bei »Wenders Images GmbH« hin, ausdrücklich versichert. Umso erstaunlicher ist es deshalb, dass ausgerechnet dieser Film meines Erachtens der »Dostoevskijschste« der drei untersuchten Filme ist, da er ganz frappante Parallelen zum Roman Der Idiot aufweist. Ich werde diese Behauptung im später folgenden intermedialen Vergleich zwischen Roman und Film im Detail begründen. An dieser Stelle sei allerdings noch angemerkt, dass nicht nur thematisch-inhaltliche Parallelen zwischen Film und Roman festzustellen sind – wie etwa ein Kind gebliebener, wahrhaft guter Held, gesellschaftliche Außenseiter unter den Nebenfiguren, eine seelisch tief verletzte Frau als weibliche Hauptfigur oder die kritische Betrachtung des Fetischs Geld –, sondern auch formal-strukturelle Ähnlichkeiten auftauchen, die sich beispielsweise in Erzähltechnik und Erzählperspektive widerspiegeln. Die zweite These, die in dieser Untersuchung belegt werden soll, lautet deshalb: Parallelen zwischen zwei unterschiedlichen, in verschiedenen Medien entstandenen Kunstwerken müssen nicht notwendigerweise auf direkten, nachweisbaren Kontakten beruhen, sondern können auch auf die unbewusste Verwendung ähnlicher, narrativer Basiselemente zurückzuführen sein. Dabei können gleichartige, narrative Funktionen und Strukturen die Analogien zwischen den beiden Werken sogar stärker erscheinen lassen als bei einem herkömmlichen, direkten Kontakt. Im konkreten Fall des transmedialen Vergleichs zwischen Dostoevskijs Roman und Wenders’ Film soll somit belegt werden, dass The Million Dollar Hotel, trotz des fehlenden, direkten Kontakts, die grundlegenden Aussagen des Idioten durch die Verwendung ähnlicher, narrativer Elemente eher zu vermitteln scheint als die beiden Literaturverfilmungen.
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EINLEITUNG
Die folgende Arbeit setzt sich nun aus sechs großen Kapiteln zusammen: Im ersten, das aus vier einführenden Teilkapiteln besteht, werden der Handlungsaufbau des Romans und der drei Filme vorgestellt, damit auch LeserInnen, die die Werke nicht kennen, den späteren Ausführungen folgen können. Wer mit den Primärwerken gut vertraut ist, kann die Kapitel 2.1 bis 2.4 jedoch auch überspringen. Danach wird im zweiten Hauptkapitel der theoretische Hintergrund des Vergleichs zwischen dem Roman und den drei Filmen genauer beleuchtet, wobei, neben einem allgemeinen Überblick über die Intermedialitätsforschung, exemplarisch auch eine von Werner Wolf vorgeschlagene intermediale Typologie genauer vorgestellt wird. Abgeschlossen wird dieser Teil mit einem Überblick über den intermedialen Teilbereich »Literatur und Film« sowie dessen Subkategorie »Literaturverfilmung«, um den bisherigen Stand der Forschung zu rekapitulieren. Das dritte Hauptkapitel wendet sich schließlich dem intermedialen Vergleich zwischen Roman und Film zu, der auf den von Roland Barthes erarbeiteten, narrativen Ebenen basiert, und beinhaltet eine ausführliche Darstellung dieser narrativen Konzeption nach Barthes. Für den darauf folgenden praktischen Vergleich werden in den letzten drei großen Kapiteln verschiedene Ansätze der Dostoevskij-Forschung vorgestellt, die sich jeweils einer Barthes’schen narrativen Ebene zuordnen lassen, und überprüft, ob sich diese theoretischen Erkenntnisse sowohl im Roman als auch in den drei Filmen wieder finden lassen. Hier erschließt diese Studie wesentliches, literaturwissenschaftliches Neuland, denn diese drei Ansätze der Dostoevskij-Forschung wurden bisher weder in diesem Ausmaß für die Filmanalyse fruchtbar gemacht, noch auf den narrativen Ebenen von Barthes verortet. Bei den in den Kapiteln 5., 6. und 7. untersuchten Forschungsansätzen handelt es sich um René Girards Überlegungen zum triangulären Begehren im Werk Dostoevskijs, um Michail M. Bachtins Verortung der Dostoevskijschen Werke innerhalb einer karnevalistischen Gattungstradition, wobei exemplarisch die karnevalistischen Massenszenen untersucht werden, sowie um Horst-Jürgen Gerigks Überlegungen zum filmischen Erzählen und dem Phänomen der Verkennung im Idioten. Ob und wie sich diese theoretischen Ansätze der Dostoevskij-Forschung im Roman und in den Filmen widerspiegeln, soll in den drei letzten großen Kapiteln, die sich jeweils einem Forscher und seinen Überlegungen widmen, geklärt werden.
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2. E I N R O M A N U N D D R E I F I L M E HANDLUNGSAUFBAU Die grundlegende Absicht, die Fëdor M. Dostoevskij (1821-1881) mit seinem Roman Der Idiot verfolgte, beschreibt er in einem Brief vom Januar 1868 an seine Nichte Sof’ja Aleksandrovna Ivanova, der er den Roman auch gewidmet hat, mit folgenden Worten: »Главная мысль романа – изобразить положительно прекрасного человека«1 (»Die Grundidee ist die Darstellung eines wahrhaft vollkommenen und schönen Menschen«2). Und einige Zeilen später bezeichnet er schließlich Jesus Christus als das große Vorbild, das ihm für diese vollkommene Romanfigur, vorschwebt: »На свете есть одно только положительно прекрасное лицо – Христос […]«3 (»Es gibt in der Welt nur eine einzige positivschöne Gestalt: Christus […]«4). Auf dieser Grundidee zum Roman, die zudem einen direkten, intertextuellen Bezug zwischen dem Idioten und der Bibel belegt, baute in den letzten Jahrzehnten jener Zweig der Dostoevskij-Forschung auf, der Myškin, die Hauptfigur des Romans, als eine christusähnliche Figur interpretiert. An dieser Stelle soll nun vorab ein kurzer Abriss zur Forschungsdebatte um Myškin als »christoforme« Figur gegeben werden, da diese wesentlich zur Erklärung der Grundabsicht Dostoevskijs beiträgt. Beim späteren, intermedialen Vergleich werden dann v.a. jene Ansätze der Dostoevskij-Forschung vorgestellt, deren Thesen sich auch in den drei Filmen nachvollziehen lassen. Für die Interpretation der Filme spielt die Christus-Diskussion um den Idioten aber keine wesentliche Rolle. Eine der ersten theologischen Interpretationen von Dostoevskijs Werk stammt von Konrad Onasch, der die Hauptfigur des Idioten erst-
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Fëdor M. Dostoevskij: Polnoe sobranie sočinenij v tridcati tomach. Pis’ma 1860-1868. Tom XXVIII, Leningrad: Nauka 1985, S. 251. Fjodor M. Dostojewski: Gesammelte Briefe 1833-1881, München: Piper 1966, S. 251. F. M. Dostoevskij: Polnoe sobranie sočinenij v tridcati tomach. Pis’ma 1860-1868, S. 251. F. M. Dostojewski: Gesammelte Briefe 1833-1881, S. 252. 19
DOSTOJEWSKIS »DER IDIOT« IM SPIELFILM
mals als »Fürst-Christus«5 bezeichnet. Erläuternd fügt Onasch jedoch hinzu, dass Myškin dabei nicht einfach mit einem neuen Messias gleichgesetzt werden darf, denn Dostoevskij wollte »keinen Christusroman schreiben, sondern den Roman eines allerdings an diesem Ideal orientierten positiv schönen Menschen«6. Für Onasch steht fest, dass Dostoevskij Fürst Myškin als eine Mischung aus »russischem Rousseau« – einem »homme de la nature et de la vérité«7 –, aus reinem, christusähnlichem Ideal und aus »Gottesnarr« konzipiert hat. Beim letztgenannten Typus des Gottesnarren, oder »Narr in Christo« (russ. jurodivyj), handelt es sich um ein besonderes Phänomen des russisch-orthodoxen Volksglaubens. Ab dem Mittelalter bis ins späte 19. Jahrhundert spielten diese meist der Hellsichtigkeit bezichtigten Volksheiligen eine gewichtige Rolle im russischen Alltagsleben. Als »jurodivyj« wurden meist geistig und körperlich behinderte Menschen bezeichnet, denen man eine besondere Nähe zu Gott und die Fähigkeit Weissagungen zu tätigen, nachsagte. Dabei schwankte das Verhalten der Bevölkerung gegenüber diesen, meist auch noch in auffälligen Lumpen oder mit verrückten Kopfbedeckungen bekleideten Menschen zwischen ängstlicher Verehrung und grausamer Verspottung. Ein Gottesnarr könnte somit im weitesten Sinne als eine Mischung zwischen Dorftrottel und Volksheiligem beschrieben werden – als eine ambivalente Figur, die gleichzeitig gefürchtet, verehrt und verlacht wird.8 Für Onasch trägt Myškin eindeutig Züge eines Gottesnarren; nicht nur weil er einzelne, spezifische Merkmale mit diesem teilt – wie etwa seine auffällige, landesunübliche Kleidung bei der Ankunft in St. Petersburg –, sondern auch, weil er schon im ersten Kapitel, als er seinen späteren Rivalen Rogožin kennen lernt, von diesem als Gottesnarr bezeichnet wird: »Ну коли так, – воскликнул Рогожин, – совсем ты, князь, выходишь юродивый, и таких, как ты, бог любит!« (»Nun, wenn’s so is’!« rief Rogoschin aus, »dann biste ja ganz und gar’n Gottesnarr, und solche wie dich hat Gott der Herr lieb!«)9. Onasch interpretiert deshalb
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Konrad Onasch: Der verschwiegene Christus. Versuch über die Poetisierung des Christentums in der Dichtung F. M. Dostojewskis, Berlin: Union 1976, S. 142. Ebd., S. 139. Ebd., S. 129. Zum Phänomen des Gottesnarren vgl. Ewa M. Thompson: Understanding Russia. The Holy Fool in Russian Culture, Lanham u.a.: University Press of America 1987, S. 25-51. Fëdor M. Dostoevskij: Polnoe sobranie sočinenij v tridcati tomach. Idiot. Tom VIII, Leningrad: Nauka 1973, S. 14. Deutsch: Fjodor Dostojewskij: 20
EIN ROMAN UND DREI FILME
den Titel des Romans »als »Säkularisierung« des hagiographischen Narrentypus«10. Ähnlich wie Onasch, fasst auch Rudolf Neuhäuser Myškin sowohl als »Naturmenschen« im Sinne Rousseaus, als auch als christusähnliche Figur auf, der Jesus als »idealtypisches Modell«11 diente. Doch Neuhäuser betont, dass Dostoevskij auch eine ganz bestimmte, gesellschaftspolitische Absicht mit dieser Figur verfolgte. Ab den frühen 1860er Jahren vertrat Dostoevskij v.a. in seinen journalistischen Publikationen die Ansicht, dass sich die russische Gesellschaft in zwei, kaum noch miteinander zu vereinbarenden Richtungen aufgespalten habe: in ein »vorpetrinisches, vom Westen unbeeinflusstes Russland, das im Bauern- und Kaufmannsstand« weiterlebt und in ein »nachpetrinisches, verwestlichtes Russland, das der Adel und das […] Bürgertum sowie die Intelligenz«12 repräsentieren. Für Neuhäuser verkörpert Myškin nun einen neuen Menschentypus, von dem sich Dostoevskij die Überwindung der Spaltung zwischen national-russischer Bauernschaft und verwestlichter Oberschicht erhofft. Dabei darf jedoch nicht übersehen werden, dass Myškin an dieser Aufgabe kläglich scheitert, da er vom russischen Adel, als er dessen Vertretern während einer Abendgesellschaft bei den Epančins seine Ideen zur Rettung Russlands vorträgt, nicht im geringsten ernst genommen wird und schließlich, angesichts dieser Niederlage, sogar noch einen epileptischen Anfall erleidet. Auch Eugen Drewermann warnt davor, Myškin einseitig als reine Christusfigur zu interpretieren, da man dabei allzu leicht Gefahr läuft, das Scheitern des Menschen Myškin zu übersehen: »Wenn die christliche Theologie sich des Fürsten Myškin als eines gültigen Christusbildes im Werk Dostojewskis bedienen will, verfehlt sie nicht zuletzt in dem Roman »Der Idiot« das Wissen des Dichters selbst, – den unglaublichen Schluss! Fürst Myschkin selber, zerrissen in der Liebe zu Aglaja […] und der aufopfernden Liebe zu Nastassja Filippowna […] erlebt sich im Zwiespalt mit
Der Idiot. In der Neuübersetzung von S. Geier, Frankfurt/Main: Fischer 2003, S. 22. 10 K. Onasch: Der verschwiegene Christus, S. 135. 11 Rudolf Neuhäuser: »Auf dem Weg zur Utopie. Der Idiot«, in: Ders., F. M. Dostojevskij. Die großen Romane und Erzählungen, Wien u.a.: Böhlau 1993, S. 159. 12 Ebd. 21
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seinem Schattenbruder und Gegenspieler Parfen Rogoshin […]; beide sind es, die schließlich Nastassja seelisch zerreißen, der Gute ebenso wie der Böse.«13
Für Drewermann gilt es demnach zu bedenken, dass Myškin, im Gegensatz zu Christus, die Menschen, die er liebt und eigentlich auch beschützen will, nicht retten kann, sondern sie durch seine Passivität und Hilflosigkeit nur noch rascher ins Verderben stürzt. Auch für Maximilian Braun steht fest, dass sich der gläubige Christ Dostoevskij in einem Dilemma befand, sollte er den Idioten tatsächlich als Christusroman konzipiert haben: »Er [= ein Christus-Roman – Anm. D.B.] ist aber jedenfalls nicht möglich für einen gläubigen Christen, denn für ihn ist Christus ein unwiederholbares Phänomen. Ein Christus-Roman wäre demnach nur als prophetische Vision einer zweiten Menschwerdung des Gottessohnes denkbar, als eine symbolische Legende, die keinen Anspruch auf Realität erhebt […]. Verzichtet dagegen der Autor auf eine solche religiöse Interpretation, so kann er einen absolut guten Menschen kaum anders darstellen als auf der Grundlage einer moralisch gesunden, vorbildlichen Haltung den konkreten Lebensproblemen gegenüber; das läuft dann auf eine Persönlichkeit hinaus, die den Mitmenschen zeigt, wie man ohne Laster, Sünden und Fehler leben kann.«14
Das Dilemma sieht Braun nun darin, dass sich Dostoevskij im ersten Fall der christlichen Zukunftsvision zu weit von den tatsächlichen, sozialen Gegebenheiten im Russland der 1860er Jahre entfernen müsste, und somit keine ernsthafte Gesellschaftskritik mehr üben könnte, und im zweiten Fall würde er Gefahr laufen, sein Idealbild des positiv-schönen Menschen gefährlich nahe an die Vorstellungen vom »neuen Menschen« der Nihilisten um Nikolaj Černyševskij (1828-1889) heranzurücken, deren soziale Utopien Dostoevskij aber strikt ablehnte. Um nun einen Ausweg aus dieser Zwickmühle zu finden, neutralisiert Dostoevskij die Gefahr des idealisierten »Übermenschen«, indem er seinen Fürsten mit »physischen Schwächen und Unzulänglichkeiten«15 ausstattet. Laut Braun entspricht Myškin einem »modernen Simplicius Simplicissimus«, der zwar gebildet ist, aber den Dingen des praktischen Lebens hilflos wie ein kleines Kind gegenübersteht. Zudem leidet er an 13 Eugen Drewermann: Daß auch der Allerniedrigste mein Bruder sei. Dostojewski – Dichter der Menschlichkeit, Düsseldorf, Zürich: Patmos 2004, S. 137. 14 Maximilian Braun: »Der Idiot – Der ewige Ehemann«, in: Ders., Dostojewskij. Das Gesamtwerk als Vielfalt und Einheit, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1976, S. 160. 15 Ebd. 22
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Epilepsie und erscheint durch seine Unerfahrenheit im Umgang mit seinen Mitmenschen manchmal komisch, tollpatschig und naiv. Aus dieser Diskrepanz zwischen gutem Menschen und eigenartigem Sonderling erklärt sich für Braun auch der ureigene Sinn des Titels Der Idiot: »In unserer realen Wirklichkeit, vor allem in unserer gegenwärtigen Gesellschaft, kann nur ein krasser Außenseiter die absolute moralische Perfektion verkörpern. Er muss entweder seiner Umgebung als ein »Idiot« erscheinen, oder bis zu einem gewissen Grade tatsächlich ein solcher sein.«16 Auf diese besondere Eigenart des Titels weist auch Olga Meerson hin, die von konsequenten Tabuisierungen und Tabubrüchen im Idioten ausgeht, auf die schon der Titel anspielt. Meerson beobachtet, dass die am Anfang so frei angesprochenen Hinweise auf Myškins angebliche Idiotie – so nennen ihn Ganja, die Generalin Epančina, Aglaja, Adelaida, ja sogar der Autor selbst durch seine Titelwahl ganz ungeniert einen Idioten –, ab dem zweiten Teil des Romans merklich eingeschränkt und von vielen Figuren als Tabuverletzungen aufgefasst werden.17 Diese allmähliche Tabuisierung verknüpft Meerson mit der ursprünglichen Bedeutung des Begriffs »Idiot«, denn in der griechischen Antike wurden als ιδιότης (idiótes), schlicht Menschen bezeichnet, die sich weigerten an Wahlen teilzunehmen. Dem Ursprung des Wortes wohnt somit zwar bereits die Bedeutung von abweichendem Verhalten, Eigentümlichkeit und Eigenart inne, von der späteren, abwertenden Verwendung als Synonym für »Dummkopf« oder dem medizinischen Terminus »Idiotie« war die ursprüngliche Bezeichnung jedoch weit entfernt.18 Meerson sieht deshalb in Myškin zwar einen »Idioten« in der griechischen Grundbedeutung des von der Norm abweichenden Sonderlings, nicht jedoch im abwertenden, übertragenen Sinne. Wie Onasch erkennt aber auch Meerson die Nähe Myškins zum »Narr in Christo« des russisch-orthodoxen Volksglaubens. Für sie stellt Myškins »Gottesnarrentum« aber eines der wesentlichsten Tabus des Romans dar, denn nach Rogožins leichfertiger Äußerung über den »jurodivyj« im ersten Kapitel, wird der Fürst nicht mehr direkt mit diesem religiösen Phänomen in Verbindung gebracht, wohl aber durch Andeutungen verschiedenster Protagonisten, wie etwa des Generals Ivolgin oder Aglajas, indirekt in die Nähe des Gottesnarrentums gerückt. 16 Ebd. 17 Vgl. Olga Meerson: Dostoevsky’s Taboos. With an Introductory Note by H.-J. Gerigk and a Preface by R. L. Belknap, Dresden, München: Dresden University Press 1998 (Studies of the Harriman Institute), S. 86f. 18 Vgl. den Eintrag auf »Wikipedia. Die freie Enzyklopädie« auf: http://de. wikipedia.org/wiki/Idiot#_note-Gemoll vom 27. Juni 2008. 23
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Im eingangs zitierten Brief an seine Nichte nennt Dostoevskij aber auch noch ein anderes, großes literarisches Vorbild für seinen positivschönen Fürsten Myškin: Don Quijote. Auf diesen intertextuellen Bezug wird im späteren intermedialen Vergleich noch ausführlicher eingegangen werden. An dieser Stelle sei nur auf das entsprechende Zitat Dostoevskijs aus dem Brief hingewiesen: »Don Quichotte ist aber nur darum schön, weil er zugleich lächerlich ist. […] Der Leser spürt Mitleid und Sympathie mit dem verspotteten und sich seines Wertes nicht bewussten Schönen. Das Geheimnis des Humors besteht eben in der Kunst, im Leser Sympathie zu wecken.«19 Doch – wie bereits erläutert – schuf Dostoevskij mit Myškin nicht bloß ein herzensgutes, einfältiges Unschuldslamm, sondern legte die Figur bei weitem ambivalenter an: Der Fürst kann durchaus klug und begeistert für seine Überzeugungen eintreten, doch er ist zu offen und ehrlich für die verlogene, bessere russische Gesellschaft und scheitert schließlich auch an deren Intoleranz. Dostoevskij setzte große Hoffnungen auf seinen zweiten großen Roman, denn seine Spielsucht hatte ihn in eine beinah auswegslose finanzielle Situation gebracht. Doch Der Idiot fand bei Publikum und Kritik nicht das erwartete Echo und war nicht annährend so erfolgreich wie der zwei Jahre vorher erschienene Roman Schuld und Sühne. Akira Kurosawa (1910-1998) griff nun 1951 für seinen 13. Spielfilm Hakuchi (Der Idiot) den Stoff des Dostoevskij-Romans auf und übte in seiner Bearbeitung scharfe Kritik an der japanischen Nachkriegsgesellschaft. Hakuchi nimmt aus verschiedenen Gründen eine Sonderstellung im Schaffen des japanischen Meisterregisseurs ein. So wagt er sich z.B. zum ersten Mal in seiner Karriere an die Verfilmung einer literarischen Vorlage, die nicht von einem japanischen Schriftsteller stammte, und ebenfalls zum ersten Mal überschreitet einer seiner Filme deutlich die Dauer von zwei Stunden. Ursprünglich war Hakuchi sogar vier Stunden und 25 Minuten lang, doch der Film wurde von der Produktionsfirma »Shochiku« gegen Kurosawas Willen auf 166 Minuten gekürzt. Die ursprüngliche Version ist leider nicht mehr erhalten, und Kurosawa war über die Kürzungen der Filmfirma so erbost, dass er dieser sogar vorwarf Hakuchi geschlachtet zu haben.20 Eine weitere Besonderheit des Films hängt mit dem Schauplatz zusammen, den Kurosawa wohl auch als Hommage an Dostoevskij und Russland ausgewählt hat. Er lässt das winterliche Sapporo mit seinen im19 F. M. Dostojewski: Gesammelte Briefe 1833-1881, S. 251f. 20 Vgl. Donald Richie: The Films of Akira Kurosawa. Third Edition expanded and updated with a new epilogue, Berkeley u.a.: University of California Press 1998, S. 70. 24
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mensen Eis- und Schneemassen, so omnipräsent in den Vordergrund treten, dass ihm geradezu eine Hauptrolle in Hakuchi zugestanden werden muss. Natürlich spielen die Naturelemente auch in anderen Filmen Kurosawas eine wichtige Rolle, man denke nur an den strömenden Regen und die brütende Hitze in Rashōmon (1950) oder den düsteren Nebel in Das Schloss im Spinnwebwald (Kumonosu-jo 1957), doch in keinem anderen Film sind Schauplatz und Witterungslage so eng mit der Handlung verknüpft wie in Hakuchi. Dadurch weicht Kurosawa aber entscheidend von der literarischen Vorlage ab, denn in Dostoevskijs Roman gibt es keinen Schnee. In diesem Zusammenhang ist auch das folgende Zitat sehr aufschlussreich, in dem Kurosawa erklärt, welch große Schwierigkeiten er mit der Dostoevskij-Verfilmung hatte: »Making the film was very hard work. […] Dostoevsky is very heavy and now I was under him. I knew just how those enormous sumo wrestlers feel.«21 Dieses enorme Gewicht Dostoevskijs visualisierte Kurosawa durch die schweren Schneemassen, die auf den Dächern Sapporos lasten. Hakuchi war aber, ebenso wie seiner literarischen Vorlage, kein kommerzieller Erfolg beschieden. Und dies wäre beinah existenzbedrohlich für den Regisseur geworden, denn die Filmfirma, die Kurosawa schon zugesagt hatte, seinen nächsten Film zu finanzieren, zog angesichts der schlechten Kritiken für Hakuchi ihr Angebot wieder zurück. Kurosawa befürchtete daraufhin, sich eine Zeit lang von »kaltem Reis«22 ernähren zu müssen, doch da traf die überraschende Nachricht vom Gewinn des Goldenen Löwen beim Filmfestival von Venedig für den ein Jahr vor Hakuchi entstandenen Film Rashōmon ein, und Kurosawa konnte bereits 1952 seinen nächsten Film Ikiru (Leben) drehen, der besonders in Japan zum Kassenmagneten avancierte und heute noch als Klassiker gilt. Im Gegensatz zu Akira Kurosawa gelang es Saša Gedeon (*1970), mit seiner Variation des Dostoevskij-Stoffes einen wahren Kassenschlager zu landen. Návrat idiota (Die Rückkehr des Idioten) war nicht nur ein enormer Publikumserfolg, sondern gewann außerdem eine ganze Reihe tschechischer und internationaler Preise, wie etwa den für das beste Drehbuch beim Internationalen Filmfestival des Independentkinos in 21 Ebd., S. 85. 22 Vgl. Akira Kurosawa: Something like an Autobiography. Translated by Audie E. Bock, New York: First Vintage Books Edition 1983, S. 187. Hier beschreibt Kurosawa wie er nach einem Angelausflug vom Gewinn des Goldenen Löwen erfuhr: »Suddenly my wife came bounding out. »Congratulations!« I was unwittingly indignant: »For what?« »Rashomon has the Grand Prix.« Rashomon had won the Grand Prix at the Venice International Film Festival, and I was spared from having to eat cold rice.« 25
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Buenos Aires, den tschechischen Kritikerpreis und zwei Böhmische Löwen im Jahr 2000.23 Návrat idiota war erst Saša Gedeons zweiter abendfüllender Spielfilm – der erste trägt den Titel Indiánské léto (1995) – und ist bisher leider auch sein letzter geblieben. Denn nach der Jahrtausendwende drehte der Regisseur v.a. Werbespots und Kurzfilme wie den Beitrag Unisono zur Kurzfilmsammlung Visions of Europe (2004), die anlässlich der EU-Erweiterung 2004 als kulturelle Gemeinschaftsproduktion aller 27 Mitgliedsstaaten entstanden ist. In Návrat idiota orientierte sich Saša Gedeon nur sehr vage an Dostoevskijs Roman. Zwar kehrt auch in seinem Film ein junger, naiver Mann aus einer Nervenheilanstalt in seine Heimatstadt zurück, die Ereignisse, mit denen er dort konfrontiert wird, verknüpfen sich aber zu einer gänzlich anderen und neuen Geschichte und unterscheiden sich wesentlich von der literarischen Vorlage. Wie schon Akira Kurosawa vor ihm lässt auch Saša Gedeon seinen Film im Winter spielen, und auch er deutet mit der beißenden Kälte, die dem Helden entgegenschlägt, auf das Unverständnis und die soziale Kälte in dessen Umgebung voraus. Im Unterschied zu Návrat idiota rief Wim Wenders’ (*1945) zwanzigster Spielfilm The Million Dollar Hotel eine ambivalente Resonanz bei Publikum und Kritik hervor. In den USA stieß der Film, wohl nicht zuletzt weil er die amerikanische Sozial- und Gesundheitspolitik kritisiert und in gewisser Weise auch den amerikanischen Traum demontiert, auf einhellige Ablehnung. In Europa waren die Kritikerstimmen zwar durchaus positiv, so gewann The Million Dollar Hotel etwa einen Silbernen Löwen beim Internationalen Filmfestival in Berlin 2000, doch der Erfolg beim Publikum hielt sich ebenfalls in Grenzen. Dies ist umso unverständlicher, da sich in diesem Film verschiedenste Kunstformen auf höchstem Niveau begegnen. Die Idee zum Film hatte der Sänger der Popgruppe U2 Bono bereits im Frühjahr 1987, als seine Band, die gerade nach einer passenden Kulisse für das Video zu ihrem späteren Hit Where the Streets Have No Name suchte, auch das Dach des »Frontier Hotels« in Downtown Los Angeles besichtigte.24 Der ehemalige Name des Hotels lautete »The Million Dollar Hotel«, und Bono war von dem Gebäude so beeindruckt, dass er eine Geschichte schrieb, die er 23 Vgl. hierzu die entsprechenden Einträge auf »The Internet Movie Database« (IMDb): http://german.imdb.com/name/nm0311485/awards vom 27. Juni 2008. 24 Vgl. die entsprechenden Ausführungen von Wim Wenders in Dominic J. DeJoseph: The One Dollar Diary, USA 2001 (Dokumentarfilm 96 min). Bonusmaterial zu Wim Wenders: The Million Dollar Hotel, USA, Deutschland: Road Movies GmbH 2000, Concorde Home Entertainment GmbH 2001. 26
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später mit dem Autor Nicholas Klein in ein Drehbuch umwandelte. Dieses gab er seinem Freund Wim Wenders zu lesen, der sich umgehend bereit erklärte, den Stoff zu verfilmen. U2 schrieben auch die Filmmusik zu The Million Dollar Hotel, und für das Schlusslied The Ground Beneath her Feet vertonten sie einen Text von Salman Rushdie, der dann auch selbst im Video zu diesem Song auftrat. Auch die düsteren, mit Teer gemalten Bilder, die im Film zu sehen sind, hat ein bedeutender zeitgenössischer Künstler geschaffen. Sie stammen vom New Yorker Maler Julian Schnabel, der auch Regisseur ist und im Jahr 2000 die viel beachtete Künstlerbiographie Before Night Falls drehte, worin er das bewegte Leben des kubanischen Schriftstellers und Poeten Reinaldo Arenas (19431990) porträtierte. In den folgenden Kapiteln wird nun nicht nur der Inhalt der vier in dieser Studie besprochenen Werke zusammengefasst, sondern auch deren Strukturaufbau skizziert. Auch werden etwaige gestalterische Besonderheiten, auf die im praktischen Analyseteil nicht mehr gezielt eingegangen werden kann, kurz erläutert.
2 . 1 F ë d o r D o s to e v sk i j s R o m an D e r I di o t (1868/69) Dostoevskijs zweiter großer Roman25 besteht aus vier Hauptteilen, von denen der erste die Ereignisse eines einzigen Tages, des 27. Novembers 1867,26 wiedergibt. Früh morgens begegnen sich im Zug nach St. Petersburg der Epilepsie kranke Fürst Lev Nikolaevič Myškin, der seine letzten vier Lebensjahre in einer Schweizer Nervenheilanstalt verbracht hat, und der reiche Kaufmannssohn Parfën Semënovič Rogožin, der ebenfalls gerade in seine Heimatstadt zurückkehrt, um dort das Erbe seines kürzlich verstorbenen Vaters anzutreten. Die beiden Männer beginnen ein Ge25 Die anderen vier sind Verbrechen und Strafe (besser bekannt unter dem Titel Schuld und Sühne, Originaltitel: Prestuplenie i nakazanie, Erstdruck 1866 in der Zeitschrift »Russkij vestnik«), Die Dämonen (in der Neuübersetzung von Swetlana Geier auch Böse Geister genannt, Original: Besy, Erstdruck 1871), Der Jüngling (in neuerer Übersetzung auch Ein grüner Junge genannt, Original: Podrostok, Erstdruck »Otečestvennye zapiski« 1875) und Die Brüder Karamazov (Brat’ja Karamazovy, Erstdruck »Russkij vestnik« 1879 – 1880). 26 Vgl. Thomas Heckert: »Der zeitliche Ablauf der Handlung in Dostoevskijs Roman ›Der Idiot‹ «, in: Dorothee Schwarz u.a. (Hg.), Studien und Materialien zu Dostoevskijs Roman ›Der Idiot‹, Tübingen 1978 (Skripten des Slavischen Seminars der Universität Tübingen 17), S. 65. 27
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spräch, in das sich auch immer wieder der ebenfalls im Abteil anwesende kleine Beamte Lebedev einmischt. Rogožin erzählt Myškin, dass sein Vater ihn kürzlich verstoßen hat, weil er sich in die stadtbekannte Schönheit Nastas’ja Filippovna Baraškova verliebt hatte. Nun ist der Vater aber tot, und Rogožin ist wild entschlossen Nastas’ja mit Hilfe seines frisch ererbten Reichtums für sich zu gewinnen. Nastas’ja ist aber nicht nur eine schöne, sondern auch eine psychisch kranke Frau. Sie wurde als 16jähriges Mädchen von ihrem Vormund, dem einflussreichen Gutsbesitzer Afanasij Ivanovič Tockij sexuell missbraucht, gilt seither in der Öffentlichkeit als dessen Geliebte und hat diese Verletzungen und Demütigungen nie verarbeiten können. Nach der Ankunft in St. Petersburg trennen sich die Wege der beiden Reisegefährten vorerst. Myškin sucht seine letzte noch lebende Verwandte, die Frau des angesehenen Generals Ivan Fëdorovič Epančin, Lizaveta Prokof’evna, auf und wird im Haus der Epančins zunächst mit Erstaunen, später aber doch recht freundlich aufgenommen. Myškin lernt bei diesem Besuch die drei Töchter des Generals kennen und verliebt sich in die jüngste; die schöne aber launische Aglaja. Aber auch der Sekretär des Generals Ganja Ivolgin ist insgeheim in Aglaja verliebt, doch er soll für 75.000 Rubel Nastas’ja Filippovna heiraten, um Tockij, der ein guter Freund des Generals Epančin ist, von der lästigen Geliebten zu befreien. Etwas später an diesem Tag lernt der Fürst bei seinen Wirtsleuten, der Familie von Ganja Ivolgin, auch tatsächlich Nastas’ja Filippovna kennen und erkennt als einziger ihren labilen seelischen Zustand. Nastas’ja besucht die Ivolgins um Ganja zu demütigen. Sie spielt die unhöfliche Kokotte und entlarvt den alten, stets betrunkenen Vater Ganjas gnadenlos, als dieser ihr eine skurrile Lügengeschichte über das Bologneser Hündchen der Fürstin Belokonskaja erzählt. Auch der von Nastas’ja besessene Rogožin taucht plötzlich bei den Ivolgins auf und schwört, als er die Gerüchte um Nastas’jas und Ganjas Verlobung bestätigt sieht, ihr am selben Abend zu ihrem Geburtstagsfest 100.000 Rubel zu bringen, wenn sie dafür Ganja verlassen und mit ihm gehen würde. Schließlich kommt es zu einem Skandal als Ganjas Schwester Varvara verlangt, dass man Nastas’ja aus dem Haus wirft, und es zwischen ihr und ihrem Bruder zu einem Handgemenge kommt. Als Myškin zum Schutz Varvaras in die Auseinandersetzung eingreift, erhält er vom rasenden Ganja eine Ohrfeige. Kurz darauf löst sich die Versammlung im Haus der Ivolgins auf. Myškin, der für Nastas’ja eine Mischung aus Liebe und Mitleid empfindet, quälen schlimme Vorahnungen, und so taucht er uneingeladen am selben Abend auf Nastas’jas Geburtstagsfest auf. Dort macht er ihr unerwartet einen Heiratsantrag, um zu verhindern, dass sie dem von ihr
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besessenen Rogožin oder dem geldgierigen Ganja in die Hände fällt. Dabei stellt sich überraschend heraus, dass Myškin, den bisher alle für einen armen Schlucker gehalten haben, ein beträchtliches Vermögen besitzt. Während des Antrags zieht er plötzlich einen Brief aus der Tasche, der seine beträchtliche Erbschaft beweist. Doch Nastas’ja lehnt den Antrag trotzdem ab, da sie einen so herzensguten Menschen wie Myškin nicht kompromittieren will und verlässt mit Rogožin ihre Wohnung, womit der erste Teil des Romans endet. Im zweiten Teil setzt die erzählte Zeit erst nach einem halben Jahr, das Myškin, Rogožin und Nastas’ja gemeinsam in Moskau verbracht haben, wieder ein. Vom Erzähler erfährt man, dass Nastas’ja während dieser Zeit immer wieder von einem der beiden Männer zum anderen geflohen ist und sich zwischen den Protagonisten eine verhängnisvolle Dreiecksbeziehung entwickelt hat. Die Handlung des zweiten Teils beginnt Anfang Juni 1868 in St. Petersburg, wohin Myškin auf der Suche nach Nastas’ja zurückkehrt. Er hofft, sie bei Rogožin zu finden, und stattet diesem einen Besuch ab. Während sich die beiden Männer unterhalten, schwankt Rogožin zwischen rasender Eifersucht und ehrlicher Sympathie für Myškin, und zum Abschied tauschen sie als Zeichen der Zuneigung ihre Kreuze. Doch diese Zuneigung hält nicht lange an, denn einige Stunden später lauert Rogožin seinem Rivalen in der dunklen Nische eines Gasthofs auf und attackiert ihn mit einem Messer. Doch Myškin erleidet, bevor Rogožin zustechen kann, einen epileptischen Anfall und der Angreifer stürzt entsetzt davon. Kurze Zeit später übersiedelt Myškin auf die Datscha Lebedevs nach Pavlovsk, um sich dort von seinem Anfall zu erholen. Auch die Epančins befinden sich auf Sommerfrische in Pavlovsk, und als Myškin eintrifft, statten ihm die Generalin und ihre Töchter einen Besuch ab. Doch dabei verhöhnt ausgerechnet Aglaja den Fürsten, indem sie sich über seine Beziehung zu Nastas’ja lustig macht, und Myškin mit dem armen Ritter aus dem gleichnamigen Puškin-Gedicht (Rycar’ bednyj 1829) vergleicht. Während des Besuchs der Epančins taucht plötzlich eine Gruppe junger Männer bei Myškin auf, die recht unverschämt von ihm verlangt, sein Erbe mit einem von ihnen, mit Antip Burdovskij, zu teilen, da dieser behauptet, der uneheliche Sohn von Myškins verstorbenem Pflegevater Pavliščev zu sein. Vor den versammelten Gästen wird ein gemeiner Schmähartikel über Myškin vorgelesen, und dieser ist unfähig, sich gegen die darin vorgebrachten Vorwürfe zu wehren. Doch schließlich klärt Ganja Ivolgin, den Myškin von Moskau aus mit der Angelegenheit betraut hatte, alles auf, indem er beweist, das Pavliščev nicht Burdovskijs Vater war.
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Schließlich kommt es noch zu einem weiteren Skandal als die erboste Generalin Epančina mit ihrer Familie im Gefolge die Datscha Lebedevs verlässt. Vor dem Haus fährt plötzlich Nastas’ja Filippovna in einer Kutsche an ihnen vorbei und ruft dem neuen Verehrer Aglajas, Evgenij Pavlovič Radomskij, beleidigende Bemerkungen über seine finanzielle Lage zu. Im dritten Teil des Romans, der zur Gänze in Pavlovsk spielt, steht mit Ippolit Terent’ev einer jener jungen Männer im Mittelpunkt, die im vorigen Teil den vermeintlichen Sohn Pavliščevs zu Myškin begleitet hatten. Der 17jährige Ippolit leidet an TBC im Endstadium und hat nur mehr wenige Wochen zu leben. Myškin bemitleidet den ob seines Schicksals verbitterten Ippolit. Dieser empfindet wiederum eine Art Hassliebe für den Fürsten, da Myškin die Gefühle und Beweggründe des zornigen jungen Mannes nur allzu gut durchschaut. Während Myškins Geburtstagsfeier auf Lebedevs Datscha liest Ippolit einen selbstverfassten Text mit dem Titel Eine notwendige Erklärung vor, in dem er unter anderem einen Albtraum von einem schrecklichen, skorpionähnlichen Tier beschreibt. Außerdem berichtet Ippolit von einer seiner letzten guten Taten, mit der er einem arbeitslosen Mediziner zu einer neuen Anstellung verholfen hatte, und von seiner Verbitterung angesichts des bevorstehenden Todes. Danach steht Ippolit auf und unternimmt vor allen Gästen einen Selbstmordversuch, der aber missglückt, weil seine Pistole versagt. Im vierten Teil liegt das Hauptaugenmerk der Handlung nunmehr auf zwei Dreiecksbeziehungen, denn neben der zwischen Myškin, Rogožin und Nastas’ja hat sich in der Zwischenzeit eine weitere zwischen Myškin, Nastas’ja und Aglaja entwickelt. Auf seine eigene, unschuldige Weise liebt Myškin beide Frauen. Aglaja ist sich ihrer Gefühle aber nicht so sicher und verhält sich Myškin gegenüber launisch. Nastas’ja, die immer noch glaubt nicht gut genug für Myškin zu sein, versucht eine Verlobung zwischen ihm und Aglaja zu forcieren, indem sie ihr mehrere schmeichlerische Briefe schreibt. Schließlich findet ungefähr eine Woche nach Myškins Geburtstag bei den Epančins eine Abendgesellschaft statt, bei der der Fürst den adligen Gönnern und Freunden der Familie, als möglicher Verlobter Aglajas präsentiert werden soll. Aglaja fürchtet bereits einen Tag vorher, dass der Fürst sich mit seiner offenen, naiv vertrauensseligen Art vor den Gästen blamieren könnte und warnt ihn davor zu viel zu reden und sich in der Nähe der chinesischen Vase ihrer Mutter aufzuhalten. Sie ist davon überzeugt, dass Myškin die Vase zerbrechen wird. Tatsächlich bestätigen sich an diesem Abend alle schlimmen Vorahnungen Aglajas. Myškin, der sich unter den besten und edelsten Menschen Russlands glaubt, hält feurige Reden über den orthodoxen Christus und die Aufgabe des russischen
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Adels, und wie Aglaja es befürchtet hatte, zerschlägt er dabei die Vase der Generalin. Als daraufhin alle Anwesenden in lautes Lachen ausbrechen, missversteht Myškin diese Reaktion und glaubt, die Gäste würden großherzig über sein Missgeschick hinwegsehen. Er fasst neuen Mut, spricht weiter und gerät dabei so in Aufregung, dass er einen weiteren epileptischen Anfall erleidet. Am nächsten Tag will sich Aglaja heimlich mit Nastas’ja treffen, da sie Myškins Beziehung zu Nastas’ja viel mehr bedrückt als die Meinung der besseren Gesellschaft. Sie bittet Myškin, sie zu begleiten. Dieses Treffen, bei dem auch Rogožin anwesend ist, endet katastrophal. Aglaja wirft Nastas’ja vor, die Rolle der gefallenen Frau nur allzu gerne zu spielen, da sie ehrliche Arbeit scheue. Nastas’ja wirft wiederum ihrer Rivalin vor, selbst nur ein verwöhntes Töchterchen aus gutem Hause zu sein und keine Ahnung von ehrlicher Arbeit zu haben. Schließlich gerät Nastas’ja so in Wut, dass sie Myškin zwingt, auf der Stelle zwischen ihr und Aglaja zu wählen. Als der Fürst zögert, stürzt Aglaja tief verletzt davon, und als er ihr folgen will, fällt Nastas’ja in Ohnmacht. Die Epančins verbieten Myškin daraufhin ihr Haus und verlassen einige Tage später mit Aglaja Pavlovsk. Myškin und Nastas’ja planen nun ihre Hochzeit, die Anfang Juli stattfinden soll. Doch am Hochzeitstag flieht Nastas’ja, anstatt zu ihrem Bräutigam in die Kirche zu fahren, gemeinsam mit Rogožin nach St. Petersburg. Dort wird sie noch in derselben Nacht vom rasenden Rogožin erstochen. Am nächsten Tag fährt Myškin nach St. Petersburg, um Nastas’ja zu suchen. Rogožin führt ihn schließlich in sein Haus, erzählt ihm, wie er Nastas’ja umgebracht hat, und die beiden halten die Nacht über Totenwache. Angesichts der schrecklichen Ereignisse fällt Myškin in seine frühere geistige Umnachtung zurück und Rogožin, der zunächst an einer schweren Hirnentzündung erkrankt, wird nach seiner Genesung für den Mord an Nastas’ja zu 15 Jahren Zwangsarbeit in einem sibirischen Straflager verurteilt. Im Epilog erfährt man, dass Myškin in die Schweizer Nervenheilanstalt zurückgebracht wurde, aus der er am Anfang des Romans nach Russland aufgebrochen ist. Radomskij und die Generalin Epančina, die sich auf Europareise befinden, besuchen in dort. Über Aglaja heißt es abschließend, dass sie einen polnischen Schwindler geheiratet hat, zum Katholizismus konvertiert ist und keinen Kontakt mehr zu ihrer Familie unterhält.
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DOSTOJEWSKIS »DER IDIOT« IM SPIELFILM
2 . 2 A k i r a K u r o s a w a s F i l m H ak u c h i ( 1 9 5 1 ) Während Dostoevskijs Roman aus vier Teilen ohne eigene Überschriften besteht, gibt es in Akira Kurosawas Film nur zwei Teile, die die Titel »Love and Suffering« und »Love and Loathing«27 tragen. Kurosawa versetzt die Handlung vom Russland der späten 1860er Jahre ins Japan der frühen 1950er Jahre und lässt die beiden Helden, die Myškin-Figur Kameda (gespielt von Masayuki Mori) und die Rogožin-Figur Akama (Toshirō Mifune) einander zum ersten Mal auf einem Fährdampfer begegnen. Es ist Dezember und Kameda will seine Verwandten, die Familie Ono, im Norden der schneereichen japanischen Insel Hokkaido besuchen. Er wurde gerade aus einem Sanatorium der US-Armee auf Okinawa entlassen, wo er wegen seiner schweren epileptischen Anfälle in Behandlung gewesen ist. Während des Krieges wäre Kameda aufgrund einer Verwechslung beinah als Kriegsverbrecher erschossen worden. Der Schock über dieses Ereignis löste seine Epilepsie aus. Akama kehrt gerade in sein Elternhaus zurück, von wo er vor einigen Monaten flüchten musste, weil er seinem Vater Geld gestohlen hatte, um der schönen Taeko Nasu (Setsuko Hara), der Mätresse des reichen Tohatas (Eijiro Yanagi), einen Diamanten zu kaufen. In der Zwischenzeit ist der Vater verstorben und Akama will nun sein Erbe antreten und Taeko für sich gewinnen. Nach der Ankunft in der tief verschneiten Stadt Sapporo verabschieden sich die beiden Reisebekannten voneinander, und Kameda geht zum Haus seiner Verwandten. Es ist ungewöhnlich für Kurosawa, dass er in dieser Szene für einige Augenblicke Dokumentarszenen vom Straßenleben auf der verschneiten und noch stark von der Nachkriegsarmut geprägten Insel Hokkaido in die Spielfilmhandlung eingefügt hat. Nachdem Akama und Kameda in der Stadt angekommen sind, ist für einige Sekunden ein Lautsprecher auf einem öffentlichen Platz im Bild und eine Stimme verkündet den knappen Wetterbericht: »Another snowstorm in Hokkaido.« Darauf folgen einige Aufnahmen vom Schneegestöber, durch das sich dick eingemummte Menschen, eine Straßenbahn, ein Hund, der einen Leiterwagen zieht, und ein Pferdefuhrwerk mühen. All diese Bilder sind direkt auf der Straße, ohne Schauspieler oder bezahlte Statisten gedreht worden und wirken deshalb wie aus einer Nachrichtensendung herausgeschnitten. Solche Szenen sind absolut untypisch für Kurosawa, der mit Ausnahme seines zweiten, in semidokumentarischen Stil gedrehten Spielfilm Am al27 Donald Richie übersetzt die beiden Titel, zwar mit »Love and Agony« und »Love and Hatred«, ich halte mich aber an die offiziellen englischen Untertitel der 2003 bei Panorama Entertainment erschienenen DVD. (Vgl. D. Richie: The Films of Akira Kurosawa, S. 83.) 32
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lerschönsten (Ichiban Utsukushiku, 1944)28, so gut wie niemals dokumentarische Alltagsszenen in seine Filme einbaute. In diesem Zusammenhang stellen die kurzen Dokumentarszenen in Hakuchi eine Rarität in Kurosawas Gesamtwerk dar. Als Kameda nun bei seinen Verwandten eintrifft, herrscht dort eine angespannte Stimmung, denn der Hausherr Ono (Takashi Shimura) will seinem guten Freund Tohata dabei helfen, dessen Geliebte Taeko loszuwerden und hat deshalb seinem jungen, ehrgeizigen, aber armen Sekretär Kayama (Minoru Chiaki) 600.000 Yen für die Heirat mit Taeko Nasu versprochen. Kayama zögert, da er eigentlich in Onos jüngste Tochter Ayako (Yoshiko Kuga) verliebt ist und schreibt dieser einen Brief, in dem er sie indirekt bittet ihm ihre Liebe zu gestehen, damit er die unselige Verlobung mit Taeko lösen kann. Da er es nicht wagt, Ayako diesen Brief selbst zu übergeben, bittet er den naiv wirkenden Kameda darum. In der Zwischenzeit hat auch Onos Frau von der arrangierten Heirat erfahren und bittet Kayama zu sich, um ihm die Meinung zu sagen. Kayama glaubt nun, dass Kameda ihn bei Frau Ono angeschwärzt hat, und als dieser ihm auch noch den Brief an Ayako mit deren Antwort: »There is no bargaining for friendship« zurückgibt, hält Kayama Kameda endgültig für ein Klatschmaul. Doch Herr Ono hat Kayama gebeten, Kameda in der Pension seiner Mutter unterzubringen, und so muss er den ungeliebten Gast wohl oder übel mit nachhause nehmen. Dort taucht, um Kayamas Familie kennen zu lernen, unerwartet Taeko Nasu auf, und als kurze Zeit nach ihr der wutschnaubende Akama mit einer Horde von Zechkumpanen bei Kayama eindringt, kommt es wie im Roman zu einem Skandal, bei dem Kayama schließlich Kameda ohrfeigt. Anders als im Roman erstarren im Film aber alle anwesenden entsetzt, und Kayamas kleiner Bruder Kaoru geht weinend auf seinen Bruder los. Taeko lädt nun Kameda und Kayama zu ihrem Geburtstagsfest ein und verlässt überstürzt mit Akama und seiner Bande das Haus. Die nächste Szene zeigt Taekos Haus während der Geburtstagsfeier. Alle Gäste tragen festliche Kleidung nur die Gastgeberin ist in ein bodenlanges, schwarzes Cape gehüllt, das sie während des gesamten Films nicht mehr ablegen wird, und das alle Aufmerksamkeit auf ihr Gesicht lenkt. Das Fest ist bereits in vollem Gange als Kameda in seinem schäbigen, an eine Uniform erinnernden und für die Witterung viel zu dünnen Anzug auftaucht und gleich bei seinem Eintreten eine wertvolle Vase zerschlägt, womit eine wichtige Szene aus dem Roman von der Abendgesellschaft bei den Epančins in das früher stattfindende Geburtstagsfest verlegt wurde. Taeko begrüßt Kameda, als ob sie nur auf ihn gewartet
28 Vgl. A. Kurosawa: Something like an Autobiography, S. 132f. 33
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hätte, unterhält sich ausschließlich mit ihm und würdigt ihre anderen Gäste keines Blickes mehr. Als Kameda nun feststellt, dass Taekos Augen ihn an die eines jungen Soldaten erinnern, der bei jener Hinrichtung, bei der auch Kameda selbst beinah erschossen worden wäre, getötet wurde, kommt es zu einer der beeindruckendsten Szenen des Films. Taeko bittet Kameda, ihr von diesem Ereignis zu erzählen, und während er jedes Detail der Hinrichtung schildert, obwohl ihm die Erinnerung an dieses Erlebnis sichtlich quält, wird die düster-bedrohliche Hintergrundmusik vom Geräusch marschierender Militärstiefel begleitet. Als Kameda von jenem an einen Richtpfahl gefesselten Soldaten berichtet, dessen Augen ihn an Taekos erinnern, werden die Marschgeräusche durch Militärtrommeln und Trompeten ersetzt. Und als er schließlich von den Gewehrschüssen spricht, die den Soldaten töteten, ertönen im Hintergrund ebenfalls Schüsse. Diese akustischen Untermalungen des gesprochenen Textes verdeutlichen dem Zuschauer eindrücklich das schreckliche Trauma, das die Hinrichtung bei Kameda hinterlassen hat und durch welches seine Epilepsie ausgelöst wurde. Kayama hält schließlich das bedrückende Gesprächsthema nicht mehr aus und versucht Kameda zu unterbrechen, doch da fragt Taeko diesen plötzlich ganz unerwartet, ob sie Kayama heiraten soll. Kameda antwortet ihr mit einem Nein. Die anderen Gäste, vor allem Ono und Kayama sind entsetzt. Tohata grinst zunächst geschmeichelt, da er annimmt Taeko habe Kayama einen Korb gegeben, weil sie bei ihm bleiben wolle. Doch da erklärt sie, dass sie noch an diesem Abend ihn und sein Haus verlassen wird. Das Gespräch wird durch Akamas Ankunft unterbrochen, der mit seinem Gefolge und einer Million Yen auftaucht, die er Taeko im Hause Kayamas versprochen hatte. Daraufhin macht Kameda Taeko überraschend einen Heiratsantrag. Als Kayama nun höhnisch meint, dass Kameda sich Taekos Lebensstil niemals leisten könne und alle Anwesenden ihn auslachen, verkündet plötzlich Ono, dass Kameda keineswegs ein armer Mann sei, da ihm – was niemand wusste – von seinem Vater eine 125 Acre große Farm hinterlassen wurde. Akama gerät nun außer sich und fleht Kameda an zurückzutreten und Taeko ihm zu überlassen. Doch Taeko hat sich bereits für Akama entschieden, denn sie will keinesfalls einen so guten Menschen wie Kameda durch ihren schlechten Ruf ruinieren. Zu Beginn der nächsten Szene ist das Wort »Februar« über ein in Tiefschnee und Eis versunkenes Haus geblendet, und gleich darauf ist die Familie Ono am Mittagstisch zu sehen. Frau Ono beginnt mit ihrem Mann über Kameda zu sprechen. Man erfährt, dass er Taeko und Akama nach Tokio gefolgt ist, und dass Taeko sich nicht zwischen den beiden
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Männern entscheiden kann. In dieser Szene spielen die drückend auf dem Haus der Onos lastenden Schneemassen eine ganz besondere, symbolträchtige Rolle: Als Herr Ono seiner Frau am Mittagstisch gesteht, dass die Dreiecksbeziehung zwischen Kameda, Akama und Taeko ihn beunruhigt, und er sich mit den Worten: »Akama is not above murder« selbst beruhigen will, löst sich plötzlich mit lautem Getöse eine Dachlawine und lässt die Onos erschrocken aufhorchen. Ihre schlimme Vorahnung wird von Kurosawa großartig durch die herabstürzenden Schneemassen als Metapher für Zerstörung und Untergang visualisiert. Nach dieser Szene erfolgt ein Schnitt und man sieht Kameda in Begleitung von Karube – dem kleinen Handlanger, der der Roman-Figur des Lebedev entspricht – durch die Straßen Sapporos gehen. Kameda ist zurückgekehrt, um nach Taeko zu suchen und begibt sich sofort zu Akamas Haus. Wie schon auf dem Anwesen der Onos, lasten auch auf Akamas düsterer Behausung enorme, drückende Schneemassen, die auf die bevorstehende Katastrophe vorausdeuten (Abb. 1). Abbildung 1: Kameda steht vor Akamas schneebedecktem Haus
Quelle: Akira Kurosawa: Hakuchi – The Idiot, Japan: Shochiku Co. Ltd. 1951, Hongkong: Panorama Entertainment Co. Ltd. 2003. Akama lässt Kameda in sein Haus eintreten und führt ihn schweigend durch die verwinkelten Korridore in einen düsteren Raum. Dort unterhalten sich die beiden Männer lange, doch Akama gibt Kameda keine klare Auskunft über Taekos Aufenthaltsort. Bevor Kameda aufbricht, tauschen die beiden ihre Glücksbringer. Danach irrt Kameda ziellos durch die Straßen der Stadt. Er fühlt sich verfolgt und zittert vor Aufregung und
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Kälte. Immer wieder sieht er Akama in seiner Nähe. Mit letzter Kraft flieht er zum Haus der Kayamas, doch hinter dem Gartentor lauert Akama ihm auf, und es erfolgen die Messerattacke und der epileptische Anfall, die im Roman den Auftakt des zweiten Teils darstellen. Mit dieser Szene endet der erste Teil des Films. Der zweite Teil, in dem sich Kurosawa nicht mehr so streng an die Romanvorlage hält, beginnt mit einem Krankenbesuch Frau Onos bei Kameda, während dessen sie ihn direkt fragt, ob er sich in Ayako verliebt habe. Denn Ayako hatte schon vor Wochen einen merkwürdigen Brief von Kameda aus Tokio erhalten, den die Mutter kennt. Kameda antwortet ausweichend, aber man sieht ihm an, dass er Ayako gern hat. Am selben Abend findet ein öffentliches Karnevalsfest statt. Die Damen der Familie Ono sind unter den Zuschauern, und bald gesellt sich Kayama zu ihnen, der sich in der Zwischenzeit wieder Hoffnungen auf Ayako macht. Doch da sieht Ayako plötzlich Kameda in der Menschenmenge und läuft zu ihm. Kayama nähert sich ebenfalls, doch da hält ihn eine Frau in einem schwarzen Umhang und mit einer schwarzen Maske vor den Augen auf und ruft ihm zu: »Did you forget what you meant to do for 600.000 Yen?«. Alle Anwesenden haben dies gehört und Frau Ono befiehlt ihren Töchtern nun streng, mit ihr nachhause zu gehen. Doch Ayako flüstert Kameda noch schnell zu, dass er sich am nächsten Tag bei der Bank vor der Karnevalseisstatue mit ihr treffen soll. Bei diesem Treffen, versucht sie ihm verständlich zu machen, dass es sie schmerzt, wenn die Menschen über ihn lachen, da sie weiß, dass er ein ganz besonderer, viel zu guter Mensch sei. Als er sie nachhause begleitet, erzählt sie ihm außerdem, dass Taeko ihr Briefe geschrieben hat, in denen sie ihr schmeichle und sie bitte Kameda zu heiraten. Ayako ist wütend darüber, doch Kameda versucht Taeko in Schutz zu nehmen. In diesem Moment begegnet ihnen die überraschte Frau Ono, die nichts von Kamedas und Ayakos Treffen gewusst hat. Sie bittet Kameda Ayako in Zukunft ohne Heimlichkeiten bei ihnen zu Hause zu besuchen. Kameda wird daraufhin zum täglichen Gast im Hause Ono. Eines Tages bringt er rote Nelken für Ayako mit, über die deren ältere Schwester Noriko zu lachen beginnt, weil Rot die Farbe der Liebe ist. Kameda wusste dies nicht, und als man ihn über seine Ungeschicklichkeit aufklärt, antwortet er schüchtern, dass er Ayako tatsächlich liebe und hält überraschend um ihre Hand an. Zögerlich willigen die Onos in die Heirat ein. Doch Ayako findet keine Ruhe solange sie Kamedas Mitleid für Taeko nicht verstehen kann. Deshalb geht sie heimlich zu Kameda und bittet ihn, sie zu Akamas Haus zu begleiten, wo in der Zwischenzeit auch Taeko wohnt. Das Treffen endet genauso katastrophal wie in der literarischen Vorlage. Taeko, die Ayako insgeheim verehrt und in ihr all das
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sieht, was sie selbst verloren hat, ist angesichts des hochnäsigen Verhaltens der Besucherin zutiefst gekränkt. Ayako wiederum wirft Taeko Selbstsucht vor und verbietet ihr wütend weiterhin Briefe an sie zu schreiben. Wie im Roman zögert Kameda als Taeko ihn vor die Wahl zwischen ihr und Ayako stellt, und während Ayako gekränkt davonläuft, fällt Taeko in Ohnmacht. Akama, der die ganze Zeit über schweigend daneben stand, verspricht, sich um Taeko zu kümmern und Kameda stürzt Ayako hinterher. Doch er kann sie nicht mehr finden und läuft zum Haus ihrer Eltern. Diese sind entsetzt darüber, dass Kameda Ayako alleine gelassen hat, sie lösen die Verlobung auf und werfen Kameda aus dem Haus. Betrübt geht er zu Akama zurück, den er halbwahnsinnig neben der erstochenen Taeko vorfindet. Die folgende Szene ist die großartigste des ganzen Films: Gemeinsam warten Akama und Kameda in riesige Decken gehüllt, neben unzähligen brennenden Kerzen, auf den nächsten Morgen und verlieren darüber den Verstand. Die Schlussszene, die Dostoevskijs Epilog ersetzen soll, spielt wieder im Hause Ono. Draußen tobt ein Schneesturm und Frau Ono kehrt von einem Besuch bei Kameda in der Nervenheilanstalt zurück. Begleitet wird sie von Kayama und dessen weinendem Bruder Kaoru. Alle sind tief betroffen über Kamedas Schicksal. Ayako führt Kaoru ins Wohnzimmer und beide sprechen weinend über Kameda. Ayako bedauert ihr Verhalten und mit einer Großaufnahme ihres weinenden Gesichts endet der Film.
2 . 3 S aš a G e d e o n s F i l m N áv r a t i d i o t a ( 1 9 9 9 ) Schon bevor in Saša Gedeons Film das erste Kamerabild zu sehen ist, erklingt während des auf schwarzem Hintergrund eingeblendeten Vorspanns jenes, an ein Kinderlied gemahnende Klavierthema, das František (Pavel Liška), den Helden aus Návrat idiota, während der gesamten Filmdauer begleiten wird. Das erste Bild zeigt einen jungen Mann, der sich später als František entpuppt, hinter dem schmutzigen, von Kälte beschlagenen Fenster eines Zugabteils sitzend (Abb. 2). Er wischt sich in Augenhöhe ein kleines Guckloch in der Scheibe frei und beobachtet dadurch eine junge Frau, die sich am Bahnsteig liebevoll von einem jungen Mann verabschiedet.
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Abbildung 2: František beobachtet ein Liebespaar am Bahnhof durch ein Guckloch in der schmutzigen Fensterscheibe
Quelle: Saša Gedeon: Návrat idiota, Tschechische Republik: Negativ, Česká televize 1999, Bontonfilm 2007. Da fährt der Zug, in dem der Held sitzt, los. Die junge Frau packt ihre Reisetasche und beginnt zu laufen, um noch mitfahren zu können. Die nächste Einstellung zeigt das Innere des Abteils. František, der etwas gedöst hatte, wacht gerade auf und sieht sich um. Alle Plätze im Abteil sind besetzt und ihm gegenüber sitzt die junge Frau, die er vorhin am Bahnsteig beobachtet hatte. Sie schläft und bemerkt ihn nicht. Nach dem nächsten Schnitt sieht man den Helden im Gang vor dem Zugabteil. Er öffnet ein Fenster und lässt sich den Fahrtwind ins Gesicht wehen. Die junge Frau, die sich später als Anna (Anna Geislerová) entpuppt, steht ebenfalls im Gang und isst Joghurt. Sie bemerkt František nicht, öffnet ebenfalls ein Fenster und beugt sich hinaus. Da fällt ihr der Joghurtbecher aus der Hand und der Fahrtwind befördert den Inhalt des Bechers in Františeks Gesicht. Über und über mit Joghurt beschmiert, geht er zur Zugstoilette, um sich zu reinigen. Doch er vergisst die Toilette abzuschließen, und als er gerade im Unterhemd mit schief gehaltenem Kopf zu springen beginnt, um seinen von Joghurt verstopften Gehörgang frei zu bekommen, öffnet Anna die Toilettentür. Sie blickt ihn irritiert an, spricht kein Wort und schließt die Tür schnell wieder. Nach dem nächsten Schnitt sieht man den nassen aber sauberen Helden das Zugabteil betreten. Er lächelt Anna freundlich zu, die mittlerweile in einem Buch liest, erhält aber von ihr im Gegenzug nur einen kühlen, abweisenden Blick. Etwas später fährt der Zug wieder in einen Bahnhof ein. František steigt mit einem kleinen Koffer in der Hand aus. Er trägt eine rote Pudelmütze, einen karierten Schal und einen beigefarbenen Dufflecoat, die im Laufe des Films zu dreien seiner auffallenden Merk38
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male werden. Wieder erfolgt ein Schnitt und man sieht das Innere eines Schlafwagenabteils, in dem Anna sitzt und erneut Joghurt löffelt. Der Zug fährt an, sie blickt aus dem Fenster und sieht nun ihrerseits František dem Zug nachlaufen. Das nächste Bild zeigt Anna schlafend auf dem unteren Bett des Schlafwagenabteils; draußen ist es bereits dunkel. Anna wacht auf, zieht sich ihren Pullover aus und putzt sich über dem kleinen Waschbecken im Abteil die Zähne. Sie öffnet einen kleinen Wandschrank, in dessen Inneren sich ein Spiegel befindet und schaut hinein. Doch aus dem Spiegel blickt ihr nicht nur ihr eigenes Gesicht entgegen, sondern auch noch jenes von František, der auf dem oberen Bett im Abteil hinter ihr zu liegen scheint. Anna erschrickt, und in diesem Moment fällt das Licht im Abteil für einige Sekunden aus. Als es wieder hell wird, steht Anna immer noch im Büstenhalter vor dem Spiegel, doch nun ist das andere Gesicht aus diesem verschwunden. Anna dreht sich erleichtert um, doch da sitzt František tatsächlich in seinem blau-weiß gestreiften Schlafanzug in der gegenüberliegenden Ecke des oberen Schlafwagenbettes. Erschrocken und wütend richtet Anna die ersten im Film gesprochen Worte an ihn: »Was machen Sie denn hier?« Schüchtern antwortet ihr František »Ich habe eine Reservierung« und streckt ihr diese sofort entgegen. Sie lässt sich dadurch aber nicht beruhigen und wirft ihm wütend vor, sie zu verfolgen. Er streitet dies entsetzt ab und schwört ihr, dass alles nur ein Zufall sei. Bis zu diesem ersten Filmdialog vergehen über acht Minuten. Nun folgt die erste Traumszene des Films, in der der Held sich selbst während einer Elektroschockbehandlung sieht. Zu Beginn wird dem Zuschauer nicht sofort klar, dass es sich bei dieser Szene um eine Traumsequenz handelt (dies gilt übrigens auch für den ersten der zwei späteren Träume). Zunächst sieht man František im Schlafwagenabteil, wo er aus angemessener Distanz die im unteren Bett schlafende Anna beobachtet. Langsam richtet er sich auf und klettert über die Leiter zu seinem eigenen Bett hinauf. Doch darin liegt eine fremde, schlafende Frau mit zwei Yorkshireterriern. František blickt erstaunt, klettert aber weiter zu einem zweiten Bett, in dem er einen dicken, schlafenden Mann findet. Er klettert weiter: im nächsten Bett liegt ein in Lumpen gekleideter Mann, der ihn mit leeren Augen anstarrt, und im Bett darüber sitzt ein dickes Paar vor einem Minifernsehgerät. František landet schließlich auf dem Dach des Zugwaggons. Im Hintergrund ziehen Bäume vorbei und die gesamte Szene ist in ein gelb-grünliches Licht getaucht. Auf dem Zugdach sieht er sich selbst auf ein Krankenbett geschnallt, mit einem Bissschutz aus Gummi im Mund und mit Strom leitenden Kabeln an seinem Kopf. In diesem Moment wird der Strom eingeschaltet und František sieht, wie sich sein Alter Ego vor Schmerzen windet. Entsetzt schüttelt er den am
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Bett Festgebundenen und schreit laut: »Nein, nein!«. Das nächste Bild zeigt eine Großaufnahme von Annas Gesicht, das sich besorgt über den gerade mit Nasenbluten aus dem Schlaf erwachenden František beugt. Auch das Nasenbluten entwickelt sich im Laufe des Films zu einem wesentlichen Merkmal des Helden. Dem Zuschauer wird nun endgültig klar, dass er gerade Zeuge eines Traumes gewesen ist. Die nächste Szene spielt sich nicht mehr im Zug ab. Man sieht František mit seinem Köfferchen in der Hand eine verschneite Straße entlanggehen. Es ist noch sehr früh am Morgen, und als er vor dem gesuchten Haus stehen bleibt, wagt er nicht zu klingeln. Er geht in den Innenhof und wird dort unfreiwillig Zeuge eines Gesprächs zwischen einem jungen Mann und einer jungen Frau, die sich in einem Zimmer im Erdgeschoß des Hauses unterhalten. Vorsichtig späht František durch das Fenster und sieht, dass der Mann im Bett liegt und die Frau sich gerade anzieht. Aus dem Gespräch der beiden erfährt man, dass die Mutter des jungen Mannes bald nach Hause kommt, dass die junge Frau ihr nicht begegnen darf, und dass am nächsten Tag Silvester ist. František geht auf die Straße zurück und setzt sich in das dem Haus gegenüber liegende Bistro »Riga«. Während er dort Tee trinkt, belauscht er wieder ungewollt ein Gespräch zwischen dem Paar, das er gerade im Schlafzimmer beobachtet hat. Nachdem die junge Frau das Haus verlassen hat, sieht sie eine ältere Frau, die ihr auf der Straße entgegenkommt – sie ist wahrscheinlich die Mutter des jungen Mannes –, und die junge Frau versteckt sich vor dieser im selben Bistro, in dem František sitzt. Dort bemerkt sie, dass sie ihre Geldbörse vergessen hat und bittet ihn, der am Nebentisch sitzt, um etwas Kleingeld für ein Telefonat. Kurz nach dem Anruf erscheint der junge Mann mit der Börse. Aus dem folgenden Gespräch zwischen den beiden erfährt man, dass er eine gewisse Anna mit ihr betrogen hat, diesen Seitensprung aber nicht ernst nimmt und die junge Frau offensichtlich nicht liebt. Diese ist durch sein Verhalten aber sehr gekränkt und verlässt überstürzt das Bistro. František hat sofort verstanden, dass die junge Frau tief verletzt ist und aus Mitleid beginnt seine Nase zu bluten. Der junge Mann, der sich später als Emil (Jiří Langmajer) vorstellt, wird dadurch auf František aufmerksam. Nachdem er einige Biere getrunken hat, setzt er sich zu ihm an den Tisch und die beiden kommen ins Gespräch. Ziemlich angetrunken fragt Emil František ganz unvermittelt mit wie vielen Frauen er ein Verhältnis gehabt habe. František zuckt zusammen und antwortet: »Mit keiner. Bis jetzt.« Schließlich stellt Emil sich mit den Worten vor: »Ich bin Emil, ich habe mit Olga geschlafen.« Als Olga (Tatiana Vilhelmová) entpuppt sich im Laufe des Films die junge Frau, die vorhin das Bistro verlassen hat. Die beiden Männer schütteln sich die
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Hände und erst in diesem Moment, nach einer Filmdauer von gut 24 Minuten erfährt der Zuschauer den Namen des Helden, der sich seinem Gegenüber als František vorstellt. Emil horcht auf als er den Namen hört und fragt: »Doch nicht der František, der heute kommen sollte?« Sein Gesprächspartner antwortet vorsichtig: »Ich weiß nicht, kann sein.« Später stellt sich heraus, dass František ein entfernter Verwandter Emils ist und ursprünglich zu dessen Mutter wollte. Die nächste Szene zeigt Emil und František aus der Vogelperspektive beim Überqueren eines Eislaufplatzes, auf dem gerade ein Eishockeyspiel stattfindet. František muss den angetrunkenen Emil stützen. Als er ihm vom Leitspruch seines Arztes erzählt, rutscht Emil aus und beide fallen aufs Eis. Als sie sich wieder aufgerappelt haben, will Emil den Leitspruch noch mal hören, und als František wiederholt: »Es ist sinnlos, dem Leben auszuweichen«, ergänzt Emil: »Und es ist sinnlos, den Frauen auszuweichen«. Daraufhin führt er František in eine Tanzschule, um dort eine Frau für ihn zu finden. Die beiden beobachten den Tanzsaal zunächst von der Empore aus und Emil zeigt František verschiedene Mädchen, die er zum Tanzen auffordern soll. František ist sichtlich nervös und will niemanden ansprechen. Da entdeckt er plötzlich Anna im Saal. Auch Emil starrt erstaunt in Annas Richtung. In diesem Moment tritt der Assistent des Tanzlehrers im schwarzen Anzug und Fliege an die beiden heran und verlangt, dass František jemanden zum Tanzen auffordert. Notgedrungen bittet er ein Mädchen, das mit zwei Freundinnen neben ihm steht um einen Tanz. Doch er lässt dieses Mädchen bald mitten auf der Tanzfläche stehen, um Anna aufzufordern, wobei ihn Emil von der Empore aus verblüfft beobachtet. Anna ist sichtlich erstaunt ihren seltsamen Reisebekannten wieder zu sehen, nimmt seine Aufforderung aber an und fragt ihn, als sie auf der Tanzfläche stehen, im Scherz, ob er sie wieder verfolge. František nimmt ihre Frage ernst und will sich gegen die ungerechten Vorwürfe wehren, doch da holt ihn der Assistent im schwarzen Anzug von der Tanzfläche und führt ihn zu seinem Chef. Anna folgt den beiden unauffällig und belauscht, wie der Leiter der Tanzschule František vorwirft, die Damen im Saal mit unsittlichen Anträgen belästigt zu haben. Auf die Rechtfertigungsversuche des Beschuldigten geht er überhaupt nicht ein und lässt ihn schließlich vor aller Augen von seinem Assistenten aus dem Saal werfen. František wartet bis die Tanzveranstaltung zu Ende ist, um das Mädchen, mit dem er getanzt hat, zur Rede zu stellen, denn er glaubt, dass sie ihn beim Tanzlehrer verleumdet hat. Er folgt ihr durch die dunklen, menschenleeren Straßen des Städtchens und bittet sie stehen zu bleiben, doch das Mädchen erschrickt und läuft vor ihm davon. František bleibt zurück
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und angesichts der ungerechten Behandlung, die ihm widerfahren ist, beginnt erneut seine Nase zu bluten. Da es in der Zwischenzeit Nacht geworden ist, wird dem Zuschauer klar, dass František den gesamten Tag mit Emil verbracht hat. Nun sieht man ihn wieder mit seinem Köfferchen auf eine Bushaltestelle zugehen, an der bereits Emil und Anna stehen und sich unterhalten. Die beiden bemerken František nicht, doch er kann sie hören und als Emil vorwurfsvoll zu Anna sagt: »Jetzt tanzt du schon mit jedem Idioten«, bleibt František abrupt stehen und entfernt sich wieder von der Haltestelle. Aus dem folgenden Gespräch zwischen Anna und Emil geht hervor, dass die beiden seit kurzer Zeit ein Paar sind, sich aber – da Anna verreist war – über einen Monat nicht gesehen haben. Anna antwortet Emil sehr einsilbig, und er versteht ihre Zurückhaltung nicht. Nur František und die Zuschauer kennen den Grund, denn sie wissen bereits, dass die beiden einander betrogen haben. Als Emil in den Bus einsteigt, lädt er Anna im Namen seiner Mutter für den nächsten Tag zum Mittagessen ein. Sie wirkt überrascht, aber plötzlich auch wieder interessiert und bleibt ihm eine Antwort schuldig. Der Beginn der nächsten Szene zeigt Anna auf dem Heimweg. Vor ihrem Haus findet sie František, der mit seinem Koffer als Kissen auf einer Parkbank sitzt und schläft. Die Kälte scheint ihm nichts auszumachen. Anna lächelt und geht weiter. Die Kamera bleibt bei František und zeigt, wie er plötzlich durch das Klingeln eines Telefons aus dem Schlaf gerissen wird. Unweit von seiner Parkbank befindet sich eine öffentliche Telefonzelle. František nimmt den Hörer ab und meldet sich. Anna bietet František an, bei ihr zu übernachten. Er nimmt das Angebot an und legt sich in ihrem Schlafzimmer auf eine mit einem schreiend bunten Blumenmuster verzierte Luftmatratze zum Schlafen hin. Es folgt die zweite Traumszene, die sich für den Zuschauer wieder erst im Nachhinein als solche herausstellt. Zuerst sieht es so aus, als ob František, wie sein Alter Ego im ersten Traum, im Schlaf plötzlich von heftigen Zuckungen geschüttelt würde. Anna versucht ihn festzuhalten und ruft einer anderen Person zu, ihm etwas zwischen die Zähne zu stopfen. Da beugt sich plötzlich Olga über František und schiebt ihm ein zusammengerolltes Handtuch als Bissschutz in den Mund. In diesem Moment wacht František Schweiß gebadet auf und erkennt, dass er nur geträumt hat. Doch er kann nicht mehr einschlafen und steht auf, um ein Glas Wasser zu trinken. Auf seinem Weg in die Küche entdeckt er im Nebenzimmer tatsächlich die schlafende Olga, die – wie sich im Laufe der folgenden Szenen herausstellt – Annas Schwester ist. Erst am nächsten Morgen erfahren Olga und ihre Mutter (Jitka Smutná), dass František in ihrer Wohnung übernachtet hat. Zunächst unterhal-
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ten sich die beiden mit Anna am Frühstückstisch und Anna erzählt, dass Emils Mutter sie heute zum Essen eingeladen hat. Olga ist betroffen, weil sie annimmt, dass es sich dabei um ein Verlobungsessen handelt. Da steht plötzlich František in seinem gestreiften Schlafanzug in der Tür, wünscht guten Morgen und fragt schüchtern nach dem Badezimmer. Die Mutter erschrickt über den Gast und nachdem Anna František das Bad gezeigt hat, stellt sie ihre ältere Tochter mit Olgas tatkräftiger Unterstützung zur Rede. Anna erklärt wie sie František kennen gelernt hat, doch Mutter und Schwester bleiben skeptisch. Vor allem Olga scheint durch Františeks Erscheinen insgeheim darauf zu hoffen, dass Anna die Beziehung zu Emil doch nicht so ernst nehmen könnte. Ihre Hoffnungen werden jedoch jäh zerstört, als es plötzlich klingelt und Emil mit Blumen für Anna vor der Tür steht. Anna ist gerührt, sie bittet Emil in die Wohnung. Da tritt Olga in den Hausflur, in dem Emil gerade Anna küsst, und knipst demonstrativ das Licht an. Anna ist verlegen und geht ins Nebenzimmer, um eine Vase für die Blumen zu holen. Olga wendet sich verletzt von Emil ab und geht in die Küche zurück. Emil, der allein im Flur zurückbleibt, öffnet die Badezimmertür und bleibt wie angewurzelt stehen als er dort František im Pyjama und mit eingeseiftem Gesicht vorfindet. In der folgenden Szene werden Františeks Wissen um und seine Verschwiegenheit über die Beziehungsgeheimnisse aller anderen Personen das erste Mal auf die Probe gestellt. Olgas und Annas Mutter, die keine Ahnung davon hat, dass sie in der Person Emils den Liebhaber ihrer beider Töchter bewirtet, versammelt alle Anwesenden um den Kaffeetisch im Wohnzimmer und plaudert ungezwungen drauflos. Als die ahnungslose Mutter František nach seinem ersten Eindruck von Emil und Olga fragt, da sie ja annimmt, dass er die beiden zum ersten Mal sieht, droht das Geheimnis um deren gemeinsam verbrachte Nacht gelüftet zu werden. Doch František rettet die Situation, indem er geistesgegenwärtig behauptet Olga nicht zu kennen. Bald darauf löst sich die Gesellschaft auf. Die Mutter muss zur Arbeit und Anna und Emil wollen spazieren gehen. Beim Hinausgehen lädt Emil noch František zum Mittagessen ein, da seine Mutter sich schon Gedanken über den Verbleib des entfernten Verwandten gemacht habe. Anna ruft aus dem Flur zurück, dass František Olga zum Essen mitbringen solle, worüber sich wiederum Emil gar nicht erfreut zeigt. Als die beiden weg sind, beginnt Olga leise zu weinen, und ihr leidendes Gesicht verrät, wie sehr sie Emils Gleichgültigkeit kränkt. Doch außer František bemerkt dies niemand, und wieder blutet seine Nase. Olga sieht dies und schiebt ihm einen Teller mit Eis in den Nacken. František erinnert sich in diesem Moment an seinen Traum, in dem sich Olga ebenfalls über ihn
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gebeugt hatte, und er lächelt. Olga deutet dieses Lächeln aber falsch und glaubt, dass František sich an das Gespräch zwischen ihr und Emil im Bistro erinnere. Das macht sie wütend und sie beleidigt František, indem sie sich sarkastisch für seine Verschwiegenheit bedankt und anklingen lässt, dass er – obwohl er in Liebesdingen unerfahren ist – schnell geschaltet habe. Sie weiß von Františeks Unerfahrenheit in sexuellen Dingen durch eine indiskrete Bemerkung Emils. František ist tief gekränkt und versucht Olga zu erklären, dass sie sich geirrt habe. Diese bereut ihre unbedachte Äußerung zwar, doch missversteht sie František erneut. Sie glaubt, dass er von ihrer Beziehung zu Emil spricht und meint verärgert: »Ich irre mich oft und gerate oft an Idioten. Ich bin selbst eine Idiotin. Nur darin irre ich mich nicht.« Als František nun die Wohnung verlässt, läuft Olga ihm nach und beschließt kurzerhand, ihm bei der Suche nach einer Unterkunft zu helfen. In der Zwischenzeit besuchen Emil und Anna ein Kino, wo sie sich die Komödie Lidé na kře (Menschen auf der Eisscholle) aus dem Jahr 1937 ansehen. Der Film scheint die beiden nicht besonders zu interessieren, Anna schaut gelangweilt auf die Leinwand und Emil schielt immer wieder verstohlen in Annas Richtung. Schließlich verlässt Anna den Kinosaal, um im Foyer eine Zigarette zu rauchen. Emil bleibt allein zurück und sieht sich ganz fasziniert an, wie der Arzt Řipa der Filmheldin Pavla einen Heiratsantrag macht und ihr einen Brillantring schenkt, der sie vor Glück strahlen lässt. Im Foyer wählt inzwischen Anna eine Nummer an einem Münztelefon, doch als sich eine Frauenstimme mit dem Namen Marta meldet, hängt sie schnell wieder auf. In der nächsten Szene befinden sich Emil und Anna in einem Restaurant und trinken ein Glas Wein. Emil versucht die Verlobungsszene aus dem Film zu imitieren, indem er Anna ebenfalls einen Ring schenkt, doch sie reagiert ganz anders als die Heldin in Lidé na kře. Anna legt den Ring, den sie kurz anprobiert, wieder in die kleine Schachtel und schiebt diese zu Emil zurück, der sie verständnislos anstarrt. Olga und František haben in der Zwischenzeit eine Unterkunft gefunden. Man sieht sie in einem Saal, der mit mehreren Stockbetten voll gestellt ist und an eine Jugendherberge erinnert. Vom Fenster aus blicken die beiden auf einen von vielen Menschen bevölkerten Eislaufplatz. Das nächste Bild zeigt sie auf der Tribüne dieses Eislaufplatzes nebeneinander sitzen, und František erzählt Olga von dem Traum, in dem sie ihm während eines Anfalls ein Handtuch in den Mund gestopft hat. Während sich die beiden unterhalten, nähert sich ihnen die Kamera ganz unauffällig, sodass sich die anfängliche halbnahe Einstellung, bei der František und Olga in ihrer gesamten Körpergröße auf der Tribüne zu sehen sind,
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allmählich in eine Amerikanische Einstellung, bei der die beiden ungefähr bis zu den Knien gezeigt werden, verwandelt. Die folgende Szene spielt bereits beim Mittagessen in der Wohnung von Emils Mutter (Zdena Hadrbolcová). Diese stellt eine Suppenterrine auf einen festlich gedeckten Tisch, an dem bereits Anna und Emil sitzen, und erzählt den beiden, dass František sein bisheriges Leben in einer Nervenheilanstalt verbracht habe. Im Laufe der Jahre hatte sie ihn schon ganz vergessen, als plötzlich vor einigen Tagen ein Brief ankam, in dem er ihr seinen Besuch ankündigte. Da klingelt es plötzlich an der Tür und Anna, die wie alle anderen annimmt, dass František und Olga gekommen sind, steht auf, um zu öffnen. Doch vor der Tür steht überraschenderweise jener junge Mann, von dem sich Anna zu Beginn des Films am Bahnhof verabschiedet hatte. Er ist sichtlich überrascht sie zu sehen, und es stellt sich heraus, dass dieser junge Mann Emils Bruder Robert (Jiří Macháček) ist. In der nächsten Szene wird das Verwirrspiel um die offenen und geheimen Beziehungen der beiden Brüder und der beiden Schwestern auf die Spitze getrieben. Und František, der als einziger genau über die Verhältnisse aller Anwesenden Bescheid weiß, muss erneut sein Fingerspitzengefühl unter Beweis stellen. Um den festlichen Mittagstisch haben sich in der Zwischenzeit sechs Personen versammelt. Neben Anna, Emil, Robert und deren Mutter sind nun auch Olga und František eingetroffen. Emils und Roberts Mutter erkundigt sich nun nach Roberts Frau Marta und beklagt sich über die seltenen Besuche des Sohnes. Anna leidet sichtlich unter dem Gespräch über Roberts »legitime« Beziehung und der Zuschauer versteht nun, da der Name Marta gefallen ist, dass sie vom Foyer des Kinos aus bei Robert angerufen und sich dessen Frau gemeldet hat. František, der sehr nervös und angespannt wirkt, leidet mit allen Anwesenden mit. Er ist sichtlich froh, wenn sich die Mutter der beiden Brüder mit ihren indiskreten, manchmal sogar verletzenden Fragen über die Nervenheilanstalt an ihn wendet, da dadurch allen anderen eine Verschnaufpause gegönnt wird. Doch er kann kaum verhindern, dass die Mutter zielsicher von einem Fettnäpfchen ins nächste tritt. Schließlich begeht Emil einen folgenschweren Fehler. Als seine Mutter feststellt, dass Olga und František wie ein Paar aussehen, fügt er, der noch am Vortag mit Olga geschlafen hat, hinzu, dass man sich keine Sorgen um František machen müsse, weil er sich offensichtlich gut mit Olga amüsiere. Diese Bemerkung kränkt Olga so sehr, dass sie aufsteht und die Gesellschaft völlig unerwartet verlässt. Bis auf František, der ihr nachläuft, bleiben alle anderen verblüfft am Tisch zurück. Auf der Straße wirft Olga František, der sie bittet zurückzukommen, wütend vor, sich für alles und jeden zu entschuldigen. Da sieht sie wie
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Anna das Haus verlässt und beschließt, ihrer Schwester die Wahrheit zu sagen. František fleht sie an dies nicht zu tun, da sie damit Anna verletzen würde, doch Olga ist fest entschlossen und lässt den wieder aus der Nase blutenden František allein auf der Straße stehen. Anna und Olga setzen sich gemeinsam ins Bistro »Riga«, und Olga beichtet ihrer Schwester den Seitensprung mit deren Freund. Sie hat ein schlechtes Gewissen und verspricht ihrer Schwester, alles zu tun, was diese verlangt. Als František das Bistro betritt und auf die beiden Frauen zugeht, fragt Anna ihn ohne Umschweife, ob er glaube, dass Emil Olga liebe. František schüttelt daraufhin nur stumm den Kopf. Kurz darauf kehrt František in die Wohnung seiner Verwandten zurück. Emil stürzt sich sofort auf ihn und will von ihm wissen, ob Anna beleidigt sei. František gibt ihm keine Antwort, da Emils Mutter eingreift und Robert und František drängt ihre Weihnachtsgeschenke auszupacken. Doch Emil gibt noch nicht auf und fragt schließlich ganz unerwartet seinen Bruder: »Glaubst du auch, dass sie mich nicht liebt?« Robert zuckt zusammen, denn schließlich hat er ein Verhältnis mit Anna und kennt die Antwort auf diese Frage genau. Doch er muss nicht antworten, da Emil sich sofort an František wendet und nun diesen ganz direkt fragt, ob er Anna heiraten soll. Stumm und verlegen schüttelt František den Kopf. Am selben Abend treffen sich die beiden Geschwisterpaare und František beim Silvesterball der örtlichen Tanzschule wieder. Der Ballsaal ist derselbe, aus dem František am Vorabend hinausgeworfen wurde. Als Anna eintrifft fordert sie František, der ihr vor den anderen beim Eingang allein begegnet, zum Tanzen auf und man sieht die beiden kurz darauf mit bunten Papierhütchen auf dem Kopf beim Vogeltanz. Emil und Robert beobachten sie dabei von der Empore aus. Da bittet Emil seinen Bruder plötzlich mit Anna zu sprechen und herauszufinden, warum sie sich ihm gegenüber so abweisend benimmt. Robert wehrt ab, doch Emil lässt nicht locker. Er fleht seinen Bruder an, mit Anna zu tanzen und dabei mit ihr zu reden. Kurz darauf setzt sich auch Olga an den Tisch der beiden Brüder und als sich auch Anna mit František zu ihnen gesellt, fordert Robert sie zum Tanzen auf. Doch Anna, die nun ebenfalls die Geheimnisse aller Personen am Tisch kennt, spielt ein gemeines Spiel. Sie entgegnet Robert, dass sie nur mit ihm tanze, wenn Emil dafür Olga auffordere. Doch Emil will nicht tanzen und wehrt sich, was wiederum Olga beleidigt. Anna besteht auf ihrem Wunsch, doch Emil benimmt sich Olga gegenüber so rüpelhaft, dass sich nun diese weigert mit ihm zu tanzen. Schließlich spricht František, dem angesichts der offenkundigen Spannungen am Tisch schon
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wieder die Nase blutet, ein »Machtwort« und fleht die vier förmlich an, endlich tanzen zu gehen. Auf der Tanzfläche kommt es nun zum großen Show-down. Im Gespräch mit Robert muss Anna plötzlich feststellen, dass er sie genauso wenig liebt wie Emil Olga. Denn Robert bittet sie inständig, Emil nichts von ihrer Affäre zu erzählen und will auch nicht, dass sie mit seinem Bruder Schluss macht. Tief gekränkt lässt Anna Robert auf der Tanzfläche stehen, geht zu dem mit Olga tanzenden Emil und fragt ihn rundheraus, ob er Olga liebe. Emil ist vollkommen verblüfft und verneint die Frage, da setzt Anna nach: »Warum schläfst du dann mit ihr?« Olga ist dieser Eklat so peinlich, dass sie sich einfach umdreht und wegläuft. Anna sagt Emil, dass es zwischen ihnen aus ist und läuft ebenfalls davon. Entsetzt fragt Emil nun Robert, was er zu Anna gesagt habe, doch dieser ist zu feige, um die Wahrheit zu gestehen. Da fällt Emils Blick auf den von der Empore hinab sehenden František und er glaubt, dass dieser Anna von seinem Verhältnis mit Olga erzählt habe. Mit Wut verzerrtem Gesicht presst Emil die Worte »Dieser Idiot!« hervor. František ahnt nichts von Emils Zorn. Die nächste Szene zeigt ihn auf dem Eislaufplatz, der sich gleich vor der Tanzschule befindet. Der Platz ist voller Menschen, die das Neue Jahr feiern und auf das Feuerwerk warten. František setzt sich alleine auf die Tribüne. Da nähern sich die Mädchen, die ihn am Vorabend aus der Tanzschule werfen ließen, entschuldigen sich bei ihm für die Verleumdung beim Tanzlehrer und wünschen ihm fröhlich ein gutes Neues Jahr. Olga hat den Tanzsaal ebenfalls verlassen und begegnet František nun auf dem Eislaufplatz. Dort sehen sie sich gemeinsam das Feuerwerk an und wirken dabei wie ein glückliches Paar (Abb. 3). Doch da packt plötzlich Emil František am Kragen und stößt ihn vor sich her durch die ganze Menschenmenge bis zu einem Schuppen, hinter dem er ihn ohrfeigt und verprügeln will. Aber Olga verhindert dies, indem sie Emils Arm festhält und ihm zuruft, dass sie Anna die Wahrheit gesagt habe. Der von Emils Wutausbruch und der Ohrfeige völlig schockierte František liegt am Boden und starrt in den vom Silvesterfeuerwerk erhellten Himmel (Abb. 4). Olga begleitet František in seine Unterkunft, setzt sich an sein Bett und betrachtet den Schlafenden nachdenklich. Da erfolgt ein Schnitt und man sieht František, wie im Traum am Beginn des Films, auf dem Dach des fahrenden Zuges stehend, seinem an ein Krankenbett geschnürten Alter Ego gegenüber. Diesmal bricht der Traum jedoch vor dem Elektroschock ab und es folgt eine Großaufnahme von der noch immer am Bettrand sitzenden Olga. Sie legt sich schließlich František gegenüber in eines der anderen freien Betten. Als sie aufwacht, ist František verschwunden. Olga sucht ihn in der ganzen Stadt und findet ihn schließlich
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am Bahnhof, wo er in einem gerade davonfahrenden Zug sitzt. Aber František sieht Olga noch rechtzeitig und steigt wieder aus. Die letzte Einstellung des Films zeigt František wie er mit seinem Köfferchen in der Hand auf die am anderen Ende der Bahnhofshalle wartende Olga zugeht. Er nimmt den Kampf mit dem Leben, dem man laut seines Arztes nicht ausweichen kann, wieder auf. Abbildung 3: Olga und František stoßen auf das Neue Jahr an
Quelle: Saša Gedeon: Návrat idiota, Tschechische Republik: Negativ, Česká televize 1999, Bontonfilm 2007. Abbildung 4: Nach Emils Angriff liegt František schockiert im Schnee
Quelle: Saša Gedeon: Návrat idiota, Tschechische Republik: Negativ, Česká televize 1999, Bontonfilm 2007.
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2 . 4 W i m We n d e r s’ F i l m T h e M i ll i o n D o l l a r Hotel (2000) Für Filme von Wim Wenders ist es schon beinah typisch, dass sich an ihrem Anfang Luftaufnahmen befinden, die einen bestimmten Ort in Vogelperspektive zeigen. Während etwa in Paris, Texas (1984) die Wüste aus der Sicht des sie überfliegenden Raubvogels gezeigt wird und in Der Himmel über Berlin (1987) die Häuserblocks aus der Sicht der Engel aufgenommen sind, sieht man auf den ersten Bildern von The Million Dollar Hotel die während eines Hubschrauberfluges gefilmte Skyline von Downtown Los Angeles. Begleitet wird dieser »Tanz der Skyscraper«29 vom U2-Song The First Time und plötzlich taucht aus dem Häusermeer eine alte, verrostete Leuchtreklame auf, die aus den Worten besteht: »The Million Dollar Hotel. Fire proof. Rooms. Popular prices«. Da es gerade tagt, werden die Glühbirnen der Leuchtreklame in dem Moment, in dem sie ins Bild kommt, abgeschaltet. Auf dem Gebäude, auf dem sich diese Leuchtreklame befindet, steht ein schmächtiger junger Mann mit einer lustigen Igelfrisur, der sich später als der Held des Filmes namens Tom Tom (Jeremy Davies) entpuppt. Zunächst geht der junge Mann langsam und gefasst auf das Dachgeländer zu, blickt konzentriert auf einen Punkt in der Ferne, nimmt dann plötzlich Anlauf, überquert die gesamte Dachfläche mit in Zeitlupe gedrehten Laufschritten und stürzt sich schließlich mit weit ausgebreiteten Armen in die Tiefe. Nach dem Sprung teilt die Off-Stimme des jungen Mannes – während die Kamera die Außenfront des Gebäudes hinunterfährt – dem Zuschauer mit, dass sein Leben eigentlich erst richtig begonnen hat, als er vor ungefähr zwei Wochen seinen besten Freund Izzy verloren und seine große Liebe Eloise gefunden hat. Der folgende Schnitt, der kurz vor dem Aufprall des Helden auf dem Asphalt erfolgt, leitet eine Rückblende ein, die den eben vom Dach Gesprungenen noch ganz lebendig zeigt als er der im Stillen so angebeteten Eloise (Milla Jovovich) in die Lobby des »Million Dollar Hotels« folgt. Dort wohnt unser Held Tom Tom, ein herzensguter, naiver, ganz Kind gebliebener junger Mann, bis zu seinem Selbstmord, gemeinsam mit vielen anderen gestrandeten Existenzen, denen das Hotel als letzter Zufluchtsort vor dem Leben als Obdachlose auf den Straßen von L.A. dient. Diese »Außenseiter des amerikanischen Traums«30 werden nun jäh durch das Eintreffen eines Spezialagenten aus Washington aufgeschreckt. Spe29 Guntram Vogt: »Nach dem Kino. The Million Dollar Hotel«, in: Volker Behrens (Hg.), Man of Plenty – Wim Wenders, Marburg: Schüren 2005, S. 89. 30 Vgl. Wim Wenders in D. J. DeJoseph: The One Dollar Diary. 49
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cial Agent Detective J. D. Skinner (Mel Gibson) vom FBI, der die Lobby einige Minuten nach Tom Tom und Eloise betritt, soll den angeblichen Mord an Izzy aufklären, der einige Tage vorher vom Dach des Hotels gestürzt ist. Die Bewohner des Hotels sind irritiert, denn zum einen glaubt jeder, dass sich der drogensüchtige Izzy (Tim Roth) selbst umgebracht hat, und zum anderen erfahren sie, dass der heruntergekommene, dichtende Junkie in Wahrheit der Sohn des reichen Medienmoguls Stanley Goldkiss gewesen ist. Skinner beginnt seine Untersuchungen indem er die skurrilen Hotelbewohner aus der näheren Umgebung Izzys verhört. Tom Tom, der Izzys bester Freund gewesen ist, und den Skinner schon bei ihrem ersten Zusammentreffen in der Hotellobby als Idioten abqualifiziert, begleitet den Spezialagenten zu den anderen Hotelbewohnern, denn er ist von Anfang an vom eigentümlichen FBI-Mann fasziniert. Skinner kann seinen Hals kaum bewegen, da sein Kopf auf einem Stützkorsett aus Metall aufliegt, und obwohl er teure Designeranzüge trägt, erkennt Tom Tom instinktiv, dass er »einer von ihnen« ist. Tatsächlich war Skinner einst die Attraktion einer Kuriositätenshow, da er mit einer schlimmen körperlichen Deformierung auf die Welt gekommen war. Aus seinem Rücken wuchs ihm ursprünglich ein dritter Arm, den er später operativ entfernen ließ. Im Hotel muss Skinner nun bald feststellen, dass er von den Bewohnern keine brauchbaren Informationen erhalten wird: Izzys Zimmerkollege Geronimo (Jimmy Smits), der sich für einen Navajo-Häuptling hält und Bilder mit flüssigem Teer malt, zeigt sich nicht im Geringsten beeindruckt von den Fragen des Spezialagenten, und Dixie (Peter Stormare), der sich für den verkannten fünften Beatle hält, mit Liverpooler Akzent spricht und sein Hotelzimmer seit John Lennons Ermordung nicht mehr verlassen hat, hört Skinner gar nicht zu und faselt nur von den Beatles. Die allgemeine Aufregung, die Skinners Verhöre und die plötzlichen Gerüchte um einen Mord mit sich bringen, erfasst auch Tom Tom und lässt den schüchternen Helden über sich hinauswachsen. Er nimmt all seinen Mut zusammen und spricht Eloise in einem der Hotelgänge an. Eloise, die wie eine Schlafwandlerin wirkt, reagiert aber kaum auf Tom Toms Worte. Sie lebt so sehr in ihrer eigenen Welt, die sie sich aus Büchern zusammenträumt, dass sie sich selbst für eine fiktive Figur aus einem Roman hält. Nachts schleicht sie barfuß und schutzlos durch die Straßen der Stadt und wird dabei von Obdachlosen und Junkies wie Izzy vergewaltigt. Am ersten Abend nach seiner Ankunft im Hotel trifft sich Skinner mit Izzys Vater. Stanley Goldkiss (Harris Yulin) ist felsenfest davon
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überzeugt, dass sein Sohn umgebracht wurde, und er fordert von Skinner äußerste Diskretion bei der Aufklärung des Verbrechens, da seine Konkurrenten von anderen Fernsehsendern nur auf einen derartigen Skandal gewartet hätten, um ihn – Goldkiss – zu ruinieren. Doch schon am nächsten Morgen stehen die Fahrzeuge von Goldkiss’ größtem Konkurrenzsender »channel 6« vor der Tür des Hotels und die Fernsehreporterin Jean Swift (Charlayne Woodard) interviewt Geronimo. Sie ist angesichts der verrückten Gästeschar des Hotels sichtlich irritiert und wohl auch unkonzentriert, denn als das Interview am selben Abend ausgestrahlt wird, stellt sich heraus, dass Jean Swift ein folgenschwerer Fehler unterlaufen ist. Sie erklärt, dass Geronimos Teerbilder von Izzy gemalt wurden. Dies macht den verkannten Künstler so wütend, dass er auf dem Hoteldach frustriert seinen Ärger in die Welt hinausschreit. Und als Tom Tom, der Geronimo aufs Dach begleitet hat, treuherzig bemerkt, dass er dessen Ärger nicht verstehe, wo Izzy doch tot sei, während er – Geronimo – im Fernsehen gewesen wäre, wirft der wütende Maler ihn dafür beinah vom Dach. Auch Skinners Nerven liegen an diesem Abend blank, denn er kommt mit seinen Ermittlungen keinen Schritt voran. Als sein Assistent Best (Donal Lague) meint, dass die Hotelbewohner mehr Angst um ihre Toiletten hätten als vor Skinner, fasst dieser einen verrückten Plan. Er öffnet ein Dichtungsventil im Heizungskeller, wodurch die alten Wasserleitungen platzen und das Hotel überflutet wird. Der daraufhin ausgelöste Feueralarm treibt die verstörten Hotelgäste mitten in der Nacht in die Lobby, wo Skinner schon auf sie wartet. Im Schneidersitz auf einem Betonsockel sitzend droht er ihnen, das Hotel zu vernichten, wenn sie weiterhin die Zusammenarbeit mit ihm verweigern. Während die anderen Hotelgäste Skinner wütende Flüche entgegenschleudern, sieht Tom Tom seinen großen Helden geradezu verzückt an. Doch dies ändert sich schlagartig als plötzlich Eloise die Lobby betritt und Skinner versucht sie aufzuhalten. Als Skinner Eloise an der Schulter festhält, stürzt sich Tom Tom mit einem lauten Aufschrei auf ihn. Skinner schüttelt ihn ab und wirft Eloise und Tom Tom nebeneinander auf den Boden, womit er dem verliebten Helden – wie dessen Off-Stimme uns mitteilt – den besten Moment seines Lebens beschert. Am nächsten Tag treffen sich einige der Hotelgäste im Billardzimmer, um einen gewagten Plan zu besprechen, den Geronimo, der einen alten Schuldschein von Izzy besitzt, ausgeheckt hat. Da nach Jean Swifts Fernsehreportage alle Welt glaubt, dass Izzy die Teerbilder gemalt hat, will Geronimo aus seinem Schuldschein Kapital schlagen, die Bilder des so tragisch verstorbenen, »verkannten« Künstlers verkaufen und das Geld mit seinen Freunden im Hotel teilen, wenn diese im Gegenzug da-
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für seinen Schwindel unterstützen. Nach wütenden Schreiduellen und Streitigkeiten, die vor allem von der drogensüchtigen Prostituierten Vivien (Amanda Plummer), die sich für Izzys Verlobte hält, angezettelt werden, kommt es schließlich zu einer Einigung und alle Anwesenden – sogar die schweigsame Eloise – stimmen Geronimos Plan zu. Schon am nächsten Morgen taucht die Fernsehgesellschaft um Jean Swift wieder im Hotel auf, und die Verschwörer beginnen mit ihrem Betrug, indem sie vor laufender Kamera Lobeshymnen auf den ach so talentierten Maler Izzy singen. Doch die meisten von ihnen sind keine besonders guten Lügner und so wirken ihre Geschichten unecht, gekünstelt und manchmal sogar fehlerhaft. Jean Swift wird allmählich misstrauisch, und der Plan droht schon zu scheitern, als plötzlich Eloise den Raum betritt und sich mit gefalteten Händen vor eines der Teerbilder kniet. Sie lügt als einzige perfekt und vermittelt der Fernsehreporterin glaubhaft, dass die Bilder für sie heilig seien. Tom Tom, der den ganzen Fernsehauftritt seiner Freunde mit verschmitztem Lächeln durch ein rotes Kinderfernglas beobachtet, ist von Eloises’ Vorstellung so begeistert, dass er ihr heimlich eine rote Blume zusteckt. Dies sieht jedoch Skinner, und er beschließt nun Eloise auf Tom Tom anzusetzen, um so Informationen über Izzys Tod zu erhalten. Wegen der Überflutung des Hotels und des Pressewirbels um die Bilder ist Skinner bei Stanley Goldkiss in Ungnade gefallen, und er will seinem Auftraggeber nun so schnell wie möglich Material liefern. Er verspricht Tom Tom, Eloise in sein Zimmer zu schicken, wenn er ihn dafür zu Izzys Mörder führt und überredet schließlich auch Eloise dazu, Tom Tom auszufragen. Doch Skinners Plan scheitert kläglich, da sich die beiden, die den gesamten nächsten Tag gemeinsam auf Tom Toms Zimmer verbringen, tatsächlich ineinander verlieben. Zuerst benehmen sie sich noch wie kleine Kinder, balgen herum und schneiden sich gegenseitig Grimassen. Doch als Eloise Tom Tom fragt, warum er sie eigentlich so sehr mag, gibt dieser ihr eine erstaunliche Antwort. Er denkt kurz nach und trägt ihr dann ein Gedicht vor, das sein Freund Izzy geschrieben hat: »Love can never be portrayed, the same way as a tree, or the sea, or any other mystery. It’s the eyes with which we see.
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It’s the sinner in the Saint. It’s the light inside the paint.«31
Dieses Gedicht wird zur Initialzündung für Eloise. Für einige Sekunden schaut sie merkwürdig berührt ins Leere, dann seufzt sie leise und lässt dabei den Kopf in den Nacken sinken.32 Von diesem Moment an verändert sich ihr Verhalten gegenüber Tom Tom. Sie vertraut ihm ihre Gedanken an, lässt sich von ihm berühren und warnt ihn schließlich vor Skinner. Die beiden wissen jedoch nicht, dass Skinner alle Zimmer im Hotel verwanzt hat und ihr Gespräch belauscht. In der Zwischenzeit haben sich die anderen Hotelbewohner im Billardzimmer versammelt, um dem affektierten Londoner Kunsthändler Terence Scopey (Julian Sands) Geronimos Teerbilder zu zeigen. Nach einer aufgeblasenen Rede über moderne Kunst und den Kunstbetrieb, teilt Scopey den Freunden schließlich mit, dass er die Bilder verkaufen kann, woraufhin die ansonsten so glücklosen Hotelbewohner in lauten Jubel ausbrechen. Am nächsten Morgen wacht Eloise – zu ihrer eigenen Überraschung – in Tom Toms Zimmer auf. Verstört blickt sie, als er ihr das Frühstück ans Bett bringt, in sein treuherziges, freudestrahlendes Gesicht. Die Gefühle, die sie für Tom Tom hegt, jagen Eloise offensichtlich Angst ein und sie verlässt das Zimmer fluchtartig. Für Tom Tom hat sich in dieser Nacht aber alles verändert, die Liebe zu Eloise stärkt augenscheinlich sein Selbstwertgefühl. Denn als er Dixie, Vivien, Eloises Großmutter Jessica (Gloria Stuart) und die anderen im Billardzimmer zu einer weiteren Lagebesprechung trifft, besteht er plötzlich darauf, dass man ihn nicht mehr Tom Tom, sondern – so wie Eloise dies tut – schlicht Tom nennt. Mit einem Strauß Narzissen in der Hand will er nach dem Treffen zu Eloise gehen. Doch da fängt ihn Skinner in einem der Hotelgänge ab und zwingt ihn zu einem Restaurantbesuch. Tom Tom folgt dem Spezialagenten widerwillig. Im Restaurant versucht Skinner nun sein Gegenüber auszuhorchen. Er glaubt, dass Tom Tom ihm dankbar sein müsse, weil er Eloise zu ihm geschickt habe, aber 31 Nicholas Klein: »Love Poem«, in: Donata Wenders/Wim Wenders (Hg.), The Heart is a Sleeping Beauty. The Million Dollar Hotel – Filmbuch. Mit einem Vorwort von Bono, München: Schirmer & Mosel 2000, S. 87. 32 Tom Toms Off-Stimme erwähnt, dass Izzy ihm das Gedicht beigebracht hat. Guntram Vogt gibt im Hinblick auf Eloises betroffene Reaktion auf das Gedicht zu bedenken, dass sie die Zeilen eventuell als Izzy-Zitat erkannt haben könnte. Ich halte das für nicht sehr wahrscheinlich, da ihr folgender liebevoller Umgang mit Tom Tom kaum mit der Erinnerung an ihren Vergewaltiger vereinbar wäre. (Vgl. G. Vogt: »Nach dem Kino«, S. 98f.) 53
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Tom Tom stellt sich dumm und benimmt sich so auffällig und albern, dass ihn die anderen Gäste im Restaurant misstrauisch beäugen. Als Skinner bemerkt, dass Tom Tom sich über ihn lustig macht, geht er zum Angriff über und droht Eloise festzunehmen. Nun wird Tom Tom mit einem Schlag ernst und behauptet, dass er Izzy umgebracht habe. Als Skinner ihm nicht glauben will, springt er ihn wütend an und die beiden raufen im Restaurant. Schließlich nötigt Skinner dem wehrlos mit zusammengepressten Augen am Boden liegenden Tom Tom auf brutale Weise einen Namen ab: Wenn er die Augen weiterhin geschlossen hält, droht Skinner Eloise zu verhaften, wenn er das rechte Auge öffnet wird Geronimo festgenommen und wenn er das linke Auge zuerst öffnet sperrt Skinner Dixie ein. Als Tom Tom mit dem rechten Auge blinzelt, springt Skinner sofort auf und lässt Geronimo tatsächlich noch am selben Abend verhaften. Tom Tom ist verzweifelt; er hält sich für einen Verräter und glaubt, die einzige Chance seiner Freunde auf etwas Glück im Leben zerstört zu haben, da ja Geronimo der offizielle Erbe von Izzys Bildern ist. Am nächsten Tag treffen sich auch tatsächlich die geschockten und frustrierten Freunde Dixie, Shorty, Stix, Vivien und Jesus bei Jessica, um einen Ausweg aus ihrer aussichtslosen Lage zu finden. Wenn Geronimo tatsächlich für den Mord an Izzy verurteilt wird, verliert er den Anspruch auf die Bilder und sie alle würden dann – trotz ihrer Bemühungen – leer ausgehen. Während des Gesprächs kommt plötzlich die Idee auf, dass man eigentlich nur einen Sündenbock finden müsste, der Geronimo entlastet, indem er den Mord an Izzy gesteht. Als Dixie daraufhin bemerkt, dass das schon jemand sein müsste, der so dumm ist wie Tom Tom, hellen sich die Gesichter der anderen schlagartig auf. Als Eloise, die ebenfalls anwesend ist, dies bemerkt schreit sie den anderen wütend »No! Not Tom!« entgegen. Doch es ist zu spät. Am nächsten Tag nehmen Stix, Dixie und Vivien ein Video mit Tom Tom auf, in dem er gesteht, Izzy vom Dach gestoßen zu haben. Nach dem Geständnis ist Tom Tom erleichtert, weil er seinen Freunden helfen konnte, und holt freudestrahlend Eloise im Bücherantiquariat ab, in dem sie sich immer mit Lesestoff eindeckt. Eloise warnt ihn vor den anderen und will verhindern, dass er ihnen dabei hilft Geronimo aus dem Gefängnis zu holen. Doch in der Zwischenzeit wurde das Video mit dem Geständnis bereits Jean Swift in die Hände gespielt. Zum finalen Höhepunkt des Films wird der folgende Abend, an dem im Hotel eine große Gala zu Ehren des vermeintlichen Malers Izzy stattfindet, und an dem gleichzeitig das Video mit Tom Toms Geständnis im Fernsehen ausgestrahlt wird. Vorher zeigt Jean Swift das Video aber noch Skinner, dessen Assistenten Best und Stanley Goldkiss. Letzterer nimmt das Geständnis von Tom Tom ziemlich gelassen auf, denn es be-
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stätigt ihm, dass sein Sohn ermordet wurde. Best, der Skinner nicht leiden kann und sich insgeheim darüber freut, dass der große Spezialagent den Fall nicht lösen konnte, glaubt dem Videoband ebenfalls, und lässt sofort einen Haftbefehl gegen Tom Tom ausstellen. Einzig Skinner weigert sich dem Geständnis Glauben zu schenken. Er attackiert Stanley Goldkiss heftig und wirft ihm vor der wahre Mörder seines Sohnes zu sein, da er ihn unterdrückt und mit seiner unnachgiebigen Härte in die Drogensucht getrieben hat. In der Zwischenzeit putzen sich die Hotelgäste für die Gala heraus und ahnen noch nichts von den bevorstehenden Ereignissen. Einige von ihnen – Dixie, Vivien, Stix, Shorty und Jesus – fahren sogar in einer weißen Limousine vor dem Hotel vor, die der Fernsehsender ihnen zur Verfügung gestellt hat. Vor dem Hoteleingang werden sie von Jean Swift interviewt, die gerade eben ihren Zusehern Tom Toms Geständnisvideo vorgespielt hat. Zufällig sieht auch Tom Tom das Video im Fernsehen und weiß somit, dass er bereits von der Polizei gesucht wird. Unbemerkt schleicht er sich zum Portier des Hotels, damit dieser Eloise von ihm bestellt, dass er sie im Buchladen treffen möchte. Doch als er das Hotel durch den Lieferanteneingang verlassen will, läuft er Skinner in die Hände. Zu Tom Toms großer Überraschung nimmt ihn der Spezialagent aber nicht fest. Er lässt ihn entkommen und schickt sogar noch die eben eingetroffenen Streifenpolizisten in eine falsche Richtung. Eloise, die in einem wunderschönen Abendkleid ihrer Großmutter auf der Gala erscheint, wird vom Portier über das Geständnisvideo und Tom Toms Aufenthaltsort informiert. Sie läuft sofort zu ihm, und die beiden verstecken sich zunächst in einem kleinen Imbisslokal ganz in der Nähe des Hotels, wo sie aus dem Fernsehen über den großen Skandal informiert werden, der sich gerade in der Lobby abspielt. Diesen hat Skinner initiiert, der mittlerweile erfahren hat, dass Geronimo wegen Kunstraubs vorbestraft ist. Während der Gala steckt er dem Kunsthändler Scopey einen Umschlag zu, woraufhin dieser gemeinsam mit Best und anderen Polizisten eines der Teerbilder genauer untersucht. Dabei stellt sich heraus, dass der Teer über ein anderes, vor kurzem gestohlenes Bild geschüttet worden ist. Für die Hotelbewohner platzt durch diese unerwartete Wendung der Traum vom großen Reichtum, und Dixie, Shorty und den anderen bleibt nichts mehr übrig, als sich sinnlos zu betrinken. Währenddessen quälen Eloise im Imbisslokal aber ganz andere Sorgen. Sie will verhindern, dass Tom Tom ins Gefängnis muss. Um in Ruhe nachdenken zu können, überredet sie ihn dazu, sich gemeinsam mit ihr in einem der leer stehenden Hotelzimmer zu verstecken. Tom Tom selbst scheint den Wirbel um seine Person überhaupt nicht zu registrieren. Er ist einfach nur glücklich darüber, dass er mit Eloise zusammen
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sein kann, und behauptet auch ihr gegenüber, dass er Izzy umgebracht hätte. Eloise glaubt ihm zunächst kein Wort und versucht nur, ihn in Sicherheit zu bringen. Als er aber im Hotelzimmer, in das sie sich über die Feuerleiter eingeschlichen haben, erneut behauptet Izzys Mörder zu sein, wird sie wütend, versucht ihm den Mund zuzuhalten und schreit ihm zu, dass nicht alles, was im Fernsehen gesagt wird, wahr sein muss. Tom Tom wartet bis sich Eloise beruhigt hat und erklärt ihr danach, dass er Izzy vom Dach gestoßen habe, weil dieser sie vergewaltigt hat. Ob Eloise ihm diesmal glaubt, bleibt offen, denn die Szene wird von einer anderen unterbrochen, die Shorty und Dixie am Piano in der Hotellobby zeigt. Dixie spielt dabei die Anfangstakte von Beethovens Für Elise (1810), plappert unermüdlich auf den stumm neben ihm sitzenden Shorty ein und lässt sein Klavierspiel plötzlich in den Beatles Hit I Am the Walrus (1967) übergehen. Als die Kamera kurz darauf zu Tom Tom und Eloise ins Hotelzimmer zurückkehrt, schmiedet Eloise wilde Fluchtpläne. Irgendwann im Laufe der Nacht döst sie schließlich ein, und Tom Tom verlässt leise das Zimmer. Er weiß, dass ihn kein Fluchtplan retten kann, also zieht er seine Lieblingssneakers an und steigt im Morgengrauen aufs Dach des Hotels. Dort erinnert er sich noch einmal an Izzys Tod, und in einer Rückblende wird gezeigt, wie sich dieser tatsächlich abgespielt hat. Izzy steht mit ausgebreiteten Armen am Rand des Daches und Tom Tom hält ihn an der Jacke fest, damit er nicht hinunterfällt. Da erzählt ihm Izzy, er habe Eloise nur deshalb vergewaltigt, um ihm – Tom Tom – zu beweisen, dass sie ein Nichts sei. Daraufhin lässt Tom Tom die Jacke los und wendet sich vom fallenden Izzy ab. Nach der Rückblende wiederholt sich Tom Toms Sprung vom Anfang des Films. Doch diesmal sieht man, dass Eloise ebenfalls aufs Dach gestiegen ist, um Tom Tom in letzter Sekunde aufzuhalten. Sie kommt jedoch zu spät und kann nur mehr hilflos zusehen wie er springt. Eine der letzten Szenen des Films zeigt Skinner und Eloise, die immer noch das silberne Abendkleid trägt, vor dem Hotel, wo auf dem Asphalt eine Blutlache von Tom Tom zu sehen ist. Stumm taucht Eloise ihre Hände in das Blut und fasst danach Skinners Hände an, der sie schließlich in den Arm nimmt (Abb. 5). Die letzten Bilder des Films zeigen die lesende Eloise am Fenstersims von Tom Toms Zimmer sitzend. Sie blickt auf ein Automatenfoto von Tom Tom und Izzy, das sie als Lesezeichen verwendet, und Tränen rinnen über ihre Wangen. Tom Toms Off-Stimme begleitet diese Bilder mit den Worten: »All I’ve ever wanted was to reach Eloise. Just to reach her. I did. And I ended up turning the world upside down. Even if just for a moment.« Während Tom Tom spricht, wird langsam von einer Großaufnahme von Eloise auf die Außenansicht des Hotels übergeblendet, sodass für einige Sekunden ihr Gesicht auf den roten
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Backsteinziegeln der Hotelfront erscheint (Abb. 6). Wie am Anfang des Films wird das Hotel auch nun von einem Hubschrauber aus aufgenommen. Doch während sich die Kamera zu Beginn des Films dem Hotel nähert, entfernt sie sich nun von ihm und der am Fenstersims sitzenden Eloise, bis schließlich nur mehr der Himmel über L.A. zu sehen ist. Tom Toms Abschiedsworte sind aber noch nicht die letzten, die im Film zu hören sind, denn unmittelbar nach ihnen setzt gleichzeitig mit dem Abspann der U2-Song The Ground Beneath her Feet ein, und man hört Bono den folgenden, aus Salman Rushdies gleichnamigen Roman stammenden Liedtext singen: »All my life, I worshipped her Her golden voice, her beauty’s beat How she made us feel How she made me real And the ground beneath her feet And the ground beneath her feet. And now I can’t be sure of anything Black is white, and cold is heat For what I worshipped stole my love away It was the ground beneath her feet It was the ground beneath her feet. Go lightly down your darkened way Go lightly underground I’ll be down there in another day I won’t rest until you're found. Let me love you true, let me rescue you Let me lead you to where two roads meet O come back above Where there’s only love And the ground beneath her feet And the ground beneath your feet.«33
33 Salman Rushdie: Der Boden unter ihren Füßen. Roman aus dem Englischen von G. Stege, München: Kindler 1999, S. 613. 57
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Abbildung 5: Nach Tom Toms Selbstmord taucht Eloise ihre und Skinners Hände in Tom Toms Blut
Quelle: Wim Wenders: The Million Dollar Hotel, USA, Deutschland: Road Movies GmbH 2000, Concorde Home Entertainment GmbH 2001. Abbildung 6: Eloises Gesicht erscheint auf der Ziegelwand des Hotels neben dem Fenster, auf dessen Sims sie sitzt
Quelle: Wim Wenders: The Million Dollar Hotel, USA, Deutschland: Road Movies GmbH 2000, Concorde Home Entertainment GmbH 2001.
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3. D A S K O M P A R A T I S T I S C H E F O R S C H U N G S G E B I E T DER INTERMEDIALITÄT - LITERATUR UND FILM 3.1 Intermedialität – Begriff und Entwicklung Der Terminus »Intermedialität« wurde erstmals 1983 von Aage A. Hansen-Löve in der Studie Intermedialität und Intertextualität1 in einem wissenschaftlichen Kontext verwendet und etablierte sich im Verlauf der 1980er und 1990er Jahre rasch in den deutschsprachigen Literatur- und Kulturwissenschaften. Zurückgeführt wird er auf den Romantiker Samuel Taylor Coleridge (1772-1834), der 1812 in seinem Essay Lecture III: on Spenser die Allegorie als »the proper intermedium between person and personification«2 bezeichnete. Doch während dieser Ursprung des Begriffs im Großteil der zum Thema Intermedialität publizierten Untersuchungen einhellig angegeben wird, sind die darauf folgenden Definitionen des Terminus vielfältig und häufig kontrovers. Auf die einfache Frage: Was ist Intermedialität? Gibt es deshalb eine Fülle von Antworten, die bei genauerem Hinsehen aber alle etwas ganz Ähnliches zum Ausdruck bringen. Bevor diese babylonische Definitionsvielfalt aber genauer untersucht werden kann, sind noch einige Bemerkungen zum wissenschaftlichen Ursprung und Werdegang des Begriffs Intermedialität, sowie seine Abgrenzung vom Begriff Intertextualität vonnöten.
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Die vollständige bibliographische Angabe lautet: Aage A. Hansen-Löve: »Intermedialität und Intertextualität. Probleme der Korrelation von Wortund Bildkunst – Am Beispiel der russischen Moderne«, in: Wolf Schmid/ Wolf-Dieter Stempel (Hg.), Dialog der Texte. Hamburger Kolloquium zur Intertextualität, Wien: Gesellschaft zur Förderung slawistischer Studien 1983 (Wiener Slawistischer Almanach 11), S. 291-360. Thomas Middleton Rayson (Hg.): Coleridge’s Miscellaneous Criticism, London: Constable & Co 1936, S. 33. 59
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3.1.1 Intertextualität und Intermedialität Schon bei Hansen-Löve wird der Begriff »Intermedialität« in Anlehnung an Julia Kristevas Terminus »Intertextualität« verwendet, der wiederum auf Michail Bachtins Theorie der »Dialogizität« basiert. Bachtin geht davon aus, dass jede Aussage und jedes Wort einer »dialogische[n] Orientierung« unterliegen und niemals mit dem benannten Gegenstand identisch sein können, da »zwischen Wort und Gegenstand, zwischen Wort und sprechender Person […] die elastische und meist schwer zu durchdringende Sphäre der anderen, fremden Wörter zu demselben Gegenstand, zum gleichen Thema«3 liegt. Das Wort steht demnach in »komplexen Wechselbeziehungen« zu anderen »fremden Wörtern, Wertungen und Akzenten«4 und entwickelt seinen Gegenstand in einem komplexen, dialogischen Vorgang. Indem sie sich direkt auf Bachtin bezieht, dehnt Julia Kristeva nun diese Wechselbeziehungen zwischen den Worten auf Texte aus und meint: »Das Wort (der Text) ist Überschneidung von Wörtern (von Texten), in der sich zumindest ein anderes Wort (ein anderer Text) lesen lässt.«5 Diesen stetigen Austausch zwischen literarischen Texten bezeichnet Kristeva nun als »Intertextualität«, denn »jeder Text baut sich als Mosaik von Zitaten auf, jeder Text ist Absorption und Transformation eines anderen Textes«6. Intertextualität nach Kristeva wird demnach meist auf den aus geschriebenen Worten bestehenden, literarischen Text bezogen, obwohl Kristeva selbst – wie Jürgen E. Müller feststellt –
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Michail M. Bachtin: »Das Wort im Roman«, in: Ders., Die Ästhetik des Wortes, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1979 (Edition Suhrkamp 967), S. 169. Das russische Original erschien unter: Michail M. Bachtin: »Slovo v romane«, in: Ders., Voprosy literatury i ėstetiki. Issledovanija raznych let, Moskau: Chudožestvennaja literatura 1975, S. 71-233. M. Bachtin: »Das Wort im Roman«, S. 169. Julia Kristeva: »Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman«, in: Jens Ihwe (Hg.), Literaturwissenschaft und Linguistik. Ergebnisse und Perspektiven. Bd. 3: Zur linguistischen Basis der Literaturwissenschaft II, Frankfurt/Main: Athenäum 1972 (Ars Poetica. Texte und Studien zur Dichtungslehre und Dichtkunst), S. 348. Das französische Original erschien unter: Julia Kristeva: »Bakhtine, le mot, le dialogue et le roman«, in: Critique 23 (1967), S. 438-465. J. Kristeva: »Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman«, S. 348. 60
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durchaus »alle Formationen, die in interaktiven Prozessen stehen«7, unter Text subsumierte. Unter den heutigen Intermedialitätsforschern vertritt beispielsweise Claus Clüver eine ähnlich weit reichende Auffassung von Text, indem er von »nicht-verbale[n] Texte[n]«8 spricht, da generell jedes kulturelle Produkt als ein zu entzifferndes Zeichensystem verstanden werden kann. Und Clüver folgert daraus: »Demnach gelten ein Ballett, ein Sonett, eine Graphik, ein Menuett, ein Film und eine Kathedrale alle als »Texte«, die man liest«9. Bei einem so weit gefassten Textbegriff wird es allerdings problematisch, die Termini Intermedialität und Intertextualität voneinander abzugrenzen, und so werden sie v.a. in der anglo-amerikanischen Forschung10, wo eine Ausweitung des Textbegriffes auf nicht-verbale Zeichensysteme weit verbreitet ist, synonym verwendet oder »Intermedialität« wird einfach unter »Intertextualität« subsumiert. Um eine klarere Abgrenzung der beiden Begriffe zu gewährleisten, bevorzugen manche Forscher wie etwa Irina O. Rajewsky oder Werner Wolf eine engere Auffassung von Text, die »allein verbal-sprachlich fixierte«11 literarische Werke umfasst, und sie trennen diese klar vom Begriff »Medium«. So versteht Werner Wolf z.B. unter Medium nicht nur einen »technisch-materiell definierten Übertragungskanal von Informationen (wie z.B. Schrift, Druck, Rundfunk, CD usw.)«, sondern ein »als distinkt angesehenes Kommunikationsdispositiv«12. Das bedeutet, dass für Wolf in erster Linie die Vermittlung »kultureller Inhalte« durch eines 7
Jürgen E. Müller: Intermedialität. Formen moderner kultureller Kommunikation, Münster: Nodus-Publikationen 1996, S. 97. (Kursive Hervorhebungen von mir D.B.) 8 Claus Clüver: »INTER TEXTUS / INTER ARTES / INTER MEDIA«, in: Komparatistik. Jahrbuch der DGAVL 2000/2001, Heidelberg: Synchron 2001, S. 18. 9 Ebd., S. 19. 10 So spricht z.B. Brian McFarlane im Zusammenhang mit Literaturverfilmungen und der Beziehung zwischen Roman und Film von »intertextuality« (Brian McFarlane: Novel to Film. An Introduction to the Theory of Adaptation, Oxford: Clarendon Press 1996, S. 10) und Graham Allen nennt ein Kapitel seiner Studie Intertextuality »Intertextuality in the non-literary arts« (Graham Allen: Intertextuality. The New Critical Idiom, London: Routledge 2000, S. 174-182). 11 Irina O. Rajewsky: Intermedialität, Tübingen, Basel: Francke 2002 (UTB für Wissenschaft: Uni-Taschenbücher 2261), Glossar S. 206. 12 Werner Wolf: »Intermedialität. Ein weites Feld und eine Herausforderung für die Literaturwissenschaft«, in: Herbert Foltinek/Christoph Leitgeb (Hg.), Literaturwissenschaft: intermedial – interdisziplinär, Wien: Verlag der österreichischen Akademie der Wissenschaften 2002, S. 165. 61
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oder mehrere, miteinander kombinierte Zeichensysteme im Vordergrund steht, und erst in zweiter Linie definiert sich für ihn das Medium über seine technische Qualität als »Kommunikationskanal«13. Diese Definition ermöglicht es nun sowohl traditionelle Künste, wie z.B. klassische Musik, Malerei, Bildhauerei oder Tanz, als auch neue Kommunikationsformen, wie Videoinstallationen, Comics, Unterhaltungsfilme oder Computeranimationen, unter dem Begriff Medium zu vereinen. Eine so klare Grenze zwischen »Text« und »Medium« ermöglicht aber auch eine eindeutige Unterscheidung zwischen »Intertextualität« und »Intermedialität«, die Werner Wolf folgendermaßen trifft: »Intertextualität überschreitet zwar Textgrenzen, bleibt aber im Bereich des verbalen Mediums und ist insofern ›intramedial‹ […]. Intermedialität dagegen überschreitet Grenzen zwischen Medien im obigen Sinn und daher ist Intermedialität komplementär zur ›Intramedialität‹.«14 Die bisherigen Ausführungen haben also gezeigt, dass nicht nur zwei Definitionen von »Text« – eine enge, auf literarische Werke konzentrierte und eine weite, alle im übertragenen Sinne »entzifferbaren«, kulturellen Erzeugnisse umfassende – in der Forschungsdebatte einander gegenübergestellt werden, sondern auch zwei verschiedene Auffassungen des Begriffs »Medium« miteinander konkurrieren. Denn auch in diesem Fall lässt sich eine enge Auffassung, die ein Medium auf seine formale, technisch-apparative Vermittlerrolle reduziert, von einer weiter gefassten unterscheiden, die auch den durch Zeichensysteme vermittelten Inhalt berücksichtigt. Als Beispiel für eine Forschungsrichtung, die einen engen Begriff von »Text« und einen weiten von »Medium« kombiniert, wurden bereits Werner Wolfs Definitionen angeführt. Der Vollständigkeit halber sei an dieser Stelle aber auch auf die entgegengesetzte Richtung verwiesen, die z.B. von Mookyu Kim vertreten wird, und die auch eine andere Abgrenzung zwischen Intermedialität und Intertextualität erfordert. Mookyu Kim kombiniert eine weit gefasste Definition von »Text« mit einer engen von »Medium«, was zur Folge hat, dass ein inhaltlicher Austausch, wie etwa die Beschreibung eines Gemäldes in einem literarischen Werk, als intertextueller Prozess aufgefasst wird, wohingegen die Abbildung eines Bildes in einem Buch, durch die ja auch die technischformalen Eigenschaften des bildnerischen Zeichensystems in das schriftlich-verbale Medium aufgenommen werden, eine intermediale Untersuchung erfordert. Für Mookyu Kim liegt das wesentlichste Merkmal der Intermedialität somit in der technisch-formalen Grenzüberschreitung:
13 Ebd. 14 Ebd. (Kursive Hervorhebungen im Original) 62
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»Intermedialität findet grundsätzlich als Grenzüberschreitung statt. Transgression oder Transformation, in jedem Fall werden die Grenzen eines medialen Systems (Literatur, Fotografie, Film etc.) auf ein anderes hin überschritten. Bildlichkeit und Schriftlichkeit tauschen sich nicht nur textuell, sondern auch medial aus, indem mit Brüchen oder Vermischungen neue ›mediale Formen‹ aus der Transformation älterer medialer Bedingungen entstehen.«15
Mag eine derartige inhaltliche Grenzverschiebung in Richtung Intertextualität im obigen Beispiel zwischen Bild und Literatur noch einleuchten, so wird sie spätestens bei der Untersuchung eines komplexeren Zeichensystems wie dem Film problematisch. Stellt beispielsweise eine Szene in einer Literaturverfilmung, in der ein Protagonist einen Brief vorliest, einen intertextuellen oder einen intermedialen Bezug dar? Wird durch ein simples Blatt Papier in der Hand eines Schauspielers bereits die technisch-apparative Grenze hin zum Medium Literatur überschritten, sodass man von einer intermedialen Referenz sprechen kann, oder steht dabei die intertextuelle Beziehung im Vordergrund, da ja weder die literarische Vorlage, aus der der vorgelesene Brief stammt, noch ein tatsächlich mit geschriebenen Worten gefülltes Blatt Papier im Film auftauchen? Bei Mookyu Kim wird dieses Problem gelöst, indem im Falle des Films von einer Art intertextuell-intermedialen Mischform ausgegangen wird, in der es »jenseits intertextueller Beziehungen auch Intermedialität ›pur‹ gibt« 16. In dieser Studie wird von einem Intermedialitätsbegriff ausgegangen, der sowohl inhaltliche als auch technisch-apparative Beziehungen zwischen Literatur und Film berücksichtigt, und somit sollen die beiden Termini »Intertextualität« und »Intermedialität« als literarische (= intertextuelle) und als mediale (= intermediale) Grenzüberschreitungen von einander abgegrenzt werden. Deshalb wird in dieser Untersuchung auch eine Definition der Begriffe »Text« und »Medium«, wie sie Werner Wolf vertritt, bevorzugt. Auch von einer synonymen Verwendung von Intermedialität und Intertextualität, die häufig in der anglo-amerikanischen Forschung anzutreffen ist, soll Abstand genommen werden, da sie die Gefahr einer Begriffsverwirrung in sich birgt.
15 Mookyu Kim: Mediale Konfigurationen. Ein Beitrag zur Theorie der Intermedialität, Konstanz: Hartung-Gorre 2003 (Konstanzer Dissertationen 596), S. 10. 16 Ebd., S. 7. 63
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3.1.2 Definition des Forschungsgebiets Nachdem der Werdegang des Begriffs und seine Abgrenzung zur Intertextualität skizziert wurden, soll nun versucht werden, die verschiedenen Definitionen von Intermedialität zu systematisieren, um das Forschungsgebiet klar abzustecken. Jens Schröter etwa stellt ganz allgemein fest, dass der Terminus »Intermedialität« »der immer offenkundigeren Tatsache, dass Medien nicht für sich alleine bestehen, sondern immer schon in komplexen medialen Konfigurationen stehen und dadurch stets auf andere Medien bezogen sind, Rechnung tragen«17 soll. Und auch Jürgen E. Müller setzt zunächst generell voraus, dass »Medientexte […] in wechselnden medialen Relationen« stehen »und ihre Funktion […] sich aus den historischen Veränderungen dieser Relationen«18 heraus entwickelt. An der Verwendung des Terminus »Medientexte« lässt sich unschwer erkennen, dass Jürgen E. Müller eine weiter gefasste Definition von Text bevorzugt. Doch laut Müller widmet sich die Intertextualität ausschließlich der »Transformation zwischen unterschiedlichen Zeichensystemen«19, während sich das Aufgabengebiet der Intermedialitätsforschung weiter erstreckt: »Es scheint daher angebracht, den Blick nicht allein auf die Transformation, sondern auf die Integration unterschiedlicher medialer Strukturen innerhalb eines Werkes, sowie auf deren Interaktion, Interferenz und deren potentielle Wirkungsdimensionen zu richten.«20 Mit dieser Ausweitung des intermedialen Arbeitsgebietes nimmt Jürgen E. Müller bereits eine gewisse Typologisierung vor, denn seiner Meinung nach soll die Intermedialitätsforschung Transformationen, Integrationen, Interaktionen und Interferenzen zwischen unterschiedlichen Medien untersuchen.
17 Hier zitiert nach der Website »Theorie der Medien« von Jens Schröter: http://www.theorie-der-medien.de vom 27. Juni 2008. Ebenfalls erschienen unter: Jens Schröter: »Intermedialität. Facetten und Probleme eines aktuellen medienwissenschaftlichen Begriffs«, in: montage/av 7, 2 (1998), S. 129 -154. 18 Jürgen E. Müller: »Intermedialität als poetologisches und medientheoretisches Konzept. Einige Reflexionen zu dessen Geschichte«, in: Jörg Helbig (Hg.), Intermedialität. Theorie und Praxis eines interdisziplinären Forschungsgebiets, Berlin: Erich Schmidt 1998, S. 31. 19 Jürgen E. Müller: Intermedialität. Formen moderner kultureller Kommunikation, Münster: Nodus-Publikationen 1996, S. 103. 20 Ebd. (Kursive Hervorhebungen im Original) 64
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Jörg Helbig unterscheidet dagegen zwischen einer synchronen und einer diachronen Untersuchung intermedialer Phänomene und versteht deshalb unter Intermedialität: »[Die Erschließung der] Wechselwirkungen unterschiedlicher Zeichensysteme in einem Themenspektrum, das sich generisch von der Literatur über Theater, Malerei, Musik, Radio, Film und Fotografie bis zu Video, Comic und Computer erstreckt, historisch von der romantischen Dichtung bis zur jüngsten Generation des Spiel- und Experimentalfilms.«21
Wie nun diese synchronen (Helbig nennt sie generisch) und diachronen (Helbig spricht von historischen) Wechselwirkungen verlaufen müssen, damit ein neues intermediales Werk entsteht, definiert Jürgen E. Müller folgendermaßen: »Ein mediales Produkt wird dann inter-medial, wenn es das multi-mediale Nebeneinander medialer Zitate und Elemente in ein konzeptionelles Miteinander überführt, dessen (ästhetische) Brechungen und Verwerfungen neue Dimensionen des Erlebens und Erfahrens eröffnen.«22 Müller unterscheidet somit zwischen Multimedialität, die er – ähnlich wie Claus Clüver23 – als ein in seine einzelnen Teile trennbares, mediales Nebeneinander auffasst, und Intermedialität, die eine unauflösbare Verschmelzung zu einem neuen medialen Werk intendiert und deutlich mit einem »Abrücken von traditionellen Vorstellungen isolierter Medien-Monaden oder Medien-Sorten«24 verknüpft ist. In Anlehnung an all die eben genannten Einteilungsmöglichkeiten entwirft schließlich Irina O. Rajewsky drei intermediale Subkategorien, die sowohl die verschiedenen Grade der Verschmelzung zwischen medialen Phänomenen als auch deren vielfältige Erscheinungsformen und deren diachrone Entwicklung berücksichtigen: »Die Intermedialitätsforschung beschäftigt sich mit Mediengrenzen überschreitenden Phänomenen, die mindestens zwei konventionell als distinkt wahrgenommene Medien involvieren. Zu unterscheiden sind drei Phänomenbereiche 21 Jörg Helbig: »Vorwort«, in: Ders. (Hg.), Intermedialität. Theorie und Praxis eines interdisziplinären Forschungsgebiets, Berlin: Erich Schmidt 1998, S. 8. 22 J. E. Müller: »Intermedialität als poetologisches und medientheoretisches Konzept«, S. 31f. 23 Clüver unterscheidet je nach enge der Verbindung und dem Grad der Trennbarkeit zwischen Multimedia-, Mixed-Media- und Intermedia-Texten. Vgl. C. Clüver: »INTER TEXTUS / INTER ARTES / INTER MEDIA«, S. 25ff. 24 J. E. Müller: »Intermedialität als poetologisches und medientheoretisches Konzept«, S. 31. 65
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des Intermedialen, denen verschiedene Intermedialitätsbegriffe zugrunde liegen: Medienkombination, Medienwechsel, intermediale Bezüge.«25
Bei der Definition der ersten dieser drei Subkategorien, der Medienkombination, geht Rajewsky, ähnlich wie Müller und Clüver bei ihrer Definition von Multimedia-Texten, von einer »punktuelle[n] oder durchgehende[n] Kombination mindestens zweier, konventionell als distinkt wahrgenommener Medien« aus, wobei jedoch diese verschiedenen Medien »im entstehenden Produkt materiell präsent« sein und »mit ihren je eigenen Mitteln zur (Bedeutungs-)Konstitution desselben beitragen«26 müssen. Aus einer »Addition verschiedener medialer Systeme«27 muss sich demnach ein neues Medium ergeben, dessen ursprünglich zusammengefügte Teilmedien aber immer noch erkennbar bleiben. Als Beispiel nennt Rajewsky etwa den Fotoroman, der Bild und geschriebenen Text kombiniert, aber auch der Film fällt durch die Kombination von Bildern, Musik, gesprochenem Text und Fotografie für sie unter die Kategorie der Medienkombination. Bei der zweiten Subkategorie von Intermedialität, dem Medienwechsel, steht der dynamische Prozess der »Transformation eines medienspezifisch fixierten Produkts bzw. Produktsubstrats in ein anderes, konventionell als distinkt wahrgenommenes Medium«28 im Mittelpunkt der Forschung. Dabei betont Rajewsky aber ausdrücklich, dass nur mehr das Endprodukt »materiell präsent«29 bleibt, während das Ausgangsmedium im neuen Medium nicht mehr erkennbar ist. Als Beispiel hierfür nennt sie die Literaturverfilmung. Die dritte Subkategorie, die Untersuchung intermedialer Bezüge, versteht Rajewsky als ein »Verfahren der Bedeutungskonstitution eines medialen Produkts durch Bezugnahme auf ein Produkt (Einzelreferenz) oder das semiotische System bzw. bestimmte Subsysteme (Systemreferenz) eines konventionell als distinkt wahrgenommenen Mediums«30. Das bedeutet, dass z.B. untersucht wird, wie in einem konkreten, literarischen Werk Bezüge zu einem real existierenden oder fiktiven Film hergestellt werden. Bei dieser Art von Bezugnahme spricht Rajewsky von einer Einzelreferenz. Wenn aber ein literarisches Werk Bezüge zur Gesamtheit eines Zeichensystems, wie etwa generell zu Film oder Musik herstellt, spricht Rajewsky von einer Systemreferenz. Die bloße Nennung eines 25 26 27 28 29 30
I. Rajewsky: Intermedialität, Glossar S. 199. Ebd., S. 201. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 199. (Kursive Hervorhebungen im Original) 66
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Musikstückes in einem literarischen Werk wäre demnach eine Einzelreferenz, der Versuch Jazzrhythmen in einem literarischen Werk sprachlich nachzuahmen, käme einer Systemreferenz gleich. Nun geht aus den meisten der hier angeführten Definitionen und Typologien hervor, dass sich die Intermedialitätsforschung v.a. mit Fragen beschäftigt, die sich aus direkten und nachweisbaren Kontakten zwischen verschiedenen Medien ergeben. Und auch die beiden in dieser Studie untersuchten Literaturverfilmungen entstanden natürlich aus eindeutig belegbaren Kontakten, die schon allein durch die Hinweise auf Dostoevskijs Idiot im Vorspann der Filme belegt werden. Doch für Wim Wenders’ Film spielte, wie mir von seiner Mitarbeiterin Pati Keilwerth versichert wurde, Dostoevskijs Roman keinerlei Rolle und deshalb muss The Million Dollar Hotel von einer anderen Perspektive aus untersucht werden. Da die Komparatistik von jeher sowohl direkte, nachweisbare Kontakte als auch nicht direkt belegbare, aufgrund ähnlicher wirtschaftlicher, politischer oder gesellschaftlicher Ausgangssituationen entstandene Analogiebildungen31 untersuchte, bietet sich für die Analyse des Wenders’ Films ein komparatistischer Zugang an, der generell intermediale Aspekte und speziell die ohne Kontakt entstandenen, inhaltlichen Parallelen zum Dostoevskij-Roman berücksichtigt. Einer der wenigen Forscher, der diese komparatistische Ausgangssituation in seine intermediale Typologie einfließen lässt, ist Werner Wolf, weshalb seine Einteilung des Forschungsgebiets im folgenden Kapitel auch genauer vorgestellt werden soll.
3.1.3 Typologie und literaturzentrierte Intermedialität (Werner Wolf) In Anlehnung an die Literaturwissenschaft, die ja von einer aus Einzelwerken bestehenden Textgrundlage ausgeht, schlägt Werner Wolf zunächst eine typologische Einteilung des intermedialen Forschungsgebiets in »werkübergreifende und werkinterne«32 Intermedialität vor. Dabei werden die intermedialen Grenzüberschreitungen und die damit einhergehenden intermedialen Bezüge bei der werkübergreifenden Intermedialität erst im Vergleich zwischen zwei und/oder mehreren verschiedenen
31 Vgl. die grundsätzlichen Fragestellungen der Komparatistik in Peter V. Zima: »Komparatistik«, in: Ansgar Nünning (Hg.), Metzler Lexikon. Literatur- und Kulturtheorie, Stuttgart, Weimar: Metzler 2004, S. 340ff. 32 W. Wolf: »Intermedialität. Ein weites Feld und eine Herausforderung für die Literaturwissenschaft«, S. 169. 67
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»Werken oder Zeichenkomplexen«33 ersichtlich, während bei der werkinternen Intermedialität bereits »innerhalb eines Werkes oder Zeichenkomplexes«34 nachgewiesen werden kann, dass darin mehrere verschiedene Medien sinnstiftend involviert sind. Für beide Varianten gilt aber, dass sowohl »Werkgruppen (z.B. Gattungen), einzelne Werke oder auch Werkteile«35 zum Gegenstand einer intermedialen Untersuchung werden können. Innerhalb der werkübergreifenden Intermedialität unterscheidet Wolf wiederum zwischen »Transmedialität« und »intermedialer Transposition«. Dabei definiert er transmediale Erscheinungen als »medienunspezifische Phänomene, die gerade deshalb [weil sie medienunspezifisch sind – Anm. D. B.] in mehreren Medien auftreten und insofern indirekte Beziehungen zwischen ihnen stiften können«36. Tatsächlich handelt es sich also bei transmedialen Phänomenen um Analogiebildungen, die ohne direkt belegbaren Kontakt zwischen zwei oder mehreren verschiedenen Werken oder Werkgruppen auftreten, und somit entsprechen sie im Grunde einer Ausweitung der komparatistischen, typologischen Erscheinungen über die Grenzen des Mediums Literatur hinaus. Werner Wolf stellt fest, dass transmediale Phänomene »bestimmte Inhalte« sein können, die in unterschiedlichen Medien auftauchen können, »ohne dass hier noch der Einfluss eines bestimmten Mediums oder die ›Transposition‹ von einem Medium in ein anderes für den Sinn ausschlaggebend oder erkennbar wäre«37. Die erstaunlichen Parallelen zwischen Dostoevskijs Roman Der Idiot und Wim Wenders’ Film The Million Dollar Hotel, die im praktischen Teil dieser Studie untersucht werden, lassen sich somit in Anlehnung an Werner Wolf als transmediale Phänomene bezeichnen. Die Untersuchung der beiden Literaturverfilmungen Hakuchi und Návrat idiota fällt hingegen unter die zweite Untergruppe der werkübergreifenden Intermedialität, der intermedialen Transposition. Für sie stellt Wolf fest, dass »zumindest theoretisch immer ein genetischer Zusammenhang zwischen den Signifikaten zweier Werke verschiedener Medien […] nachweisbar sein muss«38. Um nun den vom Hypermedium (oder Postmedium) intendierten Sinn zu verstehen, ist es jedoch nicht unbedingt notwendig, dass dem Rezipienten die genetische Verbindung zum Hypomedium (oder Prämedium) bekannt ist. Wer z.B. eine Literaturverfilmung ansieht, muss die literarische Vorlage nicht gelesen haben, um 33 34 35 36 37 38
Ebd., S. 170. Ebd., S. 172. (Kursive Hervorhebung im Original) Ebd., S. 170. (Kursive Hervorhebungen im Original) Ebd. Ebd., S. 171. Ebd. (Kursive Hervorhebung im Original) 68
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den Film zu verstehen. Literaturverfilmungen führt Wolf deshalb selbst als klassisches Beispiel für eine intermediale Transposition an. Die intermedialen Beziehungen zwischen den Werken, die im Rahmen dieser Studie miteinander verglichen werden sollen, lassen sich also problemlos im theoretischen Typologisierungskonzept Werner Wolfs verankern: generell fällt der Vergleich zwischen Roman und Film unter die Kategorie der werkübergreifenden Intermedialität, da ja erst die Gegenüberstellung zweier, distinkter medialer Erscheinungen Analogien und Verbindungen zwischen diesen zu Tage fördert. Und während sich der Vergleich zwischen Dostoevskijs Roman und Wim Wenders’ Film, aufgrund der fehlenden direkten Bezugnahme, als transmediale Untersuchung bezeichnen lässt, sind die Vergleiche zwischen dem Idioten und seinen Literaturverfilmungen in die Kategorie der intermedialen Transposition einzuordnen. Neben den werkübergreifenden intermedialen Varianten definiert Wolf aber auch werkinterne Gruppen intermedialer Spielarten, die der Vollständigkeit halber hier ebenfalls erläutert werden sollen, obwohl sie für den praktischen Teil dieser Arbeit kaum relevant sind. Werkinterne Intermedialität bezeichnet Wolf auch als »Intermedialität im engeren Sinn«39, da sie das offenkundige und nachweisbare Zusammenspiel mehrerer distinkter Medien innerhalb eines Werkes (oder Zeichenkomplexes) untersucht. Wolf unterteilt diese werkinternen intermedialen Phänomene wiederum in »Plurimedialität« und »intermediale Referenzen«. In einem plurimedialen Werk sind die verschiedenen, beteiligten Medien »bereits an der Werkoberfläche, d.h. schon auf der Signifikantenebene«40 erkennbar und lassen sich, je nach »Intensität des Bezugs zwischen den medialen Komponenten«41, in einem Spektrum zwischen »Medienkombination« und »Medienmischung« verorten. Mit Hinweis auf Claus Clüver, der – wie bereits erwähnt – zwischen Multimedia-, Mixed-Media- und Intermedia-Texten unterscheidet, stellt Werner Wolf fest, dass bei Medienkombinationen, wie etwa einem bebilderten Roman wie Jahrmarkt der Eitelkeiten (Vanity Fair 1847) von William Makepeace Thackeray, die einzelnen medialen Komponenten in ihrer eigentlichen Form erhalten bleiben und deshalb prinzipiell noch von einander getrennt werden könnten. Die Zeichnungen in Jahrmarkt der Eitelkeiten können beispielsweise auch ohne den literarischen Text betrachtet und der Roman kann auch ohne die Bilder gelesen und verstanden werden. Wolf fasst den Begriff »Medienkombination«also ganz ähnlich wie Irina Rajewsky auf, deren Definition ja schon im vorigen Kapitel kurz erläutert wurde. 39 Ebd., S. 172. (Kursive Hervorhebung im Original) 40 Ebd. 41 Ebd., S. 173. 69
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Im Gegensatz zu Medienkombinationen lassen sich Medienmischungen oder gar Medienverschmelzungen nicht mehr problemlos in ihre medialen Einzelkomponenten trennen, denn diese haben sich zu einer neuen medialen Hybridform zusammengeschlossen. Als Beispiel für eine Medienmischung nennt Werner Wolf etwa den im Kino vorgeführten Tonfilm, der sich aus visuellen (= bewegte Bilder), nonverbal-akustischen (= Geräusche und Musik) und verbal-akustischen (= gesprochene Worte) Komponenten zusammensetzt. Nun ist es nicht besonders sinnvoll die Bilder ohne die gesprochenen Worte anzusehen, oder sich die Tonspur ohne die Bilder anzuhören, wohl aber ist es möglich die Filmmusik auf CD zu hören ohne den Film zu sehen, was für Werner Wolf belegt, dass die »Übergänge zwischen Medienkombination, –mischung und –verschmelzung«42 durchaus fließend sein können. Auf vollständige Medienverschmelzungen, die Claus Clüvers Begriff des Intermedia-Textes entsprechen, geht Werner Wolf nicht mehr explizit ein. Claus Clüver definiert diese jedoch als »derart durch zwei oder mehrere Zeichensysteme konstituierte Texte, dass sich die visuellen, musikalischen, verbalen, kinetischen und/oder performatischen Aspekte ihrer Zeichen nicht trennen oder auflösen lassen«43. Derartige reine Medienverschmelzungen bzw. Intermedia-Texte kommen relativ selten vor. Als ein Beispiel nennt Claus Clüver das Gemälde LOVE (1964) des amerikanischen PopartKünstlers Robert Indiana, in dem die Buchstaben L O V E des Mediums Schrift untrennbar mit den Farben Rot, Blau und Grün des Mediums Malerei verbunden sind. Schließlich grenzt Werner Wolf noch die plurimedialen Erscheinungen von den intermedialen Referenzen ab, die sich durch die Bezugnahme auf ein »Fremdmedium« definieren, das »jedoch nicht mit dem ihm eigenen Zeichensystem im untersuchten Werk oder Werkteil präsent«44 ist. Aus diesem Grund beeinflussen intermediale Referenzen das Werk, im Gegensatz zu den plurimedialen Phänomenen, auch nicht auf einer Signifikantenebene und bleiben »stets nur ein unselbständiger Teil in einem größeren Ganzen«45. Sie wirken aber dennoch sinnstiftend auf das zu untersuchende Werk ein, da durch sie ein anderes Medium in diesem Werk thematisiert oder imitiert wird. Was Werner Wolf also unter »intermedialen Referenzen« versteht, entspricht im Großen und Ganzen den »intermedialen Bezügen« bei Irina O. Rajewsky.
42 Ebd., Fußnote 25, S. 173. 43 C. Clüver: »INTER TEXTUS / INTER ARTES / INTER MEDIA«, S. 26. 44 W. Wolf: »Intermedialität. Ein weites Feld und eine Herausforderung für die Literaturwissenschaft«, S. 174. 45 Ebd. 70
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Wolf unterscheidet aber innerhalb der intermedialen Referenzen noch weiter zwischen »expliziter Referenz«, bei der ein Fremdmedium in einem anderen thematisiert wird, was etwa der Fall ist, wenn in Dostoevskijs Idioten Myškin mit Rogožin über das Bild Der tote Christus im Grabe (1521/1522) von Hans Holbein d. J. spricht, und »impliziter Referenz«, bei der »das Medium des untersuchten Werks Merkmale eines Fremdmediums mit seinen eigenen, meist formalen Mitteln imitiert«46. Wolf betont jedoch, dass derartige Imitationen »nur Suggestion« bleiben, da ja das »Fremdmedium nie wirklich präsent werden kann«47. Wenn beispielsweise Schriftstellern wie Alfred Döblin oder John Dos Passos48 ein filmisches Schreiben nachgesagt wird, bedeutet dies in der Regel, dass sie innerhalb ihres Mediums »Literatur« filmische Techniken wie etwa Montage oder Schnitt nachahmen – also imitieren – und nicht, dass tatsächliche Bilder aus einem Film in den literarischen Werken auftauchen. Ja es bedeutet nicht einmal, dass irgendein inhaltlicher Hinweis auf das Medium Film im Allgemeinen oder auf einen konkreten Film im literarischen Werk vorhanden sein muss. All die eben erläuterten Begriffe hat Wolf zum besseren Überblick in einem Diagramm zusammengefasst, das auf der folgenden Seite grob nachskizziert wird, wobei allerdings auf die Kurzdefinitionen, die Wolf ergänzend in sein Diagramm einfügte, aus Platzgründen verzichtet werden musste. Abschließend sei angemerkt, dass Werner Wolf ausdrücklich darauf hinweist, dass seine Typologie der Intermedialität kein rigoroses, abgeschlossenes System darstellt, und dass deshalb fließende Übergänge zwischen den einzelnen Klassen ebenso auftreten können wie »Zwischenformen und Mehrfachklassifizierungen«49.
46 Ebd., S. 175. 47 Ebd. 48 Vgl. zum filmischen Schreiben: Claudia Sternberg: »Film- und Literaturwissenschaft«, in: Ralf Schneider (Hg.), Literaturwissenschaft in Theorie und Praxis. Eine anglistisch-amerikanistische Einführung, Tübingen: Narr 2004, S. 218. Sowie explizit zu Döblin: Christian Schärf: Alfred Döblins »Berlin Alexanderplatz«. Roman und Film. Zu einer intermedialen Poetik der modernen Literatur, Stuttgart: Steiner 2001 (Abhandlungen der Klasse der Literatur, Akademie der Wissenschaften und der Literatur 2001 2), S. 18f. 49 W. Wolf: »Intermedialität. Ein weites Feld und eine Herausforderung für die Literaturwissenschaft«, S. 177. 71
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Diagramm 1: Die Typologie der Intermedialität nach Wolf
Intermedialität (IM) (in weitem Sinn)
Werkübergreifend erschließbare Intermedialität
Transmedialität
Intermediale Transposition
Werkintern nachweisbare Intermedialität
Intermediale Referenz
Plurimedialität
Implizite Referenz: Intermediale Imitation
Explizite Referenz: Intermediale Thematisierung
Medienmischung
Medienkombination
Quelle: Vgl. Werner Wolf: »Intermedialität. Ein weites Feld und eine Herausforderung für die Literaturwissenschaft«, in: Herbert Foltinek/ Christoph Leitgeb (Hg.), Literaturwissenschaft: intermedial – interdisziplinär, Wien: Verl. d. österr. Akademie d. Wissenschaften 2002, S. 178. Neben seiner intermedialen Typologie erläutert Werner Wolf aber noch die Vorzüge, die eine »literaturzentrierte Intermedialität« sowohl für die einzelphilologischen Literaturwissenschaften als auch für die Komparatistik mit sich bringt und prägt damit einen weiteren, wichtigen Terminus. Wolf deutet den durch joviales Scheuklappendenken so mancher LiteraturwissenschaftlerInnen in Verruf geratenen Begriff »literaturzentriert« um, indem er ganz neutral und wertungsfrei von der einleuchtenden Überlegung ausgeht, dass sich LiteraturwissenschaftlerInnen in der Regel mit jenen intermedialen Teilgebieten beschäftigen sollten, die Be72
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züge zu ihrem eigenen Medium der Literatur herstellen, wie etwa Literatur und Film oder Literatur und Musik. Zwar erfordert die Intermedialitätsforschung ganz generell Kenntnisse mehrerer, verschiedener medialer Bereiche, als sicheres Fundament bieten sich aber gerade für LiteraturwissenschaftlerInnen einige ganz besonders interessante literaturbezogene Ausgangspunkte für medienübergreifende Untersuchungen an. Wolf skizziert einige von ihnen, indem er systematisch jeden intermedialen Teilbereich, den er in seiner Typologie anführt, von einer »literaturzentrierten« Perspektive aus betrachtet. Zwei dieser paradigmatischen Untersuchungsgebiete spielen auch in dieser Studie eine wichtige Rolle, denn Wolf bezeichnet einerseits die Sichtung narrativer Gemeinsamkeiten als eine wesentliche transmediale Aufgabe und hebt andererseits eine literaturzentrierte Untersuchung von Literaturverfilmungen als fruchtbare Option für die Erforschung intermedialer Transpositionen hervor. Hier muss allerdings erklärend angemerkt werden, dass sich Wolfs zweiter Vorschlag klar von jener Vielzahl von Adaptationsanalysen abgrenzt, in denen lange Zeit die Forderung nach werktreuen Literaturverfilmungen dominierte. Der Film wurde in diesen Untersuchungen meist nur als Vehikel zur Verbreitung des traditionellen Literaturkanons betrachtet und, wie im übernächsten Kapitel noch gezeigt werden wird, dauerte es geraume Zeit bis sich die Forschung von diesem »WerktreueAxiom«50 befreien konnte. Wolf schwebt eine ganz andere Art von literaturzentrierten Adaptationsanalysen vor, bei denen beispielsweise nicht der gängige Weg vom Buch zum Film, sondern auch der entgegen gesetzte vom Film zum »Buch zum Film« untersucht wird. Im folgenden Kapitel wird nun ein Forschungsüberblick über das intermediale Teilgebiet »Literatur und Film« gegeben, da sich auf diesem unabhängig von der eigentlichen Intermedialitätsdebatte eigene Eingrenzungen und Typologisierungen entwickelt haben. Dabei gebührt dem eigenständigen Forschungsbereich zu Literaturverfilmungen, der sich als Subkategorie des Schwerpunkts »Literatur und Film« etabliert hat, besonderes Augenmerk, da es sich immerhin bei zweien der drei in dieser Studie untersuchten Filme um Literaturverfilmungen handelt. Die folgenden beiden Forschungsüberblicke erheben natürlich nicht den Anspruch auf Vollständigkeit, dies würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen, hier sollen nur paradigmatisch die wichtigsten Positionen einiger Forschungsrichtungen skizziert werden. 50 Franz-Josef Albersmeier: »Literatur und Film. Entwurf einer praxisorientierten Textsystematik«, in: Peter V. Zima (Hg.), Literatur Intermedial. Musik – Malerei – Photographie – Film, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1995, S. 237. 73
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3 . 2 L i t e r a t u r u n d F i l m – F o r sc h u n g s ü b e r s i c h t Betrachtet man »Literatur und Film« als Teilgebiet der Intermedialitätsforschung, so ergibt sich das interessante Paradoxon, dass die Subkategorie bei weitem älter ist als ihr Überbegriff. Denn über die Wechselbeziehungen zwischen Literatur und Film äußerten sich schon am Anfang des 20. Jahrhunderts verschiedene Regisseure und Filmkritiker, während sich ja der Begriff »Intermedialität« erst in den letzten 25 Jahren etablierte.
3.2.1 Frühe Hinweise auf Wechselwirkungen Der Beginn der Diskussion über die Beziehung zwischen Literatur und Film wird meist mit der mittlerweile legendären, aus dem Jahr 1908 stammenden Feststellung von David Wark Griffith (1875-1948) verbunden, welche besagt, dass die Erzähltechnik Charles Dickens’ ihm – Griffith –, dem »ersten Star-Regisseur in der Filmgeschichte«51, als Vorbild für seine Montagetechnik gedient hatte. In den frühen 1940er Jahren wird dieser Hinweis auf die literarischen Wurzeln eines der wichtigsten künstlerischen Verfahren im Film vom großen Meister der Montage Sergej Ėjzenštejn52 (1898-1948) im Aufsatz Dickens, Griffith und wir (Dikens, Griffit i my 1944) erneut aufgegriffen: »Dickens steht den Elementen der Filmkunst – in Methode, Manier, Besonderheit der Sicht und Darstellung – tatsächlich erstaunlich nahe. Und vielleicht ist in diesen sowohl der Filmkunst als auch Dickens eigenen Elementen ein gut Teil des Geheimnisses für den Massenerfolg zu suchen, den beide den Besonderheiten einer solchen Handschrift und Darlegung – neben der Themen- und Sujetwahl – verdankt haben und noch verdanken. Was bedeuten Dickens’ Romane für seine Zeit? […] Es gibt nur eine Antwort: Das gleiche, was für jene Gesellschaftsschichten heutzutage der Film bedeutet.«53 51 Joachim Paech: Literatur und Film, Stuttgart: Metzler 1997, S. 33. Wie Paech allerdings in seinem historischen Überblick belegt, war Griffith gar nicht der wahre Erfinder der Montage, sie wurde eigentlich bereits 1901 vom Engländer James Williamson im Film Fire! verwendet. Griffith hat jedoch »die Grundformen des narrativen Syntax des kontinuierlich erzählenden Films, die alternierende und die Parallelmontage zur Perfektion gebracht.« (Ebd., S. 34.) 52 Da in dieser Arbeit für russische Namen generell die wissenschaftliche Transliteration verwendet wird, gilt dies auch für den ursprünglich deutschstämmigen Namen Eisenstein. 53 Serge Eisenstein: »Dickens, Griffith und wir«, in: Ders., Gesammelte Aufsätze. Bd. 1, Zürich: Arche 1961 (Sammlung Cinema 2), S. 72. 74
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Für Ėjzenštejn spiegeln sich in Dickens’ Schreibweise und in Griffith’ Verwendung der Montage die unüberwindbaren, gesellschaftlichen Kontraste der Industriegesellschaft im 19. Jahrhundert wider. Und er zögert nicht, deren fruchtlosen, bürgerlichen Bemühungen um gesellschaftliche Aussöhnung, das eigene Montageprinzip gegenüberzustellen und das künstlerische Verfahren damit als politisch-ideologisches Instrumentarium zu definieren: »Für uns wurde die Montage zu einem Instrument, das es uns gestattet, zur Einheit der höchsten Ordnung vorzudringen, durch das Montagebild die organische Verkörperung einer einheitlichen ideologischen Konzeption zu erreichen, die alle Elemente des einzelnen, des Details des Filmwerkes umfasst.«54 Derartige, politisch motivierte Stellungnahmen Ėjzenštejns aus den 1940er Jahren müssen allerdings mit Vorbehalt betrachtet werden, da der berühmte Regisseur damals zunehmend Probleme mit der Stalinistischen Zensur bekam, die schließlich im Verbot des zweiten Teils seiner geplanten Filmtrilogie Ivan der Schreckliche (Ivan Groznyj II 1946) gipfelten. Im Hinblick auf Literatur und Film ist es allerdings sehr interessant, dass Ėjzenštejn in Dickens, Griffith und wir die Verbindung zwischen den beiden Medien über thematisch-inhaltliche Grenzen hinausführt und auch in Struktur und Form des Films literarische Wurzeln lokalisiert. Mit derartigen Überlegungen war er aber auch in Russland bei weitem nicht der erste, denn auch dort setzte die Diskussion um Literatur und Film schon viel früher ein. So äußerte sich etwa Lev Nikolaevič Tolstoj (18281910) in einem Gespräch mit dem Drehbuchautor Isaak Teneromo über den Film als großen stilistischen Hoffnungsträger für die Literatur: »You will see that this little clicking contraption with the revolving handle will make a revolution in our life – in the life of writers. It is a direct attack on the old methods of literary art. We shall have to adapt ourselves to the shadowy screen and to the cold machine. A new form of writing will be necessary. […] This swift change of scene, this blending of motion and experience – it is much better than heavy, long-drawn-out kind of writing to which we are accustomed. It is closer to life. In life, too, changes and transitions flash by before our eyes, and emotions of the soul are like a hurricane. The cinema has divined the mystery of motion. And that is greatness.«55
54 Ebd., S. 135. 55 Teile des Gesprächs wurden erstmals 1937 publiziert in dem Zeitungsartikel: David Bernstein: »Tolstoy on the Cinema«, in: New York Times vom 31.1.1937. Es existiert keine russische Version. Jay Leyda, der den Artikel in den Appendix zu seiner Studie Kino aufnahm, gibt an, dass Tolstojs Tochter Aleksandra manchen Aspekten des Berichts gegenüber Bedenken äußerte. Sie glaubte aber, dass viele der Bemerkungen durchaus von ihrem 75
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Diese Äußerungen Tolstojs fanden ungefähr zur gleichen Zeit wie Griffith’ Hinweise auf Dickens statt, denn Teneromo gab an mit dem russischen Dichter im Jahre seines achtzigsten Geburtstags – also 1908 – gesprochen zu haben. Somit entdeckten der große Schriftsteller und der berühmte Regisseur ziemlich zur selben Zeit die immense Bedeutung des jeweils anderen Mediums für die Entwicklung des eigenen. Dabei reduzierte aber keiner der beiden das andere Medium auf einen reinen Themenlieferanten. Beide wollten viel mehr dessen Erzählweise und Erzählstruktur für das eigene Medium nutzen.
3.2.2 Die Position der russischen Formalisten Nachdem Literatur- und Filmschaffende selbst – wie eben Griffith und Tolstoj – zur Beziehung zwischen ihren beiden Medien Stellung genommen hatten, dauerte es eine geraume Zeit, bis auch die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Thema »Literatur und Film« einsetzte. Eine der ersten literaturwissenschaftlichen Gruppierungen, die sich auch mit Fragen des Films beschäftigte, waren die russischen Formalisten. Sie reagierten zunächst in den 1920er Jahren auf die programmatischen Manifeste von Regisseuren wie Dziga Vertov, die noch für eine puristische Reinheit des Kinos eintraten. Vertov schrieb etwa 1922 in Wir – Variante eines Manifests (My – variant manifesta): »Wir säubern die Filmsache von allem, was sich einschleicht, von der Musik, der Literatur und dem Theater; wir suchen ihren nirgendwo gestohlenen Rhythmus und finden ihn in den Bewegungen der Dinge.«56 Angesichts der Tatsache, dass schon im vorrevolutionären Russland ein regelrechter Boom an Literaturverfilmungen einsetzte – Dostoevskijs Idiot wurde etwa bereits 1910 von Pëtr Čardynin57 das erste Mal verfilmt –, kämpfte der streitbare Dokumentarfilmer mit seiner Forderung nach einem »reinen Film« natürlich schon auf verlorenem Posten. Die Formalisten, die grundsätzlich immer die Eigenständigkeit des Films betonten, weisen nun aber ab Mitte der 1920er Jahre auch zunehmend auf die Ähnlichkeiten und die engen Beziehungen zwischen Literatur und Film hin. So stellt etwa Boris Ėjchenbaum 1926 fest, dass »die Literatur […] be-
Vater stammen könnten. (Vgl. Jay Leyda: Kino. A History of the Russian and Soviet Film, Princeton, NJ: Princeton University Press 1983, S. 410.) 56 Dziga Vertov: »Wir. Variante eines Manifests«, in: Franz-Josef Albersmeier (Hg.), Texte zur Theorie des Films, Stuttgart: Reclam 1984, S. 20. 57 Eine Liste der wichtigsten Verfilmungen des Idioten befindet sich im Literaturverzeichnis am Ende dieses Buches. 76
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harrlich durch den Vorführapparat gedreht«58 wird und im Gegensatz zu Vertov betont er: »Den Film als eine vom Wort absolut getrennte Kunst zu beschreiben, wäre offenbar falsch. Die Künste bilden ohnehin keine in sich abgeschlossenen Einheiten, denn synkretistische Tendenzen eignen einer jeden von ihnen. Es geht nur um den Grad der jeweiligen Wechselbeziehung der Elemente […]. Erst recht gilt das für den Film, der gerade dadurch zu einer neuen Kunst wurde, dass er die tradierten Elemente auf der Grundlage der neuen Möglichkeiten der Filmkamera umgruppierte.«59
In gewissem Sinne nimmt Ėjchenbaum hier bereits eine jener Definitionen von Intermedialität vorweg, die wir im vorigen Kapitel kennen gelernt haben. Und er greift auch viel späteren, filmsemiotischen Arbeiten vor, wenn er dem Film eine eigene Form des Erzählens zugesteht und bereits 1926 – also noch zur Stummfilmzeit – feststellt, dass »das Wort im Film eine besondere Rolle spielt«60. Knapp ein Jahr später schlägt Jurij Tynjanov bereits vor, die ursprünglich für literarische Texte erarbeiteten Begriffe Fabel und Sujet, mit denen die Art und Weise des Erzählens (Sujet) vom rein chronologisch geordneten Erzählten (Fabel) abgegrenzt werden soll, auf den Film anzuwenden61, und Viktor Šklovskij versucht, ebenfalls bereits 1927, literarische Grundbegriffe auf den Film zu übertragen, was ihn schließlich zur Behauptung veranlasst: »Es gibt einen Film der Prosa und einen der Poesie – und dies ist eine grundlegende Einteilung der Gattungen«62. Obwohl die russischen Formalisten also bereits auffällige Parallelen zwischen den beiden Medien erkannten und auch schon literaturwissenschaftliche Termini auf den Film anwandten, setzten sie sich aber doch noch nicht systematisch mit der Beziehung zwischen Literatur und Film auseinander.
58 Boris Eichenbaum: »Literatur und Film«, in: Ders., Aufsätze zur Theorie und Geschichte der Literatur, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1965, S. 71. 59 Ebd., S. 75. 60 Ėjchenbaum hatte natürlich noch die Texteinblendungen im Stummfilm im Sinn. (Vgl. ebd., S. 77.) 61 Vgl. Jurij N. Tynjanov: »Über die Grundlagen des Films«, in: Franz-Josef Albersmeier (Hg.), Texte zur Theorie des Films, Stuttgart: Reclam 1984, S. 170ff. 62 Viktor B. Šklovskij: »Poesie und Prosa im Film«, in: Franz-Josef Albersmeier (Hg.), Texte zur Theorie des Films, Stuttgart: Reclam 1984, S. 178. 77
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3.2.3 Die Diskussion über Film als Kunstform im deutschsprachigen Raum Von einer systematischen Analyse der literarisch-filmischen Wechselwirkungen waren auch die frühen deutschsprachigen Filmforscher, wie etwa der gebürtige Ungar Béla Balázs oder Rudolf Arnheim, noch weit entfernt. Allerdings verfolgten diese in den 1920er und 1930er Jahren auch ein ganz anderes Ziel: ihnen ging es vor allem um die Anerkennung des Films als eigenständige Kunstform. Dabei standen ihre Schriften aber unter ganz verschiedenen Vorzeichen: Arnheim bemühte sich die künstlerische Eigenständigkeit des Films zu beweisen, indem er von dessen psychologischer Wirkung auf den Betrachter ausging, Balázs führte hingegen soziale und marxistische Gründe für die Entstehung der Kunstform Film an. Keiner der beiden vergleicht den Film direkt mit der Prosaliteratur, wohl aber grenzen ihn beide samt seiner stilistischen Verfahren und Optionen vom Theater ab, und genau dabei beschreiben sie, wenn auch nicht bewusst, Gestaltungsmöglichkeiten, die der Film mit der Prosaliteratur – insbesondere mit dem Roman – teilt. Wenn Arnheim etwa anführt, dass im Film durch Schnitt und Montage das Raum-Zeitkontinuum unterbrochen werden kann, so gilt dies im selben Maße für die Erzählliteratur: »Die gefilmte Zeitstrecke lässt sich an einem beliebigen Punkt unterbrechen. Sofort darauf kann eine Szene vorgeführt werden, die zu völlig andrer Zeit spielt. Und ebenso lässt sich das Raumkontinuum unterbrechen. […] Ich kann eben noch in Sydney gewesen sein und bin gleich darauf in Magdeburg.«63 Und wenn Arnheim außerdem anmerkt, dass diese freie Gestaltungsform in der Regel durch die chronologische Abfolge einer Handlung eingeschränkt wird, kann auch dies als mögliche Parallele zwischen Film und Literatur betrachtet werden. Die Unterschiede und Gemeinsamkeiten, die Arnheim zwischen Film und Theater feststellt, muten aus heutiger Sicht aber auch etwas verstaubt an, wenn er dabei von der Grundidee ausgeht, dass Film und Theater das wirkliche Leben widerspiegeln wollen. Allerdings muss man Arnheim auch heute noch beipflichten, wenn er darauf hinweist, dass Film und Theater eine gewisse Raumillusion erzeugen. Für das Theater stellt er etwa fest: »Jedes Publikum lacht, wenn plötzlich eine Kulisse einfällt und sich herausstellt, dass die Zimmerwand bloß bemalte Pappe ist […] aber kein Publikum lacht, weil das Zimmer nur drei Wände hat.«64 Im Gegen-
63 Rudolf Arnheim: »Film als Kunst«, in: Franz-Josef Albersmeier (Hg.), Texte zur Theorie des Films, Stuttgart: Reclam 1984, S. 191. 64 Ebd., S. 194f. 78
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satz dazu bildet der Film »Räume ab, und er tut das nicht, wie die Bühne, mit Hilfe eines realen Raums, sondern, wie die unbewegte Fotografie, mit Hilfe einer Fläche«65. Raumillusion erzeugen nun beide Medien, da sie nicht nur Räume darstellen, sondern auch an Bewegung und einen Zeitablauf gebunden sind, der jedoch im Film »unterbrochen werden könnte, ohne dass der Zuschauer das als Gewalt empfindet«66. Béla Balázs zieht die Grenze zwischen Film und Theater nun bereits durch eine systematische Gegenüberstellung der beiden künstlerischen Grundprinzipien. Für das Theater nennt er dabei drei wesentliche Fixpunkte: Zum ersten sieht der Zuschauer die Bühne in ihrer »räumlichen Totalität«67 vor sich. Ihm wird somit immer das Gesamtbild eines ganzen Raumes suggeriert, das im selben Rahmen, bzw. »im selben Plan«68 bleibt. Zum zweiten verändert sich beim Theaterbesuch die Entfernung zwischen Zuschauer und Bühne nicht, da man ja in der Regel während der Vorstellung an seinem Platz sitzen bleiben muss und sich der Szene nicht nähern kann. Und zum dritten bleibt deshalb im Theater auch die Perspektive des Zuschauers unverändert, und »die Einstellung des Bildes«69 ist stets dieselbe. Der Film überschreitet diese drei theatralischen Prinzipien nun deutlich und entwickelt neue Gestaltungsmethoden, die es ihm erlauben, »innerhalb der Szene«70 die »Pläne«, die Distanzen und die Einstellungen (bzw. Perspektiven) zu wechseln. Dies alles ermöglicht im Film die Montage; durch sie kann »das einzelne Bild aus dem Ganzen« herausgehoben und beispielsweise eine Großaufnahme direkt an eine Totale angefügt werden. Im Vergleich mit dem Theater bedeutet dies, dass uns der Film die »kleinen Lebensatome nicht nur deutlicher als […] die Bühne« zeigen kann, sondern auch, dass »der Regisseur […] mit ihnen unser Auge«71 führt. Und Balázs folgert daraus, dass die bewegliche Kamera sich nicht nur des Auges des Zuschauers, sondern auch seines Bewusstseins bemächtigt, weshalb er sich direkt mit den Figuren des Films identifizieren kann und sich in die Handlung verwickelt fühlt. All diese von Balázs genannten gestalterischen Möglichkeiten besitzt die Prosaliteratur ebenso
65 Ebd., S. 195. 66 Ebd. 67 Béla Balázs: »Zur Kunstphilosophie des Films«, in: Franz-Josef Albersmeier (Hg.), Texte zur Theorie des Films, Stuttgart: Reclam 1984, S. 212. (Kursive Hervorhebungen im Original) 68 Ebd. 69 Ebd. (Kursive Hervorhebungen im Original) 70 Ebd., S. 213. 71 Ebd. (Kursive Hervorhebungen im Original) 79
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wie der Film; auch wenn sie sie nicht direkt über Bilder, sondern über das schriftlich fixierte Wort vermittelt. Schließlich fällt diese Parallele auch Balázs selbst auf, wenn er anmerkt: »Solche Identifikation des Menschen mit den handelnden Personen des Kunstwerks kann manchmal in der Literatur suggeriert werden […].«72 Einen weiterführenden Vergleich zwischen den beiden Medien scheut Balázs jedoch noch, und er fügt sofort einschränkend hinzu, dass ein derartiges Identifikationspotential »in den räumlichen, darstellenden Künsten […] bisher vollkommen undenkbar«73 war.
3.2.4 Neue Impulse nach 1945 aus der Germanistik und der Filmkritik Nach dem zweiten Weltkrieg wurde die Diskussion um Literatur und Film im deutschsprachigen Raum durch zwei Publikationen zweier namhafter WissenschaftlerInnen neu belebt, die sich vorwiegend auf eines der beiden Medien konzentrierten, aber auch dem jeweils anderen ein erstaunlich umsichtiges Kapitel ihrer Untersuchungen widmeten. Dabei handelt es sich zum einen um die 1957 veröffentlichte bahnbrechende Studie Die Logik der Dichtung von Käte Hamburger und zum anderen um Siegfried Kracauers berühmte, 1960 in New York veröffentlichte »Mentalitätsgeschichte des Films«74 Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit (Theory of Film. The Redemption of Physical Reality 1964). Käte Hamburger berücksichtigt den Film deshalb in ihrer literaturwissenschaftlichen Studie, weil er, ebenso wie Roman und Drama, mittels der Sprache Fiktion erzeugen kann.75 Und ebenso wie Arnheim und Balázs geht auch Hamburger zunächst von einer Verwandtschaft zwischen Kino- und Theaterbesuch aus. In beiden Fällen ist die Situation des Rezipienten »die des Zuschauers und nicht die des Lesers«76. Doch im Gegensatz zur Theaterbühne ist »die Filmleinwand […] eine zweidimensionale Fläche«77, die es aber paradoxerweise besser als die dreidimensi72 Ebd., S. 217. (Kursive Hervorhebungen im Original) 73 Ebd. 74 Fritz-Wilhelm Neumann: »Siegfried Kracauer«, in: Ansgar Nünning (Hg.), Metzler Lexikon. Literatur- und Kulturtheorie, Stuttgart, Weimar: Metzler 2004, S. 350. 75 Vgl. Käte Hamburger: Die Logik der Dichtung, Stuttgart: Ernst Klett 1968, S. 176f. 76 Ebd. S. 177. 77 Ebd. 80
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onale Bühne versteht, dem Zuseher ein »natürliches Raumerlebnis« zu vermitteln. Käte Hamburger führt dies auf die »technische Strukturbedingung«78 des Films – das bewegte, fotographische Bild – zurück, denn durch die Bewegung vermag der Film wie die Literatur »menschliches Leben, handelnde Personen«79 darzustellen und »die Illusion, die Fiktion menschlichen Lebens«80 zu erzeugen. Und obwohl die Situation des Kinobesuchers eher mit jener des Theaterbesuchers vergleichbar ist, »tritt das Eigentümliche auf, dass wir uns zugleich auch in der Situation des Romanlesers befinden […]. Denn nicht alles was wir im Film sehen, können wir auch auf der Theaterbühne sehen; aber wir können es in einem Roman lesen.«81 Diese Erkenntnis führt Käte Hamburger zu dem Schluss, dass sowohl Film als auch Roman erzählende Medien sind, und damit nimmt sie im Wesentlichen den wichtigsten Ausgangspunkt der Filmnarratologie vorweg: »Wenn etwa die Sonne fern am Horizont langsam ins Meer sinkt, wenn ein Flugzeug sich vom Boden hebt […] – dann sehen wir zwar etwas, aber wir sehen etwas, das erzählt ist. Das bewegte Bild hat eine Erzählfunktion; es ersetzt das Wort der epischen Erzählfunktion.«82 Diese Funktion teilt der Film mit der Prosaliteratur – v.a. mit dem Roman –, auch wenn er wie das Theater gesehen und gehört wird und sich direkt der sinnlichen Wahrnehmung bedient. Für Käte Hamburger verschmelzen deshalb im Film Dramatik und Epik »zur Sonderform der episierten Dramatik und dramatischen Epik«83 und dabei tritt jeder der beiden Faktoren »zugleich erweitert und begrenzt«84 auf. Schade ist allerdings, dass Käte Hamburger ihr Kapitel über den Film mit einer Abwertung der filmischen Fiktion beschließt, indem sie festhält: »[…] unter diesem Gesichtspunkt gehört auch die Filmfiktion in den logischen Bereich der literarischen Fiktion, wenn auch an einen der epischen und dramatischen nicht gleichberechtigten Platz.«85 In Kracauers Buch, mit dem er die moderne Filmsoziologie begründete, und das bereits 1964 ins Deutsche übersetzt wurde, werden nun auch zahlreiche Verbindungen zum deutschsprachigen Film hergestellt, da der Autor bis zu seiner Flucht vor dem Naziregime 1933 als Film- und Literaturredakteur bei der Frankfurter Zeitung gearbeitet hatte. Ähnlich 78 79 80 81 82 83 84 85
Ebd. Ebd., S. 178. Ebd. Ebd., S. 179. Ebd. Ebd., S. 185. Ebd. Ebd., S. 186. 81
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wie Käte Hamburger geht auch Siegfried Kracauer davon aus, dass Roman und Film danach streben das »Leben in seiner Fülle darzustellen«86, indem sie beide eine »Story« erzählen. Doch Kracauer will die beiden Medien nicht nur auf ihre Funktion als Geschichtenerzähler reduzieren und betont deshalb zunächst ihre unterschiedlichen »formalen Eigenschaften«87. Mit Hinweis auf den französischen Kunstphilosophen Etienne Souriau stellt Kracauer fest, dass sich bestimmte formal-strukturelle Eigenschaften des Romans nur schwer in Filmsprache übersetzen lassen. Wenn aber Souriau behauptet, dass der Film weder der Zeitstruktur des Romans noch seinen Erzählperspektiven gerecht werden kann, ergreift Kracauer sofort Partei für den Film und nennt Beispiele wie Ingmar Bergmanns Wilde Erdbeeren (Smultronstället 1957) oder Akira Kurosawas Rashōmon (1950), in denen mit der erzählten Zeit und den Erzählperspektiven genauso virtuos wie in einem Roman und viel komplexer als Souriau es dem Film zugesteht umgegangen wird. Für Kracauer steht ein anderer, gravierender Unterschied zwischen Film und Roman im Vordergrund, der mit ihren technischen Grundvoraussetzungen als audio-visuelles bzw. als schriftlich-verbales Medium zusammenhängt. Der Film muss sich, um den »Strom des Lebens«88 darzustellen, »materieller Phänomene«89 bedienen und bildet demnach auch ein »materielles Kontinuum« 90. Der Roman ist jedoch als »sprachliche Komposition« dazu imstande, »innere Ereignisse, die von Gefühlen zu Ideen, von psychologischen Konflikten zu intellektuellen Auseinandersetzungen reichen, direkt zu benennen«91 und stellt somit ein »geistiges Kontinuum« dar. Daraus folgert Kracauer nun, dass gerade in Literaturverfilmungen die Darstellung der seelisch-geistigen Romanwelt problematisch werden kann, da sie »Elemente enthält, die das Kino nicht assimilieren kann«92. Allerdings löst sich der Roman, so dominant das geistig-seelische Element in ihm auch sein mag, nie ganz von einer materiellen, physischen Welt. Kracauer unterscheidet deshalb zwischen Romanen, die »unübertragbare Aspekte des Lebens […] betonen«, und Romanen, die es vermeiden, »an Situationen, Ereignisse und Beziehungen zu
86 Siegfried Kracauer: Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1985, S. 307. 87 Ebd., S. 309. 88 Ebd., S. 313. 89 Ebd. 90 Ebd. 91 Ebd. 92 Ebd., S. 316. 82
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rühren, die nicht bis zu einem gewissen Grad physische Realität durchscheinen«93 lassen. Genau hier rutscht Kracauer aber in ein voreilig wertendes Fahrwasser ab, denn er erklärt Filme wie Jean Renoirs Madame Bovary (1933) oder John Hustons Moby Dick (1956) für misslungen, da sie sich eines »unfilmischen« literarischen Stoffes bedient hätten.94 Während er John Fords The Grapes of Wrath (1940) und René Cléments Gervaise (1956) für gelungene Filme hält, weil ihre literarischen Vorlagen, John Steinbecks gleichnamiger Roman (dt. Früchte des Zorns 1939) und Émile Zolas Roman Der Totschläger (L’Assomoir 1877), mit ihren physischen Milieuschilderungen der materiellen Welt des Films eher entgegenkommen. Die Filmgeschichte hat diese These Kracauers, die besagt, dass Steinbeck und Zola verfilmbar sind, während Flaubert und Melville unverfilmbar wären, mittlerweile eindeutig widerlegt, denn während The Grapes of Wrath und L’Assomoir seit den 1950er Jahren kaum mehr als Filmvorlagen verwendet wurden, ist die Beliebtheit von Madame Bovary und Moby Dick als Filmstoff bis heute ungebrochen. Dies belegt etwa die äußerst erfolgreiche, mehrfach preisgekrönte Verfilmung des FlaubertRomans durch Claude Chabrol aus dem Jahr 1991 eindrucksvoll.
3.2.5 Die Diskussion über die Sprache des Films in Frankreich und Italien In Frankreich setzte nach dem zweiten Weltkrieg ebenfalls eine breite Diskussion um Film und Literatur ein, bei der v.a. die Definition einer eigenen Filmsprache im Vordergrund stand, die immer wieder zu Vergleichen mit der Sprache der Literatur anregte. Ein wesentlicher Initiator dieser Diskussion war der Regisseur Alexandre Astruc, der schon Ende der 1940er Jahre den Begriff »caméra-stylo« prägte, um die Sprache des Films mit dem Schreiben eines Romans zu vergleichen. Die Kamera soll so arbeiten wie der Federhalter des Schriftstellers und die Welt pointiert und detailliert darstellen, eben wie ein »Kamera-Füller«. 1952 spricht Astruc dann endgültig von einer eigenen Sprache und Schrift des Kinos: »Le cinéma est en train, tout simplement de devenir un moyen d’expression. Après avoir été successivement une attraction foraire, un divertissement analogue au théâtre de boulevard […], il devient peu à peu un langage […]. La
93 Ebd. 94 Vgl. ebd., S. 315f. sowie 319ff. 83
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mise en scène n’est plus un moyen d’illustrer ou de présenter une scène mais une véritable écriture.«95
Auch André Bazin, der berühmte Filmkritiker und geistige Vater der »Nouvelle Vague«, widmete einen seiner Beiträge im ersten Band der Textsammlung Qu’est-ce que le cinéma? der Entwicklung dieser kinematographischen Sprache und fasste dabei vor allem die Anwendung kameratechnischer Verfahren, wie Montage, Schnitttechnik und Tiefenschärfe als filmische Sprachelemente auf.96 Gegen eine solche Auffassung von Filmsprache grenzte sich ab Mitte der 1960er Jahre die Filmsemiotik bzw. Filmnarratologie ab, die Christian Metz in enger Verbindung mit strukturalistischen und semiotischen Literaturwissenschaftlern wie Roland Barthes oder Umberto Eco und in Anlehnung an Ferdinand de Saussures sprachwissenschaftliche Terminologie begründete. Schon 1964 erkennt Metz in seinem Aufsatz Le cinéma: langue ou langage? die narrative Basis des Films. Diese Fähigkeit zu erzählen, ermöglicht es dem Zuschauer erst den kinematographischen Kode zu verstehen, der durch kameratechnische Verfahren wie Überblenden oder Doppelbelichtung angewandt wird: »Das rechte Verständnis des Überblendens [fondu-enchaîné] oder der Doppelbelichtung [surimpression] kann niemals die Handlung eines Films erklären, außer für den Zuschauer, der schon andere Filme gesehen hat, in denen ein verständliches Überblenden oder eine Doppelbelichtung vorkamen. Doch die narrative Dynamik einer Handlung, die wir immer gut verstehen, weil sie zu uns in Bildern der Welt und unserer selbst spricht, bringt uns zwangsläufig dazu, das Überblenden oder die Doppelbelichtung zu verstehen, wenn auch nicht gleich beim ersten Film, […] so doch beim dritten oder vierten.«97
Für Metz sind die technischen Verfahren des Kinos somit keine Elemente einer Sprache, sondern Hilfsmittel, um in Bildern erzählen zu können, denn in erster Linie vermittelt uns der Film »zusammenhängende Ge95 Alexandre Astruc: »Naissance d’une nouvelle avant-garde: la caméra stylo«, in: L’écran français (1952), S. 144f. 96 Vgl. André Bazin: »L’évolution du langage cinématographique«, in: Ders., Qu’est-ce que le cinéma. Ontologie et langage, Paris: Les éditions du cerf 1958 (Septieme art 24), S. 131-149; Dt. Übersetzung: André Bazin: »Die Entwicklung der kinematographischen Sprache«, in: Ders., Was ist Kino? Bausteine zur Theorie des Films, Köln: Verlag M. DuMont Schauberg 1975, S. 28-45. 97 Christian Metz: »Le cinéma: langue ou langage?«, in: Communications 4 (1964), S. 52-90. Hier zitiert nach Christian Metz: Semiologie des Films, München: Fink 1972, S. 64. 84
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schichten«98. Dies vollzieht sich aber, wie gesagt, in Bildern und nicht, oder nur zum Teil, in einer verbalen Sprache. Das Kino ist somit streng genommen kein »linguistisches Gebilde«, denn Saussure versteht unter langue ein »System von Zeichen, das zur Interkommunikation bestimmt ist.«99 Metz stellt nun fest, dass das Kino nicht der Kommunikation dient, sondern, wie jede andere Kunstform auch, der Expression100, und das kinematographische Bild ist in erster Linie auch kein komplexes Zeichensystem wie die Regeln der Sprache: »Das Bild ist immer in erster Linie ein Bild; es reproduziert mit seiner perzeptiven Genauigkeit das Ereignis, das signifié [Signifikat – Anm. D.B.], dessen signifiant [Signifikant – Anm. D.B.] es ist; es ist in ausreichendem Maße das, was es darstellt, um es nicht noch signifizieren zu müssen, wenn man diesen Ausdruck im Sinne von »signum facere«, »ein besonderes Zeichen herstellen«, versteht.«101
Während Metz aber einerseits eine klare Grenze zwischen Film und Sprache als Zeichensystem zieht, sieht er andererseits deutliche Parallelen zwischen Film und Literatur als Kunstformen. Denn wie die Worte in einem Roman verfügt auch das abgefilmte Ereignis schon bevor es von der Kamera aufgenommen wurde über eine »eigene Expressivität, da es im Grunde genommen ein Stück Welt war und diese immer einen Sinn hat«102. Und auch das in einem literarischen Werk niedergeschriebene Wort verfügt als Teil der Sprache über einen solchen »präexistenten Sinn«. Da nun abgefilmte Welt und niedergeschriebene Worte grundsätzlich schon eine denotative Bedeutung haben, sind die auf ihnen basierenden Kunstformen Literatur und Film von »Natur aus zur Konnotation verdammt«103. Der Grundbedeutung seines Materials muss das Kunstwerk also zusätzliche, assoziative Nebenbedeutungen verleihen, denn »letztlich unterscheidet sich ein Roman von Proust von einem Kochbuch oder ein Film von Visconti von einem chirurgischen Dokumentarfilm – semiologisch ausgedrückt – durch den Reichtum an Konnotationen.«104 Doch Metz weist auch auf wesentliche Unterschiede zwischen den beiden Kunstformen hin, die v.a. von der unterschiedlichen Beschaffenheit ihres Basismaterials herrühren. Denn die abgefilmte Welt des Kinos
98 Ebd., S. 69. 99 Ebd., S. 108f. 100 Vgl. ebd., S. 109. 101 Ebd. (Kursive Hervorhebungen im Original) 102 Ebd. 103 Ebd., S. 110. 104 Ebd. 85
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verfügt über eine andere, direktere Expressivität als das geschriebene Wort, das ja bereits selbst auf dem konventionellen Zeichensystem der Sprache basiert. Für Metz ergibt sich daraus ein wesentlicher Unterschied im Entstehungsprozess der beiden Kunstformen: »Die ästhetische Expressivität pfropft sich beim Kino auf die natürliche Expressivität auf, nämlich auf die der Landschaft oder des Gesichtes, das uns der Film zeigt. In den Künsten des Verbalen pfropft sie sich nicht auf eine ursprünglich wirkliche Expressivität auf, sondern auf eine konventionelle, weithin inexpressive Bedeutung, die der Sprache [langue]. Daher vollzieht sich der Zugang des Kinos zur ästhetischen Dimension – Expressivität auf Expressivität – ohne Übergänge […].«105
Dieser wesentliche Unterschied enthüllt auch die Schwierigkeiten im Schaffensprozess der beiden Kunstformen. Denn Metz stellt fest, dass es im Grunde einfach ist, sich der natürlichen Expressivität der abgefilmten Welt zu bedienen, doch sehr schwierig diese ästhetisch zu konnotieren. Während für die Literatur diese große Hürde der Konnotation bereits ganz am Anfang zu bewältigen ist, wenn sie der denotativen Bedeutung der Umgangssprache ästhetische Expressivität verleihen muss, um überhaupt Kunst zu werden. Metz’ Übertragung der Saussure’schen Termini auf den Film wurde allerdings bald von anderen Forschern als problematisch erachtet, da das verbal-sprachliche Zeichensystem anders aufgebaut ist als das kinematographische, in dem sich akustische und schriftliche mit visuellen Elemente vereinen. Umberto Eco schlägt deshalb vor, anstelle von »Filmsprache« von »filmischen Kodes«106 zu sprechen und greift zur Definition der filmischen Bildzeichen auf Charles S. Pierce und dessen Begriff des »ikonischen Zeichens« zurück. Denn im Gegensatz zum symbolischen Zeichen des geschriebenen Wortes, reproduziert das ikonische Zeichen »einige Eigenschaften des dargestellten Objekts«107, womit es die Besonderheiten des filmischen Bildes natürlich besser erfasst. Allein auf der Bildebene bestimmt Eco nun nicht weniger als zehn verschiedene Kodes, die während des Anschauens eines Filmes im Zuseher aktiviert werden. Die Bandbreite reicht dabei von Wahrnehmungskodes und Er-
105 Ebd., S. 111. (Kursive Hervorhebungen im Original) 106 Vgl. Umberto Eco: »Die Gliederung des filmischen Kodes«, in: Heinz Blumensath (Hg.), Strukturalismus in der Literaturwissenschaft, Köln: Kiepenheuer & Witsch 1972 (Neue Wissenschaftliche Bibliothek 43), S. 364. 107 Ebd., S. 366. (Kursive Hervorhebungen im Original) 86
INTERMEDIALITÄT
kennungskodes über ikonische Kodes, Kodes des Geschmacks und der Sensibilität bis hin zu stilistischen Kodes und Kodes des Unbewussten.108 Aus heutiger Sicht liegt das große Verdienst der Filmsemiotik v.a. in der Entwicklung einer systematischen Terminologie, die es ermöglicht, die beiden Medien Film und Literatur gleichberechtigt nebeneinander zu positionieren und zu analysieren. Indem sie Literatur und Film ausdrücklich als narrative Kunstformen ausweist, liefert die Filmsemiotik außerdem die wesentliche Basis für spätere filmphilologische und intermediale Forschungsansätze.
3.2.6 Die deutschsprachige Filmphilologie Ab den 1970er Jahren entwickelte sich in Deutschland durch die Auseinandersetzung mit filmsemiotischen und filmnarrativen Erkenntnissen ein eigener filmphilologischer Ansatz, als dessen führende Vertreter der Kieler Anglist Paul G. Buchloh und der Münchner Germanist Klaus Kanzog gelten. Für Kanzog besteht die Hauptaufgabe der Filmphilologie – wie auch der Philologie generell –, darin »Überlieferungsträger zu sichern, zu beschreiben und für die Interpretation bereitzustellen«. Dabei schafft die Philologie »stets die Voraussetzungen für die ›Rede‹ über den Gegenstand und die Verifizierung ihrer Argumente«109. Für die Filmphilologie bedeutet dies, dass sie sich in einer gewissen »Laborsituation« befindet, denn im Gegensatz zur Literaturwissenschaft muss sie einen Text erst durch »sprachliche Rückübersetzung und schriftliche Fixierung der filmischen Information«110 neu herstellen. Die Kieler Filmphilologen um Paul G. Buchloh konzentrierten sich v.a. auf die Untersuchung von Literaturverfilmungen, wobei aber auch kulturelle und mediale Fragestellungen berücksichtigt wurden, die über den Bereich der Adaptation hinausreichen. Zentral sind in diesem Zusammenhang die Fragen: »Wie wird das Bild einer fremdsprachigen Kultur auf die eigene vermittelt bzw. verändert?« und »Welche Einflüsse haben durch das Medium bedingte Fakten in diesem Prozess?«111 Um diese
108 Vgl. ebd., S. 369-72. 109 Klaus Kanzog: Einführung in die Filmphilologie, München: Schaudig, Bauer, Ledig 1991 (Diskurs Film. Münchner Beiträge zur Filmphilologie 4), S. 11. 110 Ebd. 111 Paul G. Buchloh: »Die Erweiterung des Studiums der Englischen Philologie: Programmatische Überlegungen zu den Möglichkeiten der Filmphilologie«, in: Ders. u.a. (Hg.), Filmphilologie. Studien zur englisch87
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Fragen zu beantworten, werden von den Kieler Filmphilologien auch verstärkt ins Deutsche synchronisierte Filmversionen untersucht und durch den Vergleich mit ihren Originalfassungen kulturell-, medial-, aber auch sprachbedingte Abweichungen aufgezeigt. Außerdem berücksichtigt die Filmphilologie nun auch das Rezeptionsverhalten und die kulturellen Vorkenntnisse eines Kinobesuchers, und im Zusammenhang mit Literaturverfilmungen werden dadurch die interessanten Fragen aufgeworfen: »Wie wird eine Literaturverfilmung aufgenommen, wenn das verfilmte Werk in Buchform vorher bekannt war?«112 Und wie liest der Rezipient das Buch, wenn er den Film vorher gesehen hat? Die Münchner Filmphilologen um Klaus Kanzog dehnten ihren Forschungsbereich nun auf »alle Phänomene der Literarisierung eines Films«113 aus. Und dazu zählen neben Literaturverfilmungen auch filmbezogene schriftliche Vorformen, wie Exposés und Drehbücher, und »jene Publikationen (Transkripte, Protokolle), die dem Leser einen Eindruck von einzelnen Filmen vermitteln sollen«114. Texte stehen also nicht nur als Stoff für Literaturverfilmungen mit dem Film in enger Beziehung, sondern erfüllen auch spezifische »Hilfsfunktionen«115. Schon allein die ersten Ideen zu einem Film müssen in der Regel schriftlich festgehalten werden, und bis auch nur das erste Mal eine Kamera eingeschaltet werden kann, ist eine ganze Reihe von schriftlichen Vorarbeiten vonnöten. Kanzog bezeichnet diese schriftlichen Vorarbeiten als »Texte für Filme« und grenzt sie von »Texten zu Filmen« ab, »die einen Film in seine Entstehungs-, Wirkungs- und Rezeptionszusammenhänge einbetten«116. Als Beispiele für diese Textgruppe führt er Produktionsberichte, Statements, Werbetexte und Rezensionen an. Eine eigene Sonderform von Texten zu Filmen stellen für Kanzog jene Filmbücher dar, »die den jeweiligen Film dokumentieren und in der Erinnerung des Zuschauers lebendig halten«117. Diese Bücher können auch mit Bildern aus dem Film illustriert sein und sind damit mit dem Fotoroman verwandt. Die Bilder rufen aber bei einem Rezipienten, der den Film gesehen hat, natürlich Assoziationen mit der Filmhandlung hervor. Als eine weitere Subkategorie von Texten zu Filmen nennt Kan-
112 113 114 115 116 117
sprachigen Literatur und Kultur in Buch und Film, Kiel: Mende 1982 (Kieler Beiträge zur Erweiterung der Englischen Philologie 2), S. 7. Ebd., S. 17. K. Kanzog: »Einführung in die Filmphilologie«, S. 12. (Kursive Hervorhebungen von mir D.B.) Ebd. Ebd., S. 18. Ebd. Ebd. 88
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zog das »post-shooting-script«, das eine »wissenschaftliche Reliterarisierung« darstellt, bei der relevante »Informationen aus dem fertigen Film in eine nach festgelegten Regeln angefertigte Synopse«118 rückübersetzt werden. Kanzogs Systematisierung der Beziehungsformen zwischen Literatur und Film greift schließlich – wie der nächste Punkt zeigen wird – die Intermedialitätsforschung auf, die die Unterteilung in »Texte für Filme« und »Texte zu Filmen« noch um die Gruppe der »Texte über Filme« ergänzt.
3.2.7 »Literatur und Film« als Teilgebiet der Intermedialitätsforschung In den 1990er Jahren werden Analysen zu Literatur und Film schließlich ganz bewusst in einen medienspezifischen Kontext eingebettet und als Teilbereich der Intermedialitätsforschung betrachtet. Zu den Begründern einer intermedialen Literatur- und Filmforschung im deutschsprachigen Raum zählen der Konstanzer Medienwissenschaftler Joachim Paech, der in Amsterdam und Passau tätige Filmwissenschaftler und Romanist Jürgen E. Müller, sowie der Siegener Kulturwissenschaftler und Romanist Volker Roloff und der Bonner Komparatist, Romanist und Pionier der historischen Intermedialitätsforschung Franz-Josef Albersmeier. Im Hinblick auf eine intermediale Film- und Literaturuntersuchung stellt Volker Roloff gemeinsam mit Jochen Mecke zunächst ganz generell fest: »Filme sind als solche – in dem Maße, in dem sie ganz verschiedene Künste wie Literatur, Musik Theater, Oper, oft auch Tanz, Choreographie, Architektur, Photographie und Bildende Künste kombinieren und mischen – prinzipiell intermedial konzipiert.«119 Und Joachim Paech sieht die Verbreitung von Literatur schon längst nicht mehr nur mit dem Buch verbunden, sondern mit einem ganzen Spektrum an technischapparativen Möglichkeiten, die vom Film über das Video bis hin zu digitalen Medien wie CD-Rom und DVD reichen.120 Im Detail unterscheidet Paech außerdem zwei wichtige Schwerpunkte des Forschungsbereichs »Literatur und Film«, die sich schon aus den unter 3.2.1 angeführten Zitaten von Griffith, Ėjzenštejn und Tolstoj ableiten lassen, da sie sich mit der gegenseitigen Beeinflussung der beiden 118 Ebd. 119 Jochen Mecke/Volker Roloff: »Intermedialität im Kino und Literatur der Romania«, in: Dies. (Hg.), Kino-/(Ro)Mania. Intermedialität zwischen Film und Literatur, Tübingen: Stauffenburg 1999, S. 11. 120 Vgl. J. Paech: Literatur und Film, S. VIIf. 89
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Medien befassen. Joachim Paech nennt sie die »Literarisierung des Films« bzw. die »filmische Schreibweise in der Literatur« und ortet ihre Wurzeln bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts als der Film noch in seinen Kinderschuhen steckte. Den ersten dieser beiden Schwerpunkte definiert Paech wie folgt: »Die Literarisierung des Films seit etwa 1908/10 setzt voraus, dass Filme fähig sind, mit filmischen Mitteln literarisch Erzähltes wiederzugeben, sodass an diesem (historischen) Punkt auch (systematisch) die rudimentären Formen filmischer Artikulation erkennbar werden, die noch immer jedem Film zur Verfügung stehen.«121
Diese Literarisierung des Films sollte ursprünglich auch dazu beitragen den Film von seinem Ruf als Jahrmarktsattraktion zu befreien – schließlich fanden ja die ersten Filmvorführungen in Vaudeville-Theatern, Varietés und Cafés statt122. Zunächst wurden deshalb viele Stoffe der klassischen Literatur im Stil von Theatervorführungen auf einer Bühne präsentiert und abgefilmt. Bei der Literarisierung des Films geht es aber nicht nur um die Verfilmung von literarischen Stoffen, sondern auch um den Einfluss literarischer Erzähltechniken auf den Film. Denn mit Griffith’ Montagetechnik setzte – wie schon am Anfang dieses Abschnitts unter 3.2.1 erwähnt – auch eine stilistische Bezugnahme auf die Prosaliteratur ein. Den zweiten Schwerpunkt, den der filmischen Schreibweise, sieht Paech im Schriftsteller als Kinobesucher verankert, der plötzlich zu Anfang des 20. Jahrhunderts im Kino der Großstadt mit einer völlig neuen Wahrnehmungsform konfrontiert wurde. Der Kinobesuch öffnet dem Schriftsteller durch den Film ein »Fenster auf die urbane Wirklichkeit außerhalb« und deshalb versteht Paech unter filmischer Schreibweise »die literarische Form der erzählerischen Wiedergabe dieses Blicks auf die Wirklichkeit, strukturiert durch das Hyper-Dispositiv Film-KinoGroßstadt.«123 Dieses Verbindungsnetz zwischen dem Film und seinen spezifischen Orten spiegelt sich auf bestimmte Weise in der Literatur wider:
121 Ebd., S. VIII. 122 Die erste öffentliche Filmvorführung der Brüder Lumière in Paris fand im Indischen Salon des »Grand Cafés« auf dem »Boulevard des Capucines« 1895 statt. In Berlin zeigten im selben Jahr die Brüder Skladanowsky ihre ersten Filme im Varieté »Wintergarten«. Vgl. J. Paech: Literatur und Film, S. 1. 123 J. Paech: Literatur und Film, S. 126. (Kursive Hervorhebungen im Original) 90
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»Die filmische Schreibweise ›angesichts‹ des Kinofilms kann […] nicht als bloße formale Mimesis kinematographischer Darstellungsmittel wie der Montage, des Wechsels der Blickpunkte etc. in der modernen Literatur beschrieben werden; vielmehr handelt es sich um die Mimesis des Inhalts einer Form, der als Gegenstand des Erzählens wiederkehrt (Großstadt) und so auf die komplexe Erfahrung der Realität des Urbanen, zu der das Kino als ihr exemplarischer Teil gehört, zurückweist.«124
Im Gegensatz zu der unter 3.1.3 dargelegten Auffassung von »impliziten Referenzen« nach Werner Wolf oder Claudia Sternbergs Feststellung, dass bei der filmischen Schreibweise vor allem »der formal-ästhetische Einsatz von als filmisch geltenden Stilmitteln« interessant ist und »keine inhaltliche Bindung«125 zum Film vorhanden sein muss, bezieht sich ein in filmischer Schreibweise verfasster Roman somit für Paech sowohl inhaltlich als auch formal auf den Film und auf sein räumliches Umfeld. Unter diesen Prämissen untersucht Paech nicht nur »Klassiker« des filmischen Schreibens wie etwa James Joyces Ulysses (1922) oder John Dos Passos Manhattan Transfer (1925), sondern auch Texte, die für Filme verfasst wurden und wiederum auf in filmischer Schreibweise verfasste Romane rekurrieren, wie etwa Rainer Werner Fassbinders Drehbuch zu Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz (Roman 1929, Verfilmung durch Fassbinder 1978). Für Volker Roloff, der ebenso wie Joachim Paech zwischen »filmischer Schreibweise« und »Literarisierung des Films« unterscheidet, ist es darüber hinaus wichtig die »Wechselwirkungen und Interferenzen sowie die Konvergenz und Komplementarität«126 zwischen den beiden Medien zu beleuchten. Da diese Untersuchungsmerkmale wiederum in einem stetigen Veränderungsprozess eingebunden sind, der neue Verbindungen und Hybridformen entstehen lässt, schlagen Volker Roloff und Jochen Mecke vor, den Begriff »Synästhesie« in einem erweiterten Sinn »als Zusammenspiel verschiedener Sinne bei der Wahrnehmung sowie als kreatives Zusammenwirken, als ›ars combinatoria‹ bei der Rezeption von Literatur und Kunst«127 zu verwenden. Intermediale Synästhesie hätte demnach nichts mehr mit den reinen Wechselwirkungen zwischen den
124 Ebd. 125 C. Sternberg: »Film- und Literaturwissenschaft«, S. 218. 126 Volker Roloff: »Zur Theorie und Praxis der intermedialen Analyse am Beispiel von Buñuel, Truffaut, Godard und Antonioni«, in: Peter V. Zima (Hg.), Literatur Intermedial. Musik – Malerei – Photographie – Film, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1995, S. 271. 127 J. Mecke/V. Roloff: »Intermedialität im Kino und Literatur der Romania«, S. 13f. 91
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Medien zu tun, sondern würde die »Spannungen und Bruchstellen, die Passagen und Zwischenräume zwischen den Bildern berücksichtigen« und damit auch neu entstehende »Durchdringung, Vernetzung und Hybridisierung«128. Unter diesem Aspekt ist es natürlich nicht verwunderlich, dass Mecke und Roloff solchen »intermedialen Genres zwischen Literatur und Film« in ihrem Sammelband Kino-/(Ro)Mania eine eigene Rubrik widmen und sie der »filmischen Literatur« und der »Literarisierung des Films« als weiteren Forschungszweig zur Seite stellen. Als Beispiel für ein derartiges Zwischengenre sei an dieser Stelle auf das künstlerische Schaffen Peter Greenaways verwiesen, der ja nicht nur als Regisseur verschiedene Medien wie Architektur, Literatur, Malerei etc. in seine Filme einfließen lässt, sondern auch als Experimentalkünstler alle möglichen Kunstformen miteinander verschmilzt. Zusätzlich zu diesen drei Subkategorien der Literatur-und-Filmforschung ergänzt Roloff noch die Literaturverfilmung als eigenes Teilgebiet, auf dem nun endgültig »die Analyse der Transformation«129, nach der »die Verfilmung von Literatur als ein Prozess der Verwandlung«130 aufgefasst wird, die Untersuchung werktreuer Literaturverfilmungen verdrängt hat. Franz-Josef Albersmeier hat schließlich all die genannten, komplexen und vielfältigen Medienverbindungen zwischen Literatur und Film systematisch in einer Typologie zusammengefasst, die den Forschungsbereich abgrenzt ohne dabei auf die fließenden Übergänge zwischen den Medien und auf neu entstehende Hybridformen zu vergessen. Da diese Typologie eine der wenigen ist, die tatsächlich beinah alle Möglichkeiten eines Medienverbunds zwischen Film und Literatur berücksichtigt, soll sie in der Folge etwas ausführlicher skizziert werden. Zunächst unterscheidet Albersmeier zwischen zwei Textebenen, wobei er den Begriff »Text« über die Grenzen des literarischen Werkes hinauszieht und auch Hervorbringungen anderer Medien – wie eben auch Filme – als Texte bezeichnet. Die erste der beiden Textebenen umfasst »literarisch (schriftlich) fixierte Texte, die im Hinblick auf den Film / das Kino / bestimmte Filme produziert wurden«131. Auf der zweiten Ebene finden sich hingegen Texte »aus den Medien Theater, Film, Fernsehen und Buchliteratur«, die entweder Aufgrund »unilaterale[r]« oder »rezip-
128 129 130 131
Ebd. S. 14. V. Roloff: »Zur Theorie und Praxis der intermedialen Analyse«, S. 270. Ebd. Franz-Josef Albersmeier: »Literatur und Film. Entwurf einer praxisorientierten Textsystematik«, in: Peter V. Zima (Hg.), Literatur Intermedial. Musik – Malerei – Photographie – Film, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1995, S. 241. (Kursive Hervorhebungen im Original) 92
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roke[r]«132 Einflüsse zwischen Literatur und Film entstanden sind. Unter unilateralen Einflüssen versteht Albersmeier einseitige Bezüge von der Literatur zum Film oder vom Film zur Literatur, während reziproke Beziehungen wechselseitig vom einen Medium zum anderen und wieder zurück wirken. Die erste Gruppe von Texten, die in direkter Bezugnahme auf den Film geschrieben wurden, gehen entweder »der Produktion von Filmen«133 voraus, wie etwa das Drehbuch, begleiten die Produktion eines Films, wie das Regiebuch oder das Storyboard, oder illustrieren und interpretieren bereits veröffentlichte Filme, wie etwa das mittlerweile obligatorische »Buch zum Film« oder Rezensionen und Kritiken. Diese drei Formen von literarisch fixierten Texten übernehmen somit eine Reihe von Hilfsfunktionen für den Film und gehen damit eine medienübergreifende Verbindung ein. Ähnlich wie Klaus Kanzog, der ja auch »Texte für Filme« von »Texten zu Filmen« unterscheidet, trennt Albersmeier nach dem zeitlichen Auftreten zwischen: • Präfilmischen Texten (Texte für Filme) • Perifilmischen Texten (Texte zu Filmen) 134 • Postfilmischen Texten (Texte über Filme) Die zweite Gruppe von Texten, die sich aus verschiedenen Transformationsprozessen zwischen zwei oder mehreren Medien entwickelt, schränkt Albersmeier nicht nur auf die Beziehungen zwischen Literatur und Film ein, er nimmt auch – quasi als vermittelndes Bindeglied – Theatertexte in diese Gruppe auf. Auch auf dieser Textebene werden wieder drei Interaktionstypen unterschieden: Beim ersten Typus handelt es sich um Filme, »die ohne den Rekurs auf die traditionellen literarischen Gattungen und das Theater, deren unerschöpflichen Schatz an Fabeln, Bildern und Formen schon in ihrer Entstehungsgeschichte gar nicht verstehbar wären«135. Zu diesem Typus gehört etwa die große Gruppe der Literaturverfilmungen, innerhalb der Albersmeier Romanverfilmungen wiederum von Theaterverfilmungen abgrenzt. Beim zweiten Interaktionstypus handelt es sich um den zum ersten diametral auftretenden Phänomen der auf den Film rekurrierenden Literatur oder »filmischen Literatur«. Dieser Typus vereint somit schriftlich fixierte Texte (Romane, Novellen, Gedichte und Theaterstücke), die »vom Film in stofflicher und/oder formaler Hinsicht«136 beeinflusst wer132 133 134 135 136
Ebd., S. 241f. Ebd., S. 242. Ebd. Ebd., S. 243. Ebd. 93
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den. Einige Textformen dieser Gruppe können sich auch mit jener der »Texte für Filme« überschneiden, denn auch das Buch zum Film oder ein literarisches Drehbuch greifen natürlich auf den Film zurück. Allerdings werden diese von vornherein mit der Absicht verfasst, die Entstehung eines Films zu unterstützen, während die filmische Literatur primär um ihrer selbst willen geschrieben wird. Den dritten Typus bezeichnet Albersmeier als »Literatur / Theater / Film-Interaktionen«, und es handelt sich dabei um Texte, in denen sich eine »Konstellation wechselseitiger Einflüsse zwischen den drei Medien«137 ergibt. Als Beispiel für diesen Typus nennt Albersmeier die Wechselbeziehungen zwischen den verschiedenen avantgardistischen Gruppierungen der 1920er Jahre wie Expressionismus, Dadaismus und Surrealismus, die sowohl buchliterarische als auch theatralische und filmische Werke hervorbrachten. Um nun die von Albersmeier eingeführten Termini und Textgruppen übersichtlich zu veranschaulichen, werden sie im folgenden Diagramm nochmals graphisch skizziert:
137 Ebd. 94
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Diagramm 2: Texttypologie zu Literatur und Film nach Albersmeier
Texttypologie zu Literatur und Film
Textebene A: Literarische, schriftlich fixierte Texte, die im Hinblick auf den Film produziert wurden.
Präfilmische Texte = Texte für Filme
Perifilmische Texte = Texte zu Filmen
Postfilmische Texte = Texte über Filme
Textebene B: Texte der Medien Theater, Film und Buchliteratur, die unilateral oder reziprok aufeinander wirken.
Literarische Filme (z.B. Literaturverfilmung) / Theatralische Filme (Literatur/Theater → Film)
Filmische Literatur / Filmisches Theater (Film → Literatur/Theater)
Wechselseitige »Einflüsse« zwischen Literatur, Theater, Film (Literatur ↔ Film; Theater ↔ Film)
Quelle: Franz-Josef Albersmeier: »Literatur und Film. Entwurf einer praxisorientierten Textsystematik«, in: Peter V. Zima (Hg.), Literatur Intermedial. Musik – Malerei – Photographie – Film, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1995, S. 244. So umfangreich und vielgestaltig die eben skizzierten Typologien und Systematisierungsversuche zu Literatur und Film auch sein mögen, letztlich setzen auch Intermedialitätsforscher wie Roloff, Paech und Albersmeier immer noch eine direkte Kontaktnahme zwischen den Medien Film und Literatur voraus. Wenn also, wie in dieser Studie, ein Film und ein Roman miteinander verglichen werden sollen, zwischen denen es nachweislich keinen direkten Kontakt gibt, greifen diese Ordnungssysteme nicht mehr. Deshalb muss auch in dieser Studie für den Vergleich zwischen Dostoevskijs Idiot und Wim Wenders’ The Million Dollar Hotel auf den Begriff der Transmedialität von Werner Wolf zurückgegriffen werden. Aber auch der wissenschaftliche Umgang mit Literaturverfilmungen hat sich im Laufe der letzten Jahrzehnte wesentlich verändert. Um nun die beiden Adaptationen von Dostoevskijs Idiot – Kurosawas 95
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Hakuchi und Gedeons Návrat idiota – mit den entsprechenden wissenschaftlichen Termini untersuchen und sie in die verschiedenen Adaptationstypologien einordnen zu können, widmet sich das folgende Kapitel diesem eigenständigen Teilgebiet der Forschung zu Literatur und Film.
3.3 Literaturverfilmungen F o r sc h u n g sü b e r s i c h t »Sie kennen doch sicher den Witz von den beiden Ziegen, die die Rollen eines Films auffressen, der nach einem Bestseller gedreht worden ist, wo die eine Ziege zur anderen sagt: ›Mir war das Buch lieber.‹« (Alfred Hitchcock)138
3.3.1 Das »Werktreue-Axiom«139 Wie unter 3.1.3 schon angedeutet wurde, litten frühe Untersuchungen und Rezensionen von Literaturverfilmungen unter der rigorosen Forderung nach treuer Wiedergabe der literarischen Vorlage, und Abweichungen – welcher Art auch immer – wurden nicht selten als Verletzung, ja Vergewaltigung des Prätextes aufgefasst. Es gibt kaum eine neuere Studie zu Literaturverfilmungen, die nicht mit einem Lamento über diese Frühphase der Adaptationsforschung beginnt, doch erstaunlicherweise nennen nur wenige Forscher die Vertreter dieses »Werktreue-Axioms«140 auch beim Namen. So weist Franz-Josef Albersmeier zwar daraufhin, dass diese Adaptationsdebatte vorwiegend in Frankreich gepflegt wurde,141 doch über deren Exponenten hüllt er sich genauso in Schweigen, wie die ansonsten so ausgiebig Kritik an voreilig wertenden Ansätzen übenden anglo-amerikanischen Forscher James Naremore142 und Brian McFarlane143.
138 139 140 141 142
F. Truffaut: Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht, S. 118. F.-J. Albersmeier: »Literatur und Film«, S. 237. Ebd. Vgl. ebd. Vgl. James Naremore: »Introduction. Film and the Reign of Adaptation«, in: Ders. (Hg.), Film Adaptation, New Brunswick, NJ: Rutgers Univ. Press 2000 (Rutgers depth of field series), S. 1-15. 143 Vgl. Brian McFarlane: »The Discourse on Adaptation«, in: Ders., Novel to Film. An Introduction to the Theory of Adaptation, Oxford: Clarendon Press 1996, S. 8f. 96
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Jochen Mecke und Volker Roloff weisen schließlich auf André Bazin hin, der in seinem berühmten Essay Pour un cinéma impur. Défense de l’adaptation als Verfechter werktreuer Literaturverfilmungen auftritt.144 Es verwundert nicht, dass diese Tendenz in Bazins Essay gerne verschwiegen wird, denn der bereits 1948 entstandene und Anfang der 1950er Jahre überarbeitete Aufsatz Pour un cinéma impur ist in der Zwischenzeit zur Pionierarbeit über Literaturverfilmung avanciert. Tatsächlich war Bazin einer der ersten Filmkritiker, der die Adaptation gegen ungerechtfertigte Angriffe von Filmpuristen verteidigte, die den Film radikal vom Einfluss anderer Künste befreit sehen wollten. Und indem er Literaturverfilmungen als ernstzunehmende filmische Gattung betrachtete, ebnete Bazin überhaupt erst den Weg für eine gleichberechtigt, die beiden Kunstformen Literatur und Film einander gegenüberstellende Adaptationsforschung. Irmela Schneider hat diese Vorreiterrolle Bazins erkannt und festgestellt, dass er der bis dahin oft als »Bastard« zwischen zwei Kunstformen degradierten Literaturverfilmung ein positives Image verleihen wollte, als ein Phänomen, »das eine bestimmte Entwicklungsstufe innerhalb des Films voraussetzt und seine Entwicklung zugleich voranzutreiben vermag«145. Und für James Naremore ist Bazin einer der ersten Filmtheoretiker, der ein traditionelles kulturelles Wertesystem attackiert, das die ältere, schriftliche Kunstform Literatur höher schätzt als die neuere, visuelle des Films.146 Doch hier gesteht Naremore Bazin meines Erachtens zu viel Innovationsgeist zu, denn wie das folgende Zitat belegt, fühlte sich der berühmte französische Filmkritiker durchaus selbst noch mit einer traditionellen Hierarchie der Künste verbunden: »Bien plus évolué, s’adressant aussi à un public relativement cultivé et exigeant, le roman propose au cinéma des personnages plus complexes et, dans les rapports entre la forme et le fond, une rigueur et une subtilité auxquelles l’écran n’est pas habitué.«147 Bazin stellt somit nicht nur die Literatur als höher entwickelte Kunstform über den Film, sondern hält auch noch den Leser eines Romans für gebildeter und anspruchsvoller als einen Kinobesucher. Rigoros fordert 144 Vgl. J. Mecke/V. Roloff: »Intermedialität im Kino und Literatur der Romania«, S. 15. 145 Irmela Schneider: Der verwandelte Text. Wege zu einer Theorie der Literaturverfilmung, Tübingen: Niemeyer 1981, S. 14. 146 Vgl. J. Naremore: »Introduction: Film and the Reign of Adaptation«, S. 15. 147 André Bazin: »Pour un cinéma impur: Défense de l’adaptation«, in: Ders., Qu’est-ce que le cinema? Le cinema et les autres arts. Bd. 2, Paris: Les éditions du cerf 1958, S. 20. 97
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er von einem Regisseur, der sich an eine Adaptation wagt, dass er »ehrlich um eine vollkommene Entsprechung« bemüht ist und das Buch nicht bloß bebildert, sondern versucht »es auf die Leinwand zu übersetzen«148. Bazin vergleicht diesen Vorgang mit der Übersetzung eines literarischen Werkes in eine andere Sprache, deren Qualität ja auch nicht an der wortwörtlichen Übertragung gemessen werden kann, sondern daran, ob sie »das Original in seiner Substanz nach Wort und Geist wiederherstellen«149 kann. Interessant ist allerdings, dass für Bazin die Literatur durch schlechte Verfilmungen gar nicht geschädigt werden kann, womit er wiederum jenen Stimmen widerspricht, die mit der Literaturverfilmung das Ende des schriftlich fixierten Romantextes heraufdämmern sahen: »Es ist unsinnig, sich über die Verluste zu entrüsten, die literarische Meisterwerke bei der Übertragung auf die Leinwand erleiden, jedenfalls dann, wenn man das im Namen der Literatur tut. Denn die Adaption, wie groß auch immer ihr Annäherungswert an das Original sein mag, kann diesem in den Augen der Minderheit, die es kennt und schätzt, keinen Schaden zufügen; in Bezug auf diejenigen, die das Original nicht kennen, gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder gefällt ihnen dieser Film, […] oder aber sie haben Lust bekommen, das Modell kennen zu lernen, und das bedeutet einen Gewinn für die Literatur.«150
Allerdings stellen schlechte Verfilmungen laut Bazin eine Gefahr für das Medium Film dar: Verwenden Filme die literarische Vorlage etwa nur als »Ideenreservoir« und »Inspirationsvorlage«, so drohen sie zu »Bilderfabrikanten« zu verkommen, die »adaptieren, indem sie simplifizieren«151. Als Beispiele für gelungene Adaptationen nennt Bazin Robert Bressons gleichnamige Verfilmung von Georges Bernanos’ Tagebuch eines Landpfarrers (Journal d’un curé de campagne; Roman 1936, Film 1951), da Bresson »durch die immer wieder neue bewusste Beachtung des Textes eine nahezu schwindelerregende Werktreue«152 erreicht, und Jean Renoirs Filme Eine Landpartie (Une partie de campagne 1936) und Madame Bovary (1933) nach Vorlagen von Guy de Maupassant und Gustave Flaubert. Renoirs Filme manövrieren Bazin allerdings in eine Zwickmühle, denn er bemerkt, dass ihre »Werktreue paradoxerweise mit einer äu-
148 André Bazin: »Für ein ›unreines‹ Kino – Plädoyer für die Adaption«, in: Ders., Was ist Kino? Bausteine zur Theorie des Films, Köln: Verlag M. DuMont Schauberg 1975, S. 56f. 149 Ebd., S. 59. 150 Ebd., S. 55. 151 Ebd., S. 56f. 152 Ebd. 98
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ßersten Unabhängigkeit vom Werk vereinbar ist«153, und da er diesen Widerspruch nicht begründen kann, erklärt Bazin Renoir kurzerhand zum Genie, das eben auch das Unmögliche schafft. Wie subjektiv dieses Lob ist, entlarvt allein die Tatsache, dass es sich bei der von Bazin so hoch gepriesenen Verfilmung von Madame Bovary um denselben Film handelt, den Siegfried Kracauer aufgrund seiner »unfilmischen« Vorlage für misslungen erklärte. Aber Bazin führt auch negative Beispiele an und mit diesen, in seinen Augen, misslungenen Adaptationen geht er hart ins Gericht. So wirft er etwa John Ford vor mit seiner Verfilmung von Graham Greenes Roman Die Macht und die Herrlichkeit (The Power and the Glory 1940) »einen aufwendigen Verrat«154 an der Vorlage begangen zu haben. André Bazins Vorreiterrolle auf dem Gebiet der Adaptationsforschung muss aus heutiger Sicht etwas distanzierter betrachtet werden, denn obwohl er mit seiner generell positiven Bewertung von Literaturverfilmungen eine ernsthafte Diskussion um diese Filmgattung überhaupt erst entfacht hat, haben seine strikten Vorstellungen von gelungenen Literaturverfilmungen auch zu einer zeitweiligen Stagnation bei Fragen der Werktreue beigetragen. Hier muss ergänzt werden, dass diese Fragen bei einem Vergleich zwischen literarischer Vorlage und ihrer Adaptation natürlich immer eine gewisse Rolle spielen, sie müssen allerdings als neutrale Faktoren der Analyse betrachtet werden und dürfen Werktreue nicht zum Qualitätskriterium erheben. Natürlich regte sich in den verschiedensten philologischen, medien-, film- und kommunikationswissenschaftlichen Institutionen rund um den Globus bald Widerstand gegenüber einer Adaptationsforschung, die vom Film strikte Werktreue fordert. In erster Linie wurde verlangt, dass man beide Medien und ihre Produkte als eigenständige Kunstwerke untersucht und beachtet, dass beide unter völlig unterschiedlichen medientechnischen Voraussetzungen entstehen und auf verschiedenen Zeichensystemen beruhen. Da aber eine Darstellung all dieser Gegenströmungen den Umfang dieser Studie sprengen würde, soll im folgenden Kapitel paradigmatisch auf die Entwicklung innerhalb der anglo-amerikanischen Filmwissenschaft näher eingegangen werden. Diese Richtung wurde aus zwei wesentlichen Gründen ausgewählt: Zum einen gab es in ihr die frühesten kritischen Reaktionen auf das »Werktreue-Axiom« und zum anderen gelang es ihr unter Berücksichtigung der semiotischen und poststrukturalistischen Erkenntnisse Roland Barthes’, Gérard Genettes oder Christian Metz’ eine praxisbezogene Ter-
153 Ebd., S. 57. 154 Ebd., S. 55. 99
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minologie zur Adaptationsanalyse zu entwickeln, die auch im praktischen Teil dieser Arbeit angewandt werden wird.
3.3.2 Gegenströmungen innerhalb der angloamerikanischen Filmwissenschaft Einer der ersten vehementen Gegner einer strikt an Werktreue orientierten Adaptationsforschung war Georg Bluestone mit seiner bereits 1957 erschienenen Studie Novels into Film. Bluestone wirft Kritikern, die Aussagen wie »The film is true to the spirit of the book« oder »It’s incredible how they butchered the novel« tätigen, vor, den unausweichlichen Wandlungsprozess vom geschriebenen Wort zum filmischen Bild außer Acht zu lassen und stellt schließlich fest: »What is common to all these assumptions is the lack of awareness that mutations are probable the moment one goes from a given set of fluid, but relatively homogeneous, conventions to another; that changes are inevitable the moment one abandons the linguistic for the visual medium. Finally, it is insufficiently recognized that the end products of novel and film represent different aesthetic genera, as different from each other as ballet is from architecture.«155
Indem er nun die Grenzen und Möglichkeiten der beiden Medien aufzeigt und einander gegenüberstellt, versucht Bluestone seinen Leser für zwangsläufig notwendige Abweichungen zu sensibilisieren und vorschnelle Verurteilungen von Adaptationen zu verhindern. Dabei geht er zunächst – ähnlich wie Käte Hamburger und Siegfried Kracauer – von den formal-technischen Grundvoraussetzungen der beiden Medien aus und stellt generell fest, dass die Übertragung des sprachlichen Wortsymbols in bewegte Bilder den Film vor große Probleme stellen kann. Und wie Siegfried Kracauer nach ihm sieht auch Bluestone die Grenzen des Films erreicht, sobald es um die exakte Darstellung psychologischer Zustände, stummer Gedanken und Erinnerungen geht: »The rendition of mental states – memory, dream, imagination – cannot be as adequately represented by film as by language. If the film has difficulty presenting streams of consciousness, it has even more difficulty presenting states
155 George Bluestone: Novels into Film. The Metamorphosis of Fiction into Cinema, Berkeley, Los Angeles CA: University of California Press 1973, S. 5. 100
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of mind which are defined precisely by the absence in them of the visible world. Conceptual imaging, by definition, has no existence in space.«156
Allerdings erkennt Bluestone, dass der Film auch durchaus gestalterische Vorteile gegenüber der Literatur haben kann, die wiederum das schriftlich fixierte Medium an seine Grenzen stoßen lässt. Durch seine räumliche Mobilität und die Montagetechnik kann der Film beispielsweise in wenigen Sekunden Prozesse ablaufen lassen, deren wörtliche Beschreibung viel umständlicher und langwieriger wäre. Für Bluestone findet im Film deshalb eine »Befreiung des Raumes und der Zeit« statt: »Not only is space liberated, but because it is liberated, time is, too. In thirty seconds, we see shoot, stem, bud and blossom grow gracefully one from the other, a process that takes weeks in ordinary time. […] Spatial mobility makes time more flexible.«157 Indem er neutral auf die Unterschiede zwischen den beiden Medien hinweist, unterstreicht Bluestone somit die Eigenständigkeit der Verfilmung und deren Unabhängigkeit von ihrer literarischen Vorlage. Der Filmemacher baut nicht einfach das Buch in einen Film um, sondern paraphrasiert das literarische Rohmaterial und darüber muss sich der Kinobesucher im Klaren sein, wenn er sich eine Literaturverfilmung ansieht. Um sich nun von einem an Werktreue als Qualitätsmaßstab orientierten Standpunkt abzugrenzen, folgert Bluestone schließlich: »In short the filmed novel, in spite of certain resemblances, will inevitably become a different artistic entity from the novel on which it is based.«158 Auch wenn manche Ausführungen Bluestones, gerade im Hinblick auf die beschränkten technischen Möglichkeiten des Films, im heutigen Zeitalter der digitalen Kameras schon etwas verstaubt wirken, so darf man seine Vorreiterrolle für die neuere Adaptationsforschung keinesfalls zu gering einschätzen. Allein mit der Feststellung, dass eine Literaturverfilmung unabhängig von ihrer Vorlage als distinktes Kunstwerk betrachtet werden muss, bewies Bluestone bereits erstaunliche Weitsicht. Ein wesentliches Kriterium der anglo-amerikanischen Adaptationsforschung ist der Versuch, mit einer traditionellen Kunstauffassung zu brechen, die einerseits literarische Werke höher als filmische bewertet und andererseits verfilmte Trivialliteratur so gut wie unberücksichtigt lässt. Ganz dieser Linie entsprechend greift etwa Gabriel Miller für seine Fallbeispiele in der 1981 entstandenen Studie Screening the Novel bewusst auf Adaptationen zurück, die auf ziemlich unbekannten literarischen Vorlagen basieren, um damit eine andere, vom Vergleich mit be156 Ebd., S. 47. 157 Ebd., S. 53. 158 Ebd., S. 64. 101
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rühmten Meisterwerken befreite Sichtweise auf den Film zu ermöglichen. Miller geht davon aus, dass Filmemacher einen Roman reduzieren bzw. simplifizieren müssen, um ihn verfilmen zu können. Diesen Prozess bewertet er jedoch nicht negativ, sondern als Notwendigkeit um die Filmhandlung zu straffen. Allerdings spricht auch Miller – ebenso wie Bluestone – dem Film die Fähigkeit ab, das menschliche Innere darstellen zu können: »The novels’ characters undergo a simplification process when transferred to the screen, for film is not very successful in dealing either with complex psychological states or with dream or memory, nor can it render thought.«159 Diese Tendenz die filmischen Möglichkeiten zu unterschätzen, verschwindet erst mit der verstärkten Hinwendung zu narratologischen Ansätzen, die die unterschiedlichen Erzählweisen der beiden Medien betonen. Einer der ersten anglo-amerikanischen Forscher, der sich der französischen Filmsemiotik zuwendet ist Dudley Andrew. In seiner 1984 erschienenen Studie Adaptation beruft er sich explizit auf Christian Metz, wenn er festhält, dass narrative Kodes, sowohl im Film als auch in der Literatur, auf der Ebene der Konnotation funktionieren. Denn neben der gängigen Entschlüsselung von Signifikanten, also deren Rückbeziehung auf ihr Signifikat, wird beim Lesen eines Buches oder Ansehen eines Filmes eine ganze Reihe von anderen assoziativen Bezügen ausgelöst, die die vollständige Erschließung der fiktionalen Welt erst ermöglichen. Auf ihrer narrativen Ebene sind Film und Literatur deshalb generell miteinander vergleichbar und sie können auch beide auf dieselbe »Story« zurückgreifen: »The story can be the same if the narrative units (characters, events, motivations, consequences, context […] and so on) are produced equally in two works. Now this production is, by definition, a process of connotation and implication. The analysis of adaptation, then, must point to the achievement of equivalent narrative units in the absolutely different semiotic systems of film and language.«160
Andrew weist aber auch daraufhin, dass beim Vergleich zwischen einer Adaptation und ihrer Vorlage nicht nur die unterschiedlichen Zeichensysteme der beiden Medien berücksichtigt werden müssen, sondern auch die spezifischen historischen und kulturellen Hintergründe. Schließlich 159 Gabriel Miller: Screening the Novel. Rediscovered American Fiction in Film, New York: Ungar Publishing 1981, S. XIII. 160 Dudley Andrew: »Adaptation«, in: James Naremore (Hg.), Film adaptation, New Brunswick, NJ: Rutgers Univ. Press 2000 (Rutgers depth of field series), S. 34. 102
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können zwischen der Niederschrift eines literarischen Werkes und dessen Verfilmung oft mehrere Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte, liegen, und die Adaptation kann auch in einem ganz anderen Kulturkreis und in einer anderen Sprache als ihre Vorlage gedreht werden. Als interessantes Beispiel für eine solche Landes- und Zeitgrenzen überschreitende Verfilmung nennt Dudley Andrew Jean Renoirs Les Bas-fonds von 1936, der nach der Vorlage von Maksim Gor’kijs 1902 uraufgeführten Drama Nachtasyl (Na dne) gedreht wurde. Obwohl Gor’kij schon 1932 erklärte, dass sein Stück überholt sei und auf einer sowjetischen Bühne nicht mehr aufgeführt werden sollte, überträgt er trotzdem die Filmrechte an Renoir und zeigt reges Interesse an der französischen Verfilmung, deren Aufführung er aber nicht mehr erlebt. Für Andrew ist in Renoirs Film die Aufbruchsstimmung zu spüren, die mit dem Erstarken der »Front populaire« unter Léon Blum einherging, und er nimmt an, dass Gor’kij nicht zuletzt wegen der politischen Vorgänge in Frankreich einer Verfilmung des Stückes zugestimmt hat. Die unterschiedlichen kulturellen, politischen und historischen Voraussetzungen im zaristischen Russland des frühen 20. Jahrhunderts und im Frankreich Mitte der 1930er Jahre müssen laut Andrew bei einem Vergleich zwischen Gor’kijs Drama und Renoirs Film unbedingt mitberücksichtigt werden, denn ohne sie sind die beiden Werke nicht zu begreifen. Ab den 1990er Jahren wurden die Rufe nach einer neuen, werkimmanente Grenzen überschreitenden Adaptationsforschung immer lauter, und so fordert etwa James Naremore in der Einführung zu seinem Sammelband Film Adaptation eine verstärkte Auseinandersetzung mit historischen, soziologischen und wirtschaftlichen Überlegungen, sowie mit dem spezifischen Rezeptionsverhalten der Leser respektive Zuseher. Indem er sich auf die poststrukturalistische Forderung beruft, mit traditionell wertenden Oppositionen wie Literatur vs. Film, Hochkultur vs. Massenkultur oder Original vs. Kopie zu brechen, verlangt Naremore außerdem, dass sich die wissenschaftliche Diskussion allmählich von der »Great-Novelsinto-Great-Films«161-Thematik verabschiedet und sich vermehrt Adaptationen von Comics, Science-Fiction, Krimis und Trivialliteratur zuwendet. Denn für Naremore besteht ein wesentliches Problem der Adaptationsforschung darin, dass sie sich immer noch auf Verfilmungen von künstlerisch hoch stehenden Romanen konzentriert und Populär- und Trivialliteratur generell vernachlässigt. Schuld daran trägt nach Naremore auch der gängige Literaturunterricht an anglo-amerikanischen Univer-
161 J. Naremore: »Introduction. Film and the Reign of Adaptation«, S. 10. 103
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sitäten, »where the theme of adaptation is often used as a way of teaching celebrated literature by another means«162. Um die wissenschaftliche Diskussion neu zu beleben, müssten auch ökonomische Fragen gestellt werden wie: Warum waren z.B. bestimmte Werke des literarischen Kanons zu bestimmten Zeiten besonders interessant für Hollywood? Wie steht es um die Erforschung der historischen Beziehung zwischen Film und Verlagswesen? Und welche Marktbedingungen begünstigen den Wunsch nach Treue zur jeweiligen (literarischen) Vorlage?163 Eine ganz eigene Terminologie entwirft schließlich Brian McFarlane in seiner 1996 erschienenen Studie Novel to Film. In Anlehnung an Metz’ und Barthes’ narratologische Ansätze versucht McFarlane mit den Termini »transfer« und »enunciation«164 spezifische Adaptationsprozesse zwischen Literatur und Film zu beschreiben. Diese beiden Begriffe ließen sich am besten mit »Übernahme« und »Anpassung« übersetzen, ich möchte jedoch – um keine allzu große Begriffsverwirrung zu schaffen – die englischen Bezeichnungen beibehalten. McFarlane geht zunächst von der mittlerweile hinlänglich bekannten, großen Gemeinsamkeit zwischen Literatur und Film aus: von ihrer Fähigkeit Geschichten zu erzählen. Und er bezeichnet deshalb beide Medien als »Story-teller«165, die sich aber während des Erzählens verschiedener Zeichensysteme bedienen. Das was die beiden Medien erzählen, die Story, bezeichnet McFarlane mit Hinweis auf die französischen Strukturalisten als »histoire«, während er ihre Zeichensysteme, die bestimmen wie eine Erzählung gemacht wird, als Hilfsmittel des »discours« betrachtet.166
162 Ebd., S. 1. 163 Vgl. ebd., S. 11. 164 Als Synonyme für »enunciation« verwendet McFarlane auch öfters die Bezeichnungen »adaptation« oder »adaptation proper«. Da aber im Deutschen der Begriff Adaptation synonym für Literaturverfilmung verwendet wird, soll hier nur von »enunciation« die Rede sein, um einer Begriffsverwirrung vorzubeugen. (Vgl. B. McFarlane: Novel to Film, S. 13.) 165 Ebd., S. 12. 166 Da auch Roland Barthes seine narrativen Ebenen unter Bezugnahme auf die beiden Begriffe »histoire« und »discours« definiert, wird an einer späteren Stelle nochmals ausführlicher auf sie eingegangen werden. Hier muss die Erklärung genügen, dass Tzvetan Todorov in Anlehnung an die russischen Formalisten zwei Seiten eines erzählenden Werkes unterscheidet die er als »histoire« und »discours« bezeichnet. Unter »histoire« ist die reine inhaltliche Seite des Werkes ohne irgendeine künstlerische Gestaltung zu verstehen, während mittels des »discours« das Erzählte in seine künstlerische Form gebracht wird. (Vgl. Tzvetan Todorov: »Die 104
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Jene narrativen Elemente, die enger mit der »histoire« einer Erzählung verbunden sind, lassen sich nun laut McFarlane relativ problemlos und direkt von einem Medium ins andere übertragen, da das Entziffern ihrer Bedeutung nicht unmittelbar mit dem sie vermittelnden Zeichensystem zusammenhängt. Zu ihnen zählt er jede noch so kleine physische Aktion, die eine Geschichte vorantreibt (wie z.B. ein Lächeln, ein begrüßender Händedruck, ein Winken eines Protagonisten etc.), die Figurenkonstellation einer Erzählung aber auch bestimmte psychische Muster wie etwa den Ödipuskomplex. Da diese auf die Mythologie oder die Märchenwelt zurückzuführen sind und schon zu einem so festen Bestandteil der menschlichen Erfahrungswelt wurden, dass sie in verschiedensten erzählerischen Repräsentationsformen wieder erkannt werden können. Diese narrativen Elemente, die direkt in ein anderes Zeichensystem transferierbar sind, fasst McFarlane unter dem Begriff »transfer« zusammen. Es gibt aber auch noch eine andere Gruppe narrativer Elemente, die so stark an ihr ursprüngliches Zeichensystem gebunden sind, dass sie sich nicht direkt in ein anderes übertragen lassen. Für McFarlane sind diese narrativen Elemente eher mit der Ebene des »discours« verbunden, und sie können deshalb in einem neuen Zeichensystem nur angedeutet werden. Handelt es sich dabei um literarische, narrative Elemente, bedeutet dies, dass sie so strikt mit dem Zeichensystem der schriftlichfixierten Sprache verbunden sind, dass sie im Film nur durch komplexe Adaptationsprozesse nachgeahmt werden können. McFarlane fasst diese Elemente unter dem Begriff »enunciation« zusammen. Als Beispiele nennt er etwa die spezifisch literarischen Erzählperspektiven Ich-Erzähler, auktorialer Erzähler und personaler Erzähler, die von der Kamera nur schwer und niemals für die Dauer eines ganzen Filmes nachgeahmt werden können. Auch verfügt der Film nicht über die Tempi der Schriftsprache und muss Zeitsprünge deshalb durch Rückblenden, Traumsequenzen oder andere Verfahren vornehmen. Schließlich fällt für McFarlane auch der Versuch Gefühle, eine bestimmte Atmosphäre oder Stimmungen aus dem literarischen Werk im Film darzustellen unter den Begriff der »enunciation«, da Schauspieler nur versuchen können diese inneren Zustände mittels ihrer physischen Präsenz auszudrücken und sie nicht wie in der Literatur einfach ausgesprochen werden können. Die beiden Begriffe »transfer« und »enunciation« werden auch im praktischen Teil dieser Arbeit zur Untersuchung der beiden LiteraturverKategorien der literarischen Erzählung«, in: Heinz Blumensath (Hg.), Strukturalismus in der Literaturwissenschaft, Köln: Kiepenheuer & Witsch 1972 (Neue Wissenschaftliche Bibliothek 43), S. 265f.) 105
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filmungen Hakuchi und Návrat idiota herangezogen werden, da sich mit ihnen ein direkter Übertragungsprozess gut von einem komplexeren Anpassungsprozess abgrenzen lässt. Im Gegensatz zu McFarlanes Auffassung wird in dieser Studie aber mitberücksichtigt, dass solche unterschiedliche Prozesse nicht nur auftreten, weil eines der beiden Medien an seine semiotischen Grenzen stößt, sondern auch deshalb, weil sich der Regisseur absichtlich aus künstlerischen Gründen für eine andere Gestaltungsform entschieden hat. Nach der Jahrtausendwende gelingt es schließlich Robert Stam in seinen 2000 und 2005 erschienenen Studien Beyond Fidelity: The Dialogics of Adaptation und Literature through Film die spezifischen Zeichensysteme von Film und Literatur neutral nebeneinander zu stellen, ohne diese als Vor- und Nachteile bei der Umsetzung eines Erzählstoffes zu interpretieren oder das eine Medium gegen das andere auszuspielen: »Each medium has its own specificity deriving from its respective materials of expression. The novel has a single material of expression, the written word, whereas the film has at least five tracks: moving photographic image, phonetic sound, music, noises and written materials.«167 Provokant definiert Stam außerdem Film und Literatur als synthetische Kunstformen, die immer schon andere Medien für ihre Zwecke benutzt und ausgeschlachtet haben: »Both the novel and the fiction film are summas by their very nature. Their essence is to have no essence, to be open to all cultural forms. Cinema can literally include painting, poetry, and music, or it can metaphorically evoke them by imitating their procedures […].«168 Stam betrachtet Adaptationen als Teil eines breiten intertextuellen Dialogs, wobei er den Begriff »Intertextualität« über mediale Grenzen hinausführt und auch nicht-schriftlich fixierte Kunstformen als Text auffasst. Was Stam somit als »intertextuellen Dialog« versteht, müsste bei einer engeren Definition von Text und Medium, wie sie ja in dieser Untersuchung vertreten wird, als »intermedialer Dialog« bezeichnet werden. In Anlehnung an Michail Bachtin und Julia Kristeva definiert Stam diesen Dialog als einen steten Prozess des Austausches, aus dem schließlich jeder Text als ein Gewebe aus anderen früheren, bewusst oder unbewusst zitierten Textformen hervorgeht.169 Doch dieser Prozess ist ständig im werden und niemals als abgeschlossen zu betrachten:
167 Robert Stam: »Beyond Fidelity. The Dialogics of Adaptation«, in: James Naremore (Hg.), Film adaptation, New Brunswick, NJ: Rutgers Univ. Press, 2000 (Rutgers depth of field series), S. 59. 168 Ebd., S. 61. 169 Vgl. ebd., S. 64. 106
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»In the broadest sense, intertextual dialogism refers to the infinite and openended possibilities generated by all the discursive practices of a culture, the entire matrix of communicative utterances within which the artistic text is situated, which reach the text not only through recognizable influences, but also through a subtle process of dissemination.«170
Um nun diese erkennbaren Einflüsse und den subtilen Streuungsprozess zwischen literarischer Vorlage und filmischer Adaptation begrifflich erfassen zu können, greift Robert Stam auf die Terminologie Gérard Genettes zurück, der bereits in seiner 1982 erschienenen Studie zur Textanalyse Palimpsestes. La littérature au second degré fünf Formen von Transtextualität unterscheidet. Unter diesem Oberbegriff subsumiert Genette alles was einen Text »in eine manifeste oder geheime Beziehung zu anderen Texten bringt«171, und er nennt seine fünf transtextuellen Teilbereiche: Intertextualität, Paratextualität, Metatextualität, Architextualität und Hypertextualität. Den ersten dieser Begriffe, den der »Intertextualität«, entlehnt Gérard Genette natürlich bei Julia Kristeva, und er definiert ihn als »Kopräsenz zweier oder mehrere Texte« in einem neuen Textgebilde respektive als »effektive Präsenz eines Textes in einem anderen«172. Dabei erstreckt sich die Bandbreite, der in einem neuen Text aufscheinenden prätextuellen Formen vom einfachen Zitat über das Plagiat bis hin zur Anspielung. Als »Paratext« bezeichnet Genette begleitende Texte und Kommentare wie Titel, Untertitel, Vorworte, Nachworte, Fußnoten, Anmerkungen, Motti oder Illustrationen, die »den Text mit einer (variablen) Umgebung ausstatten und manchmal mit einem offiziellen oder offiziösen Kommentar versehen«173. Unter seinem dritten transtextuellen Begriff, dem »Metatext«, versteht Genette die Bezugnahme eines Textes auf einen anderen, bei der der Prätext aber nicht unbedingt direkt zitiert oder auch nur erwähnt werden muss. Als Beispiel nennt er die kritische Auseinandersetzung Hegels mit Diderots experimentellem Roman Rameaus Neffe (Le Neveu de Rameau 1761–1776) in der Phänomenologie des Geistes (1807). Die »Architextualität« bezeichnet Genette als seinen »abstraktesten und implizitesten Typus«, denn dabei handelt es sich »um eine unausgesprochene Beziehung, die bestenfalls in einem paratextuellen Hinweis auf die taxonomische Zugehörigkeit des Textes zum Ausdruck kommt«174. Dies ist 170 171 172 173 174
Ebd. G. Genette: Palimpseste, S. 9. Ebd. S. 10. Ebd. S. 11. Ebd. S. 13. 107
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etwa der Fall, wenn ein Werk im Titel oder Untertitel Bezeichnungen wie »Gedichte« oder »Erzählungen« mitführt, womit auf seine Zugehörigkeit zu einer bestimmten literarischen Gattung verwiesen wird. Der letzte von Genette genannte Typus, jener der Hypertextualität, stellt den zentralen Begriff seiner Untersuchungen dar, und er versteht darunter jede Beziehung zwischen zwei Texten, bei der »Text B Text A auf eine Art und Weise überlagert, die nicht die des Kommentars ist«175. Den überlagerten Text bezeichnet Genette dabei als »Hypotext«, während er den überlagernden »Hypertext« nennt. Die Beziehung zwischen den beiden Texten definiert sich außerdem über den Prozess der »Transformation«, ohne den der Hypertext gar nicht in dieser Form existieren könnte, da er sich immer wieder, mehr oder weniger offensichtlich auf den Hypotext bezieht, ohne ihn unbedingt direkt erwähnen zu müssen. Robert Stam legt nun diese Begrifflichkeit Genettes auf die Adaptationsforschung um und stellt fest, dass Literaturverfilmungen ebenfalls Hypertexte sind, deren literarische Hypotexte bei der Verfilmung verschiedene Transformationsprozesse durchlaufen, bei denen sie gekürzt, erweitert, konkretisiert oder auch aktualisiert werden können. Auf diese Weise ist es möglich, den Hypotext als eine Quelle für den Hypertext zu betrachten, die in einem anderen Medium und einem anderen historischen Kontext entstanden ist. Für Stam erschafft der Hypotext damit ein enges Informationsnetz, das der Film aufgreifen und für seine Zwecke verwenden und umformen kann.176 In der Folge wird auch in dieser Studie beim Vergleich zwischen Dostoevskijs Idiot und den beiden Literaturverfilmungen Hakuchi und Návrat idiota gelegentlich auf die von Genette geprägten Begriffe »Hypertext« und »Hypotext« zurückgegriffen werden. Allerdings sollen die Literaturverfilmungen, da in dieser Arbeit der Terminus »Text« dem schriftlich fixierten, literarischen Medium vorbehalten bleibt, als »Hyperfilme« bezeichnet werden, während Dostoevskijs Roman »Hypotext« genannt werden wird.
3.3.3 Adaptationstypologien Als Abschluss dieses theoretischen Kapitels soll noch ein kurzer Überblick über verschiedene Adaptationstypologien gegeben werden, da mit diesen ab den 1970er Jahren verstärkt versucht wurde, sich vom Werktreue-Axiom abzugrenzen und eine neutrale Auseinandersetzung mit den
175 Ebd. S. 15. 176 Vgl. R. Stam: »Beyond Fidelity«, S. 68f. 108
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verschiedenen Formen der Adaptation zu gewährleisten. In diesen Typologien rücken die Art und Weise der medialen Grenzüberschreitung, sowie die intermedialen Bezüge zwischen literarischer Vorlage und audiovisueller Umsetzung immer mehr ins Zentrum des Interesses. Die Einteilung der Adaptationen in verschiedene Subkategorien orientiert sich sowohl am »Grad des Medienwechsels«177, als auch an den Intentionen des Regisseurs und der Rezeptionshaltung des Zuschauers. Aus der Fülle an Adaptationstypologien werden hier nur die bekanntesten und für diese Studie relevantesten kurz skizziert. Es soll somit wiederum kein lückenloser Überblick gegeben werden, sondern ein paradigmatischer. Eine der frühesten Unterteilungsversuche findet sich bei Geoffrey Wagner, der bereits 1975 in seiner Studie The Novel and the Cinema drei Adaptationstypen vorschlägt: transposition, commentary und analogy. Eine »transposition« liegt vor, wenn »a novel is directly given on the screen, with the minimum of apparent interference«178. Dabei macht Wagner jedoch keinen Hehl daraus, dass er selbst von diesem Typus nicht viel hält, der v.a. im Hollywood-Film als eine Art infantile »book illustration«179 verwendet wurde. Über den zweiten Typus des »commentary« meint Wagner: »This is where an original is taken and either purposely or inadvertently altered in some respect. lt could also be called re-emphasis or re-structure.«180 Eine absichtlich oder unabsichtlich auf irgendeine Weise vorgenommene Veränderung stellt natürlich ein äußerst schwammiges Unterscheidungsmerkmal dar und erlaubt es, praktisch jede Art von abweichender Adaptation unter commentary zu subsumieren. Wagner konkretisiert den Typus deshalb als »authentic reconstructions in the spirit of so many cinematic footnotes to the original«181. Als Beispiel für eine derartige, kreative und authentische Wiederherstellung der literarischen Vorlage nennt Wagner Luchino Viscontis Morte a Venezia (1971) nach Thomas Manns Novelle Tod in Venedig (1912). Unter »analogy« versteht Wagner schließlich Adaptationen, die gravierend von der Vorlage abweichen. Die Veränderungen müssen dabei aber über die Verlegung der Handlung in eine andere Zeit und an einen anderen Ort hinausgehen. Dieser Typus »must represent a fairly considerable departure for the sake of making another work of art«182. 177 C. Sternberg: »Film- und Literaturwissenschaft«, S. 222. 178 Geoffrey Wagner: The Novel and the Cinema, London: Tantivy Press 1975, S. 222. (Kursive Hervorhebungen im Original) 179 Ebd., S. 223. 180 Ebd. 181 Ebd. 182 Ebd., S. 227. (Kursive Hervorhebungen im Original) 109
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Da der Regisseur also nicht versucht die Vorlage auf irgendeine Weise zu reproduzieren, stellt Wagner fest, dass eine analogy auch nicht als Verletzung der literarischen Vorlage verstanden werden kann. Umso erstaunlicher ist es, dass er kurz darauf selbst eine analoge Verfilmung absolut subjektiv verurteilt, weil sie einer von ihm hoch geschätzten Vorlage nicht entspricht. Wie sehr sich Wagner mit dieser vernichtenden Kritik getäuscht hat, zeigt allein die Tatsache, dass die gleichnamige Romanvorlage des französischen Autors Joseph Kessler aus dem Jahr 1929 heute gänzlich unbekannt ist, während der Film, den Wagner so verteufelt, Luis Buñuels Belle de jour (1967), mittlerweile als cineastischer Klassiker gilt. Im deutschsprachigen Raum ist bis heute eine Typologisierung von Helmut Kreuzer in Gebrauch, die dieser bereits 1981 erstellte und die in wesentlichen Punkten markant von Wagners Einteilung abweicht. Kreuzer grenzt die bloße »Aneignung von literarischem Rohstoff«, von der »Illustration« und der »interpretierenden Transformation« ab. Dabei entspricht die erste Gruppe, die der Aneignung von literarischem Rohstoff, am ehesten Wagners Begriff der analogy. Der Regisseur fühlt sich in diesem Fall der literarischen Vorlage so gut wie gar nicht verpflichtet. Für Kreuzer stellen diese Filme deshalb im Grunde keinen Gegenstand der Adaptationsanalyse, sondern einen der Filmanalyse dar: »Das Urteil über diese Filme wird davon abhängen, was sie aus dem Rohstoff und den Bruchsteinen literarischer Herkunft filmisch machen. Das heißt, man wird sie sinnvollerweise nur als Filme und nicht als Adaption beurteilen.«183 Die zweite Adaptionsart, die der Illustration, entspricht Wagners Typus der transposition, da sie sich »so weit im neuen Medium möglich, an den Handlungsvorgang und die Figurenkonstellation der Vorlage« hält und auch »wörtlichen Dialog, ja unter Umständen einen längeren auktorialen Erzähltext, der im Off gesprochen wird«184 übernehmen kann. Kreuzer weist – ebenso wie Wagner – daraufhin, dass dieser Typus, die Gefahr der unreflektierten, oberflächlichen Bebilderung in sich birgt, und er favorisiert deshalb die dritte Adaptionsart, die er als »interpretierende Transformation« bezeichnet. Der Begriff Transformation gewährleistet für Kreuzer, »dass nicht nur die Inhaltsebene ins Bild übertragen wird«, sondern »vielmehr die Form-Inhaltsbeziehung der Vorlage, ihr Zeichenund Textsystem, ihr Sinn und ihre spezifische Wirkungsweise erfasst
183 Helmut Kreuzer: »Arten der Literaturadaption«, in: Wolfgang Gast (Hg.), Literaturverfilmung, Bamberg: C.C. Buchners 1993 (Themen – Texte – Interpretationen 11), S. 27. 184 Ebd. 110
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werden«185. Aus narratologischer Perspektive ist für Kreuzer wichtig, dass »nicht nur das erzählte Geschehen, sondern auch das Erzählgeschehen, nicht nur das Was, sondern auch das Wie der Darstellung«186 in den Film transformiert werden. Um nun diese Form der Adaption von strikter Werktreue abzugrenzen und dabei trotzdem die Referenz zur literarischen Vorlage nicht auszublenden, spricht Kreuzer von einer »interpretierenden Transformation«, die versucht den »Sinn des Werkganzen«187 zu erfassen. Ganz ähnlich wie Helmut Kreuzer unterscheidet auch Klaus Kanzog je nach der Absicht des Filmemachers zwischen Adaptationen, die das literarische Werk interpretieren, ergänzen oder nur bebildern. Seine Trichotomie trennt somit die »Interpretation der Vorlage« von ihrer »komplementären Gestaltung« und der »illustrierten Version der Vorlage«188. Kanzog versteht allerdings unter einer »komplementären Gestaltung« nicht dasselbe wie Kreuzer unter der »Aneignung von literarischem Rohstoff«, denn eine komplementäre Filmgestaltung versucht den »Zuschauer für das Sujet zu sensibilisieren«189 und bedient sich nicht nur des literarischen Stoffes, um ein neues, völlig anderes Werk zu kreieren. Michaela Mundt führt ihr narratologisch-semiotischer Ansatz Mitte der 1990er Jahre schließlich zu einer von den bisher vorgestellten Mustern wesentlich abweichenden Typologie. Mundt geht von der Transformationsrelation zwischen Film und Vorlage aus und stellt dabei die Frage, welche Art von Botschaft der Film übermitteln will. Hierbei unterscheidet sie grob zwischen den drei »Transformationskonzepten«190: analoge Wiedergabe, konzeptionelle Interpretation und Eigenständigkeit. Im ersten Fall bemüht sich der Film – wie der Name des Konzepts schon selbst sagt – um eine »analoge Wiedergabe der strukturellen […] funktionalen und konzeptionellen Vorgaben«191 der literarischen Vorlage, und die Botschaft des Films an den Rezipienten entspricht der »Neuformulierung einer bereits bestehenden literarischen Botschaft«192. Mundt bezieht damit auch rezeptionsästhetische Prozesse in ihre Überlegungen ein, wodurch sie die bisherigen Typologien um einen wesentlichen Aspekt er185 186 187 188 189 190 191 192
Ebd., S. 28. Ebd. Ebd. (Kursive Hervorhebungen im Original) K. Kanzog: Einführung in die Filmphilologie, S. 19. (Kursive Hervorhebungen im Original) Ebd., S. 19. Michaela Mundt: Transformationsanalyse. Methodologische Probleme der Literaturverfilmung, Tübingen: Niemeyer 1994, S. 38. Ebd. Ebd. 111
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weitert. Das zweite Transformationskonzept, das der konzeptionellen Interpretation, definiert Mundt folgendermaßen: »Wenn sein Vermittlungsschwerpunkt [der des Filmes – Anm. D.B.] nicht auf dem Aspekt einer vorgefundenen literarischen Botschaft, sondern primär auf dem Umstand der Rezeption dieser Botschaft liegt, so wird die Strukturierung der Transformation vor allem an den Ergebnissen einer subjektiven Sinnbildung orientiert sein, also in erster Linie eine bestimmte Interpretation des Vorgegebenen leisten.«193
Eine »konzeptionelle Interpretation« bedient sich somit nur jener narratologischen und/oder strukturellen Aspekte der Vorlage, die eine bestimmte Deutung unterstützen, und erfindet durchaus auch eigenständige Elemente hinzu, die der gewünschten Absicht entgegenkommen. Vom dritten Transformationskonzept, dem der Eigenständigkeit, spricht Mundt schließlich, wenn die »dominante Absicht des Films« darin besteht, »selbst eine originäre »Botschaft als Signal« zu formulieren«194. Da sich dabei der Schwerpunkt von der »vorangegangenen literarischen Kommunikation« hin zu einer eigenständigen »filmischen Kommunikation« verlagert, stellt der »literarische Vorlagetext« nur mehr einen »Bezugspunkt unter vielen«195 dar. Nach Michaela Mundt lassen sich die beiden in dieser Studie untersuchten Literaturverfilmungen von Dostoevskijs Der Idiot problemlos den Transformationskonzepten »konzeptionelle Interpretation« bzw. »Eigenständigkeit« zuordnen. Denn indem Akira Kurosawa in Hakuchi die Handlung ins Japan der 1950er Jahre verlegt und seine Myškin-Figur Kameda in einen traumatisierten Kriegsheimkehrer verwandelt, der sich in der harten Nachkriegsgesellschaft nicht mehr zurechtfindet, deutet er den Dostoevskij-Roman auf seine eigene Weise und nimmt somit eine »konzeptionelle Interpretation« vor. Saša Gedeon setzt hingegen das Konzept der »Eigenständigkeit« in seinem Film um. Er konfrontiert seinen gutherzigen Held František mit zwei Dreiecksgeschichten zwischen zwei Geschwisterpaaren in einem tschechischen Provinzstädtchen und entfernt sich damit noch viel weiter von Dostoevskijs literarischem Prätext als Kurosawa. In Návrat idiota wird nicht nur eine andere, großteils neue und eigenständige Geschichte erzählt, sondern auch eine eigene, auf stillem Humor basierende Erzählstruktur entwickelt, die der des katastrophal endenden Romans diametral gegenübersteht.
193 Ebd. 194 Ebd., S. 39. 195 Ebd. 112
4. E I N
INTERMEDIALER
VERGLEICH
Bevor nun im praktischen Vergleich zwischen dem Roman Der Idiot und den drei Filmen Hakuchi, Návrat idiota und The Million Dollar Hotel verschiedene Ansätze der Dostoevskij-Forschung auf ihre intermediale Tragfähigkeit überprüft werden, soll die bisher erarbeitete Terminologie noch einmal kurz zusammengefasst werden: Da es zwischen Dostoevskijs Roman und Wim Wenders’ Film nachweislich keinen direkten Kontakt gibt, wird beim Vergleich zwischen diesen beiden Werken in Anlehnung an Werner Wolfs Terminus »Transmedialität« von »transmedialen Analogien« die Rede sein. Die beiden Literaturverfilmungen, die nach Wolfs Terminologie als »intermediale Transpositionen« bezeichnet werden können, da zwischen ihnen und dem Roman ja ein nachweislicher direkter Kontakt besteht, lassen sich nach Michaela Mundt den Transformationskonzepten der »konzeptionellen Interpretation« (im Falle von Hakuchi) und der »Eigenständigkeit« (im Falle von Návrat idiota) zuordnen. Außerdem wird im Zusammenhang mit den beiden Literaturverfilmungen auf die von Robert Stam auf intermediale Phänomene angewandten Termini Gérard Genettes zurückgegriffen. Demnach wird die literarische Vorlage, also Dostoevskijs Idiot, als »Hypotext« bezeichnet, während die auf ihr basierenden Filme »Hyperfilme« genannt werden. Und schließlich wird für die Beschreibung der verschiedenen Vermittlungsprozesse zwischen Hypotext und Hyperfilm auf Brian McFarlanes Begriffe »tranfer« und »enunciation« zurückgegriffen. Diesen Termini mussten die beiden deutschen Verben »transferieren« und »adaptieren« zugeordnet werden, da die Verwendung der entsprechenden englischen Verben verwirrende, ja unsinnige Satzkonstruktionen ergeben hätte. Wenn also im folgenden Vergleich das Verb »transferieren« verwendet wird, ist damit ein direkter Übertragensvorgang von einem Medium ins andere gemeint, während von »adaptieren« gesprochen wird, wenn ein komplexerer, vom Hypotext in verschiedener Hinsicht abweichender Anpassungsvorgang beschrieben werden soll. Das Substantiv »Adaptation« wird hingegen synonym für Literaturverfilmung verwendet und stellt somit einen allgemein gebräuchlichen Oberbegriff dar.
113
DOSTOJEWSKIS »DER IDIOT« IM SPIELFILM
Da die eingangs erwähnten Ansätze der Dostoevskij-Forschung auf einer narratologischen Basis verankert werden sollen, müssen vorher noch die von Roland Barthes erarbeiteten narrativen Beschreibungsebenen vorgestellt werden, die den Rahmen für den praktischen Teil dieser Untersuchung bilden.
4 . 1 D i e n a r r a ti v e n E b e n e n ( Ro l a n d B a r t h e s) »Die Erzählung schert sich nicht um gute oder schlechte Literatur: sie ist international, transhistorisch, transkulturell, und damit einfach da, so wie das Leben.« (Roland Barthes)1
Wenn Roland Barthes in seinem im Laufe der letzten Jahrzehnte zum Klassiker der semiologischen Forschung avancierten Text Introduction à l’analyse structurale des récits (1966)2 von »Erzählungen« spricht, versteht er darunter nicht nur literarische Texte, sondern generell die Produkte aller erzählenden Medien, also auch die des Films: »Träger der Erzählung kann die gegliederte, mündliche oder geschriebene Sprache sein, das stehende oder bewegte Bild, die Geste oder das geordnete Zusammenspiel all dieser Substanzen; man findet sie im Mythos, in der Legende, der Fabel, dem Märchen, der Novelle, […] der Glasmalerei, dem Film, den Comics, im Lokalteil der Zeitungen und im Gespräch.«3
Für diese »Träger der Erzählung« – in Anlehnung an die im vorigen Kapitel skizzierte Diskussion zu Literatur und Film sollen sie in dieser Arbeit als »narrative Medien« bezeichnet werden – entwirft Barthes nun ein Einteilungssystem, nach dem er drei große Beschreibungsebenen, die er auch Sinnebenen nennt, unterscheidet: die Ebene der Funktionen, der Handlungen und die der Narration. Diese Einteilung trifft Barthes v.a.
1
2
3
Roland Barthes: »Einführung in die strukturale Analyse von Erzählungen«, in: Ders., Das semiologische Abenteuer. Aus dem Französischen von D. Hornig, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1988, S. 102. Roland Barthes: »Introduction à l’analyse structurale des récits«, in: Communications, Nr. 8 (1966), S. 1-27. Hier und in der Folge zitiert nach der deutschen Übersetzung R. Barthes: »Einführung in die strukturale Analyse von Erzählungen«, S. 102-143. Ebd., S. 102. (Kursive Hervorhebungen von mir D.B.) 114
EIN INTERMEDIALER VERGLEICH
um zu zeigen, wie Erzähltes verstanden wird und wie sich dieser Prozess des Verstehens systematisieren lässt: »Eine Erzählung verstehen heißt nicht nur, dem Abspinnen der Geschichte folgen, sondern auch »Stufen« darin erkennen, die horizontalen Verkettungen des Erzähl-»fadens« auf eine implizit vertikale Achse projizieren; eine Erzählung lesen (hören) heißt nicht nur, von einem Wort zum anderen übergehen, sondern auch von einer Ebene zur anderen.«4
Was versteht Roland Barthes nun genau unter diesen Ebenen der Erzählung? Sie sind in erster Linie »Operationen«, die bestimmte Einheiten der Erzählung in sich zusammenfassen. Unter einer Einheit versteht man wiederum »jedes Segment der Geschichte, das als Glied einer Korrelation auftritt.«5 Dabei bildet der Sinn das oberste Merkmal der Einheit, die wiederum »erst dann sinnvoll [wird], wenn sie in die nächsthöhere Ebene integriert werden kann.«6 Eine Erzähleinheit kann somit bereits ein einziges Wort, aber auch ein Satz sein, denn maßgebend ist wie gesagt ihr Sinn. Die Einheiten müssen außerdem zueinander in Beziehung stehen, und Barthes unterscheidet deshalb – in Anlehnung an den Sprachwissenschaftler Émile Benveniste – zwei Beziehungstypen: distributionelle und integrative. Distributionelle Erzähleinheiten verbinden sich horizontal auf derselben Erzählebene zu einem sinnstiftenden Ganzen, während sich die Bedeutung integrativer Erzähleinheiten erst auf einer anderen Ebene voll entwickelt und somit eine vertikale Verknüpfung eintritt.
4.1.1 Funktionen Unter Funktionen, die Barthes auf der ersten seiner drei Beschreibungsebenen verortet, versteht er die »kleinsten sinnstiftenden Erzähleinheiten« und er definiert sie folgendermaßen: »Die Seele jeder Funktion ist, wenn man so sagen kann, ihr Keim, die Befruchtung der Erzählung mit einem weiteren Element, das später auf derselben Ebene oder woanders, auf einer anderen Ebene, heranreifen wird.«7 Für Barthes besteht jede Erzählung ausschließlich aus Funktionen, denn alles, was in einer Erzählung steht, bedeutet auch irgendetwas. Und selbst wenn ein Detail abso-
4 5 6 7
Ebd., S. 107f. Ebd., S. 109. Ebd., S. 107. Ebd., S. 109. 115
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lut bedeutungslos erscheint, erhält es »letztendlich dennoch die Bedeutung des Absurden oder des Nutzlosen«8. Als veranschaulichendes Beispiel soll eine wichtige Funktion in Dostoevskijs Idiot kurz skizziert werden: Nastas’ja Filippovna lehnt während ihrer Geburtstagsfeier am Ende des ersten Teils des Romans überraschend Myškins Heiratsantrag ab, und sie macht dies mit folgenden Worten: »Ein solches Kind [sie meint Myškin – Anm. D.B.] zugrunde richten? Das wäre ja ganz in der Art von Afanassij Iwanowitsch [= Tockij, der sie missbrauchte – Anm. D.B.]: Der hat für Kinder viel übrig.«9 Diese Aussagen wären für den Leser unverständlich, wenn nicht am Anfang des Romans, im vierten Kapitel des ersten Teils auf der Funktionsebene erwähnt würde, dass Tockij sich Nastas’ja bereits als 12jähriges Mädchen als spätere Geliebte ausgesucht hatte und sie von einer Gouvernante auf diese Rolle vier Jahre lang vorbereiten ließ. Nastas’jas späteres, teils auch masochistisches Verhalten auf der Handlungsebene wäre also ohne diese Informationen auf der Funktionsebene nicht verständlich. Innerhalb der Funktionen unterscheidet Barthes wiederum zwischen distributionellen und integrativen. Dabei verbinden sich distributionelle Funktionen unmittelbar auf derselben Ebene und bilden somit eine sinnstiftende Funktionskette. Wenn sich z.B. Rogožin im Idioten ein neues Messer kauft, das er am Ende des fünften Kapitels des zweiten Teils zum Aufschneiden von Buchseiten verwendet, steht diese Funktion in unmittelbarer Beziehung zum Schluss des Romans, als er Nastas’ja Filippovna mit eben diesem Messer ersticht. Und wenn Aglaja Myškin im sechsten Kapitel des vierten Teils von der Vase ihrer Mutter erzählt, steht diese Funktion in unmittelbarer Beziehung zum Zerbrechen der Vase im darauf folgenden Kapitel. Die distributionellen Funktionen unterteilt Barthes wieder in Kardinalfunktionen (oder Kerne) und Katalysen. Kardinalfunktionen bezeichnet er als die wichtigsten Funktionen und nennt sie auch »Scharniere der Erzählung«10. Sie treiben die Geschehnisse voran, weil sich durch sie »eine für den Fortgang der Geschichte folgentragende Alternative eröffnet, aufrechterhält oder beschließt.«11 Wenn es z.B. am Anfang des Idioten im zweiten Absatz heißt, dass sich zwei unbekannte Männer im Zug gegenübersitzen, eröffnet dies die Möglichkeit, dass die beiden miteinander ins Gespräch kommen oder nicht. Eine Kardinalfunktion begründet oder beseitigt somit immer eine Ungewissheit.
8 9 10 11
Ebd. F. Dostojewskij: Der Idiot, S. 246f. R. Barthes: »Einführung in die strukturale Analyse«, S. 112. Ebd., S. 113. 116
EIN INTERMEDIALER VERGLEICH
Unter Katalysen versteht Barthes »Zusatznotationen […], die sich um den einen oder anderen Kern ballen, ohne deren alternativen Charakter zu modifizieren.«12 Katalysen füllen somit den Raum zwischen zwei Kardinalfunktionen an, bleiben dabei aber immer noch in Verbindung mit diesen. Barthes nennt sie deshalb »parasitär«. Ein schönes Beispiel für Katalysen und ihre Funktionalität findet sich im Idioten am Ende des neunten und Anfang des zehnten Kapitels des ersten Teils als Rogožin und seine Kumpane bei den Ivolgins einfallen, um Ganja zur Rede zu stellen. Zwischen der Kardinalfunktion des heftigen Läutens an der Eingangstür und jener des Eintretens der unerwarteten Besucher liegt eine Reihe von Katalysen. So heißt es etwa nach dem Klingeln: »Bei solcher Heftigkeit hätte leicht der Glockenzug reißen können. Ein ungewöhnlicher Besuch kündigte sich an.« Und unmittelbar vor dem Erscheinen der Besucher meint der Erzähler: »Im Vorraum wurde es plötzlich laut und eng; im Wohnzimmer glaubte man, dass mehrere Menschen von draußen hereingekommen wären […].«13 Die Funktionalität von Katalysen ist laut Barthes »abgeschwächt«: »Es handelt sich hier um eine rein chronologische Funktionalität (man beschreibt den Raum zwischen zwei Momenten der Geschichte), während in dem Band, das zwei Kardinalfunktionen miteinander verknüpft, eine zweifache, sowohl chronologische als auch logische Funktionalität am Werk ist.«14
Zusammenfassend hebt Barthes noch einmal den Unterschied zwischen den beiden distributionellen Funktionsgruppen hervor: »Die Kardinalfunktionen sind die Risikomomente der Erzählung; zwischen diesen Alternativpunkten […] legen die Katalysen Sicherheitszonen, Ruhepausen, Luxus an«15. Wie bereits erwähnt, entfaltet sich bei integrativen Funktionen – zum Unterschied zu den distributionellen – der volle Bedeutungszusammenhang erst auf einer nächst höheren Ebene. Diese Gruppe unterteilt Barthes in Indizien und Informanten. Während Indizien bestimmte Charakterzüge eines Protagonisten definieren, oder auf ein Gefühl, eine bestimmte Stimmungslage oder eine Atmosphäre hinweisen, dienen Informanten »zum Erkennen und Zurechtfinden in Raum und Zeit«16.
12 13 14 15 16
Ebd. F. Dostojewskij: Der Idiot, S. 163. R. Barthes: »Einführung in die strukturale Analyse«, S. 113. Ebd. Ebd., S. 114. 117
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Indizien deuten immer auf etwas hin. Sie besitzen laut Barthes »implizite Signifikate«17. Vom Leser fordern sie eine »Aktivität des Entzifferns«, denn er soll einen Charakter, ein Gefühl oder eine Stimmung kennen und verstehen lernen. Informanten steuern hingegen »ein fix und fertiges Wissen bei«. »Sie stellen reine, unmittelbar signifikante Angaben dar.«18 Die bereits erwähnten Details aus Nastas’ja Filippovnas Leben sollen beispielsweise dazu beitragen, dass der Leser ihren Charakter und ihre psychischen Verletzungen begreift, er muss diese also in den Gesamtkontext der Handlung einbetten können, und sie somit aktiv entziffern. Sie gehören demnach zur Gruppe der Indizien. Einige interessante Beispiele für Informanten findet man im Idioten bereits in den allerersten Sätzen. Diese lauten: »Ende November, bei Tauwetter, gegen neun Uhr morgens, näherte sich ein Zug der Petersburg-Warschauer-Eisenbahnlinie mit Volldampf Petersburg. Es war so feucht und neblig, dass es nur zögernd hell wurde; aus den Waggonfenstern ließ sich auf zehn Schritt rechts und links vom Bahndamm kaum etwas erkennen. Ein Teil der Reisenden kehrte aus dem Ausland zurück; aber am stärksten besetzt waren die Abteile dritter Klasse, und zwar durchweg von kleinen Leuten und Geschäftsreisenden, die nicht von sehr weit her kamen.«19
Die hier genannten Hinweise auf die Jahreszeit, das Tauwetter, die Tageszeit oder die Fahrgäste stellen allesamt ein fix und fertiges Wissen dar, das zur Orientierung in Raum und Zeit beiträgt, und fallen demnach unter die Gruppe der Informanten. Barthes warnt aber auch davor, Funktionen strikt und rigoros einer Gruppe zuzuteilen, denn »manche Einheiten können auch gemischt auftreten«20 und gleichzeitig zwei verschiedenen Klassen angehören. Um auch aus dem zweiten, in dieser Arbeit untersuchten, narrativen Medium ein Beispiel zu bringen, sei an dieser Stelle auf eine wesentliche, gemischt auftretende Funktion in Akira Kurosawas Film Hakuchi verwiesen: Die Schneemassen und die damit verbundene feuchte Kälte auf Hokkaido, die den Film leitmotivisch durchziehen, sind natürlich klimatisch bedingte Tatsachen, und somit Informanten. Sie tragen aber auch dazu bei, dass Kameda, der ja aus dem Süden Japans kommt, ständig zittert und deuten damit auch auf die ihm stets entgegenschlagende Atmosphäre der sozialen Kälte voraus. Schnee und Kälte sind also gleichzeitig auch Indizien. Eine strikte Schubladisierung der Funktionen 17 18 19 20
Ebd. Ebd. F. Dostojewskij: Der Idiot, S. 7. R. Barthes: »Einführung in die strukturale Analyse«, S. 115. 118
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ist demnach nicht möglich und von Barthes auch nicht beabsichtigt. Er versteht seine Einteilung der Erzähleinheiten eher als Organisationsmöglichkeit, als Orientierungshilfe zum Verständnis von Erzähltem und nicht als geschlossenes und strikt abgegrenztes Begriffssystem. Da es Barthes aber um mehr geht als nur um die reine Auflistung der in einem narrativen Werk vorhandenen Funktionen, stellt er weiter fest, dass die verschiedenen Funktionen zueinander in Relation stehen und sich untereinander verbinden. Für Indizien und Informanten gilt, dass sie sich frei kombinieren lassen. Katalysen und Kerne stehen in einem einseitigen Abhängigkeitsverhältnis, denn eine Katalyse braucht wie gesagt eine Kardinalfunktion, an die sie sich anschließen kann, wohingegen eine Kardinalfunktion nicht unbedingt Katalysen benötigt, wohl aber andere Kardinalfunktionen, damit die Erzählung überhaupt weitergehen kann. Eine solche »logische Folge von Kernen, die miteinander durch eine Relation der Solidarität verknüpft sind«21, bezeichnet Barthes als Sequenz. Die Kardinalfunktionen innerhalb einer Sequenz bilden ein logisches Ganzes, das durch eine erste, auslösende und eine letzte, abschließende Kardinalfunktion eröffnet bzw. geschlossen wird. Eine Sequenz verfügt deshalb auch immer über einen Anfang und ein Ende und selbst die kleinste und kürzeste Sequenz, wie ein simples Telefongespräch oder das Anzünden einer Zigarette, lässt sich nach Barthes immer benennen. In Anlehnung an Vladimir Propp, der bereits in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts den Funktionen des Märchens Namen gab,22 führt Barthes deshalb Begriffe wie Betrug, Verrat, Kampf, Verführung etc. als mögliche Beispiele für Sequenznamen an. Außerdem unterteil Barthes Sequenzen nach ihrer Größe und bezeichnet deshalb kurze Sequenzen, wie z.B. die Beschreibung eines simplen Telefongesprächs, das nur aus den Kardinalfunktionen Abheben des Hörers, Wählen, Sprechen und wieder Auflegen besteht, als »Mikrosequenzen«23, während er große Sequenzen, die oftmals ganze Kapitel eines Romans oder viele Szenen eines Films umfassen können, »Episoden« nennt. Um aber in dieser Arbeit der kleineren Relationsgruppe der Mikrosequenz ein eindeutiges Pendant gegenüberzustellen, wird in der Folge synonym für den Begriff Episode die Bezeichnung Makrosequenz verwendet. Episoden (oder Makrosequenzen), als die größten Relationseinheiten auf der Funktionsebene, stoßen schließlich an die Grenzen dieser 21 Ebd., S. 118. 22 Barthes bezieht sich hier auf Vladimir Propp: Morfologija skazki, Leningrad: Academia 1928 (Voprosi poėtiki 12). Erste dt. Übersetzung: Vladimir Propp: Morphologie des Märchens. Hg. und übers. v. K. Eimermacher, München: Hanser Verlag 1972. 23 R. Barthes: »Einführung in die strukturale Analyse«, S. 120. 119
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Ebene sobald es – etwa durch einen Orts- oder Zeitwechsel – zum »Phänomen des radikalen Bruchs« kommt und »die wenigen abgeschotteten Blöcke«, aus denen das narrative Werk besteht, »auf der nächsthöheren Ebene der Handlungen (der Protagonisten) gewissermaßen aufgefangen werden«24. Um nun diesen kurzen Überblick über Barthes’ Systematisierung der Funktionsebene abzuschließen, sollen die bisher verwendeten Begriffe nochmals in einem schematischen Diagramm zusammengefasst werden: Diagramm 3: Gliederung der Funktionsebene nach Barthes Funktionsebene Makrosequenz / Episode
Mikrosequenz
Makrosequenz / Episode
Mikrosequenz
Mikrosequenz
Mikrosequenz
Distributionelle Funktionen Kardinalfunktionen / Kerne
Katalysen Integrative Funktionen
Indizien
Informanten
Quelle: Vgl. Roland Barthes: »Einführung in die strukturale Analyse von Erzählungen«, in: Ders., Das semiologische Abenteuer. Aus dem Französischen von D. Hornig, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1988, S. 109-121.
4.1.2 Handlungen Obwohl sich die zweite Beschreibungsebene mit den handelnden Personen und ihren Beziehungen zueinander beschäftigt – es Barthes also grundsätzlich um die Personenkonstellation im narrativen Werk geht –,
24 Ebd., S. 121. 120
EIN INTERMEDIALER VERGLEICH
nennt er sie trotzdem die Ebene der Handlungen, da er versucht »den Protagonisten durch seine Partizipation an einer Sphäre von Handlungen zu definieren«25. Er bezieht sich dabei v.a. auf Studien von Tzvetan Todorov und Algirdas Julien Greimas26, die beide dafür plädieren, nicht vom psychologischen Hintergrund der handelnden Personen in einem erzählenden Text auszugehen, sondern von den Beziehungen, die diese zueinander aufnehmen. Greimas beschließt deshalb »die Protagonisten der Erzählung nicht nach dem, was sie sind, sondern nach dem, was sie tun, zu beschreiben und einzuteilen«27 und spricht deshalb auch nicht mehr von Personen, sondern von Aktanten. Die Aktanten müssen aber wiederum an »drei großen semantischen Achsen partizipieren […], nämlich Kommunikation, Wunsch (oder Suche) und Prüfung«28. Aus diesen drei Achsen formt sich wiederum jene »Sphäre von Handlungen«, von der Barthes im obigen, einleitenden Zitat spricht, und er weist nochmals explizit daraufhin, dass diese große Gliederung nach Kommunikation, Wunsch und Prüfung nicht mit jener der »Kleinstakte« verwechselt werden darf, die auf der Funktionsebene untersucht werden. Problematisch ist für Barthes allerdings, dass die Aktantentypologie nach Greimas der Vielfalt der zwischen den Protagonisten auftretenden Beziehungen nicht ganz gerecht wird, und er gibt außerdem zu bedenken, dass bei Untersuchungen, die oft zu vorschnell einen privilegierten Helden in den Mittelpunkt stellen, leicht die Sicht auf andere Beziehungsstrukturen verstellt wird. Barthes schlägt deshalb vor, die eindimensionale Sicht auf den Helden durch eine duale Personenkonstellation zu ergänzen, denn in vielen narrativen Werken sieht die Grundsituation so aus, dass »zwei Widersacher um einen Einsatz ringen«29. Durch diese gemeinsame Intention der Protagonisten werden sie nach Barthes einander gleichgestellt, und das Subjekt der Erzählung wird gleichsam verdoppelt. Diesen »Dual der Person« vergleicht Barthes mit der »Struktur gewisser (sehr moderner) Spiele […], in denen zwei gleich starke Widersacher ein Objekt zu erobern wünschen, das von einem Schiedsrichter in Umlauf gebracht wurde«30. Diese Überlegungen erinnern stark an René Girards Struktur des triangulären Begehrens, die im nächsten Kapitel genauer 25 Ebd., S. 123. 26 Die Studien, auf die sich Barthes bezieht sind: Tzvetan Todorov: Littérature et signification, Paris: Larousse 1967; Algirdas Julien Greimas: Sémantique structurale. Recherche de méthode, Paris: Larousse 1966 (Langue et langage). 27 R. Barthes: »Einführung in die strukturale Analyse«, S. 123. 28 Ebd. 29 Ebd., S. 124. 30 Ebd. 121
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vorgestellt wird. An dieser Stelle sei nur ergänzt, dass Girard von einer »triadischen« Personenkonstellation ausgeht, da es sich ja oft auch beim umkämpften Objekt um eine Person handelt. Abschließend folgert Barthes, dass »die Personen als Einheiten der Handlungsebene ihren Sinn (ihre Intelligibilität) erst«31 durch die Verknüpfung mit der dritten und letzten Ebene der Narration erhalten.
4.1.3 Narration Für die größte der drei Ebenen, die der Narration, stellt Barthes fest, dass sie generell dem Begriff discours entspricht, wie ihn Tzvetan Todorov in seiner Studie Les catégories du récit littéraire32 definiert. Darin stellt Todorov in Anlehnung an die russischen Formalisten fest, dass ein narratives Werk ganz allgemein zwei Seiten hat: Es ist gleichzeitig »histoire« und »discours«33. Das Werk ist histoire, »weil es eine bestimmte Realität evoziert, Geschehnisse, die geschehen sein könnten, Personen, die von diesem Gesichtspunkt aus mit Personen des wirklichen Lebens ineinander verschwimmen«34. Histoire ist demnach grob gesprochen, die reine Information ohne irgendeine künstlerische Gestaltung. Da ein narratives Werk aber immer irgendwie gestaltet sein muss, und es immer einen Erzähler gibt, der seine Informationen einem Leser oder Zuhörer zu vermitteln versucht, ist das literarische Werk zugleich auch discours. Auf der Ebene des discours zählen also »nicht die berichteten Geschehnisse, sondern die Weise, in der der Erzähler sie uns vermittelt«35. Somit widmet sich also auch Roland Barthes’ Ebene der Narration der Frage, wie ein narratives Werk gemacht ist. Auf dieser Ebene wird z.B. untersucht wie die erzählte Zeit im Werk gestaltet wird, welche besonderen Kunstgriffe
31 Ebd., S. 125. 32 Tzvetan Todorov: »Les catégories du récit littéraire«, in: Communications Nr. 8 (1966), S. 125-151. In der Folge zitiert nach der dt. Übersetzung: Tzvetan Todorov: »Die Kategorien der literarischen Erzählung«, in: Heinz Blumensath (Hg.), Strukturalismus in der Literaturwissenschaft, Köln: Kiepenheuer & Witsch 1972 (Neue Wissenschaftliche Bibliothek 43), S. 263295. 33 In der deutschen Fassung werden diese französischen Begriffe zwar mit »Geschichte« und »Diskurs« übersetzt, um aber eine unscharfe Abgrenzung und eine etwaige Begriffsverwirrung zu vermeiden, werden in dieser Arbeit die französischen Originalbegriffe beibehalten. 34 T. Todorov: »Die Kategorien der literarischen Erzählung«, S. 264. 35 Ebd., S. 265. 122
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der Erzähltechnik verwendet werden und wie sich eine bestimmte Erzählperspektive im narrativen Werk auswirkt. Für Barthes stehen bei diesen Untersuchungen nicht die »Motive des Erzählers« oder die Auswirkungen auf den Leser im Vordergrund, sondern die »Beschreibung des Codes, vermittels dessen Erzähler und Leser in der Erzählung selbst bedeutet werden«36. Denn für Barthes existiert auch auf der Ebene der Narration ein duales Prinzip, bei dem unterschieden werden kann, ob der Erzähler ›ich‹ oder ›du‹ sagt, ob er also in erster Linie personal von sich spricht, oder apersonal versucht den Leser zu informieren. Dabei betont Barthes jedoch stets, dass der Erzähler im Werk nicht mit der lebenden Person des Autors gleichgesetzt werden darf, denn »der (in der Erzählung) Sprechende ist nicht der (im Leben) Schreibende, und der Schreibende ist nicht der Seiende.«37 Schließlich resümiert Barthes – und hier verknüpft er poststrukturalistische mit semiotischer Terminologie –, dass sich die Signifikate eines narrativen Werkes, also seine inhaltlichen Zeichen, leichter »übersetzen« lassen als seine Signifikanten, die ja die Ausdrucksseite eines Werkes verkörpern: »Mit anderen Worten, die Erzählung ist ohne grundlegende Einbußen übersetzbar: das nicht Übersetzbare tritt erst in der letzten, der narrativen Ebenen hervor: die Signifikanten der Narrativität zum Beispiel lassen sich nur schwer vom Roman in den Film übertragen […].«38 Wenn Barthes somit von »Übersetzung« spricht, versteht er darunter nicht nur die Übertragung eines Textes in eine andere Sprache, sondern auch bereits den Transfer eines narrativen Werkes von einem Medium in ein anderes. Und damit fasst er »Übersetzung« bereits intermedial auf. Im folgenden praktischen, intermedialen Vergleich zwischen dem Roman Der Idiot und den drei Filmen Hakuchi, Návrat idiota und The Million Dollar Hotel sollen nun vorerst bestimmte theoretische Aspekte der Dostoevskij-Forschung vorgestellt werden, die auf den Studien dreier namhafter Forscher basieren. Da sich jeder dieser Aspekte der Dostoevskij-Forschung einer der Barthes’schen Beschreibungsebenen zuordnen lässt, wird in diesem Vergleich auch gleichzeitig untersucht, ob und wie bestimmte Erzähleinheiten in den beiden unterschiedlichen narrativen Medien Literatur und Film dargestellt werden können. Um die verschiedenen Forschungsaspekte leichter überblicken zu können, wurden sie chronologisch nach ihrer Erstveröffentlichung geordnet. Da dies aber nicht der Ordnung entspricht, die Barthes mit seinen Beschreibungsebenen vorgibt, sollen nun – zum besseren Verständnis – 36 R. Barthes: »Einführung in die strukturale Analyse«, S. 125. 37 Ebd., S. 127. (Kursive Hervorhebungen im Original) 38 Ebd., S. 134. (Kursive Hervorhebungen im Original) 123
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die einzelnen, theoretischen Ansätze im vorhinein ihrer jeweiligen Ebene zugeordnet werden: Die im folgenden fünften Kapitel untersuchten Strukturen des triangulären Begehrens gemäß René Girard befassen sich mit der Personenkonstellation in Dostoevskijs Romanen und sind demnach der Barthes’schen Ebene der Handlungen zuzuordnen. Das im sechsten Kapitel dargestellte karnevalistische Merkmal der Skandalszene nach Michail Bachtin entspricht in Barthes’ Terminologie der Episode oder Makrosequenz und kann somit der größeren der beiden Relationsgruppen auf Funktionsebene zugeordnet werden. Im siebten Kapitel werden schließlich Horst-Jürgen Gerigks Thesen zum Moment der Verkennung, sowie zur filmischen Erzähltechnik und Erzählperspektive in Dostoevskijs Werken vorgestellt. Das Moment der Verkennung, das den Idioten wie ein roter Faden durchzieht, lässt sich gemäß Barthes als Mikrosequenz bezeichnen und ist demnach der kleineren Relationsgruppe auf der Ebene der Funktionen zuzuteilen, während die Untersuchung von Erzähltechnik und Erzählperspektive der letzten und größten Beschreibungsebene der Narration zuzuordnen ist, da sie sich ja eindeutig der Frage widmet, wie Dostoevskijs narrative Werke gemacht sind und somit Aspekte der Poetik Dostoevskijs behandelt.
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5. T R I A N G U L Ä R E S B E G E H R E N (R E N É G I R A R D ) Der französische Literatur-, Kultur- und Sprachwissenschaftler René Girard entwickelte in seinem 1961 erschienenen Buch Mensonge romantique et vérité romanesque seine »Theorie des romanesken Romans«1, als dessen Fundament er das »trianguläre Begehren« betrachtete. Das romaneske (franz. Original »romanesque«) Romanwerk grenzt Girard dabei scharf vom romantischen (»romantique«) ab. Während in ersterem das trianguläre Begehren aktiv aufgedeckt wird, spiegelt letzteres diese Dreiecksstruktur nur passiv wider ohne sie zu entlarven.2 Das Gegensatzpaar »romanesk« und »romantisch« hat demnach also nichts mit der literarischen Epoche der Romantik und ihren Merkmalen zu tun. Girard verwendet die beiden Begriffe ausschließlich in Bezug auf das »trianguläre Begehren«. Was versteht René Girard nun unter diesem Begriff? Er geht von der Grundüberlegung aus, dass die neuzeitlichen, romanesken Romane seit Cervantes’ Don Quijote von einer neuen Form des Begehrens dominiert werden. Dieses ist kein direktes, duales Begehren mehr, sondern ein mimetisches3, trianguläres, welches das Subjekt durch die Vermittlung eines Dritten, des so genannten Mittlers, auf ein Objekt projiziert. Das Subjekt ahmt den Mittler nach und will besitzen, was er besitzt. Das Begehren entwickelt sich somit in einer Dreiecksstruktur zwischen Mittler, Subjekt und Objekt (triangulum). Die Form des Dreiecks wird von Gi-
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Zitiert aus der dt. Übersetzung: René Girard: Figuren des Begehrens. Das Selbst und der Andere in der fiktionalen Realität. Aus dem Französischen v. E. Mainberger-Ruh, Münster, Hamburg, London: LitVerlag 1999 (Beiträge zur mimetischen Theorie), S. 60. Vgl. ebd., S. 25f. und S. 324, Fußnote 10. Im Gegensatz zu Erich Auerbach verwendet Girard die Begriffe »mimetisch« bzw. »Mimesis« nicht im Sinne einer »Interpretation des Wirklichen durch literarische Darstellung« (vgl. Erich Auerbach: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, Tübingen, Basel: Francke 2001, S. 515), sondern in Verbindung mit der Nachahmung anderer als Aspekt des menschlichen Verhaltens. Das mimetische Begehren ist das Begehren gemäß dem Anderen, das weit reichende zwischenmenschliche Konflikte auslöst. 125
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rard aber nicht als geometrische »Gestalt«, sondern als »konsequent durchgezogene systematische Metapher«4 verwendet. Es ist ein Modell, das das »undurchdringliche Geheimnis der zwischenmenschlichen Beziehungen«5 verkörpert. Ein spontanes, direktes Begehren zwischen Subjekt und Objekt sieht Girard sowohl auf gesellschaftlicher als auch auf literarischer Ebene mehr und mehr durch das Begehren gemäß dem Anderen (dem Dritten) verdrängt; die Auseinandersetzung mit dem triangulären Begehren, das Girard auch als »ontologische Krankheit«6 der Moderne bezeichnet, ist eine der Hauptaufgaben des modernen Romanciers. Wie schon erwähnt, verwendet Girard die Adjektive romanesk und romantisch als Gegensatzpaare, um eine »vage Differenz zwischen jenen Werken einzuführen, die das mediatisierte Begehren lediglich passiv widerspiegeln, und jenen, die dieses Begehren aktiv aufdecken«7. Girards Studie widmet sich vornehmlich romanesken Werken; zu dessen Vertretern zählt er neben Cervantes’ Don Quijote, den er als Prototyp des triangulären Begehrens betrachtet, Gustave Flaubert (z.B. Madame Bovary), Stendhal (z.B. Rot und Schwarz), Marcel Proust (Auf der Suche nach der verlorenen Zeit) und Fёdor Michajlovič Dostoevskij (z.B. Die Dämonen, Der ewige Gatte). Dostoevskijs Werke verkörpern für Girard das »höchste Stadium der internen Vermittlung«8, die er von der zweiten Grundkategorie, der externen Vermittlung, unterscheidet. Bei letzterer ist die physische und/ oder geistige Distanz zwischen Subjekt und Mittler so groß, dass sich deren Welten kaum bis gar nicht berühren. Als erstes und eindeutigstes Beispiel für eine solche externe Vermittlung nennt Girard wieder Don Quijote (Erstausgabe Teil 1 1605, Teil 2 1615). Der fahrende Ritter ahmt Amadis von Gallia nach, der selbst nur eine fiktive Figur aus den Ritterromanen von Garcí Rodríguez de Montalvos9 ist. Zwischen der Welt des Subjekts und der des Mittlers gibt es in diesem Fall keinerlei Berührungspunkte. Die Hauptfigur des zweiten Romans, den Girard als Beispiel für eine externe Vermittlung anführt, Madame Bovary (1856), rückt 4 5 6 7 8 9
R. Girard: Figuren des Begehrens , S. 323, Fußnote 2. Ebd. Z.B. ebd., S. 286. Vgl. ebd., S. 324, Fußnote 10. Ebd., S. 49. Der Amadisroman fand schon im 14. Jhdt. in Spanien Erwähnung. Von Garcí Rodríguez de Montalvos stammt die älteste überlieferte Fassung, die um 1492 entstand und um 1508 unter dem Titel Los quatro libros del muy esforçado cauallero Amadís de Gaula erschien. (Vgl. François Bondy u.a. (Kuratorium): Harenbergs Lexikon der Weltliteratur in 5 Bänden. Autoren – Werke – Begriffe. Bd 1, Dortmund: Harenberg 1989, S. 115.) 126
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ihrem Mittler zwar schon näher, tangiert dessen Welt jedoch immer noch nicht. Emma Bovary ahmt die mondäne Pariser Adelswelt nach, die sie glaubt durch Presseberichte und die Heldinnen aus ihren Schundromanen zu kennen. Doch auch Emmas Vermittlung bleibt eine externe, denn sie verlässt das Provinznest Yonville nicht und wird ihren Pariser Mittlern niemals begegnen. Das wichtigste Merkmal der externen Vermittlung ist die offenkundige Verehrung des Subjekts für den Mittler. Weder Don Quijote noch Madame Bovary verleugnen ihre Vorbilder. Bei der internen Vermittlung ist der Fall anders gelagert: Das Subjekt versucht seine Verehrung zu verschleiern und nimmt – rein äußerlich – dem Mittler gegenüber eine betont gleichgültige, ablehnende, ja sogar hasserfüllte Haltung ein. Seine Nachahmung ist komplexer und äußert sich oft in »Neid, Eifersucht und Konkurrenzstreben«, die das Subjekt bis zur »seelischen Selbstvergiftung«10 treiben. Die Romanhelden der internen Vermittlung überwinden die Distanz zwischen ihrer Welt und der ihres Mittlers und stehen ihm viel näher als die der externen. Als erstes Beispiel für eine interne Vermittlung nennt Girard Stendhals Roman Rot und Schwarz (Le rouge et le noir 1830). Darin verehrt der junge Handwerkersohn Julien Sorel Napoleon I. als Innbegriff eines Menschen, der sich durch eigene Kraft an die Spitze des Staates empor gearbeitet hat. Im Gegensatz zu Madame Bovary verlässt Julien aber die Provinz und macht sich aktiv auf, um schließlich mit Hilfe seines Gönners des Marquis de la Mole und seiner Geliebten Mathilde in Paris Karriere zu machen. Er überwindet also die Distanz zwischen seiner und der Welt seines Mittlers, wobei Julien aber sein wahres Vorbild – den ehemaligen Kaiser – seiner Umwelt stets opportunistisch verheimlicht. Als Beispiel für das nächste Stadium der internen Vermittlung, bei dem sich Subjekt und Mittler noch näher kommen, gibt Girard Marcel Prousts monumentales Romanwerk Auf der Suche nach der verlorenen Zeit (A la recherche du temps perdu 1913-27) an. Für die Figuren dieses Romans stellt Girard fest, dass sie alle die Liebe der Eifersucht, also der »Gegenwart des Rivalen«11 und Mittlers, unterordnen. Prousts Ich-Erzähler Marcel beschreibt explizit jene Dreiecksstruktur, die in Rot und Schwarz nur angedeutet wird: »In der Liebe verhält es sich so, dass unser glücklicher Rivale – das heißt also unser Feind – unser Wohltäter ist. Ein Wesen, das in uns nur ein unbedeutendes physisches Verlangen geweckt hat, versieht er zusätzlich mit einem ungeheuren 10 Hier bezieht sich Girard auf die von Max Scheler in Das Ressentiment im Aufbau der Moralen (Frankfurt/Main: Klostermann 1978) untersuchten Phänomene des Ressentiments. R. Girard: Figuren des Begehrens, S. 21f. 11 Ebd., S. 32. 127
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Wert, der nichts mit ihm zu tun hat, den wir gleichwohl aber mit ihm verwechseln. Wenn wir keinen Rivalen hätten, würde der Genuss sich niemals in Liebe verwandeln […].«12
Das trianguläre Begehren wird bei Stendhal mit dem Begriff »Eitelkeit« verknüpft, bei Proust spricht Girard nun von »Snobismus«. Diesen Proust’schen Snobismus vergleicht er mit einer weiteren, in Auf der Suche nach der verlorenen Zeit auftretenden Form des triangulären Begehrens; dem kindlichen Begehren. So ahmt der Ich-Erzähler Marcel bereits als Kind den Geschmack und den Stil seines Mittlers Bergotte nach und richtet sein Begehren auf den Besuch einer Theateraufführung mit der von Bergotte hoch verehrten Schauspielerin Berma. Im Gegensatz zum Snob verehrt das Kind seinen Mittler aber ganz offen, weshalb das kindliche Begehren noch der externen Vermittlung zuzurechnen ist. Der Snob jedoch versucht alles, um die Verehrung für seinen Mittler zu verbergen. So gibt beispielsweise Madame Verdurin als Patronne ihres exquisiten Künstlersalons stets vor, eine unüberwindliche Abscheu gegen die »langweiligen« Adelskreise der Guermantes zu hegen; doch in Wahrheit wünscht sie sich nichts sehnlicher als in deren Salon zu verkehren. Der Proust’sche Snob vertritt somit, laut Girard, bereits eine weitere Stufe der internen Vermittlung, denn er ist seinem Mittler so nahe gerückt, dass dessen Welt sein Privatleben tangiert. Bei Dostoevskij nun, der zwar chronologisch vor Proust, hinsichtlich des triangulären Begehrens aber auf der nächst höheren Ebene einzuordnen ist, »bricht der übermächtig gewordene Hass schließlich aus und legt so seine Doppelnatur oder, besser gesagt, die Doppelrolle des Mittlers als Vorbild und Hindernis bloß.«13 Die Welten von Subjekt und Mittler stehen sich bei Dostoevskij noch näher als bei Proust oder Stendhal, denn in seinen Werken dringt das trianguläre Begehren bis in den familiären Bereich vor. Als Beispiel hierfür nennt Girard die Beziehung zwischen Arkadij Dolgorukij und seinem leiblichen Vater Versilov aus dem Roman Der Jüngling (Podrostok 1875). Beide Männer lieben dieselbe Frau, die mondäne Dame von Welt Katerina Achmakova. Zur komplexen Hassliebe zwischen dem illegitimen Sohn und dem adligen Vater gesellt sich also noch der Konkurrenzkampf zwischen den beiden Rivalen. Arkadijs Liebe zu Katerina sieht Girard als »eine Kopie der Leidenschaft des Vaters«14. In Wahrheit sehnt sich der zurückgewiesene Sohn nach der Liebe 12 Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Übers. von E. Rechel-Mertens. Bd. 3. Die wiedergefundene Zeit, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1976, S. 3999. (Kursive Hervorhebungen von mir D.B.) 13 R. Girard: Figuren des Begehrens, S. 50. 14 Ebd., S. 52. 128
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und Anerkennung des Vaters und Katerina ist nur das Objekt, das auch sein Mittler begehrt. Während also auf der ersten Stufe der internen Vermittlung bei Stendhal das öffentliche und politische Geschehen und auf der zweiten Stufe bei Proust das Privatleben, aber meist noch nicht die Familie selbst, vom triangulären Begehren kontaminiert werden, greift es bei Dostoevskij bereits den »Binnenraum der Familie«15 an. Girard unterscheidet deshalb zwischen einer »exogamischen« (Stendhal, Proust) und einer »endogamischen« (Dostoevskij) internen Vermittlung. Er stellt außerdem fest, dass bei Dostoevskij mit dem Näherrücken des Mittlers dessen Rolle im romanesken Werk aufgewertet wird und dieser, auf Kosten des Objekts, mehr und mehr in den Vordergrund tritt. So spiegeln Dostoevskijs Romane die wahre Hierarchie des triangulären Begehrens wider, an deren Spitze der Mittler steht. Noch expliziter als im Jüngling kommt die Bedeutung des Mittlers im Kurzroman Der ewige Gatte (Večnyj muž 1870) zur Geltung. Darin hängt sich der Gutsbesitzer und Witwer Pavel Trusockij wie eine Klette an den ehemaligen Liebhaber seiner verstorbenen Frau, den St. Petersburger Lebemann Vel’čaninov. In diesem besonderen Fall gibt es gar kein Objekt mehr, da Trusockijs Frau tot ist. Es bleibt nur mehr der Mittler Vel’čaninov, den der verunsicherte, betrogene Ehemann wie ein Besessener verfolgt, und aus dessen Sicht der Roman wiedergegeben wird. Trusockijs Verhältnis zu seinem Mittler schwankt stets zwischen den Extremen devoter Verehrung und rasender Wut. Er steigert sich schlussendlich in eine krankhafte Form von Verzweiflung hinein, die in einem missglückten Mordanschlag auf Vel’čaninov gipfelt. Das Dostoevskijsche Subjekt ist oft von einem krankhaften Minderwertigkeitskomplex geprägt, der bis zum Selbsthass führt. Laut Girard hängt dieser seelische Extremzustand unmittelbar mit dem triangulären Begehren zusammen, denn das Subjekt hält sich für verkannt und zu einem ungerechten Außenseitertum verdammt. Deshalb ist es so besessen von seinem gesellschaftlich integrierten Mittler, dass es vom Paradoxon träumt, sein Mittler zu werden, ohne dabei aufzuhören, es selbst zu sein. Vom Besitz des Objekts nun erhofft es sich eine radikale Veränderung seines Selbst und seinen Aufstieg auf die Stufe des Mittlers. Es hofft darauf, endlich – wie der insgeheim angebetete Mittler – dazuzugehören. Dieses Gefühl des Fremdseins konstatiert Girard auch bei Myškin, den er aber gleichzeitig Dostoevskijs »unverdorbensten Helden«16 nennt: »Vor ihm der leuchtende Himmel, unten der See, um ihn der Horizont, licht und unendlich, unbegrenzt. Er schaute, schaute voller Pein. Jetzt erinnerte er 15 Ebd., S. 50. 16 Ebd., S. 63. 129
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sich, wie er die Arme in das lichte, unendliche Blau emporgestreckt und geweint hatte. Es hatte ihn gequält, dass er alledem so ganz fremd war. Was ist das für ein Gastmahl, was ist das für ein großes Fest, das kein Ende nimmt, das immer währt und das ihn seit langem, schon seit den Kindertagen lockt und zu dem er immer wieder keinen Einlass findet? […] Alles hat seinen Weg, und alles kennt seinen Weg, singend geht es, und singend kommt es; er allein weiß nichts, versteht nichts, weder die Menschen, noch die Töne, ist allem fremd und ein Ausgestoßener.«17
Man muss jedoch wissen, dass dieses von Girard angeführte Zitat, eine Erinnerung Myškins an seine früheste Zeit im Schweizer Sanatorium wiedergibt. Kurz nach Ippolit Terent’evs missglücktem Selbstmordversuch, unternimmt der Fürst einen Spaziergang im Park, bei dem ihm ein Satz aus Ippolits Notwendiger Erklärung einfällt. Darin beklagt Ippolit, dass sogar eine »winzige Fliege« an jenem »Gastmahl«18 teilnehmen darf, von dem er selbst stets ausgeschlossen bleibt. Erst in diesem Zusammenhang erinnert sich Myškin an sein eigenes Gefühl der Fremdheit, das er vor Jahren als schwerkranker Epileptiker in der ungewohnten, neuen Umgebung der Schweizer Bergwelt empfunden hatte. Die Bedeutung des obigen Zitats muss demnach relativiert werden. Zwar hat Girard damit recht, dass sogar Myškin das Gefühl des Fremdseins kennt, allerdings bleibt zu bedenken, dass dieses Gefühl bei ihm mit einem konkreten Aufenthalt in einem fremden Land verbunden ist. Einer Situation also, in der es absolut normal ist, sich ausgeschlossen und nicht dazugehörig zu fühlen. Bei anderen Dostoevskijschen Figuren, wie z.B. dem Untergrundmann, Rodion Raskol’nikov, Pëtr Verchovenskij und Arkadij Dolgorukij, ist das Gefühl des Fremdseins und Ausgestoßenseins ein dauerhafter Grundtenor und gesellschaftlich motiviert. Generell scheint Girard die Einordnung von Dostoevskijs Der Idiot, besonders die des Titelhelden Myškin, in sein System des triangulären Begehrens schwer zu fallen. So bezeichnet er den Roman an einer Stelle als eine Ausnahme vom triangulären, romanesken System, weil in ihm noch spontanes, direktes Begehren vorkommt,19 an einer anderen Stelle vergleicht er wiederum Myškin mit Stavrogin, der diabolischen Hauptfigur aus den Dämonen, und kommt zum Schluss, dass beide – wenn auch aus ganz unterschiedlichen Gründen – die im triangulären Begehren ver-
17 F. Dostojewskij: Der Idiot, S. 613f. 18 Vgl. ebd., S. 613. 19 »Seit Flaubert spielt das spontane Begehren – einige Sonderfälle wie etwa Dostoevskijs Werk Der Idiot ausgenommen – eine derart geringe Rolle, dass es seiner romanesken Zeigefunktion (deixis) verlustig gegangen ist.« (R. Girard: Figuren des Begehrens, S. 156.) 130
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hafteten Personen ihrer Umgebung in ein heilloses Chaos stürzen. Dabei äußert sich Girard aber nicht konkret über Myškins Rolle im triangulären System: so gesteht er ihm zwar selbst eine Form des Begehrens zu, aber nur das »allerfernste Begehren in einer Welt des allernächsten Begehrens«20. Auch behauptet er, dass Myškin sich »nicht in die Dreiecke der anderen einbinden«21 lässt, obwohl er »alle Figuren im Werk […] fasziniert«22. Stavrogin ist laut Girard eindeutig der Mittler aller Personen seiner Umgebung, Myškin steht für ihn aber außerhalb des triangulären Begehrens. Leider führt Girard keine detaillierte Analyse der triangulären Strukturen im Idioten durch, so wie er es im Kapitel »Dostojewskijs apokalyptische Welt« mit den Dämonen macht. Girard konzentriert sich generell auf jene Werke Dostoevskijs, in denen sich die trianguläre Struktur relativ leicht nachweisen lässt, andere wie Die Brüder Karamazov und eben Der Idiot erwähnt er nur, wenn ein bestimmtes Detail gut in sein Konzept passt. Bevor nun die Struktur des triangulären Begehrens am Beispiel der wichtigsten Figuren in Der Idiot dargestellt wird, wobei u.a. gezeigt wird, dass sich durchaus auch Myškin – zumindest im Falle von Rogožins, Nastas’jas und Aglajas Begehren – in die trianguläre Struktur eingliedern lässt, soll im folgenden Exkurs kurz ein weiteres, trianguläres System umrissen werden, das sich direkt mit dem Idioten auseinandersetzt und unabhängig von Girards Untersuchung das Dreieck zwischen Myškin, Nastas’ja und Aglaja und jenes zwischen Nastas’ja, Myškin und Rogožin aufdeckt.
5 . 1 E x k u r s : D as s tr u k tu r al i s ti s c he D r e i e c k sm o d e l l i n D e r I d i o t ( R u d o l f N e u hä u s e r ) Neben René Girard stellt auch Rudolf Neuhäuser in seiner Analyse Semantisierung formaler Elemente im »Idiot« fest, dass das Personengefüge im Idioten auf einer Dreiecksstruktur basiert. Neuhäuser geht in seiner Untersuchung zwar von einem strukturalistischen Ansatz aus, der nichts mit dem mimetischen Begehren zu tun hat, konstatiert aber schlussendlich dieselbe geometrische Figur im Aufbau des Personengefüges wie Girard in seiner anthropologischen Studie.
20 Ebd., S. 171. 21 Ebd. 22 Ebd., S. 172. 131
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Neuhäuser stellt zunächst fest, dass beiden weiblichen Hauptfiguren – Nastas’ja und Aglaja – zwei Verehrer gegenüber stehen: für Nastas’ja nennt er Myškin und Rogožin, für Aglaja Ganja und Radomskij. Daraus ergeben sich die folgenden beiden Basisdreiecke: Skizze 1: Die grundlegenden Dreiecksbeziehungen in »Der Idiot« Nastas’ja
Rogožin
Aglaja
Myškin
Ganja
Radomskij
Quelle: Rudolf Neuhäuser: »Semantisierung formaler Elemente im ›Idiot‹«, in: Dostoevsky Studies. Journal of the International Dostoevsky Society 1 (1980), S. 57. Und natürlich erkennt er auch, dass Myškin zwischen Aglaja und Nastas’ja steht, woraus sich ein drittes Basisdreieck ergibt. Dieses letzt genannte Dreieck verwendet Neuhäuser als Zentrum für sein eigenes trianguläres System, das in der folgenden Skizze veranschaulicht wird: Skizze 2: Das Dreieckssystem in »Der Idiot« nach Neuhäuser
Quelle: Rudolf Neuhäuser: »Semantisierung formaler Elemente im ›Idiot‹«, in: Dostoevsky Studies. Journal of the International Dostoevsky Society 1 (1980), S. 58. Bei dieser Dreiecksstruktur ergibt sich allerdings ein zeitliches Problem, da sich die Beziehungsmuster im Laufe des Romans verändern, also frü132
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here Verbindungen wegfallen und neue hinzukommen. Das Dreieck um Aglaja muss Neuhäuser z.B. um einen dritten Verehrer, nämlich Myškin, erweitern, der zwar für sechs Monate aus Aglajas Umfeld verschwindet um Nastas’ja zu folgen, ab dem Wiedersehen in Pavlovsk aber ständig zwischen den beiden Frauen schwankt. Ganja interessierte sich wiederum lange vor Radomskijs Auftauchen für Aglaja und wird nach Radomskijs Ausscheiden als potentieller Heiratskandidat vor allem durch die Intrigen seiner Schwester Varvara zu Myškins Rivalen. Auch das Dreieck um Nastas’ja muss Neuhäuser um einen weiteren Verehrer – um Ganja – erweitern, denn immerhin sollte er sie zu Beginn des Romans heiraten. Vergessen wird in dieser Skizze auf Tockij, der als Auslöser für Nastas’jas seelische Erkrankung zu Beginn des Romans zumindest eine ebenso wichtige Rolle spielte wie Ganja. Genau genommen ginge aber schon durch die Erweiterung des Verehrerkreises um Aglaja die Dreiecksstruktur verloren, denn vier Personen bilden bereits ein Viereck. Im Falle Nastas’jas müsste sich durch die Erweiterung des Kreises im Grunde sogar ein Fünfeck ergeben (Nastas’ja, Tockij, Ganja, Rogožin, Myškin). In Neuhäusers Skizze werden aber Aglaja und Nastas’ja ins Zentrum zweier Dreiecke gestellt, die ihre jeweiligen Verehrer um sie bilden. Auch das von Neuhäuser angeführte Dreieck zwischen Myškin, Marie und Vera Lebedeva birgt ein zeitliches Problem in sich. Zwar wird angegeben, dass dessen »weibliche Zuordnungspunkte in der Vor- bzw. der Nachgeschichte liegen«23, doch dass Vera (russ. für Glaube) für Myškin das Prinzip der Hoffnung verkörpern soll, wirkt insofern übertrieben, da sie erst nach seinem Rückfall in die geistige Umnachtung durch den Briefverkehr mit Radomskij aktiv in den Vordergrund tritt. Aber gerade Radomskij wird von Neuhäuser einem von westlichen Ideen verdorbenen peripheren Dreieck zugezählt, zu dem auch Aglaja und Ippolit gehören. Radomskijs im Epilog angedeuteter Wandel vom westlich orientierten Skeptiker zum russischen Slawophilen scheint somit in Neuhäusers Skizze nicht auf. Trotz dieser kleineren, zeitlichen Divergenzen, ist Neuhäuser aber die trianguläre Struktur im Idioten aufgefallen, auch wenn diese nicht wie bei Girard über die mimetische Beziehung zwischen Subjekt, Mittler und Objekt definiert wird. Die Basis für die folgende Untersuchung des triangulären Begehrens gemäß Girard bilden nun die beiden Dreiecke zwischen Myškin, Aglaja und Nastas’ja sowie zwischen Nastas’ja, Myškin und Rogožin.
23 Rudolf Neuhäuser: »Semantisierung formaler Elemente im ›Idiot‹«, in: Dostoevsky Studies. Journal of the International Dostoevsky Society 1 (1980), S. 58. 133
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5 . 2 T r i an g u l ä r e s B e g e h r e n i n D e r I d i o t »Jeder Dostojewskijsche Schluss ist ein Anfang. Es beginnt ein neues Leben unter den Menschen oder in der Ewigkeit.«24
Laut René Girard wird das obsessive Begehren des Subjekts bei Dostoevskij durch das »Negativkriterium« der Verweigerung ausgelöst, welches auch »die Wahl des Mittlers«25 bestimmt. Das Dostoevskijsche Subjekt verfolgt das »sich entziehende Wesen«, »Verfolgung aber gibt es nur, weil es Entzug gibt.«26 Betrachtet man das Beziehungsgeflecht im Idioten genauer, so erkennt man unschwer, dass diese Wechselwirkung zwischen Verfolgung und Entzug eine zentrale Rolle im Begehren der Hauptfiguren spielt. Rogožins Begehren wird durch die Fluchtversuche Nastas’ja Filippovnas regelrecht bis zum Wahnsinn gesteigert. Aglajas Interesse an Myškin wird erst durch seine Hinwendung zu Nastas’ja und durch seine damit verbundene Abreise nach Moskau geweckt. Und Ganjas Liebe zu Aglaja wird durch die Zurückweisung seines Briefes und die abweisende Antwort »Ich lasse nicht mit mir handeln«27, die sie Myškin in ihr Poesiealbum schreiben lässt, erst richtig angestachelt. Von den Hauptfiguren ist Rogožin am offensichtlichsten vom triangulären Begehren befallen. Nach dem Tod seines Vaters erbt er ein riesiges Vermögen, das er sofort und ausschließlich zur Verfolgung seines großen Zieles – zur Eroberung Nastas’jas – verwendet. Sein Begehren ist während des gesamten Romanverlaufs unverändert auf den Besitz Nastas’jas gerichtet. Doch dieses Ziel bleibt ihm versagt, denn das »begehrende Subjekt umarmt stets nur die Leere, wenn es sich des Objekts bemächtigt«28, und so bleibt auch Nastas’ja nicht auf Dauer bei Rogožin. Schlussendlich muss er sie töten, um sie »nie und nimmer, niemand auf der Welt […] hergeben«29 zu müssen. Da Rogožins Objekt der Begierde so klar zu erkennen ist, könnte man beinah der Illusion erliegen, dass es sich bei ihm gar nicht um ein trianguläres, sondern um ein direktes, duales Begehren handelt. Doch Rogožins Mittler wird schon im ersten Kapitel von ihm selbst genannt, als er seine erste Begegnung mit Nastas’ja Filippovna beschreibt:
24 25 26 27 28 29
R. Girard: Figuren des Begehrens, S. 298. Ebd., S. 77. Ebd. F. Dostojewskij: Der Idiot, S. 123. R. Girard: Figuren des Begehrens, S. 172. F. Dostojewskij: Der Idiot, S. 879. 134
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»Ich lief damals in Vaters Pekesche [= mit Pelz und Schnüren besetzter Mantelrock – Anm. D.B.] über den Newskij, die Pekesche hatt’ ich vor gut drei Jahren von ihm geerbt, da kommt sie aus ’nem Laden und steigt in ihre Equipage. Da traf’s mich wie ein Blitz. Un’ dann begegne ich Saljoschew, der ist ’ne ganz andere Sorte als ich, der sieht aus wie ’n Frisörgehilfe, trägt Monokel, wir aber hatten vom Vater aus Schmierstiefel an un’ mußten Fasten-Stschi löffeln. Die da, sagt er, is’ nix für dich – die is’ ’ne Fürstin, un’ heißen tut sie Nastassja Filippowna, mit Familienname Baraschkowa, un’ sie lebt mit Tozkij […].«30
Durch die Worte seines Trinkkumpanen Zalëžev wird Rogožins Begehren erst richtig angestachelt. Die schöne Nastas’ja ist nicht nur adlig und gebildet, sie ist auch noch die Geliebte des reichen Gutsbesitzers Tockij. Rogožin, der damals noch von seinem krankhaft geizigen Vater abhängig ist, fühlt sich durch seinen ärmlichen Aufzug und Zalëževs Worte gedemütigt und erhebt Tockij (oder Männer wie ihn) zu seinem Mittler. Er wünscht sich nichts sehnlicher als ein finanziell unabhängiger, reicher Mann zu sein, um Nastas’ja Filippovna, sein Objekt der Begierde, ebenso großzügig mit Schmuck und Geld beschenken zu können wie Tockij. Als Rogožin nun zu Beginn des Romans Myškin im Eisenbahnwagon kennen lernt, glaubt er seinem Mittler und seinem Objekt wesentlich näher gerückt zu sein, denn sein Vater ist in der Zwischenzeit gestorben und hat ihm ein riesiges Vermögen hinterlassen. Er hat sich noch nicht ganz von einer schweren Fiebererkrankung erholt, eilt aber trotzdem nach St. Petersburg, um Nastas’ja Filippovna zu erobern. Auch glaubt er, dass von seinem Mittler und Rivalen keine Gefahr mehr ausgeht, da Tockij standesgemäß heiraten und Nastas’ja Filippovna loswerden möchte. Rogožin sieht sich beinah am Ziel seiner Wünsche: durch die Beziehung mit Nastas’ja hofft er ein zweiter Tockij zu werden. Insgeheim weiß Rogožin, dass er nie in die Kreise Tockijs aufsteigen wird, da er weder adlig noch gebildet ist. Gerade sein Mangel an Bildung nagt an ihm, denn schon zu Beginn lautet eine der ersten Fragen, die er Myškin im Zug stellt: »Sagen Sie, Fürst, hab’n Sie auch Wissenschaften gelernt, dort, bei Ihrem Professor?«31 Rogožin wählt im Laufe des Romans noch zwei weitere Mittler, die beide drei Dinge gemein haben: sie sind adlig, gebildeter als er und sie haben – zumindest aus seiner Sicht – bessere Chancen bei Nastas’ja Filippovna. Zunächst erfährt er unmittelbar nach seiner Rückkehr, dass sich Nastas’ja mit Ganja Ivolgin verloben soll und gerät darüber so in Rage, dass er mit einer Schar betrunkener Zechkumpane bei den Ivolgins eindringt und Ganja vor aller Welt Geld anbietet, wenn dieser dafür auf Nastas’ja verzichtet. Rogožin packt den 30 Ebd., S. 18. 31 Ebd., S. 13. 135
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beneideten Rivalen und Mittler dadurch bei dessen eigenem triangulären Begehren: Ganja will unbedingt zu Geld kommen, um wieder in die Kreise zurückzukehren, aus die seine Familie durch den Alkoholismus seines Vaters verstoßen wurde. Doch Ganja ist nur scheinbar Rogožins Rivale; seinen wahren übermächtigen Mittler erkennt Rogožin erst auf Nastas’jas Geburtstagsfest. Myškin, den er bis dahin als verarmten, herzensguten Idioten betrachtete und den er sogar aufrichtig mochte, entpuppt sich plötzlich als Rogožins wahrer Gegenspieler. Ausgerechnet er bittet Nastas’ja aus den edelsten Motiven heraus ihn zu heiraten, fleht sie geradezu an, den beleidigenden Antrag Rogožins und die hunderttausend Rubel abzulehnen und wird von allen Geburtstagsgästen als guter und gebildeter Mensch gelobt, während Rogožin für sein Verhalten getadelt und verhöhnt wird. Myškin hat sich in wenigen Minuten zum schrecklichsten, weil unerreichbaren Mittler für Rogožin gewandelt: er beweist durch einen Brief, dass er ein Vermögen geerbt hat, und somit reich ist; er ist ein Fürst und stammt aus einem alten Adelsgeschlecht, und Nastas’ja ist so sehr von seiner Güte beeindruckt, dass sie ihn sogar für zu gut für sich hält. Für Rogožin wird ein Albtraum wahr: »Ein unsägliches Leiden drückte sich in seinen Zügen aus. Er schlug die Hände zusammen, und ein Stöhnen entrang sich seiner Brust. »Tritt zurück!« schrie er dem Fürsten zu.«32 Obwohl Nastas’ja – um Myškin nicht zu ruinieren – schließlich doch mit Rogožin geht, bleibt Myškin bis zu ihrem Tod stets Rogožins unerreichbarer Mittler. Erst durch den Mord am Objekt, das er nie besitzen konnte, kann das Subjekt Rogožin dem Mittler endlich so nahe kommen, wie er es sich immer gewünscht hat. Im letzten Kapitel vor dem Epilog wachen die beiden Gesicht an Gesicht bei der toten Nastas’ja und Myškins Tränen rinnen über Rogožins Wangen. Auch im triangulären Begehren Nastas’jas spielt Myškin eine zentrale Rolle. Doch er ist in diesem Fall nicht der Mittler, sondern das Objekt. Das Dreieck zwischen Myškin, Nastas’ja und Aglaja, das auch Neuhäuser anführt, lässt sich, vom Standpunkt der beiden Frauen ausgehend, sehr wohl auf Girards mimetische Struktur umlegen. Nastas’ja, die seit dem sexuellen Missbrauch durch Tockij psychisch schwer geschädigt ist, kann schon aufgrund ihres geringen Selbstwertgefühls nicht mehr lieben. Als Myškin sie aus reiner unverdorbener Zuneigung heraus bittet ihn zu heiraten, fühlt sie sich sofort seiner Liebe unwürdig und flieht mit Rogožin. Nastas’ja entspricht dem Typus des Masochisten wie ihn Girard in seiner Studie beschreibt.33 Dieser Typus begehrt nicht etwa Er32 Ebd., S. 244. 33 Vgl. R. Girard: »Masochismus und Sadismus«, in: Ders., Figuren des Begehrens, S. 184-201. 136
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niedrigung und Leiden, er sucht viel mehr »im unüberwindlichen Hindernis das Göttliche, sucht es also in dem, was sich per definitionem nicht überwinden lässt«34. Nastas’jas »unüberwindliches Hindernis« besteht darin, dass sie Myškin nur heiraten könnte, wenn sie genauso unbescholten und gesellschaftlich geachtet wäre wie ihre Mittlerin Aglaja Epančina. Da dies jedoch unmöglich ist, muss sie weiter leiden. Würde sie Myškins Antrag annehmen, hätte sie zeitlebens das Gefühl nicht gut genug für ihn zu sein und ihn sogar gesellschaftlich ruiniert zu haben. Bevor sie ihre Geburtstagsfeier mit Rogožin verlässt, erklärt sie den Anwesenden noch einmal deutlich, warum sie Myškin nicht heiraten kann und nennt dabei auch den Namen ihrer Mittlerin: »Ein solches Kind [sie meint Myškin – Anm. D.B.] zugrunde richten? Das wäre ja ganz in der Art von Afanassij Iwanowitsch [= Tockij, der sie missbrauchte – Anm. D.B.]: Der hat für Kinder viel übrig. […] Fürst! Jetzt brauchst du eine Aglaja Jepantschina und nicht eine Nastassja Filippowna […]! Du hast keine Angst, aber ich werde Angst haben, dass ich dich ruiniere und dass du mir später daraus einen Vorwurf machst.«35
Aglaja verkörpert alles was Nastas’ja sein möchte: sie ist die ehrbare Tochter des angesehenen Generals Epančin, gesellschaftlich hoch geachtet, wunderschön und wird als gute Partie gehandelt. Zwar gilt auch Nastas’ja als Schönheit, aber eben auch als entehrte Frau und darunter leidet sie enorm. Nach Myškins Antrag meint sie: »Ich danke Ihnen, Fürst, bis jetzt hat noch niemand so zu mir gesprochen. […] Man hat mich immer kaufen wollen, aber kein einziger anständiger Mann hat mir einen Heiratsantrag gemacht.«36 Das gesellschaftliche Ansehen einer Aglaja Epančina wird ihr niemals zuteil werden, also wählt sie sie als unerreichbare Mittlerin. Girard stellt in diesem Zusammenhang fest, dass das Dostoevskijsche Subjekt (ebenso wie das Proust’sche) den »Drang des Briefeschreibens an den Mittler« verspürt. »Der Brief will beleidigend sein, doch ist er letztlich nur ein angstvoller Appell.«37 Die Briefe, die Nastas’ja in »wahnhafter Schmeichelei«38 an Aglaja sendet, entsprechen diesem Muster und belegen die mimetische Dreieckskonstellation zwischen den beiden Frauen und Myškin. Nastas’ja hat Aglaja nie persönlich kennen gelernt und erhöht sie deshalb in ihrer Fantasie zu einem Ideal, dem die echte Aglaja 34 35 36 37 38
Ebd., S. 189. F. Dostojewskij: Der Idiot, S. 246f. Ebd., S.246. R. Girard: Figuren des Begehrens, S. 77. Ebd., S. 77. 137
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niemals gerecht werden kann. Umso größer ist natürlich Nastas’jas Enttäuschung und Schmerz als Aglaja sie um ein Treffen bittet und sie dabei beschimpft und beleidigt. Tatsächlich lässt sich Nastas’jas hasserfüllter Ausbruch während des Treffens und ihr Zusammenbruch danach mit Hilfe des triangulären Begehrens äußerst plausibel erklären. Dostoevskij zeigt in diesem Fall den Bruch zwischen Subjekt und Mittler. Nastas’ja erkennt mit einem Mal, dass Aglaja nicht der reine Engel ist, für den sie sie gehalten hat, sondern ein verwöhntes, eifersüchtiges Mädchen, das ihr noch ehe sie ein Wort miteinander gewechselt haben, mit jeder Geste ihre Abneigung vermittelt.39 Die Kränkung wird durch jede Äußerung Aglajas weiter gesteigert und erreicht ihren grausamen Höhepunkt als sie Nastas’ja vorwirft, lieber mit Rogožin gegangen zu sein und den »gefallenen Engel«40 zu spielen anstatt sich eine Arbeit zu suchen. Aglaja entpuppt sich als der Verehrung nicht würdig, und indem sie ihr ihre Macht über Myškin demonstriert, rächt sich Nastas’ja nicht einfach an der Rivalin, sondern demontiert ihre Mittlerin. Ihre darauf folgende Ohnmacht wird nicht etwa durch die Angst Myškin zu verlieren ausgelöst oder durch die Wut über Aglajas Worte, sondern durch die Erkenntnis der bisherigen Illusion, die Nastas’ja eine unwürdige Mittlerin verehren ließ. Übernimmt Aglaja im Dreieck zwischen Nastas’ja, Myškin und ihr selbst die Position des Subjekts, so spiegelt sich in ihrem Begehren die gleiche Struktur wie in Nastas’jas wider. Dabei ist nicht überraschend, dass auch in ihrem triangulären Begehren Myškin die Rolle des Objekts spielt. Da aber die Epančin-Tochter der Mätresse Tockijs anfänglich weit indifferenter gegenübersteht als umgekehrt, mag es doch erstaunen, dass Nastas’ja Aglajas Mittlerin ist. Wie bereits einleitend angeführt, nennt Girard Eifersucht neben Neid und Konkurrenzstreben als eine der drei Triebfedern für die interne Vermittlung des triangulären Begehrens; sie veranlasst das Subjekt erst dazu, der Mittler sein zu wollen. Aglajas Verhalten gegenüber Nastas’ja, das nach außen hin von Gleichgültigkeit und Ablehnung geprägt ist, entspricht geradezu dem Paradebeispiel der internen Vermittlung: sie verleugnet ihre Mittlerin gekonnt. Das auslösende Moment für Aglajas Eifersucht wird auch von Birgit Harreß erkannt: Sie bemerkt, dass die verwöhnte und schöne Aglaja es nicht ertragen kann ausgerechnet von Myškin bei seinem ersten Besuch im Hause Epančin nur als »beinahe so schön wie Nastas’ja«41 bezeichnet zu werden.42 Un39 40 41 42
Vgl. F. Dostojewskij: Der Idiot, S. 818f. Ebd., S. 824. Vgl. ebd., S. 114. Vgl. Birgit Harreß: »Der Idiot«, in: Dies. (Hg.), Interpretationen. Dostojewskijs Romane, Stuttgart: Reclam 2005, S. 57. 138
TRIANGULÄRES BEGEHREN (GIRARD)
absichtlich hat Myškin dadurch Aglajas Ego verletzt und ihre Eifersucht entfacht. Kurz darauf folgt Myškin auch noch Nastas’ja nach Moskau und entzieht sich damit Aglaja. Hier tritt die von Girard als »Negativkriterium der Verweigerung« bezeichnete Wechselwirkung zwischen Entzug und Verfolgung in Kraft: Aglaja hält Myškin zwar schon bei ihrem ersten Treffen für einen außergewöhnlichen Menschen, doch erst nach seinem überstürzten Aufbruch erfährt man, dass der Fürst »einen nachhaltigen Eindruck«43 bei ihr und ihrer Familie hinterlassen hat. Mit dem seltsamen, weil aufrichtigen Brief, in dem Myškin sie nach einigen Monaten unumwunden fragt, ob sie glücklich sei, gelingt es ihm – wenn auch unabsichtlich – Aglajas Gedanken während der noch verbleibenden Wochen seiner Abwesenheit an ihn zu fesseln. Das Subjekt hat sich somit sein Objekt gewählt. Doch dieses Objekt wendet sich ganz offen einer anderen Frau zu, ja scheint ihr sogar schon zu gehören, denn die Gerüchte um Myškins Verlobung mit Nastas’ja dringen bis nach St. Petersburg in den Salon der Epančins. Was bewundert Aglaja nun aber an ihrer Rivalin und Mittlerin? Und worum beneidet sie diese? Eine Antwort auf diese Frage deutet Nastas’ja während des Treffens mit Aglaja an: »Sie haben Angst vor mir«44 sagt sie ihr ins Gesicht und tatsächlich fürchtet Aglaja die (Narren-)Freiheit ihrer Rivalin. Nastas’ja muss sich, im Gegensatz zu Aglaja, keinen gesellschaftlichen Zwängen mehr beugen, als Mätresse und »Wahnsinnige«45, die in aller Öffentlichkeit Skandale provoziert, ist sie im Besitz einer Freiheit, von der die in ihrem goldenen Käfig eingesperrte, angesehene Generalstochter nur träumen kann. Nastas’ja wirft Aglajas Verehrer Radomskij in Pavlovsk vor der gesamten vornehmen Welt seine finanzielle Lage und später sogar den skandalträchtigen Selbstmord seines Onkels vor, während Aglaja nur stumm daneben stehen kann. Nastas’ja schlägt einen Offizier, der sie beleidigt, mit der Reitpeitsche ins Gesicht, während sich Aglaja, die den Vorfall erregt beobachtet, von Fürst Šč. wegführen lassen muss. Es ist genau diese Freiheit, um die Aglaja Nastas’ja im Stillen beneidet, die ihr aber gleichzeitig Angst macht, da sie mit gesellschaftlicher Ächtung verbunden ist. Aglaja, die viel gelesen hat und sich auch mit der Frauenfrage auseinandersetzt, lehnt den entwürdigenden Heiratsmarkt, der um sie und ihre Schwestern veranstaltet wird, kategorisch ab. An mehreren Stellen im Roman lässt sie ihren großen Traum von einem sinnvollen, unabhängi43 F. Dostojewskij: Der Idiot, S. 260. 44 Ebd., S. 825. 45 So bezeichnet Radomskij Nastas’ja, nachdem sie vor aller Welt anzügliche Bemerkungen über seine finanzielle Lage macht. (Ebd., S. 437.) 139
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gen, durch eigene Arbeit finanzierten Leben aufblitzen. So sagt sie beispielsweise zu Myškin: »Ich will nicht auf ihre Bälle fahren, ich will nützlich sein. Ich wollte schon vor langer Zeit fort. […] ich will nach Rom, ich will alle wissenschaftlichen Kabinette besuchen. Ich will in Paris studieren; ich habe mich das ganze letzte Jahr darauf vorbereitet und gelernt und sehr viele Bücher gelesen […] meine Eltern habe ich schon längst davon in Kenntnis gesetzt, dass ich meine soziale Stellung von Grund auf ändern will. Ich habe mir vorgenommen, mich mit Erziehung zu befassen, und ich habe auf Sie gerechnet, weil Sie gesagt haben, Sie liebten Kinder. Können wir uns beide nicht der Erziehung widmen […]? Wir werden beide nützlich sein; ich will keine Generalstochter bleiben.«46
Zur Verwirklichung dieses romantisch-naiven Traumes, würde Aglaja die Freiheit einer Nastas’ja Filippovna benötigen. Nastas’ja aber lässt sich von Rogožin aushalten und hat ein Leben als Mätresse dem einer Arbeiterin vorgezogen, und genau das wirft Aglaja ihrer Mittlerin bei ihrem Treffen auch vor. Nastas’ja antwortet auf diesen Vorwurf »Ich verachte nicht die Arbeit, sondern Sie, wenn Sie von Arbeit reden«47 und entlarvt Aglaja damit als naive Heuchlerin, die selbst nicht den Mut hat, ihren Traum zu verwirklichen. Als Nastas’ja schließlich verlangt, dass Myškin sich zwischen ihr und Aglaja entscheidet, reicht sein kurzes Zögern aus, um Aglaja den neuerlichen Sieg der Mittlerin zu demonstrieren und sie weinend davon stürzen zu lassen. Die Hauptfigur im Idioten, deren trianguläres Begehren am geringsten auffällt, ist zweifellos Fürst Myškin. Wie schon erwähnt, vergleicht Girard ihn mit Stavrogin aus den Dämonen. Während aber Stavrogin, der blasierte Dandy, eine negative Figur ist, dem die Menschen in seiner Umgebung absolut gleichgültig sind, stellt Myškin den positiven Gegenpol dar, der alle Menschen retten will, aber schließlich selbst an seiner Güte zerbricht. Girard spricht Myškin nicht jedes Begehren ab, meint jedoch, dass »seine Träume weit über den anderen Figuren«48 schweben, und dass es »vom Standpunkt der ihn umgebenden Menschen aus« so aussieht, »als würde er gar nicht begehren«49. Da aber sowohl Stavrogins Gefühlskälte als auch Myškins Menschenliebe zur Katastrophe führen, bezeichnet Girard letzteren schließlich als einen »Dandy höherer Art«:
46 47 48 49
Ebd., S. 622. Ebd., S. 824. R. Girard: Figuren des Begehrens, S. 171. Ebd. 140
TRIANGULÄRES BEGEHREN (GIRARD)
»In seiner [Myškins – Anm. D.B.] Umgebung blühen Neid, Eifersucht und Rivalitäten, doch er lässt sich davon nicht anstecken. Er ist keineswegs gleichgültig, doch seine Menschenliebe und sein Mitleid binden ihn nicht, wie ihn das Begehren binden würde. Er bietet den übrigen Figuren nie die Stütze seiner Eitelkeit an, und in seiner Umgebung stolpern alle unaufhörlich. […] Wie Stawrogin zieht Myschkin die unbesetzten Begehren magnetisch an. Er fasziniert alle Figuren im Werk Der Idiot. Die ›normalen‹ jungen Leute schwanken ihm gegenüber zwischen zwei widersprüchlichen Urteilen. Sie fragen sich, ob der Fürst ein Schwachkopf sei oder ein gewiefter Taktiker, ein Dandy höherer Art.«50
Wie in den Untersuchungen des triangulären Begehrens bei Rogožin, Nastas’ja und Aglaja gezeigt wurde, führt die Faszination, die von Myškin ausgeht, durchaus zu seiner Einbindung in die Dreiecksstruktur der anderen Figuren. Betrachtet man aber Myškins eigenes Begehren genauer, das Girard als Menschenliebe bezeichnet und das er vom triangulären Begehren gemäß dem Anderen ausschließt, so sticht dessen Ähnlichkeit mit der bereits erwähnten externen Vermittlung des kindlichen Begehrens ins Auge. Wenn Girard Myškin kein trianguläres Begehren zugesteht, übersieht er ein wesentliches Kriterium der externen Vermittlung, das er bei anderen Figuren wie Don Quijote und Madame Bovary sehr wohl angeführt hat: das Merkmal der Lächerlichkeit51. Girard sagt selbst, dass Vertreter der externen Vermittlung durch ihre offene Verehrung für den Mittler oft lächerlich wirken und diese Lächerlichkeit auch in Kauf nehmen, während Vertreter der internen Vermittlung ihren Mittler geheim halten, um sich nur ja nicht lächerlich zu machen. Diese Lächerlichkeit, der sich Myškin kaum schämt, ist ein wesentliches Merkmal des naiven Fürsten. Myškin ist ganz Kind geblieben, was er selbst mehrmals betont52 und was ihn zu einem Vertreter der externen Vermittlung macht. Dostoevskij bringt ihn sogar ganz direkt mit der Lächerlichkeit eines Don Quijote in Verbindung, als er Aglaja Myškins Brief ausgerechnet in ihrer Ausgabe des Cervantes-Romans aufbewahren lässt. Auch wirkt Myškin genau dann am lächerlichsten, wenn er davor die größte Angst hat: bei der Abendgesellschaft der Epančins, zu der einflussreiche Ver-
50 Ebd., S. 171f. 51 Vgl. R. Girard: Figuren des Begehrens, S. 19. Später gibt Girard sogar an, dass der »Dostojewskijsche Mensch in panischer Angst vor der Lächerlichkeit« lebt. (Ebd., S. 77.) 52 Vgl. F. Dostojewskij: Der Idiot, S. 798. An dieser Stelle gesteht Myškin den Vertretern des Hochadels, die sich bei den Epančins versammelt haben: »Ich bin siebenundzwanzig, aber ich weiß, dass ich wie ein Kind bin.« 141
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treter des russischen Hochadels geladen sind. Er hat an diesem Abend panische Angst die wertvolle Vase der Generalin zu zerschlagen, tritt dann aber überraschend durch die Darlegung seiner Heilstheorie vom russischen Christus und die darauf folgende Lobeshymne auf den russischen Uradel ins Fettnäpfchen. Dabei spricht Myškin gerade an dieser Stelle ganz offen und an die vermeintliche Güte seiner Zuhörer glaubend von seinem großen Wunsch und nennt vertrauensvoll seinen Mittler: den vom orthodoxen Christus inspirierten alten russischen Erbadel, von dem er sich die Errettung Europas erwartet. Als Myškin während seiner Rede über die Kraft des russischen Christus tatsächlich die chinesische Vase der Generalin zerbricht und die anwesenden Personen ihm dieses Missgeschick lachend verzeihen, glaubt er sich fälschlicherweise von lauter »gewandten, aufrichtigen, klugen Menschen«53 umgeben und eröffnet ihnen, seinen vermeintlichen Mittlern, seinen geheimen Traum von einer würdigen russischen Adelskaste, die für das einfache Volk und für ganz Europa zur Leitfigur werden soll: »Ich bin ja selbst ein Fürst von Uradel und sitze unter Fürsten. Ich rede, um uns alle zu retten, um unseren Stand vor dem Untergang zu bewahren, vor dem nutzlosen, sinnlosen Untergang, bevor er im Dunkel verschwindet, ahnungslos, voller Zorn, nachdem er alles verspielt hat. Warum soll man verschwinden und seinen Platz für andere räumen, wenn man ihn als Vorderster und Ältester behaupten könnte? Wir wollen die Vordersten sein, dann werden wir auch die Ältesten bleiben. Wir wollen Diener sein, um die ersten sein zu können.«54
Myškin, der selbst aus dem alten Erbadel stammt, wünscht sich nichts sehnlicher als von den anderen Vertretern des Hochadels als ihresgleichen anerkannt zu werden. Er sieht nicht, dass die anwesenden Personen ihn nicht ernst nehmen und über ihn lachen. So kommt es, nachdem er seinen Mittlern sein Herz geöffnet hat, zur Katastrophe: Myškin erleidet vor aller Augen einen epileptischen Anfall und der Hochadel ergreift entsetzt die Flucht. Einzig die Generalin Epančina, deren eigene Mittlerin die Fürstin Belokonskaja ist und die sich selbst danach sehnt, vom alten Erbadel anerkannt zu werden, sieht, dass Myškin der wahre adlige Charakter ist und meint am nächsten Morgen: »Ich hätte lieber alle Gestrigen hinausgeworfen und ihn behalten, so ein Mensch ist er!«55
53 F. Dostojewskij: Der Idiot, S. 797. 54 Ebd., S. 800. 55 Ebd., S. 802. 142
TRIANGULÄRES BEGEHREN (GIRARD)
5.3 Trianguläres Begehren in Hakuchi Da sich Akira Kurosawa bei der Gestaltung der Figurenkonstellation sehr stark am literarischen Hypotext orientierte, spiegeln sich die eben für den Idioten festgestellten Dreiecksbeziehungen so gut wie eins zu eins in Hakuchi wider. Deshalb widmet sich das folgende Kapitel weniger dem Nachweis des triangulären Begehrens in der Figurenkonstellation als vielmehr der bildlichen Komposition des Films, die das trianguläre Phänomen noch zusätzlich unterstreicht. Denn das trianguläre Begehren wird in Hakuchi durch das Anordnen der Personen in einer Dreiecksform auch visuell hervorgehoben. Dabei bevorzugt Kurosawa Nahaufnahmen, bei denen die Personen mit einem Teil ihres Körpers, ca. bis zur Hüfte, sichtbar sind, und Amerikanische Einstellungen, bei denen die Personen im Mittelgrund ca. bis zum Knie gezeigt werden.56 In Hakuchi kommen diese Kameraeinstellungen, die drei zu einem Dreieck formierte Personen zeigen, überdurchschnittlich oft vor. Bereits zu Beginn des Films, als Kameda und Akama nach der Schiffsüberfahrt nach Hokkaido in den Zug umsteigen, bilden die beiden in einer derartigen Einstellung ein Dreieck mit dem auf der Banklehne erhöht sitzenden Karube, der das schweigsame Pendant zu Lebedev bildet (Abb. 7). Nach ihrer Ankunft in Sapporo kommt es zu einer äußerst beeindruckenden Visualisierung der Dreiecksstruktur, bei der die unheilvolle Beziehung zwischen Akama, Kameda und Taeko Nasu schon vorweg genommen wird. Akama und Kameda gehen gemeinsam durch die verschneiten Straßen der Stadt und sehen plötzlich in der Auslage eines Fotografen das Bild von Taeko hängen. Sie nähern sich der Auslage, bleiben vor ihr stehen und sprechen, während sie das Bild betrachten, über Taeko. Für diese Nahaufnahme hat Kurosawa eine außergewöhnliche Kameraposition gewählt: Als stünde die Kamera zwischen den beiden Männern, als unsichtbarer dritter Betrachter, wird die Fensterscheibe der Auslage in leichter Untersicht gefilmt. Man sieht somit Taekos Bild zentral und erhöht über den Gesichtern der beiden Männer stehen, die als durchsichtige Spiegelbilder im Fensterglas rechts und links unterhalb des Fotos positioniert sind und so zu der Frau auf dem Bild aufsehen müssen. Das Dreieck zwischen den drei Gesichtern wird musikalisch von einem russischen Volkslied untermalt (Abb. 8). Ganz ähnlich wird auch die Dreiecksstruktur zwischen Ayako, Kayama und Kameda unterstrichen, die sich durch die Überbringung von 56 Vgl. zum Thema Kameraeinstellungen: James Monaco: Film und neue Medien. Lexikon der Fachbegriffe, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt TB 2000. S. 12, S. 54, sowie S. 115. 143
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Kayamas Brief und Ayakos Reaktion darauf ergibt. In diesem Fall verwendet Kurosawa das geräumige Treppenhaus des Ono-Anwesens für die Darstellung der geometrischen Dreiecksfigur. Ebenso wie zwischen Taeko, Akama und Kameda herrscht auch zwischen diesen drei Figuren das trianguläre Begehren gemäß Girard: Kayama, der von Ono und Tohata dafür bezahlt wird Taeko zu heiraten, ist eigentlich in Onos Tochter Ayako verliebt. Als nun ausgerechnet der stille und bescheidene Kameda Ayakos Vertrauen gewinnt, erwacht Kayamas Eifersucht, die schließlich so weit führt, dass er den Rivalen ohrfeigt. Vorher lässt Kurosawa diese drei Figuren aber mehrmals im Treppenhaus aufeinander treffen, wobei Ayako entweder am Treppenabsatz, auf den obersten Stufen oder auf der Balustrade steht und die beiden Männer zu ihr aufsehen müssen (Abb. 9). Interessant ist außerdem, dass Kurosawa sogar beim Gespräch zwischen Ayako und Kameda im Park, das eigentlich nur zwischen diesen beiden Personen stattfindet, mit Hilfe einer drachenähnlichen Statue aus Schnee, die am Vorabend das Karnevalsfest begleitet, den optischen Effekt eines Dreiecks erzielt. Die Schneefigur steht zwar einige Meter im Hintergrund, aber während des Gesprächs ist sie beinah immer zu sehen, und meist ist sie in der Mitte zwischen Ayako und Kameda positioniert. Sie wirkt wie ein lauschender Dritter und ist ein groteskes Fantasiegebilde – halb Mensch, halb schuppiger Drache –, das die unüberwindbare Kluft zwischen der Gutsbesitzerstochter und dem Idioten andeutet (Abb. 10). Den fulminanten Höhepunkt der visuell dargestellten Dreiecksstruktur bildet aber zweifelsohne das Treffen zwischen Taeko und Ayako im Hause Akamas. Kurosawa ist es in dieser Szene mit meisterhaftem, choreographischem Gespür gelungen, die vier anwesenden Personen im Sinne ihres mimetischen Begehrens zu gruppieren. Dostoevskij beschreibt dieses Treffen fast ausschließlich über den Dialog zwischen Nastas’ja und Aglaja und stellt über die räumliche Anordnung der Personen nur fest, dass beide Frauen in »einiger Entfernung voneinander Platz« nahmen, »Aglaja auf dem Sofa in einer Ecke« und »Nastas’ja Filippovna am Fenster«57. Kurosawa setzt Ayako und Taeko eng nebeneinander, sodass während Nahaufnahmen und Amerikanischen Einstellungen beinah immer beide Frauen im Bild sind. Kameda, der sich mit gefalteten Händen und flehenden Augen einmal an die eine und einmal an die andere wendet, wird kniend oder stehend zwischen den beiden Frauen positioniert; er stellt für beide das Objekt ihres triangulären Begehrens dar. Die beiden Männer erscheinen, obwohl sie beide im Zimmer sind, nur äußerst selten gemeinsam im Bild und selbst während dieser wenigen
57 F. Dostojewskij: Der Idiot, S. 817f. 144
TRIANGULÄRES BEGEHREN (GIRARD)
Einstellungen, schwenkt die Kamera so geschickt, dass Ayako beinah immer aus dem Bild verschwindet und Taeko Nasu als dritte Person im Dreiecksgefüge zwischen Kameda und Akama stehen bleibt. Als Höhepunkt dieser Szene, kurz bevor Taeko Kameda befiehlt zwischen ihr und Ayako zu wählen, folgt auf eine Nahaufnahme, bei der Akama, Kameda und Taeko von der Taille aufwärts gezeigt werden, ein Schnitt nachdem plötzlich Taeko, Ayako und Kameda in einer Amerikanischen Einstellung im Bild sind. In wenigen Sekunden werden somit die beiden wichtigsten Dreiecksstrukturen des Films einander gegenüber gestellt. Dieser Schnitt fällt deshalb so stark auf, weil vorher vor allem lange Schwenks zwischen den Protagonisten die Szene dominierten (Abb. 11 und Abb. 12). Abbildung 7: Akama und Kameda sitzen sich im Zug gegenüber während Karube auf der Armstütze Platz nimmt
Quelle: Akira Kurosawa: Hakuchi – The Idiot, Japan: Shochiku Co. Ltd. 1951, Hongkong: Panorama Entertainment Co. Ltd. 2003.
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Abbildung 8: Akama und Kameda betrachten das Bild Taeko Nasus im Schaufenster und bilden gemeinsam mit ihr ein Dreieck
Quelle: Akira Kurosawa: Hakuchi – The Idiot, Japan: Shochiku Co. Ltd. 1999, Hongkong: Panorama Entertainment Co. Ltd. 2003. Abbildung 9: Kayama, Ayako und Kameda treffen im Treppenhaus des Ono-Anwesens aufeinander und gruppieren sich dabei zum Dreieck
Quelle: Akira Kurosawa: Hakuchi – The Idiot, Japan: Shochiku Co. Ltd. 1951, Hongkong: Panorama Entertainment Co. Ltd. 2003.
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TRIANGULÄRES BEGEHREN (GIRARD)
Abbildung 10: Ayako und Kameda treffen sich im Park vor der Schneestatue, die im Verlauf der gesamten Szene als stummer Dritter agiert
Quelle: Akira Kurosawa: Hakuchi – The Idiot, Japan: Shochiku Co. Ltd. 1951, Hongkong: Panorama Entertainment Co. Ltd. 2003. Abbildung 11: Taeko, Akama und Kameda formieren sich während des Treffens zwischen Taeko und Ayako zu einem Dreieck
Quelle: Akira Kurosawa: Hakuchi – The Idiot, Japan: Shochiku Co. Ltd. 1951, Hongkong: Panorama Entertainment Co. Ltd. 2003.
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Abbildung 12: Kameda, Ayako und Taeko werden dem obigen Dreieck gegenübergestellt
Quelle: Akira Kurosawa: Hakuchi – The Idiot, Japan: Shochiku Co. Ltd. 1951, Hongkong: Panorama Entertainment Co. Ltd. 2003. Auf der Ebene des Personengefüges weicht das trianguläre Beziehungsgeflecht zwischen den Hauptfiguren in Kurosawas Film – wie schon erwähnt – kaum von den bereits untersuchten Mustern in Dostoevskijs Roman ab. Durch die räumliche und zeitliche Verlagerung der Handlung – vom Russland der 1860er Jahre ins Japan der 1950er Jahre – geht allerdings das trianguläre Begehren Myškins verloren, das sich auf den orthodoxen Christus und den alten russischen Erbadel richtet. Im Gegensatz zu Myškin, der zumindest versteckte Träume, Wünsche und Begehren hegt, äußert Kameda tatsächlich kein einziges Wort, das ihm des triangulären Begehrens überführen könnte. Er wirkt dadurch noch schwächer, kränker und hilfloser als Myškin und entspricht erstaunlicherweise eher als sein literarisches Vorbild der reinen, vom triangulären Begehren befreiten Deutung, die Girard von Dostoevskijs Helden gibt. Kurosawa ist es gelungen, das trianguläre Begehren aus dem schriftlichen Medium des Romans nicht nur auf der Handlungsebene, sondern auch kameratechnisch in die visuelle Bildwelt des Films zu transportieren. In der Terminologie von Brian McFarlane, der zwischen ›transfer‹ und ›enunciation‹ unterscheidet, müsste Kurosawas Umsetzung des triangulären Begehrens genau genommen beiden genannten Kriterien zugeordnet werden. McFarlane teilt – wie im theoretischen Teil der Arbeit besprochen – die zu untersuchenden Adaptationsphänome der Literaturverfilmung grob in zwei Kategorien ein: Kann ein im Roman auftreten-
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des, handlungsimmanentes Phänomen, direkt in den Film übertragen werden, weil es nicht ausschließlich mit dem Zeichensystem des schriftlichen Mediums verbunden ist, spricht er von ›transfer‹. Unter ›enunciation‹ fast McFarlane jene handlungsimmanenten Phänomene eines Romans zusammen, die – falls überhaupt – erst durch komplexe Adaptationsprozesse in den Film übertragen werden können.58 Kurosawas Umsetzung des triangulären Begehrens kann meines Erachtens nun deshalb beiden Kategorien zugerechnet werden, weil dabei die einfache direkte Übertragungsvariante des ›transfers‹ durch die kameratechnische Visualisierung weit überschritten wird. Das trianguläre Begehren im Personengefüge würde auch ohne die oben beschriebenen Kameraeinstellungen, allein durch die Wiedergabe der Handlung transparent werden, indem Kurosawa aber »freiwillig« ein weiteres, filmspezifisches Adaptationsverfahren anwendet, um die Dreiecksstruktur zu unterstreichen, dringt er in die Kategorie der ›enunciation‹ vor.
5 . 4 T r i a n g u l ä r e s B e g e h r e n i n N áv r a t i di o t a »Es ist sinnlos, dem Leben auszuweichen.« (František, in Návrat idiota) »Jetzt gehe ich zu den Menschen; es ist möglich, dass ich nichts weiß, aber das neue Leben hat begonnen.« (Fürst Myškin in Der Idiot) 59
Wenn Girard das trianguläre Begehren in Dostoevskijs Romanen der »endogamischen, internen Vermittlung« zuordnet, rechtfertigt er dies durch die Ausdehnung des mimetischen Beziehungsgeflechts auf den »Binnenraum der Familie«60. Während aber das trianguläre Begehren innerhalb der Familie in Romanen wie Der ewige Gatte, Der Jüngling und Die Brüder Karamazov eine zentrale Rolle spielt, dominieren im Idioten noch außerfamiliäre Dreiecksstrukturen die Handlung (v.a. jene zwischen Nastas’ja, Rogožin und Myškin und zwischen Myškin, Aglaja und Nastas’ja). In Saša Gedeons Film, der sich im Grunde nur Dostoevskijs Idee des »positiv schönen«61, Kind gebliebenen Helden bedient und ansonsten 58 59 60 61
Vgl. Brian McFarlane: Novel to Film, S. 13, 20. F. Dostojewskij: Der Idiot, S. 110. R. Girard: Figuren des Begehrens, S. 50. Im Brief vom 1./13. Januar 1868 an seine Nichte Sonja A. Ivanova schrieb Dostoevskij: »Alle Dichter, nicht nur die unsrigen, sondern auch die euro149
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einen ganz anderen Handlungsaufbau verfolgt, wird nun eine derart komplexe, innerfamiliäre, trianguläre Struktur entworfen, dass der Film eher Girards Begriff der endogamischen Vermittlung entspricht, als der ihm zugrunde liegende Roman. František, der vollkommen zufällig während der Zugsfahrt Zeuge von Annas Verhältnis mit Robert wird und kurz nach seiner Ankunft auch noch von Olgas und Emils Affäre, ist die einzige Person im Film, die über die triangulären Beziehungsstrukturen der beiden Geschwisterpaare Bescheid weiß, und ausgerechnet er wird als vermeintlicher Idiot von niemandem ernst genommen. Im Gegensatz zu Dostoevskijs vom gesprochenen Wort dominierten Roman, in dem die Figuren – wenn auch meist unbeabsichtigt – ihre Mittler und Objekte immer wieder entlarven, wird gesprochene Sprache in Saša Gedeons Films viel sparsamer verwendet. Außerdem ist sie fast immer von einer bestimmten Doppeldeutigkeit geprägt, da jede Figur versucht, ihr Geheimnis gleichzeitig anzudeuten und zu verschleiern. Das trianguläre Begehren wird somit auch in diesem Film eher auf einer visuellen als auf einer verbalen Ebene transportiert. Am auffälligsten und eindeutigsten lässt sich die trianguläre Struktur in Olgas Verhältnis zu Anna und Emil erkennen: Während der einmonatigen Reise ihrer älteren Schwester Anna beginnt Olga ein Affäre mit deren Freund Emil. Ihr scheint zwar klar zu sein, dass diese Beziehung beendet werden muss, sobald ihre Schwester zurückkehrt, doch trotzdem verletzt sie später Emils indifferentes Verhalten ihr gegenüber. Durch Annas Rückkehr entzieht sich Olga das Objekt Emil, und diese Verweigerung erweckt erneut ihr trianguläres Begehren. Olgas Mittlerin ist ihre eigene Schwester, die sie im Stillen bewundert, mit der sie aber auch eine offensichtliche Geschwisterrivalität auszufechten hat. Nach dem peinlichen Mittagessen bei Emils Mutter, bei dem Emil Olga beleidigt, indem er vorgibt sie nicht zu kennen und auf eine mögliche Beziehung zwischen ihr und František anspielt, sagt sie ihrer Schwester die Wahrheit, um Mittlerin und Objekt leiden zu lassen. Doch zu Olgas Überraschung trifft Anna das Geständnis nicht besonders, da sie selbst in der Zwischenzeit ein Verhältnis mit Emils Bruder Robert begonnen hat. Olgas trianguläres Begehren trägt noch am ehesten die Züge eines kindlichen, externen Begehrens, da recht eindeutig zu erkennen ist, dass sie – wie ein kleines Kind – nur das haben möchte, was ihrer großen Schwester gehört. Allerdings würde sie diese Verehrung für Anna niemals offen eingeste-
päischen, die die Darstellung des Positiv-Schönen versucht haben, waren der Aufgabe nicht gewachsen […].« (Vgl. F. Dostojewski: Gesammelte Briefe 1833-1881, S. 251.) 150
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hen und deshalb kann ihr Begehren an der Grenze zwischen externer und interner Vermittlung verortet werden. Auf Robert trifft ein ganz ähnliches Muster des mimetischen Begehrens zu: Er lebt mit seiner Frau Marta, die während des gesamten Films nie persönlich auftritt, weit von seiner Mutter und seinem Bruder entfernt. Wie er die Freundin seines Bruders kennen gelernt hat, wird nie geklärt, fest steht jedoch, dass er sehr wohl weiß, wie sie zu Emil steht. Als Anna ihm während des Mittagessens in der Wohnung seiner Mutter die Tür öffnet, ist Robert zwar überrascht sie dort zu sehen, seine Verwunderung lässt aber sofort nach, als Anna erklärt, dass Emil sie eingeladen hat. Roberts Ehe scheint nicht besonders glücklich zu sein: er betrügt Marta mit Anna, er besucht seine Mutter alleine zu Silvester und seine Mutter beschwert sich darüber, dass sie seine Frau erst zweimal gesehen habe. Emil hingegen lebt relativ sorgenfrei bei der Mutter und hat noch dazu die Wahl zwischen den beiden schönen Schwestern Anna und Olga. Robert liebt Anna nicht; während des Silvesterballs will er die Beziehung zu ihr beenden, doch damit verletzt er sie so sehr, dass sie sofort zu Emil rennt, um ihrerseits diese Verbindung zu lösen. Roberts Mittler ist also sein Bruder, mit dem ihn eine ähnliche Hassliebe verbindet wie Olga mit ihrer Schwester. Anna ist für ihn das Objekt, das eigentlich seinem Bruder gehört, doch im Gegensatz zu Olga, fürchtet Robert die Konsequenzen seines triangulären Begehrens und kehrt zu seiner Frau zurück. Komplizierter ist die trianguläre Struktur bei Anna und Emil angelegt. Anna liebt Robert, den sie wahrscheinlich nach Emil kennen gelernt hat, weiß aber gleichzeitig, dass er verheiratet ist und in einer fernen Stadt lebt. Sie reist ihm nach und verbringt einen Monat in seiner Nähe, doch er will sich nicht von seiner Frau trennen, was wiederum einer Verweigerung gleich kommt, die Annas Begehren schürt. Robert wird mehr und mehr zum Objekt, das Anna ihrer Rivalin und Mittlerin, seiner Frau Marta, wegnehmen will. Im Film wird Anna nur zweimal mit der Frau ihres Liebhabers konfrontiert: einmal als sie während eines Kinobesuchs mit Emil den Saal verlässt, um Robert anzurufen und unerwartet seine Frau den Hörer abnimmt, und ein zweites Mal während des Mittagessens, als Roberts Mutter sich nach ihrer Schwiegertochter erkundigt. Beide Male reagiert die ansonsten so ruhige und beherrschte Anna höchst emotional: sie wirft entsetzt den Hörer auf die Gabel, zieht ein Schmerz verzerrtes Gesicht und beginnt ein Streitgespräch mit Roberts und Emils Mutter über den Sinn von Beziehungen. Emils trianguläres Begehren ist am schwierigsten zu entwirren, da er im Film einen interessanten Gegenpol zu František darstellt: Während František, der besser als die Beteiligten selbst über die geheimen und of-
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fiziellen Beziehungen zwischen den beiden Geschwisterpaaren Bescheid weiß, von allen als nichts ahnender Idiot verkannt wird, versteht der smarte, gerissene Macho Emil nach Annas Rückkehr tatsächlich die Welt nicht mehr und wird zum wahren Idioten. Darüber, dass er Anna mit ihrer Schwester betrogen hat, empfindet er keine besondere Reue. Er will Anna heiraten, doch sie lehnt seinen Antrag ab. Woraufhin er ausgerechnet seinen Bruder Robert, der den Grund für Annas Ablehnung darstellt, bittet mit ihr zu reden. Keinesfalls glaubt er, dass Anna von seinem Verhältnis mit Olga wissen könnte, und als sie ihm diesen Betrug auf der Tanzfläche beim Silvesterball ins Gesicht sagt, glaubt er, dass František ihn verraten hat und will ihn dafür verprügeln. Die trianguläre Struktur seines Begehrens entwickelt sich erst im Laufe des Films: Während er zu Beginn mit Olga schläft, weil sie zu Annas Welt gehört und diese sich ihm durch die Abreise entzogen hat – er also nur ein Objekt durch ein anderes austauscht –, verkennt er später – nach Annas Rückkehr – seinen wahren Rivalen, nämlich seinen Bruder Robert, und konzentriert sich auf František. Ähnlich wie Myškin und Rogožin in Dostoevskijs Roman, sind sich auch Emil und František bei ihrer ersten Begegnung im Bistro »Riga« auf Anhieb sympathisch. Sie trinken einige Biere miteinander und schleichen sich danach abends in der Tanzschule des faden Provinzstädtchens ein. Doch nachdem Emil František in Annas Badezimmer beim Rasieren überrascht, sind sein Misstrauen und seine Eifersucht geweckt. Er fürchtet, dass František ihn bei Anna ausstechen könnte, würde dies aber nie offen zugeben, da der Idiot für ihn keinen würdigen Rivalen darstellt. František ist aber tatsächlich Emils Mittler. Denn Anna und Olga sind auf eine eigentümliche Weise vom Neuankömmling František fasziniert, während sie sich gleichzeitig immer mehr von Emil abwenden, was dieser sehr wohl, wenn auch mit Unverständnis, registriert. Was nun Františeks trianguläres Begehren betrifft, so muss festgestellt werden, dass der Film auch diesbezüglich eher Girards These vom fehlenden Begehren entspricht, als der Dostoevskij-Roman. Girard sagt über Myškin: »In seiner Umgebung blühen Neid, Eifersucht und Rivalitäten, doch er lässt sich davon nicht anstecken.«62 Trotzdem konnte aber bereits festgestellt werden, dass Myškin die Anerkennung des alten russischen Erbadels »begehrt«. Für František kann nun aber – und hier ist er Kurosawas Kameda erstaunlich ähnlich – tatsächlich keine Form von Begehren mehr ausfindig gemacht werden. Wie ein Kind, das alles zum ersten Mal betrachtet, stolpert er durch die winterliche, tschechische Kleinstadt, und während Kurosawas Idiot zumindest noch vor Kälte zitternd
62 R. Girard: Figuren des Begehrens, S. 171. 152
TRIANGULÄRES BEGEHREN (GIRARD)
ein wärmendes Feuer begehren kann, scheinen Gedeons Held mit seiner roten Pudelmütze auf dem Kopf nicht einmal die eisigen Temperaturen etwas auszumachen. Was beide Filmhelden zusätzlich verbindet, sind ihre körperlichen Angstsignale. Immer wenn Kameda sich fürchtet, aufgeregt ist oder wenn er mit jemanden mitleidet, fasst er sich mit beiden Händen an den Hals und verharrt für einige Sekunden in dieser Pose. Diesem Angstsignal entspricht Františeks Nasenbluten, das ebenfalls immer bei nervlicher Anspannung auftritt (Abb. 13). Außerdem leiden beide, wie natürlich auch Dostoevskijs Myškin, an Epilepsie. Abbildung 13: Nachdem František aus der Tanzschule hinausgeworfen wurde, blutet seine Nase
Quelle: Saša Gedeon: Návrat idiota, Tschechische Republik: Negativ, Česká televize 1999, Bontonfilm 2007. Anders als Akira Kurosawa, der die Dreiecksstruktur der Handlung auch bildlich umsetzt, wählt Saša Gedeon nur ganz selten Kameraeinstellungen, bei denen drei im triangulären Begehren verbundene Personen gezeigt werden. In Návrat idiota wechseln meist Groß- und Nahaufnahmen, bei denen nur eine oder zwei Personen zu sehen sind, mit Totalen und Halbtotalen, bei denen z.B. Landschaften aus dem fahrenden Zug, das Bistro »Riga« von außen oder der Eislaufplatz vor Františeks Wohnheim als Gesamtheit erfasst werden. Nur in drei Szenen in Návrat idiota fällt eine Visualisierung der Dreiecksstruktur, wie sie Kurosawas Film dominiert, auf: Das erste Mal warten Emil und Anna nach dem Abend in der Tanzschule einander gegenüberstehend an der Haltestelle auf den Bus als im Hintergrund zwischen ihnen František mit seinem Köfferchen auftaucht. Er bleibt abrupt stehen, als er hört wie ihn Emil, der ihn nicht sieht, als Idiot bezeichnet, 153
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dreht sich daraufhin um und geht wieder von der Haltestelle weg. Für wenige Sekunden wird somit die Dreiecksstruktur zwischen Emil, Anna und František auch visuell dargestellt (Abb. 14). In einer späteren Einstellung, die am nächsten morgen stattfindet, als Emil mit Blumen bei Anna klingelt, um sie zum Mittagessen bei seiner Mutter einzuladen, tritt Olga ähnlich wie František am Vorabend zwischen die beiden ins Bild. Anna bittet Emil in die Wohnung, und er gibt ihr einen Begrüßungskuss. In diesem Moment wird das Licht angeknipst, Emil und Anna schrecken auf und blicken den Korridor hinunter, an dessen Ende sie Olga mit der Hand am Lichtschalter entdecken. Die Kamera ist in diesem Fall dicht vor Emil und Anna positioniert und zeigt Olga zwischen den beiden im Hintergrund (Abb. 15). Die dritte Szene, in der eine der Dreiecksstrukturen durch eine Dreiergruppe visualisiert wird, spielt während des Silvesterballs am Ende des Films. Nachdem Robert Anna gebeten hat, sich nicht von Emil zu trennen, und gleichzeitig seine Affäre mit ihr beendet, durchquert Anna zielsicher den Tanzsaal und sagt Emil auf den Kopf zu, dass er sie mit Olga betrogen hat und sie nichts mehr mit ihm zu tun haben will. Während dieser Auseinandersetzung auf der Tanzfläche steht Olga, die gerade mit Emil getanzt hat, stumm zwischen ihrer Schwester und ihrem Liebhaber (Abb. 16). Erst nachdem der verblüffte Emil beteuert sie nicht zu lieben und Anna ihn daraufhin wütend fragt »Warum schläfst du dann mit ihr?«, dreht Olga sich wortlos um und läuft davon. Abbildung 14: Anna und Emil unterhalten sich an der Bushaltestelle
Quelle: Saša Gedeon: Návrat idiota, Tschechische Republik: Negativ, Česká televize 1999, Bontonfilm 2007.
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Abbildung 15: Emil besucht Anna, um sie zum Mittagessen einzuladen
Quelle: Saša Gedeon: Návrat idiota, Tschechische Republik: Negativ, Česká televize 1999, Bontonfilm 2007. Abbildung 16: Anna stellt Emil während des Silvesterballs zur Rede
Quelle: Saša Gedeon: Návrat idiota, Tschechische Republik: Negativ, Česká televize 1999, Bontonfilm 2007. Doch Saša Gedeon drückt die triangulären Strukturen, die seine Helden verbinden, nicht nur über diese wenigen Darstellungen von Dreiergruppen in einem Bild aus; er verwendet noch andere Kunstgriffe, um die Dreiecksbeziehungen seiner Figuren bildlich zu verdeutlichen. Zunächst begleitet er mit »allwissender« Kamera seine sich allmählich zum »Allwissenden« entwickelnde Hauptfigur František und zeigt, wie dieser mit dem Wissen über die Dreiecksbeziehungen seiner Mitmenschen umgeht. Es gibt deshalb nur äußerst wenige Szenen im Film, in denen František nicht anwesend ist, und selbst in diesen Fällen ist er meist ganz in der Nähe, oder es wird über ihn gesprochen. Eine Ausnahme bildet nur An155
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nas und Emils gemeinsamer Kinobesuch und der darauf folgende missglückte Heiratsantrag. Mit Hilfe dieser, sich zufällig entwickelnden Allwissenheit Františeks gelingt es Saša Gedeon die Zuschauer, die sich immer auf demselben Wissensstand wie die Hauptfigur befinden, in ein Spiel mit den unterschiedlichen Informationsebenen der Protagonisten zu verwickeln. Dabei steht František, der bald über alle Beziehungsgeheimnisse informierte ist, allen anderen Figuren gegenüber, die nur teilweise oder gar nicht über das komplizierte Beziehungsgeflecht Bescheid wissen. Nach Olgas Beichte, die aber erst nach dem Mittagessen bei Emils Mutter stattfindet, wechselt auch Anna auf Františeks Informationsebene, doch sie ist selbst viel zu sehr mit ihrem eigenen triangulären Begehren beschäftigt, um sich wie František um alle Involvierten zu sorgen. Da František selbst nicht so stark wie Myškin und Kameda ins trianguläre Begehren der ihn umgebenden Figuren eingebunden ist, wirkt sein Eingreifen ins Geschehen viel objektiver, aber auch hilfloser, ungeschickter und komischer als das seiner Vorläufer. Im Gegensatz zu Dostoevskijs Idiot und Kurosawas Hakuchi ist Návrat idiota ja auch eine Tragikomödie, die nicht mit einem Mord und dem Rückfall des Helden in geistige Umnachtung endet, sondern mit einem offenen Ende, das František den Kampf mit dem Leben – wahrscheinlich mit Olgas Hilfe – wieder aufnehmen lässt. Das Spiel mit den verschiedenen Informationsebenen kulminiert zweifellos in jenen drei Szenen, in denen Saša Gedeon mehrere Personen an einem Tisch versammelt, deren Informationsstand über die herrschenden Dreiecksbeziehungen ein Spektrum zwischen beinah allwissend bis vollkommen ahnungslos abdeckt. Die erste dieser Klimaxszenen versammelt Olga, Anna, deren Mutter, Emil und František im Wohnzimmer der elterlichen Wohnung der beiden Schwestern. Die Mutter weiß nichts über die Dreiecksstrukturen, in die ihre Töchter verwickelt sind, während František fast alles darüber weiß und schrecklich nervös versucht, sich nicht zu verraten. Zwischen Emil und Olga herrscht seit der Nacht, die sie miteinander verbracht haben, eine gespannte Stimmung und beide ahnen nichts von Annas Affäre mit Emils Bruder. Anna wiederum weiß nichts vom Verhältnis ihres Freundes mit ihrer Schwester. Die Mutter der Schwestern und František spüren die Spannung und versuchen ein unverfängliches Gespräch zu führen, was ihnen aber nicht ganz gelingen will. In dieser Szene hat sich Saša Gedeon etwas stärker an Dostoevskijs Roman orientiert als üblich, denn das Gespräch zwischen den Personen beinhaltet eine konkrete ›enunciation‹ aus dem literarischen Hypotext. Im sechsten und siebten Kapitel des ersten Teils des Romans eröffnet Myškin der Generalin Epančina und ihren Töchtern welche charakterlichen Eigenschaften er in ihren Gesichtern erkennt. Saša Gedeon greift
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dieses Handlungselement auf und lässt die ahnungslose Mutter der Mädchen František nach dem ersten Eindruck fragen, den er von den anwesenden Personen hat. Olga und Emil erstarren angesichts dieser Frage vor Schreck, denn František ist ihnen ja schon am Vortag begegnet und sie befürchten, dass er dies ausplaudert. Doch František reagiert geistesgegenwärtiger als die beiden erwarten und überrascht sogar alle Anwesenden mit der Beschreibung seines ersten Eindrucks von Olga: »Es ist komisch, jemanden zu treffen, in dessen Inneren alles richtig und schön ist, und der alles kaputt macht, weil er sich danach sehnt glücklich zu sein.« Die zweite und wichtigste Szene, in der mehrere Personen mit unterschiedlichem Informationsstand an einem Tisch versammelt sind, findet während des Mittagessens am Silvestertag bei Emils Mutter statt. Dabei treffen alle Hauptpersonen des Films am festlich gedeckten Esstisch zusammen. František, der mittlerweile alle Beziehungsstrukturen kennt – bis zu diesem Zeitpunkt wusste er ja nicht, dass Robert Emils Bruder ist –, sitzt am einen Ende der Tafel und Emils und Roberts Mutter, die weder von Roberts Affäre mit Anna noch von Emils mit Olga weiß, am anderen. Damit sitzen sich die extremsten Pole des Informationsspektrums genau gegenüber. Neben ihrer Mutter sitzen rechts Emil und links Robert; ersterer weiß nichts von der Affäre seines Bruders mit seiner Freundin Anna und letzterer weiß nichts von der Affäre seines Bruders mit Annas Schwester Olga. Neben Emil sitzt Anna und neben Robert Olga; beide sitzen außerdem links und rechts von František und einander gegenüber. Anna weiß nichts von Olgas Affäre mit Emil und Olga nichts von Annas Verhältnis mit Robert. Die doppeldeutigen Gespräche, die sich nun zwischen den Personen am Tisch ergeben, kreisen allesamt um die in der Luft liegenden Geheimnisse. Wie sensibel und vorsichtig eine Person ihre Worte wählt, ja wie viel sie überhaupt spricht, hängt von ihrem jeweiligen Informationsstand ab: die unwissende Mutter, die aber trotzdem etwas zu ahnen scheint, plaudert einfach drauflos; ihre Söhne und die beiden Schwestern antworten in kurzen, doppeldeutigen Sätzen und František, der sich sichtlich unwohl fühlt, spricht stockend und vorsichtig, um nur ja nichts zu verraten und niemanden zu verletzen. Für die anderen Anwesenden verstärkt sich durch dieses Verhalten der Eindruck, dass František ein Idiot ist, denn sie ahnen ja nichts von seinem tatsächlichen Wissensstand. Von Anfang an ist klar, dass nur ein unbedachtes Wort einer der beim Mittagessen anwesenden Personen zum Eklat führen wird. Emils unbedachte Aussage, mit der er andeutet, dass František sich mit Olga amüsiert hätte, und Olgas darauf folgender, überstürzter Aufbruch stellen deshalb kaum einen Überraschungsmoment dar, sondern lassen den Zuschauer eher Erleichterung über den glimpflichen Ausgang verspüren.
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Die dritte Szene, in der Gedeons Spiel mit den unterschiedlichen Informationsebenen an einem Tisch mit mehreren Personen stattfindet, trägt sich beim Silvesterball zu. Anna verfügt in der Zwischenzeit durch Olgas Beichte über denselben Informationsstand wie František, ist aber durch Roberts unerwartetes Auftauchen irritiert und versucht auch weiterhin ihre Affäre mit ihm vor den anderen zu verheimlichen. Von den anwesenden Personen ist nun Emil diejenige mit dem geringsten Informationsstand, denn er weiß weder über das Verhältnis zwischen Anna und Robert noch über Olgas Beichte Bescheid, und genau dieser Informationsmangel führt ihn später zur Falschannahme, dass František Anna von ihm und Olga erzählt habe. Am Tisch im Ballsaal treibt nun vorerst Anna ihr grausames Spiel mit dem nichts ahnenden Emil und der verlegenen und durch Emils Verhalten verletzten Olga. Emil, der sich Annas Ablehnung nicht erklären kann, bittet seinen Bruder mit ihr zu sprechen. Als Robert daraufhin Anna zum Tanzen auffordert, stellt sie eine Bedingung: sie tanzt nur mit ihm, wenn Emil mit Olga tanzt. Emil erschrickt darüber und weigert sich, wodurch er wieder Olga verletzt. Es kommt zu einem kleinlichen Geplänkel zwischen den beiden Geschwisterpaaren, das damit endet, dass František, dem wieder einmal die Nase blutet, alle vier anfleht, doch bitte miteinander zu tanzen. Auf der Tanzfläche kommt es nun zum bereits mehrfach erwähnten, endgültigen Bruch zwischen allen Paaren und der Auflösung aller bisherigen, triangulären Beziehungen.
5.5 Trianguläres Begehren in T h e M i l li o n D o l l a r H o t e l »Das Leben ist perfekt. Das Leben ist das Beste. Es ist voller Zauber und Schönheit und Überraschungen. Man sieht das nur nicht so klar, solange man noch am Leben ist.« (Tom Tom in The Million Dollar Hotel)
Dostoevskij hatte Myškin in seinen Notizbüchern zum Idioten ursprünglich als Mörder skizziert, verwarf diesen Plan jedoch im Zuge seiner Arbeit am Roman und ließ schließlich Rogožin Nastas’ja töten.63 Ein Grund 63 Am 3. November 1867 schreibt er folgende Idee zum Roman Der Idiot nieder: »Когда он похитил Геро, Жене велел молчать (уж гробик ребенка только что был). Жена хворала очень и вдруг умирает. Признаки яда. […] Он прямо объявляет: »Да, я убил«. Умецкая молчит, но наконец показывает письмо ее: »А все-таки я убил« говорит Идиот.« 158
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hierfür mag gewesen sein, dass der reine, schöne Charakter Myškins immer weniger mit einer solchen Tat vereinbar wurde. Über 130 Jahre später ist es nun aber Wim Wenders gelungen, die beiden einander scheinbar widersprechenden Pole »reine Seele« und »Mörder« in der Person seines »Idioten« Tom Tom zu vereinen. Bis kurz vor Ende des Films, als Tom Tom sich in einer Rückblende an Izzys Tod erinnert, bleibt der Zuschauer jedoch im Ungewissen über den Tathergang und kaum jemand würde dem liebenswerten, Kind gebliebenen Helden des Films zutrauen, dass er seinen besten Freund vom Dach des Hotels gestoßen hat. Trotzdem gelingt es Wenders aber jenen reinen Verbrecher zu erschaffen, den Dostoevskij ursprünglich skizziert hatte, und sogar glaubhaft zwei scheinbar unvereinbare Gegensätze in einer Person zusammenzuführen. Da Dostoevskijs Roman keinen direkten Einfluss auf Wim Wenders oder die Drehbuchautoren von The Million Dollar Hotel, Nicholas Klein und Bono ausübte, greifen auch die bisher in der praktischen Analyse verwendeten Termini nicht mehr, die ja ausschließlich für die Untersuchung von Literaturverfilmungen geprägt wurden. Ich werde deshalb, wie bereits im theoretischen Teil dieser Arbeit angekündigt, in Anlehnung an Werner Wolf, für die Beschreibung der augenscheinlichen Ähnlichkeiten zwischen Dostoevskijs Roman und Wenders’ Film den Begriff »transmediale Analogien« einführen. Zur Erinnerung sei hier nochmals festgehalten, dass Wolf transmediale Phänomene als »bestimmte Inhalte« definiert, die in unterschiedlichen Medien auftauchen können, »ohne dass hier noch der Einfluss eines bestimmten Mediums oder die ›Transposition‹ von einem Medium in ein anderes für den Sinn ausschlaggebend oder erkennbar wäre«64. Zu diesen transmedialen Analogien zählt auch die Thematisierung und Darstellung des triangulären Begehrens in The Million Dollar Hotel. Denn es ist höchst erstaunlich, dass von den drei in dieser Arbeit besprochenen Filmen ausgerechnet der, dem Dostoevskijs Roman nicht als Hy[»Nachdem er Gero entführt hatte, gebot er der Ehefrau zu schweigen (die Bestattung des Kindes hatte gerade stattgefunden). Die Ehefrau erkrankt schwer und stirbt plötzlich. Anzeichen von Gift. […] Er erklärt ohne Umschweife: »Ja, ich habe getötet.« Die Umeckaja schweigt, aber schließlich zeigt sie ihren Brief: »Und trotzdem habe ich getötet.« Sagt der Idiot.« – Übersetzung von mir D.B.] F. M. Dostoevskij: Polnoe sobranie sočinenij v tridcati tomach. Idiot. Tom IX, Leningrad: Nauka 1974, S. 182. Vgl. hierzu auch Manès Sperber: Wir und Dostojewskij. Eine Debatte mit H. Böll, S. Lenz, A. Malraux, H. E. Nossack geführt von M. Sperber, Hamburg: Hoffmann & Campe 1972, S. 44. 64 W. Wolf: »Intermedialität. Ein weites Feld und eine Herausforderung für die Literaturwissenschaft«, S. 171. 159
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potext diente, den triangulären Strukturen im Idioten am nächsten kommt. Um die Gründe hierfür zu erklären sei zuerst ein bereits mehrfach angeführtes Zitat von René Girard nochmals in Erinnerung gerufen. Er meint zu Dostoevskijs Myškin und seinem Umfeld: »Der Fürst ist nicht ohne Begehren, doch seine Träume schweben weit über den anderen Figuren in Dostojewskijs Idiot. […] In seiner Umgebung blühen Neid, Eifersucht und Rivalitäten […]. Er bietet den übrigen Figuren nie die Stütze seiner Eitelkeit an, und in seiner Umgebung stolpern alle unaufhörlich.«65 Was Girard hier für den Idioten feststellt, trifft in frappanter Weise auch auf Tom Tom und die anderen Bewohner des »Million Dollar Hotels« zu. Wie Myškin ist auch Tom Tom nicht frei von Begehren, und was bereits in der Untersuchung der triangulären Strukturen im Idioten festgestellt wurde – nämlich, dass Myškins Begehren der externen Vermittlung des kindlichen Begehrens entspricht –, trifft ebenfalls auf Wenders’ Held zu. Tom Toms Liebe zu Eloise ist zwar ebenso rein und frei von triangulären Strukturen wie Myškins Liebe zu Nastas’ja und Aglaja, doch genauso offenherzig und kindlich naiv wie Dostoevskijs Held den russischen Erbadel als seinen Mittler verehrt, ahmt Tom Tom seinen Mittler Spezialagent J. D. Skinner nach. Skinner wird für Tom Tom zu einem ähnlichen Helden wie die Sience-Fiction-Figuren aus einem Comic-Heft, so stellt er ihm sogar einmal ernsthaft die Frage: »You’re from the future. Aren’t You?« Wie ein Kind, das im Spiel seinen Helden imitiert, ahmt Tom Tom Skinner nach: Er bastelt sich aus Strohhalmen eine Freisprechanlage am Ohr wie Skinner eine trägt, legt sich ein Stück Plastikabfall wie eine Halskrause um, um so Skinners Stützkorsett nachzuahmen, zitiert dessen häufigste Sätze und imitiert sogar seine Grunzgeräusche (Abb. 17). Und ebenso wie Dostoevskijs Held wirkt auch Tom Tom dann am lächerlichsten, wenn er seine externe, kindliche Vermittlung offen legt und seine Verehrung für Skinner nicht versteckt. Tom Toms Ähnlichkeit mit Myškin beruht somit nicht nur auf seinem reinen, ganz Kind gebliebenen Wesen, seiner bedingungslosen Liebe und seinem grenzenlosen Mitleid für die Menschen in seiner Umgebung, sondern auch darauf, dass er ebenfalls nicht frei vom triangulären Begehren ist. Auch wenn dieses »nur« von externer, kindlicher Natur ist – also in der Tradition des Don Quijote steht –, ist es doch eindeutig vorhanden und lässt Tom Tom näher an Myškin heranrücken als Kameda und František.
65 R. Girard: Figuren des Begehrens, S. 171. 160
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Abbildung 17: Tom Tom ahmt Skinner nach
Quelle: Wim Wenders: The Million Dollar Hotel, USA, Deutschland: Road Movies GmbH 2000, Concorde Home Entertainment GmbH 2001. Im Gegensatz zu Myškins Begehren muss zu Tom Toms Nachahmung von Skinner aber festgestellt werden, dass sie oftmals grotesk übertriebene Züge annimmt. Aufgrund dessen drängt sich öfters als bei Dostoevskijs Fürst die Frage auf, ob Wenders’ Held den Schwachkopf nur vortäuscht. Vergegenwärtigen wir uns hierzu nochmals einige Worte René Girards über Fürst Myškin: »Die ›normalen‹ jungen Leute schwanken ihm gegenüber zwischen zwei widersprüchlichen Urteilen. Sie fragen sich, ob der Fürst ein Schwachkopf sei oder ein gewiefter Taktiker, ein Dandy höherer Art.«66 Wenn Tom Tom versucht im Gleichschritt mit Skinner zu gehen und ihm auf die verärgerte Zurechtweisung »Don’t be so fucking stupid!« mit einem hintergründigen Lächeln »I am fucking stupid.« antwortet, rückt er näher an die obige Interpretation Girards heran als Dostoevskijs Held. Besonders auffällig wird Tom Toms doppeldeutige Position zwischen Idiot und Taktiker im ersten Dialog zwischen ihm und Skinner, bei dem gleichzeitig Skinners erster Auftritt in The Million Dollar Hotel aus der Perspektive des am Boden liegenden, Münzen einsammelnden Tom Tom beschrieben wird: »Tom Tom (spricht als Off-Stimme): I remember seeing his shoes first, and than his suit, which was like an evening gown or something, only for a man. You could see right away he was special, even before he told you. Skinner: My name is special agent, detective J. D. Skinner of the FBI. Now if any of you have any questions … (Zu Tom Tom, der versucht sein Stützkorsett zu berühren) Don’t touch! Tom: Mmmh... Skinner: You’ll do. Take me to his room.
66 Ebd., S. 172. 161
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Tom: Who, who, who? Skinner: What? Are You an owl? The dead man Israel Goldkiss. Tom: Izzy! Skinner: Is he what? Tom: Izzy … was he. Skinner (verstehend): Izzy! Right! Tom: Right, Izzy … Geronimo! Skinner: What ever. Tom: Let’s go to Geronimo. Skinner: Geronimo hi-ho! Let’s go. Tom: Hi-ho! Skinner (zu den anderen Anwesenden in der Lobby): What is he? An Idiot? Tom (wieder wendet sich seine Off-Stimme an die Zuschauer): I remember he picked up on that real fast.«
Wie in Dostoevskijs Roman bleibt also auch in Wenders’ Film immer ein Restzweifel über den tatsächlichen Geisteszustand der Hauptfigur erhalten. Tom Tom ist sicherlich naiv, aber dumm scheint er nicht einmal dann zu sein, wenn er Skinner, seinen Mittler, nachahmt. Denn durch diese übertriebene Nachahmung, die oftmals an Spott grenzt, wird auch das rücksichtslose Benehmen des FBI-Agenten ad absurdum geführt. Doch neben dem triangulären Begehren der Helden Tom Tom und Myškin gibt es noch eine weitere auffällige transmediale Analogie zwischen Dostoevskijs Roman und Wenders’ Film: das trianguläre Streben nach Geld der im gesellschaftlichen Abseits positionierten Nebenfiguren. Wie in Dostoevskijs Roman nehmen auch so gut wie alle Nebenfiguren in Wenders’ Film Außenseiterpositionen ein und träumen davon, sich aus diesen durch plötzlichen Reichtum zu befreien. Geld wird deshalb für viele dieser Figuren zum Objekt, durch welches sie in den gesellschaftlichen Stand ihrer Mittler aufrücken wollen. Zwar sind auch die Hauptfiguren in Roman und Film Außenseiter, aber Geld spielt für sie niemals eine so wichtige Rolle wie für die Nebenfiguren. So wurde bei der Untersuchung des triangulären Begehrens der Hauptfiguren im Idioten zwar darauf hingewiesen, wie wichtig Geld für Rogožin ist, um Nastas’ja Filippovna zu erobern, sein Reichtum bleibt für ihn aber immer nur Mittel zum Zweck, während Geld im triangulären Begehren anderer Figuren im Roman, wie Lebedev, Ganja Ivolgin, dessen Schwester Varvara und ihren Mann Pticyn, tatsächlich die Stelle des begehrten Objekts einnimmt. Die Mittler dieser Figuren sind immer gesellschaftlich höher stehende Personen: Ganjas und Pticyns Mittler sind beispielsweise reiche und gesellschaftlich anerkannte Männer wie Tockij und General Epančin, Varvaras Mittlerinnen sind die Generalin Epančina und ihre Töchter und Lebedev folgt sowieso jedem Mann blind, der ihm auf irgendeine Weise
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überlegen erscheint. Andere Personen, wie Tockij, General Epančin und Radomskij benutzen Geld bewusst, um ihre Ziele zu erreichen und Macht zu gewinnen, und wieder andere, wie die Nihilisten um Burdovskij, verdrehen des Geldes willen absichtlich die Wahrheit und beleidigen Myškin öffentlich. Selbst das Begehren der Generalin Epančina ist nicht frei von Geldgier, denn sie wünscht sich vor allem die Anerkennung des alten Erbadels, die sie hofft durch die »standesgemäße«, also auch finanziell vorteilhafte Verheiratung ihrer Töchter zu erlangen. Manès Sperber hat also durchaus Recht, wenn er für Dostoevskijs Werke generell feststellt, dass Geld in ihnen eine wichtige Rolle spielt und dass Dostoevskijs Helden »außerhalb eines stabilen Alltags«67 stehen. Auf die Nebenfiguren in Wim Wenders’ Film trifft diese unselige Verknüpfung zwischen Außenseitertum und dem Traum vom großen Geld in noch zugespitzterer Weise zu: Geronimo, ein illegal eingewanderter Puertoricaner, der sich als Indianerhäuptling ausgibt und gestohlene Bilder hinter Teerschichten versteckt, sieht plötzlich die Chance auf Reichtum gekommen, als eine Fernsehreporterin seine Teerbilder irrtümlich für Werke des verstorbenen Izzy hält. Da Geronimo einen Schuldschein über alle Wertgegenstände von Izzy besitzt, beschließt er den Irrtum aufrecht zu erhalten, um die Bilder verkaufen zu können. Alle anderen Bewohner des »Million Dollar Hotels« hoffen darauf, mit Geronimo reich zu werden, und stimmen zu, den Schwindel zu unterstützen. Selbst Eloise, die von Izzy vergewaltigt wurde, erliegt dem Reiz des Geldes und spielt dem Fernsehteam vor, dass Izzys Bilder für sie heilig seien. Die drogensüchtige Prostituierte Vivien behauptet Izzys Verlobte gewesen zu sein und nennt die Teerbilder seine Liebeslieder an sie. Der Alkoholiker und ehemalige Schauspielagent Shorty erzählt der Fernsehreporterin, dass Izzy das undefinierbare »gewisse Etwas« hatte, das auch Filmstars haben, und Eloises verarmte und zuckerkranke Großmutter Jessica erklärt, dass Izzy die besondere Gabe hatte, sich jedem, den er liebte, bedingungslos hinzugeben, weshalb sie ihm für seine »Angewohnheit« ihre Insulinspritzen und Nadeln schenkte. Dixie, der sich für den fünften Beatle hält, ist der Organisator der ganzen Schmierenkomödie fürs Fernsehen und hat vorher mit allen Beteiligten eine Abstimmung über den Betrug durchgeführt. Wie in Dostoevskijs Roman träumt also auch in Wim Wenders’ Film eine große Zahl von Verlierern und Außenseitern vom plötzlichen Reichtum, der ihr Leben von Grund auf verändern soll. Somit wird Geld zum begehrten Objekt all dieser Figuren, deren Mittler berühmte Maler, Filmschauspieler, Popstars oder andere gesellschaftliche Größen aus dem nahen Beverly Hills sind.
67 M. Sperber: Wir und Dostojewskij, S. 39 sowie S. 58. 163
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Im Unterschied zu Akira Kurosawas und Saša Gedeons Filmen, in denen das Hauptaugenmerk so gut wie ausschließlich auf den triangulären Liebesbeziehungen zwischen den Hauptfiguren liegt, thematisiert Wenders’ Film somit auch die Außenseiterposition der Nebenfiguren und deren Traum vom großen Geld, die in Dostoevskijs Roman ebenfalls eine bedeutende Rolle spielen. Bei Kurosawa und Gedeon geht die Außenseiterposition der Nebenfiguren durch die zeitliche und räumliche Verlagerung der Handlung in ein gut bürgerliches Milieu verloren, das beim einen im Japan der frühen 50er Jahre und beim anderen im tschechischen Provinzstädtchen der späten 90er Jahre des 20. Jahrhunderts angesiedelt ist. Eine Außenseiterrolle spielen in beiden Filmen nur mehr wenige Hauptfiguren: Bei Kurosawa sind dies der Epileptiker und ehemalige Kriegsgefangene Kameda und die angebliche Mätresse Taeko Nasu und bei Saša Gedeon nimmt gar nur mehr František durch seine Krankheit und den Aufenthalt in der Nervenheilanstalt eine Außenseiterposition ein. Indem Wim Wenders seine Helden im Milieu der »Außenseiter des amerikanischen Traums«68 ansiedelt und sie in einer heruntergekommenen Absteige für Drogensüchtige, Prostituierte, Alkoholiker und ehemalige Insassen von Nervenheilanstalten wohnen lässt, erschafft er gesellschaftliche Verhältnisse, die jenen des frühkapitalistischen Dostoevskijschen Russlands bei weitem ähnlicher sind, als diejenigen der beiden Literaturverfilmungen. Doch wie die Untersuchung der Begehrensstruktur von Tom Tom bereits gezeigt hat, sind auch die Hauptfiguren in Wenders’ Film nicht frei von triangulärem Begehren. Auch auf dieser Ebene ergibt sich somit eine transmediale Analogie zu Dostoevskijs Roman, und, ebenso wie bei Dostoevskij, können sich auch die Strukturen des Begehrens im Laufe von Wenders’ Film verändern oder ganz auflösen. Skinners Begehren ist beispielsweise zu Beginn des Films eindeutig auf seine Karriere beim FBI gerichtet. Sein beeindruckender erster Auftritt im Hotel wird von Tom Toms Off-Stimme geradezu ehrfurchtsvoll geschildert, wobei Skinners edler Anzug und seine teuren Schuhe nicht von seiner metallenen Halsstütze ablenken können und dem Zuseher sofort klar wird, dass Skinner an einem körperlichen Handykap leidet. Gegen Ende des Films gibt Skinner seine wahre Geschichte preis und man erfährt, dass er mit einer schrecklichen körperlichen Missbildung zur Welt gekommen ist. Er hatte früher einen dritten Arm, der ihm aus dem Rücken wuchs, und wurde dadurch zur Hauptattraktion in einer fahrenden Kuriositätenshow. Nach der Entfernung des Arms ist Skinners Rücken von Narben übersät und er muss ein kompliziertes Stützkorsett tra-
68 Wim Wenders in D. J. DeJoseph: The One Dollar Diary. 164
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gen. Skinner war also ebenfalls einmal ein gesellschaftlicher Außenseiter, doch nun ist er wild entschlossen in die höchsten FBI-Kreise und somit auch in die höchste Machtsphäre der USA aufzusteigen. Seine Mittler sind Männer wie Izzys Vater, der Medienmogul Stanley Goldkiss, die die eigentliche Macht im Lande innehaben und die Fäden hinter den Politikern ziehen. Um diesem seinen Mittler zu gefallen, willigt Skinner auch ein, Izzys Mörder zu suchen, obwohl er eigentlich von Anfang an vermutet, dass der drogensüchtige Izzy Selbstmord begangen hat. Im Verlauf des Films wird Skinners trianguläres Begehren immer mehr erschüttert: Er muss erkennen, dass er mit seinen brutalen FBIMethoden keinen Erfolg bei den Bewohnern des Hotels hat und, dass er selbst mit so irrwitzigen Aktionen wie einem gewaltsam herbeigeführten Wasserrohrbruch keinen Hinweis auf einen Verdächtigen erhalten kann. Schließlich scheitert auch seine ausgeklügeltste Intrige, denn Eloise, die Skinner als Spitzel auf Tom Tom ansetzt, um ihm Informationen über Izzys Tod zu entlocken, verliebt sich in Tom Tom und warnt ihn vor Skinner. Da Skinner aber unbedingt seinem Mittler eine Erfolgsnachricht überbringen will, zwingt er Tom Tom mit Gewalt einen Namen ab und verhaftet daraufhin Geronimo, obwohl er nicht an dessen Schuld glaubt. Zum Bruch mit seinem Mittler kommt es, als Tom Tom den Mord an Izzy gesteht und Stanley Goldkiss dieses Geständnis ohne zu zögern akzeptiert. Plötzlich sieht Skinner in Goldkiss nur mehr einen erbärmlichen Vater, der einen Sündenbock sucht, um sich nur ja keine eigene Schuld am Selbstmord seines Sohnes eingestehen zu müssen. Diesen Vorwurf schleudert Skinner Goldkiss mitten ins Gesicht und demontiert dadurch seinen Mittler. Schließlich wechselt Skinner die Seiten und versucht Tom Tom zu helfen, doch es ist bereits zu spät und Tom Tom sieht keinen Ausweg mehr, als ebenfalls vom Dach zu springen. Von allen Hauptfiguren in The Million Dollar Hotel scheint Eloise zunächst am wenigsten vom triangulären Begehren infiziert zu sein. Die zutiefst verletzte junge Frau wirkt wie eine Schlafwandlerin, die bereits mit dem Leben abgeschlossen hat, sich nichts mehr erwartet und von nichts mehr träumt. Barfuß schleicht sie durch die Straßen von L.A. und verbringt ihre gesamte Zeit mit Lesen. Bücher, wie Gabriel García Márques’ Roman Hundert Jahre Einsamkeit (Cien años de soledad 1982), den sie in einigen Szenen geradezu demonstrativ mit sich herumträgt, ermöglichen ihr überhaupt das Überleben, denn sie flüchtet sich so sehr in die Welt der Fiktion, dass sie sich bereits selbst nicht mehr für real hält. Im Laufe des Films erfährt man, dass Eloise drei Jahre in der Nervenheilanstalt St. Timothy’s verbracht hat, von dort entlassen wurde, weil sie nicht versichert war und der Obhut ihrer Großmutter Jessica, die selbst krank und mittellos ist, anvertraut wurde. Den Männern in ihrem Umfeld
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ist Eloise schutzlos ausgeliefert, und so kommt es häufig vor, dass sie von Betrunkenen und Drogensüchtigen wie Izzy vergewaltigt wird. Als Skinner sie ködern will, um Tom Tom für ihn auszuspionieren, und ihr im Gegenzug seine Hilfe anbietet, lehnt sie ab, da sie ihr Leben sowieso nur mehr als einen Teufelskreis zwischen Nervenheilanstalt und Hotel betrachtet. Skinner meint daraufhin: »You know, you can only go that road so many times.« und Eloise antwortet mit einem tiefen Seufzer und einem wissenden Lächeln: »I’m hoping.« Erst als Skinner ihr droht das Hotel niederzubrennen, falls er nicht kriege was er wolle, willigt sie ein mit Tom Tom zu sprechen. Doch als sie mit Tom Tom auf sein Zimmer geht, wird sie sich über ihre eigenen Gefühle klar und warnt ihn vor Skinner. Parallel zu Eloises Liebe zu Tom Tom entwickelt sich aber auch ihr trianguläres Begehren, und es ist eine der tragischsten Schicksalswendungen im Film, dass ausgerechnet Eloise wesentlich zu Tom Toms Ende beiträgt. Leise Anzeichen dafür, dass auch sie von der Goldgräberstimmung der anderen Bewohner des Hotels angesteckt wurde, treten schon auf bevor Eloise ihre Liebe zu Tom Tom entdeckt. Während der von Dixie initiierten Abstimmung über den Schwindel mit Geronimos Bildern kreuzt die ansonsten so schlafwandlerische Eloise äußerst zielstrebig nicht nur auf ihrem, sondern auch auf Tom Toms Stimmzettel eines der beiden Kästchen an, und da sie später bei dem für das Fernsehen inszenierten Betrug aktiv mitwirkt, liegt die Vermutung nahe, dass sie auf beiden Zetteln das »Ja« angekreuzt hat. Eloise spielt also zumindest mit dem Gedanken, dass der Betrug funktionieren könnte, und erliegt somit – wenn auch nur für kurze Zeit und nicht annähernd so bedingungslos wie die Nebenfiguren – dem triangulären Wunsch nach Geld. Eloise begehrt Geld aber nicht, weil sie wie die anderen Bewohner des Hotels in die gesellschaftlichen Kreise eines Mittlers aufsteigen will, sondern weil ihr die Liebe zu Tom Tom neuen Lebensmut gegeben hat. Schließlich ist es auch Eloise, die durch ihren bühnenreifen Auftritt vor der Fernsehkamera, als sie mit gefalteten Händen vor den Teerbildern kniet und der gerührten Reporterin erklärt, dass man über etwas Heiliges nicht sprechen müsse, den Schwindel endgültig besiegelt und dadurch das trianguläre Begehren aller Beteiligten weiter schürt. Eloises Engagement im triangulären Spiel um das große Geld endet damit aber noch nicht, denn sie greift aktiv in die Diskussion der anderen Hotelbewohner ein als durch Geronimos Verhaftung der Betrug mit den Bildern zu platzen droht. Als alle die Hoffnung schon aufgeben wollen, schlägt Eloise vor, Skinner einen anderen Täter zu liefern damit Geronimo frei kommt. Dixie greift ihren Vorschlag auf, spinnt ihn weiter und kommt schließlich zum Schluss, dass nur jemand, der so dumm sei wie
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Tom Tom, den Mord an Izzy gestehen würde. Diese Feststellung trifft alle Anwesenden wie der Blitz, da die Möglichkeit Tom Tom zu einem Geständnis zu bewegen ihre Chance auf das große Geld wieder aufleben lässt. Entsetzt erkennt Eloise, wohin ihre Idee geführt hat. Doch es ist bereits zu spät; den Gesichtern der anderen ist abzulesen, dass sie planen, Tom Tom zu opfern. Somit trägt Eloises aktive Beteiligung an den triangulären Machenschaften der Hotelbewohner wesentlich zu Tom Toms Selbstmord und zum Ende ihrer Liebe bei. Neben Tom Tom, Eloise und Skinner gibt es noch eine vierte Hauptperson in The Million Dollar Hotel, die zwar nur kurz in zwei Rückblenden zu sehen ist, von der aber während des gesamten Films die Rede ist und deren trianguläres Begehren die Handlung des Films erst in Gang setzt. Die Rede ist von Izzy Goldkiss, Tom Toms »bestem Freund« und Eloises Vergewaltiger, den es aus seinem reichen Elternhaus zu den Verlierern ins »Million Dollar Hotel« verschlagen hat. Die Filmhandlung setzt zwar erst nach Izzys Tod ein, durch die ständigen Gespräche über ihn und sein mysteriöses Ende wird Izzy jedoch zur allgegenwärtigen Figur. Wie Skinner richtig feststellt, ist Izzys zerbrechliches Ego an dem seines übermächtigen Vaters gescheitert. Er ist drogensüchtig, ständig pleite, schreibt Gedichte auf lose Papierfetzen, die er in einem alten Koffer sammelt, und verbringt beinah seine gesamte Zeit mit Tom Tom, »dessen leeren Kopf« er mit seinen Gedichten und Ideen füllen will, weil sie »dort sicher sind«. Wie ist nun Izzys trianguläres Begehren aufgebaut? Und warum ist es so wichtig für die Filmhandlung? Ich bin der Meinung, dass Izzys Verhalten viele Fragen unbeantwortet ließe, wenn es nicht auf einer – vielleicht auf den ersten Blick nicht ganz offensichtlichen – triangulären Struktur basieren würde. Warum vergewaltigt Izzy beispielsweise die Frau, die sein bester Freund liebt? Oder warum zwingt er Tom Tom ihn vom Dach zu stoßen und springt nicht einfach selbst? Die Antworten auf diese Fragen liegen meines Erachtens in der ungleichen, triangulären Freundschaft zwischen Tom Tom, dem herzensguten, einfältigen Idioten, und Izzy, dem gebildeten, drogensüchtigen Millionärssohn, verborgen. Wie Rogožin von Myškin fühlt sich auch Izzy von Tom Tom angezogen, denn der reine, Kind gebliebene Tom ist im Gegensatz zu Izzy noch zu bedingungsloser und selbstloser Liebe fähig. Um diese Fähigkeit und um seine Unschuld beneidet Izzy seinen Freund und erhebt ihn zu seinem Mittler. Verhängnisvoll ist, dass Izzy das Objekt von Tom Toms reiner, dualer Liebe kennt und dieses nun zum Objekt seines eigenen, triangulären Begehrens wählt. Wie bereits mehrmals erwähnt, geht Girard davon aus, dass sich das Subjekt vom Besitz des Objekts eine Annäherung an den Mittler erhofft, ja sogar hofft, wie sein Mittler zu werden. Izzy will demnach Eloise besit-
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zen, weil er sich davon erhofft, so glücklich wie Tom Tom zu werden. Doch dieses Vorhaben muss natürlich scheitern, und Izzys Wut und Enttäuschung richten sich daraufhin gegen Eloise, das Objekt das ihn nicht näher an seinen Mittler heranführen konnte. Als er mit Tom Tom am Dach des Hotels steht und beschreibt wie Eloise während der Vergewaltigung auf ihn gewirkt hat, geht es Izzy nicht darum, Tom Tom dazu zu bewegen ihn vom Dach fallen zu lassen, sondern darum seinem Mittler dessen Liebe zum Objekt auszureden. Während dieser Szene auf dem Dach, an die sich Tom Tom kurz vor seinem eigenen Sprung zurück erinnert, will Izzy unbedingt, dass der Freund ihm zuhört, weil er ihm dringend etwas über Eloise sagen müsse. Dabei streichelt er Tom Tom liebevoll über den Kopf und flüstert ihm zu, dass er ihm nicht wehtun wolle. Izzy beschwört Tom Tom geradezu ihm zu glauben, dass Eloise ein Nichts sei und nachdem er seine Hasstirade auf sie mit den Worten »I fucked nothing!« beendet hat, lehnt er sich mit einem erleichterten Lächeln und ausgebreiteten Armen über den Rand des Daches. Tom Tom zögert noch einen Augenblick, doch dann lässt er den Kragen von Izzys Jacke los und wendet sein Gesicht vom fallenden Freund ab. Izzy kann nicht sterben, ohne seinen Mittler von der Würdelosigkeit seines Objekts überzeugt zu haben. Aus diesem Grund springt er nach der Vergewaltigung nicht einfach selbst vom Dach, sondern nimmt Tom Tom mit, um ihm von Eloises Unwürdigkeit zu berichten. Es bleibt außerdem offen, ob Izzy tatsächlich sterben wollte. Schließlich konnte er sich nie hundertprozentig sicher sein, dass Tom Tom ihn auch tatsächlich fallen lassen würde. Das Spiel auf dem Dach, bei dem Izzy vorgibt zu springen, scheint auch nicht das erste Mal zwischen den Freunden stattgefunden zu haben, denn in einer ganz ähnlichen Szene mit Geronimo fällt auf, wie sicher, routiniert und furchtlos Tom Tom am Dachrand balanciert. Izzy wurde also von seinem Mittler umgebracht, weil er diesen zwang sich zwischen ihm und dem Objekt seiner reinen, dualen Liebe zu entscheiden. Aus Tom Toms Sicht ergibt sich eine andere trianguläre Struktur, die den Mord an Izzy wesentlich mitbegründet: vor Skinners Auftauchen ist zweifellos Izzy Tom Toms Mittler gewesen, den er nachahmte, dessen Gedichte er auswendig lernte und dem er blind folgte. Doch Tom Toms reines kindliches Gemüt ließ auch in Izzys Fall nur eine offene, externe Vermittlung zu, wodurch auch allen anderen Personen im Hotel bekannt war, dass Tom Tom Izzy verehrt. Gleichzeitig empfand Tom Tom aber auch eine direkte, duale Liebe zu Eloise, die nichts mit der triangulären Nachahmung Izzys zu tun hatte. Als Izzy nun auf dem Dach Eloise beschimpft, muss Tom Tom sich plötzlich zwischen seinem Mittler und dem Objekt seines reinen Begehrens entscheiden, und er entscheidet sich
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für Eloise, weil er erkennt, dass Izzy seiner Verehrung nicht würdig ist. Was Skinner in Tom Toms Geständnis nicht hören will, weil er ihn einfach nicht als Mörder sehen kann, ist die Trauer und Enttäuschung über Izzys Verrat an der reinen Liebe, von der dessen eigene Gedichte handeln. So liest Tom Tom während seines Geständnisses das folgende Gedicht von Izzy vor: »The heart is the sleeping beauty and love the only kiss it can’t resist. Even as eyes lay open wide, there is a heart that sleeps inside, and it’s to there you must be hastening, for all hearts dream, they dream only of awakening.«69
Nach einer kurzen Pause fügt Tom Tom hinzu: »And Izzy he knew all that, but he wanna have it forgotten. But I didn’t forget, that’s why I pushed him off the roof.« Tom Tom spricht in dieser Geständnisszene klar aus, warum er seinen Mittler vom Dach fallen ließ. Für ihn hat Izzy in seinem Gedicht Eloise beschrieben, sie war das »Herz«, die »schlafende Schönheit«, die Tom Tom durch seine Liebe wecken wollte. Doch Izzy hatte durch Eloises Vergewaltigung nicht nur seine eigenen Worte verraten, sondern auch endgültig seine Mittlerrolle bei Tom Tom eingebüßt. Indem Tom Tom Izzy vom Dach fallen ließ, befreite er sich von seinem Mittler, besetzte diesen freigewordenen Platz aber bald darauf mit Skinner, den er zu seinem neuen Mittler erwählt. Wie visualisiert nun Wim Wenders die inhaltlichen, triangulären Strukturen in seinem Film? Anders als in Akira Kurosawas Film wird das trianguläre Begehren in The Million Dollar Hotel nicht von zu Dreiergruppen formierten Schauspielern ausgedrückt, und auch das Spiel mit dem unterschiedlichen Informationsstand der Protagonisten, das Saša Gedeon bevorzugt, spielt in Wim Wenders’ Film keine besondere Rolle. Doch ähnlich wie Saša Gedeon gruppiert auch Wim Wenders einige Male Figuren um einen Tisch, deren trianguläres Begehren die Filmhandlung zu einem wesentlichen Teil motiviert. Während aber Saša Gedeons Figuren bei diesen Treffen alles versuchen, um ihr trianguläres Begehren vor den anderen zu verbergen, treffen sich Wenders’ Helden überhaupt erst, um über ihre triangulären Machenschaften zu sprechen. Die Versammlungen im Billardzimmer und in der Lobby, sowie das Treffen in Jessicas Zimmer nach Geronimos Verhaftung hängen so gut 69 Nicholas Klein: »The Heart is a Sleeping Beauty«, in: Donata Wenders/ Wim Wenders (Hg.), The Heart is a Sleeping Beauty, S. 1. 169
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wie ausschließlich mit dem triangulären Begehren einer oder mehrerer Personen zusammen. So droht beispielsweise Skinner beim ersten derartigen Treffen, nachdem er den Wasserrohrbruch herbeigeführt hat, allen Personen, die sich um den kleinen Fernsehtisch in der Lobby scharen, das Hotel zu zerstören, falls man ihm bei der Suche nach Izzys Mörder nicht behilflich sein sollte. Er fordert also von den anderen Figuren ganz offen das Objekt, das sein Mittler begehrt, um selbst sein eigenes Objekt – eine steile FBI-Karriere – zu erlangen. Bei den darauf folgenden Treffen im Billardzimmer, bei denen sich die Hotelbewohner um den Billardtisch gruppieren, drehen sich alle Gespräche um den Betrug mit den Bildern und um das trianguläre Streben nach Geld (Abb. 18). Auch beim verhängnisvollen Treffen in Jessicas Zimmer, bei dem beschlossen wird Tom Tom für Geronimo zu opfern, steht der trianguläre Wunsch die Bilder zu verkaufen im Vordergrund (Abb. 19). Um alle Personen, die bei einer solchen Szene anwesend sind, zeigen zu können, verwendet Wim Wenders meist für einige Sekunden die Einstellungsgrößen Halbtotale oder Totale.70 Abbildung 18: Die Bewohner des »Million Dollar Hotels« versammeln sich um den Billardtisch
Quelle: Wim Wenders: The Million Dollar Hotel, USA, Deutschland: Road Movies GmbH 2000, Concorde Home Entertainment GmbH 2001.
70 Die Halbtotale oder Full Shot, zeigt »etwa eine Person oder eine Gruppe in ihrem Umfeld«, während bei der Totalen oder Long Shot »eine gesamte Szenerie im Bild erfasst wird«. (Vgl. J. Monaco: Film und neue Medien, S. 78 sowie S. 168.) 170
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Abbildung 19: Vivien, Dixie, Shorty, Jessica und Jesus planen Tom Tom für Geronimo zu opfern
Quelle: Wim Wenders: The Million Dollar Hotel, USA, Deutschland: Road Movies GmbH 2000, Concorde Home Entertainment GmbH 2001. Doch das trianguläre Begehren wird in Wenders’ Film nicht nur durch diese Gruppenszenen um einen Tisch betont. Besonders auffällig in The Million Dollar Hotel ist der »Tempounterschied« zwischen Szenen, in denen die Personen vom triangulären Begehren dominiert werden, und Szenen, in denen die direkte, duale Liebesbeziehung von Eloise und Tom Tom thematisiert wird. Während erstere ein dynamischer, dialogreicher Handlungsverlauf kennzeichnet, werden letztere von langsamen, manchmal sogar in Zeitlupe gedrehten Bildern und von bedächtig ausgesprochenen Worten getragen. Dadurch entsteht der Eindruck, dass Tom Tom und Eloise, sobald sie miteinander alleine sind, vom hektischen Treiben der anderen Hotelbewohner verschont, in einer eigenen stillen, zeitlosen Welt leben. Das trianguläre Begehren stürzt die Menschen in Wim Wenders’ Film in einen rasanten, lauten Taumel, lässt sie ununterbrochen reden und dabei kaum etwas sagen. Im Vergleich dazu sprechen Eloise und Tom Tom, wenn sie sich alleine ihrer dualen Liebe widmen können, langsam und wählen ihre Worte mit Bedacht und Ruhe. Selbst als die beiden auf der Flucht vor der Polizei, die Tom Tom verhaften will, in eines der leer stehenden Zimmer einbrechen, um sich einen Fluchtplan zu überlegen, hält die Hektik, die im Grunde nur Eloise erfasst, nicht lange an. Am Ende der Szene erzählt Eloise, während sie langsam über Tom Toms Kopf und Ohr streichelt, leise und entspannt von Südamerika, »wo die Luft so feucht ist, dass die Fische zur Tür herein und beim Fenster wieder raus schwimmen« (Abb. 20). In Dominic J. DeJosephs Dokumentation The One Dollar Diary erwähnt Wim Wenders, dass Filmen für ihn im Idealfall »ein organischer Prozess ist«, bei dem vieles von Regisseur und Schauspielern erst am Set 171
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erfunden, also improvisiert wird.71 Dies erklärt die freien, kindlich verspielten und oftmals ganz unmotiviert wirkenden Bewegungen in den Szenen zwischen Tom Tom und Eloise, die den schnellen, gezielten, hektischen Bewegungen der anderen Personen diametral gegenüberstehen. Der offensichtliche Kontrast in Tempo und Lautstärke zwischen »triangulären« und »nicht triangulären« Szenen ist somit ein weiteres wichtiges Merkmal von Wenders’ Film. Abbildung 20: Eloise erzählt Tom Tom von Südamerika
Quelle: Wim Wenders: The Million Dollar Hotel, USA, Deutschland: Road Movies GmbH 2000, Concorde Home Entertainment GmbH 2001.
5 . 6 F a z i t : D i e V i s u a l i si e r u n g d e s tr i a n g u l ä r e n B e g e h r e n s i m Fi l m In diesem Kapitel wurde der Versuch unternommen, René Girards Theorie des triangulären Begehrens sowohl auf textueller Ebene in Dostoevskijs Roman Der Idiot, als auch auf intermedialer Ebene in den Filmen Hakuchi, Návrat idiota und The Million Dollar Hotel zu skizzieren. Im Handlungsaufbau und der Figurenkonstellation aller vier Werke konnte dabei die Dreiecksstruktur des mimetischen Begehrens nachgewiesen werden. Am interessantesten ist meines Erachtens jedoch, dass sich diese Form des Begehrens in den drei untersuchten Filmen auch in der Bildgestaltung widerspiegelt und somit ein wesentliches, narratives Element visualisiert, respektive visuell unterstützt wird. 71 »Ich würde jede Szene vor Ort mit den Schauspielern erfinden können; ohne Storyboard und ohne festgelegtes ästhetisches Konzept und damit – so war ich mir plötzlich sicher – würden wir sowohl unserer Geschichte als auch unserem verrückten Drehort gerecht werden können.« (Wim Wenders in D. J. DeJoseph: The One Dollar Diary.) 172
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Abschließend sollen noch einmal kurz die verschiedenen Formen dieser Visualisierung zusammengefasst werden: In Akira Kurosawas Film lässt sich eine besondere Form der Bildkomposition feststellen, bei der jeweils drei im mimetischen Begehren verhaftete Figuren ein räumliches Dreieck bilden. Derartige Bildkompositionen tauchen auch in Saša Gedeons Film auf, stellen darin aber nur einige wenige, kurze, wenn auch effektvolle Hinweise auf die Dreiecksbeziehungen der Figuren dar. Hauptsächlich visualisiert Saša Gedeon die triangulären Handlungsstrukturen in seinem Film, indem er seine Kamera der immer am besten informierten Hauptfigur František zur Seite stellt und den unterschiedlichen Informationsstand seiner Helden in mehreren »Tischversammlungsszenen« aufeinanderprallen lässt. Diese Tischversammlungsszenen spielen auch in Wim Wenders’ Film eine wichtige Rolle und stehen ebenfalls mit dem triangulären Begehren der Figuren in Verbindung. Am auffälligsten wird das trianguläre Begehren in Wim Wenders Film aber durch einen Tempokontrast visualisiert, der zwischen den hektischen, lauten, dialogreichen, triangulären Szenen und den langsamen, ruhigen, von sorgsam gewählten Worten getragenen, dualen Liebesszenen festzustellen ist.
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6. K A R N E V A L I S T I S C H E S K A N D AL S Z E N E N (M I C H A I L B A C H T I N ) »An der Wiege des europäischen Romans der Neuzeit standen Schelm, Narr und Dummkopf, und sie haben in ihr die Narrenkappe mit den Rasseln zurückgelassen.« (Michail Bachtin)1
6 . 1 » P o l yp ho n i e« u n d » D i a l o g i z i tä t « Der studierte Altphilologe, Philosoph und Sprachwissenschaftler Michail Bachtin (1895-1975) avancierte in den letzten 30 Jahren zu einer der bedeutendsten Galionsfiguren der internationalen Literaturwissenschaft, und allein die Sekundärliteratur über ihn und sein Werk füllt in der Zwischenzeit ganze Bibliotheken.2 Bereits 1929 verfasste Bachtin mit seiner Studie Probleme des Schaffens Dostoevskijs (Problemy tvorčestva Dostoevskogo) ein Standardwerk der Dostoevskij-Forschung, das allerdings erst 1963, als es grundlegend überarbeitet und unter dem Titel Probleme der Poetik Dostoevskijs (Problemy poėtiki Dostoevskogo) neu erschien, auf breite internationale Anerkennung stieß. Da die in diesem Kapitel dargelegte These Bachtins über die karnevalistischen Skandalszenen in Dostoevskijs Werk explizit erst in der überarbeiteten Fassung von 1963 thematisiert wird und die verschiedenen, in dieser Arbeit dargelegten Ansätze der Dostoevskij-Forschung chronologisch geordnet sind, wurde die Untersuchung von René Girards »triangulärem Begehren« aus dem Jahre 1961 bewusst vorgezogen. Der Verfasserin ist jedoch klar, dass Bachtin an der von Galin Tihanov als »metageneric«3 bezeichneten In1
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Michail M. Bachtin: »Das Wort im Roman«, in: Ders., Die Ästhetik des Wortes. Herausgegeben von R. Grübel, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1979 (Edition Suhrkamp 967), S. 285. Allein im österreichischen Bibliothekenverbund (Verbund OPAC) scheinen unter dem Titelschlagwort »Bachtin« über 130 Publikationen auf. Der überwiegende Teil dieser Titel wurde erst nach 1990 veröffentlicht. Tihanov zeigt in seiner Studie wie Bachtins These von einem karnevalistischen »Metagenre« in der Neufassung des Dostoevskij-Buches von 1963 den im Ursprungstext von 1929 vorherrschenden soziologischen Ansatz 175
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terpretationslinie, laut welcher sich die Werke verschiedener europäischer Dichter wie Cervantes, Grimmelshausen, Rabelais und in späterer Folge eben auch Dostoevskij einer karnevalistischen Gattungstradition zuordnen lassen, bereits in den 1930er Jahren zu arbeiten begann. Ehe aber eine eingehende Untersuchung der karnevalistischen Skandalszenen bei Dostoevskij und deren Analogien in den drei Filmen durchgeführt werden kann, ist eine kurze Skizzierung der beiden zentralen Begriffe, die Bachtin im Zusammenhang mit Dostoevskijs Werk in die Literaturwissenschaft eingeführt hat, erforderlich: Diese lauten »Polyphonie« und »Dialogizität«. Mit dem ersten der beiden Begriffe bezeichnet Bachtin ein neues, von Dostoevskij begründetes Romangenre, dessen Personenkollektiv nicht mehr aus »stummen Sklaven«, sondern aus »freien Menschen«4 besteht, die gleichberechtigt dem Autor, ihrem Schöpfer, gegenüberstehen und mit eigenen Stimmen ihre eigenen Ideen verkünden. In Dostoevskijs polyphonen Romanen werden die Figuren somit nicht von einem allmächtigen Autorenbewusstsein beherrscht, »sondern eine Vielfalt gleichberechtigter Bewusstseine mit ihren Welten wird in der Einheit eines Ereignisses miteinander verbunden, ohne dass sie ineinander aufgehen«5. Somit steht auch das Wort des Helden gleichberechtigt und selbstständig neben dem des Autors und verbindet sich mit diesem und mit »den vollwertigen Stimmen anderer Helden«6 zu einem organischen Ganzen. Dem neuen, polyphonen Roman Dostoevskijs stellt Bachtin den homophonen, monologischen Roman gegenüber, der vom Wort des Autors dominiert wird und zu dessen russischen Hauptvertretern er u.a. Dostoevskijs Zeitgenossen Ivan Turgenev und Lev Tolstoj zählt. Hand in Hand mit der »Polyphonie« geht laut Bachtin die »Dialogizität« der Romane Dostoevskijs, denn der gleichberechtigt im Werk auftretende Held kann nicht mehr durch das abgeschlossene, monologische, »fremde Wort«7 des Autors definiert werden, sondern muss in einen ak-
4 5 6 7
verdrängt. (Vgl. Galin Tihanov: The Master and the Slave. Lukács, Bakhtin and the Ideas of Their Time, Oxford: Clarendon Press 2000, S. 207-216; sowie Barbara Aufschnaiter/Dunja Brötz: »Herr und Knecht – Zur Philosophie und Theorie des Romans bei Georg Lukács und Michail Bachtin. Rezension von G. Tihanov: The Master and the Slave. Lukács, Bakhtin, and the Ideas of Their Time«, in: Kakanien revisited (2005): http:// www.kakanien.ac.at/rez/BAufschnaiter_DBroetz1.pdf vom 12. Juli 2008.) Michail M. Bachtin: Probleme der Poetik Dostoevskijs, München: Hanser 1971, S. 10. Ebd. (Kursive Hervorhebungen im Original) Ebd., S. 11. Ebd., S. 67. 176
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tiven, unabgeschlossenen Dialog mit anderen Bewusstseinen treten. So stellt Bachtin etwa bereits in Dostoevskijs Erstling Arme Leute (Bednye ljudi 1845) einen Dialog zwischen dem Helden Makar Devuškin und einem imaginären Gesprächspartner fest, gegen dessen fremde Blicke und Worte sich Makar stets zu verteidigen versucht.8 Für Bachtin steht somit fest, dass das dialogische Prinzip schon in Dostoevskijs Frühwerk angelegt war, da seine Helden sich von Anfang an gegen das monologisch über sie geäußerte Wort zur Wehr setzten: »Das wahre Leben eines Menschen wird nur dann zugänglich, wenn man dialogisch in es einzudringen sucht, wenn es selbst antwortet und sich frei öffnet. Die Wahrheit über einen Menschen aus dem Munde eines Fremden, die nicht dialogisch an ihn gerichtet ist, d.h. die in Abwesenheit des Betroffenen ausgesprochene Wahrheit, wird zu einer erniedrigenden und ihn tötenden Lüge […].«9
Um also den polyphonen Roman erschaffen zu können, muss der Autor seine Einstellung gegenüber seinen Helden radikal ändern. Er darf sich nicht mehr über sie stellen und sie als seine Objekte betrachten, sondern muss mit ihnen in einen Dialog treten, der seine Helden zu Subjekten »einer ernst gemeinten, echten und nicht rhetorisch vorgetragenen oder konventionell-literarischen, dialogischen Anrede«10 erhöht. Der Dialog findet somit sowohl horizontal, zwischen den verschiedenen Bewusstseinen im Werk statt, als auch vertikal zwischen dem Autor, dem Helden und im weiteren Verlauf auch dem Leser. Bachtin ortet deshalb in Dostoevskijs Werken »eine ernsthaft verwirklichte und konsequent durchgeführte dialogische Position, die die Selbständigkeit, innere Freiheit, Unabgeschlossenheit und Unentschlossenheit des Helden anerkennt«11. Besondere Bedeutung misst Bachtin der dialogischen Gestaltung der Idee bei Dostoevskij bei. Innerhalb monologischer Werke kann eine fremde Idee nicht objektiv, in ihrer unantastbaren Eigenständigkeit dargestellt werden. Laut Bachtin wird sie entweder »assimiliert oder polemisch negiert oder sie hört auf, eine Idee zu sein«12. Dostoevskij ist es in seinen polyphonen, dialogisch konzipierten Romanen jedoch stets gelungen jene gewisse Distanz zu wahren, die es ermöglicht, eine fremde Idee so darzustellen, »dass ihre volle Bedeutung als Idee erhalten«13 bleibt: 8 9 10 11 12 13
Vgl. ebd., S. 230f. Ebd. (Kursive Hervorhebungen im Original) Ebd., S. 71. (Kursive Hervorhebungen im Original) Ebd. (Kursive Hervorhebungen im Original) Ebd., S. 94. Ebd. 177
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»In Dostoevskijs Werk wird die Idee zum Gegenstand der künstlerischen Darstellung; und er selbst zum großen Künstler der Idee.«14 Polyphon werden Dostoevskijs Werke für Bachtin deshalb erst, wenn ihre Protagonisten eine eigene Idee repräsentieren, und dies trifft in der Regel erst auf das nach den Aufzeichnungen aus dem Untergrund (Zapiski iz podpol’ja 1865) entstandene Spätwerk zu, und hier vor allem auf die fünf großen Romane. Dialogisch sind aber bereits Dostoevskijs allererste Werke konzipiert, und erst der dialogische Austausch zwischen gleichberechtigten Bewusstseinen ermöglichte die Entwicklung des polyphonen Romans. Wie bereits im theoretischen Teil dieser Arbeit besprochen wurde, trat v.a. der Begriff »Dialogizität« ab Mitte der sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts seinen Siegeszug durch die internationale Literaturwissenschaft an. Dank der Übersetzungen und Interpretationen der beiden aus Bulgarien nach Frankreich emigrierten WissenschaftlerInnen Julia Kristeva und Tzvetan Todorov fanden Bachtins theoretische Ansätze rasche Aufnahme im französischen Poststrukturalismus.15 Und während der Begriff der »Polyphonie« zur fixen Größe in der Romanforschung avancierte,16 bildet jener der »Dialogizität« die Basis für die von Julia Kristeva und Tzvetan Todorov begründete, unter 3.1.1 vorgestellte Intertextualitätsforschung17.
14 Ebd. 15 Vgl. etwa Julia Kristeva: »Wort, Dialog und Roman bei Bachtin (1967)«, in: Jens Ihwe (Hg.), Literaturwissenschaft und Linguistik. Ergebnisse und Perspektiven. Bd. 3: Zur linguistischen Basis der Literaturwissenschaft II, Frankfurt/Main: Athenäum 1972 (Ars Poetica. Texte und Studien zur Dichtungslehre und Dichtkunst), S. 345-376; Tzvetan Todorov: Mikhail Bakhtin. The Dialogical Principle, Minneapolis: University of Minnesota Press 1984 (Theory and History of Literature 13). 16 Viktor Žmegač meint z.B. über James Joyces’ Ulysses (1922): »Jedenfalls gibt es kaum einen anderen Text, dem Bachtins Terminologie und Auffassung von der »Polyphonie« im Roman so auf den Leib geschnitten ist wie gerade dem Ulysses […].« Und er attestiert auch André Gides’ Romanen »Mehrstimmigkeit, Polyphonie, beziehungsweise Polyperspektivismus«. (Vgl. Viktor Žmegač: Der europäische Roman. Geschichte seiner Poetik, Tübingen: Niemeyer 1991, S. 314; S. 371.) 17 Wie unterschiedlich Kristeva und Todorov den Begriff »Dialogizität« verwenden, wird äußerst anschaulich belegt in Rolf Kloepfer: »Intertextualität und Intermedialität oder die Rückkehr zum dialogischen Prinzip. Bachtins Theoreme als Grundlage für Literatur- und Filmtheorie«, in: Jochen Mecke/Volker Roloff (Hg.), Kino-/(Ro)Mania. Intermedialität zwischen Film und Literatur, Tübingen: Stauffenburg 1999, S. 23-47. 178
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6.2 Dostoevskijs Werk und die G a t tu n g st r a d i ti o n d e s k ar n e v al i s ti sc he n Romans Diese Studie wendet sich nun einer weiteren Grundthese Bachtins über Dostoevskijs Werk zu, die zwar mit »Polyphonie« und »Dialogizität« in Verbindung steht, in der wissenschaftlichen Diskussion aber bei weitem umstrittener ist als die beiden bereits erläuterten Begriffe. Die Rede ist von der Zuordnung von Dostoevskijs Werken zur Gattungstradition des karnevalistischen Romans. Bereits 1980 kritisierte etwa René Wellek diese These heftig, da ihm die karnevalistischen Gattungsmerkmale der menippeischen Satire, die Bachtin in Dostoevskijs Werken aufzuspüren versuchte, so vage definiert erschienen, dass beinah jedes literarische Werk, das in irgendeiner Weise zum Lachen anregt, dieser Gattung zuzuordnen wäre.18 Und zwanzig Jahre später bedauert Galin Tihanov Bachtins Hinwendung zur karnevalistischen Gattungstradition im Dostoevskij-Buch von 1963, da er sich damit selbst widerspräche und Dostoevskijs originäre Position als Begründer des polyphonen Romans untergrabe.19 Man mag Bachtin durchaus eine gewisse, vage Pauschalierung bei der Darstellung der europäischen Karnevalstraditionen vorwerfen, und auch die Verbindung zwischen dieser und dem Werk Dostoevskijs weist manchmal spekulative Züge auf, letztlich sind diese Kritikpunkte aber für den im Rahmen dieser Studie dargestellten Teilaspekt der karnevalistischen Gattungstradition – der karnevalistischen Skandalszene – ohne Belang. Wie im nächsten Kapitel belegt werden soll, ist es unbestreitbar, dass in Dostoevskijs Werk auffällig häufig Szenen vorkommen, bei denen eine größere Personengruppe Zeuge skandalöser Ereignisse wird, und es steht auch außer Frage, dass derartige Skandalszenen im Idioten eine wichtige Schlüsselposition einnehmen. Zunächst muss jedoch noch Bachtins umstrittene Positionierung Dostoevskijs innerhalb der karnevalistischen Gattungstradition kurz erläutert werden. In Probleme der Poetik Dostoevskijs entwickelt Bachtin einen Gattungsbegriff weiter, der schon in seinen in den 1930er Jahren entstande18 Vgl. René Wellek: »Bakhtin’s view of Dostoevsky: ›Polyphony‹ and ›Carnivalesque‹«, in: Dostoevsky Studies. The Journal of the International Dostoevsky Society 1 (1980), S. 36ff. 19 »Not surprisingly, then in the 1963 book Dostoevsky’s position as a great innovator is seriously undermined. Dostoevsky is still credited with having made important artistic discoveries […], but his glory and uniqueness are challenged by being inscribed within the laws of a supposedly universal poetics.« (G. Tihanov: The Master and the Slave, S. 209.) 179
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nen Arbeiten über den Roman auftauchte und auch eine wesentliche Rolle in seiner bahnbrechenden Studie Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur (Tvorčestvo Fransua Rabele i narodnaja kul’tura srednevekov’ja i Renesensa)20 spielte. Bachtin geht davon aus, dass sich Dostoevskijs polyphone, dialogische Romane aufgrund ihrer besonderen Poetik nicht der Ende des 19. Jahrhunderts vorherrschenden Gattung der biographischen und sozialpsychologischen Sitten- und Familienromane zuordnen lassen und sieht sie deshalb in einer anderen, in Vergessenheit geratenen, aber bis zum Anbeginn der europäischen Literatur zurückreichenden Gattungstradition verankert: im karnevalistischen Roman. Dieser ist Teil der »karnevalisierten Literatur«, die entweder »direkt und unmittelbar oder indirekt, über eine Reihe vermittelnder Glieder, dem Einfluss der (antiken oder mittelalterlichen) karnevalistischen Folklore«21 unterliegt. Diese Karnevalstradition lebt nun im Werk Dostoevskijs wieder neu auf: »Bei Dostojewskij wird die Karnevalstradition in spezifischer Weise wiedergeboren. Sie wird neu gedeutet, sie verbindet sich mit anderen künstlerischen Momenten, sie dient den besonderen künstlerischen Absichten des Autors. Die Karnevalisierung verbindet sich bei Dostojewskij organisch mit allen anderen Eigenarten des polyphonen Romans.«22
Das gesellschaftliche Phänomen des Karnevals entstand laut Bachtin in allen europäischen Kulturen, entwickelte eine eigene Sprache, um sein ureigenes »karnevalistisches Weltempfinden« zum Ausdruck zu bringen, und setzte als »Schauspiel ohne Rampe und ohne die Trennung in Darsteller und Zuschauer«23 für einige Wochen oder sogar Monate die strenge Ordnung des gewöhnlichen, alltäglichen Lebens außer Kraft. Der Karneval stellt eine inoffizielle, fröhliche Gegenkultur zur offiziellen, ernsten Welt dar, die die Menschen für eine bestimmte Zeit von den Ängsten, Zwängen und der Etikette der hierarchischen Alltagsstrukturen befreit. Über seine eigene, symbolische aber auch konkret-sinnliche Sprache der Bilder und Gesten fand der Karneval Eingang in die Literatur und hinter-
20 Das Manuskript des Rabelais-Buchs wurde bereits 1940 vollendet und als Dissertation eingereicht. Publiziert wurde es allerdings erst 1965 im Zuge von Bachtins Rehabilitierung. Denn während der Stalinzeit war Bachtin in Ungnade gefallen, mit Publikationsverbot belegt und nach Kasachstan verbannt worden. 21 M. Bachtin: Probleme der Poetik Dostoevskijs, S. 120. 22 Michail M. Bachtin: Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur, Frankfurt/Main: Fischer 1990, S. 62. 23 M. Bachtin: Probleme der Poetik Dostoevskijs, S. 137. 180
KARNEVALISTISCHE SKANDALSZENEN (BACHTIN)
ließ dort in den karnevalisierten Gattungen seine ganz spezifischen Merkmale. Bachtin nennt in diesem Zusammenhang vier karnevalistische Kategorien, die sich noch in den Werken Dostoevskijs aufspüren lassen und somit dessen Zugehörigkeit zur karnevalistischen Romangattung untermauern. Zunächst stellt Bachtin fest, dass im Karneval jegliche Distanz aufgehoben wird, die im alltäglichen »außerkarnevalistischen« Leben zwischen den Menschen gilt. Jede standes- und herkunftsbedingte Trennung verliert im Karneval ihre Gültigkeit und zwischen den verschiedenen Gesellschaftsschichten herrscht ein »freier familiärer Kontakt«24. Im Idioten stößt man ständig auf derartige Kontakte, und Bachtin erklärt sie sich durch die besondere »karnevalisierende Funktion« der Hauptfigur Myškin: »Überall, wo Fürst Myškin erscheint, werden die hierarchischen Barrieren zwischen den Menschen plötzlich durchlässig und es entsteht ein innerer Kontakt unter ihnen, es entsteht karnevalistische Offenheit. Seine Persönlichkeit verfügt über die besondere Fähigkeit, alles zu relativieren, was die Menschen trennt und dem Leben einen falschen Ernst gibt.«25
Mit diesem freien Kontakt geht auch die zweite karnevalistische Kategorie, die Exzentrizität, Hand in Hand, denn der von seinen sozialen und historischen Hierarchien befreite Mensch zeigt nun plötzlich auf konkretsinnliche Weise seine im alltäglichen Leben tabuisierten Seiten und benimmt sich somit exzentrisch. Auch diese Kategorie hebt Bachtin im Zusammenhang mit Dostoevskijs Idioten ganz besonders hervor, denn Myškin, der als Fremder nach St. Petersburg zurückkehrt und aus »den gewöhnlichen Lebensverhältnissen« seiner Heimat völlig herausgerissen ist, charakterisiert sich dadurch, dass »er selbst und sein Verhalten ständig unangebracht«26 und somit exzentrisch wirken. Auch Bachtins dritte Kategorie, die er als karnevalistische Mesalliancen bezeichnet, ist untrennbar mit den beiden anderen verbunden: Durch den familiären Kontakt zwischen den unterschiedlichen Schichten verbünden sich »Heiliges und Profanes, Hohes und Niedriges, Großes und Nichtiges, Weises und Dummes«27. Als vierte Kategorie führt Bachtin die Profanierung an, da es den Menschen nur im Karneval erlaubt ist, ungestraft über Kirche, Staat und Obrigkeit zu lästern. Zu dieser Kategorie zählt Bachtin jede Form der karnevalistischen Degradierung und Er24 25 26 27
Ebd. Ebd., S. 197. (Kursive Hervorhebungen im Original) Ebd., S. 196. (Kursive Hervorhebungen im Original) Ebd., S. 138. 181
DOSTOJEWSKIS »DER IDIOT« IM SPIELFILM
niedrigung – wie etwa die Wahl eines Karnevalskönigs, der auch wieder abgewählt, beschimpft und erniedrigt werden kann –, sowie alle Spielarten karnevalistischer Obszönität und die karnevalistische Parodie. Neben diesen Kategorien ging auch der karnevalistische Ort, der Schauplatz des Karnevalstreibens, in die Literatur ein und spiegelt sich laut Bachtin auch in Dostoevskijs Werken wider. Der Karneval findet an öffentlichen Plätzen, auf der Straße, in Gaststätten, auf Bahnhöfen, an Schiffsdecks oder zumindest an Türschwellen statt, jedoch so gut wie niemals im abgeschlossenen Innenraum eines Hauses. Man muss Bachtin nun durchaus zustimmen, wenn er in den Werken Dostoevskijs eine deutliche Vorliebe für derartige Plätze feststellt. Man erinnere sich in diesem Zusammenhang nur an die Gespräche auf offener Straße in den Dämonen zwischen Stavrogin und Pëtr Verchovenskij,28 an das Treffen im Gasthaus in den Brüdern Karamazov zwischen Alëša und Ivan, bei dem letzterer seine berühmte Legende vom Großinquisitor erzählt,29 und natürlich an den skandalösen Auftritt Nastas’ja Filippovnas im Idioten beim Kurkonzert,30 das ja vor dem Bahnhof in Pavlovsk und somit ebenfalls auf einem öffentlichen Platz statt findet. Aber auch jene Szenen in den Werken Dostoevskijs, die sich im Inneren eines Hauses abspielen, ordnet Bachtin der karnevalistischen Tradition zu. Seine Erklärung hierfür lautet: »Den inneren Raum des Hauses, der Zimmer, der von seinen Grenzen, d.h. von der Schwelle entfernt ist, verwendet Dostoevskij so gut wie nie, die Skandal- und Erniedrigungsszenen natürlich ausgenommen, in denen der innere Raum (des Gastzimmers oder Empfangsraumes) an die Stelle des Platzes tritt.«31 Durch diese Ausdehnung des karnevalistischen Ortes auf Vorzimmer, Gastzimmer, Empfangssalons, Ballsäle und andere abgeschlossene Räume, die in der Regel auch von Gästen betreten werden, lassen sich alle Skandalszenen im Idioten einem karnevalistischen Ort zuordnen. Auf diese Szenen und ihre spezifische Verortung wird jedoch im nächsten Teilkapitel genauer eingegangen.
28 Diese Gespräche finden vor und nach den konspirativen Treffen der nihilistischen Verschwörer statt. Im zweiten Teil am Ende des sechsten Kapitels, sowie im achten Kapitel. Vgl. Fjodor M. Dostojewski: Die Dämonen, München, Zürich: Piper 1996, S. 533-538 sowie S. 575-589. 29 Vgl. die Kapitel drei, vier und fünf, im fünften Buch des zweiten Teils von Fjodor M. Dostojewski: Die Brüder Karamasoff, München, Zürich: Piper 1996, S. 369-432. 30 Vgl. das zweite Kapitel des dritten Teils in F. Dostojewskij: Der Idiot, S. 504-511. 31 M. Bachtin: Probleme der Poetik Dostoevskijs, S. 191. 182
KARNEVALISTISCHE SKANDALSZENEN (BACHTIN)
Da Bachtin außerdem davon ausgeht, dass der Stadtmensch Dostoevskij keinen direkten Kontakt mehr zu folkloristischen Karnevalstraditionen hatte,32 setzt er eine indirekte Einflussnahme über zwei Traditionslinien der karnevalisierten Literatur voraus. Die erste dieser Linien hat ihren Ursprung in den frühen, antiken Formen karnevalisierter Literatur, dem sokratischen Dialog und der menippeischen Satire, hinterlässt danach ihre Spuren in Werken des Spätmittelalters und der beginnenden Renaissance, wie dem anonym veröffentlichten Till Eulenspiegel (der vollständige Titel der ältesten, erhaltenen Fassung aus dem Jahr 1510/11 lautet: Ein kurtzweilig Lesen von Dyl Ulenspiegel, geboren uß dem Land zu Brunßwick, wie er sein leben volbracht hat) oder François Rabelais’ Romanzyklus Gargantua et Pantagruel (die fünf Bände erschienen 1532, 1534, 1545, 1552 und 1564), und findet schließlich über Cervantes’ Don Quijote ihren Weg zu Dostoevskij. Die zweite Traditionslinie ist eine rein russische und verbindet Dostoevskij über seine Vorgänger Aleksandr Puškin und Nikolaj Gogol’ mit der russischen Karnevalsfolklore. Als Beispiele für eine derartige Verknüpfung nennt Bachtin u.a. Puškins Pique Dame (Pikovaja dama 1833), deren karnevalistische Gestalt »der lachenden toten Alten«33 er in Dostoevskijs Verbrechen und Strafe (Prestuplenie i nakazanie 1866) wieder erkennt, und Gogol’s Erzählung, wie sich Ivan Ivanovič und Ivan Nikiforovič zankten (Povest’ o tom, kak possorilsja Ivan Ivanovič s Ivanom Nikiforovičem 1831), deren »ambivalenter Ton«34 Dostoevskij als Vorbild für seinen Kurzroman Onkelchens Traum (Djadjuškin son 1859) gedient habe. Besonders wichtig erachtet Bachtin den Einfluss der menippeischen Satire oder Menippea auf Dostoevskijs Werk, wobei er jedoch betont, dass Dostoevskij sich diese Gattung nicht direkt und bewusst zum Vorbild nahm, sondern sich unbewusst »der Kette der Gattungstradition
32 Dabei lässt Bachtin jedoch eine wichtige Station in Dostoevskijs Leben außer Acht. Während der vier Jahre im Straflager von Omsk lernte Dostoevskij über Theateraufführungen der Sträflinge folkloristische Stücke kennen, die eindeutig karnevalistische Züge trugen. Über diese Theateraufführungen berichtet er ausführlich in den Aufzeichnungen aus einem Totenhaus. (Vgl. Fjodor M. Dostojewski: Aufzeichnungen aus einem Totenhaus und drei Erzählungen, München, Zürich: Piper 1996, S. 218-246; sowie Dunja Brötz: Prosa der Unfreiheit. Dostoevskijs »Aufzeichnungen aus einem Totenhaus« und Kafkas »Die Verwandlung« und »In der Strafkolonie« – ein typologischer Vergleich, Innsbruck: unveröffentl. Diplomarbeit 2001.) 33 M. Bachtin: Probleme der Poetik Dostoevskijs, S. 190. 34 Ebd., Fußnote 24, S. 314. 183
DOSTOJEWSKIS »DER IDIOT« IM SPIELFILM
dort« anschloss, »wo sie seine Zeit durchlief«35. Ganz allgemein wird als Satire eine Spott- und Schmähschrift bezeichnet, die gesellschaftliche und moralische Missstände anprangert.36 Der Begriff leitet sich von der lateinischen Bezeichnung für eine mit verschiedenen Früchten bestückte Schale (satura lanx) ab und wurde ursprünglich für eine literarische Mischgattung, eine Art buntes Allerlei, verwendet. Auch die Menippea, als älteste Teilgattung der Satire, zeichnet sich v.a. durch ihre freie Form aus, in der ernste und komische Inhalte, sowie Witz und Parodie miteinander verwoben werden. Benannt wurde sie nach Menippos von Gadara (3. Jh. v. Chr.), auf den sich laut Bachtin erstmals Marcus Terentius Varro (1. Jh. v. Chr.) berief indem er seine eigenen Satiren als »saturae menippeae«37 bezeichnete. Zu den bekanntesten menippeischen Satiren zählen die Apocolocyntosis (was soviel heißt wie »Verkürbissung« und mit Veräppelung übersetzt werden kann) von Lucius Annaeus Seneca (ca. 4 v. Chr. – 65 n. Chr.), eine Spottschrift auf Kaiser Claudius, und die Totengespräche des syrischen Schriftstellers Lukian von Samosata (2. Jh. n. Chr.). Bachtin sieht auch im Satiricon des Titus Petronius (ca. 14 n. Chr. – 66 n. Chr.) »nichts anderes als eine bis zur Romanform angewachsene menippeische Satire«38. Als die neun grundlegendsten Merkmale der Menippea bezeichnet Bachtin: die zentrale Bedeutung des Lachens, die freie Erfindung des Sujets mit fantastischen und abenteuerlichen Elementen, die Erschaffung von Ausnahmesituationen, die Darstellung eines derben Naturalismus auf öffentlichen Plätzen, die »vertikale« Verortung der Handlung zwischen Himmel, Erde und Hölle, die Thematisierung von Wahnsinn, Träumen und Visionen, das Einbeziehen anderer Gattungen wie Briefe, Reden und Novellen, eine journalistische Aktualitätsbezogenheit, sowie die Darstellung von Skandalszenen mit unpassenden, exzentrischen Reden und Auftritten. Die einzelnen Komponenten dieses umfangreichen Merkmalkatalogs spürt Bachtin nun samt und sonders in Dostoevskijs Werk auf. Und dies führt ihn schließlich zum folgenden, nicht gerade überraschenden Fazit: »Im Grunde genommen finden wir alle Besonderheiten der Menippee […] auch bei Dostoevskij. Und tatsächlich ist es die Welt ein und dersel-
35 Ebd., S. 135f. 36 Vgl. zur Definition der Begriffe Satire und menippeische Satire: M. Bachtin: Probleme der Poetik Dostoevskijs, S. 126ff. sowie den entsprechenden Eintrag auf »Wikipedia. Die freie Enzyklopädie«: http://de.wikipedia.org/ wiki/Satire#Menippeische_Satire vom 12. Juli 2008. 37 M. Bachtin: Probleme der Poetik Dostoevskijs, S. 126. 38 Ebd. 184
KARNEVALISTISCHE SKANDALSZENEN (BACHTIN)
ben Gattung […].«39 Eine kritische Auseinandersetzung mit dieser Folgerung ist, wie bereits erwähnt, nicht Aufgabe dieser Arbeit. Hier soll es nicht darum gehen, ob Dostoevskij in die karnevalistische Gattungstradition eingeordnet werden kann, sondern darum, die Schlüsselpositionen jener von Bachtin dem karnevalistischen Merkmalkatalog zugeordneten Skandalszenen im Roman Der Idiot und in den drei Filmen nachzuweisen.
6 . 3 K ar n e v a l i s t i s c h e S k a n d al sz e n e n i n Der Idiot Aus den bisherigen Ausführungen lässt sich nun folgende Definition von karnevalistischen Skandalszenen im Sinne Bachtins ableiten: Eine größere, aus den verschiedensten sozialen Schichten bunt zusammen gewürfelte Gruppe von Menschen (meist um die 20 Personen) wird auf einem öffentlichen Platz unmittelbar mit exzentrischen, ja närrischen Reden und/ oder Verhaltensweisen einer oder mehrerer Protagonisten konfrontiert, die schließlich in einem handfesten Eklat münden. Wie bereits festgestellt wurde, dehnt Bachtin den öffentlichen, karnevalistischen Platz auch auf jene Innenräume eines Hauses aus, in denen für gewöhnlich Fremde und Gäste empfangen werden, sodass sich im Falle von Dostoevskijs Idiot beispielsweise auch Ereignisse wie Nastas’ja Filippovnas Geburtstagsfest, der Erbschaftsstreit mit den Nihilisten auf Lebedevs Datscha oder der Empfang für die Gönner der Epančins in deren Landhaus als karnevalistische Skandalszenen bezeichnen lassen. Im Idioten erfüllen diese Skandalszenen nun eine ganz spezifische Funktion, denn jede von ihnen zerstört den Eindruck, der bis dahin von einem oder mehreren Protagonisten vorherrschte, überrascht durch ein Verhalten, das man den einzelnen Figuren vorher nicht zugetraut hätte, und lenkt dadurch die Handlung in eine neue, unerwartete Richtung. Man könnte diese Szenen somit als kritische Wendeereignisse in der Handlung bezeichnen oder, in Anlehnung an Roland Barthes, als neuralgische Makrosequenzen. Jeder der vier Teile des Romans Der Idiot beinhaltet eine oder mehrere karnevalistische Skandalszenen, die sich meist schon in den vorhergehenden Kapiteln durch das allmähliche Anwachsen der anwesenden Personengruppen ankündigen. Im ersten Teil lassen sich die Ohrfeigenszene im Hause der Ivolgins im neunten und zehnten Kapitel und die Ereignisse auf Nastas’ja Filippovnas Geburtstagsfest, die sich vom dreizehnten bis zum sechzehnten Kapitel und damit bis zum Ende des ersten
39 Ebd., S. 135. 185
DOSTOJEWSKIS »DER IDIOT« IM SPIELFILM
Teils erstrecken, dieser karnevalistischen Kategorie zuordnen. Da Bachtin diese beiden Szenen zu den wichtigsten Skandalszenen im ganzen Roman zählte und sie auch beide von Akira Kurosawa direkt in seinen Film Hakuchi transferiert wurden, sollen sie nun eingehender analysiert werden. Die Ohrfeigenszene in der Wohnung der Ivolgins ist laut Bachtin durch eine krasse »innere und äußere Karnevalisierung gekennzeichnet« und »entwickelt sich von Anfang an in der Atmosphäre des Skandals, der die Seelen fast aller Beteiligten entblößt«40. Vorbereitet wird sie schon am Ende des achten Kapitels durch den unerwarteten Besuch Nastas’ja Filippovnas bei den Ivolgins, zu dessen Beginn es zu einer karnevalistischen Verwechslungsszene an der Eingangstür, also an der Schwelle, kommt, als Nastas’ja den ihr die Tür öffnenden Fürsten für den Hausdiener hält und ihn beschimpft. Während des folgenden, von Bachtin als »Mystifikationsszene«41 bezeichneten Besuchs spielt Nastas’ja Filippovna die arrogante Mätresse und beleidigt die Familie des um sie werbenden Ganjas gezielt. Besonders leicht wird ihr dies vom karnevalistischen Familienoberhaupt, dem stets betrunkenen, alten General Ivolgin gemacht, dessen »Karnevalsgeschichte« über das Bologneserhündchen der Fürstin Belokonskaja sie gnadenlos als Lüge enttarnt. Nach dem lautstarken Eindringen Rogožins und seines betrunkenen Gefolges in die Wohnung der Ivolgins eskaliert das karnevalistische Treiben endgültig: Rogožin benimmt sich unangemessen exzentrisch, indem er zuerst Ganja Geld anbietet, dann Nastas’ja Filippovna geradezu ersteigern will und ihr schließlich schwört, ihr am Abend hunderttausend Rubel zu überreichen. Als Ganjas Schwester Varvara daraufhin Nastas’ja Filippovna beschimpft, kommt es zu einer handgreiflichen Auseinandersetzung zwischen den Geschwistern, in die der Fürst zu Varvaras Schutz eingreift und wofür er vom wütenden Ganja eine Ohrfeige erhält. Schließlich endet diese erste Skandalszene, indem sich Nastas’ja bei Ganjas Mutter für ihr Verhalten entschuldigt und sich dadurch die Karnevalsmaske der verkommenen Mätresse selbst vom Gesicht reißt. Warum diese Szene nun eine kritische Schlüsselposition in der Romanhandlung einnimmt und man sie deshalb als neuralgische Makrosequenz bezeichnen kann liegt auf der Hand: jede der in ihr auftauchenden Hauptpersonen zeigt plötzlich eine neue, ungeahnte Facette ihres Charakters, zerstört damit das bisher von ihr vorherrschende Bild und eröffnet der Handlung neue Entwicklungsmöglichkeiten. Ganja zum Beispiel, der bis dahin ein kühles, berechnendes Wesen an den Tag legte und nur wäh-
40 Ebd., S. 198. 41 Ebd. 186
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rend des Heimweges von den Epančins als er mit Myškin allein war ein paar wütende Worte an den Fürsten richtete, zeigt durch seinen gewalttätigen Ausbruch, dass er wild entschlossen ist, das von Tockij für die Heirat mit Nastas’ja Filippovna versprochene Geld zu erhalten. Rogožin, der zwar schon bei seinem ersten Auftritt im Roman im Zugsabteil begeistert von Nastas’ja Filippovna gesprochen hat, lässt das wahre Ausmaß seiner Besessenheit erst erkennen, als er ihr bei den Ivolgins gegenübersteht und so blass wird, »dass sich seine Lippen sogar blau färbten«42. Nastas’ja Filippovna, die bereits im vierten Kapitel als exzentrisch, undurchsichtig, ja sogar verrückt beschrieben wird, scheint dieser Darstellung zwar bei ihrem ersten persönlichen Auftritt voll zu entsprechen, indem sie sich aber bei Ganjas Mutter entschuldigt und ihr die Hand küsst, entlarvt sie ihr bisheriges Verhalten als unechtes, aufgesetztes Schauspiel. Und Myškin, der bis dahin zwar durch seine Worte erstaunte, aber trotzdem von allen als lammfrommer Sonderling belächelt wurde, demonstriert durch sein beherztes Vorgehen gegen Ganja das erste Mal, dass er ohne Rücksicht auf die eigene Person zu mutigen Handlungen fähig ist. Auch bei der zweiten Skandalszene im ersten Teil, der Geburtstagsfeier in Nastas’ja Filippovnas Salon, findet sich eine aus allen Gesellschaftsschichten zusammen gewürfelte Personenschar ein. Die Gastgeberin hat in karnevalistischer Exzentrizität so unterschiedliche Gäste wie den hoch angesehenen General Ivolgin und den zwielichtigen Schnorrer Ferdyščenko eingeladen, was zwangsläufig zu einer ganzen Reihe skurriler Mesalliancen führt. Die karnevalistischen Ereignisse beginnen mit dem Erscheinen des uneingeladenen Fürsten Myškin, werden dann durch ein eigenwilliges von Ferdyščenko vorgeschlagenes »petit jeu« vorbereitet, das plötzlich von Nastas’ja Filippovna unterbrochen wird, indem sie den Fürst fragt, ob sie Ganja heiraten soll, und finden ihren ersten skandalösen Höhepunkt in der Verneinung der Frage und der wütenden Rede Nastas’jas an Tockij. Der Skandal eskaliert endgültig, als erneut Rogožin mit seinen Kumpanen eintrifft und Nastas’ja die versprochenen hunderttausend Rubel überreicht. In einer furiosen Rede entlarvt Nastas’ja daraufhin die zynischen Absichten aller anwesenden Männer und wird schließlich – wie auch alle anderen Gäste – vom ernst gemeinten Heiratsantrag des Fürsten überrascht, der sich auch noch plötzlich in höchst karnevalistischer Manier als reicher Erbe entpuppt. Als endgültigen Paukenschlag lehnt Nastas’ja den ehrbaren Antrag des Fürsten ab, da sie »ein solches Kind« nicht »zugrunde richten«43 will, demütigt den geldgierigen Ganja, indem sie ihn auffordert die hunderttausend Rubel, die
42 F. Dostojewskij: Der Idiot, S. 164. 43 Ebd., S. 246. 187
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sie in den brennenden Kamin geworfen hat, mit den bloßen Händen herauszuholen, und verlässt schließlich mit Rogožin und seinem Gefolge das Haus. Diese Skandalszene wird vor allem durch das überraschende Verhalten Nastas’jas und des Fürsten zur neuralgischen Makrosequenz. Besonders Nastas’jas unerwartete Entscheidungen, die Widerrufung derselbigen und ihre zwischen wütenden Angriffen und masochistischen Selbstvorwürfen pendelnden Reden führen immer wieder zu neuen Wendungen in der Handlung, mit denen vorher nicht zu rechnen war. Ähnlich, wenn auch etwas ruhiger und besonnener, wirkt das überraschende Verhalten des Fürsten. Myškins unerwarteter Heiratsantrag, seine Liebeserklärung an Nastas’ja, während der er plötzlich den Brief aus der Tasche zieht, der ihn als reichen Erben ausweist, und seine Verfolgung der mit Rogožin fliehenden Nastas’ja verblüffen so sehr, dass es dem Leser unmöglich gemacht wird, die Geschehnisse vorauszuahnen. Während dieser gesamten Skandalszene ist die Logik des Alltags außer Kraft gesetzt und es herrscht ein karnevalistisches Chaos. Wie bereits erwähnt, lassen sich in allen Teilen des Romans Ereignisse finden, die man als karnevalistische Skandalszenen im Sinne Bachtins deuten kann. Da sich auch jene im zweiten und dritten Teil auf eine besondere Weise in Kurosawas Hakuchi widerspiegeln, wenn auch nicht so augenscheinlich wie die des ersten Teils, sollen in der Folge auch die restlichen, im Roman auftauchenden Skandalszenen kurz skizziert werden. Der zweite Teil des Romans wird von einer großen, zentralen Skandalszene dominiert, die gleich eine ganze Reihe peinlicher Vorfälle umfasst, wie etwa Aglajas beleidigenden Vergleich zwischen Myškin und dem Armen Ritter von Puškin, den frechen Auftritt der Nihilisten um Burdovskij, das laute Vorlesen des Schmähartikels über den Fürsten, die Entlarvung des falschen Sohns Pavliščevs durch Ganja Ivolgin und schließlich den Zusammenbruch des TBC kranken Ippolits. Diese Skandalszene beginnt im sechsten Kapitel des zweiten Teils mit dem Krankenbesuch der Familie Epančin bei Myškin auf der Veranda von Lebedevs Datscha – einem von mehreren Seiten einsehbaren und deshalb öffentlichen Platz – und endet im zehnten Kapitel damit, dass Nastas’ja Filippovna den um Aglaja werbenden Evgenij Pavlovič Radomskij auf offener Straße vor der gesamten Familie Epančin brüskiert. Den dritten Teil beherrschen, ähnlich wie den ersten, zwei Skandalszenen, von denen die erste und kürzere am Ende des zweiten Kapitels stattfindet, als Nastas’ja Filippovna Radomskij beim Kurkonzert vor dem Bahnhof in Pavlovsk erneut anspricht und ihm vor der versammelten guten Gesellschaft vom Selbstmord seines bankrotten und der Unterschla-
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gung verdächtigen Onkels berichtet. Den Höhepunkt dieser Skandalszene bildet der Peitschenangriff Nastas’jas auf einen Freund Radomskijs, der sie beleidigt, und das darauf folgende Eingreifen Myškins, der den zornigen, geschlagenen Offizier davon abhalten will, sich auf Nastas’ja zu stürzen. Wie in der Ohrfeigenszene im ersten Teil, in der Myškin Ganja davon abhalten will Varvara zu schlagen, greift er also auch in dieser Szene zum Schutz einer Frau ins Geschehen ein und wird dafür prompt in aller Öffentlichkeit gedemütigt. Die zweite karnevalistische Skandalszene im dritten Teil beginnt im vierten Kapitel mit Myškins Geburtstagsfest, zu dem sich ganz unerwartet eine bunte Schar von Gratulanten auf Lebedevs Veranda eingefunden hat. Sie wird von Ippolits Notwendiger Erklärung dominiert, die dieser den Gästen laut vorliest, und gipfelt schließlich im siebten Kapitel in Ippolits missglücktem Selbstmordversuch. Auch im vierten und letzten Teil kommen zwei wichtige Skandalszenen vor, von denen die erste und längere jenen Empfang auf der Datscha der Epančins schildert, bei dem den adligen Gönnern der Familie der Fürst als möglicher Verlobter Aglajas vorgeführt werden soll. Dieser Empfang stellt eine karnevalistische Skandalszene par excellence dar, die im halboffiziellen Salon des Sommerhauses eine heterogene, aus Hochadel, Militär, Beamtenschaft und Kunst zusammen gewürfelte Gesellschaft versammelt. Sie beginnt mit dem unsicheren Auftritt des Fürsten beim Empfang am Ende des sechsten Kapitels, setzt sich danach mit seiner exzentrischen, deplazierten Rede über die rettende Kraft der orthodoxen Kirche fort, findet einen ersten peinlich-karnevalistischen Höhepunkt als der Fürst die kostbare, chinesische Vase der Generalin Epančina zerbricht und gipfelt schließlich nach Myškins exzentrischem Appell an die versammelten Adligen Russland zu retten in seinem epileptischen Anfall am Ende des siebten Kapitels. Die letzte Skandalszene im Idioten gibt die Ereignisse um Myškins und Nastas’ja Filippovnas missglückte Hochzeit wieder und umfasst nur einige wenige Seiten am Ende des zehnten Kapitels des vierten Teils. Auf drei verschiedenen öffentlichen Plätzen (in der Kirche, vor der Datscha Lebedevs und vor dem Haus, in dem Nastas’ja Filippovna wohnt) versammeln sich große Gruppen von Schaulustigen, die mit ansehen wie die in Panik geratene Braut statt in die Kirche zu fahren mit Rogožin zum Bahnhof flieht und wie der sitzen gelassene Bräutigam trotzdem für die Hochzeitsgäste und einige der zudringlichen Schaulustigen einen Empfang gibt. Für die Analyse der Filme Hakuchi, Návrat idiota und The Million Dollar Hotel gilt es nun eine Reihe von Fragen zu überprüfen: Zunächst muss ganz allgemein geklärt werden, ob es auch in den drei Filmen Er-
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eignisse gibt, die man als karnevalistische Skandalszenen im Sinne Bachtins bezeichnen kann. Danach stellt sich die Frage, ob diese – falls es sie gibt – ähnliche Schlüsselpositionen in der Handlung einnehmen wie die Skandalszenen im Roman. Für Hakuchi muss außerdem gesondert überprüft werden, ob Skandalszenen aus dem Roman transferiert bzw. adaptiert wurden und ob sich – falls dies zutrifft – dabei deren Funktion innerhalb der Handlung maßgeblich verändert hat. Und schließlich muss auch untersucht werden mit welchen filmischen Mitteln karnevalistische Skandalszenen im Sinne Bachtins visualisiert werden.
6 . 4 K ar n e v a l i s t i s c h e S k a n d al sz e n e n i n Hakuchi »Wissen Sie, Afanassij Iwanowitsch, etwas in dieser Art soll es bei den Japanern geben […]. Der Beleidigte soll dort den Beleidiger aufsuchen und zu ihm sagen: ›Du hast mich beleidigt, und ich komme jetzt, um mir dafür vor deinen Augen den Bauch aufzuschlitzen.‹« (Pticyn über Nastas’ja in Der Idiot)44
Es ist absolut ausgeschlossen, dass Akira Kurosawa als er 1951 Hakuchi drehte, die Thesen Bachtins über Dostoevskijs Zugehörigkeit zur karnevalistischen Gattungstradition bekannt waren, denn diese wurden erst 1963 in Probleme der Poetik Dostoevskijs publiziert. Auch das erste, 1929 erschienene Dostoevskij-Buch Bachtins Probleme des Schaffens Dostoevskijs konnte Kurosawa unmöglich gekannt haben, denn es fand nur in einem kleinen wissenschaftlichen Kreis innerhalb Russlands Verbreitung und wurde auch nur auf Russisch veröffentlich. Erst mit den Übersetzungen der Version von 1963 wurden auch Teile des früheren Buches einem nicht russischsprachigen Publikum zugänglich gemacht. Kurosawa beherrschte aber weder Russisch noch irgendeine andere Fremdsprache. Umso erstaunlicher ist es deshalb, dass er in seine Dostoevskij-Verfilmung Hakuchi eine neue, nicht aus dem Roman transferierte Szene einbaute, die nicht nur als Skandalszene im Sinne Bachtins aufgefasst werden kann, sondern sogar während eines echten Karnevalsfests stattfindet. Direkt transferierte er dagegen die beiden Skandalszenen aus dem ersten Teil des Romans, doch dabei reduzierte er die verbale Kommunikation zugunsten einer auf die ausdrucksstarken Gesichter seiner 44 Pticyn richtet diese Worte am Ende des ersten Teils nach dem Skandal auf Nastas’jas Geburtstagsfest an Tockij. (F. Dostojewskij: Der Idiot, S. 255.) 190
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Schauspieler konzentrierten Bildsprache. Auch nimmt Kurosawa kleine, aber gezielte Veränderungen an der Handlung vor, die die Funktion dieser Szenen erheblich beeinflussen. Erstaunlich ist außerdem, dass Kurosawa die Anfangsszene, in der das erste Kapitel des Dostoevskij-Romans adaptiert wird, so abändert, dass man sie beinah als Skandalszene im Sinne Bachtins interpretieren könnte. In dieser Eröffnungsszene findet man, bis auf die Profanierung, alle von Bachtin genannten karnevalistischen Kategorien wieder, und die Szene spielt sich sogar an einem wahrhaft karnevalistischen Ort ab. Auf die ersten beiden Bilder, die einen Fährdampfer im Schneegestöber und ein Bullauge zeigen, vor dem einige Stiefelpaare aufgestellt sind, folgen zwei Schwenks über ein Schiffsdeck, auf dessen Boden sich eine bunt zusammen gewürfelte Gruppe von Reisenden zum Schlafen hingelegt hat. Neben dem karnevalistischen, öffentlichen Ort des Schiffsdecks, auf das Bachtin explizit hinweist, stößt man in diesen wenigen Bildern auch auf das karnevalistische Merkmal des freien, familiären Kontakts, denn Kleidung und Gepäck der auf dem Deck dicht gedrängt liegenden Reisenden bezeugen deren Zugehörigkeit zu verschiedenen Gesellschaftsschichten. So liegen beispielsweise Herrn in schönen Wintermänteln mit Lederkoffern neben Familien mit Proviantkörben und alte Frauen in traditionellen Kimonos neben schäbig gekleideten Männern, vor denen offene Sakeflaschen stehen. Nachdem plötzlich ein markerschütternder Schrei die Reisenden aus dem Schlaf hochfahren lässt, zeigt das nächste Bild die Hauptfigur Kameda, der gerade schweißgebadet aus einem Traum erwacht, welcher ja laut Bachtin wiederum ein charakteristisches Merkmal karnevalisierter Literatur darstellt. Sofort entschuldigt sich Kameda bei seinem ihm völlig unbekannten Nachbarn, der sich später als Akama entpuppt, und erzählt ihm – ohne sich vorzustellen – von seinem schrecklichen Traum, seiner Verurteilung zum Tode und seiner Geisteskrankheit. Am Ende der Szene gesteht Kameda freimütig: »I had fits. Then I became an Idiot.« Akama verblüfft dieses Geständnis so sehr, dass er das brennende Streichholz in seiner Hand vergisst, mit dem er sich gerade eine Zigarre anzünden will, und sich prompt die Finger verbrennt. Ebenso wie Myškin erstaunt also auch Kameda durch seine »karnevalistische Offenheit«, und wenn Bachtin über das erste Treffen zwischen dem Fürsten und Rogožin feststellt, dass die »erstaunliche Bereitschaft Myškins, von sich selbst zu erzählen […] eine entsprechende Offenheit auch bei dem misstrauischen und verschlossenen Rogožin«45 hervorruft, so trifft dies auch auf Kurosawas Kameda und Akama zu. Die Offenheit Kamedas birgt –
45 M. Bachtin: Probleme der Poetik Dostoevskijs, S. 197. 191
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ebenso wie die Myškins – eine gewisse Exzentrizität in sich, denn in der von höflicher Zurückhaltung geprägten japanischen Gesellschaft wirken Kamedas direkte Bekenntnisse besonders unangebracht und viel zu vertraulich. Akama, den seine Unbeherrschtheit selbst zu exzentrischen Ausbrüchen verleitet, spricht Kamedas Offenheit aber sehr an, und so kommt es zwischen dem mittellosen, seelisch zerrütteten Kriegsheimkehrer und dem reichen Kaufmannssohn zu einer ersten karnevalistischen Mesalliance. Von Dostoevskijs Anfangskapitel unterscheidet sich Kurosawas Eröffnungsszene somit in einigen wesentlichen Punkten, die – und damit bahnt sich eine erstaunliche Entwicklung an – den Filmbeginn näher an Bachtins Karnevalsthese heranrücken als den Anfang des literarischen Hypotexts. Kurosawa verlegt das erste Treffen der beiden männlichen Hauptfiguren vom Zugsabteil dritter Klasse in den völlig offenen Raum des Schiffsdecks, wo die Reisenden sich nicht nur permanent sehen, sondern sogar Körper an Körper liegen müssen und der freie familiäre Kontakt noch mehr begünstigt wird. Auch das Gespräch zwischen Kameda und Akama ist viel direkter und intimer und somit auch exzentrischer als jenes zwischen Myškin und Rogožin, denn Kameda berichtet seinem Gegenüber nicht nur bereitwillig über seine Krankheit, sondern schildert ihm auch das traumatische Erlebnis der Hinrichtung. Und schließlich führen Kamedas Albtraum und sein entsetzlicher Schrei zu einem die allgemeine Aufmerksamkeit erregenden Vorfall, der im Hypotext nicht vorkommt, weshalb der erste Auftritt der Hauptfigur im Film weit ungewöhnlicher und überraschender wirkt als jener des Fürsten im Roman. Für eine Skandalszene im Sinne Bachtins fehlt dieser Eröffnungsszene aber das Hauptmerkmal des durch exzentrische Reden und Handlungen angekündigten Eklats, denn der Aufschrei Kamedas ist diesem zwar peinlich, hat aber im Grunde nichts Skandalöses an sich. Kameratechnisch wird dieses erste Gespräch zwischen den beiden männlichen Hauptfiguren vor allem in Nahaufnahme wiedergegeben und mit einer Schuss-Gegenschuss-Aufnahme abgeschlossen, bei der zuerst das erstaunte Gesicht Akamas in Großaufnahme gezeigt wird, dann das schweißnasse Gesicht Kamedas, während er von seiner Krankheit berichtet, und schließlich noch einmal jenes des verblüfft »baka« (= Japanisch für Idiot) murmelnden Akama. In der ersten der beiden direkt aus dem Film transferierten Skandalszenen reduziert Kurosawa das gesprochene Wort zugunsten nonverbaler Gefühlsäußerungen. Nach Taekos unerwartetem Auftauchen im Hause der Kayamas dominieren deshalb Großaufnahmen der angespannten Gesichter aller anwesenden Personen die Szene. Kayama wirkt entsetzlich nervös, Taekos Blick verrät düstere Entschlossenheit und wird später
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durch ein spöttisches Lächeln ergänzt, Kayamas Mutter blickt verschreckt, seine Schwester presst wütend die Lippen aufeinander, der plötzlich betrunken ins Zimmer wankende alte Kayama fällt lallend auf einen Sessel, während der kleine Kaoru mit verzweifeltem Gesicht versucht den Alten zu stützen. Nachdem man einander vorgestellt wurde und Kameda überraschend bemerkt, er habe Taekos Augen schon einmal gesehen, verharrt die ganze Gesellschaft in peinlichem Schweigen. Die beleidigenden Worte, mit denen Nastas’ja Filippovna im Roman die Ivolgins demütigt, die plumpen Witze Ferdyščenkos und die Lügengeschichte des alten Generals über das Bologneserhündchen fehlen im Film gänzlich, und so wirkt auch die Szene im Hause der Kayamas weit düsterer, angespannter und weniger karnevalistisch als das ihr zugrunde liegende Romankapitel. Auch nachdem Akama mit seinem Anhang bei den Kayamas eingedrungen ist, wird die Gesellschaft kaum lebhafter. Im Gegensatz zum Hypotext, in dem Rogožin und seine Saufkumpane mit lautem Trara bei den Ivolgins einfallen, ist von Akamas Gefolge im Film nur ein leises Murmeln zu hören, als es ins Wohnzimmer der Kayamas eintritt, und während der folgenden Szene, in der der wutschnaubende Akama seinen Nebenbuhler eine Million Yen für Taeko anbietet, verstummen seine Gefolgsleute sogar vollkommen. Kurosawa lässt in seiner Version dieser Szene Akama mit Kayama über Taekos Kopf hinweg verhandeln, während im Roman Rogožin Nastas’ja selbst die hunderttausend Rubel anbietet. Für Taeko ist diese Situation, in der sie wie ein Stück Vieh verschachert wird, natürlich noch demütigender als das direkte Kaufangebot für Nastas’ja im Roman. Und dieser unterschiedliche Grad der Demütigung drückt sich auch in den Reaktionen der beiden Heldinnen aus. Während es über die Romanfigur heißt, dass sie Rogožin anstachelt und auslacht, kann die Filmheldin ihre Tränen zunächst nur mit Mühe hinter ihrer versteinerten Maske verstecken, und sie bricht schließlich in ein lautes, hysterisches Lachen aus (Abb. 21).
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Abbildung 21: Akama bietet Kayama eine Million Yen für Taeko
Quelle: Akira Kurosawa: Hakuchi – The Idiot, Japan: Shochiku Co. Ltd. 1951, Hongkong: Panorama Entertainment Co. Ltd. 2003. Auch das Ende dieser Skandalszene unterscheidet sich durch kleine, aber wichtige Details vom literarischen Hypotext. Während sich die erste Reaktion aller Anwesenden auf die Ohrfeige im Roman verbal äußert, indem sich »Stimmen erhoben […] von allen Seiten«46, herrscht im Film zunächst entsetztes Schweigen und die erstarrten Gesichter aller Hauptfiguren werden sekundenlang in Großaufnahme gezeigt. Dabei rinnt der Myškin-Figur Kameda eine Träne über die Wange, und nach dem ersten Schock beginnen auch der kleine Kaoru und seine Mutter zu weinen. In der Romanvorlage macht zwar jeder seiner Empörung mit Worten Luft, geweint wird an dieser Stelle jedoch nicht. Und auch als Taeko sich bei Kayamas Mutter entschuldigt, kämpft sie mit den Tränen, während es über Nastas’ja Filippovna an dieser Stelle nur heißt, dass sie erregt war und »über und über errötend«47 die Wohnung verließ. In Hakuchi stehen somit vor allem die ernsten und traurigen Komponenten dieser ersten Skandalszene im Vordergrund, und die von Bachtin als »reduziertes Lachen«48 bezeichnete, erheiternde Komponente der Romanszene wird nicht nur zurückgedrängt, sondern sogar vollkommen ausgespart. Der Vergleich zwischen der ersten karnevalistischen Skandalszene im Roman und der transferierten Version im Film ergibt somit ein interessantes Pa-
46 F. Dostojewskij: Der Idiot, S. 170. 47 Ebd., S. 171. 48 M. Bachtin: Probleme der Poetik Dostoevskijs, S.313, Fußnote 4. 194
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radoxon: Obwohl Akira Kurosawa die wichtigsten Grundzüge der ersten karnevalistischen Skandalszene im Idioten (wie Nastas’jas unerwarteten Besuch bei den Ivolgins, Rogožins Auftauchen mit seinen Kumpanen, den Streit zwischen Ganja und Varvara und schließlich die Ohrfeige) transferierte und nur einige wenige Kürzungen und Änderungen vorgenommen wurden, ging das spezifisch Karnevalistische dieser Szene im Film verloren. Nur ihre ernsten, tragischen und bedrückenden Funktionen blieben erhalten, die karnevalistischen Lachelemente, die im Roman vor allem von Ferdyščenko, dem alten General und der linkischen Ausdrucksweise Rogožins getragen werden, fehlen im Film gänzlich. Ganz ähnlich verhält es sich auch mit der zweiten direkt aus dem Roman transferierten Szene, in der das Geburtstagsfest Nastas’jas und die damit verbundenen skandalösen Ereignisse dargestellt werden. Wieder reduziert Kurosawa die karnevalistischen Lachelemente der Handlung, indem er beispielsweise Ferdyščenkos Narreteien und das skurrile »petit jeu« streicht und seine Myškin-Figur nicht uneingeladen auf dem Geburtstagsfest erscheinen lässt. Denn Kameda wurde von Taeko noch im Hause der Kayamas ganz offiziell eingeladen, und somit ist seine Anwesenheit auf dem Fest logisch motiviert. Bei Kamedas Erscheinen zieht Kurosawa aber eine karnevalistische Begebenheit aus einer späteren Skandalszene des Romans vor und wertet diese in einen ernsten, geradezu bedrohlich wirkenden Vorfall um: Bevor Kameda im Bild erscheint, kündigt ihn auf dem Fest ein lautes Klirren an, und kurz darauf ist er in seinen schäbigen Militärkleidern neben einem Haufen von Scherben zu sehen. Er hat eine der beiden kostbaren japanischen Vasen in Taekos Vorzimmer zerbrochen und zieht dadurch Tohatas wütende Vorwürfe auf sich. Taeko unterbricht den schimpfenden Tohata, weist ihn scharf daraufhin, dass er die Vasen ihr geschenkt habe, und stößt mit den bedrohlich geflüsterten Worten »I’d intended to break them anyway« den Schemel mit der zweiten Vase um, sodass auch diese am Boden zerbricht. Im Gegensatz zum Hypotext, in dem die von Myškin bei der Abendgesellschaft der Epančins zerbrochene Vase und seine entsetzte Reaktion auf dieses Missgeschick allgemeine Heiterkeit auslösen, verstummen auf Taekos Geburtstagsfest alle Gäste nach diesem Vorfall und Tohata sieht Taeko, die absichtlich die zweite Vase zerbricht, mit schreckgeweiteten Augen an. Erneut wurde also mit dem Zerschlagen der Vase durch die Hauptfigur ein Ereignis aus dem Roman ohne seine karnevalistischen Lachelemente transferiert und erhielt dadurch eine ganz andere Bedeutung. Während die zerbrochene Vase und das darauf folgende Lachen aller Anwesenden die Lage im Roman für kurze Zeit entspannen und dazu führen, dass der Fürst wieder neues Vertrauen fasst, zielt die Filmszene auf eine Verschärfung der ohnehin schon angespannten Situation ab, und
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Taekos unerwartete, absichtliche Tat erhöht außerdem die Spannung und die düstere Vorahnung des Zusehers. Nach Kamedas Erscheinen auf dem Geburtstagsfest werden die karnevalistischen Lachelemente im Film weiter systematisch eliminiert. Taeko und Kameda scheinen die Welt um sich herum vollkommen vergessen zu haben. Sie sprechen ausschließlich miteinander und ihr düsteres Gesprächsthema ist die Hinrichtung, der Kameda beinah zum Opfer gefallen wäre und bei der er mit ansehen musste, wie ein junger Mann erschossen wurde, an dessen Augen ihn Taekos erinnern. Im Gegensatz zum Hypotext, in dem Nastas’jas Besucher sich heftig und ausgiebig zu Wort melden, spielen Taekos Gäste nur die Rolle von stummen Statisten. Abgesehen von einem gedämpften, spöttischen Lachen, mit dem die Gruppe einige Bemerkungen Onos über Kameda und später Kamedas Heiratsantrag an Taeko begleitet, ist von ihnen kaum ein Laut zu vernehmen. Auf verbaler Ebene wird das Geburtstagsfest im Film so gut wie ausschließlich vom Dialog zwischen Taeko und Kameda dominiert, und erst als Taeko Kayamas Heiratsantrag auf Kamedas Anraten zurückweist, protestieren Tohata, Ono und Kayama kurz aber erfolglos. Kameratechnisch dominieren bis Akamas Auftritt Großaufnahmen der angespannten Gesichter aller Beteiligten die Szene. Kameda wird während er von der Hinrichtung erzählt in Nahaufnahme gezeigt und dabei auch noch seitlich von einem Kaminfeuer beleuchtet, was seinem Gesicht eine besondere, unruhige Blässe und der gesamten Szene eine unheimliche Spannung verleiht. Beim erneuten Auftritt Akamas und seiner Leute, wird das verbale Element ebenfalls zugunsten einer ausdruckstarken Bildsprache in den Hintergrund gedrängt: Während Nastas’jas Dienstmädchen Rogožins polternde Begleiter mit den Worten ankündigt: »Da ist Gott weiß was los […]. Die haben ja gar keinen Anstand«49, ist im Film plötzlich ein spitzer Aufschrei aus der Gästeschar zu vernehmen, woraufhin Taekos vornehm gekleidete Besucher stumm und entsetzt auf die großen Glastüren starren, die auf die Terrasse führen (Abb. 22). Auf diese Halbnah-Einstellung folgt ein Gegenschuss, und man sieht Akama und sein etwas schäbig gekleidetes Gefolge, die – ebenfalls stumm – von draußen durch die Glastüren in den Raum hineinstarren (Abb. 23). In der Folge wird, bis Akama das Paket mit der Million vor Taeko hinlegt, kein Wort gesprochen.
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KARNEVALISTISCHE SKANDALSZENEN (BACHTIN)
Abbildung 22: Taekos Gäste erschrecken beim Anblick Akamas und seines Gefolges
Quelle: Akira Kurosawa: Hakuchi – The Idiot, Japan: Shochiku Co. Ltd. 1951, Hongkong: Panorama Entertainment Co. Ltd. 2003. Abbildung 23: Akama und sein Gefolge beobachten Taekos Geburtstagsfest
Quelle: Akira Kurosawa: Hakuchi – The Idiot, Japan: Shochiku Co. Ltd. 1951, Hongkong: Panorama Entertainment Co. Ltd. 2003. Auf verbaler Ebene dominiert auch nach Akamas Eintreffen weiterhin das Gespräch zwischen Taeko und Kameda die Szene. Die Schweigsam-
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keit der anderen Anwesenden, die süßlich traurige Geigenmusik im Hintergrund, sowie die stets mit den Tränen kämpfende Stimme Taekos eliminieren in ihr allerdings endgültig jegliche Form von karnevalistischem Lachen und hinterlassen nur düstere Beklemmung. Eine ganz besonders »entkarnevalisierende« Wirkung wird im Verlauf dieser Skandalszene noch durch die Änderung eines kleinen Details aus der Romanvorlage herbeigeführt: Während im Roman Myškin selbst plötzlich den Brief des Anwalts Salazkin aus der Tasche zieht und verkündet, dass er eine große Erbschaft gemacht habe, teilt im Film Herr Ono dem ahnungslos mit Taeko über seine Armut sprechenden Kameda mit, dass er eigentlich reich sei. In der Dostoevskij-Forschung rief der Umstand, dass Myškin allen Menschen, denen er bis zu Nastas’jas Geburtstagsfest begegnet, den armen Schlucker vorspielt, immer wieder Zweifel an seiner angeblichen Naivität hervor. Der Fürst im Roman hat demnach etwas Ambivalentes an sich, das René Girard die Frage stellen lässt, ob er »ein Schwachkopf sei oder ein gewiefter Taktiker«50. Und auch Horst-Jürgen Gerigk stellt im Zusammenhang mit dem überraschenden Auftauchen des Briefes fest, dass der Leser gezwungen wird, sein Bild von Myškin »kritisch zu überprüfen«, da dieser ein »Filou« sein könnte, der »seine Naivität nur spielt«51. Für Michail Bachtin ist Myškins überraschender Aufstieg vom Obdachlosen zum Millionär, der sich innerhalb eines einzigen Tages vollzieht, typisch für »eine besondere Karnevalszeit, die von der historischen Zeit gleichsam ausgeschlossen ist […] und eine unbegrenzte Anzahl radikaler Veränderungen und Metamorphosen enthält«52. Doch in Akira Kurosawas Film geht an dieser Stelle der Skandalszene sowohl die Ambivalenz der Hauptfigur verloren (da Kameda ja tatsächlich nichts von seinem Reichtum weiß), als auch die typisch karnevalistische, überraschende Metamorphose, denn darüber, dass Ono Kamedas Vermögen verwaltet, wird der Zuschauer bereits am Anfang des Films durch eine Texteinblendung informiert. Indem Kurosawa somit neben dem karnevalistischen Lachen auch die karnevalistische Ambivalenz der Hauptfigur zurückdrängt, wirkt Kameda bei weitem eindimensionaler, schwächer und hilfloser als sein literarisches Vorbild. Die Analyse beider, direkt aus dem Roman transferierten, karnevalistischen Skandalszenen zeigt somit, dass Kurosawa in diesen das karnevalistische Lachelement völlig in den Hintergrund stellt, und deshalb eine 50 R. Girard: Figuren des Begehrens, S. 171f. 51 Horst-Jürgen Gerigk: »Dostojewskijs Roman ›Der Idiot‹ als Phänomenologie der Verkennung«, in: Dostoevsky Studies. The Journal of the International Dostoevsky Society. New Series 3 (1999), S. 63. 52 M. Bachtin: Probleme der Poetik Dostoevskijs, S. 199, sowie Fußnote 30, S. 315. 198
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düster-bedrückende, ja manchmal sogar hoffnungslose Grundstimmung die Filmszenen dominiert. Erstaunlich ist jedoch, wie bereits eingangs erwähnt, dass eine andere, von Kurosawa neu hinzugefügte Szene einer karnevalistischen Skandalszene gemäß Bachtin bei weitem mehr entspricht als die beiden direkt aus dem Roman transferierten. Es handelt sich dabei um das Zusammentreffen aller Hauptfiguren beim Eiskarnevalsfest im zweiten Teil des Films. Schon bevor die ersten Bilder von maskierten Eisläufern gezeigt werden, erfolgt am Ende der vorhergehenden Szene ein erster verbaler Hinweis auf das bevorstehende Ereignis. Während sich Kayama und seine Schwester über Ayako und die Onos unterhalten, dringt plötzlich das Lachen zweier Personen aus dem Nebenzimmer an ihr Ohr, und die beiden unterbrechen ihre Unterhaltung. Kayama fragt seine Schwester, ob das Lachen aus Kamedas Zimmer kommt, der sich noch von seinem epileptischen Anfall erholt, und sie antwortet ihm: »Yes. Kaoru is busy fixing his ice carneval costume«. Auch im japanischen Original fällt an dieser Stelle deutlich das Lehnwort »Karneval« und so wird in Kurosawas Hyperfilm erstaunlicherweise der Schlüsselbegriff der Bachtin’schen Gattungstradition direkt ausgesprochen, während er im literarischen Hypotext kein einziges Mal genannt wird. Nach dem nächsten Schnitt sind nun tatsächlich die ersten Bilder des Karnevalsfestes zu sehen, bei dem Maskierte mit Fackeln in den Händen beim Eislaufen gezeigt werden (Abb. 24). Doch die Szene hat vorerst kaum etwas Ausgelassenes oder gar Lustiges an sich, denn sowohl die Masken selbst, als auch die Begleitmusik wirken absolut düster und bedrohlich (Abb. 25). Auch den drei Damen der Ono-Familie, die sich unter den Schaulustigen befinden, scheint das Treiben der Maskierten nicht besonders zu gefallen. Ayakos ältere Schwester Noriko kann sich nur ein leises Lächeln abringen, Frau Ono stellt missbilligend über die Eisläufer fest »They’re all nuts« und Ayako interessiert sich nicht im Geringsten für die Masken und hält offensichtlich nach jemandem Ausschau. Tatsächlich löst sich plötzlich ein Clown aus der Gruppe der Eisläufer und fährt auf Ayako zu (Abb. 26). Sie läuft ihm entgegen, und er flüstert ihr unter den Augen der beunruhigten Frau Ono etwas ins Ohr. Dann reist er sich die Maske vom Kopf und entpuppt sich als Kaoru. Frau Ono ist empört und wünscht dem verflixten Botenjungen, dass er ausrutschen und hinfallen möge. Als Kaoru aber tatsächlich mit seinen Schlittschuhen hinfällt, ruft ihm Frau Ono entsetzt und ungebührlich laut zu, dass er aufpassen soll. Ihre Töchter kichern daraufhin über das exzentrische Verhalten der Mutter und Frau Ono meint gekränkt: »You’re all making a fool of me«. Doch da taucht plötzlich der verlegen lächelnde Kayama neben den Damen auf und Ayako begrüßt ihn übertrieben freundlich. Das
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nächste Bild zeigt alle vier vor einer meterhohen Schneeskulptur, die ein schuppiges, drachenähnliches Fabelwesen darstellt, und Frau Ono fordert ihre Töchter schließlich mit den Worten »I’ve had enough nonsense« auf, mit ihr nach Hause zu gehen. Abbildung 24: Maskierter während des Schneefests (Yuki Matsuri)
Quelle: Akira Kurosawa: Hakuchi – The Idiot, Japan: Shochiku Co. Ltd. 1951, Hongkong: Panorama Entertainment Co. Ltd. 2003. Abbildung 25: Zwei Totenmasken während des Eiskarnevalsfests
Quelle: Akira Kurosawa: Hakuchi – The Idiot, Japan: Shochiku Co. Ltd. 1951, Hongkong: Panorama Entertainment Co. Ltd. 2003.
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Abbildung 26: Kaoru nimmt als Clown verkleidet am Karnevalseislaufen teil
Quelle: Akira Kurosawa: Hakuchi – The Idiot, Japan: Shochiku Co. Ltd. 1951, Hongkong: Panorama Entertainment Co. Ltd. 2003. Doch Frau Ono täuscht sich, denn von nun an überschlagen sich die karnevalistischen Ereignisse geradezu. Zuerst entdeckt Ayako Kameda in der Menge und geht sofort auf ihn zu. Er sieht sie aber nur versteinert an, presst die Hände an den Hals und spricht kein Wort. Daraufhin wendet sich Ayako affektiert und gespielt beleidigt von ihm ab, hängt sich übertrieben fröhlich bei Kayama ein und verkündet ihrer Mutter, dass sie mit Kayama auf dem Festplatz bleiben will. Die beiden entfernen sich aber nur einige Schritte von Kameda und der perplex blickenden Frau Ono, als plötzlich eine maskierte Frau auf Schlittschuhen Kayama von Ayakos Arm losreißt und ihn daran erinnert, was er beinah für 600.000 Yen getan hätte. Es ist Taeko, die nach diesem Auftritt genauso schnell wie sie aufgetaucht ist wieder in der Menge verschwindet. Frau Ono platzt nach diesem Vorfall endgültig der Kragen, sie packt Ayako am Arm und befiehlt ihren Töchtern wütend ihr zu folgen. Irritiert bleiben Kameda und Kayama allein zurück. Da tritt plötzlich der düster blickende Akama auf sie zu und jagt den verlegenen Kayama mit harten Beschimpfungen davon. Schließlich wendet er sich mit schmerzverzerrtem Gesicht an seinen Rivalen Kameda und berichtet diesem, dass Taeko ihn, Kameda, liebe, und dass sie Kayama nur deshalb gerade eben vor der Familie Ono blamiert habe, um eine Heirat zwischen Ayako und Kameda zu forcieren. Abschließend werden die beiden, sich stumm in die Augen blickenden Männer von den maskierten, ihre Fackeln schwingenden Eisläufern um-
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kreist, und die bedrohliche Musik vom Anfang der Szene schwillt wieder an. Es ist unbestreitbar, dass diese eben beschriebenen, sich turbulent überschlagenden Ereignisse Züge einer karnevalistischen Skandalszene im Sinne Bachtins aufweisen. Der öffentliche Karnevalsplatz, auf dem sich eine aus allen Gesellschaftsschichten zusammen gewürfelte Menschenmenge in freiem, familiärem Kontakt begegnet, ist in dieser Szene genauso gegeben wie das exzentrische Verhalten fast aller anwesenden Personen und die typisch karnevalistischen Mesalliancen. Letztere finden beispielsweise zwischen der Gutsbesitzertochter Ayako und dem als Botenjunge fungierenden Schuljungen Kaoru statt, aber auch zwischen Frau Ono und Kaoru ist während des Sturzes des Jungen beim Eislaufen eine solch ungewöhnliche Verbindung spürbar. Ganz besonders auffällig ist die karnevalistische Mesalliance zwischen Ayako und Kayama, denn Ayako benutzt den verdutzten Angestellten ihres Vaters und spielt allen Anwesenden vor, dass sie Kayama gern habe. Auch das karnevalistische Lachelement ist in dieser Szene dank der schrulligen Bemerkungen und des gluckenhaften Verhaltens Frau Onos ausgeprägter vorhanden als in den direkt aus dem Roman transferierten Skandalszenen. Wobei allerdings auch diese Szene weit entfernt ist von echter, ausgelassener Karnevalsstimmung im Sinne Bachtins und der unheimliche, auf die Katastrophe vorausdeutende Grundtenor nie ganz verschwindet. Aus dem Hypotext adaptiert wurde in dieser Szene Taekos geheimnisvoller Auftritt, bei dem sie Kayama vor den Ono-Damen blamiert. Denn dieses Ereignis bezieht sich klar auf die beiden öffentlichen Angriffe Nastas’jas auf Radomskij, die im Roman am Ende der Skandalszene im zweiten Teil, als die Epančins Lebedevs Datscha verlassen, und während des Kurkonzerts am Ende des zweiten Kapitels im dritten Teil stattfinden. Im Film hat der Auftritt Taekos eine ganz ähnliche Intention wie die Beleidigung Radomskijs im Roman: sowohl Taeko als auch Nastas’ja wollen einen Nebenbuhler Kamedas bzw. Myškins ausschalten, indem sie seinen guten Ruf in aller Öffentlichkeit in Frage stellen. Taeko geht dabei jedoch viel diskreter vor als ihr literarisches Vorbild, denn Nastas’ja benimmt sich während der beiden Angriffe auf Radomskij wie »eine Wahnsinnige«53, ruft ihr Wissen über dessen finanzielle Lage ungebührlich laut in die Welt hinaus und schlägt sogar dessen Freund in aller Öffentlichkeit mit einer Reitpeitsche. Im Gegensatz dazu spricht Taeko mit normaler, ja sogar gedämpfter Stimme als sie Kayama daran erinnert, dass er sich beinah hätte von Tohata kaufen lassen, und nur die Ono-Damen und Kameda sind Zeugen ihres Angriffs. Die lautstarke
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KARNEVALISTISCHE SKANDALSZENEN (BACHTIN)
Peinlichkeit der Skandalszenen um Nastas’ja aus dem Roman wird von Kurosawa somit merklich abgeschwächt, trotzdem bleibt jedoch der skandalträchtige Gesamteindruck des Vorfalls erhalten. Bedenkt man nun aber, dass Kurosawa die Bachtin’sche Karnevalstheorie nicht bekannt war, und dass er permanent gerade das so wichtige karnevalistische Lachelement zugunsten einer bedrohlichen Grundstimmung in den Hintergrund drängte, stellt sich unweigerlich die Frage, warum er überhaupt die eben analysierte Szene des Karnevalsfests in Hakuchi eingefügt hat. In der mir zugänglichen Sekundärliteratur konnte ich darauf keine Antwort finden, doch im folgenden Exkurs sollen zwei japanische Phänomene vorgestellt werden, die Kurosawas Entscheidung zugunsten einer Karnevalsszene in Hakuchi durchaus beeinflusst haben könnten.
6.4.1 Exkurs: Die japanischen Karnevalsphänomene »Yuki Matsuri« und »Ējanaika« Das Karnevalsfest, das Kurosawa in seinen Film eingebaut hat, existiert tatsächlich. Es findet mittlerweile jedes Jahr während der ersten oder zweiten Februarwoche in Sapporo statt und wird als »Yuki Matsuri« (Schneefest) bezeichnet.54 Im Gegensatz zu vielen europäischen Karnevals- und Fasnachtsbräuchen, deren Wurzeln bis in vorchristliche Zeiten zurückreichen, ist das Yuki Matsuri eine noch sehr junge Karnevalsfestivität, die erst im Jahr 1950 entstand. Als sich im Rahmen der damaligen öffentlichen Schneeräumungen meterhohe Schneeberge entlang Sapporos Hauptverkehrsstraße beim Odori-Park auftürmten, hatte eine Gruppe von Oberschülern die Idee, aus den Schneemassen überdimensionale Skulpturen zu formen. Gleichzeitig fanden Umzüge und ein Fest mit maskierten Eisläufern statt, die gemeinsam mit den Schneefiguren überraschenderweise 50.000 Schaulustige in den Odori-Park lockten. Schon bald nach diesem ersten Fest etablierte sich das Yuki Matsuri als alljährliche Veranstaltung und es wurde ein Wettbewerb um die schönsten und fantasievollsten Schneeskulpturen ausgeschrieben. Über Japans Grenzen hinaus erlangte das Yuki Matsuri durch die olympischen Winterspiele in Sapporo 1972 Berühmtheit als die imposanten Schneeskulpturen einem weltweiten Fernsehpublikum vorgeführt wurden. Heute besuchen alljähr54 Vgl. hierzu den Eintrag auf der Website des Japanischen Generalkonsulats Düsseldorf: http://www.dus.emb-japan.go.jp/profile/deutsch/japan_forum/ jf_2002/2002_02_schneefest.htm vom 12. Juli 2008; sowie den Eintrag über Sapporo auf »Wikipedia. Die freie Enzyklopädie«: http://de.wikipe dia.org/wiki/Sapporo vom 12. Juli 2008. 203
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lich über zwei Millionen Menschen dieses Fest, und der Wettbewerb unter den Eisskulpteuren lockt Künstler aus der ganzen Welt nach Sapporo. Als Kurosawa somit im Winter 1951 auf Hokkaido Hakuchi drehte, fand dort erst das zweite Yuki Matsuri statt. Der Szene um das Karnevalsfest im Film kommt damit sogar eine historisch-dokumentarische Bedeutung zu, wurden in ihr doch die Anfänge einer heute weltweit bekannten Veranstaltung filmisch festgehalten. Da Kayamas Schwester, die im Film über das Fest spricht, dieses noch mit dem Lehnwort Karneval umschreibt, ist sogar anzunehmen, dass die Bezeichnung Yuki Matsuri damals noch gar nicht gebräuchlich war. Da aber Kurosawa Bachtins Überlegungen zur karnevalistischen Gattungstradition 1951 noch nicht bekannt sein konnten, ist es wohl nur ein erstaunlicher Zufall, dass er ausgerechnet ein Eiskarnevalsfest – mit dem er Bachtins Erkenntnissen verblüffend nahe kam – in seinen Film eingebaut hat. Es ist aber auch möglich, dass Kurosawa durch die Anfänge des Yuki Matsuri in den 1950er Jahren des 20. Jahrhunderts auf Hokkaido an ein anderes, viel weiter zurückliegendes japanisches Karnevalsphänomen erinnert wurde, das sich ausgerechnet zu jener Zeit verbreitete, in der auch Dostoevskij seinen Idioten spielen ließ: in den Jahren 1867-68. Damals entwickelte sich in Osaka und der Küstenprovinz Mikawa eine Bewegung, die sich rasch über die Inseln Honshu und Kyushu ausbreitete und unter der Bezeichnung »Ējanaika«, was ungefähr so viel heißt wie »es wird schon recht sein«55, in die japanische Geschichtsschreibung einging. Das Wort Ējanaika stammt aus dem Kehrreim eines Liedes, das damals von den plötzlich überall auftauchenden ausgelassen feiernden Menschen gesungen wurde. Als unmittelbaren Auslöser für diese spontanen Feiern, bei denen ganze Gruppen von auffällig bunt oder zumindest ungewöhnlich gekleideten Menschen singend durch die Straßen ihrer Städte und Dörfer zogen, betrachtet der Historiker Reinhard Zöllner vor allem den so genannten »Amulettregen«56. Amulette spielen im Schintoismus eine ganz besondere Rolle. Es handelt sich dabei meist um kleine Stoffstücke, die mit Zeichen bedruckt sind, die ihre Zugehörigkeit zu einem bestimmten Shintō-Schrein und zu den dort verehrten Gottheiten belegen. Sie gelten als Glücksbringer und können von Betenden und Wallfahrern bei den verschiedenen Schreinen erworben werden. Im Volksglauben entwickelte sich die Vorstellung, dass die Götter selbst oder von ihnen beauftragte Boten Amulette über auserwählten Häusern fallen lassen können. Wer in seinem Haus ein sol55 Reinhard Zöllner: Japans Karneval der Krise. Ējanaika und die Meiji-Renovation, München: Iudicium 2003 (Erfurter Reihe zur Geschichte Asiens 6), S. 352f. 56 Ebd., S. 359f. 204
KARNEVALISTISCHE SKANDALSZENEN (BACHTIN)
ches Amulett findet, muss das große Glück mit seinen Nachbarn, Freunden, ja oftmals sogar mit dem ganzen Dorf und über mehrere Tage hindurch feiern. Es versteht sich freilich von selbst, dass die ominösen Amulette meist auf begüterte Häuser regneten, und natürlich nicht von den Göttern sondern von feierfreudigen, meist jugendlichen Spaßvögeln verteilt wurden. Im Sommer 1867 traten nun plötzlich solche Amulettfunde und die unmittelbar auf sie folgenden Ējanaika-Feiern in der Provinz Mikawa gehäuft auf, breiteten sich von dort wie ein Lauffeuer über ganz Honshu und Kyushu aus und hielten sich hartnäckig bis Mai 1868.57 Ējanaika hielt Japan somit beinah ein Jahr lang in Atem. Warum aber Polizei und Obrigkeit kaum versuchten, das Treiben zu beenden, lässt sich sowohl wirtschaftlich als auch politisch begründen. Zum einen verfolgte die karnevalistische Ējanaika-Bewegung keine politischen Ziele. Sie förderte viel mehr den Handel mit Sake, Lebensmitteln und anderem Festzubehör und kurbelte die »religiöse Tourismusindustrie«58 an, da ja schließlich viele Finder von Amuletten zu den jeweiligen Schreinen pilgerten, denen sie den Segen des Amulettregens verdankten. Somit war diese Bewegung aus wirtschaftlicher Perspektive zunächst sogar recht willkommen. Und zum anderen wurde die damalige Obrigkeit ohnehin von ganz anderen Sorgen geplagt. Denn das Phänomen der Ējanaika-Feiern entstand in einer der unruhigsten Umbruchphasen der japanischen Geschichte als sowohl tiefgreifende innen- und außenpolitische als auch gesellschaftliche Veränderungen das Land erschütterten.59 Innenpolitisch gipfelten die Unruhen in der so genannten Meiji-Restauration, bei der 1868 die seit dem 17. Jahrhundert herrschende Schogun-Familie Tokugawa gestürzt und eine neue, auf der Vormachtstellung des Tenno basierende Regierungsform etabliert wurde. Meiji bedeutet so viel wie »leuchtende Herrschaft« und diese Bezeichnung wurde auch dem ersten Tenno dieser neuen Ära Mutsuhito postum als Beiname verliehen. Außenpolitisch tobte schon seit einigen Jahrzehnten ein Machtkampf mit England, Frankreich, Russland und den USA, die von Japan die Öffnung seiner Häfen und Märkte für ausländische Handelsgüter verlangten. Bereits 1854 gelang es den USA durch die Konvention von Kanagawa Japan zur Aufgabe seiner Isolationspolitik zu zwingen, was wiederum die Stellung des Tokugawa-Schoguns, der die Verhandlungen mit den Amerikanern geführt hatte, nachhaltig schwächte und schließlich 14 Jahre später wesentlich zum Ende der Schogunherrschaft beitrug. Natür57 Zur Vorgeschichte des Amulettregens im Jahre 1867 und zum Verlauf von Ējanaika vgl. ebd., S. 28f. sowie S. 363-67. 58 Ebd., S. 436. 59 Zu den historischen Gründen für die Entstehung des Ējanaika-Phänomens vgl. ebd., S. 11-15. 205
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lich veränderte sich auch Japans Gesellschaft durch die neue politische Situation erheblich, denn zum einen kamen nun plötzlich ausländische Händler und Kaufleute ins Land und zum anderen musste sich die alte feudale, auf konfuzianischer Soziallehre aufbauende Gesellschaft rasch an die neuen technischen, industriellen und wirtschaftlichen Gegebenheiten anpassen. All diese rasanten Veränderungen destabilisierten das Land zusehends und in den späten 60er Jahren des 19. Jahrhunderts drohte Japan deshalb nicht nur aufgrund der Ējanaika-Feiern im Chaos zu versinken. Man kann davon ausgehen, dass Kurosawa, der sowohl als ein profunder Kenner der japanischen Geschichte als auch der Werke Dostoevskijs galt, die zeitliche Übereinstimmung zwischen dem Ējanaika-Phänomen und der erzählten Zeit in Dostoevskijs Idiot bekannt war. Die Ursprünge des Yuki Matsuri, die Kurosawa im Winter 1950/51 persönlich miterlebte, könnten ihn durchaus an das historische Phänomen der 60er Jahre des 19. Jahrhunderts erinnert haben. Und diese Erinnerung an Ējanaika kann wiederum wesentlich zur Idee ein Karnevalsfest in Hakuchi darzustellen beigetragen haben. Doch abschließend muss nochmals festgehalten werden, dass Kurosawa generell mit der humorvollen, laut Bachtin, einer fröhlichen Lachkultur entsprechenden Komponente in Dostoevskijs Roman Probleme hatte. Da er von den sieben karnevalistischen Skandalszenen im Roman nur zwei in den Film transferierte und selbst aus diesen das Lachelement eliminierte, entstand ein bedrückendes Melodrama, das in seiner düsteren Beklemmung weit davon entfernt ist, die für den Dostoevskij-Roman so typische chaotische Turbulenz zu vermitteln.
6 . 5 K ar n e v a l i s t i s c h e S k a n d al sz e n e n i n N áv r a t i d i o t a Im Gegensatz zu Hakuchi stolpert man in Návrat idiota immer wieder über Begebenheiten, die auf subtile Weise zum Lachen anregen. Besonders auffällig tritt dieses unterschwellige Lachen in den beiden Szenen zu Tage, die sich in und vor der Tanzschule des tschechischen Provinzstädtchens abspielen und sich auch als karnevalistische Skandalszenen gemäß Bachtin interpretieren lassen. Neben den Skandalszenen spielt in Návrat idiota deshalb noch ein weiteres Bachtin’sches Karnevalsmerkmal eine wesentliche Rolle: Die Rede ist vom reduzierten oder ambivalenten Lachen, über das Bachtin folgendes feststellt:
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»Das Lachen kann […] unter bestimmten Bedingungen und in bestimmten Gattungen reduziert werden. Es bestimmt weiterhin die Struktur des Bildes, wird jedoch selbst bis auf ein Mindestmaß gedämpft: wir sehen gleichsam die Spur des Lachens in der Struktur der dargestellten Wirklichkeit, das Lachen selbst aber hören wir nicht. […] die Spur der künstlerisch-organisierenden und die Welt beleuchtenden Arbeit des ambivalenten Lachens, das Dostoevskij zusammen mit der Gattungstradition der Karnevalisierung in sich aufgenommen hat, finden wir in allen seinen Romanen.«60
Wenn Bachtin das »reduzierte Lachen« als ein »Phänomen« definiert, das »nicht unmittelbar zum Ausdruck« kommt und weiter anmerkt, dass es nicht »›erklingt‹, aber seine Spur […] in der Struktur des Bildes und Wortes […] erkennbar«61 bleibt, so treffen diese Feststellungen nicht nur auf Dostoevskijs Romane, sondern eindeutig auch auf Saša Gedeons Film zu. In Návrat idiota ist ein reduziertes Lachen im Sinne Bachtins sehr häufig anzutreffen, und je weniger in einer Szene gesprochen wird, umso klarer tritt es in den Vordergrund. Auffällig häufig begegnet man einem reduzierten Lachen deshalb am Anfang des Films, da ja während der ersten acht Minuten kein einziges Wort fällt, und Annas und Františeks erstes Zusammentreffen Züge einer pantomimischen Stummfilmszene trägt. So ist es möglich, dass die beiden, als sie die ersten Worte im Schlafwagenabteil wechseln, schon eine ganze Reihe skurriler, aber stummer Begegnungen hinter sich haben, die sich durchaus als reduzierte Lachelemente im Sinne Bachtins interpretieren lassen. Zum ersten Mal erstaunt schmunzeln oder gar schon lachen muss man, als der Fahrtwind den Inhalt des vollen Joghurtbechers, der Anna aus der Hand fällt, mitten in Františeks Gesicht befördert, und Anna dies nicht einmal bemerkt. Skurril-komisch wirkt in weiterer Folge auch das Zusammentreffen der beiden auf der Zugstoilette, als Anna František im Unterhemd dabei überrascht wie er sich vom Joghurt reinigt, und schließlich erlebt das reduzierte Lachen einen überraschenden Höhepunkt als Anna plötzlich aus dem Spiegel im Schlafwagenabteil Františeks Gesicht entgegenblickt (Abb. 27).
60 M. Bachtin: Probleme der Poetik Dostoevskijs, S.186f. 61 Ebd., S.313, Fußnote 4. 207
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Abbildung 27: Anna entdeckt František im Spiegel des Schlafwagenabteils
Quelle: Saša Gedeon: Návrat idiota, Tschechische Republik: Negativ, Česká televize 1999, Bontonfilm 2007. Auch später trifft man in Návrat idiota immer wieder auf Momente des reduzierten Lachens. Besonders augenscheinlich treten diese etwa hervor als František und Robert ihre Weihnachtsgeschenke auspacken und danach stumm die Geschenke des anderen betrachten. Kurz darauf ergibt sich ein weiterer Höhepunkt des reduzierten Lachens in einer Szene, die mit subtiler Ironie feiertägliche Langeweile paraphrasiert. Dabei wird zuerst ein eingeschalteter Fernseher in Großaufnahme gezeigt, in dem eine Hasenohren tragende Balletttruppe zu sehen ist, die zur tschechischen, von einem Kinderchor gesungenen Version von Jingle Bells tanzt. Danach folgt ein Schnitt und man sieht die beiden Brüder Emil und Robert, die sich gelangweilt dieses nachmittägliche Kinderprogramm ansehen. Im Hintergrund ist František zu sehen, der – ebenso gelangweilt – mit der Eisenbahn und dem Puppenhaus spielt, die ihm Emils und Roberts Mutter zu Weihnachten geschenkt hat, und die sein Vater noch vor seiner Geburt für ihn gekauft hatte (Abb. 28). Františeks Spiel wird durch eine Großaufnahme seines auf die Tischplatte gestützten Gesichts in den Vordergrund gestellt (Abb. 29). Akustisch dominiert die Szene zunächst das vom Kinderchor gesungene Lied aus dem Fernsehapparat. Später begleiten echte Zuggeräusche die Fahrt der Spielzeugeisenbahn (Abb. 30). Das reduzierte Lachen wird in dieser Szene vor allem durch die »unerwachsenen« Tätigkeiten der drei erwachsenen Männer hervorgerufen, denen diese auch noch betont lustlos nachgehen.
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Abbildung 28: Emil und Robert sitzen vor dem Fernsehapparat
Quelle: Saša Gedeon: Návrat idiota, Tschechische Republik: Negativ, Česká televize 1999, Bontonfilm 2007. Abbildung 29: František spielt mit der Eisenbahn
Quelle: Saša Gedeon: Návrat idiota, Tschechische Republik: Negativ, Česká televize 1999, Bontonfilm 2007.
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Abbildung 30: Františeks Spiel wird von echten Zuggeräuschen begleitet
Quelle: Saša Gedeon: Návrat idiota, Tschechische Republik: Negativ, Česká televize 1999, Bontonfilm 2007. Neben den zahlreichen Momenten eines reduzierten Lachens spielen in Návrat idiota aber auch zwei karnevalistische Skandalszenen im Sinne Bachtins eine gewichtige Rolle. Und da in diesen wiederum neue Momente des reduzierten Lachens auftauchen, gehen die beiden Merkmale karnevalistischer Tradition in Saša Gedeons Film praktisch Hand in Hand. Schon in der Untersuchung der triangulären Strukturen nach René Girard wurden die drei Tischversammlungsszenen in Návrat idiota ausführlich besprochen. Diese Szenen können durchaus als karnevalistische Skandalszenen »en miniature« bezeichnet werden, denn in allen dreien finden Eklats statt, die den Handlungsverlauf empfindlich beeinflussen. Allerdings fehlen in diesen Szenen die breite Öffentlichkeit und die größere Gruppe von Beteiligten, die nach Bachtin wesentliche Kennzeichen einer karnevalistischen Skandalszene darstellen. Denn während die ersten beiden Tischversammlungsszenen im Wohn- bzw. Esszimmer von Annas und Olgas, respektive Emils und Roberts elterlicher Wohnung stattfinden, und damit im intimen Innenraum des Hauses, spielt die letzte der drei Szenen im Ballsaal der Tanzschule. Da die fünf Hauptpersonen dabei aber an einem separaten Tisch auf der Empore sitzen, wird ihr unterschwellig provokantes Gespräch von keinem der anderen Gäste wahrgenommen, und gelangt somit auch nicht an die karnevalistische Öffentlichkeit. Allerdings ist diese dritte Tischszene Teil einer größeren Filmsequenz – nämlich der des Silvesterballs –, die in ihrer Gesamtheit durchaus als karnevalistische Skandalszene betrachtet werden kann. Dies gilt auch für Emils und Františeks ersten Besuch in der Tanzschule, der ne210
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ben dem exzentrischen Benehmen, der öffentlichen Aufmerksamkeit und dem obligatorischen Skandal auch noch eine ganze Reihe von Beispielen für reduziertes Lachen im Sinne Bachtins beinhaltet. Als der ziemlich angetrunkene Emil mit dem naiven František im Schlepptau in der Tanzschule auftaucht, benehmen sich die beiden ziemlich exzentrisch. Emil ist wild entschlossen František zu verkuppeln, der ihm im Bistro »Riga« gestanden hat, dass er noch nie mit einer Frau zusammen war, und zeigt ihm nicht gerade dezent verschiedene Mädchen auf der Tanzfläche, bei denen er sein Glück versuchen soll. František ist das ganze Unternehmen schrecklich peinlich, und als der geschniegelte Assistent des Tanzlehrers ihn zum Tanzen zwingt, fordert er in seiner Not ausgerechnet die Freundin jenes Mädchens auf, das ihn später aus dem Tanzsaal werfen lassen wird. Während der Szene auf der Tanzfläche fallen gleich mehrere Momente des reduzierten Lachens auf, denn schon nach den ersten Takten entlarvt sich František, der seiner Partnerin ständig einen Schritt hinterherhinkt, eindeutig als Nichttänzer. Auch gibt das tanzende Mädchen ihrer Freundin nicht gerade unauffällige Zeichen mit den Augen, um zu erfahren was diese von ihrem Tanzpartner hält. Als Antwort zieht die Freundin ein Gesicht, das deren Abneigung gegen den tollpatschigen Tänzer klar zum Ausdruck bringt und wieder zu verhaltenem Lachen anregt (Abb. 31). Abbildung 31: František wird von der Freundin des tanzenden Mädchens mit einer vernichtenden Grimasse bedacht
Quelle: Saša Gedeon: Návrat idiota, Tschechische Republik: Negativ, Česká televize 1999, Bontonfilm 2007. Beim kurz darauf folgenden Partnerwechsel auf der Tanzfläche, gerät František ausgerechnet an jenes Mädchen, das eben noch ihr Gesicht so abfällig über ihn verzogen hat. Und das Gespräch, das sich nun zwischen 211
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ihm und seiner neuen Tanzpartnerin entspinnt, trägt deutliche Züge von karnevalistischer Exzentrizität und reduziertem Lachen: »Mädchen: Ich hab’ dich noch nie gesehen. František: Ich bin zum ersten Mal hier. Mädchen: Warst du krank? František (etwas überrascht): Woher wissen Sie das? Mädchen: Bist du nicht von hier? František: Ich bin heute angekommen. Mädchen: Und woher kommst du? František: Na ja, eigentlich von hier. Mädchen: Du bist nicht ganz dicht, oder? František (hört die Frage gar nicht mehr richtig): Ja … Entschuldigen Sie. Mädchen (ruft perplex dem davongehenden František nach): Wohin gehst du? Wohin gehst du?!«
František hat während des Gesprächs plötzlich Anna im Ballsaal entdeckt und sich nicht mehr auf die Worte seiner Tanzpartnerin konzentriert. So hört er gar nicht mehr richtig zu, wie diese ihn abschließend fragt, ob er nicht ganz dicht sei, und lässt sie einfach auf der Tanzfläche stehen, um Anna aufzufordern. Auch das Gespräch zwischen František und Anna, das sich nun auf der Tanzfläche entwickelt, während sich die beiden ungelenk zu einem Charleston bewegen, steckt voller Exzentrizität und reduziertem Lachen. Es wirkt wie eine skurrile Steigerung des vorhergehenden Gesprächs zwischen František und seiner früheren Tanzpartnerin und fasst die ungewöhnlichen Ereignisse beim ersten Treffen zwischen Anna und František im Zug noch einmal verbal zusammen: »Anna (mit leicht spöttischem Lächeln): Verfolgen Sie mich schon wieder? František (sich ernsthaft verteidigend): Nein, ich schwöre es. Anna: Sind Sie nicht zu alt für die Tanzschule? František (angriffslustig): Und Sie, sind Sie nicht auch zu alt … Anna: Was fällt Ihnen ein?! František: ... für die Tanzschule. […] Anna: Mal sehen was Sie heute wieder anstellen. František (noch immer angriffslustig): Und Sie? Wieder mit Joghurt werfen?«
Anna, die ja nicht weiß, dass ihr Joghurt in Františeks Gesicht gelandet ist, schüttelt nach dieser Feststellung nur verständnislos den Kopf und schweigt. Für sie sind Františeks Äußerungen unverständlich und exzentrisch. Gleich nach diesem Gespräch kommt es zum karnevalistischen Skandal, denn der Assistent des Tanzlehrers holt František von der Tanz212
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fläche und führt ihn zu seinem Chef. Dieser lässt František von seinem Assistenten vor aller Augen wie einen Verbrecher am Arm durch den Ballsaal führen und buchstäblich vor die Tür setzen. Ähnlich wie die Skandalszenen in Dostoevskijs Roman erfüllt auch diese Szene im Film eine ganz spezifische Funktion. Dieser erste Skandal im Ballsaal löst eine überraschende Kettenreaktion aus, die den weiteren Handlungsverlauf des Films nachhaltig beeinflusst. Ohne diesen Skandal müsste der tief gekränkte František nicht dem Mädchen folgen, das er für seine Verleumderin hält. Er würde nicht mit Verspätung zur Bushaltestelle kommen und könnte somit auch nicht belauschen, wie Emil ihn einen Idioten nennt. In der Folge würde er auch nicht vor Emil und Anna davonschleichen und Anna könnte ihn nicht auf der Parkbank vor ihrem Haus finden. Und schließlich hätte er ohne den Skandal in der Tanzschule wohl auch kaum bei Anna übernachtet. Zwar sind die Auswirkungen der Ballsaalszene im Film nicht ganz so drastisch wie die der Skandalszenen im Roman, denn schließlich wird im Film durch den Skandal weder der bisher vorherrschende Eindruck eines Protagonisten revidiert, noch verblüfft das Verhalten einer der Hauptfiguren. Aber auch die erste Ballsaalszene lenkt die Handlung in eine neue, unerwartete Richtung und damit kann sie – wenn auch nicht unbedingt als kritisches – so aber doch zumindest als ein überraschendes Wendeereignis in der Handlung bezeichnet werden. Auch die zweite große karnevalistische Skandalszene in Návrat idiota, die die Ereignisse auf dem Silvesterball in der Tanzschule umfasst, spielt eine wesentliche, funktionelle Rolle. Sie beinhaltet die alles entscheidenden Höhe- und Endpunkte des Films, wie die Auflösung der Beziehungen zwischen den beiden Geschwisterpaaren, die fälschliche Beschuldigung Františeks durch Emil und die Ohrfeige, die František von Emil erhält, und entspricht deshalb noch viel eindeutiger als die erste Ballsaalszene einem kritischen Wendeereignis oder einer neuralgischen Makrosequenz nach Barthes. Die Kriterien karnevalistischer Skandalszenen im Sinne Bachtins treten in dieser zweiten Ballsaalszene noch eindeutiger als in der ersten hervor. So finden die Ereignisse an zwei öffentlichen Plätzen statt: dem Ballsaal und dem Eislaufplatz vor der Tanzschule. Die exzentrischen Reden und Taten der fünf Protagonisten – wie etwa das Geplänkel um die Tanzaufforderung zwischen Anna, Olga, Emil und Robert oder die Auseinandersetzung zwischen Anna und Emil auf der Tanzfläche – spielen sich vor den Augen einer großen Gruppe von unterschiedlichsten Menschen ab, denn es ist beinah das ganze Kleinstädtchen beim Silvesterball anwesend. Und schließlich eskaliert die Situation in einem öffentlichen
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Skandal als Emil František während des Silvesterfeuerwerks vor den anwesenden Schaulustigen packt, vor sich her stößt und ohrfeigt. Auch die gehäuft vorkommenden Momente reduzierten Lachens in dieser Szene rücken Saša Gedeons Film erstaunlich nahe an Bachtins Interpretationslinie der karnevalistischen Gattungstradition heran. Schon ganz am Anfang der Szene fällt ein solches reduziertes Lachelement auf, als die Tanzschulband das alte Lied Moviestar des schwedischen OneHit-Wonder-Interpreten Harpo spielt, während der ansonsten so distinguierte Tanzschullehrer mit grünem Papphut vergeblich versucht die Stimmung mit banalen Silvestersprüchen wie »So jung kommen wir nicht mehr zusammen!« anzuheizen (Abb. 32). Dementsprechend gelangweilt schauen Emil, Robert und František mit großen Bierhumpen in den Händen dem Treiben auf der Tanzfläche von der Empore des Ballsaals aus zu. Für ein weiteres Moment des reduzierten Lachens sorgt der Tanzlehrer als er voller Begeisterung mittanzt und mitsingt als die Band den Vogeltanz spielt, zu dem auch František und Anna – ebenfalls mit Papphütchen – tanzen. Abbildung 32: Der Tanzlehrer moderiert den Silvesterball
Quelle: Saša Gedeon: Návrat idiota, Tschechische Republik: Negativ, Česká televize 1999, Bontonfilm 2007. Auch als sich Anna kurz darauf weigert mit Robert zu tanzen solange Emil nicht mit Olga tanze, werden Exzentrizität und reduziertes Lachen geradezu virtuos miteinander verknüpft. Exzentrisch benehmen sich in dieser Szene vor allem Anna und Emil, denn die anderen Anwesenden können weder verstehen, warum Anna so strikt darauf besteht, dass Emil mit Olga tanzt, noch warum Emil sich so heftig gegen diesen Wunsch wehrt. Das reduzierte Lachen wird in dieser Szene, in der vordergründig eine angespannte Stimmung dominiert, auf zwei subtilen hintergründigen 214
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Ebenen provoziert: Zum einen herrscht in der Szene eine visuelle Unruhe, da einzelne Protagonisten immer wieder aufstehen, um glücklose Anläufe zum Tanzen zu unternehmen, und sich dann wieder hinsetzen müssen, weil sie von ihrem Tanzpartner einen Korb erhalten. Und zum anderen spielt die Tanzschulband während dieser Szene ausgerechnet den alten George-Strait-Schlager I just wanna dance with you, der genau das Gegenteil von dem zum Ausdruck bringt, was die vier Protagonisten im Film wollen. Robert fordert Anna ja nur deshalb auf, weil Emil ihn darum gebeten hat, und Emil will nur mit Olga tanzen, weil Anna ihn dazu zwingt. Zu einem weiteren Beispiel für ein reduziertes Lachelement kommt es deshalb, als Emil notgedrungen Annas Wunsch nachgibt und aufsteht, um mit Olga zu tanzen. In diesem Moment wiederholt der Sänger der Band gerade mit schnulzigem Timbre den Refrain »I wanna dance with you …«, der von Emils ruppigen, an Olga gerichteten Worten »Na, dann gehen wir eben« unterbrochen wird. Nachdem sich Olga daraufhin beleidigt wieder hinsetzt, ist wieder die Stimme des Sängers zu hören, und die folgenden Worte des Liedes »… twirl you all around the floor. That’s what they intended dancing for …« passen nicht im Geringsten zu Emils widerwilligem Verhalten. Somit wird in dieser Tischszene auf visueller und musikalisch-akustischer Ebene ein reduziertes Lachen provoziert, das in scharfem Kontrast zur vordergründig vorherrschenden, angespannten Stimmung zwischen den beiden Geschwisterpaaren steht. Nach dem Streit der beiden Geschwisterpaare auf der Tanzfläche, bei dem Anna ihre Beziehung zu Emil beendet, verlagert sich die Handlung auf den Eislaufplatz vor der Tanzschule, wo es auch zum eigentlichen Skandal kommt, als Emil František ohrfeigt. Vorher findet aber noch ein weiterer Höhepunkt karnevalistischer Exzentrizität statt als František von den drei Mädchen, die ihn am Vorabend aus der Tanzschule werfen ließen, angesprochen wird und sich der folgende skurrile Dialog zwischen ihm und einem der Mädchen entwickelt: »Mädchen: Kommen Sie zur Tanzstunde? František (lächelnd und wohl erstmals den kindischen Charakter der Mädchen erkennend): Ich weiß nicht. Ich habe keine Partnerin. Mädchen: Ilona begleitet Sie. Und sie möchte Sie etwas fragen. (Zu ihrer Freundin Ilona gewandt.) Mach schon. Frag. (Zu František als ihre Freundin nichts sagen will.) Ilona wollte wissen, ob Sie pervers sind? (Anstelle einer Antwort schüttelt František nur lächelnd den Kopf. Das Mädchen setzt zufrieden fort.) Das ist prima. Ilona findet Sie nämlich sehr sympathisch. Sie möchte auch wissen, ob Sie dünne Beine haben. František (kann sich kaum das Lachen verbeißen): Ja, die habe ich.
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Mädchen (zu ihrer Freundin): Siehst du! (Erklärend zu František.) Sie steht nämlich total auf Beine. (Und auf Františeks Rauswurf aus der Tanzschule anspielend meint sie.) Entschuldigen Sie, Ilona hat nichts gesagt. Das waren wir. Das machen wir immer, wenn einer neu ist. Sind Sie uns böse? (Wieder schüttelt František nur lächelnd den Kopf. Das Mädchen meint daraufhin erleichtert.) Na dann, ein frohes Neues Jahr!«
Während des Gesprächs sitzt František auf der Tribüne, und die drei Mädchen stehen an der Bande des Eislaufplatzes und blicken zu ihm hinauf. Die Kamera zeigt sie somit in Aufsicht und František, der von der Tribüne auf sie hinuntersieht, in Untersicht. Die drei Mädchen tragen dem Silvesterbrauch entsprechend ebenfalls bunte Papphüte. Durch die Verkleidung, die verkleinernde Kameraperspektive und ihre naiven Worte wirken sie plötzlich viel kindlicher als in der ersten Ballsaalszene, in der sie František verleumdet hatten (Abb. 33). Ebenso wie František erkennt nun auch der Zuseher, dass er die Mädchen bisher falsch eingeschätzt hat, und ihr kindlich-naives Verhalten begünstigt erneut ein reduziertes Lachen. Abbildung 33: Die drei Mädchen sprechen František an
Quelle: Saša Gedeon: Návrat idiota, Tschechische Republik: Negativ, Česká televize 1999, Bontonfilm 2007. Nach diesem karnevalistischen Gespräch mit den Mädchen trifft František am Eislaufplatz auf Olga. Und während sich die beiden nichts Böses ahnend das Silvesterfeuerwerk ansehen, kommt es schließlich zum karnevalistisch-skandalösen Höhepunkt des Films als der wutschnaubende Emil František in der Menge entdeckt, sich auf ihn stürzt, ihn ohrfeigt und sich anschickt, ihn zu verprügeln.
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Zusammenfassend lässt sich somit festhalten, dass nicht nur die beiden großen Szenen vor und in der Tanzschule in Návrat idiota alle Merkmale karnevalistischer Skandalszenen in sich vereinen (von der großen Menschenansammlung, dem öffentlichen Platz, den exzentrischen Reden und Verhaltensweisen bis zum handfesten Skandal), sondern mit dem reduzierten Lachen ein weiteres grundlegendes Merkmal karnevalisierter Literatur in den Film aufgenommen wurde. Und es darf dabei nicht vergessen werden, dass Bachtin gerade die zentrale Bedeutung des Lachens als das wesentlichste Merkmal karnevalisierter, in der Gattungstradition der Menippea verankerter Literatur betrachtete.
6 . 6 K ar n e v a l i s t i s c h e S k a n d al sz e n e n i n T h e M i l li o n D o l l a r H o t e l »Im Million Dollar Hotel ist nichts so wie es scheint und niemand ist das, wofür er sich ausgibt. Nur in Tom Toms Augen sind diese Penner und Verlierer allesamt Helden und dürfen das Leben führen, das sie so gerne gelebt hätten, wenn für sie nicht irgendwann alles so furchtbar den Bach runter gegangen wäre.« (Wim Wenders)62
In Dominic DeJosephs Dokumentation The One Dollar Diary unternimmt Wim Wenders den nicht ganz ernst gemeinten Versuch, seinen Film einer bestimmten Gattung zuzuordnen: »Dieser Film ist so ’ne Art Detektiv-Märchen-Thriller-Liebesgeschichte. Ich kann’s auch nicht genau definieren. Wenn Sie so wollen, ist Million Dollar Hotel eine Slapstick-Tragödie. Genres sind nicht so meine Sache.«63 Ruft man sich nun aber nochmals jene, unter 6.2 genannten Merkmale der Menippea ins Gedächtnis, kommt man unweigerlich zu dem Schluss, dass Michail Bachtin wohl keinerlei Probleme damit gehabt hätte, Wim Wenders’ Film in der karnevalistischen Gattungstradition zu verankern und ihn als filmische, menippeische Satire zu bezeichnen. Tatsächlich lassen sich die neun wichtigsten Komponenten der menippeisch-karnevalistischen Gattungstradition in The Million Dollar Hotel völlig problemlos aufspüren. Ja ich möchte sogar behaupten, dass manche von ihnen in Wim Wenders’ Film ausgeprägter vorhanden sind, als in Dostoevskijs Idiot. Ehe nun die Bedeutung der karnevalistischen Skandalszenen im Film unter62 Wim Wenders in D. J. DeJoseph: The One Dollar Diary. 63 Ebd. 217
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sucht wird, sollen deshalb einige Beispiele für die acht anderen Komponenten des Bachtin’schen Merkmalkatalogs kurz skizziert werden. Zur Erinnerung seien hier alle neun nochmals aufgezählt: • die große Bedeutung des Lachens, • die freie Erfindung des Sujets mit fantastischen und abenteuerlichen Elementen, • das Schaffen von Ausnahmesituationen, • die Darstellung eines derben Naturalismus auf öffentlichen Plätzen, • die »vertikale« Verortung der Handlung zwischen Himmel, Erde und Hölle, • die Thematisierung von Wahnsinn, Träumen und Visionen, • das Einbeziehen anderer Gattungen wie Briefe, Reden und Novellen, • eine journalistische Aktualitätsbezogenheit, • Skandalszenen mit unpassenden, exzentrischen Reden und Auftritten. Ähnlich wie bei Dostoevskij wird auch das karnevalistische Lachen in Wim Wenders’ Film oft durch exzentrische Reden und Verhaltensweisen verschiedener Nebenfiguren hervorgerufen. Dem dreisten Schnorrer Ferdyščenko, der impulsiven Generalin Epančina, dem stets betrunkenen General Ivolgin oder dem närrischen kleinen Speichellecker Lebedev entsprechen demnach der verkannte, puertoricanische Maler Geronimo, der vermeintliche fünfte Beatle Dixie, der Alkoholiker Shorty und die stets fluchende drogensüchtige Prostituierte Vivien. Aber auch die Hauptfigur Tom Tom irritiert – ebenso wie Myškin – durch sein kindlich-naives Verhalten und regt dadurch immer wieder – und auch hierin ähnelt er Dostoevskijs Helden enorm – unabsichtlich zum Lachen an. Das Fantastische fließt auf verbaler Ebene etwa durch die Rückkehr von Tom Toms Stimme aus dem Jenseits in den Film ein und visuell durch die Traumbilder, die ihn die realen Ereignisse um Izzys Tod in langsam verzerrender Zeitlupe wieder vor Augen führen. Auch darf in diesem Zusammenhang nicht vergessen werden, dass The Million Dollar Hotel ursprünglich als Science-Fiction-Film geplant war und Wim Wenders hauptsächlich aus finanziellen Gründen von diesem Plan abkam.64 Abenteuerlich wird der Film natürlich durch den angeblichen Mord an
64 Wim Wenders erklärt dies im Audiokommentar zu The Million Dollar Hotel auf der von »Concorde Home Entertainment« für den deutschsprachigen Raum veröffentlichten DVD während der Szene, in der Tom Tom den Mord an Izzy gesteht (bei einer Filmlaufzeit von 1.16.19). Vgl. hierzu auch Guntram Vogt: »Nach dem Kino. The Million Dollar Hotel«, in: Volker Behrens (Hg.), Man of Plenty – Wim Wenders, Marburg: Schüren 2005, S. 84, Fußnote 11. 218
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Izzy und Skinners Versuch, diesen aufzuklären. In diesem Zusammenhang trifft man auch auf ein Beispiel für Ausnahmesituationen, denn das plötzliche Auftauchen eines Designer-Anzüge tragenden FBI-Agenten stellt in der schäbigen Welt des Million Dollar Hotels selbstredend eine aufsehenerregende Ausnahme dar. Als Folge der »Darstellung eines derben Naturalismus auf öffentlichen Plätzen« wurde The Million Dollar Hotel von der Motion Picture Association of America mit R (restricted) bewertet, was bedeutet, dass Jugendliche unter siebzehn den Film nur in Begleitung von Erwachsenen sehen dürfen. Als Gründe für diese Beschränkung wurden »language and some sexual content«65 angegeben, was wohl unter anderem auch auf die derben, sexuell konnotierten Flüche abzielt, die von einigen der Protagonisten recht häufig ausgestoßen werden. Gerade die verbal auf derbe Körperlichkeit und Sexualität anspielenden Szenen in The Million Dollar Hotel tragen unverkennbar karnevalistische Züge und regen deshalb auch oft zum Lachen an. Wie etwa der folgende Dialog zwischen Vivien und Stix zeigt, der während jenem Treffen im Billardzimmer stattfindet, bei dem die Hotelbewohner beschließen Geronimos Bilder als Izzys auszugeben: »Stix: I just lent Izzy my room sometimes. Nice room, bachelor pad… Izzy brought a girl sometimes. Vivien: He never brought me to your room. Stix (laut lachend): No! He brought the ones from the clubs. Vivien: And what are you saying?! That I wasn’t good enough for your bachelor-pad-shit-box? Stix (wütend): Hey! No shit in my box, babe. Ain’t no shit in my veins! Vivien (wie eine Furie auf Stix losgehend): Oh, I’m gonna break your black balls!« Das Billardzimmer steht im »Million Dollar Hotel« allen Gästen als Versammlungsraum offen und stellt demnach laut Bachtin einen öffentlichen Ort dar. Wenn Vivien sich also im Billardzimmer vor allen anderen Hotelbewohnern als spärlich bekleidete, wüst fluchende Furie gebärdet, entspricht sie perfekt dem von Bachtin angeführten, derben Naturalismus auf öffentlichen Plätzen. Die im fünften Punkt genannte »vertikale« Verortung der Handlung zwischen Himmel, Erde und Hölle wird durch Tom Toms Sprung vom
65 Zitiert nach »The Internet Movie Database« (IMDb): http://www.imdb. com/title/tt0120753/ vom 12. Juli 2008. In Deutschland wurde der Film von der FSK (Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft) bereits ab 12 Jahren freigegeben. 219
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Hoteldach symbolisiert und durch seine Stimme, die aus dem Jenseits zurückkehrt, um seine Geschichte zu erzählen, explizit hervorgehoben. Auf die Thematisierung von Wahnsinn, Träumen und Visionen trifft man andauernd in The Million Dollar Hotel. Man erinnere sich in diesem Zusammenhang nur an Dixies Wahn, der fünfte Beatle zu sein. Außerdem erfährt man über Geronimo und Eloise, dass sie wegen angeblicher Wahnvorstellungen in Nervenheilanstalten waren, und als Skinners Assistent Best das Hotel das erste Mal betritt, urteilt er ohne zu zögern: »This place is a freak-show.« Auch Träume werden thematisiert und zwar sowohl Nacht- als auch Tagträume, denn nachts sieht Tom Tom im Traum immer wieder Izzys Sturz vom Dach und tagsüber träumen all die gesellschaftlichen Verlierer im Hotel vom plötzlichen Reichtum, den ihnen Izzys – respektive Geronimos – Bilder bescheren sollen. Etwas weiter ausholen muss man beim Gattungsspektrum, das laut Bachtin in einem der karnevalistisch-menippeischen Tradition zugehörigen Werk auftauchen kann. Bachtin spricht natürlich ausschließlich von literarischen Gattungen wie Briefen, Reden und Novellen, die in die Menippea aufgenommen werden. Wenders hat aber einen Film gedreht, der – wie er selbst sagt – eine ganze Reihe von Filmgenres wie Thriller, Komödie und Romanze in sich vereint und somit die typisch menippeische Mischform von der Literatur löst, und sie auf den Film überträgt. Allerdings muss an dieser Stelle nochmals daran erinnert werden, dass The Million Dollar Hotel ein intermediales Gesamtkunstwerk darstellt, in dem sich eine Vielzahl von Kunstformen auf hohem Niveau vereinen: angefangen bei Izzys Gedichten, die von Nicholas Klein geschrieben wurden, über Geronimos Teerbilder, die in Wirklichkeit vom New Yorker Künstler Julian Schnabel stammen, bis hin zu der extra für den Film komponierten Musik von U2, für deren Song The Ground Beneath her Feet Salman Rushdie den Text verfasste. Die journalistische Aktualitätsbezogenheit wird schließlich auf zwei Ebenen dargestellt: Zum einen taucht sie immer wieder in der Person der überdrehten Nachrichtensprecherin Jean Swift, als eine Art Karikatur eines sensationslüsternen Fernsehreporters auf, der es bei der Suche nach einer Toppstory mit der Wahrheit nicht so genau nimmt. Und zum anderen kommt sie auf einer quasi-dokumentarischen, gesellschaftskritischen Ebene zum Tragen, wenn Wim Wenders mit seiner ganz spezifischen, poetischen Bildsprache die Lebensumstände der Verlierer des amerikanischen Traums thematisiert. In The Million Dollar Hotel trifft man aber auch auf eine weitere, nicht explizit menippeische Karnevalskategorie, die schon in Hakuchi während des Yuki Matsuri und in Návrat idiota während des Silvesterballs angedeutet wird: auf das Verkleiden und das damit verbundene
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Spiel mit verschiedenen Identitäten. Wie Wenders in dem als Motto diesem Kapitel voran gestellten Zitat feststellt ist »im Million Dollar Hotel […] nichts so wie es scheint und niemand ist das, wofür er sich ausgibt.«66 Dieses Spiel mit verschiedenen Identitäten äußert sich im Film schon im Auftreten und in der Kleidung der Protagonisten. Dixie zum Beispiel, der das Hotel seit der Ermordung John Lennons im Dezember 1980 nicht mehr verlassen hat, spricht einen breiten Liverpooler Dialekt und trägt altmodische Hippieklamotten. Geronimo verkleidet sich wiederum als Indianer und Shorty, der sich wie ein einflussreicher Hollywood-Agent benimmt, trägt ein schlecht sitzendes Toupet, das ihm ausgerechnet bei den Fernsehinterviews mit Jean Swift dauernd verrutscht. Aber auch Skinners edle Designer-Anzüge dienen letztendlich als eine Art Verkleidung. Der FBI-Spezialagent versteckt unter ihnen seinen von unzähligen Operationsnarben gezeichneten Körper und seine schmerzliche Vergangenheit als Attraktion einer Kuriositätenshow. Ganz besonders herrliche Verkleidungen tragen die Bewohner des »Million Dollar Hotels« während des großen Empfangs am Ende des Films, bei dem Izzys Bilder einer breiteren Öffentlichkeit vorgestellt werden sollen. Vivien zum Beispiel, die normalerweise in ihren schmuddeligen, dunklen Punker-Klamotten wie eine böse Hexe aussieht, trägt an diesem Abend ein viel zu kurzes, viel zu tief dekolletiertes hellblau glitzerndes Abendkleid, das ihr nicht richtig zu passen scheint, und in dem sie ziemlich erfolglos versucht elegant zu wirken. Im Gegensatz dazu lässt Eloises wunderschönes Abendkleid, in dem schon ihre Großmutter Jessica in den 1930er Jahren beeindruckte, die Trägerin, die ansonsten nur in ausgeleierten Jogginghosen und verwaschenen Shirts herumläuft, wie eine Prinzessin strahlen. Für Wim Wenders selbst war das Verkleiden während der Karnevalszeit neben amerikanischen Filmen und Comics eines der wenigen Ereignisse, das Farbe und Fröhlichkeit ins so »schmerzhaft kaputt[e]«67 Nachkriegsdeutschland seiner Kindheit brachte: »Wenn die Leute Spaß hatten, dann an Karneval, da waren sie ein paar Tage außer Rand und Band. Schon als Kind fand ich diesen rheinischen Drei-TageHumor zum Davonlaufen. Ich habe mich aber gern verkleidet, natürlich als Cowboy. Dass man das Kostüm am Aschermittwoch für ein Jahr einmotten musste, fand ich allerdings abtörnend. Das ging damit einher, dass die Leute auch gleich wieder ihre Leichenbittermienen aufsetzten.«68 66 Wim Wenders in D. J. DeJoseph: The One Dollar Diary. 67 Wim Wenders: A Sense of Place. Texte und Interviews herausgegeben von D. Bickermann, Frankfurt/Main: Verl. der Autoren 2005, S. 40. 68 Ebd., S. 230. 221
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Wenn also Michail Bachtin für Dostoevskij feststellt, dass dessen karnevalistische Prägung nur mehr indirekt über die Literatur verlief, so gilt für Wim Wenders, dass er jene letzten Überreste des einstmals so fröhlich befreienden Karnevalstreibens, die sich bis heute erhalten haben, direkt miterlebte. Und wie aus dem obigen Zitat hervorgeht, erkannte er schon als Kind, dass diese Form des Karnevals sinnentleert war und den ursprünglichen, befreienden Charakter beinah gänzlich eingebüßt hatte. Doch das Verkleiden, die Urform der Schauspielerei, begeisterte Wim Wenders wie man sieht schon damals, und in The Million Dollar Hotel spielt dieses karnevalistische Kriterium eine gewichtige Rolle. Was Wenders’ Film aber am nachhaltigsten mit der Bachtin’schen Karnevalstheorie verbindet und was er wiederum mit Dostoevskijs Roman gemein hat, sind die in geballter Ladung vorkommenden, karnevalistischen Skandalszenen. Denn in The Million Dollar Hotel trifft man sogar noch öfter auf derartige Szenen als in Dostoevskijs Idiot: im Film gibt es genau acht von ihnen. Und ebenso wie im Dostoevskij-Roman fungieren die karnevalistischen Skandalszenen auch im Wenders-Film als neuralgische Makrosequenzen. Viel ausgeprägter als in den an Dostoevskij angelehnten Filmen Hakuchi und Návrat idiota wird deshalb durch die Skandalszenen in The Million Dollar Hotel der bisher von einem Protagonisten vorherrschende Eindruck verändert und die Handlung in eine unerwartete Richtung gelenkt. Ausgelöst wird die Flut an Skandalszenen durch das Auftauchen der Fernsehreporterin Jean Swift im Hotel, die hinter Izzys Tod eine skandalträchtige Story wittert. Indem also in das Medium Film das andere Medium Fernsehen eingebracht und dessen umstrittene Bedeutung als Meinungsmacher thematisiert wird, eröffnen sich plötzlich dem ursprünglich von Bachtin dem Medium Literatur zugeschriebenen Karnevalsmerkmal der Skandalszene ungeahnte Möglichkeiten. Der kleine Schneeball, den der erste Fernsehauftritt der Hotelbewohner ins Rollen bringt, und der auch gleich die erste karnevalistische Skandalszene darstellt, wächst immer weiter an und zieht immer neue, noch größere und überraschendere Skandalszenen nach sich, bis die Lawine schließlich durch Tom Toms Selbstmord jäh gestoppt wird. Daran ist besonders bitter, dass sich Tom Tom zu Beginn des Films als er die Autos und Übertragungsanlagen von »channel 6« vor dem Hotel entdeckt, wie ein kleines Kind über die Anwesenheit des Fernsehens freut und noch nicht ahnt, dass die unseriösen Geschichten, die Jean Swift in Umlauf setzen wird, letztendlich viel gefährlicher für ihn sein werden als Skinners gefürchtete Untersuchungen. Betrachten wir nun aber die karnevalistischen Skandalszenen in The Million Dollar Hotel der Reihe nach: Die erste beginnt nach knapp 24 Filmminuten damit, dass Geronimo, der sich ja das Zimmer mit Izzy ge-
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teilt hatte, von Jean Swift interviewt wird. Dabei wird das kleine Hotelzimmer des vermeintlichen Navajo-Häuptlings gleich durch zwei Aspekte in einen öffentlichen Raum verwandelt. Zum einen belegt tatsächlich eine ganze Reihe von Mitarbeitern der Fernsehgesellschaft mit ihrem ganzen Equipment die Gänge des Hotels und bricht damit in den intimen Innenraum des Zimmers ein. Und zum anderen erzeugen die Fernsehkameras ja Bilder, die in den Abendnachrichten in ganz Kalifornien ausgestrahlt werden, wodurch Geronimos Zimmer auch im übertragenen Sinne der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird. Während des Gesprächs vergisst Geronimo zu erwähnen, dass die Teerbilder, die hinter ihm an der Wand hängen, von ihm stammen, und diese kleine Unachtsamkeit löst den ersten Skandal aus. Als sich am Abend in der Lobby alle Hotelbewohner gemeinsam die Nachrichten ansehen, muss Geronimo hilflos mitanhören wie Jean Swift behauptet, Izzy hätte die Bilder gemalt. Diese Verwechslung macht ihn so wütend, dass er im Anschluss daran Tom Tom beinah vom Hoteldach stößt. Wim Wenders hat in dieser Szene geschickt mit den Bildern des fiktiven Fernsehteams gearbeitet, um unmerklich einen Zeitsprung und eine Ortsveränderung vorzunehmen: Während Geronimo mit Jean Swift am helllichten Tag in seinem Zimmer spricht, wird er in amerikanischer Einstellung von einer Kamera gefilmt, die hinter der des fiktiven Fernsehteams positioniert ist. Da erfolgt plötzlich ein Schnitt und das nächste Bild zeigt Geronimo in Großaufnahme, wie er aus dem Fernsehapparat in der Lobby herausschaut, vor dem sich die gesamte Schar der Hotelbewohner versammelt hat; doch nun ist es bereits Abend. Trotz dieses Zeitund Ortswechsels werden die Bilder aber durch das durchgehende Interview zu einer einheitlichen Szene verbunden, in der noch dazu alle Merkmale einer karnevalistischen Skandalszene auftauchen. Da Geronimo sehr nervös ist, zappelt er vor der Kamera wild gestikulierend herum. Jean Swift ist angesichts des exzentrischen Verhaltens ihres Gesprächspartners irritiert, riecht aber förmlich die skandalöse Story und geht deshalb eine karnevalistische Mesalliance mit ihrem verrückten Gesprächspartner ein. In der Hotellobby, die eindeutig einen öffentlichen Platz darstellt, versammelt sich eine große Gruppe von Zusehern, die sowohl Zeuge von Jean Swifts skandalöser, weil schlecht recherchierter Behauptung über den vermeintlichen Maler der Teerbilder wird, als auch von Geronimos Wutanfall. Und zur neuralgischen Makrosequenz wird dieses erste Fernsehinterview schließlich, weil Geronimo, der bisher nicht besonders auffiel, plötzlich seine gewalttätige Ader zeigt, und der gesamte, die spätere Handlung wesentlich beeinflussende Betrug mit den Bildern in Jean Swifts Irrtum wurzelt.
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Kurz darauf (nach exakt 28 Filmminuten) folgt bereits die zweite karnevalistische Skandalszene, und diese entspricht den Bachtin’schen Definitionspunkten so genau, dass man beinah glauben könnte, der russische Literaturwissenschaftler habe – insgeheim und gut 25 Jahre nach seinem Tod – am Drehbuch zu The Million Dollar Hotel mitgearbeitet. Ausgelöst wird diese Szene durch Skinner, den die Wut über seine ergebnislosen Recherchen zu einer äußerst unorthodoxen, exzentrischen Tat treibt. Um die Hotelbewohner einzuschüchtern, öffnet er das Hauptventil der Wasserleitung. Die von der Alarmglocke aus ihren Zimmern getriebenen Hotelgäste, versammeln sich in teils skurriler Nachtbekleidung in der Lobby, wo Skinner im Schneidersitz auf einem Sockel des Marmorgeländers sitzend die folgende höchst exzentrische Rede an sie hält: »Skinner: Good evening! For those of you who haven’t had the pleasure of meeting me, my name is Special Agent Detective J. D. Skinner of the FBI. They say nobody solved anything down here. Well, I’m here to change all that. I know there’s a killer. I know it’s one of you. And who ever it is I promise you, I’m gonna get you. (Die Hotelbewohner rufen ihm wütende Flüche entgegen. Daraufhin zieht Skinner seine Pistole und schießt in die Luft.) Skinner: […] As you know by now your bathrooms aren’t working. But before I’m finished, there’ll be no bathrooms, there’ll be no rooms, there’ll be no hotel. There will be a big hole for all of you to fall into. And I’ll be digging that hole every minute I am here, and the deeper I dig, the deeper you will fall. So […] no matter how strange or despicable you behave, I can do one better, because I work for the government! See, I only want one thing, just one! And if you can enlighten me, everything will be just done! And I will spare, what is left of your miserable lives!«
Während der letzten Worte dieser Rede, als er von der erhofften Erleuchtung spricht, hebt Skinner plötzlich seine Hände, formt mit Daumen und Zeigefinger einen Kreis, sodass seine ganze Körperhaltung an das aus dem Yoga bekannte cincihna mudra69 erinnert, und grinst diabolisch.
69 Das Wort »Mudra« stammt aus dem Sanskrit und bedeuet soviel wie »das, was Freude bringt«. Es bezeichnet symbolische Handgesten und Posen, »die sowohl im alltäglichen Leben, in der religiösen Praxis als auch im indischen Tanz« angewendet werden. (Zitiert nach »Wikipedia. Die freie Enzyklopädie«: http://de.wikipedia.org/wiki/Mudra vom 12. Juli 2008.) Sowohl Buddhastatuen als auch Statuen und Bilder von Hindugottheiten werden mit verschiedenen Mudras dargestellt. Das »cincihna mudra« ist das »Symbol des geistigen Begreifens«, bei dem »Daumen und Zeigefinger […] einen feinen Gegenstand ein »Körnchen der Wahrheit« begreifen.« (Zitiert nach der Website des »Dharmapala Thangka Centre. School of 224
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Dabei wird er vom bläulichen Licht der Schweißgeräte beleuchtet, mit denen einige Handwerker im Hintergrund die Schäden des Wasserrohrbruchs beheben, sodass er wie die teuflische Karikatur einer Buddhastatue wirkt (Abb. 34). Abbildung 34: Skinner imitiert ein Mudra
Quelle: Wim Wenders: The Million Dollar Hotel, USA, Deutschland: Road Movies GmbH 2000, Concorde Home Entertainment GmbH 2001. Zum Skandal kommt es, als plötzlich Eloise die Lobby betritt und Skinner, um mit ihr zu reden, von seinem Sockel springt. Tom Tom, der bis dahin geradezu verzückt Skinners verrückter Rede gelauscht hat, wird mit einem Schlag ernst, und als Skinner Eloise an die Schulter fast, springt er ihm mit einem lauten Aufschrei auf den Rücken. Skinner schüttelt den Angreifer problemlos ab, packt ihn und Eloise, der er auch noch Handschellen anlegt, und wirft die beiden vor den Augen der entsetzten Hotelbewohner auf die untersten Treppenstufen. Neben den Merkmalen karnevalistischer Skandalszenen, trifft man auch hier wieder auf jene neuen Charakterfacetten, die den Handlungsverlauf in eine unerwartete Richtung lenken, und die es uns erlauben von einer neuralgischen Makrosequenz im Sinne Barthes’ zu sprechen. Der mit Abstand unberechenbarste Protagonist ist in diesem Fall Skinner, der sich bisher ziemlich korrekt benommen hat, und nun plötzlich seine wahnsinnige Seite zeigt. Die Angst, die er den Hotelbewohnern mit seinem Verhalten einflößt, ist auch noch in der kurz darauf folgenden dritten Skandalszene zu spüren, bei der sich die Hotelbewohner im Billardzimmer versammeln, um den Betrug mit Geronimos Bildern zu planen. In dieser Szene wimmelt es geradezu von exzentrischen Äußerungen und Handlungen, und eigentlich findet in ihr nicht ein einziger großer, Thangka Painting«: http://www2.bremen.de/info/nepal/Icono/Mudras/Mu dras.htm vom 12. Juli 2008.) 225
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sondern eine ganze Reihe kleinerer Skandale statt. Schon dass Geronimo plötzlich einen Schuldschein von Izzy besitzt, in dem dieser seinem Mitbewohner seine ganze Habe übereignet, ist so ein kleiner Skandal, denn nun kann Geronimo Anspruch auf die angeblich von Izzy stammenden Bilder erheben. Der vermeintliche Navajo-Häuptling entpuppt sich also plötzlich als hinterhältiger, gerissener Betrüger mit erstaunlichem, kriminellem Potential. Darin stehen ihm aber auch die anderen anwesenden Hotelbewohner um nichts nach, die sich plötzlich – trotz aller verrückten Ausfälle und Streitereien – zu einer Betrügerbande zusammenschließen. Die skurrile Abstimmung über den Betrug am Ende der Szene stellt deshalb ebenfalls einen kleinen Skandal dar, denn bis dahin hätte man der Schar von verrückten Hotelbewohnern soviel kriminelles Organisationstalent gar nicht zugetraut. Die vierte karnevalistische Skandalszene beginnt wieder nur einige Minuten später (nach knapp 35 Filmminuten). Sie zeigt wie die Hotelbewohner ihren Plan realisieren, indem sie Jean Swift und ihr Fernsehteam in dem Glauben bestätigen, dass Izzy Geronimos Bilder gemalt hätte. Zu diesem Zweck versammeln sich wieder alle in der Lobby, und jeder erzählt sein eigenes Lügengeschichtchen über den »Maler« Izzy. Doch dabei stellt sich heraus, dass die Verschwörer doch nicht so abgebrüht sind wie sie glauben, denn sie lügen schlecht, machen Fehler und benehmen sich vor der Kamera gekünstelt. Auf Jean Swift und ihr Team, die ja vom Betrug nichts ahnen, wirken die hölzern vorgetragenen Geschichten höchst exzentrisch. Und als die zuckerkranke Jessica auch noch mit treuherzigem Blick vor laufender Kamera gesteht, dass sie dem drogensüchtigen Izzy schon mal eine ihrer Nadeln geschenkt hat, droht die betrügerische, karnevalistische Mesalliance zwischen den Hotelbewohnern und der Fernsehreporterin zu scheitern. Doch da betritt Eloise die Lobby und es kommt zum skandalösen Abschluss der Szene. Eloise geht stumm zu den Teerbildern, kniet vor ihnen nieder und faltet ihre Hände, als ob sie die Bilder anbeten wolle. Jean Swift kniet sich mit dem Mikrophon in der Hand und einem sensationsgierigen Funkeln in den Augen neben Eloise und fragt sie: »Is there something you’d like to say about, why you feel this way?« Eloise zögert einen Moment und antwortet ihr dann stockend und anscheinend tief bewegt: »When something is sacred, it shouldn’t be talked about it.« Durch diese Worte sieht Jean Swift endgültig ihre Skandalstory bestätigt, denn Israel Goldkiss war nun plötzlich nicht bloß ein Junkie, den sein reicher Vater verstoßen hatte, sondern ein verkanntes Genie, der auch noch seine Kunstwerke seinen bettelarmen Freunden vermachte. Für den Zuseher versteckt sich aber hinter diesem offensichtlichen Skandal noch ein zweiter, von dem Jean Swift und ihr Team nichts ahnen und der es wiederum
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erlaubt, diese Fernsehaufzeichnung als neuralgische Makrosequenz zu interpretieren. Eloise, die bisher wie in Trance durch den Film schwebte, konnte als einzige der Hotelbewohner vor der Kamera glaubhaft lügen. Und dies ist gerade deshalb so erstaunlich, weil es für sie, die ja von Izzy brutal vergewaltigt worden war, natürlich am schwersten sein muss, etwas Positives über ihn zu sagen. Doch Eloise schafft es nicht nur Izzy glaubhaft zu loben, sie spricht ihn sogar indirekt heilig und rettet damit die Hoffnungen der Hotelbewohner auf den großen Reichtum. Sie beweist in dieser Szene eine erstaunliche Stärke und Entschlossenheit, die man ihr bis dahin kaum zugetraut hätte und die auch den weiteren Handlungsverlauf wesentlich beeinflussen. Eloises beherzte Lüge strahlt auch auf die fünfte Skandalszene aus, in der der blasierte Kunsthändler Terence Scopey mit seinem englischen Akzent wie ein Wesen von einem anderen Stern über die Welt des »Million Dollar Hotels« hereinbricht und den im Billardzimmer versammelten Hotelbewohnern und nunmehrigen Besitzern von Izzys Bildern eine höchst exzentrische Rede über Kunst hält. An deren Ende bezeichnet Scopey die Teerbilder zwar als »garbage«, aber immerhin als »important garbage« und nach einer kurzen Pause, fügt er hinzu: »As art I like it.« Als die Hotelbewohner daraufhin in Jubel ausbrechen, fügt er todernst und mit gefalteten Händen hinzu: »I can sell it.« (Abb. 35). Der eigentliche Skandal besteht nun nicht nur darin, dass der große Kunstexperte auf den Betrug der Hotelbewohner hereinfällt, sondern auch darin, dass es ihm offensichtlich nur ums Geld geht und er absolut davon überzeugt ist, Müll als Kunst verkaufen zu können. Auch die Tatsache, dass Scopey die Hände wie zum Gebet faltet und somit, ausgerechnet während er vom Verkauf der Bilder spricht, eine religiös motivierte Pose70 einnimmt, stellt zusätzlich einen »scandale en miniature« dar.
70 Im Buddhismus werden die gefalteten Hände als namaskara mudra bezeichnet. Sie sind neben der Geste des Gebets auch jene des Grußes und der Verehrung. (Vgl. hierzu die Mudra-Erklärungen auf der Website des »Dharmapala Thangka Centre. School of Thangka Painting«: http://www 2.bremen.de/info/nepal/Icono/Mudras/Mudras.htm vom 12. Juli 2008.) 227
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Abbildung 35: Der Kunstexperte Scopey faltet seine Hände
Quelle: Wim Wenders: The Million Dollar Hotel, USA, Deutschland: Road Movies GmbH 2000, Concorde Home Entertainment GmbH 2001. In der sechsten karnevalistischen Skandalszene lädt Skinner Tom Tom in ein Restaurant ein, um ihn über Izzys Tod auszuhorchen. Doch Tom Tom wurde von Eloise vorgewarnt und benimmt sich deshalb wie ein kleines Kind, um Skinner zu irritieren. Er spielt mit seinem Essen, imitiert Skinner, gibt laute Quietschgeräusche von sich und liefert somit eine perfekte, öffentliche Karnevalsnarretei. Auf die anderen Gäste im Restaurant wirkt Tom Toms Verhalten natürlich äußerst exzentrisch und sie blicken immer wieder verunsichert zum Tisch der beiden ungleichen Gesprächspartner hinüber. Skinner sieht sich Tom Toms Treiben lange Zeit ruhig an, doch als er nichts aus ihm herausbekommt, droht er Eloise den Mord an Izzy anzuhängen. Nun wird Tom Tom mit einem Schlag ernst und behauptet seinerseits der Mörder Izzys zu sein. Als Skinner über dieses Geständnis lacht, kommt es zum Skandal, denn Tom Tom springt den Spezialagenten über den Tisch hinweg an und die beiden Männer prügeln sich vor den Augen der entsetzt schreienden Restaurantgäste am Boden. Als Skinner schließlich auf dem wehrlos am Boden liegenden, die Augen fest zusammenpressenden Tom Tom sitzt, folgt noch ein zweiter Skandal. Denn der Spezialagent flüstert Tom Tom in diesem Moment zu, dass er, wenn dieser die Augen weiterhin geschlossen hält, Eloise verhaften wird. Sollte Tom Tom das rechte Auge zuerst öffnen, will Skinner Geronimo verhaften, und sollte sich sein linkes Auge zuerst bewegen Dixie. Tom Tom ist somit in der Falle, und als sein rechtes Auge zuckt, springt Skinner sofort hoch und ruft: »Hi-ho Geronimo!« Wiederum eröffnet sich also durch den Skandal eine neue Charakterfacette eines Protagonisten, denn so unberechenbar Skinner sich auch bisher benommen haben mag, dass er plötzlich derart schäbig Informationen – noch dazu vom hilflosesten der Hotelbewohner – erpressen würde, hätte man ihm letztendlich doch nicht zugetraut. Noch erstaunlicher ist, dass Skinner 228
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auch tatsächlich Geronimo verhaftet, und damit den Hotelbewohnern den offiziellen Erben der Bilder und mit diesem ihre Hoffnung auf Reichtum wegnimmt. In der siebten karnevalistischen Skandalszene treffen sich deshalb auch die um ihren Traum betrogenen Hotelbewohner in Jessicas Zimmer, um gemeinsam zu überlegen, wie sie Geronimo frei bekommen könnten. Wieder halten viele von ihnen exzentrische Reden: Vivien flucht wie ein Bierkutscher auf Skinner, Shorty will seine ehemaligen Agentenfreunde aus Hollywood um Hilfe bitten und Dixie schwafelt von den Grammies, die er nie erhalten hat. Eloise, die an der Schwelle der offenen Tür steht – und sich somit nach Bachtin an einem typisch karnevalistischen Ort befindet – hört dem Gejammer der anderen eine Zeit lang stumm zu, dann meint sie plötzlich, dass man Skinner nur einen anderen Mörder präsentieren müsste, um Geronimo frei zu bekommen. Der Skandal ereignet sich als ihr Dixie entgegnet, dass wohl nur jemand der so dumm sei wie Tom Tom den Mord an Izzy freiwillig gestehen würde. Daraufhin schweigen alle Anwesenden wie vom Donner gerührt und an den sich aufhellenden Gesichtern kann man erkennen, dass dieser Gedanke allen gefällt: bis auf Eloise. Sie blickt entsetzt in die Runde, erkennt sofort die skandalösen Absichten der anderen und schreit ihnen entsetzt »No! Not Tom!« entgegen. Doch Dixie, Shorty, Vivien, Stix, ja sogar die bisher so grundgütige Jessica haben bereits beschlossen Tom Tom zu opfern. Selbst noch in dieser siebten Skandalszene, die immerhin erst nach gut 72 Filmminuten beginnt, zeigen eine ganze Reihe von Protagonisten eine überraschend neue Seite ihres Charakters, die wiederum den Handlungsverlauf in eine unerwartete Richtung lenkt. Denn so verrückt und exzentrisch sie sich bisher auch benommen haben, keinem von ihnen hätte man zugetraut, dass er einen anderen verrät. Doch nun werden plötzlich alle bis auf Eloise zu Verrätern, und sie sind sogar dazu bereit, ausgerechnet ihr schwächstes Mitglied Tom Tom der Polizei auszuliefern. In der achten und letzten Skandalszene, der großen Fernsehgala in der Lobby, vereinen sich alle karnevalistischen Merkmale noch einmal zu einem fulminanten Höhepunkt. Wie bereits erwähnt, wirken die festlich herausgeputzten Hotelbewohner in dieser Szene, als ob sie sich für ein Karnevalsfest verkleidet hätten. Durch die Anwesenheit von Stanley Goldkiss, dem Kunstexperten Terence Scopey, dem channel-6-Fernsehteam um Jean Swift und anderer Hollywood-Persönlichkeiten kommt es zu wunderbaren, karnevalistischen Mesalliancen zwischen diesen Vertretern der so genannten besseren Gesellschaft und den Hotelbewohnern. Für eine dieser Mesalliancen sorgt Vivien, die sich ja für Izzys Verlobte hält, indem sie selbstbewusst auf Stanley Goldkiss zugeht, ihn mit »Hey Dad!« begrüßt und dem perplexen Medienmogul um den Hals fällt. Aber
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auch Shorty mit seinem verrutschenden Toupet und der andauernd Beatles-Texte zitierende Dixie in seinem weißen Anzug verursachen einige exzentrisch-karnevalistische Zwischenfälle. Überschattet wird der Galaabend von der polizeilichen Suche nach Tom Tom, dessen Geständnis in der Zwischenzeit im Fernsehen ausgestrahlt wurde. Und schließlich kommt es zum großen, alles auflösenden Skandal, als Skinner dem Kunstexperten Scopey den Tipp gibt, sich die Teerbilder etwas genauer anzusehen. Als Scopey daraufhin, vor laufender Kamera und mit Jean Swifts aufgeregt kommentierender Stimme im Hintergrund, die Teerschicht von einem der Bilder ablöst, kommt darunter ein anderes, kürzlich aus einer New Yorker Galerie gestohlenes Bild zum Vorschein. Es stellt sich heraus, dass Geronimo sein Diebesgut einfach unter den Teerschichten versteckt hatte, und der Traum der Hotelbewohner vom großen Reichtum zerspringt mit diesem Skandal in tausend Scherben. Wie schon in der ersten Skandalszene lässt Wim Wenders auch in der letzten gekonnt das Medium Fernsehen in seinen Film einfließen. Die Fernsehbilder des fiktiven Kamerateams und Jean Swifts aufgeregte Kommentare erfüllen damit gleich zwei Aufgaben: Durch sie werden sowohl unseriöse, sensationsgierige Fernsehjournalisten parodiert, als auch – wie schon in der ersten Skandalszene – verschiedene Handlungsorte und Zeitebenen thematisch miteinander verknüpft. So sehen sich die meisten der Hotelbewohner Tom Toms Geständnis, das schon viel früher aufgezeichnet wurde, im Fernsehen an, während die Gala schon begonnen hat, und vom Skandal um die gestohlenen und mit Teer übergossenen Bilder erfahren Tom Tom und Eloise aus dem kleinen Fernsehapparat in einem Fast-Food-Restaurant, wohin sie vor der Polizei geflüchtet sind. Wim Wenders gelingt es somit nicht nur, in seinem Film das Medium Fernsehen zu thematisieren, er setzt es auch gezielt ein, um mit seiner Hilfe Orts- und Zeitwechsel zu inszenieren.
6 . 7 F az i t : D i e D ar s t e l l u n g k ar n e v al i st i s c h e r S k a n d al sz e n e n i m F i l m Während sich die vorangegangene Untersuchung des triangulären Begehrens gemäß Girard den Besonderheiten der Personenkonstellation in Dostoevskijs Roman Der Idiot und den Filmen Hakuchi, Návrat idiota und The Million Dollar Hotel widmete, und sich demnach Roland Barthes’ Ebene der Handlungen zuordnen lässt, wurde in diesem Abschnitt eine Makrosequenz oder Episode untersucht, die Barthes der nächst kleineren Ebene der Funktionen zugeteilt hat. Die besondere handlungstragende
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Bedeutung dieser Makrosequenz, die in Anlehnung an Michail Bachtin als karnevalistische Skandalszene bezeichnet wurde, konnte in allen vier Werken nachgewiesen werden. Doch während Akira Kurosawa in seine ansonsten sehr werktreue Literaturverfilmung Hakuchi nur zwei der sieben karnevalistischen Skandalszenen aus dem Idioten direkt transferierte und sogar noch in diesen das Lachelement drastisch reduzierte, baute Saša Gedeon seinen an Dostoevskijschen Motiven angelehnten Film viel deutlicher auf dem von Bachtin als reduziertes Lachen bezeichneten Karnevalsmerkmal auf. Und schließlich vereint Wim Wenders’ Film, der sich überhaupt nicht auf Dostoevskijs Roman bezieht, am eindeutigsten alle menippeisch-karnevalistischen Merkmale gemäß Bachtin in sich. In Anlehnung an Roland Barthes wurden außerdem die karnevalistischen Skandalszenen in Dostoevskijs Roman als neuralgische Makrosequenzen bezeichnet, was heißt, dass sie aufgrund der unerwartet in ihnen zum Vorschein tretenden, neuen Charakterfacetten der Protagonisten auch eine Neuorientierung der Handlung auslösen können. Auch im Zusammenhang mit diesem Begriff stößt man beim Vergleich zwischen dem Roman und den drei Filmen auf erstaunliche Ergebnisse: Wiederum lassen sich die karnevalistischen Skandalszenen in The Million Dollar Hotel am ehesten als neuralgische Makrosequenzen bezeichnen, da in beinah jeder von ihnen die Entlarvung einer bestimmten Charaktereigenschaft die Handlung maßgeblich beeinflusst. Da es aber in Hakuchi und in Návrat idiota viel weniger karnevalistische Skandalszenen als in The Million Dollar Hotel gibt, prägen sie auch den Handlungsverlauf nicht so entscheidend wie jene im Wenders-Film. Während in Hakuchi die unheilverkündende Grundstimmung, die auf das tragische Ende Kamedas und Taekos vorausdeutet, auch in den Skandalszenen dominiert, durchzieht Návrat idiota ein subtiler, oftmals skurril-komischer Grundtenor, der allerdings niemals in eine schrill-bunte Karnevalsstimmung übergeht.
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7. F I L M I S C H E E R Z Ä H L T E C H N I K , ERZÄHLPERSPEKTIVE UND PHÄNOMENOLOGIE V E R K E N N U N G (H O R S T -J Ü R G E N G E R I G K )
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»Verkennen heißt: nicht erkennen, aber so, dass man das nicht Erkannte für etwas anderes hält, für etwas, das es nicht ist, und dabei meint, das Erkannte als das erkannt zu haben, was es in Wahrheit ist.« (Horst-Jürgen Gerigk)1
7.1 Das filmische Erzählen Für diese Arbeit, die Dostoevskijs Roman Der Idiot im intermedialen Kontext von Literatur und Film untersucht, ist es besonders interessant, dass einer der renommiertesten Dostoevskij-Spezialisten, der Heidelberger Komparatist und Slawist Horst-Jürgen Gerigk, Dostoevskijs Erzähltechnik bereits in mehreren Arbeiten als filmisch bezeichnet hat und im Zusammenhang mit Dostoevskijs Werken auch eine Reihe von filmtechnischen Begriffen verwendet. Die Grundüberlegung, von der Gerigk dabei ausgeht, ist, dass Dostoevskij »szenisch« erzählt und dabei zu aller erst eine »Großaufnahme kommentarlos präsentiert«, deren Kontext vom Leser erst allmählich erschlossen werden muss. Das Ergebnis dieser poetologischen Vorgehensweise ist »ein intensiv wahrgenommenes Bild und gleichzeitig ein regelrecht quälendes Informationsdefizit.«2 Diese Technik der »Großaufnahme mit Erklärungsnotstand« hat Gerigk in einem 1998 erschienenen Aufsatz am konkreten Beispiel des Idioten nachgewiesen, wobei er die Untersuchung der Erzähltechnik auf den
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H.-J. Gerigk: »Dostojewskijs Roman ›Der Idiot‹ als Phänomenologie der Verkennung«, S. 55. Horst-Jürgen Gerigk: »Literarische Ost-West-Passagen: Dostoevskij, Tolstoj, Turgenev und Čechov im interkulturellen Kontext«, in: Barbara Aufschnaiter/Dunja Brötz (Hg.), Russische Moderne Interkulturell. Von der Blauen Blume zum Schwarzen Quadrat, Innsbruck, Wien: StudienVerlag 2004, S. 55. 233
DOSTOJEWSKIS »DER IDIOT« IM SPIELFILM
ersten Teil des Romans beschränkt. Ausgehend vom ersten und vom letzten Satz des ersten Teils, die wie folgt lauten: »Ende November, bei Tauwetter, gegen neun Uhr morgens, näherte sich ein Zug der PetersburgWarschauer-Eisenbahnlinie mit Volldampf Petersburg.«3 und »Und Afanassij Iwanowitsch seufzte aus tiefstem Herzen.«4, belegt Gerigk, dass Dostoevskij den Roman mitten im Geschehen beginnen und den ersten Teil auch ebenso enden lässt: »Es werden uns, grundsätzlich gesehen, Großaufnahmen, ja Ausschnittvergrößerungen eines laufenden Geschehens geboten. Dieses laufende Geschehen wird zwar innerhalb der gezeigten Ausschnitte im Detail geschildert, nicht aber sein Kontext. Den Zusammenhang, das Ganze, von dem der dargebotene Ausschnitt ein Teil ist, müssen wir erschließen.«5
Im Idioten – besonders im ersten Teil des Romans – lassen sich diese Beobachtungen Gerigks absolut klar nachvollziehen, problematisch ist es meines Erachtens allerdings, sie zu verallgemeinern und generell auf alle großen Werke Dostoevskijs umzulegen. Die beiden auf den Idioten folgenden Romane Die Dämonen (1873) und Der Jüngling (1876) sind beispielsweise in der Erzählperspektive eines Ich-Erzählers verfasst, der chronologisch vorgeht und von Anfang an jedes Detail genau erklärt. Auf kommentarlos präsentierte Bilder trifft man in diesen Werken kaum mehr. Meiner Meinung nach koppelt Dostoevskij die filmische Erzähltechnik des unerklärten Bildes an die spezifische Erzählperspektive des unzuverlässigen Erzählers, auf die im folgenden Teilkapitel noch ausführlicher eingegangen wird. Für Dostoevskijs kommentarlos präsentierte Großaufnahme, von der Gerigk spricht, ist bezeichnend, dass sie den Leser, wie das erste Bild im Film, schon in den ersten Sätzen des ersten Kapitels überfällt. Ziehen wir zur Verdeutlichung einen anderen, großen Meister dieser »Großaufnahmen mit Erklärungsnotstand« zu Rate: Franz Kafka. Man betrachte nur den berühmten, ersten Satz der Verwandlung (1915), um sofort das unerklärte Bild vor Augen zu haben: »Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt.«6 Unter den Werken Dostoevskijs kann bestimmt auch Verbrechen und Strafe (besser bekannt als Schuld und 3 4 5 6
F. Dostojewskij: Der Idiot, S. 7. Ebd., S. 256. Horst-Jürgen Gerigk: »Dostoevskijs Erzähltechnik im ersten Teil seines Romans ›Der Idiot‹ «, in: Scando-Slavica 44 (1998), S. 7. Franz Kafka: »Die Verwandlung«, in: Ders., Das Urteil und andere Erzählungen, Frankfurt/Main: Fischer TB 1985, S. 19. 234
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Sühne 1866) mit dieser besonderen filmischen Erzähltechnik aufwarten. Der erste Satz konfrontiert den Leser sofort mit einem unerklärten Bild: »Anfang Juli, an einem außergewöhnlich heißen Tage, verließ ein junger Mann gegen Abend seine Dachstube, die er in einem Hause der S.schen Querstraße als Untermieter bewohnte, trat auf die Straße hinaus und ging langsam, wie unentschlossen, in der Richtung zur Kukuschkin-Brücke.«7 Auf die sofort auftauchenden Fragen: »Wer ist der junge Mann?«, »Wohin geht er?« und »Welche Absicht verfolgt er?«, gibt Dostoevskij erst allmählich im Verlauf der folgenden Kapitel Antwort. Doch, wie schon erwähnt, ist in den Dämonen und im Jüngling keine Spur mehr von einem solchen, unerklärten Eröffnungsbild. Die Dämonen beginnen sogar mit der Erklärung des Erzählers, dass er, bevor er dem Leser die Ereignisse aus seiner Kleinstadt schildern kann, den hoch angesehenen Stepan Trofimovič Verchovenskij vorstellen muss. Von einem Erklärungsnotstand kann in diesem Fall also keine Rede sein, und auch der Ich-Erzähler im Jüngling erläutert zunächst ausführlich, dass er nun damit beginnen wird, seine Lebensgeschichte niederzuschreiben. Ich möchte also nochmals betonen, dass die von Gerigk festgestellte filmische Erzähltechnik kein generelles Merkmal der Werke Dostoevskijs darstellt, im Idioten aber durchaus nachzuweisen ist und deshalb für diese intermediale Untersuchung eine wichtige Rolle spielt.
7.2 Der unzuverlässige, filmische Erzähler Um das filmische Erzählen im Idioten zu realisieren, verwendet Dostoevskij laut Gerigk eine besondere Erzählperspektive, die eine unmittelbare, äußerliche Beschreibung der Personen und Begebenheiten im Hier und Jetzt zulässt, aber keine absoluten Aussagen über vergangene Ereignisse, Gefühlswelten und innere Zustände der Protagonisten. Dostoevskij schildert den Roman deshalb aus der Perspektive eines imaginären Erzählers, über den Gerigk konkret feststellt: »Dostoevskij arbeitet im Idioten mit einem imaginären Erzähler, der die Menschen und Ereignisse wie das Auge einer Kamera erfasst. Dieser Erzähler kann nur »von außen« schildern; Gefühle, die eine Person hat, müssen sich zeigen, müssen sich äußern, damit sie erzählt werden können. […] Dostoevskij erzählt hier mit dem Auge einer (Film-)Kamera, die auch nur »aufnehmen« kann, was im Sichtbaren da ist. So werden Myškin und Rogožin vom Erzähler zunächst nur »der Blonde« (belokuryj) und »der Schwarzhaarige« (černovolosyj) ge7
Fjodor M. Dostojewski: Rodion Raskolnikoff. Schuld und Sühne. Aus dem Russischen von E. K. Rahsin, München, Zürich: Piper 1996, S. 7. 235
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nannt, bis sie sich einander vorstellen, d.h. bis ihre Namen innerfiktional ausgesprochen werden. Erst danach nennt sie auch der Erzähler »Myškin« und »Rogožin«.«8
Dostoevskijs Erzähler im Idioten ist somit kein allwissender, auktorialer Erzähler. Da er mit seinem Kameraauge nur tatsächlich Sichtbares wahrheitsgetreu wiedergeben kann, wird er zum Unsicherheitsfaktor, sobald sich das Geschehen nicht mit unmittelbar stattfindenden, offensichtlichen Vorgängen beschäftigt. In diesen Fällen verlässt sich der Erzähler gerne auf spekulative Aussagen und Gerüchte, die ihm aus zweiter Hand zugetragen wurden, und läuft dadurch ständig Gefahr, die Unwahrheit zu verbreiten. Der Leser misstraut ihm deshalb mit der Zeit, und somit wird der filmische Erzähler auch zu einem unzuverlässigen Erzähler. In diesem Zusammenhang gibt es eine auffällige Parallele zwischen Gerigks Überlegungen und jenen Michail Bachtins. Wenn Bachtin in Probleme der Poetik Dostoevskijs feststellt, dass Dostoevskij seinem literarischen Helden jenes Blickfeld eröffnet, das bis dahin vom Autor besetzt wurde, und seine Wirklichkeit kein übergeordneter Erzähler, sondern der Held selbst mittels Selbstreflexion beschreibt, erkennt auch er – ebenso wie Gerigk – die Demontage des allwissenden Erzählers.9 Im Gegensatz zu Gerigk, der mit der Ortung eines filmischen Erzählers im Werk Dostoevskijs bereits mediale Grenzen überschreitet, geht es Bachtin mit der Feststellung, der erzählerische Schwerpunkt verlagere sich bei Dostoevskij vom Autorenwort zum Heldenwort, aber um den Beweis seiner Theorie des polyphonen Romans: »Nicht nur die ureigene Wirklichkeit des Helden, sondern auch die ihn umgebende Außenwelt und sein Milieu werden in den Prozess des Selbstbewusstseins hineingezogen, werden aus dem Gesichtskreis des Autors in jenen des Helden versetzt. Alle diese Faktoren befinden sich nicht mehr auf der gleichen Ebene wie der Held, neben ihm und außerhalb seiner in der einheitlichen Welt des Autors. Deshalb vermögen sie den Helden auch nicht mehr kausal und genetisch zu bestimmen. Ihre erklärende Funktion im Werk ist ausgespielt. […] Dem alles in sich hineinschlingenden Bewusstsein des Helden vermag der Au-
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H.-J. Gerigk: »Dostoevskijs Erzähltechnik im ersten Teil seines Romans ›Der Idiot‹ «, S. 7. Dieser von Gerigk erkannte Kunstgriff lässt sich übrigens auch in Verbrechen und Strafe nachweisen: Der Erzähler nennt Raskol’nikovs Namen erst nachdem sich dieser selbst bei der alten Wucherin vorgestellt hat. Vgl. hierzu M. Bachtin: Literatur und Karneval, S. 86ff. sowie M. Bachtin: Probleme der Poetik Dostoevskijs, S. 54ff. 236
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tor nur eine bestimmte Art von objektiver Welt entgegenzusetzen: die Welt anderer gleichberechtigter Bewusstseine.«10
Schon in Dostoevskijs Erstling Arme Leute erkennt Bachtin die Verschiebung des erzählerischen Schwerpunkts vom Autor zum Helden und belegt diese mit einem Vergleich zwischen Gogol’s und Dostoevskijs Erzählperspektive. Während Gogol’ seinen Helden Akakij Akakievič in der Erzählung Der Mantel (Šinel’ 1842) noch von außen, von einem allwissenden Erzähler schildern lässt, muss sich Dostoevskijs kleiner Beamter Makar Devuškin sowohl selbst im Spiegel erkennen als auch selbst beschreiben.11 Wenn Horst-Jürgen Gerigk also feststellt, dass Dostoevskijs Erzähler nicht allwissend ist, auf Äußerungen der Romanhelden warten muss, um diese selbst verwenden zu können, und wie das Auge einer Filmkamera nur das wahrheitsgetreu schildern kann, was unmittelbar zu sehen ist, ähnelt sein Standpunkt außerordentlich jenem Bachtins, der davon ausgeht, dass Dostoevskij »Autor und Erzähler nebst der Gesamtheit ihrer Standpunkte und der in ihrem Namen gegebenen Beschreibungen, Charakteristiken und Definitionen des Helden in den Gesichtskreis des Helden verrückt«12. Für beide steht somit fest, dass Dostoevskijs Erzählperspektive keinen allmächtigen, allwissenden Erzähler mehr zulässt: Bachtin sieht darin den wesentlichen Grundstein des polyphonen Romans, Gerigk die literarische Vorwegnahme filmischer Erzähltechniken.
7.2.1 Exkurs: Die Begriffe »innerfiktional« und »außerfiktional« Bevor Gerigks Überlegungen zum Idioten weiter ausgeführt werden können, muss der von ihm im vorletzten Langzitat verwendete Terminus »innerfiktional« kurz erklärt werden. Er wird von Gerigk in der Studie Die Sache der Dichtung detailliert erläutert und dem Antonym »außerfiktional« gegenübergestellt.13 In der Sache der Dichtung widmet sich Gerigk der Interpretation, deren grundsätzliche Aufgabe es ist, das vom Interpretierenden Verstandene zu erklären:
10 11 12 13
M. Bachtin: Literatur und Karneval, S. 89. Vgl. ebd., S. 87. Ebd., S. 88. Vgl. Horst-Jürgen Gerigk: Die Sache der Dichtung. Dargestellt an Shakespeares ›Hamlet‹, Hölderlins ›Abendphantasie‹ und Dostojewskijs ›Schuld und Sühne‹, Hürtgenwald: Guido Pressler 1991, S. 23-36. 237
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»Jede Dichtung ist verstandene Welt, die sich uns eigens zum Anblick bringt. Um eine Dichtung angemessen zu verstehen, haben wir zunächst die in ihr beschlossene Welt zu verstehen, die als bereits verstandene vorliegt, und danach dem Anblick zu entsprechen, den diese verstandene Welt bietet, weil sie eine Dichtung ist. Dichtung als bereits verstandene Welt will von uns verstehend nachvollzogen sein.«14
Das Verstehen eines Textes bildet deshalb das Fundament für die Untersuchung jener vier Leitbegriffe, denen sich die Interpretation eines literarischen Textes laut Gerigk widmen soll: der im literarischen Werk dargestellten Situation, dem Menschenbild, der Realitätsebene und dem »Anblick, den die Dichtung als Sache, als literarisches Gebilde bietet«15. Während sich die ersten drei Begriffe mit den im Text thematisierten Ereignissen, Personen und »wirklichkeitsbestimmenden Akten« auseinandersetzen, sich also damit beschäftigen »ein Verstehen nachzuvollziehen, das schon stattgefunden hat«16 – da es ja bereits im Werk festgeschrieben ist –, geht der vierte Punkt vom Verstehensprozess aus, der sich im Leser vollzieht. Als Leser schauen wir uns beim Vollzug dieses Prozesses gleichsam selbst zu und sind deshalb »gleichzeitig drinnen (in der ›verstandenen Welt‹) und draußen: nämlich in den Anblick der einzelnen Verstehensakte mitsamt ihrer Thematik versunken«17. Im Gegensatz zu den ersten drei Begriffen, die sich auf »die Thematik der Dichtung, das wovon die Rede ist, das Gesagte«18 beziehen, widmet sich also der vierte dem äußeren Anblick des literarischen Textes »als künstlerisches Gebilde«19. Mit anderen Worten: als Leser sind wir in der Lage, sowohl an innerfiktionalen, thematischen als auch an außerfiktionalen, künstlerischen Entwicklungen teil zu nehmen. Gerigk spricht in diesem Zusammenhang von der »poetologischen Differenz«: »Dass wir ein Kunstwerk vor uns haben, wird jetzt von uns bewusst erfahren. […] Wir sind jetzt als lesender Betrachter gleichzeitig ›drinnen‹ (nämlich in der verstandenen Welt) und ›draußen‹ (in einer Position nämlich, von der aus wir das künstlerische Gebilde als Ganzes und als solches erblicken). Wir sind damit in der Lage, das zu denken, was ich die ›poetologische Differenz‹ nennen möchte: die Differenz nämlich zwischen der innerfiktionalen (thematischen) und außerfiktionaler (künstlerischer) Begründung eines innerfiktionalen Sach14 15 16 17 18 19
Ebd., S. 23. Ebd., S. 34. Ebd., S. 20. Ebd., S. 21. (Kursive Hervorhebungen im Original) Ebd., S. 34. Ebd. 238
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verhalts. Im Anblick, den der literarische Text als künstlerisches Gebilde bietet, kommuniziert der Autor als künstlerische Intelligenz direkt mit uns, den Lesern.«20
Angewandt auf das konkrete, oben genannte Beispiel vom unzuverlässigen, filmischen Erzähler bei Dostoevskij bedeuten die beiden Begriffe, dass der Leser im Idioten mit einer innerfiktionalen Welt konfrontiert wird, die ihm vom Erzähler wie durch eine Filmkamera gefilmt präsentiert wird, und die er sich erst allmählich im außerfiktionalen Verstehensprozess erschließen muss, wobei er sich aber nicht rückhaltlos auf die Aussagen des Erzählers verlassen darf.
7.3 Dostoevskijs Der Idiot als P hä n o m e n o l o g i e d e r V e r k e n n u n g Auf den unzuverlässigen, filmischen Erzähler bei Dostoevskij kommt Gerigk auch in einer weiteren Arbeit über den Idioten zu sprechen. Doch zunächst bezeichnet er darin den Roman als »Phänomenologie der Verkennung«21 und definiert Verkennung als ein Nicht-Erkennen, bei dem das Nicht-Erkannte für etwas anderes gehalten wird, als es tatsächlich ist.22 Da Fürst Myškin von beinah allen anderen Personen im Roman auf jede nur erdenkliche Art unterschätzt und missverstanden – also eben verkannt – wird, spricht Gerigk von einer Phänomenologie23 und sieht im Titel des Romans Der Idiot die »Formel dieser Verkennung«24. Um diese These zu belegen, greift Gerigk zunächst auf die von Martin Heidegger in Sein und Zeit erarbeitete Terminologie von »Man«, »Selbst« und »Man-selbst« zurück. Gerigk geht davon aus, dass Dostoevskij seinen Leser an einem Experiment teilnehmen lässt, bei dem der ganz in seinem »Selbst« lebende
20 Ebd., S. 34f. (Kursive Hervorhebungen im Original) 21 H.-J. Gerigk: »Dostojewskijs Roman ›Der Idiot‹ als Phänomenologie der Verkennung«, S. 55. 22 Vgl. ebd. 23 Zur Begriffsklärung muss hier erwähnt werden, dass Gerigk in diesem Fall mit dem Begriff »Phänomenologie« die Darstellung verschiedener Spielarten eines Phänomens bezeichnet, des Phänomens der Verkennung. Die philosophische Lehre der Phänomenologie nach Husserl spielt zwar besonders im Zusammenhang mit den folgenden Ausführungen zu Martin Heidegger eine wichtige Rolle in Gerigks Studie, sie darf aber nicht mit dem im Titel genannten Terminus gleichgesetzt werden. 24 Ebd., S. 63. 239
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Myškin seine im »Man« verhaftete Umwelt irritiert, reizt und zur Abwehr provoziert. Das »Man«, das Heidegger als keinen bestimmten Anderen, sondern als »die Anderen« definiert, zu denen man selbst gehört und dessen »Miteinandersein das eigene Dasein völlig in die Seinsart der Anderen«25 auflöst, ist »kein bestimmtes«, sondern ein abstraktes »Alle«, das »die Seinsart der Alltäglichkeit«26 vorschreibt. Die Konventionen, Sitten und Gepflogenheiten, die das alltägliche Zusammenleben einer Gesellschaft tragen, »das, was wir als die Öffentlichkeit kennen«27, bestimmt demnach das »Man«. Myškin, dem nun das »Man« der russischen Adelsgesellschaft vollkommen fremd ist, stellt diesem sein »eigentliches Selbst«, sein einzelnes Ich, gegenüber und erschüttert dadurch die im alltäglichen Kompromiss des »Man-selbst«28 lebenden Personen seiner Umgebung. Auch Hubertus Tellenbach stellt in seiner Studie Schwermut, Wahn und Fallsucht in der abendländischen Dichtung fest, dass Myškins »Kindhaftigkeit« u.a. in der »Ungewichtigkeit des Organons für die Welt des ›Man‹«29 begründet sei. Die Unerfahrenheit in der Welt des »Man« hat laut Tellenbach zur Folge, dass seine Umgebung Myškin als »indiskret, distanzlos und taktlos«30 empfindet, dabei wirkt er allerdings niemals unerzogen, sondern naiv im Sinne eines erwachsenen Kindes. Myškin wird – da »die Reaktion des Man auf das Selbst Abwehr«31 ist – von seiner Umwelt als Idiot abgestempelt und dadurch, wie Gerigk sagt, verkannt. Doch Myškin droht nicht nur innerfiktionale Verkennung, Dostoevskij lässt diese Option auch außerfiktional offen und so folgert Gerigk – ähnlich wie René Girard –, dass Dostoevskijs Leser sich die Frage stellen muss, ob Myškin »ein Filou ist und seine Naivität nur spielt«32. Damit der Leser aber überhaupt erst in seiner Einschätzung Myškins erschüttert werden kann, lässt Dostoevskij nun seinen bereits vielfach erwähnten unzuverlässigen, filmischen Erzähler auftreten, »der das Ge-
25 26 27 28 29
Martin Heidegger: Sein und Zeit, Tübingen: Niemeyer 2001, § 27, S. 126. Ebd., § 27, S. 127. Ebd. Ebd., § 27, S. 129. Hubertus Tellenbach: »Dostojewskijs epileptischer Fürst Myschkin – zur Phänomenologie der Verschränkung von Anfallsleiden und Wesensänderung«, in: Ders., Schwermut, Wahn und Fallsucht in der abendländischen Dichtung, Hürtgenwald: Guido Pressler 1992, S. 207. 30 Ebd. 31 H.-J. Gerigk: »Dostojewskijs Roman ›Der Idiot‹ als Phänomenologie der Verkennung«, S. 63. 32 Ebd. 240
FILMISCHES ERZÄHLEN UND VERKENNUNG (GERIGK)
schehen wie das Auge einer Kamera fixiert und wiedergibt«33. Da dieser, ebenso wie die anderen Protagonisten des Romans, Fehleinschätzungen und Missverständnisse verbreiten kann, wird das Vertrauen des Lesers in ihn erschüttert, und Dostoevskij eröffnet dadurch auch der außerfiktionalen Verkennung Tür und Tor. Der filmische Erzähler erfüllt somit eine ganz spezifische Aufgabe im Idioten, die über die Darstellung einer innerfiktionalen Verkennung hinausgeht und selbst den außerfiktionalen Verstehensprozess des Lesers erschüttern kann. Diese Funktion des Erzählers lässt sich vor allem im ersten Teil des Romans gut beobachten, der ja nur die Ereignisse eines einzigen Tages – Mittwoch, den 27. November 1867 – schildert, und in dem alles vorher Geschehene von den Personen selbst angesprochen oder vom Erzähler in Form von indiskreten, leicht spöttischen Klatschgeschichten und nicht ganz vertrauenswürdigen Gerüchten rekapituliert wird. So spricht der Erzähler zum Beispiel im zweiten Kapitel des ersten Teils nicht ohne spöttischen Unterton über General Epančins frühe Heirat: »Geheiratet hatte der General schon vor sehr langer Zeit, noch im Range eines Leutnants, und zwar eine junge, fast gleichaltrige Dame, die sich weder durch besondere Schönheit noch durch Bildung auszeichnete […]. Aber der General haderte in der Folge nicht mit seinem Schicksal wegen der frühen Ehe, tat sie niemals als eine Verwirrung der unüberlegten Jugend ab und achtete seine Gemahlin so hoch und fürchtete sie bisweilen so sehr, dass er sie sogar liebte.«34
Durch Passagen wie diese gelingt es Dostoevskij das Vertrauen seines Lesers in den Erzähler permanent zu untergraben und den außerfiktionalen Verstehensprozess zu erschüttern. Wenn der Erzähler dann auch noch seine nicht besonders glaubhaften Gerüchte über Myškin verbreitet, kann sich der Leser auf seiner Suche nach der Wahrheit über den Fürsten endgültig auf keine Person im Roman mehr verlassen und läuft Gefahr Myškin ebenfalls zu verkennen. Nach der Untersuchung außerfiktionaler Verkennung wendet sich Horst-Jürgen Gerigk aber wieder und vorwiegend innerfiktionalen Prozessen zu und hier besonders der Reaktion des Fürsten Myškin auf Begebenheiten, bei denen er eindeutig von seiner Umwelt verkannt wird. Gerigk nennt als erste Beispiele hierfür den von Keller und Lebedev verfassten Schmähartikel über Myškin und Radomskijs Suche nach den Beweggründen für Myškins Heiratsantrag an Nastas’ja Filippovna. Der Schmähartikel wird im achten Kapitel des zweiten Teils vor einer ganzen Gruppe von Personen – darunter die Familie Epančin, Lebe33 Ebd. 34 F. Dostojewskij: Der Idiot, S. 24. 241
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dev, Ganja Ivolgin, Pticyn, die Nihilisten um Burdovskij und Myškin selbst – von Kolja Ivolgin laut vorgelesen und beinhaltet eine Reihe bösartiger, gegen den Fürsten gerichteter Verleumdungen. Gerigk stellt zur Erzähltechnik des Zeitungsartikels fest, dass Keller und Lebedev den Fürsten darin mittels zweideutiger Halbwahrheiten absichtlich verkennen, um Burdovskij zu seinem vermeintlichen Recht zu verhelfen. Diese »Absichtlichkeit löst die Suggestionskraft der unterstellten Sachverhalte aber nicht auf« und dadurch schenkt »die Verleumdung ihren eigenen Konstruktionen plötzlich oder allmählich Glauben«35. Die Andeutungen und Halbwahrheiten enthalten also stets ein Körnchen echter Wahrheit und führen dadurch sowohl Zuhörer als auch Leser in Versuchung, dem Artikel zumindest für kurze Zeit zu glauben. Gerigk spricht deshalb in diesem Zusammenhang von einer »suggerierten Verkennung«36. Im zweiten Beispiel will Aglajas Verehrer Radomskij dem Fürsten sein Verhältnis zu Nastas’ja erklären und begeht dabei – trotz guter Absicht – ebenfalls den Fehler Myškin zu verkennen. Das Gespräch findet im neunten Kapitel des vierten Teils statt, nachdem Nastas’ja Myškin beim Treffen mit Aglaja gezwungen hatte sich zwischen ihr und der Rivalin zu entscheiden. Radomskij versucht nun Myškin einzureden, dass er Nastas’ja nur aus falsch verstandenem Ehrgefühl bei ihrem Geburtstagsfest einen Antrag gemacht habe, und dass er damals aufgrund ungünstiger äußerlicher Einflüsse nicht wusste was er tat: »Wenn Sie wünschen, werde ich Sie analysieren, Punkt für Punkt, und Ihnen Sie selbst zeigen, wie in einem Spiegel, so genau weiß ich, wie die Sache sich verhielt und warum sie eine solche Wendung nahm! Sie, ein Jüngling, lechzten in der Schweiz nach Ihrer Heimat, es drängte Sie nach Russland wie in das unbekannte, aber verheißene Land; Sie haben viele Bücher über Russland gelesen, Bücher, die an und für sich vielleicht ausgezeichnet, für Sie jedoch unbekömmlich waren; und so kamen Sie hier an, voll Tatendrang und Tatendurst, sozusagen, und stürzten sich kopfüber in das tätige Leben! Und da, am selben Tag, kommt Ihnen die traurige und Herz zerreißende Geschichte einer gekränkten Frau zu Ohren, Ihnen, das heißt einem Ritter, einem Reinen – einer gekränkten Frau! Und am selben Tag stehen Sie dieser Frau gegenüber; Sie sind verzaubert von ihrer Schönheit, ihrer phantastischen, dämonischen Schönheit (ich gebe zu, dass sie eine Schönheit ist). Rechnen Sie Ihre Nerven, rechnen Sie Ihre Fallsucht, rechnen Sie unser Nerven zerrüttendes Petersburger Tauwetter dazu; rechnen Sie einen vollen Tag in einer unbekannten und für Sie beinahe phantastischen Stadt dazu, einen Tag der Begegnungen und Szenen, einen Tag überraschender Bekanntschaften, einen Tag der gänzlich überraschenden Wirklich35 H.-J. Gerigk: »Dostojewskijs Roman ›Der Idiot‹ als Phänomenologie der Verkennung«, S. 67. 36 Ebd. 242
FILMISCHES ERZÄHLEN UND VERKENNUNG (GERIGK)
keit, den Tag der drei schönen Schwestern Jepantschin, darunter Aglaja; rechnen Sie dazu die Müdigkeit, den Schwindel; rechnen Sie dazu Nastassja Filippownas Salon und den Ton in diesem Salon, und … was konnten Sie in diesem Augenblick von sich erwarten?«37
Radomskij kommt nicht einmal in den Sinn, dass Myškin Nastas’ja trotz dieser Umstände wirklich lieben könnte, und so unterstellt er ihm, dass er während des Heiratsantrages nicht zurechnungsfähig gewesen sei. HorstJürgen Gerigk stellt nun fest, dass Myškin auf beide Fälle von Verkennung mit »Sprachnot«38 reagiert und folgert daraus, dass es dem Fürsten immer dann, wenn die anderen Figuren seine Absichten fehl interpretieren, buchstäblich die Sprache verschlägt. Nachdem der Zeitungsartikel verlesen wurde, schweigen zunächst alle Anwesenden peinlich berührt. General Epančin ist der erste, der sich über den Artikel und ihre Verfasser empört und erst als es zwischen ihm, Keller und Ippolit zu einem Streitgespräch kommt, mischt sich der Fürst ein: »Ich möchte nichts gegen diesen Artikel einwenden, meine Herren, mag darin stehen, was will; aber alles, was in diesem Artikel gedruckt steht, meine Herren, ist unwahr.«39 Eine tatsächliche Rechtfertigung will dem Fürsten während des gesamten, folgenden Gesprächs nicht gelingen. Er kann die Angriffe nicht zurückweisen, weil er dadurch Burdovskij und seine Freunde bloßstellen würde, und dazu ist der Fürst nicht fähig. Er sucht demnach verzweifelt nach den richtigen Worten, kann sie aber nicht finden. Erst als Ganja Ivolgin den Sachverhalt um den vermeintlichen Sohn Pavliščevs aufklärt, sehen Burdovskij und seine Freunde die Unrechtmäßigkeit ihrer Geldforderung ein. Auf Radomskijs Verkennung antwortet Myškin, indem er »Ja, ja, ja ja« stottert und dazu errötend den Kopf schüttelt. Aus körpersprachlicher Perspektive ergibt sich dadurch ein interessanter Kommunikationswiderspruch: Myškins Körper verneint durch das ablehnende Kopfschütteln40 Radomskijs Äußerungen, während er sie verbal bejaht.41 Im weiteren
37 F. Dostojewskij: Der Idiot, S. 839. 38 H.-J. Gerigk: »Dostojewskijs Roman ›Der Idiot‹ als Phänomenologie der Verkennung«, S. 67. 39 F. Dostojewskij: Der Idiot, S. 387. 40 Auch im russischen Original steht: »Да, да; да да, - качал головою князь, начиная краснеть«. (F. M. Dostoevskij: Polnoe sobranie sočinenij v tridcati tomach. Idiot, S. 482.) Es ist somit eindeutig ein verneinendes Kopfschütteln gemeint, da ein zustimmendes Nicken durch das Verb »кивать« wiedergegeben würde. 41 Zu Körpersprache und nonverbaler Kommunikation bei Dostoevskij vgl. Barbara Aufschnaiter: Bewegte Körper – Ausdrucksformen nonverbaler 243
DOSTOJEWSKIS »DER IDIOT« IM SPIELFILM
Verlauf des Gesprächs versucht Myškin immer wieder Radomskij zu widersprechen, doch es gelingt ihm nicht; er findet nicht die richtigen Worte und bricht seine Sätze einfach ab. Seine Sprachnot tritt in diesem Fall noch evidenter zu Tage als nach der öffentlichen Verleumdung durch den Zeitungsartikel. Ich möchte noch ein weiteres Beispiel für eine derartige Verkennung anführen, in dem Myškins Sprachlosigkeit sogar vom Erzähler benannt wird. Am Ende des sechsten Kapitels des zweiten Teils sprechen die Schwestern Epančin während des Krankenbesuchs nach Myškins erstem epileptischem Anfall über Puškins Gedicht Der arme Ritter (Rycar’ bednyj 1829). Allen Anwesenden wird bald klar, dass Fürst Myškin von den Epančin-Töchtern, besonders von Aglaja, mit diesem Spottnamen bezeichnet wird. Denn die Schwestern glauben, dass er, wie der Held in Puškins Gedicht, einer angebeteten Frau – namentlich Nastas’ja Filippovna – blind verfallen sei und sie idealisiere. Als Aglaja nun erklärt, was ihr am armen Ritter gefällt, bemerkt selbst die Generalin Epančina, dass sie in Wahrheit von Myškin und seiner Beziehung zu Nastas’ja Filippovna spricht. Aglaja will Myškin mit ihren Ausführungen über den armen Ritter eine Lektion erteilen und verkennt dabei völlig die wahren Beweggründe für seinen Heiratsantrag an Nastas’ja Filippovna: »Wie dem auch sei, es ist ganz klar, dass es diesen »armen Ritter« gar nicht mehr kümmerte, wer seine Dame war und was sie tat. Ihm genügte es, dass er sie erwählt hatte und an ihre »reine Schönheit« glaubte, und erst darauf beugte er vor ihr anbetend für ewig das Knie; darin besteht ja seine Größe, dass er sogar, wenn sie sich später als Diebin erweisen sollte, immer noch an sie glaubte und für ihre reine Schönheit die Lanze bricht. Der Dichter wollte, glaube ich, in einer einzigen, herausragenden Gestalt den erhabenen Begriff der mittelalterlichen, ritterlichen, platonischen Liebe des reinen und hoch gesinnten Ritters verkörpern; selbstverständlich ist das ein Ideal. […] Der »arme Ritter« ist ein Don Quijote, nur ein ernster und kein bisschen komisch.«42
Aglaja reduziert Myškins Beziehung zu Nastas’ja auf mittelalterliche Minne und unterstellt ihm, dass er gegenüber Nastas’jas Fehlern blind sei. Dass Myškins Liebe auf Mitleid basiert und er genau über Nastas’jas Charakter Bescheid weiß, ignoriert sie. Die Reaktion Myškins auf diese Verkennung ist vollkommene Sprachlosigkeit: »Der Fürst wollte schon etwas sagen, brachte aber in seiner anhaltenden Verlegenheit kein Wort
Kommunikation in der Erzählprosa von Fëdor M. Dostoevskij, Innsbruck: unveröffentl. Dissertation 2007. 42 F. Dostojewskij: Der Idiot, S. 360f. 244
FILMISCHES ERZÄHLEN UND VERKENNUNG (GERIGK)
über die Lippen.«43 Selbst als Aglaja aufsteht und das Gedicht laut vorträgt, schweigt er weiterhin, und das obwohl ihm sofort auffällt, dass Aglaja die Initialen der von Puškins Ritter angebeteten Dame A. M. D. durch Nastas’jas – N. F. B. – ersetzt hat. Wie sehr Aglajas Spott den Fürsten verletzt, gibt im auf den Vortrag des Gedichtes folgenden Absatz der Erzähler wieder. Über das Verhalten des Fürsten selbst heißt es lediglich, dass er den frisch angekommenen General Epančin und dessen Begleiter Evgenij Pavlovič Radomskij begrüßt. Zu den beleidigenden Anspielungen Aglajas auf den »armen Ritter« gibt Myškin aber keinen Kommentar ab. Gerigk folgert nun aus dieser Sprachnot, dass sie unmittelbar mit Myškins »Unwillen zur Aggression«44 zusammenhängt. Ein charakterlicher Grundzug des Fürsten ist, dass er seiner »Umwelt stets Wohlwollen, Menschenliebe d.h. Sittlichkeit unterstellt«45 durch die dauernden Verkennungen aber einsehen muss, dass die Menschen um ihn nicht ausnahmslos sittlich integer sind. Doch ehe er ein negatives Urteil über eine andere Person fällt, schweigt er lieber und wirkt dadurch verstört. Würde Myškin auf die von ihm zweifellos erkannte Wirklichkeit adäquat reagieren, »müsste er sich zur Gegenwehr, zur Aggression« entschließen und genau dazu ist er laut Gerigk nicht fähig. Wenn die Verkennung seines Umfelds gerade noch erträglich ist, reagiert Myškin also mit Sprachnot, steigert sich das negative Moment der Wirklichkeit aber ins Unerträgliche, erleidet er einen epileptischen Anfall. Die Epilepsie stellt somit für Gerigk die letztmögliche Reaktion Myškins auf Verkennung dar und dadurch erfüllt sie im Idioten eine ganz spezifische Aufgabe: sie ist kein Krankheitssymptom, sondern hat »ganz im Gegenteil als Symptom eines gesunden, nämlich zukunftsweisenden sittlichen Empfindens zu gelten, dem die herrschenden Maximen seiner Umwelt kein Lebensrecht zubilligen«46. Dostoevskij hat mit Kirillov in den Dämonen und Smerdjakov in den Brüdern Karamazov noch zwei weitere Helden geschaffen, die an Epilepsie leiden, Myškin wird aber vom Leser viel intensiver mit seiner Krankheit assoziiert als die anderen beiden Figuren, da seine epileptischen Anfälle unmittelbar, »gleichsam mit offener Blende«47 geschildert werden. Durch diese direkten Schilderungen der Anfälle, entwickelt sich die Krankheit zum gewichtigsten »Wesensmerkmal« Myškins. Laut Gerigk ist sie »als Resultat provozier43 Ebd., S. 361. 44 H.-J. Gerigk: »Dostojewskijs Roman ›Der Idiot‹ als Phänomenologie der Verkennung«, S. 68. 45 Ebd. 46 Ebd., S. 70f. (Kursive Hervorhebungen im Original) 47 Ebd., S. 68. Man beachte hier wieder den filmtechnischen Begriff. 245
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ter Sittlichkeit, als Resultat des Versuchs einer radikalen Verleugnung der Wirklichkeit des Bösen, die dem Fürsten Myschkin wesensfremd ist«48, zu verstehen. Aus diesem Grund bezeichnet er auch die beiden im Idioten geschilderten Anfälle als »nonverbale Reaktion auf unerträgliche Wirklichkeit«49. Der erste epileptische Anfall des Fürsten wird dem Leser im fünften Kapitel des zweiten Teils geschildert, worin Myškin durch Rogožins Mordversuch mit unerträglicher Wirklichkeit konfrontiert wird. Noch wenige Stunden vor diesem Vorfall hatten die beiden ihre Kreuze getauscht und Rogožins Demenz kranke Mutter hatte den Fürsten gesegnet. Während der Fürst nun durch die Straßen St. Petersburgs wandert, fühlt er sich verfolgt und glaubt in der Menge Rogožins Augen zu sehen. Ihm wird klar, dass Rogožin zu einem Mord fähig ist, doch er will diese Tatsache nicht wahr haben. Als Ergebnis dieses inneren Kampfes wird Myškin von Schuldgefühlen geplagt: »Oh, wie unverzeihlich, wie schmählich ist seine Schuld gegenüber Rogoschin! Nein, es ist nicht die »russische Seele«, sondern in seiner eigenen Seele muss Dunkel herrschen, wenn er sich so etwas Entsetzliches einbilden kann! Die wenigen heißen und herzlichen Worte in Moskau hatten Rogoschin genügt, um ihn seinen Bruder zu nennen, und er … Aber das ist die Krankheit, das sind Phantasien!«50
Beinah das gesamte fünfte Kapitel des zweiten Teils widmet sich Myškins innerem Kampf gegen die für ihn unerträgliche Wahrheit. Doch als Rogožin im Treppenhaus des Gasthauses plötzlich mit gezücktem Messer vor ihm steht, muss sich der Fürst der Realität stellen und erleidet prompt einen epileptischen Anfall. Horst-Jürgen Gerigk meint hierzu: »Die Aura dieses epileptischen Anfalls erwächst aus dem Zwang Myschkins, die Schuld des anderen anzuerkennen: einem Mitmenschen die schwere Tat des Mordes als Absicht zu unterstellen.«51 Dieses erzwungene Erkennen erklärt auch Myškins Ausruf: »Parfjon, ich glaube es nicht!«52, den er gleich nachdem Rogožin aus der dunklen Nische im Treppenhaus heraustritt, ausstößt. Er kann und will einfach nicht glauben, dass Rogožin zu einer solchen Tat fähig ist.
48 49 50 51
Ebd., S. 56. Ebd. F. Dostojewskij: Der Idiot, S. 333. H.-J. Gerigk: »Dostojewskijs Roman ›Der Idiot‹ als Phänomenologie der Verkennung«, S. 69. 52 F. Dostojewskij: Der Idiot, S. 339. 246
FILMISCHES ERZÄHLEN UND VERKENNUNG (GERIGK)
Gerigk sieht auch im Schrei, der sich Myškin unmittelbar vor dem Anfall entringt, eine »adäquate nonverbale Interpretation der Welt«53. Der Schrei ist somit nicht nur als rein medizinisches Symptom eines epileptischen Anfalls zu verstehen, sondern auch als Kennzeichen der Hilflosigkeit, die den Fürsten angesichts der negativen Seiten seiner Mitmenschen heimsucht. Wenn aber die epileptischen Anfälle Myškins als Reaktion auf die schlimmste, weil unerträgliche Form von Verkennung zu gelten haben, muss noch zusätzlich erklärt werden, worin nun eigentlich Rogožins Verkennung besteht. Gerigk geht auf diese Frage nicht mehr ein. Um »Verkennung als Verfahren der Charakterzeichnung«54 konsequent zu Ende zu denken, erscheint mir die Klärung dieses Punktes aber unerlässlich. Rogožins Verkennung basiert meines Erachtens auf jener rasenden Eifersucht, die er gegenüber Myškin empfindet, und aufgrund der er sich vom Fürsten bedroht fühlt. Rogožin glaubt, dass Myškin ihm Nastas’ja Filippovna wegnehmen will, und übersieht dabei, dass es dem Fürsten nur darum geht, alle Beteiligten vor der Katastrophe zu bewahren. Rogožins Verkennung besteht also darin, dass er Myškin unterstellt, ihm absichtlich Leid zufügen zu wollen, und angesichts dieser unerträglichen Verkennung und der Erkenntnis, dass der Mensch, mit dem er erst vor kurzem die Kreuze tauschte, zu einem Mord fähig ist, erleidet Myškin einen Anfall. Ähnlich wie Gerigk interpretiert auch Hubertus Tellenbach Myškins epileptische Anfälle. Er geht von der Überlegung aus, dass der Fürst stets darum bemüht ist in Krisensituationen zu mediieren, also mittels Ausgleich »die Abwandlung des Daseinsganges in kritische Bereiche zu verhüten«55. Als Beispiel nennt er die Ohrfeigenszene im zehnten Kapitel des ersten Teils, in der Ganja Myškin ins Gesicht schlägt als dieser ihn davon abhalten will Varvara zu ohrfeigen. Während im Sinne Gerigks Myškins Reaktion als Sprachnot angesichts beleidigender Verkennung zu interpretieren wäre, sieht Tellenbach diese Szene als gerade noch geglückte Mediation, bei der Myškin sich in letzter Sekunde fangen kann, indem er die erlittene Demütigung als Ehrenrettung Varvaras auslegt. Die Reaktion des Fürsten auf den Schlag bestätigt sowohl Gerigks als auch Tellenbachs These: »Der Fürst erbleichte. Mit einem seltsamen und vorwurfsvollen Blick sah er Ganja gerade in die Augen; seine Lippen zitterten und bemühten sich vergeb53 H.-J. Gerigk: »Dostojewskijs Roman ›Der Idiot‹ als Phänomenologie der Verkennung«, S. 69. 54 Ebd., S. 71. 55 H. Tellenbach: »Dostojewskijs epileptischer Fürst Myschkin«, S. 214. 247
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lich, etwas auszusprechen; sie verzogen sich zu einem seltsamen und völlig unpassenden Lächeln. »Nein, dann lieber mich … Aber sie … das lasse ich nicht zu! …«, sagte er endlich leise; aber plötzlich hielt er es nicht länger aus, ließ Ganja stehen, schlug die Hände vor das Gesicht, trat in eine Ecke, stellte sich mit dem Gesicht zur Wand und sprach mit stockender Stimme: »Oh, wie werden Sie sich Ihrer Tat schämen!«56
Die kursiven Stellen im Zitat belegen die beiden Interpretationsmöglichkeiten: Zuerst ringt der Fürst angesichts der Beleidigung vergeblich um Worte, später fasst er sich, indem er zwischen Schmach und Heldentat mediiert. Wenn Myškins Mediationsversuche scheitern, wenn er also ein Ereignis beim besten Willen nicht mehr positiv umwerten kann, erleidet er laut Tellenbach einen epileptischen Anfall. Diese Schlussfolgerung überschneidet sich wieder mit Gerigks Interpretation, der »das Wegtreten des Fürsten Myschkin aus der Welt im epileptischen Anfall […] als die adäquate Reaktion eines durch und durch sittlichen Bewusstseins auf die mit innerer Klarsicht wahrgenommene unsittliche Wirklichkeit«57 bezeichnet. Auch Myškins zweiter epileptischer Anfall, der im sechsten Kapitel des vierten Teils stattfindet, lässt sich beiden Interpretationsmöglichkeiten zuordnen. Vor dem Anfall versucht Myškin vergeblich, den Vertretern des alten, russischen Erbadels während der Abendgesellschaft bei den Epančins seine Werte und Ideen darzulegen. Doch er wird, besonders nachdem er die Vase der Generalin zerschlagen hat, von keinem der Würdenträger mehr ernst genommen und muss erfahren, dass er gerade von den Personen verlacht wird, auf die er seine gesamten Hoffnungen zur Errettung Russlands gesetzt hatte. Dass seine Heilsidee vom russischen Christus und sein Appell an den russischen Uradel seinem Land zu dienen nicht verstanden werden, zwingt Myškin dazu, der Borniertheit und Gleichgültigkeit der anwesenden Adligen ins Auge zu schauen, und gerade diese negative Erkenntnis führt zu einem weiteren Anfall. Mit Gerigk gesprochen, ist somit auch Myškins zweiter Anfall als nonverbale Reaktion auf eine unerträgliche Wirklichkeit zu betrachten, und nach Tellenbachs Terminologie konnte der Fürst die negativen Eindrücke, die durch das Unverständnis der anwesenden Personen hervorgerufen wurden, nicht mehr mediieren. Während aber Myškins Epilepsie für Tellenbach ein Wesensmerkmal unter vielen darstellt, betont Gerigk, dass gerade durch die Darstellung der Krankheit die Verkennung der Hauptgestalt im Idioten auf die Spitze 56 F. Dostojewskij: Der Idiot, S.170. (Kursive Hervorhebungen von mir D.B.) 57 H.-J. Gerigk: »Dostojewskijs Roman ›Der Idiot‹ als Phänomenologie der Verkennung«, S. 70. 248
FILMISCHES ERZÄHLEN UND VERKENNUNG (GERIGK)
getrieben wird und sie deshalb als das dominierende Charakteristikum des Fürsten zu verstehen sei. Myškin erkrankt somit buchstäblich an der Bosheit der Welt, und Gerigk stellt abschließend in seiner Studie fest, dass genau diese Tatsache ihn von den beiden großen Vorbildern Christus und Don Quijote, die Dostoevskij während der Arbeit am Idioten vorschwebten, unterscheidet: »Don Quijote verlässt niemals das Gehäuse seines Wahns – im Gegensatz zum Fürsten Myschkin, dessen Wahn, dass alle Menschen sich tief in ihrem Herzen dem Guten verpflichtet fühlen, von Dostojewskij demonstrativ torpediert wird. Und Christus unterscheidet sich vom Fürsten Myschkin dadurch, […] dass er angesichts der Bosheit der Welt gerade nicht den Verstand verliert.«58
Nachdem nun Gerigks Gesichtspunkte zum filmischen Erzählen, zum unzuverlässigen, filmischen Erzähler und zur Verkennung als Verfahren der Charakterzeichnung im Idioten erläutert wurden, stellt sich die Frage wie sich diese drei narrativen Elemente in den Filmen Hakuchi, Návrat idiota und The Million Dollar Hotel widerspiegeln. Verkennung schlägt zweifelsohne auch den drei Helden der Filme in jeder nur erdenklichen Form entgegen, und somit überschreitet die von Gerigk noch auf eine literarische Entwicklung von Cervantes’ Don Quijote bis Knut Hamsuns Mysterien (Mysterier 1892) festgelegte Phänomenologie der Verkennung bereits mediale Grenzen. In der Folge soll geklärt werden, wie die drei Regisseure Verkennung visualisieren. Es gilt also zu erläutern, wie sie das Moment der Fehleinschätzung ihrer Helden und deren Reaktion darauf in die Filmhandlung einarbeiten und mit welchen kameratechnischen Mitteln sie dieses narrative Element betonen. Im Hinblick auf die Erzähltechnik des filmischen Erzählens und die Erzählperspektive des unzuverlässigen, filmischen Erzählers im Roman Der Idiot eröffnet sich noch ein zusätzlicher Fragenkomplex: Kommen sie, die ja laut Gerigk wichtige poetologische Elemente zur Erschaffung außerfiktionaler Verkennung darstellen, überhaupt in den drei Filmen vor? Falls ja, wodurch unterscheiden sie sich nach der Überschreitung medialer Grenzen von Erzähltechnik und Erzählperspektive im literarischen Hypotext? Und kann es überhaupt gelingen die Zuschauer der Filme, ebenso wie die Leser des Romans, zu außerfiktionaler Verkennung zu verführen?
58 Ebd., S. 70f. 249
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7.4 Verkennung und filmisches Erzählen in Hakuchi Stephen Prince, der in seiner umfangreichen Untersuchung von Kurosawas Gesamtwerk nach einer Erklärung für dessen Probleme mit der Dostoevskij-Verfilmung sucht, stößt auf ganz ähnliche Erkenntnisse wie Horst-Jürgen Gerigk. Prince stellt fest, dass der Charakter Myškins den künstlerischen Stärken Kurosawas nicht gerade entgegenkommt, da als wichtigste Merkmale für dessen Helden in der Regel Aggressivität und Aktivität gelten können: »Moreover, Myshkin is not an especially good character for Kurosawa to attempt to handle. He is too passive, too indecisive, and far too masochistic. Enlightenment for Kurosawa is signified by behavioral aggression and physical action, just the reverse of the inhibited, recessive Myshkin.«59 Wie Gerigk erkennt also auch Stephen Prince Myškins »Unwillen zur Aggression«60 und folgert daraus, dass Kurosawas Verfilmung des Idioten an diesem, für den Regisseur untypischen Charakter scheitern musste. Auf die Frage warum sich Kurosawa ausgerechnet jenes Werk Dostoevskijs ausgesucht hat, das seiner Figurengestaltung angeblich am wenigsten entgegenkommt, gibt Prince aber keine Antwort. Und das ist besonders erstaunlich, da Dostoevskij mit Rodion Raskol’nikov aus Verbrechen und Strafe einen Gegentypus zu Myškin geschaffen hat, der – wie auch Gerigk feststellt – »auf die unerträgliche Wirklichkeit mit Aggression« antwortet und »aus sittlicher Empörung zum Mörder«61 wird. Dostoevskijs Figurenwelt hätte also durchaus Helden anzubieten, die dem Filmstil Kurosawas mehr entgegenkommen würden als Myškin. Was Prince meiner Meinung nach aber übersieht, ist, das in keinem anderen Roman Dostoevskijs die Umwelt, die Gesellschaft, oder mit Heideggers Worten das »Man« so schuldig am Untergang des Helden wird wie im Idioten. Und da sich Kurosawa, ähnlich wie seine neorealistischen Kollegen in Italien,62 eingehend mit der Frage auseinandersetzte, wie die 59 Stephen Prince: The Warrior’s Camera. The Cinema of Akira Kurosawa. Revised and expanded Edition, Princeton: Princeton University Press 1991, S. 142. 60 H.-J. Gerigk: »Dostojewskijs Roman ›Der Idiot‹ als Phänomenologie der Verkennung«, S. 68. 61 Ebd., S. 70. 62 Man denke in diesem Zusammenhang nur an Vittorio de Sicas Ladri di biciclette (1948) oder Federico Fellinis La Strada (1954). Donald Richie bemerkt, dass ein anderer Film Kurosawas Der trunkene Engel (Yoidore Tenshi 1948) von Kritikern mehrmals mit de Sicas Film verglichen wurde. In diesem Film wird ein junger, an TBC erkrankter Gangster, dem ein am250
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um jeden Preis nach Wohlstand strebende Nachkriegsgesellschaft seiner Heimat mit ihren schwächsten Mitgliedern umgeht, wird verständlich, warum er sich ausgerechnet für eine Verfilmung des Idioten entschied. Er wollte zeigen, dass gerade die schwächsten Mitglieder der Gesellschaft oftmals über außergewöhnliches Einfühlungsvermögen und Güte verfügen, die aber von ihrer Umgebung nicht erkannt werden. Einer derartigen Verkennung fallen gerade in Kurosawas frühen Filmen der 1940er und 1950er Jahre mehrere Protagonisten zum Opfer,63 doch keine dieser Figuren ist so sanft und schwach wie die Myškin-Figur Kameda. In Kurosawas Werk nimmt er die Rolle ein, die Gelsomina bei Fellini spielt: das wehrloseste Opfer gesellschaftlicher Verkennung. Im folgenden Teilkapitel wird untersucht, wie Kurosawa die Verkennung seines Helden thematisiert und strukturiert.
7.4.1 Verkennung Die beiden Teile von Kurosawas Film mit den Titeln »Love and Suffering« und »Love and Loathing« sind so strukturiert, dass jeder von ihnen infolge der andauernden Verkennung Kamedas unweigerlich in der Katastrophe endet. Der erste Teil, der damit beginnt, dass Kameda während eines Albtraums an Bord der Fähre nach Hokkaido unmenschlich aufschreit, endet deshalb mit dem entsetzlich anzusehenden epileptischen Anfall, den Kameda erleidet als Akama ihm mit dem Messer auflauert. Und der zweite Teil, der mit dem Krankenbesuch Frau Onos bei Kameda beginnt, endet mit Taekos Ermordung, Kamedas Rückfall in geistige Umnachtung und der Trauer der Ono-Familie über Kamedas Schicksal. Kurosawa widmet seinen Film so gut wie ausschließlich den Liebesbeziehungen zwischen den Hauptfiguren. Die im zweiten und dritten Teil des Dostoevskij-Romans dominanten Ereignisse um den Erbschaftsstreit bitionierter Arzt helfen will, von seinem Bandenchef erstochen. (Vgl. D. Richie: The Films of Akira Kurosawa, S. 47.) 63 Dies gilt besonders für den an Magenkrebs erkrankten Beamten Watanabe, der Hauptfigur aus dem unmittelbar nach Hakuchi entstandenen Film Leben (Ikiru 1952). Watanabe kämpft in seinen letzten Lebensmonaten verbissen um die Errichtung eines Kinderspielplatzes, eine Ambition, die seine Umgebung nicht versteht, weil sie nichts von seiner tödlichen Krankheit ahnt. Aber auch der bereits erwähnte TBC kranke Gangster Matsunaga aus Der trunkene Engel wird ein Opfer von Verkennung. Selbst nach seinem Tod hält ihn sein Arzt für einen wertlosen Taugenichts, da er nicht erkennt, dass Matsunaga nur sterben musste, weil er sich bei seinem Bandenchef für den Schutz des Arztes und dessen Freundin eingesetzt hatte. 251
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mit Burdovskij und den Selbstmordversuch Ippolits werden im Film nicht thematisiert. Durch diese Eingrenzung der Handlung tritt aber die Spirale der Verkennung noch klarer zu Tage, denn das Schicksal der Nebenfiguren kann nicht mehr von der gegen Kameda gerichteten Phänomenologie der Verkennung ablenken. Kurosawa lässt die beiden Teile seines Filmes aber nicht nur mit den schlimmsten Auswirkungen der Verkennung enden, sondern thematisiert diese bereits in den jeweiligen Anfangsszenen, was den Zuseher das weitere Schicksal des Helden vorausahnen lässt. Schon bei seinem ersten Erscheinen im Film berichtet Kameda über jene schicksalhafte Verkennung, die überhaupt erst zu seiner Erkrankung führte. Zwar spricht auch Myškin zu Anfang des Dostoevskij-Romans mit Rogožin und Lebedev über seine Epilepsie, doch im Gegensatz zu Kameda, der seinen ersten Anfall durch eine Verwechslung erlitt, die ihn beinah das Leben gekostet hätte, leidet der Fürst schon seit seiner Kindheit an der Krankheit und nennt keinen auslösenden Grund für diese. Die erste Szene des Films, in der auch die erste Verkennung Kamedas thematisiert wird, wurde bereits unter 6.4 ausführlich beschrieben. An dieser Stelle sollen deshalb nur noch einmal die besonderen Umstände der ersten Verkennung dargelegt werden. Nach Kamedas markdurchdringendem Schrei, der die Passagiere auf dem Fährdampfer aus ihrem Schlaf reißt, wird das Gesicht des Helden zunächst nicht ganz gezeigt, denn Nase, Mund und Kinn werden von einem aufgestützten Bein und dem dazugehörenden in einer dicken Wollsocke steckenden Fuß verdeckt (Abb. 36). Der Besitzer des Beins beginnt ein Gespräch mit dem eben erwachten Kameda und erfährt von ihm, dass er von seiner eigenen Hinrichtung geträumt hat, die während des Krieges tatsächlich beinah stattgefunden hätte. Man hatte Kameda irrtümlich für einen Kriegsverbrecher gehalten – also verkannt –, und er war bereits zur Hinrichtung geführt worden, als der verhängnisvolle Fehler in letzter Sekunde entdeckt wurde. Dieses Schockerlebnis hat Kamedas Epilepsie ausgelöst. Kurosawa bediente sich in diesem Fall eines prägenden Ereignisses aus Dostoevskijs Biographie, der Scheinhinrichtung auf dem Semënovskij-Platz, und versah seinen Filmhelden mit dem Schicksal des russischen Autors. Da dieses biographische Detail allgemein bekannt war und ja auch Myškin im Idioten über die letzten Gedanken eines zum Tode Verurteilten spricht, mag diese Abweichung vom Roman auf den ersten Blick nicht besonders aufregend erscheinen. Im Lichte von Gerigks Moment der Verkennung betrachtet, ist es allerdings höchst interessant, dass Kurosawa eine beinah stattgefundene Hinrichtung als konkreten Auslöser für Kamedas Krankheit angibt. Denn dadurch wird bereits mit den ersten im Film gesprochenen Worten klar, dass Kamedas Erkrankung durch
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Verkennung ausgelöst wurde; eine Verkennung, die ihn beinah schon einmal sein physisches Leben gekostet hätte, und die ihn am Ende des Films um sein psychisches und geistiges Leben bringen wird. Doch kehren wir zur Anfangsszene von Hakuchi zurück: Während der ersten Sätze des Gesprächs setzt sich Akama langsam auf und lässt seinen Fuß auf den Boden sinken. Dadurch wird sowohl der Blick auf Kamedas Mund und Hände frei gegeben als auch der auf Akamas eigenes Gesicht (Abb. 37). Das Gespräch zwischen den beiden Männern ist in diesem Moment aber schon in vollem Gange. Es fällt somit auf, dass beide männlichen Hauptfiguren zuerst durch ihre Stimmen eingeführt werden, ehe ihre Gesichter im Bild erscheinen: Kameda durch seinen Schrei und Akama durch die Worte: »What a voice!«, die er an seinen Gesprächspartner richtet, als von ihm selbst erst sein Bein zu sehen ist. Abbildung 36: Akamas Bein verdeckt Kamedas Nase und Mund
Quelle: Akira Kurosawa: Hakuchi – The Idiot, Japan: Shochiku Co. Ltd. 1951, Hongkong: Panorama Entertainment Co. Ltd. 2003.
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Abbildung 37: Akama setzt sich auf und Kamedas Gesicht wird sichtbar
Quelle: Akira Kurosawa: Hakuchi – The Idiot, Japan: Shochiku Co. Ltd. 1951, Hongkong: Panorama Entertainment Co. Ltd. 2003. Dadurch dass Kamedas Gesicht nicht sofort vollständig gezeigt wird, gelingt es Kurosawa, die Aufmerksamkeit des Zuschauers auf jene körperlichen Attribute seines Helden zu lenken, die im weiteren Verlauf des Filmes immer dann ins Bild rücken, wenn Kameda mit schlimmen Ereignissen konfrontiert wird; also auch dann, wenn er verkannt wird. So dominieren bereits als Kameda das erste Mal ins Bild kommt, seine großen, leidenden Augen die Szene. Da er gerade aus einem Albtraum erwacht ist, steht ihm Angstschweiß auf der Stirn und er zittert heftig. Als sich Akama aufsetzt, ist außerdem erstmals jene Körperhaltung zu sehen, die sich im weiteren Verlauf des Films zum typischen Zeichen für Kamedas Angespanntheit und Angst entwickeln wird: Er legt sich beide Hände so an den Hals, dass man glaubt, er würde frieren (Abb. 37). Die leidend blickenden Augen, das Zittern und die an den Hals gelegten Hände begleiten Kameda während des gesamten Films. Jedes Ereignis, das ihn aufregt, entsetzt, beleidigt oder erschreckt, löst bei ihm diese drei körperlichen Anspannungsmerkmale aus. Als Steigerungsstufe des Anspannungszeichens, bei dem Kameda die Hände an den Hals legt, muss jene Geste betrachtet werden, bei der er sein Gesicht in seine Hände legt (Abb. 38). Im ersten Teil des Films nimmt er diese Körperhaltung während einer der schlimmsten Verkennungsszenen ein: Als er auf Taekos Geburtstagsfest vor allen anwesenden Gästen sagt, dass er sie für rein und unschuldig halte, lachen einige der Gäste verhalten aber höhnisch auf. Kameda wendet sich nun an die
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Gäste, blickt sie verständnislos an und fragt, warum sie lachen. Dann wiederholt er seine Aussage über Taeko und bemerkt dabei nicht, wie sich ihr Blick verfinstert. Sie kann sich nicht vorstellen, dass er im Ernst spricht und fährt ihn wütend an: »That’s enough, idiot! Are you making fun of me?« Dabei stellt sie sich mit funkelnden Augen vor ihn und holt mit ihrem im unheimlichen, schwarzen Umhang verborgenen Arm aus, um Kameda zu ohrfeigen. Doch als sie in sein Gesicht sieht, hält sie plötzlich erstaunt inne. Über ihren Ausbruch entsetzt, zittert Kameda am ganzen Leib, ihm laufen Tränen übers Gesicht und er legt beide Hände an seine Wangen. Viel schrecklicher als der angedrohte Schlag, scheint ihn in diesem Moment ihre Verkennung zu kränken. Der weitere Verlauf dieser Szene lässt sich besonders gut mit Tellenbachs Terminologie beschreiben: Durch Taekos Ausbruch gerät Kameda in eine Krisensituation, die er gerade noch mediieren kann, indem er sich ihr kränkendes Verhalten durch seine seltsame, missverständliche Ausdrucksweise erklärt. Am äußersten Punkt seiner Erregung schweigt er deshalb einige Minuten lang – gerät also nach Gerigk in Sprachnot – und meint dann: »I’m really a sick man. My brain is rotten … So I may have said something odd.« Abbildung 38: Taeko holt aus, um Kameda zu ohrfeigen
Quelle: Akira Kurosawa: Hakuchi – The Idiot, Japan: Shochiku Co. Ltd. 1951, Hongkong: Panorama Entertainment Co. Ltd. 2003. Generell ist der erste Teil von Hakuchi so strukturiert, dass sich die durch Unverständnis gespeiste Spirale der Verkennung Kamedas sukzessive steigert; bis sie schließlich mit der Darstellung des epileptischen Anfalls
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am Ende des ersten Teils ihren Höhepunkt erreicht. Dazwischen liegt Kamedas Verkennung durch die Ono-Familie, die ihn schon allein wegen seines Aufenthalts in der Nervenheilanstalt für geistesschwach hält, die Verkennung durch Kayama, der glaubt Kameda habe ihn bei den Damen der Ono-Familie angeschwärzt, die Ohrfeigenszene im Hause Kayamas, als Kameda diesen davon abhalten will, seine Schwester zu schlagen, die Verkennung Kamedas durch die Gäste auf Taekos Geburtstagsfest und die hasserfüllte, eifersüchtige Verkennung Kamedas durch Akama, der sich schließlich mit einem Messer auf den vermeintlichen Nebenbuhler stürzt und nur deshalb nicht zusticht, weil Kameda einen epileptischen Anfall erleidet. Die dem Anfall vorangehenden, auf ihn vorbereitenden Szenen werden von Kurosawa in fulminante Bilder gekleidet und von Fumio Haysaka mit einer Unheil verkündenden, düsteren Musik untermalt. Kurosawa hält sich bei der filmischen Umsetzung dieser vorbereitenden Szenen zwar in vielen Details an den Hypotext, ergänzt diesen aber auch durch eigene Ideen und unterlässt es, den inneren Monolog, der Myškins ziellose Wanderung durch die Stadt begleitet, in den Film zu transferieren. Dadurch bleiben dem Zuschauer der innere Zwiespalt und die Schuldgefühle des Helden verschlossen, die dem Leser des Romans im fünften Kapitel des zweiten Teils dargelegt werden, und die laut Gerigk in Myškin einen heftigen Kampf auslösen: Einerseits hegt er den Wunsch nur das Gute im Menschen sehen zu wollen und andererseits unterliegt er der Unausweichlichkeit, das tatsächlich vorhandene Schlechte akzeptieren zu müssen. Grandios gelingt es Kurosawa aber die von Dostoevskij im Roman beschriebenen äußerlichen Ereignisse in den auf den epileptischen Anfall vorbereitenden Szenen bildlich darzustellen. So visualisiert er beispielsweise das Augenpaar, von dem sich Myškin während seiner ziellosen Wanderschaft durch die Stadt verfolgt fühlt, und über das es im Roman heißt, dass es im Fürsten »dieses Zittern, diesen kalten Schweiß, dieses Dunkel und diese Kälte in seiner Seele«64 auslöst, indem er Akamas Augen, die Kameda nach dessen Besuch aus einem Beobachtungsfenster in der Tür des Hauses nachblicken, zunächst durch immer näher heranrückende Detailaufnahmen vergrößert, bis sie die gesamte Leinwand einnehmen und sie dann über den durch die verschneiten Straßen wandernden Kameda blendet (Abb. 39). Im Zusammenspiel mit der bedrohlichen Musik und Kamedas dauerndem, ängstlichem Umblicken suggerieren die riesigen Augen, wie panisch sich Kameda verfolgt fühlen muss. Mit Brian McFarlanes Terminologie gesprochen, wären die verfolgenden Augen
64 F. Dostojewskij: Der Idiot, S. 335. 256
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im Film somit eher der Kategorie ›enunciation‹ zuzuordnen als der des ›transfer‹, denn Kurosawa muss für diese spezielle Form der Visualisierung mit mehreren, kurz hintereinander geschnittenen Detailaufnahmen und einer längeren Überblendungsphase komplexere Adaptationsprozesse verwenden als ein simples Abbilden eines Augenpaares. Abbildung 39: Akamas Augen verfolgen Kameda als er durch die Straßen der Stadt irrt
Quelle: Akira Kurosawa: Hakuchi – The Idiot, Japan: Shochiku Co. Ltd. 1951, Hongkong: Panorama Entertainment Co. Ltd. 2003. Weit einfacher lässt sich hingegen die leitmotivische Wiederkehr des Messers visualisieren, das Myškin im Roman unbewusst bei Rogožin mehrmals in die Hand nimmt, und welches er bei seiner Wanderung durch St. Petersburg plötzlich in einem Schaufenster wiederentdeckt. Was die Passage im Idioten so meisterhaft wirken lässt, ist die Tatsache, dass Dostoevskij das Wort »Messer« kein einziges Mal verwendet und trotzdem ganz klar ist, von welchem Gegenstand er spricht: »Unter den im Schaufenster ausliegenden Waren befand sich ein Gegenstand, den er fixiert und sogar auf sechzig Kopeken in Silber geschätzt hatte, er wusste das noch, ungeachtet seiner ganzen Zerstreutheit und Unruhe. Folglich war er, wenn dieser Laden existierte und dieser Gegenstand wirklich im Schaufenster unter den anderen Waren lag, eben wegen dieses Gegenstandes davor stehen geblieben. […] Er ging, den Blick fast verzweifelt nach rechts gewandt, und sein Herz hämmerte vor ängstlicher Ungeduld. Aber da war der Laden, er hatte ihn endlich gefunden! […] Und da war auch der Gegenstand zum Preis von sechzig Kopeken, natürlich, sechzig Kopeken, mehr ist er ja nicht wert!, jetzt 257
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konnte er es bestätigen und lachte. Aber er lachte hysterisch; es wurde ihm sehr schwer ums Herz.«65
Kurosawa lässt beim ›transfer‹ dieser Szene Kameda jäh auf der Straße anhalten und ihn ebenfalls zu einem Schaufenster zurückkehren, an dem er gerade vorbeigelaufen ist. Der angestrengt auf die ausgelegte Ware starrende Kameda wird nun aus dem inneren des Geschäfts durch die Schaufensterscheibe dabei gefilmt, wie er entsetzt auf die mit der Spitze auf ihn weisenden Messer starrt (Abb. 40). Plötzlich entdeckt er unter den Messern eines, das genauso aussieht wie jenes, das er bei Akama gesehen hat, und er stürzt mit einem entsetzten Aufschrei davon. Das hysterische Lachen aus dem Roman wird im Film somit durch den Schrei ersetzt. Der Schrei, der laut Gerigk im Idioten eine nonverbale Reaktion auf negative Ereignisse darstellt,66 wird in Kurosawas Film als ein Vorzeichen eingesetzt, das auf die letzte große Verkennung des ersten Teils hinweist. Denn unmittelbar auf die Messerszene folgt Akamas Mordversuch an Kameda, der wiederum nur aufgrund des markerschütternden Schreis scheitert, den Kameda vor seinem epileptischen Anfall ausstößt. Doch Kurosawa verwendet auch gezielt eigene Ideen zur Erhöhung der Spannung und zur Verdeutlichung von Kamedas Angst vor der bevorstehenden Verkennung. So lässt er beispielsweise Kameda kurz vor der Messerszene über eine verschneite Eisenbahnbrücke gehen. Wobei sich der Held ständig suchend umblickt, sich zitternd mit beiden Händen an den Hals fasst und schließlich abrupt anhält, als er am anderen Ende der Brücke die Silhouette des breitbeinig den Weg versperrenden Akamas erblickt (Abb. 41). Doch Akama geht nicht auf sein späteres Opfer zu, sondern dreht sich langsam um, um einige Sekunden später in einer Dampfwolke zu verschwinden, in welche die Brücke von einer unter ihr durchfahrenden Lokomotive gehüllt wird (Abb. 42). Kamedas ziellose Wanderung durch die Stadt nimmt insgesamt nur fünf Minuten der Filmhandlung ein, da jedoch die ersten Bilder dieser Szene bei Tageslicht aufgenommen wurden und die letzten bei dunkler Nacht, entsteht der Eindruck, dass Kamedas Irrweg stundenlang gedauert hat. Eine verlangsamende Wirkung wird auch dadurch hervorgerufen, dass während der ganzen Zeit nur einige wenige Worte von Kameda vor dem Schaufenster gesprochen werden und sich die Kamera wie ein unsichtbarer Begleiter an die Fersen des sich ohnehin schon verfolgt fühlenden Helden heftet. Mit all diesen Szenen bereitet Kurosawa den Zuschauer auf den Höhepunkt der Verkennung im ersten Teil von Hakuchi 65 Ebd., S. 325f. 66 Vgl. H.-J. Gerigk: »Dostojewskijs Roman ›Der Idiot‹ als Phänomenologie der Verkennung«, S. 69. 258
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vor: auf die Messerattacke Akamas. Mit Kamedas epileptischem Anfall und Akamas Flucht vor dem schrecklichen Anblick enden der erste Teil des Films und auch die erste Spirale der Verkennung. Abbildung 40: Kameda entdeckt in einem Schaufenster das gleiche Messer wie im Hause Akamas
Quelle: Akira Kurosawa: Hakuchi – The Idiot, Japan: Shochiku Co. Ltd. 1951, Hongkong: Panorama Entertainment Co. Ltd. 2003. Abbildung 41: Auf einer Brücke sieht Kameda plötzlich Akama
Quelle: Akira Kurosawa: Hakuchi – The Idiot, Japan: Shochiku Co. Ltd. 1951, Hongkong: Panorama Entertainment Co. Ltd. 2003.
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Abbildung 42: Die Gestalt Akamas verschwindet im Rauch der Dampflok
Quelle: Akira Kurosawa: Hakuchi – The Idiot, Japan: Shochiku Co. Ltd. 1951, Hongkong: Panorama Entertainment Co. Ltd. 2003. Auch der zweite Teil von Hakuchi beginnt mit einer – wenn auch auf den ersten Blick nicht schlimm wirkenden – Verkennung, und wieder steigert sich die Intensität der Missverständnisse und Fehleinschätzungen solange, bis Kameda am Ende an seiner ihn ständig verkennenden Umwelt zerbricht und die schrecklichen Ereignisse nicht mehr mediieren kann. Nachdem Akama Taeko Nasu umgebracht hat, fällt Kameda in geistige Umnachtung und endet schließlich wie Myškin in der Nervenheilanstalt. Da sich Kurosawa im zweiten Teil des Films nicht mehr so strikt an Dostoevskijs Hypotext hält wie im ersten, fällt auf, dass es auch zu den Anfangs- und Endszenen keine Entsprechungen im Roman gibt. Und dies ist gerade deshalb so interessant, weil Kamedas Verkennung – wie bereits erwähnt – in beiden Szenen explizit thematisiert wird. In der Anfangsszene erscheint Frau Ono im Hause Kayamas, um dessen jüngeren Bruder Kaoru wegen seiner Funktion als Botenjunge zu schelten, und um von ihm zu erfahren in welches Krankenhaus Kameda nach seinem Anfall eingeliefert wurde. Als Kaoru ihr mitteilt, dass Kameda sich in seinem Zimmer befindet, ist sie zunächst erstaunt, fängt sich aber rasch wieder und lässt sich zum Kranken führen. Dort trifft sie auf Karube, dem der gutgläubige Kameda seine geschäftlichen Angelegenheiten übertragen hat, und wirft nun völlig überraschend dem rekonvaleszenten Kameda sein unmögliches Geschäftsgebaren vor. Karube hatte ohne Kamedas Wissen in dessen Namen bei Ono vorgesprochen und Geld eingefordert. Frau Ono glaubt nun, dass Karube von Kameda
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geschickt wurde, und beschimpft den Kranken deshalb sofort nach ihrem Eintreten als undankbaren Menschen. Zwar lösen sich die Missverständnisse schnell auf, die Verkennung Kamedas steht jedoch weiterhin im Raum, da Frau Ono sich nicht für die ungerechten Vorwürfe entschuldigt und Kameda sogar noch für seine Leichtgläubigkeit tadelt. Auch die Schlussszene des Films weist so gut wie gar keine Parallelen zu Dostoevskijs Epilog im Roman auf. Während Dostoevskij die Familie Epančin für ihr Verhalten »bestraft«, sie uneinsichtig gegenüber ihren eigenen Fehlern bleiben lässt – lediglich die Generalin findet einige wenige mitleidige Worte über den Fürsten – und insbesondere Aglaja, die einem polnischen Heiratsschwindler ins Netz geht, ins Unglück rennen lässt, zeigt die letzte Szene in Kurosawas Film eine vom Schicksal Kamedas tief erschütterte Familie Ono. Und ganz im Gegensatz zu Dostoevskijs Aglaja erkennt Kurosawas Ayako, dass sie und alle anderen Personen in Kamedas Umgebung eine Mitschuld an seinem Schicksal trifft. Als Kaoru ihr weinend von Kamedas Geisteszustand berichten will, dies aber nicht fertig bringt, spricht Ayako – ebenfalls unter Tränen – die folgenden, letzten Sätze des Films: »Yes. If we could only love people the way he did, without hating them. What a fool I’ve been! I was the idiot.«. Ayako erkennt somit die Verkennung, der Kameda zum Opfer gefallen ist und benennt diese mit klaren Worten. Kurosawas Film endet mit einer 34 Sekunden langen Großaufnahme von Ayakos weinendem Gesicht, während der sie die oben zitierten Sätze spricht. Nachdem nun die Struktur der Verkennung in Kurosawas Film untersucht wurde, geht das folgende Teilkapitel der Frage nach, ob sich in Hakuchi Spuren von Dostoevskijs Erzähltechnik und Erzählperspektive finden lassen. Als provokante These sei vorausgeschickt, dass die von der Forschung hinlänglich vertretene Meinung, Hakuchi sei Kurosawas schlechtester Film,67 eng mit der von Gerigk für Dostoevskijs Roman festgestellten Erzählweise zusammenhängen dürfte.
67 Stephan Prince stellt z.B. die Frage: »Why, then, is his [Kurosawas – Anm. D.B.] version of the Idiot so amazingly bad?« (S. Prince: The Warrior’s Camera, S. 139) und Donald Richie, der Hakuchi bei weitem differenzierter untersucht, fällt das Urteil: »The desire to preserve Dostoevsky weakens the film at every turn […].« (D. Richie: The Films of Akira Kurosawa, S. 82.) 261
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7.4.2 Filmisches Erzählen und filmischer Erzähler Wenn Donald Richie behauptet, dass die kompromisslose Treue zu Dostoevskijs Werk Kurosawa vor eine Reihe von Problemen stellte, liefert er nur eine ungenügende Erklärung für den besonders den Anfang des Filmes kennzeichnenden stockenden Handlungsverlauf. Auch mit der Feststellung: »By insisting upon a complete respect for his author, he found that he had a lot of explaining to do.«68 benennt er mit den minutenlangen, die Handlung zerreißenden Texteinblendungen zwar das größte Problem des Films, sucht danach aber nicht nach dessen Ursache. Die Frage warum zu Beginn von Hakuchi – genauer gesagt, während der ersten zwölf Filmminuten – so viel erklärender Text eingeblendet wird, müsste sich aber im Grunde jedem Kurosawa-Kenner sofort aufdrängen, denn diese notdürftigen Erklärungsversuche entsprechen nicht im Mindesten der üblichen narrativen Eloquenz des Meisterregisseurs. Allerdings ist eine lückenlose Aufklärung von Kurosawas ursprünglicher Konzeption nicht mehr möglich, da der beinah viereinhalb Stunden lange Director’s Cut von Hakuchi nicht mehr existiert, der Film von der Produktionsfirma gegen Kurosawas Willen auf 166 Minuten gekürzt wurde69 und weder aus der Sekundärliteratur über Kurosawa noch aus seinen eigenen autobiographischen Aufzeichnungen hervorgeht, wie es zu der eigenartigen Gestaltung des Filmbeginns kommen konnte. Fakt ist jedoch, dass Kurosawa im Vorfeld alles getan hat, um die Kürzung seines Films zu verhindern. Dies geht aus einem Brief an seinen ehemaligen Lehrer Kajiro Yamamoto hervor, in dem er, der sich beim Schnitt anderer Filme stets als ein begnadeter und konsequenter Cutter erwiesen hatte,70 wütend schreibt, dass die Produktionsfirma, falls sie tatsächlich vorhabe Hakuchi zu kürzen, den Film gleich der Länge nach – von Anfang bis Ende – durchschneiden könne. Yamamoto berichtet außerdem, dass er seinen Schüler noch nie so wütend gesehen habe wie nach der Veröffentlichung der gekürzten Fassung von Hakuchi.71 68 D. Richie: The Films of Akira Kurosawa, S. 82. 69 Ebd., S. 250. (Filmographie) 70 Das genaue Zitat von Keinosuke Uegusa, Kurosawas Freund und Drehbuchautor, lautet: »Kurosawa’s way of working is so relentless that, once the place was discovered he felt no compunction at all in cutting through all the attractive bad spots. He always does this – with neither regrets nor compromises. His attitude is a fine, cutting sword.« (D. Richie: The Films of Akira Kurosawa, S. 49.) 71 Das genaue Zitat von Kajiro Yamamoto lautet: » … they wanted to cut the film because it was too long and he sent me a long letter in which he literally poured out his anger […]. He went so far as to write that if they want262
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Mögliche Erklärungen für den so holprig gestalteten Anfang des Films können somit nur spekulativ sein, doch grundsätzlich drängen sich zwei Varianten auf: Entweder wurden die Texteinblendungen tatsächlich von Kurosawa selbst eingefügt, und er hat mit der Zeit erkannt, dass diese Erklärungsversuche nicht fruchten und deshalb im weiteren Verlauf des Films auf derartige Einblendungen verzichtet, oder aber – und diese Möglichkeit scheint mir die wahrscheinlichere – die Texttafeln wurden nachträglich vom Studio eingefügt, um jene kausalen »Erklärungsnotstände« zu überbrücken, die sich durch die Kürzungen im Film ergaben. Im ersten Fall würde dies bedeuten, dass Kurosawa selbst mit Dostoevskijs Erzählperspektive und Erzähltechnik nicht zu Rande kam und die Texteinblendungen gezielt einsetzte, um seinen Zuseher jene unerklärten Anfangsbilder voreilig zu erläutern, die bei Dostoevskij »kommentarlos präsentiert«72 werden. Doch obwohl diese Interpretation im Hinblick auf die Untersuchung von Erzählperspektive und Erzähltechnik durchaus verführerisch wäre – würde sie doch das Scheitern des Meisterregisseurs Kurosawa am Hypotext Der Idiot dokumentieren –, halte ich sie trotzdem für unrealistisch, da den Texteinblendungen ein viel zu offensichtlicher, filmtechnischer Dilettantismus anhaftet. Immerhin hatte Kurosawa vor Hakuchi schon zwölf eigenständige Spielfilme gedreht, und Texttafeln – noch dazu so übergebührlich lang eingeblendete und dabei so nichts sagende – verwendete er in diesen so gut wie nie. Gegen diese Variante spricht außerdem, dass Kurosawa in seinem direkt vor Hakuchi gedrehten Meisterwerk Rashōmon bewusst mit einem sich allmählich entwickelnden Verstehensprozess spielt und darin vier verschiedene Versionen eines Ereignisses unkommentiert nebeneinander stellt, ohne dabei seinem Zuseher erklärend zur Seite zu stehen. Warum sollte er also bei seinem nächsten Film plötzlich Probleme damit haben, seinen Zuseher auf Erklärungen für etwaige unklare Bilder und Szenen warten zu lassen? Viel wahrscheinlicher erscheint mir deshalb die zweite Variante, nach der die Mitarbeiter der Filmfirma »Shochiku« mit Hilfe der dilettantischen Texttafeln versuchten, die möglicherweise auftretenden Verständnislücken des Zusehers zu schließen. Das Paradoxe an dieser Variante ist aber, dass gerade die Erklärungsversuche den Verständnisfluss hemmen, und dass sie im Grunde ganz überflüssig sind. Doch welche der beiden Varianten auch stimmen mag, letztlich zählt das heute noch erhaltene Ergebnis – also der Film selbst – und dessen erste zwölf Minuten lassen unweigerlich den Eindruck entstehen, dass ired to cut it, they might as well do so lengthwise – from beginning to end. When it was finally released – in its cut form – I have literally never seen Kurosawa so furious.« (D. Richie: The Films of Akira Kurosawa, S. 85.) 72 H.-J. Gerigk: »Literarische Ost-West-Passagen«, S. 55. 263
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gendjemand mit jenem »quälenden Informationsdefizit«73, das laut Gerigk Dostoevskijs filmisches Erzählen prägt und vom filmischen Erzähler erst allmählich und selbst dann nicht gerade vertrauenswürdig ausgeglichen wird, nicht zu Rande kam und versuchte, dieses durch schriftliche Erklärungen zu kompensieren. Diesen Eindruck bestätigt auch der Umstand, dass alle Texteinblendungen gerade in jenen Anfangsszenen auftauchen, die laut Gerigk eine Großaufnahme kommentarlos präsentieren und den Rezipienten dazu zwingen, die Zusammenhänge selbst zu erschließen; in jenen Szenen also, die im Roman besonders durch die Erzähltechnik des filmischen Erzählens und die Perspektive des filmischen Erzählers geprägt werden. In den ersten Szenen von Hakuchi wird demnach viel zu fürsorglich erklärt. Es fehlt das Vertrauen darauf, dass der Zuseher selbst durch die Kraft des unerklärten Bildes in die Handlung hineinfinden könnte. So werden zu Beginn des Films – in den ersten zwölf Minuten – nicht weniger als fünf erklärende Texteinblendungen eingefügt, und in der Szene vor dem Fotogeschäft, als sich Kameda und Akama gemeinsam Taekos Porträt ansehen, kommt außerdem ein Off-Erzähler zu Wort, der – noch dazu im unpassend distanzierten Stil eines Nachrichtensprechers – die Vorgeschichte Taekos zusammenfasst. Durch diese erzwungen wirkenden Erklärungsversuche tritt jedoch genau das Gegenteil von dem ein, was man ursprünglich durch sie erreichen wollte: Sie reißen den Zuschauer immer wieder aus der Handlung heraus und behindern dadurch den Verstehensprozess mehr als sie ihm nützen. So stört schon die erste dieser Texteinblendungen, die unmittelbar auf die großartige Eröffnungsszene auf dem Fährdampfer folgt, den Handlungsaufbau empfindlich. Auf ihr ist zu lesen: »Dostoevsky wanted to portray a genuinely good man. Ironically he chose an idiot for his hero. But a truly good man may seem like an idiot to others. This is the tragic story of the ruin of a pure and simple man.« Nachdem also bereits die beiden Helden eingeführt wurden, sieht man sich plötzlich bemüßigt Dostoevskijs Grundabsichten schriftlich zu erklären, was nicht nur den gesamten Handlungsaufbau stocken lässt und für das Verständnis des Films gänzlich überflüssig ist, sondern auch noch, mit Gerigks Terminologie gesprochen, einen außerfiktionalen Aspekt gewaltsam in einen bereits begonnenen innerfiktionalen Verstehensprozess hineinzwingt. Die vier späteren Texteinblendungen und die Erklärungen des OffErzählers beziehen sich zwar alle auf die Filmhandlung, da es jedoch ein Leichtes wäre, diese wenigen Sätze in den Dialog, also in den Hand-
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lungsfluss, einzuarbeiten und sie einfach von einem der Protagonisten aussprechen zu lassen, wirken auch sie schlichtweg überflüssig. Die zweite Textpassage folgt beispielsweise direkt auf die zweite Filmszene, bei der sich Akama und Kameda einen Weg durch ein überfülltes Zugabteil bahnen, um – nachdem sie einen Sitzplatz erobert haben – ihre auf dem Dampfer begonnene Unterhaltung fortzusetzen. Doch im Gegensatz zum Dostoevskij-Roman wird in Hakuchi das Gespräch nun nicht auf Akamas Vorgeschichte, seine Leidenschaft für Taeko und den Streit mit seinem jüngst verstorbenen Vater gelenkt. Völlig unerwartet wird die Eisenbahnszene im Film, nachdem Akama über den vor Kälte schlotternden Kameda zu lachen beginnt, unterbrochen, und die gesamte Vorgeschichte der Rogožin-Figur wird auf Texttafeln eingeblendet. Diese Textpassage bleibt 50 Sekunden lang im Bild zu sehen, was ziemlich genau der Dauer der vorhergehenden Eisenbahnszene entspricht. Dem Zuschauer wird durch diese viel zu lange Unterbrechung das Eintauchen in den Handlungsfluss aufs Neue erschwert. Nach den ersten zwölf Minuten ändert sich plötzlich der narrative Aufbau und es gibt im Rest des Films keine weiteren Texteinblendungen und Off-Stimmen-Kommentare mehr. Wer also auch immer den Anfang von Hakuchi durch seine überfürsorglichen Erklärungsversuche gestört hat, hat wahrscheinlich selbst bemerkt, dass es ihm auf diese Weise nicht gelingt, den Erklärungsnotstand der Dostoevskijschen Erzähltechnik zu kompensieren. Auf die am Ende des vorletzten Kapitels gestellten Fragen lässt sich im Falle von Hakuchi somit wie folgt antworten: Die wahrscheinlich vom Studio gekürzte und einzig erhaltene Version des Films erweckt auf den ersten Blick tatsächlich den Eindruck, als ob in ihr versucht wurde auf das Dostoevskijsche, filmische Erzählen zu reagieren, indem im Film ein erklärender Erzähler in Form von Texteinblendungen und einer OffStimme eingeführt wird. Doch mit größter Wahrscheinlichkeit ist dieser Eindruck auf die ungeschickten Schnitte der Produktionsfirma zurückzuführen, die mit den Texteinblendungen eventuellen Verständnisschwierigkeiten vorbeugen wollte. Die Textpassagen tragen aber nicht im Geringsten zu einem besseren Verständnis des Films bei. Sie schwächen den Film viel eher und behindern den außerfiktionalen Verstehensprozess.
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7.5 Verkennung und filmisches Erzählen in N áv r a t i d i o t a Das Moment der Verkennung stellt eine der auffälligsten Parallelen zwischen Dostoevskijs Roman und Saša Gedeons Film dar und tritt in Návrat idiota noch expliziter zu Tage als in Hakuchi. Und auch die von Gerigk angeführten »nonverbalen Reaktionen« auf Verkennung wie Sprachnot und Epilepsie spielen in Návrat idiota eine markante Rolle. Noch erstaunlicher ist meines Erachtens aber die analoge Umsetzung jenes unerklärten Bildes, das laut Gerigk Dostoevskijs besondere Erzähltechnik des filmischen Erzählens begründet, und das in Návrat idiota gezielt zur Verzögerung des außerfiktionalen Verstehensprozesses eingesetzt wird. Das unerklärte Bild, das in Návrat idiota zur unerklärten Situation ausgebaut wird, entwickelt sich zum wichtigsten erzähltechnischen Gestaltungselement des Films, da es die Grundvoraussetzung für die schrittweise Entwirrung des Beziehungsgeflechts zwischen den Hauptpersonen darstellt. Zunächst widmet sich aber das folgende Teilkapitel der Struktur der Verkennung in Návrat idiota. Dabei wird besonderes Augenmerk auf die zahlreichen, »nonverbalen Reaktionen« auf Verkennung gelegt.
7.5.1 Verkennung Da Návrat idiota von der Fehleinschätzung des Helden František lebt, wäre der Film ohne das Phänomen der Verkennung schlichtweg undenkbar. Die gesamte Filmhandlung basiert auf der Tatsache, dass František von seiner Umwelt für einen Idioten gehalten wird, und keine der anderen Figuren auch nur das Geringste von seinem tatsächlichen Wissensstand ahnt. Die Verkennung des Helden führt in Návrat idiota zu vielen komischen, manchmal sogar grotesken Situationen, da in Wahrheit František und die Zuschauer viel mehr über die Verwicklungen im Beziehungsgeflecht der beiden Geschwisterpaare wissen als diese selbst. Durch die ruhige, distanzierte Kameraführung und die zurückhaltenden Dialoge wirken die komischen Elemente aber niemals schrill, laut oder aufdringlich. Eine der großen Stärken des Films liegt in dieser verhaltenen Komik, die den Zuschauer geradezu lautlos mit merkwürdigen, auf den ersten Blick unerklärlichen, ja irritierenden Zufällen und Begebenheiten konfrontiert. Zwar werden auch durchaus ernste Komponenten der Verkennung dargestellt, wie der demütigende Rauswurf Františeks aus der Tanzschule, oder die Ohrfeige, die er völlig zu Unrecht von Emil bezieht, doch
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diese werden sowohl durch die vielen skurril-komischen Szenen als auch durch das offene Ende des Films entschärft, das den Helden zurückkehren und den Kampf mit dem Leben wieder aufnehmen lässt. Durch dieses Ende, das es unter anderem erlaubt Návrat idiota als Tragikomödie zu bezeichnen, unterscheidet sich Saša Gedeons Film wesentlich von Hakuchi und The Million Dollar Hotel, in denen die Verkennung der Helden schließlich in der Katastrophe mündet. Auf das erste Moment der Verkennung trifft man in Návrat idiota bereits nach wenigen Filmminuten. Als Anna František springend und den Kopf schüttelnd auf der Zugstoilette vorfindet, verrät ihr Blick sofort, dass sie ihn für dieses merkwürdige Verhalten vorverurteilt. Da sie nicht weiß, dass sie selbst für diese seltsame Begebenheit verantwortlich ist – er versucht ja auf der Toilette nur sich vom Joghurt zu reinigen, das ihr aus dem Zugsfenster gefallen ist –, wirkt ihre Fehleinschätzung besonders ungerecht. Diese erste Verkennungsszene kommt völlig ohne verbale Äußerungen aus; die ungewöhnliche Situation spricht für sich und Annas Verkennung wird durch ihre abschätzigen, vorwurfsvollen Blicke ausgedrückt. Im Gegensatz zu Hakuchi wird die erste Verkennung Františeks somit lange vor den ersten gesprochenen Worten thematisiert. Doch auch im ersten verbalen Dialog, der erst nach gut acht Minuten stattfindet, wird František verkannt. Zwar ist ganz verständlich, dass Anna, die ihn in dieser Szene unerwartet im oberen Bett ihres Schlafwagenabteils vorfindet, erschrickt und im ersten Moment wütend reagiert, doch indem sie František unterstellt sie zu verfolgen, geht sie zu weit und verkennt ihn erneut. Er ist nur durch Zufall in ihrem Abteil gelandet. Allerdings ist er daran, dass sie über seine Anwesenheit erschrickt, nicht ganz unschuldig. Indem er sie bei seinem Eintreten – wohl aus Rücksicht oder Schüchternheit – nicht geweckt, sondern sich lautlos in sein Bett zurückgezogen hat, ermöglicht er erst ihr Schockerlebnis. Ohne Vorwarnung sieht Anna deshalb plötzlich Františeks Gesicht hinter ihrem eigenen im Spiegel auftauchen, erschrickt maßlos und fährt ihn wütend an: »Was machen Sie denn hier? Verfolgen Sie mich?«. Ähnlich wie in Kurosawas Film dreht sich somit auch der erste Dialog in Návrat idiota um die Verkennung des Helden, der sich mit seinen Antworten: »Ich habe eine Reservierung.« und »Ich schwöre Ihnen, dass ich sie nicht verfolge.« von Anfang an gegen ungerechtfertigte Vorwürfe wehren muss. Aus diesen ersten beiden Verkennungsszenen wird bereits ersichtlich, dass jene »nonverbale Reaktion«, die Gerigk als »Sprachnot« bezeichnet, auch in Návrat idiota anzutreffen ist. Schon als Anna František auf der Zugstoilette überrascht, findet er keine Worte, um sich gegen ihre stumme, aber offensichtliche Fehlinterpretation seiner Lage zu verteidigen. Ähnlich wie Myškin, der durch eine rechtfertigende Entgegnung auf
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den Schmähartikel Kellers Burdovskij und dessen Freunde bloßstellen müsste, würde František durch eine Erklärung seines seltsamen Verhaltens auf der Toilette Annas Schuld an dem Vorfall entlarven, und ebenso wie sein literarischer Vorgänger kann sich auch der Filmheld nicht zur »Gegenwehr, zur Aggression«74 gegen seine Verkennerin entschließen. In Sprachnot gerät František aber auch wenn es darum geht, die Seitensprünge von Emil mit Olga und von Anna mit Robert zu verheimlichen; also dann, wenn er sich unwissender geben muss als er tatsächlich ist, oder sich sogar zur Lüge gezwungen sieht. Besonders augenfällig erscheint seine Sprachnot deshalb während des Kaffeetrinkens bei Olgas und Annas Mutter und während des Mittagessens bei Emils und Roberts Mutter. In beiden Szenen wirkt František generell sehr nervös, spricht abgehackt und stottert sogar manchmal. Als die Mutter der beiden Mädchen ihn beim Kaffee plötzlich nach seinem ersten Eindruck von Emil fragt, schweigt František für einige Sekunden entsetzt und stottert dann, dass er Emil eigentlich nicht zum ersten Mal sehe. Die Mutter ist verblüfft und fragt ihn, wo er ihm denn schon einmal begegnet sei, doch František kann ihr nicht antworten und schweigt, während er sie mit einem um Nachsicht flehenden Blick ansieht. Während des Mittagessens ist Františeks Sprachnot etwas anders motiviert: Da ihm als Einzigem am Tisch klar ist, dass jede unbedachte Äußerung zum Eklat führen kann, zieht er es vor, zu schweigen und nur knapp auf die direkt an ihn gerichteten Fragen zu antworten. Sein ganzer Körper drückt seine Angespanntheit aus. Unruhig rutscht er auf seinem Sessel herum und beobachtet alle Anwesenden mit scheuem Blick. Wenn Emils Mutter ihn über die Nervenheilanstalt ausfragt, wirkt er geradezu erleichtert, da dieses Thema von den stumm im Raum stehenden Geheimnissen der anderen Protagonisten ablenkt. Diesen bestätigt Františeks Sprachnot aber wiederum ihre Vorurteile gegen den »Idioten«, und so führt eine der nonverbalen Reaktionen auf Verkennung in Návrat idiota wieder zu neuer Verkennung. Wie für Dostoevskijs und Kurosawas Helden spielt die Epilepsie auch in Františeks Leben eine zentrale Rolle. Doch im Gegensatz zu Myškin und Kameda, deren epileptische Anfälle der Leser respektive der Zuschauer direkt miterlebt, leidet Saša Gedeons »Idiot« eher an Albträumen von Epilepsie als an der Krankheit selbst. Genau genommen wird in Návrat idiota nur ein einziger epileptischer Anfall gezeigt: Als František in Annas Zimmer auf der Luftmatratze übernachtet, beginnt er plötzlich wild im Schlaf zu zucken. Doch, gleich darauf wacht er
74 H.-J. Gerigk: »Dostojewskijs Roman ›Der Idiot‹ als Phänomenologie der Verkennung«, S. 68. 268
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Schweiß gebadet auf, und es stellt sich heraus, dass er nur davon geträumt hat, einen Anfall zu haben. Wenn überhaupt kann František somit nur als »Schlafepileptiker«75 bezeichnet werden, was ihn wiederum von den »Aufwachepileptikern« Myškin und Kameda unterscheidet. In den anderen beiden Traumszenen sieht František sich selbst während einer Elektroschockbehandlung, wobei aber nur in der ersten Szene tatsächlich der Strom eingeschaltet wird und Františeks zweites Ich unter den Stromschlägen zu zucken beginnt. Dieser erste Albtraum vom Elektroschock folgt unmittelbar auf die ersten, im Schlafwagenabteil gesprochenen Sätze im Film, in denen Anna František das erste Mal verbal verkennt. Aber auch den beiden späteren Traumsequenzen – in Annas Zimmer und im Schlafsaal von Františeks Unterkunft am Ende des Films – gehen schlimme Verkennungen des Helden voraus. Ehe er in Annas Zimmer von seinem eigenen epileptischen Anfall träumt, wurde František gleich vier Mal verkannt: Zuerst wirft man ihn aufgrund der bösartigen Verleumdungen seiner Tanzpartnerin vor aller Augen aus dem Tanzsaal, danach läuft das Mädchen, das er nach der Tanzveranstaltung zur Rede stellen wollte, entsetzt vor ihm davon, gleich darauf muss er an der Bushaltestelle hören, wie Emil ihn einen Idioten nennt, und schlussendlich macht sich Anna während des Anrufs in der Telefonzelle über ihn lustig. Noch schlimmere Verkennung widerfährt František vor seinem letzten Traum, in dem sich die Bilder von der Elektroschockbehandlung wiederholen, es aber nicht zum entsetzlich anzusehenden Stromstoß kommt. Unmittelbar davor wird der Held vom wütenden Emil, der glaubt František habe Anna von seinem Seitensprung mit Olga erzählt, vom Silvesterfeuerwerk weggezerrt, geohrfeigt und in den Schnee geworfen. Von Františeks Albträumen hat somit streng genommen nur der mittlere in Annas Schlafzimmer konkret mit Epilepsie zu tun. Unkontrollierte, körperliche Zuckungen im weitesten Sinne werden jedoch in allen dreien thematisiert. Ähnlich wie bei Dostoevskij und Kurosawa sind Verkennung und krampfhafte Zuckungen also auch in Gedeons Film eng miteinander verknüpft, denn die Träume folgen immer auf schlimme Verkennungsszenen. Mit Tellenbach ließe sich somit sagen, dass František immer dann, wenn er die negativen Aspekte seiner Umwelt und die ihm oder anderen angetanenen Ungerechtigkeiten nicht mehr mediieren kann, einen Albtraum von unkontrollierbaren Zuckungen erleidet. Und 75 Hubertus Tellenbach bezieht sich hier auf die Einteilung von Dieter Janz, der zwischen Schlaf- und Aufwachepileptikern unterscheidet. Den beiden Begriffen ist bereits implizit, dass sich diese Unterteilung im Wesentlichen nach dem Zeitpunkt des Auftretens eines epileptischen Anfalls richtet. (Vgl. H. Tellenbach: »Dostojewskijs epileptischer Fürst Myschkin«, S. 205f.) 269
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mit Gerigk gesprochen, stellen Františeks Albträume eine weitere, unbewusste »Reaktion auf unerträgliche Wirklichkeit«76 dar. In der ersten Albtraumszene im Schlafwagenabteil wird der Zuschauer außerdem mit zwei Attributen des Helden konfrontiert, die im Sinne Gerigks ebenfalls als unmittelbare Reaktionen auf unerträgliche Realität interpretiert werden können. Da František während des Albtraums laut aufschreit, wird Anna, die ja im selben Schlafwagenabteil schläft, Zeugin des Vorfalls. Sie weckt den schreienden und aus der Nase blutenden František auf und spricht anschließend mit ihm über den Traum. In dieser Szene treffen wir somit auf zwei interessante Begleitumstände der Verkennung: den Schrei und das Nasenbluten. Der Schrei, den Gerigk im Falle Myškins als eine »adäquate, nonverbale Interpretation der Welt«77 auffasst, erfüllt in Návrat idiota eine ganz ähnliche Aufgabe. Auch Františeks Schrei gingen kaum zu verkraftende Verkennungen voraus – zuerst realiter durch Annas Vorwurf ihr zu folgen und danach im Traum durch den Elektroschock, mit dem er wohl auch tatsächlich während seiner Zeit in der Nervenheilanstalt gequält wurde –, und auch in seinem Fall lässt sich der Schrei als Zeichen der Hilflosigkeit gegenüber negativer Auswüchse seiner Umwelt interpretieren. Da Myškins Schrei aber als »furchtbar […] mit nichts vergleichbar« beschrieben wird und es weiter heißt, dass in ihm »plötzlich alles Menschliche«78 verschwindet, unterscheidet er sich wesentlich von Františeks, der im Traum vor Mitleid weinend, sein vom Elektroschock gequältes Alter Ego schüttelt und dabei verzweifelt »Nein! Nein!« schreit. Sein Schrei ist also genau genommen nicht nonverbal, da auch Anna die Worte versteht, und er klingt auch nicht im Geringsten unmenschlich, sondern erinnert viel mehr an das verzweifelte Weinen eines Kindes. Im Gegensatz zu Myškin und Kameda schreit František auch nicht vor einem epileptischen Anfall, sondern als Reaktion auf einen Albtraum, vor dem und in dem er sich mit ungerechter Behandlung konfrontiert sieht (Abb. 43).
76 H.-J. Gerigk: »Dostojewskijs Roman ›Der Idiot‹ als Phänomenologie der Verkennung«, S. 56. 77 Ebd., S. 69. 78 F. Dostojewskij: Der Idiot, S. 340. 270
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Abbildung 43: František schreit während des Albtraums laut »Nein! Nein!«
Quelle: Saša Gedeon: Návrat idiota, Tschechische Republik: Negativ, Česká televize 1999, Bontonfilm 2007. Das wesentlichste Begleitsymptom von Ungerechtigkeit, Beleidigung und Verkennung in Návrat idiota ist aber nicht der Schrei, der nur ein einziges Mal zu hören ist, sondern Františeks Nasenbluten. In nicht weniger als sechs Filmszenen kommt es zu dieser »nonverbalen Reaktion« auf negative Ereignisse in Františeks Umgebung. Allerdings tritt das Nasenbluten nicht automatisch als Reaktion auf Verkennung auf – so fehlt es beispielsweise in jener Szene, in der František von Emil geohrfeigt und beinah verprügelt wird –, sondern es kann auch Zeichen größten Mitleids oder Nervosität sein. So etwa als František unabsichtlich das Gespräch im Bistro »Riga« belauscht und bemerkt, wie sehr Emils Worte Olga verletzen. Nachdem sie das Bistro überstürzt und den Tränen nahe verlassen hat, beginnt Františeks Nase vor Mitleid zu bluten. Ähnlich verhält es sich auch in jener Szene während des Silvesterballs, in der Anna sich weigert mit Robert zu tanzen, solange Emil nicht mit Olga tanze. Diesmal regt František die angespannte, unterschwellig aggressive Stimmung am Tisch so sehr auf, dass ihm erneut das Blut aus der Nase tropft. Das Nasenbluten in Návrat idiota ist somit durchaus mit jener Anspannungspose Kamedas in Hakuchi vergleichbar, bei der der Held seine Hände an den Hals legt, denn auch diese tritt immer in Verbindung mit einer psychischen Ausnahmesituation auf. Direkt mit Františeks eigener Verkennung ist das Nasenbluten eigentlich nur in zwei Fällen verknüpft: Einmal nach jener ersten, bereits besprochenen Traumszene im Schlafwagenabteil und das zweite Mal als das Mädchen, das er nach der Tanzveranstaltung zur Rede stellen will, vor ihm davonläuft.
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In den übrigen beiden Fällen besteht ein indirekter Zusammenhang zwischen Františeks Nasenbluten und seiner eigenen Verkennung. Als Olga beim Kaffeetrinken von Emil beleidigt wird, indem er sie einfach ignoriert, beginnt sie – nachdem er und Anna die Wohnung verlassen haben – leise zu weinen. Nur František wird Zeuge ihrer Traurigkeit und wieder blutet seine Nase. Natürlich spielt in dieser Szene auch Františeks Mitleid mit Olga eine wesentliche Rolle, doch man darf nicht übersehen, dass er selbst nur wenige Minuten vorher vor allen Anwesenden von Emil aufs Schlimmste verkannt wurde. Als Olgas Mutter auf das Thema »erste Eindrücke« zu sprechen kommt, meint František, dass es für ihn nur solche gäbe, »weil bisher alles erst einmal passiert« sei. Olga fragt ihn daraufhin herausfordernd, ob er denn bisher auch nur eine Frau gehabt hätte. Peinlich berührt antwortet František, dass das stimme, und als Anna nachfragt, was er meine, platzt Emil laut heraus: »Na, dass er noch keine gehabt hat!« Den anwesenden Frauen ist dieser Ausruf sichtlich peinlich, und die Mutter der beiden Mädchen wechselt sofort das Thema. Mit diesem unbedachten Ausruf, hat Emil František zwar nicht in direkter Weise verkannt, da die Aussage selbst ja der Wahrheit entspricht, indirekt hat er ihn dadurch aber vor den Frauen als naiven, ahnungslosen Idioten hingestellt, was natürlich überhaupt nicht stimmt. Auf diese peinliche Verkennung folgt für František noch eine weitere, unangenehme Situation, da er, um Emils und Olgas Verhältnis nicht zu verraten, der Mutter auch noch vorspielen muss, dass er Olga zum ersten Mal sehe. Erst nach diesen drei psychischen Belastungen – der Verkennung durch Emil, der Verheimlichung des Seitensprungs und dem Mitleid für die beleidigte Olga – beginnt Františeks Nase zu bluten, und somit lässt sich behaupten, dass die Verkennung des Helden am neuerlichen Auftreten dieses körperlichen Anspannungsmerkmals eine wesentliche, wenn auch indirekte Mitschuld trägt. In einer ganz ähnlichen Situation befindet sich der Held nach dem Mittagessen bei Emils und Roberts Mutter. Nachdem Emils Worte Olga so sehr verletzen, dass sie fluchtartig die Wohnung verlässt, folgt ihr František und bittet sie zurückzukommen. Doch da sieht Olga Anna auf die Straße treten und beschließt, ihr die Wahrheit zu sagen. František fleht sie an, Anna nicht derart zu verletzen und als Olga nicht auf ihn hört, setzt wieder sein Nasenbluten ein. Auch in diesem Fall ist man geneigt, das Nasenbluten ausschließlich als Reaktion auf Olgas Absicht zu interpretieren, doch wiederum ging dem eine ganze Reihe von angespannten, konfliktgeladenen Situationen voraus, zu denen auch drei beleidigende Verkennungen Františeks zählen.
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Schon während des Mittagessens zeugen die nicht gerade feinfühligen Fragen, die Emils Mutter an František richtet, von ihrer Fehleinschätzung des Helden. Sie spricht mit ihm wie mit einem kleinen Kind, hält ihn offensichtlich für geistesschwach und fragt ihn ungeniert, ob er in der Nervenheilanstalt eine Zwangsjacke tragen musste und mit Strom voll gepumpt wurde. Auch Emil, der wegen Annas und Olgas Anwesenheit sehr angespannt ist, versucht die Situation durch Scherze auf Františeks Kosten zu entschärfen und stellt ihn als Idioten hin. František, der ja als einziger über die Geheimnisse aller Anwesenden Bescheid weiß, lässt sich diese Verkennungen stumm gefallen, weil sie von den in der Luft liegenden Heimlichkeiten ablenken. Für ihn stellt das Mittagessen eine enorme psychische Belastung dar – was seine angespannte Körperhaltung verrät –, und da er unbedingt verhindern will, dass Annas Seitensprung mit Robert und jener von Emil mit Olga enthüllt werden, nimmt er dafür die Verkennung seiner eigenen Person in Kauf. Die schlimmste Verkennung widerfährt ihm aber kurz nach dem Essen, als er der gekränkten Olga folgt und sie bittet zum Mittagstisch zurückzukehren. Olga lässt ihre Wut nun an František aus. Sie wirft ihm zornig vor, sich in alles einzumischen, alles und jeden zu entschuldigen, obwohl er von nichts wisse, und erst eine Frau gehabt habe. Sie bemerkt gar nicht, wie sehr sie ihn beleidigt und wirft ihm abschließend auch noch vor, dass es ihm ganz egal sei, wie man über ihn rede, und er sogar noch für seine Beleidiger eine Entschuldigung finden würde. Stumm und betroffen hört František alle ungerechten Vorwürfe an und erst als kurz darauf Anna auf die Straße tritt, und er Olga nicht von ihrer Beichte abhalten kann, blutet erneut seine Nase (Abb. 44). Auch in diesem Fall wird der Held somit nicht unmittelbar vor dem Nasenbluten verkannt, sondern erst indirekt und im Zusammenhang mit anderen psychischen Ausnahmesituationen zu dieser »nonverbalen Reaktion« getrieben. Kameratechnisch wird das Nasenbluten als wichtigste »nonverbale Reaktion auf unerträgliche Wirklichkeit« in Návrat idiota immer durch eine Großaufnahme von Františeks Gesicht hervorgehoben. In vier der sechs Fälle wird dieses Bild vom blutenden Helden außerdem von den hohen, beinah beklemmenden Anfangstakten jenes musikalischen Themas begleitet, das bereits ganz zu Beginn des Films während des Vorspanns das erste Mal ertönt. Allerdings bricht das Thema fast immer kurz vor dem Übergang zur beinah fröhlichen, eigentlichen Kennmelodie Františeks ab und macht einer alltäglichen Geräuschkulisse Platz, wie etwa dem Stimmengewirr im Bistro »Riga« oder dem Rattern eines vorbeifahrenden Zuges. Als Františeks Nasenbluten das erste Mal im Film vorkommt – kurz nach seinem ersten Albtraum in Schlafwagenabteil –, begleiten die hohen Anfangstakte der Kennmelodie zwar nicht das Na-
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senbluten selbst, sie durchziehen aber die gesamte vorhergehende, zweiminütige Traumsequenz, bei der František sich selbst während eines Elektroschocks beobachtet. Außerdem begleiten sie den zweiten Albtraum vom epileptischen Anfall in Annas Schlafzimmer und die Szene, in der František nach Emils Ohrfeige geschockt im Schnee liegt. Abbildung 44: Františeks Nasenbluten setzt ein als Olga androht, Anna die Wahrheit zu sagen
Quelle: Saša Gedeon: Návrat idiota, Tschechische Republik: Negativ, Česká televize 1999, Bontonfilm 2007. Man kann somit abschließend feststellen, dass Saša Gedeon das Moment der Verkennung mit Hilfe psycho-physischer Reaktionen wie Sprachnot, Schreie, Nasenbluten, epileptische Anfälle und Albträume in seinen Film transferiert. Visuell werden diese Reaktionen häufig durch lang eingeblendete Großaufnahmen vom Gesicht des Helden betont und akustisch durch die hohen, bedrohlich klingenden Anfangstakte der Kennmelodie. Diese beiden filmtechnischen Attribute werden somit zu unverzichtbaren Begleitern der Verkennungsmomente in Návrat idiota.
7.5.2 Filmisches Erzählen Wie schon im Falle von Hakuchi sei auch für Návrat idiota eine provokante These im Zusammenhang mit der von Gerigk im Idioten festgestellten Erzähltechnik und Erzählperspektive vorausgeschickt: Meiner Meinung nach ist es Saša Gedeon gelungen Dostoevskijs Technik des filmischen Erzählens in Návrat idiota zu adaptieren, ohne dabei dessen Perspektive des unzuverlässigen, filmischen Erzählers zu übernehmen.
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Um diese These nun argumentativ zu untermauern, sei zunächst an die Untersuchung des Handlungsaufbaus von Návrat idiota unter 2.3 erinnert. Diese hat bereits gezeigt, dass das gezielte Spiel mit unerklärten Bildern und Szenen zu den wesentlichen Gestaltungsmerkmalen von Návrat idiota zählt. Das von Gerigk für Dostoevskij festgestellte »intensiv wahrgenommene Bild«, das »gleichzeitig ein regelrecht quälendes Informationsdefizit«79 entstehen lässt, wird von Saša Gedeon nicht nur filmisch umgesetzt, sondern sogar zu einem der wichtigsten Handlungsträger in seinem Film erhoben. Denn Návrat idiota wäre ohne das unerklärte Bild genauso undenkbar wie ohne das Moment der Verkennung. Die handlungsstiftende Bedeutung des unerklärten Bildes belegt bereits eine genaue Untersuchung der ersten Filmszene, in der der Held eine junge Frau und einen jungen Mann beim Abschiednehmen am Bahnhof beobachtet. Zwangsläufig ruft diese Szene im Zuschauer eine ganze Reihe von Fragen hervor; wie: Wer ist der junge Mann im Zug? Wer sind die beiden am Bahnhof? Und wohin fahren die junge Frau und der Mann im Zug? Doch die Antworten auf diese Fragen bleibt Saša Gedeon seinem Publikum lange Zeit schuldig. So erfährt man erst nach 24 Filmminuten, dass der Held des Films František heißt, und erst nach über einer Stunde wird durch die Erklärungen von Emils Mutter beim Mittagessen, die sie mit dem Satz: »Plötzlich erfährt man, dass man einen Irren in der Familie hat.« einleitet, definitiv geklärt, dass Františeks Reise den Zweck hat, seine Verwandten zu besuchen. Annas Name wird erst nach gut 20 Filmminuten das erste Mal genannt als sich Olga und Emil im Bistro über sie unterhalten, doch zu diesem Zeitpunkt weiß der Zuseher noch nicht, dass diese Anna die Frau aus dem Zug ist. Die definitive Verbindung zwischen Namen und Person wird erst nach 47 Filmminuten hergestellt als die Mutter Anna wegen Františeks Anwesenheit in der Wohnung vorwurfsvoll zur Rede stellt und sie dabei das erste Mal direkt beim Namen nennt. Allerdings lässt sich bereits durch das Gespräch zwischen Anna und Emil an der Bushaltestelle erahnen, dass sie die Frau ist, von der im Bistro die Rede war, doch konkret bestätigt wird diese Vermutung erst viel später durch Annas Mutter. Auch dass Anna einen Monat lang verreist war und nun mit dem Zug in ihre Heimatstadt zurückgekehrt ist, erfährt man erst 33 Minuten nach der Abschiedsszene am Bahnhof aus Annas Gespräch mit Emil an der Bushaltestelle. Und schließlich erfährt der Zuseher erst nach 65 Filmminuten, dass der junge Mann, von dem sich Anna in der Anfangsszene
79 H.-J. Gerigk: »Literarische Ost-West-Passagen«, S. 55. 275
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verabschiedet hat, Emils Bruder ist. Dessen Name – Robert – fällt gar erst nach 75 Filmminuten als seine Mutter ihn und František auffordert ihre Weihnachtsgeschenke auszupacken. Die Fragen, die während der ersten Filmszene im Kopf des Zusehers entstehen, werden somit nur Schritt für Schritt und im Verlauf einer Filmdauer von über einer Stunde definitiv beantwortet. Schon diese kurze Darstellung der unerklärten Eröffnungsszene zeigt, dass Saša Gedeon geradezu als Meister des filmischen Erzählens im Sinne Gerigks bezeichnet werden kann. Er beeilt sich nicht im Mindesten damit, seinem verwirrten Zuschauer erklärend unter die Arme zu greifen und schiebt die Aufklärung aller von Beginn an offenen Fragen bewusst auf. Gedeon verzögert also gezielt die Entwirrung des Handlungsgeflechts und zwingt seinen Zuschauer dazu, sich »den Zusammenhang, das Ganze, von dem der dargebotene Ausschnitt ein Teil ist«80, selbst zu erschließen. Der Held František und der Zuschauer verfügen im Wesentlichen immer über denselben Informationsstand. Gemeinsam entdecken sie allmählich alle Details des geheimen Beziehungsgeflechts der anderen Personen. Und obwohl sie bis zu jener Szene, in der Olga Anna ihr Verhältnis mit Emil gesteht, immer mehr wissen als die anderen Protagonisten, darf nicht vergessen werden, dass sich das letzte Puzzlestück erst mit Roberts unerwartetem Auftauchen während des Mittagessens in das komplexe Beziehungsbild der beiden Geschwisterpaare einfügt. Erst dank dieser Szene, in der enthüllt wird, dass der junge Mann, von dem sich Anna zu Beginn des Films mit einem innigen Kuss verabschiedet hat, Emils Bruder ist, können František und der Zuseher ihr Wissen um die Beziehungen zwischen den anderen Protagonisten vervollständigen. Erst jetzt erfährt der innerfiktionale Held und das außerfiktionale Publikum, dass nicht nur Emil Anna mit ihrer Schwester Olga betrogen hat, sondern auch Anna Emil mit dessen Bruder Robert. Bis zu diesem Zeitpunkt vergehen – dies soll nochmals betont werden – über 65 Minuten der Filmhandlung. Doch wie bereits einleitend festgestellt wurde, kommt Saša Gedeon, trotz geradezu virtuoser Handhabe des filmischen Erzählens, gänzlich ohne die Erzählperspektive des unzuverlässigen, filmischen Erzählers aus. So werden in Návrat idiota weder Off-Stimmen, noch erklärende Textpassagen wie in Hakuchi verwendet, und der Regisseur verzichtet auch darauf, mit Hilfe einer subjektiven Kamera, einen »stummen« filmischen Erzähler zu erschaffen. Bei der subjektiven Kameraperspektive
80 H.-J. Gerigk: »Dostojewskijs Roman ›Der Idiot‹ als Phänomenologie der Verkennung«, S. 7. 276
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wird das Geschehen aus der Sicht eines Protagonisten gefilmt und der Zuschauer sieht praktisch mit den Augen dieser handelnden Person.81 Gerade Františeks ständige Anwesenheit in Návrat idiota müsste eigentlich zur häufigen Verwendung der subjektiven Kamera, die auch Point of View Shot genannt wird, anregen. Saša Gedeon filmt aber nur selten aus der Sicht seines Helden – so z.B. als dieser gemeinsam mit Olga aus dem Fenster seiner Unterkunft auf den Eislaufplatz blickt – und bevorzugt meist eine neutrale, objektive Kamera, die alle anwesenden Personen erfasst. Die Antworten auf die am Ende von 7.3 gestellten Fragen, lassen sich somit im Falle von Návrat idiota wie folgt zusammenfassen: Die Erzähltechnik des filmischen Erzählens nach Gerigk wird von Saša Gedeon gezielt zum handlungstragenden Element ausgebaut, ohne dass dabei die Erzählperspektive des unzuverlässigen, filmischen Erzählers übernommen wird. Dies geschieht, indem unerklärte Bilder und Szenen wie Rätsel im Raum stehen bleiben und erst allmählich im Verlauf des Films aufgelöst und erklärt werden. Durch diese verzögerte Aufklärung von vorerst unerklärten Bildern und Szenen, laufen zwar die anderen Protagonisten im Film Gefahr den Helden zu verkennen, nicht aber der Zuschauer, da er sich stets auf demselben Informationsstand wie František befindet und somit auch immer mehr weiß als die anderen handelnden Personen. Der Zuschauer wird also nicht wie bei Dostoevskij von einem unzuverlässigen Erzähler in die Irre geführt, sondern muss – im Grunde hilflos – beobachten, wie František von seiner schlecht informierten Umgebung verkannt wird.
7.6 Verkennung und filmisches Erzählen in T h e M i l li o n D o l l a r H o t e l Wenn Michael Töteberg in seiner Untersuchung des Amerikabildes bei Wim Wenders feststellt, dass »Drehorte für Wenders stets mehr als bloße Locations« waren und sich »seine Filmphantasie […] am Genius loci«82 entzündet, weist er bereits auf die besondere Entstehungsgeschichte des Films The Million Dollar Hotel hin, die im Jahr 1987 ihren Anfang nahm, als das einstmals prächtigste Hotel in Downtown Los Angeles der Band U2 auffiel. Das 1914 errichtete »Million Dollar Hotel« war einst das höchste Gebäude der Stadt. Es war der Mittelpunkt der boomenden 81 Zur subjektiven Kamera vgl. J. Monaco: Film und neue Medien, S. 157. 82 Michael Töteberg: »Back to the US of A. Das Bild Amerikas in den neuen Filmen von Wim Wenders«, in: Volker Behrens (Hg.), Man of Plenty – Wim Wenders, Marburg: Schüren 2005, S. 31. 277
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Stummfilmbranche und Charly Chaplins Büro befand sich ganz in der Nähe.83 Doch von der glorreichen Vergangenheit des Gebäudes, das heute »Frontier Hotel« heißt, erfährt man im Film selbst nichts mehr. Auf der Leinwand ist nur mehr das Ergebnis eines jahrzehntelangen Verfalls zu sehen, den Wim Wenders wie folgt beschreibt: »Das Gebäude war über die Jahre immer mehr heruntergekommen, wie die ganze Gegend rundum, und nun wohnten keine Präsidenten mehr in der Suite im obersten Stock. Das ehemals prachtvolle Hotel war zu einer Absteige für Penner und Alkoholiker geworden, für Drogenabhängige und Kleingangster, Alte, Vergessene und Verlorene.«84
Genau besehen wird in Wim Wenders’ Film also bereits der Schauplatz Opfer von Verkennung, denn wer die Geschichte des Hotels nicht kennt, hält allein den protzigen Namen des schäbigen Gebäudes für puren Sarkasmus. Der Titel des Films The Million Dollar Hotel wird somit zu einer ähnlichen »Formel der Verkennung«85 wie der von Dostoevskijs Roman Der Idiot. Verkennung schlägt aber auch den Protagonisten im Film, den Bewohnern des Hotels, auf Schritt und Tritt entgegen, und dies nicht etwa weil Exzentrik und Verschrobenheit ihre Charaktere prägen, sondern schlicht weil sie arm sind. Wim Wenders meint zu dieser neuen Kastenbildung: »In Amerika ist die Welt ja weniger in verrückt und nicht verrückt eingeteilt, sondern in erfolgreich und erfolglos, das sind die wirklichen Kasten. Verrückt ist akzeptiert, wenn man erfolgreich ist. Für die Verlierer gibt es kein Verständnis.«86 Aber wie schon in den drei vorher besprochenen Werken spielt auch in The Million Dollar Hotel die Verkennung der Hauptfigur die wesentlichste handlungstragende Rolle.
7.6.1 Verkennung Da es Wim Wenders bis kurz vor Ende des Films gelingt sowohl die anderen Protagonisten im Film als auch das Publikum felsenfest an Tom Toms Unschuld glauben zu lassen, ist The Million Dollar Hotel der einzige der drei untersuchten Filme, in dem inner- und außerfiktionale Ver83 Vgl. W. Wenders: A Sense of Place, S. 29. 84 Ebd. 85 H.-J. Gerigk: »Dostojewskijs Roman ›Der Idiot‹ als Phänomenologie der Verkennung«, S. 63. 86 Susan Vahabzadeh: »Eine volle Ladung Wirklichkeit«, in: Süddeutsche Zeitung vom 9.2.2000. Zitiert nach M. Töteberg: »Back to the US of A«, S. 33. 278
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kennung geradezu perfekt realisiert werden. Ja die außerfiktionale Verkennung geht sogar so weit, dass der Zuseher Tom Tom selbst dann nicht glauben will, als sich dieser an Izzys Ende erinnert und seine Mitschuld am Tod des Freundes eingestanden hat. Einige Sekunden lang wartet der Zuseher auf eine Erklärung, die das Geständnis des Helden wieder außer Kraft setzt. Um das während des gesamten Films gewachsene Bild von Tom Tom als durch und durch unschuldigen, positiven Helden zu bewahren, erhofft man sich beispielsweise, dass er in der nächsten Sekunde erwacht und Izzys Sterbeszene nur ein Albtraum gewesen sei. Doch diesen Gefallen tut Wenders seinem Zuschauer nicht, und so muss sich dieser mit dem Oxymoron »unschuldiger Mörder« abfinden. Abgesehen von Izzys Vater, der einfach einen Sündenbock für den Tod seines Sohnes braucht, will auch keiner der anderen Protagonisten im Film Tom Tom glauben als dieser die Wahrheit gesteht, weil niemand diese Wahrheit für möglich hält. Paradoxerweise hält man Tom Tom, der im Grunde niemals die Unwahrheit sagt, in diesem Fall lieber für einen Lügner als für einen Mörder. Jeder findet für sein Geständnis eine andere Erklärung, und so wird er von Anfang an von allen verkannt. Für Dixie, Vivien, Shorty und die anderen Hotelbewohner gesteht Tom Tom den Mord an Izzy nur, weil er ihnen dabei helfen möchte, Geronimo aus dem Gefängnis zu befreien und weil er zu dumm ist, um die Konsequenzen seines Geständnisses abzuschätzen. Eloise, die Tom Tom liebt, glaubt ebenfalls, dass er sich nur von den anderen überreden ließ. Und selbst Skinner, dem noch zu Anfang des Films alle Bewohner des Hotels suspekt erschienen, revidiert diese Meinung im Bezug auf Tom Tom recht bald. Schon als Eloise ihn am vierten Tag nach seiner Ankunft im »Million Dollar Hotel« fragt, ob er Tom Tom für Izzys Mörder halte, verneint er die Frage, und als sie wissen möchte, wen von den Hotelbewohnern er eher verdächtige, antwortet er knapp »everybody«. Als das Video von Tom Toms Geständnis auftaucht, verteidigt Skinner diesen wütend gegen alle Anschuldigungen und wirft Izzys Vater dessen eigene Schuld am Tod seines Sohnes vor. Die Tatsache, dass niemand – ja, nicht einmal der Zuseher – an die Schuld des Helden glauben kann, verblüfft zusätzlich, da Wenders Tom Tom den Mord an Izzy ganze vier Mal (mit den Szenen, in denen das Videoband Izzys Vater und Skinner gezeigt und schließlich im Fernsehen gesendet wird, sogar sechs Mal) gestehen lässt. Doch in keiner dieser Geständnisszenen glauben die anderen Protagonisten dem Helden, und auch dem Zuseher wird stets ein »Schlupfloch« offen gelassen, das eine Begründung für Tom Toms Äußerungen ermöglicht. Dadurch wird jede dieser Szenen zu einem Paradebeispiel für innerfiktionale und außerfiktionale Verkennung. Das erste Mal gesteht Tom Tom den Mord an Izzy
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als Skinner ihn zum Essen einlädt und dabei versucht ihn auszuhorchen. Als Tom Tom sich aber dumm stellt und Skinner nichts verraten will, bringt dieser plötzlich Eloise ins Spiel und droht, ihr den Mord in die Schuhe zu schieben. Tom Tom wird mit einem Schlag ernst und sagt »I did it«, aber Skinner glaubt (ebenso wie der Zuseher), dass er mit diesen Worten nur seine Freundin beschützen will und lacht ihn aus. Das zweite Mal gesteht Tom Tom den Mord an Izzy bereits vor laufender Kamera. Da die anderen Hotelbewohner schon im Vorfeld über die Möglichkeit diskutiert hatten der Polizei einen Ersatz für Geronimo zu liefern, nimmt der Zuseher automatisch an, dass es ihnen nun endlich gelungen ist, Tom Tom zu diesem Geständnis zu überreden. Tom Toms Beweggründe scheinen klar zu sein: Er fühlt sich schuldig an der Verhaftung Geronimos und will seinen Freunden helfen. Da Dixie die Kamera bedient und Vivien und Stix ebenfalls während des Geständnisses anwesend sind, bleibt eigentlich kein Zweifel daran, dass der naive, gutmütige Held nun endgültig zum Sündenbock gemacht werden soll. Das Videoband mit dem Geständnis taucht – wie schon erwähnt – noch zweimal als Film-im-Film-Szene auf. Das erste Mal zeigt die Reporterin Jean Swift Stanley Goldkiss und Skinner das Band. Letzterer weigert sich kategorisch an Tom Toms Schuld zu glauben und sagt: »This confession is a joke! Who ever cooked it up was probably the killer.« Hier nutzt Wim Wenders das Krimiklischee des klugen Cops, um seinen Zuseher gezielt in die Irre zu führen. Sowohl im Kriminalroman als auch im Kriminalfilm verkörpert der Polizist – egal wie ausgefallen seine Spurensuche auch aussehen mag – jene Instanz, die schlussendlich durch rationale Überlegungen die Wahrheit ans Licht bringt, weshalb der Zuseher auch immer auf das kriminalistische Gespür des Polizisten vertraut. Da auch der unorthodoxe, aber ausgekochte Skinner eine solche »logische Instanz« darstellt, schließt man sich nur allzu bereitwillig seiner Meinung an. Aber Wim Wenders beraubt den Zuseher dieser sicheren Instanz, indem er mit Skinner einen »Antibullen« erschafft, dem genau das passiert, was einem Filmpolizisten niemals passieren darf: er irrt sich. Präziser ausgedrückt: Skinner lässt sich fatalerweise von einem Täter täuschen, der ihm weit unterlegen scheint, und dies passiert ihm wiederum nur, weil er Tom Tom verkennt. Etwas später wird das Videoband im Fernsehen ausgestrahlt und das Geständnis ist neuerlich in einer Film-im-Film-Szene zu sehen und zu hören. Tom Tom sieht sich dabei sogar selbst zu, da er die Übertragung gemeinsam mit Marlene und Hector, zwei weiteren Bewohnern des Hotels, mitverfolgt. Gleichzeitig starrt auch Joe, der Portier des »Million Dollar Hotels«, mit ungläubig gerunzelter Stirn auf das Fernsehgerät in
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seiner Portierloge, und ihm ist, ebenso wie Marlene und Hector, anzumerken, dass er nicht eine Sekunde lang an Tom Toms Schuld glaubt. Auch Eloise gegenüber behauptet Tom Tom Izzy getötet zu haben, und das gleich zweimal. Das erste Mal sitzen beide gemeinsam in einem kleinen Fast-Food-Restaurant und sehen sich die Nachrichten an, in denen Tom Tom schon als der flüchtige Verdächtige bezeichnet wird. Eloise, die ja Dixie und die anderen auf die Idee gebracht hat, einen Sündenbock für Geronimo zu suchen, ist davon überzeugt, dass Tom Tom nur das Opfer gemeiner Intrigen ist und glaubt ihm kein Wort als er sein »I pushed him« erneut wiederholt. Sie versteckt sich mit ihm in einem der leer stehenden Hotelzimmer und überlegt sich einen unrealistischen Fluchtplan. Als Tom Tom dort ihr gegenüber zum zweiten Mal behauptet Izzy umgebracht zu haben, wird sie wütend und versucht ihm den Mund zuzuhalten. Doch Tom Tom gibt nicht auf und fragt sie schließlich: »You certainly remember what Izzy did to you?« Als Eloise ihm ein verzweifeltes »Who cares?« entgegnet, antwortet er »I care … for you« und erklärt ihr, dass er Izzy vom Dach fallen ließ, weil dieser sie vergewaltigt hat. Ob Eloise ihm glaubt, bleibt offen, da sofort nach dieser Szene ein Schnitt erfolgt und plötzlich Dixie und Shorty im Bild zu sehen sind. Doch der Zuseher, der durch Tom Toms letztes Geständnis vielleicht schon etwas in seinem Glauben erschüttert wurde, wird erst durch die bereits mehrfach erwähnte Szene am Hoteldach, in der Tom Tom sich an Izzys Tod erinnert, restlos von der Mitschuld des Helden überzeugt. Während aber die außerfiktionale Verkennung Tom Toms bis kurz vor Ende des Films aufrecht bleibt, wird die innerfiktionale – und dies ist bestimmt einer der großartigsten Kunstgriffe in The Million Dollar Hotel – niemals ganz aufgelöst. An Tom Toms Erinnerung auf dem Hoteldach hat nur der Zuseher teilgenommen; die anderen Figuren im Film werden nie erfahren, wie Izzy gestorben ist, und sie können deshalb auch Tom Toms Selbstmord niemals richtig verstehen. Als einzig mögliche Ausnahme wäre eventuell Eloise denkbar, da ihr in der letzten Geständnisszene immerhin die Wahrheit gedämmert sein könnte. Ob sie aber Tom Toms letztes Geständnis wirklich geglaubt hat, und ob dies nach seinem Selbstmord überhaupt noch wichtig für sie war, beantwortet der Film nicht mehr. In diesen vier respektive sechs Geständnisszenen tritt die Verkennung Tom Toms bestimmt am schärfsten in The Million Dollar Hotel zu Tage. Denn in jeder dieser Szenen wird der Held von seiner Umwelt und vom Zuseher als Unsinn schwatzender Idiot verkannt, obwohl er ganz simpel und direkt die Wahrheit sagt und seine Mitschuld an Izzys Tod mit klaren Worten gesteht. In The Million Dollar Hotel spielen aber auch nonverbale Äußerungen wie Schreie, Handzeichen und Tom Toms Grunz- und Quietschge-
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räusche, die Eloise einmal als seine »little Sounds« bezeichnet, eine gewichtige Rolle. Sie können zwar – abgesehen von der Schreiszene im Restaurant – nicht als nonverbale Reaktionen auf Verkennung im Sinne Gerigks bezeichnet werden, da sie aber wesentlich zum Klischee von Tom Tom als vermeintlich zurückgebliebenem Idioten und damit auch zu seiner Verkennung beitragen, erscheint es mir durchaus zulässig, sie als nonverbale Symptome für Verkennung zu bezeichnen. Für Tom Toms Grunz- und Quietschgeräusche gibt es eine Unmenge von Beispielen im Film. Mit ihnen ahmt der Held – wie dies im Übrigen auch kleine Kinder tun – die Geräusche seiner Umgebung nach. So grunzt er beispielsweise um Skinner nachzuahmen, als dieser während eines Telefongesprächs mit seiner Freundin ein ähnliches Geräusch produziert. Und als Eloise Tom Tom zum ersten Mal auf sein Zimmer begleitet, ahmt er das Bellen eines aufziehbaren Spielzeughundes nach, als sie ihn fragt, ob er vielleicht mit Tieren sprechen könne. Auch verwendet Tom Tom gerne unanständige Fingerzeichen, wie den gestreckten Mittelfinger oder die zu einem O geformten Daumen und Zeigefinger, um sein Gegenüber zu provozieren. Besonders gut gelingt ihm dies einmal bei Skinners Assistenten Best, der wütend zu schimpfen beginnt, als Tom Tom mit der rechten Hand das Drehen einer Kurbel imitiert und dabei langsam den Mittelfinger seiner linken Hand streckt (Abb. 45). Diese Zeichen und Geräusche unterstreichen meist Tom Toms Narrenfreiheit, tragen aber auch dazu bei, dass er von aller Welt für zurückgeblieben gehalten wird, und begünstigen somit seine Verkennung. Abbildung 45: Tom Tom zeigt Charles Best den Mittelfinger
Quelle: Wim Wenders: The Million Dollar Hotel, USA, Deutschland: Road Movies GmbH 2000, Concorde Home Entertainment GmbH 2001. Auch die drei Szenen, in denen Tom Tom laut zu schreien beginnt, tragen jeweils auf ganz spezifische Weise zu seiner Verkennung bei. Das erste Mal schreit Tom Tom laut auf als Skinner, nachdem er das Hotel 282
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unter Wasser gesetzt hat, Eloise, die nicht auf seine Rufe reagiert, aufhalten will und sie dabei unsanft an der Schulter anfasst. Dem Zuseher ist natürlich klar, dass Tom Tom nur schreit, um Eloise zu beschützen. Skinner jedoch weiß zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass Tom Tom Eloise liebt und hält die vermeintliche Rettungsaktion deshalb für den Ausbruch eines Verrückten. Ähnliche Gründe und Auswirkungen finden sich auch in der zweiten Szene, in der Tom Tom Schreie ausstößt. Als die Hotelbewohner beim ersten Treffen im Billardzimmer beschließen Geronimos Bilder als Izzys auszugeben, wird Vivien wütend, weil die anderen nicht glauben wollen, dass sie und Izzy verlobt waren. In diesem Moment betritt Eloise den Raum und gerät ins Visier der tobenden Vivien. Diese geht auf sie los und wirft ihr vor, Izzy verführt zu haben. Geronimo kann sie gerade noch davon abhalten, Eloise zu schlagen, und Tom Tom, der sich gleich neben Eloise gestellt hat, schreit Vivien bedrohlich an. Als Vivien daraufhin laut »He didn’t rape her! She wanted it!« ruft, stößt Tom Tom einen zweiten markerschütternden Schrei aus. In diesen letzten Schrei stimmt plötzlich auch Dixie ein, dem das laute Geschimpfe und Gekreische der anderen sichtlich auf die Nerven geht, und der auf diese Weise versucht, alle Anwesenden zum Schweigen zu bringen. Wieder ist dem Zuseher klar, dass Tom Toms Schrei eine Reaktion auf Viviens Angriff ist und er damit versucht Eloise zu verteidigen. Da die anderen Protagonisten im Film aber nicht wissen, dass Tom Tom Eloise liebt, missverstehen sie auch den Schrei und halten Tom Tom einfach für noch verrückter als bisher angenommen. Dies belegt auch Shortys unmittelbare Reaktion. Er springt auf und sagt: »Jesus Christ! You guys are all fucking nuts. Hey, I may be a drunk, but my brain is still functioning.« Die letzte der drei Schreiszenen wurde bereits im Zusammenhang mit Tom Toms erstem Geständnis im Restaurant erwähnt. Als Skinner droht, Eloise zu verhaften und laut lacht als Tom Tom den Mord an Izzy gesteht, springt ihm dieser mit einem lauten Schrei an die Kehle. Skinner, der zu diesem Zeitpunkt bereits weiß wie sehr Tom Tom Eloise liebt, hat ihn bewusst provoziert und wohl insgeheim auch schon mit dieser Reaktion gerechnet. Doch die anderen Gäste im Restaurant, die Tom Tom nicht kennen, verstehen nicht was vor sich geht. Nach dem Schrei laufen sie entsetzt vor den beiden am Boden raufenden Männern davon, und die Szene nimmt eine geradezu groteske Wendung als Skinner, der den wild um sich schlagenden Tom Tom festhält, plötzlich seine Polizeimarke zückt, diese den umstehenden Menschen entgegenhält und sie mit den Worten »FBI here! Enjoy your meals everybody!« zu beruhigen versucht.
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In dieser Schreiszene ist die Struktur der Verkennung komplexer gelagert als in den beiden vorherigen. Denn Tom Toms Gründe für den Schrei und den Angriff auf Skinner werden von allen Anwesenden gründlich missverstanden und verkannt. Die anderen Gäste im Lokal halten ihn einfach für einen tobenden Verrückten. Sein direktes Gegenüber Skinner, glaubt zwar zu wissen, dass Tom Tom auf diese Weise reagiert, weil er Eloise liebt und sie verteidigen will, doch davon, dass er ihm mit seinem »I did it« die Wahrheit sagt, hat der große Detektiv nicht die geringste Ahnung. Und somit ist Tom Toms Schrei in dieser Szene sowohl eine nonverbale Reaktion auf Verkennung als auch ein weiteres Symptom für dieselbige. Zusammenfassend lässt sich also feststellen, dass in Wenders’ Film Schreie, Geräusche und Handzeichen eher als nonverbale Symptome, denn als Reaktionen auf Verkennung dienen, und dass das Moment der Verkennung The Million Dollar Hotel noch konsequenter und stringenter durchzieht als Návrat idiota und Hakuchi, da innerfiktionale und außerfiktionale Verkennung bis zum Schluss unauflöslich mit der Handlung verknüpft bleiben.
7.6.2 Filmisches Erzählen und filmischer Erzähler »Bilder sind Türen. Wenn ich sie nicht öffnen kann, weil sie nämlich nur aufgemalt sind, dann fühle ich mich genasführt. […] Oft genug tun Bilder nur noch so, als ob sie erzählen wollten, als ob sie aufklären wollten, als ob sie zeigen wollten.« (Wim Wenders)87
Für Wim Wenders ist das Mitwirken des Zuschauers am Film eine essentielle, wenn nicht gar die wichtigste Aufgabe des Kinos. Wie der Leser eines Romans zwischen den Zeilen lesen kann und im Kopf seine eigene Geschichte entstehen lässt, muss auch dem Zuschauer eines Films die Möglichkeit geboten werden, seine eigenen Phantasien einzubringen und »zwischen den Bildern zu lesen«88. Wenders plädiert deshalb dafür, zwischen den Bildern mehr Luft zu lassen, um dem Zuseher mehr Platz für seine Phantasien einzuräumen. Doch leider muss er feststellen, dass die heutige Filmindustrie die gegenläufige Tendenz verfolgt:
87 W. Wenders: A Sense of Place, S. 90f. 88 Ebd., S. 90. 284
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»Filme haben heute die Tendenz, alle Zwischenräume mit sich selbst ausfüllen zu wollen. Sie sind allein schon so schnell geschnitten, dass da kein Lüftchen mehr dazwischenpasst, kaum noch ein Spiel-Raum für den Zuschauer bleibt. Niemand kann sich in diese schmalen Zwischenräume noch hineinträumen. Die Großzügigkeit des Sich-Weiter-Erzählen-Lassens durch den Betrachter fehlt dem heutigen Bilder-Erzählen immer mehr. Dem Zuschauenden entgeht die Chance, mitzuwirken.«89
Allerdings ist es in Wenders’ Augen auch problematisch, dem Zuschauer gar keine Geschichte mehr vorzugeben und ihn quasi aus einer Reihe von Bildern seinen eigenen Film zusammenbasteln zu lassen. Diese Form des Filmemachens ortet er etwa bei David Lynch: »Der erste, der Filme gemacht hat, bei denen man sich den Film, den man sehen wollte, im Kopf zusammenstellen konnte, war David Lynch. Mulholland Drive habe ich deswegen überhaupt nicht gemocht. Das schien mir so beliebig, sich herauszuhalten und jeden einen anderen Film sehen zu lassen.«90 Doch angesichts seiner eigenen »Bilderfilme«, die, wie das Filmgedicht Der Himmel über Berlin, zwar voller Geschichten stecken, aber »doch ohne eine solche gedreht«91 wurden, verwundert es nicht, dass Wenders gleich darauf versöhnend einlenkt und meint: »Aber dieses Talent, den Leuten in ein und demselben Film verschiedene Filme anzubieten, hat mir im Nachhinein doch imponiert.«92 Um nun dem Zuschauer im konkreten Fall von The Million Dollar Hotel dieses aktive Mitgestalten und Mitwirken am Film zu ermöglichen, konfrontiert Wenders ihn bereits in den Anfangsszenen mit einer Reihe von unerklärten Bildern, deren kausalen Zusammenhang man sich erst allmählich, im Verlauf des Films selbst erschließen muss. Tatsächlich wird das filmische Erzählen im Sinne Gerigks in The Million Dollar Hotel am perfektesten von allen drei untersuchten Filmen umgesetzt, denn die unerklärte Anfangsszene, in der Tom Tom mit einem Lächeln auf den Lippen und ausgebreiteten Armen vom Dach des Hotels springt, wird erst ganz am Ende des Films durch Tom Toms Erinnerung an Izzys Tod restlos aufgeklärt. Diese Szene, die die beiden Freunde auf dem Dach des Hotels zeigt, und in der Izzy Tom Tom die Vergewaltigung von Eloise
89 Ebd. 90 Ebd., S. 291. 91 Zur Entstehungsgeschichte von Der Himmel über Berlin vgl. W. Wenders: A Sense of Place, S. 12-15. Die Dreharbeiten begannen tatsächlich ohne Drehbuch und basierten stattdessen auf Bildern von Orten in Berlin, die Wim Wenders an eine Pinnwand geheftet hatte und die in seinem Film vorkommen sollten. 92 W. Wenders: A Sense of Place, S. 291. 285
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beschreibt, beginnt erst nach 106 Filmminuten und endet zwei Minuten später damit, dass Tom Tom Izzys Jacke los, und ihn vom Dach fallen lässt. Von der gesamten Filmdauer verbleiben nur mehr knapp drei Minuten bis nach 111 Filmminuten der Abspann eingeblendet wird. Die unerklärte Anfangsszene des Films ist quasi auch eine seiner Endszenen, denn nach Tom Toms Erinnerung an Izzys Tod wiederholt sich sein eigener Sprung vom Anfang des Films. Jetzt versteht jedoch der Zuseher, warum Tom Tom sich vom Hoteldach stürzt, denn die gesamten 104 Filmminuten, die zwischen der ersten Sprungszene und der zweiten vergehen, beschäftigen sich damit, jene Ereignisse zu erklären, die zu Tom Toms Selbstmord führten. Die Klärung der unerklärten Anfangsszene beansprucht somit im Wesentlichen die gesamte Filmhandlung, und das ist filmisches Erzählen im Sinne Gerigks in Reinkultur. Diese perfekte Umsetzung der Erzähltechnik des filmischen Erzählens gelingt Wenders durch eine ganz spezifische Gestaltung der erzählten Zeit: Nach der ersten, unerklärten Szene von The Million Dollar Hotel beginnt ein Rückblick, der die ganzen Ereignisse der dem Sprung vorausgegangenen Tage chronologisch wiedergibt, und der bis zur Wiederholung der Sprungszene am Ende des Films andauert. Zu dieser besonderen Zeitgestaltung meint Wim Wenders: »The Million Dollar Hotel […] hat seinen ganz eigenen Zeitbezug. Der Film wird aus einer ganz bestimmten Perspektive erzählt: Aus dem Sekundenbruchteil, bevor man stirbt, und vielleicht auch noch kurz danach. Diese »unmögliche« Erzählperspektive hat uns so viele Freiheiten im Umgang mit der Zeit geschaffen wie nie zuvor. Manchmal verlangsamt der Film bis in die Zeitlupe, an anderen Stellen geht er sprungweise vorwärts.«93
Was hier von Wim Wenders als »unmögliche« Erzählperspektive bezeichnet wird, ist jene seines filmischen Erzählers, des sterbenden oder bereits toten Tom Toms, der, nachdem er vom Dach des Hotels gesprungen ist, als Off-Stimme zurückkehrt und damit beginnt, seine Geschichte zu erzählen. Seine flüsternde Stimme setzt ein, während noch das großartige, in Froschperspektive zwischen den steilen Häuserfronten nach oben gefilmte Bild von seinem Sprung zu sehen ist (Abb. 46), und er spricht weiter während langsam auf die Fassade des Hotels übergeblendet wird.
93 Ebd., S. 47. 286
FILMISCHES ERZÄHLEN UND VERKENNUNG (GERIGK)
Abbildung 46: Tom Tom springt mit ausgebreiteten Armen vom Dach des Hotels
Quelle: Wim Wenders: The Million Dollar Hotel, USA, Deutschland: Road Movies GmbH 2000, Concorde Home Entertainment GmbH 2001. Während seines Falls entlang der Häuserfront schaut Tom Tom in die Fenster des Gebäudes, und zum letzten Mal gleitet das Leben im »Million Dollar Hotel« an ihm vorbei. Der Zuschauer sieht gleichsam mit Tom Toms Augen durch eine subjektive Kamera die unterschiedlichsten Menschen in den Hotelzimmern. Doch für einen tatsächlichen Sturz ist Tom Toms Fallgeschwindigkeit viel zu langsam, was gemeinsam mit dem allmählichen Übergang von Morgendämmerung zu Tageslicht und Tom Toms ruhiger, den Fall begleitender Stimme eine verfremdende Wirkung auf den Betrachter ausübt. Während des senkrechten Hinuntergleitens entlang der Hotelfassade glaubt der Zuschauer deshalb auch eher in einem offenen Lift langsam Richtung Erdgeschoß zu fahren, als im Körper eines Selbstmörders den rasanten Sturz von einem Hochhaus mitzuerleben. Die Worte, mit denen Tom Tom diese Szenen begleitet, sind gleichzeitig die ersten, die im Film gesprochen werden: »Wow, after I jumped it occurred to me: life is perfect. Life is the best. It’s full of magic and beauty, opportunity and television and surprises, lots of surprises, yeah. And than there is that stuff, that everybody longs for, but they only really feel, when it’s gone. All that just kind of hit me. I guess you don’t see it all that clearly, when you’re – you know – alive.«
Erst kurz vor dem Aufprall am Boden erhöht sich Tom Toms Fallgeschwindigkeit, sodass man für einen Moment den Eindruck gewinnt, der Asphalt ziehe den Fallenden wie ein Magnet an. Doch anstatt eines Aufpralls und des Zerschmetterns des Körpers am Boden erfolgt plötzlich, nachdem das Straßenpflaster schon bedenklich nahe gerückt ist, ein Schnitt, und man sieht die nackten Füße einer Frau, die gerade einem ne287
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ben ihr zu Boden fallenden, mit Eiswürfeln gefüllten Plastikbecher ausweichen, während sie einen viel bevölkerten Bürgersteig entlang gehen. Kurz darauf teilt Tom Toms Off-Stimme dem Zuseher mit, dass sein Leben eigentlich erst vor ungefähr zwei Wochen94 begonnen hat, als er seinen besten Freund Izzy verloren und Eloise, die Liebe seines Lebens, gefunden hat. Die nackten Füße der jungen Frau gehen während Tom Tom spricht an einer Gruppe am Boden sitzender Kinder vorbei, die gerade mit Murmeln spielt. Unter diesen Kindern sitzt der noch ganz lebendige Held des Films, der in der vorherigen Szene vom Dach gesprungen ist, und es wird klar, dass nun endgültig die Rückblende begonnen hat. Da sich die Kamera immer noch auf der Höhe der vorbeigehenden Beine befindet, zeigt sie nun das Gesicht des am Bürgersteig sitzenden Tom Toms in Großaufnahme wie er ganz verzaubert der vorbeigehenden, barfüßigen Frau nachblickt. Die Off-Stimme begleitet diese Szene mit den Worten: »Oh, Eloise … she was something to live for, and I guess that means something to die for.« Schon diese ersten Szenen von The Million Dollar Hotel mit den ersten Worten des filmischen Erzählers zeigen, wie ambivalent Wim Wenders die Figur seines Helden angelegt hat, denn Tom Tom ist nicht nur ein unschuldiger Mörder, sondern auch ein weiser Idiot. Wenn er im Bild erscheint, wirkt er wie ein großes Kind: er spielt mit Murmeln, fährt mit seinem Skateboard herum, trägt eine lustige Igelfrisur und seine Gesten und Bewegungen sind mit denen eines Zehnjährigen vergleichbar. Doch im Gegensatz zu seiner äußeren Erscheinung ergeben die schlichten, einfachen Sätze seiner Off-Stimme meist einen überraschend hintergründigen, tief greifenden und berührenden Sinn und lassen den Sprecher nicht im Geringsten wie einen Idioten wirken. Dieser Widerspruch zwischen Tom Toms kindlichem Äußeren und seinen oftmals erstaunlich klugen Worten stellt den Zuseher vor dieselbe Frage, die sich laut Horst-Jürgen Gerigk der Leser Dostoevskijs im Falle Myškins stellen muss: nämlich die, ob Tom Tom »ein Filou ist und seine 94 Wim Wenders selbst spricht im Audiokommentar zu The Million Dollar Hotel von den Ereignissen einer Woche, während Tom Tom im Film von zwei Wochen spricht, die zwischen Izzys Tod und seinem eigenen vergangen sind. Da Eloise ihn aber, wie der Kalender in Tom Toms Zimmer beweist, am 20. März zum ersten Mal besucht und Tom Tom in seinem Geständnis, zu dem ihn Dixie und die anderen Hotelbewohner überreden, als Datum den 23. März 2001 angibt, braucht man nur den Wechsel zwischen Tag und Nacht zu zählen, um sich auszurechnen, dass die Rückblende am Morgen des 16. März beginnt und Tom Toms Todestag der 25. März 2001 ist. Somit umfasst die erzählte Zeit eine Spanne von 9 Tagen. 288
FILMISCHES ERZÄHLEN UND VERKENNUNG (GERIGK)
Naivität nur spielt«95. Es liegt nahe sich die Widersprüchlichkeit zwischen Off-Stimme und real auftretender Figur, dadurch zu erklären, dass Tom Toms Off-Stimme immerhin aus dem Jenseits zurückkommt, er also nach seinem Tod zu einem allwissenden Engel geworden sein könnte und nichts mehr mit dem kindlichen Helden auf der Leinwand zu tun hat. Doch für eine solche Interpretation bleiben Tom Toms Weisheiten zu vage und zu zufällig. Nie lässt sich genau sagen, ob die Off-Stimme sich über die Doppeldeutigkeit ihrer Aussagen im Klaren ist oder nicht. Deshalb ist es den Zuschauern in der Tat nicht möglich Tom Toms Geisteszustand richtig einzuschätzen. Der Widerspruch zwischen seinem kindlichen Auftreten und seinen vermeintlich weisen Worten, sowie die Doppeldeutigkeit, die viele seiner Aussagen prägt, lassen den filmischen Erzähler Tom Tom – ebenso wie Dostoevskijs Erzähler im Idioten – zu einem Unsicherheitsfaktor werden, dessen wahren Hintergrund nicht einmal Eloise, die ihm immerhin am nahsten von allen Figuren steht, voll zu durchschauen vermag. Als sie Tom Tom das erste Mal auf sein Zimmer begleitet, fragt sie ihn deshalb auch recht skeptisch »Are you really retarded?« und Tom Tom antwortet ihr nach längerem Schweigen mit einem rätselhaften »OK«. Als er sich etwas später in dieser Szene weigert, eine lustige Grimasse für sie zu schneiden, meint sie »If you not gonna play the retarded, I’m not gonna play the whore« und deutet damit an, dass sie nicht wirklich von seiner geistigen Zurückgebliebenheit überzeugt ist. Auf ein wunderbares Beispiel für die doppeldeutigen Äußerungen von Tom Toms Off-Stimme, stößt man bereits ziemlich am Beginn des Films. Bevor Skinner das erste Mal mit Dixie zusammentrifft, erklärt die Off-Stimme: »I just wondered if Skinner could really be crazier than Dixie. Dixie was in a music band called … The Beatles … Only they didn’t know.« In diesem Beispiel liegt die Doppeldeutigkeit zwischen dem was Tom Tom sagt und dem wie er es sagt. Ehe er den Namen der Band nennt, legt er eine kurze Pause ein und betont das Wort Beatles wie eine Frage, so als ob er sich nicht sicher sei, den richtigen Namen genannt zu haben. Diese sprachlichen Unsicherheiten lassen den Zuseher glauben, dass Tom Tom im Grunde keine Ahnung hat, wer die Beatles sind. Doch den Zusatz »only they didn’t know« spricht er derart trocken und lakonisch aus, dass wiederum der Eindruck entsteht, Tom Tom wisse sehr wohl über Dixies Wahnvorstellung Bescheid und mache sich mit seiner vorherigen – vielleicht nur gespielten – Unwissenheit bloß über den vermeintlichen fünften Beatle lustig.
95 H.-J. Gerigk: »Dostojewskijs Roman ›Der Idiot‹ als Phänomenologie der Verkennung«, S. 63. 289
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Wie der Zuseher durch die Diskrepanz zwischen Tom Toms äußerem Auftreten und den Worten seiner Off-Stimme bis zum Schluss des Films verunsichert wird, soll anhand der folgenden beiden Beispiele kurz demonstriert werden. Als die Fernsehaufzeichnung stattfindet, bei der die anderen Hotelbewohner Izzy als den Maler von Geronimos Bildern ausgeben, kommentiert Tom Toms Off-Stimme den geplanten Betrug mit folgenden Worten: »Now Izzy always hated even the smell of Geronimos tar-paintings, but he loved the little ironies in life. So I’m sure he would be happy to know, that his death was bringing us all together. And all brought to you by channel 6, his father’s enemy-station.« Hier erweist sich Tom Tom schon beinah als schlauer Kopf; nicht nur weil er den Begriff Ironie kennt, sondern auch weil er ihn auf die gegenwärtige Situation anzuwenden weiß. Doch gerade in dieser Szene wirkt Tom Toms Äußeres und sein Verhalten so kindlich naiv, dass die Diskrepanz zwischen Bild und Wort den Betrachter ganz besonders irritiert. Während seine Off-Stimme spricht, sitzt der Held selbst im Schneidersitz auf der Empore der Hotellobby und beobachtet durch ein knallrotes Kinderfernglas, das er affektiert wie einen Operngucker schwenkt, das Treiben der Fernsehkameras. Die anderen Hotelbewohner haben ihm befohlen, sich aus allem raus zuhalten und Tom Tom hält sich daran. Ein anderes Beispiel für die Ambivalenz zwischen dem filmischen Erzähler und seiner real im Bild auftretenden Figur findet sich einige Szenen später als Skinner Tom Tom anbietet, Eloise auf sein Zimmer zu schicken, wenn er ihm im Gegenzug dafür Izzys Mörder nennt. Einige Sekunden vorher sieht man Tom Tom in seiner skurrilen Militärjacke, auf seinem Skateboard eine Straße entlang fahren, während seine OffStimme Skinners »Bestechungsversuch« mit den folgenden Worten vorbereitet: »Talk about dumb, sure my name will come up. Like ›Thirsty? Think of Coke‹. Izzy always said: ›It’s good to specialize, so they’ll think of you first‹.« Wieder begegnet man in den Sätzen der Off-Stimme einer undurchschaubaren, hintergründigen Doppeldeutigkeit und hat gleichzeitig ein zu groß geratenes, naives Kind vor Augen. Nach dem Gespräch mit Skinner steigt Tom Tom wieder auf sein Skateboard und seine Off-Stimme teilt dem Zuseher mit: »It was fun making a deal with the big boys, knowing the whole time that it was pretty risky. But I played dumb. I suppose Skinner was playing dumb too, but he was out of his league.« In der deutschen Synchronversion wird der letzte Satz wie folgt übersetzt: »Skinner hat sich auch doof gestellt, aber auf dem Feld war ich einfach ‘ne Klasse für mich.« Sowohl in der Originalversion als auch in der deutschen Übersetzung schwingt in diesem Satz ein gewisser kindlicher Stolz mit, der offen lässt, ob Tom Tom in seinem tiefsten Inneren nicht
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doch davon überzeugt ist, dumm zu sein, obwohl er vorgibt sich nur dumm zu stellen. Erneut trifft man also auf eine Kombination aus irritierender Doppeldeutigkeit, naiver Weisheit und kindlichem Äußeren, die Tom Tom zu einem perfekten unzuverlässigen Erzähler im Sinne Gerigks werden lässt. Über all diesen Analogien darf man aber nicht auf die Unterschiede zwischen der Off-Stimme in The Million Dollar Hotel und dem filmischen Erzähler im Idioten vergessen. Denn im Gegensatz zu Dostoevskijs Erzähler, dessen unsicherer Status ja auf der Verbreitung von Gerüchten, Halbwahrheiten und offensichtlichen Unwahrheiten basiert, lässt Tom Toms Off-Stimme sich niemals bei einer Unstimmigkeit erwischen. Der Zuseher wird vielmehr durch die schlichte Wahrheit in seinen Worten verunsichert, die ihn ständig fragen lässt, ob der Erzähler einfach nur gerissen ist oder rein zufällig und unbeabsichtigt auf erstaunliche Grundwahrheiten stößt. Außerdem tritt Dostoevskijs Erzähler nicht als handelnde Figur im Roman auf, während Tom Tom sowohl als Off-Stimme zu hören als auch als Hauptfigur zu sehen ist, und gerade aus diesem Grund eine ambivalente Spaltung zwischen narrativem Erzähler und visualisiertem Helden erfährt, die es im Idioten nicht gibt. Trotz dieser augenscheinlichen, auch medial bedingten Unterschiede wird durch die beiden Erzähler in Roman und Film aber ein frappierend ähnlicher Effekt erzielt. Die Rezipienten beider Werke verlieren ihr Vertrauen in die Unfehlbarkeit der Erzähler, die sich ständig als Unsicherheitsfaktoren herausstellen und dadurch den außerfiktionalen Verstehensprozess permanent erschüttern. Und dieser Effekt entspricht wiederum perfekt Horst-Jürgen Gerigks Auffassung vom unzuverlässigen, filmischen Erzähler. Abschließend kann somit behauptet werden, dass sich die von Horst-Jürgen Gerigk für Dostoevskijs Idiot festgestellte Erzählperspektive des unzuverlässigen filmischen Erzählers und die Erzähltechnik des filmischen Erzählens in Wim Wenders’ Film viel deutlicher widerspiegeln, als in den beiden Adaptationen Hakuchi und Návrat idiota, und dass es Wim Wenders ebenso wie Dostoevskij gelingt, seinen Zuschauer zu außerfiktionaler Verkennung zu verführen.
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8. S C H L U S S W O R T Im intermedialen Vergleich von Dostoevskijs Roman Der Idiot (1868) mit drei Filmen aus drei unterschiedlichen, kulturellen Kontexten und historischen Perioden – mit Akira Kurosawas Hakuchi (1951), Saša Gedeons Návrat idiota (1999) und Wim Wenders’ The Million Dollar Hotel (2000) – wurden in dieser Arbeit verschiedene Formen von Transformationsprozessen und transmedialen Analogien zwischen Literatur und Film untersucht. Während es sich aber bei den ersten beiden Filmen um Adaptationen des Dostoevskij-Romans, also eines gemeinsamen Hypotexts, handelt, greift Wenders’ Film nicht direkt auf den Idioten zurück. Thematische und strukturelle Parallelen mit Dostoevskijs Werk legitimieren jedoch einen transmedialen Vergleich, was die hier vorgelegte narratologische Untersuchung unter anderem belegen soll. Eines der wichtigsten Vorhaben dieser Arbeit war es somit narrative, transmediale Analogien zwischen Dostoevskijs Roman Der Idiot und Wim Wenders’ Film The Million Dollar Hotel nachzuweisen. Aber auch in den beiden Literaturverfilmungen – im nach Michaela Mundt dem Transformationstypus der »konzeptionellen Interpretation« zuzuordnenden Film Hakuchi und in der dem Typus der »Eigenständigkeit« entsprechenden Adaptation Návrat idiota – sollten narrative Bausteine ermittelt werden, auf denen auch der Dostoevskij-Roman basiert. Natürlich orientierten sich in diesen Fällen die beiden Regisseure Akira Kurosawa und Saša Gedeon bewusst an der literarischen Vorlage, doch es erstaunt trotzdem, dass die Parallelen, die zwischen den Verfilmungen und dem Roman auftauchen, eher auf die Aneignung ähnlicher narrativer Strukturen zurückzuführen sind, denn auf der simplen Übernahme der Dostoevskijschen »Story«. Dies setzt voraus, dass sich die beiden Regisseure, anders als etwa Alfred Hitchcock, der ja bei Adaptationen einfach »die Grundidee« übernahm, das Buch vergaß und Kino machte,1 intensiv mit dem Roman auseinandersetzten, ohne sich dabei jedoch »sklavisch« an der Stoffvorlage zu orientieren. Und schließlich ist es wohl auch diesem eigenständigen, kreativen Prozess zu verdanken, dass die beiden dabei zwei selbständige, innovative Kunstwerke erschufen.
1
Vgl. F. Truffaut: Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht, S. 60. 293
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Als methodische Kriterien wurden dem intermedialen Vergleich zwischen dem Roman und den drei Filmen die narrativen Ebenen von Roland Barthes zugrunde gelegt, die dieser 1966 in Anlehnung an Vladimir Propp, Algirdas J. Greimas und Tzvetan Todorov in seiner Studie Introduction à l’analyse structurale des récits entwickelte. Als zweite Basis dienten die theoretischen Ansätze von René Girard zum mimetischen, triangulären Begehren, von Michail Bachtin zur Funktion des karnevalistischen Skandals und von Horst-Jürgen Gerigk zur Phänomenologie der Verkennung und zum filmischen Erzählen. Rekapitulierend werden nun nochmals die Thesen dieser drei Theoretiker den narrativen Ebenen Roland Barthes’ zugeordnet und damit die Ergebnisse des intermedialen Vergleichs zusammengefasst und gegliedert. Dabei ist die im siebten Kapitel untersuchte Phänomenologie der Verkennung nach Gerigk der Barthes’schen Ebene der Funktionen zuzuordnen, denn sie entspricht der kleineren der beiden Beziehungsgruppen, die Barthes als Mikrosequenz bezeichnet. Barthes versteht unter einer Mikrosequenz eine »logische Folge von Kernen, die miteinander durch eine Relation der Solidarität verknüpft sind«2. Das Phänomen der Verkennung durchzieht nun alle vier untersuchten Kunstwerke wie ein roter Faden. Für Dostoevskijs Roman stellt Gerigk fest, dass der Held auf die Verkennungen seiner Umwelt nonverbal reagiert: entweder verschlägt es Myškin buchstäblich die Sprache oder er erleidet einen epileptischen Anfall. In Hakuchi drängt sich das Moment der Verkennung noch offensichtlicher in den Vordergrund. Da die Nebenhandlungsstränge aus dem zweiten und dritten Teil des Romans nicht in den Film transferiert wurden, konzentriert sich die Handlung ganz auf Kamedas Schicksal. Die Spirale der Verkennung dreht sich in Hakuchi schon ab den ersten gesprochenen Worten, mit denen Kameda die beinah stattgefundene Hinrichtung schildert, die seine Krankheit ausgelöst hat. Auch treten in Kurosawas Film die nonverbalen Reaktionen auf Verkennung, zu denen, neben Sprachnot und Epilepsie, noch heftiges Zittern und Kamedas typische Pose, bei der er die Hände an den Hals legt, zählen, noch stärker zu Tage als in Dostoevskijs Roman. Bei Saša Gedeons Held František tritt schließlich noch eine zusätzliche Reaktion auf Verkennung auf: zur Sprachnot und den Schreien gesellt sich bei ihm das Nasenbluten. Außerdem ist festzuhalten, dass man im Falle von Návrat idiota dem Moment der Verkennung bereits lange vor den ersten, gesprochenen Worten auf einer nonverbalen Ebene begegnet, als František im Zug von Anna verkannt wird. In The
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R. Barthes: »Einführung in die strukturale Analyse von Erzählungen«, S. 118. 294
SCHLUSSWORT
Million Dollar Hotel wird der Held Tom Tom schließlich nicht nur innerfiktional von allen anderen Protagonisten verkannt, sondern, ähnlich wie Myškin bei Dostoevskij, auch außerfiktional vom Zuschauer. Die im sechsten Kapitel untersuchten karnevalistischen Skandalszenen nach Michail Bachtin lassen sich ebenfalls auf der Barthes’schen Ebene der Funktionen verankern. Allerdings entsprechen sie der größeren der beiden Relationsgruppen, die Barthes als Episode oder Makrosequenz bezeichnet. Diese umfasst nicht nur eine zusammengehörende Gruppe von Kernen, sondern mehrere räumlich, zeitlich und kausal verknüpfte Mikrosequenzen. Als die größte Relationseinheit auf der Funktionsebene stößt die Makrosequenz schließlich an die Grenzen der nächst höheren Ebene der Handlungen, wenn es durch Ortswechsel oder Zeitsprünge zum »Phänomen des radikalen Bruchs«3 kommt. Die spezifische Bedeutung der karnevalistischen Skandalszenen konnte in allen vier untersuchten Werken nachgewiesen werden. Sowohl in Dostoevskijs Roman als auch in den drei Filmen beeinflussen diese Szenen den Handlungsverlauf wesentlich und fördern neue, oftmals ungeahnte Charakterfacetten der Protagonisten zu Tage, weshalb sie in dieser Studie auch als neuralgische Makrosequenzen bezeichnet wurden. In Dostoevskijs Roman trifft man auf sieben karnevalistische Skandalszenen, von denen Akira Kurosawa nur zwei in seinen Film übernommen hat: den Besuch Nastas’ja Filippovnas bei den Ivolgins und die im ersten Teil des Romans stattfindende Geburtstagsfeier. Allerdings fällt auf, dass Kurosawa durch die Änderungen in der Anfangsszene und die Darstellung des Yuki-Matsuri-Festes auf Hokkaido zwei neue Szenen kreierte, die eher als die direkt aus dem Roman transferierten einer karnevalistischen Skandalszenen gemäß Bachtin entsprechen. Generell neigt Kurosawa aber dazu, jenes Lachelement aus den Skandalszenen zu eliminieren, welches in Dostoevskijs Roman eine äußerst wichtige Rolle spielt. Dadurch verlieren diese Szenen in Hakuchi ein wesentliches karnevalistisches Kriterium und werden von einer Unheil verkündenden, düsteren Grundstimmung dominiert. In Saša Gedeons Film tritt hingegen das von Bachtin als reduziertes Lachen bezeichnete Karnevalsmerkmal auffällig in den Vordergrund. Und obwohl es in Návrat idiota viel weniger karnevalistische Skandalszenen als in Dostoevskijs Roman gibt – im Grunde lassen sich nur der Tanzschulbesuch und das Silvesterfest uneingeschränkt als solche bezeichnen –, durchzieht den Film dank des reduzierten Lachens eine subtil-komische Grundstimmung. In The Million Dollar Hotel spielt die karnevalistische Skandalszene schließlich eine ähnlich prägende Rolle wie
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Ebd., S. 121. 295
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in Dostoevskijs Roman, denn es gibt in Wim Wenders’ Film insgesamt acht Makrosequenzen, die man als karnevalistische Skandalszenen bezeichnen kann. Außerdem lassen sich in The Million Dollar Hotel noch andere karnevalistische Merkmale, wie die zentrale Bedeutung des Lachens oder die Darstellung eines derben Naturalismus auf öffentlichen Plätzen, feststellen, die Bachtin auch in den Werken Dostoevskijs ortete. Die im fünften Kapitel durchgeführte Analyse des triangulären Begehrens gemäß René Girard lässt sich nach Barthes der mittleren narrativen Ebene, jener der Handlungen, zuordnen. Im Grunde geht es Barthes bei dieser Ebene um die Darstellung der Figurenkonstellation in einem narrativen Werk, er spricht jedoch von der Ebene der Handlungen, da er versucht »den Protagonisten durch seine Partizipation an einer Sphäre von Handlungen zu definieren«4. Die Dreiecksstruktur des mimetischen Begehrens konnte nun ebenfalls in allen vier untersuchten Werken nachgewiesen werden, und dabei wurde für Dostoevskijs Myškin und Wim Wenders’ Tom Tom festgestellt, dass auch sie nicht ganz frei von triangulären Wünschen und Träumen sind. Bei Dostoevskij, Kurosawa und Gedeon wählen sich außerdem die weiblichen Hauptfiguren in der Regel ihre unmittelbare Rivalin als Mittlerin: Dies gilt für Nastas’ja und Aglaja ebenso wie für Taeko und Ayako und die beiden Schwestern Anna und Olga. Auch konnte festgestellt werden, dass sich das trianguläre Beziehungsgeflecht in der Bildgestaltung der drei Filme widerspiegelt. So verfolgt Akira Kurosawa in Hakuchi etwa eine ganz spezielle Bildkomposition, bei der jeweils drei in mimetischen Beziehungen verstrickte Protagonisten ein räumliches Dreieck bilden. Auf diese spezifische Visualisierung des triangulären Begehrens trifft man auch in Saša Gedeons Film. Allerdings deuten die wenigen Bilder in Návrat idiota, in denen sich drei Protagonisten zu einem Dreieck formieren, nur ganz subtil auf das Beziehungsgeflecht zwischen den Figuren hin. In erster Linie verdeutlicht Saša Gedeon das trianguläre Begehren zwischen seinen Protagonisten, indem er František, der immer am meisten über die Geheimnisse aller anderen weiß, zentral ins Bild setzt, und indem er seine unterschiedlich informierten Protagonisten um einen Tisch gruppiert. Derartige Tischversammlungsszenen findet man auch in Wim Wenders’ Film, und auch in The Million Dollar Hotel sind sie eng mit dem triangulären Begehren der Figuren verbunden. Eine bildgestalterische Besonderheit des Wenders-Films besteht aber auch darin, dass die laute, verrückte, vom triangulären Streben nach Geld beherrschte Welt
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Ebd., S. 123. 296
SCHLUSSWORT
der Nebenfiguren, durch einen Tempokontrast, von der ruhigen Welt der beiden Liebenden Tom Tom und Eloise abgegrenzt wird. Auf der Basis von Barthes’ letzter und größter Ebene, jener der Narration, werden schließlich im siebten Kapitel mit Hilfe der poetologischen Kriterien Horst-Jürgen Gerigks die Erzähltechnik und Erzählperspektive in den vier Werken untersucht. Auf der Ebene der Narration geht Barthes der Frage nach, wie ein erzählendes Werk gemacht ist und orientiert sich dabei am Begriff des discours, wie dieser von Tzvetan Todorov 1966 in Anlehnung an die russischen Formalisten definiert wurde. Die Erzähltechnik und Erzählperspektive, die Horst-Jürgen Gerigk für Dostoevskijs Idiot feststellt, und die er, aufgrund ihrer szenischen Gestaltung, als filmisch bezeichnet, sind unauflöslich miteinander verknüpft und verführen wiederum den Leser des Romans zu außerfiktionaler Verkennung des Helden Myškin. Gerigk geht davon aus, dass ein unzuverlässiger, filmischer Erzähler, der nur »von außen« glaubhaft schildern kann, »Großaufnahmen, ja Ausschnittvergrößerungen eines laufenden Geschehens«5 kommentarlos präsentiert, und sich der Leser den »Zusammenhang, das Ganze, von dem der dargebotene Ausschnitt ein Teil ist«6, allmählich im Verlauf des Romans selbst erschließen muss. Da die Art und Weise wie ein narratives Kunstwerk gemacht ist natürlich stets an seine technisch-formalen Möglichkeiten gebunden bleibt, können Erzähltechnik und Erzählperspektive eines literarischen Werkes nicht in den Film transferiert werden. Ein Regisseur kann jedoch versuchen, auf die künstlerische Gestaltung des Hypotextes zu reagieren, indem er gewisse Aspekte nachahmt oder adaptiert. Im Falle von Akira Kurosawas Hakuchi wurde festgestellt, dass auf die von Dostoevskij unerklärt in den Raum gestellten Anfangsszenen des Romans mittels erklärender Texteinblendungen reagiert wurde. Es ist anzunehmen, dass diese Erklärungsversuche nicht von Kurosawa selbst, sondern von der Filmfirma initiiert wurden, die Hakuchi gekürzt hat. Und es tritt das erstaunliche Phänomen auf, dass aufgrund der Texteinblendungen der Verstehensprozess eher behindert, denn unterstützt wird. In Návrat idiota ist wiederum ein gezieltes Spiel mit der unerklärten Anfangsszene zu beobachten. Dabei werden die unmittelbar nach den ersten Filmbildern auftauchenden Fragen nach der Identität der Protagonisten und ihren Beziehungen zueinander erst allmählich im Verlauf des Films geklärt, und der Zuschauer muss die einzelnen Puzzleteile der Handlung wie ein Detektiv zusammenfügen. Einen unzuverlässigen Erzähler gibt es in Saša Gedeons Film jedoch nicht, denn die Kamera ver5 6
H.-J. Gerigk: »Dostoevskijs Erzähltechnik im ersten Teil seines Romans ›Der Idiot‹«, S. 7. Ebd. 297
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mittelt nur äußerst selten die Perspektive eines Protagonisten und bleibt ansonsten ein neutraler Beobachter, auf den sich der Zuschauer verlassen kann. Im Falle von The Million Dollar Hotel trifft man nun sowohl auf eine Erzähltechnik, bei der eine unerklärte Anfangsszene erst ganz am Ende des Films restlos aufgeklärt wird, als auch auf einen unzuverlässigen Erzähler, der dem Zuseher nie ganz die Wahrheit sagt und ihn auch immer etwas an seiner Glaubwürdigkeit zweifeln lässt. Tom Toms aus dem Jenseits zurückgekehrte Off-Stimme, die immer wieder die Filmhandlung kommentiert, rückt deshalb sehr nahe an Dostoevskijs Erzähler heran, der die Frage ob Myškin »ein Filou ist und seine Naivität nur spielt«7 auch erst am Ende des Romans eindeutig beantwortet. Ziel dieser Untersuchung war es, anhand eines intermedialen Vergleichs zwischen einem Roman und drei Filmen zu belegen, dass Parallelen zwischen in verschiedenen Medien umgesetzten Erzählungen nicht nur auf der bewussten Übernahme ähnlicher Stoffe basieren, sondern oftmals auch auf die Verwendung analoger, narrativer Bausteine zurückzuführen sind. Darüber, dass diese Bausteine auch in anderen, narrativen Werken existieren, muss sich der Schöpfer eines neuen dabei oft gar nicht bewusst sein, und so kann es durchaus passieren, dass sich zwei Kunstwerke ähneln, obwohl sie im Grunde ganz verschiedene Geschichten erzählen.
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H.-J. Gerigk: »Dostojewskijs Roman ›Der Idiot‹ als Phänomenologie der Verkennung«, S. 63. 298
9. B I B L I O G R A P H I E N , F I L M L I S T E N ABBILDUNGSVERZEICHNIS
UND
9 . 1 P r i m ä r w e r k e v o n D o s to e v s k i j Dostoevskij, Fëdor M.: Polnoe sobranie sočinenij v tridcati tomach. Idiot. Tom VIII, Leningrad: Nauka 1973. Dostoevskij, Fëdor M.: Polnoe sobranie sočinenij v tridcati tomach. Idiot. Rukopisnye redakcii; večnyj muž; nabroski 1867-1870. Tom IX, Leningrad: Nauka 1974. Dostoevskij, Fëdor M.: Polnoe sobranie sočinenij v tridcati tomach. Pis’ma 1860-1868. Tom XXVIII, Leningrad: Nauka 1985. Dostojewski, Fjodor M.: Die Dämonen, München, Zürich: Piper 1996. Dostojewski, Fjodor M.: Der Idiot, München, Zürich: Piper 1996. Dostojewski, Fjodor M.: Der Jüngling, München, Zürich: Piper 1996. Dostojewski, Fjodor M.: Rodion Raskolnikoff. Schuld und Sühne, München, Zürich: Piper 1996. Dostojewski, Fjodor M.: Gesammelte Briefe 1833-1881, München: Piper 1966. Dostojewskij, Fjodor: Der Idiot. In der Neuübersetzung von S. Geier, Frankfurt/Main: Fischer 52003.
9.2 Sekundärliteratur zu Dostoevskij Aufschnaiter, Barbara: F.M. Dostoevskij »Der Idiot«. Die Inszenierung eines literarischen Textes durch sprechende Bewegung, Innsbruck: unveröffentl. Diplomarbeit 2001. Aufschnaiter, Barbara: Bewegte Körper. Ausdrucksformen nonverbaler Kommunikation in der Erzählprosa von Fëdor M. Dostoevskij, Innsbruck: unveröffentl. Dissertation 2007. Aufschnaiter, Barbara/Brötz, Dunja: »Herr und Knecht. Zur Philosophie und Theorie des Romans bei Georg Lukács und Michail Bachtin. Rezension von Tihanov, Galin: The Master and the Slave. Lukács, Bakhtin, and the Ideas of Their Time, Oxford: Oxford UP 2000«, in: 299
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LITERATUR- UND FILMVERZEICHNISSE
Miller, Gabriel: Screening the Novel. Rediscovered American Fiction in Film, New York: Ungar Publishing 21981. Mundt, Michaela: Transformationsanalyse. Methodologische Probleme der Literaturverfilmung, Tübingen: Niemeyer 1994. Naremore, James (Hg.): Film Adaptation. Ed. and with an introd. by J. Naremore, New Brunswick, NJ: Rutgers Univ. Press 2000. (Rutgers depth of field series) Paech, Joachim (Hg.): Methodenprobleme der Analyse verfilmter Literatur, Münster: MAKS Publikationen 1984. Roloff, Volker: »Zur Theorie und Praxis der intermedialen Analyse am Beispiel von Buñuel, Truffaut, Godard und Antonioni«, in: Zima, Peter V. (Hg.), Literatur Intermedial. Musik – Malerei – Photographie – Film, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1995, S. 269309. Schanze, Helmut: »Literatur – Film – Fernsehen. Transformationsprozesse«, in: Ders. (Hg.), Fernsehgeschichte der Literatur, München: Fink 1996, S. 82-93. Schärf, Christian: Alfred Döblins ›Berlin Alexanderplatz‹. Roman und Film. Zu einer intermedialen Poetik der modernen Literatur, Stuttgart: Steiner 2001. (Abhandlungen der Klasse der Literatur, Akademie der Wissenschaften und der Literatur 2001 2) Schneider, Irmela: Der verwandelte Text. Wege zu einer Theorie der Literaturverfilmung, Tübingen: Niemeyer 1981. Stam, Robert (Hg.): Literature and Film. A Guide to the Theory and Practice of Film Adaptation, Malden, MA u.a.: Blackwell 2005. Stam, Robert: Literature through Film. Realism, Magic, and the Art of Adaptation, Malden, Mass. u.a.: Blackwell 2005. Sinyard, Neil: Filming Literature. The Art of Screen Adaptation, London: Croom Helm 1986. Wagner, Geoffrey: The Novel and the Cinema, London: Tantivy Press 1975.
9.9 Filmliste DeJoseph, Dominic J.: The One Dollar Diary, USA 2001. (Dokumentarfilm 96 min) Europäische Visionen. 25 Filme. 25 Regisseure. Mit Beiträgen von: Peter Greenaway, Fatih Akin, Barbara Albert, Saša Gedeon, Theo van Gogh, Aki Kaurismäki u.a. Koproduktion von Zentropa Entertainment, ZDF und ARTE, 2004. (Kurzfilmsammlung 140 min)
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Gedeon, Saša: Návrat idiota – Die Rückkehr des Idioten, Tschechische Republik 1999. (Spielfilm 100 min) Kurosawa, Akira: Donzoko – Nachtasyl, Japan 1957. (Spielfilm 125 min) Kurosawa, Akira: Hakuchi – The Idiot, Japan 1951. (Spielfilm 166 min) Kurosawa, Akira: Ikimono no Kiroku – Bilanz eines Lebens, Japan 1955. (Spielfilm 103 min) Kurosawa, Akira: Ikiru – Leben, Japan 1952. (Spielfilm 143 min) Kurosawa, Akira: Kakushi Toride no San Akunin – Die verborgene Festung, Japan 1958. (Spielfilm 139 min) Kurosawa, Akira: Kumonosu Jō – Das Schloss im Spinnwebwald, Japan 1957. (Spielfilm 110 min; auch veröffentlicht unter den Titeln: »Macbeth« und »Ein Schloss im Spinnennetz«) Kurosawa, Akira: Nora Inu – Ein herrenloser Hund, Japan 1949. (Spielfilm 122 min) Kurosawa, Akira: Rashōmon, Japan 1950. (Spielfilm 88 min) Kurosawa, Akira: Shichinin no Samurai – Die sieben Samurai, Japan 1954. (Spielfilm 207 min) Kurosawa, Akira: Warui Yatsu Hodo Yoku Nemuru – Die Bösen schlafen gut, Japan 1960. (Spielfilm 135 min) Kurosawa, Akira: Yoidore Tenshi – Der trunkene Engel, Japan 1848. (Spielfilm 98 min) Wenders, Wim: Der Amerikanische Freund, Deutschland, Frankreich 1977. (Spielfilm 125 min) Wenders, Wim: Der Himmel über Berlin, Deutschland, Frankreich 1987. (Spielfilm 127 min) Wenders, Wim: Don’t Come Knocking, Frankreich, Deutschland, USA 2005. (Spielfilm 118 min) Wenders, Wim: In weiter Ferne, so nah! Deutschland 1993. (Spielfilm 140 min) Wenders, Wim: Land of Plenty, USA, Deutschland 2004. (Spielfilm 120 min) Wenders, Wim: Paris, Texas, Frankreich, Deutschland 1984. (Spielfilm 147 min) Wenders, Wim: The Million Dollar Hotel, USA, Deutschland 2000. (Spielfilm 122 min)
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9 . 1 0 C hr o n o l o g i sc he L i s t e d e r V e r f i l m u n g e n v o n D o s t o e v sk i j s D e r I d i o t Chardynin, Pëtr: Idiot, Russland 1910. (Stummfilm, schwarz-weiß 25 min) Hanus, Heinz: Der Idiot, Österreich 1919. (Stummfilm, schwarz-weiß) Perego, Eugenio: Il Principe idiota, Italien 1920. (Stummfilm, schwarzweiß) Froelich, Carl: Irrende Seelen, Deutschland 1920/21. (Stummfilm, schwarz-weiß; auch veröffentlicht unter den Titeln: »Sklaven der Sinne« und »Der Idiot«) Lampin, Georges: L’Idiot, Frankreich 1946. (Tonfilm, schwarz-weiß 101 min) Kurosawa, Akira: Hakuchi, Japan 1951. (Tonfilm, schwarz-weiß 166 min) Pyr’ev, Ivan: Idiot, UdSSR 1958. (Tonfilm, Farbe 124 min) Vaccari, Giacomo: L’Idiota, Italien 1959. (TV-Serie, schwarz-weiß 423 min) Bridges, Alan: The Idiot, Großbritannien 1966. (TV-Serie, schwarz-weiß ca. 400 min) Zulawski, Andrzej: L’Amour braque, Frankreich 1985. (Tonfilm, Farbe 101 min) Kaul, Mani: Idiot, Indien 1991. (Tonfilm, Farbe 180 min) Wajda, Andrzej: Nastasja, Polen, Japan 1994. (Tonfilm, Farbe 100 min) Gedeon, Saša: Návrat idiota, Tschechische Republik 1999. (Tonfilm, Farbe 99 min) Kačanov, Roman: Daun Chaus, Russland 2000. (Tonfilm, Farbe 180 min) Bortko, Vladimir: Idiot, Russland 2003. (TV-Serie, Farbe 550 min) Béres, Dániel: Hét hónappal késöbb, Ungarn 2006. (Kurzfilm, Farbe 18 min) Castorf, Frank: Der Idiot, Deutschland 2007 (Theaterfilm, Farbe 278 min)
9.11 Abbildungsverzeichnis Abbildung 1 (S. 35): Kameda steht vor Akamas schneebedecktem Haus. DVD-Filmstill aus Kurosawa, Akira: Hakuchi – The Idiot, Japan: Shochiku Co. Ltd. 1951, Hongkong: Panorama Entertainment Co. Ltd. 2003 bei einer Filmlaufzeit von 1.09.38.
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Abbildung 2 (S. 38): František beobachtet ein Liebespaar am Bahnhof durch ein Guckloch in der schmutzigen Fensterscheibe. DVD-Filmstill aus Gedeon, Saša: Návrat idiota, Tschechische Republik: Negativ, Česká televize 1999, Bontonfilm 2007 bei einer Filmlaufzeit von 0.01.03. Abbildung 3 (S. 48): Olga und František stoßen auf das Neue Jahr an. DVD-Filmstill aus Gedeon, Saša: Návrat idiota, Tschechische Republik: Negativ, Česká televize 1999, Bontonfilm 2007 bei einer Filmlaufzeit von 1.30.29. Abbildung 4 (S. 48): Nach Emils Angriff liegt František schockiert im Schnee. DVD-Filmstill aus Gedeon, Saša: Návrat idiota, Tschechische Republik: Negativ, Česká televize 1999, Bontonfilm 2007 bei einer Filmlaufzeit von 1.31.38. Abbildung 5 (S. 58): Nach Tom Toms Selbstmord taucht Eloise ihre und Skinners Hände in Tom Toms Blut. DVD-Filmstill aus Wenders, Wim: The Million Dollar Hotel, USA, Deutschland: Road Movies GmbH 2000, Concorde Home Entertainment GmbH 2001 bei einer Filmlaufzeit von 1.50.06. Abbildung 6 (S. 58): Eloises Gesicht erscheint auf der Ziegelwand des Hotels neben dem Fenster, auf dessen Sims sie sitzt. DVD-Filmstill aus Wenders, Wim: The Million Dollar Hotel, USA, Deutschland: Road Movies GmbH 2000, Concorde Home Entertainment GmbH 2001 bei einer Filmlaufzeit von 1.51.09. Abbildung 7 (S. 145): Akama und Kameda sitzen sich im Zug gegenüber während Karube auf der Armstütze Platz nimmt. DVD-Filmstill aus Kurosawa, Akira: Hakuchi – The Idiot, Japan: Shochiku Co. Ltd. 1951, Hongkong: Panorama Entertainment Co. Ltd. 2003 bei einer Filmlaufzeit von 0.04.52. Abbildung 8 (S. 146): Akama und Kameda betrachten das Bild Taeko Nasus im Schaufenster und bilden gemeinsam mit ihr ein Dreieck. DVD-Filmstill aus Kurosawa, Akira: Hakuchi – The Idiot, Japan: Shochiku Co. Ltd. 1951, Hongkong: Panorama Entertainment Co. Ltd. 2003 bei einer Filmlaufzeit von 0.07.16. Abbildung 9 (S. 146): Kayama, Ayako und Kameda treffen im Treppenhaus des Ono-Anwesens aufeinander und gruppieren sich dabei zum Dreieck. DVD-Filmstill aus Kurosawa, Akira: Hakuchi – The Idiot, Japan: Shochiku Co. Ltd. 1951, Hongkong: Panorama Entertainment Co. Ltd. 2003 bei einer Filmlaufzeit von 0.21.00. Abbildung 10 (S. 147): Ayako und Kameda treffen sich im Park vor der Schneestatue, die im Verlauf der gesamten Szene als stummer Dritter agiert. DVD-Filmstill aus Kurosawa, Akira: Hakuchi – The Idiot, Ja-
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pan: Shochiku Co. Ltd. 1951, Hongkong: Panorama Entertainment Co. Ltd. 2003 bei einer Filmlaufzeit von 1.48.42. Abbildung 11 (S. 147): Taeko, Akama und Kameda formieren sich während des Treffens zwischen Taeko und Ayako zu einem Dreieck. DVD-Filmstill aus Kurosawa, Akira: Hakuchi – The Idiot, Japan: Shochiku Co. Ltd. 1951, Hongkong: Panorama Entertainment Co. Ltd. 2003 bei einer Filmlaufzeit von 2.21.03. Abbildung 12 (S. 148): Kameda, Ayako und Taeko werden dem obigen Dreieck gegenübergestellt. DVD-Filmstill aus Kurosawa, Akira: Hakuchi – The Idiot, Japan: Shochiku Co. Ltd. 1951, Hongkong: Panorama Entertainment Co. Ltd. 2003 bei einer Filmlaufzeit von 2.21.07. Abbildung 13 (S. 153): Nachdem František aus der Tanzschule hinausgeworfen wurde, blutet seine Nase. DVD-Filmstill aus Gedeon, Saša: Návrat idiota, Tschechische Republik: Negativ, Česká televize 1999, Bontonfilm 2007 bei einer Filmlaufzeit von 0.32.18. Abbildung 14 (S. 154): Anna und Emil unterhalten sich an der Bushaltestelle. DVD-Filmstill aus Gedeon, Saša: Návrat idiota, Tschechische Republik: Negativ, Česká televize 1999, Bontonfilm 2007 bei einer Filmlaufzeit von 0.33.14. Abbildung 15 (S. 155): Emil besucht Anna, um sie zum Mittagessen einzuladen. DVD-Filmstill aus Gedeon, Saša: Návrat idiota, Tschechische Republik: Negativ, Česká televize 1999, Bontonfilm 2007 bei einer Filmlaufzeit von 0.48.17. Abbildung 16 (S. 155): Anna stellt Emil während des Silvesterballs zur Rede. DVD-Filmstill aus Gedeon, Saša: Návrat idiota, Tschechische Republik: Negativ, Česká televize 1999, Bontonfilm 2007 bei einer Filmlaufzeit von 1.26.44. Abbildung 17 (S. 161): Tom Tom ahmt Skinner nach. DVD-Filmstill aus Wenders, Wim: The Million Dollar Hotel, USA, Deutschland: Road Movies GmbH 2000, Concorde Home Entertainment GmbH 2001 bei einer Filmlaufzeit von 0.27.11. Abbildung 18 (S. 170): Die Bewohner des »Million Dollar Hotels« versammeln sich um den Billardtisch. DVD-Filmstill aus Wenders, Wim: The Million Dollar Hotel, USA, Deutschland: Road Movies GmbH 2000, Concorde Home Entertainment GmbH 2001 bei einer Filmlaufzeit von 0.33.35. Abbildung 19 (S. 171): Vivien, Dixie, Shorty, Jessica und Jesus planen Tom Tom für Geronimo zu opfern. DVD-Filmstill aus Wenders, Wim: The Million Dollar Hotel, USA, Deutschland: Road Movies GmbH 2000, Concorde Home Entertainment GmbH 2001 bei einer Filmlaufzeit von 1.13.27.
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Abbildung 20 (S. 172): Eloise erzählt Tom Tom von Südamerika. DVDFilmstill aus Wenders, Wim: The Million Dollar Hotel, USA, Deutschland: Road Movies GmbH 2000, Concorde Home Entertainment GmbH 2001 bei einer Filmlaufzeit von 1.43.44. Abbildung 21 (S. 194): Akama bietet Kayama eine Million Yen für Taeko. DVD-Filmstill aus Kurosawa, Akira: Hakuchi – The Idiot, Japan: Shochiku Co. Ltd. 1951, Hongkong: Panorama Entertainment Co. Ltd. 2003 bei einer Filmlaufzeit von 0.32.55. Abbildung 22 (S. 197): Taekos Gäste erschrecken beim Anblick Akamas und seines Gefolges. DVD-Filmstill aus Kurosawa, Akira: Hakuchi – The Idiot, Japan: Shochiku Co. Ltd. 1951, Hongkong: Panorama Entertainment Co. Ltd. 2003 bei einer Filmlaufzeit von 0.49.01. Abbildung 23 (S. 197): Akama und sein Gefolge beobachten Taekos Geburtstagsfest. DVD-Filmstill aus Kurosawa, Akira: Hakuchi – The Idiot, Japan: Shochiku Co. Ltd. 1951, Hongkong: Panorama Entertainment Co. Ltd. 2003 bei einer Filmlaufzeit von 0.49.02. Abbildung 24 (S. 200): Maskierter während des Schneefests (Yuki Matsuri). DVD-Filmstill aus Kurosawa, Akira: Hakuchi – The Idiot, Japan: Shochiku Co. Ltd. 1951, Hongkong: Panorama Entertainment Co. Ltd. 2003 bei einer Filmlaufzeit von 1.42.47. Abbildung 25 (S. 200): Zwei Totenmasken während des Eiskarnevalsfests. DVD-Filmstill aus Kurosawa, Akira: Hakuchi – The Idiot, Japan: Shochiku Co. Ltd. 1951, Hongkong: Panorama Entertainment Co. Ltd. 2003 bei einer Filmlaufzeit von 1.42.51. Abbildung 26 (S. 201): Kaoru nimmt als Clown verkleidet am Karnevalseislaufen teil. DVD-Filmstill aus Kurosawa, Akira: Hakuchi – The Idiot, Japan: Shochiku Co. Ltd. 1951, Hongkong: Panorama Entertainment Co. Ltd. 2003 bei einer Filmlaufzeit von 1.43.31. Abbildung 27 (S. 208): Anna entdeckt František im Spiegel des Schlafwagenabteils. DVD-Filmstill aus Gedeon, Saša: Návrat idiota, Tschechische Republik: Negativ, Česká televize 1999, Bontonfilm 2007 bei einer Filmlaufzeit von 0.08.30. Abbildung 28 (S. 209): Emil und Robert sitzen vor dem Fernsehapparat. DVD-Filmstill aus Gedeon, Saša: Návrat idiota, Tschechische Republik: Negativ, Česká televize 1999, Bontonfilm 2007 bei einer Filmlaufzeit von 1.19.40. Abbildung 29 (S. 209): František spielt mit der Eisenbahn. DVD-Filmstill aus Gedeon, Saša: Návrat idiota, Tschechische Republik: Negativ, Česká televize 1999, Bontonfilm 1999 bei einer Filmlaufzeit von 1.19.48. Abbildung 30 (S. 210): Františeks Spiel wird von echten Zugsgeräuschen begleitet. DVD-Filmstill aus Gedeon, Saša: Návrat idiota, Tschechi-
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sche Republik: Negativ, Česká televize 1999, Bontonfilm 2007 bei einer Filmlaufzeit von 1.20.26. Abbildung 31 (S. 211): František wird von der Freundin des tanzenden Mädchens mit einer vernichtenden Grimasse bedacht. DVD-Filmstill aus Gedeon, Saša: Návrat idiota, Tschechische Republik: Negativ, Česká televize 1999, Bontonfilm 2007 bei einer Filmlaufzeit von 0.27.41. Abbildung 32 (S. 214): Der Tanzlehrer moderiert den Silvesterball. DVD-Filmstill aus Gedeon, Saša: Návrat idiota, Tschechische Republik: Negativ, Česká televize 1999, Bontonfilm 2007 bei einer Filmlaufzeit von 1.30.00. Abbildung 33 (S. 216): Die drei Mädchen sprechen František an. DVDFilmstill aus Gedeon, Saša: Návrat idiota, Tschechische Republik: Negativ, Česká televize 1999, Bontonfilm 2007 bei einer Filmlaufzeit von 1.28.13. Abbildung 34 (S. 225): Skinner imitiert ein Mudra. DVD-Filmstill aus Wenders, Wim: The Million Dollar Hotel, USA, Deutschland: Road Movies GmbH 2000, Concorde Home Entertainment GmbH 2001 bei einer Filmlaufzeit von 0.29.41. Abbildung 35 (S. 228): Der Kunstexperte Scopey faltet seine Hände. DVD-Filmstill aus Wenders, Wim: The Million Dollar Hotel, USA, Deutschland: Road Movies GmbH 2000, Concorde Home Entertainment GmbH 2001 bei einer Filmlaufzeit von 0.57.03. Abbildung 36 (S. 253): Akamas Bein verdeckt Kamedas Nase und Mund. DVD-Filmstill aus Kurosawa, Akira: Hakuchi – The Idiot, Japan: Shochiku Co. Ltd. 1951, Hongkong: Panorama Entertainment Co. Ltd. 2003 bei einer Filmlaufzeit von 0.02.00. Abbildung 37 (S. 254): Akama setzt sich auf und Kamedas Gesicht wird sichtbar. DVD-Filmstill aus Kurosawa, Akira: Hakuchi – The Idiot, Japan: Shochiku Co. Ltd. 1951, Hongkong: Panorama Entertainment Co. Ltd. 2003 bei einer Filmlaufzeit von 0.02.19. Abbildung 38 (S. 255): Taeko holt aus, um Kameda zu ohrfeigen. DVDFilmstill aus Kurosawa, Akira: Hakuchi – The Idiot, Japan: Shochiku Co. Ltd. 1951, Hongkong: Panorama Entertainment Co. Ltd. 2003 bei einer Filmlaufzeit von 0.51.17. Abbildung 39 (S. 257): Akamas Augen verfolgen Kameda als er durch die Straßen der Stadt irrt. DVD-Filmstill aus Kurosawa, Akira: Hakuchi – The Idiot, Japan: Shochiku Co. Ltd. 1951, Hongkong: Panorama Entertainment Co. Ltd. 2003 bei einer Filmlaufzeit von 1.27.30. Abbildung 40 (S. 259): Kameda entdeckt in einem Schaufenster das gleiche Messer wie im Hause Akamas. DVD-Filmstill aus Kurosawa, Akira: Hakuchi – The Idiot, Japan: Shochiku Co. Ltd. 1951, Hong-
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kong: Panorama Entertainment Co. Ltd. 2003 bei einer Filmlaufzeit von 1.31.03. Abbildung 41 (S. 259): Auf einer Brücke sieht Kameda plötzlich Akama. DVD-Filmstill aus Kurosawa, Akira: Hakuchi – The Idiot, Japan: Shochiku Co. Ltd. 1951, Hongkong: Panorama Entertainment Co. Ltd. 2003 bei einer Filmlaufzeit von 1.30.04. Abbildung 42 (S. 260): Die Gestalt Akamas verschwindet im Rauch der Dampflok. DVD-Filmstill aus Kurosawa, Akira: Hakuchi – The Idiot, Japan: Shochiku Co. Ltd. 1951, Hongkong: Panorama Entertainment Co. Ltd. 2003 bei einer Filmlaufzeit von 1.30.09. Abbildung 43 (S. 271): František schreit während des Albtraums laut »Nein! Nein!«. DVD-Filmstill aus Gedeon, Saša: Návrat idiota, Tschechische Republik: Negativ, Česká televize 1999, Bontonfilm 2007 bei einer Filmlaufzeit von 0.11.24. Abbildung 44 (S. 274): Františeks Nasenbluten setzt ein als Olga androht, Anna die Wahrheit zu sagen. DVD-Filmstill aus Gedeon, Saša: Návrat idiota, Tschechische Republik: Negativ, Česká televize 1999, Bontonfilm 2007 bei einer Filmlaufzeit von 1.12.59. Abbildung 45 (S. 282): Tom Tom zeigt Charles Best den Mittelfinger. DVD-Filmstill aus Wenders, Wim: The Million Dollar Hotel, USA, Deutschland: Road Movies GmbH 2000, Concorde Home Entertainment GmbH 2001 bei einer Filmlaufzeit von 1.02.57. Abbildung 46 (S. 287): Tom Tom springt mit ausgebreiteten Armen vom Dach des Hotels. DVD-Filmstill aus Wenders, Wim: The Million Dollar Hotel, USA, Deutschland: Road Movies GmbH 2000, Concorde Home Entertainment GmbH 2001 bei einer Filmlaufzeit von 0.04.07.
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Film Catrin Corell Der Holocaust als Herausforderung für den Film Formen des filmischen Umgangs mit der Shoah seit 1945. Eine Wirkungstypologie
Joanna Barck Hin zum Film – Zurück zu den Bildern Tableaux Vivants: »Lebende Bilder« in Filmen von Antamoro, Korda, Visconti und Pasolini
November 2008, ca. 550 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 36,80 €, ISBN: 978-3-89942-719-6
August 2008, 340 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN: 978-3-89942-817-9
Sebastian Richter Digitaler Realismus Zwischen Computeranimation und Live-Action. Die neue Bildästhetik in Spielfilmen
Catherine Shelton Unheimliche Inskriptionen Eine Studie zu Körperbildern im postklassischen Horrorfilm
Oktober 2008, ca. 200 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 24,80 €, ISBN: 978-3-89942-943-5
Dunja Brötz Dostojewskis »Der Idiot« im Spielfilm Analogien bei Akira Kurosawa, Sasa Gedeon und Wim Wenders September 2008, 320 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-997-8
Tina Hedwig Kaiser Aufnahmen der Durchquerung Das Transitorische im Film August 2008, 230 Seiten, kart., zahlr. Abb., 27,80 €, ISBN: 978-3-89942-931-2
Juli 2008, 384 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN: 978-3-89942-833-9
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Sandra Strigl Traumreisende Eine narratologische Studie der Filme von Ingmar Bergman, André Téchiné und Julio Medem 2007, 236 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 978-3-89942-659-5
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Arno Meteling Monster Zu Körperlichkeit und Medialität im modernen Horrorfilm 2006, 372 Seiten, kart., zahlr. Abb., 31,80 €, ISBN: 978-3-89942-552-9
2007, 324 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-563-5
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