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German Pages 304 Year 2015
Horst Fleig Wim Wenders
Horst Fleig (Dr. phil.) ist Mitarbeiter an der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Seine Forschungsschwerpunkte sind Literaturwissenschaft, Film- und Erinnerungsliteratur sowie die geisteswissenschaftliche Tiefenhermeneutik.
Horst Fleig Wim Wenders. Hermetische Filmsprache und Fortschreiben antiker Mythologie
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© 2005 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung und Innenlayout: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Donata Wenders Lektorat & Satz: Horst Fleig Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 3-89942-385-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
INHALT Vorbemerkung ................................................................................................ 9 Ein Leserbrief – Wenders’ Doppelspiele: Manifeste und kryptisch-hermetische Schichten seiner Spielfilme – Versagen der Filmkritik – Metamorphosen oder zeitgenössische Nachfolgefiguren antiker Gottheiten und Heroen TEIL I: ODYSSEEN MIT CHRISTLICHEM HORIZONT 1. Paris, Texas (1984) ............................................................................ 14 Handkes ›Über die Dörfer‹ und Wenders’ Entdeckung der ›Odyssee‹ – Christliches Höllenszenario und Bußgang von Travis? – Falke und Pfeil in Texas und in der ›Odyssee‹ – Zeitreise mit Hunter oder Ethische Apollo-Mission – Überlagerung mythologischer, zeitpolitischer und literarischer Motivschichten. Wenders’ Begabung für den »glücklichen Fund« – Rezeption von Apollon und Odysseus bei Michelangelo, Dante und in der Gegenwart Anhang: Zitate aus der amerikanischen Odyssee John Fords (›The Searchers‹) 2. Bis ans Ende der Welt (1991/96)....................................................... 48 Die Welt der ›Odyssee‹ und Claire. Hermes »Chico« als ihr Reisepatron – Hans Christian Andersens ›Schneekönigin‹ – Zum Motiv der Augenverletzung und Verblendung – Kreuz, Rose und andere Passionszeichen Sam Farbers – Zur Metamorphose der (Schnee-)Kristalle – Magie der Opale – Henry Farber als (auto-)destruktiver Schöpfergott – Akte des Sehens und einer manipulativen Bildübertragung. Hommage an Vermeer – Nekyia oder Gang ins Schattenreich des Unbewußten – Die Welt der australischen Mbantua – Penelope als marianisch-apokalyptische Figur? – Odysseische Kindheitsabenteuer Anhang: Zur Director’s-Cut-Version 3. Am Ende der Gewalt (1997) ........................................................... 104 Filmbeginn im Vorspann – Stuntgirl Cat als neue Pallas Athene – Odysseus’ techne und Mike Max’ High-Tech-Existenz – Gebärden und Milieu einer emanzipierten Penelope – Doc Blocks Telemachie – Klassische Stationen einer ›Odyssee‹ mit offenem Ausgang – Christologische Gegenwelt um Ray Bering. FBI-Satan Phelps. Rays Passionspfahl – Golgatha der Sternwarte und Judasfrau – Louis Berings Gotteseinsamkeit – Videoüberwachung, Staatsterror und filmische Blickkontrolle Filmgeschichtlicher Anhang: Zur »Puzzle«-Version von Cannes – Vergleich mit Altmans »multi-character-form« – Helikopter über Los Angeles – Selbstkritische Filmzitate
TEIL II: DIE HERMES-TRILOGIE Zu Hermes’ Karriere in christlicher Ikonographie und Kunst .................... 160
1. Im Lauf der Zeit (1976) .................................................................. 162 Der »Hermes«-Transporter und sein Fahrer. Hermetische Kreisbewegungen und -zeichen? – Robert Landers Neugeburt und therapeutische Kindesexistenz – Ritualgebärden und Verkleidungsspäße. Archaische Züge Bruno Winters – »Hermes Psychopompos«: Zunächst zur Rückkehr in die Kindheit – Roberts Kraftproben; Wiederentlassung ins Leben – Wenders’ visuelle Hingabe und das Erzählen einer (hermetischen) Geschichte Filmgeschichtlicher Anhang: Hermes als Patron des Kinos – Gedächtnisfeier für Fritz Lang und Nicholas Ray – Hermes in Filmen anderer und bei Th. Mann 2. Der amerikanische Freund (1977) ................................................. 193 Wechselnde Arbeitstitel für den Film – Attribute und Verhaltensmuster eines modernen Götterboten – Gestalten der Unterwelt. Jonathans Hadesfahrt – Patricia Highsmith’ Mißvergnügen – Krankheitsbilder; filmadäquate Auflösungsformen der Persönlichkeit – Eine homoerotische Freundschaft? – Sohn Daniel im Banne der Kindgottheit – Wenderssche Inszenierungen von Mord und Totschlag – Seelenarchitektur als Stadt-Körper-Landschaft Filmgeschichtlicher Anhang: Zur Problematik des Zitierens im Film – »Oberfläche« und Subtext im »amerikanischen« Film – Zitatpräsenz von Rudolf Thome, Nicholas Ray und Alfred Hitchcock 3. Das Million Dollar Hotel (2000) ..................................................... 240 Satirische Überzeichnungen. Kindereien statt Milieustudium? – Märchen als erste Subtextschicht des Films – Persephone oder chthonische Aphrodite? – Anadyomene als »ersoffene Ratte«. Patricia Highsmith’ Heloise – Eloises Outfit, Körperhaltungen und Gebärden – Venustempelchen im Armenasyl – Den Idioten spielende Kindgottheit. Toms Zimmereinrichtung, Phantasieuniform und Tattoos – Seelenführer in die Unter- und Oberwelt. Eine Planetenliebschaft (Merkur und Venus) – Hermaphroditos? – Vexiergestalt Skinner Filmgeschichtlicher Anhang: Versteckte Huldigungen an ›Citizen Kane‹ – Schachspiel und Hermesfigur Gaff aus Ridley Scotts ›Blade Runner‹ – Filmzitate jenseits der Hommage; stillschweigende Erwiderungen Nachwort ............................................................................................... 288 »Weiterspinnen« am Mythos – Verschwiegene filmische Erzählweise und angemessene Interpretation – Wim Wenders’ Rolle als »Schattenspieler« Filmregister ........................................................................................... 301
FÜR RUTH UND CHANDRA
VORBEMERKUNG Über viele Jahre hin wurden die Filme von Wim Wenders von der deutschen Filmkritik freundlich oder respektvoll begrüßt und von nicht wenigen Enthusiasten mit den Standardkomplimenten der Gefühlswärme und visuellen Zärtlichkeit bedacht. Seit Beginn der 90er Jahre aber stießen seine Spielfilme in Deutschland zunehmend auf eine Ablehnung, die nicht minder emotional war, jetzt allerdings öfter gehässig und schadenfroh ausfiel.1 Von den Filmkritikern ausgerechnet der liberalen Wochenzeitung ›Die Zeit‹ wurde er über Jahre hin förmlich verfolgt. So bezeichnete der Kritiker seines Films ›Am Ende der Gewalt‹ (1997) das Verhältnis zwischen dem Gewaltfilm-Produzenten Mike Max und Ray Bering, der in der Sternwarte an einem angeblichen Gegengewalt-Projekt forscht, als »eine Geschichte von zwei Männern, die nicht zueinanderkommen, weil ›das System‹ dazwischenfunkt ... Wenders und sein Drehbuchautor Nicholas Klein schafften es nicht, Max’ und Berings Schicksale zu verknüpfen. Brächten sie Mike zu Max, würde die tiefe Banalität ihres Konzepts offenbar: zwei gegen den Rest der Welt – die alte buddy story«.2 Bei genauerem Hinsehen freilich hätten sich diesem Kritiker die »buddies« als Figuren in der Nachfolge von Odysseus und Christus entpuppen können, die Wenders vielleicht deshalb nicht gegen der »Rest der Welt« »zueinanderkommen« lassen wollte, weil jeder der beiden zunächst einmal in seiner eigenen Welt mit eigenem Ethos zurechtzukommen hat. Im Detail rügt der Verfasser noch: »Da ist Cat (Traci Lind), das Stuntgirl, dem man jedes dritte Wort ›definieren‹ muß«. Dies nicht ohne Grund, denn Cat verkörpert in der mythologischen Tiefenschicht des Films offenbar Pallas Athene, die Beschützerin von Odysseus und auch der Philosophie, der genau solche Wesensfragen wohl anstehen dürften. Ferner: »Da zieht Andie MacDowell sich aus – und steht in schwarzer Unterwäsche da ... immer dann, wenn es darauf ankommt, behält die Geschichte gleichsam die Unterwäsche an.« Die von Paige ist weiß. Der Kritiker sah sich den Film offensichtlich kein zweites Mal mehr an und 1
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Wenders zu ›Faraway, So Close‹ (1993): »Ein Flop war es nur in Deutschland. Und die zwiespältigen Kritiken, die es woanders auch gab, waren nicht dermaßen voll Häme, wie die in Deutschland.« Interview im Hamburger Nachrichtenmagazin ›Der Spiegel‹ (Heft 20/1995, S. 241-243). ›Die Zeit‹ (Hamburg) vom 1.10.1998 (Nr. 49, S. 59)
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VORBEMERKUNG
konnte darum auch schwerlich darauf kommen, daß wir es in Gestalt von Paige mit einer zweiten Penelope zu tun haben, die soeben ihren klassisch-tugendhaften Pfad verlassen hat. Als sich Anfang 2000 noch ein weiterer tonangebender Filmkritiker in der ›Zeit‹ über ›Das Million Dollar Hotel‹ (2000) und dessen Regisseur zu mokieren suchte,3 schrieb ich einen ausführlichen Leserbrief, den ich aber wegen des Tenors ohne Rücksprache mit Wenders nicht veröffentlichen wollte. Auf meine schriftliche Anfrage konnte er damals nicht reagieren, hätte sich jedoch, wie er mir später mitteilte, über einen solchen Leserbrief sehr gefreut. Er sei wenigstens jetzt als Einführung in die problematische Rezeption seiner jüngeren Spielfilme zitiert: »ZU WIM WENDERS’ ›THE MILLION DOLLAR HOTEL‹ Ihr Filmkritiker verspottet den soeben in den Tod gesprungenen Tom Tom als Engelsgestalt und »salbungsvollen Nachrufer aufs eigene Leben«, als »gutherzigen Simpel«, der auf »eine scheue Büchernärrin mit stark autistischen Zügen« treffe. Und spricht von den »Kinderspiel-Ersatzhandlungen« dieser Liebenden, die für den »verengten Blick des Regisseurs« bezeichnend seien. Dabei versteht es dieser Filmemacher wie kein anderer, in den Stoffen und Figuren unserer Zeit mythologische Themen und Gestalten wiedererstehen zu lassen. Eine solche Neueinkleidung läßt sich auch hier bewundern, ist doch dieser »Simpel« niemand anders als der Götterbote und Seelenführer, der listige Gott der Diebe und Händler, Reisenden und Redenden: Zu Hermes’ Attributen gehören bekanntlich der geflügelte Reisehut, die Flügelschuhe und der Zauber- oder Heroldsstab. Betrachte man doch noch einmal Toms wunderliche Frisur mit diesen flügelartig vom Kopf abstehenden Haarbüscheln! Mit dem Skateboard saust er über dem Erdboden dahin und hat in seinem Zimmer Berge von Turnschuhen, aus denen er sich für seinen »Abflug« ein passendes Paar hervorzieht. Als Bote und Faktotum liefert er in einem fort kleinere Sachen wie Nahrungsmittel und Geschenke für die Mitbewohner an, für die er »der Butler der Bettler« ist. Sein bürgerlicher Name ist Thomas T. Barrow (ein ›barrow-man‹ ist ein fliegender Händler). Er kann klauen wie ein Rabe, mit blitzschnellen Griffen; und überliefert auch (geklaute) geistige Botschaften, die Gedichte, die ihr Autor Izzy bald schon vergessen hätte. Wenn er an dessen Tod beteiligt ist, so in der Funktion des Psychopompos, der den Todgeweihten begleitet, hier dessen Wunsch nachgibt und ihn fallen läßt. Hermes vermag aber auch die Toten wieder ins Leben zu rufen, und so ist es denn das erklärte Ziel Toms, Eloise, diese »Schneewittchen«-Seele, die sich selbst als nichtexistent bezeichnet, »aufzuwecken« ...
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›Die Zeit‹ vom 3.2.2000 (Nr. 6, S. 41f.)
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EIN LESERBRIEF Von einem Filmkritiker hätte man nun doch den einen oder anderen augenzwinkernden Hinweis erwarten dürfen. So aber wird der Zuschauer wieder einmal um das hohe Vergnügen gebracht, in der offiziellen Filmhandlung zugleich eine zweite, versteckt und konsequent eingerichtete zu verfolgen. Reibt euch doch endlich die Augen!«
Daß Wenders gegen diese Zuschrift nichts einzuwenden hatte, heißt selbstverständlich noch lange nicht, daß er meiner Interpretation – und gar in allen Details – zustimmte. Freilich fühlte ich mich durch seine Reaktion dazu ermuntert, über den hermetischen Charakter dieser Filme einmal im Zusammenhang zu schreiben. Die von mir »hermetisch« oder »kryptisch« genannte Filmsprache von Wenders dürfte in der Filmgeschichte beispiellos sein. In etlichen seiner Spielfilme trägt er noch eine zweite Version der Haupthandlung vor, indem er einige der kühnsten und geistreichsten Gestalten der klassischen Mythologie in den Personen wiedererstehen läßt, die in der »manifesten« Version als Zeitgenossen von uns agieren. Ja, die Einrichtung dieser gut verborgenen Figurenrollen, ihrer Motive und Begleitthemen ist für einige Filme so fundamental, daß nicht bloß von einer Tiefenschicht, sondern von einer veritablen Tiefentektonik zu sprechen ist. Wenders selbst hat zwar gelegentlich auf den Vorbildcharakter der ›Odyssee‹ für einige seiner Figuren hingewiesen, niemals aber etwas von einer hermetischen (Erzähl-)Version seiner Filme verlauten lassen, nicht einmal nach massivster verständnisloser Kritik. Dabei ist die gereizte Reaktion jener Filmkritiker nicht zuletzt darin begründet, daß es mitunter zu kaum vermeidbaren Kollisionen zwischen beiden Versionen kommt. Agiert nämlich eine Figur, die in der manifesten Filmversion als Zeitgenosse von uns auftritt, auf einmal wieder stärker in ihrer unbekannten zweiten Rolle als Nachfolgefigur von Odysseus, Hermes oder auch Christus, bleibt dieser Moment für den Betrachter, der nur um jene manifeste Lesart weiß, entweder nichtssagend oder wirkt aufgesetzt und sicherlich auch beklemmend. Vor allem die Verhaltensweisen der Personen und ihre Motive lassen sich ohne Wissen um den mythologischen Hintergrund mitunter kaum mehr nachvollziehen. Durch dieses Wechsel- oder Doppelspiel zwischen der »manifesten« und der »hermetisch-kryptischen« Version im selben Werk sind Wenders’ Filme mittlerweile so komplex geworden, daß sich niemand ohne eine zweite Betrachtung ein Urteil über sie erlauben darf. Ich selber fühlte mich mitunter erst nach mehrfacher Betrachtung in einem seiner Spielfilme »angekommen« und vermochte das Ganze von da an auch gegen den Strich zu lesen, Einstellung für Einstellung unter neuem Blickwinkel. Es ist wohl unvermeidlich, daß man sich zunächst einmal am relativ vordergründigen Hand-
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VORBEMERKUNG
lungsablauf und Milieu zu orientieren sucht, beides auf Stimmigkeit und Gehalt hin beurteilt und erst dann eigentlich für den Subtext der mythologischen Argumentation und für die Techniken empfänglich wird, mit denen manifeste und hermetische Handlungsdimension miteinander verwoben werden. Was aber ist von Wenders’ Schweigen zu halten, das mal eher heroisch-erduldend und mal eher ironisch-amüsiert wirkt? Lehnt er es nur ab, selber auf die Mehrschichtigkeit seiner Filme hinzudeuten und gar den Interpreten seiner selbst zu spielen? Oder ist es ihm etwa heiliger Ernst mit dem, was er da verschlüsselt erzählt, und möchte er es so lange wie nur eben möglich dem profanen Auge entziehen? Nun ergeht sich seine filmische Erzählweise so oft in Situationskomik und zeigt einen solch satirischen Mutwillen, daß man den Gedanken einer ausgesprochen sakrosankten Dimension, die als solche tabu wäre, bald aufgeben wird. Wenders selbst hat sich einmal ironisch als »verkannten Komiker« bezeichnet.4 So wird man denn auch in der hermetischen Lesart seiner Spielfilme verfolgen können, daß er die gegenwärtigen Verkörperungen der mythologischen Heroen und Gottheiten keineswegs mit seinem Witz verschont. Allerdings liefert er keine Parodien oder Travestien in dem Sinne, daß jene hohen Gestalten der Lächerlichkeit preisgegeben würden, wie es etwa Pallas Athene in dem antiken Epos ›Froschmäusekrieg‹ widerfährt, wo die einst große »Vorkämpferin« den Kampf mit den lanzenbewehrten Mäuschen scheut; oder wie Odysseus, dessen Abenteuer von dem einen oder anderen antiken Vasenmaler und in neuerer Zeit von Honoré Daumier karikiert wurden. Zweifellos ist Wenders auch ein begabter und mitunter erstaunlich unverfrorener Parodist und Karikaturist, zieht dabei jedoch nicht den geistigen Rang jener Figuren in Frage. Er attackiert vielmehr in Gestalt ihrer Nachfolgefiguren5 primär Verhaltensund Lebensformen unserer Gegenwart. Statt von Parodien und Travestien möchte ich daher lieber von Metamorphosen oder Gestaltumwandlungen sprechen, die jene mythologischen Figuren bei Wenders durchlaufen. Er stattet diese Nachfolger der weithin schon längst verloren geglaubten Götter und Heroen mehr oder minder üppig mit ihren überlieferten – modisch abgewandelten – Attributen, Fähigkeiten und Ambitionen aus und schaut dann gleichsam mit der Kamera zu, wie sie damit in unserem Leben zurechtkommen. Eine experimentelle Offenheit, die sie freilich zugleich verwundbar macht, häufig zu burlesken Szenen und mitunter zu einer tragikomischen Verwicklung 4 5
In: ›chrismon. Das evangelische Magazin‹, Jg. 2002, Nr. 11, S. 13f. Der Kürze halber werde ich gelegentlich von ihnen wie von den Gottheiten und Heroen selber reden, doch ist damit nicht etwa ihre Identität mit jenen antiken Gestalten gemeint, sondern immer ihre moderne Erscheinungsform bei Wenders.
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DOPPELSPIELE. VERSAGEN DER FILMKRITIK
führt Dabei können diese Figuren durchaus auch aus ihrer bekannten Rolle fallen, Odysseus etwa, der sich dann nicht mehr an den »Freiern« rächen will und auf sein fragwürdig gewordenes Imperium ebenso wie auf seine neue Penelope verzichtet. Öfter aber suchen sie sich weiterhin in ihren tradierten Rollen zu behaupten, besonders die anonym in Gestalt eines Außenseiters oder Dropouts erscheinende Hermes-Figur, die in der – bisherigen – Wendersschen Trilogie sich jedesmal in ihrem hohen Amt als Seelengeleiter sei es in den Tod oder in eine neue Lebensform zu bewähren hat. Auch wenn diese mythologischen Figuren bei ihren Metamorphosen den Verhältnissen unserer Zeit ausgesetzt werden, gehen sie doch nie völlig darin auf, Zeitgenossen von heute zu sein. Immer behalten sie den gewissen Abstand, der schon so manchen Betrachter des Films befremdet hat – wie auch die im Umkreis dieser Filmfiguren gelegentlich aufblitzende höhere Ironie. Irritationen, die nun allerdings auch Indizien dafür sein könnten, daß die Metamorphose der Figuren, die Wenders von ihren Sockeln herunterholte, geglückt ist, daß sie dabei nicht auf bloße Zeitgenossen von uns reduziert werden, sondern unverwüstlich sind und in ihrem Potential die Gegenwart immer noch transzendieren. Ein Wort noch zu meiner terminologischen Unterscheidung zwischen einer »manifesten« Filmversion und einer »hermetischen« oder auch »kryptischen« Version. Man könnte statt dessen auch, wie seit einiger Zeit üblich, von »(Haupt-/Ober-)Text« und »Subtext« sprechen, müßte dann allerdings innerhalb des filmischen Subtextes diverse Tiefenschichten unterscheiden. Im ›Million Dollar Hotel‹ etwa reichen diese über filmgeschichtliche Anspielungen und andere Zwischenschichten wie die Evokation der Märchen ›Dornröschen‹ und ›Schneewittchen‹ bis hinunter zur fundamentalen, die manifeste Filmhandlung tragenden hermetischen Schicht der von Wenders neu erzählten Hermes-Aphrodite-Geschichte. »Subtext« allein genügt jedenfalls zur Charakterisierung nicht, zumal unter diesem Terminus inzwischen alles Mögliche verstanden wird, die relativ leicht verständliche Anspielung oder das bloße Bildungszitat ebenso wie ironische Diktion, politisch gewagte Konterbande oder bloß kommerzielle Manipulation.
FÜR RAT UND ZUSPRUCH MÖCHTE ICH DR. GERT LIEBICH (LEIPZIG) UND DR. NIKOLAUS LOHSE (BERLIN) DANKEN.
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I.
ODYSSEEN MIT CHRISTLICHEM HORIZONT
»Sage mir, Muse, die Taten des vielgewanderten Mannes, Welcher ... so viel unnennbare Leiden erduldet, Seine Seele zu retten und seiner Freunde Zurückkunft ...«
Musenanruf im Proömium der ›Odyssee‹ (1.15)
1. PARIS, TEXAS (1984) (Drehzeit: September – Dezember 1983)
»Texas. In der Nähe der mexikanischen Grenze. Ein Mann taucht auf, aus dem Nichts, aus der glühenden Hitze der Wüste. Er ist illegal über die Grenze gekommen. Er sieht aus, als sei er schon seit Tagen unterwegs. Er erreicht die ersten Häuser und bricht besinnungslos zusammen. Auf dem Untersuchungstisch eines Landarztes kommt er wieder zu sich. Er trägt keine Papiere bei sich und spricht kein Wort. In seiner Brieftasche findet sich lediglich eine Visitenkarte mit einem Namen und einer Adresse in Los Angeles. Der Arzt ruft dort an. Es meldet sich Walt, der jüngere Bruder des Mannes. Walt hat seit vier Jahren nichts mehr von seinem Bruder Travis gehört und hielt ihn bereits für tot. Walt setzt sich in die nächste Maschine und fliegt runter zur mexikanischen Grenze. Als er am nächsten Morgen in das Krankenhaus kommt, ist Travis verschwunden. Mitten in der Nacht ist er einfach wieder losgezogen. Stunden später entdeckt Walt ihn, wie er unbeirrbar und mit unbekanntem Ziel in Richtung Horizont marschiert. Walt hält ihn an. Travis erkennt seinen Bruder. Aber er spricht nicht. Schließlich steigt er zögernd zu Walt ins gemietete Auto. Gemeinsam machen sie sich auf den Weg nach Westen, nach Los Angeles.
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HANDKES ›ÜBER DIE DÖRFER‹ UND WENDERS’ ENTDECKUNG DER ›ODYSSEE‹ Ganz allmählich öffnet sich Travis seinem Bruder und beginnt zu reden, auch wenn er sich weiterhin darüber ausschweigt, was mit ihm in den vergangenen vier Jahren geschehen ist. Von Walt erfährt er aber, daß es seinem Sohn Hunter gutgeht und dieser jetzt mit Walt und dessen Frau Anne zusammenlebt. Vor vier Jahren hatte man den kleinen Hunter, damals drei Jahre alt, bei ihnen an der Haustür abgeliefert. Über das, was passiert war, konnte der Junge ebensowenig Angaben machen wie über den Verbleib seiner Eltern. Seitdem hatte Walt weder von Travis noch von Jane, Hunters Mutter, irgend etwas gehört. Als Walt und Travis in Los Angeles ankommen, scheint es Travis schon wesentlich besser zu gehen. Hunter begegnet seinem ›richtigen‹ Vater mit Mißtrauen. Er kann sich kaum noch an ihn erinnern. Und er hat sich längst daran gewöhnt, Walt und Anne als seine Eltern zu betrachten. Es ist für alle eine schwierige Situation. Nur sehr langsam kommen Vater und Sohn wieder dahin, sich gegenseitig zu akzeptieren. Travis hat nicht vor, lange in Los Angeles zu bleiben. Er fühlt einen Drang, sich nach seiner Frau Jane auf die Suche zu machen, und es gibt Grund zu der Annahme, daß sie sich irgendwo in Houston aufhält. Auf seiner Reise dorthin wird er nicht allein sein müssen. Auch Hunter liegt daran, seine Mutter zu finden. Zusammen fahren sie nach Texas, wo sie einmal eine Familie waren. Und sie finden Jane ... « »Road Movies Filmproduktion«, »Filmprogramm 117« vom »Dezember 1984«, Stuttgart (ohne Seitenzahlangabe)
Handke s ›Über die Dörfer‹ und Wenders’ Entdeckung der ›Ody ssee‹ Während Wim Wenders nirgendwo etwas von einer Hermesfigur in seinen Filmen verlauten ließ, hat er seine Vorliebe für Homers ›Odyssee‹ und ihre Vorbildlichkeit für einige seiner Filmfiguren von Zeit zu Zeit angesprochen. Man hat diese Hinweise vielleicht deshalb nicht aufgegriffen, weil man sie nur als Redensart betrachtete, so, wie man alle möglichen Verstrickungen und kleinere Abenteuer oder nur Unbequemlichkeiten als eine durchlittene »Odyssee« zu bezeichnen pflegt. Gelesen habe er die ›Odyssee‹ zum erstenmal im Spätsommer 1982, als er für die Salzburger Festspiele Peter Handkes jüngstes Theaterstück ›Über die Dörfer‹ (1981) inszenierte.1 Handke nimmt hierin Motive aus der ›Odyssee‹ und aus verwandten Sagen auf, die er freilich in dem neuzeitlich-christlichen Horizont des Stücks abwandelt. So variiert die Eröff1
So Wenders 1987 in den ›Cahiers du cinéma‹ (Paris); vgl. ›Die Logik der Bilder‹ (Frankfurt/M. 21993), S. 129.
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nung den Anfang der ›Odyssee‹, das Proömium mit der Götterverhandlung, wenn »vor dem Vorhang« die mythische Gestalt der Nova dem Publikum den heimkehrenden Erben Gregor als »Mann aus Übersee ... Wanderer ohne Schatten ... Nordsüdostwestherr« vorstellt und sich sodann wie einst Pallas Athene mit Ratschlag und Mahnung an ihn wendet. Was sie ihm da sagt, liest sich weithin wie eine kritische Reflexion über Odysseus’ einst so erfolgreiche Taktik der Verstellung und Selbstzurücknahme: »Sei nicht die Hauptperson. Such die Gegenüberstellung. Aber sei absichtslos. Vermeide die Hintergedanken. Verschweige nichts. Sei weich und stark ... Beobachte nicht, prüfe nicht ...«2 Die große Wiedererkennungsszene durch Odysseus’ Amme Eurykleia kommt hier nur in der Negationsform vor, wenn eine »Alte Frau«, die den Heimkehrer zur »Rache« an allen Heimattümlern aufzustacheln sucht, ihn nicht erst an einer »Narbe« identifizieren muß.3 Und ehe Nova in der Schlußszene das zuvor bettelnde Kind von Gregors Bruder krönt, beschwört sie mit Engelszungen den Frieden als lebenswerte und auch erstreitbare Utopie, sagt der klassischen Gewaltanwendung ab und empfiehlt der Bevölkerung gleichwohl noch jene odysseische Ausflucht gegenüber den Übermächtigen: »Verleugnet euch, verbergt euch, sagt, daß ihr nicht seid, die ihr seid ... Und doch: stolz geht nur der Unmaskierte!« Wenders selbst hat sich über den Zusammenhang zwischen seiner Handke-Inszenierung, der gleichzeitigen Lektüre der ›Odyssee‹ und seinem im nächsten Jahr gedrehten Film ›Paris, Texas‹ wie folgt erklärt: »Ein Mann taucht auf, er überquert die mexikanische Grenze. Er hat das Gedächtnis verloren, ist unwissend und fremd in der Welt wie ein Kind ... In Salzburg hatte ich zum ersten Mal die Odyssee gelesen. Für meine Begriffe konnte der Mythos nicht mehr in europäischen Landschaften Gestalt annehmen, wohl aber im amerikanischen Westen. Die Stadt Paris, Texas ... hat sich uns aufgedrängt wegen des Namens ... Der Name ... symbolisiert die Spaltung, Zerrissenheit von Travis. Dort ... wurde er gezeugt. Unter dem Lieblingsscherz seines Vaters (›Ich habe meine Frau in Paris kennengelernt‹) ... und seinem Verschwinden litten die Mutter und der Sohn, Paris, Texas wurde zu einem Ort der Trennung. Für Travis ist es ein mythischer Ort, an dem er seine verstreute Familie wieder zusammenführen 4 muß.«
2 3
Peter Handke: ›Über die Dörfer. Dramatisches Gedicht‹. Zitate nach der Taschenbuchausgabe (Frankfurt/M. 1984), S. 11 und 20f. Ebd., S. 77f.
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CHRISTLICHES HÖLLENSZENARIO UND BUSSGANG VON TRAVIS?
Inhaltlich hat sich Wenders über den odysseischen Charakter dieses Films wohl nur in einem Interview 1984 mit Redakteuren der französischen Filmzeitschrift ›Positif‹ geäußert: Vorgeschwebt habe ihm ein »verlorener Mann, ein wenig wie Odysseus in der Unterwelt, der mit einer einzigen Idee zurückkommt, der einer Frau«.5 Wie ernst hat man diese Analogie zu nehmen?
Aus dem Trailer auf einer französischen DVD (2001) 01:31
Christ liches H öllen szenari o und Bußgang von Tra vis? Auf den ersten Blick wird man Travis nicht mit Homers Helden identifizieren wollen. Seine seelische Entwicklung vom eifersüchtigen, gegen die eigene Frau und Familie wütenden Mann zu jemandem, der diese schwere Schuld wieder ausgleichen will, scheint eher zu einem christlichen Motivkreis wie dem des sühnebereiten Pilgers oder auch zum weit umfassenderen Motiv des »Heimkehrers« zu gehören, das auch Varianten kennt wie das Nicht-Mehr-Anknüpfen-Können und das resignierte 4
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Quelle wie für Fußnote Nr. 1 (›Cahiers du cinéma‹ bzw. ›Logik‹, S. 129). Den Zusammenhang zwischen der ›Odyssee‹-Lektüre und dem Film sprach Wenders deutlicher in einem Gespräch mit Michel Boujut aus: »Au tout début de mon projet … j'ai été influencé par la lecture que j'avais faite de L'Odyssée, quelques mois auparavant. Et où j'avais retrouvé quelques-uns des grands thèmes universels.« In: Boujut, Michel: ›Wim Wenders. Un voyage dans ses film‹ (Paris 1989), S. 145. In ›Positif. Revue mensuelle de cinéma‹ (Paris), Septemberheft 1984, S. 10 (»un homme perdu, un peu comme Ulysse chez les morts, et qui revient avec une seule idée, celle d’une femme«). Er erwähnt dort noch die odysseische Aufgabe, auch das Kind wieder in die Familie zu integrieren (S. 12).
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Sichabwenden am Ende. Einige Details insbesondere des Anfangs deuten eher auf die christliche Mythologie hin, scheinen sich jedoch zugleich mit Indianermythen und eben auch mit der klassischen Mythologie zu berühren. Eröffnet wird der Film mit dem Anflug der (Helikopter-)Kamera auf der Höhe einiger bizarrer Felsformationen bei »Devil’s Graveyard». Dort, aus der »Vogelperspektive« zu sehen, taucht der Held Travis aus den Tiefen der mexikanischen Wüste auf. Mit der Vogelperspektive wird auf magische Weise Ernst gemacht, indem die Kamera beim Anblick des Dahingehenden im Flug einhält, unmerklich auf Travis fokussiert und sogleich ein Umschnitt auf einen Raubvogel erfolgt, der sich seitlich heranschwingt und niederläßt. Wird dann auf Travis zurückgeschnitten, strafft dieser unwillkürlich den Rükken, bleibt seinerseits stehen und blickt nun, die beiden einzeln dastehenden Felsklippen links und rechts in seinem Rücken, selber wie mit Flügeln versehen, zu diesem Falken hinüber. Oben: 01:46
Unten: 01:59
Der erste Satz in diesem Film lautet »What the hell ...?« (04:45). Es ist dies die überraschte Frage des mit seinem Bier in einer Ladenecke dasitzenden Tankwarts in Terlingua, der beobachtet, wie der herangewankte Fremde nach dem Genuß einiger Eisstückchen neben dem Kühlschrank zusammenbricht. Nach dem Umschnitt auf das schwingengleiche Schild des Arztes, das anstelle eines korrekten Äskulapstabs ein kruzifixförmiges Gebilde mit Doppelschlange zeigt, liegt Travis in der vom ›Amerikanischen Freund‹ (1977) her vertrauten fahlgrünen Beleuchtung in Positionen da, die ihn einem zeitgenössischen politischen Märtyrer annähern, dem 1967 in Bolivien exekutierten »Che« Guevara (vgl. hierzu S. 33). So weit spricht manches eher für eine Märtyrergeschichte christlicher Provenienz, wie sie Wenders schon für andere Außenseiter inszenierte, die Gangster nämlich in ›Same Player Shoots Again‹ (1968) und ›Alabama (2000 LIGHT YEARS)‹ (1969). Auch wären da noch weitere Elemente eines christlichen Kontextes um Travis zu registrieren, so die zu
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CHRISTLICHES HÖLLENSZENARIO UND BUSSGANG VON TRAVIS?
Ry Cooders Slidegitarren-Stücken sich einfindenden Glockenklänge, die bibelnahen Worte, die in der Cantina auf einer Tafel neben dem Kühlschrank zu lesen sind (»The Dust has come to stay. You may stay or pass onthrough ... «) oder diese Kreuzessymbolik in Gestalt des kruzifixförmigen Äskulapzeichens und auch der Telegraphenmasten bei Fort Stockton, an denen entlang Travis läuft und wo Bruder Walt den Weg des Entlaufenen mit seinem Auto in kalkulierter Choreographie kreuzt. Travis’ Vorgeschichte also, diese rasende Eifersucht eines Trinkers mit Attacken gegen Frau und Kind, ist als solche kein odysseisches Motiv, und eigentlich ist es auch nicht die Nachgeschichte mit dem Ziel einer Zusammenführung von Mutter und Kind. Kathe Geist hat dieses Herausziehen Hunters aus der Pflegefamilie des Bruders und seine Übergabe an eine Mutter, die für die Erziehung des Sohnes kaum qualifiziert sei, als Konfliktlösung nicht überzeugt und sieht als Beweggrund dafür das übersteigerte katholische Erlösungsbedürfnis, das Travis umtreibe. Schon die Eröffnungsszene in der Wüste interpretiert sie als christliche Hölle6 für ihn und findet in seiner Eifersucht eine der sieben Todsünden wieder, die er in der Peepshow seiner verlassenen Frau Jane, einer Madonnafigur, zu beichten habe. Danach könne er halbwegs geläutert wieder davongehen: »In the last shot, Travis drives off, condemned to a kind of purgatory, but redeemed from hell. He could become a saint.«7 Die Analogie mit der Beichte läßt sich noch weiter führen, besteht sie doch nicht bloß in dem obligatorischen Schuldbekenntnis von Travis und seiner freiwillig übernommenen Buße, vielmehr ist diese seelische Peepshow auch in der technischen Ausführung der Beichtstuhl-Situation insofern angenähert, als ihn der Einwegspiegel wie bei einer Ohrenbeichte anonymisiert und Jane das Beichtgeheimnis in ihrer anfänglichen Versicherung ausspricht: »Sie können es mir ruhig sagen. Ich werde es nicht weitererzählen« – wobei sich auch die psychoanalytische Variante in ihrer Aufmunterung wiederfindet: »Entspannen Sie sich und erzählen Sie mir einfach, was Ihnen so durch den Kopf geht« (1:39:00 und 1:43:43). Die Schlußszene des Films, wenn Travis nach der Zusammenführung von Mutter und Kind wieder allein davonfährt, deutet für andere Interpreten eher auf eine Nachfolgefigur in der mythischen Tradition hin, sei es des »Ewigen Wanderers« oder der »Lone-cowboy«-Gestalt des We6
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Die Wortwahl der englischen Version des Films legt eine Rückkehr aus der Hölle stärker nahe als die deutsche. Ähnlich wie der erste Satz des Tankwarts bei »Devil’s Graveyard« lautet der seines Bruders Walt am Telephon: »Where the hell is that?« (»Wo zum Teufel ist das denn?« 06:52). Beim ersten Zusammentreffen fragt er ihn: »What the hell happened to you anyway?« (»Du siehst ja aus, als kämst du geradeswegs aus der Hölle« 12:46) Und bemerkt später über die Terlingua-Klinik: »You sure picked a helluva spot to land in« (»Ein verdammt komischer Platz ... für deine Landung« 14:03). Geist, Kathe: ›The Cinema of Wim Wenders‹ (Ann Arbor 1988), S. 121.
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stern oder eben auch, Wenders unbestimmtem Hinweis auf die ›Odyssee‹ gemäß, auf Odysseus. Die Hinweise auf die ›Odyssee‹ blieben jedoch durchweg unverbindlich und wurden nicht weiter vertieft, so wenn Stephen J. Bottoms von der »pikaresken Odyssee« von Travis spricht und Michel Boujut ihn als einen »amnestischen und stummen Odysseus« bezeichnet.8 Es fällt ja auch wirklich nicht leicht, diesen seelisch so tief Verstörten, der über längere Zeit hin auf die Hilfsbedürftigkeit eines Kleinkindes reduziert ist, als den verschlagenen, mit allen Wassern gewaschenen Odysseus gelten zu lassen, der als solcher weit eher in Wenders’ späterem Gewaltfilm-Produzenten Mike Max zu erkennen ist. Travis hingegen muß erst einmal zu Sprache, Willensbildung und elementarstem Knowhow zurückfinden, um selber dann die Rolle des Helfers übernehmen zu können. Was könnte man gleichwohl noch zugunsten der von Wenders angesprochenen Nähe zur ›Odyssee‹ ins Feld führen? Wie Odysseus war Travis zwischenzeitlich aus der Welt verschwunden und taucht wie dieser, der damals aus dem Grenzbereich der Unterwelt zurückkehrte, bei »Devil’s Graveyard« wieder aus der Chihuahuawüste auf, bei diesem Arzt, dessen Schild mit der Doppelschlange eher als dem Äskulapzeichen dem geflügelten Caduceus des in die Unterwelt und gelegentlich aus ihr wieder zurückgeleitenden Seelenführes Hermes gleicht.9 Seine mexikanischen Jahre ir08:45 gendwo jenseits dieser Grenze kommentiert Travis bis zuletzt mit keinem Wort, und Wenders inszeniert dieses Wiederheraustreten aus der Wüste sogar als magisch-zeitlosen Anschluß an die letzte und gewalttätigste Station der ehelichen Vorgeschichte, wenn Travis in seiner Beichte vor Jane die traumatisierende Brandszene mit den Worten beschreibt: »Und zum ersten Mal wünschte er sich weit fort. Allein in einem wüsten Land, wo niemand ihn kannte. Irgendwo, wo es weder Sprache noch Straßen gab ... Und als er aufwachte, da brannte er ... Seine Arme brannten, und er stürzte sich hinaus und wälzte sich auf der nassen Erde. Und dann rannte er ... bis auch jeder Rest von Leben aus ihm entwichen war.« 8
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Bottoms, Stephens J.: ›The Theatre of Sam Shepard. States of Crisis‹ (Cambridge 1988), S. 228 (»Travis’... picaresque odyssey«). – Boujut, Michel: ›Wim Wenders. Un voyage dans ses films‹ (Paris 1986), S. 145 (»le héros est un Ulysse amnésique et muet«). Die gelegentliche Unschärfe der Bildmotive erklärt sich wie hier meist daher, daß die (schwenkende) Kamera nicht genau auf das von mir herausgestellte Detail fokussierte und ich es zudem stark vergrößert habe. Überhaupt habe ich die Standbilder bzw. Bildausschnitte durchweg selber ausgewählt.
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CHRISTLICHES HÖLLENSZENARIO UND BUSSGANG VON TRAVIS? 2:02:30–2:04:06) So erscheint er also zu Filmbeginn nach Jahren wieder in
dem hochironisch konnotierten Grenzort TERLINGUA10, selber ohne Sprache und als lebender Leichnam, auf mechanisch-zielloser Flucht. An jene traumatische Szene im Wohnwagen kann sich Travis erst zuallerletzt wieder erinnern, Schritt für Schritt hat er dazu aus seiner tiefen Amnesie zurückfinden müssen. Eine Amnesie, die wiederum ein weiteres odysseisches Leitmotiv ins Gedächtnis ruft, das Vergessen der Heimat als der größten aller Gefahren für den Helden und seine Gefährten, als Treulosigkeit gegenüber dem Schicksal derer, die sie einst zu Hause zurückließen.11 Als paradoxes Argument für eine Metamorphose der ›Odyssee‹ könnte man schließlich noch anführen, daß Travis dem neuen Wendersschen Odysseus Mike Max darin gleicht, daß er wie dieser nicht mehr zu seinem Ithaka zurückfindet und nicht mehr bei seiner Penelope (Paige/Jane) bleibt. Das einst in Paris, Texas erworbene Grundstück, von dem er das Photo als Memento seiner Familiengeschichte mit sich führte, läßt Travis jedenfalls – bis auf weiteres zumindest – unbebaut. So darf man nach alledem wohl behaupten, daß ›Paris, Texas‹ Motive der ›Odyssee‹ mit anderen der christlichen Religiosität verknüpft. Letztere herrscht zumindest zu Beginn des Films vor, hält doch Wenders hier seinen Helden in tragikomischer Balance zwischen hoher Passionsfigur (Leidensmann) und abgerissenem armen Teufel, der Merkmale eines Tierdämonen hat. Kurios und mehrdeutig wie die Felsklippen-Flügel des (gefallenen) Engels in Travis’ Rücken sind seine ruinierten mexikanischen Sandalen. Im biblischen Kontext mag man bei dem wie umwickelten Schuhwerk an jemanden wie den in Leinenbinden gewickelten Lazarus denken, der ebenfalls aus der Unterwelt zurückkehrte. In seiner Textur ähnelt das Schuhwerk, aus dem einige Zehen krallenartig herausragen, horngeschuppten Vogelfüßen oder auch, mit diesen Riemchen, dem Geschüh eines Jagdfalken. Eine unterschwellige Verbindung mit jenem 10 Eine korrumpierte Bildung aus spanisch »Tres linguas«, die sich auf die drei dort gesprochenen Sprachen (Indianisch, Spanisch und Englisch) oder auf die drei Indianersprachen dieser Region (der Apatschen, Komantschen und Shawnees) oder auch auf eine Creek-Gabelung beziehen soll. 11 Im Proömium der ›Odyssee‹ führt seine Beschützerin Athene Odysseus’ Sehnsucht nach Ithaka an, die sich allen Bemühungen der Kalypso widersetze, »daß er des Vaterlandes vergesse« (v. 57). Im 9. Gesang muß Odysseus einige seiner Gefährten, die bei den Lotusessern die Heimat vergaßen, mit Gewalt wieder an Bord holen. Ihn selbst feit nur Hermes’ Kraut Moly gegen das Schicksal seiner in Schweine verwandelten Gefährten, denen Kirke ihren Zaubertrank gab, »damit sie der Heimat gänzlich vergäßen« (10.236). Dies freilich widerfährt ihm dann aber in abgeschwächter Form selber, müssen ihn doch die Gefährten nach einem Jahr bei Kirke wieder energisch an die Heimfahrt erinnern.
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braungelben Raubvogel, für die noch eine spätere Szene in der anderen, der kalifornischen Mojave-Wüste spricht. Nach seinen beiden Fluchtversuchen nämlich ist Travis hier mit Walts Auto auf einem Autofriedhof gestrandet. Bei Walts Erwachen sitzt er dort auf einem gelben Pick-Up-Wrack da, das mit dem aufgesperrten »Schnabel« der Motorhaube vor einem gekrümmten Auspuffsrohr dasteht wie in manchen (Indianer-)Mythen der Raubvogel vor der Schlange. Oben: 16:18 Unten: 32:34
Falke un d Pfeil in Texa s und in der ›Ody ssee‹ Amerikanische Filmkritiker haben für den Falken der ersten Einstellungen bei »Devil’s Graveyard« auf ein Lieblingsmotiv des Drehbuchautors Sam Shepard aufmerksam gemacht, mit dem zusammen – am selben Schreibtisch – Wenders das Script von ›Paris, Texas‹ erarbeitete. Es ist dies der im Kalendarium der (Hopi-)Indianer zeremoniell begangene »Hawk Moon«, nach dem Shepard auch eins seiner Bücher benannt hat. Der lyrische Eröffnungstext dieses Buchs lautet: »Habichtsmondmonat Novembermonat mein Geburtsmonat der Kälte wenn die Geheimnisse zu flüstern beginnen auf der Mesa dem hohen alten heiligen Land der Hopi ... erste Zeichen der Leere Unfruchtbarkeit Notwendigkeit des Gebets der erste Tanz der Schlange-im-Mund-Tanz Geistertanz Schlangenmaul bemalte Hand ... «
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12 Shepard, Sam: ›Habichtsmond. Prosa und Gedichte‹ (Frankfurt/M. 1987), S. 11. (Im Original: »Hawk Moon month November my birthday month month of
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FALKE UND PFEIL IN TEXAS UND IN DER ›ODYSSEE‹
Den Tanz zelebrieren die Priester der Hopi noch heute mit lebenden (Klapper-)Schlangen im Mund, die zuletzt wieder freigelassen werden, um als Boten in der Unterwelt regenbringende Gewitter zu erbitten. An eine solche oder ähnliche totemistische Identifikation des Mannes mit dem Falken dürften, komisch verkleidet, Travis’ Schuhwerk und wohl auch dieses zweite Wüstenbild mit dem Pick-Up appellieren, während die ersten Wüstenbilder ihn sowohl als den Gejagten bezeichnen, der von dem Raubvogel ins Auge gefaßt wird, als auch als den selber mit Flügeln Ausgezeichneten. Eine Ambivalenz, die den Falken als Seelensymbol erscheinen läßt, für Travis’ Vergangenheit als Täter und als Opfer seines quälenden Gewissens. Wie Wenders den in und um Texas und Mexiko lokalisierten Indianermythos für die Individualseele seines Helden umwandelt, bleibt noch derart bildhaft-anschaulich, daß einem dabei im Horizont des neuen Odysseus Travis sofort auch klassische mythologische Vorstellungsbilder in den Sinn kommen können, etwa das der geflügelten Furie, die als Rachegottheit der Unterwelt entsteigt, um den Übeltäter bis zum Wahnsinn durch das Land zu treiben. Oder auch, besonders hinsichtlich der Ambivalenz von Raubvogel und Gejagtem, der Falke des Licht- und Sühnegottes Apollon. Denn dieser Falke ist schon in der ›Odyssee‹ ein doppeldeutiges und für den Helden hochbedeutsames Symbol, erscheint als der Bote des Gottes und steht zugleich für Odysseus selber: Über seinem Sohn Telemach, der sich soeben über Ithakas Thronfolge besorgt zeigt, findet sich »ein Falke, der schnelle Bote des Apollon«, mit einer Taube in den Fängen ein und streut deren Federn hinunter.13 Der danebenstehende Seher bezieht dies Zeichen auf der Stelle und später14 vor Penelope auf die bald von Odysseus geschlagenen Freier. An den Bogenschützen Apollon läßt ein weiteres kryptisches Motiv aus ›Paris, Texas‹ denken, der (Sonnen-)Pfeil, der für Odysseus ebenfalls von hoher Bedeutung ist. Hat doch auf Ithaka der als Bettler verkleidete Heimkehrer an Apollons Festtag die Bogenspann- und Pfeilschußprobe zu bestehen und kann so jenes todbringende Falken-Omen einlösen. Nimmt man Wenders’ Hinweise auf die ›Odyssee‹ ernst, wird diese komplexe Vogel-, Flug- und Pfeilmetaphorik im Laufe des Films immer deutlicher als dessen Hauptleitmotiv kenntlich. Eines, das anfangs unverhohlen als Bedrohung inszeniert wird, allmählich zu einer distanzierten Akzeptanz durch Travis hinleitet und zuletzt, über Hunters Begeisterung für Flugzeuge und Raketen, auf eine Erneuerung des alten Aufbruchs- und cold set in month when secrets start whisper on the high mesa high old ancient sacred land of Hopi …«) 13 Od. 15.526; zitiert nach der Prosa-Übersetzung von Wolfgang Schadewaldt (Hamburg 1998). 14 Od. 17.160
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Forschergeistes der Pionierzeit hinausführt. Noch aber zögert Travis, als wäre er weiterhin durch magische Bande an die Unterwelt gefesselt, dem Bruder aus dem Oldsmobile ins Flugzeug zu folgen oder, wie er sich ausdrückt, »den Boden zu verlassen«. In Panik stürzt er unmittelbar danach aus der schon auf die Startbahn zugerollten MUSEAIR-Maschine.
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Wenn Travis dann seinen Sohn unbedingt wiedergewinnen will, beginnt er bald die vorbeifliegenden Maschinen zu beobachten, aber aus der Ferne durch einen Feldstecher. Ein Flugzeug bekommt auch der Zuschauer durch eine Fernglas-Maske zu sehen. Es ist nur ein Schatten, der es jedoch in sich hat, saust er doch, obgleich von Flugzeuggeräuschen im Off
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begleitet, einem schlanken gefiederten Pfeil gleich über den Boden dahin und bleibt streckenweise wie vom Erdboden verschluckt – als wäre dies immer noch ein Phantom aus jener Falken- und Indianerregion der Wüste! Und als sollte dieser Flugzeug- oder Bogenpfeil den Verfolgungswahn von Travis bezeichnen. Daß man Wenders’ Fingerzeig, sein Held sei ein moderner Odysseus, bislang nicht weiter nachging, liegt gewiß auch daran, daß die hierfür entscheidenden Motivzeichen des Films, der (Sonnen-)Pfeil von Apollon 24
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und der ihm heilige Falke, zu den weniger bekannten der ›Odyssee‹ gehören. Dabei bezeichnet der Falke auch eine genealogische Beziehung zwischen dem oft mit Apollon gleichgesetzten Sonnengott Helios und Odysseus, nämlich über die auf Aiaia lebende Heliostochter Kirke (= »Falke, Habicht«), die Odysseus den Telegonos gebiert und zuletzt Telemachos’ Gemahlin werden soll. Persönlich verpflichtet ist Odysseus dem Gott außerdem durch Pfeil und Bogen, das Attribut des »Silberbogners Apollon«. Odysseus bezeichnet sich einmal als den zweitbesten Bogenschützen der Achaier, hütet sich dabei jedoch vor dem geringsten Anschein von Hybris und versichert sofort, sich nie mit einem so berühmten Bogenschützen wie Apollons Enkel Eurytos vergleichen zu wollen, der den Gott einst herausforderte und daraufhin von dessen Pfeil niedergestreckt wurde (8.228). Wenn nun Penelope am Tag des Apollon die Bogenprobe ansetzt, dann mit dieser einst von Eurytos durch Tausch an Odysseus übergegangenen »Wunderwaffe«15, die der Held nicht nach Troja mitnahm und dank deren er endlich – nach Anrufung des Gottes – seine blutige Wiedereinsetzung als Herrscher und Ehemann erreicht. So finden sich Falke und (Sonnen-)Pfeil, die beide für Odysseus’ Verhältnis zu Apollon bezeichnend sind, in neuer Gestalt im Film wieder ein, zusammengeführt durch den Themenkomplex von schwerer persönlicher Schuld, des Leidens daran und einer möglichen Entsühnung. Diese wird nun im zweiten Teil von ›Paris, Texas‹ zum beherrschenden Thema.
Zeitreise mit Hunter oder Ethi sc he Apollo-Missi on Ein letztes Mal noch wird die Wüste als Geister- und Totenreich von dem irren Prediger auf der Highway-Brücke beschworen, der allen in diesem San-Fernando-Tal bis über die Mojavewüste und Arizona hinaus den »Blindflug ins Nichts« prophezeit, ins »Land ohne Wiederkehr«. Am nächsten Tag dann, unter einem Highway-Knotenpunkt im San-Fernando-Tal, den Wenders 15 Jahre später als die schlangenähnliche Skylla im ›Ende der Gewalt‹ definieren wird (vgl. S. 122f.), treffen Travis und Hunter ihre Entscheidung, loszufahren und Jane zu suchen. Ein erstes Signal für den gemeinsamen Aufbruch war schon Hunters Frage am Steuer des roten VWs, wann man denn endlich auch mit Raumschiffen so einfach wie mit Autos fahren könne. Wenn er nun beim Frühstück unter dem Interchange-Knoten von Travis’ geplanter Fahrt nach HOUSTON hört, fragt er gleich nach dem dortigen NASA-Raumfahrtzentrum 15 So Uvo Hölscher in: ›Die Odyssee. Epos zwischen Märchen und Roman‹ (München 22000), S. 69; vgl. ebendort zu der Überlieferung, wonach der Bogen ein Geschenk Apollons selbst war.
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und möchte mitkommen. Travis, sichtlich überrascht, erinnert ihn noch an Anne und Walt, Hunter zögert, doch bekräftigt er nach einigem Nachdenken seine Entscheidung. Offenbar eigens für diese Mission legt sich Hunter noch eine wie Travis’ »Ranchero« silberfarbene Jacke zu, die mit Flugschwingen und NASA-Logos insbesondere vom Space-Shuttle dekoriert ist (darunter ein Logo mit dem Adleremblem der »Columbia«-Mission ST-S2 von 1981). Mit den Walkie-Talkies, die Hunter zum Aufspüren der Mutter in Houston einsetzt, scheint er auch den Sprechfunk zwischen den Astronauten und dem Kontrollzentrum in Houston nachspielen zu wollen. Für die Handlung nach der Abfahrt von Travis und Hunter lag noch kein festes Szenario vor, als Sam Shepard, der bis dahin am Drehort immer weiter an den Dialogen geschrieben hatte, wegen einer Rollenverpflichtung (als Farmer in ›Country‹) abreisen mußte. Wenders unterbrach die Dreharbeiten für zwei Wochen und erarbeitete unter Mithilfe von Kit Carson, dem Vater von Hunter, die Struktur der zweiten Filmhälfte. Das 20seitige Layout sandte er Shepard zu, der Abend für Abend die Szenen des folgenden Drehtages durchs Telephon diktierte.16 Energischer als zuvor hat Wenders die Anfahrt und Suche der beiden auch als eine Zeitreise eingerichtet, hat zum einen die landesgeschichtliche Dimension stärker akzentuiert und zum anderen eine kosmisch-mythologische Zeitdimension eingeführt, die Hunter eröffnet, wenn er den zeremoniellen Auftakt der ›Star-Wars-‹Filme (»A long time ago in a galaxy far, far away«) metaphorisch für die Liebe des Vaters zu der Frau zitiert, die nicht mehr dieselbe sei, sondern nur noch die in dem Super-8-Film Festgehaltene (55:34-39). Gleich in der ersten Reiseszene, noch wenn der Pickup mit den beiden von dem Kamerawagen auf dem Highway verfolgt wird, erzählt Hunter im Off die Entwicklung vom Urknall bis zur Zeit der Erdentstehung In der nächsten Szene halten beide für Hunters R-Gespräch mit Anne und Walt an einer Tankstelle (in Cabazon, Kalifornien), wo als Blickfang Modelle zweier Dinosaurier ausgestellt sind. Nach der Übernachtung und einer Überblendung vom Western-Reklameschild eines »Plainsman Motels« her sitzt Hunter in seiner Astronautenjacke hinten auf Travis’ »Ranchero« und erzählt ihm während der Weiterfahrt über sein Walkie-Talkie von der Zeitreise eines mit Lichtgeschwindigkeit reisenden Mannes, der sein »abgesetztes« Baby nach einer Reisestunde als einen alten Mann wiederfände. Travis weicht dem leisen Vorwurf darin aus und will lieber wissen, wie lange man wohl bei Lichtgeschwindigkeit bis Houston brauche. Drei Sekunden, behauptet Hunter nach kurzer Überlegung und verzieht charmant-verlegen das Gesicht. Während seiner 16 So Wenders auf seiner »Official Site« vom April 2001; URL: http://www.wimwenders.com/news_reel/2002/june02-directors-interview.htm
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nachgesetzten Worte »bei Lichtgeschwindigkeit« wird umgeschnitten auf ein Ballett wirbelnder Pferdebeine, die zur Leuchtreklame eines Motels gehören. Dieses Insert wäre zunächst eine humoristische Umsetzung der soeben beschworenen Beschleunigung, gewissermaßen noch mit den herkömmlichen Mitteln der aus dem Westernfilm bekannten Expreßkutsche, die hier in Deming (New Mexico) – auf der ButterfieldStage-Route von St. Louis nach San Francisco – eine Station hatte. In dem astronautischen Kontext allerdings dürfte sich diese Leuchtrekla-
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me zugleich auf das Logo der Mondmission Apollo 13 (1970) beziehen, einer der aufregendsten Unternehmungen der bemannten Raumfahrt. Sie hätte beinahe zu einer Katastrophe geführt, nachdem in dem Versorgungsmodul für die Kommandokapsel »ODYSSEE« ein Sauerstofftank explodiert war. Der ominöse Name der Kapsel bot selbstverständlich Anlaß zu entsprechenden späteren Glossen.17 In der nächsten Einstellung fahren die beiden schon auf die Skyline von Houston zu und umkreisen gleich darauf die von Ming Pei erbaute 17 Das Logo dieser gescheiterten Mission, die als eine der größten Rettungsaktionen überhaupt in Erinnerung bleiben dürfte, wurde schon vorher entworfen und zeigt die dahinrasenden Pferde aus dem Gespann des Sonnengottes Phöbos Apollon. Die Inschrift darunter (»Ex luna, scientia«) galt dem Licht der Erkenntnis, das diese Mondmission bringen sollte. Ein viertes Roß, das üblicherweise noch zu dem Sonnenwagen-Gespann gehört, hatte der Maler Lumen Winter in seinem Entwurf, einem Wandgemälde, noch ausgeführt, mußte es aber aus Platzgründen weglassen. Was denn hinterher wiederum spöttisch auf den vorgesehenen vierten Astronauten bezogen wurde, der wegen einer Erkrankung an Röteln ausgefallen war. Dazu und zu dem Wandgemälde vgl. im Internet unter URL: http://genedorr.com/patches/Apollo/p13. html Es war übrigens Homer, der »das Gespann des Helios mit feurigen Rossen« als mythologisches Bild einführte; vgl. ›Der Kleine Pauly. Lexikon der Antike in fünf Bänden‹ (München 1979) s v Helios. Die Verschmelzung von Helios und Apollon ist erst seit dem 6. Jh.v.Chr. nachweisbar.
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Drive-In-Bank. Den Augenblick der Wiedererkennung, wenn Jane endlich dort ins Bild kommt und von Hunter identifiziert wird, hat Wenders nach Art einer klassischen Epiphanie inszeniert, im Zeichen unseres apollinischen Zentralgestirns. Vorbereitend hierfür wie schon für den Flugzeugpfeil in Los Angeles sind Travis’ Blickbahnen mit dem Fernglas, indem er jetzt von einem der Hochhäuser aus die Blicke auch des Zuschauers an einem roten Baukran emporwandern läßt und bis zu dessen Ausleger mit den Gegengewichten weiterführt: Ein Sternenbanner weht dort oben, auf dem die Kamera verharrt, um dann bei abgesenktem Ton abzublenden. Nach dieser Abblende, die einen Zeitsprung beinhaltet, fährt die Kamera nah auf den eingeschlafenen Hunter, bis Helikoptergeknatter ihn für die eigentliche Wiedererkennungsszene weckt, die zu einer Synästhesie aus Fluggeräusch, blendender Lichterscheinung und
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Musik wird: Hunters Blick nach oben folgend, zeigt die Kamera sekundenlang den Helikopter, wie er hoch über dem beflaggten Baukran und entlang der Spitze eines – ebenfalls von Pei erbauten – Wolkenkratzers der hochstehenden Sonne wie entgegenfliegt. Ihr Bild ist zu pfeilförmigen Lichtstrahlen gebrochen und von einem künstlichen, wohl durch Linsenfilter erzeugten doppelten Halo umgeben – ein Nebenhof legt sich sogar noch schwach um das Sternenbanner auf dem Kranausleger. Und in demselben Augenblick, als sich über die Gitarrenakkorde Ry Cooders ein schrill verzerrtes Glissando legt, saust die Kamera in einem Reißschwenk pfeilschnell hinunter auf den roten, soeben mit quietschender Bremse haltenden Chevy mit der blonden Frau am Steuer. Unter Kopfhörern, fahrig den Außenspiegel justierend, wartet sie schon auf das Freiwerden der Ausfahrt.
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So kurz diese Szene ist, so sorgfältig wurde sie doch als hoher Moment, ja als glücklich von Hunter beim Schopf gepackter Kairos vorbereitet, nicht erst seit der Anspielung auf das Pferdegespann des Sonnengottes Apollon. Denn folgt man Wenders’ Hinweis auf Travis als einen neuen Odysseus, hat man spätestens jetzt ernstlich an Phöbos Apollon zu denken, der als Todesgott durch seine Pfeile straft, aber zugleich Sühneund Heilgott ist. Dieser Lesart zufolge wäre Travis schon in der Wüste Apollons Sonnenpfeilen ausgesetzt gewesen, wäre weiterhin in Gestalt des mysteriösen Flugzeugpfeils verfolgt und zuvor in dem Flugzeug in Panik versetzt worden – in einem Muse-Air-Flugzeug des Musenführers Apollon Musagetes. Der ja auch die Kithara, sprich: Gitarre erfand, mit der Ry Cooder diesen Film von der ersten bis zur letzten Szene begleitet, um nur in dem hohen Moment dieser Epiphanie bei Janes Erscheinen selber durch einen Astralsound überspielt zu werden. Fand sich einst über Odysseus’ Sohn Telemach der Falke Apollons als glückverheißendes Zeichen ein, so ist es jetzt die über Travis’ Sohn stehende gleißende Mittagssonne mit dem knatternden Helikopter, dank deren er diesen Kairos wahrzunehmen vermag. Nach einigen prüfenden Blicken hat Hunter dann die Mutter identifiziert, läßt geistesgegenwärtig den verdatterten Travis die Verfolgung aufnehmen und vermag ihrem Chevy intuitiv auf der Spur zu bleiben. Und wo endet die Verfolgungsfahrt der beiden? In einem Hinterhof vor einem Gebäude, auf dessen Wand jemand eine riesige Freiheitsstatue
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gemalt hat – die neuzeitliche Version der kolossalen Helios-Statue von Rhodos, nach deren Vorbild F.-A. Bartholdi bekanntlich seine »Liberty«
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konzipierte.18 Durch eine Tür an der Flanke der Statue tritt Travis in das Gebäude, das zum Schauplatz seiner Selbstbezichtigung und apollinischen Entsühnung werden soll. Auf Anhieb allerdings ist er dazu nicht in der Lage. Noch kann er diese blicklose Frauenstatue nur in dem Kontext der Prostitution wahrnehmen, die er in der Einrichtung dieser Peepshow vermutet. In einem letzten Auflodern seiner Eifersucht erkundigt er sich höhnisch nach den entsprechenden Nebenverdiensten von Jane, entschuldigt sich zwar dafür, stiehlt sich aber gleich danach aus ihrer »Hotel«-Kabine. Erst im zweiten AnDer Koloß von Rhodos Kupferstich von lauf, nach der sturztrunkeJ. B. Fischer von Erlach (1721) nen Übernachtung auf der Couch eines Waschsalons, auf der er seinem Sohn von der unglücklichen Ehe der eigenen Eltern beichtet, kann sich Travis endlich Jane stellen und auch die letzte »Erinnerungslücke« (für die Brandnacht) seiner so extremen und langen Anamnese schließen. Und erfüllt im Horizont eines Odysseus erst jetzt die Voraussetzung für eine Entsühnung, die Selbsterkenntnis nämlich, die als Aufforderung in der Vorhalle des Apollon-Tempels zu Delphi eingemeißelt war (»gnothi seauton«).19 Die strahlende Jane ist nicht nur priesterliches Medium dieser apollinischen Entsühnung, sondern wird darin mit einbezogen. Ehe man das Wandgemälde der Freiheitsstatue zu Gesicht bekommt, inspizieren Tra18 Auf diese Herkunft bezog sich schon Emma Lazarus in ihrem Widmungsgedicht ›The New Colossus‹, das Wenders im ›Amerikanischen Freund‹ leicht verfremdet zitiert (vgl. S. 231). Das Gesicht dieses Wandgemäldes in Port Arthur hat wenig von der Herbheit von Bartholdis Original, eher gleicht es dem von Brigitte Bardot. Vielleicht soll sie es gar selber sein, was ja nicht bloß eine zünftige Auffrischung der einst von Frankreich den Vereinigten Staaten geschenkten Freiheitsstatue wäre (Brigitte Bardot war eine Zeitlang Frankreichs »Marianne«), sondern überdies trefflich zu der im Filmtitel ›Paris, Texas‹ angesprochenen französisch-amerikanischen Liaison passen würde. 19 Über den ethischen Kern dieser Selbsterkenntnis handelt Wolfgang Schadewaldt in seinem Essay ›Winckelmann und Rilke. Zwei Beschreibungen des Apollon‹ (Pfullingen 1968). Vgl. darin S. 25-28 zu Rilkes Gedicht ›Archaischer Torso Apollos‹, dessen Schlußsatz Wenders im ›Ende der Gewalt‹ seinen soeben bekehrten Odysseus Mike Max dem gewaltverherrlichenden »Freier« Six ausrichten läßt: »Du mußt dein Leben ändern.«
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vis und Hunter den im Hinterhof abgestellten roten Chevy. Ja, das sei das Auto einer Frau, meint Hunter, während der Zuschauer darin Dinge wie eine Perücke, einen Stöckelschuh und eine Rose ausmachen kann. Und ein Buch, dessen Titel durch den darauffallenden Schatten Hunters – gerade noch vor dem Umschnitt auf die Statue – kenntlicher wird, William Faulkners ›Light in August‹ (1932). Daß Jane diesen von Wenders
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Umschlagbild von Guy Fleming
sehr geschätzten20 Roman mit sich führt, deutet zunächst auf ihre etwaigen mütterlichen Skrupel und damit auch schon auf ihre Bereitschaft hin, Hunter neu anzunehmen. Denn die Heldin dieses Buches ist die junge hochschwangere Lena Grove, die sich im August auf die zähe, wochenlang auf wechselnden und doch immergleichen Mauleselkarren durchgehaltene Suche nach dem Vater ihres künftigen Kindes gemacht hat. Gleich Wenders zeigt Faulkner diese odysseische Suche auf den ersten Seiten seines Buches im Zeichen des apollinischen Lichtes, indem er Lena wie auf einer Sonnenbahn dahinfahren läßt.21
20 So Wenders in seinem Kommentar-Track der Anchor-Bay-DVD (1:30:15-38). 21 Faulkners Überhöhung der Anfahrt Lenas spielt auf Apollon und auf Nietzsches Gedanken zur Ewigen Wiederkehr des Gleichen an (»ewig rollt das Rad des Seins«); vgl. Pitavy, François: ›Faulkner’s Light in August‹ (London 1973): »Faulkner clearly saw her as the August light, which pervades the whole work and gives it its title.« Und er zitiert dort (S. 79) Faulkners erläuternde Worte zu dem Buchtitel, zu dieser in Mississippi zu beobachtenden »luminous quality of the light, as though it came ... from back in the old classic times. It might have fauns and satyrs and the gods and – from Greece, from Olympus in it somewhere. It lasts for a day or two, then it’s gone ... a luminosity older than our Christian civilization.« Der Illustrator von Pitavys Buchs, Guy Fleming, hat Lena (»Helena«) Grove denn auch mit einem der Helios- oder Freiheitsstatue angenäherten Strahlenkranz versehen. Zu Lenas Zeitenthobenheit vgl. ferner Joan S. Korenman: ›Faulkner’s Grecian Urn‹. In: ›William Faulkner’s Light in August‹, hg. v. François L. Pitavy (New York 1982), S. 123-33.
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Überlagerung mythologi scher, zeitpolitischer und literari scher Moti vschichten . Wenders’ Bega bung für den »glücklichen Fund« Daß man für ›Paris, Texas‹ wie für andere Filme von Wenders bislang die kryptisch-mythologische Erzählweise durchweg verkannt hat, liegt nicht zuletzt an der außerordentlichen Vielschichtigkeit seiner Filme. Seine Figuren, Motive und Themen erhalten hierdurch ein derart reiches Anspielungspotential, daß man sich dabei in alle möglichen geistigen, ikonographischen und (kultur-)geschichtlichen Himmelsrichtungen und Traditionen verlaufen kann. Hier, in ›Paris, Texas‹, überlagern sich also von den ersten Einstellungen an Indianermythen, christliche Schuld- und Sühnethematik mit Motiven der heidnischen Antike, wobei wiederum bestimmte religionsgeschichtliche Konstanten oder Verwobenheiten, vor allem beim Apollon-Helios-Christus-Komplex, dazu führen können, daß die eine Lesart wie die andere zumindest über weite Strecken hin plausibel bleibt. Wie sich so von einer »Hölle« und »Erlösung von der Sünde« sprechen läßt, so auch von einer »Unterwelt« und »Entsühnung«; und wie die Drehorte teilweise zweideutige Namen tragen wie »Camellot« und »Port Arthur« und dann wiederum »Marathon« und »Paris«, so haben die Frauen in der Peep-Show etwas von klösterlichen22 Beichtschwestern oder auch von Sühnepriesterinnen. Schon die Anfangsszenen bieten eine Reihe von Anknüpfungsmöglichkeiten an. Wie Travis nach seinem Zusammenbruch bei dem deutschen Arzt in Terlingua daliegt und die Kamera weiter auf ihn zufährt, um zuletzt nah auf seinem regungslos gewordenen Gesicht zu verharren, läßt an den aufgebahrten politischen Märtyrer Che Guevara denken.23 Dieses zeitpolitische Motiv des Jahres 1967 wird in der Filmhandlung nicht weiter verfolgt, deutet aber dennoch in der jetzigen geographischen Berührung weit über die individuelle Leidensgeschichte von Travis hinaus. Ist doch der Filmheld soeben wie ein illegaler Flüchtling von 22 Wenders in seiner Erläuterung des Films auf der französischen DVD-Ausgabe (bei Argos Films): »C’est ... un peu comme un couvent« (16:48). 23 Und unversehens, man glaubt es kaum, hat sich bei Travis eine Fliege genau dort eingefunden, als wäre sie durch ein Loch in seinem Hemd geschlüpft, wo Guevaras rechter Unterarm bei seinem letzten Gefecht durchschossen wurde – sein auffälligstes Wundmal oder Passionszeichen, so wie es die offiziellen Photos seiner bolivianisch-amerikanischen Mörder überliefert haben. Wenders hat diesem Tierchen schon einmal Beachtung geschenkt. In seiner Besprechung von Truffauts ›La Sirène du Mississippi‹ (›Die falsche Braut‹) freute er sich darüber, daß eine »dicke Fliege« just in dem Moment über Marions Schminktisch läuft, als diese Heiratsbetrügerin ihre ziemlich melodramatische Lebensbeichte ablegt. – Wiederabdruck in: W.W.: ›Emotion Pictures‹ (Frankfurt/M. 21988), S. 58.
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ÜBERLAGERUNG VON MOTIVSCHICHTEN. BEGABUNG FÜR DEN ›GLÜCKLICHEN FUND‹
Mittelamerika her über die Grenze des Rio Grande gekommen, aus dieser Todeszone der Wüste.
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Überhaupt sucht Wenders seine Drehorte möglichst auch von ihrer Geographie und Geschichte her zu erfassen und reiste so auf der Motivsuche für ›Paris, Texas‹ erst einmal monatelang allein mit seiner Leica und Makina »im Zickzack durch Texas ... ich fuhr überall hin, in jeden Winkel.«24 Eine filmische Einstellung zur Realität, die gleichermaßen den Entdecker wie den Bewahrer zu erkennen gibt. »In einer anderen Zeit ... wäre ich Maler, Archäologe oder Reiseschriftsteller geworden ... In meinen Geschichten geht es mehr um das Finden als das Erfinden der Welt«, schreibt Wenders einmal.25 Was nun freilich keineswegs ausschließt, daß er dabei von Zeit zu Zeit genau das findet, was ihn bei der Planung und geistigen Vorbereitung des Projekts besonders beschäftigt. Funde, die dann von Zufallstreffern kaum mehr auseinanderzuhalten sind. Hier, für das zentrale Helios-Motiv in ›Paris, Texas‹, denke ich vor allem an die Einrichtung des Motels in Marathon. Die Zimmerwand ist mit den Symbolen des Tierkreises geschmückt, die um ein Fenster mit lichtdurchfluteter himmelblauer Blumengardine gruppiert sind. Der Spiegel im Badezimmer nebenan, vor dem Travis beim eigenen Anblick entsetzt die Augen niederschlägt, ist von stilisierten Sonnenstrahlen eingefaßt. Beides zusammen weist nachgerade auf Travis’ Bedränger Apollon hin, der als Himmelsgott und ordnender Mittelpunkt des Kosmos von alters her als Träger des Tierkreises abgebildet wird. 24 ›Die Logik der Bilder‹ (Frankfurt/M. 21993), S. 129. Ein Ergebnis dieser Reise war ›Written in the West. Photographien aus dem amerikanischen Westen‹ (München 1987). 25 In einem Interview mit dem Hamburger Magazin ›Der Spiegel‹ (Nr. 6/2000, S. 208).
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Diese seine Findekunst26 kam Wenders auch nach Abschluß der Dreharbeiten an ›Paris, Texas‹ zugute, als sich herausstellte, daß Travis’ und Hunters Reise nach Houston zu rasch vonstatten gegangen und daher noch Material einzuOben: 18:32
Unten: 17:49
fügen war. Monate später drehte er deshalb in kleiner Besetzung einige Inserts nach, so die Neonreklame mit der dem Sonnenwagen ähnelnden Expreßkutsche. Auch sie bleibt unverfänglich, denn Reklametafeln sind im (Süd-)Westen der Vereinigten Staaten häufig anzutreffen und »ersetzen in dieser Landschaft sozusagen die Menschen«.27 Zu Wim Wenders’ Begabung für den glücklichen Fund gesellt sich noch die Neigung des bildenden Künstlers, bei den Sets gelegentlich selber mit Hand anzulegen. Hier entwarf er die Einrichtung dieser therapeutischen Peepshow selbst, einen solchen »Themenpark« mit »Poolside«, »Hotel« und »Coffee Shop« gab es bis daSonnenwagen mit Zodiakus (Mosaik, um 250 n.Chr.)
hin nicht. Ja, Betreiber ähnlicher Shows sollen sich aus dem Film einige Anregungen geholt haben, doch sicherlich ohne zu bemerken, daß Wenders für den Kabinengang der Freier eine spezielle mediterrane Atmosphäre schuf, griechisch in der Farbengebung der gelb-blauen, wie von dem sonnengelben Türloch strahlenförmig ausgehenden Streifenmuster und mit diesem Vasenpaar, das da auf Podesten vor blauem Hintergrund 26 Im Kommentartrack der amerikanischen DVD-Ausgabe bemerkt er zu dem Zimmer mit den Zodiakoszeichen, auf denen Travis nach dem Eintreten länger den Blick verweilen läßt: »That’s just the way we found it, with these incredible drawings« (18:20-24). 27 Wenders: ›Written in the West‹, a.a.O., S. 13.
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ÜBERLAGERUNG VON MOTIVSCHICHTEN. BEGABUNG FÜR DEN ›GLÜCKLICHEN FUND‹
steht. Und erinnern nicht die Pflanzen von fern her – man kann es nicht recht erkennen – an den Lorbeerbaum, der Apollon als Sühnegott heilig ist?
1:33:58
In einer weiteren Werkschicht bezieht sich Wim Wenders mehr oder minder explizit auf zeitgenössische Literatur. »Wie immer«, schreibt er, habe »ein Bild« den Anstoß zu dem Filmprojekt gegeben, »ein einziger Satz aus Sam Shepard Buch ›Motel Chronicles‹: das Bild eines Mannes, der vom Freeway abzweigt und geradewegs in die Wüste marschiert.«28 In dem nur eine Seite langen Textstück beschreibt Shepard das Verhalten eines Mannes, der sich wohl seit Monaten schon herumtreibt und nun nach einem Autounfall unter seinen Habseligkeiten nach einem Erinnerungsstück für seine Geliebte sucht. Er findet nichts als Plunder. »Kauert sich nackt in den glühenden Sand. Zündet die ganze Geschichte an. Steht dann auf. Kehrt dem USHighway 608 den Rücken zu. Läuft geradewegs ins offene Land hinaus.«29
In diesem eindrucksvollen szenischen Bild manifestiert sich die Einstellung des Erzählers Shepard selbst, der gelegentlich mit einem solchen Verschwinden – ähnlich wie in ›Paris, Texas‹ – seine Handlung beendet. In der Kurzgeschichte ›Staub‹ etwa scheint es der völlig erschöpfte Reiter darauf anzulegen, sich in den Weiten der Prärie zu verirren: »Er dach28 In einem Interview, das die »Road Movies Filmproduktion« abdrucken ließ (publiziert als »Filmprogramm 117« vom »Dezember 1984«, Stuttgart, ohne Seitenzahlangabe). 29 Zitiert nach: ›Motel-Blues. Das Buch, nach dem »Paris, Texas« entstand‹ (München 1986), S. 102.
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PARIS, TEXAS
te, wenn er nur lang genug so dahinzöge, würde er sich ganz und gar verirren ... so hoffnungslos ... daß er an einen Teil seiner selbst geriete, dem er nie zuvor begegnet war«.30 Und der Rodeoheld des am Rande der Mojavewüste angesiedelten Bühnenstücks ›Fool for Love‹ (1983) verschwindet sogleich nach seiner Aussöhnungsgeste mit der Geliebten auf Nimmerwiedersehn. Überhaupt enthalten Shepards Bühnenstücke »eine Serie von Fluchtbildern, von Verwandlungs-Schlüssen, die manchmal ganz offensichtlich auf das tröstliche Ende im Tode hinweisen«.31 Wenders, der ›Fool for Love‹ Anfang der 90er Jahre inszenierte, hat in ›Don’t Come Knocking‹ (2005) insofern eine Art Metafilm eingerichtet, als hier Shepard selbst in der Rolle eines alternden Rodeoreiters sich mitten in der Show aus dem Staub macht. Diese Einstellung allerdings ist Wenders keineswegs fremd, jeder zweite seiner Spielfilme beginnt mit dem Ausbruch des Helden oder schließt mit seinem Verschwinden. Shepards »Anstoß« zu ›Paris, Texas‹, das Bild des in die Wüste Davonlaufenden, gehört daher eher zu der heuristischen Kategorie des Glücklichen Fundes durch Wenders. Freilich war dieser amerikanische Bühnenautor, Erzähler und Lyriker, Rock‘n’ Roller (Drummer), Schauspieler und Rancher zunächst so etwas wie ein Pfadfinder in der texanischen Seelenlandschaft der ersten halben Stunde. Und hat neben einzelnen Motiven wie dem der väterlichen Erblast und der nur wahnbildhaft wahrgenommenen Ehefrau32 auch einiges von seiner Erzählweise, die immer wieder ins Psychedelische und Apokalyptische kippt, in das Script von ›Paris, Texas‹ hinüberführen können. Wenders scheint die weitere Entwicklung seiner Penelopefigur, die sich wie Paige auf die Seite der Freier schlagen wird, schon in ›Paris, Texas‹ erwogen zu haben. Zumindest eine Zeitlang hat er ein entschieden schrofferes Ende des Films ins Auge gefaßt. Eine der geschnittenen Peepshow-Szenen zeigt nämlich John Lurie, den Rausschmeißer und außerdem wohl auch Zuhälter33 von Jane, wie er sie nach Travis’ Weggang durch sein Mundharmonika-Spiel aufzumuntern sucht und sich dabei rhythmisch hin und her wiegt. Diese Anspielung auf den erfolgreichen »Freier« hätte Janes priesterliche Aura wohl zerstört oder zumindest 30 In Sam Shepards Sammelband ›Quick Stop – Kurzer Halt. Stories‹ (Frankfurt/M. 2003, S. 71. 31 Gerald Weales in seinem Beitrag ›Die Verwandlungen des Sam Shepard‹, in: ›Amerikanische Träume. Die Bilderwelt des Sam Shepard‹, hg. v. Bonnie Marranca (Frankfurt/M. 1987), S. 40f. 32 Vgl. dazu Kathe Geist, a.a.O. (in Fußnote Nr. 7), S. 117-120. Sie macht auch darauf aufmerksam, daß Wenders Shepards Fatalismus nicht teilt und sich durchweg »a capacity for change and a need for other people« freihalte (S. 170). 33 Als »manager or pimp« bezeichnet ihn Wenders in seinem Kommentartrack der bei Anchor Bay erschienenen amerikanischen DVD (1:32:08).
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REZEPTION VON APOLLON UND ODYSSEUS BIS IN DIE GEGENWART
in die Nähe der Tempelprostitution gerückt. Erst im ›Ende der Gewalt‹ inszeniert Wenders diese Lösung entschlossen und macht den wie hier musikalischen Freier (Six) zum Liebhaber der neuen Penelope. Zuvor aber, in seiner großen Odyssee ›Bis ans Ende der Welt‹, inszeniert er eine andere Kontrafaktur der klassischen Vorlage und zeigt eine Penelope, die aus ihrer Rolle springt und sich auch einmal als große Abenteurerin versucht. »Deleted Scenes« 16:47
Rezeption von Apollon und O dysseus bei Michelangelo, Dante und in der Gegenwart Warum überhaupt sollte Wim Wenders, der aus seinem Bekenntnis zum Christentum kein Hehl macht, sich noch für eine heidnische Gottheit wie Apollon interessiert haben? Vielleicht gerade deshalb, weil er gleich Hermes seiner geistig-spirituellen Kraft wegen seit der Antike bis heute als eine Vorläuferfigur Christi aufgefaßt werden konnte und schon aus diesem Grunde zumindest für den neuen Odysseus Travis eher in Frage kam als die uralten Rachegöttinnen, die Furien. Wie sich religionsgeschichtlich eine Verschmelzung von Helios-Apollon mit Christus vollzog und so für Konstantin den Großen, der das Christentum zur Staatsreligion erhob, der von ihm und seinen Vorgängern verehrte unbesiegte/unbesiegbare Sonnengott (»Sol invictus«) in Christus neu wiedererstanden war,34 so ließen sich auch die christlichen Künstler über die Jahrhunderte hin von Apollon inspirieren und stellten Christus schon in der Antike entsprechend als bartlosen langhaarigen jungen Mann dar. Am bekanntesten ist die Metamorphose bei Michelangelo, der sich für die Sixtinischen Kapelle an das Antlitz, Lockenhaar und die imperiale Ausstrahlung des Apolls vom Belvedere hielt. Diese Marmorkopie einer verlorengegangenen griechischen Bronzestatue (4. Jh. v. Chr.) befand sich damals seit Jahr34 Vgl. Wallraff, Martin: ›Christus Sol. Sonnenverehrung und Christentum in der Spätantike‹ (Münster 2001) sowie Halsberger, Gaston H.: ›The Cult of Sol Invictus‹ (Leiden 1972): »Constantine was the personification of Deus Sol Invictus on earth«; »The cult of Deus Sol Invictus did not disappear with the conversion of Constantine ... Julian...fell back on the cult of the sun« (S. 167175).
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PARIS, TEXAS
zehnten als erstes kostbarstes Sammlungsstück im Vatikan, wo Michelangelo an seinem Hauptwerk arbeitete. Dabei scheute er sich nicht,
Michelangelo Buonarroti Das Jüngste Gericht (Ausschnitt)
Apoll vom Belvedere (vermutlich nach Leochares)
ebensowenig wie einst der von ihm bewunderte Dante, als Anführer der christlichen Hölle oder Sphäre der Verdammten den griechischheidnischen Totenrichter Minos sowie den Fährmann Charon für das Jüngste Gericht wieder herbeizuzitieren (worauf Wenders schon im ›Amerikanischen Freund‹ anspielt, vgl. S. 205-207). Die auf das Christentum vorausdeutende mythisch-kulturelle Hauptleistung Apollons, dank deren er noch Odysseus’ modernem Wiedergänger Travis beizustehen vermag, war die Einsetzung des Prinzips der Entsühnung anstelle des Talionsprinzips der Rache und besonders Blutrache, das die unnachsichtigen Erinnyen oder Furien vertraten. Gegen sie verteidigte Apoll so den Muttermörder Orestes und setzte für ihn einen möglichen Entsühnungsakt durch – wie denn auch Zeus’ mächtigster Sohn selber schon für die Erlegung der von der Erdmutter Gaia geborenen Pythonschlange zu büßen hatte und zudem nach Racheakten wiederholt Sterblichen dienen mußte, also gewissermaßen schon als der an seiner eigenen hohen Mission leidende Gottessohn erscheint. Unter den weiteren Eigenschaften, die in der Vergangenheit zu Vergleichen Apollons mit Christus oder zu Adaptionen für dessen Darstellung und Zeremoniell angeregt haben, wären hier noch die Umstände seiner Geburt anzuführen (die umherirrende Mutter) sowie der am 25. Dezember im Julianischen Kalender als Tag der Wintersonnenwende gefeierte »Geburtstag« des Sonnengottes Helios-Apollon. Und nicht zuletzt dessen hohes Amt als Licht der Welt, das mitsamt seinem Symbol, dem Strahlenkranz oder Lichtkreuz, auf »Christus-Helios« (und dessen Sonnenmonstranz) überging. Zusammen mit der Quadriga bezeichnete der Strahlenkranz eine 38
REZEPTION VON APOLLON UND ODYSSEUS BIS IN DIE GEGENWART
Christusfigur aus dem 3. Jh., die man in einer Grabkammer unter dem St.-Petersdom entdeckte.35 Schließlich sei hier noch der dem Apollon Delphinios heilige Delphin genannt, in dessen Gestalt der Gott einst kretische Seefahrer als seine künftigen Priester nach Delphi geleitete und der, wie später der Delphin als Christussymbol, schon auf heidnischen Grabmälern und Sarkophagen als Seelenführer erscheint. Der auch den vom Ertrinken Bedrohten wie Arion und Telemachos zu Hilfe eilende Delphin repräsentiert sicherlich am liebenswürdigsten die Helferfunktion dieses extrem ambivalenten Gottes. Der Sühne- und Heilgott war ja zugleich, nicht bloß als der »Fernhintreffende«, von furcht- Christus als Helios-Apollon (alias Sol invictus) einflößender Grausamkeit und einschüchternd in seiner schroffen herrischen Attitüde. Seiner Ambivalenz36 wegen hat Apollon nie zu einer so großen und charmanten Helfergestalt wie Hermes werden können, der als der eigentliche Seelengeleiter dem Schicksal des Menschen nähersteht und in dieser christusgleichen Psychopompos-Funktion bei Wim Wenders in einem eigenen Zyklus von Filmen auftritt. Apollon bleibt bei ihm eine Nebenfigur, die in ›Paris, Texas‹ lediglich in ihren Symbolen oder Epiphanien präsent ist, während Wenders in seiner Hermes-Trilogie den geistigen Trickstergott als jeweilige Hauptfigur in persona – in zeitgemäßen Metamorphosen – agieren läßt (in Gestalt von Bruno Winter im ›Lauf der Zeit‹, Tom Ripley im ›Amerikanischen Freund‹ und von Tom Tom im ›Million Dollar Hotel‹).
35 Im Juliermausoleum innerhalb einer Nekropole, die in den 1950er Jahren ausgegraben wurde; vgl. Kirschbaum, Engelbert: ›Die Gräber der Apostelfürsten St. Peter und St. Paul in Rom‹ (Frankfurt/M. 1974), S. 32-39 und Abb. bei S. 146: »Das Haupt umgibt ein Strahlen-Nimbus. Die untersten Strahlen sind ... in ein T-Kreuz umgebildet, wie es die heidnischen Vorbilder nicht kennen« (S. 35). Vgl. ferner Wallraff a.a.O., S. 158-161. 36 Als Gott des Bogens und der Leier, des Todes und der Heilkunst, der sich in der Zweideutigkeit haltenden Wahrsagekunst und der auf Eindeutigkeit bedachten Wissenschaft, als der zum Abstand und Überdenken anhaltende Sühnegott, der gleichwohl die Vermessenen persönlich unerbittlich bestraft, vor der Mutter die Kinder niederschießt und einen unbedachten musikalischen Konkurrenten eigenhändig schindet. So hielt einst der Apoll vom Belvedere Bogen und Pfeil in der Linken und den Lorbeerkranz, das Attribut der Entsühnung, in der Rechten.
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PARIS, TEXAS
Für Travis’ vertrackte Ehegeschichte allerdings, in der sich das Verhalten seines Vaters, der die Mutter so sehr verkannte und demütigte, in verschärfter Form zu wiederholen scheint, kann die antike Gottheit als eine immer noch verbindliche ethische Instanz auftreten. Dem Fatalismus der wie durch einen Fluch weitergegebenen Schuld setzt Apollon die Forderung nach geistiger Klarheit über die eigene Person entgegen und besteht auch bei der Entsühnung auf Konsequenz in der Lebensführung. »Du mußt dein Leben ändern«, erkannte ja schon Rilke angesichts des – vermeintlichen – Apollotorsos. Diese Forderung geht weit über eine Beichte und auferlegte Buße hinaus und begnügt sich auch nicht mit den von Travis vollzogenen Akten der Versöhnung und Zusammenführung, sondern verlangt eine gründlichere Wandlung. Für den modernen Odysseus heißt dies, daß er noch einmal hinaus muß, ein Ende, daß in seiner Unabsehbarkeit und Rigorosität so manchen Zuschauer des Films vor den Kopf stieß. Es ist aber insofern noch durchaus im Geiste der ›Odyssee‹, als es an das Motiv des ewigen Wanderers anschließt, das man wiederholt, besonders im 20. Jh., für eine poetische Neugestaltung benutzte, so Kurt Klinger in seinem Drama ›Odysseus muß wieder reisen‹ (1954) und vor allem Nikos Kazantzakis in seinem Versepos ›Odisia‹ (1938), wo der »große Weltenwanderer« und »Grenzenkämpfer« über Ägypten bis zum Südpol vorstößt und sich weder von einer Inkarnation Buddhas noch von Christus, einem »jungen Mann, der Seelen fischte« (XXI, v. 1156), aufhalten läßt. Ernst Bloch feiert diese grenzenlose Aufbruchs- und Erkundungslust in seinem Buchkapitel »Odysseus starb nicht in Ithaka, er fuhr zur unbewohnten Welt.«37 Und verweist hierfür auf Dantes 26. Gesang der ›Hölle‹, wo der bis zu den Grenzsäulen des Herkules (»Non plus ultra«) Gelangte seine Gefährten mit den Worten anfeuert: »O Brüder, die durch tausende Gefahren Ihr hier im Westen kühn euch eingestellt, Bewegt euch jetzt, um Neues zu erfahren... Der Sonne nach zur unbewohnten Welt ... Um Wissenschaft und Tugend zu erstreben.«
In Godards ›Die Verachtung‹ (›Le mépris‹) zitiert Fritz Lang als Regisseur einer Odyssee diese große Ansprache des Helden, der schon bei Dante primär der geistige Entdecker ist und den es nach dem Abschied von Kirke statt zur Heimfahrt nach Ithaka danach drängt, »den heißen Drang zu löschen, / der mich die Erde zu erforschen trieb, / der Men37 Bloch, Ernst: ›Das Prinzip Hoffnung‹ (Frankfurt/M. 1959), Bd. 2, S. 1201. Odysseus »ist der erste... aus der Unbedingtheit, die hernach in Don Juan und Faust erscheint« (S. 1203).
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schen Sünde und der Menschen Wert« (26. Gesang der ›Hölle‹, v. 9499). Am Monte Purgatorio freilich, an der Grenze hin zum Christentum, werden bei Dante diese heidnischen Seefahrer Schiffbruch erleiden. Wenders, der mehrmals auf Godards Film, eine Travestie der ›Odyssee‹, zurückkommt, thematisiert in seinen Odysseus-Filmen jedesmal aufs neue die möglichen Berührungen mit der christlichen Vorstellungswelt, die bei Godard so keine Rolle mehr spielen.38 Anders als bei Dante ist für Wenders die Sache offenbar längst nicht ausgemacht und hat für ihn der odysseische Geist, mit dem die Geschichte der Aufklärung einsetzt, seine Daseinsberechtigung noch nicht verloren. Nur dort wird er bei Wenders in Frage gestellt, durchaus auch im Sinne einer christlichen Gegenkorrektur, wo er der rücksichtslosen Selbstverwirklichung und Selbstverdinglichung insbesondere durch die Entwicklung manipulativer »technƝ« Vorschub geleistet hat. Hier, in der Geschichte von Travis und der nötigen kathartischen Auflösung aufgestauter Gewalt, zeichnet sich erst gegen Ende der geschichtliche Hintergrund dieser Dialektik der Aufklärung ab. Erst nach seinem Wiedereintritt in die High-Tech-Zivilisation und nach wiedergewonnener Souveränität blitzt bei Travis einiges von der Verschlagenheit des Odysseus auf, so wenn er sich vor dem Gespräch mit Jane angesichts des Einwegspiegels zu vergewissern sucht, daß sie ihn tatsächlich nicht erblicken kann und wenn er ihr danach diese Fangfragen zu ihren Nebenverdiensten stellt. Das erinnert an den nach Ithaka Heimgekehrten, der in seinem Inkognito als Bettler sogar die engsten Angehörigen zu Hause prüft, Penelope nicht ausgenommen. Wegen der Vorgeschichte des Helden von ›Paris, Texas‹ steht hier jedoch die Frage nach einer möglichen Selbstkorrektur oder Entsühnung im Vordergrund der Handlung. Wenders hat sie radikal als Geschichte einer neuen Menschwerdung erzählt, 38 Fritz Lang führt in seinem Film im Film die mythologischen Figuren der ›Odyssee‹ in Gestalt von Statuen und kurzen exemplarischen Szenen vor. Sein Produzent Prokosch (Jack Palance), der Penelope für treulos erklärt und sich damit brüstet, das Selbstgefühl einer Gottheit zu besitzen, wird im Gebaren und speziell in seiner aggressiven Gebärdensprache zu Odysseus’ Todfeind Poseidon stilisiert. Der Drehbuchschreiber Javet (Michel Piccoli), von Prokosch zur kommerziellen Überarbeitung von Fritz Langs Drehbuch engagiert, erlaubt sich, seine Ehekrise mit Camille (Brigitte Bardot) auf Odysseus und Penelope zu projizieren und muß sich darum an dem hohen Paar messen lassen. Anders als bei dem geläufigen Typus der Travestie sucht Godard das travestierte Vorbild nicht herabzusetzen, sondern dekouvriert diejenigen, die glauben, den antiken Stoff manipulieren zu können. Die ›Odyssee‹ selber aber wird weiterhin als Muster extremer Erfahrungen des Menschen respektiert und in ihrer Reichweite neu erprobt. Es ist der höflich-souveräne Fritz Lang, der unbeirrbar bei seiner offenen Konzeption bleibt und als letzte Einstellung des Films den Blick des Helden gen Ithaka so einrichtet, daß er sich – im Geiste Homers und Dantes – übers Meer am Horizont verliert. Zur Rolle von Fritz Lang und Godards Film für ›Im Lauf der Zeit‹ vgl. S. 186188
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buchstäblich als Rekapitulation frühkindlicher Entwicklung vom Ausgangspunkt der Sprachlosigkeit her über eine nachfolgende breite Palette kindlicher Verhaltensformen: das Nichtertragenkönnen des Spiegelbilds oder Niederschlagen der Augen nach einem Vorwurf, das trotzige Beharren, das mit einer erbarmenswerten Schüchternheit wechselt, die erfinderische Verspieltheit und dann wieder die rührend naive Fragestellung, das erregte Hindeuten mit dem Finger oder auch schon ein erster ungeschickter Überlistungsversuch (als Travis von Anne beim Belauschen ertappt wird). Was hier als Zurückfinden aus autistischer Regression, Verwahrlosung und Menschenferne erzählt wird, gehört nun seinerseits zu dem weit umfassenderen philosophischen Grundthema im Werk von Wenders. Es ist dies die Frage nach der richtigen Lebensführung, die für ihn offenbar ohne substantielle Selbstveränderung nicht möglich wird – wenn man so will, in Übereinstimmung mit dem apollinischen »gnothi seauton«. Vor ›Paris, Texas‹ hat er dies schon einmal als seelische Neugeburt erzählt, für Robert Lander nämlich im ›Lauf der Zeit‹, der gleich zu Beginn, nach seinem Suizidversuch, am Hadesfluß der Elbe von seinem Reisegefährten im »Hermes«-Transporter wie ein neugeborenes Kind in Empfang genommen und von seinem Seelenführer erst als wieder Genesener verabschiedet wird. Man darf sicherlich von einer gewissen Konkurrenz zwischen dem philosophischen und dem religiösen Element bei dem einstigen Philosophiestudenten Wenders sprechen, nicht aber ernstlich von einer Konkurrenz zwischen heidnischer und christlicher Religiosität in seinen Filmen. Schon einem Renaissancekünstler wie Michelangelo war es bei seinem apollongleichen Weltenrichter im ›Jüngsten Gericht‹ nicht um eine religiöse Symbiose oder um Synkretismus zu tun.
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ANHANG: ZITATE AUS DER AMERIKANISCHEN ODYSSEE VON JOHN FORD
Anhang: Zitate au s der ameri kani schen Ody ssee von J ohn Ford (›The Searchers‹) Die zuletzt angesprochene literarisch inspirierte Schicht des Films dürfte hier nicht weiter irritieren, da sie nicht eigentlich in Konkurrenz zu der filmischen Bildersprache von Wenders tritt. Anders hingegen die Präsenz von Filmbildern, die auf Filme Dritter hinweisen. Ich meine nicht die gelegentlichen Grüße hinüber zu motivverwandten Filmen, die in der Regel auf einzelne Momente oder Szenen beschränkt bleiben, so wenn bei Travis’ ins Geckenhafte gesteigertem Versuch, den Sohn mit weißen Anzug und Hut für sich einzunehmen, einem Viscontis ›Der Tod in Venedig‹ in den Sinn kommen mag, wo Aschenbach in ähnlicher Aufmachung den Knaben Tadzio umwirbt. Irritierend ist vielmehr das Auftauchen solcher Bilder, die als Zitate aus anderen Filmen überdies eine Art von Systematik entfalten, die durchaus mit der manifesten Filmhandlung konkurriert. Ich denke hierbei an den Film, den Wim Wenders gelegentlich als seinen Lieblingswestern bezeichnet hat und an den sich amerikanische Filmkritiker bei ›Paris, Texas‹ erinnert fühlten, John Fords ›The Searchers‹ (1956), der in Deutschland unter dem Verleihtitel ›Der schwarze Falke‹ bekannt wurde: Dessen Hauptfigur Ethan Edwards (John Wayne) kommt zu Beginn wie Travis von Mexiko her zurück, wo er sich nach der nicht verwundenen Niederlage im Sezessionskrieg jahrelang wohl als Bandit herumtrieb. Wie Travis taucht er in diesen Anfangsbildern des Films als verlorene Gestalt in einer Felsenwüste auf. Und wird hinter dem Rükken von Travis, der soeben den herangeflatterten Falken verspürte und sich nun an irgendetwas zu erinnern scheint, dieses flügelähnliche Felsenpaar sichtbar, so ist die Einstellung auf den langsam im Monument Oben: John Ford, The Searchers 01:57
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PARIS, TEXAS
Valley heranreitenden Ethan so kadriert, daß zwei wie Klippen aufragende Felsrelikte ebenfalls den Schwingen eines Vogels gleich im Bild bleiben. Daß dies in denselben Sekunden des Films geschieht, dürfte nicht mehr als ein hübscher Zufall sein. Kein Zufall aber ist diese Schwinge im Rücken, gehört sie doch in ›The Searchers‹ zusammen mit der Vogelkralle zu dem von Ford vielfältig variierten Leitmotiv des »Schwarzen Falken« alias »Scar« (»Scar« bedeutet auch »Felsklippe«). Was nun bei dieser visuellen Verbindung so elektrisiert, ist der Umstand, daß Ethan Edwards weitere Merkmale mit Travis und ebenso mit dem Helden der ›Odyssee‹ teilt. Ethans über Jahre hin durchgehaltene Doppelsuche nach dem »Schwarzen Falken« Scar als dem Mörder seiner insgeheim geliebten Schwägerin Martha und nach ihrer von Scar verschleppten Tochter Debbie hat ja darin genuin odysseisches Format, daß diese mit epischer Ausdauer erzählte Suche die ganze Zeit über vom Motiv der haßerfüllten Rachenahme angetrieben wird. Weit beklemmender als einzelne Brutalitäten wie die, daß der Rassist Ethan dem tot zurückgelassenen Komantschen die Augen ausschießt, den Indianern die Büffel abknallt und endlich den schon toten Häuptling Scar skalpiert, ist die von ihm angedrohte und versuchte Tötung der von Scar zu seiner Squaw gemachten Debbie, ein Akt, der in seiner Barbarei vergleichbar wäre mit dem Erhängen der treulosen Mägde auf Ithaka. Im letzten Moment, man begreift es kaum, erbarmt sich jedoch der vom Wahnsinn umschattete Ethan Debbies und bringt sie, die sich anfangs dagegen gesträubt hatte, wieder zurück in die Zivilisation ihrer Herkunft. Er übergibt sie der Familie der Nachbar-Ranch und geht danach wie Travis wieder allein davon, selber nicht mehr in eine Familie zu integrieren. Zwei Jahre vor ›Paris, Texas‹, im ›Stand der Dinge‹ (1982), ging Wenders zum erstenmal näher auf Fords ›The Searchers‹ ein. Wiederholt ließ er aus der gleichnamigen Romanvorlage von Alan LeMay (1954) rezitieren39 und übernahm zudem das schon von Ford weiterentwickelte Leitmotiv des mal flügel- und federartigen, mal eher krallenfingrigen Gewalt- und Todeszeichens, indem auch er es als Menetekel für Opfer und Täter zugleich ausbaute, für seine Helden Friedrich Munro und für dessen mafiöse Geldgeber. In ›Paris, Texas‹ erinnert er nun anscheinend noch 39 Einmal dort, wo man es überhaupt nicht vermuten würde, nämlich in ›The Survivors‹, dem kleinen Film im Film, den Wenders’ Regisseur Munro nach Allan Dwans Film ›Most Dangerous Man Alive‹ (1961) inszeniert. Der Text des Beruhigungsliedes für das todgeweihte Kind (»The sun will fall on the earth forever, daughter sleep. / ... The stars will walk in the sky forever ...«) geht auf ein Todeslied der Komantschen zurück, mit dem der Komantschenhasser Amos (Ethan) den nach tagelangem Blizzard vom Schnee zugedeckten Mart wieder aus dem Koma zurückgeholt: »The sun will pour life on the earth forever ... /(I rode my horse till it died.) … /The stars will walk in the sky forever ... /(Leave my ponys’s bones on my grave.)« LeMay, Alan: ›The Searchers‹ (New York 2000), S. 153.
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ANHANG: ZITATE AUS DER AMERIKANISCHEN ODYSSEE VON JOHN FORD
ein zweites Mal daran, wenn er die den Film eröffnende Gebärde von Martha, die soeben auf der Veranda den heranreitenden Ethan ausmacht und ihre Hand wie beschattend zur Stirn führt, von Hunters Pflegemutter Anne in spiegelbildlicher Verkehrung nachspielen läßt. Travis’ Schwäge-
John Ford, The Searchers 01:40
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rin umfaßt mit der anderen Hand die Kette der Kinderschaukel und blickt zu ihm hinüber, der soeben auf der Veranda zwei Cowboystiefel, einen von Hunter und einen von sich selbst, zum Größenvergleich Sohle gegen Sohle hält. Diese Szene dürfte zugleich eine Reminiszenz an Martin sein (Jeffrey Hunter), den jungen Begleiter von Ethan, den dieser einst als den einzigen Überlebenden eines von Indianern verübten Massakers auffand, seiner Schwägerin Martha als Ziehkind übergab und der nun an seiner Seite über die Jahre der Suche hin zu einem ebenbürtigen Widersacher und Nachfolger heranwächst. Ein erfolgreiches Zusammengehen,
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PARIS, TEXAS
das wie die Suche von Travis und Hunter dem Bündnis zwischen Odysseus und Telemachos ähnelt. Die Gebärde der Augenbeschattung wird nach der Ermordung Marthas und ihrer Familie von der Frau der überlebenden Nachbarsfamilie Jorgensen wiederholt (mit dem rechten Arm nun), und ebenso treten dann die Jorgensens wie dort die Edwards zur Begrüßung des Heranreitenden auf die Veranda des Hauses (42:25). Wenders hätte demnach die texanische Traditionslinie dieser »Falken«-Gebärde, die den zähen Überlebenswillen der ersten Siedler bezeichnet, über Annes Gebärde – welch glückliche Vogelkopf-Schattenbildung! – bis in die Gegenwart seines ›Paris, Texas‹ weitergeführt.40
Bemerkte Wenders anfänglich zu seinem Filmprojekt ›Paris, Texas‹, daß für ihn der Mythos der ›Odyssee‹ nur noch »im amerikanischen Westen« Gestalt annehmen konnte (vgl. S. 16), so hatte er vermutlich schon John Fords texanische Odyssee im Sinn, die er wenig zuvor im ›Stand der Dinge‹ leitmotivisch zitiert hatte. Und zweifellos beeindruckte ihn an Fords Film, der sich übrigens immer wieder mit dem Mythos der von Hades entführten Persephone berührt,41 neben dem Durchhaltevermögen für ein selbstauferlegtes Ziel besonders die genannte Abkehr vom klassischodysseischen Finale der blutigen Rachenahme. Radikaler noch, als Verzicht auf Rache und überhaupt auf das Mittel der Gewalt, wird Wenders dies für seinen Odysseus im ›Ende der Gewalt‹ erzählen, Mike Max, der nach dem heilsamen Schock seiner Entführung das Imperium seiner Gewaltfilmproduktion aufgibt und es mitsamt den »Freiern« seiner Penelope überläßt.
40 Sieht man sich daraufhin Fords ›The Searchers‹ im Vergleich mit ›Paris, Texas‹ an, fällt einem vielleicht noch eine zweite Gebärdenanalogie ins Auge. Ford sucht Ethans Gesinnungswandel, seine Verschonung und Annahme Debbies, dadurch plausibler zu machen, daß er an eine impulsive Geste aus beider Vorgeschichte anknüpft. Wie Ethan einst die Kleine zur Begrüßung mit beiden Armen in die Höhe stemmte, so reißt er zuletzt, in dem prekären Augenblick, die immer noch Zöpfe tragende Debbie spontan vom Boden und streckt sie hoch über sich; sie umschlingt bald seinen Nacken und schmiegt sich an ihn (03:06 und 1:51:16). Wenders scheint an dieses Motiv anzuknüpfen, wenn er Jane die Pirouetten, die sie damals während des heiteren gemeinsamen Strandausflugs vor sich hin tanzte, nun eng umschlungen mit dem im »Meridian«-Hotel wiedergefundenen Hunter im Arm tanzen läßt. Zum Auftakt dieser mit dem Wirbeltanz abschließenden Wiedererkennungsszene wird noch die verflossene oder verlorene Zeit dadurch angedeutet, daß der im Hotelzimmer mit seinen »Star-Wars«-Figuren spielende Hunter bei Janes Nahen förmlich »heranwächst«, optisch immer größer wird – der zunächst auf dem Boden Dasitzende kniet sich bald hin und richtet sich gleich danach weiter zu seiner vollen Größe auf (52:34 und 2:14:20-2:15:54). 41 Vgl. Clauss, James J.: ›Descent in Hell (John Ford’s ›The Searchers‹)‹. URL: http://www.findarticles.com/cf_dls/m0412/3_27/58470118/p1/article.jhtml
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ANHANG: ZITATE AUS DER AMERIKANISCHEN ODYSSEE VON JOHN FORD
Wie für Fords ›The Searchers‹ hat Wim Wenders in so manchem seiner Spielfilme die filmgeschichtlichen Anspielungen derart dicht geknüpft, daß man von einer eigenen Werkschicht zu sprechen hat, die in Konkurrenz zu seiner manifesten Geschichte tritt und sich gelegentlich, wie in ›Paris, Texas‹, sogar mit der (odysseisch-)kryptischen Version des Films verbündet. Ist deren Hauptsymbol Apollos Sonne(npfeil), so das Hauptsymbol für diesen Film überhaupt der »Falke«: In der kryptischen Erzählschicht ist es der dem Gott heilige Vogel, in der manifesten Filmhandlung der von Sam Shepard für diese Wüstenregion beschworene Vogel des Indianermythus und schließlich in der filmhistorischen Schicht John Fords »Schwarzer Falke« Scar. Die sich hierin anzeigende Komplexität der Filme erlaubt es kaum einmal, daß ich bei meiner Darstellung die diversen Schichten gleichzeitig abhandle, vielmehr werde ich wie hier auf die filmgeschichtliche Dimension in der Regel erst in einem eigenen »Anhang« näher eingehen.
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BIS ANS ENDE DER WELT
BIS ANS ENDE DER WELT (1991/96) (Drehzeit: Januar – August 1990; Oktober 1990 – Mai 1991)
»Ein Satellit mit Atomladung gerät 1999 außer Kontrolle. In dieser bedrohlichen Situation begegnet eine junge Frau zwei Bankräubern, für die sie die Beute nach Paris transportiert. Als Claire sich unterwegs in einen Fremden verliebt, verlässt sie ihren Pariser Freund, einen Schriftsteller. Weil der Fremde sich jedoch ihr entzieht, engagiert sie in Berlin einen Detektiv, der ihn mit einem elektronischen Suchsystem immer wieder ausfindig macht. Während sie und der Detektiv dem Fremden durch vier Kontinente folgen, wird sie von ihrem Freund und der Fremde von einem Agenten verfolgt. In Japan erfährt Claire, dass der Fremde Sam heißt und mit einer Spezialkamera Aufnahmen macht, die von Blinden gesehen werden können. Die Aufnahmen bringt Sam nach Australien, wo sein Vater unter Eingeborenen ein geheimes Labor betreibt. Hinter der bahnbrechenden Erfindung, mit der der Vater die erblindete Mutter heilen will, sind jedoch auch die Geheimdienste hinterher. Kurz vor der Ankunft von Sam und Claire wird der Satellit abgeschossen. Eine weltweite atomare Verseuchung steht bevor. Nach der gelungenen Bilderübertragung stirbt die Mutter an der Überanstrengung durch das Sehen. Sam und Claire stellen sich dem Erfinder, der jetzt Träume sichtbar machen will, als Versuchspersonen zur Verfügung. Von der dabei entstandenen narzisstischen Bildersucht müssen sie der Schriftsteller und ein eingeborener Wunderheiler erlösen. Nach der Trennung der Liebespartner findet Claire eine neue Aufgabe als Umweltschützerin.« Inhaltsbeschreibung eines Ungenannten: http://www.deutsches-filmhaus.de/filme_gesamt/w_gesamt/wenders.htm
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DIE WELT DER ›ODYSSEE‹ UND CLAIRE. HERMES »CHICO« ALS IHR REISEPATRON
Die Welt der ›Odyssee‹ und Claire. Hermes »Chico« a ls ihr Reisepatron Daß Wim Wenders 1982, während seiner Salzburger Inszenierung von Peter Handkes Stück ›Über die Dörfer‹, zum erstenmal die ›Odyssee‹ las (vgl. S. 15f.), war nicht nur für seinen nachfolgenden Film ›Paris, Texas‹ von Bedeutung. Im ›Himmel über Berlin‹ (1987) ersetzte er auf Anregung seines Drehbuchautors Handke die Figur des in der Bibliothek lebenden alten Erzengels durch die des umherirrenden ewigen Erzählers Homer. Und veränderte nach jener ersten ›Odyssee‹-Lektüre von Grund auf den Charakter seines nach dem ›Himmel‹ folgenden Spielfilmprojekts ›Bis ans Ende der Welt‹. Denn dieses Projekt, mit dem sich Wenders schon seit 1977 beschäftigte, hätte lange Zeit eher Stanley Kramers Film ›On the Beach‹ (1959) geähnelt, der das Verhalten eines Liebespaares und der australischen Bevölkerung nach einer atomaren Katastrophe zeigt.1 Erst in den späten 80er Jahren fiel dann die Entscheidung zugunsten einer Verfolgung rund um die Welt, einer Variante der Homerischen ›Odyssee‹, die Wenders kurz vor Drehbeginn so beschrieb: »Ein Freund, dem ich die Geschichte erzählt habe, sagte: ›Aha, ich weiß, was du machen willst. Du hast immer die Geschichte von Odysseus erzählt, der um die Welt flitzt und es nicht schafft, nach Hause zu kommen. Jetzt erzählst du die Geschichte von Penelope, die Odysseus hinterherreist.‹ … Mit Solveig habe ich zwei Jahre lang an dem Buch geschrieben. Bei den Vorbereitungen sind wir zweimal um die Welt gefahren … Wir haben die Dreharbeiten in fünfzehn Ländern vorgesehen, schon die Vorbereitungen wurden zu einer wahren Odyssee ...«
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So Wenders in: ›Die Logik der Bilder‹ (Frankfurt/M. 21992), S. 132. Kramers Liebesgeschichte bezeichnet er an anderer Stelle als »herzzerreißend«; in: Wenders, Wim: ›Einstellungen‹ (Buch zur Werkausgabe), hg. von Gerd Gemünden und Michael Töteberg (Frankfurt/M. 1993), S. 136. Wenn nun in Wenders’ Film die Leute im Innern Australiens dank eines alten Kristallempfängers Radionachrichten aus Kalifornien (Los Angeles) erhalten, dann dürfte dieses erstes Zeichen für das Überleben der Welt eine kleine Hommage an Kramers Film sein. Hier empfangen die in Melbourne noch Überlebenden als letztes Hoffnungszeichen nichtdechiffrierbare Funksignale aus San Diego, die sich dann aber vor Ort als surreales elektromechanisches Zufallsprodukt erweisen. ›Die Logik der Bilder‹, a.a.O. S. 132f. Im Presseheft zum Erscheinen des Films im September 1991 bekräftigte Wenders diese odysseische Lesart: »Unsere Geschichte war ... die Umkehrung einer der ältesten Männer/Frauen-Geschichten: ... Penelope bleibt nicht zu Hause, sie reist Odysseus hinterher und versucht, ihn einzuholen. Das war also die Verbindung von der Liebesgeschichte zum Road Movie.« Wenders, Wim: ›Der Akt des Sehens‹; in: Presseheft des Verleihs der Tobis Filmkunst (Berlin 1991), S. 77; Wiederabdruck in Wenders, Wim: ›The Act of Seeing‹ (Frankfurt/M. 1992), S. 30.
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Diese neue Penelope, die nicht länger treu-geduldig auf die Rückkehr des Geliebten wartet, sondern ihm entschlossen und beharrlich hinterherreist, blieb als solche von der Filmkritik unbeachtet. Niemand scheint sich je gefragt zu haben, inwiefern Wenders bei seiner Inszenierung noch den Stationen der ›Odyssee‹ folgt und wie weit er seine Heldin Claire Tourneur noch mit Merkmalen der Penelope und ihrer Zeit ausstattet. Dieses Desinteresse an der Neufassung des Mythos überrascht um so mehr, als viele von uns sich schon als Kinder an einer ähnlich radikalen, die Rollen verkehrenden Variante der ›Odyssee‹ begeistert haben. Es ist dies Hans Christian Andersens Märchen ›Die Schneekönigin‹, in dem das kleine Gretchen (»Gerda« im Original) auf der abenteuerlichen Suche nach ihrem entführten Freund Karl (»Kay«) immer weiter in die Schneelandschaften des hohen Nordens vorstößt, ihn schließlich im Kristallpalast der Schneekönigin wiederfindet und mit ihren heißen Tränen seine vereiste Seele auftauen kann. Wie ich zeigen möchte, enthält Wenders’ Film sowohl Motive der ›Odyssee‹ wie auch dieser märchenhaften Variante. Unter den Merkmalen Claires, die auf das antike Vorbild hindeuten, sticht ihre Kleidung besonders ins Auge. Das Lieblingskleid dieser Penelope, die sich auf die Jagd nach dem Geliebten macht, ist nichts anderes
23:51 (Teil II)
als ein modischer Waffenrock, der, gepanzert mit einer Unzahl kleiner Drei- und Rechtecke, mit all den Kristall- und Sternenmustern korrespondiert, die das visuelle Leitmotiv des Films bilden. In Venedig und Australien ist es ein Kleid, das bronzefarben und grün-gold changiert, in Tokyo und San Francisco ein silberfarbig schimmerndes und funkelndes Kleid. Der martialische Charakter wird noch mitunter ironisch gesteigert, so durch Claires Kopfkamera-Montur oder ihren originellen Kampf50
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schild, nämlich die Tür des einmotorigen Flugzeugs, an die sie mit Handschellen gekettet war und die sie nach der Notlandung in Australien mit sich schleppt, dabei noch den am Fuß verletzten Sam Farber stützend (vgl. Abb. S. 68). Gelegentlich präsentiert sich Claire auch in einem wie klassischen Gewand, so in San Francisco vor einem Videophon, dessen Unterbau ein ionisches Säulenkapitell darstellt (Ithaka ist eine der Ionischen Inseln). 27:42 (Teil II) Übereinstimmungen mit dem Charakter und Verhalten der Penelope sollte man bei Claire eigentlich nicht erwarten, die Grundstimmung der in Trauer Harrenden und defensiv ihre »Freier« Hinhaltenden läßt sich mit der Mentalität einer reiselustigen Abenteurerin kaum vereinbaren. Und doch kann man von Penelopes Einsamkeit, Depression, ihrer Furcht und Trostsuche in den Träumen einiges bei Claire wiederfinden. Es ist nur verdeckter und zeitversetzt, wenn Claire in ihren computergenerierten Träumen, die sie am Ende so süchtig werden lassen, sich selber in ihrer Kindheit wiederbegegnet; und davon so überwältigt wird, daß sie sich erschüttert fragt: »Warum falle ich immer in die Tiefe? Immer bin ich so allein. Warum laßt ihr sie so allein? Der Sturz. Die Zeit. Die Einsamkeit. Die Furcht.« (1:01:09; III 10) Mit diesem Sturz, von dem Claire in ihren Alpträumen hartnäckig verfolgt wird, schloß schon die Eröffnungssequenz des Films. Von dem, was die bildende Kunst an Gebärden und Merkmalen der Penelope überliefert hat, geht das meiste auf die Abbildung auf dem rotfigurigen Skyphos aus der Mitte des 5. Jh. v. Chr. zurück (vgl. Abb. S. 115). Sie zeigt die am Webrahmen mit auf die Wange gestützter Hand Dasitzende, die zum Zeichen der Abweisung ihrer »Freier« die Beine übergeschlagen hat. Deutlicher als für Claire bezieht sich Wenders für Paige-Penelope im ›Ende der Gewalt‹ auf jene Darstellung. Doch auch für Claire dürfte einem aufgefallen sein, wie vertrackt sie öfter die Beine übereinander schlägt, in einer wie linkischen Manier, die man bei der Schauspielerin Solveig Dommartin so in keinem anderen ihrer Filme finden wird. Wie Paige faßt sich auf diese neue Penelope in seelisch prekärer Lage immer wieder an Wange und Schläfe – jetzt zugleich freilich wie in Empathie mit dem sich verschlimmernden Augenleiden von Sam Farber. Ebenso kann man das schamhafte Sichverschleiern von Penelope, mit dem sie einst ihre Entscheidung zugunsten des jungen Odysseus be-
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kundete, verwandelt wie für Paige nun bei Claire wiederfinden: Wie in Abscheu über ihr schales gegenwärtiges Leben mit den »One-NightStands«, von dem soeben der Erzähler im Off sprach, verschleiert sie in Venedig mit den Fransen ihrer Perücke das Gesicht. Eine Gebärde, die sie später auch angriffslustig variiert, wenn sie sich in Moskau an den Prämienjäger Burt heranmacht.
Oben: 06:40
Unten: 03:45 (jeweils Teil I)
Die Ausgangsszene zeigt also die aus ihrem Alptraum hochschreckende Claire in Venedig, Stadt der Venus und so »Stadt der Verliebten«, wie der neue Hermes/Merkur Tom Tom seiner Venus Eloise vor einem Plakat der Stadt erklären wird. Daß in diesem venezianischen Palazzo seitlich hinter Claire eine Büste von Hermes/Merkur (nach der Statue des Praxiteles) zu sehen ist, des Patrons Venedigs und der Reisenden wie Claire, paßt zudem gut zur Familiengeschichte der Penelope, ist doch Hermes der Urgroßvater von Odysseus, dem er in der ›Odyssee‹ gegen Kirke und Kalypso zur Hilfe kommt und den er zur Weiterfahrt anhält.3 Ja, sehe ich Recht, tritt bald sogar Hermes in persona der Heldin dieser 3
Einer oft kolportierten apokryphen Tradition zufolge, die Kostas Varnalis in seiner Erzählung ›Das Tagebuch der Penelope‹ (Berlin 1975) fortführt, war Hermes gar der Liebhaber der Penelope (und Pan beider Sohn). Zu Hermes als Patron speziell der reisenden – und schreibenden – Frauen vgl. das Kapitel »Hermes/Penelope« in dem Buch von Karen R. Lawrence, ›Penelope voyages. Women and travel in the British literary tradition‹ (Ithaca and London 1994), S. 1-27; a.a.O. S. XIII: »›Penelope‹ in the dual position of traveler and weaver of the tale« (XIII).
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Odyssee zur Seite, begleitet sie als Helfergottheit, indem er zugleich ihre Reise um die Welt finanziert – durch Raub selbstverständlich. Es ist dies »Chico«, der durch seine wie achtlos aus dem Auto geworfene Bierflasche die Kollision mit ihrem Rover provoziert und ihr hinterher den Geldsack zur Bewahrung übergibt, den er freilich mit einem elektronischen Gerät ständig überwacht. In der Szene mit dem ionischen Videophone-Gestell ist er der soeben von ihr Angerufene und bezeichnet sich scherzhaft als »Sponsor« Claires. Kommt er hernach mit dem Geld nach San Francisco, begrüßt sie ihn freudig als »unseren rettenden Engel«. Und tituliert den verkappten Götterboten (»angelos« = »Bote/Engel«) in Coober Pedy noch einmal als ihren »sonderbaren Schutzengel«, nachdem er den Prämienjäger Burt überwältigen konnte (II 6; 43:38). »Deleted scenes« (11:49)
Chicos weitere Hermes-Attribute wird man fast alle in der »Hermes-Trilogie« von Wenders wiederfinden, weshalb ich sie für die jetzige Nebenfigur nur streife: Da ist die Vielfalt seiner Talente als Musiker, Räuber, gelernter Mechaniker, aufmerksamer Sprachbeobachter (»mate«!) sowie als Nachrichtentechniker und Bote (»Die Welt hat überlebt!«). An den Hahn, das Hermes heilige Tier, lassen seine schrille Aufmachung denken, diese ein rotes Schnabelmuster aufweisende Kappe, seine bunten Hemden und seine die Augen wie mit Metallringen einfassende Sonnenbrille. An seine Herkunft aus der (phallischen) Steinherme gemahnt Chicos Vorliebe, Steinchen zu werfen und vor allem seine Reaktion nach der Kollision mit Claires Rover, der sich an einer Steinanhäufung überschlagen hatte: Er stellt sich sogleich zum Wasserlassen in die Landschaft hin 4 und geht noch während des Schließens seines Hosenlatzes auf Claire zu. In einer der »Deleted Scenes« erbietet sich der verkappte Wegegott, die blinde Edith Farber zu dem unterirdischen Laboratorium zu geleiten und steht 4
Die ganze Episode dort auf dem Hochplateau läßt sich auch als Inszenierung des symbolischen Todes Claires und ihrer Wiedererstehung betrachten. Wie der Erzähler Eugene – nur in der Director’s-Cut-Version – gleich nach dem Unfall im Off anmerkt, sei ihr bewußt geworden, daß sie hier hätte sterben sollen, daß »die Engel« aber einen Fehler gemacht und ihr das kostbare Geschenk gemacht hätten, von nun an eine besseres Leben zu führen. Diese Rolle als Seelengeleiter, der in eine neue Existenz hinüberführt, ist auch die Hauptrolle der Hermes-Nachfolger in Wenders’ Trilogie.
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danach in der bekannten Hermespositur mit gekreuzten Füßen und in die Hüfte gestütztem Arm da, gleichwie in Vorausdeutung auf ihren baldigen Tod durch diese sie erschöpfenden Laborversuche. In Claires Rover führt Chico ein Buch mit dem kaum leserlichen Titel »...ERMES« mit sich (das »H« hält er die ganze Zeit über mit den Fingern be-
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deckt, erst am nächsten Morgen im Hotelzimmer seines Gangster- oder Götterchefs Raymond kann man auch den Anfangsbuchstaben und einen Teil des Buchtitels erkennen: »HERMES le M[éssager?/édiateur«?] oder so ähnlich. In der Vergrößerung sieht es beinahe so aus, als habe jemand den Untertitel von Hand hinzugeschrieben oder nachgezeichnet.
Ihre Zeit in dem venezianischen Palazzo verbringt die neue Penelope als eine Art Playgirl oder Hetäre für die dortigen »Freier«: »Jede Menge irrer Parties; und viele Tränen«, wird sie es in Paris Eugene Fitzpatrick lakonisch kommentieren, dem Erzähler des Ganzen, den sie aus enttäuschter Liebe verlassen hatte. Zu Beginn des Films nun wacht Claire neben einem dieser Freier auf und hat auf ihrer Jagd über den ganzen Erdball hin einen kleinen Schwarm von Männern im Schlepptau, von denen ein jeder ihr Avancen macht: Chico, der Detektiv Phillip Winter, der Kopfgeldjäger Burt und auch der erneut verlassene Freund Eugene, »der Edelgeborene«, der ihre Geschichte aufschreiben wird und sie schon von Beginn des Filmes an immer wieder als Erzählerstimme im Off kommentiert. Was aber ist aus der listenreichen Penelope geworden, die darin ihrem Odysseus nahezu ebenbürtig war? Nun, auch Claire offenbart da ein bemerkenswertes Talent, man vergegenwärtige sich nur noch einmal, wie sie mit dem Kopfgeldjäger Burt fertig wird, der seine redselig machende 54
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Wahrheitsdroge wie eines der Zaubermittel der ›Odyssee‹ gegen sie einsetzt. Als Gegenmittel setzt Claire ihn in Moskau mit Schlaftabletten außer Gefecht und nimmt bei seinem zweiten Anschlag im australischen Coober Pedy mit Erfolg Zuflucht zu der ihm unverständlichen französischen Sprache. Um sich auch nicht von Eugene, vor dem sie sich in Moskau schlafend stellte, weiter aushorchen zu lassen, schluckt sie nach ihrer Befreiung in Coober Pedy noch rasch etliche Schlaftabletten. Unter weiteren Stationen und Accessoires, die der Welt der ›Odyssee‹ entstammen dürften, möchte ich drei nur Oben: 05:00 (T. I) Unten: 1:14:11 (T. III) noch erwähnen. Zum einen das an Polyphem gemahnende Bildschirm-Monster im Kinderzimmer des Palazzos, das ein größeres drittes Auge über den beiden anderen hat (Polyphem soll ja nach einigen Mythographen dreiäugig gewesen sein und wurde so unter anderem von Bonaventura Genelli abgebildet). Sodann diese Decke mit goldfarbenen Mäander- und Sternmustern, die Claire während ihres Traumtrips und beim Entzug beinahe wie ein Schmusetuch überall mit hinschleppt. Eine Variante dieser Mäander ist auf dem genannten Skyphos als Bildrahmung zu Füßen der Penelope zu erkennen. – Im Zusammenhang mit Claires Abstieg ins Unbewußte ihrer Träume wird schließlich noch eine neue Version der »Nekyia«, der Beschwörung der Toten in der Unterwelt, zu betrachten sein. Was nun die Frage nach Sinn und Gehalt einer solchen Metamorphose von Göttern und Helden der Antike betrifft, ist jetzt nur so viel zu sagen, daß Wim Wenders in seinen – bisher – drei großen Odysseen die heidnischen Gestalten nach einer Allianz mit dem Christentum suchen läßt, auf unterschiedliche Weise zwar. Ist Travis in ›Paris, Texas‹ ein dem Licht- und Sühnegott Apollon verpflichteter Odysseus, der zugleich Züge eines christlichen Bußgängers hat, so sucht im ›Ende der Gewalt‹ Ray Bering von seiner christologischen Sphäre der Sternwarte her verzweifelt in Kontakt mit dem neuen Odysseus Mike Max zu treten. Auch Claire ist nicht lediglich, wie man Wenders’ Worten entnehmen könnte,
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eine umgekehrte Penelope, vielmehr wird sich ihr Geliebter Sam Farber als eine Gestalt in der Nachfolge Christi entpuppen, die eine veritable Passionsgeschichte durchmacht. Dafür aber, für diesen neuen christlichen Horizont der ›Odyssee‹, habe ich jetzt näher auf das odysseische Märchen von Andersen einzugehen.
Hans Chri stian Andersen s ›Schneekönigin‹ Andersen war ein Verehrer Homers. In seinem Märchen ›Eine Rose von Homers Grab‹ (1842) läßt er die stolze Grabblume bei Smyrna von einem nordischen Dichter brechen und mit in die Heimat nehmen (Andersen selber war 1841 auf einem Schiff von Athen nach Smyrna gesegelt). Daß er mit der Rolle Gretchens in der ›Schneekönigin‹ (1844) eine Umkehrform der ›Odyssee‹ vorlegte, wurde schon gelegentlich5 bemerkt. Was nun den näheren Vergleich mit Wenders’ Film so lohnend erscheinen läßt, ist Andersens Metapher für den neuen christlichen Horizont, in dem er seine Odyssee erzählt, die Metapher nämlich vom korrumpierten und wieder zu heilenden Blick des Menschen. Die ›Schneekönigin‹ setzt damit ein, wie ein vom Teufel verfertigter Zerrspiegel aus den Händen seiner dienstbaren Kobolde vom Himmel hinunter auf die Erde stürzt und in abermillionen Splitterchen zerspringt, die in Auge oder Herz der Menschen dringen. So widerfährt es dem kleinen Karl, der die Welt nur noch mißgünstig betrachten kann und lediglich kristalline Gebilde von der Regelmäßigkeit der Schneeflocken gelten läßt. Auf der Stelle zertrampelt er die Rosen seiIllustration von Ruth Koser-Michaëls
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So in einer für Lehrer gedachten Studie der »Enchantment Theatre Company« aus Philadelphia, die neben der ›Odyssee‹ auch ›The Wizard of Oz‹ zum Vergleich heranzieht und für Gerda/Gretchen das Gleichnis findet: »She is like a knight who goes out to rescue the damsel in distress, except she goes barefoot into the wide world, with her pity and intuition as her shield and armor.« ›The Snow Queen. Study Guid‹ (Programm 2003/04, S. 5); URL: http://cfa.ucdavis.edu/education/snow_queen.pdf
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HANS CHRISTIAN ANDERSENS ›SCHNEEKÖNIGIN‹
ner Freundin, wendet sich von ihr ab und folgt der verführerischen Schneekönigin. Wenn ihn Gretchen nach langwieriger Suche dank der Hilfe auch eines Räubermädchens endlich am Sitz der Schneekönigin wiederfindet, befindet sich Karl ganz allein in dem meilenweiten Eissaal des Schneepalastes, um mit flachen scharfen Eisstückchen »das Eisspiel des Verstandes« zu spielen und das Wort »Ewigkeit«, seinen Freibrief, zusammenzulegen. Dank der Tränen Gretchens und der eigenen, die das Spiegelkörnchen aus seinem Auge schwemmen, erkennt Karl die Freundin wieder, erkennt den Todescharakter seiner eisigen Umgebung und kehrt mir ihr zu den Rosenstöcken ihrer Kindertage heim. Bei dem Titel ›Bis ans Ende der Welt‹ wird man als Verehrer Andersens nachgerade an das Wort von Gretchens Freundin erinnert, des nüchternen Räubermädchens, das dem wiedergefundenen Karl den Vorwurf macht, »ein wahrer Künstler im Herumstreifen« zu sein und dann ausruft: »Ich möchte wissen, ob du es verdienst, daß man deinethalben bis an das Ende der Welt läuft!« Wenders’ Filmtitel ist freilich mehrdeutig. Geographisch bezieht er sich auf die Verfolgungsjagd um unseren Planeten bis ins entlegene australische Outback; zeitlich-apokalyptisch auf die der Erde drohende atomare Vernichtung sowie erkenntniskritisch und metaphysisch auf einen Umsturz der bisherigen menschlichen Wahrnehmung der Welt und eigenen Seele. Eine innere Verwandtschaft mit der Abenteuergeschichte Gretchens zeichnet sich trotz des bunten turbulenten Handlungsreigens dieses Films ziemlich deutlich ab. Da ist zunächst der Auftakt mit Bildern aus dem Weltraum und dem Bericht über den außer Kontrolle geratenen indischen Atomsatelliten, der auf die Erde hinabzustürzen drohe; sodann die Verknüpfung des drohenden Absturzes mit dem seelischen der odysseischen Heldin, die »ihre eigene Hölle« durchlebt und soeben aufschreckt aus ihrem Nacht für Nacht sich wiederholenden Traum, über einem unbekannten Land zu schweben und plötzlich zu fallen und nur noch zu fallen. Bei ihrer ersten Begegnung bittet sie der Fremde um Hilfe, weil er etwas im Auge zu haben glaubt (Claire kann bei ihm wie Gretchen bei Karl nichts entdecken). Doch verschlimmert sich sein Augenleiden durch den Gebrauch dieser Hightech-Kamera, die so »höllisch weh tut«. Entfesselt und pervertiert wird schließlich diese so faszinierende Sehtechnologie in dem neuen Kristallpalast der Schneekönigin, dem entlegenen schimmernden Laboratorium von Henry Farber, einer übermächtigen Vaterfigur, die an der Seite eines kleinen eifrigen Gehilfen namens Karl bis zum bitteren Ende weitermacht. Claire selber aber wird geheilt durch den mitleidenden Erzähler Eugene, der sie »gesund schreibt und die kreischenden Vögel im Himmel zur Ruhe«.
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Ich muß hier offenlassen, ob Wenders diese Analogien zwischen dem eigenen und dem fremden Werk bewußt hergestellt und mit originären Motiven der ›Odyssee‹ verwoben hat. Von nichtbewußten Lektürespuren einmal abgesehen, ist es durchaus denkbar, daß es die gemeinsame neue christliche Erzähldimension bei ihm und bei Andersen ist, die bei der Umkehrung der ›Odyssee‹-Handlung auch zu einer ähnliche Motivkonstellation führte. Neben dem Hauptmotiv des korrumpierten Blicks sind es zwei antithetische Leitmotive der ›Schneekönigin‹, (Schnee-)Kristall und die in der christlichen Ikonographie zentrale Rose6, die man vielerorts und in ständig abgewandelter Gestalt im ›Ende der Welt‹ entdecken kann.
Zum Moti v der Augen verletzun g u nd Verblendung Claire Tourneurs Begegnung mit Trevor McPhee alias Sam Farber wird durch eine unscheinbare Zeichenkette vorbereitet, die auf seine Augenverletzung, seine Leidensgeschichte im Dienste des Vaters und ebenso auf die ihr selber drohende Verstrickung hindeutet. In den ersten Einstellungen des Films fährt Claire mit weit aufgerissenen Augen aus ihrem Alptraum auf, starrt in Richtung eines großen Spiegels und stößt beim Aufstehen mit dem Fuß ein Weinglas um, das unter hellem Klirren auf dem Boden zerspringt. Sie beschaut sich ihren bekifft daliegenden Gefährten an und geht langsam weiter auf eine Tür zu, durch deren Spalt ein riesiges geflügeltes Sonnenauge als Bettgiebel zu erblicken ist, als Pendant zu dem – noch nicht geblendeten – Polyphem, der in diesem Zimmer als Monitorverkleidung fungiert. Während ihrer nachfolgenden Fahrt von Venedig nach Menton legt sich in einem der Tunnels ein schmaler 6
Andersen hat das erotische Rosensymbol des ›Hohenliedes‹ mit dem Symbol des Neuen Testaments verflochten, das für ihn als Passions- wie Triumphzeichen Christi das Symbol des (ewigen) Lebens ist. Das Lied, das Karl und Gretchen unter ihrem Laubengang aus Rosenstöcken singen, verstehen die beiden erwachsen Gewordenen erst bei ihrer Heimkehr, wenn sie sich unter den Rosen noch einmal auf ihren Kinderstühlchen niederlassen: »Die Rosen duften im Sommerwind, Die schönste Ros’ ist das Jesuskind.« Die Rose ist hier zugleich mit dem Weihnachtsfest assoziiert (»Es ist ein Ros entsprungen ...«). Vor allem aber wird sie bei Andersen wie bei Wenders zum Erkennungszeichen der beiden Liebenden und ihrer Passion, die für Claire zudem eine marianische Akzentuierung erhält. Andersen variiert übrigens mit dem Rosenmotiv noch die odysseische Gefahr des Vergessens bei den Lotophagen und bei der Zauberin Kirke, wenn in der dritten Geschichte der ›Schneekönigin‹ die alte Frau alle Rosensträucher aus ihrem Blumengarten unter die Erde hinwegzaubert, damit die Kleine dabei nicht an Karl denken muß und sich wieder auf die Suche nach ihm macht. Doch hat diese Zauberin die eine Rose auf ihrem eigenen Sonnenhut vergessen.
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ZUM MOTIV DER AUGENVERLETZUNG UND VERBLENDUNG
greller Lichtstreif über Claires Augen. Nach dem wenig später erfolgenden Überschlag ihres Rovers zieht sie sich als erstes ein Körnchen des Sicherheitsglases von ihrer Wange ab, das unterhalb ihres linken Auges hängen- oder steckengeblieben war. In Lyon schließlich begegnet sie diesem Fremden, der neben ihr an einem Videophon spricht und sich mit dem Ausruf »Meine Augen!« vom Apparat in ihre Richtung hin abwendet. »Sie haben traurige Augen!« lautet ihr einziger Befund. In ihrem Mitgefühl mit Sam 04:25 (Teil I) Farber und seinem Augenleiden wird Claire, wie gesagt, die Wangengebärde der Penelope auch in der Weise variieren, daß sie die Hand über ihre Augen legt. So schon in dem Palazzo vor dem Bildschirm mit dem Sänger der »Talking Heads«, so während ihrer vergeblichen Suche in der transsibirischen Eisenbahn, ferner nach dem ersten Versuch mit dieser mörderischen Kamera oder auch bei dem für sie unerlaubten Betrachten der Traumbilder Sams. Die von ihrem Alptraum verfolgte Claire arbeitet bis zuletzt an diesem fatalen Traumbild-Projekt mit und fällt ihm um ein Haar selber zum Opfer. Eugene, der wohlwollende Erzähler des Ganzen, sucht ihre Mitschuld mit den Worten zu entkräften: »Wer hätte auch schon ahnen können, wie wenig Abwehrkräfte sie gegen die Versuchung hatte, die sich ihr nun auftat.« Nun, Claire wird am Ende über alle Erwartung rehabilitiert. Vom Grabe Henry Farbers her, an dem soeben
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Sam den Kopf gen Himmel wendet, erfolgt ein Umschnitt zu dem »Greenspace«-Raumschiff mit Claire, bei der die Videokonferenz zu ihrem 30. Geburtstag und zum Erscheinen von Eugenes Buch abgehalten wird. Die vorletzte Einstellung des Films, ehe der Blick der Kamera von droben auf unseren blauen Planeten fällt, zeigt in einer Großaufnahme, wie Claire zu einem wie marianischen Salut zur Erde hinuntergrüßt. Sie fährt dabei zum Zeichen auch der eigenen Genesung mit der geöffneten Hand zur Stirn hoch und verweilt in Höhe der Augenbrauen einen Moment lang, als wollte sie dort noch etwas herausziehen. Bei Wenders wie bei Andersen ist die Augenverletzung Zeichen einer seelisch-geistigen Verblendung. Mag auch Henry Farber lautere persönliche Motive gehabt haben, als er einst den Beruf eines Augenarztes wählte und sich auf die Blindenheilung spezialisierte, so opfert er doch inzwischen den eigenen Sohn dafür und geht in seinem (»Nobelpreis«-)Ehrgeiz so weit, seine Seh-Ersatztechnik seelentechnologisch zu manipulieren, die Wahrnehmungsrichtung umzukehren, um nun auch die Traumbilder aufzuzeichnen.
Kreu z, R ose und an dere Pa ssion szeichen Sam Farbers Als Sam Farber sich nach seiner Genesung durch den heilkundigen Herrn Mori endlich Claire offenbaren und ihr seine Identität enthüllen will, spricht er nicht direkt von sich selber, sondern beginnt mit dem Satz: »Ich bin der Sohn von Dr. Henry Farber.« Mit seiner Mission wolle er erreichen, daß seine Mutter wieder sehen könne und »daß mein Vater er-
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kennt, daß ich ihn liebe«. Seine Ergebenheit als Sohn gewinnt biblisches Format, indem seine Reise um die Welt zu einem einzigen Opfergang stilisiert wird. Henry Farber selbst erscheint als psychopathische oder auch diabolische Gottvatergestalt, die bei ihrem ersten Auftritt den Sohn nicht einmal begrüßt, als dieser ihm das so mühselig verschaffte Filmmaterial überreicht. Vielmehr fällt Henry Farber sogleich ins Schimpfen über die Verzögerungen und diese »blöden Inder« mit ihrem kollabierenden Atomsatelliten, der einen Großteil seiner Computer außer Gefecht gesetzt habe. Claire ist sichtlich schockiert und Sam gesteht ihr sogleich verbittert, schon wieder einmal auf seinen Vater »hereingefallen« zu sein. Claire wird nicht allein über das Motiv der Augenverletzung an den Fremden herangeführt, sondern auch über die christlichen Passionszeichen von Kreuz und Rose. Am Vorabend ihres Bekanntwerdens nimmt sie in dem kleinen französischen Landhotel ein Zimmer, dessen Tapete über dem Kopfende ihres Bettes und über dem Waschbecken ein Geviert mit Rosenmustern aufweist. Gleich neben der Tür ist ein Kruzifix angebracht, und über dieses und die Rosenwand hin wandert dann in der Nacht, als Claire schlaflos daliegt, ein Schatten in Gestalt eines Doppelkreuzes hinweg. Er stammt von dem Fensterkreuz des wohl von einem vorbeifahrenden Auto angeleuchteten Hotels.
18:58 (Teil I)
In dem Lissaboner Hotel bedient sich ihr Bettgenosse Sam eines Kruzifixes, das er dem mit einer Pistole bewaffneten Phillip Winter unter einer Decke versteckt entgegenhält. Der Bluff gelingt, im Laufe des Films jedoch wird daraus tatsächlich blutiger Ernst. Sam Farber wird förmlich stigmatisiert. Im Höhepunkt seiner Passion muß Claire den nahezu Erblindeten aus einem Pachinko-Saal hinwegführen und läßt sein Augen-
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leiden dann in der japanischen Landherberge durch Herrn Mori7 behandeln. Während ihres langen Erschöpfungsschlafes kommen die beiden über den folgenden schockierenden Schwenk ins Bild: Von der Fensteraussicht auf ein Bambusgehölz her fährt die Kamera über Sams blutrote Füße auf ihn, der im blauen Kimono auf dem Rücken daliegt, die gekrümmten Finger seiner Rechten auf die Tasche mit der kostbaren Kamera gestreckt – in angedeuteter Kreuzigungsposition! Bei
04:44 (Teil II)
der nachfolgenden Behandlung Sams schneidet Mori im Hof Heilkräuter zu und markiert eine Tüte mit einem kreuzförmigen schwarzen Zeichen. Claire wechselt die Beutelchen aus, die in blauen Tassen mit rosenzweiggleichen Rändern aufbewahrt werden, und legt Sam ein dunkelrotes Tuch mit der Medizin auf die Augen. Die Passionszeichen begleiten Sam Farber den ganzen Weg über. Da ist noch in Berlin die Rosentapete auf der Zimmerwand, vor welcher Sam Onkel und Tante mit seiner Kamera aufnimmt, bis er sich bei Claires Erscheinen mit schmerzverzerrtem Gesicht davon abwendet. Eines der kleinen Buketts mit Rosen oder roseähnlichen Akeleien im Speisewagen der transsibirischen Eisenbahn befindet sich vor der deprimiert dasitzenden Claire. Und in dem Zugabteil, das Sam Farber soeben verlassen hat,
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Gespielt von Ryu Chishu, dem Lieblingsschauspieler des von Wenders als Lehrmeister des filmischen Sehens verehrten Regisseurs Yasujiro Ozu. Das von Wenders 1987 herausgegebene 400. Heft der ›Cahiers du cinéma‹ zeigt (auf S. 77) Ryu Chishu vor einem solchen Flipperautomaten (Photo während einer Drehpause zu ›Ochazuke no aji‹/›Geschmack von grünem Tee auf Reis‹, 1952; Ryu spielt in dem Film den Betreiber eines Pachinko-Salons, der sich dessen vor seinem ehemaligen Kriegskameraden schämt).
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KREUZ, ROSE UND ANDERE PASSIONSZEICHEN SAM FARBERS
erblickt sie nur noch eine englischsprachige Zeitung und einen vorgezogenen Fenstervorhang mit rotbraunen Blumen- und Kristallmustern.
Oben: 08:55
Unten: 01:21:09 (jeweils Teil II)
Sam Farbers Leidensweg ist mit der Heilung seiner Augen noch lange nicht beendet. Das nächste seiner Wundmale fügt ihm in San Francisco »Bernie« zu, der kein Bargeld akzeptierende hysterische Gebrauchtwagenhändler, der ihm Schläge und Tritte versetzt. Stöhnend liegt Sam danach auf einem Sofa und preßt sich ein rotes Tuch auf eine Stelle unterhalb des rechten Rippenbogens! In Coober Pedy zieht er sich dann eine schwere Fußverletzung zu, als er sich gegen die Tür des Polizeiwagens stemmt und ein Polizist sie mit brachialer Gewalt zuschlägt. Insofern diese Verletzung ihn von nun an bis beinahe zum Ende des Films als »Hinkefuß« auftreten läßt, deutet sie auf seinen ödipalen Vaterkonflikt hin. Insofern sie aber mit den blutroten Füßen des bei Herrn Mori so tief Schlafenden korrespondiert, gehört sie zugleich mit zum Komplex seiner Passionswunden. Wie zur Bestätigung dieser Verbindung hat Wenders nach dem ersten erfolgreichen Laborversuch Sams einen Kamerafahrt 63
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eingerichtet, die den Schwenk in der Herberge bei Herrn Mori wiederholt: Nach dem Umschnitt fährt die Kamera erneut von einer Fensteraussicht her auf das Bett mit den beiden zu, die diesmal aufeinanderliegen, wobei auch jetzt Sams Beine als erstes ins Bild kommen und zu erkennen ist, daß der rechte Fuß eine fleischfarbene Binde trägt (14:17; Teil III). Damit nicht genug. Wenn sich Sam nach der Notlandung mit dem Flugzeug an der Seite von Claire mit Rucksack und einem provisorisch zur Krücke hergerichteten Stock wieder auf den Weg macht, dann gleicht er darin der Nachfolgefigur des Wanderpredigers Christus im ›Ende der Gewalt‹, dem zu opfernden Sündenbock Ray Bering, der sich wiederholt mit Stecken und Rucksack an seiner Passionssäule vor der Sternwar1:25:14 (Teil II) te einfindet (Abb. S. 127f). Sam Farber nun, kaum eingetroffen im Laboratorium seines Vaters, erhält von der Ärztin Lydia sogleich eine neue mannshohe Krücke, die oben einem gehörnten Tierkopf ähnelt. Fragt man sich, warum eigentlich Claire-Penelope diesem Mann folgt, mag einem ihre Bemerkung beim ersten Zusammentreffen wieder in den Sinn kommen. Ihre Feststellung, er habe »traurige Augen«, spricht offenbar schon eine tiefere seelische Verwandtschaft an. So bezieht sich Claire denn auch einmal auf Goethes Novelle ›Die Wahlverwandtschaften‹, wenn sie auf Eugenes Frage, warum sie denn nach Berlin fliegen wolle, wo sie doch keine Freunde habe, nicht etwa die Verfolgung ihres Gelddiebes Trevor alias Sam anführt, sondern nur das Exemplar dieser ›Affinités électives‹ durchblättert und erwidert: »Manchmal sind Freunde – auch auf Reisen.« (44:01) In der Berliner Detektei von Phillip Winter findet sie sich dann übrigens mit einem Goethes Toscana-Hut nachempfundenen Modell ein.8 Claires verrückte Liebe ist selber stigmatisiert, fast bei jedem Annäherungsversuch und bei jedem Kuß kommt etwas dazwischen.
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Was wohl mehr ist als ein netter Gag. Auch bei Goethe tritt einmal eine Frau auf, die wie Claire-Penelope aus enttäuschter Liebe eine Wanderreise angetreten hat. Es ist dies die Heldin der von ihm aus dem Französischen übersetzten Novelle ›Die pilgernde Törin‹, die dem ungetreuen Geliebten vorleben will, wie man jemandem auch unter solch extremen Umständen treu bleiben kann. Und gleich einer Penelope revanchiert sich diese edle Landstreicherin für die gastliche Aufnahme jedesmal durch Arbeiten am Stickrahmen.
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ZUR METAMORPHOSE DER (SCHNEE-)KRISTALLE
Zur Metam orphose der (Schnee-)Krista lle Es ist dies das komplexeste Motiv des Films. Und auch in Andersens Märchen ›Die Schneekönigin‹, wo die Schneeflocken alle Stadien natürlicher Gestaltung durchlaufen, mal mit weißen Bienen und Hühnern verglichen werden, mal mit Sternen oder hydraköpfigen Ungeheuern. Ehe Karl von der Schneekönigin entführt wird, studiert er diese Flocken durch sein Brennglas und begeistert sich für sie, da für ihn eine jede »wie eine prächtige Blume oder ein sechseckiger Stern« aussieht, nur weit regelmäßiger als jede natürliche Blume. Bei Wenders nun baut sich die Bedrohung der Seele über ein Verweissystem von schneeweißen Objekten und Gebilden sei es kristalliner Struktur oder geometrisch regelmäßiger Muster auf, das gleichermaßen Kleidung, Innenräume, Stadtarchitektur und Landschaftsformationen miteinander in Beziehung setzt, bis endlich im gleißenden Laboratorium von Henry Farber die Mikrochip-Kristalle seiner Großcomputer einen Sturm so nie gesehener digitaler Bildmuster entfesseln: In Lyon läßt Claire nach der Kollision die Windschutzscheibe des Rovers durch eine neue ersetzen. Zusammen mit dem verfolgten Fremden, der sich ins Auto drängte, flüchtet sie aus der Werkstatt, ohne daß noch der Reparateur die »Schlagsahne« an der Scheibe entfernen konnte. In ihrem auffälligen Gefährt werden Claire und Trevor schon nach kurzer Zeit von zwei kuriosen schneeweißen »Police«-Fahrzeugen gestoppt und müssen sich mit einer »Hochzeitsreise« herausreden. In der Pariser Wohnung Eugenes ist die Wand zu beiden Seiten des großen Spiegels wie mit schimmernden Eisplacken überzoOben: 27:53
Unten: 1:04:21 (jeweils Teil I)
gen! Auch kommt hier immer wieder dieser Kühlschrank ins Bild, in dem das in Silberstanniol verpackte geraubte Geld deponiert wird. Das ironische Gegenstück dazu ist das Symbol eines Tresors, aus dem Claire einmal zum Zeichen des überzogenen Kontos funkelnde Sternchen oder auch Schneekristalle entgegenspringen.
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Von ausgesucht kristalliner Gestalt oder auch schneeweiß, strahlend und schimmernd sind in diesem Reisestationenfilm einige der stadtbeherrschenden Gebäude. Während Claires Einfahrt in die Stadt Paris zeigt die futuristische Bildmontage ein von Jean Nouvel entworfenes himmelhohes kolbenringförmiges Hochhaus und weiter daneben den marmorverkleideten offenen Kubus der »Grande Arche«, der nach den Vorstellungen des Architekten v. Sprekkelsen auch auf einen Mikrochip hindeutet. Neben Claires Hotel in Berlin ist das von zwei hellen wabenförmigen HochOben: 31:02
Unten: 44:51 (jeweils Teil I)
häusern flankierte Brandenburger Tor zu sehen und neben ihrem Hotel in Peking ein wie in Todeseis auf einem Tablett serviertes Modell vom Platz des Himmlischen Friedens.9 In San Francisco kommt von der Bar »Tosca’s« her, bei Chicos Anfahrt, die Gitterarchitektur der mit weißem Quarz verkleideten Transamerica Pyramide ins Bild. Und zu einer possenhaften Variante von Schneewittchen 9
Oben: 1:26:53
Unten: 24:50 (jeweils Teil II)
Wenders’ Modell ist nach den bekannten Photos vom 5. Juni 1989 gearbeitet, die einen einzelnen unbewaffneten Mann einem Panzer gegenüber zeigen. Die Szene spielte sich nicht auf dem Tiannanmen-Platz selber ab, doch während der Tage der Massaker an den dort demonstrierenden Studenten und Arbeitern.
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MAGIE DER OPALE
und etlichen rotgewandeten erregten Zwergen ließ sich Wenders durch das Tokioer Kapselhotel animieren, wo Claire in ihrem silbern schimmernden Waffenrock Sam Farber in einer der sargähnlichen Schlafzellen sucht (doch darin nur den gefesselten Phillip Winter findet). Entdeckt sie endlich den beinahe Erblindeten in dem Pachinko-Spielsaal, sieht man in einer Großaufnahme, wie er langsam die kristallgleiche Flippermaus aus der Hand gleiten läßt, um ihr zu folgen. Eine Geste, die sich in anderer Form bei seiner sterbenden Mutter Edith wiederfindet, wenn sie sich von Henry Farber mit den Worten verabschiedet: »Die Welt ist nicht in Ordnung, das weißt du genau ... Ich sag nicht: Ich gehe. Ich lasse nur los.« 1:34:04 (Teil I)
Magie der Opale Für die Stilisierung diverser Inneneinrichtungen hat Wenders die Gestalt eines anderen, nichtkristallinen Minerals gefunden, die des Opals. Der schimmernde, in seinem Farbenspiel berückende Edelstein ist im Film zunächst eine Art Dingsymbol für die detektivische Handlungsebene. Hinter den Opalen, die Sam Farber in seinem Jackenärmel mit sich führt, sind angeblich die Prämienjäger des australischen Opalminensyndikats her. Obgleich die Moskauer Detektivin klar56:38 (Teil I) stellt, daß der auf seinen Aliasnamen »Trevor McPhee« ausgestellte Steckbrief eine andere Person meint, ist Sam also irgendwie in den Besitz von Opalen gekommen und finanziert mit ihnen wiederholt seine Weiterreise. Ja, Coober Pedy als bedeutendstes Opalminengebiet der Welt wird gar zum Treffpunkt der Jäger und Gejagten. Ist der Opal handlungsdramaturgisch ein hitchcockscher McGuffin, der einige Zeit lang für eine oberflächliche Spannung sorgt, so hat er es doch als schillerndes Dingsymbol in sich. Zum einen erscheint er als Inkarnation der australischen Landschaft, als das Kostbarste aus dem Innern dieser Wüstenei. Zum anderen leitet er Sam Farber zu dessen Mutter Edith hin, die einen hellen Opal an der linken Hand trägt. Die helle Farbe ist typisch für den australischen Opal speziell in der Umgebung von Coober Pedy, wo sei67
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ne »weiße Matrix«, die man beim Abbau in hellen Staubfontänen aus der Erde herausbläst, viele weiße Abraumhalden hinterlassen hat. Als Sam
10:11 (Teil III)
notlanden muß, rast sein Flugzeug – man traut seinen Augen kaum – an einem ähnlich schneeweißen Hügel vorbei, der zu dem unweit von Coober Pedy gelegenen Gebirgsabbruch der »Breakaways« gehört. Der Opal, von den Aborigines »Stein der tausend Lichter« oder auch »Regenbogenstein« genannt und als Stein der verheißungsvollen Träume geschätzt, gewinnt in diesem Film von Mal zu Mal einen magischen Bezug zum Augenlicht und damit zu Sam Farbers Mission. Dies sollte eigentlich nicht 51:15 (Teil II) allzusehr verwundern. Eine Opalart, Hydrophan, wird seit dem 17. Jahrhundert in Europa als »das Weltauge« (»oculum mundi«) bezeichnet,10 und im Persischen und Arabischen wurde vom Opal überhaupt nur metaphorisch als von dem »Weltauge« oder »Sonnenauge« gesprochen. Wiederum ist es Claire, über die eine kleine ausgesuchte Kollektion von opalisierenden oder gestaltverwandten augenförmigen Fenstern und Spiegelbildern in den Blick kommt. Ein erstes, noch unscheinbares Gebilde ist die Opallünette im Portal des venezianischen Palazzos; zu sehen nur in 10 Zu den unbefriedigenden Erklärungsversuchen des Worts vgl. jeweils unter dem Stichwort »Weltauge« ›Deutsches Wörterbuch‹ Bd. XIV.1,1 (Leipzig 1955), Sp. 1539f. sowie Lüschen, Hans: ›Die Namen der Steine‹ (Thun 1968).
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der »Director’s-Cut-«Version, wo Claire nach Passieren einer blendend hellen Lichtinstallation die Treppe zum Ausgang des Gebäudes hinuntergeht. Im perlmuttschimmernden Türfenster der Wohnung von Sams Berliner Verwandten befindet sich im Zentrum ein Oval, das auf komplexe Weise in ein achtstrahliges Rechteck eingepaßt ist. Das große Fensteroval in Phillip Winters Büro hat ebenfalls eine achtstrahlige Verstrebung, die ein kleineres Oval in der Mitte einfaßt. Als die draußen vom Winde bewegten Baumzweige am Ende der Szene unbewegten weißen Schäfchenwolken in einem blauen Himmel Oben: 05:28 Unten: 48:18 (jeweils Teil I) gleichen, wird sogleich auf das dichte Gewölk umgeschnitten, das an beider Flugzeugfenster vorbeizieht! In diese Reihe der magischen Ovale gehört noch das Spiegelbild des Speisesaals in der transsibirischen Eisenbahn, den inzwischen alle anderen Gäste längst verlassen haben. Welch visueller und assoziativer Reichtum doch allein für dieses odysseische Motiv der Bedrohung des Auges! Von der Blendung Polyphems führt es weiter zu dem Anschlag auf die menschliche Wahrnehmung überhaupt. Einmal Oben: 05:28 Unten: 48:18 (jeweils Teil I) wird gar die australische Landschaft mit in dieses Bildmotiv einbezogen: Atemberaubend wie der Anblick des Schneehügels ist wenig später der eines anderen Hügels, den Claire und Sam auf ihrem Fußmarsch ersteigen. Die Kamera bleibt zuerst zurück, fährt dann aber in die Höhe und gibt den Blick frei auf eine veritable Oase in dieser Wüstenei, einen in dieser Perspektive ovalen Teich, der offenbar landschaftsgärtnerisch gestaltet und ringsum planiert wurde. Ist nicht das blaue Auge des Wasserlochs von üppigem Gras wie mit Wimpern umstanden?
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55:13 (Teil II)
Henry Fa rber als (aut o-)destru kti ver Sch öpfergott Doch wieder zurück zum Komplex der Schnee und Kristallgebilde, deren Sitz nicht wie in der ›Schneekönigin‹ Spitzbergen ist, sondern bei den Antipoden das Laboratorium von Henry Farber, das er in eine von den Aborigines angelegten Höhle einbauen ließ. Die Felspartien in der unmittelbaren Umgebung der Höhle schimmern und opalisieren, geradezu so, als hätte man sie am Sockel mit Silberfarbe bemalt. Schimmernd auch ein mit Ritzzeichen offenbar der Ureinwohner versehener handförmiger Felsblock gerade oberhalb der metallenen Zugangstür. Das Labor selbst
Oben: 1:11:31 (Teil II) Rechts: 1:21:3337 (Teil II)
ist mit heller Plastikfolie sowie mit bläulich und silbern glänzenden, glitzernden und funkelnden Apparaturen bestückt. »Willkommen in unserer
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Unterwelt!« So wird Claire von dem alten Peter hier begrüßt, in dieser High-Tech-Zone, deren Herzstück die Siliziumkristalle der Mikrochips
10:31 (Teil III)
sind. Die erste Person, die Sam Farber Claire im Labor vorstellt, ist Karl, dieser kleine Mann mit jungenhaftem Gesicht, der über Sams Kompliment, als Computerexperte »ein Genie« zu sein, still-entzückt vor sich hin lächelt und sich später wiederholt selbst als Genie bezeichnet. In Andersens ›Schneekönigin‹ beginnt der kleine Karl, kaum daß ihm jene fatalen Spiegelkörnchen ins Auge geraten sind, sich nicht bloß für die Exaktheit der Schneekristalle zu begeistern, vielmehr bricht nun auch der Stolz auf seine Rechenkünste hervor. Bei der Entführung will er noch ein Gebet sprechen, kann sich aber nur noch an das große Einmaleins entsinnen und gibt auf den Kuß der Königin hin sogleich damit an, sogar mit Brüchen kopfrechnen zu können. Hier also sitzt Karl ausdauernd vor dem Computer und ist auch der Verantwortliche für den »Countdown« des Bildübertragungsprogramms. Zu seinen wunderlich nordischen Attributen gehört diese Mütze11 mit hochgeschlagenen Seitenklappen; und seine Slapsticknummer als Pinguin, mit der er während einer Arbeitspause die Crew erheitert, indem er mit angelegten Armen und abgespreizten Händen zu dem blubbernden 11 Der australische Schauspieler Paul Livingston, ein Multitalent u.a. als Cartoonist, Sänger und Schriftsteller, war schon als Teenager kahlköpfig. Zwei Jahre vor Wenders’ Film spielte er in einer anderen filmischen Odyssee mit, ›The Navigator. A Medieval Odyssey‹ von Vincent Ward (1988). Er ist hier ein skurrilphilosophischer Kopf und vermittelt mit seinem Kindergesicht zwischen einem visionär begabten Neunjährigen und einer Gruppe von kumbrischen Männern, die auf der Flucht vor der Pest durch einen Schacht auf die andere Seite der Erde zu gelangen suchen und im infernalischen 20. Jahrhundert ankommen – so jedenfalls in der Traumvision dieses Jungen Griffin, der sich zuletzt mannhaft für sein Dorf opfert.
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Kühlwasser-Kubus eines Computers hinübertrippelt – wonach er zum Rollenwechsel den Pappbecher seiner Schnabelmaske ablegt, die rechte Hand in dieses Gebräu taucht und wie einst Kubricks »Dr. Seltsam« von der eigenen Hand konvulsivisch ergriffen und zu Boden geschleudert wird: ein parodistischer filmhistorischer Exkurs zum Topos des wahnsinnig gewordenen Forschers.12 Als Karl später einmal draußen neben Claire am Tische sitzt und sie darüber aufklärt, daß Henry Farber in seinem »Nobelpreis«Ehrgeiz bald auch mit dem »Anzapfen« Oben: 23:03
Unten: 31:28 (jeweils Teil III)
der Träume beginnen werde, ist die Kamera so plaziert und haben die beiden sich so geduckt, daß man jemanden mit einem Eisblock auf der Schulter hinter ihnen vorbeigehen sieht. Der »Schneekönig« wäre jetzt selbstverständlich Dr. Henry Farber, in dessen Reich Claire über seinen Sohn und Mittler Sam gelockt wurde und wo nun ihre außerordentliche visuelle Begabung ausgebeutet wird. Farber, in der Begrüßungsszene als die Gefühlskälte und Taktlosigkeit in Person vorgestellt, verfügt über seinen Sohn in einer Selbstverständlichkeit, die man so ähnlich von der religiösen Bereitschaft zum Menschenopfer im Alten Testament oder auch der Selbstopferung des neutestamentlichen Gottes her kennt. Auf Claires Bitte hin, Sam nicht wehzutun, entgegnet Farber wie erstaunt: »Er ist mein Sohn!« Und fährt fort, dessen Traumbilder betrachtend: »Siehst du, wir kennen dich. Wir wissen, was 12 Zugleich ist es sicherlich, wie schon bei Kubrick, eine Hommage an Fritz Langs ›Metropolis‹ (1927), wo der Erfinder Rotwang seine rechte Hand bei der Konstruktion des Automaten Hel eingebüßt und eine klauenartige, mit Leder überzogene Ersatzhand aus demselben Automatenstahl angefertigt hat. Zur Automatenfrau von ›Metropolis‹ vgl. auch S. 90f.
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dein Gehirn sieht. Und wir sind schlau. Wir lernen.« (49:59–50:04; Teil III). Wenig später provoziert er Claire mit der folgenden Apotheose seines Forschungsgegenstandes: »Wir machen Fortschritte ... Eine Kakophonie von Gehirnströmen, transponiert in eine Symphonie von Farben und Formen. Biochemische Bilder. Wenn ich Sam wäre, würde ich im 7. Himmel schweben. Das sind Sphärenklänge ... Das hier ist eine menschliche Seele, die sich selbst besingt, ihren eigenen Gott.« »Ich sehe da nichts von einem Gott.« »Doch, der Gott in uns selbst. Sehen Sie, er braucht nichts.« »Alles braucht er.« »Gar nichts, Claire. Er braucht nichts.« »Er wird uns mit Haut und Haaren verschlingen!« (51:07–56; Teil III)
Variiert wird hier das alte Motiv vom prometheischen Wissenschaftler, der sich zum Schöpfergott aufschwingt und nichts als bedauernswerte Monster zustande bringt, die sich am Ende oft gegen ihn selber wenden. Populär machte diese Tradition vor allem der deutsche expressionistische Stummfilm. Ein stehendes Attribut für diese dämonischen Forscher wie noch für Dr. Tyrell, den Androiden-»Vater« in Ridley Scotts ›Blade Runner‹, ist die auffällige Brille als Indiz einer übernatürlichen Wahrnehmungsgabe oder auch der Seelenmanipulation. Dr. Caligari, der als Psychiater angeblich nur die Hypothese von der absoluten Gefügigkeit der Somnambulen überprüfen will und den Schlafwandler Cesare unter Hypnose zum Morden aussendet, schiebt immer wieder die Brille hoch über seine 49:18 (Teil III) »Herr Dr. Jung! Herr Dr. Freud! ... « Stirn (und demaskiert sich so gelegentlich durch seinen frech triumphierenden Blick selbst). Auch Dr. Farber hält es ähnlich mit seiner Brille und parodiert dabei einmal zugleich, bei seinem vermeintlichen Triumph über die tiefenpsychologische Traumdeutung, C.G. Robert Wiene, Das Kabinett des Dr. Caligari (1919) 18:46
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Jung, der sich gern mit der Brille über der Stirne ablichten ließ. Farbers Doppelbrille mit Sonnenschutz würde als solche bei einem Augenarzt mit galvanischen Laborarbeiten nicht weiter auffallen, zeigt aber im Kontext des Films die obskure Verkehrung seiner Blindenforschung an, diese methodologische Schizophrenie darin, zunächst die Außenwelt über eine ausgeklügelte Wahrnehmungsübertragung zugänglich machen zu wollen, doch dann auf einmal das Innerste des Menschen nach außen zu kehren und diesem »Gott in uns« bei seinen Schöpfungsprozessen zuzusehen. Eine Weiterentwicklung der naiv-altehrwürdigen PrometheusFigur des Forschers, in der noch Dr. Henry Frankenstein stand. Dieser vergleicht sich in dem Filmklassiker von James Whale (1931) im ersten Triumphgefühl direkt mit dem christlichen Schöpfergott.13 Im Roman von Mary W. Shelley (1818) zeigt er schon ein tiefenpsychologisches Gespür dafür, daß die von ihm bald verabscheute namenlose Kreatur Ausdruck seines eigenen Unbewußten ist.14 In dieses Seeleninnere sucht nun Dr. Henry Farber mit den avancierteren biochemischen und -psychischen Verfahren der Naturwissenschaften und Informationstechnologie vorzudringen, um zuletzt wie Claire und Sam von den eigenen Traumbildern paralysiert zu werden. In Andersens ›Schneekönigin‹ ist die Brille übrigens ebenfalls Kennzeichen des hochmütig verblendeten Blicks, denn etliche von den Splitterchen aus dem Teufelsspiegel werden zu Brillenglas verarbeitet. Auch setzt sich Karl auf sein Augensplitterchen hin bald die Brille der Großmutter auf, imitiert ihre Sprechweise und parodiert anschließend die anderen Leute, die darüber gelacht und ihn für einen besonders gescheiten Kopf gehalten hatten.
Akte des Seh ens un d einer mani pulativen Bildübert ragung. Homma ge an Vermeer Noch während der Countdown für den ersten Laborversuch abläuft, erläutert Henry Farber Claire knapp die ganze Prozedur. Sam müsse sich 13 »It’s alive! … In the name of god! Now I know it feels like to be god!« (24:0412) Im Roman ist es die Kreatur, die ihrem Schöpfer vorhält: »Oh, Frankenstein ...Sei dessen eingedenk, du selbst hast mich geschaffen – ich sollte ja dein Adam sein! Doch bin ich eher dem gefallenen Engel zu vergleichen, den du um nichts von dir gestoßen.« Mary Wollstonecraft Shelley: ›Frankenstein oder Der neue Prometheus‹, übersetzt von Friedrich Polakovics (München 1970), 10. Kap., S. 135. 14 »Und nachgerade erschien mir dies Wesen ... als mein eigener Vampir, als mein aus dem Grabe auferstandener Leichnam, der da getrieben ward ... all das zu zerstören, was mir einstmals so teuer gewesen.« (7. Kap., a.a.O. S. 101). Die populäre Bezeichnung »Frankenstein« für das Geschöpf statt für seinen Schöpfers ist also in diesem tieferen Sinne durchaus triftig.
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das von ihm Aufgenommene (das »Primärbild«) nochmals ansehen, dann vergleiche der Computer seine »Gehirnströme« mit denen während seiner ersten Aufnahme. Irrelevantes werde dabei ausgefiltert und das Ganze sodann an das »empfangsbereite Gehirn« von Edith weitergegeben (1:18:52-19:12; Teil II). Der Erzähler Eugene ergänzt noch im Off, daß der Computer die Datenraster des »Aktes des Sehens« und des »Aktes der Erinnerung« beim Wiederbetrachten entschlüssele; und daß ihm beide »Datenraster« zusammen mit den »Aufzeichnungsbildern« (den »Primärbildern«) erlauben würden, »die Bilder wieder in Gehirnströme zurückzuverwandeln und in die Sehrinde des blinden Menschen zu senden« (1:21:09-38; Teil II). Der Zuschauer bekommt diese Kamerabilder zum erstenmal zu sehen, wenn Claire auf der Überfahrt nach San Francisco die mit Kabelanschlüssen bestückte Kopfkamera selber ausprobiert. Die wie opalisierende Vorderseite der Spezialkamera ist in viele kleine helle Rechtecke unterteilt, die während der Aufnahme öfter zwei größere Rechteckflächen bilden; derweil fährt über sie eine Art von Scanner horizontal und auch vertikal hin und her. Sam erklärt ihr währenddessen die Handhabung. Man müsse 13:31 – 14:10 (Teil II)
»mit den Augenbewegungen dem Computer folgen«. Die Computerspeicherung des Bildes werde um so klarer, je konzentrierter man hinschaue. Sam selber wird von Zeit zu Zeit im Gegenschuß als Bildmotiv auf einer 75
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Art LCD-Monitor (aus Flüssigkristall?) als Doppelbild gezeigt, über das ebenfalls ein Gitterwerk gelegt ist. Unter den zusätzlich angezeigten Datensätzen sind auch die der Hirnströme zu sehen. – Bei den späteren Bildaufzeichnungen lassen sich noch etliche Varianten erkennen, so wird das aufgezeichnete Motiv nicht mehr als Doppelbild dargeboten. Im Zusammenhang mit diesen neuen Kamerabildern hat Wenders des Malers gedacht, den er einmal als den einzigen bezeichnet, der für einen Filmemacher
17:59 (Teil II)
gelten könne, einen gleichsam »ultimativen Kameramann«15, da seine Bilder den Eindruck erweckten, sie könnten sich in Bewegung setzen. Es ist Jan Vermeer, der sich der Camera obscura als eines Hilfsmittels bediente und Maltechniken für farbige Schatten und ebenso für Lichtreflexe (»Pointillé«-Verfahren) erfand. Frei nach Motiven und Maltechniken von Vermeer hat Wenders nun das szenische Arrangement für Sams Schwester Else komponiert, als sie sich in San 15 In dem 1976 geführten Interview mit Jan Dawson; abgedruckt in: ›Wim Wenders. By Jan Dawson/translated by Carla Wartenberg‹ (New York 1982), S.23: »For a film-maker, Vermeer is the only painter there is. He’s really the only one who gives you the idea that his paintings could start moving. He’d be the ultimate cameraman, the ultimate top-notch cameraman.« Vermeers Gemälde ›Die Spitzenklöpplerin‹ bezeichnete Wenders an anderer Stelle als das Schönste, was er in der Malerei kenne. Interview mit Dieter Oßwald in: ›Stadtmagazine.de‹ (»Erstellungsdatum« des Artikels für das WEB: 4.5.04) [email protected]
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AKTE DES SEHENS UND EINER MANIPULATIVEN BILDÜBERTRAGUNG
Francisco vor die Spezialkamera setzt. Typisch für Vermeer sind dabei die Plazierung der Personen nahe beim Fenster, das seitlich hereinfallende Licht mit der Schattenbildung, die Farbgebung und vor allem der Bildaufbau mit betonter räumlicher Tiefenillusion durch Staffelung diverser Gegenstände wie Tisch, Krug und Wandkarte. Else kommt in Kopfhaltung und mit dem turbanähnlichen blauen Kopftuch dem ›Mädchen mit der Perle‹ (um 1665) am nächsten (eine seitenverkehrte Reproduktion war schon im ›Amerikanischen Freund‹ an einer Zimmerwand im American Hospital zu sehen). Für die Bildperspektive und -komposition käme am ehesten das Gemälde ›Offizier und lachendes Mädchen‹ (1658) in Frage. Daß Claire hier an die Stelle des Offiziers mit dem – in der Perspektive – wuchtigen Oberkörper gerückt ist, sollte angesichts ihrer kriegerisch-odysseischen Kleidung nicht be10:53 (Teil III) fremden.
Wim Wenders hat sich nicht mit den »Primärbildern« begnügt, sondern auch die Simulationsbilder dessen, was die Blinde wohl mitbekommt, in eigener Bildkomposition dargeboten. Zuerst werden diese aus unzähligen Bildpunkten zusammengesetzten, in raschem Wechsel der Farb- und Helligkeitswerte flimmernden Bilder auf den großen Laborbildschirm projiziert und daraufhin überprüft, ob sie zur Weiterleitung in die Sehrinde taugen. Die digitale Pixelstruktur der Bildmotive ist partiell nicht mehr kenntlich, besonders bei den späteren Traumbildern werden die Punkte
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und Flecken oft zu Mustern verwoben und die Bildmotive auch wie mit Schraffur- oder Gravurtechniken behandelt.16 Bei all dem hat der Computer einen großen interpretativen Freiraum eingeräumt bekommen. Schon für die erste Form der Bildübertragung in die Sehrinde der Erblindeten habe er »die Bilder wieder in Gehirnströme zurückzuverwandeln« oder, wie es in der englischen Originalversion heißt: »to translate these images in brain waves again« (1:21:0938; Teil II). Wenn man so will, ist dieser Computer als »Übersetzer« ein Konkurrent zu dem »Gott in uns«, dem menschlichen Unbewußten, dessen Traumbilder er hervorholt und visuell deutet. Erschütternd für Claire verfährt er bei den Traumbildern Sams, in denen auf einmal dessen kindlich verängstigtes Gesicht zu sehen ist.
Henry Farber
1:12:03 (Teil III)
Sam Farber
53:20 (Teil III)
Henry Farber vermutet, daß der Computer auf diese Weise die Emotionen des Träumenden sichtbar zu machen versuche; könne man doch im Traum das eigene Gesicht nicht sehen. Claire wendet hier ein, sich in ihren Träumen oft selber zu sehen (53:12-27; Teil III). Und wirklich widerfährt dies auch Henry Farber in seiner allerletzten Traumsequenz, der von ihm leise beseufzten »Vision seiner selbst« als eines greinenden Schreckgespenstes, dessen Mienenspiel an den Komiker Stan Laurel erinnert (1:11:56-1:12:10; Teil III). Daß man sich im Traum selbst sieht, ist ein relativ seltenes Phänomen und wird in der psychoanalytischen Traumlehre Freuds meist nur 16 Für seine Bilder, vor allem die in der Filmgeschichte bislang enttäuschenden Traumbilder, begann Wenders monatelang in einem Tokyoer Speziallabor mit dem digitalen »High-Definition«-Verfahren zu experimentieren, verfremdete die Zelluloidbilder in dieser Televisionstechnik (HDTV) auf alle erdenkliche Weise und belichtete sie zuletzt wieder zurück auf Film. Insbesondere die neuen faszinierenden Gestaltungsmöglichkeiten, pointillistische und andere Malweisen nachzuspielen, erprobte er hier und konnte so dem in den 60er Jahren aufgekommenen »Electronic Painting« ein eigenes Kapitel beisteuern. – Ergebnis der Gespräche, die er während der Konzipierung seines Films mit Augenärzten, Biochemikern und Computerspezialisten führte, war sein kleiner Essay ›Der Akt des Sehens‹ (abgedruckt in Wenders, Wim: ›The Act of Seeing‹, a.a.O., S. 31-33). Wenders hat sich für die filmische Fiktion weithin an diese theoretischen Vorüberlegungen gehalten.
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AKTE DES SEHENS UND EINER MANIPULATIVEN BILDÜBERTRAGUNG
unter Stichwörtern wie »Ich-Abspaltung« und »Maskierung« behandelt. Nach C.G. Jung freilich ist es oft eine auch anonyme kindliche Gestalt, die im Traum das Selbst repräsentiert. Wenn Wenders und sein australischer Drehbuchautor Peter Carey hier stärker der Jungschen Traumlehre zuzuneigen scheinen, dann sicherlich auch wegen dessen Lehre vom kollektiven Unbewußten, die ja ohne weiteres zu der schöpfungsmythisch orientierten Traumdeutung der Aborigines hinüberführt. In den ersten Traumwiedergaben erscheinen denn auch prähistorische Motive, die man so ähnlich von Höhlenzeichnungen her kennt (49:07-13; Teil III). Henry Farbers »Blutsbruder« Peter und seine Mitarbeiter haben inzwischen schon längst das Laboratorium verlassen, schockiert über die Aussicht, »das geheime Wissen unserer Ahnen« wie Wandbilder ausgestellt zu sehen (46:20-44; Teil III). Vereinzelt wird auch in Wenders’ Film der Träumende in der doch eher traumtypischen indirekten Anwesenheit gezeigt, am eindrucksstärksten in der wohl von Gauguin und Warhol zugleich inspirierten Horrorsequenz, als Henry Farber mit ausgebreiteten Armen und bei changierender, manchmal monochromer Kopffarbe offenbar ein Kleinkind umkreist (56:34–57:01; Teil III): Sams angsterfülltes Gesicht wäre ein schönes Gegenstück dazu gewesen! Und schon verfließt diese Szene in eine andere mit Claire, die Henry Farbers Armhaltung übernommen hat, doch alles in eigener beschwingter Manier weiterführt. Farbers anmaßende Rücksichtslosigkeit ist zuletzt so weit dahingeschmolzen, daß er wie sein eigener Patient apathisch vor dem kleinen Monitor mit den Traumaufzeichnungen daliegt und ohne Federlesens von den Prämienjägern abgeführt werden kann. Vorher allerdings, gleich nach dem von ihm verschuldeten Tod seiner Frau Edith, schlug er bedenkenlos den von Karl prognostizierten Weg ein. Die Bilder dieses Supercomputers wären nun »klar wie Kristall«, behauptete er und drängte Claire in einem abgefeimten, nur in der Director’s-Cut-Version gezeigten Zusammenspiel mit Sam dazu, ihre sie so beängstigenden Traumbilder ein einziges Mal nur aufzeichnen zu lassen (ab 53:29; Teil III). Bei diesem einen Mal konnte es nicht bleiben, sei Claire doch, so der Schriftsteller Eugene in seinem Erzählbericht, »ein offenes Buch für den Computer«, der nach den Vorversuchen ihre Gehirnströme leicht »entziffern« könne (ab 54:30; Teil III).
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Nekyia oder Gang in s Schattenrei ch des Unbewußten Der nun folgende tiefe Abstieg ins Unbewußte wäre für die Heldin Claire im Sinne der ›Odyssee‹ als Hadesfahrt aufzufassen, als Beschwörung der Toten und Schatten der Vergangenheit. Hat Odysseus in seiner Nekyia die herandrängenden, nach dem frischen Opferblut verlangenden Seelen der Verstorbenen abzuwehren, so erliegt Claire-Penelope um ein Haar den Schatten des Traumreichs, den längst verloren geglaubten Gestalten ihrer Kindheit, die vampirhaft an ihr und ihrem Verhältnis zu Sam zehren. Seit eh und je gelten die weiterexistierenden Toten als verschwistert mit den Traumgebilden, und Odysseus selbst spricht es bei seinem vergeblichen Versuch, die im Hades vorgefundene Mutter an sich zu drükken, in einem entsprechenden Vergleich aus: »Dreimal entschwebte sie leicht, wie ein Schatten oder ein Traumbild| Meinen umschlingenden Armen ...«. Antikleia nimmt diesen Vergleich auf, wenn sie dem Sohn die weitere Existenz der Verstorbenen mit den Worten erläutert: »... die Seele entfliegt, wie ein Traum, zu den Schatten der Tiefe« (11.206-222).17 Nun hat schon die Penelope der ›Odyssee‹ eine eigentümlich ambivalente Beziehung zum Traum. In ihrer Einsamkeit, Sehnsucht und Verzweiflung bringt ihr einzig der Schlaf Trost, in den sich freilich die Träume auf zweideutige Weise mischen. So lange hingehalten, beginnt sie auch solch tröstlichen Träumen zu mißtrauen, wie ihr einer von dem »Schattenbild« ihrer Schwester zugetragen wurde (4.795-841) und ein anderer ihr den noch jungen Odysseus wieder ins Bett brachte (20.87-90). Jetzt aber bezweifelt sie sogar ihren so einzigartigen Traum von dem Adler, der die zwanzig Gänse (die »Freier«) tötet und der zuletzt noch im Traum selber den Traum deutet, indem er sich ihr als der zurückkehrende Gemahl vorstellt. Als nämlich der Fremde, der noch unerkannte Odysseus, dieser Auslegung des Adlertraums beipflichtet, hält ihm Penelope entgegen, es lasse sich nicht entscheiden, ob es einer der Träume sei, die einem aus der »Pforte von Elfenbeine« täuschend zukommen, oder einer der Wahrträume aus der anderen »Pforte vom glattem Horne« (19.562567). Claires Alptraum, der den Film eröffnet, ist ebenfalls ein Vogeltraum, ja wird mit jenem Adlertraum dadurch vergleichbar, daß vom Weltraum her, in dem der Atomsatellit gerade »wie ein todbringender Raubvogel« über der Erde kreise, vier Überblendungen nahezu unmerklich auf die so17 So in der Übersetzung von Voss; bei Schadewaldt heißt es: »die Seele aber fliegt umher, davongeflogen wie ein Traum«. Nach den Vorstellungen mancher Stämme der Aborigines verläßt die Seele den Körper des Träumenden und findet mitunter nicht mehr zurück.
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NEKYIA ODER GANG INS SCHATTENREICH DES UNBEWUSSTEN
eben aus dem Traum Hochschreckende hinüberleiten. Visuell beherrscht werden jene Höhenansichten der Erde von dem hahnengleichen Relief des Grand Canyons. Claire selber schwebt in einer für den Film verworfenen Szene mit flatterndem Gewand vogelgleich einher und breitet langsam die Hände aus; dabei streift sie über ihr mit Trauerfarben bemaltes Gesicht und ein weiteres Mal über ihre Augen- Oben: 01:51 (Teil I) Unten: »Deleted Scenes« 17:01-13
winkel hin. Die Szene wird zunächst wie im Blue-Box-Verfahren als Rohmaterial für eine Traumaufzeichnung präsentiert und gleich danach als visuell überarbeiteter Traum dargeboten: Claires Finger sind nunmehr (raub-)vogelgleich zu Krallen zugespitzt. Mit dieser ihrer desperatesten Traumszene kontrastieren zum Ende des Films die Weltraumbilder mit dem marianischen Nimbus Claires. Rechts: »Burney-Relief« (vermutlich Inanna-Ishtar); Terracotta, um 2000 v.Chr.
Wohl bleibt sie dieser himmlischen Sphäre auch jetzt noch in ihrer angedeuteten Orantenhaltung (mit erhobenen Armen) verbunden, doch weisen ihre Raubvogelattribute eher auf eine altheidnische Himmelsgöttin wie die geflügelte raubvogelfüßige Ishtar zurück. Die gewaltige unbewußte Produktivität der menschlichen Träume wird bei Claire und Sam zunehmend vergiftet. Indem sich beide von der 81
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Welt und auch von einander isolieren, können ihre Träume nicht mehr die originäre Aufgabe erfüllen, die Konflikte zwischen Innen- und Außenwelt zu verarbeiten, sondern haben nach einiger Zeit nur noch sich selber zum Material: »Bald waren sie allesamt süchtig. Sie lebten nur noch, um ihre eigenen Träume anzuschauen. Und selbst wenn sie schliefen, träumten sie von ihren Träumen. Gemeinsam waren sie auf dem Eiland der Träume angelangt. Und doch waren sie Weltmeere auseinander und ertranken in ihrer nächtlichen Bilderflut.« (58:22-42; Teil III) Eingeleitet wird dieser Kommentar des Erzählers Eugene durch den Übergang von ihren Traumbildern zu einem höhlenartigen Ort, der die Entfremdung der beiden in ein phantastisches Bild bannt. Klein und verloren sitzt Claire am weißen Saum eines Salzsees (?) da, in die eigenen Traumbetrachtungen versunken wie Sam auf der gegenüberliegenden Seite.
58:26 (III 10)
Die Welt der australi schen Mbantua Entsetzt wenden sich die mit Henry Farber befreundeten Aborigines von ihm ab, als sie sehen, daß er dem schon im Laboratorium daliegenden alten Mann »seine Träume rauben« will. Träume, die nicht bloß die eigene Person betreffen, sondern das tabuierte »geheime Wissen unserer Ahnen« (so ihr Stammesführer Peter). Indem nämlich solche Träume um die Erschaffung der Welt durch die Ahnen kreisen, die als mythische Schöpfungszeit selber als ein Traumgeschehen verstanden wird, hat das Träumen für die Ureinwohner des Landes tiefere kosmogonische und religiöse Dimensionen als es der gängige »verniedlichende«18 Terminus ›dreamtime‹ (›Traumzeit‹) glauben macht. 18 So Elisabeth Strohscheidt in: ›Australien. Eine interdisziplinäre Einführung‹, hg. v. Rudolf Bader (Trier 2002), S. 68.
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Als derselbe alte Mann während der Anfahrt aller auf dem Pick-Up vor sich hin sang, erklärte Sam es Claire. Er singe das Land, das für die Eingeborenen wie eine Bibel sei. Nur dadurch, daß er als Hüter dieses Landstreifens den dazugehörigen Textabschnitt der Landesgeschichte singe, halte er das Land und sich selbst am Leben. (1:00-26–1:01:43; Teil II) Es war der englische Schriftsteller Bruce Chatwin, der in seinem hinreißenden Roman ›The Songlines‹ (1987) ein breiteres Publikum mit diesen Vorstellungen vertraut machte. In einem Gespräch mit dem Ich-Erzähler erläutert ein weißer australischer Lehrer, der die Kinder der Aborigines unterrichtet und die ihnen heiligen Orte gegen eine geplante Eisenbahnlinie verteidigt, die Bedeutung der »Songlines« anhand der Homerischen Epen: »Zumindest theoretisch konnte ganz Australien wie eine Partitur gelesen werden ... Man muß sich die Songlines wie Spaghetti aus Iliaden und Odysseen vorstellen, die sich hierhin und dorthin schlängelten, wobei jede ›Episode‹ den geologischen Formen abzulesen war ... Ein Mann, der ›Walkabout‹ ging, machte eine rituelle Reise. Er folgte den Fußspuren seines Ahnen. Er sang die Strophen seines Ahnen, ohne ein Wort oder eine Note zu ändern – und erschuf 19
so die Schöpfung neu.« Chatwin kommt wiederholt auf Homers Werke zurück, so wenn der Erzähler an einem Berg, der Ruhestätte des Eidechsen-Ahnen, die »Geschichte einer australischen Helena« vorgesungen bekommt und hernach im Gespräch mit dem Lehrer versucht, sich »eine Odyssee vorzustellen mit einem eigenen Vers für jede Abweichung und jeden Irrweg auf der zehnjährigen Reise des Helden« (a.a.O., S. 148). An einer anderen Stelle gibt er zu bedenken, ob nicht die griechische Mythologie ebenfalls »mit den Begriffen einer totemistischen Geographie interpretiert werden« könnte (S. 162).
Der auf dem Pick-Up mitfahrende Eugene hatte Sams Erläuterungen aufmerksam zugehört und als Erzählerstimme im Off bemerkt, daß er nach dem Verlust seiner Aufzeichnungen jetzt neu mit seinem Roman beginnen könne, mit einer nunmehr zukunftsoffenen Geschichte. Er schrieb sogleich jenen Satz nieder, mit dem die Filmhandlung eröffnet wird: »1999 war das Jahr, als der indische Atomsatellit außer Kontrolle geriet ...« Eugene, der Homer dieser Filmgeschichte, teilt in gewisser Weise jene magische Sicht der Eingeborenen, wenn er sich später davon überzeugt erklärt, Claire durch das Erzählen ihrer Geschichte »gesundgeschrieben« zu haben.
19 Bruce Chatwin: ›Traumpfade‹ (Frankfurt/Main 91999), S. 23f. Auch diese Übersetzung des Titels verkürzt den Gesangscharakter der ›Songlines‹.
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Der Film bezieht sich an seinen australischen Schauplätzen des öfteren auf Mythologie und Gegenwart der Ureinwohner, unter deren Schutz Farber das Laboratorium errichtete und von dem sie sich zuletzt verraten sehen. Wie der das Labor umschließende Felsen Ritzzeichen trägt, so sind auch die Gänge im Höhleninnern mit Felsmalereien bedeckt. Direkt unterhalb der metallenen Laufgitter befindet sich ein Geflecht von roten, blauen und gelben Kabelsträngen, das auch in dieser Farbgebung an die Systeme der Arterien, Venen und Nervenbahnen denken läßt. Das Ganze erscheint gleichsam wie der Rumpf unter dem »Kopf« des schimmernden Laboratoriums. Hier unten, wie in einer Krypta, findet sich wiederholt Edith Farbers Aborigine-Schwester Maisie ein. Nach ihrem vergeblichen Protest gegen die Versuche mit der Übernächtigten schlägt sie zornig gegen die Überdachung des Kabelsystems und wiegt zuletzt, kurz vor Ediths Ende, die Erschöpfte dort unten in den Armen, dabei eine Beschwörungsformel murmelnd. Die beiden kennen sich seit beinahe vier-
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zig Jahren, als Edith Farber hierhin kam, um ein Buch über die Mbantuafrauen zu schreiben. Gleichwohl mag einem dann unwohl werden, wenn nach dem Tod von »Edith Mbatuana« Sam Maisies Leib umklammert, die ausruft: »Mein Kind!« Und auch bei diesem schon erdmütterlichen Ritual dort unten, wie Maisie den Sand aus den Händen rieseln läßt und vor sich hin sagt: »Bald sind die Strahlen da. Sobald sie die Erde erreichen, töten sie uns.« (1:18:11-34; Teil II) Man sollte dabei freilich wissen, daß die Eingeborenen bis heute unter den britischen Atombombenversuchen zu leiden haben, die 1953-63 im südaustralischen Maralinga stattfanden (der Fallout ging auch auf Coober Pedy und noch auf das Mbantua-Gebiet Alice Springs nieder; einige umzäunte Landstriche bei Maralinga sollen wegen der Halbwertzeit des Plutoniums erst in 250.000 Jah84
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ren wieder bewohnbar sein). In einer Parallelmontage mit Claires Suchtentzug und Gesundung ist sodann zu verfolgen, wie Samuel Farber unter der Ägide seines Blutsbruders David einen rituell abgestuften Heilungsprozeß durchläuft. Als er zu einem entwurzelten weißen Eukalyptusbaum kommt, umklammert er – unter Klagerufen wie Claire – den Stamm, zerwühlt mit den Händen das erdige Wurzelgeflecht und klemmt sich zwischen Fels und Baumwurzel, den Leib dagegen stemmend (1:12:24-40; Teil III). In einer nicht in den Film aufgenommenen Szene kniet er vor einem gleichen weißen Bäumchen nieder, das sich in einem Felsen behaupten konnte, tastet wie ehrfürchtig den Stamm ab, lehnt sich dagegen und klettert langsam zum Blattwerk hoch – ein seelisches Gegenbild zu Claire, die derweil den Mittelpfahl eines dreieckigen Gerüsts erklommen hatte. Beide weißstämmigen Bäume scheinen Geistereukalyptusbäume zu sein, unter die sich in der Schlußszene von Chatwins Roman drei Eingeborene zum Sterben niedergelegt haben. Der Baum ist für die Ureinwohner eine vielfältige Abwehr- und Heilpflanze, gegen Geister ebenso wie gegen Gemüts- und Geisteskrankheiten.
26:08 (»Deleted Scenes«)
1:12:53 (Teil III)
Wim Wenders hat auch die steinzeitliche Vergangenheit der australischen Ureinwohner mit der biblischen Überlieferung verknüpft. Ich denke etwa daran, wie Sam Farber bei seiner Erläuterung des »Bibel«-Charakters, den das Land für die Aborigines habe, den nächstliegenden Felsen mit dem Walfisch von Jonas vergleicht; oder an die Trauergebärde von Henry Farber und Peter, sich »Asche aufs Haupt streuen«, was als Redewendung aus dem Buch Samuel bekannt wurde; und auch an die Namengebung für die Hauptfiguren der Eingeborenen, David und Peter, die einem beide als verkappte biblische Herrschergestalten vorkommen können. David20 trägt unter seinem Mechaniker-Overall ein leuchtend 20 Es ist zugleich der Vorname des Schauspielers, David Gulpilil, der jüngst in ›Rabbit Proof Fence‹ (›Long Walk Home‹, 2002) und in ›The Tracker‹ (2002) einen Spurensucher im Dienste der Weißen spielte. Er debütierte mit 15 Jahren in ›Walkabout‹ (1970), wo er als Aborigine während seiner Initiation, der rituellen Buschwanderung, einer jungen weißen Frau und ihrem kleinen Bruder im Outback zu überleben hilft. Er selbst will nach seinem vergeblichen
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goldfarbenes Hemd. Sein Namenspatron, der von dem Richter Samuel erkannte und zum König gesalbte Hirtenknabe, der den »bösen Geist« (Sauls) zu bannen vermochte, war Claire schon einmal in anderer Gestalt erschienen, in ihrem französischen Hotelzimmer nämlich, wo in der Nacht das Lichtkreuz über den Kopf des David von Michelangelo hinwegglitt. Oben: 32:21 (Teil II) David reicht Sam einen 7/16er für die Benzinpumpe Unten: Nicolas Roeg, Walkabout (1970) 1:25:34
Penelope a ls ma rianisch-a pokalyptische Figur? Die Verbindung von Claire-Penelope mit der Passionsfigur Sam Farber scheitert, beide haben an der Ausbeutung ihrer eigenen Seelenbilder mitgearbeitet und sich dabei immer weiter voneinander entfernt. Ein letztes Mal noch erscheint andeutungsweise Sam in der Nachfolge Christi, wenn er – derweil sein Vater aus dem Helikopter nach ihm Ausschau hält – in seiner Agonie den Baumstamm mit den Armen umklammert und schließWerben um die Frau und nach seiner schockierenden Beobachtung eines von weißen Jägern verübten Tiermassakers nicht mehr weiterleben. Die kruzixifähnlichen Armhaltung des im Baum Dahängenden hat Wenders nun offenbar auf den von David begleiteten Sam Farber übertragen.
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lich nach der (Todes-)Nacht zwischen den beiden Aborigines seine seelische Auferstehung erlebt. Claire Tourneur hat sich unterdessen längst einer anderen Mittlergestalt zugewandt, Edith Farber. Sie erzählt Claire ihre Lebensgeschichte an der Seite von Farber (25:20; III 2), und Claire liest der geborenen Französin in den Pausen der Bildübermittlung aus einem Buch vor, das von dem vergleichbar großartigen Außenseiterleben Gauguins auf Tahiti und seinem autobiographischen Werk ›Noa Noa‹ (›Wohlgeruch‹/›Duftende Insel‹) handelt (32:20: III 6). Die Kurzfassung des Films zeigte an dieser Stelle noch, wie Claire von Edith Farber einen roten Mantel geschenkt bekommt, den zu tragen sie hier keine Gelegenheit habe. Eine kleine rituelle Geste, die den Austausch zwischen beiden zu einer Art Transition werden läßt, als Übergang von der einen Existenz oder Lebensform hin zur anderen. Verstärkt wird dies durch die eine Überblendung, als Edith bei der ersten erfolgreichen Bildübertragung entzückt die Hände auf ihr Gesicht legt und das Gesicht ihres Mediums
9:04 (Teil III)
11:34 (Teil III)
Claire darüber geblendet wird, die so ebenfalls in der graublauen Haube erscheint, die Edith Farbers Kopf während der Bildübertragungen um-
1:24:59 (Teil III)
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schließt. Mit ihren blau aufleuchtenden Lichtpunkten läßt diese Haube an einen marianischen Sternenkranz denken und mitunter auch, wenn sie auf einem der kleineren Monitore zu sehen ist, an einen Nimbus oder Heiligenschein. Das ist denn doch schon eine Vorausdeutung auf den wie marianischen Charakter der Weltraumbilder am Ende des Films. Zudem tragen beide Frauen außer den üblichen blauen auch noch rote Laborkittel, die nun zusammen mit jener Übergabe des roten Mantels in Erinnerung rufen, daß Maria speziell als »Himmelskönigin« oft in einem roten Mantel abgebildet wird. Offenbar soll jene Erhöhung und Verklärung nicht bloß für Claire gelten, sondern auch für Edith Farber selbst. Zumal wenig später Vater und Sohn ihren Tod in einer Pietà beklagen, die wie Claires Odyssee eine weibliche Umkehrform der überlieferten Personenkonstellation darstellt.
39:18 (Teil III)
Paolo Veronese, Pietà (Membra Jesu nostri); um 1576-82
Was hat man von diesen Hindeutungen auf eine »Himmelfahrt« Claires oder ihre Rolle als einer neuen Himmelskönigin zu halten? Soll hier ernstlich eine so hohe unvergeßliche Gestalt der Antike wie Penelope zu einer christlichen Vorläuferfigur gemacht werden? Vergegenwärtigt man sich die mythologisch-ikonographische Herkunft der christlichen Mariengestalt, wird man einen anderen Eindruck gewinnen. Ist doch die Inthronisierung einer »Himmelskönigin« Maria, die ihren Fuß auf die Mondsichel setzt und oft von einem Sternenkranz umgeben ist, in ihrer Gleichsetzung mit dem »apokalyptischen Weib« der Offenbarung des Johannes (12,1-5) begründet, deren Attribute wiederum auf die heidnische Astarte/Ishtar/Isis zurückdeuten.21 In ihren Metamorphosen spielte diese
21 »Und es erschien ein großes Zeichen im Himmel: ein Weib, mit der Sonne bekleidet, und der Mond unter ihren Füßen und auf ihrem Haupte eine Krone von zwölf Sternen. ... Und sie ward schwanger und schrie in Kindesnöten ... Und ihr Kind ward entrückt zu Gott und seinem Stuhl.« Vgl. dazu ›Die Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft‹ (Tübingen 31960) Bd. 4, Sp. 748 (»es ist wohl eine ursprünglich mythische Gestalt«) sowie Malina, Bruce J.: ›Die Offenbarung des Johan-
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PENELOPE ALS MARIANISCH-APOKALYPTISCHE FIGUR?
jungfräuliche Mutter- und Himmelsgottheit ihre letzte große Rolle in Gestalt der Artemis von Ephesos. Hier, wo sich ihr berühmter Haupttempel befand, setzte das 3. ökumenische Konzil, das 431 n.Chr. in der ersten überhaupt errichteten Marienkirche tagte, für Maria den Titel einer »Gottesgebärerin« durch – was in der vergleichenden Religionswissenschaft als assimilierende Aufhebung der Artemis und ihres damals noch populären Kultes verstanden wurde. Weitere Attribute Marias wie der Mond und der blaue Mantel sowie das Mysterium einer jungfräulichen Mutter gehen ebenfalls auf die großen Muttergottheiten zurück.22 Auf diese Verquickungen war hinzuweisen, weil die griechische Artemis schon für die Penelope der ›Odyssee‹ eine gewisse Rolle spielt. Zweimal wird Penelopes Gestalt und Auftreten mit der von Artemis und Aphrodite verglichen (17.36f.; 19.53f.), und zweimal wünscht sich die angesichts der Freier Verzweifelnde den Tod durch Artemis’ sanft erlösenden Pfeil, das zweite Mal in einem längeren Gebet an die Göttin, in dem sie sich über die ihr von einem Dämon gesandten »schreckenden Träume« beklagt (18.201-204; 20.60-82). Die Erhebung von Claire-Penelope in die Sphäre der Himmelskönigin bleibt also sowohl im Horizont der ›Odyssee‹ als auch von Claire, deren depressiver Traum vom eigenen Himmelssturz den Film eröffnete. Und von den ersten Filmbildern an wurde ihrem persönlichsten Angsttraum eine apokalyptische Dimension verliehen, die neuzeitliche einer atomaren Verwüstung. Erinnert die freundlich-gelassene Schlußszene des Films allenfalls noch von fern an die Himmelskönigin der Apokalypse, oder hat sie weiterhin noch etwas von einem Menetekel? Wie mir scheint, hält der Film dies ebenso in der Schwebe wie Claire Tourneur als Himmelskönigin zwischen dem christlich-marianischen und dem altheidnisch-antiken Vorstellungskreis, der sich noch mit der apokalyptischen Gestalt der »Großen Hure« Babylon berührt (Claires aphroditische Hetärenrolle in Venedig!). All diese überlieferten Endzeitvisionen spielen hier allerdings nur noch eine Nebenrolle, als die eigentliche Apokalypse thematisiert Wenders den drohenden Untergang der menschlichen Psyche, die verheerenden Schäden durch den biodigitalen Einbruch
nes. Sternvisionen und Himmelsreisen‹ (Stuttgart 2002), S. 165-171 (Rekonstruktionsversuch über das Sternbild »Virgo/Jungfrau«). 22 Die kunstgeschichtliche Studie von Jutta Ströter-Bender ›Die Muttergottes. Das Marienbild in der christlichen Kunst; Symbolik und Spiritualität‹ (Köln 1992) kommt zu dem folgenden, die herkömmliche christologische Argumentation umkehrenden Ergebnis: »Das Konzil ... führte damit eine uralte orientalische Tradition fort, die aus der Parthogenese der Großen Mutter, ihrer Fähigkeit zur Selbstbefruchtung, auf die Göttlichkeit des Neugeborenen schloß.« (S. 11)
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in die Reservate der Persönlichkeit.23 Der nächste Schritt in Dr. Henry Farbers Versuchsreihe wäre der gewesen, auch noch Erinnerungen und womöglich Gedanken in Gestalt von Gehirnströmen lesbar zu machen. Ein Entblößen und Publikmachen, das jede Art von Vertraulichkeit, alle persönlichen Vorbehalte und Verwahrungen ebenso zerstören würde wie das produktive Potential, das im Bezweifeln und im nichtbewußten Heranreifen von Einsicht und Entscheidung liegt. Apokalyptisch daran ist die Aussicht, daß jene Fundamente der Individuierung von einem gegenwärtig sich heranbildenden Selbstgefühl unterspült werden, das sich als kollektives Bewußtsein versteht, als eine im Cyberspace von allen geteilte ›Noosphäre‹ oder Matrix. Eine Regression, die sich von der überkommenen biopsychischen Ausstattung des Menschen und von seinen letzten Jahrtausenden als von einer bloßen Vorgeschichte glaubt verabschieden zu können. Das bleibt in diesem Film noch weithin unausgesprochen. Auf die Regression jedoch deutet der Erzähler Eugene hin, wenn er angesichts der an ihrem Traumbilder-»Entzug« so leidenden Claire sarkastisch anmerkt, daß der Beginn des Johannesevangeliums (»Am Anfang war das Wort«) sich in »die Apokalypse« verkehren könnte, daß es am Ende nur noch Bilder gab (um 1:10:20; Teil III). *** Bei der Konstruktion seiner apokalyptisch-marianischen Penelope hat sich Wenders offensichtlich auf die beiden bis dahin bedeutendsten Filme zu diesem Themenkomplex bezogen, Fritz Langs ›Metropolis‹ (1927) und Stanley Kubricks ›A Space Odyssey‹ (1968). Jene »marianische« Überblendung, die von der unter ihrer leuchtenden und blinkenden Kopfhaube daliegenden Edith Farber auf Claire Tourneur hinüberführt, verläuft bei Wenders ähnlich wie bei Lang die Erschaffung der künstlichen Maria durch den Erfinder Rotwang. Diese dämonische Doppelgängerin der entführten und verkabelt neben ihr liegenden Arbeitermadonna Maria entsteht via Überblendung aus der mit eiFritz Lang Metropolis 1:09:3
23 »The end of the human brain«, so Wenders in einem Interview auf der italienischen »Director’s-Cut«-DVD (Disc 4, Kap. 1).
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ner Kopfhaube ausgerüsteten Automatenfrau HEL, die dabei von nimbusähnlichen Lichtringen umkreist wird. Lang hat diese marianische Ambivalenz drastisch als Schwarz-Weiß-Malerei ausgeführt, als Doppelgestalt der in einer Krypta unter Kreuzen predigenden Maria und ihrer Replik, die als neue babylonische Hure die Söhne der Oberstadt becirct und die Arbeiter drunten zur Revolution aufstachelt. Eher unterschwellig stilisiert Wenders Claire-Penelope in dem letzten Teil seines Films zu dieser apokalyptischen Maria und legt sie dabei so wenig fest, daß sie noch mit ihrer altehrwürdigen vorbiblischen und antiken Herkunft in Verbindung bleiben kann. So wird auch der ödipale Vater-Sohn-Konflikt, der in beiden Filmen eine christologische Dimension hat,24 bei Lang durch den sozialromantischen Handschlag der vor dem Domportal spielenden Schlußszene melodramatisch beigelegt, während er bei Wenders mit dem Tod der Eltern von Sam Farber und dessen Isolation ein ziemlich herbes Ende nimmt. Einmal erteilt Dr. Henry Farber aus vollem Herzen ein Lob, aber nicht etwa seinem Sohn: »Er ist ein Prachtkerl, dieser Computer!« ruft er aus (»This is a very smart little computer!« 29:59; Teil III) Eine derart emotionale Beziehung zu einem entscheidungsfähigen Computer hat Stanley Kubrick in seiner Odyssee zum erstenmal exemplarisch vorgeführt. Wie HAL sich in ›A Space Odyssey‹ (1968) zu einer empfindsamen Killermaschine entwickelt und nur nach erbitterter Gegenwehr des neuen Odysseus25 abgestellt werden kann, so droht nun Henry Farbers Programm der Seelenausspähung die Oberhand über seine menschlichen Erfinder und Anwender zu gewinnen. 24 »Vater –! Vater –! Nehmen zehn Stunden niemals ein Ende – – ?« So der in Kreuzigungsposition an den Zeigern der Maschine ermattende Sohn des Metropolis-Herrschers Fredersen, der sich für einen der Arbeiter opfert (Kap. 15; 40:48-56). Zu dem christologischen Ödipuskomplex in ›Metropolis‹ vgl. den DVD-Kommentar von Enno Patalas (2003 bei Eureka Video: 40:37-44 sowie 1:1142–1:12:13). Vgl. ferner S. 99f. des von Patalas zusammen mit Rainer Fabich verfaßten Buchs ›Metropolis in/aus Trümmern. Eine Filmgeschichte‹ (Berlin 2001). 25 Kubricks Odysseus heißt David Bowman (der »Bogner«), verliert als Kapitän des (Raum-)Schiffes wie einst Odysseus all seine Männer im Kampf gegen HAL – der Züge des einäugigen Polyphem und von Odysseus’ Todfeind Poseidon vereinigt – und macht bei seiner neuen Heimreise durch Raum und Zeit hin zu Jupiter eine Metamorphose durch, ein rapides Altern und eine Wiedergeburt als »Sternenkind«, die nun allerdings weit über die Verwandlung des Odysseus in einen alten Bettler und den wieder verjüngten Herrn über Ithaka hinausgeht. Der schwarze Monolith, der in der Menschheitsdämmerung zum Gebrauch der ersten (Tötungs-)Werkzeuge inspirierte und der zuletzt Bowmans sterbliche Hülle absorbiert, markiert in Kubricks Odyssee Beginn und Weiterentwicklung der techne, die seit langem mit Odysseus’ Namen verbunden ist und nun – wie auch in ›Paris, Texas‹ – in der Raumfahrt kulminiert. Wenders wird im ›Ende der Gewalt‹ auf Kubricks Monolithen zurückkommen (vgl. S. 130).
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Auch wenn das Schlimmste bei Kubrick wie bei Wenders noch eben abgewehrt wird, so halten doch die Schlußbilder beider Filme die weitere Entwicklung in der Schwebe. Enigmatisch wie Claires marianische Gebärde, die an ihrem Geburtstag hinunter zur Erde grüßt, ist die Schlußsequenz bei Kubrick, in der sein Odysseus vor dem schwarzen Monolithen in ein fötales »Sternenkind« verwandelt wird und sodann in seiner Fruchtblase unserem blauen Planeten gegenüber im Weltraum herantreibt.
Stanley Kubrick A Space Odyssey 2:14:19
1:24:15
(Teil III)
Odysseische Kindheit sabenteuer Wiederholt hat Wim Wenders auf Ibsens Versdrama ›Peer Gynt‹26 (1867) als Seitenstück zur ›Odyssee‹ hingewiesen, nicht aber auf Andersens großartiges, durch die ›Odyssee‹ inspiriertes Abenteuermärchen ›Die Schneekönigin‹ (1844). Ich möchte weiterhin offenlassen, ob Wenders dieses für Kinder bislang kühnste Gegenstück zu Homer überhaupt kannte, ob sich die Berührungspunkte mit seinem Film als nichtbewußte Erinnerungsspuren erklären lassen oder ob sie eher auf den Fundus christlicher Motive und Bilder zurückgehen, den er mit Andersen teilt. Allerdings erkenne ich die angesprochenen Motive außer in seinem späten ›Million Dollar Hotel‹ (vgl. S. 244f.) auch in dem Film wieder, den Wenders gleich nach ›Bis ans Ende der Welt‹ drehte, seinen 1993 in 26 »In ›Peer Gynt‹ wartet die Solveig ein Leben lang darauf, daß ihr Mann, wie versprochen, zu ihr zurückkommt, was er dann auch tut, nachdem er die Welt kreuz und quer bereist hat. In unserer Geschichte wartet Solveig ... keine Sekunde lang, sondern reist hinterher. Oder, um bei derselben Geschichte, aber der ältesten Fassung zu bleiben: Penelope bleibt nicht zu Hause, sie reist Odysseus hinterher und versucht, ihn einzuholen.« (Wenders in: ›The Act of Seeing‹, a.a.O. S. 30). Als Kontrastfolie zu der von Wenders geplanten filmischen Odyssee scheint Ibsens ›Peer Gynt‹ über Solveig Dommartin ins Blickfeld gekommen zu sein, die jedenfalls zusammen mit dem Regisseur als verantwortlich für die »Idee« des Films aufgeführt wird. Wenn übrigens Chico in dem französischen Landhotel die Banknoten aus dem Geldsack vor Claire hinschüttet, erklingt ein musikalisches Motiv (»Morgenstimmung«) aus Edvard Griegs ›Peer-Gynt-Suite‹.
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ODYSSEISCHE KINDHEITSABENTEUER
Cannes uraufgeführten zweiten Berliner Engelfilm ›In weiter Ferne, so nah!‹ (›Far Away, So Close‹). Hier thematisiert er ebenfalls das Motiv der Verblendung oder des korrumpierten Blicks27 und erzählt es wiederum als Sturz, diesmal als »Fall« des Engels Cassiel, der sich aus der Distanz des Geistwesens hinab ins Leben begibt, um die auf einem teufelskopfförmigen Hüpfeball wippende und vom Balkon hinunterstürzende kleine Raissa noch auffangen zu können. Dem Töchterchen seines ehemaligen Botenkollegen Damiel und dessen Frau Marion (Solveig Dommartin) stellt sich Cassiel als »Onkel Karl« vor, der, wie an seinem unpassenden Wintermantel zu ersehen, soeben aus dem hohen Norden käme, wo er Rentiere und Elche hätte fangen wollen, aber von einem Elch gebissen, zu seiner Heilung »natürlich« zu einem Lappen fahren mußte, durch Schneestürme und vorbei an heulenden Wölfen, des Nordlichts wegen mit ständig zugekniffenen Augen (56:58–57:41). Das stimmt ja weithin mit den Stationen und den näheren Begleitumständen der ›Schneekönigin‹ überein. Und gleich danach, als Cassiel für seine kurze irdische Existenz den Namen Karl Engel wählt und auf seine Ausweisphotos wartet, verletzt er sich an einem Rosendorn und ruft laut »Au!« (1:00:01) – wie der kleine Karl bei Andersen, als ihm unter den Rosenstöcken die Splitter des Teufelsspiegels in Auge und Herz dringen. Womöglich war Wenders inzwischen die thematische Nähe zwischen ›Bis ans Ende der Welt‹ und Andersens Märchen aufgegangen. Wenders’ umgekehrte Odyssee hat selber märchenhaften Charakter und berührt sich in einem fort mit Motiven der Kindheit. Schon diese Reise um die Welt wiederholt eine abenteuerliche Kinderreise. Wie Claire von Edith Farber erfährt, habe sie im wesentlichen die Stationen ihrer und Henry Farbers Flucht vor den Nazis wiederholt Als Zwölfjährige habe Edith den vierzehnjährigen Henry kennengelernt und sei mit ihm über Berlin, Paris und Lissabon schließlich in die Vereinigten Staaten gelangt. Eine Reise um die Welt, die nun Claire und Sam in Henry Farbers Traumbilder-Labor in beider eigene Kindheit zurückführen soll. Zeichenhaft für Claires Regression ist ihre Art, die Decke mit den Kreuzes-, Sternen- und Mäandermustern wie nur ein Kleinkind sein Schmusetuch überallhin mit sich zu schleppen. Auch Sam durchlebt in diesen Träumen erneut seine frühkindlichen Ängste; in einer der eindrucksvollsten Traum27 Das Motto des Films lautet nach Matthäus 6,22: »Die Leuchte Deines Leibes ist dein Auge; ist nun Dein Auge lauter, wird Dein ganzer Leib im Licht sein; ist aber Dein Auge böse, wird dein ganzer Leib im Finstern sein.«
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sequenzen umkreist ihn sein Vater vampirgleich mit entgegengestreckten Armen. Die während der Anfangsbilder des Films in dem musikalischen Präludium von Graeme Revell aufklingenden (australischen) Kindergesänge werden für Claire-Penelope zu lockende Sirenengesängen. Edith Farber hatte einst die Gesänge von Pygmäenkindern aufgenommen, die nun der Fremde, der Claires Vertrauen mit dem Photo seines Sohnes erschleicht und dem sie spontan ihren Schwangerschaftstraum erzählt, zuerst während der Fahrt im Rover vorspielen läßt und ihr zuletzt als Pfand für das geraubte Geld hinterlassen wird. Claire will sich dies und mehr zurückholen, und so werden die Gesänge eine Zeitlang zum Leitmotiv ihrer Verfolgung und Sehnsucht. Claire hört sie sich nach der Nacht mit Eugene zu seinem Befremden wieder an, und sie erklingen erneut – diesmal im Off –, als Claire an ihrem vermeintlichen Endziel Berlin angekommen ist. Dieser Tanz um die Welt wird auch zu einem Kinderreigen. In Venedig sind da Pietro und sein Spielfreund, die sich nebenher um die erwachsenen Party-Junkies zu kümmern haben. In Berlin läßt sich der verspielte Kopfgeldjäger Burt durch einige Straßenkinder wieder einmal vom Observieren ablenken. Claire selbst kopiert dort die Körperhaltung des Mädchens, das sich gegen Ende des Besuchs bei Sams Verwandten ihr gegenüber an der Opalfenstertür aufstellte und, sie nur herausfordernd anblickend, die Hände auf dem Rücken hielt: Nach dem Umschnitt steht Claire in derselben Haltung, mit dem Rücken an einer Säule, vor dem Adlon-Hotel da und wartet in wie mädchenhafter Ergebenheit auf den längst wieder Verschwundenen (48:49 und 48:54; Teil I). Eines der Kinder, die Claire in ihrem Videofax aus China zeigt, singt »Frère Jacques« für den Betrachter Eugene, mit dem sie sich sodann vor dem Tokyoer »Theater der Kinder« verabredet. Gegen Ende des ersten Teils der Trilogie verweilt die Kamera auf einigen japanischen Kindern, die während der Bahnfahrt vorne im Zug stehen dürfen. In dem Bergdorf Hakone tauchen schließlich – ebenfalls wie aus einem Film von Ozu – die beiden Schulknaben auf und lachen laut über das sich küssende Paar. Und das geht so weiter fort, bis die beiden im Mbantua-Kulturzentrum eintreffen, wo als erstes die herbeilaufenden Kinder aus einer Helikopterperspektive gezeigt werden und wo Chico (alias Hermes, das ewige göttliche Kind) mehrmals von Kindergrüppchen umringt wird. Ein dunkles Kapitel der Kindheit in Australien wird leider nur in den »Deleted Scenes« angedeutet. In einem kurzen abendlichen Gespräch erklärt Burt Ronda, daß er noch nach seiner Familie suche, aus der man ihn
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ODYSSEISCHE KINDHEITSABENTEUER
als Fünfjährigen weggeholt habe (14:19-55). Burt gehört also zu der »geraubten Generation« der vielen (Mischlings-)Kinder, die von 1910 bis ungefähr 1970 aus ihren Aborigine-Familien in Missionsschulen oder christlich orientierte Familien und staatliche Heimen verbracht wurden.28 Gekrönt wird der Komplex der Kindheit und ihrer Geschichte durch den drolligen Umstand, daß Claire auf der Suche nach einem Detektiv ausgerechnet an Phillip Winter gerät, der alles andere als ein hartgesottener Sam Spade oder Philipp Marlowe sei, vielmehr ein Spezialist für das Aufspüren vermißter Kinder. Als der Erzähler Eugene dies im Off verlauten läßt, klappern Winter und Claire auf der Suche nach Sam soeben vergeblich die Hotels ins Lissabon ab und kommen an einem Wandgemälde vorbei, das über der Jahreszahl 1996 einen Buch- oder Zeitungsleser und dahinter eine Gruppe von Kindern und Erwachsenen zeigt (53:4829 53; Teil I). Winters Spezialgebiet konnte man schon beinahe erahnen, als er in Berlin sein Computer-Suchprogramm mit den hüpfenden, winkenden und jubilierenden Kindern vorführte. Zugleich deutet dieser de28 Einige der australischen Schauspieler dieses Films erlitten ein vergleichbares Schicksal, engagierten sich bei entsprechenden Aufklärungsprojekten oder führten wie Ernie Dingo (»Burt«) und Jimmy Little (»Peter«) »Aussöhnungs«Kampagnen an. Justine Saunders (»Maisie«) wurde mit 11 Jahren von ihrer Mutter getrennt und gab 1991 aus Protest gegen regierungsamtliche Verlautbarungen, es hätte solche Verschleppungen nie gegeben, ihren australischen Orden zurück. Der in den 90er Jahren bekannt gewordenen Vereinigung »Stolen Generation« schloß sich auch David Gulpilil (»David«) an, der im Busch aufwuchs, dort initiiert wurde und zeremonieller Tänzer war. Der schon erwähnte Film ›Rabbit Proof Fence‹ (alias ›Long Walk Home‹), in dem er einen Fährtensucher spielt, handelt von dem Ausbruchsversuch dreier solcher Mädchen aus einem christlichen Umerziehungslager. Eine derartige Umerziehung ist auch das Thema von Jane Harrisons Stück ›Stolen‹ (1988), für das Kylie Belling (die Ärztin »Lydia«), Mitbegründerin eines Aboriginal-Theaters, auch Regie führte. Rhoda Roberts (die Biochemikerin »Ronda«) hatte die Trennung von Bruder, Mutter und Großmutter (»trans-generational trauma«) zu beklagen. Bart Willoughby (der junge Elektroniker »Ned«) kam als Kind in eine weiße Pflegefamilie und durchlief danach einige Erziehungsheime. Bei den Konzerten der Gruppe um Farber spielt er bescheiden auf einer Gitarre mit, und ist doch selber ein bekannter Musiker (wie übrigens auch der ebenfalls im Hintergrund mit der Gitarre zu sehende Jimmy Little, ein Sprecher der australischen Ureinwohner, der schon Mitte der 50er Jahre als Country Rocker populär war und als 16jähriger mit der Jodelversion ›Till the End of the World‹ von Hank Snow aufgetreten sein soll). 29 Womöglich ist es ein vordatiertes Gedenkbild für den 1896 verstorbenen, in Deutschland seinerzeit durch Theodor Fontanes Roman ›Der Stechlin‹ (1898) bekannt gewordenen poetischen »Kinderfreund« João de Deus, den Verfasser einer »Mutterfibel« (»Cartilha Maternal«), dessen Pädagogik in Portugal immer noch populär ist. Wie in ›Alice‹ bittet Winter während des Flugs – nun nach Lissabon – die Stewardeß um ein Kopfschmerzmittel. Und saß er zu Beginn von ›Alice‹ unter einer Strandpromenade und sang beim mißmutigen Betrachten eines Polaroidbildes ›Under the Boardwalk‹ vor sich hin, so richtet er sich jetzt nach der Ankunft aller im Mbantua-Kulturzentrum sogleich unterhalb einer Holzveranda ein (13:48; Teil III).
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tektivische Dienst an Kindern auf die unfreiwillige Rolle als Kinderbetreuer zurück, die er oder doch sein Namensvetter in ›Alice in den Städten‹ (1974) spielte.
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ANHANG: ZUR DIRECTOR’S-CUT-VERSION
Anhang: Zur Direct or’s-Cut-Versi on Der im September 1991 in Berlin uraufgeführte Film belief sich auf 179 Minuten. Wim Wenders bezeichnete diese Fassung später als die »Reader’s-Digest«-Version seines Films. Denn sie wäre ein Kompromiß gewesen, noch während des Schnitts habe sich abgezeichnet, daß die aus mehreren Ländern kommenden Koproduzenten einen Film von höchstens 2½ Stunden akzeptieren würden. Über das Ergebnis sei er so unglücklich gewesen, daß er – auf eigene Faust, zusammen mit seinem Editor Peter Przygodda – ein Jahr lang am Schnitt einer neuen Version arbeitete, die nun viereinhalb Stunden dauerte.30 Seit 1996 machte er diese als »Trilogie« dargebotene »Director’s-Cut«-Version (278 Minuten auf der von mir herangezogenen italienischen DVD) in einer Reihe von Sondervorführungen in aller Welt publik. Norbert Grob, der im Oktober 1997 die europäische Uraufführung im Frankfurter Filmmuseum sah, wies sogleich auf eine gegensinnige Tendenz hin, eine Bereicherung im Detail und eine Straffung in der Erzählstruktur: »Wo in der kommerziellen Version so viel bloß Behauptung blieb, dominiert nun die atmosphärische Schilderung. Es bleibt Zeit, den Dingen daneben zu folgen ... Wenders hat auch die Rolle seines Erzählers deutlich erweitert und gestärkt. Es sind Sam Neills Worte, die den Lauf der Dinge bündeln, mal zusammenfassen, mal hinweisen und erklären.«31 Diese erzählerische Straffung ist freilich nicht gleichbedeutend mit einer Stabilisierung der erzählten Geschichte. Vielmehr wird das Filmgeschehen streckenweise geradezu abgründig, indem der Erzähler Eugene zumindest Teile davon als Produkt seiner eigenen Phantasie oder Interpretation ausgibt. In der ersten Filmfassung wurde erst sehr spät deutlich, daß seine den Film dann und wann im Off kommentierende Stimme zu einer der mithandelnden Figuren gehört, die dem Zuschauer das Ganze schließlich auch als Stoff eines Roman vorstellt. Kaum hat aber Claire jetzt die Party in Venedig verlassen und der noch unbekannte Erzähler im Off eine kleine Eloge auf sie gehalten, deren Optimismus, Energie und Mut »wir alle« geliebt und deren Fähigkeit zur Selbstzerstörung alle leicht vergessen hätten, beginnt dieser Ich-Erzähler sogar von sich selber zu reden. Sogleich wird auf ihn umgeschnitten, der zu Hause im Halbdunkeln am Klavier einige matte Akkorde anschlägt und dabei weiterhin im Off berichtet, wie er nach der Trennung von Claire nun wieder seine Seelenruhe gefunden und mit seinem ersten Roman begonnen habe: Die30 Wim Wenders in einem Interview, das sich auf der italienischen DVD (2003) findet; Disk 4: Kap. 1 31 Grob, Norbert: ›Die Dauer öffnet den Blick‹, in: ›Die Zeit‹ (Hamburg) vom 17.10.1997, S. 64.
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ser Roman, dessen Heldin Claire sei, beginne damit, daß sie ihn vor zwei Monaten verlassen habe und irgendwo nun ein wildes Partyleben führe. Und schon wird wieder zurückgeschnitten auf sie, die soeben in einem Taxiboot Venedig verläßt (05:12–06:14; Teil I). Die in Venedig spielende Sequenz könnte demnach zumindest in den Details auch Fiktion oder Ausschmückung dieses Erzählers sein, der sich seit Claires Trennung von ihm völlig von der Außenwelt zurückgezogen hätte. Daß man jedenfalls Teile der Filmhandlung so zu lesen und ihren Status eines durch die Kamera beglaubigten, wirklich stattfindenden Ereignisses zu revidieren hat, wird gegen Ende des Films – ebenfalls nur in der Director’s-Cut-Version – exemplarisch vorgeführt (1:21:29–1:23:11; Teil III): In San Francisco tritt Claire wie schon bei der Hinreise an den in der Bar »Tosca’s« dasitzenden, mit seinem im Pfandhaus eingelösten Opal spielenden Sam Farber heran und reicht ihm, der beim Blick in den Spiegel erstarrte, stumm die Hand. Eine Szene, die unmittelbar danach in zwei Schritten dementiert wird, zuerst durch den Umschnitt auf die von unten her photographierte Tastatur einer Schreibmaschine, an der Eugene soeben arbeitet, und sodann durch dessen im Off verlautete Erklärung, er habe diese Szene in »Tosca’s« für das Ende seines Romans geschrieben, doch das Papier bald zerrissen, um »die Wahrheit« zu berichten. Sam sei zwar später wieder nach San Francisco zurückgekehrt, doch nur um sehen zu müssen – was nun ebenfalls von der Filmkamera gezeigt wird –, daß er Sohn und Frau für immer an einen anderen verloren hätte.32 Selbstverständlich hat Wenders in der Director’s-Cut-Version die Chance genutzt, einige undeutlich gebliebene Motive und gekappte Handlungsfäden wieder kenntlicher zu machen: So wird Claires Entfremdung von Sam dadurch plausibler, daß es nicht mehr allein Henry Farber ist, der sie drängt, an der Ausbeutung der Traumbilder mitzumachen. Das Ganze wirkt nunmehr geradezu wie ein Komplott zwischen Henry und Sam Farber, die auf Claire einreden und 32 Wenders hat schon einmal, in ›Hammett‹, ein an der Maschine schreibendes Händepaar so von unten her aufnehmen lassen. Die jetzige, in Hammetts Lieblingsbar »Tosca’s« spielende Szene ist nicht bloß eine Reminiszenz daran, sondern auch ein Hinweis auf eine ähnlich doppelbödige filmische Erzählweise. In ›Hammett‹ entwickelte sich nämlich aus dieser von unten her photographierten Einstellung, in einer Überblendung, die von Hammett soeben getippte Schlußszene seines Romans. Eine Hafenszene mit seinem ehemaligen Lehrmeister und Freund Jimmy Ryan, die am Ende des Films in abgewandelter Gestalt wieder auftaucht, diesmal aber als eine von Hammett an der Seite von Ryan wirklich erlebte Szene. Fiktion und Realität sind für die Schriftstellerexistenz von Hammett wie nun von Eugene Fitzptarick im Film mitunter kaum noch auseinanderzuhalten. Zumal beide zunehmend in das verwickelt werden, worüber sie eigentlich nur aus der vermeintlichen Distanz des Literaten schreiben wollten.
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sich mit einer abgefeimten Argumentation über ihre Furcht vor den Alpträumen hinwegsetzen. Der junge Farber ergänzt dabei das Vergleichsbild des alten Henry (»It’s like you’re the first woman to walk – «) mit dem schmeichelnden Wort » – on Venus«, einer weiteren Anspielung auf Claires aphroditisch-apokalyptische Rolle als Himmelskönigin (53:28– 54:24; Teil III). Wie sich Sam Farbers Beruf als Geologe nun deutlicher abzeichnet, so erfährt man jetzt zum erstenmal von Claires beruflichem oder vielmehr künstlerischem Vorleben, das man bislang allenfalls bei ihrem Auftritt auf der Neujahrsfete 1999/2000 erahnen konnte. Als nämlich der Fremde, den sie im Rover mitnimmt, fragt, was sie so täte, weicht sie aus und entgegnet in gut odysseischer Manier: »Alles und Nichts.« (»Everything. Nothing.«) Denn würde man fragen, was sie als Sängerin vorzuweisen habe, so sei es wirklich nichts, all ihre Tapes habe sie nach ihrer Liebesenttäuschung vernichtet (ab 29:54; Teil I). Auch ihre Freundin Makiko entschuldigt sich nun für ihren Treuebruch und erklärt, daß Claire damals gerade als Sängerin aufgetreten und sie deshalb mit Eugene ins Kino gegangen wäre (ab 41:22; Teil I). Erst die Director’s-Cut-Version thematisiert die interpretative Macht des Computers, der zur Überraschung von Henry Farber die Emotionen des Träumenden in die eigene Wiedergabe der Traumbilder einfließen läßt (in der erwähnten Motivberührung mit HAL aus Kubricks ›Space Odyssey‹). Auch erörtert Claire nun mit Henry Farber die hochinteressante Frage, ob man überhaupt – wie im Film fast ausschließlich zu sehen – im Traum das eigene Gesicht und den eigenen Körper erblicken könne. Die Welt der Aborigines tritt plastischer hervor, insbesondere die australischen Mitarbeiter Farbers gewinnen nun eigenes biographisches Profil. Ihr Oberhaupt Peter verfaßt so nebenbei ein Wörterbuch, nach dessen Stand sich die blinde Edith Farber erkundigt und sich darüber freut, daß er gerade am Artikel »Gesicht« schreibe. Gelegentlich wird jetzt das schon in der Kurzfassung präsentierte Filmmaterial visuell überarbeitet, am auffälligsten bei der Umwandlung einiger Tages- in Nachtszenen; darunter, besonders ausdrucksstark, die nun in fast rabenschwarze Dunkelheit getauchten Passionsszenen Claires, ihr Leiden während der Entzugs ihrer künstlich stimulierten Traumbilder. Vor allem aber wird erst die Director’s-Cut-Version der ungewöhnlichen Rolle der Musik für diesen Film gerecht. Es ist eine Doppelrolle, die zum einen die Musik und speziell das Musizieren innerhalb der Filmhandlung selbst betrifft und zum anderen die extern begleitende Musik, die jedoch kaum noch etwas von einer üblichen Begleitmusik hat. Für die Filmhand-
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lung wird jetzt kenntlicher, daß es das gemeinsame Musizieren ist, das all die Leute vereint, die es aus so unterschiedlichen Motiven in diese Ecke Australiens verschlagen hat. Und daß Chico in seiner verkappten Hermesrolle als erfinderischer Patron der Musik zum großen Mittler wird, alles Mögliche und Unmögliche als Schlagzeug benutzend und die anderen Zug um Zug zum Mitmachen animierend. Henry Farber verführt er dazu, rhythmisch mitzuklopfen und vermag sogar den bei den Mbantua ziemlich verloren wirkenden Prämienjäger Burt zu integrieren. Zusammen mit dem Didgeridoo-Spieler »Buzzer« (Charlie McMahon, einem Virtuosen auf diesem zeremoniellen Aborigine-Instrument) zieht er zuerst Philipp Winter mit seiner Mundharmonika hinzu und lockt die noch Zögerlichen wie Eugene, Peter, Ned und David mit ihren Instrumenten oder Gesangsstimmen heran, bis sie alle zu einem ersten größeren Konzert zusammenkommen. Die Kamera verweilt nach einen Schwenk über dem Lagerrund auf der Gruppe der Musizierenden und fährt dann immer näher auf den Klavier spielenden Eugene zu, der derweil im Off von seiner an diesem Abend gewonnenen Einsicht spricht, daß der eigentliche Zweck »unserer« Reise um den Erdball dieses gemeinschaftliche Musizieren angesichts der atomaren Katastrophe sei. Auch habe er beim Anblick der vor dem Fallout heranflüchtenden Aborigines gefühlt, daß diese Musik ein Gebet für den »verwundeten Planeten Erde« sei (27:51–29:44; Teil III). Eine schon schamanistische Frömmigkeit, die Eugene später dazu bewegen soll, durch seinen Roman Claire »gesundzuschreiben«. Am ungewöhnlichsten, ja im Grunde unerhört war Wenders’ Anfrage an 18 Bands und Solisten, ob sie bei seinem Film mitmachen und ihre Lieder so komponieren wollten, wie sie sich ihre Musik ungefähr in einem Jahrzehnt, um die Jahrtausendwende, vorstellen könnten. Lieder, die sich auch auf die Themen der Films beziehen und sogar »Teil der Geschichte« werden könnten, so wie einst der Chor im griechischen Drama die Handlung auf verschiedene Weise begleitet hätte.33 Waren in der Kurzfassung des Films von den meisten Songs nur Bruchstücke verblieben, so können sie sich nun viel freier entfalten. Wenders’ Vergleichswort von der lyrischen Begleitung als eines neuen griechischen »Chores« ist im Sinne des Horizontes von Claire-Penelope, darf allerdings nicht überstrapaziert werden. Während im antiken Drama der Chor als oft warnende, reflektierende und Sentenzen vortragende Stimme Stellung beziehen und sich besonders in Gestalt des Chorführers gelegentlich auch in das Geschehen einmischen konnte, können sich hier die meisten Songschreiber und Interpreten nur von fern her auf das Filmgeschehen beziehen. Weder sind ihre Stücke wie doch in der Antike die Auftritte des 33 Wenders im Kommentarteil der genannten italienischen DVD (Disc 4; Interview »Fino alla fine del cinema« 22:44–26:01).
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Chores als vom Autor ausformulierte Rollen zu betrachten, noch konnten die Musiker wie jüngst Ry Cooder für ›Paris, Texas‹ (1984) und Neil Young für Jim Jarmuschs ›Dead Man‹ (1995) das schon vorliegende Filmmaterial betrachten und musikalisch interpretieren. Wenn es für ›Bis ans Ende der Welt‹ so etwas wie einen Chorführer gab, dann war es der Regisseur Wenders, der beim Schnitt die Songs und andere Musikstücke der Filmhandlung zuordnete, wobei er nur ausnahmsweise eine Gesangsund Musikpartie in ihrer vollen Länge aufnahm. Immerhin wurde den Musikern die Filmhandlung offenbar so früh wie möglich in den großen Zügen beschrieben, sind doch etliche Songtexte unverkennbar – wie meist schon der Kurzfassung zu entnehmen34 – Interpretationen oder eigenwillige Fortführungen der Hauptthemen des Films. Eine gewisse Affinität zur Rolle des »Chores« haben freilich die wenigen »diegetischen« Songs und Musikpartien, die also zur Filmhandlung selbst gehören und von den Akteuren mehr oder minder aufmerksam rezipiert werden. Dazu gehört ›Sax and Violins‹ von den Talking Heads, ein Stück, das jetzt beim Klang von Claires zerspringendem Weinglas einsetzt und sich mit den ersten vernehmbaren Zeilen auf ebendiesen Handlungsteil bezieht, Claires alptraumhaften Sturz: »Falling, falling ... / I’m falling through the atmosphere« ist in der Director’s-Cut-Version neben apokalyptischen Versen wie »If lovers discover / That ev’ryone dies« zum erstenmal zu hören, während in der Kurzfassung des Films der Song erst beim Erscheinen des Leadsängers David Byrne auf dem großen Monitor aufkam, der unter dem Stichwort »Mom & Pop« das zweite Lebensmotiv Claires ansprach, ihre in Farbers Traumbildern wiederauftauchende einsame Kindheit. Diegetisch ist auch der von Claire in den CD-Player ihres Rovers geschobene Elvis-Song ›Summer kisses. / Winter tears‹. Beschwingt singt sie mit, als ihr Leitmotiv aufkommt (»like a falling star«) und wiederholt nun, anders als in der Kurzfassung, zum Schluß noch einmal für sich die Worte »leaving me« (»...leaving me to spend my nights / With dreams of yesterday«). Sie bezieht den Text demnach bewußt auf ihre eigene Situation, während sie später, in der Moskauer Bar, angetrunken und unter dem Einfluß von Burts Wahrheitsdroge, auf den Song ›Sleeping in the Devil’s Bed‹ unwillkürlich zu reagieren scheint, macht sie doch während dieses Liedes ihr indiskretes Geständnis zur Person von Trevor alias Sam 34 Mehrere Stücke zitieren den Filmtitel oder führen ihn spielerisch fort (»the radiance of time« heißt es so bei Patti und Fred Smith) oder lassen sich auf Thematik und Handlungsverlauf des Films ein, so CAN in den Songversen »Dreams seen by am man-made machine«. Bei ›The Adversary‹ von Crime and the City Solution mag einem der christliche Vater-Sohn-Komplex der Farbers in den Sinn kommen (»You see me ... / In your father’s doubt / Will he praise or shout?«), während Neneh Cherry in ›Move with Me‹ dem Namen der Heldin nachzusinnen scheint (»The clarity of thought / Is clear enough ...«).
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(»I would have been making love with him«). Erst die Director’s-CutVersion weist dies als eine diegetische, von Claire nichtbewußt rezipierte Musik aus, hat doch jetzt jemand in der Bar über Mikrophon den Songtitel und den Sänger Daniel Lanois angekündigt.35
*** Einige der noch in der Kurzfassung des Films enthaltenen Szenen hat Wenders nicht mehr in die Director’s-Cut-Version übernommen, darunter leider die erwähnte Übergabe von Edith Farbers rotem Mantel an Claire. Andere Szenen wurden wenigsten in dem DVD-Kapitel »Deleted scenes« untergebracht und auf diese Weise doch noch konserviert, so eine Reminiszenz an die Lotophagen-Episode der ›Odyssee‹, wenn nämlich Claire in der Moskauer Bar Burt empfiehlt, die von ihm in seinem Drink argwöhnisch beäugten »Blumen« doch einfach zu verschlucken (06:13). Erhalten blieben so ferner Burts Andeutungen zur »Stolen Generation«, als er von der neben ihm sitzenden Ronda nach seiner Herkunft gefragt wird, sowie die Traumszene mit der vogelgleich über dem Land schwebenden Claire. Vor allem aber Chicos Nebenrolle als Hermes, an deren Relevanz Wenders vermutlich Zweifel gekommen waren: Außer der angedeuteten Rolle als Seelenbegleiter (mit gekreuzten Füßen bei Edith Farber) enthält das Kapitel »Deleted scenes« noch weitere Anspielungen auf den Überbringer des Apfels beim Parisurteil und den erotischen Abenteurer (darunter Chicos französische Chansons während einer ausgelassenen Fahrt in der violett-pinkfarbenen Limousine in San Francisco). Die amerikanischen Filmkritiker Brent Plate und Tod Linafelt behaupten, daß schon die »Reader’s-Digest«-Version von 1991 bei den meisten Kritikern das Gefühl einer Überlänge hinterlassen habe und betrachten die 5-Stunden-Version als weitere Herausforderung an die Auf35 Selbstverständlich kann auch nichtdiegetische Musik die Phantasie des Zuschauers in die gewünschten Richtung lenken. So gewinnt der an sich nur einen künftigen interstellaren Tauschhandel persiflierende Song ›Humans from Earth‹ von T-Bone Burnett eine andere, apokalyptische Dimension, indem Teile daraus zugleich mit TV-Simulationsbildern vom angedrohten Abschuß des indischen Atomsatelliten zu hören sind. Eine entgegengesetzte, eher steinzeitliche postnukleare Entwicklungsstufe evoziert später Peter Gabriels ›The Blood of Eden‹, indem der Song gleich nach der Satellitenexplosion während des Fluges der beiden über Australien eingespielt wird. Stark beeindrucken kann schon eine einzige Liedzeile, die sich wie beschwörend auf die soeben ablaufende Teilhandlung zu beziehen scheint, so der die gesamte transsibirische Verfolgungsfahrt mit Anklängen an russische (Chor-)Musik begleitende Song ›The Adversary‹ (von Crime and the City Solution) mit dem düsteren »You run to me, run to me, run to me /...I go where you go«.
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nahmefähigkeit des Betrachters.36 Überfordert waren gewiß Zuschauer, die ohne Kenntnis der Kurzfassung die Sondervorführungen der Trilogie in Kinos besuchten. Im Grunde aber ist die Länge eines Films für ein angemessenes Verständnis unerheblich geworden, da mittlerweile jeder anspruchsvollere Film schon bei normaler Länge all die überfordert, die sich ihn nur im Kinosaal anschauen und hier meist nur einen ersten Eindruck bekommen können, der noch kein begründetes Urteil erlaubt. Dank neuer videotechnischer Hilfsmittel wie VHS und vor allem DVD sind die Möglichkeiten der Wahrnehmung und Analyse von Filmen jedenfalls so weit fortgeschritten, daß der Zuschauer wie zuvor nur der Leser eines Buches den Film studieren und sich nach Belieben darin hin und her bewegen kann.37 Weshalb neuere Regisseure sich zu Recht zunehmend Verdichtungen und eben auch Tiefenschichtungen erlauben, die in ihrer Komplexität vor Jahrzehnten noch undenkbar waren.
36 In ›Journal of Religion and Film‹ (Bd. 7, Nr. 1 vom April 2003): »a challenge to our perceptual limits of duration«. »At 158 minutes, most critics felt it was already too long ...« URL-Zitatquelle für diesen Artikel »Seeing Beyond the End of the World in ›Strange Days‹ and ›Until the End of the World‹«: http://avalon.unomaha.edu/jrf/Vol7No1/seebeyond.htm 37 Entsprechend wird die Filmkritik und -analyse der Zukunft intermedial so auszubauen sein, daß sie auch Filmszenen anbieten kann.
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AM ENDE DER GEWALT
AM ENDE DER GEW@LT (1997) (Drehzeit: Oktober 1996 – Juni 1997)
»›Definiere Gewalt!‹ sind die ersten Worte in diesem Film, gesprochen von der Stuntfrau Cat, bevor sie sich bei einer besonders gefährlichen Actionszene verletzt. Diese Frage wird sie später noch vielen Leuten stellen, u.a. dem Polizisten Doc, der nach dem entführten Filmproduzenten Mike Max fahndet und sich dabei in sie verliebt. Doch dies ist eigentlich nur ein netter Nebenschauplatz der Handlung, von denen es in diesem Film einige gibt. Daß sich die Geschichte aber nicht, wie in so vielen anderen vielschichtigen Erzählungen, in Chaos auflöst, sondern jederzeit nachvollziehbar bleibt, ist wirklich beeindruckend. Der Bezug zu den beiden Hauptfiguren, die, wie man später erfährt, ebenfalls miteinander verknüpft sind, bleibt ständig bestehen. Im Mittelpunkt des Geschehens steht oben erwähnter Produzent Mike Max, der sich auf gewaltträchtige Actionfilme spezialisiert hat und damit kommerziell recht erfolgreich ist. Er wird durch seine Entführung nun persönlich mit Gewalt konfrontiert, was sein Leben und seine Denkweise nachhaltig verändert, so daß er, nachdem er entkommt, nicht zu seinem bisherigen Leben zurückkehrt, sondern bei seinen mexikanischen Gärtnern untertaucht. Das erweist sich als vernünftig, da er nach wie vor auf der Abschußliste des FBI steht. Ein flüchtiger Bekannter hatte ihm nämlich geheime Daten zugemailt. Diese zweite Hauptfigur ist der Computerspezialist Ray Bering ... er betreut ein FBI-Projekt zur totalen satellitengestützten Videoüberwachung der Bevölkerung. In einem Observatorium über Los Angeles beobachtet er die Welt auf seinen Bildschirmen. Bevor Bering von der kleinen Tochter seiner südamerikanischen Putzfrau aus der Isolation gerissen wird, sind seine einzigen Kontakte zur Außenwelt die regelmäßigen Besuche bei seinem alten Vater (Sam Fuller in seiner letzten Rolle!) ...‹« Anja Drescher (URL: http://www.informatik.unifreiburg.de/~aka/ss98/WENDERS.html)
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FILMBEGINN IM VORSPANN
Film beginn im Vorspann Was ist das Kennzeichen für den Beginn eines Films? Gehört der Vorspann mit der Schrifteinblendung der Credits schon dazu? Nicht unbedingt, doch spielt dieser Film von Wenders zu Beginn hin und her zwischen den weithin in blauen Schriftzügen gehaltenen Credits und der Stuntszene von Cat, die zweifellos die Chronologie der erzählten Filmhandlung eröffnet. Nach dem kreuzförmig angeordneten »A Wim Wenders Film« folgen die Namen der Darsteller, wobei ein jeder wie der seine zu einer Wellenbewegung gestaltet wird: Hat man den Namen lesen können, kommt er – einigermaßen aggressiv – auf den Betrachter zu, wird größer und unschärfer, bis er gänzlich verschwimmt und nur noch als digitales Rechteck-Muster kenntlich ist. Aus dieser Unschärfe der blaugetönten Rechtecke heraus entwickelt sich der nächste Name, wird in nunmehr rückläufiger Bewegung immer kleiner und dabei besser lesbar, bis er zuletzt noch ein wenig hin und her bewegt wird, als würde er nachzittern oder -schaukeln. All dies geht jedesmal in einem zügigen Rhythmus vor sich und hinterläßt um so mehr den Eindruck heranschlagender und verschwappender Wellen, als auch die Lettern selber annähernd wellenförmig angeordnet und zudem von unregelmäßiger Größe sind. 00:25 - 00:28
Die Empfindung, es mit blauen Meereswogen zu tun zu haben, wird durch das zunehmend Diffuse der aufkommenden Computer-Raster-Gebilde sowohl gesteigert als auch in deren Höhepunkt, als sie entschieden die technologische Rechteckform der Pixelgeometrie annehmen, für kurz wieder gebrochen. Dieser spannungsgeladene Aufbau der Titelei bereitet offenbar schon auf die beiden Handlungszentren des Films vor, das eine unten in der Residenz am Meer und das andere der digitalen Überwachung oben in der Sternwarte. Auch im Aufbau des Filmtitels selbst scheint sich die versuchte Kontaktaufnahme der beiden Repräsentanten dieser Sphären, Mike Max und Ray Bering, anzukündigen. Denn der in roten Lettern geschriebene Titel tritt in Zwillingsgestalt auf, rückt gleich105
AM ENDE DER GEWALT
zeitig von der rechten wie von der linken Seite heran, bis beide Einzeltitel in der Bildmitte zur Deckung kommen. In diesem Augenblick leuchtet er weiß auf hellblauem Hintergrund auf, woraufhin die Buchstaben wieder ihr Ausgangsrot annehmen – bis auf das nun tiefblaue elektronische Verknüpfungszeichen »at«, auch bekannt als »Klammeraffe«, »Schnekke« oder »Ohr«. Noch ein zweites Mal wird der Filmtitel wie für eine Kontaktaufnahme aktiviert, strahlt weißblau auf und verschwindet zuletzt im Dunkeln.
00:42-46
Stuntgirl Cat als neue Pallas Athene Unterbrochen wird die Titelei durch die Stuntszene mit Cat. Ihre Frage nach der Definition von Gewalt und die ausweichende Antwort eines Assistenten war zuvor schon im Off zu vernehmen. Nun ist nah das Gesicht der jungen Frau zu betrachten, die im Selbstgespräch, die grünen oder graublauen Augen leicht gesenkt, jene Wesensfrage wiederholt und für ihren Job selbst beantwortet (»wenn man sich vom Schein täuschen läßt«). Die Kamera fährt ein wenig zurück, so daß man ihr rotes Kleid und das hinter ihr befestigte Seil erkennen kann. Auf das Kommando »Los!« hin wendet sie den Kopf zur Seite in die Richtung, aus der eine Explosionswolke auf sie zukommt. Cat fliegt davon, ruckartig aus dem Bildkader nach oben hin weggerissen. Der Umschnitt zeigt, wie die am Kranseil Hängende aus der Höhe hinunterfällt, kopfüber nahezu und wild strampelnd. Die Kamera schwenkt von ihr und den hinzugetretenen Helfern auf das im Halbkreis postierte Filmteam und wieder zurück zu ihr, deren blutende Wange erst jetzt bemerkt wird. Und schon wird zurück zum schwarzgrundierten Vorspann geschnitten, der über eine Minute lang mit seinen blau verflirrenden Schriftzügen weitergeführt wird! Und mit den von Beginn an präsenten Akkorden von Ry Cooders ›Define Violence‹, die in der jetzigen Stille wuchtig heranbranden und nachhallen.
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STUNTGIRL CAT ALS NEUE PALLAS ATHENE
Cats vorgeschalteter Stuntflug und seine Einbettung in die skizzierte Meereskulisse ist ein Prolog, der frei nach Homers ›Odyssee‹ anhebt und die Göttin oder vielmehr ihre Nachfolgefigur als die erste der Handelnden zeigt. Die fast nur auf dem Meer oder auf Inseln und in Küstennähe spielende ›Odyssee‹ zeigt ja als erste Aktion die, wie nach dem Musenanruf und dem kurzen Vorspiel im Olymp Odysseus’ Beschützerin Pallas Athene sich unverzüglich hinab zu seinem Sohn Telemach schwingt. Um ihm Mut zuzusprechen und ihn auf die Suche nach dem Verschollenen zu schicken, dem nach Zeus’ Beschluß die Heimkehr nicht mehr verwehrt wird, nähert sie sich Telemach in Männergestalt (als Mentes) und verläßt ihn in einer anderen Epiphanieform, »wie ein Vogel durch den Kamin« enteilend. Wie schon in der ›Ilias‹ wird die Heran- und Davoneilende auch in der ›Odyssee‹ wiederholt mit einem Vogel verglichen oder ihre Epiphanie in Vogelgestalt (als Schwalbe und Adler) beschrieben. Cats Rolle als Stuntgirl gestattet ihr nicht allein diesen »Flug«, vielmehr wäre diese Rolle auch eine zünftige Einkleidung für die kampferprobte Pallas Athene. Wie diese in der ›Odyssee‹ an der Seite des verfolgten Helden, so kämpft Cat – dies meine These – an der Seite des neuen Odysseus (Mike Max) und bringt wie dort Telemach (hier Detective Doc Block) auf die Spur des vermißten, von ihm glühend bewunderten – geistigen – Vaters. Über einige fundamentale Unterschiede, die nach drei Jahrtausenden der Menschen- und Göttergeschichte nicht verwundern dürfen, später mehr. Für jetzt wäre nur zu bemerken, für den weiteren Handlungsverlauf, daß Cat als Pallas zunehmend ihrer Rolle als der aufstachelnden Rachegöttin enthoben wird und gar, die einst spröde Jungfrau, am Ende eine Verbindung mit ihrem Telemach eingehen will. Und daß sie das Schicksal des neuen Odysseus auch darin teilt, daß sie sich schon in dieser ersten Aktion des Stuntflugs verletzt und später gar zusammen mit ihrem Schützling verprügelt wird. Für Cats göttliche Abkunft gibt es eine Reihe von Indizien, von denen man jedes einzelne als Zufall abtun kann, die in ihrer Gesamtheit jedoch tiefer blicken lassen. Ihre Vogelepiphanie wird zunächst akustisch dadurch verstärkt, daß just in dem Moment, als die soeben ins Bild Gekommene sich selbst die Frage nach dem Wesen der Gewalt stellt, für kurz Vogelgezwitscher zu hören ist (00:50). Cats persönlicher Tic, ihrem Gegenüber immer wieder eine Definition abzuverlangen, steht der Patronin der Weisheit und damit der Philosophie wohl an. Seit der Antike stellt die Philosophie ja genau diese Art von Wesensfragen – wobei die neue Patronin hier, beim Stunt, ironischerweise durch ihre Frage nach dem Wesen der Gewalt Opfer dieser Gewalt wird, da ihre Reflexion sie offensichtlich abgelenkt hat.
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AM ENDE DER GEWALT
Nun nimmt Athene nicht bloß gelegentlich Vogelgestalt an und führt eine Reihe von Vogelnamen unter ihren Titeln, vielmehr kann ihr Beiname »Glaukopis« sowohl als die »Eulenäugige/Die mit dem Eulenantlitz« übersetzt werden (nach »Glaux« = Eule, dem ihr heiligen Tier und Symbol der Weisheit) als auch als »grau-/grün-/blauäugig« oder »mit strahlenden/leuchtenden Augen« (was sich dann auf die unwiderstehliche Kriegs- und Rachegöttin bezieht). Die Rolle der großen Rächerin, die in der ›Ilias‹ auf Trojas Fall drängt und in der ›Odyssee‹ zur Vergeltung an den Freiern aufstachelt, übernimmt im Kleinen Cat in dem Film, in dem
Athena Mattei, Kopie einer Bronzestatue
Votivtafel, Mitte des 5. Jh. v. Chr.;
(5. Jh. v. Chr.), ca. 130-90 v. Chr.; Louvre
Akropolis-Museum
sie als Rächerin ihrer Schwester auftritt und sich dem Killer durch die Bemerkung zu erkennen gibt, daß sie sogar »im Hinterkopf Augen« habe. Eine aus der klassischen Literatur stammende Metapher,1 bei der ei-
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Plautus läßt in seiner ›Topfkomödie‹ den alten Geizkragen so über seine mißtrauische Dienerin reden (I 1, Vers 64).
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STUNTGIRL CAT ALS NEUE PALLAS ATHENE
nem sowohl die spektakuläre Kopfkreisbewegung der Eule als auch die Art in den Sinn kommen mag, wie die wachsame Schutzgöttin Athene ihren mitunter eulengesichtigen korinthischen Helm zu tragen pflegt, so, als besäße sie ein zusätzliches Augenpaar. Während Athenes Gewänder in einem Gegenwartsfilm sich relativ unverfänglich modifizieren ließen, wäre die Rüstung der Kriegsgöttin nur stark verfremdet darstellbar. Mit dem Roßhaarbusch-Helm und ihrem Speer kann sie sich heutzutage schwerlich präsentieren, jedoch mit Pferdeschwanz und einer in der Hand hochgestellten Zigarette, mit der Cat einmal auch den Anschlag ihrer Pistole übt. Oder mit einem solchen Schreibstift2 mit heller Metallspitze, den sie im Krankenhausbett in der Rechten hält, wenn sie Mike Max aus ihrem Zimmer scheucht (16:20). Und dann erscheint sie noch mit einem Wurfpfeil in der Hand, als sie die
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Mitte: Athena Vogüé, Ägina, ca. 460-450 v. Chr.; Louvre Rechts: Athena, Löwenmetope Olympia, ca. 460 v. Chr.
beiden Typen in der Kneipe zum Dartspiel herausfordert. Ein Äquivalent ihres Helms ist hinterher zu betrachten, wenn sie nach der Prügelei derangiert neben Mike Max vor der Tür dasitzt, mit blutender Nase und, ihrer Perücke beraubt, nur noch mit einem mützenartigen Haarnetz. Es ähnelt einem flachen Helm, wie Pallas ihn gelegentlich trägt (so die abgebildete Athena Vogüé), oder auch einer der Kappen wie bei der Athena Olympia, deren Nase hier wie so oft inzwischen leider versehrt ist. Eine Anspielung auf Cats kryptische Rolle erkenne ich auch in einer auf den ersten Blick unmotivierten visuellen Inszenierung. Als nämlich in dem Literatenclub eine Blondine zu dem Vers kommt: »Ich bin eine Illusion, ein Götterbild«, ist bei diesen Worten nicht mehr sie zu sehen, sondern wird auf Cat geschnitten, wie sie, von der Videokamera am Set 2
Mit einem Schreibutensil ist die gerüstete Pallas auf einer antiken Amphore abgebildet, die sich in der Staatliche Antikensammlung München befindet.
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AM ENDE DER GEWALT
gezeigt, für ihren Racheauftritt Puder auflegt (1:18:18-28). Ähnlich deutet einmal im ›Million Dollar Hotel‹ Eloise ihre kryptische Rolle der unsterblichen Göttin Aphrodite an, indem sie sich ihrem Hermes Tom Tom gegenüber als »eine Fiktion« bezeichnet und behauptet, nicht zu existieren und darum auch nicht sterben zu können. Der erste rüde Satz der jetzigen Rolle wäre nun allerdings eine Zumutung für die göttliche Jungfrau. Für die Probeaufnahme scheint Cat ihn denn auch verdrängt zu haben, ist jedenfalls sichtlich schockiert, als ihr Regisseur Zoltan sie überfallartig mit diesem zweideutigen Rollensatz anspricht: »Ich will dich ficken!« Die andere sie schockierende Sexualattacke dieses Films bekommt Cat in dem Literatentreff von Ade vorgelesen. Es ist deren lyrisch gehaltene Leidensgeschichte, wie sie vor dem Vater, der in ihrem Körper die ihm gestohlene Seele wiedersuche, sich feengleich ins eisige Seeleninnere der Prinzessin von Beverly Hills flüchte, die aber von all dem, der Gewalt und der verzweifelten Suche nach Hilfe, nichts bemerke: »Wer nie Seele vermißt, weiß doch nicht, wie das ist. Und ... daß er eine besitzt.« Cat freundet sich sehr bald mit Ade an und bezieht mit ihr ein Wohnungsversteck in South Central. Wenn der längst in sie verliebte Detective Doc Block sie dort wiederfindet, fällt sein Blick auf das Plakat einer wie klassisch-griechisch ge-
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wandeten Frau, das neben der Tür hängt. In blauen Schriftzügen auf einem säulenähnlichen ockergelben Untergrund trägt es die Devise: »Never Surrender [?] Your Soul!«3 3
Die Errettung der Seele ist ein zentrales Thema dieses Films und eröffnet schon die ›Odyssee‹. In dem als Motto von mir zitierten Proömium heißt es »Seine Seele zu retten und seiner Freunde Zurückkunft«, wobei »Seele« dort ziemlich handfest in dem Sinne zu verstehen ist wie »soul« in dem Notruf »SOS« (»Psyche« läßt sich in dem Vers der ›Odyssee‹ sowohl mit »Seele« als auch mit »Leben« übersetzen; letzteres taten u.a. J. H. Voß und W. Schadewaldt, während es im Englischen nüchterner mit »life« übersetzt zu werden pflegt).
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ODYSSEUS’ TECHNE UND MIKE MAX’ HIGH-TECH-EXISTENZ
Obgleich Cat in diesem Film mehrmals arg zerrupft wird und auch mit ihrer Filmrolle »eine volle Bruchlandung hinlegt«, vermag sie die gewisse ironische, halb mitleidige und halb nachsichtige Überlegenheit der unter Menschen wandelnden Gottheit durchzuhalten. Besonders gern trat ja Pallas in Menschengestalt an Odysseus heran und amüsierte sich über seine Lügenmärchen. Am schönsten sicherlich erscheint diese spöttische Erhabenheit in der Krankenhausszene wieder, wenn Cat die Schmeicheleien ihres Odysseus, der eine Schadensersatzklage verhindern will, sogleich durchschaut. Als sein Mobiltelephon klingelt und er zögert, ermuntert sie ihn mit sanfter Ironie. Und faßt er ihr erneut dreist auf das hochgestellte Knie und beugt sich zum Kuß auf Wange oder Mund hinunter, runzelt Cat wie zum Zeichen nur leicht die Stirn, auf die er sie dann küßt. Doch zuletzt dann ein kleiner Schock für den schon Weggehenden, dem sie in den Rücken zuruft: »He!« Er wendet sich verdattert zurück zu ihr, die ihm knapp erklärt, daß sie ihn ohnehin nicht hätte verklagen wollen. Sie entläßt ihn lächelnd mit diesem Abwinken der Wissenden: »Und jetzt raus!« Auch mit Doc Block treibt Cat ihr ironisches Spiel. Gewisse Subtilitäten sind freilich erst als solche zu erkennen, wenn man sich schon von beider kryptischem Rollenspiel hat überzeugen können. Plaudern so die beiden bei ihrem charmanten Anbandeln in der Drehpause darüber, wie sich Männer als Frauen und Frauen als Männer entpuppen könnten, wird man dabei nach allem auch an Pallas Athene denken dürfen, wie sie in der ›Odyssee‹ – anders als in der ›Ilias‹ – den Sterblichen gegenüber öfter zwischen beiden Geschlechterrollen hin und her wechselt und einmal sogar in Gestalt von Telemach dessen Schiffsmannschaft zusammensucht (Od. 2, 383-394).
Odysseu s’ techne un d Mike Max ’ High-Tech-Exi stenz Einen ersten Fingerzeig darauf, daß man es im ›Ende der Gewalt‹ mit einer neuen Version der ›Odyssee‹ zu tun haben dürfte, gab mir allerdings nicht der Prolog um Cat, sondern die nachfolgende Sequenz mit Michael Max, der da noch am Swimmingpool über dem Meer residiert und von Jenes Motto neben Cats und Ades Wohnungstür verbindet anscheinend die odysseische Dimension des vitalen Überlebenskampfes mit der geistigen oder spirituellen »Seelen«-Errettung (nach Matthäus 16,24-26?), die außer für Ade auch für den neuen Odysseus Mike Max zutrifft, seine Abkehr von der Gewalt. Und außerdem für Ray Berings Seelenkampf gegen seinen mephistophelischen Widersacher vom FBI, der ihm – wie einst Satan Christus – droben die Welt zu Füßen legt.
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dort aus sein »Millionen-Imperium« lenkt, indessen drinnen, umgeben von Antiquitäten, Gefäßen aller Art und Meeresdekor, Paige sich schon aus der Rolle der heroisch geduldigen Gemahlin zurückzuziehen beginnt. Max’ gegenwärtige Existenz als Filmproduzent wird vom ersten Moment an kunstvoll mit der Vergangenheit verflochten, durch die Erzählform des inneren Monologs nämlich, der damit einsetzt, daß ihn irgend etwas an diesem Tag an seine Kindheit am Meer erinnert habe. Während die Kamera wie schon für die in der Eröffnungsszene reflektierende Cat auf sein Gesicht konzentriert bleibt, ist von ihm im Off zu vernehmen, daß er in einem kleinen Ort am Meer mit vielen Fischerbooten groß geworden wäre, dort am liebsten ins Kino ging und Filme sah, die in ihm ein tiefes Mißtrauen hinterlassen hätten, da er unaufhörlich auf Gegenwehr gegen alle nur erdenklichen Feinde hätte sinnen müssen. Und derweil er nun dank modernster Hilfsmittel der Kommunikationstechnologie von dem einen Termin zum anderen navigiert, von Hawaii bis Tokyo seinen geschäftlichen Existenzkampf zu führen hat, kommt er immer wieder auf diese kindliche Angst vor dem Fremden zurück, die er für die eigene Person durch seine »High-Tech«-Gewaltfilme kompensiert, ja überwunden zu haben glaubt. Wisse er doch nun, daß der Feind nur in ihm selbst existiere. Spätestens am Ende dieser Sequenz, wenn Mike Max seinem mit allen Schikanen ausgerüsteten Arbeitsstuhl wie einem Behindertenstuhl entsteigt, wird das Ganze auch als Satire auf den gegenwärtigen Stand der technologischen Entwicklung kenntlich. Ihren Anfang nahm diese nach Adorno und Horkheimer von Odysseus’ »technƝ« (wie das griechische Wort auch für »List« lautet). List als mimikryhafte, bis zur Selbstdemütigung gehende Angleichung an die Übermacht und rohe Gewalt, um die eigene Haut zu retten, den Getäuschten zu manipulieren und im Lauf der Zeit alles um sich her, Mensch wie Natur, zu instrumentalisieren.4 List als aggressive Form der Selbstverleugnung, die seelengeschichtlich das anfänglich nur auf diese Weise zu bewahrende, ja allererst zu konstituierende Individuum und sein Selbstbewußtsein auf Dauer wieder zu korrumpieren oder zu verdinglichen droht. Hergeleitet wird der Name des Helden von »odyssesthai« = »hassen, zürnen«, so daß »Odysseus« meist als »Der allseits/vom Gotte/von allen Gehaßte« gedeutet wird.5 Wim Wenders, ein erklärter Bewunderer der ›Odyssee‹,6 scheint zweimal auf diese Namenstraditon anzuspielen. Einer 4 5 6
Horkheimer, Max und Adorno, Theodor W.: ›Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente‹ (Nijmegen 1944; Nachdruck Amsterdam 1955; vgl. hier S. 85f. zur »Mimikry«). Der Name ist insofern ambivalent, als er den Helden auch als Opfer des Hasses oder Zornes (insbesondere Poseidons) bezeichnen kann. Vgl. S. 15-17.
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GEBÄRDEN UND MILIEU EINER EMANZIPIERTEN PENELOPE
der mexikanischen Gärtner fragt den bei ihm untergetauchten Mike Max: »Bist du nicht irgend so ein großer Filmproduzent? Ich denke, euch hassen alle?« Und Paige, die gegenüber Doc Block ihre Schuldgefühle nach seinem Verschwinden andeutet, indem sie ihn nach dem möglichen Einfluß von »schlechten Gedanken« befragt, sagt über Mike: »Es gibt wohl kaum einen, der ihn nicht schon mal umbringen wollte. Ich auch oft.« Die Entwicklung des Produzenten Mike Max läßt sich wie folgt skizzieren: Dieser Odysseus macht auf dem Höhepunkt der »Dialektik der Aufklärung« nicht mehr mit und entzieht sich – zumindest auf seinem Spezialgebiet der filmischen Ausbeutung von Gewalt – der weiteren technologisch-kommerziellen Manipulation. Dies nicht allein kraft besserer Einsicht, sondern vor allem durch den heilsamen Schock des Überfalls. Wie in der ›Odyssee‹ bleibt er längere Zeit verschollen, wird wie bei den Phäaken in einem Gebüsch unweit des Strandes von Immigranten aufgefunden und gastfreundlich von ihnen aufgenommen, schleicht sich an der Seite dieser mexikanischen Gärtner, als wären es jetzt die Leute von Odysseus’ treuem Schweinehirten Eumäos, in den eigenen Palast hinein, wo sich längst einige Freier um seine Penelope eingefunden haben (Six und auch die Männer um Brian). Anstatt aber mit ihnen abzurechnen, verzichtet dieser Odysseus erneut, entsagt seinem Herrschaftsanspruch und verabschiedet sich auch von seiner Frau, die den Weg einer falschen Emanzipation einschlug und speziell das ihr vordem so verhaßte Geschäftsgebaren des Verschollenen zu kopieren begann.
Gebärden und Mi lieu einer emanzipie rten Penelope Wie Cat und Mike Max wird auch Paige mit einer Großaufnahme ihres Gesichts in den Film eingeführt. Sie steht am Fenster und blickt indig-
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niert auf den soeben lauthals über Brian schimpfenden Mike hinab. Ihr Gesicht ist im ersten Augenblick noch von einem hauchdünnen weißen Fenstervorhang wie verschleiert. Aufseufzend wirft sie dann den Kopf zurück, fährt sich durchs Haar und setzt sich, mit dem Gesicht immer noch zum Fenster und zur Kamera gewandt, auf die Kante einer weißbezogenen Liegestatt, eingerahmt von den wehenden Vorhängen, die mit ihrem weißen Negligé harmonieren. Noch einmal fährt sie sich durchs Haar, klemmt die Hände zwischen die Schenkel und seufzt erneut. Für Penelopes Namen gibt es wie für »Odysseus« zwei Auslegungen. Nach der einen Version bedeutet er soviel wie »mit einem zarten Gewand beschäftigt sein« oder »ein Gewebe auflösend«, was sich auf ihre List bezieht, die Freier dadurch hinzuhalten, daß sie das am Tage von ihr gewebte Stück des Totengewandes für Odysseus’ Vater Laertes des Nachts wieder auflöste. Erinnert das kostbare Negligé von Paige an das Gewand der weiter unten abgebildeten Weberin, so ihr erster Anblick mit dem wie verschleierten Gesicht an Penelopes einstige Entscheidung für Odysseus: Von ihrem Vater gefragt, ob sie ihn verlassen und sich mit Odysseus vermählen wolle, antwortete sie nicht, sondern zog zum Zeichen ihrer Bereitschaft schamhaft ihren Schleier ins Gesicht. Der anderen, von Herodot stammenden Version zufolge hat Penelope ihren Namen nach einer Vogelart erhalten. »Sie hieß erst Arnäa ... ich verweigere; weil ihr Vater sie nicht aufziehen wollte. Als sie aber hernach einige Vögel unterhielten, welche Penelopes hießen, so bekam sie von diesen ihren bekanntern Namen.« So die Wiedergabe von Hederich, der noch Details erzählt wie diese, daß das in einem »Becken« ins Meer ausgesetzte Mädchen – das Töchterchen der Wassernymphe Periboia – von den Vögeln mit Speise »unterhalten« und von ihnen in ihrem Gefährt schließlich dem Ufer entgegengeführt wurde.7 Der Swimmingpool am Meer paßt also nicht nur gut zu der Odyssee von Mike Max, sondern ebensogut zu Paige-Penelope. Noch in der Anfangssequenz ist der Pool in einem wundervollen Spiegelbild zu sehen, so, als befände er sich in ihrem Zimmer, zu ihr gehörig wie die goldene Vogel- oder Engelsschwinge in ihrem Rücken. Die hochgehaltene Hand mit dem Telephonhörer ist wie ihre dauernd zu Haar und Kopf hochgeführte Hand eine ironisch verfremdete Pose, die an die bedeutendste Bildtradition für Penelope anknüpft. Es ist dies die Haltung der »Trauernden« oder »Klagenden«, die den Kopf in die Hand stützt und zugleich zum Zeichen ihrer Keuschheit meist die Beine übereinandergeschlagen hat. So auf jener bekanntesten Abbildung, wo hinter ihr und Telemach
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Hederich, Benjamin: ›Gründliches mythologisches Lexikon‹ (Leipzig 1770) s v Penelope (Sp. 1932ff.)
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auf dem Webrahmen auch einige geflügelte mythologische Wesen zu erkennen sind.
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Unten: Penelope und Telemach, Malerei auf einem rotfigurigen Tongefäß (Skyphos), um 445 v. Chr.; Chiusi, Museo Archeologico
Nach dem einigermaßen absurden Telephonat, das Mike wieder abbrechen mußte, wirft sich Paige aufs Bett und spielt rasch die Gebärden ihrer Frustration durch: Zieht sich das Gewand fest zwischen die Beine, verschränkt Füße und Arme und fährt sich durchs Haar. So in etwa wird man sich auch Penelope auf ihrem tränenbenetzten »Bett des Kummers« vorzustellen haben, bis Pallas Athene wieder einmal mit dem erlösenden Schlaf herantritt oder ihr ein tröstliches Traumbild zusendet. Hier, beim 115
AM ENDE DER GEWALT
nächsten Auftritt von Paige, ereignet sich ein anderes kleines Mirakel. Den Kopf in die Hände gestützt, sitzt sie beim Kofferpacken erneut auf der Bettkante und schließt seufzend die Augen, als sich in ihr musikalisches Leitmotiv mit dem Schifferklavier Vogelgezwitscher mischt. Sie öffnet die Augen: Auf dem Geländerbalken vor ihrem Fenster mit den wehenden Vorhängen hat sich auf einmal ein kleiner Vogel eingefunden, der ihr weiterhin entgegenpiept! Paige kann zum ersten Mal wieder lächeln.
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Mit das Schönste an solchen von Wim Wenders herbeigezauberten Details ist ihre Mehrdeutigkeit. Wie all die Vasen, Masken und Skulpturen in dieser Malibuvilla in der Schwebe zwischen der kryptisch erzählten antiken und der angesprochenen mittelamerikanischen Kultur der Mayas gehalten sind, so läßt sich dieser kleine Vogel sowohl als einer aus der Schar der »Penelop(e)s«-Vögel als auch wie ein günstiges Omen für den von Paige noch beabsichtigten Aufbruch »ins Leben« nach »Guatemala« deuten, führt doch dieses Land in seinem Nationalwappen einen kleinen Vogel (den Quetzal). Auch nach ihrer Abkehr von diesem doch eher metaphorischen Fluchtziel bleibt Paige zeichenhaft mit dem Vogel verbunden. Denn er entpuppt sich über die folgenden szenischen Überleitungen als eine Art Liebesbote, der ihre Gebärden der Frustration erhört und ihr den frisch zur Lyrik bekehrten Gangsta-Rapper Six zuzuführen hilft: Unter nächtlichem Grillen- oder Zikadengezirp fährt die Kamera auf die Villa zu, bis im Innern silhouettenhaft, in der Gebetshaltung einer dort befindlichen schwarzen Frauenskulptur, Paige mit theatralisch zurückgebogenem Kopf vor dem gleichfalls aufs Bett hingeknieten Six zu erkennen ist. Von dieser Szene her wird auf etliche Vögel übergeblendet, die zwitschernd in einem Käfig bei Mike Max’ mexikanischen Gastgebern dasitzen. Der tritt an den Käfig und betrachtet das Treiben mit bitter-trauriger Miene. Und während dann zwischen ihm und der nun im Jeep allein durch die nächtlichen Straßen fahrenden und noch einmal auf116
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seufzenden Paige hin und her geschnitten wird, erklingen diese tröstlich gemeinten, angesichts der hier reihenweise dasitzenden Vögel jedoch nur sarkastisch aufzunehmenden Verse von Roy Orbisons Song ›You May Feel Me Crying‹ (»When we made love, you know we’re making love / To everyone we’ve ever made love to / So when you take him down inside / Just know I’m there with you ...«). Auch die meeresnahe Herkunft von Penelope wird durch eine solch gewagte visuelle Überleitung vor Augen geführt. »Ich liebe meine Frau noch sehr«, erklärt im Off der in seinem engen Asyl aus dem Schlaf gerissene, neben einem blau beleuchteten Aquarium daliegende Mike, als ihm ein zitronengelber Fisch besonders ins Auge fällt. Und schon wird vom Bassin her auf den Swimmingpool geschnitten, aus dem soeben Paige emportaucht. »Ich habe sie immer geliebt. Auch wenn ich sie habe leiden lassen«, ein »perverses Gefühl«, das er über lange Zeit hin genossen hätte. Während seines inneren Monologs
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Unten: 54:20 – 54:38
wird Paige, die wieder zurückschwimmt, unter Wasser gezeigt, bis sie in einer atemberaubenden Einstellung zusammen mit der Kamera aufzutauchen scheint. Genau besehen, ist die Kamera schon draußen und erfaßt den von der Auftauchenden überfluteten Bassinrand in einem so glücklichen Augenblick, daß der Blick der Kamera über ihn hinaus auf den Strandstreifen und das Meer fällt! Paige verweilt am Rand und schaut hinüber zum Meer. Beim Zurücktauchen wird sie wieder unter Wasser gezeigt und auf diese Weise erneut ein visueller Schock bei ihrem Auftauchen vorbereitet: Genau über ihr am Rande des Pools haben sich drei Männer aufgestellt, präsentiert in einem beklemmenden Bildausschnitt, der von ihnen nur die schwarzen Schuhe und Hosen zu erkennen gibt! Es sind dies die wie Six schwarzgekleideten »Freier«, die sie so förmlich umzingelt haben, unverschämt überdies, da Paige diesen Top117
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managern und dem von Mike schon gefeuerten Rechtsanwalt Brian ausrichten ließ, daß sie drinnen auf sie warten sollten. Findet sich Paige dann bei ihnen im Zimmer ein, mit noch feuchtem Haar und in einem zitronengelben Kleid, drängen sie sich immer näher an sie heran. Brian tritt sogleich dicht hinter Paige und spricht mal über ihre rechte, mal über ihr linke Schulter hinweg, um ihr die beiden anderen vorzustellen. In ihrer Verlegenheit gestattet sie ihm zu rauchen und bietet allen Kaffee und Champagner an – auch dies eine kleine Reminiszenz an die zudringlichen prassenden Freier in Odysseus’ Palast. Wie sich diese zeitgenössische Penelope bald mit der Männerwelt arrangiert, so verabschiedet sie sich von Cat alias Pallas Athene, die in der ›Odyssee‹ noch Hüterin ihres Schlafs und ihrer Träume war,8 mit der ernüchterten Erklärung, daß Träume oft überschätzt würden und es manchmal besser sei, durch eine Katastrophe wieder auf den Boden der Tatsachen geholt zu werden. Cat, die soeben mit ihrem Filmdebüt »eine volle Bruchlandung hingelegt« hat, kann sich für diese Belehrung nur ironisch bedanken (1:21:49–1:22:12).
Doc Bloc ks Telemachie Witzig verkappt wie Pallas Athene, die hier als Stuntgirl Cat einen zünftigen Beruf hat, erscheint auch ihr anderer Schützling Telemach, der nun als Detective ›Doc‹ Block hartnäckig nach dem vermißten »Vater« forschen kann. Man hat an der relativen Breite dieser Neben- und Liebeshandlung zwischen ihm und Cat Anstoß genommen.9 Kurioserweise wurde ähnlich an der ›Odyssee‹ eine erhebliche Retardation durch die Telemachie bemängelt, diese Erkundigungen nach dem verschollenen Odysseus, die Telemach unter Assistenz von Pallas an den Höfen in Pylos und Sparta einholt. Die Telemachie stellt die gedrängte Entwicklungsgeschichte des Jünglings zum Mann dar, der zuletzt an der Seite des Vaters zu kämpfen vermag und überdies, wie von Athene und Helena gewünscht, zur Ehe befähigt wird. Doc Block also verbindet sich mit Cat. Und hat sich zuvor, auf seiner Suche nach dem Vermißten, gegen seine älteren Berufskollegen zu behaupten, den Sheriff und den Ranger, die seine Nachforschungen zunehmend skeptisch kommentieren und als Phantasien eines Filmfreaks ausgeben, den nur ein »persönliches Motiv« umhertreibe. Gewiß, der vermißten und von ihm bewunderten Vaterfigur kann er sich hier nicht mehr zugesellen, da Mike Max sich anders ent8 9
Od. 4,795-841 und 16,449-451 Neal C. Carruth in ›The Michigan Daily‹ vom 21.10.97 URL: http://www.pub.umich.edu/daily/1997/oct/10-21-97/arts/arts5.html
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DOC BLOCKS TELEMACHIE
schieden hat und untergetaucht bleiben will. Der Lösung des Falles aber kommt Doc denkbar nahe und behält recht mit seiner Vermutung, daß die Ermordung der beiden Entführer nur die Spitze des Eisberges sei. Doc Block alias »Telemachos«, das heißt »Fernkämpfer« (wohl im Sinne von »Sohn des in der Ferne Kämpfenden«), trifft in dem Film einmal mit Paige-Penelope zusammen, gleich nach dem Verschwinden von Mike Max. Statt des üblichen Verhörs führt dieser Detektiv, der einige Semester Medizin und Psychologie studierte, ein merkwürdig telepathisches Gespräch mit ihr. Zunächst erklärt er, sich zu 100 Prozent sicher zu sein, daß Mike noch lebe. Paige vertraut ihm daraufhin ihre innersten Empfindungen an, ihren Haß ebenso wie diese Angst in ihrem »Unterbewußtsein«, mit der von Mike gesteuerten »Rakete« früher oder später einmal abzustürzen. Ihrer Frage, ob wohl Gedanken und Wünsche »wie ein Stoßgebet« wirken könnten, stimmt Doc enthusiastisch zu und führt das Exempel aus der Quantenphysik an, wonach die bloße Betrachtung von subnuklearen Partikeln diese zerstörten. Zudem verändere das Betrachten den Betrachtenden – wie an ihm selbst zu erkennen, da er nur hier sei, weil er die Filme des Verschwundenen gesehen habe. Warum sie eigentlich frage? Als Paige hierbei in Tränen ausbricht, geht Doc auf sie zu, die sich schluchzend an ihn lehnt. An dieser Stelle erfolgt der Umschnitt auf das Opfer Mike, der im Haus der Gärtnerkolonne soeben zu sich kommt und in einer solchen Position daliegt, den einen Arm übers Gesicht gelegt und den anderen hoch gegen die Wand gestellt, daß sich
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hierin beider Umarmung andeutungsweise fortsetzt. Unterstützt wird diese kryptische Geste familiärer Zusammengehörigkeit durch ein erneutes Gezwitscher, das während des telepathischen Zwiegesprächs ständig im Hintergrund zu hören war und nun in voller Lautstärke bei Mike zu vernehmen ist, vor dessen Fenster einige Vogelkäfige hängen. – Sollte Wenders bei dieser zeichenhaften Umarmung die beiden berühmten Wiedererkennungsszenen zwischen Odysseus und der weinenden Penelope (Od. 23, 207) sowie dem weinenden Odysseus und seinem Vater Laertes (Od. 24, 317ff.) im Sinn gehabt haben?
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AM ENDE DER GEWALT
John Flaxman, The meeting of Odysseus
Odysseus und Laertes, Bruchstück eines
and Penelope (Ausschnitt) 1805
römischen Sarkophagreliefs Mitte 2. Jh.
London, Tate Gallery
n. Chr. Rom, Museo Baracco
Stationen einer ›O dyssee‹ mit offenem Ausgang Wie James Joyce in ›Ulysses‹ (1922) hat Wim Wenders offenbar einige Schauplätze nach den Stationen der ›Odyssee‹ eingerichtet. Bei Joyce war dies relativ leicht zu entschlüsseln, weil der Buchtitel und erst recht die zeitweilig von ihm gewählten Kapitelüberschriften wie »Telemachus« und »Sirenen« zu einer entsprechend detaillierten Interpretation aufforderten. Wenders hat sich zu der odysseischen Grundthematik vom ›Ende der Gewalt‹ ebensowenig wie zu seinen anderen kryptischen Themen je geäußert. Zudem sind die folgenden locker mit der ›Odyssee‹ verbundenen Schauplätze und Szenen durchweg ironisch oder satirisch verfremdet: Wie ausgeführt, halte ich die Malibuvilla in ihrer Lage über dem Meer und in Details ihrer Inneneinrichtung, die noch ein stattliches Portal aufweist, für ein treffliches Pendant zu Odysseus’ Palast auf Ithaka. Sodann erinnert die Gruppe der Latino-Gärtner an die gastfreundlichen, einst immigrierten Phäaken und zugleich an Eumaios und die anderen Hirten des Odysseus, die den als Bettler Verkleideten bei sich bewirten, aufnehmen und ihm behilflich sind, sich in den eigenen Palast einzuschleichen. Neu abgehandelt im Sinne des längst fälligen Gewaltverzichts wird so anscheinend auch das Motiv des Kampfes zwischen diesen 120
STATIONEN EINER ›ODYSSEE‹ MIT OFFENEM AUSGANG
Gefolgsleuten und den »Freiern«. Ich denke an die Parallelmontage im 14. DVD-Kapitel, wo zunächst von den dreist zu Paige an den Pool herangetretenen Managern zu dem anderen Freier SIX geschnitten wird, der sogleich von der »Eumaois«-Gruppe per Mobilphone attackiert und – wohl in Anspielung auf den Schlußvers von Rilkes ›Archaischer Torso Apollos‹ – zur Abkehr von seiner Rap-Gewaltpropaganda aufgefordert wird: »Du mußt dich ändern!«10 Die anschließende Szene führt wieder zurück auf die inzwischen ins Innere der Villa vorgedrungenen Manager, woraufhin erneut ein Umschnitt zu Max und den Gärtnern erfolgt, die soeben in einer Cantina mit Bier auf ihre nächste gemeinsame Attacke anstoßen, den im Internetcafé KINKO’S riskierten Zugriff auf den überwachten Computer Mikes (54:41–57:39). Zu den Nebenmotiven, die einem in diesem Zusammenhang der odysseischen Heimkehr noch in den Sinn kommen, gehört Mikes Kneipenschlägerei an der Seite von Cat. Läßt sie sich doch als parodistische Umkehrform von Odysseus’ Faustkampf mit dem Bettler Iros (im 18. Gesang) verstehen, wo Pallas Athene zwar nicht handgreiflich wird, ihrem Schützling aber insgeheim Kräfte verleiht. Für die Filmhandlung weit bedeutsamer ist das Knotengeflecht einiger Freeways, der Schauplatz, wo dem entführten Mike Max die Liquidierung droht. Wäre dieses »Interchange«-Gebilde im San-Fernando-Tal nicht eine phantastische visuelle Umsetzung des krakenartigen Meeresungeheuers Skylla? In dem Zeitungsausschnitt wird der vor einem See posierende Mike Max neben dem Tatort abgebildet, und zwar rechts davon wie Odysseus auf der vielgepriesenen Umrißzeichnung von John Flaxman.11 Dieser Knotenpunkt, der für den Lebensweg von Mike Max wie für Ray Bering von zentraler Bedeutung ist, kommt im ›Ende der Gewalt‹ nicht weniger als neunmal ins Bild, darunter in einer traumgleichen Nachtaufnahme, die ein Filmkritiker als »frightening shot ... in dark-blue filtered twilight« charakterisierte.12 Berücksichtigt man, daß Max dort nicht bloß von den beiden bewaffneten Entführern bedroht wird, sondern bald zusätzlich ins Fadenkreuz des gut 300 Yards auf einer Anhöhe befindlichen anonymen Killers gerät, ist seine Lage tatsächlich die klassische zwischen Skylla und Charybdis (dem alles verschlingenden Meeresstrudel). Der Abstand zwischen den beiden wird in der ›Odyssee‹ ungefähr als Pfeilschußweite angegeben.13 10 Zu dieser schon an Travis gerichteten apollinischen Forderung vgl. S. 30. 11 Goethe etwa fand sie »wild und gräßlich, aber wohlüberdacht« (vgl. seinen nachgelassenen Aufsatz ›Über die Flaxmanischen Werke‹). 12 Busack, Richard v. in: ›Wim, Place and Show‹ (›Metroactive‹ vom 2.10.1997) URL: http://www.metroactive.com/papers/metro/10.02.97/end-violence9740.html 13 Kirke beschreibt ihn Odysseus mit den Worten: »ist der andere Felsen ... dem ersten so nahe, daß ihn dein Bogen erreichte« (Od. 12, 102f.).
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Oben: 39:05
Unten: John Flaxman, Scylla 1805; London, Tate Gallery
Auch Odysseus’ Begegnung mit den betörenden Sirenen finde ich in diesem Wendersschen Film verwandelt wieder. Und zwar in der nächtlichen Sequenz, als Mike Max von seiner Kiste, auf der er am Fenster stehend den Abbruch der Dreharbeiten mit ansehen mußte, hinuntergeklettert ist. Angelockt von einem Singsang, der aus dem angrenzenden Literatencafé herüberzudringen scheint, tappt er unachtsam weiter und wird von der noch erregten Cat auf die Motorhaube genommen. Im 12. Gesang der ›Odyssee‹ rezitiert Odysseus die folgenden Gesangszeilen der Sirenen, die den Wissensdurstigen so unaussprechlich sehnsüchtig gemacht hätten: »Komm, besungner Odysseus, du großer Ruhm der Achaier! ... Uns ist alles bekannt, was ihr ... geduldet, Alles was irgend geschieht auf der lebenschenkenden Erde.«
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STATIONEN EINER ›ODYSSEE‹ MIT OFFENEM AUSGANG
Vom Song der Performance-Künstlerin Sam Phillips, der gleich dem Gesang der Sirenen von der Verlockung des – jetzt modernen schnellen – Ruhms handelt, dringt zu Max hinüber: »… I know what’s new / It’s the oldest hat in the book We can’t get fast enough to go backwards / To take a second look. Animals on wheels faster all the time …« Auf älteren Darstellungen sind die Sirenen noch Mischwesen zwischen Tier und Mensch, Vögel mit Frauenköpfen wie auf dem abgebildeten rotfigurigen Vasenbild. Wenn Sam Phillips am Ende der Sequenz einige Sekunden lang auf der Bühne zu sehen ist, schüttelt sie zum drolligen Abschluß ihres Songs mehrmals ihr kleines, an Mike Max’ insektengleiches
Attische Tonvase (Stamnos), um 470 v. Chr.; London, British Museum
Mobiltelephon erinnerndes Aufnahmegerät, wobei die so hervorgerufenen Töne selber »schneller« davonzuschwirren scheinen, als wären es wirklich surrende und sirrende Tierchen. – Zur uralten christlichen Interpretation dieser odysseischen Station habe ich im »Nachwort« noch einiges anzumerken (S. 290f.). Das eine oder andere Motiv der ›Odyssee‹ wird im ›Ende der Gewalt‹ nur eben gestreift.14 Auch das Motiv des heimwehkranken Helden 14 Darunter auch Berührungen mit dem ›Ulysses‹ (1922) von James Joyce. Wie sich die dortige Penelope Molly Bloom mit dem Sänger Blazes Boylan einläßt, so jetzt Paige mit dem Rapper Six. Und hat Telemach Stephen Dedalus sich des aufdringlichen Lehrers Deasy als des verwandelten Mentors aus der ›Odyssee‹ zu erwehren, so Detective ›Doc‹ Block des penetranten älteren Sheriffs Call.
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gehört wohl dazu, der – bei Kalypso – traurig übers Meer hin schaut. Ich denke hierbei an die Schlußsequenz des Films, wenn Mike Max, der wieder sein Hemd mit dem goldfarbenen mäanderartigen Kragenmuster trägt, sich aufs Geländer der Santa-Monica-Pier lehnt, abseits von seinen nun angelnden Gastgebern. Der weitere Weg dieses neuen Odysseus, der keine Heimkehr im klassischen Sinne mehr kennt, wird offengehalten. Während er nämlich, frisch belehrt von der kleinen Florinda, noch einmal im Voice-Over auf seine Befreiung von den in seiner Kindheit verankerten Ängsten reflektiert und sich einen ähnlich freien Blick auch bei den Fremden jenseits des Ozeans wünscht, zieht sich die Kamera im Helikopter langsam in eine Totale zurück, die Los Angeles mit den angrenzenden Hügelketten erfaßt. Aus einer perspektivisch leicht versetzten Überblendung heraus fliegt die Kamera weiter in einem Kreisbogen mit, bis sie nur noch das Meer und den Himmel und Horizontdunst zeigt, abblendend schließlich aus einer Synästhesie von rhythmischem Möwengeschrei, Ry Cooders ›The End Of Violence‹ und zartem Sonnenuntergangskolorit.
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Dieser Fernblick der auffliegenden Kamera aber bleibt bis zuletzt auf Florinda und Mike Max bezogen, schloß er doch unmerklich an den Aufblick der beiden drunten an, die sich soeben über den Doppelsinn von »ciello« unterhielten (»sky« und »heaven«). Womit ich zu dem zweiten Handlungszentrum des Films übergehen kann, das droben in der Sternwarte angesiedelt ist. Zuvor aber noch einige Worte zum Status der Figuren und Motive aus der ›Odyssee‹. Wie ich in der »Vorbemerkung« andeutete, zielt Wenders bei seinen Metamorphosen oder Gestaltumwandlungen des antiken Helden nicht zuletzt insofern auf unsere Zeitgenossen ab, als deren Verhaltensformen auf eine Selbstreduzierung des Menschen hinauslaufen. Im ›Ende der Gewalt‹ kritisiert er vor allem die gegenwärtige Technologiefi124
STATIONEN EINER ›ODYSSEE‹ MIT OFFENEM AUSGANG
xiertheit und eine tendenziell gewissenlose, allen möglichen Manipulationen dienstbare Zweckrationalität. Zugleich richtet sich seine Kritik – selbstreflexiv der Filmbranche vorgehalten – gegen die abstumpfende hysterische Darstellung von Gewaltszenen, die weithin ihren kathartischen Hintergrund verloren haben und nur noch konsumiert werden. Da nun einiges davon schon in Odysseus angelegt war, trifft ihn diese Kritik mit. Während die Nachfolgefiguren von Hermes bei Wenders relativ intakt bleiben, in ihrer Herkunft als »Boten« und Mittler zwischen der Ober- und Unterwelt sowie als Helferfiguren und »Seelenführer« des Menschen sich weithin ohne Substanzverlust behaupten können, bleibt Odysseus schon in ethischer Hinsicht weit problematischer. Bewundernswürdig in seiner Leidensfähigkeit, Geistesgegenwart und Widerstandskraft in nahezu aussichtsloser Lage, ist er doch in seiner Verschlagenheit und seinem haßerfüllten Ressentiment zunehmend fragwürdig geworden. Das gilt nicht allein für seine häßliche Intrige gegen Palamedes, der ihn einst überlisten konnte und den er vor Troja mit gefälschten Beweisen in den Tod trieb, sondern für seine grenzenlose Vergeltungssucht überhaupt. Wohl erleichtert sie ihm die Selbstbehauptung in feindlicher Umgebung, gestattet jedoch, wie Theo Reucher anmerkt, keinerlei Differenzierungen etwa zwischen den aggressiven Freiern und den verführten ungetreuen Mägden: »Odysseus empfindet gegenüber allem, was sich ihm entgegenstellt, puren Haß ... Den heutigen Leser muß ein solches Fühlen abschrecken«.15 Im ›Ende der Gewalt‹ hat der neue Odysseus denn auch eine fundamentale Wandlung zu durchleben und verzichtet auf seine Racheorgie ebenso wie auf seine Penelope und sein »halbes Königreich« (»Have my kingdom for a robe ...«, so Mike Max am Ende zu Paige). Ausgelöst wird seine Wandlung durch den heilsamen Schock der Entführung und seiner um ein Haar geglückten Liquidierung. Zugleich hat Wim Wenders in einer auch religionsgeschichtlichen Argumentation diese weithin am Meer spielende odysseische Sphäre des Films mit der anderen, christologisch gezeichneten droben um Ray Bering zusammenzubringen versucht. Was sich in der manifesten Lesart als Parallelhandlung ausnimmt, die von dem FBI-Komplott beherrscht wird und der Mike Max eher zufällig zum Opfer fällt, zeigt sich in der kryptischen Lesart als Versuch, so etwas wie einen Dialog zwischen jener homerischen und dieser christlichen Zentralgestalt anzubahnen. Auf die in frühchristlichen Zeiten hergestellten Verbindungslinien zwischen dem »großen Dulder« Odysseus und Christus möchte ich ebenfalls erst im Nachwort eingehen (S. 288-291.). Hier, im ›Ende der Gewalt‹, trägt sich die eigentliche seelische Verwandlung von Mike Max in dieser katholischen 15 Reucher, Theo: ›Der unbekannte Odysseus. Eine Interpretation der Odyssee‹ (Bern 1989), S. 141
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Immigrantenfamilie zu, die den Verfolgten in mythischer Gastfreundlichkeit bei sich aufnimmt – so selbstverständlich, wie es im zeitgenössischen Film wohl nur noch den beiden Bikern in Dennis Hoppers ›Easy Rider‹ (1969) in der kinderreichen Familie eines Farmers und einer Mexikanerin zuteil wurde. Zugleich läuft die ganze Zeit über im Hintergrund der verzweifelte Versuch des ehemaligen NASA-Forschers Ray Bering, mit dem Verschwundenen, dem er das Dossier über das verbrecherische Projekt seines jetzigen Arbeitgebers vom FBI zuspielte, Kontakt aufzunehmen. Der Versuch wurde offenbar schon unmittelbar nach Absendung seiner E-Mail entdeckt und führte zu der ersten präventiven Maßnahme, den Adressaten Max zum Zwecke seiner Liquidierung entführen zu lassen. Was nun bei diesem von Bering angestrengten Notbündnis besonders faszinieren muß, ist die kryptische Stilisierung seiner Rolle und die seines Widersachers Brice Phelps vom FBI.
Christ ologische Gegenwelt um Ray Bering. FBI-Satan Phelps. Ray s Passion spfahl Bei Ray Bering, der vorher Teleskope für die Weltraumforschung entwickelte, kann man früh den Eindruck gewinnen, daß er ziemlich blauäugig den Top-secret-Auftrag einer Institution übernommen hat, mit der nicht eben gut Kirschen essen ist. Zudem freundet sich dieser scheue Mann, der sonst nur mit seinem greisen Vater zusammen zu sehen ist, ausgerechnet mit der jungen Putzfrau Mathilda an, die ihn im Auftrag des FBI ausspionieren soll. So kann sich sein weiteres Schicksal eigentlich nur in einer emotionalen Steigerung aus Beklemmung, Angst und Horror vollziehen, zumal er erkennen muß, daß er sich selber als Informant längst verraten hat. Daß Ray Bering freilich in einem ganz anderen Sinne nicht von dieser Welt sein könnte, deutet sich in seiner zeremoniellen Einführung in den Film an: Im Helikopterflug schwebt die Kamera, begleitet von dem luftigen Trompetensolo Jon Hassells und einem funk- oder satellitensignalgleichen Arrangement (Ry Cooders ›Observatory‹), über einen bewaldeten Hügel mit Elektromasten und Serpentinenweg hinweg und verharrt über einer Kuppe, als sich dem Blick unversehens das riesige Tal mit der Stadtlandschaft von Los Angeles öffnet. Nach dem Umschnitt gleitet die Kamera in nunmehr halbnaher Einstellung hinunter auf einen Mann (Ray Bering), der mit dem Rücken zu ihr dasteht und von einer anderen Stelle des Hügels aus ebenfalls hinunter auf die Stadt blickt. Neben ihm befindet sich ein mannshoher vierkantiger Pfahl, der auf der einen, der Kamera zugekehrten Seite unter anderem ein mehrfach abgewandeltes weißes 126
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A oder auch Alpha aufweist. Der Mann trägt einen Rucksack und hat einen anscheinend selbstverfertigten derben Wanderstock auf den Boden gestemmt, gravitätisch weit hinweg vom Körper. Auf etwas vertrackte Weise dreht er sich dann so um seinen Stab herum, mit ausgestrecktem rechten Arm, daß er sich einen Moment lang zwischen Stab und Säule befindet. Die Kamera schwenkt mit und zeigt, wie er sich zu einem daneben befindlichen Wasserspender hinunterbückt. Wie suchend blickt er zunächst auf und schaut nach dem Trinken erneut hinunter auf Los Angeles. Geht Bering dann den Serpentinenweg hoch, folgt ihm die Kamera gerade so lange, bis seitlich links zum erstenmal die Griffith-Sternwarte mit ihren drei Kuppeln mit in den Bildkader kommt.
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Hier ist sein Arbeitsplatz. Wie der Laderaum des »Hermes«-Transporters im ›Lauf der Zeit‹ stellt diese Sternwarte mit der ihr vorgelagerten Stätte so etwas wie einen heiligen Ort der Filmgeschichte dar. Nicholas Ray drehte 1955 in der Sternwarte einige Sequenzen des von Wenders öfter zitierten ›Rebel Without a Cause‹. In der ersten Sequenz wird dort »Plato«, der verstörte kleine Freund von Jim Stark (James Dean), von einem kosmischem Horror gepackt, als ein Astronom den Schülern das Verglühen der Erde, die in unbestimmter Zukunft mit einem anderen Gestirn kollidieren müsse, vor Augen führt und wie ein Nietzscheaner das nachfolgende gleichgültige Schweigen des Weltalls beschwört. In der letzten Sequenz, in Panik versetzt durch die blendenden oder feuerrot glühenden Scheinwerfer der Polizei- und Ambulanzwagen, wird Plato vor dem Portal der Sternwarte von einem Polizisten erschossen. Zusammen mit Jim und dessen Freundin Judy hatte er die Nacht zuvor in einer verfallenen, unterhalb des Observatoriums liegenden Villa verbracht. Es mag ein Zufall sein, daß ein ähnliches zweistöckiges Gebäude jetzt hinter Bering zu erkennen ist, wenn er sich zum Trinken niederbückt. Der Wasserspender 127
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selbst jedoch scheint jenem nachgearbeitet zu sein, zu dem sich James Dean – der bei der Aufführung des ›Rebel‹ schon tödlich verunglückt war – beim nächtlichen Erkunden der Villa rasch hinbückte.
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Wim Wenders huldigt noch weitere Male diesem Film seines Freundes Ray, den er in ›Lightning Over Water‹ in den Tod begleitet hatte.16 Wie fast immer bei Wenders geht die Reminiszenz über das bloße Zitat hinaus, indem sie das Zitierte zugleich in die Bildsprache und Argumentation des jetzigen Werks einbindet. So wird dieser Wasserspender mitsamt dem Pfahl, bei dem Ray Bering sich von Zeit zu Zeit einfindet, durch das kleine Ritual erhöht, daß er dreimal von dem Wasser trinkt. Eine Erquikkung, die zugleich von einem Reinigungsritual dessen hat, der in der Zerrissenheit und Qual lebt, über seine schreckliche Entdeckung reden zu wollen und sich zunehmend als Verräter behandelt und selber mit dem Tode bedroht sieht. Zeremoniell eingerichtet werden ebenso die Bewegungen der Kamera an diesem Ort, ob nun für ihn allein oder während seiner Unterredungen mit Phelps und Detective Block. Und fuhr die Kamera anfangs aus der Höhe auf ihn nieder, so zieht sie sich dort am Schluß in derselben Perspektive wieder in die Höhe zurück, nachdem Ray neben seinem Pfahl erschossen wurde. Gleich dem erschossenen Plato liegt er auf dem Rücken da, und doch wird über seine Körperhaltung wiederum etwas so nie Gesehenes weiter ausgebaut, die zweite, kryptische Handlungsebene 16 So läßt sich Berings Vorname RAY außer auf die christliche Lichtgestalt auch auf Nicholas Ray beziehen, der seinerseits diesen Namen dem einzigen verständnisvollen Mann seines ›Rebel‹ verlieh, dem Officer von der Jugendfürsorge. Und wenn Ray der kleinen Florinda im Teleskop die Sternbilder Orion und Stier zeigt, darf man sich an jene Szene erinnert fühlen, in der den Highschool-Schülern im Planetarium des Griffith-Observatoriums unter anderem Orion und Stier als die Sternbilder vorgeführt werden, die nach dem Erlöschen unseres Planeten weiterhin am schweigenden Firmament zu sehen sein werden.
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dieses Films nämlich, die Ray Bering in der Nachfolge Christi zeigt. Die ganze Szenerie dort oben erscheint im Zeichen eines neuen Golgatha, mit
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der dreikuppligen Sternwarte, dem Motiv des Wanderers mit Stecken oder Stab, dem Wasser sowie dem »Holz« an seiner Hinrichtungsstätte. Wasserspender und Pfahl übrigens dürfte Wim Wenders eigens für diese Szenen hierhin gesetzt haben.17 Ray Bering ist der einzige, der körperlichen Kontakt mit dieser schwarzen Stele sucht – Sekunden vor seiner Hinrichtung gar mit kreuzartig ausgebreiteten Armen, selber dabei in einem Hemd mit Karo- oder Kreuzesmustern. Betrachtet man diesen zeichenübersäten Pfahl näher, ist er ziemlich genau dort, wo Ray seine Hand auf ihn legt, wie mit einer Blutspur markiert, in Höhe des Wundmals des Gekreuzigten. Neben vielen (Schrift-)Zeichen weist er noch etliche kleinere
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Kreuze auf, auch innerhalb des roten T-förmigen Zeichens, das seinerseits mit seinem Aufsatz dem koptischen Henkelkreuz nahekommt. In das Graffiti-Gewucher dieses Sprachenbaums läßt sich so manches hineinlesen, Runen, arabische Wörter, aramäische Zeichen oder buchstaben17 »The drinking fountain and stela are not part of Griffith Park, and they were certainly placed there by the person doing the filming in 1997.« So beantwortete freundlicherweise John Mosley, Program Supervisor am Griffith Observatory, meine entsprechende Anfrage.
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versetzte Transkriptionen aus dem Griechischen; einige Schriftbilder sind nur gekippt lesbar. Wim Wenders hat hierbei anscheinend die gewisse Distanz wahren und diesen (Passions-)Pfahl mehrdeutig genug halten wollen.18 Als Interpret dieser Zeichen habe ich da schon deutlicher zu werden und schlage also vor, als Vorbild dieses Szenariums den Kreuzestod Christi als des LOGOS (des Wortes der Wahrheit) in Erwägung zu ziehen. Angesichts der Mehrschichtigkeit der Personen, schon ihrer Namen (wie RAY) und ebenso vieler szenischer Details bei Wenders ist freilich an keine eindimensionale Identifizierung und Zuweisung zu denken. Wie für die bei Wenders transformierten Götter und Heroen der klassischen Mythologie möchte ich allenfalls von Figuren »in der Nachfolge« sprechen, hier Christi oder auch des Satans. Dieser Widersacher findet sich einmal dort neben Ray Bering ein und stellt ihm, biblisch gesprochen (Matthäus 4,8), von diesem sehr hohen Berg aus die technologische Beherrschbarkeit der Welt in Aussicht: »das Ende der Gewalt, wie wir sie kennen«. Als er in drohendem Unterton bemerkt, daß alles den Bach hinuntergehen würde (»down the drain«) und sie »uns steinigen« würden (»crucify all of us«), falls vor der Genehmigung durch den Kongreß auch »auch nur eine einzige Silbe über das Projekt durchsickert« (»a tiny leak«), geht Ray Bering, der sich schon bald mit dem Rücken zu Phelps hinstellte, zu seinem Wasserspender hinüber. Folgt schließlich die Kamera, die während dieses Gesprächs langsam zwischen den Männern hin und her pendelte, dem davongehenden Kahlkopf, kommt ihm eine weißgekleidete Reiterin mit Pferdeschwanz auf einem Schimmel entgegen. Kurz vor Phelps, als dieser – wie schon anfangs Ray Bering – zusammen mit der Sternwarte im Bildkader ist, gerät das Pferd auf drollige Weise ins Straucheln und hüpft mit den Vorderbei18 »Da im griechischen wie lateinischen Wort für Kreuz (σταυρóς, lignum) nicht das Sichkreuzen von Balken konstitutiv ist, ergibt sich, daß auch am Pfahl (σκóλοφ) ›gekreuzigt‹ werden konnte (vgl. das Hängen des Marsyas).« Dinkler, Erika in: ›Lexikon der christlichen Ikonographie‹, Bd. 2 (Freiburg 1970), Artikel ›Kreuz‹. Zum gekreuzigten Logos Christus s. Grillmeier, Alois: ›Der Logos am Kreuz. Zur christologischen Symbolik der älteren Kreuzigungsdarstellung‹ (München 1956). Auch filmgeschichtlich hat dieser kantige Pfahl Zitatcharakter, dürfte er doch so manchen Betrachter an den schwarzen Monolithen aus einer anderen Odyssee erinnern, Kubricks ›2001:Odyssee im Weltraum‹ (1968). Die dortige Stele ist ja gleichfalls religiös konnotiert, von der menschlichen Vorgeschichte an inspiriert ihre Berührung zur Entwicklung der »techne«, zu Werkzeugen und Erfindungen wie der Rakete, die zuletzt den neuen Odysseus namens Bowman dem »Jupiter« und seinen Geheimnissen entgegenbringt (vgl. S. 91). Paige verstärkt jetzt noch die Verknüpfung mit Kubricks Odyssee durch ihre längere gleichnishafte Erklärung, sich an der Seite von Mike wie der Passagier einer Rakete gefühlt zu haben, die er allein steuere (39:33–40:04).
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nen in eine breitbeinige Stellung. Ist dies nicht eine hübsche metonymische Variante des alten Motivs, wonach der nach seinem Himmelssturz hinkende oder auch pferdefüßige Teufel sich in einen lahmenden oder sonstwie auffälligen Schimmel verwandeln kann? Beide Männer arbeiten in der Sternwarte. Die Kamera freilich verweilt ausschließlich in Berings Bereich, der mit der angrenzenden, zunehmend in ein wie überirdisches Blau getauchten Kuppel eine entschieden sakrale Atmosphäre gewinnt. Nur in Monitorbildern bekommt 1:07:32 und 1:09:53 man dagegen die offenbar seinem Antipoden unterstellte Abteilung der Techniker und Praktiker irgendwo »da unten« (»down there«) zu Gesicht. Phelps allerdings kann sich nach Belieben bei Bering zuschalten. Zu sehen ist er im ›Ende der Gewalt‹ zum erstenmal, in einer gehörig pervertierten Epiphanie, als Bering gerade die Entführungsszene näher heranzoomt und sich die drei Gestalten etwas deutlicher abzuzeichnen beginnen. In dem Moment, als wäre er zu nahe herangegangen, beginnt wie im Vorspann des Films das Videobild in digitale Rechteckmuster zu zerbröckeln und scheint sich unmittelbar darauf aus den Pixeln des zerstörten Bildes das Gesicht von Phelps aufzubauen: »Hallo Ray! Ich hätte nicht gedacht, daß ich Sie so spät noch erwische!« Auf gleich drei Monitoren, die im Dreieck postiert sind, ist sein Kopf bedrohlich nah präsent,
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der vordere deutlich größer. Als ein solches »Dreigesicht«, das sich ikonographisch vom dreiköpfigen Höllenhund Zerberos oder auch der dreiköpfigen Unterweltsgöttin Hekate herleitet, tauchte Satan in der christlichen Literatur zu Beginn des 5. Jahrhunderts auf19 und erlangte erst durch Dantes Inferno (34, v. 37-69) als dreimäuliges, die drei Erzverräter zerkauendes Ungeheuer größere Popularität. In Wenders’ Film allerdings gemahnt der visuelle Aufbau dieser Unheiligen Dreifaltigkeit zugleich an die »dreiköpfige« Kuppelformation der Sternwarte, die diesen neuen Kalvarienberg krönt. Und darüber hinaus an den analogen Bildaufbau der zentralen Gewaltszene des Films, die Ray Bering soeben in den groben Umrissen zu Gesicht bekam und nach der Rekonstruktion via Satellitenbild endlich im extremen Zeitraffer auf seinem Laptop betrachten kann: Das bedrohte Entführungsopfer Michael Max steht mit ausgebreiteten Armen oberhalb der beiden, die sich zu seiner Rechten und Linken befinden und einen Moment später ins Fadenkreuz des anonymen Killers
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geraten werden. Nur mit knapper Not entkommt Max diesem »Kreuz«, das wie das christliche Lilien- oder Kleeblattkreuz gestaltet ist und sich in einer früheren Wiedergabe dieser Szene sogar einen Moment lang über sein Gesicht gelegt hatte (21:38). Das jetzige szenische Arrangement zwischen den drei Opfern entspricht dem der drei auf der Schädelstätte Golgatha Gekreuzigten, mit Mike Max als dem relativ schuldlosen Opfer in der Mitte und den beiden Entführern zu seiner Rechten wie Linken. Tatsächlich sind die beiden Verbrecher oder »Schächer« wie an der biblischen Hinrichtungsstätte soeben zum Tode verurteilt und in diesen Sekunden »gekreuzigt« worden. Ja, in dem einen der beiden, in Lowell, läßt sich gar der »gerechte Schächer« wiedererkennen, der auf das Angebot von Mike Max eingeht, während der andere, Frank, ihn in einem fort
19 Als »triceps Beelzebub« im apokryphen Evangelium des Nikodemus; dazu und zur weiteren Entwicklung vgl. den Artikel ›Dreikopfgottheit (und Dreigesicht)‹ im ›Reallexikon zur deutschen Kunstgeschichte‹, Bd. 4 (Stuttgart 1958).
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zur Exekution drängt und höhnisch die Visitenkarte des Opfers zerreißt.20
Golgatha der Sternwa rte und Judasfrau Nun befindet sich im Mittelpunkt dieser Exekutionsszene nicht Ray Bering, die eigentliche Passionsfigur in der christlichen Nachfolge, sondern Mike Max, der »Nachfolger« des Odysseus. Auch wenn letzterer in späterer Zeit als vorbildhaft für eine Nachfolge Christi gedeutet wurde, hat Wenders doch in der kryptischen Lesart dieses Films die fundamentalen Unterschiede in beider Mentalität und Verhaltensweise nicht verwischt. Zunächst wird die jetzige Szenerie, wie schon ausgeführt, in den weiteren Rahmen der Skylla-und-Charybdis-Episode eingepaßt, mit dem Highway-Knotenpunkt hüben und dem anonymen Schützen drüben. Auch in den Details des Geschehens hat Wenders diese beklemmende, sechs Minuten dauernde Sequenz (17:47–23:39) durch klassische und filmgeschichtliche Motivschichten wie übermalt. In der Manier des Odysseus oder auch nur eines ihm geistesverwandten cleveren Zeitgenossen von uns bietet Mike Max den beiden statt des Himmelsreichs eine prozentuale Gewinnbeteiligung an seinem kommenden Blockbuster an. Das Verhalten der beiden dilettantischen Auftragskiller aber ist offenbar weithin nach dem Vorbild des großen Komikerduos Stan Laurel und Oliver Hardy alias Stan und Ollie oder »Dick und Doof« eingerichtet.21 Welch komplexes Zusammentreffen der verschiedenen Handlungsund Zeitschichten! Angemessen diesem hohen Moment, in dem die bei20 »Dieser aber hat nichts Ungeschicktes getan« (Lukas 23,41), hält der »gute Schächer« dem anderen Schächer vor, der Christus verspottet. Lowell widersetzt sich hier Frank mit den Worten: »Er ist okay! Total okay! ... Der hat mords was drauf. « (»I like him. I like him … He’s right«). 21 In einer überarbeiteten Internet-Version seines Interviews mit dem Regisseur merkt Michael Ratcliff zu den beiden Entführern an: »Wenders has based them partly on Laurel and Hardy whom he, like all Germans, adores. In Germany L and H are also known as Dick and Doof (pronounced Doaf)«. In: ›New Statesman‹ (London) vom 2.1.1998; URL: http://www.findarticles. com/cf_dls/m0FQP/n4366_v127/20517679/p1/article.jhtml. Dem passionierten Kinogänger kommen sicherlich entsprechende Bilderinnerungen, läßt man das Verhalten der beiden Wendersschen Charaktere kurz Revue passieren: Wie die beiden Hutträger sich immer heftiger verzanken und der korpulente Frank von seinem Partner Lowell (= Laurel) mit rollenden Augen die Erledigung der (Drecks-)Arbeit verlangt, ihn bedroht und im Kreise vor sich her treibt; und wie er sich sekundenlang den Bauch massiert und höhnisch trampelnd auf der Stelle hüpft, als er Max’ Visitenkarte vorgehalten bekommt. Betrachter der Szene haben unter anderem an Shakespeare, Beckett, an Lynchs ›Wild At Heart‹, das Killerpaar in Tarantinos ›Pulp Fiction‹ oder die Ganoven in Polanskis ›Chinatown‹ denken müssen, doch kann das Treiben von Stan und Ollie nicht nur auf Kinder genau so beklemmend wirken.
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den Hauptfiguren des Films, die Repräsentanten der odysseischen und der christlichen Sphäre, sich so nahe wie keinmal sonst kommen und der eine soeben auf elektronischem Wege vom Schicksal des anderen erfährt. Wobei also in der dramaturgischen und ikonographischen Einrichtung sich die Höhepunkte ihrer jeweiligen Passionsgeschichte in Gestalt von Kreuz und Skylla überlagern. Was Ray Bering da betrachtete, war eine Videoaufzeichnung aus dem mit seiner Hilfe etablierten Kontrollsystem Phelps’. Von ihm und seinen Helfershelfern weiß er sich nun selber umzingelt. Genau besehen, ist Brice Phelps von Beginn an auf unterschwellige Weise in diesem Observatorium präsent. Rays erster Blick beim Betreten seines Arbeitsraums galt einer auf ihn gerichteten, mit ihrem rotglühenden Kontrollauge von ihm auch danach wiederholt argwöhnisch betrachteten Kamera, aus deren Perspektive er sogleich auf einem externen, irgendwo andernorts befindlichen Monitor zu sehen ist (9:57–10:03). »Schlaft ihr eigentlich nie?«,22 murmelt er nach dem Gruß dann noch vor sich hin. Phelps’ musikalisches Leitmotiv, ein von Herzpochen begleitetes animalische Fauchen, stellt sich schon im Vorspann beim Aufkommen der digitalen Bildformationen ein und ist wieder zu vernehmen, wenn Mike Max von seiner Sekretärin Claire ungläubig von Rays 400-Seiten-FBI-File hört (»Das ist alles? Gar nichts vom Papst?« 7:37-44). Das Fauchen kommt erneut auf, als Bering zum zweiten Mal zum roten Kontrollauge der Kamera hochblickt (49:12-21). Daß Phelps hier alles unter Kontrolle hat, war spätestens zu erkennen, als man ihn zum Abschluß seiner überfallartigen Intervention bei Ray kurz auf die Anzeige »SYSTEM CHEC[K]« hinblicken sah und daraufhin auf Ray Berings Monitor nicht nur Phelps verschwand, sondern auch die »Skylla«-Szene unauffindbar blieb (24:45). Studiert Bering später die Zeitungsnachrichten mit den Abbildungen des vermißten Mike Max und des Tatorts, bemerkt er entsetzt, wie auf seinem Monitor mit ebendiesem Highway-Knotenpunkt die Anzeige erscheint, daß ihm der erneute Zugang verweigert werde (39:08). Lange Zeit aber hofft er auf ein Lebenszeichen des Vermißten. Da Max sich nicht meldet, riskiert er es, anzurufen und seiner Sekretärin Claire die Nachricht zu hinterlassen, er möge sich dringend bei ihm melden; er sei derjenige, den er im letzten Jahr auf der High-Tech-Messe in Florida kennengelernt und mit dem er sich gut verstanden habe (59:2046). Auch für dieses quälerische Warten bei der zunehmenden Gewißheit 22 Das populär gewordene Wort Luthers (»Der teuffel schleft nicht«) hat schon längst Filmgeschichte gemacht: »Schläft der denn niemals wie andere Menschen?« fragt sich so mehr resigniert schon als entsetzt der Junge in Charles Laughtons ›Die Nacht des Jägers‹ (1955), als noch vor Sonnenaufgang schon wieder der ihn und seine Schwester verfolgende teuflische Wanderprediger (Robert Mitchum) laut singend auf einem Schimmel herangeritten kommt.
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Rays, das nächste Opfer des mörderischen Komplotts zu sein, hat sich Wenders konsequent an die Ikonographie der Passionszeit Christi gehalten. Nämlich an den Bildtypus ›Christus als Schmerzensmann‹ und den verwandten ›Christus in der Rast/im Elend‹, der zeigt, wie der verlassen Dasitzende seine Hinrichtung erwartet. Links: Albrecht Dürer Christus als Schmerzensmann Um 1493 Karlsruhe, Staatliche Kunsthalle Rechts: Christus in der Rast Beginn des 16. Jh., Holzplastik in der Pfarrkirche Mariä Himmelfahrt, Vilsbiburg
Mathilda bei Ray 1:04:47
Florinda bei Ray 50:53
Ray beim Vater 30:01
1:43:11
Mehrmals ist Ray bei seinem Vater Louis so zu sehen, deprimiert und müde seinen Kopf in die Hand stützend. Ebenso im Observatorium, das erste Mal noch gleichermaßen erschüttert wie erschrocken, wenn er auf dem Satellitenbild die beiden erschossenen Entführer entdeckt hat und plötzlich bemerkt, daß die kleine Florinda derweil hinter ihm stand; sie fragte noch: »Gucken die auf uns runter?« Das andere Mal sitzt er mit aufgestütztem Kopf in dem in der Dunkelheit daliegenden Observatorium, als Mathilda herantritt, ihm übers Haar fährt und in spanischer Sprache tröstlich zuredet, ihn dann zu sich hochzieht und küßt. Diese schöne dunkle Judasfrau aus El Salvador, Folteropfer der dortigen Todesschwadronen und aus obskurer Dankesschuld 135
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zu Spitzeldiensten für das FBI gewonnen, ist wie Ray Bering eine tragische Figur und sicherlich die am meisten zu bedauernde des Films. Ihre Bespitzelung Rays wird sie bitter bereuen, seinen vermeintlichen Verrat gutheißen und Phelps zuletzt ins Gesicht sagen, daß sie beide »Mörder« seien. Woraufhin sie sich von ihm und seinen im Hintergrund lauernden Killern lossagt. Mit Mathilda und ihrer Tochter Florinda ist Ray Bering droben wiederholt zusammen; einer heiligen Familie gleich in der einen Szene, als sie das eingeschlafene Mädchen hochhebt und in die Ecke mit dem riesigen Modell eines sich drehenden Mondes hinüberträgt. Blaues Licht liegt über ihr und einigen Säulen, und zusammen mit einigen buntglasigen Fenstern, die nur in dieser Szene zu sehen sind und von denen eines das Kreuzeszeichen aufweist, gewinnt der Raum den sakralen Charakter einer Kapelle. Hierbei erblickt Ray die Folterspuren auf ihrem Unterarm und Nacken. Bei diesem Anblick ihres narbenübersäten, ja wie von Geißelhieben gezeichneten Rückens, den Mathilda vor der Kraterlandschaft des Mondes entblößt, küßt Ray sie auf die Schulter. Verstehe ich Mathildas kryptische Rolle recht, so sucht Wenders dabei auch die viele Jahrhunderte hindurch diffamierte Figur des Judas, verteufelt als habgieriger Verräter und vor allem als Vertreter des vermeintlich verstockten Judentums, zu einer christlichen Passionsgestalt zu erheben. 51:22
Louis Berings Gotteseinsam keit Von Zeit zu Zeit findet sich Ray Bering bei seinem greisen Vater zu Besuch ein. Louis Bering ist der einzige, mit dem er außerhalb des Bannkreises um das Observatorium zusammentrifft. Einmal wird wie zur Überleitung auf diese Wohnung im Bildvordergrund das alte Hollywooder Appartementhotel Fontenoy gezeigt, dessen französischer Name gut zum Vornamen des Vaters und zu dessen sogleich nachfolgender Frage an den Sohn stimmt: »Pourquoi?« (1:10:52). Louis stellt sie nach Rays Bemerkung: »Menschenleben werden geopfert.« Der Sohn kann die Fra-
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ge noch nicht beantworten und dem Vater nur versprechen, »durchzuhalten«. Die Kamera verändert in den fünf relativ kurzen Szenen, die in diesem Zimmer spielen, kaum ihren Standort. Wohl wechselt öfter die Einstellungsgröße, wenn Vater und Sohn während ihrer Dialoge nah im Schuß und Gegenschuß gezeigt werden, doch gestattet sich die Kamera keinen nennenswerten Schwenk und operiert fast nur innerhalb des Bildkaders, der gleich zu Beginn für die Begrüßung der beiden festlegt wurde. Die Einrichtung des Zimmers deutet auf jemanden hin, der in extremer geistiger Zurückgezogenheit lebt, gewissermaßen nur für das Wort:
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Bücher über Bücher, in Regalen und ringsum aufs Mobiliar gestapelt, sodann eine alte Schreibmaschine mit eingespanntem Blatt und einige Leselampen. Das Telefon, dessen Hörer Ray erst wieder auflegen muß, ist auf einem kleinen Radio abgestellt, das seinerseits einem blauen und einem roten Buch aufliegt. Verziert ist der Rundfunkempfänger mit zwei kleinen goldfarbenen Schwingen und übermittelt aus dieser Stadt der Engel kaum mehr als die Verkehrsnachrichten (etwa vom Santa-Anna- und San-Diego-Freeway). Ja, und dann wäre da noch der Globus, der dreimal in den unteren Teil des Bildkaders hineingenommen wird. Wenn nach der Ermordung Rays von der sich wieder in die Höhe zurückziehenden Kamera auf den Vater umgeschnitten wird (1:45:57), liegt dieser kleine Erdball nun im Dunkeln da, ist nur in den Umrissen auszumachen und verschwindet allmählich aus dem Blickfeld, da die Kamera, in Umkehrung jener Fluchtbewegung, langsam weiter und näher auf den alten Mann zufährt. Als wüßte er schon um den Tod des Sohnes, kämpft er dagegen an, ein Stöhnen zu unterdrücken. Derweil kommt das Geticke eines Chronometers und ein undefinierbares Rauschen auf, das einen an eine gestörte Tele-
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fonverbindung oder auch an die kosmische Hintergrundstrahlung im Weltenraum denken läßt. All diese Einzelheiten kann man auch ohne Hintergedanken betrachten und so überzeugend finden wie die anrührende Porträtierung von Vater und Sohn. In einigen Details etwa der soeben beschriebenen Zimmereinrichtung deutet sich freilich auch jene andere mögliche Lesart an. Für sie sprechen noch zwei weitere unscheinbare Details. Da ist zunächst dieses Schattengebilde, das sich in drei Szenen auf der Wand hinter Ray genau in Höhe seines Kopfes abzeichnet, obgleich im Zimmer nur die Leselampen als Lichtquellen auszumachen sind. Es ging wohl, falls überhaupt bemerkt, als Schatten eines Kronleuchters durch. Bleibt man jedoch konsequent bei der kryptisch-christologischen Lesart des Films, läßt es sich auch als Kunstgebilde betrachten, das in sich die Attribute des Heiligenscheins und der Dornenkrone vereint.
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Schon in seinem kurzen Flipper- und Gangsterfilm ›Same Player Shoots Again‹ (1967) stilisiert Wenders einen Coca-Cola-Kronkorken zu einem solchen Gebilde, das sowohl einem Nimbus als auch einer Dornenkrone gleicht: Zunächst erscheint als Insert über diesem schräg geneigten Kronkorken das Todeswort TILT und gleich nach dem Umschnitt, in ebendieser leichten Schrägung nach hinten geneigt, der Kopf des Gangsters, der soeben im Fond eines Autos verblutet ist – nach einer veritablen Passionszeit, wurde doch der Todeslauf des Angeschossenen viermal wiederholt. Einen weiteren gewagten Rückgriff auf die christliche Bildtradition meine ich in den Augenblicken zu erkennen, als Louis den Sohn zum »Durchhalten« auffordert. Ähneln nicht szenisches Arrangement, Dynamik von Gebärdensprache und Körperhaltung sowie die Aufmachung von Sohn und vor allem Vater stark Michelangelos Fresko der Erschaffung 138
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Adams? Von diesem ersten Menschen hin zum »Menschensohn« Christus als dem »neuen Adam« ist ja – schon bei Michelangelo23 – kein
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Unten: Michelangelo Buonarroti, Die Erschaffung des Adam, 1509-12 Fresko; Sixtinische Kapelle Rom
so großer Schritt mehr. Verstörender wohl die andere in dieser Bildtradition implizierte Gleichung: Louis = »Lui« oder »Er«, der »HErr«. Verkennt man aber nicht die gewisse künstlerische Ironie bei der Übernahme, wird man sie nicht im theologischen Sinne als Erscheinungsform des Göttlichen, als Theophanie, diskutieren wollen, sondern nur umgekehrt vom Menschen her: Ist diese Gleichung nicht eine letzte große freundschaftliche Geste von Wim Wenders, seine Apotheose des schon todkranken Darstellers und Regisseurs Samuel Fuller? 23 Das Kind, auf dessen Schulter der linke Zeigefinger des soeben mit dem rechten Adam beseelenden Gottes liegt, wird in der Regel als dieser »neue Adam« Jesus Christus aufgefaßt. Vgl. Liebert, Robert S.: ›Michelangelo. A Psychoanalytical Study of his Life and Images‹ (New Haven und London 1983), S. 156. Zur variantenreichen Bildtradition vgl. den Artikel ›Adam – Christus (alter und neuer Adam)‹ im ›Reallexikon zur deutschen Kunstgeschichte‹ , Bd. 1 (München 1983), Sp. 157-167.
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Wem so etwas nach einer Blasphemie aussieht, möge bedenken, daß man gegen Michelangelos Gottes- und Christusdarstellungen lange Zeit hin ähnliche Vorwürfe erhob. Mittlerweile allerdings bedient dieser einst kühn konzipierte Schöpfer des Menschen so perfekt das Klischee vom Rauschebartgott, daß er geradezu nach einer Parodierung oder auch nach einem anderen Gehalt verlangt. Wie mir scheint – als altheidnischer Freigeist halte ich mich da zurück – hat Wim Wenders das Zeitalter christlicher Gottesferne und -verlassenheit hier einmal von der anderen, der göttlichen Seite her gezeigt, als absolute Vereinsamung dieses alten Mannes, der nicht mehr ans Telefon gehen mag.
Videoüberwachung, Staatsterror und filmische Blic kkont rolle Nun zu einem handfesteren Motivkreis im ›Ende der Gewalt‹. Als der Film im Herbst 1997 bei uns herauskam, hielt mancher Kritiker die Darstellung der polizeilichen Videoüberwachung für überzogen oder gar paranoid. Mittlerweile wird dies entschieden anders beurteilt, so von dem amerikanischen Politologen Michael J. Shapiro: »After 9/11, life began imitating Wenders’ feature film ›The End Of Violence‹, as the Bush administration’s ›war on terror‹ turned to the creation of a domestic surveillance network … and a set of plans for military assaults on countries that support ›terrorists‹ in direct or indirect way. Among other things, the CIA-FBI-nexus, which is part of the new ›Homeland Security‹ project is at least as intimidating as the end-of-violence organization that Wenders depicts in his film.«24 Schon der tagelange Aufruhr von 1992, ausgelöst durch den Freispruch von vier Officers des berüchtigten LAPD (Los Angeles Police Department), deren routinemäßig-brutale Mißhandlung eines Schwarzen (Rodney King) zufällig von jemandem festgehalten wurde, der gerade seinen neuen Camcorder ausprobierte, führte ironischerweise zu einer Verschärfung der Videoüberwachung in Los Angeles. Die freiheitsrechtlichen Konsequenzen haben Gegner dieser Praxis umgehend erörtert.25 1995 wurde ein privates kleines, von den »Los Angeles Guar24 In: »›The Nation-State and Violence‹: Wim Wenders Contra Imperial Sovereignty‹«. Beitrag zur Konferenz der ›American Political Science Association‹ vom Herbst 2002 in Boston. URL: www.hawaii.edu/intlrel/pols630/Shapiro.rtf Auf andere Weise von der Realität überholt wurde die Szene im Internet-Café KINKO’S, von dem aus Mike Max am FBI vorbei den Kontakt mit Ray Bering wiederherzustellen sucht (Kap.15). Denn alle an den Attentaten vom 11. September 2001 Beteiligten pflegten von Computern dieser US-weiten Kette aus mit dem Terrornetzwerk von Al Kaida zu konspirieren. 25 »When policing moves from surveillance to monitoring, a move is made from the correction of individuals to the control of populations. Rights become a-
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dian Angels« betreutes Videoüberwachungsprogramm einer Polizeistation angeschlossen, auch kam in dieser Zeit, ungefähr als Wenders zusammen mit Nicholas Klein das Drehbuch erarbeitete, eine neue enragierte Diskussion über weiterreichende staatliche Überwachungsprogramme auf, darunter den vermuteten – später nachgewiesenen – illegalen Einsatz von Videokameras durch das LAPD. Zudem arbeiteten schon damals in Los Angeles Stadtarchitektur und polizeilicher Repressionsapparat Hand in Hand.26 Unmittelbar nach dem 11. September 2001 wurde ein umstrittenes E-Mail-Filterprogramm des FBI namens »Carnivor« legalisiert, dem sich wenig später das viel netter klingende, dafür besonders heimtückische FBI-Snifferprogramm »Magic Lantern« zugesellte. Auch die Videoüberwachung kam jetzt zu flächendeckendem Einsatz, in Los Angeles etwa wurden nach jenen Attentaten allein auf dem internationalen LAX-Flughafen 1200 Kameras neu installiert. – Somit mag zwar am Ende des Films FBI-Chef Phelps gegenüber Mathilda erklären, daß er wegen Ray Berings Aktivitäten »gerade sein Lebenswerk aufgeben mußte« (1:48:06), die analogen Projekte in der Wirklichkeit aber kamen seitdem erst richtig zum Zuge. Bemerkenswert an Mathildas Rolle findet Shapiro noch die angedeutete Globalisierung des staatlichen Terrors, wie hier also Phelps’ Leute Mathilda vor dem regionalen Killer- und Folterterror jener »Todesschwadronen« in El Salvador retteten, nur um sie zur Kollaboration mit dem neuen »intelligenten« Staatsterror durch das FBI zu nötigen (und nach getaner Arbeit der Widerspenstigen mit der Liquidierung zu drohen). Eine verworrene Verflechtung, die jedoch zeitgeschichtlich plausibel ist. Zwar wurden die im Auftrag der Oligarchien in El Salvador wie in anderen Ländern Lateinamerikas mordenden ultrarechten »comandos de exterminio« eigentlich von den Vereinigten Staaten toleriert und gelegentlich unterstützt, speziell von CIA und FBI.27 Der Umstand aber, daß sich viele katholische Priester diesmal unerwartet regimekritisch verhielten, führte zu unübersichtlichen Fronten und unter anderem 1980 zur Ermordung des Erzbischofs Romero und vier nordamerikanischer Nonnen.
nachronistic.« Dumm, Thomas L.: ›The New Enclosures: Racism in the Normalized Community‹. In: ›Reading Rodney King. Reading Urban Uprising‹, hg. v. Robert Gooding-Williams (New York 1993), S. 188. 26 »The LAPD have become central players in the Downtown design process. No major project now breaks ground without their participation.« Davis, Mike: ›Ecology of Fear. Los Angeles and the imagination of disaster‹ (New York 1998), S. 367. 27 Ähnlich Shapiro: »supported, as history has shown, by U.S. policy« (a.a.O. in Fußnote Nr. 24). – Zu Einzelheiten vgl. in dem von Bruce B. Campbell und Arthur D. Brenner hg. Sammelband ›Death Squads in Global Perspective‹ (London 2000) den Beitrag von Cynthia J. Arnson (Kap. 4): ›Windows on the Past: A Declassified History of Death Squads in El Salvador‹.
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Auch nach Beendigung des Bürgerkrieges (1992) schlugen diese Schwadronen immer wieder zu. Nach Richard v. Busack enthielt die in Cannes gezeigte Version noch nicht den Abschluß mit dem Helikopter-Rundflug der Kamera.28 Diese neue Schlußsequenz korrespondiert sowohl mit dem Stuntflug Cats, der den Film eröffnet, als auch mit dem Ende des Helden der anderen Parallelhandlung, dem Tod von Ray Bering, von dessen Golgatha aus sich die Kamera in die Höhe zurückzieht, bis dann zu seinem einsamen Vater umgeschnitten wird. Zudem läßt der jetzige Rundflug Raum und Abstand für den gelassenen Off-Kommentar von Mike Max und setzt so ein gehöriges klassisches Gegenwicht zu den Ausführungen der kleinen Florinda. Diese lenkt ja, derweil ihre Mutter von Phelps’ FBI-Killern bedroht wird, beider Gespräch drunten an der Santa-Monica-Pier, wenn sie dem neuen Odysseus in der englischen Fassung die Doppelbedeutung von »ciello« beibringt (»heaven and sky«) und ebenso doppeldeutig hinzufügt: »They are watching us« (schlichter die deutsche Synchronisierung: »Da oben am Himmel ist mein Vater ... Sie sehn auf uns runter«). In der Hand, mit der sie dabei nach oben deutet, hält Florinda ihren roten Luftballon, den sie gleich danach beim Anblick ihrer Mutter, die sich mit noch erhobenem Arm langsam von den Agenten entfernt, spontan losläßt, um ihr zur Umarmung entgegenzulaufen. Ein On-Set-Photo von Donata Wenders29 zeigt den entschwebenden roten Ballon hoch in den Lüften. Auch dies wäre gewiß ein passables Flugbild für den Abschluß des Films gewesen, hätte allerdings seiner christlichen Sphäre ein metaphorisches Übergewicht gegeben. Statt dessen bleibt der Panoramablick der mitfliegenden Kamera auf die Erde gerichtet, auf Los Angeles, die weitere Umgebung und das Meer, jenseits dessen das von Mike Max einst so gefürchtete China liegt. In seinem letzten großen inneren Monolog spricht er nun wieder davon, von dieser eigenen langwierigen Befreiung von Angst und Gewalt und erhofft, daß sein neu gewonnener Standpunkt auch von denen jenseits dieses Weltmeeres geteilt werden könnte. So streift der Helikopter-Rundblick noch einmal die gebündelte, konzentrisch30 um die Downtown von Los Angeles angelagerte Macht. Und 28 »The film fades into a transcendental helicopter shot now« (a.a.O.). 29 Zu sehen auf ihrer Homepage; URL: http://www.donatawenders.com/movies/eov-tn4.htm 30 Als Zentrum eines 60-Meilen-Umkreises um Downtown setzt der amerikanische Urbanist Edward W. Soja die auch im ›Ende der Gewalt‹ und ›Million Dollar Hotel‹ paradierenden Hochhäuser um den ominösen »Security Pacific Tower« an; und verfolgt des weiteren die konzentrischen Kreise dieses Machtkomplexes über etliche Rüstungsbetriebe in der näheren Umgebung der Stadt bis hin zu diversen Militärbasen an der Peripherie. »Das Ausmaß und die Beharrlichkeit von geballter Macht und stets wachsamer Augen in Downtown Los Angeles kann weder von den darin verstrickten Beteiligten noch von au-
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erinnert ein letztes Mal an deren gewalttätiges Potential, an die bei Ray Bering zu beobachtende innerstädtische Überwachung und angedeutete militärpolitische Repression Mittel- und Südamerikas; erinnert ferner, in seiner transpazifischen Ausrichtung, an die von Hollywood aus global expandierende Bewußtseinsindustrie mit ihren – Mike Max’ – aggressiven Geschäftsbeziehungen hinüber nach Hawaii oder Tokyo. Daß diesem Amerikaner gleichwohl der utopische Friedensgruß hinüber zu dem Fremden (»China«) möglich wird, ist ein erster Hoffnungsschimmer und sollte zudem die Selbstgerechtigkeit dämpfen können, die bei einer externen Betrachtung etwa vom europäischen Standpunkt aus leicht aufkommt. Ohnehin hat Wenders in diesem Essayfilm über Gewalt die eigene Person nicht ausgenommen. Mit ziemlicher Selbstironie zeichnet er hier den von Hollywood unter Vertrag genommenen und zuletzt wieder ausgemusterten europäischen Regisseur Zoltán Kovács (Udo Kier, Wenders’ einstiger Darsteller von Max Skladanowksy, dem deutschen Miterfinder der Filmprojektion). Und derweil sich Doc Block heftig gegen die »zynische Art« der Einschüchterungsversuche seines Mentors Sheriff Call verwahrt, kann man auf dem im Hintergrund zu erkennenden Filmplakat,
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ßenstehenden Beobachtern ignoriert werden.« »Die ›Manifest Destiny‹ , die ›schicksalhafte Bestimmung‹ von Los Angeles ist seit jeher die Sicherung der pazifischen Küste gewesen, ein Motiv, das die wuchernde Urbanisierung der Stadt vielleicht besser erklärt als jedes andere analytische Konstrukt«. Soja, Edward W.: ›In Los Angeles kommt alles zusammen‹. In: ‚Die neue Metropole. Los Angeles – London‹, hg. v. B.-P. Lange und H.-P. Rodenberg (Hamburg 1994), S. 7-31 (Zitate auf S. 26 und 11).
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das für den aus der Michael-Max-Thriller ›Creative Killing‹ wirbt, sukzessive – und verschwommen – die Namen einiger der Hauptverantwortlichen fürs ›Ende der Gewalt‹ lesen, an der Spitze den von Wim Wenders. Das ist gewiß keine Selbstbezichtigung in dem Sinne, daß sich Wenders an der seit den 1980er Jahren entfesselten filmischen Ausbeutung von Gewaltszenen beteiligt hätte. Denn jetzt wie in seinen anderen Filmen hat er sie, trotz ihrer atavistischen Faszinationskraft, nach Möglichkeit ausgespart und nur dort akzeptiert, wo sie als Schockmomente dramaturgisch gefordert waren (am eindrucksvollsten im ›Stand der Dinge‹, wo der Regisseur Friedrich Munro und sein Produzent Gordon wie jetzt Ray Bering gleichsam aus heiterem Himmel liquidiert werden). Wo aber wie im ›Amerikanischen Freund‹ der Tatablauf detailliert geschildert wird, hat Wenders deutlich gemacht, was es heißt, einen Menschen umzubringen. Seine jetzige Selbstironisierung dürfte sich deshalb zunächst auf den Suspense der Bedrohung und Beklemmung beziehen, mit dem er im ›Ende der Gewalt‹ intensiv und ausdauernd wie keinmal sonst gearbeitet hat. Nach einer Kinovorstellung bekannte mir so ein älterer Mann, der sichtlich verstört beim Ausgang stehengeblieben war, daß er die lauernde Bedrohung in Szenen wie der letzten zwischen Mathilda und Phelps nicht recht begriffen und noch nicht verarbeitet habe. Darüber hinaus aber scheint Wenders’ ironische Autoreferenz auf die subtileren Formen der Gewaltausübung aufmerksam zu machen, die sich mit dem kontrollierenden oder auch zudringlichen Blicks des Filmenden ergeben. Für die Filmhandlung selbst führt er dies gleich zu Beginn für Ray Bering vor, zeigt ihn hin- und hergerissen zwischen seiner auftragsgemäßen Observierung des verdächtig umherspähenden Mannes und seiner privaten voyeuristischen Neugier angesichts der nach einem Streit nun weinenden jungen Frau, zu der hin er sich mit seinem Joystick vorge-
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arbeitet hatte. Zum Abschluß dieser Observierungsszene wird Bering vor beiden Monitoren plötzlich von hinten her gezeigt, als der beobachtete Voyeur. Ein kleiner visueller Überfall, der wie viele andere zu der unterschwelligen Argumentationslinie gehört, die der Regisseur Wenders sich hier allmählich erarbeitet und zugleich dem Zuschauer beizubringen hat. Für diesen Film lag es mithin nahe, vom Dargestellten her selbstreflexiv auf die Darstellung überzugehen, nicht allein den Gebrauch des subtilen Folterinstrumentes des Suspenses und Thrills einzuräumen, vielmehr die unvermeidliche Manipulation durch den Filmemacher, der permanent und sicherlich weit früher als der Literat und andere Künstler an die visuelle und geistige Auffassungskraft seines Publikum zu denken hat. Auch dies grenzt an geistige Kontrolle und Überwachung.31
31 Wenders äußerte sich dazu in einem Interview mit Taja Gut (1988): »Ein Film ist natürlich eine Gewaltanwendung oder droht es zu werden in jeder Etappe seines Entstehens ... Wenn der Film fertig ist, ist er in dem Moment, wo er vorgeführt wird, eine Gewaltanwendung insofern, als die Gefahr besteht, daß er seinen Zuschauern keine Freiheit mehr gibt, etwas zu sehen, sondern nur noch ihnen sagt, was sie zu sehen haben ... daß ein Schauspieler ... von einem Film immer nur ein kleines Stückchen macht, dessen Stellenwert er gar nicht kennt ... ist auch eine Gewaltanwendung.« Wiederabdruck in: Wenders, Wim: ›The Act of Seeing. Texte und Gespräche‹ (Frankfurt/M. 1992), S. 42f.
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Filmgeschicht licher Anhang Zur »Puzzle«-Version von Cannes – Vergleich mit Altmans »multicharacter-form« – Helikopter über Los Angeles – Selbstkritische Filmzitate
Nach der Uraufführung in Cannes schnitt Wim Wenders den Film noch einmal von Grund auf um. »Ich wußte, er war zu kompliziert geworden. Ich habe noch nie so einen Film gemacht, der eine Art Puzzlespiel ist, der sich aus so vielen Figuren zusammensetzt. Ich habe es dann entpuzzlet, es ist kein Stein mehr auf dem anderen geblieben.«32 In einem Interview Tage vor der Uraufführung sprach er davon, daß die Personen »zusammengenommen einen Querschnitt durch die Bevölkerung von Los Angeles« darstellten und bestätigte die daraufhin geäußerte Vermutung, daß die Konstruktion seines Films der mehrsträngigen Erzählweise von Robert Altmans ›Short Cuts‹ (1993) vergleichbar sei. »Auch ich erzähle simultan verschiedene Einzelgeschichten, deren Zusammenhang erst am Ende erkennbar wird. Das Stichwort heißt Gewalt.«33 Aus den flüchtigen Besprechungen der damals vom Festival berichtenden Filmkritik läßt sich diese Fassung nicht einmal mehr in den groben Zügen rekonstruieren.34 Aufschlußreich genug bleibt, was Wenders in einem Interview mit Jayne Margetts zu seiner Ausgangslage bemerkte. Statt wie allgemein üblich zuerst den Plot auszuarbeiten und von hierher die Charaktere nach ihrer Relevanz für die Story zu entwickeln, wäre er umgekehrt vorgegangen und hätte unter dem Leitbegriff »Gewalt« zusammen mit Nicholas Klein zuerst die Einzelcharaktere entwickelt, also noch ohne jeden Bezug zueinander. Wenders: »The story emerged slowly out of their different biographies and out of the only element they shared: an encounter with violence.«35 Die Ausgangslage unterscheidet sich mithin fundamental 32 In einem Interview mit Günter H. Jekubzik (undatiert); URL: http:// www.geocities.com/wcroston/wenders1.html 33 Wenders im Hamburger Magazin ›Der Spiegel‹, 1997, Nr. 19, S. 214. Er erwähnt dort auch seinen Entschluß, das zusammen mit seinem Drehbuchschreiber Nicholas Klein erarbeitete Science-fiction-Projekt ›The Billion Dollar Hotel‹ aufzuschieben und mit Klein rasch diesen ganz anderen Film auf die Beine zu stellen. 34 Behauptungen wie die, daß die Cannes-Version 40 Minuten länger gewesen sei, daß Paige sich tatsächlich nach Guatemala begeben oder Ray Bering Mike Max das FBI-File zugespielt hätte, damit er es in seinem neuen Film benutzen könnte, dokumentieren wohl nur die Zerstreutheit dieser Festival-Filmkritiker. Glaubwürdiger hingegen die Bemerkungen, daß der umgeschnittene Film sich nun stärker auf die Person von Mike Max konzentriere und auch anders abschließe (dazu weiter unten). 35 ›The Aura of Significance/An Interview with Wim Wenders‹. In: ›Celluloid. The Film Files‹(1997). URL:http://www.thei.aust.com/film97/cellinwenders.html Ähnlich auf S. 11 des zum deutschen Kinostart (27.11.97) erschienenen »Presseheftes«.
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von der Altmans, der für ›Short Cuts‹ verschiedene Short stories von Raymond Carver heranzog und neu collagierte. Zudem hatte sich Wenders bald auf seine beiden kryptisch erzählten Themenkomplexe zu konzentrieren. Gut vorstellbar, daß diese Entscheidung zugunsten der Polarität zwischen einer odysseischen und einer christologischen Handlungsdimension diesmal keine zusätzliche Komplikation darstellte, sie vielmehr umgekehrt die Konsolidierung der manifesten Story vorantrieb und die Verknüpfung der Figuren erleichterte. Alles ging schnell vonstatten, gerade einmal vier Monate lagen zwischen der Abfassung des Szenarios (Ende Juni bis August 1996) und dem Abschluß der Dreharbeiten, für die Wenders 28 Tage brauchte. Die Cannes-Version des Films dürfte nicht bloß verschachtelter gewesen sein, sondern für diese und jene Figurenkonstellation auch ausführlicher. Womöglich wurde speziell Mike Max’ neue Existenz in der mexikanischen Großfamilie weiter ausgebreitet und seine Wandlung besser nachvollziehbar als jetzt, da er schon gleich nach seiner Entführung, noch verschmutzt und blutverkrustet, im präteritalen Voice-Over davon berichtet und sich als »einen neuen Menschen« bezeichnet. Die vorliegende, nach Cannes neu geschnittene Filmversion möchte ich im folgenden daraufhin betrachten, wie das erzählerische Hauptproblem, die Integration der vielen Einzelepisoden, mit Hilfe der Szenenanschlüsse gemeistert wird. Zum besseren Verständnis sei zuvor ein Blick auf die von Wenders bewunderte Erzählweise von Robert Altman geworfen. Sein filmerzählerisches Verfahren der »Multi character form« praktizierte Altman zum erstenmal in ›Nashville‹ (1975). ›Nashville. Ein Film, bei dem man Hören und Sehen lernen kann‹, überschrieb Wenders seine Filmkritik aus dem Jahre 1976. Nach Ausführungen zu dem »revolutionären Tonsystem« (einem 8-Spur-Gerät) erläuterte Wenders auch die neue Erzähltechnik: »›Nashville‹ erzählt die Geschichte von 24 Leuten über fünf Tage hinweg ... Alle haben irgend etwas mit Musik zu tun ... Altman erzählt diese 24 Geschichten ... ohne Rückblenden, ohne psychologische Verbindungen, manchmal durchaus verzahnt, aber oft nur aneinandergereiht, nach vorne. Im Lauf des Films gewöhnt man sich an diese Erzähltechnik, weil sie mehr und mehr zu tun kriegt mit den chaotischen Beziehungen, die die Leute untereinander haben. Diese Erzählweise scheint auch ihre Wahrnehmungsweise zu sein, ihre Art, miteinander umzugehen.«
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36 Zitiert nach: Wenders, Wim: ›Emotion Pictures. Essays und Filmkritiken 19681984‹ (Frankfurt/M. 1986), S. 104f. Erstdruck in: ›Die Zeit‹ (Hamburg) vom 21.5.1976
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Robert Altman, Nashville (1975) 00:34
Wenders’ Beobachtung, daß die Szenen in ›Nashville‹ meist aneinandergereiht sind, trifft so auch auf ›Short Cuts‹ und aufs ›Ende der Gewalt‹ zu. Denn selbstverständlich funktioniert die Montage verschiedener Parallelhandlungen weithin ohne explizite oder eigens markierte Überleitungen. Die Teilszenen müssen nur in sich kohärent genug sein und im Rhythmus ihrer Abfolge so ausgewogen bleiben, daß die Auffassungsfähigkeit des Zuschauers nicht überfordert wird. Während sich nun die Anzahl der relativ gleichberechtigten Charaktere gegenüber ›Nashville‹ kaum erhöht hat, weist ›Short Cuts‹ weit mehr Einzelszenen auf, die zudem öfter nur Sekunden lang sind. Unter den gut 150 szenischen Übergängen werden ungefähr zwanzig plakativer als Überleitungen inszeniert. In der Regel unterstreichen sie den Experimentalcharakter des Films, auf den ja schon der mehrdeutige Titel abhebt. Dazu gehören auch einige leerlaufende Übergänge von einer Person, die eine Tür schließt, zu einer anderen, die eine Tür öffnet (oder umgekehrt) – ein blindes Motiv, das den ein wenig vor den Kopf gestoßenen Betrachter auf das Erzählprinzip des Films aufmerksamer macht. Darüber hinaus aber kommt immer wieder etwas anderes ins Spiel, ein ausgesprochen satirischer Mutwillen, der sich vor allem in der Montage der szenischen Anschlüsse dokumentiert. Am übelsten mitgespielt durch solch argumentative akustisch-optische Überleitungen und Überlappungen wird der jungen Cellistin Zoe (Lori Singer), die sich in dieser infernalischen Umgebung von Los Angeles das Leben nehmen soll. Schon bei ihrem ersten Auftritt in einem öffentlichen Konzert hat sich ihr im Off aufkommendes Spiel gegen das Geknatter einer Helikopterstaffel zu be37 a.a.O., S. 111
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haupten, wird sodann im Konzertsaal bald schon vom Getratsche der ersten anderen Parallelfiguren überdeckt, um erneut als Offton von den Geräuschen der wieder im Bild gezeigten Helikopter verdrängt zu werden (03:22–04:13). Auf ihren zweiten Auftritt dann, dem häuslichen Übungsspiel, folgt ein degoutanter Übergang zu den Enddarm-Geräuschen der ordinärsten Person des Films, eines Hollywood-Visagisten (17:17-21). Im Lauf des Films wird Zoe (»das Leben«) durch diese mit Umschnitt und Offton operierende Erzählweise immer mehr der von den Anglern entdeckten weiblichen Wasserleiche angeglichen. Nachdem Zoe im Swimmingpool längere Zeit regungslos mit dem Gesicht nach unten liegenblieb und von ihrer Mutter höhnisch ein Eisstückchen zwischen die Schulterblätter geworfen bekam, wird bei durchgehaltenem Wassergeplansche auf die Angler am Fluß umgeschnitten; einer von ihnen will »’ne Stange Wasser wegstellen« und trifft mit seinem (Kunst-)Strahl genau auf den Schoß der drunten im Wasser liegenden halbnackten Leiche (48:06-49:19). Altman hat diesen Übergang dadurch gemildert, daß er nach dem Umschnitt von Zoe her gut eine Minute zwischen den beiden aggressiven Akten vergehen läßt. Läßt aber nicht locker. Läßt an späterer Stelle vom Anblick der im Wasser liegengelassenen, von den Anglern vertäuten Leiche auf einen Bassinfisch und von diesem schließlich wieder zurück auf die Angler und dann die abseits liegende Leiche schneiden, die noch Reste weißer Unterwäsche und einen weißen Schuh trägt – um sogleich umzuschneiden auf die flossengleich verrutschten weißen Socken der weißgekleideten Cellistin, die wieder einmal mit geschlossenen Augen spielt (1:05:50–1:08:40).
Robert Altman, Short Cuts (1993) 1:08:31-32
Und das wird immer bedrohlicher. Der nächste Umschnitt vom Anblick der Leiche konzentriert sich auf die Spielhand der Musizierenden und den weißen Verband, den sie dort nach einer Verletzung trägt (1:22:56-58). Schließlich wird Zoes Freitod noch durch eine abgefeimte Schnittsequenz als Opferritual stilisiert: Von einer Qualmwolke des angebrannten, aus jenem Leichenfluß stammenden Fischgerichts erfolgt der Umschnitt auf die Abgasschwaden ihres Autos, neben dem sie in geschlossener Garage zu musizieren beginnt. Bis auf ihre im Lichtdunst der Bühne auf den Einsatz wartende Mutter umgeschnitten wird,
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die Jazzerin Tess (Annie Ross), die bald loslegt mit »... You may be a fire ... You may be a false alarm« (2:31:37–2:32:45).
Die für ›Nashville‹ von Wenders beobachtete unbeteiligte Haltung des Erzählers gilt für ›Short Cuts‹ so also nicht mehr. Allerdings ist es immer noch eine Art von Mimesis an die Mentalität der Figuren, die keinen Zweifel daran läßt, daß es deren übliche gedankenlose Gemeinheiten sind, an denen die sensibelste Figur in ihrer Mitte zugrunde geht. Wenn nun Wenders den Vergleich seiner Erzählweise mit derjenigen von ›Short Cuts‹ für das ›Ende der Gewalt‹ gelten ließ, so hat er sie doch auf seine Weise weitergeführt. Hat zwar ausgiebig wie nie zuvor von der Parallelmontage Gebrauch gemacht, um die verschiedenen, mehr oder minder »gleichzeitig« ablaufenden Handlungsstränge jeweils gehörig zu entwickeln und untereinander zu verflechten, dies aber gleich für zwei Erzählversionen leisten müssen, die manifeste und die kryptisch vorgetragene. Die manifeste Filmhandlung ist im großen ganzen nach dem Rhythmus eines Tagesablaufs angeordnet, so daß sich neun oder zehn Einzeltage unterscheiden lassen. Zweimal wird die von Tag zu Tag fortschreitende Narration durch größere Zeitsprünge unterbrochen: »Vier Wochen später« lautet jeweils eine Einblendung im 11. Kapitel (nach Mike Max’ Ankunft in der Latinofamilie) und im 21. Kapitel (nach seiner Kneipenprügelei und Übergabe von Ray Berings Telefonnummer an Cat). Unter den Bildmontagen, die auf eine Altman vergleichbar demonstrative Weise eine direkte zeitliche und thematische Berührung behaupten, fallen einige Zwischenschnitte auf, bei denen sich eine Kamera aus externer Perspektive sekundenlang feindselig auf die beiden Hauptfiguren richtet. Wie erwähnt, widerfährt dies nicht nur mehrmals Ray Bering, der über ein extern kontrolliertes Monitorbild als überwachter Überwacher definiert wird, sondern einmal auch Mike Max, wenn sich das Fadenkreuz des anonymen Killers über das von der Videokamera gezeigte Bild des Entführten legt: Diese gesteigerte Bedrohung wird psychoakustisch – durch Sounddesign – raffiniert vorbereitet. Denn während des Kasperlestreits der beiden amateurhaften Entführer wendet der eine, der dicke Frank, den Kopf seitlich hinweg in die Höhe und ruft laut aus: »Das darf doch alles nicht wahr sein!« Sein Verzweiflungsschrei wird tondramaturgisch mit starkem Nachhalleffekt ausgebaut und so weit in den Umgebungsraum des Tatorts hinausgezogen, daß der Blick der Kamera wie von selbst auf die im Nachtblau über den dreien liegenden Highway-Bahnen fällt. Gleichsam in Antwort darauf erfolgt sogleich ein Umschnitt, der aus der Perspektive von droben auf einem grünstichigen Monitorbild zeigt, wie die
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Überwachungskamera auf Max zufährt und sich das Fadenkreuz langsam über sein Gesicht schiebt – bis auf einmal Frank hinter Max tritt, woraufhin in derselben Perspektive, aber nun wieder »live« zu sehen ist, wie Frank ihm das Pflaster vom Mund reißt (21:14-42). Zum Abschluß der Sequenz, nach Lowells provokativem »Pieps«, wird auf ein Monitorbild von Ray Bering übergegangen, der soeben auf den Tathergang aufmerksam geworden ist, jedoch in den entscheidenden Sekunden von Phelps abgelenkt und von der Spur gebracht wird (22:36–24:01). Noch ein zweites Mal suggeriert eine solche Schnittabfolge zugleich mit der zeitlichen Berührung auch die Möglichkeit einer Kontaktaufnahme zwischen den beiden Hauptfiguren, um sie aber erneut schon im Ansatz zu dementieren. Kaum hat nämlich Mathilda den verzweifelten Ray zum Kuß zu sich hochgezogen, wird vom Anblick seines nun verwaisten Monitorensystems zu den Videokameras »vor Ort« übergegangen. Sie übermitteln von dort in schlechter Bildqualität einige kurze Szenen, bis auf Mike Max umgeschnitten wird, der, wie aus der sich durchhaltenden Geräuschkulisse von Schüssen und Schreien hervorgeht, in der unmittelbaren Nähe wohnen muß und soeben Berings Adresse auf seinem Organizer wiedergefunden hat (1:05:05-29). Betörend und mitunter rätselhaft sind andere kurze Zwischenschnitte mit dem Anblick von Los Angeles. Während die Blicke von Ray Berings Observatoriumshügel hinunter auf die Stadt sich wie selbstverständlich ergeben, stimmen diese Stadtbilder primär auf einen Szenenwechsel ein. Es sind dies sechs von unbewegter Kamera aufgenommene Einblendun-
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gen, darunter vier Nachtaufnahmen. Die erste Tagesaufnahme zeigt im Vordergrund und bildbeherrschend das alte Hollywooder Hotel FONTENOY, nämlich im Übergang von der am Pool konferierenden Paige hin zu Ray Bering, der soeben für seinen Vater die Pizza zerschneidet und 151
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ihm bald jene auch metaphysische Frage »Pourquoi?« zu beantworten hat. Rays Schneidegeräusche waren schon beim Anblick des Hotels im Off zu vernehmen, so daß gemäß filmischer Hör- und Sehkonvention in diesem Hotel – das schon seit Jahrzehnten eine »Senior Residence« ist – die Wohnung von Louis anzusetzen wäre. Die zweite Tagesaufnahme zeigt, in der angesprochenen Funktion der zeitlichen Überleitung (»Vier Wochen später«), das nur einige Straßen weiter östlich liegende und ebenfalls in den 20er Jahren erbaute KNICKERBOCKER-Hotel. Zweimal leitet ein und dieselbe Nachtaufnahme – gegenüber der Tagesaufnahme des Hotels perspektivisch leicht versetzt – jeweils schon mit einem Voice-Over auf eine Leseszene in einem Literatencafé über, zunächst auf den Vortrag von Ade und später den von Six (DVD-Kap. 7 und 18). Für die Lokalisierung des Cafés, nach der jeder Zuschauer unwillkürlich
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suchen dürfte, kommt aber nicht allein das »Knickerbocker« in Frage, da weit stärker als für das »Fontenoy« mit diesem Hotel zugleich die umliegende – theaterreiche – Stadtlandschaft bis hin zur Skyline von Downtown mit erfaßt wird. So führt denn auch jene Tagesaufnahme des »Knickerbockers« nicht auf das Café, sondern von der Kneipenprügelei her auf die Streitszene, die sich auf einer Polizeistation zwischen Doc und Sheriff Call zuträgt. Stärker noch auf diese Skyline von Downtown ausgerichtet, da ohne bildbeherrschende Gebäude im Vordergrund, sind zwei weitere Nachtaufnahmen von Hollywood her.38 Beim erstenmal zieht ein blinkender und laut knatternder Polizeihelikopter die Aufmerksamkeit auf sich (1:18:03-09), beim zweiten Mal und in dem größeren Bildausschnitt (1:42:11-15) sind gleich vier Flugobjekte auszumachen. Bei der auffälligen Wiederholung dieser Helikopterszene darf man das Ganze sicherlich
38 Genau besehen ist es nur eine Aufnahme, die aber im Bildausschnitt stark variiert.
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als freundlich-ironische Erinnerung an die Helikopter in Altmans ›Short Cuts‹ auffassen. Darüber hinaus aber mag man sich an einen anderen Los-AngelesFilm erinnert fühlen, auf dessen Helikopter schon Altman selber Bezug nahm, ›Grand Canyon‹ (1991) von Lawrence Kasdan. Bei ihm kreuzen patrouillierende Polizeihelikopter ein Dutzend Mal die Wege der Hauptakteure und leiten wiederholt von einem Film-»Kapitel« zum anderen über. Einmal gar stellt sich ein solcher Helikopter im Sturzflug – eine Trickaufnahme – vor der ebenfalls nächtlichen Skyline von Los Angeles ein, die in annähernd gleicher Entfernung wie im ›Ende der Gewalt‹ gezeigt wird. Oben: 1:18:05 Unten: L. Kasdan, Grand Canyon (1991) 46:24 Das wäre nun allerdings in Wenders’ Film weit mehr als eine bloß visuelle Reminiszenz. Denn während die gleichfalls in ein künstliches Blau getauchten Helikopter bei Altman nur gegen die den Menschen angeblich bedrohende Fruchtfliege eingesetzt werden, symbolisiert bei Kasdan der immer wieder auftauchende und wenn, dann zu spät über einem Tatort kreisende Helikopter die zentrale Frage nach der Gewalt39 und ihrer 39 Aus Kasdans ›Grand Canyon‹ haben daher Wenders und sein Drehbuchautor Nicholas Klein offenbar eine Nebenfigur gleichsam adoptiert, um ihr die dort verpaßte Entwicklung in Gestalt von Mike Max doch noch zu gönnen. Es ist dies Davis (Steve Martin), der Produzent von blutrünstigen Gewaltfilmen, der bei einem Raubüberfall schwer verletzt wird, im Krankenhaus sein bisheriges Treiben überdenkt und von nun an ernsthafte Filme machen will. Zur Enttäuschung seiner Freunde widerruft er dies aber später wieder und verweist zur Begründung – wie auch anders – auf einen weiteren Hollywood-Film, ›Sullivan’s Travels‹ von Preston Sturges (1941). Bei Sturges ist es ein Produzent von eskapistischen Filmkomödien, der sich als Tramp verkleidet, um für seinen geplanten sozialkritischen Film namens ›O Brother, Where Art Thou?‹ erst einmal entsprechende Lebenserfahrungen zu sammeln. Für tot erklärt, muß er sich des Mordes an sich selbst bezichtigen, um wieder ins öffentliche Leben zurückzukehren – und zu seinem Fach der Screwball-Comedy, das er denn doch im Kreise seiner Mithäftlinge schätzengelernt hatte. Noch im ›Ende der Gewalt‹ finden sich Spuren seiner Irrfahrten, so von den Zeitungsschlagzeilen und dem Verhalten der Frau Sulli-
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Überwachung in dieser Metropole. Eine bei Wenders ebenfalls zentrale Frage, für die er freilich ein anderes und zugleich filmgeschichtlich aufgeladenes Symbol gefunden hat, die über Los Angeles liegende umgerüstete Griffith-Sternwarte mit ihren in die Stadt hinunterführenden elektronischen Blickbahnen. Wenders’ Interesse an den selbst im Hintergrund noch dominanten Hochhäusern von Downtown ist gegenüber Kasdan merklich gesteigert, soll aber erst in seinem nächsten Film ›Million Dollar Hotel‹ zu einer optisch pointierten Architektursymbolik führen. All diese visuellen, durch den bloßen Schnitt hergestellten raumzeitlichen Berührungen sind erzählstrategisch vor allem für die manifeste Erzählversion von Bedeutung, die sich auf die Kontaktbemühungen der beiden Hauptgestalten konzentriert. Eine andere Kategorie von Umschnitten argumentiert hingegen ausschließlich innerhalb der filmischen Subtextschichten und verklammert, ja beschwört nahezu die innere, mythologisch begründete Verwandtschaft zwischen Mike, Paige und Detective Doc Block. Es sind dies Motivanschlüsse in Gestalt von diskreten Gebärdenangleichungen vor und nach dem Schnitt. Neben der schon angesprochenen »familiären« Umarmung zwischen Paige-Penelope und Doc-Telemach und der nachfolgenden »blinden« Umarmungsgeste des einsamen verschollenen Mike gibt es in demselben 10. Kapitel noch eine weitere subtile, durch den Umschnitt markierte Korrespondenz in der Körpersprache zwischen »Sohn« und »Vater«: Von Doc her, der zu seiner Beantwortung von Cats Frage nach dem Wesen der Gewalt die Hände von der Studio-Theke nahm, sie auf seine Oberschenkel gleiten ließ und nach Cats Abgang noch sekundenlang wie im Standbild so verharrte, wird zunächst auf das von Ray Bering betrachtete Zeitungsphoto umgeschnitten, das Mike Max mit lässig in die Hüften gestützten Armen zeigt (s. Abb. S. 122). Zum Abschluß dieser Lektüreszene wiederholt sich dies geradezu spiegelbildlich, indem von einem zweiten Zeitungsphoto, das Mike in anderer Kleidung in der nämlichen Pose zeigt, im Schnitt wieder zurück auf Doc gegangen wird, der sehr leger, mit den Händen in den Taschen und einem Fenster zugewandt, bei Paige steht und ihren immer vertraulicheren Ausführungen zuhört (37:08– 39:26). Für die visuelle Auflösung der Probleme, die sich bei einer mehrsträngigen filmischen Erzählweise ergeben, böten sich eigentlich Bildüberlagerungen an. Als technisches Hilfsmittel für die immer wieder fälligen szenischen und zeitlichen Verknüpfungen scheint Wenders sie nicht besonvans, die sich mit bald nach seinem Verschwinden mit einem seiner Manager liiert.
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ders zu schätzen, hat aber anders als Altman in ›Short Cuts‹ immerhin eine Handvoll Überblendungen eingesetzt. Einmal gar folgen drei dicht aufeinander. Es sind dies Traum- und Gedankenbilder von der neuen Skylla, dem schlangengleichen Highway-Knoten, die den Horror dieses Tatorts noch einmal ausbreiten, um sogleich die Auflösung der hier begangenen Verbrechen anzukündigen. Zuerst legt sich dieses Schlangengebilde alptraumgleich über den deprimierten Ray und seinen schlafenden Vater. Eine weitere Überblendung tritt hinzu und wird bald kenntlicher als eine perspektivisch nur geringfügig versetzte, aus einem Helikopter gefilmte Einstellung auf dieselbe Highway-Stelle (Interchange I5/ Highway 14)40. Als der – selber nicht ins Bild kommende – Helikopter sich so weit von dem nun im Tageslicht daliegenden Knotenpunkt entfernt hat, daß sich in dieser extremen CinemascopeTotalen das San-Fernando-Valley weit zu den Seiten und in die Tiefe öffnet, über die 1:43:19-43
Wasserreservoirs von Los Angeles hinaus, legt sich die dritte Überblendung über dieses Tatort-Panorama. Sie zeigt Detective Doc, wie er sinnierend mit drei Billardkugeln spielt. Cat wird sogleich herantreten und ihm die Telefonnummer von Ray Bering überreichen, den er nach dem sofortigen Umschnitt schon neben dessen Passionspfahl erwartet. Wie bei seinen visuellen hat Wenders auch bei seinen vielen akustischen Überlappungen die Verknüpfungstechniken Altmans erweitert. Bei 40 An dieser Stelle, unten am Rande des Highways 14, rasteten Travis und Hunter in ›Paris, Texas‹ (1983/84) und faßten beim Verzehr von »La Vache qui rit« im Pick-Up den Entschluß, sich sofort auf die gemeinsame Suche nach Jane zu machen.
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den meisten Umschnitten, Einblendungen und den zuletzt erwähnten Überblendungen führen zugleich Geräusch, Dialog oder musikalisches Motiv – oft unterschwellig – von der einen in die andere Szene hinüber, wobei nicht selten eine Einstellung als Tonbrücke nach beiden Richtungen hin fungiert, ein ausklingendes Gespräch oder Lied aufnimmt, um sich entweder der eigenen Tonquelle (dem On-Screen-Sound) zu öffnen oder schon den Ton der anschließenden Szene im Off vorwegzunehmen. Eine weitere Variante ist bei jener Helikopter-Szene zu bewundern, wo das »crying« von Roy Orbisons Song (›You May Feel Me Crying‹) mit phantastisch-lyrischem Halleffekt in das Nachtbild mit Downtown übergeht, bis das Geknatter des blinkenden Helikopters aufkommt und seinerseits weiter in den anschließenden Clubauftritt der selbstironischen Blondine hinübergenommen wird. Bei der zeitlichen wie räumlichen Parallelmontage traut Wenders wie Altman den musikalischen Motiven besonders viel zu und führt gelegentlich eines über mehrere Szenen hinweg. Am schönsten sicherlich für den auf S. 123 erwähnten »Pussycat«-Singsang von Sam Phillips (›Animals On Wheels‹), der neben der manifesten Handlung auch die mythische Zeitentiefe der ›Odyssee‹ kryptisch weiter ausbaut: Die Offstimme dieser neuen Sirene ist schon zu vernehmen, als Paige noch die Große Rächerin Pallas-Cat über den Abbruch der Dreharbeiten hinwegzutrösten versucht. Wahrgenommen wird dieses Lied dann draußen von Mike Max, der sich soeben von seinem Beobachtungsposten am Set entfernt, doch wird der Song bald erst einmal vom Voice-Over seines inneren Monologs (über die Identität oder Nichtidentität von Freund und Feind) zurückgedrängt. Nach dem erneuten Rückschnitt auf die Trostbemühungen zwischen Paige, Cat und Claire lauscht der in der Dunkelheit Weiterlaufende wieder dem offenbar aus einem Nachbargebäude herüberdringenden Lied, das aber nochmals von dem Geräusch eines heranrasenden Autos verdrängt wird. Und nun erst, als man sich schon mehr für den Ausgang dieser Kollision mit Cat interessiert, kommt Sam Phillips im Off immer lauter auf und erfolgt endlich auch visuell der Umschnitt auf sie, die ihr lustiges, rhythmisch einem Zirkuswalzer folgendes Lied in dem Literatenclub vorträgt. Bis wiederum die sirrenden und summenden Geräuschvibrationen ihres Recorders von der mehrstimmigen Countrymusik des nächsten odysseischen Schauplatzes abgelöst werden, dieser Kneipe mit Max’ Faustkampf (1:21:07–1:23:01). Einige Filmkritiker haben im Zusammenhang mit Ray Berings verzweifelten Bemühungen, die zufällig aufgeschnappten Bilder vom Mordanschlag zu analysieren und publik zu machen, zu Recht auf die thematische Berührung mit Michelangelo Antonionis ›Blow Up‹ (1966) hinge-
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wiesen. Wenders, scheint mir, hat für das Hauptmotiv von ›Blow Up‹ sogar ein eigenes kleines Versteckspiel arrangiert. Antonionis Modephotograph Thomas glaubt ja, das Gesicht des Mörders, der sich im Gebüsch versteckt, und auch das seines erschossenen Opfers zufällig photographiert zu haben und durch Vergrößerungen genauer nachweisen zu können. In dem Moment, als Ray Bering die Tatszene zum ersten Mal erblickt und den Bildausschnitt zu vergrößern beginnt, ist auf zwei blaustichigen Monitorbildern so etwas wie ein halbverborgenes Gesicht zu sehen, nicht das des Mörders oder seines Opfers, sondern eines, das eher
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dem des Regisseurs vom ›Ende der Gewalt‹ ähnelt. Bei dem grünstichigen Monitorbild vom Tatort ist es dem dort entlangwandernden Suchpfeil Rays zugekehrt. Das Gesicht bleibt zweideutig wie bei Antonioni, kann das eines anderen sein oder auch gar keines mehr, wenn man es via »Blow-Up« zu identifizieren sucht und sich statt dessen in diesen Bildpixeln verliert, die schon im Vorspann des Films einem Menetekel gleich vorgeführt wurden. In dem zum Filmstart erschienenen Presseheft zum ›Ende der Gewalt‹ wird Ray Berings Rolle des beobachteten Beobachters mit der Formel »tausend Augen« überschrieben (S. 14), eine Anspielung auf Fritz Langs dritten Mabusefilm ›Die tausend Augen des Dr. Mabuse‹ (1960). Langs Filmtitel zielt auf eine lückenlose, den hundertäugigen Argus elektronisch perfektionierende Überwachung durch versteckte (Hotel-)Kameras ab, deren Zentrale mit diversen Monitoren wie bei Phelps’ System im Kellergeschoß des Gebäudes liegt. Schon bei Fritz Lang fällt der Blick der Überwachten auf die Augen verschiedener Kameras und wird visuell 157
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klar zwischen ihren Fernseh-Bildern und denen der Filmkamera unterschieden. Darin und in der verbrecherischen Ausrichtung ist das Modell des Mabuse-Nachfolgers Cornelius alias »Prof. Jordan« (mit Zerberushund!) in der Tat ein Vorläufer der von Phelps installierten Videoüberwachung. Wenders’ selbstironische Bildsprache ist also auch stark filmgeschichtlich orientiert, indem er sich selbst ebenso bescheiden wie selbstbewußt speziell in die Tradition des deutschen Films einreiht. Widmete er sich im ›Stand der Dinge‹ besonders Friedrich Murnau, so jetzt wie schon im ›Lauf der Zeit‹ vor allem Fritz Lang. In der einen zentralen Szene im ›Lauf der Zeit‹ bleibt die Kamera im »Hermes«-Transporter allein zurück und wird ihr Blick verdunkelt, nachdem Robert Lander das Photo des todkranken Fritz Lang an sich genommen und die Tür von außen geschlossen hatte (vgl. S. 187f.). Eine Szene, die an die Schlußeinstellung des zweiten Mabusefilms von Lang erinnert, ›Das Testament des Dr. Mabuse‹ (1933), wo die Kamera in der Zelle bei dem Mabuse-Nachfolger Prof. Baum verbleibt und in der Dunkelheit, nach dem Schließen der Tür, nur noch die weiteren Schließgeräusche des Wärters zu vernehmen sind. Auch fürs ›Ende der Gewalt‹ nun scheint sich Wim Wenders auf diesen bedeutendsten Film der Mabuse-Trilogie zu beziehen. Ich denke an die durch ein photographisches »Blow Up« ermöglichte Identifizierung der Kratzer, die das Mabuse-Opfer Hofmeister mit einem Ring in Spiegelschrift in eine Fensterscheibe eingravierte. Kommissar Lohmann, mit dem der wie Ray Bering seine Mittäterschaft bereuende Hofmeister vergeblich Kontakt aufnehmen wollte, läßt die Scheibe ins Präsidium transportieren, die Kratzer dort photographieren und dann vergrößern. Am Tat-
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ort selber, als er dieses Gekritzel auf der Scheibe erblickte, suchte Lohmann es noch naiv zu entziffern: »W W? Nee! Ob das ein Name sein soll?« Während jener ersten Observierungsszene von Ray Bering wird sekundenlang auf eine externe, vor Los Angeles’ Downtown hin und her schwenkende Kamera umgeschnitten, die etliche auffällige Schrammen oder auch (Kreide-)Markierungen trägt, von denen einige wie die Graffiti auf Berings Passionspfahl den Charakter von Schriftzeichen haben. Würde nicht Lohmann darin erneut eine W-W-Signatur wiederfinden wollen?
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II. DIE HERMES-TRILOGIE ›Im Lauf der Zeit‹ (1976) – ›Der amerikanische Freund‹ (1977) – ›Das Million Dollar Hotel‹ 2000)
Zu Hermes’ Ka rriere in chri stlicher Ikonogra phie und Kunst Für einen Filmemacher, der sich wiederholt auf seinen christlichen Glauben berufen hat, kommt diese Vorliebe für die heidnische Gottheit Hermes/Merkur vielleicht noch überraschender als die für Odysseus. Wie dieser hat jedoch auch Hermes seit der Spätantike immer wieder gerade die Bekenner des Christentums fasziniert. Ihm dürfte dabei noch zugute gekommen sein, daß die christliche Lehre, die ansonsten den Synkretismus der Spätantike unterdrückte, sich auf einem vermeintlichen Randgebiet wie der Engellehre besonders großzügig verhielt.1 Als Götterbote oder »angelos« (»Bote« = »Engel«) konnte Hermes jedenfalls schon früh mit seinem christlichen Pendant, dem Erzengel Michael, der wie er einen Botenstab trägt, verglichen oder auch gleichgesetzt werden. Wie Michael beim Jüngsten Gericht als der gerechte »Seelenwäger« fungiert, so gibt Hermes Psychopompos mit seiner Waage »jedem das Seine«.2 Und ähnlich wie Michael als Drachentöter gilt der »Hundswürger« auch als Schlangen- oder »Drachenbezwinger«. Ja, Hermes, der Patron der Herden, war als der widdertragende »Gute Hirte« (»Kriophoros«) ein ikonographisches Vorbild für Christus selbst; wie umgekehrt dieser auch als »Christus Psychopompos« bekannt wurde.3 1 2 3
Artikel ›Christentum‹ in: ›Lexikon der Alten Welt‹ (Zürich 1965), Sp. 613 ›Emblemata. Handbuch zur Sinnbildkunst des XVI. und XVII. Jahrhunderts‹, hg. v. Arthur Henkel und Albrecht Schöne (Stuttgart 1967), Sp. 1769 Den Widderträger Hermes deuteten christliche Archäologen lange Zeit als Christusgestalt. Christus wiederum wurde bis etwa 400 n. Chr. wie Hermes als beschützender Seelengeleiter dargestellt, eine Funktion, die dann allmählich auf den Erzengel Michael überging (dem noch heute viele Friedhofskapellen geweiht sind). Vgl. Klauser, Theo: ›Studien zur Entstehung der christlichen Kunst IX‹. In: ›Jahrbuch für Antike und Christentum‹, Jg. 10 (1967), S. 82-120. Vgl. ferner Faivre, Antoine: ›The Eternal Hermes. From Greek God to Alchemical Magus‹, translated by Joscelyn Godwin (Grand Rapid 1995), S. 22
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ZU HERMES’ KARRIERE IN CHRISTLICHER IKONOGRAPHIE UND KUNST
Selbstverständlich heißt dies nicht, daß der Filmemacher Wenders mit seinen Hermes-Adaptationen einem neuen Synkretismus das Wort redet. Er nimmt nur das gute Recht wahr, das sich christliche Künstler über die Jahrhunderte hin genommen haben, so wenn Michelangelo für die Christusgestalt seines ›Jüngsten Gerichts‹ in der Sixtinischen Kapelle sich an das Antlitz Apollons hielt (vgl. S. 38). Was nun Wenders an dieser Figur vor allem zu faszinieren scheint, ist neben ihrem Witz und ihrer unerhörten geistigen Lebendigkeit ihr Status des Außenseiters unter den Göttern, des Mittlers zwischen Ober- und Unterwelt und zugleich der eines Großen Helfers. Am reinsten unter den Hermesfiguren wäre in dieser Hinsicht Tom Tom im ›Million Dollar Hotel‹, der zunächst als »Butler der Bettler« dient, sich dann aber für die »Erweckung« der Seele von Eloise opfert und sich insofern dem höchsten ethischen Ideal des Christentums annähert. Bei Tom Ripley im ›Amerikanischen Freund‹ ist diese Seelenführer-Funktion noch stärker im Sinne einer euphorischen Heimführung des todkranken Jonathan ausgerichtet, der sich vor seiner Abfahrt in den Hades noch einmal auf ein großes Abenteuer einlassen darf. Bruno Winter hingegen (›Im Lauf der Zeit‹) organisiert wie zuletzt Tom Tom die Rückkehr aus der Todessphäre oder der seelischen Erstarrung in eine neue Existenz; auch hierzu hat freilich Hermes mit wechselndem Erfolg für Eurydike, Persephone oder Protesilaos Vorarbeit geleistet.
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IM LAUF DER ZEIT
IM LAUF DER ZEIT (1976) (Drehzeit: Juli – Oktober 1975)
»Ein Mann erwacht in seinem LKW, irgendwo an der Elbe. Ein anderer rast mit seinem VW-Käfer in den Fluß, ein paar Meter von dem LKW entfernt. Der eine, Bruno, sieht die Raserei und lacht über das, was er sieht. Der andere ist zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Mürrisch, fast wütend schwimmt er an Land. Als er das Ufer betritt, reicht Bruno ihm wortlos ein Handtuch, eine Tasse Kaffe und trockene Kleider. Bruno repariert Vorführmaschinen in den abgelegenen Kinos der deutschen Provinz. In seinem LKW, der Arbeits- und Wohnstätte zugleich für ihn ist, transportiert er allerlei Krimskrams, den er nicht nur besitzt, um seine Arbeit zu erledigen: Lautsprecher, Filmkurier-Heftchen, Matratzen, die Leuchtschrift ›Apollo‹ und eine Jukebox. Der andere Mann, Robert, hat gerade seine Frau verlassen, aber er denkt unaufhörlich an sie. Er weiß nicht recht, was er tun und wo er eigentlich hin soll. Kurz darauf, sie sind gerade dabei, sich zu trennen, singt der eine: ›When the train comes in the station‹ ... Und der andere singt weiter: ... ›with a suitcase in my hand‹. Das läßt sie lächeln – und schließlich zusammenbleiben ... Zwei Männer und ihre Reise durch Deutschland, von Provinzkino zu Provinzkino. Wobei das Äußere mit dem Inneren zusammenfällt. Die Bilder der kleinen Städte bei den kurzen Zwischenstops und die vorüberziehenden Landschaften ersetzen, was sonst die Dialoge leisten: das Geschehen voranzutreiben und gleichzeitig Auskunft zu geben über die innere Verfassung der Protagonisten ... Eine andere Linie des Films ist die Frage nach der Lage des Kinos, nach dem Zustand, den Verhältnissen, den Perspektiven. Wenders zeigt den Verfall der Kinosäle und der Apparaturen. Er zeigt einen Pächter, der das Malteserkreuz für einen Schnaps hält, und einen Vorführer, der das Kinobild unscharf macht für eine Privatprojektion, um so genüßlicher onanieren zu können. Wenders ist ein Savonarola des Kinos, kein Schismatiker, aber ein Ketzer. Er beklagt die miserable Situation. Gleichzeitig jedoch öffnet er dem Kino neue Räume und neue Erfahrungen, weist auf neue Wege und neue Geschichten – auf eine andere Zukunft.« Norbert Grob, ›Wenders‹ (Edition Filme, Berlin 1991) Im Basis-Film Verleih Berlin http://www.basisfilm.de/WW/WWTexte/14.html
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DER HERMES-TRANSPORTER UND SEIN FAHRER. HERMETISCHE ZEICHEN?
Der »Hermes«-Transporter und sein Fahrer. Hermetische Krei sbew egungen un d -zeichen? Ein »Road Movie«, dessen heimlicher Held Hermes wäre? Eine mythologisch fundierte Erzählstrategie bei diesem Film, von dem man weiß, daß er wie kein anderer von Wim Wenders spontan inszeniert wurde, ohne Drehbuch und mit einem szenischen Gerüst, das gerade mal für die ersten Drehtage ausreichte?1 Doch hat man vielleicht noch in Erinnerung, daß der Name »Hermès« auf der inneren Ladeklappe dieses ausgemusterten Möbeltransporters zu lesen ist, der zudem große Flügel außen an den Flanken und auf dem Rücken sowie kleinere an den Schläfen trägt. Die erste Einstellung auf ihn ist so präzise eingerichtet, daß sich zwei Brükkenbogen der Elbe wie zusätzliche Schwingen oder auch wie die eines befreundeten Wesens hinten über seinem Flankenflügel erheben. Der Schriftzug »Hermès« selbst, der offenbar nachträglich von Hand aufge-
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malt wurde und auf eine französische Vorgeschichte verweist, enthüllt sich erst mit der Zeit. Welch ein merkwürdiger Einfall, den Namen so anzubringen, daß er nur vom Laderaum her zu lesen ist! Dieses Innere des Transporters dient nicht bloß als Schlafstätte für seelisch gefährdete und verzweifelte Gäste wie Robert Lander und dessen späteren »Untermieter«, den todunglücklichen jungen Mann, viel1 2
Wenders, Wim: ›Die Logik der Bilder‹ (Frankfurt/M. 21993), S. 23ff. und 119f. Nach den Zeitangaben folgt in Klammern die Abbildungsnummer in dem von Fritz Müller-Scherz und Wim Wenders zusammengestellten Fotoscript ›Im Lauf der Zeit. Bild für Bild‹ (München 1976).
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IM LAUF DER ZEIT
mehr ist es darüber hinaus eine kinematographische Gedächtnisstätte. Ausgebaute Projektoren befinden sich hier, das eine oder andere Filmheft und -plakat sowie die schon in Wenders’ Gangsterfilm ›Alabama‹ im Mittelpunkt stehende Musikbox und diese Neonröhre mit dem Schriftzug »Apollo«, dem Namen von Hermes’ brüderlichem Musengott, den ja seinerzeit so manches deutsche »Lichtspieltheater« trug. In diesen Laderaum bittet Bruno einmal einen überforderten Filmvorführer hinein, um ihm die Funktion des Malteserkreuzes zu erklären, des Herzstücks eines Filmprojektors. Ein andermal wird die Kamera in diesem Raum zurückgelassen und ihr Blick verdunkelt, als nämlich Robert mit dem im Laderaum vergessenen Photo des todkranken Fritz Lang hinausgeht und die Tür schließt. Das Innere hat zweifellos Merkmale eines Sakralraums. Fragt sich nur, welche Rolle der Fahrer des »Hermes«, Bruno Winter, hierbei spielt. Ist er schlicht jemand, der einem anderen vorübergehend Asyl gewährt, oder ist seine Rolle doch höher angelegt? Gegen eine solch hermetische Betrachtung könnte man sogleich einwenden, daß das zitierte »Fotoscript« den Film »Bild für Bild« zu beschreiben suchte und in dieser Hinsicht kein Wort verlauten ließ. Nun können die gezeigten Standbilder kaum mehr sein als Anhaltspunkte und sind dort unzureichend, wo es um gewisse Bewegungs- und Verhaltenssubtilitäten geht. Wenn sich so Bruno Winter anfangs die Latzhose zuknöpft, führt er dabei eine Kreisbewegung aus. Aus den beiden Standphotos (bei Nr. 1031 des Fotoscripts) läßt sich dies nicht ersehen, sie zeigen nur Anfang und Ende seiner Bewegung. Und auch der Textteil überspringt dies, liefert neben dem technischen Hinweis »Kamerafahrt und Schwenk« nur noch die folgende Beschreibung: »Bruno ist fertig angezogen. Er schlägt die Tür des LKWs zu, lehnt sich vorne an die Stoßstange und dreht sich eine Zigarette.« Beim Zuknöpfen dieser Hose drehte er sich jedoch unmerklich einmal um sich selbst und schlug dabei auf halbem Wege die Fahrertür zu (08:05-23). Und er wiederholt die Kreisbewegung, wenn er wenig später den Neuankömmling Robert vor sich stehen hat (bei Nr. 1043, was wiederum weder durch Stills noch durch den Beschreibungstext belegt wird). Auch bei diesem zweiten Mal bleibt der Fahrer in einem wie magischem Kontakt mit seinem »Hermes«-LKW, hat seine Rechte auf ihn gestützt, als er über den Anblick dieses klatschnaß aus der Elbe herangekommenen »Kamikaze«-Fahrers auflachen muß und sich rasch um sich selbst dreht, wonach er sich dort erneut aufstützt (11:59– 12:01). Diese Kreisbewegung wird auch im ›Amerikanischen Freund‹ (1977) als das erste Kennzeichen von Hermes zu registrieren sein, in der Anfangseinstellung nämlich, als Tom Ripley in New York dem Taxi ent164
DER HERMES-TRANSPORTER UND SEIN FAHRER. HERMETISCHE ZEICHEN?
steigt und sich einmal um sich selbst dreht. Dort ist schon bald das kreisförmige Planetenzeichen von Hermes/Merkur zu erörtern, das im ›Million Dollar Hotel‹ (2000) sogar als Leitmotiv für die Liebe zwischen Tom Tom und Eloise (Venus/Aphrodite) ausgebaut wird. Die planetarische Herkunft des hermetischen Kreises ist auch für Bruno Winter nicht abwegig, doch wird das Motiv hier weit freier behandelt und zudem sukzessive auf seinen Gast Robert übertragen. Interessanter sind hier weitere kleine Indizien dafür, daß so etwa wie eine Personalunion zwischen dem »Hermes« und seinem Fahrer vorliegt. Wie der Amerikaner Tom Ripley mit seinem Auto, dem der (Indianer-)Mythologie entstammenden »Thunderbird«, eng verbunden erscheint, so Bruno mit seinem »Hermes«Transporter schon in dem Moment, wenn man diesen Mann zum erstenmal zu Gesicht bekommt. Denn ehe er noch nackt wie eine Gestalt aus der griechischen Antike hinausklettert, werden Fahrer und Transporter in einem merkwürdigen Bildausschnitt präsentiert: Auszumachen ist im Hintergrund der Fahrerkabine nur sein schildkrötengleich aus der Schlafkoje nach vorn gereckter Kopf! Dank der Kadrierung kommt dabei das Fahrerhaus seinerseits als »Kopf« des LKWs ins Bild, und zwar wie der des lächelnden Bruno nach vorn auf den Fluß gerichtet. Auf die Elbe, die nicht bloß der innerdeutsche »Grenzfluß« wäre, sondern in hermetischer Lesart zugleich der Fluß zur Unterwelt hin, der Acheron oder auch Styx, wo Hermes die ihm anvertrauten Seelen übergibt und manchmal gar aus dem Totenreich wieder zurückholt. So befremdlich wie Bruno schiebt nun auch Tom Tom einmal seinen Kopf schildkrötengleich vorgereckt ins Bild. So daß einem bei beiden nachgerade die erste erfinderische Tat des kleinen Hermes in den Sinn kommen mag, aus einer Schildkröte nämlich eine Leier zu basteln, aus dem Tier, das Oben: 06:16 (bei 1019) Unten: Das Million Dollar Hotel 14:13
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wie der Hund und der bei Tom Tom im Hintergrund auf dem TV-Schirm zu erkennende Hahn mit zu seinen Kennzeichen gehört. Über jene spontanen und absichtslosen Kreisbewegungen Brunos kann man sehr leicht hinwegsehen. Nicht so leicht aber über die anderen Kreiszeichen und kreisförmigen Objekte bei ihm und seinem Weggefährten, die augenfällig symbolischen Charakter haben. Wiederholt wird so auf die sich drehenden Räder des »Hermes« geschnitten oder übergeblendet, einmal gar von einer sich abspulenden Filmrolle her. In einem der Kinos führt Bruno der Kassiererin Pauline eine kreisläufige, von ihm aus Porno- und Gewaltszenen zusammengeklebte Endlosschleife vor und umkreist ein andermal mit seinem »Hermes« dessen armselige Brudergestalt, eine einst mobile Würstchenbude mit dem stolzen Adleremblem einer Biersorte (46:17-44). 1:40:01 (5070) Dieses Kreiseln ist allerdings nicht aggressiv wie das des Todesengels Tom Ripley im ›Amerikanischen Freund‹, der sein Opfer Jonathan bald unmerklich einzukreisen beginnt. Wie Jonathan steht zwar auch sein Pendant Robert Lander im Banne von Kreiszeichen, doch gelingt es ihm, nach seinem Auftauchen aus diesem Grenzfluß und im Laufe seiner seelischen Neuorientierung, aus dem Kreis auszubrechen. Dieser bezeichnet darum fast nur in den Anfangsbildern ziemlich drastisch das Ausweglose seiner Situation. So schlägt Robert, bevor er in die Elbe rast, einen Kreisbogen um eine Tankstelle, eine Szene, die mit einer Miniatur ihrer selbst geschlossen wird, mit dem Anblick des plötzlich wie im Winde schaukelnden Reklameschildes mit dem Bild eines Autoreifens (07:28). Viel später, schon halbwegs auf der Mitte der gemeinsamen Route mit Bruno Winter, berichtet der Sprachforscher Robert davon, immer wieder das Gleiche geträumt und noch während des Traums aufgezeichnet zu haben: »Das Träumen war ein Schreiben, im Kreis«, das schließlich durch das Einfüllen einer neuer Tinte geendet habe. Bruno alias Hermes, Gott des Traumes und Erfinder der Schrift, widerspricht: »Du steckst noch in der Tinte.« (1:07:15) Nach weiteren (Halb-)Kreisbewegungen mit dem Fahrrad und dem Hula-Hoop-Reifen wird sich Robert dann auch die abenteuerlichen Anfänge des Schreibenlernens als Psycholinguist neu in Erinnerung rufen. Bei den entsprechenden Phantasiebildern fährt er in einer nunmehr linearen Bewegung mit den Fingern über die Streifen seines 166
ROBERT LANDERS NEUGEBURT UND THERAPEUTISCHE KINDESEXISTENZ
Hemdes hin (2:26:20-33). Und wird sich zu guter Letzt selber für eine neue Schreib- und Denkweise entscheiden, indem er zum Zeichen seiner Genesung das Heft des Jungen, der darin seine frischen Beobachtungen niederschreibt, gegen die ihm noch verbliebenen Requisiten eintauscht (2:40:29-52). Der Junge übrigens, als deutete sich in ihm sein kleines oder »neugeborenes« Alter ego an, trägt auch ein solch gestreiftes Hemd. Der weite Weg aber, den Robert bis dahin zurückzulegen hat, stellt sich in hermetischer Lesart als Rekapitulation seiner frühen Entwicklungsstufen an der Seite seines »Seelengeleiters« Bruno Winter dar.
Robert Landers Neugeburt und therapeuti sche Kindesexistenz Daß Roberts Suzidversuch in einen metaphorischen Geburtsvorgang in der Nähe dieses »Hermes«-Transporters mündet, wird visuell raffiniert vorbereitet. Perspektivisch bewegt sich der winzige Volkswagen auf den wie wartend dastehenden riesigen Transporter zu. Kathe Geist vergleicht gar den VW, aus dessen Schiebedach Robert hinterher hinausklettert, mit einem Frauenleib (»climbed out of the narrow opening atop his womb-like Volkswagen«)3. Und wirklich zeigt Robert nach dieser Neugeburt die Hilflosigkeit eines Kleinkindes, kauert sich, gleichsam dem (Hades- und zugleich Frucht-)Wasser entstiegen, in embryonaler Hockhaltung vor den »Hermes« hin und saugt frierend am Stoff seiner Hose. Bruno legt 09:08 – 10:02 (1033-1039) ihm sogleich sein Handtuch über den Kopf und kostet dann vorsichtig, ob das Getränk (der Kaffee) für den Neuankömmling nicht zu heiß ist. In seiner Lebenskrise wird dieser psycholinguistisch ausgebildete Kinderarzt so über längere Zeit hin selber wie ein Kind therapiert und verhält sich dementsprechend. Bald entklei3
Geist, Kathe: ›The Cinema of Wim Wenders/ From Paris, France to Paris, Texas‹ (Ann Arbor 1988), S. 52
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IM LAUF DER ZEIT
det und in die Wolldecke eingemummelt, sitzt er erschöpft neben Bruno, der von seinem wie erhöhten Sitz – in leichter Untersicht gezeigt – wiederholt zu dem Einschlafenden hinüberblickt. Auf Brunos Plattenspieler läuft derweil ›The more I see you, the more I want you‹, ein von Chris Montez mit Frauenstimme vorgetragenes Liebeslied. Auf ihrer nächsten Station beobachtet Bruno spöttisch lächelnd vom Fenster eines Vorraums aus das knabenhafte Treiben Roberts, 02:31 (1044) der im angrenzenden Hof auf dem Fahrrad wacklig im Kreise fährt und dabei von einem Kirschbaum zu naschen sucht (23:16). Als Bruno die ihm angebotenen Kekse ablehnt, weil er soeben Bier getrunken habe, läßt Robert seinen Groll an einer der dort aufgestellten Schallplatten aus. Auch sein nachfolgender Versuch, sich durch das Herbeischaffen des Frühstücks nützlich zu machen, mißlingt kläglich, wird er doch sogleich heftig dafür gescholten, daß er in seinem Eifer Brunos Tasse mit den Rasierutensilien herunterreißt. Und bekommt wenig später, als er mit ihm im Baggersee zu schwimmen wünscht, von Bruno zu hören, daß ihm die Arbeit für so etwas keine Zeit lasse. Die kindliche Abhängigkeit und Desorientierung, in der sich Robert Lander nach der Trennung von seiner Frau wiederfindet, macht sinnfällig, daß durch den akuten schweren Verlust tiefere Seelenschichten aufgewühlt oder erneut verwundet wurden. Sein Heilungsprozeß verläuft entsprechend auf unterschiedlichen Lebens- und Entwicklungsstufen. Aus der eigenen Kindheit aufzusteigen scheinen jene Spiele mit dem Fahrrad, dem Hula-Hoop-Reifen oder auch diese knabenhafte Vorfreude auf seinem Gesicht, als er dem Zug entgegenblickt (35:04), der die von ihm aufs Gleis gelegte Münze (sein fatales Kreissymbol) plattwalzen soll. Wiederholt sucht er die Nähe von Kindern, verständigt sich durch Zeichensprache mit dem Mädchen, das ihm an der Tankstelle auf einem Hüpfball ein Stück weit entgegensprang; oder erbittet sich von den unter der Brücke spielenden Kindern eines der Zeitungsschiffchen, um es zur Lektüre auseinanderzufalten. Vor den im Kino wartenden Schulkindern läßt er sich zu dem burlesken Schattenspiel mit Bruno hinreißen, der einem Riesen gleich mit Hut und (Schirm-)Stock vor ihm dasteht. Wie ein zauberkräftiges Mittel führt Robert darüber hinaus kinderärztliche 168
RITUALGEBÄRDEN UND VERKLEIDUNGSSPÄSSE. ARCHAISCHE ZÜGE BRUNO WINTERS
Fachliteratur mit sich. Gilt nach dem Suizidversuch seine erste Sorge diesem aufgeweichten Exemplar über geistig umnachtete Kinder (›L’enfance aliénée‹), so hinterläßt er seine letzte Grußbotschaft, daß alles anders werden müßte, auf der Buchseite mit dem Namen der Autorin, der Kinderanalytikerin Maud Mannoni.
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Ritualgebä rden un d Verkleidungsspä ße. Archaische Züge Bruno Winters Die entscheidende Hilfe aber findet Robert in der Konfrontation mit Erwachsenen, mit Bruno, mit dem Vater sowie in der Begegnung mit dem verzweifelten jungen Mann, der soeben seine Frau verlor. Bis in den Umstand hinein, daß die Frau sich mit dem Auto das Leben nahm, ist dies ja im Grunde Roberts eigene, nach außen projizierte Krisis. In dieser Zuspitzung und Verfremdung bringt sie ihn zugleich auf Distanz zu sich selbst, macht ihn zumindest wieder so weit aufnahmefähig, daß er dem Unglücklichen seine Hilfe anbieten kann. Diese bewegende elegische Sequenz beim Basaltwerk beginnt und endet nicht von ungefähr im Inneren des »Hermes«, wo sich Robert nach dem Streit mit Bruno ein Matratzenlager bereitet hat. Feierlich-ernste Musik (von »Improved Sound Limited«) setzt ein, als er durch die Dachluke des »Hermes« hoch zum Mond und dem daran vorbeiziehenden Gewölk blickt. Den polternden und scheppernden Geräuschen, die ihn dann aus dem Schlaf reißen, geht er draußen bis zu dem Abfüllschacht nach und versucht dort einen der Steine aufzufangen, die jedesmal in einer Staubwolke auf die sich drunten schon häufenden Steine auftreffen (55:16). Mit den staubig gewordenen Händen fährt er sich rasch übers Gesicht. Eine unwillkürliche Gebärde, die jedoch wie das Werfen und Anhäufen von Steinen zu archaischen Trauer- und Beerdigungsriten gehört. In expliziter Trauergebärde streut sich so in ›Bis ans Ende der Welt‹ Henry Farber bei den Aboriginals Asche aufs Haupt, und beiläufig wie jetzt, in hermetischer Geste, wirft gegen Endes des ›Amerikanischen
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Freundes‹ Tom Ripley seinen »Stein« auf den zum Leichenwagen gewordenen Krankenwagen, den er in Flammen aufgehen läßt. Mit wie so oft ausgebreiteten Armen steigt Robert Lander sodann den langen schmalen Gang empor, bis er bei dem Fremden ankommt, der sich aus seiner gebückten Haltung aufrichtet und einen Arm um die kreuzartige Verstrebung in seinem Rücken legt. Als Robert den jungen Mann allein lassen soll, wirft er vor dem Weggehen rasch noch einen Stein in diesen Schacht hinunter. Wenig später betritt der 57:18 (3041) Mann den Laderaum des »Hermes«, und jetzt erst erzählt er von seiner Passionsgeschichte und wird deutlich, daß er ein Alter Ego Roberts ist. Sein stockender Bericht wird von Robert mit keinem Wort kommentiert, doch in einer nuancierten Gebärdensprache reflektiert, in der man neben seiner Ergriffenheit noch einiges von einem aufmerksamen Arzt, dann wieder von einem Seelsorger oder auch schon von der wie ohnmächtigen Anteilnahme der Engel über Berlin wiederfinden kann. Mit dem Aufschluchzen des Mannes setzt erneut diese Trauermusik ein, heult geradezu auf und kommt erst zur Ruhe, nachdem Robert seine Decke über den Unglücklichen breitete. Eine Gebärde, an der sein eigener Heilungsfortschritt abzulesen ist, mußte er doch noch vor kurzem selber so betreut und zugedeckt werden. Noch aber ist er längst nicht »aus der Tinte«, wie Bruno ihm am nächsten Morgen erklärt, an dem Robert dann prompt versagt, indem er die Bitte seines »Untermieters« abschlägt, bis zum Abschleppen des Unfallwagens bei ihnen bleiben zu dürfen. Um den Hals des Mannes ist jetzt zum erstenmal ein Kettchen mit einem Kreuz zu erkennen. Es ist Bruno Winter, der dem Fremden die Bitte erfüllt, auch wenn er gleich danach sichtlich erzürnt Steine gegen eine Blechhütte wirft und einen anderen mit dem Fuß wegschießt (1:10:02). Die ganze Zeit über wurde immer wieder auf ihn zurückgeschnitten, der jede Bewegung und jedes Wort hinten im »Hermes« mitbekam und schließlich den Unglückswagen inspizierte. Sein wachsamer Blick wird wie für Tom Ripley von Beginn an als Leitmotiv beibehalten und einmal zugleich mit einer hermetischen Körperhaltung verknüpft, die auch bei Ripley öfter zu registrieren ist. Mit vor der Brust gekreuzten Armen sieht er nämlich beim ersten Halt an einer Tankstelle zu, wie Robert am gegenüberliegenden 170
RITUALGEBÄRDEN UND VERKLEIDUNGSSPÄSSE. ARCHAISCHE ZÜGE BRUNO WINTERS
Dreschwerk zu telephonieren versucht. Ein Verschränken der Arme, das wie das Kreuzen der Beine und Füße4 traditionellerweise zu Hermes-Epiphanien gehört und so immer wieder im Werk von Thomas Mann er-
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scheint, der uns Deutschen wie kein anderer diese Gottheit wieder nahebrachte. Gleichermaßen kreuzt Bruno nun beim Basaltwerk bei einem Sprung vom Weg die Beine in einer Art Schersprung; hüpft später im Wechselschritt an Roberts Seite zur Tankstelle hin; hat anders als der neben ihm stehende Robert vor der Würstchenbude den einen Fuß vor den anderen gestellt (47:18). Oder stemmt gleich Tadzio-Hermes in Thomas Manns ›Tod in Venedig‹ die Hände in die Hüften, wenn er mit dem Fuß nach einigen schlangenartigen Kabelenden tritt. Mehrmals wie-
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derholt er jene Gebärde des Kreuzens der Arme und ist einmal sogar mit verschränkten Armen schlafend in seiner Koje zu sehen (2:12:13; 7032). Bruno Winters Erscheinung und Verhalten hat etwas Verwildertes oder Archaisches, schon in jenem ersten Auftritt, als er in antiker Nacktheit, gewissermaßen noch ohne christliches Feigenblatt, aus seinem »Hermes« kletterte. Naturwüchsig auch die Art, wie er 4
Es geht wohl auf den sitzenden Hermes des Lysippos zurückgeht, s. Abb. S. 177f.
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zuvor den Kopf schildkrötengleich aus der Koje nach vorn streckte. Vor den im Kino versammelten Kindern schlüpft er spontan in die Rolle von Tarzan, schwingt am Seil hin und her und bekräftigt dies gegen Ende des Film, an der Zonengrenze mit umgehängter Decke archaisch gewandet, mit einem Tarzanschrei (2:41:52). Klassischer seine Gewandung zu Beginn des Films, wenn er mit dem einer Chlamys gleich über die Schulter gelegten Handtuch in einem Bildausschnitt gezeigt wird (11:08), der ihn dem Oberteil einer Statue angleicht (etwa der des Hermes Farnese oder auch der Hermes-Statue des Naukydes). Die Tarzan-Gebärden deuten wie die alten Akim-Heftchen, die Bruno auf der verwunschenen Rheininsel unter der Treppe des Hauses seiner Mutter aufstöbern wird, auf ein Kind zurück, das einst wie Hermes bei seiner Mutter Maia in der Wildnis aufwuchs. Die Verhaltensweisen und Attribute der griechischen Gottheit sind in diesem ersten Hermesfilm von Wim Wenders wie mit dem Silberstift gezeichnet und mitunter kaum von Zufallsbildungen auseinanderzuhalten, zumal sie trefflich zu der Lebensart dieses Vaganten stimmen. Gleichwohl zeichnen sich für mich noch die folgenden Eigenschaften und Attribute von Hermes bei Bruno Winter ab: Als Nachfahr des Gottes der Diebe wird er an immer dreisteren Übergriffen kenntlich. Da sind zunächst harmlose Vorformen des Beklauens, wenn Bruno die Werkstatt der stillgelegten Texaco-Tankstelle betritt und sich ohne weiteres eine Kanne Wasser für seinen »Hermes« holt. Oder an der Würstchenbude trotz zweier Colaflaschen und einer Currywurst in Händen en passant mit einem freien Finger an dem Schacht eines Automaten zieht, wie ein Junge, der etwas »abstauben« will (47:46). In der Wolfsburger Bahnhofskneipe ergreift er mit der Gurkenschere als verlängertem Arm ein Fotoheftchen und steckt es nach dem Betrachten auflachend ein. Pauline an der Kinokasse lenkt er ab, um sich »blitzschnell« (Fotoscript) das Wechselgeld zu schnappen (1:29:27). Hinterher angelt er sich durch eine Klappe des Kassenhäuschens ein Bonbon und nimmt sich in einer späteren Szene eine Sonnenbrille aus der Bude des mit Robert befreundeten Tankwarts. Wie im ›Amerikanischen Freund‹ kommt an gewissen Stellen ein Windstoß auf, der immer mehr auf Hermes als Windgott hindeutet. Aufheulend zum ersten Mal in jenen Sekunden, als Bruno sich mit der Hand auf den »Hermes« stützt und auflachend über den klatschnassen Robert, der sich soeben mit dem Rücken gegen den Transporter lehnt, sich einmal rasch um sich selbst dreht. Ein zweites Mal und wiederum wie in Kontaktmagie heult der Wind in dem Moment auf, als morgens beim Basaltwerk der Fremde verzweifelt gegen die Tür des »Hermes« schlägt; woraufhin Bruno ihm erlaubt, bis zum Abschleppen des Unfallwagens
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»HERMES PSYCHOPOMPOS«: ZUNÄCHST ZUR RÜCKKEHR IN DIE KINDHEIT
noch im Laderaum zu bleiben (1:08:10-13). Bruno geht daraufhin weiter bis zu dem Aussichts- oder Wachtturm, den er in seinem Rücken zu verspüren schien. Daß da droben ein starker Höhenwind zu hören ist, wäre nicht weiter erwähnenswert, würde nicht auf Robert zurückgeschnitten, der beim Warten auf den Abschleppwagen Bob Dylans ›Idiot Wind‹ summt, wonach noch einmal Bruno droben im sausenden Wind mit der Bemerkung zu hören ist: »Das reicht!« Er muß darüber laut lachen – und schon wird, windschnell gewissermaßen, der Wagen abgeholt, was Robert dem Fremden in der klassischen Berichtsform der Teichoskopie Zug um Zug mitteilt (1:10:43–1:12:20). Meist trägt Bruno einen gestreiften Overall oder Latzanzug, der gut zu seinem Speditionswagen und seinem Job als Reparateur paßt. Und ebensogut, wie Tom Ripleys Overall, zum Patron der Handwerker. Präsentiert sich Ripley in der Tradition des Patrons der Herden mit Cowboyhut und -stiefeln, so Bruno nur in Cowboystiefeln, dafür aber einmal für Augenblicke mit einer phantastischen Kopfbedeckung: An einem Fenster des Helmstedter »Roxy«-Kinos stehend und eine Zigarettenkippe wegschnippend, hat er – in dieser Totalen nicht genau zu erkennen – eine Art Pudelmütze oder vielmehr Kappe mit einem hinten befestigten federartigem Gebilde auf dem Kopf! In ihrer konischen Form gleicht die Kappe der klassischen Filzkappe, dem Pilos, den wir ja schon von Odysseus her kennen und den abgewandelt auch dessen Urgroßvater Hermes öfter trägt, jetzt also mit der Feder als Andeutung seiner Flügelkappe. 31:13 (2036)
»Hermes P sychopompos«: Zunäch st zu r Rückkehr in die Kindheit Die zentrale hermetische Rolle Bruno Winters bleibt aber auch hier wie bei Tom Ripley und Tom Tom die des »Psychopompos« oder – modernen – Seelengeleiters. Er konzentriert sich dabei gleich zu Beginn auf Roberts Identität oder Persönlichkeit, wolle von ihm nicht die äußere Le173
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bensgeschichte wie die Umstände seiner Ehekrise hören, sondern »wissen, wer du bist«. Nur so kann er ihm am Ende der gemeinsamen Woche auch auffordern, seine Frau endlich in Ruhe zu lassen, sie werde sich schon nichts antun. Er kenne sie zwar nicht, »aber ich kenn dich!« Solange »der Kamikaze, der Todesfahrer, der Helldriver« noch so gefährdet und verstört ist, verhält sich Bruno wie ein umsichtiger Wegeführer. Als Robert noch am ersten Tag, kaum daß seine Kleidung getrocknet ist, sich auf dem Wolfsburger Bahnhof mit seinem Koffer zum Abschied bereitmacht, lockt ihn sein Begleiter mit der ziemlich gewundenen Frage: »Können Sie sich jetzt wieder etwas vorstellen, wohin Sie hinfahren wollen würden?« Robert liest vom Fahrplan einige Stationen ab und als er zu »Helmstedt« kommt, erklärt Bruno prompt mit einladender Gebärde, selber dorthin zu müssen. Auf dem weiteren Weg, der psychotherapeutisch in seine Kindheit zurückführt, sucht sich Robert bei Bruno wiederholt lieb Kind zu machen, gleicht sich ihm in seinen Gesten und Bewegungen an oder ordnet sich ihm auf groteske Art unter, wenn er sich in dem Schattenspiel als Tarzans Äffchen aufs Klavier hinhockt. Der Umschwung in ihrer Beziehung wird erst durch Roberts Rückkehr in die Herkunft möglich, zum Vater, dem Herausgeber einer Lokalzeitung. Auf diesen Besuch scheint er sich schon unbewußt einzustellen, wenn er wiederholt druckfrische Zeitungen für Bruno heranträgt oder eine von Kindern zum Papierschiffchen gefaltete Zeitung unter der Brücke entfaltet und zuletzt beim Basaltwerk eine weggeworfene Zeitung sorgfältig zusammenlegt, den ›Rhön-und Streuboten‹, mit dem er eine steile Laderampe hochsteigt und droben zu lesen beginnt. Impulsiv und energisch macht er sich sogleich auf den Weg, sich nicht einmal um die wieder von ihm umgestoßene Rasiertasse kümmernd. Eingeleitet wird seine Rückkehr in tiefere Lebensschichten durch das kleine Zeremoniell, wie er beim Eintritt in seinen Heimatort auf den Fingern pfeift und daraufhin die Bahnschranken noch einmal extra für ihn angehoben werden (1:19:19-38). Und durch diese wie verwunschene Atmosphäre in der Druckerei des Vaters, den er dort beim lauten Getick der Wanduhr schlafend vorfindet, mit verschränkten Armen am Schreibtisch dasitzend. Was folgt, ist ein einziges rabiates Aufdistanzhalten, das Abwehren der väterlichen Umarmung und das Nichtzulassen eines Gesprächs. Statt dessen ergeht sich Robert in Vorwürfen, die bald von ihnen beiden weg zu dem Verhältnis zwischen Vater und Mutter hinführen. Nur in seiner anfänglichen Bemerkung, daß er seit der Trennung vor einem Jahrzehnt alles, was er denke und sage, sogleich gedruckt vor sich sehe, deutet er das vom Vater persönlich Erlittene an. Ja, genau eigentlich nur in seinem kleinen Versprecher, daß er seitdem die Zwangsvorstellung habe, »daß du es gleich unter ... in Druck setzt«. Selber kann er
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diesen Druck nicht artikulieren, nur abreagieren in einer Manier, die keinen Deut besser ist als das, was er dem Vater vorwirft, bei dem die Mutter auch nie zu Wort gekommen sei. »Darüber wollt’ ich mir dir reden«, sagt er, und fast im selben Atemzug: »Halt den Mund!« Der so Terrorisierte ist nur zu anrührenden Ersatzgebärden fähig, reißt das leere Blatt aus der Maschine, als der Sohn ihn zu schweigen anherrscht. Stumm schüttelt er den Kopf und hält noch im Schlaf die Schreibmaschine fest an sich gedrückt. Da Robert schon im Ansatz keine Aussprache zuläßt und bald selber ins Schweigen fällt, kann er seine Ansicht nur mitteilen, indem er sie schließlich eigenhändig in Druck setzt – und so jener von ihm beklagten Zwangsvorstellung faktisch nachgibt. Dennoch scheint ihn dieser manisch-aggressive Auftritt beim Vater nach all dem, was er in den letzten Tagen durchmachte, wieder so weit aufzurichten, daß er es in der Folge mit seinem Weggefährten aufnehmen kann. Gleich jenseits der Bahnschranke, vor dem dieser seinen »Hermes« abgestellt hatte, beginnt er Brunos ironische Bemerkungen zu parieren, widerspricht ihm, erkundigt sich nach seiner Herkunft und macht sogar den Vorschlag, den Ort seiner Kindheit aufzusuchen. Auch die große Parallelmontage, in der immer wieder zwischen seinem Besuch beim Vater und Brunos Treffen mit Pauline geschnitten wird, unterstreicht formal die sich nun heranbildende Gleichrangigkeit der Protagonisten. Ein Szenenwechsel leitet von der Arbeit Roberts an der Setzmaschine zu der Brunos am Projektor über. Und der erste dieser Umschnitte nimmt gar spielerisch beider Kreissymbolik auf. Zunächst ergreift Robert ein Rad der Druckpresse und fragt langsam, Wort für Wort betonend und dabei rhythmisch wie ein autistisches Kind seinen Bauch dagegendrückend, zum Schicksal der Mutter: »Warum – hast du – sie nicht ...« Wenn er verstummt und nur noch das Rad in die eine und dann die andere Richtung dreht, erfolgt der Szenenwechsel hin zu der Kirmes, wo Bruno soeben in der Nähe eines abgestellten Autoscooters sehen ist, an dem zwei Knaben das Steuer einmal hin und einmal her drehen (1:24:0033). So amüsant Brunos Begegnung dort mit Pauline ist, so steht sie doch unter keinem guten Stern. »So long, Baby, goodbye« ist andauernd im Hintergrund zu hören, und Pauline pfeift den Schlager während ihrer Scooterfahrt arglos mit. Abends im Kino, in diesem trostlosen Milieu der deutschen Sexfilmära, kann sich zwischen den beiden nichts weiter entwickeln. Wenn Bruno ihr schließlich die Endlosschleife »Härte, Action, Sinnlichkeit« vorspielt, kommen ihnen nur noch deprimierende Gesprächsthemen in den Sinn und legen sich um ihn selber dann Zeichen der Unlust und Impotenz. Kaum hat er erklärt, nun auch in der Tinte zu stecken, verbirgt er sich hinter einem schwarzen Regenschirm; muß sich 175
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sodann auf halbem Weg zu Paulines Liege, über der die Uhrzeiger auf halb sechs stehengeblieben sind, wieder hinsetzen und kommt dort kaum mehr von einem Kaugummi los. Sogar einer phallischen Gottheit kann unter solchen Umständen alle Lust vergehen. Allerdings läßt sich seine Vorführung der Endlosschleife zugleich als Akt melancholischer Aufklärung verstehen, Aufklärung auch über Paulines persönliche Mitschuld am Betreiben dieser Art von Kino (während die Kinobesitzerin im Epilog des Films nicht länger bereit ist, mitzumachen). Vertieft wird diese Parallelmontage durch die nachfolgende Parallelhandlung: Nach Robert begibt sich nun auch Bruno in die eigene Herkunft zurück. Während von Tom Ripleys Eltern nichts zu erfahren ist (bei Patricia Highsmith ertranken sie in seiner Kindheit) und Tom Tom nur einmal einen Besuch seiner Mutter freudig erwähnt, erklärt Bruno, daß sein Vater im Kriege »verschüttgegangen« und er bei seiner Mutter auf einer Rheininsel aufgewachsen sei. Einsam also wie Hermes bei seiner Mutter Maia in der arkadiOben: 1:58:33 (6053) Unten: 1:59:50 (6059) schen Gebirgswildnis. Überdies wird das jetzige Aufsuchen der Vergangenheit zu einer einzigen zünftigen Hadesfahrt. Zusammen mit Robert, den er im Beiwagen mit sich führt und der ebenfalls mit der neuen Sonnenbrille wie mit schwarzen blicklosen Augenhöhlen dasitzt, fährt Bruno auf dem entliehenen Motorrad heran. Ein Blitz zuckt einmal hoch über ihnen bogenförmig auf und beleuchtet grell die Straße vor ihnen. Als wäre es für ihn selbst der Acheron, rudert Bruno zuletzt in einem Kahn zur Insel hinüber – eine in »amerikanischer Nacht« gedrehte Sequenz, die in ihren unwirklich starken Kontrasten vor allem die Insel drüben mit ihrer berghohen Silhouette in einen magischen Ort verwandelt. Was folgt, ist eine einzigartige filmpoetische Dokumentation dessen, was es bedeutet, zu einer zentralen Lebensstätte der Kindheit zurückzukommen, mit der
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Beklommenheit bei der Annäherung und auch der erschütternden Erfahrung, wie etwas, das man längst für untergegangen hielt, an einem solchen Ort wieder in einem aufsteigen kann: Bruno hat sich die Jacke ausgezogen und über die linke Schulter gelegt. Er geht voran, streicht mit der Hand über die dicht beim Haus wachsenden Pflanzen hin, steigt schweren Schritts die Treppe hoch, dabei weiterhin behutsam übers Geländer hinfahrend. Die Jacke legt er auf dem Geländer ab, öffnet eine Tür und geht langsam durch das Zimmer. Pflanzen sind hier durch ein offenstehendes Fenster hineingewachsen. Er berührt einige Dinge, stößt andere mit dem Fuß hinweg und hält die linke Hand wieder eng am Körper und zuletzt gegen den Hals gedrückt. Als wollte er sich in seiner Beklommenheit Luft verschaffen, ergreift er eine dort liegende Dose und wirft sie durch eine Fensterscheibe. Das Schlußbild der Sequenz zeigt, wie er an einem anderen Fenster neben einer wild verschnörkelten Schranktür steht und aufs dschungelhaft wuchernde Gebüsch hinausblickt. In der nächsten Einstellung sitzt er draußen neben Robert auf der Treppe. Der hatte schon vorher bemerkt, wie es um Bruno steht und entfernt sich erneut von dem verwaisten Haus. Bruno aber zieht die Knie hoch und legt den Kopf auf die darüber gekreuzten Hände. Es ist dies ebenjene embryonale Hockhaltung, die zu Beginn des Films Robert einnahm, von dem man nun derweil im Off Bob Dylans Verse vernehOben: 2:04:55 (7013) Unten: 2:05:21-39 (7016)
Rechts: Röm. Kopie einer Bronzestatue aus der Schule Lysipps (um 350 v.Chr.) Fundort: Herculaneum; Standort: Napoli, Museo Archeologico Nazionale
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men kann: »There was a wicked messenger, from Eli he did come.« Der nachfolgende Schwenk führt von Robert, der schlafend auf der Erde
daliegt, hinüber zu Bruno, der am Inselufer auf einem Baumstumpf sitzt. Wie der sitzende Götterbote aus der Schule des Lysippos (Hermesskulptur) hat der jetzt Barfüßige den linken vorgestreckten Arm aufs hochgestellte linke Bein gelegt und stützt sich anfangs auch auf die rechte Hand. Im Umschnitt ist zu sehen, daß er heftig schluchzt. Zuletzt atmet er tief durch, hat sich wieder gefaßt und blickt kurz zum Himmel auf – würde nicht auch Hermes so zu Maia in den Plejaden hinaufsehen? Am nächsten Morgen endlich, nach einem letzten Besuch im Haus, kommt ihm beim Betreten der Treppe unwillkürlich die Erinnerung an das Versteck im Hohlraum der untersten Stufe. Die dort in einer Blechdose wiedergefundenen Comic-Heftchen über AKIM, den es als Kleinkind mit seiner Mutter in den Dschungel verschlug, enthalten gleichsam en miniature die wundersame Kindheitsgeschichte von Bruno Winter alias Hermes.
Robert s Kra ftproben ; Wiederentlassun g ins Leben Roberts Angriffslust, die mit seinem Besuch beim Vater aufgekommen war, hat sich angesichts der Erschütterung Brunos rasch wieder gelegt. Seine Euphorie aber hält sich weiter durch, und auch sein Begleiter wirkt nach dem Besuch des Inselhauses zunehmend gelöst, macht ausgelassen dies und das mit und festigt Roberts Selbstbewußtsein speziell dadurch,
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daß er einige der anfänglich von ihm belächelten Verhaltensweisen wie zeremoniell übernimmt oder zu akzeptieren beginnt. Wie schon die embryonale Hockhaltung, so nimmt Bruno für die Rückfahrt den Liegesitz im kinderwagengleichen Beiwagen ein – übermüdet jetzt, wie es Robert nach jener durchwachten Nacht am Basaltwerk war. Auch ist es nunmehr Bruno, der sich zu rechtfertigen sucht (»Ich bin zu gutmütig«), so daß nun Robert ein wenig gönnerhaft zu antworten vermag (»Das hat auch sein Gutes.«). Der vordem auf sein Arbeitsethos so Bedachte geht jetzt sogar auf Roberts Vorschlag ein, bei der Filmvorführung den einen oder anderen Akt ausfallen zu lassen und macht sich zusammen mit ihm aus dem Staub. Wollte er anfangs von dessen »Geschichten« nichts wissen, so stimmt er seinem Protest (»Ich bin meine Geschichte!«) nun indirekt zu, indem er ihm gesteht, durch den Inselbesuch die gute Erfahrung gemacht zu haben, daß er eine Zeit hinter sich gebracht habe und daß diese Zeit seine Geschichte sei. Wenn Bruno Winter also in der Nachfolge von Hermes der Große Helfer ist, der jemanden ins Leben zurückholt und ihn ermuntert, eine heillose Phase der eigenen Entwicklung wieder abzustreifen, so hat dieser Helfer zugleich für sich selbst dazulernen können. Und dies trifft, wie ich im filmgeschichtlichen »Anhang« näher ausführen möchte, ebenso auf eine andere hermetische Mission Brunos zu, die eines Patrons des Kinos. Sorgfältig wie Robert zu Beginn des Films das Photo des soeben verlassenen ehelichen Hauses zerriß, zerreißt Bruno am Ende vor dem Kino »Weiße Wand« das Blatt mit seinem weiteren Fahrund Reparaturprogramm. Dieser Filmwirtschaft ist nicht mehr zu helfen. Auch Robert Lander bereitet sich auf den Abschied vor, leert den Inhalt seines Koffers in eine Mülltonne und sagt sich zuvor noch von seinem Passionszeichen los, indem er die Körperhaltung des vom Kreuz gelösten Christus am Wegrand imitiert und ausruft: »Doublecrossed for the very last time, but now I’m finally free!« (2:13:37-57) Ein Wort, das dem erwähnten Song ›Idiot Wind‹ von Bob Dylan entstammt,5 den er am Basaltwerk beim Warten auf den Abschleppwagen vor sich hingesummt hatte. Vor ihrer Trennung aber haben die beiden noch ihr nächtliches Abenteuer in der »Amihütte ›Eisfelder Blick‹« an der deutsch-deutschen Grenze zu bestehen, wo sie zugleich an die Grenzen ihrer freundschaftlichen Annäherung stoßen. Rasch leeren sie eine Whiskyflasche, umgeben von zahllosen Graffiti, von denen ein relativ frisches einem Motto gleich an 5
Was auch Willi Winkler bemerkt hat, vgl. sein Buch ›Kino‹ (München 2002, erschienen in der Reihe ›Kleine Philosophie der Passionen‹). Er fährt dort fort (S. 28): »Soll ich zugeben, dass ich im März 1976 aus dem Internat abgehauen bin, mich eine Nacht in München herumgetrieben habe ... nur um im Arri ›Im Lauf der Zeit‹ zu sehen? Glaubt doch keiner.«
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drei Stelle zu sehen ist: »TONIGHTs THE NIGHT« (wohl nach dem gleichnamigen Titel der Totenklage Neil Youngs um einen seiner Roadies). Robert erzählt zunächst von seiner Arbeit auf dem Grenzgebiet zwischen Kinderheilkunde und Sprachwissenschaft, von den ersten Monaten des Schreiben- und Lesenlernens, in denen die Buchstaben und Ziffern noch Abenteuer seien. Sein Gegenüber will es selbstverständlich genauer wissen und bekommt ein treffliches Beispiel zu hören, das er gedankenschnell als Umschreibung ihrer gemeinsamen Reise zu interpretieren weiß. Wie nämlich für einen der Jungen die Buchstaben mit Hilfe der Feder als Motorrad auf den Zeilen einherfuhren, zwei Buchstaben immer zusammen (als Diphthong das e und das »kluge und spitze« i). Als Robert von dem »bösen« Ganoven-Buchstaben l spricht, leitet Bruno assoziativ auf seinen Streit mit einer Freundin über, auf den damals unbewußt in ihm weiterarbeitenden Song ›Mean Woman Blues‹ (von Claude Demetrius), was nun wiederum den mit seiner Frau zerstrittenen Robert unwillkürlich zu dem in der Hütte aufgestöberten Telefon greifen läßt – bis er plötzlich auflacht und von den »Amis, die unser Unterbewußtsein kolonialisiert« hätten, spricht. Ein mittlerweile geflügeltes Wort, von dem nur noch anzumerken wäre, das es nicht eigentlich ein Urteil ist, sondern seinerseits einer unterbewußten Assoziationskette zwischen zwei mehr oder minder Betrunkenen entsprang. Der erneute heimliche Telefonversuch Roberts löst die heftige verbale Attacke Brunos aus, gegen die sich Robert ebenso heftig mit dem Vorwurf zur Wehr setzt, der andere lebe in seinem Transporter wie in einem Bunker und sei schon so gut wie tot. »Hast du denn überhaupt noch eine Sehnsucht?« Wenn Bruno daraufhin auf Robert losgeht, zieht sich die Kamera sekundenlang zurück und beobachtet die weiteren Handgreiflichkeiten von draußen (2:31:52–2:32:00). Und endlich, wieder beruhigt, erklärt sich Bruno Winter. Er habe eine große Sehnsucht, die nach einer Frau, nach überhaupt einer Frau; weil er aber wisse, daß es allen Männern so gehe, käme dies für ihn nicht mehr in Frage. Ein rigoroser, so lauterer wie übermenschlicher Standpunkt. Robert teilt ihn nicht und wendet gegen Brunos Dilemma, eins mit einer Frau und für sich sein zu wollen, ein: »Diesen Gegensatz muß man aushalten können«. Er besteht darauf, daß eine Veränderung vorstellbar bleiben müßte und bekräftigt dies noch einmal mit seinem Abschiedsgruß, wonach alles anders werden müßte. Bruno Winter aber ist zu einer solchen Verbindung ebensowenig bereit wie sein himmlischer Botenkollege Cassiel, der sich am Ende vom ›Himmel über Berlin‹ weiterhin in der geistigen Distanz halten möchte. Wim Wenders läßt die beiden, die sich zuletzt noch grob beleidigten, so nicht auseinandergehen und verabschiedet sie zünftig mit einer RoadMovie-Sequenz, die auf beider Kreuzeszeichen hinausläuft. Eine Schie-
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ROBERTS KRAFTPROBEN; WIEDERENTLASSUNG INS LEBEN
beblende führt von Bruno im »Hermes« auf den vom rechten Bildrand her eingeblendeten Robert, der lesend am Fenster eines Triebwagens zu sehen ist, bis sich gleich danach von links her – wie herbeigezaubert, ohne Schnitt – der Kopf des schnelleren »Hermes« mit dem dämonischen Michelin-Männchen »Bibendum« voran ins Blickfeld schiebt (2:41:1231). Robert schaut erst hinüber, als man Roger Millers ›King of the Road‹ hören kann, diese Hymne auf eine moderne Wegegottheit, die Bruno derart hingebungsvoll mitsingt, daß man als Zuschauer, dem die Kamera derweil ein weiteres Blickfeld gewährt, befürchten muß, er werde sogleich mit dem sich wieder nähernden Triebwagen auf dem unbeschrankten Bahnübergang kollidieren. Doch bleibt es bei einem letzten sarkastischen Gruß und Gegengruß und zeigt eine Totale, wie hinter den Bakenkreuzen beider Fahrtwege sich noch einmal berühren und der »Hermes« die Gleise des sich entfernenden Schienenwagens kreuzt.
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In dem Moment, als der »Hermes« auf die Gleise trifft, fließen in die Fahrtgeräusche die Abspielgeräusche eines Kinoprojektors ein, der unmittelbar danach selber mit seinem Bildfrequenzanzeiger und einem sich drehenden Transportrad als Überblendung über beider Abschiedsbild gelegt wird. Zu sehen ist, wie die Zahlenangabe von der kinematographischen Verschmelzungsfrequenz (von 24 Bildern) bald auf Null fällt – und daß es Bruno Winter ist, der den Projektor abgeschaltet hat. Im Vorführraum des Kinos »Weiße Wand«, umgeben von den schon mit Schutzhüllen versehenen Geräten, erläutert ihm die Besitzerin, weshalb sie das Kino bis auf weiteres schließen wolle. Befragte Bruno im Prolog des Films einen einstigen Kinomusiker und NSDAP-Mitläufer nach der 181
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damaligen Übergangszeit zum Tonfilm hin, so ist es nun im Epilog eine Bühnenschauspielerin, Franziska Stömmer, die ihre Erklärung derart prononciert vorträgt, daß sie den Charakter einer Proklamation annimmt, der Bruno nichts mehr hinzuzusetzen hat. Sie habe dieses Kino6 von ihrem Vater übernommen und bekennt sich auch zu dessen Credo, daß der Film »die Kunst des Sehens« sei. Die letzte Kamerafahrt des Films begleitet der hinreißend melancholische Trucksong ›9 Feet Over The Tarmac‹ der Nürnberger Gruppe »Improved Sound Limited«: Bruno mustert mit einem Abschiedsblick den Eingangsbereich des Kinos, zieht den Reißverschluß seiner Lederjacke zu und geht langsam an den leeren Schaukästen vorbei zum »Hermes«. Erst wenn er drinnen den Zettel mit der Route seiner Kinostätten zerrissen hat, schwenkt die Kamera hinweg und verharrt schließlich auf der Leuchtreklame der »Weißen Wand«, von der nur noch die Buchstaben END funktionieren. Und diese finger- oder flügelgleichen WW-Initialen, die sich auf der Windschutzscheibe neben Brunos Kopf spiegelten.
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Dazu und zu anderen (Kino-)Stätten unseres Films vgl. den elegischen Bericht ›Über die Dörfer‹ von Kai Ritzmann in der ›Berliner Morgenpost‹ vom 4.3.2001.URL: http://morgenpost.berlin1.de/archiv2001/010304/biz/story399066.html
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VISUELLE HINGABE UND ERZÄHLEN EINER (HERMETISCHEN) GESCHICHTE
Wenders’ vi suelle Hinga be und das Erzählen einer (hermeti schen) Geschichte Diesen seinen ersten »Reisefilm« machte Wenders mit dem Vorsatz, nach all den »Zwängen einer Geschichte«, die er soeben bei seiner ›Wilhelm-Meister‹-Adaption ›Falsche Bewegung‹ (1975) erfahren hatte, nunmehr für alles offen zu bleiben und sogar »während des Films die Geschichte zu erfinden«. Ein Sichausliefern an die Lokalität, die Phantasie aller Beteiligten und an die eigene Tagesform, bei dem er allerdings die Grenzen dieses Verfahrens zu spüren bekam. Des Nachts hätte ihn »manchmal das nackte Entsetzen gepackt« und er schon unmittelbar vor Drehbeginn »ein paarmal in einem Anfall von Panik angefangen, irgendeinen schwachsinnigen Schluß zu schreiben«.7 Das Dilemma zwischen szenisch-visueller Spontaneität und narrativ strukturierter Filmhandlung wird Wenders im ›Stand der Dinge‹ (1982) thematisieren, wo der Regisseur Munro sich gegen seinen Produzenten Gordon, der das Erzählen von Geschichten in eskapistischer HollywoodManier fordert, zur Wehr setzt und sich der eigenen produktiven Anfänge erinnert, daran, wie er »von Einstellung zu Einstellung« arbeitete, um seinen Spielfilmen nur ja nicht das Leben auszutreiben. Eine Hingabe an die Situation und Szene, die deren unwiederbringliche, ja schon im nächsten Augenblick wieder verlorene Gestalt festzuhalten sucht, den flüchtigen Charme und die permanente Hinfälligkeit der Gegenwart. Ein so demütiges wie im Grunde metaphysisches Dokumentieren des Sichentfaltens und des Verschwindens in der Zeit, das eine Sache auf Leben und Tod zugleich ist. Godard sprach dies an, als er – ungenau aus der Erinnerung Cocteau zitierend – den Film als die Kunst bezeichnete, dem Tod bei der Arbeit zuzuschauen.8 Wenders scheint diesen Standpunkt noch 7 8
›Die Logik der Bilder‹, a.a.O. S. 23ff. Jean-Luc Godard: »Le cinéma est le seul art qui, suivant la phrase de Cocteau (dans ›Orphée‹, je crois), ›filme la mort au travaille.‹ La personne qu’on filme est en train der vieillir et mourra. On filme donc un moment de la mort au travail ... le cinéma ... saisit la vie et le côte mortel de la vie.« Interview mit Redakteuren der ›Cahiers du cinéma‹ (Nr. 138 vom Dezember 1962). Zitiert nach: ›Godard par Godard‹; Bd. 2: ›Les années Karina (1960 à 1967)‹ (Paris 1985), S. 40. Cocteau selbst bezieht sich dabei nicht auf das Kino. In seinem Film erklärt der Chauffeur Heurtebise, der hier die Rolle des Seelenführers Hermes hat, dem Dichter Orpheus: »Die Spiegel sind die Pforten, durch die der Tod kommt und geht. Wenn Sie Ihr ganzes Leben wie in einem Spiegel betrachten, so werden Sie den Tod bei der Arbeit sehen – wie eine Biene im Bienenkorb aus Glas.« (»Les miroirs sont les portes par lesquelles la mort vient et va. Du reste, regardez-vous toute votre vie dans un miroir et vous verrez la Mort travailler comme des abeilles dans une ruche de verre.«) Fordert Heurtebise daraufhin Orpheus zum Durchschreiten des Spiegels auf, teilt sich dieser wie eine Flüssigkeit, die dem Unterweltfluß gleich die Grenze zum Hades hin darstellt. – Vgl. zu diesem Thema auch das von Ernst Karpf, Doron Kiesel und Karsten Visarius herausgegebene Buch ›Kino und Tod.
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IM LAUF DER ZEIT
radikaler im Sinne einer apokalyptischen Phänomenologie zu vertreten und sich nicht nur auf den Menschen zu beziehen, sondern auf die Wirklichkeit überhaupt und deren Errettung, wenn er das Spezifkum der Filmästhetik 1977 mit dem folgenden ontologischen Argument begründet: »Keine andere Erzählform handelt eindringlicher und berechtigter von der Idee der Identität als der Film. Weil keine andere Sprache in der Lage ist, von der physischen Realität der Dinge selbst zu reden.«9 Droht das straff geregelte Erzählen das Gefühl für den Eigenwert der einzelnen Szene abzutöten, die Neugier auf Unvorhersehbares und dadurch auch die Filmbilder, so droht umgekehrt die distanzlos anschauungsgebundene Hingabe an die Gegenwart blind zu machen für das subjektive, geistige, phantasiegesteuerte Interesse bei jeder Wahrnehmung, also auch für das enorme zeitliche Potential, das in jedem Augenblick steckt und ohne das man den Film auf eine bloße Aneinanderreihung von einander gleichgültigen Einstellungen reduzieren würde. Wenders hat dieses Dilemma des Spielfilms als unaufhebbares auch für die eigene Person metaphorisch klar umrissen: »Ohne Geschichten drohten die Bilder, die mich interessieren, verloren zu gehen und jeder Willkür anheim zu fallen«, bemerkt er in seinem in Livorno gehaltenen Vortrag ›Unmögliche Geschichten‹ (1982). »Im Verhältnis von Geschichte und Bild ähnelt für mich die Geschichte einem Vampir, der versucht, dem Bild das Blut auszusaugen ... Geschichten geben den Leuten das Gefühl, daß es einen Sinn gibt, daß sich eine letzte Ordnung und Reihenfolge hinter der unglaublichen Verwirrung aller Erscheinungen verbirgt ... Geschichten sind Gottesersatz. Oder umgekehrt.« »Für mich bringen sie einzig und allein Lügen hervor ... Doch andererseits brauchen wir alle diese Lügen so sehr, daß es vollkommen sinnlos ist, dagegen anzugehen und eine Folge von Bildern ohne Lüge, ohne die Lüge einer Geschichte zusammenzustellen«.10 Zur filmischen Inszenierung von Vergänglichkeit‹. Arnoldshainer Filmgespräche Bd. 10 (Marburg 1993), insbesondere S. 14f. (Christiane Peitz: »Kino ist Geisterstunde«), S. 20f. (Christiane von Wahlert: Bilder, »die keine Ablagerung von Zeit jemals abschleifen kann«), S. 57f. (Gerd Mattenklott: »der Film hat eine charakteristische Affinität zur Idee des Fortlebens«) und S. 92f. (Martin Ammon: »shock-freeze des gelebten Augenblicks«). 9 ›Die Logik der Bilder‹, a.a.O. S. 30. Wenders zitiert in diesem Zusammenhang noch einen Satz des ungarischen Filmtheoretikers Béla Balázs: »Die Möglichkeit und der Sinn der Filmkunst liegen darin, daß jedwedes Wesen so aussieht, wie es ist.« Und ergänzt diese Äußerung über Balász im Jahre 1987: »er spricht ... davon, daß das Kino ›die Existenz der Dinge retten‹ kann« (›Logik‹, a.a.O. S. 9). 10 ›Die Logik der Bilder‹, S. 71f. und 77. – 1982, in einem Interview mit Wolfram Schütte, erklärte Wenders, »Geschichte als Struktur wieder ganz ernst nehmen« zu müssen, doch sich vor der ausbeuterischen Form zu hüten, die nur noch »Höhepunkte« erzähle; und ebenso vor Geschichten, die wie die immer weiter um sich greifenden Remakes »ihren Bodensatz nur noch in anderen
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VISUELLE HINGABE UND ERZÄHLEN EINER (HERMETISCHEN) GESCHICHTE
Die kryptische respektive hermetische Erzählweise von Wenders stellt eine zusätzliche Komplikation dar. Sie müßte zu ebenso rigiden wie langweiligen Filmen führen, würde man einfach den antiken Mythos mit seiner Personenkonstellation und Geschichte übernehmen und die Figuren lediglich neu einkleiden. Genau dies macht Wenders nicht, weder im ›Lauf der Zeit‹ noch in anderen Filmen mit kryptisch-mythologischem Subtext. Vielmehr gestattet er den Figuren Metamorphosen, indem er sie unserer Zeit aussetzt und sie in ihren überlieferten Fähigkeiten, hier vor allem als »Seelengeleiter«, neu fordert und auf diese Weise den Mythos selbst weiterschreibt. Wenders’ erklärte Lust, sich beim Drehen auf das Unvorhersehbare jeder Situation einzulassen, auf zufällig oder unverhofft sich Einstellendes und überhaupt »aus dem Bauch heraus« zu arbeiten, schließt aber keineswegs aus, daß er dabei ein wohldurchdachtes Konzept verfolgt. Die Beobachtungen der beiden Hauptdarsteller von ›Im Lauf der Zeit‹ bestätigen dies. Rüdiger Vogler (Bruno) resümiert nämlich: »Die Arbeitsform dieses Films hat mir sehr gefallen. Eine spontane Arbeitsweise, daß man ein Motiv sieht und man sich plötzlich vorstellen kann, daß dieses Motiv in die Geschichte passen kann, daß man das einfach sofort dreht und etwas erfindet. Natürlich haben wir ja nicht ins Blaue gearbeitet, die eigentliche Geschichte stand ja fest.«11 Und Hanns Zischler (Robert): »Es stimmt nicht, daß die Geschichte rein improvisierend entstanden wäre. Bedingt durch neue Motive gab es Umwege, Zusätze, ein Verweilen am Ort ... Aber es war nicht so, daß die Improvisation überhand genommen und ein Konzept durcheinandergebracht hätte.«12 Welche Schauspieler und welch andere Mitarbeiter inwieweit Einsicht hatten, danach näher zu fragen verbietet sich hier wie bei den anderen Filmen von Wenders. Er selbst bemerkte einmal nur soviel, »daß ich der einzige bin, der das ›Ganze‹ kennt, der ›den Film im Kopf hat‹. Die Schauspieler kennen ja oft den Gesamtzusammenhang nicht«.13
Geschichten haben« (ebda., S. 58-61). In einer Rede vor japanischen Architekten bekannte er 1991 in Tokyo: »Ich habe aus Fehlern gelernt: der einzige Schutz vor der Gefahr oder der Krankheit eines selbst-gefälligen Bildes ist der Glaube an den Vorrang der Geschichte ... Nur die Geschichte der Figuren gibt jedem einzelnen Bild seine Glaubwürdigkeit«. In: Wenders, Wim: ›The ›Act of Seeing. Texte und Gespräche‹ (Frankfurt/M. 1992), S. 121. 11 ›Im Lauf der Zeit. Bild für Bild‹ (vgl. Quellengabe in Fußnote 2), S. 15 12 Ebd., S. 10 13 Wenders: ›The Act of Seeing‹, a.a.O. S. 243
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IM LAUF DER ZEIT
Filmgeschicht licher Anhang Hermes als Patron des Kinos – Gedächtnisfeier für Fritz Lang. Godards ›Die Verachtung‹ – Nicholas Rays Heimkehrbilder – Hermes in Filmen anderer Regisseure; und bei Thomas Mann
Die Verbindung zwischen Hermes (alias Bruno Winter) und dem Kino ist eine glückliche Erfindung von Wim Wenders. Für sein Amt als Patron des Kinos bringt Hermes zweifelsohne alle Voraussetzungen mit. Wie Apollon ist er ein Musengott, und zwar der technisch versiertere, der seine Erfindungen, die Lyra und die Hirtenflöte, dem Bruder im Tausch vermachte, letztere gegen den goldenen Zauberstab, der auch die Träume bringt. Kino und Traum sind ja eng miteinander verschwistert. »Der Film scheint eine unbeabsichtigte Imitation des Traums zu sein. B. Branius weist darauf hin, daß die Nacht, die nach und nach im Saal um sich greift, ein Äquivalent zum Akt des Augenschließens ist. Und dann beginnt auf der Leinwand und im Innern des Menschen der nächtliche Streifzug ins Unbewußte. Die Bilder erscheinen und verschwinden mittels ›Blenden‹ wie im Traum« (Luis Buñuel).14 Wenn Bruno zusammen mit Robert vor den Schulkindern das Schattenspiel improvisiert, das sich auf der Kinoleinwand abzeichnet, sehen wir gleichsam der Geburt des Kinos aus dieser nächtlich-chthonischen Sphäre zu. Der »Hermes« selbst, der das Road-Movie-Kennzeichen MUV 2270 führt und dessen Laderaum sich allmählich als heiliger Ort des Kinos und seiner Geschichte entpuppt, wird zudem wiederholt durch Schnitt und Blendetechnik mit der Kinematographie verbunden. In besonderer Magie bei den von zwei Eulen-Schildern flankierten »Schauburg-Lichtspielen« in Lüchow, von dem aus von Bruno, der soeben mit dem Umspulen von einer Filmrolle auf eine andere beschäftigt ist, auf den Transporter übergeblendet und weiter auf dessen sich drehendes Hinter- und dann Vorderrad zugefahren wird (23:29-38). Das Fotoscript zu ›Im Lauf der Zeit‹ hat Wim Wenders Fritz Lang gewidmet, der in seinem Film an exponierten Stellen angesprochen wird. Im Prolog erwähnt der ehemalige Kinomusiker die Vorführung des ›Nibelungen‹-Films (1924), und im Epilog sieht man hinter der Kinobesitzerin ein spätes Porträtphoto von Fritz Lang, der die von ihr verteidigte »Kunst des Sehens« über dieses halbe Jahrhundert hin repräsentierte. Fritz Lang, während der Drehzeit schon todkrank, starb einige Monate nach der Uraufführung von ›Im Lauf der Zeit‹ in Beverly Hills. In einer 3
14 Zitat nach Schwarze, Michael: ›Luis Buñuel‹ (Hamburg 1993), S. 109.
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FILMGESCHICHTLICHER ANHANG
zentralen Sequenz des Films, der Totenklage und -wache am Basaltwerk, wird seiner schon gedacht: Robert sitzt neben dem Fremden, der sich auf sein Lager im Laderaum des »Hermes« hingestreckt hat, und beginnt aus einem ›Filmkurier‹-Heft mit dem Kugelschreiber einen Photoausschnitt herauszutrennen, der Fritz Lang während einer Drehpause zu Godards ›Le mépris‹ (›Die Verachtung‹, 1963) zeigt. Roberts biographische Kadrierungsgeste wird mit einer Abblende geschlossen.
1:04:42 (4010) und 1:13:30 (4044)
Am nächsten Mittag, kaum erwacht aus dem nachgeholten Schlaf, geht er nach hinten in den Laderaum, wo er den Photoausschnitt in die Hand nimmt, ihn betrachtet und danach bedächtig, zeitweilig die Augen schließend, eine kreisende Kopfbewegung ausführt. »Als ob er sich erinnern wollte, blickt er sich in dem Laderaum um und geht dann langsam hinaus. Er schließt von außen die Tür.« So der Fotoscript-Text, der nicht deutlich macht, daß die Kamera selbst drinnen bleibt, daß sie dort inmitten ihrer ausrangierten Geschwisterapparaturen verharrt und ihr Blick deshalb verdunkelt wird.
1:14:19-23 (4045)
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IM LAUF DER ZEIT
Es ist dies die filmrhetorische Figur des »Todes der Kamera«, die Wenders schon in ›Alabama‹15 (1969) und später im ›Stand der Dinge‹ (1982) – beim Tod des Regisseurs Friedrich Munro – inszeniert. Eine solidarische Geste mit dem jeweils sterbenden Helden, die jetzt primär als Abschied von Fritz Lang zu verstehen ist. In Godards wie Wenders’ jetzigem Film geht es jedoch darüber hinaus um den Überlebenskampf des Kinos als Filmkunst. Fritz Lang hat sich bei Godard als Regisseur eines ›Odysseus‹-Filmprojekts vor allem des Hollywood-Produzenten Jerry Prokosch (Jack Palance) zu erwehren. Wenders selber wird diesen Kampf unter veränderten Bedingungen für seinen Film ›Hammett‹ (1980-82) zu bestehen haben und im ›Stand der Dinge‹ (1982) dies auch filmgeschichtlich reflektieren, indem er auf Godards Schlußszene zurückkommt. Es ist die Szene auf dem Flachdach der Villa Malaparte auf Capri, wo man Fritz Lang nach dem Unfalltod seines Produzenten weiter bei den Dreharbeiten zusehen kann, während Wenders’ Regisseur Friedrich Munro bei der analogen Drehszene in Sintra, auf der Dachterrasse des Hotels »Arribas«, die Arbeit einstellen muß. Der brechende, zum Standbild erstarrende Blick der Kamera, mit welcher der sterbende Regisseur in Los Angeles seinen Mörder filmt, ist nur der pointierte Schlußpunkt hinter dieser auch filmgeschichtlichen Entwicklung. Die Verbindung zwischen Hermes und der Schattenwelt des Kinos trifft im besonderen Maße auf Wim Wenders’ eigene hermetische Filmsprache zu. Augenzwinkernde Hinweise hierfür finden sich auch auf seiner Homepage oder »Official Site«, und in einem seiner Filme übernimmt Wenders gar selber kurz die Rolle des Seelenführers Hermes, zum Auftakt nämlich von ›Nick's Film – Lightning Over Water‹ (1980), der sich dem sterbenden Nicholas Ray widmet (vgl. S. 239).
15 In ›Alabama: 2000 Light Years‹ ist es ein extrem langsames Fading-Out der Kamera, das den am Steuer verblutenden Gangster (Paul Lys) gleichsam in den Tod begleitet. Wenders hat die Filmhandlung zu einer Passionsgeschichte stilisiert, als Verrat an dem Helden, den die Kamera wie in heiliger Scheu immer nur von hinten oder von der Seite zeigt. Seine Auftritte inmitten der Gang, deren Mitglieder wie die Jünger bei Darstellungen des Abendmahls zu Dreiergruppen formiert sind, folgen einem strengen Bewegungszeremoniell (mit der Musikbox als sakralem Zentrum). Angesichts der religiösen Grundierung hat man sich denn doch zu fragen, ob nicht auch das Ende mit dem »Tod der Kamera« mehr ist als eine empathische Identifizierung mit dem sich trübenden Blick des Sterbenden, ob es nicht vielmehr eine profundere religiöse Identifikation oder Imitatio bezeichnet, getragen von ›The Lantern‹, dem Todes- und Wiedersehenslied der Rolling Stones.
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FILMGESCHICHTLICHER ANHANG
Außer auf Fritz Lang hat sich Wenders immer wieder in auch filmreflexiven Szenen auf das Werk von Nicholas Ray bezogen. So erklärte er wiederholt, daß die Szene mit dem Fund der ›Akim‹-Heftchen eine Hommage für Nicholas Rays ›The Lusty Men‹ (1952) sei, wo Robert Mitchum als heimkehrender Rodeoreiter in seinem alten Versteck unter dem verrottenden elterlichen Holzhaus eine Kinderpistole neben einem ›Wildwest Show Program‹ aufstöbert. Für die abgebildete Fundszene ist dies leicht zu erkennen. Weniger evident ist der Zitatcharakter für die gesamte Episode der Rückkehr. Mitchum, von einem Lastwagen mit Anhänger bis
The Lusty Men (in Lightning over Water 23:13 und 22:30)
2:01:43 (7006) und 2:06:18 (7018)
vors Elternhaus gebracht, nähert sich mit einem Seesack auf der Schulter hinkend dem Haus. Als er die Haustür verschlossen findet, blickt er um sich, bis ihm etwas einzufallen scheint und er zielstrebig um eine Ecke des Hauses herumgeht, den Seesack dann ablegt, um in jenes Versteck zu kriechen. Rüdiger Vogler spielt also als Bruno Winter offenbar auch Mitchums Hinken und das Tragen des Seesacks nach, mit seinem schleppendem Gang und seiner über der – bei ihm linken – Schulter gehängten Jacke. Und welch ein schöner Zufall zu Beginn dieser Episode, als in dem Moment, da Bruno mit dem Motorrad zur Insel hin abbiegen will, ihm ein solch alter Planverdeck-Lastwagen mit Anhänger entgegenkommt! 189
IM LAUF DER ZEIT
Gut drei Jahre nach ›Im Lauf der Zeit‹ fügte Wenders diese Heimkehrszene in seinen Ray-Film ›Lightning Over Water‹ ein. Und verließ an
The Lusty Men 21:19
1:58:42 (6055)
dieser Stelle der Filmvorführung den Saal, um dem draußen im Flur wartenden Ray zu erklären, was ihm diese Szene bedeute (»It’s more about home than anything I’ve seen«). Danach hat er den folgenden unglaublichen hermetischen Auftritt, den eines wandelnden Meta-Zitats, indem er Mitchum und Bruno gleichzeitig darstellt. Er legt sich eine Jacke über die linke Schulter, faßt sich kurz hinten an den Oberschenkel und geht schleppend, ja anfangs mit einem angedeuteten Hinken zurück in den Kinosaal (wo er dann noch einmal als Zuschauer ohne diese Jacke zu sehen ist).
Lightning Over Water
25:20 (Standbild in VHS-Qualität)
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FILMGESCHICHTLICHER ANHANG
Hermes in Filmen anderer Regisseure und bei Thomas Mann Während Hermes in der Literatur der Gegenwart immer wieder auch als Hauptfigur – mehr oder minder verkappt – auftritt, bekommt man ihn im Film seltener zu Gesicht. Wiedererkennbar war er für mich in Luis Buñuels ›Milchstraße‹, Alfred Hitchcocks ›Der Zerrissene Vorhang‹, Ridley Scotts ›Blade Runner‹ und wiederholt bei Peter Greenaway.16 Ansonsten scheint er als Filmfigur nur noch ein paar Mal vorgekommen zu sein.17 Präsent ist er selbstverständlich auch in thematisch einschlägigen Filmen wie Jean Cocteaus ›Orphée‹ (1950) und Marcel Camus’ ›Orfeu negro‹ (1959); oder Luchino Viscontis ›Der Tod in Venedig‹ (1970), wo unverhohlen wie in der Novelle von Thomas Mann eine Travestie dieses Seelengeleiters vorlegt wird. Obgleich es für den wenige Jahre später ent16 Nicht so ostentativ wie etwa in dem auf S. 242 erwähnten ›Kontrakt des Zeichners‹ erzählt Greenaway in ›Drowning By Numbers‹ (1988) die traurige Liebes- und Passionsgeschichte des ungefähr dreizehnjährigen Smut als die einer verkappten Hermesfigur. Gleich Tom Tom der Erzähler des Films, ist Smut ein exzessiver Sammler und auf erfinderische Weise verspielt. Vor allem übt er das Rollenspiel des Seelengeleiters aus, der hier für die zeremonielle Überführung der von ihm aufgefundenen Tierkadaver zuständig ist und dieses Ritual bald unmerklich auf die von den Frauen ermordeten Männer überträgt. Ein Bruder im Geiste von Tom Tom, kann er nach dem Tod seiner geliebten Elsie, die bei ihrem Sternenzählspiel angefahren wurde, schließlich nur noch auf einen adäquaten Freitod sinnen. – Ich möchte hier nur noch auf die Zahl 32 aufmerksam machen, die im ›Million Dollar Hotel‹ einmal einem Turnschuh Toms aufgemalt ist (1:20:17) und die in Greenaways Zahlenspielfilm zweimal vorkommt. Beim ersten Mal wird sie von Elsie zusammen mit dem Stern THUBAN aufgerufen, der für den ägyptischen Hermes eine große Rolle spielte (vgl. S. 264f. zu Tom Toms Schlangentattoo). Und beim zweiten Mal pinselt Smut sie neben einem blutigen Tierkadaver mit gelber Farbe aufs Straßenpflaster, derweil er das den Film beherrschende »Große Todesspiel« erläutert. 17 Vgl. Faivre, Antoine: ›The Eternal Hermes. From Greek God to Alchemical Magus‹, translated by Joscelyn Godwin (Grand Rapids 1995). Auf S. 120-125 finden sich noch mehr oder minder überzeugende Hinweise auf Luis Buñuels ›Los Olvidados‹ (der von seinem Vater in Mexiko-Stadt ausgesetzte und nun den blinden Bettelsänger begleitende Knabe»Ojitos«/»Äuglein«), Alfred Hitchcocks ›Notorious‹ (Cary Grant als Devlin) und auf George Millers ›MadMax‹-Folge ›Beyond Thunderdome‹ (Hermes gleich in doppelter Ausführung als Dr. Dealgood und – plausibler – als Pilot Jedediah; die Pilotenkappe von dessen Vorgängerfigur in ›Mad Max II‹ weist übrigens flügelähnliche Verzierungen auf, auch führt er hier wiederholt eine dressierte Schlange ins Gefecht). Eine bemerkenswerte Gestalt unter solch halbherzig ausgeführten HermesNachfolgern ist noch »Doctor Omar« in Josef v. Sternbergs Melodram ›The Shanghai Gesture‹ (›Abrechnung in Shanghai‹, 1941): Der dichtende und amourenreiche Omar (Victor Mature) nennt sich freimütig »Doktor der Lüfte« und einen Betrüger, sei »nur der Bote« der Spielhöllenbesitzerin »Mother Gin Sling« – einer neuen Persephone – und bezeichnet seine Limousine, die auf dem Kühlergrill eine Doppelschwinge trägt, als »meine prächtige Leichenkutsche«.
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IM LAUF DER ZEIT
standenen ›Amerikanischen Freund‹ nahegelegen hätte, hat Wim Wenders sich für seine Hermesfigur Ripley nicht an Visconti orientiert. Einige Berührungspunkte bleiben insofern äußerlich, als sie sich der klassischen Psychopompos-Rolle hier wie dort verdanken, vor allem in der großen existenzauflösenden Richtung aufs Meer hin. Bei Visconti aber verläuft dies als Verführung des todgeweihten Aschenbach durch den Knaben Tadzio, seinen »bleichen und lieblichen Psychagogen« (Thomas Mann). Eine pädophile Grundierung, die immer drastischer als geistige Entwürdigung des Helden zelebriert wird, als Verfall ans dionysisch-berauschte Kollektiv, zu dem hin die Botticelli-Figur Tadzio den überspannten »Leistungsethiker« Aschenbach holt. Aufschlußreicher als der eine oder andere Anklang an Viscontis Film18 ist die ihm zugrundeliegende Novelle von Thomas Mann sowie dessen ›Zauberberg‹ (1924). Gewisse hermetische Körperbewegungen, Haltungen und Gesten sind schon bei der jetzigen ersten Hermesfigur von Wenders zu registrieren, nicht bloß wie bei Lodovico Settembrini ständig das charakteristische Kreuzen der Füße, sondern einmal auch das hermetische Erkennungszeichen, mit dem Settembrini sich zuletzt von Castorp verabschiedet: Er »winkte mit der Rechten, während er mit der Ringfingerspitze der Linken zart einen Augenwinkel berührte«.19 Eine Geste, die der Erzähler seinerseits für den Abschluß seines Romans aufnimmt: »Es war eine hermetische Geschichte ... und wir verleugnen nicht die pädagogische Neigung, die ... uns bestimmen könnte, zart mit der Fingerspitze den Augenwinkel zu tupfen bei dem Gedanken, daß wir dich weder sehen noch hören werden in Zukunft«.20 Bruno Winter nun scheint diese distanzierte Abschieds- und Trauergeste beim Verlassen der Kinokassiererin Pauline ironisch zu variieren, wenn er deren Träne mit dem rechten Zeigefinger übernimmt und sie in seinem linken inneren Augenwinkel absetzt.
18 Bei Visconti klimpert so Tadzio einmal Beethovens ›Für Elise‹ mit einer Hand auf dem Klavier vor sich hin, eine Etüde, die gegen Ende des ›Million Dollar Hotels‹ Dixie in so großartiger Manier als Hommage an Eloise interpretiert. 19 Mann, Thomas: ›Der Zauberberg‹ (Frankfurt/M.1967), S. 753. 20 a.a.O., S. 756
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DER AMERIKANISCHE FREUND
DER AMERIKANISCHE FREUND (1977) (Drehzeit: Oktober 1976 – März 1977)
»Jonathan Zimmermann ist ein ruhiger und friedlicher Mann, etwa 35, Handwerker. Er lebt mit seiner Frau und seinem Sohn in Hamburg, wo er einen bescheidenen Laden hat und eine Werkstatt, in der er Bilderrahmen herstellt. Eines Tages taucht dort ein Franzose auf, der ihm ein unglaubliches Angebot macht: für eine Viertelmillion in Paris einen Mann umzubringen, einen Mafioso, in der Metro. Ein schlechter Witz? Aber woher weiß dann der Franzose von Jonathans Krankheit, weiß er, daß Jonathan nur noch ein paar Jahre zu leben hat? ... Vielleicht steckt dieser Fremde dahinter, der sich seit kurzem auch so für Jonathan interessiert, der Amerikaner Tom Ripley. Er ist in irgendwelche Geschäfte mit gefälschten Bildern verwickelt. Jonathan ist beunruhigt und verunsichert ... Er könnte seiner Frau und dem Jungen etwas hinterlassen. Der Franzose erhöht sein Angebot und die Versuchung: Jonathan solle sich in Paris von einem weltbekannten Spezialisten untersuchen lassen, ohne Verpflichtung. Jonathan fliegt nach Paris. Wie er zurückkommt, ist er reicher als je zuvor in seinem Leben ... Seiner Frau wagt Jonathan nichts von allem zu erzählen. Sie ahnt, daß er ihr etwas verheimlicht und ist enttäuscht. Und dann bietet der Franzose eine weitere Untersuchung an, diesmal in einer Klinik in München. Jonathan soll den Trans-Europa-Expreß nehmen. Wieder geht es um einen Mafioso, um einen Boß dieses Mal, der von zwei Leibwächtern begleitet wird. Jonathan hätte diese Zugfahrt nicht überlebt, wenn nicht sein neuer Freund, Tom Ripley, plötzlich aufgetaucht wäre. Gemeinsam gelingt es ihnen, sich aus der Schlinge zu ziehen. Aber nur für kurze Zeit ...« »Neues Filmprogramm« vom Juni 1977 (Wien): ›Der amerikanische Freund‹ Programm Nr. 7132
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DER AMERIKANISCHE FREUND
Wechselnde Arbeitstitel für den Film Die 1976 erschienene deutsche Erstausgabe von Patricia Highsmith’ Thriller ›Ripley’s Game‹ (1974) führte den rigorosen, auf das Unvermeidbare des Todes hindeutenden Nebentitel ›Regel ohne Ausnahme‹. Wim Wenders übernahm ihn zunächst als Arbeitstitel für seinen Film, wechselte ihn aber nach einiger Zeit gegen den Titel ›Der Rahmen‹, der sich an Jonathan Zimmermanns Beruf als Bilderrahmer orientierte. Den endgültigen Filmtitel ›Der amerikanische Freund‹ habe er erst während der in neun Tagen abgedrehten New Yorker Szenen mit Dennis Hopper (Ripley) und Nicholas Ray gefunden.1 Durch Ray, den Wenders an diesem letzten Drehort kennenlernte, sei er auf den Gedanken gekommen, den – im Roman nur erwähnten – Maler Derwatt in seinem Film ebenfalls auftreten zu lassen. Diese Rolle übernahm auf seinen Vorschlag hin Nicholas Ray selbst, mit dem zusammen er über Nacht die Dialoge zwischen Derwatt und Ripley niederschrieb. Als der andere Freund Ripleys wird Derwatt zu einer bedeutenden Figur im Hintergrund, verstärkt mit seiner Präsenz im Maleratelier und im kulissenhaften Stadtbild von Manhattan nicht bloß die »amerikanische« Dimension dieses Films, sondern ist schon mit dem ersten Auftritt Ripleys im Off selber mit einem Liedfetzen präsent. Mit der letzten Einstellung des Films wird ihm anscheinend gar die Rolle eines Chronisten oder auch Statthalters zugedacht.2 Die deutsche Ausgabe von Highsmith’ Roman führt übrigens seit 1977, seit Wenders’ Film, den neuen Nebentitel ›Der Amerikanische Freund‹. Es fragt sich freilich, inwiefern wirklich im Sinne des Filmtitels und des Films selbst, dessen Charaktere und Erzählstruktur gegenüber dem Buch diese und noch tiefergreifende Veränderungen erfahren haben. Wim Wenders operierte zwischenzeitlich mit weiteren Arbeitstiteln. Peter Buchka fand in dem Drehbuch einige Notizzettel, auf denen Wenders offenbar im Brainstorming zwei Dutzend Titel versuchsweise niederschrieb. Neben »Regel ohne Ausnahme« und Varianten wie »Gegen die Regel« kreist ein erster Hauptkomplex metaphorisch um Jonathans Beruf, darunter: »Im Rahmen/Im Rahmen des Möglichen/Nicht im Rahmen/Aus dem Rahmen (gefallen)/Ohne Rahmen/Bilder ohne Rahmen«. 1
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Interview mit Alain Masson und Hubert Niogret in: ›Positif. Revue de Cinéma‹, (Paris), Oktober 1977, S. 25. Zu den näheren Umständen vgl. ferner Wenders, Wim: ›Die Logik der Bilder‹ (Frankfurt/M. 21993), S. 121f. Auch der endgültige Filmtitel läßt noch mehrere Deutungen zu, vgl. Wenders in ›Positif‹ (a.a.O.) S. 25 (»l’Ami américain dans plusieurs sens, dont un certain sens ironique«) Derwatts Chronistenrolle vermerkt Wenders in ›Positif‹, a.a.O. S. 25
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WECHSELNDE ARBEITSTITEL FÜR DEN FILM
Ein zweiter Hauptkomplex nimmt direkter auf Jonathans Krankheit oder Tod Bezug: »Ein Schatten seiner selbst./Die kurze Frist./Ruhig Blut./Die Ruhe./Der Tod. Der müde Tod./Tilt. Exit. Kill./Aus. (Schluß. Aus.)«3 Trotz des geänderten Titels finden sich zu den meisten dieser Arbeitstitel noch Zitatspuren im fertigen Film. Das mehrdeutige Wort »EXIT« kommt wiederholt über der Tür von Derwatts Atelier ins Blickfeld, dramatisch akzentuiert durch eine dort angebrachte rote Glühbirne.
Oben: 44:12
Unten: 1:07:33
Und in Entsprechung dazu ist das Wort »aus« einmal in Ripleys Hamburger Elbvilla zu lesen. Nämlich in der Sequenz, als Ripley, der über Jonathans Zustand nach dem ersten Mord sichtlich verzweifelt ist, vorbei an einem flimmernden Monitor weiter zur Verandatür geht: Der Gegen3
Buchka, Peter: ›Augen kann man nicht kaufen. Wim Wenders und seine Filme‹ (München 1983), S. 59
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DER AMERIKANISCHE FREUND
schuß auf ihn, der beide Türflügel aufreißt, läßt im Hintergrund des Zimmers jenes weiß geschriebene Wort im Zentrum einer riesigen Collage erblicken, die eine fremdartige, wie wuchernde (Stadt-)Landschaft zeigt. Die Sequenz endet aber noch nicht an dieser Stelle, sondern führt Ripley weiter hinaus bis zur Brüstung der Veranda, wo sein Blick auf die Lichter der Stadt fällt. Als sich das Tuten eines Schiffes einstellt, begrüßt er es knapp, indem er mit einem wie resignierten Lächeln die Linke hebt, als wollte er auf etwas hindeuten. So wurde er schon einmal dort oben gezeigt, als er seine Rechte wie zum Gruß oder auch Gegengruß auf ein Schiffstuten hin in die Höhe streckte. Damals war er noch im Gegenschnitt von unten her zu sehen, als ob er sich selber an der Reeling eines Flußdampfers befände (05:48). Bei diesem ersten Mal mochte man die bekannte Hermes-Gebärde noch als schönen Zufall passieren lassen oder auch als filmische Hommage an Hoppers Roadmovie ›Easy Rider‹ (1969), sang Hopper-Ripley doch unmittelbar zuvor noch mit ausgebreiteten, rhythmisch sich hebenden und senkenden Armen Roger McGuinns und Bob Dylans ›Ballad Of Easy Rider‹: »And, that river flows / It flows to the sea / And wherever that river goes / God knows / That’s where I want to be«. Mit diesem Lied schloß ›Easy Rider‹, nach der Ermordung der beiden Biker. Die Erinnerung an den Film, in dem der Regisseur Dennis Hopper selber eine Freundesrolle spielte, ist jetzt freilich mehr als eine bloße filmgeschichtliche Reminiszenz. Scheint doch das Totenlied zugleich auf das auch hier tödliche Finale für den einen der »Freunde« vorauszudeuten, für Jonathan Zimmermann,4 den sein Schicksal an der Nordsee ereilen wird. Unter den anderen Wendersschen Arbeitstiteln dürfte der auf Fritz Langs Stummfilm zurückgehende Titel ›Der müde Tod‹ (1921) ziemlich verwundern. Denn der Tod erscheint bei Lang nicht als biologischer Endpunkt, sondern als mithandelnde Figur, die des eigenen Amtes überdrüssig ist und eine Wette mit einem gegen den Tod revoltierenden Menschen eingeht. Daß der Tod bei Lang einen Verbündeten gegen sich selbst sucht, heißt freilich nichts anderes, als daß er selber eine mögliche »Ausnahme von der Regel« sucht, wie einer jener Arbeitstitel von Wenders lautete. All dies sind nun Indizien dafür, daß Ripleys Rolle als des todbringenden »amerikanischen Freundes« metaphysisch höher angelegt ist als bislang vermutet. Analog zur Rolle des »müden Todes« wäre es eine mitfühlende und mithandelnde Brudergestalt wie unser deutscher »Freund Hein«, den einst Matthias Claudius 1774 in seinem ›Wandsbek4
Bei Patricia Highsmith heißt der Rahmenmacher Jonathan Trevanny. Die Änderung des Nachnamens ist sicherlich eine Huldigung an den Mitverfasser der ›Ballad Of Easy Rider‹, Bob Dylan alias Robert Allen Zimmermann (von dem Ripley denn auch gegen Ende des Films, an der Nordsee, die Liedzeilen ›I pity the poor Immigrant‹ vor sich hinsingt).
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WECHSELNDE ARBEITSTITEL FÜR DEN FILM
ker Boten‹ als verkappte Hermesgestalt populär machte. Zwar läßt Claudius den Tod gelegentlich als den bekannten rabiaten Sensenmann illustrieren, begrüßt ihn aber auch wiederholt als einen Aufschub gewährenden und sanft erlösenden Begleiter in den Tod sowie als »Pförtner« hin zum Jenseits.5 Der ›amerikanische Freund‹ Ripley wäre demnach ein modern eingekleideter, überaus mobiler und trickreicher Begleiter in den Tod. Ein Seelengeleiter bis hin zum Meer, in das die Elbe, dieser auf der Villenveranda melancholisch von ihm besungene und an den mythischen ›Easy-Rider‹-Fluß erinnernde Strom mündet. Ja, man gewinnt nachgerade den Eindruck, daß ebendiese den Film immer stärker beherrschende Bewegungsrichtung von einer Stadt am Strom hin aufs Meer der entscheidende Grund dafür war, daß Wim Wenders die zentralen Schauplätze des Romans tauschte, indem er die um Jonathans Schicksal kreisende Handlung von Fontainebleau und Villeperce her an die Elbe und Nordsee verlegte. So erlaubt hier, in Hamburg, das Haus im alten Fischmarktviertel fortwährend Ausblicke auf Fluß und Hafen, in denen sich allmählich jene metaphysische Dimension des Films zur Geltung bringt. Vor allem stimmt das zentrale, von Jonathan zu rahmende Flußbild ›Des Auswanderers Sehnsucht‹ trefflich zu dieser Stadt, die einmal der nach Amerika führende Auswanderer-Hafen Europas war.
18:37
Wie bei Patricia Highsmith ist es Ripley, der die Rahmung des Bildes in Auftrag gibt, aber nicht mehr ein harmloses »Aquarell« seiner Ehefrau Heloise, sondern nun mit einem Motiv, diesem Sehnsuchtsbild der ›Auswanderer‹, das den höheren Zielen eines Seelenführers weit besser gerecht wird. 5
Claudius, Matthias: ›Der Wandsbecker Bote‹ (Frankfurt/M. 1975), etwa S. 223 und 30f.
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DER AMERIKANISCHE FREUND
Attribute und Verhaltensmuster eines modernen Götterboten Daß Tom Ripleys Rolle als Nachfahr des Götterboten und »Psychopompos« (Seelengeleiter) Hermes noch niemandem ernstlich in den Sinn gekommen zu sein scheint, liegt nicht zuletzt daran, daß diese Metamorphose sehr diskret und mit wahrlich hermetischem Witz ausgeführt wird. Die klassischen Attribute und ambivalenten Verhaltensformen dieses Gottes werden nicht massiv oder gar auf einen Schlag aufgeboten, sondern treten nur sukzessive im Verlauf der 126 Minuten des Films in Erscheinung und werden dabei zudem mehr oder minder ironisch verfremdet. Beim ersten oder gar einzigen Betrachten des Films – wie überhaupt der kryptischen Erzählschichten bei Wim Wenders – hat man kaum eine Chance, von selber darauf zu kommen. Wenn ich diese Attribute und andere Anspielungen auf die Gottheit im folgenden nenne, dann also in einer Art Zeitraffer, der dies und das erst in der gewissen didaktischen Übertreibung kenntlicher machen kann. Ironischerweise ist es Tom Ripley selbst, der sich als Verkörperung des Gottes der Hermeneutik oder Interpretation in diesem Film die Frage nach seiner und der anderen Identität stellt und sie später auf seinem Recorder abhört: »Ich weiß weniger und weniger, wer ich bin und wer überhaupt jemand ist.« (04:53–05:01) In der manifesten Version des Films, die um Jonathans beleidigendes Verhalten und um das nachfolgende Komplott kreist, um seine Verstrickung in die verbrecherischen Absichten Minots, erscheint der Mittelsmann Ripley im wesentlichen als »eine einsame neurotische Gestalt« (Stefan Kolditz) oder als »a neurotic« (Kathe Geist), wobei man in der Regel eine gewisse Homoerotik im Verhältnis zu Jonathan glaubt registrieren zu können.6 Jonathan selbst wird für seine leichtfertige Identifizierung Ripleys bestraft. Als er sein ungehobeltes Betragen, die Verweigerung des Handschlags, zu entschuldigen sucht, begeht er einen neuen Fauxpas, indem er den linken Zeigefinger vorstreckt und auf eine rhetorische Frage Ripleys entgegnet: »Doch, genau so einer sind Sie!«, nämlich ein windiger Händler, der mit Bildern wie mit Aktien handle. Ripley pfeift nur zwischen den Zähnen (19:53). Jonathan aber wird am nächsten Morgen das gefälschte Telegramm erhalten, das einen weiteren Schub seiner Erkrankung behauptet und ihn bis zum Ende nicht mehr zur Ruhe kommen lassen soll. Dabei ist Jonathan zuzubilligen, daß dieser Mann wirklich auch ein Hehler und Ganove ist. Und daß er sich überdies gern »verhüllt«, so wenn 6
Kolditz, Stefan in: ›Wim Wenders‹ (München 1992), hg. v. Peter W. Jansen und Wolfram Schütte, S. 185 und 190f.; Geist, a.a.O. S. 68
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ATTRIBUTE UND VERHALTENSMUSTER EINES MODERNEN GÖTTERBOTEN
er in den ersten Einstellungen des Films wiederholt den Mantel hochschlägt und sich im Flugzeug sowie in Jonathans Atelier den Cowboyhut tief ins Gesicht zieht. Der Maler Derwatt fragt ihn einmal spöttisch, ob Ripley sich mit einem solchen Hut in Hamburg sehen lassen wolle. Der nimmt ihn ab, betrachtet ihn und findet nichts Falsches an einem »Cowboy in Hamburg«. Wie aus tiefenhermeneutischer Sicht zu bestätigen wäre, ist auch an dem Hut selbst nichts Falsches, wenn man in ihm den Flügelhut, das erste Attribut von Hermes, erkennen möchte.
3:04
Wird für Tom Tom, die spätere Hermes-Verkörperung im ›Million Dollar Hotel‹, das Haar kunstvoll zu einer Hermeskappe geschnitten und hochgebürstet, so bleibt Tom Ripleys Hut auf den ersten Blick zwar unauffällig, ist jedoch ebenfalls an beiden Seiten schmal zum Kopf hochgezogen (während etwa die Krempe von Hoppers Cowboyhut in ›Easy Rider‹ nur an einer Seite hochgeschlagen ist). Daß es ein »Cowboyhut« ist, paßt jedenfalls nicht schlecht zu Hermes als Gott der Herden oder Patron des Viehs (Patron, seitdem er es seinem Bruder Apollon klaute). Besitzt Tom Tom anstelle der heutzutage nicht gut vorzeigbaren Flügelschuhe eine Sammlung von Spezialschuhen für den (Sprung-)Flug und ist ständig auf seinem Skateboard unterwegs, so bewegt sich Tom majestätischer im »Thunderbird« durch Hamburg, dessen Klappverdeck auch farblich mit seinem Hut harmoniert.7
7
Der amerikanische Sportwagen hat seinen Namen nach dem Donnervogel, der im Mythos vieler Indianerstämme eine Kriegs-, Gewitter- und Windgottheit ist. In spiritueller Hinsicht gilt der Donnervogel als Patron von »Trickster«Gestalten. Wie Karl Kerényi für den Thunderbird-Clan der Winnebago ausführt, gleichen diese Schelme ihrerseits in mancher Hinsicht Hermes. Vgl. Paul Radin, Karl Kerényi und C.G. Jung: ›Der göttliche Schelm. Ein indiani-
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Während bei Tom Tom anstelle des von einem Schlangenpaar umwundenen Hermesstabes auf seiner Jacke ein Button mit der Ziffer 8 und auf seinem Körper schlangenähnliche Tattoos zu sehen sind, werden diese Attribute des Boten und Schlangenbezwingers, der durch die Berührung mit jenem Stab die Träume oder auch Goldgeschenke bringt, im jetzigen Film aufgefächert und in relativ unverfänglicher Gestalt dargeboten. Man mag sie in der »Queue« (»Schlange«) des Billardspielers Ripley wiedererkennen, in dem Schlangenhautband an seinem Cowboyhut und in seinem Revolver, der zugleich an die phallische Herkunft und Erscheinungsweise von Hermes (die Herme) erinnert. Raffinierter aber, suggestiver und dem Medium Film kongenial sind die verschiedensten Kreisel- und Schlängelbewegungen, die von Ripleys Person ihren Ausgang nehmen. Er spielt sie am Ende noch einmal mutwillig aus, wenn er mit dem Kranken- oder vielmehr Leichenwagen plötzlich in Schlangenlinie ins Wattenmeer hineinfährt – im feuchten Sand kann man noch gut die Schlängelspuren von Vorversuchen mit diesem Wagen des »Arbeiter Samariter Bundes« ausmachen, der in seinem weißen Kreuz ein dunkles »S« führt (1:54:37). Schon in der allerersten Einstellung des Films hat Ripley einen merkwürdig kreiselnden Auftritt. Kaum dem gelben Taxi entstiegen, das sich in den Anblick des West Broadways mit den Zwillingstürmen des World Trade Center (1973) hineinschob – eine damals würdige Kulisse für den Gott der Händler –, dreht sich Ripley sogleich einmal um die eigene Achse. Danach erst geht er auf das sich schon in der Taxischeibe spiegelnde Gebäude (mit Derwatts Atelierwohnung) zu, das in seinem klassizistischen, wie übermalten rötlichen Säulenvorbau den Kolonnaden seiner Elbvilla ähnelt. Schon die erste Wenderssche Hermesfigur, Bruno Winter im ›Lauf der Zeit‹, dreht sich ja zu Beginn des Films wiederholt um sich selbst. Hier, im ›Amerikanischen Freund‹, sind die Schlängel-, Kreisel- und Einkreisbewegungen aggressiver und ziehen sich zunehmend um den Rahmenmacher zusammen. Als Ripley nach der Auktion von der schweren Erkrankung Jonathans, der ihn soeben brüskierte, hört, wendet er in einer Nahaufnahme die Augen und dann den Kopf ein wenig nach links (vom Betrachter aus gesehen, wie bei allen folgenden Richtungsangaben). Sogleich wird auf die abendliche Elbe geschnitten und schwenkt die Kamera immer weiter nach links, bis sie nach einem 180-Grad-Schwenk auf Jonathans Haus trifft (11:28-58).
scher Mythen-Zyklus‹ (Zürich 1954), S. 166-181. Vgl. ferner den Artikel ›Thunderbird and Trickster‹ von Steve Mizrach (URL: http://www.fiu.edu/~mizrachs/thunderbird-and-trickster.html). Tom Ripley trägt zudem ein Shirt mit Indianerkopf und der Aufschrift »Indian Power« sowie ein entsprechendes Amulett.
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Ein solch intrikates Kreismanöver wird erneut ausgeführt, als Ripley sich im »Thunderbird« zum erstenmal Jonathans Bilderrahmenladen nähert. Unbeachtet von ihm, der soeben auf die geizige alte Kundin einredet, zeigt die Kamera, wie Ripley langsam das Gebäude umfährt und zum Abschluß, neben dem Auto stehend, diese Halbkreisbewegung mit einer Drehbewegung des erhobenen Kopfes wiederholt, so, als musterte er die Häuser zu beiden Seiten der Straße.
16:18-28
Weitere Kreisbewegungen gehören meist entweder zum Motiv des Komplotts und des Sichheranschleichens an Jonathan oder zu dessen Zusammenbrüchen (Kreislaufschocks). Am eindringlichsten wohl die Inszenierung seines ersten Zusammenbruchs, bei der Wenders offenbar mit den Vogelangriffen in Hitchcocks Film spielt: Jonathan tritt im Morgenmantel ans Fenster und reißt die Vorhänge auf. Schnitt:/ Vom Anblick der Elbe und einiger Docks schwenkt die erhöht plazierte Kamera sogleich weiter über einen im Vordergrund lautlos tanzenden Möwenschwarm erneut um circa 180 Grad nach rechts hinüber zu Jonathan, der in derselben Höhe auf dem Balkon des Hauses zu sehen ist, während drunten Marianne und Daniel gerade auf den roten VW zugehen. Erst jetzt sind die Möwen zu hören! Nach Schuß und Gegenschuß für Marianne, die hochschaut und grüßend nickt sowie für Daniel, der ein kleines Fernrohr auf seinen Vater gerichtet hat, konzentriert sich die Kamera in weiteren Kreisbewegungen auf Jonathan: Vom letzten Gegenschuß auf ihn schwenkt sie sofort weiter hoch in den hellblauen Himmel, bis sie dort einen schlangenartigen Drachen erfaßt, woraufhin im Off Jonathan zu hören ist: »Es fängt wieder an! Es fängt wieder an! Vor drei Monaten das letzte Mal. Und jetzt fängts wieder an!«/ Jonathan nunmehr nah im Profil, wie er zuletzt den Kopf unmerklich nach links wendet, wobei aggressives Möwengekreisch aufkommt./ Eine einzelne von links schwungvoll herankreisende Möwe./ Erneute Nahaufnahme von Jonathan, wie er den Kopf nun heftiger nach links hin weiterdreht./ Mehrere Möwen, die aus dieser Flugrichtung kreischend heranjagen – viel näher als vorher. Danach wird auf ihn geschnitten, der schon ins Kinderzimmer gestürzt ist, mit Kopf und Schulter heftig Daniels Gondeln wegstößt und stöhnend weitergeht. Er lehnt sich gegen Türrahmen und Tür seines Zimmers, derweil von
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draußen eine Ramme wie im Rhythmus eines Herzschlages zu hören ist (dieses Geräusch wird sich erst wieder bei seinem zweiten Anfall dort einstellen) ... (30:06–31:50)
Gewiß entfalten all diese (Ein-)Kreisbewegungen ihre Wirkung auch bei dem Zuschauer, der sie relativ unbefangen betrachtet. In ihrer formalen Strenge aber, als Inszenierungstechniken seelischer Beklemmung, werden sie eigentlich erst vor dem hermetischen Hintergrund des Films verständlich. Neben dem 8-förmig sich windenden Schlangengebilde von Hermes’ Botenstab kann einem dabei auch der Kreis im Planetenzeichen von Hermes alias Merkur in den Sinn kommen. Zumal noch der kleine magische Umstand Erwähnung verdient, daß der umkreisende Tom Ripley selber zweimal in einem Kreis zu sehen ist, in New York aus einem Fenster heraus in der wirbelnden Schnur des zopftragenden Gangsters und in Hamburg im runden Rückspiegel von dessen Chef (Samuel Fuller), der in dem zweckentfremdeten Krankenwagen auf ihn wartet (1:00:08 und 1:48:03). Doch zurück zu den Attributen und Auftrittsformen des »Trickstergottes« Hermes. Seinen klassischen Rollenkonflikt als Patron der Diebe und Händler löst seine Nachfolgefigur hier in der Weise, daß Ripley als ein auf Kunstfälschungen spezialisierter Zwischenhändler sein Geld macht. Zwar legt er auch bei Jonathan die Hände zuerst einmal auf fremdes Gut, dessen Stempel und optische Sammlungsstücke (17:05-30), kann aber wohl als Patron der Handwerker nicht umhin, ihn und die Atmosphäre seiner Werkstatt zu »mögen«. Gleich dem windschnellen Götterboten und Patron der Reisenden ist Tom Ripley ständig unterwegs. Wie von ungefähr verguckt er sich sogleich in Derwatts blaue Lokomotive und entbietet dem nach München Abreisenden Jonathan höflich »Gute Reise«; schon wissend, daß er ihm dort im Zug wie der Beseitiger von (Mafia-)Ungeheuern zur Seite springen muß. Wie wendig er doch der automatisch hinter ihm zuschnappenden Abteiltür entgeht! Der wachsame Hüter der Türen und Pforten erwischt anfangs Minot beim Einsteigen in seine Villa und bemerkt dort am Ende noch rechtzeitig den anderen sich heranschleichenden Gangster. Unversehens ist er als Retter im Zug zur Stelle und unvermutet in Jonathans Werkstatt. Beim zweiten Mal dort zieht Daniel soeben mit dem hölzernen Modell des Malteserkreuzes einen Rollschuh heran, als ihn ein Geräusch im Spiel innehalten läßt. Der Umschnitt zeigt Ripley, der auf der Türschwelle dasteht – als hätte Daniel ihn auf diesem Rollschuh herangezogen. Und wirklich scheint dies eine weitere Verkappung oder Epiphanie zu sein, so wie schon unmittelbar vor dem Mord in der Métrosta-
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tion La Défense ein bizarrer Rollschuhläufer vorbeikam, der gleich dem verletzten Jonathan die Hand an die Stirn gedrückt hielt und genau an dieser Kopfstelle dann visuell mit ihm zusammenstieß.
55:15-16
Unter den Nebenfunktionen dieser zeitgenössisch eingekleideten Gottheit zeichnet sich für Tom Ripley schließlich noch die des Schutzpatrons der Musik ab.8 Ripley, der eine eigene Musikbox besitzt, möchte gern »die Beatles wieder nach Hamburg zurückbringen«, trägt selber gemessen die Ballade vom Todesfluß vor und hat in Derwatt und Jonathan zwei weitere depressiv gestimmte Sänger um sich. Einer der Arbeitstitel für diesen Film hieß übrigens ›Das Ende vom Lied‹. Und wenn Tom Tom sich immer wieder mit Hilfe von Hunde- und Eulenlauten verständigt, dann pfeift und zischt Ripley öfter durch die Zähne, so wenn er von Jonathan »identifiziert« wird, später mit der aufblitzenden Polaroidkamera das Profil-Porträt von sich selbst macht oder mit spitzen »sss«-Lauten Jonathan den Gebrauch der Apparatur mit den Nacktphotos vorführt.
Gesta lten der Unterwelt. J onatha ns Hadesfahrt Für Jonathan und die Atmosphäre dieses Film am bedeutsamsten ist die düster chthonische Seite des Seelenführers, der die Schatten zur Unterwelt hinüberbringt und dort auch mit Hades, den Totenrichtern und dem Höllenhund zu tun hat. Ripleys Elbvilla mit dem klassizistischen Säulenvorbau gehört eigentlich nicht nach Hamburg, sondern – ans »Schwarze Meer«! Wie Wenders 1977 in der Filmzeitschrift ›Positif‹ erwähnte, hat-
8
Als »primitiv-pastoraler Musiker« erfand Hermes den improvisierten Gesang und neben der Leier noch die (Pan-)Flöte. Artikel ›Hermes‹ in: ›Der Kleine Pauly. Lexikon der Antike‹, Bd. 5 (München 1979), Sp. 1071
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te sie einst ein vermögender Hamburger als Kopie einer Krimvilla bauen lassen, mitsamt ihrem gegen die Feuchtigkeit angelegten Grabensystem, das aber an der Elbe keine Funktion mehr hatte. Es erhält im Film eine neue Funktion, indem es der Hadessphäre eingegliedert wird. Kathe Geist kommt dem nahe, wenn sie von den »grabgleichen Zementgräben« spricht.9 Wirklich erwischt es ja den New Yorker Gangster Angie in diesem Graben, den Ripley zum Vorposten der Villa machte. Um den Angreifer von hier aus in falsche Sicherheit zu wiegen, drehte er seine Musikbox laut auf, diese grünlich leuchtende Wurlitzer mit etlichen roten Spritzern auf ihrer Plastikplane. Im Innern der Villa herrscht neben dem komplementären Rot eine unwirklich grünliche Beleuchtung, bei der man sich an die Hotelszene in Hitchcocks ›Vertigo‹ (›Im Reich der Toten‹) erinnert fühlen kann, wo der hintergangene Ferguson die Wiedergängerin von Madeleine vor sich zu haben glaubt. Ripley selbst wird in dem Billardsaal wiederholt in eine grünliche Beleuchtung getaucht, die von den Ecken des Canada-DrySchildes ausgeht und durch das Grün des Billardtisches intensiviert wird. Hier ist er bald beim Poolbillardspiel mit dem ständig schwarzgekleideten Minot in einer Verhandlung zu sehen, wie sie im Mythos gelegentlich Hermes mit Vertretern der Unterwelt führte, um einer Seele noch einmal einen Aufschub zu gewähren. Sicherlich ist auch Gilles Dagneau zuzustimmen, der 1977 bemerkte, daß dieses »grelle Grün« in dem Billardsaal das sonderbare Wesen Ripleys unterstreiche und zudem die amerikanische Zivilisation reflektiere.10 Ja, die Farbkombination Rot-Grün bezeichnet augenscheinlich diesen »amerikanischen Freund« und seine fatale Blutsbrüderschaft mit Jonathan. Rotbeschärpt im grünen Tannengezweig präsentiert sich so die brennende Weihnachtskerze, vor der Tom Ripley ihm in der Kneipe erklärt, daß die Freundschaft, die er sich gewünscht hätte, nach alldem leider nicht mehr möglich sei. Jonathan Zimmermann wird von Beginn an von optischen und akustischen Warnsignalen umstellt. Ein Leitmotiv ist das ständige Gekläff um seine Werkstatt, das sogar während der Gespräche drinnen zu vernehmen ist.11 Mehrmals, mit dem ersten Erscheinen Ripleys dort und auch 9
Geist, Kathe: ›The Cinema of Wim Wenders‹ (Ann Arbor), 1988, S. 78 (»the tomblike cement trenches«) 10 In: ›La revue du cinéma‹ (Paris), Dezember 1977, S. 92 11 Zum Ton notierte die Regisseurin und Filmkritikerin Jeanine Meerapfel in ihrem sehr lebendigen Bericht von den Hamburger Dreharbeiten: »Wenders und sein Tonmeister Martin Müller ... haben sich eine Mehrspurtonanlage mit drei Tonbandgeräten zusammenbasteln lassen, auf der sie getrennte Sprach- und Geräuschaufnahmen machen können, ›so daß man später bei der Filmmischung entscheiden kann, was im Ton vorn und was im Hintergrund liegen soll‹ (Wenders).« In: ›ZEITMAGAZIN‹ (Hamburg) vom 15.44.1977, S. 42-46 (›Komm, Keule, wir drehn ein heißes Bild‹). - Außerdem gewann einiges von dem, was man sonst als Nebengeräusch nicht weiter registrieren würde,
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bei Minots Besuch, ist eine korpulente Frau mit einem oder zwei großen Hunden in der Nähe. Hunde gehören auf ambivalente Weise zum Hermeskult, in dem der Gott – wie auch der zum Unterweltshund Kerberos hinleitende Totenfährmann Charon – mitunter selbst hundsgestaltig dargestellt oder ihm der Hund als Attribut seiner Wachsamkeit zur Seite gegeben wird. Zugleich aber trägt Hermes selber den Beinamen des »Hundswürgers«, der diese und andere Bestien niederzuhalten weiß. In der zweisprachigen (deutsch-englischen) Version wird Tom Ripley zu Beginn von Derwatt als »son of a bitch« begrüßt (»bitch« bedeutet konkret »Hündin«), und unser Film selbst widmet den Hunden einen eigenen kleinen Kult: Da ist der Stoffdackel, der in der Suspense-Szene, als Jonathan sich für die Abreise nach Paris fertigmacht, hinter dem rotausgeschlagenen Koffer zu sehen ist und der dann unweit des Telefons dasitzt, wenn gezeigt wird, daß er von Paris aus vergeblich noch einmal zu Hause anruft. Beim Schwenken auf die Mitglieder der New Yorker Mafiagang wird in kurioser Überbetonung ein weißer Porzellanhund miterfaßt, ein Vorbote auch des hysterischen kleinen Spitzes, der Jonathan im InterCity so zu schaffen macht und ihm zum Abschied um ein Haar in die Hand beißt. Nach Hamburg zurückgekommen, findet er seinen Sohn Daniel in der Badewanne beim Spiel mit dem Hund Snoopy, der seinerseits in einer Wanne liegt. Einmal fokussiert die Kamera kurz auf ein anderes Tier, das auf Ripleys Monitorsystem abgestellt ist, halb verhüllt durch ein darüber gebreitetes Hemd. Es ist ein Schwan oder eine Gans. Galt der Schwan im Altertum auch als Seelenvogel, so spielt die Gans, die unter anderem dem Hermes geopfert wurde, für den Totenrichter Rhadamynthes eine besondere Rolle: Um den Namen des Gottes nicht aussprechen zu müssen, wurde bei der Gans geschworen. durch diverse Nachbearbeitungsverfahren einen eigentümlichen Bedeutungsklang, insbesondere die wie zufällig eintreffenden Schiffs- und Autosirenen. Das Schiffstuten findet sich nicht nur ein, wie bestellt, wenn Ripley sich zum Gruß auf der Elbvilla präsentiert, sondern auch in dem Moment, als Daniels Lampe mit der herandampfenden »General«-Lokomotive angeknipst wird und dank einer nachfolgenden Nahaufnahme der Zug nun optisch wie akustisch bedrohlich »nähergekommen« ist (13:03-11). Bei der beschwichtigenden Auskunft Dr. Gabriels, daß es »keinen alarmierenden Anstieg« der Blutwerte gebe, ertönt draußen wie zum Dementi eine Polizeisirene (22:56). Andere Geräusche werden trotz gewisser akustischer Differenzen durch den Schnitt auf mysteriöse oder erheiternde Weise einander zugespielt, ineinanderfließend etwa für Ripleys Nachtflugzeug und Jonathans Zug oder bei dem Rattern einer sich umwälzenden Tafel mit den Abflugzeiten, das schon beim Anblick des Volkwagens, als wäre es dessen Motor, zu vernehmen ist (1:14:36-44). Ein eigenes Studium verdiente noch das Telefon- und Türgeklingel, das in diesem Film kaum auseinanderzuhalten ist und sich mitunter, zumal wenn Telefon und Tür zugleich im Bild sind, als solches nur erschließen läßt, so in der Szene, als Jonathan nach seinem ersten Anfall nicht auf das Läuten reagiert und danach Ripleys Thunderbird unweit des Hauses geparkt dasteht (31:44-56).
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Wiederholt war schon von dem schwarzgekleideten Gangster Minot die Rede, der Ripley über eine »alte Schuld« in sein Spiel zieht. Alain Masson betrachtet Minot in seiner unerhörten Zielstrebigkeit als eine den übrigen Menschen dieses Films völlig fremde Figur.12 Nun ist Schwarz auch die Farbe der Schattenwelt und ihrer Repräsentanten, zu denen neben Rhadamynthes der andere Totenrichter Minos gehört. In einer Einstellung, die Minot im Gespräch mit Jonathan drunten am Elbufer zeigt, werden beide als Schattenrisse präsentiert. Wieder einmal bringt er den Sichsträubenden dazu, sich auf den Weg zur nächsten Stätte seines mörderischen Plans zu machen, mit diesem schon satanisch entwaffnenden Oben: 1:07:31 Unten: 1:08:31 Charme, der jedes Gegenargument als den gerade besten Grund für die eigenen Absichten hinzubiegen versteht. Und immer wieder verrutscht ihm
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12 In ›Positif‹, a.a.O. S. 20 (»un personnage tout à fait étrange à l’univers humain de ce film«)
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sein Dauerlächeln ins Spöttische, so als er in Paris hinter Jonathans Rükken ein Etikett von dessen Jacke entfernt. Ein Etikett, das jenen gleicht, die bei der Auktion den zu ersteigernden Objekten aufgeklebt waren. In der Tat ist Jonathan genau in diesem Moment, da ihm Minot durch seine gefälschten Analyse-Ergebnisse überzeugt hat und das Todesurteil spricht, »gekauft« und läßt sich sogleich auf Details bei der Beseitigung des Mafioso ein. »Gekauft« wie das Objekt eines »Kunsthändlers«, der zu sein – »in gewisser Weise« – Minot beim ersten Aufsuchen Jonathans behauptet hatte (25:22). Zum Symbol seiner eleganten Arroganz wird der mit seinem Schwarz kontrastierende, schlangengleich um den Hals geschlungene weiße Seidenschal (womöglich eine Anspielung auf den Minos bei Dante und Michelangelo, vgl. S. 212). Jonathan und Ripley behandeln diesen Schal zuletzt wie eine Jagdtrophäe oder einen Skalp, als sie beim Ambulanzwagen zugleich mit ihren Mafiaverfolgern auch den von ihnen überwältigten Minot losgeworden sind (1:49:48-57). Der endlich Überwundene war jedoch nicht der einzige Vertreter des Schattenreichs. In Jonathans Wohnung selbst hatten sie sich schon längst eingestellt, die Schattenfiguren in seinem Zoetrop und in dem Stereoskop. In letzterem waren Menschen und Dinge an einem Meeresstrand zu sehen, die Jonathan annäherungsweise zur Deckung zu bringen suchte, das heißt in ihre stereoskopisch »volle« schwarze Existenz überführte. Schattenbilder, die wie das von ihm zu rahmende ›Auswanderer‹-Bild zum Motivkreis der Rückkehr ins Meer oder zu Hermes’ Geleit bis an den Unterweltfluß gehören, dorthin, wo der Fährmann Charon die Seelen in seinem Kahn in Empfang nimmt und dafür einen Obolus verlangt, der den Toten unter die Zunge oder in den Mund gelegt wurde. Auch dieser lange Prozeß der Seelenüberführung ist gut und unauffällig in die Kriminalhandlung eingepaßt. So nehmen die beiden Anfälle, die Jonathan in seiner Wohnung erleidet, vom Anblick der Elbe ihren Ausgang. Erst gegen Ende zu gewinnt das Ganze ein entschieden dämonisches Aussehen. Kathe Geist kommt dem wieder einmal recht nahe: »The end ... contrasts strikingly with the rest of the film ... Jonathan’s orange Volkswagen stands out against the landscape, whose uniform color creates an aura of other-wordliness. The exploding ambulance gives Jonathan’s adventure an apocalyptic end from which he believes he can simply drive away.«13 Recht besehen, verläßt Jonathan den Meeresstrand nicht einmal mehr, sondern wird zusammen mit den anderen Leichen schon hier dem Totenreich übergeben. »Hermes« bedeutet ja wahrscheinlich »Stein(haufen)« oder auch »der vom Stein(haufen)«, nach diesen Wegmarkierungen, denen der Gott in Gestalt einer (phallostragenden) 13 Geist, a.a.O. S. 79
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Herme selbst entsprang und die auch zum Grabstein diente. Wenn nun Tom Ripley dem explodierenden Leichenwagen wie triumphierend einen Stein nachwirft, dann ist offenbar auch Jonathan mitgemeint, denn er hat sich unmittelbar vorher eine am Strand aufgelesene Muschel auf die Zunge gelegt und sie bald krachend zerkaut! (1:55:38-48) Zeremonielle Akte, die als solche wiederum unterhalb der gewissen Wahrnehmungsschwelle bleiben und gleichwohl eine klassische Beisetzung oder Überführung bezeichnen. Mit einem anderen Stein kündigt sich Ripleys erster Besuch bei Derwatt an. Auf dem Parkettboden seines Atelier liegt ein Stein, den der Maler mit dem Fuß anstößt und dann wie wütend hinwegstößt. Kaum ist er daraufhin an seine Staffelei herangetreten, um neben einer Gemälde- oder Collagefigur mit geisterhaft weißen Augenhöhlen sein Augenlicht zu überprüfen,14 klopft es an der Tür. Ripley tritt herein, und während er für die Begrüßungssätze mit vor der Brust gekreuzten Armen auf der Türschwelle stehenbleibt, schwenkt die Kamera von dem »EXIT«-Schild und der roten Glühbirne leicht auf ihn hinunter. (01:03-33) »God knows I have a lowdown travelling ...«, sang Derwatt dort soeben vor sich hin. Bekümmert über eine Existenz, in der er, offiziell verstorben, wie ein Fälscher sich selbst plagiieren muß, einen bestimmten Stand der eigenen Entwicklung weder über- noch unterschreiten darf und nun durch den Verlust der Sehkraft völlig ruiniert zu werden droht. Man könnte zunächst meinen, daß dieser alte Mann als Bilderfälscher nur für den toten Derwatt eingesprungen wäre, doch ist es – spätestens dem Abspann des Films zufolge – Derwatt selbst, während der Derwatt bei Patricia Highsmith schon in ›Ripley Under Ground‹ (1970) als junger Mann in Griechenland tödlich verunglückt war und später, um von Ripley und befreundeten Bilderfälschern leichter ausgebeutet zu werden, angeblich im fernen Mexiko wieder »auferstehen« konnte. Wie Jonathan Zimmermann gehört der Derwatt dieses Films als »lebender Leichnam« an Hermes’ Seite, ist sich aber anders als Jonathan dessen von Beginn an bewußt, macht sich keine Illusionen mehr und kann auch nicht mehr wie er in den Phasen der Revolte und Euphorie mißbraucht werden. Nur auf seinem Namen besteht er weiterhin, als Ripley ihn als »Meister Tizian« tituliert. »Tizian« sicherlich nicht nur in Anspielung auf das auch an Derwatt so geschätzte Blau, sondern auch auf das biblische Alter Tizians, das noch vor sich zu haben für Derwatt die Hölle wäre. Eine Bestrafung, wie sie in der Unterwelt üblich war, wo Hermes einst einen solchen Übeltäter 14 In einer improvisierten und nicht in den Film übernommenen Szene überdeckt Derwatt eines seiner Gemälde mit dunkelgrüner Farbe und malt zuletzt ein zu seiner Piratenaugenklappe passendes Auge darauf (auf der französischen und deutschen DVD die erste der geschnittenen Szenen).
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(Ixion) aufs feurige Rad zu binden hatte. An seiner Tür, so Derwatt zu Ripley, müßte ein Schild mit der Aufschrift stehen: »Erlöse mich von dem Übel.«15 (43:35) Gegen Ende des Films wird Hermes’ oft erörterte innere Verwandtschaft mit Christus stärker betont. Nachdem Tom Ripley mit kreuzartig ausgebreiteten Armen in der Heckfenster-Lunette des Volkswagens zu sehen und Jonathan ihm »weggefahren« war, ist die folgende Verwandlung seiner Erscheinung und Umgebung zu betrachten: Über das Gebälk eines Strandgerüstes hinweg fällt der Blick auf Ripley, der die Arme hebt und resigniert fallen läßt, wobei beim Niederfallen – nur in der deutschen Tonfassung – ein fauchender, die Gebärde rhythmisch akzentuierender Windstoß vernehmbar wird (schon Bruno Winter im ›Lauf der Zeit‹ wurde so akustisch in der Nachfolge der Windgottheit 1:57:34-39
Hermes gerückt). Kaum ist der Volkswagen in der letzten und wildesten aller Kreiselbewegungen des Films endlich zum Stand gekommen, wird zurück auf Ripley geschnitten. In einer Naheinstellung hat er seine rechte Hand vorn auf einen von ihm umschlungenen Pfosten liegen. Ein Lichtstreif der durch das Gebälk fallenden Sonne liegt über seinen Augen, als er mit zitternder, aufschluchzender Stimme bemerkt: »Well, wir habens doch geschafft, Jonathan. Aber paß auf dich auf!« (zweideutiger in der englischen Fassung: »... we made it anyway, Jonathan. Be careful!«). Betrachte man doch nur sein Antlitz, sein Lächeln, seine Haltung und auch die veränderte Frisur! Eine Überhöhung, die für die nächste Einstellung auf den dort Sitzenden noch gesteigert wird. Denn der Kamerablick fällt aus mehreren Metern von oben seitlich schräg auf ihn, der diesen Pfahl immer noch umklammert. In den diversen Verstrebungen des Gerüsts und im Schattenwurf zeichnet sich in komplexer Raumgestaltung eine Sternform, ein Rechteck und außerdem die Kreuzesform ab. Und wird nicht Ripley selbst in beiden Einstellungen weithin der Passionshaltung 15 Ähnlich läßt Dante das »Vaterunser« im 11. Gesang seines »Fegefeuers« einen einst allzu selbstbewußten Maler (Oderisi da Gubbio) zur Buße absingen.
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des unbekannten Christusnachfolgers im Film im ›Lauf der Zeit‹ angenähert (Abb. S. 170)? Derweil singt er wie in Erinnerung an das metaphysische Bildmotiv ›Des Auswanderers Sehnsucht‹ den entsprechenden Anfangsvers aus Bob Dylans ›I Pity the Poor Immigrant‹. Bei »the Poor« wird wieder in einer Halbtotalen zurück auf den roten Volkswagen geschnitten, in dem Marianne den aufs Steuer Gesunkenen zurücklehnt, während im Voice-Over Ripleys Song weiter zu hören ist, und zwar nur in der deutschen Fassung: »Who whishes he would have stayed home«. Marianne drückt in der nachfolgenden halbnahen Einstellung Jonathan die Augen zu und streichelt über Gesicht und Brust hin, bis zuletzt sein Kopf noch tiefer zurücksinkt. Sie steigt aus dem VW und läßt ihre Beifahrertür flügelartig aufstehen. Die Kamera aber bleibt unverwandt auf den Toten gerichtet, hinter dem der Saum des bewegten blauen Meeres zu sehen ist. Der schwache Seewind war noch bis zu dem Moment zu hören, als Marianne Jonathan die Augen schloß. Danach kommt nun laut Filmmusik auf, die weiter bis über die letzte Szene mit Derwatt hinausgeführt wird, der bei Sonnenuntergang in Höhe des »Elevated Highways« entlang der rechts daliegenden Freiheitsstatue davongeht, in Richtung der
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Stern unterhalb des »V« (in »Verlag«)
WTC-Türme oder auch eines daneben schwach sich abzeichnenden einzelnen Sterns. Als während des Abspanns das Bild längst schon abgedunkelt und Derwatts Bewegung erstarrt ist, verklingt schließlich auch die Musik und ist bis zum Ende erneut der fauchende, diesmal auf- und abschwellende (See-)Wind zu vernehmen!16 Ist Hermes schon wieder zurück, die Personifikation der Luft? Zeigte er sich etwa schon in diesem einsamen Abendstern an?17
16 Boujut findet darin den eisigen Wind in Nicholas Rays ›Johnny Guitar‹ wieder; Boujut, Michel: ›Wim Wenders. Un voyage dans ses films‹ (Paris 1986), S. 107 17 Merkur ist mit bloßem Auge nur in der Dämmerung sichtbar.
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PATRICIA HIGHSMITH’ MISSVERGNÜGEN
Patricia Highsmith’ Mißvergnügen Während der Dreharbeiten zu ›Die Angst des Tormanns beim Elfmeter‹ (1971/72) las Wenders Patricia Highsmith’ ›Das Zittern des Fälschers‹ (›The Tremor Of Forgery‹) und war davon so sehr beeindruckt, daß er den Titel spontan auf die Anzeigetafel des von Joseph Bloch aufgesuchten Kinos anbringen ließ.18 Die Filmrechte für den ›Fälscher‹ waren schon vergeben, doch konnte er eine Option auf ihren damals noch nicht veröffentlichten Roman ›Ripley’s Game‹ erlangen und nahm sie auch sogleich wahr, weil er nach seinem fast ohne Drehbuch und »Geschichte« entstandenen Film ›Im Lauf der Zeit‹ Lust gehabt habe, »in dem festen Rahmen einer Geschichte zu arbeiten, die jemand anders geschrieben hat«. Gleichwohl habe er bald wieder des Nachts am Drehbuch schreiben müssen: »Alles strebte aus der Geschichte hinaus, vor allem die Figuren, die alle in eine andere Richtung wollten, als die von der Highsmith vorgezeichnete«.19 Insbesondere die Titelfigur Ripley wurde aus jetzt eher verständlichen Gründen völlig aus ihrer sozialen Herkunft und aus der Komfortehe mit Heloise gelöst. Ripleys Motive sind aus denselben hermetischen Gründen undurchsichtiger geworden. Patricia Highsmith befand in einem Interview aus dem Jahre 1977: »Der Film hat mir gefallen. Es ist ein interessanter Film – sehr, sehr modern. Aber der Antrieb für die Handlungen und Verhaltensweisen der Charaktere schien mir nicht deutlich genug. Das war allerdings auch eine Schwäche meines Buches«.20 1979 fügte sie noch hinzu: »Den Schauspieler, der die Hauptrolle spielte (Dennis Hopper), habe ich nicht gemocht. Er hat überhaupt keine Klasse. Während Ripley doch ein richtiger Dandy ist.«21 Diese Erklärung ist insofern überraschend, als Wim Wenders eigentlich genau das konsequent umsetzte, was sie selber schon in ihrem vorangegangenen Roman ›Ripley Under Ground‹ (1970) versucht hatte. Anders als in ›Ripley’s Game‹ (1974) stattete sie dort nämlich ihren zwielichtigen Helden mit etlichen Zügen von Hermes aus! Sie seien hier nur eben gestreift (in Klammern die Seitenzahlen der Übersetzung ins Deutsche nach der Diogenes-Taschenbuchausgabe, Zürich 1979):
18 Wenders, ›Logik‹, a.a.O. S. 29 19 Ebd., S. 31 5 20 In: ›Patricia Highsmith. Leben und Werk‹ (Zürich 1996), S. 191. – Vor der öffentlichen Uraufführung in Cannes wurde ihr der noch unfertige Film in einer Sondervorführung gezeigt (so Wenders im Kommentartrack der französischen DVD-Ausgabe; 35:46-37:35) 21 Ebd., S. 36
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Zu Ripleys Hermes-Attributen gehört ein mexikanischer »Ring, auf dem sich zwei silberne Schlange ringelten« (S. 28). Seine musischen Talente als Maler und Musiker pflegt Ripley in dem Landhaus, das den sprechenden Namen »Belle Ombre« führt und einmal mit einer pompejanischen Villa verglichen wird (S. 118). In Paris übernachtet er, ganz Götterbote, im »Ambassadeur«. Heloise, die wie Tom Toms Freundin Eloise Ash die entsprechenden Allüren der Aphrodite hat, schlägt ihm in diesem Hotel als Decknamen den Familiennamen »Gladstone« vor (254). In London wird Ripley in der Underground von einem Hermaphroditen-Graffito angezogen (71) und steckt einem alten Mann, der für eine Griechenland-Kreuzfahrt Reklame macht, selber aber »bestimmt nirgends mehr hin« käme, wie Fährgeld eine Gauloise in den Mund (74). Bei der Leiche seines Opfers Murchison, die ihm wie ein mythischer »heulender Drachen« vorkam, findet man nichts als eine blinkende Münze (115; 234). Ripley selbst wird in diesem Grab von dem verzweifelten Derwatt-Fälscher Bernard Tufts verscharrt, kann sich aber »wie ein Maulwurf« wieder freimachen und wie einst Derwatt »Auferstehung« feiern (243; 268). Der Buchtitel ›Ripley Under Ground‹ deutet also die mehrdeutige, auch chthonische Unterweltexistenz dieser Gestalt an, die zuletzt als gespenstischer Wiedergänger zu Tufts herantritt und ihn, dem er eigentlich »das Leben retten will«, in den beiden nicht ungelegen kommenden Tod treibt. – In ›Ripley’s Game‹ repräsentiert vor allem Minot jene Unterwelt. Anders als die Filmfigur trägt die Romanfigur keinen verschlungenen Schal; Erkennungszeichen des öfter Verkleideten ist freilich seine abstoßende rote Gesichtsnarbe, die einmal einem Lebewesen gleich beschrieben wird, als er Jonathan im Fontainebleauer Hotel »Aigle Noir« sein Angebot unterbreitet: »Die lange Narbe schlängelte sich wie ein ekler Wurm« (Zürich 1977, S. 52). Vermutlich geht diese Stigmatisierung wie auch Minots Schal zurück auf den schlangenumgürteten Minos in Michelangelos Fresko ›Das Jüngste Gericht‹. Michelangelo wiederum arbeitete hier frei nach Dante, bei dem ein minotaurosähnliches Ungeheuer den neu eintreffenden Sündern den speziellen Ring der Hölle dadurch zuweist, daß es entsprechend oft mit seinem »Schweif« schlägt (›Inferno‹, 5. Gesang). Patricia Highsmith hat übrigens schon in ihrem ersten Ripley-Roman ›The Talented Mr. Ripley‹ (1955) eine kräftige Vorzeichnung zu dieser Hermesgestalt abgeliefert.
Sollte es wirklich so sein, daß P. Highsmith die Hermes-Adaptation des Films verkannt hat? Doch hätte sie es andernfalls für die Ripleyfigur nur bei jenem Vorwurf belassen und mit keinem Wort dessen großartige Metamorphose durch den damals 31jährigen Regisseur erwähnen können? Ihre eigenen, im Roman eingestreuten Kennzeichen dieser Gottheit sind allerdings weit auffälliger als diejenigen, die hier Wim Wenders in seine Bildsprache hat einfließen lassen. Er hingegen, der sich wie P. Highsmith
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schon früh mit der griechischen Sprache und Kultur beschäftigte, scheint ihre kleinen Hinweise auf den Hermescharakter Ripleys sehr wohl registriert zu haben. Zumal er ja schon in seinem vorangegangenen Film ›Im Lauf der Zeit‹ (1974) in Gestalt von Bruno Winter eine denkwürdige erste Hermesfigur vorgelegt hatte. Besonders eigenwillig an der Metamorphose dieser Figur im ›Amerikanischen Freund‹ ist die Annäherung zwischen der antiken und der christlichen Sphäre, die in ›Ripley Under Ground‹ so keine Rolle mehr spielt. Heloise vermutet so von Ripley, daß er ungetauft sei (S. 206), und entsprechend ironisiert wird dann seine »Auferstehung« aus dem Grabe. Die Wenderssche Hermesgestalt hat jedoch mit der spielerischen Amoralität von Patricia Highsmith’ Ripley wenig gemein. Nicht von ungefähr zeigt er sich jetzt einmal vor Jonathans Laden im schwarzen Mantel mit einem Haarknoten oder Pferdeschwanz, im Outfit also von Wenders’ späteren Berliner Engeln oder »Boten« – die ihrerseits antike Züge haben. Daß es jedoch falsch wäre, hierbei wie bei den anderen Wendersschen Hermesfiguren und Epiphanien der Gottheiten an einen neuen religiösen Synkretismus zu denken, möchte ich erst in meinem »Nachwort« erörtern. Für den jetzigen Film genügt wohl die Erinnerung, daß der Götterbote Hermes als der »Große Helfer« wiederholt Verführer zum Abenteuer war, zum Kampf auf Leben und Tod und damit zu einer möglichen »Unsterblichkeit«. Wird nicht auch Jonathan zu einem solchen Abenteuer verführt? Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang an die Devise, die Ripley in sein Aufnahmegerät spricht: »Man muß sich vor nichts fürchten, außer vor der Furcht«. Die Frage eines französischen Filmkritikers, ob dies nicht das eigentliche Sujet des ›Amerikanischen Freundes‹ sei, bejahte Wenders damals (1977) und fügte sofort hinzu, daß es auch gleichbedeutend sei mit »einem gewissen Todesverlangen«.22 Wer aber soll hier den Tod suchen? Ripley, der wie »Der müde Tod« bei Fritz Lang seines Amtes überdrüssig wäre? Oder verhält er sich nicht doch eher als mitleidvoller Psychopompos, der zu Taten verführt, die ihren Urheber in Euphorie versetzen und so den Abschied erleichtern können?
Kran kheitsbilder; fi lmadä quate Auflösungsformen der Persönlichkeit So komme ich endlich zu dieser anderen Freundesgestalt, Jonathan Zimmermann, den Wenders im Presseheft des Films 1977 mit der folgenden Fragesatzkette vorstellte: »Ist er der, der er immer gedacht hat zu sein, 22 In dem in Fußnote 1 genannten Interview (S. 24: »un certain désir de mort«)
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oder hat er in sich noch einen anderen? Wozu ist er fähig? Ist er festgelegt durch sein Leben, seine Familie, seinen Beruf? Wer ist er, angesichts des Todes? Ist er überhaupt einer?«23 Durch seine Krankheit wurde schon Jonathans Ruf als Restaurateur beschädigt. Wie der alte Gantner Ripley erklärt, schätze er ihn nur noch als Bilderrahmer. Seine Frau »muß dazuverdienen«, bemerkt er dann, da viel Geld auf die ärztliche Behandlung draufgehe. Noch aber wehrt sich Jonathan heftig gegen »das Gerücht«, er stehe schon »mit einem Fuß im Grabe« und umgibt sich mit Zeichen einer stabilen Identität. Der Schweizer stellt so im Fenster seines Rahmenmacherladens sein Landeswappen aus und saust auf dem Hamburger »Dom« mit Frau und Kind in einem Bob mit dem Schweizer Kreuz im Kreis herum. Eine gewisse Unsicherheit allerdings verraten seine anfänglichen penetranten Korrekturversuche bei kleineren sprachlichen Verstößen der beiden Nichtdeutschen Allan Winter und Ripley. Und bald schon wird er bei der abendlichen Lektüre über Formen verkleideter und gefährdeter »Identität« weitergetrieben zu der bekümmerten Frage, was seinem Sohn Daniel vom Vater wohl noch in Erinnerung bleiben werde. Sinnbild für diese prekäre Identität ist also der Bilderrahmen, der lange Zeit den Arbeitstitel des Films hergab. Überprüft Jonathan vor der Versteigerung des Derwattbilds seinen dafür angefertigten Rahmen, führt er ihn in einer rituellen 90-Grad-Drehung aus einer verkippten Dreiecksposition in die »normale« des Rechtecks und wieder zurück in jene Position. Dies alles in einer Kameraeinstellung, die ihn von hinten und selber wie »drinnen« zeigt, derweil er zum erstenmal den seine Überforderung bezeichnenden Song der Kinks vor sich hin summt und singt: »There is too much on my mind ...« Nach der Auktion, als Ripley sich soeben mit seinem zu rahmen-
Oben: 05:10
Unten: 16:46 – 17:01
23 Wenders in: ›Logik‹, a.a.O. S. 30
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den Kupferstich dem Laden nähert, balanciert Jonathan zwei Halbrahmenteile, die er nicht »auseinandergehen« lassen will. Sein Exerzitium wird diesmal von vorn gezeigt, wobei er die Hälften in jener »gekippten« Position aus der Horizontalen in die Senkrechte vor sich hochführt und in prüfenden Blickabfolge zuerst auf die obere Winkelecke schaut, dann hinunter auf die gegenüberliegende und wieder zurück nach oben. Beim nächsten Mal allerdings, nach seinem ersten Mord, erfolgt Jonathans furioser Ausbruchsversuch und wird seinem Rahmen zugleich eine wundersame Metamorphose zuteil: Deprimiert stützt er sich in der Werkstatt auf einen Rahmen, hängt ihn sich dann um den Hals – um ihn plötzlich wütend zu zerschlagen. Wiederum kommt Tom Ripley soeben vorbei und wird von draußen Zeuge der Verzweiflungstat. Nach dem Umschnitt zeigt eine Nahaufnahme vor Ripleys schwarzen Schuhspitzen ein Trümmerteil der Rahmenkonstruktion am Boden liegen, das einer Pistole gleicht, der Mordwaffe Jonathans, die nun bezeichnenderweise vergoldet ist! So hatte Jonathan damals seine Hand mit Blattgold überzogen, bevor er mit ihr den Telefonhörer ergriff, um Minot mit dieser schon wie gedungenen, steif vom Körper gehaltenen Hand anzurufen und in Paris ein Treffen zu verein1:03:13 baren. Ripley hebt jetzt das Fragment vom Boden und streicht damit, als er Jonathans Pflaster über dem Auge bemerkt, fragend über die eigene Augenbraue hin. Irgendwie hat Jonathan Sekunden später dieses Bruchstück in die Hand bekommen und fährt sich damit, als Ripley »ihn« zu »sehen« wünscht, verständnislos fragend zwischen Pflaster und Augenwinkel hin. Gemeint war der gerahmte Stich ›Des Auswanderers Sehnsucht‹, dessen verkappte jenseitige Ausrichtung immer deutlicher geworden ist. Hier wird sie mit dem Leitmotiv der Bedrohung der »guten«, die Derwatt-Fälschung erkennenden Augen Jonathans verknüpft und soll sich für ihn erfüllen, wenn Marianne ihm an der See die Augen zudrückt. Somit zeichnet sich in dem jetzigen zeremoniellen Hin und Her der Gebärden ab, daß Jonathan nicht mehr aus diesem Rahmen kommen soll, der durch Berührungsmagie fest mit seiner Pistole, dem ihm listig abgenötigten Mordauftrag und mit dem eigenem Tod verbunden wird. Gegen Ende der Szene läßt sich Ripley noch den bestellten Rahmen zeigen. Er ist nur halb fertig, denn noch steht ja der von Minot schon geplante zwei-
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te Auftragsmord aus. Danach erst wird Ripley sein Seebild abholen können und mit traurig-resigniertem Unterton »Geschafft!« ausrufen. »Framed!« heißt es in der englischen Fassung, die, wie Alain Masson sogleich erkannte, einen ironischen Gedanken anklingen läßt: »The framer is framed«24 (er wurde »reingelegt« oder »gefilmt«). Konnte sich Jonathan von dem ersten Mord noch selbstironisch distanzieren, indem er sich das Blattgold über die Handfläche pustete, so ist er jetzt ganz und gar im Bann seiner fatalen Erkrankung. Auch Jonathans Identität und ihre Bedrohung hat eine bestimmte Farbkombination zugewiesen bekommen, ROT-WEISS. Sie signalisiert ebenso den auf Sicherheit bedachten Schweizer wie seinen körperlichen Verfall (die erkrankten rot-weißen Blutkörperchen) und die ihm dadurch erst möglichen eigenen Bluttaten. Rot-weiß ist so die Gondelbahn im Kinderzimmer, an der er sich – wie an der ersten Mordstätte in den Métrogängen – wiederholt den Kopf stößt, weiß ist sein über dem blutrot ausgeschlagenen Koffer ausgebreiteter Schlafanzug, rot-weiß der Inter-City als zweite Mordstätte und zuletzt der Transportwagen des »Arbeiter-Samariter-Bundes« mit dem weißen Kreuz auf rotem Grund. Als tragikomisches Pendant zu Minots Seidenschal hat sich Jonathan einen rot-weißen Wollschal um den Hals geschlungen, über den er dann den erbeuteten Seidenschal legt (1:49:57). Wie Wenders anmerkte, ist die Farbe Rot überhaupt die wichtigste und aggressivste in diesem Film. Als einzige wurde sie nicht durch Filter gedämpft, um so eine künstliche Atmosphäre zu erreichen, wie Nicholas Ray sie in »True Colour« für seinen Western ›Johnny Guitar‹ (1954) erzielt habe.25 In seiner bewundernden Kurzkritik aus dem Jahre 1969 charakterisierte Wenders sie als »ein unfaßbar leuchtendes Rot, eine Lügenfarbe«.26 Auf derart spektakuläre Weise artifiziell erscheint jetzt das Blutrot des Pariser Hotelflurs und des wie handkolorierten Abendhimmels nach dem Mord in La Défense. Im übrigen ist diese farbliche Aggressivität in ihren emotionalen Nuancen kontextabhängig, mal steigert das Rot als Umgebungsfarbe die Gewalttätigkeit der Szene, mal signalisiert es eine zudringliche (pornographische respektive »hermetische«) Sexualität, mal wiederum spezieller Jonathans Todesverfallenheit, letzteres auch in Annäherung an Ripleys Rot-Grün. Neben vielen expressiven rötlichen Farbsignalen hat man auch ironische zu registrieren wie das rosafarbene Druckblatt eines »Kohlehändlers«, das Minots weiße Visiten24 ›Positif‹, a.a.O. S. 18f. 25 ›Positif‹, a.a.O. S. 21 und 25 26 In: ›Filmkritik‹ (München) vom Juni 1969; Wiederabdruck in: Wenders: ›Emo2 tion Pictures. Essays und Filmkritiken‹ (Frankfurt/M. 1988), S. 20.
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karte und die beigelegten Banknoten begleitet. Oder die (rosen-)roten herzförmigen Bettbezüge im Pariser Hotelzimmer dieses Patienten, die um ein rosa Herz jeweils einen Kranz heller (gelber) Herzen aufweisen, dazwischen kräftig rote Herzen. Bis zu seinem Tode wird Jonathan zunehmend von dieser »ewigen Müdigkeit« beherrscht, die zum Krankheitsbild der Leukämie gehört. Als man ihn im Voice-Over davon reden hört, ist vor ihm auf dem Rollband des Pariser Flughafens ein – nicht unbekannter – junger bebrillter Mann zu sehen, der, offenbar im Stehen eingeschlafen, sachte zu Boden stürzt. Beim Warten dort schläft Jonathan selbst bald ein, so daß sich Minot von hinten her an ihn heran- und in den Bildkader einschleichen kann. Kaum hat er dann in Minots Citroën erklärt, nicht wie Onassis und Gabin sein Leben im »American Hospital« beschließen zu wollen, läßt er schon den Kopf mit zugefallenen Augen in den Fond zurücksinken. In der Métro ein andermal von der Müdigkeit übermannt, verliert Jonathan beinahe die Spur des Opfers und zieht sich bei der Verfolgungsjagd an einem Container jene kuriose Verletzung zu. Heftiger beinahe als am Kopf stößt er sich dabei am Unterleib, wo er seine phallisch-eigensinnige Pistole zu verbergen sucht. In seiner Überforderung wird Jonathan immer stärker auf kindliche Verhaltensweisen zurückgeworfen. Kopflos, Minots Instruktionen zum Trotz, läuft er nach der Erschießung Igrahams davon. Vergißt im InterCity vor dem Aufsetzen des Schalldämpfers die WC-Tür zu schließen; nimmt just in den Sekunden, als der Leibwächter aus der Dunkelheit zurückkommen muß, nochmals einen Schluck von Ripleys Whiskey. Stammelt nur vor sich hin, als dieser nach der versteckten Pistole fragt und scheint nicht begriffen zu haben, zu welchem Zweck er die Zugtür öffnen sollte. Nach dem zweiten Anfall, als Minot in seine Wohnung eindringt, sitzt er apathisch wie ein Püppchen auf dem Boden da, die Beine lang vor sich hingestreckt; sogleich plappert er Ripleys Beihilfe aus und drückt danach seine Stirn gegen die von Daniels Stoffelefanten. Vor dem erwarteten Angriff auf Ripleys Villa läuft er dort nur kopfschüttelnd zwischen den Kolonnaden einher. Den sich nähernden Gangster bemerkt er dann nicht und muß schließlich von Ripley, der ihm den Mafiaboß vom Hals halten mußte, vom Tatort weggezerrt werden. Gegen Ende hin, im Zustand völliger Erschöpfung und schon kleinkindlicher Hilflosigkeit, darf Jonathan wie in einer Pietà seinen Kopf in Mariannes Schoß betten. Zusammen mit Jonathans Ende am Meer macht diese Reduktion den Eindruck einer Regression in den Mutterleib. Andere Auflösungen seiner männlichen Verhaltensformen interpretiere ich eher als Annäherung an seinen Seelenführer Ripley-Hermes. Als Angleichung vor allem an die
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unstete, mutwillig-verspielte Kind- und Jugendgottheit, die ihrerseits – wenn auch noch nicht so exzessiv wie Tom Tom im ›Million Dollar Hotel‹ – die Tics der anderen nachspielt und so alles ineinanderwirbelt. Derwatt deutet bei Tom Ripleys erstem Auftreten darauf hin, wenn er dessen Rastlosigkeit mit den Worten kritisiert: »Du bist kein ernsthafter Mann«. Wie Kolker und Beicken bemerken, wird Jonathan von dieser Umtriebigkeit mitgerissen. »Ripley wanders from New York to Munich to Paris [sic!] to Hamburg, selling his forged paintings ... he uses Jonathan as a not terribly unwilling tool, turning him into a murderer and a wanderer himself.«27 Je enger er sich mit seinem Mordhelfer Ripley anfreundet, desto ausgeprägter die kindlichen Verhaltenszüge der beiden. Da ist ihre noch stille Freude, als sie den Schaffner mit dem Ticket des Opfers überlisten können; sodann beider Vergnügen an der pennälerhaften Rechenaufgabe, wieviel Zeit wohl zwischen den beiden Morden im fahrenden Zug vergangen sein müßte; ihr Gekicher bei der Dick-und-Doof-würdigen Slapstick-Einlage, als Ripley Jonathan das Essen auf einem Pappteller durch das vergitterte Fenster zureichen will. Schließlich das triumphierende Hochspringen und Sichumarmen nach der Liquidierung dieser Gangster sowie, rumpelstilzchengleich, Ripleys Sprung und Triumphgeheul nach der Explosion des Krankenwagens. Zu einem infernalischen, halb versteckten Leitmotiv zwischen beiden entwickelt sich Jonathans infantiles »Geschenk«, das Scherzbild dieses grimassierend die Zunge rausstreckenden Mannes. Erklärt er Ripley, wie es funktioniert, sieht man, daß beider Hände sich zum erstenmal berühren. In tiefenhermeneutischer Lesart ist das Zungenbild erst recht ein passendes Geschenk oder Opfer für einen Nachfolger dieser Gottheit, den Erfinder der Sprache. Zumal die Zunge ja das Fährgeld zum Hades hin empfängt und gar »die Zunge der Opfertiere ... dem Merkur geweiht«28 ist, der einst selbst »erster Opferdiener«29 war. Daß Jonathan hier das Menschenopfer sein dürfte, deutet sich für Kathe Geist aus seiner Untersuchungsposition an, wie er nämlich auf dem Rücken daliegend mit entblößter Brust und zurückgelegtem Kopf wiederholt die Knochenmarkpunktierung erwartet: »it suggests him as a kind of sacrificial victim«.30 Mit Jonathans Zunge wird in der folgenden, durch einen raschen Schnittrhythmus zusammengehaltenen Sequenz unterschwellig operiert: Nach seinem ersten Mord geht er kaugummikauend unter den Métrostelzen von Bir-Hakeim davon, stumm lachend und in jähem Triumph den Kopf 27 Kolker, Robert Phillip/Beicken, Peter: ›The Films of Wim Wenders‹ (Cambridge 1993), S. 47 28 Moritz, Karl Philipp: ›Götterlehre‹ (1791): Frankfurt/M. 1979, S. 121 29 Rückert, Birgit: ›Die Herme im öffentlichen und privaten Leben der Griechen‹ (Regensburg 1998), S. 82 30 Geist, a.a.O. S. 78
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hochwerfend. Noch immer kauend kommt er gleich danach in der Bahnhofshalle an Kiosken vorbei und schaut, nun in halbnaher Einstellung, grinsend in die Höhe und schiebt sich einen frischen Kaugummistreifen so in den Mund, daß er ihn zuerst zungengleich heraushängen läßt – obszön spätestens durch den Gegenschuß, den sein Kopfheben vorbereitet, eine Totale für die Bahnhofshalle und ihren Blickfang, die knallroten Lippen einer Frau auf einer Werbebande (»Jamais seul avec RTL«). Und sogleich wird zum Abschluß umgeschnitten auf das Scherzbild jenes grimassierenden Zungenrausstreckers, das Ripley soeben in New York in den Händen hält! (58:54–59:33)
19:07
Kommt Jonathan endlich nach Hause, klebt er den Kaugummi unter ein Möbel der Flurgarderobe. Seine Zunge aber muß er im Verlauf des zweiten Auftragsmordes dann noch selber herausstrecken, als er beim Selbstversuch vor dem WC-Spiegel die mörderische Drahtschlinge zu fest um seinen Hals zuzieht. Eine burleske Andeutung seines letalen Endes wie jene Slapstick-Szene am Fenstergitter, als Jonathans Essen auf den Boden fällt und Ripley über sein »Verhungernmüssen« scherzt, womit er schon auf die dem Toten mit auf den Weg zu gebende Nahrung anspielen dürfte.
Eine homoerotische Freundschaft ? Aus New York bringt Ripley ein adäquat-juveniles Gegengeschenk mit, einige Diapositive mit nackten Frauen. Die erotischen und sexuellen Präferenzen der beiden Männer hat man bislang durchweg argwöhnisch kommentiert. Etwas streng, aus dem Blickwinkel von Jonathans Ehefrau, urteilt so Kathe Geist: »Marianne is left without a story because, to a 219
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large extent, Wenders’ men are still in that prepubescent frame of mind in which boys don’t play with girls and sex is confined to giggling at nude photographs.« Und: »Ripley strikes one as vaguely homosexual – he manifests no interest in women, knows only men, hugs and kisses Derwatt by way of greeting him.«31 Ähnlich registriert Stefan Kolditz »homoerotische Untertöne« und zeigt sich besonders über die Szene in der Kneipe befremdet, wo die beiden »wie ein heimliches Liebespaar« vor der rotbeschärpten Kerze dasäßen.32 Hierbei wäre freilich ergänzend zu bemerken, daß Ripley zum Abschluß der Szene zum Tresen hinübergeht, wobei zu erkennen ist, daß auch die anderen Tische einen solchen Weihnachtsschmuck tragen. Nun ist ja Hermes nicht nur in seinen gelegentlich miteinander rivalisierenden göttlichen Funktionen eine denkbar ambivalente Gestalt, sondern speziell in seiner Geschlechtlichkeit. Er präsentiert sich so nicht bloß als Phallosgottheit, sondern weist als Kindgottheit zudem entsprechende polymorphe oder bisexuelle Züge auf und wird so, seinem Grundcharakter des vermittelnden, auf Aussöhnung bedachten Gottes gemäß, zum Vater des Hermaphroditen. Wenn Tom Ripley zum erstenmal in seiner Villa zu sehen ist, liegt er in gekrümmter Haltung auf einem roten Seidenlaken da. Offenbar aus dem Schlaf oder Rausch zu sich kommend, zieht er die eine Hand zwischen den Knien hervor und streicht mit ihr über seine Lippen hin. Das Seidenlaken mag einem an die famosen Pin-up-Photos von Marilyn Monroe erinnern, die gekrümmte Lageposition eher an die frustrierte Penelope Paige im ›Ende der Gewalt‹ oder etwa an den betrunkenen James Dean in Nicholas Rays ›Rebel Without A Cause‹ (siehe hierzu S. 233 mit Abbildungen).33 Wie Ripley fällt auch Jonathan Zimmermann für Augenblicke aus dem geschlechtlichen Rahmen, so wenn er sich bei Dr. Gabriel auf den gynäkologischen Untersuchungsstuhl aufstützt und sich immer ungenierter darin breitmacht. Oder sich nach seinem zweiten überstürzten Arztbesuch vor dem Justieren des Stereoskops mit weichen weiblichen Bewegungen wiederholt durchs Haar fährt und sich auf der Rückfahrt von Paris im Zugabteil entsprechend sanft in eine Schlaf- oder Ruheposition schmiegt (29:06 und 1:01:00). Letzteres im direkten Anschluß an den mit 31 Geist, a.a.O. S. 71 und 68 32 Kolditz, a.a.O. S. 190f. – Wenders selber urteilte über seine Ripley-Figur: »He’s not a solitary; and he’s not a homosexual. Not explicitly. But the way he handles Jonathan has a lot to do with homosexuality.« Interview mit Jan Dawson, in: Dawson: ›Wim Wenders‹ (New York 1976), S. 17. 33 Auch könnte man hierbei an die Haltung des kleinen Rinderdiebes denken, der sich, wie Homer in seinem Hymnus auf Hermes beschreibt, vor Apoll »listig einrollte«: »Haupt und Füße zog er zusammen, wie einer, der ... den süßen Schlaf heranzulocken versucht.« Zitiert nach Kerényi, Karl: ›Die Mythologie der Griechen‹, Bd. 1: ›Die Götter- und Menschheitsgeschichten‹ (München 1968), S. 133
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stethoskopähnlichem Kopfhörer versehenen lächelnden Ripley, der sich im Flugzeug Hut und Mantel zur Nachtruhe über Gesicht und Körper zog. Zu Jonathans weiteren Angleichungen an Ripley-Hermes gehören die phallischen Leitgebärden des Fingerdeutens (auch bei jenem aggressiven Identifizieren) und sein skurriler Umgang mit der Pistole. Pistolengebrauch und Bedrohung des Augenlichts werden im ›Amerikanischen Freund‹ wiederholt sexualsymbolisch miteinander verknüpft. Fuhr Jonathan schon mit seiner aus dem vergoldeten Rahmenfragment entstandenen »Pistole« über seine Verletzung am Auge hin, so entgegnet Ripley auf Derwatts Wort von den »besseren Augen« dieses Hamburger Freundes: »Aber nicht mehr lange, fürchte ich«. Und macht dabei mit der Hand, die sein für Jonathan bestimmtes Gegengeschenk der Nacktphotos umklammert, eine entsprechende Zielgebärde wie mit einer Pistole (44:15). Er wiederholt damit zugleich Derwatts anfängliche Gebärde, als dieser in seinem Zorn, als Maler nur noch ein »toter Mann« zu sein, aus der Kreisbewegung seines Drehsessels heraus auf Ripley »schoß« (der nach der Drehung natürlich schon wieder woanders stand). Wie das Augenlicht des Selbstfälschers Derwatt bedroht wird, so das Jonathans, der die Fälschungen zu durchschauen beginnt. Das reicht von gelinden Andeutungen einer Selbstverstümmelung bis zur unverhohlenen Kastrationssymbolik, wenn er sich an Daniels Gondeln wiederholt über dem Auge stößt, ehe er sich endlich in der Pariser Métro seine kuriose Doppelverletzung über dem linken Auge und am Unterleib zuzieht. Komödiantisch vorbereitet wurde sie durch ein verkapptes phallisches Mißgeschick in dem Pariser Hotel: Ein unglaubliches elektrisches Funkengebilde springt (in Zeitlupe finger- oder krallengleich!) vom Fernsehgerät auf Jonathans hingestreckten Finger über. Zuletzt trifft es gar noch das »Auge« seines Volkswagens, dessen einer Scheinwerfer bei der finalen Kreiselbewegung zerstört wird. Bei all diesen Attacken auf das Augenlicht möchte ich noch daran erinnern, daß Hermes den Beinamen »Argustöter« trägt, seitdem er diesen hundertäugigen Riesen mit Flötentönen einschläfern und dann köpfen oder auch steinigen konnte. 42:33 Bis zuletzt freilich wird in der mythologischen Tiefenschicht dieses Films an dem gewissermaßen unendlichen Abstand zwischen HermesRipley und Jonathan festgehalten. Im jetzigen sexualsymbolischen Kon-
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text ist dies auch an dem ironischen Umschnitt abzulesen, der von den Unterweltgrößen Ripley und Minot, die sich beim Spiel mit ihren Billardstöcken über Jonathan streiten, auf ihn übergeht, der soeben auf die Spitze eines Malerpinsels weiße Farbe aufträgt und sie auf ein zu restaurierendes Gemälde abrollt (1:10:51). Und dennoch gibt es, bei allem Abstand, weitere Gesten einer freundschaftlichen Annäherung. Nach Ripleys Hilfestellung im Zug finden beide zu vertraulichen Anredeformen wie »Jon« und »Tom« und widerrufen spätestens mit ihrer Umarmung die häßlichen Umstände ihres Bekanntwerdens, den verweigerten Handschlag hier und die Denunziation bei Minot dort. Sinnbildlich für Ripleys Reue und Mitgefühl wird eine kleine subtile Parallelmontage mit Jonathan: Nach geleisteter Beihilfe im Inter-City steht Ripley vor seinem Billardtisch und schießt mit der Polaroid ein Profilphoto von sich. Wie für ein Erinnerungsbild trägt er hierbei noch einmal die Brille, mit der er sich im Zug tarnte und legt sich mit ihr für weitere Polaroids, die er gleich einer Schußsalve abfeuert und dann wie Blumen oder Erdklumpen über sich selbst fallen läßt, rücklings auf den Billardtisch nieder, zunehmend gegen seine Tränen ankämpfend. Eine Selbstaufbahrung, die durch den nachfolgenden Schnitt auf Jonathan rückwirkend den Charakter einer Mimesis oder freundschaftlichen Angleichung gewinnt. Denn gleich Ripley liegt Jonathan rücklings – wie in seiner Passionshaltung als Patient – auf einer Couch seufzend da und verbrennt zuletzt unter Tränen Minots Papiere und das fatale Pflaster.
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Sohn Daniel im Banne der Kin dgottheit »Lisa Kreuzer ... schwebt als Jonathans Frau wie ein etwas muffliger Engel der Aufrichtigkeit durchs Geschehen«, befand 1977 Peter Buchka.34 Die Schauspielerin selbst scheint Marianne als das eigentliche Opfer angesehen zu haben, als »Frau ohne Geschichte«.35 Nun wird Marianne erst während der Auktion ins Geschehen eingeführt, also betont als emanzipierte berufstätige Frau, während bei Patricia Highsmith Jonathan Trevannys Frau Simone beruflich nicht in Erscheinung tritt (sie ist Verkäuferin in einem Schuhgeschäft). Simone hegt zudem gegen den »Gauner« Ripley eine weit heftigere, religiös motivierte Abneigung, die gegen Ende zu in Hysterie umschlägt, während Marianne am Ende die Aussöhnung mit Jonathan sucht und sich darum sogar auf Ripleys Vorschlag einläßt, ein letztes Mal noch mitzuhelfen. Das freilich kommt ziemlich überraschend und in einem mütterlich besorgten Gestus daher, der eher auf die nachfolgende Pietà einstimmt. Die von Buchka konstatierte Aura um Marianne läßt sich jedenfalls dadurch nicht in Vergessenheit bringen, ihre so früh schon aufgesetzte Miene des Argwohns und dieser gewisse Tonfall in den Szenen, die sie Jonathan macht. Nicht einmal seine eigenen Gesten einer (Wieder-)Annäherung kommen dagegen an, so beredt sie auch in ihrem Lakonismus sind: Sein vergeblicher Anruf vor dem ersten Mord in Paris, sein Einwortbrief vor dem zweiten Mord (»Marianne!«) und die wundervolle Sequenz, als er sich ›When a girl fell in love ...‹ anhört und wenig später wie unter einem Erinnerungsimpuls aus seiner Werkstatt davonstürzt, nach Hause hin, wo er vergeblich nach Marianne ruft und daraufhin seinen zweiten Anfall erleidet (1:38:24–1:39:39). Erläutert Ripley ihr dann seinen Vorschlag, der Ambulanz mit dem Volkswagen nachzufahren, schwingt sich der erschöpfte Jonathan noch einmal zu einem ›Baby, you can drive my car ...‹ auf, beendet den Vers der Beatles aber mit einem kläglichen »Beep beep’m beep beep beep« und hat dabei die nachfolgende Refrainzeile ausgespart: »And maybe I’ll love you«. Daß beider Entfremdung selber schon eine »Geschichte« haben muß, wird zu Beginn des Films angedeutet. Ehe noch Ripley Jonathan aufsucht und das alarmierende Telegramm eintrifft, wird der Zuschauer Zeuge der morgendlichen Szene, wie Jonathan Daniel mit dem VW zum Kindergarten bringt. Marianne klappt zwar für den Kleinen den Sitz weg, blickt danach aber, als Jonathan ohne Gruß und Blick losgefahren ist, ihrerseits 34 In seinem Artikel ›Kurze Reise zum langen Sterben‹, in: ›Süddeutsche Zeitung‹ (München) vom 29.7.1977 35 In einem Schreiben vom 21.2.80 an Kathe Geist, a.a.O. S. 71 (»Marianne is the victim ... A woman without a story«)
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sekundenlang in die entgegengesetzte Richtung. Dann erst winkt sie dem beinahe schon entschwundenen Auto hinterher. Daniel ist es, mit dem zusammen Jonathan in der ersten Hamburger Einstellung auftritt. Wenn er ihn hier allein zum Kindergarten bringt, läßt er ihn an der Hand einige Treppen hoch über eine Rampe gehen, die dem erhöhten Treppenvorbau des New Yorker Gebäudes ähnelt, auf deren Stufen soeben Tom Ripley mit dem gefälschten Bild unterm Arm hinuntersprang. Beide Szenen werden aus annähernd gleicher Kameraposition gezeigt. Diese architektonische Verklammerung der Schauplätze New York und Hamburg mit ihren Verbindungslinien zwischen den drei Personen scheint mir der innere Oben: 4:02 Unten: 3:21 Grund für den von Kolditz bemängelten »eklatanten Anschlußfehler« zu sein, daß Jonathan anfangs »auf der Stirn ein Pflaster trägt, das er erst viel später in Paris erhalten wird«.36 Wenders nahm den »Fehler« offensichtlich zugunsten dieser Verklammerung in Kauf, die Daniel als Augapfel und Projektionsfigur seines Vaters sowie als Medium zwischen den beiden Männern einzuführen vermag. Es war schon anzumerken, daß die verkappte Kindgottheit Tom Ripley auf einmal wie herbeigelockt vor Daniel stand, als dieser mit dem zweckentfremdeten Maltesermodell spielte. Und daß Ripley sich für Jonathans erlesene Sammlung optischer und kinematographischer Apparaturen interessiert, mit denen auch Daniel spielen darf, »Danny Dan«, wie Ripley ihn auf der Stelle tauft. Wie Daniels Gondel wird auch sein anderes Spielzeug durchweg mit Jonathans tödlicher Erkrankung oder Ripleys Hadessphäre in Zusammenhang gebracht. Wenn Daniel in dem Zoetrop seinem Kameraden eine im Kreise dahinhopsende Schattenfigur vorführt, mag einem der öfter panisch davonlaufende Jonathan in den Sinn kommen, der denn auch einmal wirklich zwischen den Doppelsäulen der Elb36 Kolditz, a.a.O. S. 196
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villa wie durch die Schlitze einer Zoetrop-Trommel zu sehen ist (1:42:3746). Diese und weitere Vorahnungen oder Bedrohungen scheinen zugleich Daniel selbst zu gelten und bleiben durchweg so diffus wie der Umstand, daß der in Paris zu tötende Mafiakiller Igraham mit Vornamen Daniel heißt; oder wie von dem bei Dr. Gabriel auf dem Rücken Daliegenden umgeschnitten wird auf Daniel, der ebenfalls auf dem Rücken im Bett daliegt, die Arme hinter dem Kopf verschränkt – und neben sich den Lampenschirm mit dem Motiv einer Lokomotive, das schon von dem Bilderfälscher Ripley so begehrt wurde (28:55). Der Kleine wird außerdem in die Kreiselbewegung integriert, die sich systematisch um seinen Vater legt: Im rötlich-grün erleuchteten Spiegelkabinett auf dem Hamburger »Dom« nimmt er die Gehbewegung seiner Eltern exakt – dank des Schnitts – an deren Halbkreis-Position mit einer gleichsinnigen Drehung um sich selbst auf, geht danach geradeaus weiter, stößt sich an einer Scheibe und faßt sich wie Jonathan an den Kopf (1:05:19-22). Dem anderen technisch anspruchsvollen Spielzeug Daniels, seinem Gyroskop, liegt wie üblich und hier doch wie als Memento an Jonathans Mordstätte ein winziger Eiffelturm als Demonstrationsobjekt bei. Das Gyroskop selbst, das Jonathan schon im Inter-City-Abteil ausprobiert hatte, gehört als »Kreisel« mit zu den Dreh- und Umfassungszeichen dieses Films. Als ein Gerät, das sich allen Lageveränderungen widersetzt und so zur Orientierung und Navigation taugt, ist es auch seelisch als Apotropäum zu verstehen, als Abwehrsymbol gegen Jonathans Drehund Schwindelanfälle und als Beschwörung stabiler Identität. In wunderbarem Einklang mit dem Gyroskop ist die sich stabilisierende, hin- und herpendelnde Kamerabewegung, die verfolgt, wie Jonathan auf der Métro-Rolltreppe von La Défense wieder ans Tageslicht kommt. Diese ferngesteuerte »Louma«-Krankamera erfaßt den Hochlaufenden bald in extremer Draufsicht, verharrt zunächst über ihm, der stehenbleibt, und folgt dann schwankend dem nun zögerlich Weiterschreitenden, scheint dabei seine Schritte mal zu antizipieren und mal wieder zurücknehmen zu wollen. Schließlich fährt sie – ohne Schnitt – hinunter auf den exakt in der Winkelecke einer (markierten) quadratischen Bodenplatte Stehengebliebenen und zeigt halbnah, in Augenhöhe und zur Ruhe gekommen, wie er mit weiten Kreisbewegungen des Kopfes nach rechts und links und wieder zurück Plateau und Skyline von La Défense mustert. Und dann langsam davongeht. Norbert Grob hat in jener senkrechten Blickposition »ein Zitat von Rudolf Arnheims ›schreitendem Mann‹« erkannt.37 Wie so manches Zitat hat Wenders es
37 Grob, Norbert: ›Wenders‹ (Berlin 1991), S. 214
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zugleich weiterentwickelt. Arnheim führt diese »fast seesternförmige Figur« des Schreitenden als extremes Beispiel für das Wesen der Photographie an, bei
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der die räumliche Tiefe wegfällt und dafür etwas so Niegesehenes wie die Dynamik der Gehbewegung zu beobachten ist. Bei Wenders hingegen ist eine genuin filmische Leistung zu sehen, ein zeitliches Konzentrat, wenn diese Louma-Fahrt die Hektik und Panik der letzten Minuten nachzittern läßt und zugleich, mit dem gleichsam standfest gewordenen Rundblick Jonathans, jemandem eine Atempause und Neuorientierung zu verschaffen vermag.
Ein Wort noch zu Daniel. Auch der Kleine beherrscht schon gewisse rüde Überlebenstaktiken. Sein Umgang mit dem Spielkameraden belegt dies ebenso wie sein Täuschungsmanöver, sich vor Jonathan schlafend zu stellen. Wenn dieser daher Trost bei dem Stoffelefanten seines Sohnes sucht und nach seinem »Beep ... beep, beep« vor der Fahrt ans Meer wie einmal Daniel die Autoscheibe des Volkswagens anhaucht, so wäre dies nicht als Rückkehr zu einer angeblich kindlichen Unschuld zu interpretieren. Nüchterner betrachtet, sind dies Momente seiner tiefen Regression, zurück bis auf das magische Denken eines Kindes – in dem freilich auch von der Verschlagenheit des befreundeten abenteuerlustigen Götterkindes aufblitzt.
Wenderssche Inszenierungen von Mord und Tot schla g Die Ironie, ja Unerbittlichkeit in der Inszenierung von Jonathans Verführung und Untergang geht einem erst in der hermetischen Lesart des Films 38 Arnheim, Rudolf: ›Film als Kunst‹ (München 1974), S. 67ff.
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voll auf. Gegen den drohenden Zynismus gefeit ist diese inszenatorische Überlegenheit des Erzählers eigentlich nur durch das Mitgefühl mit dem todgeweihten Jonathan und auch mit dessen Mordopfern. Ausnahmsweise einmal ist hier Kathe Geist entschieden zu widersprechen, wenn sie behauptet: »Violence in ›American Friend‹ never transcends the level of a child’s deadly plaything«.39 Anstelle der üblichen Bagatellisierung von Gewalt zeigt dieser Film von Mal zu Mal auf, was es heißt, jemanden umzubringen. Beim ersten »simplen« Mordauftrag, den angeblichen Mafioso hinterrücks zu erschießen, wird der Thrill der Annäherung an das gefährliche Opfer, vor dem sich Jonathan in der Métro wiederholt in eine Sitzecke drückt, als bloße Sensation dadurch relativiert, daß der Zuschauer zugleich Zeuge der entwürdigenden Selbstüberwindung eines solchen Meuchelmörders wird. Der Mord in der Métrostation bereitet sich als Duell von Blicken vor, bei dem der lauernde Jonathan zunächst wie arglos hinwegschaut und auch Igraham den Blick senkt – und beim sofortigen Zurückschauen den direkten Blick des Überraschten auffängt, der erneut den Kopf senken muß (54:06-30). Fährt Igraham die Rolltreppe hinauf, zögert Jonathan vor dem Betreten der Treppe. Immer leiser ist es in der Station geworden und immer lauter wird dann das Geräusch der Rolltreppe, je näher er seinem Opfer kommt, das die Hände in den Manteltaschen hat. Jonathan will schießen, zögert erneut und feuert endlich einmal in den Rücken Igrahams. Der läßt zuerst seine Zeitung fallen, bricht zusammen und schlägt beim Versuch, sich aus der Bauchlage aufzurichten, noch mit der Linken gegen die Treppenverkleidung. In seinen abstoßenden Einzelheiten nur anzudeuten war der Mord im WC-Abteil des Zuges, das Ekelerregende beim Gebrauch dieser Drahtschlinge, die Ripley nach seinem »Knock-out«-Scherzchen nur aufschreiend zuziehen kann. Beim Säubern des Tatortes findet er einen blutverschmierten goldverkronten Zahn. Schließlich das einzigartige, so entsetzliche wie herzzerreißende Verrecken eines Killers, des vorwitzigen New Yorker Gangsters Angie (»Watch your step!«) im Souterrain von Ripleys Elbvilla. Aufs Rückgrat geknallt, nachdem Jonathan ihm mitten im Kletterschritt das Standbein wegriß, ist ihm die Brille auf den Hals hinweggerutscht und fahren die Finger seiner Linken zuckend an der Mauer hin. Ein Blutschwall bricht aus seinem Mund, als Jonathan seinen Kopf anhebt. Mit weit aufgerissenen blicklosen Augen stammelt er 1:46:53 39 Geist, a.a.O. S. 71
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nur noch: »Please! Please ... !« Verfolgt dann die Kamera von der Villa her, wie Ripley mit Hut und Jacke des Opfers in Richtung des Gangsterautos zusammen mit Jonathan davonläuft, ist weiterhin in unmittelbarer Nähe das Gewimmer40 des Sterbenden zu hören, als dürfte er so nicht allein gelassen werden! Seinem Boß ergeht es nicht viel besser, beim Sturz die Treppe hinunter bricht er sich das Genick. Jämmerlich zu Tode gestürzt, liegt denn der eine wie der andere zuletzt ohne Hut auf dem Rücken da, in einer wie rituellen tragikomischen Gleichbehandlung.
Seelenarc hitektu r als Stadt-Körper-Lan dscha ft Architektur, Stadt- und Wohnräume in diesem Film korrespondieren durch Raumaufbau und -ausschnitte ständig mit Jonathans körperlichseelischer Verfassung. Die im Film »subkutan« eingesetzten Tunnelröhren werden dabei allmählich zum Raumsymbol für sein anämisches Blut-Kreislauf-System: Hamburgs Stadtbild reduziert sich für Jonathan weithin auf den Elbstrom, auf unterirdische Verbindungswege sowie auf die unmittelbare Umgebung von Haus und Werkstatt. Da ist sein wiederholter Abstieg über ein gestaffeltes Rolltreppensystem in den grünlich beleuchteten (St.Pauli-)Elbtunnel, aus dem er sofort bei seinem Arzt auftaucht und in dem das Keuchen des Laufenden einem heftigen Herzschlagen gleich verstärkt wird. Mit dem Tunnel assoziiert ist die Untergrund-Bahn, in der Minot sein tückisches Angebot unterbreitet, das Jonathan weiter zur Pariser Métro führen soll. Wie er ohne Übergang auch zu den anderen Hamburger Schauplätzen hin versetzt wird, zu dem Geschäft von Gantner oder zum Rummelplatz »Dom«, so findet er sich ohne Verbindungswege in Paris und München ein, tritt aus dem Hausflur und erscheint unmittelbar danach im Pariser Fluhafengebäude, in dieser grünlichblauen Plexiglas-Röhre, die ihn prompt an seine krankhafte Müdigkeit denken läßt. Zu dem beklemmenden und unheilvollen Tunnelsystem gehört neben der Wassergraben-Substruktion von Ripleys Elbvilla auch der lange Inter-City, dessen Gänge Jonathan panisch durchläuft und dessen (Blut-)Röhrencharakter noch eine der Helikopter-Aufnahmen sinnfällig macht. Wie wenig Bewegungsfreiheit läßt ihm doch der elliptische Schnittrhythmus, bis er auf seinen Wegen durch Paris endlich die Métrostation Bir-Hakeim betritt! Den dunkelgrünen Citroën von Minot, in den er so40 Wohl ein Kriegsgesang der Navajo, so Wenders im Audiokommentar der französischen DVD aus dem Jahre 2003 (bei 1:46:24 ). Der Schauspieler, Satya de la Manitou, hat indianische Vorfahren.
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gleich am Flughafen verfrachtet wurde, sieht der Zuschauer ohne weiteren Anfahrtsweg ins »American Hospital« einbiegen. Wird Jonathan nach der Untersuchung von Minots Faktotum Rudolf zum Hotel gefahren, gibt die Kamera durchs Autofenster nur noch das letzte Wegstück unmittelbar vor dem Hotelkomplex am anderen Seine-Ufer zu erkennen. Baukräne ragen davor empor, während in der Flußmitte die Insel mit der kleinen Kopie der Freiheitsstatue auszumachen ist. Und schon fährt Jonathan im grünlichen Hotellift hoch und betritt nach kurzem Blickduell mit einer jungen Asiatin den roten Etagengang. Im Hotelzimmer wird er auf der Stelle von dem funkensprühenden Fernsehgerät malträtiert und sodann von einem knarrenden Geräusch weiter zu dem japanisch verkleideten Fenster gezogen. Er schiebt die Flügel auseinander. Aus einer gewissen Untersicht gezeigt, bleibt er sekundenlang mit kreuzgleich ausgebreiteten Armen dort stehen und tritt zur Seite: Die Kamera aber schwenkt nach seinem Weggang leicht hinunter und zeigt die im blauen Dunst daliegende Stadtlandschaft mit den im Hintergrund dräuenden Hochhaustürmen seiner Mordstätte La Défense. Aus einem anderen Fenster, das rasch wie eine Wischblende aufgezogen wurde, erblickt man neben den Baukränen noch 42:52 die Spitze des Eiffelturms. Kaum wurde der noch im Mantel Eingeschlafene durch einen knarrenden roten Baukran geweckt, meldet sich Minot am Telefon. Der Vorbefund sei da, Jonathan möge doch in das Gebäude links von der Brücke, aus dem heraus er ihm zuwinke, herüberkommen. Die Kamera schwenkt hinweg vom roten Kran bis zu dem beschriebenen Gebäude, und noch ein Stückchen weiter nach links, bis erneut die Freiheitsstatue mit ins Bild kommt. Das Gebäude selbst, aus dessen höchstem Stockwerk tatsächlich jemand mit einem weißen Schal winkt, weist an seiner linken Seite und Oberkante eine helle Leiste auf und gleicht hierin, wie retuschiert, Ripleys halbfertigem Rahmen oder auch einer der Rahmenhälften, die Jonathan balancierte! Beim Hinunterfahren im Fahrstuhl zählt Jonathan ungeduldig die grünen Stockwerkanzeigen mit, ein seelisch-emotionaler Countdown, von dem her ohne weiteres41
41 »Der französische Künstler Pierre Huyghe ... bat den Schauspieler Bruno Ganz, die Szene des fatalen Telefonanrufs ... nachzuspielen. Und füllt 1998 die von Wenders absichtlich gelassene Lücke, in der Jonathan ... zum Gangster Duplat läuft, in seiner dreizehnminütigen Installation ›L’Ellipse‹ ... Er verdeutlicht einen stilistischen Trick des Kinos, die Weglassung, wenn er das
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auf das Dossier mit dem Befund geschnitten wird, das er – in einer Nahaufnahme gezeigt – in Händen hält und durchblättert. Kommt endlich das Dossier aus dem Blickfeld der Kamera, wird zum dritten Mal die bis dahin sorgfältig dahinter verdeckt gehaltene Freiheitsstatue Bartholdis sichtbar. Sie befindet sich auf jener »Schwaneninsel« (»Ile des Cygnes«), auf der einst die in der Bartholomäusnacht Hingeschlachteten beigesetzt wurden.
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So karg diese Raumausschnitte für die Stadt Paris auch bemessen sind, so bleiben sie doch durch Akzente wie das »American Hospital« und die Freiheitsstatue permanent auf New York bezogen. Und auf Hamburg, denn wenn Jonathan anschließend bei der Métrostation Bir-Hakeim an Rudolfs Seite eine Straßenüberführung hochläuft und gleich wieder hinunter, so korrespondiert dies architektonisch erneut mit dem Vorbau von Derwatts Wohnhaus in New York sowie mit der Rampe, über die hinweg Daniel geführt wurde. Im Mittelpunkt all dieser Transfers aber steht die Freiheitsstatue, deren große New Yorker Schwester in der Schlußeinstellung des Films ins Bild kommt, rechts von dem am »Elevated Highway« in südlicher Richtung davonschreitenden Derwatt. Von einer »Freiheit« der Handelnden allerdings kann im ›Amerikanischen Freund‹, bei diesem Ausmaß an Täuschung, Selbsttäuschung und Euphorie, kaum mehr die Rede sein. Ein entsprechend ironischer Blick fällt auf die letzte Lektüre Igrahams (›Libération‹), und auch bei dem wiLoch der Ellipse mit der übergangenen Aktion füllt.« Schwerfel, Heinz Peter: ›Kino und Kunst/ Eine Liebesgeschichte‹ (Köln 2003), S. 39f.
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derstrebenden Jonathan, bei seinem selbstironischen Griff zum Telefon und seiner wiederholten Absage an Minots Ansinnen, möchte man eigentlich nicht mehr die Frage nach einer Freiheit der Wahl stellen. Zu deutlich wurde nachgerade die Allgegenwart einer höheren Gewalt, die mit seinen Schwächen und Motiven ein Spiel treiben konnte, das auch für Jonathans Ende weit über den Horizont der Romanvorlage hinausgeht. Wird er bei Patricia Highsmith während eines Schußwechsels mit den Gangstern tödlich verwundet, zeigt ihn der Film als Opfer einer tragikomisch »sich selbst erfüllenden Prophezeiung«. Denn die Fälschung seiner Blutwerte bewahrheitet sich faktisch dadurch, daß sie ihn überzeugt und als überforderten Täter dann schrittweise in die letale Erschöpfung treibt. Mit einem gewissen Bedauern wird dies zuletzt auch von höherer metaphysischer Warte aus kommentiert, durch Tom Ripley, wenn er die Verse aus Dylans ›I Pity the Poor Immigrant‹ vorträgt und so den Song mit dem gerahmten Stich ›Des Auswanderers Sehnsucht‹ verbindet. Dieses sein Auftragsbild wiederum verweist indirekt auf die große New Yorker Ikone der Freiheit, die »Liberty« oder »Mother of Exiles« (Emma Lazarus),42 befindet sich doch in ihrem Sockel seit 1972 das »American Museum of Immigration«. Über alles erhaben erscheinen einzig die Twin Towers des World Trade Center, auf die alle vier New Yorker Szenen des Films ausgerichtet sind. Als seelenarchitektonisches Gegenstück dazu kommt einmal das so exponierte, da vom Abriß bedrohte Haus Jonathans ins Bild (29:55): Auf den nächtlich-trostlosen Anblick des schon weithin isoliert dastehenden Gebäudes wird in dem Moment umgeschnitten, als Jonathan sich Daniels Erinnerungsreste aus traurig vollendeter Zukunft her vorzustellen sucht: »Wir wohnten in einem Haus am Hafen. Es wurde abgerissen. Jetzt lebe ich schon lange mit meiner Mutter allein.«
42 In ihrem Sonett ›The New Colossus‹ (1883), das auch auf einer Bronzetafel am Sockel der Statue zu lesen ist.
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Filmgeschicht licher Anhang Zur Problematik des Zitierens im Film – »Oberfläche« und Subtext im »amerikanischen« Film – Zitatpräsenz von Rudolf Thome, Nicholas Ray und Alfred Hitchcock
Wim Wenders hat den ›Amerikanischen Freund‹ Henri Langlois gewidmet, dem Begründer und Archivar der Cinémathèque Française, die ihm als Graphikstudenten 1966/67 Refugium und Hohe Schule des Sehens in einem war. Der Zuschauer des Films durfte sich um so mehr auf einen entsprechenden Reichtum an Filmzitaten gefaßt machen, als Wenders ein filmnahes Milieu um seine Figuren einrichtete. Dazu gehört schon die Todesanzeige für Langlois, die auf der Titelseite der von Igraham in der Métro durchblätterten ›Libération‹ zu lesen ist. Auch besetzte Wenders etliche Rollen, insbesondere die der Gangster, mit Filmregisseuren und füllte den Speisewagen des Inter-City mit Filmjournalisten auf.43 Um sich der Romanfigur Jonathan besser annähern zu können, habe Wenders die eigene Arbeit als Regisseur mit dessen Beruf verglichen, »rahme« er doch – beim Kadrieren der Einstellungen – ebenfalls Bilder.44 Und habe deshalb den ehemaligen Restaurateur Jonathan auch mit der Sammlung alter photographischer und kinematographischer Apparaturen ausgestattet. Nun hat das Zitieren anderer Filme im Spielfilm grundsätzlich das Handicap – und zugleich die gestalterische Chance – , daß hier weder vorbereitende »Anführungszeichen« zur Verfügung stehen, noch ein vom »Haupttext« abgesetzter Raum, wie ihn die Literatur zur Verifizierung ihrer Zitate in Gestalt von Fußnoten und Anmerkungen kennt. Das zu Zitierende, sei es als Hommage, Parodie oder zur atmosphärischen Anreicherung gedacht, muß vielmehr in ein und dieselbe »Textschicht«, die Filmhandlung selbst, integriert werden. Dabei soll das Zitat in der Regel weder plakativ ausfallen noch zu einem dokumentarischen Fremdkörper werden, andererseits aber den gewissen Wiedererkennungswert behalten, und sei es nur für ein Insiderwissen. Der jetzige Film bringt freilich einige günstige Voraussetzungen fürs Zitieren mit. Jene filmnahen Objekte nämlich und ebenso die mitspielenden Regisseure erzeugen zweifellos eine besondere filmgeschichtliche Aura und können selber gar zu »Anführungszeichen« werden, das heißt schon durch ihre bloße (zweideutige) Existenz die Erwartung eines ent43 In einem »für die Dreharbeiten gemieteten Zug«, so Jeanine Meerapfel in ihrem Bericht (vgl. Fußnote Nr. 11). 44 Wenders: ›Die Logik der Dinge‹, a.a.O. S. 121
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sprechenden Hintergrundzitates erwecken. Als Sache, die sich selbst schon als Zitat ausweist, erscheint hier die Lokomotive auf Daniels Lampenschirm, die nach Buster Keatons Film den Namen »General« trägt. Sie gehört noch halbwegs mit zu jenem kinematographischen Fundus und wird, wie zu sehen war, dank der Nahaufnahme ebenso wie das Zoetrop und Stereoskop dramaturgisch eingesetzt, um den Bann einer noch unbestimmten Bedrohung um Jonathan zu legen. Dabei bleibt, was wohl zuerst Kathe Geist notierte,45 die Lokomotive wie jene alten Apparaturen zugleich mit den relativ unschuldigen Anfängen des Kinos verbunden und kontrastiert so hart mit der im gegenwärtigen Film dreist und brutal auftretenden Pornofilm-Mafia der 70er Jahre. Einige der mitspielenden Regisseure hat Wenders mit Zitaten aus ihren Filmen einbezogen und gar ihre eigenen Präferenzen und Arbeitstechniken adäquat herbeizitiert. In Erinnerung an Nicholas Rays ›Johnny Guitar‹ (1954) wird hier dieses so unglaubliche Rot aufgeboten und erhält Ray selbst, »der Poet der Nacht, die sich niedersenkt« (Truffaut),46 die über den Sonnenuntergang hinausführende letzte Einstellung im ›Amerikanischen Freund‹. Aus Sam Fullers Filmen findet sich die für dessen Lieblingsgenre des Film Noir typische »oblique« Kameraeinstellung ein, und zwar für ihn selbst, als er von Ripley die Treppe hinuntergestürzt wird.47 Dennis Hopper, der in Rays Film ›Rebel Without a Cause‹ (1955) als einziger der mobbenden Gegenspieler von James Dean (Jim Stark) Skrupel zeigt und ihm anfangs unter anderem auch über die Kleidung (in dieser rötlichbraunen Wildlederjacke) angenähert wird, spielt in Wenders’ Film bei seinem Erwachen offensichtlich auch die Lageposition des Oben: N. Ray, Rebel Without a Cause 01:21 Unten: 04:12 45 Geist, a.a.O. S. 73 46 Truffaut, François: ›Die Filme meines Lebens‹ (Frankfurt/M. 1997), S. 200 47 Hinweis von Wenders in ›Positif‹, a.a.O. S. 22. – Im Audiokommentar der französischen DVD berichtet er noch (bei 1:48:20), daß Sam Fuller sich mit einer um den Leib geschnallten Kamera beim Treppensturz selber gefilmt habe (und man auf diese Weise für diese Szene, von der nur noch der Beginn zu sehen ist, gleichsam nebenbei die Steadycam erfunden habe).
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betrunkenen Jim nach. Dieser legt sich ja in der ersten Einstellung des Films zu dem rotbemützten musizierenden Stoffäffchen mitten auf die Straße hin, zuerst noch »vertikal« zur Kamera, um sich danach in dieselbe Position wie das von ihm hingebettete Äffchen, dessen Musik inzwischen erstorben war, zum Schlafen hinzukrümmen. Die Hände klemmt er zwischen die Oberschenkel, um zuletzt noch mit der einen Hand das Äffchen behutsam mit Papier zuzudecken (der erwachende Ripley hat statt dessen die Schlaufe seines Recorders ums Handgelenk geschlungen). Mit dieser Eröffnungsszene bereitete Nicholas Ray schon die Schlußsequenz seines Films vor, in der Jim verzweifelt um den auf dem Boden daliegenden erschossenen »Plato« kriecht, seinen ständig »frierenden« kleinen Freund, den er noch kurz zuvor fürsorglich zugedeckt hatte und dem er jetzt nur noch die geschenkte rote Windjacke wie einen Leichensack zuziehen kann. Das wäre demnach eine visuell relativ eindeutige Wenderssche Reminiszenz, die jedoch in ihrem angereicherten Gehalt hochkomplex geworden ist, da sie zusammen mit den anderen, auf S. 220 erwähnten Konnotationen für diese Lageposition (Marilyn Monroe sowie Paige-Penelope und Hermes als Kleinkind) primär die sexuelle Mehrdeutigkeit von Ripley-Hermes zum Ausdruck bringt. Zudem erinnert sie daran, daß schon Nicholas Ray in seinem Film die Geschichte einer freundschaftlichen Begleitung in den Tod erzählte; daß also Tom Ripley nicht nur an Hermes’, sondern auch an Jim Starks Rolle des großen Helfers anknüpft.48 Auch gestandene Schauspieler werden von Wenders immer wieder ähnlich mit Momenten aus ihrer Rollengeschichte zitiert. Wohl am verstecktesten unter denen, die gleichzeitig als Filmregisseure hervortraten, bleibt in dieser Hinsicht Rudolf Schündler als Hamburger Kunsthändler Gantner, der einen mit seinem Gewisper und Geraune an irgendwelche Gestalten aus Vorkriegskrimis erinnern mag, an die Atmosphäre einer Verschwörung, die sich denn auch jetzt durch sein Gebaren um Jonathan verbreitet. Wirklich trat Schündler 1933 in Fritz Langs ›Das Testament des Dr. Mabuse‹ in der Rolle des hysterischen Meuchelmörders Hardy auf, der den Fahrer des DKW im Getöse eines provozierten Hupkonzerts erschießt. Daß die als Passagiere im Speisewagen mitspielenden Filmjournalisten später so gut wie nichts von dem kryptischen Subtext dieses Films mitbekamen, ist insofern amüsant, als es an die entsprechenden Experten in Filmen von Hitchcock denken läßt, an die ahnungslosen Hobbykrimi48 Dennis Hoppers Imitatio der Lageposition und Rolle von James Dean hat noch einen schauspieltechnischen Hintergrund. Im Audiokommentar der DVD erwähnt Wenders im Gespräch mit Hopper, wie er einst beim Wiederbetrachten des ›Rebel‹ nur noch Augen dafür hatte, mit welcher Hingabe sich Hopper in seiner Nebenrolle auf das Spiel von James Dean einließ (44:42–46:22).
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nalisten in ›Shadow of a Doubt‹ (1943) oder an die beiden im Zug mitreisenden verständnislosen Kricket-Spezialisten in ›The Lady Vanishes‹49 (1938). Es ist ihnen jedoch nicht zum Vorwurf zu machen, da Wenders’ Filme generell so kümmerlich rezipiert wurden. Mal für Mal erhielten sie höchste nationale und internationale Auszeichnungen, die aber weithin nur ihre »Oberfläche« betrafen – »Oberfläche« hier strukturell im Unterschied zur Tiefentektonik dieser Filme, und nicht etwa im Sinne konventioneller Oberflächlichkeit. Wie schon Wenders’ Erfolge bei den Zuschauern und Jurys belegen, ist er durchaus auch ein Meister dieser »Oberfläche«. Dafür bürgt schon sein ausgesprochen phänomenologisches Interesse, die dargestellten Dinge, Personen und Verhältnisse in ihrer passageren physischen Existenz zu bewahren (vgl. S. 183-185). Für den jetzigen Film wird diese Wertschätzung an der kleinen Hommage für Rudolf Thomes ›Rote Sonne‹ (1969) ablesbar, einen Film, von dem Wenders in seiner Besprechung aus dem Jahre 1970 anerkennend bemerkt, daß er einer der wenigen europäischen Filme sei, die »von den amerikanischen Filmen eine Haltung übernommen« hätten, und zwar deren »Einstellung«, »ohne Aufdringlichkeit 90 Minuten lang nichts als ihre Oberfläche auszubreiten«.50 Singt nämlich jetzt Jonathan zum Antritt seiner Todesfahrt ans Meer »Baby, you can drive my car ...«, so ist dies just die Liedzeile der Beatles, die Wenders damals zum Untertitel seiner Besprechung wählte. Und wie Jonathan an der Nordsee im VW, so findet dort das Paar am Saum des Starnberger Sees neben einem VW den Tod, der zuletzt wie zum Zeichen ihrer Entseelung mit flügelartig geöffneten Türen dasteht. »Die Sonne geht unter. Oder auf«, beschrieb Wenders damals das »Schlußbild«. Hat nicht ›Der amerikanische Freund‹ einen vergleichbaren Doppelschluß mit dem Sonnenaufgang an der Nordsee und ihrem Untergang am Hudson? Als Wenders Thomes Film besprach, hatte er längst schon begonnen, mit ›Same Player Shoots Again‹ und ›Alabama‹, für seine eigenen Filme eine zusätzliche hermetische Erzählversion einzurichten, die vor allem seine religiöse und mythologische Thematik abschirmen sollte. Sein Lob der »Oberfläche«, zumindest der »amerikanischen«, wäre schon deshalb zu relativieren. Auch fügte er seiner Bemerkung von 1977 zum ›Amerikanischen Freund‹, daß der ganze Film ein Blick zurück auf das amerikanische Kino sei, sogleich hinzu, daß es ein Rückblick »ohne Nostal-
49 Nach eigenem Bekenntnis hat Wenders für die Zugszenen seines Films viel aus Hitchcocks ›The Lady Vanishes‹ »gestohlen«. In: Wenders, Wim: ›Einstellungen‹ (Buch zur Werkausgabe, Frankfurt/M. 1993), S. 139. 50 In ›Filmkritik‹ (München) vom Januar 1970, S. 9; Wiederabdruck in: ›Emotion Pictures‹, a.a.O. S. 54f.
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gie« sei.51 Denn für ihn selbst gab es kein Zurück mehr zu dieser Unschuld des Erzählens, bei aller Liebe zu John Ford, Nicholas Ray oder auch zu den amerikanischen Filmen von Alfred Hitchcock. Die »Oberfläche« dieser amerikanischen Avantgarde hat es allerdings mitunter in sich. Wie Wenders im ›Stand der Dinge‹ durch Bildzitate auf eine versteckte Leitmotivik in John Fords ›The Searchers‹ aufmerksam macht (die Klaue des »Schwarzen Falken« Scar), so zitiert er nun im ›Amerikanischen Freund‹ neben Nicholas Rays ›Rebel Without a Cause‹ und ›Johnny Guitar‹ ein andermal Filme von Hitchcock, auf die er als Muster der Beklemmung und unbestimmbarer Bedrohung seit seinen ersten Spielfilmen rekurriert: Die im letzten rätselhaften Vogelattacken in Hitchcocks ›Die Vögel‹ (1963) erstehen hier also in neuer Gestalt wieder, indem sie den dramaturgischen Rahmen für die Szene auf dem Balkon bilden, wo Jonathan den ersten Anfall seiner heimtückische Krankheit erleidet. Attackieren die Vögel bei Hitchcock durchweg von hinten oder frontal wie bei dem
Alfred Hitchcock Die Vögel 1:22:29
Soloangriff auf Melanie, so jagen die angriffslustigen Möwen hier in einer durch den Schnitt sukzessive montierten Kreisbewegung heran; und folgen so dem zentralen Gestaltgesetz dieses Films, das sich gleichermaßen dem kreisförmigen Annäherungsritual von Ripley-Hermes wie der Raumsymbolik von Jonathans Blutkreislauf widmet. Hitchcock setzt zur Evozierung einer überlegenen Angriffsstrategie der Vögel die atemberaubende Totale ein, die aus der Vogelperspektive 51 In: ›Positif‹, a.a.O. S. 22 (»Tout le film pour moi est un peu un regard en arrière, mais sans nostalgie, sur le cinéma américain. Je ne veux pas reconstituer quelque chose «).
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die brennende Ortschaft Bodega Bay zeigt. Eine Einstellung, an die eine Flugaufnahme unmittelbar nach dem zweiten Zusammenbruch Jonathans appelliert, wenn nämlich eine Totale den Häuserblock mit seiner Umgebung in einem knappen Viertelschwenk erfaßt, wobei weiter drunten etliche kreisende Möwen, einige wie bei Hitchcock möwenweiße Autos und ein soeben heranfahrender feuerroter Lastwagen im Umkreis zu erkennen sind.
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Zu der Versteigerung des gefälschten Derwatt-Bildes, von der bei Patricia Highsmith noch keine Rede ist, wurde Wenders offenbar durch die Auktion in ›North by Northwest‹/›Der unsichtbare Dritte‹ (1959) angeregt. Die dort innerhalb der Dynamik der Versteigerung im Kleinen zu beobachtende Gruppendynamik des Agententrios Leonard, Eve Kendall und Vandamme, der auf zweideutige Art seine Hand um den Hals von Eve legt, wird hier in einer Dreiergruppe nachgespielt, die sich aus Allan Winter, dem freundschaftlich warnenden Jonathan und dem lauschenden Ripley zusammensetzt. Auch Jonathans anschließende schwere Beleidigung Ripleys, die sich bei Patricia Highsmith während einer Geburtstagsparty zuträgt, weist auf diese Szene zurück, in der Eve vom hinzugetretenen Thornhill (Cary Grant) anzüglich mit der zu ersteigernden Skulptur verglichen wird. Jonathan wiederum wird für seine Beleidigung dann von Minot, der das Etikett von seiner Jacke löst, wie ein frisch ersteigertes Objekt behandelt. Zu seiner Lieblingseinstellung des ›Amerikanischen Freundes‹ erklärte Wim Wenders die eine, die zeigt, wie Jonathan auf der Suche nach Marianne die Straße hinunter zum Hafen davonstürzt (1:38:24-46), wobei wie in ›Marnie‹ (1964) im Hintergrund der Hafen und zu beiden Seiten
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DER AMERIKANISCHE FREUND
der Straße Häuser zu sehen seien.52 Jonathans Laden befindet sich sogar perspektivisch an gleicher Position wie das in einer Halbtotalen gezeigte Haus von Marnies Mutter in Baltimore, auch fehlen hierbei nicht die auf der Straße spielenden Kinder. Marnie selbst freilich ist als ein »ewiges Kind« und als weithin geschlechtsindifferente Kleptomanin keine mit Jonathan, sondern mit der Hermesfigur Ripley verschwisterte Gestalt.53
*** Schon bei diesen älteren »amerikanischen« Filmen ist also die Neigung zur Einrichtung eines Subtextes unter der »Oberfläche« stark ausgeprägt. Sogar das Selbstzitat findet sich hier und da, so in dem von Wenders angesprochenen Nicholas-Ray-Film ›Rebel Without a Cause‹ (1955). Wenn der kleine »Plato« hier auf der Polizeiwache just in dem Augenblick mit seinem bürgerlichen Namen John Crawford aufgerufen wird, als die ganz in Rot gekleidete Judy vorbeikommt, sollte es beim kundigen Betrachter eigentlich »klingeln«, ist es doch Joan Crawford, die in dem ein Jahr zuvor erschienenen ›Johnny Guitar‹ sich als Vienna wie jetzt Judy mit einer roten Schleife schmückt und überhaupt die »True-Colour«-Farbe Rot wie niemand sonst dort für sich beanspruchen darf. François Truffaut jedenfalls machte 1955 als Filmkritiker sogleich auf die innere Einheit der Filme von Nicholas Ray und auf ein stilistisch aufschlußreiches Detail wie dieses aufmerksam, daß sich der Mob in Viennas Saloon V-förmig anordnet.54 Wenders nun geht in seiner Würdigung der Filme von Nicholas Ray und anderer Regisseure einen Schritt weiter, indem er in seinen eigenen Filmen an zentralen Stellen daraus zitiert. Für Bruno Winters Heimkehrszene im ›Lauf der Zeit‹ läßt er sich detailliert auf die Sequenz in Rays ›The Lusty Men‹ ein. Und im ›Ende der Gewalt‹ macht er das Grif52 Wenders in ›Positif‹, a.a.O. S. 22 53 Hitchcock hat sich offenbar selber einmal an einer Hermes-Travestie versucht, in ›Der zerrissene Vorhang‹ (1966), wo er den Götterboten in der Rolle des Spions und vermeintlichen Überläufers Michael Armstrong (Paul Newman) einsetzt, der – durch geistigen Trickdiebstahl, versteht sich – das Projekt einer »Gamma-«Abwehrrakete zum Abschluß bringen will. Dazu muß er mit einer Organisation namens PI Kontakt aufnehmen und seinen argusäugigen Stasi-Bewacher Gromek liquidieren (den Kopf schlägt er ihm nicht ab, sondern steckt ihn in einen Gasofen, so daß die Hände des Opfers unmittelbar neben Armstrongs Kopf bald einem Flügelpaar gleich zu flattern beginnen). 54 Truffaut, François: ›Johnny Guitar‹, in: ›Die Filme meines Lebens‹, a.a.O. S. 199. Die Viennas Namensinitial entsprechende V-Form erscheint als mehrfach abgewandeltes Leitmotiv, auf den Kopf gestellt etwa in Details der (Innen-)Architektur und in Gestalt all dieser sich wie gabelnden Halsschleifen, die schon auf den Strick am Hals der Heldin hindeuten.
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FILMGESCHICHTLICHER ANHANG
fith Observatorium, einst Duellplatz von Jim Stark und Ort des kosmischen Grauens für »Plato« (der dort auch sterben soll), zur Arbeitsstelle von »Ray« Bering sowie zu dem auch metaphysischen Schauplatz seiner Hinrichtung. Im ›Amerikanischen Freund‹ ging Wenders zum ersten Mal auf Rays dornenreiche Filmbiographie ein. Wenn er für ihn die Rolle dieses Malers Derwatt erfand, der eine künstlerische Zwischenexistenz führen muß, dann gewiß in Erinnerung daran, daß der als ein »Roter« Diffamierte von Hollywood schon um 1956 kaltgestellt wurde. In Derwatts Atelier kommen nicht von ungefähr gleich zu Beginn zwei Bildnisse von Karl Marx kurz ins Bild (01:04). Drei Jahre später, in ›Lightning Over Water‹ (1980), übernimmt Wim Wenders für Nicholas Ray selber die schmerzliche Rolle des Psychopompos, des Seelengeleiters Hermes. Er führt sie als Selbstzitat ein, indem er die Eröffnungsszene seines ›Amerikanischen Freundes‹, Ripleys Anfahrt zu Derwatt, für den eigenen Auftritt in ›Nick’s Film‹ nachstellt. Jetzt freilich ohne die hermetisch-rituelle Kreisbewegung um die eigene Achse und zudem bei diskret versetzter Position der Kamera. Eine Rücksichtnahme, die Wenders für diese einzigartige Dokumentation, über deren Status und Inszenierung er wiederholt mit Ray diskutiert, bis zuletzt durchhält. In einer so freundschaftlichen wie filmpoetischen Orientierungshilfe für die sich niedersenkende Nacht.
Nick’s Film – Lightning Over Water
00:49
00:43 (VHS)
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DAS MILLION DOLLAR HOTEL
DAS MILLION DOLLAR HOTEL (2000) (Drehzeit: Januar 1999 – Januar 2000)
»Das ›Million Dollar Hotel‹ steht in einem heruntergekommenen Viertel von Los Angeles und beherbergt das gesamte Spektrum gescheiterter menschlicher Existenzen. Eines Morgens steigt der junge Tom Tom aufs Dach, nimmt Anlauf und springt in den Tod. Dieses Ereignis nimmt Tom Tom zum Anlaß, seine Geschichte zu erzählen, die damit beginnt, daß er Eloise kennenlernt und sich in sie verliebt. Die junge Frau irrt barfuß durch die Stadt, verschlingt stapelweise Bücher und behauptet von sich, daß sie gar nicht existiert. Dann tritt Agent Skinner vom FBI in die Lobby des Hotels, weil kurz zuvor der Junkie Izzy Goldkiss vom Dach in den Tod stürzte – oder gestürzt wurde. Zumindest Izzys reicher Vater will nichts von einem Selbstmord wissen und drängt Skinner, einen Mordschuldigen zu finden. Doch die Hotelbewohner halten zusammen, vor allem der Späthippie Dixie, der behauptet, als fünfter Beatle für die Erfolge der »Fab Four« verantwortlich zu sein, organisiert den Widerstand. Während der Indianer Geronimo in Untersuchungshaft genommen wird, versuchen Dixie und Co. die Teerbilder Izzys an einen Kunsthändler zu verkaufen. Irritierende Wahrheiten kommen ans Licht, bis sich der Kreis schließt und Tom Tom eines Morgens aufs Dach des Hotels steigt ... « Bernhard Kempen http://www.epilog.de/Film/Mi_Mo/Million_Dollar_Hotel_USA_D_2000.htm
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SATIRISCHE ÜBERZEICHNUNGEN. KINDEREIEN STATT MILIEUSTUDIUM?
Satirische Überzeichnun gen. Kin dereien statt Milieustudium? Die Vorgeschichte dieser Filmanalyse habe ich schon in meiner »Vorbemerkung« dargestellt, im Zusammenhang nämlich mit dem Versagen breiter Kreise der deutschen Filmkritik vor den letzten Spielfilmen von Wim Wenders. Wenders selbst erklärte im Gespräch mit Leonetta Bentivoglio von ›La Repubblica‹ (März 2002): »›Million Dollar Hotel‹ will probably remain one of my most misunderstood films, and I am still trying to find out why.«1 Nun zeichnete sich mir zwar schon ziemlich bald die verdeckt erzählte Hermes-Geschichte ab, doch war ich nach dem ersten Anschauen des Films auf unbestimmte Weise enttäuscht oder vielmehr desorientiert. Besonders irritierend war anfänglich die für Wenders’ Filme ungewöhnlich massive Karikierung. Mit satirischem Blick betrachtete er freilich schon etwa die Gestalt des Regisseurs Friedrich Munro in ›Lisbon Story‹ (1994) oder Paige-Penelope im ›Ende der Gewalt‹ (1997), doch nicht annähernd so ironisch und spöttisch wie etliche Charaktere hier. Außer Hotelbewohnern wie dem feixend die Aufmerksamkeit des Zuschauers dirigierenden »Geronimo« und der unsäglichen Vivien werden auch die von außen Dazustoßenden wie Detective Skinner und die Repräsentanten des Fernsehens und Kunsthandels karikiert und beginnen in ihrer individuellen Konturierung zu verschwimmen. Die Namen der Figuren sind mit »i«-Lautungen gespickt, als hätten wir es mit einer einzigen Kinderbande oder mit Schneewittchen und sieben oder mehr Zwergen zu tun (Eloise und Izzy, Stix und Dixie, Vivien, Jessica, Shorty und Geronimo, ebenso die Besucher Skinner, Charley, Scopey und Gene Swift). Zudem findet sich nicht nur in der deutschen Fassung ein bestimmter Typus von Wortspielen sowohl bei Dixie (»Liverpool, Interpol und Paul«) und im entzückten Ausruf Toms (»Mann o Mann ... Money«) als auch in Dialogen etwa zwischen Tom und Skinner (»Israel Goldkiss« – »Iss nich«, d.h. nicht mehr »Izzys« Zimmer) oder zwischen dem Kunsthändler Scopey und Skinner (»Kunden« – »nur Sekunden«). Speziell Skinners Künstlichkeit dürfte die Phantasie des Betrachters in einem fort zu diversen anderen Charakteren der Filmgeschichte hin abschweifen lassen – und plötzlich auch hin zum fernöstlichen Kulturkreis, wenn er sich einem Buddha gleich gebärdet. Bei der Ankündigung des ›Million Dollar Hotels‹ wurde das ungewöhnlich intensive Milieustudium hervorgehoben, das in viele Details der Ausstattung und ebenso in das Spiel der Hauptakteure eingeflossen 1
Zitiert nach ›Newsreel‹ (März 2002) auf der »Official Site« von Wim Wenders. URL: http://www.wim-wenders.com/news_reel/2002/mar02-interview.htm
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DAS MILLION DOLLAR HOTEL
sei. Wer sich den Film in dieser Erwartung anschaute, mußte – zumindest beim ersten und einzigen Mal – enttäuscht werden. Warum aber zieht die faszinierende Konzeption, eine zarte Liebesgeschichte inmitten dieses Tohuwabohus wie im Auge des Taifuns sich entwickeln zu lassen, so viele Betrachter beim ersten Sehen nicht entschiedener in den Bann? Oder tut sie es insgeheim doch, aber auf eine zusätzlich verstörende Weise? Liegt dies womöglich an dem im engeren Sinne hermetischen Liebesverhältnis, das als solches, als Beziehung zwischen Hermes und Aphrodite, unsichtbar bleibt und gleichwohl in vielen Details der filmischen Einrichtung präsent ist? Zieht es gerade dadurch immer mehr die diffus bleibende Aufmerksamkeit auf sich, gleichsam wie bei einem Schwarzen Loch, das sich nur indirekt, durch seine wunderliche Anziehungskraft zu erkennen gibt? Bei einem nur einmaligen Sehen jedenfalls kann man bei diesem Film wie bei anderen Spielfilmen von Wenders, denen man im Unterschied zu so manch verrätseltem Film wie etwa Peter Greenaways Hermes-und-Persephone-Film ›Der Kontrakt des Zeichners‹2 (1982) die Komplexität nicht ansieht und nicht ansehen soll, nur zu einer krassen Unterschätzung kommen und wird man zudem die eigene Konfusion leicht den Filmen selbst anlasten. Dies sei auch zur Entlastung der erwähnten verständnislosen Filmkritiker gesagt. Wie kein anderer Film von Wenders sollte dieser, der mehrere Subtext-Schichten aufweist, aus seiner Dornröschen-Existenz erweckt werden, wenn der Betrachter davon erfährt und sich daraufhin (erneut) ein eigenes Urteil bilden möchte.
Märchen als erste Subtextschicht des Films Womit ich schon zu der ersten Schicht im filmischen Subtext gelangt bin. Sie hat noch keinen kunstvoll verborgen gehaltenen (»kryptischen«) Charakter, da Wenders bei der Präsentation des Films immer wieder auf sie hinwies. ›The Heart Is A Sleeping Beauty‹ haben so er und seine Frau Donata ihr Filmbuch nach ›Dornröschen‹ benannt. Ja, Wenders wählte den Titel dieses Filmbuchs als Überschrift für seine Beschreibung des Films und setzte sogleich im Tonfall des Märchenerzählers ein: »Once upon the time there was an enchanted hotel … built many, many years 2
Greenaways eigene (todes-)lüsterne Hermesfigur ist denn auch nicht verborgen, sondern treibt sich ostentativ im Bannkreis der Hermesstatue im Gartenpark herum. Zum Abschluß des Films, nach der Ermordung des Zeichners, beißt der Mann in eine frisch geschlachtete Ananas – Wenders’ Hermes Tom Tom hingegen verschenkt seine geklaute Ananas, nachdem er damit dem Kunsthändler Scopey über den Weg lief und ihn en passant fragte, ob er ihn nicht schon irgendwo gesehen hätte.
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MÄRCHEN ALS ERSTE SUBTEXTSCHICHT DES FILMS
ago, at the beginning of the last century ... in the heart of downtown Los Angeles«.3 Stellt er hier das Hotel selbst als einen märchenhaften Ort vor, der wie das Dornröschenschloß mitsamt all seinen Bewohnern erlösungsbedürftig ist, dann hebt er in einem Interview mit Megan Spencer auf die individuelle seelische Dimension der Verzauberung ab: »In a way it’s a little bit like Sleeping Beauty – there’s a girl and she’s asleep to herself and to the world so to speak, insofar as she doesn’t think anything of herself. She even thinks she’s fictional – she has no self value whatsoever.«4 Das Märchen wird im Film einige Male unmißverständlich angesprochen. Wenn Tom sich zum erstenmal Eloise Ash nähert, hält sie das Buch ›Hundert Jahre Einsamkeit‹ von Gabriel García Márquez an sich gedrückt, dessen Titel Märchenfreunde daran erinnern müßte, daß auch Dornröschens Verzauberung hundert Jahre andauert und in dem Moment aufgehoben wird, als der Prinz zu ihr vordringt. Wie zu sehen sein wird, hat Milla Jovovich als Verehrerin von García Márquez einiges aus diesem Roman in ihren Schlußmonolog einfließen lassen. Welche Beachtung Wim Wenders diesem Märchenmotiv schenkte, mag ferner daraus hervorgehen, daß er als erstes die Szene abdrehte, in der sich Tom morgens der Schlafenden mit einem Tablett nähert. Noch am Set, beim Betrachten dieser »Master«-Szene, sei ihm dann der Einfall gekommen, die Kamera zur Eröffnung von draußen her auf einem Kran auf das Fenster schwenken und auf die Schlafende zufahren zu lassen.5 Was ja im Kontext von ›Dornröschen‹ heißt, die Perspektive des Prinzen einzurichten, der sich so der Schlafenden nähert. Und so werden denn auch von dem Moment an, als Tom sich Eloise zum erstenmal zu nähern wagt und ihren Blick sucht, die beiden immer wieder durch einen ingeniösen digitalen Zeitlupentrick in eine eigene raumzeitliche Präsenz versetzt, durch dieses leichte Zittern und Vibrieren, das sie ausgrenzt von einigen im Hintergrund in normaler Geschwindigkeit und Bildschärfe zu sehenden Personen und gleichsam eine Art zeitlicher Dornröschenhecke um die beiden legt. Tom selbst unterstreicht beim erstenmal diesen Bann durch eine magisch abschirmende, kreisförmig ausgeführte Gebärde, mit der er eine vorbeikommende Frau beschwörend auf Distanz hält. (17:43-47)
3 4 5
›Newsreel‹ (s. Fußnote Nr. 1) vom November 2001 Interview vom 14.12.2000 im abc-net. URL: http://www.abc.net.au/triplej/arts/wenders.htm Wenders, Wim und Donata: ›The Heart Is A Sleeping Beauty‹ (München 2000), S. 138f.
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DAS MILLION DOLLAR HOTEL
»Der Film funktioniert wie ein Märchen», über das er sich »wie ein Schneekönig« freue, erklärte Wenders in einem Interview.6 In eine tiefere Erzählschicht seines Film hat er ein thematisch verwandtes Märchen eingebettet, eines, das zu seinen nunmehr schon als kryptisch anzusprechenden Lieblingsmotiven gehört, Hans Christian Andersens ›Die Schneekönigin‹. »Denn alle Herzen, sie träumen vom Erwachen«, heißt es in dem von Izzy stammenden Liebesgedicht, das Tom zum Abschluß seines Geständnisses verliest. Izzy selbst habe dies vergessen und sei deshalb von ihm vom Dach gestoßen worden. Die Metapher vom erwachenden Herzen bildet den Übergang von ›Dornröschen‹ und auch ›Schneewittchen‹ hin zu Andersens Märchen, auf das Wenders augenscheinlich schon in ›Bis ans Ende der Welt‹ (1991) wiederholt zurückkommt, weil es so entschieden wie kein anderes um die Wiedererweckung oder Erlösung einer Seele kreist. Es ist dies die Geschichte des kleinen Karl, der nach dem Zerbersten eines auf die Erde gefallenen teuflischen Zauberspiegels Splitterchen in Auge und Herz bekam und seine Freundin Gretchen verließ, bis diese, die ihn endlich im Kristallpalast der Schneekönigin aufspürt, seine erfrorene, am Zusammensetzen des Wortes »Ewigkeit« verzweifelnde Seele durch ihre heißen Tränen auftaut. Die Handlung des jetzigen Films schließt damit, daß die auf dem Sims jenes Fensters dasitzende Eloise Automatenphotos von Tom und Izzy betrachtet und ihr die Tränen die Wange hinunterrinnen, derweil sich Tom im Voice-Over erklärt und bemerkt: »Das einzige, was ich hier wollte, war, Eloise aufzuwecken ...« (1:51:07) Andersens Motiv des zerspringenden und schließlich zerschmelzenden (Spiegel-)Eises kündigt sich schon in der Rahmenhandlung des Films an, während Toms Absprung vom Dach des »Million Dollar Hotels«. Die Kamera nimmt hierbei im Umschnitt die Perspektive des Fallenden auf, gleitet langsam an den Fenstern von sechs Stockwerken vorbei – mit Seitenblicken in die Zimmer – und beschleunigt zuletzt stark, um bei einer Drehung von fast 180 Grad aufs Straßenpflaster zuzusausen. Kurz vor dem zu erwartenden Aufschlag hört man ein Auto heranrasen und im Moment des nachfolgenden Umschnitts sein sirenenartig aufheulendes Gehupe: Halbnah ist daraufhin zu sehen, wie ein Eisklumpen aufs Pflaster knallt – in einem weißen Pappbecher, wie nur in der Zeitlupe zu erkennen – , dessen auseinanderspringenden Splittern eine sich nähernde barfüßige Frau (Eloise) mit einem kleinen Hüpfsprung ausweicht. Inzwischen hatte schon Tom Tom im Off von sich zu erzählen begonnen, davon, daß ihm erst während seines Todessprunges aufgegangen sei, wie wunderbar doch das Leben sei. Und daß sein Leben eigentlich erst vor zwei Wochen so richtig angefangen habe, seitdem er seinen Freund Izzy 6
Im ›Schwäbischen Tagblatt‹ (Tübingen) vom 9.2.2000
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MÄRCHEN ALS ERSTE SUBTEXTSCHICHT DES FILMS
verloren und Eloise gefunden habe. Genau dorthin, zum Zeitpunkt dieser Vorgeschichte um die heran- und an Tom vorbeischreitende Eloise, war
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also inzwischen auch die Toms Sprung folgende Kamera während ihres Vorbeischwebens an den Fenstern auf magische Weise angelangt.7 Wenn am Ende des Films Toms Flugsprung wiederholt wird, übernimmt die Kamera erneut seine Perspektive, fährt nun aber direkt aufs Pflaster zu, wobei sie zwei mit nach unten fallende – einkopierte? – Schneeflöckchen erfaßt, um sich zuletzt erneut, nun gegen den Uhrzeigersinn, um 180 Grad zu drehen (1:48:16-28). Der Augenblick des Aufschlagens aufs Straßenpflaster wird diesmal in einem weißen Lichtflash visuell abgefangen und aufgelöst. Es ist dies Wenders’ rhetorische Figur des »Todes der Kamera«, die sympathetisch für den Tod des Helden steht. Bezeichnenderweise aber wird der Blick der Kamera dieses Mal nicht verdunkelt, wie etwa für den verblutenden Gangster in ›Alabama‹ (1969) und den erschossenen Regisseur Munro im ›Stand der Dinge‹ (1982). Vielmehr geht der Kamerablick nach dem Flash sogleich hoch ins Himmelblau, das heißt in hermetischer Lesart weiter zum Standort unseres Erzählers, des Luftgottes Hermes. Für die manifeste »realistische« Version freilich beugen sich sogleich die Gesichter der Unfallzeugen zur Kamera herunter.
7
Kamera- und beleuchtungstechnisch als Simulation eines zeitlichen Übergangs vom Morgengrauen bis hin zur Mittagsstunde; Ausführungen von Wenders’ Kameramann Phedon Papamichael hierzu unter: http://www.cameraguild.com/magazine/stoo201.htm
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DAS MILLION DOLLAR HOTEL
Persephone oder chthoni sche Aphrodite? Unterhalb dieser Märchenthematik scheint Wim Wenders noch eine weitere Zwischenschicht eingerichtet zu haben, die Verbindung mit den Märchen und der kryptischen Tiefenschicht um Hermes und Aphrodite hält. Ein in den Sagen des Altertums Bewanderter unter den gebildeten Verächtern dieses Films, der auch an Skinners Buddha-Pose Anstoß nahm, fühlte sich stark an die griechische Herrscherin der Unterwelt erinnert. Sicherlich war es bei der Szene, als die laut Tom »wie ein Schatten« sich bewegende Eloise, die nur tagsüber in ihrem Körper lebe, wieder einmal wie von der Nacht verschluckt ist und dann, nach einem Schwenk um die Rüssel eines Hydranten herum, hinter Dampfschwaden wartend dasteht (23:06). Diese mythologische Anspielung käme allerdings nicht von ungefähr, weiß doch die ›Dornröschen‹-Forschung, daß dem Märchen – wie auch der ›Schneekönigin‹ und noch ›Schneewittchen‹ – das uralte Motiv von Tod und Auferstehung zugrundeliegt, genauer vom Erstarren und Wiedererstehen der Vegetation, wie es uns die klassische Mythologie im Schicksal von Persephone (Proserpina) überliefert hat. Als Hades die junge Frau beim Pflücken von Narzissen und anderen Frühlingsblumen in die Unterwelt entführt, läßt ihre Mutter Demeter, die Göttin der Fruchtbarkeit, Saat und Ernte verdorren, bis Zeus durch seinen Boten Hermes dem Gott der Unterwelt gebieten läßt, die Entführte freizulassen. Persephone aber wird von Hades überlistet, von dem fatalen Granatapfel zu kosten und muß fortan ein Drittel des Jahres (die Winterzeit über) bei ihm als Königin des Totenreiches verbringen. Das paßt nicht nur gut zu den Märchen, sondern ebenso zum Motiv der zu erlösenden Seele, weshalb denn auch der Persephone-Mythos im Mittelalter in diesem Sinne interpretiert werden konnte.8 Die mythologischen Fingerzeige sind freilich in diesem Film von Wenders alles andere als eindeutig. Um so weniger, als auch die lebenslustige Göttin par excellence, die »goldene« Aphrodite, im Zyklus von Fruchtbarkeit, Geburt und Tod eine »schwarze«, nächtlich-chthonische Seite hat, zu der ein eigener Kult mit Attributen wie Mohn und Granatapfel gehört.9 Wenn nun Tom Tom nach seiner Nacht mit Eloise, die vom 20. auf den 21. März datiert, mit einem Strauß gelber Narzissen zu ihr will, so könnte man hierfür sowohl den Persephone-Mythos geltend machen als auch die andere Lesart, wonach es Hermes ist, der in unserer 8 9
Frenzel, Elisabeth: ›Stoffe der Weltliteratur‹ (Stuttgart 31970) s v Persephone Vgl. das Kapitel »Quand la ›dorée‹ devient la ›noire‹« bei Vinciane PirenneDelforge: ›L’Aphrodite grecque‹ (Athen/Lüttich 1994), S. 439-446. Im übrigen fließen Persephone, Hekate und Aphrodite in dieser Hinsicht immer wieder zusammen, vgl. Friedrich, Paul: ›The Meaning of Aphrodite‹ (Chicago 1978), S. 206ff.
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PERSEPHONE ODER CHTHONISCHE APHRODITE?
Zeit so populäre Fleurop-Bote, der diesen Strauß seiner geliebten Aphrodite als der Göttin des Frühlings pünktlich überreichen will.10 Mit Venus/Aphrodite besser als mit Persephone zu vereinbaren ist der erwähnte Umstand, daß Eloise, die nach den drastisch-unschuldigen Worten ihrer Pflegemutter Jessica »schwer abgefuckt« sei, sich in der Nacht den Männern anbietet. Es ist dies die vulgäre Seite der Persönlichkeit oder vielmehr der Sexualität Aphrodites, der sich ihr Beiname »Pandemos« (»die dem ganzen Volk Gehörende«) oder auch »Porne« (alias »Venus Vulgivaga« = »die (überall) Umherschweifende«) verdankt. Beinamen, die sich speziell auf die zu ihrem Kult gehörende Tempelprostitution in Korinth, auf Sizilien und ihrer Hauptinsel Zypern beziehen. Wenn Eloise daher Tom Tom andeutet, daß er sich bei ihr womöglich eine venerische Krankheit holen könnte (1:01:54–1:02:17), so wäre dies ein doppelter Scherz. Denn eigentlich sollte Hermes/Merkur hiergegen wie kein anderer gefeit sein, hält er doch – Goethe noch huldigt ihm dafür11 – Quecksilber gegen die Syphilis bereit, das »Merkur« der Alchimisten, die dem metallischen Element auch das Planetenzeichen des Gottes gaben.
50:09
Die lichtere erotische Seite der Göttin beschwört das große Poster von Venedig, das Toms Zimmer schmückt. Um Eloises Blick darauf zu len10 Als Frühlingsblüher ist die gelbe Narzisse ein altes Symbol der Wiedergeburt und im Deutschen unter anderem als »Osterglocke«, »Märzenbecher«, »Himmelstern« sowie als »(Großer) Morgenstern« bekannt – womit man wiederum bei dem populären Namen für den Planeten Venus wäre. 11 In den ›Römischen Elegien‹ (»Zwei gefährliche Schlangen ...«)
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DAS MILLION DOLLAR HOTEL
ken, fährt er vor ihrer ersten gemeinsamen Nacht mit der Hand darüber hin, das heißt genauer über den Namen der Stadt, und behauptet: »Venedig ist für Verliebte« (50:07-10). Neben dem Namensanklang war Venedigs einzigartige Lage im Wasser der Grund dafür, daß die Stadt häufig mit der dem Meer entstiegenen Venus/Aphrodite verglichen oder in Beziehung gesetzt wurde. Auf einer venezianischen Medaille figuriert sie als Trägerin der Markusstandarte und hat, wie auch Hermes als Gott der Beredsamkeit, in der Logetta di San Marco Aufnahme gefunden.12 Weit bekannter, ja berühmt ist nun der Holzschnitt von Jacopo de’ Barbari, auf dem Hermes/Merkur als Protektor über der aus der Vogelperspektive gezeigten Handelsstadt zu sehen ist. Ähnelt er nicht in Position und Körperhaltung dem Torso auf Toms Venedigposter? Und zugleich, mit dem Umhang auf dem Rücken und seiner Plazierung inmitten eines Wolkenkranzes, dem daneben befindlichen Fledermausgebilde?13 J. de’ Barbari Veduta di Venezia, 1500 (Ausschnitt)
Anadyom ene als »ersoffene Ratte«. Patricia Highsmith’ Heloise »Die aus dem Meer Auftauchende« wird nach der Variante ihres Geburtsmythos, die Botticelli in der Neuzeit populär machte, aus einer Muschel geboren. Während Botticelli die schon an Zyperns Küste von wärmenden Frühlingswinden Herangetriebene auf dem Rand der riesigen Muschel zeigt, steht Aphrodite in anderen Gemälden noch bis zum Hals darin eingeschlossen oder liegt – gleich Dornröschen hingestreckt – in der 12 Abbildungen bei Rosand, David: ›Myths of Venice‹ (London 2001), S. 131 und 134. Rosand führt noch aus: »Like Venus, Venice was born of the sea, and what was at first metaphoric and suggestive, poetic even, became a standard topos later« (S. 117); vgl. dort auch S. 138. 13 Im Geiste Tom Toms könnte man noch in dem Hermes von de’ Barbari, der eine ungewöhnliche, wie spitzohrige Flügelkappe trägt, eine verwandte Comicfigur unserer Zeit wiedererkennen: Batman. De’ Barbari führt übrigens den Beinamen ›Meister vom Caduceus‹ (›Maestro del caduceo‹), da er viele seiner Werke mit Merkurs Botenstab signierte.
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ANADYOMENE ALS »ERSOFFENE RATTE«. PATRICIA HIGHSMITH’ HELOISE
sich soeben öffnenden Muschel. Mehrere Szenen des Films erinnern daran. Erzählt so Eloise Tom auf ambivalente Weise, einfühlsam und zugleich derb spaßend, von der malträtierten jungen Frau, die sich in dem noch flüssigen Beton wie in einem »warmen Bad« gefühlt haben müßte und zuletzt aus dem Gestein herausgeschlagen werden mußte (57:12– 58:36), dann klingt dies nachgerade wie eine Anamnese an jenen Geburtsmythos, dem Vorleben in der im Inneren so feuchten, weichen und doch hartschaligen Muschel (einem uralten Vulva- und Mutterleibssymbol, das noch für die jungfräuliche Empfängnis der »Perle« Mariens herangezogen wurde). Bei dem Wasser als dem Element der Aphrodite mag einem zudem die Szene in den Sinn kommen, wie inmitten der von Skinner ausgelösten Wasserkaskaden Tom und Eloise zum erstenmal Seite an Seite daliegen – von einer leicht schwankenden, wie im Wasser mitschaukelnden Kamera gezeigt (30:23-36). Und daß sich Eloise während der Ausstellung der Teerbilder eine Menge »Fischeier« (so die alte Jessica für den Kaviar) in den Mund steckt – ein Aphrodisiakum, das von Eloise-Aphrodite, der Stifterin und insofern falschen Konsumentin, sofort wieder ausgespuckt wird, wohingegen Tom bei diesem Anblick in seinem Versteck immer wilder wird und vom Hotelmanager kaum noch zu bändigen ist (1:31:05-34). Schließlich sei noch der Blick auf die türkisblauen Muster auf Eloises Pullover gelenkt, die einen in der Schwebe halten, ob sie neben Wolken- und Wellenornamenten auch die der Göttin heiligen Fische und Vögel zeigen, darunter Tauben, die im Film wiederholt ins Bild kommen. Einmal, unmittelbar vor seiner ersten Annäherung an Eloise, spielt Tom offenbar sekundenlang mit Taubenfutter in den Händen (15:21-31). Zur Mehrdeutigkeit jener Pullovermuster paßt jedenfalls gut, daß die zuletzt neben Tom einschlafende Eloise sowohl von den Fischen phantasiert, die in dem feuchten »südamerikanischen« Klima zur Tür herein- und zum Fenster wieder hinausschwämmen, als auch von den Vögeln, die dort gegen Gitter stießen und tot zu Boden fielen – womit sie Tom ungewollt das Stichwort für seinen Flugsprung gibt. Beide Phantasiebilder hat Milla Jovovich für ihre Rolle weithin wörtlich dem Roman von García Márquez entnommen.14
14 García Márquez, Gabriel: ›Hundert Jahre Einsamkeit‹ (Köln 331997), S. 356 (zu dem sintflutartigen, nahezu fünf Jahre anhaltenden Regen: »Die Luft war so feucht, daß die Fische, durch die Türen herein- und durch die Fenster herausspazierend, die Luft der Zimmer hätten durchschwimmen können«); und S. 387 (»... weil es so heiß war, daß die verstörten Vögel wie Schrotschüsse gegen die Mauern prallten und die Fliegenfenster durchstießen, um in den Schlafzimmern tot zu Boden zu fallen«). Bei Márquez tritt ebenfalls eine bemerkenswerte Hermesgestalt auf, der steinalte alchimistische Zigeuner Melchíades.
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DAS MILLION DOLLAR HOTEL
So direkt zu zitieren, wie er es für die von Milla Jovovich beigesteuerten Márquez-Texte machte, hat sich Wenders bei der Darstellung seiner Gottheiten nirgendwo gestattet. Er ist eben der Meister des kunstvoll indirekten, dabei umgestaltenden Zitierens, und dies immer wieder auch für solche Figuren und Motive, die ihrerseits schon im Originalwerk schwer zu identifizieren oder gar unerkannt geblieben waren. Wie er vermutlich in Vorbereitung auf seinen Ripley-Film entdeckte, daß Patricia Highsmith Tom Ripley zu einer Hermesgestalt stilisiert hat und dies dann konsequent für den ›Amerikanischen Freund‹ nutzte, so dürfte Wenders jetzt, was ebenso naheliegt, für Tom Toms Freundin Eloise auf Tom Ripleys Ehefrau Heloise zurückgekommen sein. Patricia Highsmith jedenfalls hat Heloise unverkennbar als neue Aphrodite gezeichnet, gleichsam von ihrem ersten Atemzug als Romanfigur an, als sie von der Jacht eines griechischen Verehrers aus Tom brieflich um die Luftpostzusendung eines roten Badeanzugs bittet.15 Eigentlich nur an Shopping, Fernreisen, Geplauder im Freundeskreis und exquisiten Gerichten interessiert, führt Heloise auf andere, luxurierende Weise die Schattenexistenz von Eloise und wird wie diese gelegentlich drastisch als Wesen ohne Selbst charakterisiert. Der Dandy Tom läßt Heloise zwar gelten, macht jedoch Beobachtungen wie die folgenden: »Manchmal überkam ihn ein seltsames Gefühl, wenn er mit ihr schlief, weil er sich so getrennt, so uneins mit ihr fühlte – ihm war, als freue er sich an etwas Leblosem, Unwirklichem, an einem Körper ohne eigenes Ich.«16 »Heloise war nackt und fühlte sich unbeschreiblich glatt an, wie polierter Marmor, nur war sie natürlich weich und warm.«17 »Ihre wohlgeformten Schenkel unter der hellblauen Hose erschienen ihm wie Kunstwerke«.18 Eine sexuelle Ästhetisierung, die Tom Ripleys Beziehung zu Heloise dem Verhältnis zu einer Marmorstatue annähert und so an das Schicksal der Knidischen Aphrodite erinnert.19
Einige dieser Berührungen zwischen Eloise und Heloise gehen anscheinend auf das überlieferte Bild der Aphrodite zurück, etwa wenn auch Heloise blühende Narzissen zugedacht werden (in einem der ›Ripley‹-Romane hat sie unter ihnen ihren ersten Auftritt).20 Und wie Heloise sich
15 16 17 18 19
›Ripley Under Ground‹ (Zürich 1979), S. 29 Ebd., S. 205 Ebd., S. 253 ›Ripley Under Water‹ (Zürich 1993), S. 388 Die Statue des Praxiteles wurde einst von einem zudringlichen Verehrer geschändet; vgl. Hinz, Berthold: ›Aphrodite, Geschichte einer abendländischen Passion‹ (München 1998), S. 21ff.) 20 ›Ripley’s Game‹ (München 1977), S. 10f.
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ELOISES OUTFIT, KÖRPERHALTUNGEN UND GEBÄRDEN
gern ihrer Schuhe entledigt,21 so hüpft Eloise ja schon in ihrer ersten Szene barfüßig hoch, woraufhin die Kamera halbnah bei den Füßen der Weiterschreitenden bleibt, bis diese an dem dasitzenden Tom vorbeikommt, der den Kopf hoch zu ihr hinwendet. Dem Mythos zufolge fand selbst der tadelsüchtige Momos an der Göttin nichts weiter auszusetzen als den Umstand, daß Aphrodite – wohl beim Solotanz – mit ihren Sandalen klapperte, weshalb er ihr riet, lieber barfuß zu gehen. Mittlerweile ist auch dies anstößig geworden, redet doch Izzy verächtlich von den »drekkigen nackten Füssen« der von ihm »gevögelten« Eloise. Das Barfußlaufen gehört so zu ihren Stigmatisierungen, die es ihm und Shorty erlauben, Eloise »als ein Nichts oder menschlichen Kartoffelsack« zu verhöhnen oder die einst blühend dem Meer Entstiegene mit einer »ersoffenen Ratte« zu vergleichen. Tom Tom schenkt ihr sicherlich auch deshalb zur Vernissage die weißen Schuhe, und Eloise selbst trägt zuletzt helle Turnschuhe, wenn sie auf der Fensterbank dasitzt und unter Tränen den Photostreifen mit dem einstigen Freundespaar berührt. Er liegt wie ein Lesezeichen bei der Schlußseite des berühmten russischen Buchs, das von der Liebe zwischen einem intellektuellen Mörder und einer unschuldigen Prostituierten handelt (1:50:57).
Eloi ses Outfit, Körperhaltun gen u nd Gebä rden Aphrodites Sandalen spielen im Mythos noch eine weitere, für die jetzige Liebesgeschichte bedeutendere Rolle. Bekanntlich zeigte sich die Göttin ungewöhnlich spröde, als Hermes sich ihr nähern wollte, so daß Zeus, dem Hermes bei so manchem Liebesabenteuer behilflich gewesen war, sich revanchierte, indem er durch seinen Adler eine goldene Sandale der im Fluß Badenden rauben und Hermes zutragen ließ. Dieser preßte ihr mit der Sandale das Stelldichein ab, aus dem der Hermaphrodit hervorging. Auch Eloise läßt sich auf Toms Annäherungsversuch im Hotelflur nicht recht ein und wird mittels einer Erpressung genötigt, die Nacht bei ihm zu verbringen. Es ist Detective Skinner, der dem darob entzückt knurrenden Tom dieses Angebot im Auto macht und Eloise dadurch nötigt, daß er ihr mit dem Rausschmiß aus dem Hotel droht. Doch wo bleiben die goldenen Schuhe der Göttin? Die unbequemen Schuhe mit Bleistiftabsätzen, die Tom der Barfüßigen zur Vernissage verehrt, sind weiß. Welch ein Mirakel jedoch, wenn Eloise sie hinterher auf der Theke der Imbißstube abgestellt hat! Im Hintergrund ist das Straßenpflaster goldüberströmt, eine Goldglanzbahn, die sich nur unmittelbar hinter den 21 Etwa in ›Under Ground‹ S. 204, im ›Jungen‹ S. 132 und 142 und ›Under Water‹ S. 14 und 64
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Schuhen verbreitet hat und noch – matter – auf der Theke vor ihnen, nicht aber auf der zugleich sichtbaren mittleren und rechten Straßenseite.22
1:35:48
Während sich Patricia Highsmith für das »langwehende blonde Haar«23 ihrer Aphrodite an Gemälde und speziell an die populäre neuzeitliche Botticelli-Version gehalten hat, trägt Eloise eine Kurzhaarfrisur, wie sie eher von antiken Skulpturen der Göttin her bekannt ist. Ja, immer wieder ist sie auch in einer der für Aphrodites Standbilder typischen Körperhaltungen zu sehen, schon nach dem ersten Umschnitt von Tom Tom, der sich der Vorbeischreitenden zuwendet: Den rechten Arm hat sie mit einem zusammengerollten Buch hoch zum Nacken geführt, während der linke soeben in gegenläufiger Bewegung zum Rücken hinfährt (s. Abb. S. 253). Eine von manchem Filmkritiker als gewunden bespöttelte Pose, die Eloise öfter variiert, wobei sie sich für die Wendung des Arms zum (Hinter-)Kopf und Haar hin mitunter ihrer Zigarette bedient, die sie in der Linken schon halb erhoben hält. Wringt die Göttin so mit erhobener Hand meist entweder ihr nasses Haar aus oder ist im Begriff, einen verrutschten Gewandzipfel von oben her anzuziehen und neu zu befestigen, so bedeckt sie in einer anderen Gebärde – als sogenannte Venus Pudica – ihre Brust. Eine Gebärde, die sich bei Eloise wiederum wie von ungefähr einstellt, indem sie das andere sie ständig begleitende Hilfsmittel benutzt, ein Buch, das sie wiederholt vor den Körper hält. Das ist nicht nur im Detail frappierend. Vergleiche man doch auch einmal den Gesamteindruck, das Erscheinungsbild der barfüßigen Eloise in ihrem Festkleid, mit der Statue vom Typus der »Aphrodite Genetrix«. 22 Das Ganze wurde digital überarbeitet, so Wenders im Audiokommentar der DVD-Version bzw. auf S. 147f. seines »Filmbuchs« (er erwähnt hierbei noch die von Jeremy Davies versehentlich mitgenommenen, daher später wieder ins Bild hineinkopierten Schuhe). – Goldfarben sind übrigens auch die Stöckelschuhabsätze, wie in dem Kapitel »Szenen vom Set« zu ersehen ist (01:28). 23 ›Ripley Under Ground‹, a.a.O. S. 199
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ELOISES OUTFIT, KÖRPERHALTUNGEN UND GEBÄRDEN
Entzücken können auch Beobachtungen wie die nachfolgenden zu Eloises Kleidung, selbst wenn sie als gezielte Anspielungen nicht zu verifi-
›Aphrodite Genetrix‹ , röm. Kopie wohl nach
1:34:45
Kallimachos (ca. 425 v. Chr.) Paris, Louvre
zieren sind und wie manch andere Analogie zwischen Mythos und Film sich dem Zufall verdanken mögen:
Römische Bronzestatuette einer Aphrodite, wohl aus Syrien; Paris, Louvre
04:57
– Etwa wenn mir beim Anblick einer ihre Sandalen lösenden Aphrodite, die an den Oberarmen breite Goldreifen und zierliche über den Fußknö253
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cheln trägt,24 Eloise bei ihrem ersten Auftritt in den Sinn kommt. Die Ärmel ihres dunkelblauen Pullovers schmücken genau dort, am Oberarm, leuchtend gelbe Doppelstreifen, während ihre 7/8-Jeans oberhalb der Knöchel mit einem wie improvisiert umgenähten Saum abschließen. Den Pullover trägt sie nur in dieser kurzen Szene. – Oder wenn bei einer recht trockenen Belehrung wie der, daß die Farben der Aphrodite vornehmlich rot, blau, grün und weiß seien, ich sogleich Eloises anderen Pullover vor Augen habe (s. S. 270), den Izzy so »lächerlich« fand und in dem sie sich zum ersten Mal für ihre Nacht mit Tom zeigt (48:55). – Und mir die bis auf den Oberarm hinunterfallende Zierschleife von Eloises blauem Festkleid so ähnlich auf dem Gemälde ›Venus, Mars und Amor von Viktoria gekrönt‹ von Paris Bordone (1550) wieder begegnet.25 Verfänglicher für den Regisseur wird es dort, wo noch eine zusätzlich eingesetzte Kamera an der Einrichtung des Bildes mitarbeitet. Wenn Tom die Vorbereitungen zur Vernissage aus einer 37:23 erhöhten Sitzposition mit seinem roten Fernglas, einem multifunktionalen Kinderspielzeug namens »Optic Wonder« betrachtet und aus dieser Distanz auf einem der Bilder einen Frauenkopf unter der Teerschicht entdeckt, dann zoomt die unsichtbare Fernsehkamera gleich danach ihrerseits auf diesen Kopf und erhöht so schlagartig die Aufmerksamkeit des Betrachters. Was einen darauf bringen mag, daß dieser Kopf auf dem womöglich von Julian Schnabel oder Alejandro Garmendia gestalteten, wie mit roten Rosen geschmückten Teergemälde ohne weiteres zu einer Venus gehören könnte, wie sie uns von Dürer, Cranach d. Ä. oder auch Altdorfer überliefert wurde.26
24 Ein solcher Reif oder ein Band am Oberarm ist öfter auf bildlichen Darstellungen der Göttin zu sehen, s. im Ausstellungskatalog ›Venus. Bilder einer Göttin‹ (Alte Pinakothek München, 2001), die Abbildungen auf S. 10, 27, 50, 63, 69, 264f., 277 und 280. 25 Abb. im Katalog der Alten Pinakothek München, a.a.O., S. 139; vgl. URL: http://homepage.mac.com/cparada/GML/000Free/000VenusAmor/source/3. html 26 Vgl. etwa in dem Anm. 25 genannten Ausstellungskatalog S. 44, 153, 235 sowie S. 290
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VENUSTEMPELCHEN IM ARMENASYL
Venust empelchen im Armenasyl Kein Zufall mehr sein kann freilich die Aufstellung eines veritablen Venustempels in diesem Film. Doch hat ihn überhaupt jemand bewußt wahrgenommen? Er wird buchstäblich am Rande des Geschehens eingeführt, im Hintergrund des Bildausschnitts, in dem soeben Geronimo tri-
Oben: 31:18 Unten: 55:28 (Diary, Kap. 17)
umphierend Izzys Schuldschein vorweist und Tom lächelnd davongeht. Besser zu erkennen ist dieses kleine Gebäude in Wenders’ visueller Dokumentation »One Dollar Diary«. Auch hier, in dem DVD-Kapitel »Director’s Nightmare«, kommt es zunächst wie zufällig ins Bild. »I got a pee. I can’t go! In the middle of the shot!« Nach diesen Ausrufen jagt der wie geplagte Regisseur – im Zeitraffer – zu einer passenden Slapstick-Musik im Kreis herum: Die ihn verfolgende Kamera scheint einen Moment lang die Orientierung zu verlieren und erfaßt dabei ein goldfarbenes Tempelchen mit einer goldfarbenen Statue. Im Umschnitt wird dieses Gebilde ein, zwei Sekunden lang in einer den Rhythmus unterbrechenden halbnahen Einstellung gezeigt, bis die Kamera wieder ihrem schauspielernden Direktor folgt. Zu sehen war da ein kuppelgekröntes Tempelchen mit der Statue einer nackten Frau im Zentrum. Sie steht mit dem Rücken zum Betrachter da, doch ist an ihrer Körperhaltung und Armführung zu erkennen, daß es die Mediceische oder Knidische Aphrodite sein müßte, die in ähnlichen Rundtempeln in den (Park-)Anlagen von Hadrians Villa (bei Tivoli), in Versailles oder Wörlitz zu bewundern ist. 255
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In jener Schuldschein-Szene kann man diese etwas armselige Kopie des Tempels noch einige Male im Hintergrund ausmachen, doch muß man schon darum wissen, um sie »sehen« zu können. Und auch dieses Wissen hilft überhaupt nichts, wenn man nicht hinzusehen versteht, was wiederum nur dem gelingt, der die Erfahrung machen konnte, daß es bei diesem oder jenem Regisseur unendlich mehr als bei den anderen zu sehen und mitzudenken gibt. In diesem fundamentalen Sinne möchte ich also hier die Augen für die Filmsprache von Wim Wenders öffnen.
Den Idi oten spielende Kindgottheit. Toms Zimmereinrichtung, Phantasieuniform und Tattoos Wenn Tom, wie er behauptet, Eloises wegen »die ganze Welt auf den Kopf gestellt« hat, dann mit der klassischen geistigen Waffe der List, die auch nicht verschmäht, sich dumm zu stellen. Wie kein anderer hat Hermes von Kindesbeinen an darin Erfahrungen sammeln können. Er ist die Kindgottheit, die pure, mutwillige und verspielte Intelligenz, die uns Homer in seinem Hymnus an Hermes ans Herz gelegt hat, strahlend auch als Lügner und Sichverstellender, der dem großen Bruder Apollon, als dieser den kleinen Rinderdieb forttragen will, zur Beteuerung seiner Hilflosigkeit und Unschuld in die Hand macht und heftig zu niesen beginnt. Ebendiese Kindlichkeit, die Tom Tom gegenüber den beiden anderen Wendersschen Hermesfiguren auszeichnet, fand so manch erwachsener Zuschauer bloß albern oder kindisch, seinen sprachlichen Wiederholungstic etwa, das Zuhilfenehmen von Fingern beim Reden, seinen ausgeprägten Nachahmungstrieb, seine Freudesprünge und dieses Bedürfnis, jede Person in seiner Nähe zu berühren oder zu befummeln. Entgegen dem ursprüngliche Drehbuch sollte Tom Tom jedoch nicht als geistig »Behinderter« dargestellt werden, sondern »als junger Mann, der in seinem Herzen ganz Kind geblieben war«, weshalb Jeremy Davies für diese Rolle einen ungefähr vierjährigen Jungen als »Sparringspartner« hatte.27 Die auf diese Weise weiterentwickelten infantilen Züge lassen, zumal bei einem solchen Verstellungskünstler wie Hermes, leicht übersehen, daß Tom mit seinem Gegenüber durchweg sein Spiel treibt. Beiläufig erklärt er einmal im Off und ein andermal vor Eloise, »den Idioten nur gespielt« zu haben, und meint beidemal vor allem den übergewaltig scheinenden Skinner. Man kann leicht übersehen, daß er ihn schon vom ersten Moment an, als sich seine Limousine ins Bild schiebt, im Auge behält. Und leicht überhören, daß es die Stimme des antiken Hüters der Pforten ist, 27 So Wenders im Kapitel »Playtime« seines ›One Dollar Diary‹
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DEN IDIOTEN SPIELENDE KINDGOTTHEIT. TOMS PHANTASIEUNIFORM UND TATTOOS
die ihm im Fahrstuhl das geflügelte Wort vom Heim als »des Mannes Burg« zur Warnung vorhält. Selbst wenn Skinner ihm das Wort »suspekt« mehrmals vorsagen muß und Tom sich ihm darob hocherfreut an den Hals wirft (20:29), geht es um ein kleines Wortspiel. Ist er doch »suspekt« nicht bloß als Verdächtigter, sondern auch als jemand, zu dem man verehrungsvoll »aufzuschauen« hat. Wenn er diesen Spezialagenten nun permanent parodiert, so in einem gestischen oder auch getanzten Studium von dessen Schwächen und Stärken. In der Tanzparodie, die Tom einem Torero gleich mit einer geschwenkten roten Decke beendet, setzt er mit Skinners maschinenhaft-eckigen Bewegungen ein, um sie von den eigenen schlangenhaften Armbewegungen her zu attackieren und allmählich aufzulösen. Man kann dabei an eine magische Bewegungsübertragung von der Schlange des Caduceus her denken, ein Eindruck, der sich verstärkt, wenn Wim Wenders’ filmisches ›One Dollar Diary‹ eine Probe des Tanzes aus einem anderen Blickwinkel zeigt. Hierbei nämlich, in dem 13. Kapitel »Anarchy In The USA«, ist offenbar Hermes’ Tier zu erkennen, eine stilisierte, auf eine Schrankwand gemalte (schwarze) Schlange. Tom alias Hermes scheint Skinner gleichsam zu umschlingen, um diesen unglücklich Besessenen zu heilen, mit sich selbst auszusöhnen und ihm nebenbei auch die gewissenlosen Ermittlungspraktiken auszutreiben. 50:02 (Diary, Kap. 13) In seiner hochempfindsamen kindlichen Intelligenz ist Tom Tom zugleich ein Genius des Antizipierens. Einen Aufforderungssatz von Skinners Aufpasser Best ergänzt er schon nach zwei Worten (»OK, Partner...«). Bei seinem Skinner-Tanz legt er mit dem Anruf »Maia!« los, und tatsächlich meldet sich diese, wie aus einer Parallelmontage hervorgeht, gleich danach bei Skinner (26:44). Beim Belauschen von Skinner und Dixie führt er auf einmal den Kopf in die Höhe und richtet sich der Blick der Kamera nach dem Umschnitt auf ein Fenster, in dem sich erst Augenblicke später Eloise zeigt (15:07-10). Bei seiner nachfolgenden Annäherung im Flur gewinnt man nunmehr den Eindruck, daß Tom Eloise geradezu erforscht, wenn er seinen Kopf nach ihrer Erklärung, nichts vergessen zu können, spontan an ihr Herz legt. Erneut beweist er sein divinatorisches Vermögen, wenn er sich ihr, die sich in seinem Rücken befindet und ihm zuwinken möchte, unverzüglich zudreht; und gegen
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Ende des Films im Bücherladen plötzlich der Tür entgegenblickt, in der die Barfüßige erst Sekunden später erscheint (48:54 und 1:34:33). Nun scheint allerdings Tom Toms Zimmer (Nr. 916) jeder Beschreibung zu spotten, als wäre es das eines Wirrkopfs oder doch ein Kinderzimmer, in dem man einmal Ordnung schaffen müßte. Versucht man dies, zeigt sich bald, daß etliche Dinge darin mit dem reichen Rollenrepertoire von Hermes spielerisch korrespondieren: Auf seinen Namen »Hermes« = »(der vom) Stein(haufen)«, der für die Wegegottheit als Anhäufung von Steinen an Wegkreuzungen steht und auch in Gestalt der phallostragenden Herme erscheint, könnte zunächst ein Photo mit gelbroten kleinen Steinkegeln hinweisen, zumal ein ähnliches Bildmotiv schon über dem Kopfende von Bruno Winters Schlafstätte im »Hermes«-Transporter zu sehen war. Sodann ist neben dem »Venedig«-Plakat so etwas wie ein Kopf-Phalliker angebracht, ein auf die Tapete gemaltes Männchen, das eine überdimensionierte Papprolle vor dem Leib trägt. Vor dem Besuch Eloises ist die Rolle um 45 Grad geneigt und nachher horizontal aufgerichtet. Zum Motiv der Anhäufung (von Steinen) möchte ich außerdem noch all diese Ansammlungen, Aneinanderreihungen und Wiederholungen des Gleichen in Toms Zimmer zählen, die sich zudem wie Muster archaischer Kunst ausnehmen. Darunter der Berg von Turnschuhen, ein kleines Ensemble von Kleiderbügeln, diverse Ketten aus Pokerchips oder Ringen, eine gürtellange goldfarbene Kette neben dem Venedig-Plakat oder ein Glas voll Kronkorken neben dem Hundeautomaten. – Wer möchte, könnte in dem Zimmer unschwer weitere diskutable Indizien unter anderem für den Gott der Athleten und den Enthaupter des hundertäugigen Argos finden, außerdem für den Erfinder der Sprache(nvielfalt) und den Erbauer des gewaltigsten aller »Steinhaufen«, der Cheopspyramide. Hingegen wäre der mit bunten Bändchen und einem roten Herzen geschmückte Baby-Greifring am Fensterrahmen ein wirklich schönes Geschenk für die Kleinkindgottheit, die schon am Tage ihrer Geburt die tollsten Sachen anstellte. – Außer den kleinen sternförmigen Gebilden am unteren Fensterrahmen fällt ein großes koloriertes Strahlengebilde neben dem Fenster besonders auf. Es wurde erst für die poetische Nachtszene des Paares im Zimmer angebracht und stellt zusammen mit den angrenzenden Objekten offenbar unser Sonnensystem mit den Planeten Merkur und Venus dar: Denn dieses strahlenförmige Gebilde, das zusammen mit den grünblauen Kreisen auf den ersten Blick einem Kopf mit wirrem Haar gleicht, kommt mit dem einen extrem langen, mit roter Farbe besonders markierten Strahl dem Strahlenstern nahe, der auf den vergoldeten Aluminiumplaketten angebracht ist, die von 1972 an den Pioneer- und Voyager-Son-
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den zusammen mit einer vergoldeten Bild-Ton-Platte mit auf den Weg in den Weltraum gegeben wurden. Es ist dies »eine schematische Darstellung des Sonnensystems, Position der Sonne relativ zu 14 Pulsaren ... und dem vermutlichen Zentrum der Galaxis«.28 Statt des unbekleideten Menschenpaars, das die etwaige fremde Intelligenz freundlich begrüßt, erkennt man bei Tom Tom alias Hermes Psychopompos auf ockergelbgetönter Wand neben dem Strahlengebilde unter anderem das Seelensymbol des Schmetterlings, nämlich über einem Menschenkopf, der schon etwas von einem Totenschädel hat. Die in einer Kette dahängenden runden Gebilde außen rechts entsprechen den aneinandergereihten 10 Kreisen am unteren Rand der Plakette, die unsere Sonne und ihre Planeten darstellen (sowie den Flugverlauf der Raumsonde von der Erde aus). Anstelle des Kreispaares, das auf der Plakette ein Wasserstoffmolekül symbolisiert, enthält Toms Zeichnung die großen »Augenkreise«. Wim Wenders kommt auf diese Plakette in seinem Bluesfilm 27:46 (Diary Kap. 5) ›The Soul of a Man‹ (2004) zurück, den er aus der Weltraumperspektive der Voyager-I-Sonde erzählen läßt. Und zwar von »Blind Willie Johnson«, dessen Stück ›Dark was the Night‹29 sich neben anderen Dokumenten der Menschheit an Bord der Sonde befindet. Doch weiter zu Toms Zimmer. An den Seelengeleiter 28 Text und Abbildung unter: http://www.techfak.uni-bielefeld.de/ags/wbski/lehre/digiSA/Kommunikation/Ausarbeitungen/andereSpezies/kommfac.html 29 Ry Cooder spielte einst das Stück als musikalisches Leitmotiv von ›Paris, Texas‹.
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und die Hadessphäre, in die Tom hier Izzys Seele hinunterführt und aus der er Eloises wieder zurückbringt, gemahnt also zunächst die an mehreren Stellen zu sehende Sammlung von Schmetterlingsbildern, die von Einstellung zu Einstellung ausgewechselt werden und bei verschiedenen Metamorphosen zu sehen sind. Der Schmetterling (griechisch »Psyche«) symbolisiert ja in der Antike die Seele. Zudem befinden sich bei Tom ein kleines baumelndes Skelett, der Totenschädelkopf, ein knochenförmiges Gebilde an der Flurwand sowie ein auf dem Rücken liegendes Kunststoffmännchen. Und nicht zuletzt jene auf dem Venedig-Poster angebrachte Abbildung einer Fledermaus, die in einem Dreieck inmitten konzentrisch angeordneter Kreise wie in einem riesigen Spinnennetz dahängt. Bei ihrem Anblick kommen einem nicht allein Batman respektive die Hermesfigur über de’ Barbaris Ansicht von Venedig in den Sinn, vielmehr mag sich der Liebhaber der ›Odyssee‹ der folgenden Verse über die erlegten und in die Unterwelt abzuführenden Freier entsinnen: »Aber Hermes, der Gott von Kyllene, nahte sich jetzo, Rief den Seelen der Freier und hielt in der Rechten den schönen Goldenen Herrscherstab, womit er die Augen der Menschen Zuschließt, welcher er will, und wieder vom Schlummer erwecket; ... So wie die Fledermäus’ im Winkel der graulichen Höhle Schwirrend flattern... Also schwirrten die Seelen und folgten in drängendem Zuge Hermes, dem Retter in Not, durch dumpfe, schimmlichte Pfade.« (Anfang des 24. Gesangs, in der Übersetzung von J. H. Voß).
Wäre demnach die Fledermaus auf Toms Poster so etwas wie das heraldische Emblem des Seelenführers? Sollte hier gar – nach de’ Barbaris auch autoreflexivem Holzschnitt – Tom alias Hermes Psychopompos einmal selber als Riesenfledermaus dargestellt sein?30 Übergehen möchte ich schließlich nicht die Hündchen in Toms Zimmer, darunter diesen silberfarbenen blaubebrillten Plastikhund, dessen Bellen über ein Menü aufzurufen ist und in etwa die Frequenz von Toms Hundelauten hat. Signalisiert der Hund, der in seiner Wachsamkeit dem 30 Eine besondere Vorliebe für die Fledermaus zeigt auch die nur obenhin verkappte Hermesfigur Ralph Messenger in dem Campus-Roman ›Denkt‹ (›Thinks‹ 2001) von David Lodge. Messenger, ein in einer »Greek-Revival«-Villa wohnender Kognitionsforscher, führt seine spätere Schülerin vor das Gemälde einer »von fein gezeichneten konzentrischen Kreisen umgebenen« riesigen Fledermaus und erläutert ihr die erkenntnistheoretische These des Philosophen Thomas Nagel, »dass es für uns absolut keine Möglichkeit gibt, zu wissen, wie es ist eine Fledermaus zu sein – die einzige Möglichkeit, das zu wissen, besteht darin, eine Fledermaus zu sein.« Zitat nach Lodge, David: ›Denkt‹ (München/Zürich) 2001, S. 78.
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Hermes heilig ist, im ›Amerikanischen Freund‹ die bedrohliche Annäherung Tom Ripleys an den todgeweihten Jonathan und deutet er schon voraus auf den Kerberos der Unterwelt, so übernimmt nun, der lichteren Seite seiner Psychopompos-Rolle gemäß, Tom Tom selber eine spaßige Hunderolle. Dreht sich so kräftig schnüffelnd dem von Skinner mit der Bemerkung »Ich rieche Presse« angesprochenen Best zu; und beschnuffelt und beknurrt Eloise, wenn er ihr am Morgen mit pfötchengleicher Fingerhaltung das Frühstück auf einem Tablett heranträgt (08:14; 1:01:0039). Die beiden anderen Tiere des Hermes, der das Licht verkündende und kampfeslustige Hahn sowie die von ihm zur Lyra umgebaute Schildkröte, finden sich hier in einer kleinen filmischen Vignette vereinigt. Schildkrötengleich nämlich wie Bruno Winter, der seinen Kopf aus der Schlafkabine ins Fahrerhaus seines »Hermes« hineinschiebt (vgl. S. 165),
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streckt nun der Lauscher Tom vor Dixies Fenster den Kopf langsam von der Seite her ins Bild – gleichzeitig mit einer im Fernsehen übertragenen Hahnenkampfszene, die man tief im Hintergrund in einem Zimmer jenseits der Straße erblicken kann. Wim Wenders hat seinen verspielten Helden derart hingebungsvoll und einfallsreich gekennzeichnet, daß ich auch noch einen Blick auf Tom Toms Kleidung und seine Tätowierungen zu werfen habe. Über die wie Zwiebelschalen übereinander gezogenen Shirts trägt er mitunter eine dazu passende kunstvolle Phantasieuniform. Aus dem Fundus der deutschen Wehrmacht stammen der Kragenspiegel eines Offiziers, die Schulterklappen eines Unteroffiziers, das Edelweiß der Gebirgsjäger und das im Knopfloch getragene Eiserne Kreuz II. Klasse. Der Tigerkopf auf dem Ärmel deutet eher auf einen martialischen Dschungelkämpfer und die Sicherheitsnadel auf einen strategischen Kopf oder Defensivkünstler hin. Der Button mit der Hermes’ Schlangenpaar nachspielenden Ziffer 8 wird durch einen anderen Button ergänzt. Er zeigt – schlecht zu erkennen – einen markanten Männerkopf wie den Hammetts oder auch Chaplins
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und stände so dem Patron der Schriftsteller und (Film-)Künstler nicht übel an.
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Das Edelweiß, der deutschen Volkskunde als Unterpfand der Verschwiegenheit besonders zwischen Liebenden bekannt, gilt weithin als Symbol der Noblesse, Erhabenheit, der tapfer-zähen Einsamkeit wie auch der Unsterblichkeit. Im Pflanzenzauber wird es dem Hermes zugeordnet und speziell als Mittel gepriesen, das unsichtbar macht sowie – ideal für Uniformträger – gegen Waffen feit. Zu Beginn von Luis Buñuels Film ›Die Milchstraße‹31 (1969) weist sich ein Edelweißträger als Hermesfigur aus: Unversehens, nur von einem Windstoß angekündigt, tritt ein älterer Mann mit breitem Hut und elegantem schwarzen, mit roter Seide gefütterten faltenreichen Cape den beiden Jakobspilgern entgegen und bedenkt den einen mit einer beträchtlichen Summe. Zu ihrer Verwunderung weiß der Fremde (Alain Cuny, der auch Kostümdesigner war) um ihr Reiseziel. Das silberne Verschlußkettchen über seiner Brust ist mit einem Edelweißemblem geschmückt. Zu weiteren Hermes-Epiphanien dieses Films gehört der Auftritt eines weißgekleideten jungen Mannes, der in einer weißen »Déesse« plötzlich hinter dessen soeben tödlich verunglücktem Fahrer dasitzt. Während er beiden Pilgern eine aus dem Autoradio dringende Rede – Buñuels Stimme – übersetzt, über den »Ort, wo Tränen nichts helfen und Reue nichts
31 »Milchstraße« oder »Sternenweg« ist die alte Bezeichnung für den Reiseweg der Jakobspilger nach Santiago de Compostela. Der Bezug zu Hermes lag für Buñuel insofern nahe, als in der Mythologie die Milchstraße (»Galaxis«) durch die verspritzte Milch Heras entstand, die sich den Säugling Hermes von der Brust riß, als sie bemerkte, daß Zeus ihr den Sohn der Maia unterschieben wollte. Vgl. Hederich (Anm. Nr. 33), Sp. 1592f. s v Mercurius (nach Hyginus) und auch Sp. 1239f. s v Hercules.
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nützt«, wechselt er mehrmals unversehens Position und Kleidung, darunter ein Cape mit jenem Edelweiß-Zierverschluß.
Zu Toms Tattoos gehören eine schlangenförmige Kreuzung zwischen Wurm und Skorpion auf dem rechten Unterarm und das Kürzel »ZK« auf dem linken (das ein selbstironischer Sokratiker als »Zero Knowledge« lesen würde). Andere wie der nach vorn zeigende Pfeil auf dem Mittelfinger der Linken und waagerechte Striche auf seinen Fingern passen eher zur Wegegottheit, während die auf dem Oberkörper diskreter angebrachten (Kreis-)Zeichen wiederum eher mit der Planetengottheit und so mit der Liebesgeschichte des Films als einer zwischen Merkur und Venus korrespondieren. Unterhalb des Herzens und oberhalb des Nabels befinden sich zwei weitere Pfeile, die jeweils einem Kreis zugekehrt sind. Dann aber ist da noch dieses ketten- oder vielmehr schlangenförmige Tattoo, das nur das eine Mal länger zu betrachten ist, als Tom in der Badewanne daliegt und in einer wie telepathischen Entgegnung auf Skinner, der soeben Eloise mit dem Niederbrennen des verdammten Hotels droht,
Oben: 45:45
Unten: DVD-Musikvideo 01:13
vor sich hin murmelt, »jetzt mal ein Machtwort sprechen« und erklären zu müssen, daß Skinners Drohungen bloß heiße Luft seien. Tom wird hierbei in einer spektakulären Kameraposition gefilmt, die den eigentlichen Bildhintergrund, die Straße und den gegenüberliegenden Hausblock, wie zur Seite hin weggekippt erscheinen läßt – wodurch das Schlangenmuster auf seiner Brust nun senkrecht steht, annähernd gleich Hermes’ schlangenumwundenem Kerykeion. Wie so manches Motiv im ›Million Dollar Hotel‹ weist auch dieses Tattoo in anderen Szenen kleinere Abwandlungen auf, behält jedoch im wesentlichen die nämliche 263
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Struktur eines verschlungenen Kreis- oder Ellipsenmusters, das mit Richtungspfeilen versehen ist. Die unterbrochenen Strichlinien gleichen freilich den Verbindungslinien, die bei der Darstellung von Sternbildern üblich sind und die Einzelsterne miteinander verbinden. Versucht man dieses Gebilde daraufhin als Sternbild zu identifizieren, will dies nicht recht gelingen, vielmehr ist es eher eine Symbiose zwischen den (scheinbar) »retrograden« (Schleifen-)Bewegungen der Planeten Merkur und Venus einerseits und solchen Sternbildern andererseits, die in ihrer Gestalt den Schlangen von Hermes’ Caduceus oder auch der einen Schlange während Toms Schlangentanz am nächsten kommen. Und zwar nicht so sehr Wasserschlange (Hydra) als vielmehr Schlange (Serpens) mit Schlangenträger (Ophiuchus) sowie das Sternbild Drachen (Draco). Wäre nicht »Schlangenträger« für den Träger des schlangenumwundenen Boten- oder Heroldsstabes Hermes (»caducifer«) eine naheliegende Namensumschreibung? Wirklich kommen die kombinierten Sternbilder Schlange und Schlangenträger, die in der Antike noch als Einheit betrachtet wurden, diesem auch schlaufenförmigen Gebilde auf Tom Toms Brust unter allen Sternbildern am nächsten. In dem Schlangenträger sah man damals vor allem Asklepios, der dem gefährlichen Tier seine Heilmittel abgewinnt. Über seinen von (nur) einer Schlange umwundenen Äskulapstab freilich steht er in Verbindung mit Hermes, der einer älteren mythologischen Nebentradition nach als Vater des Asklepios gilt.32 Hermes’ Zauber- und Heroldsstab Caduceus (Kerykeion), der mittlerweile von vielen Ärzten und Apothekern als Signum geführt wird, ist ein höheres Symbol der Heilung, das einer universellen Aussöhnung der Gegensätze.
Nun sind in der Mythologie Schlange und Drachen (alias Python) bekanntlich kaum auseinanderzuhalten. Das verwandte Sternbild Draco hat denn auch selber eine spezielle hermetische Tradition. Es enthält nämlich den ehemaligen – wegen der Präzession der Erdachse inzwischen woanders zu sehenden – Polarstern THUBAN, der, auch als »Himmelsrichter« bekannt, für den ägyptischen Hermes und die von ihm erbaute Pyramide von hoher Bedeutung ist. Der Nordschacht der Königskammer in der Großen (Cheops-)Pyramide bei Gizeh wurde präzise auf Thuban (ägyptisch = »Drache/Schlange«) ausgerichtet, der als Polarstern strahlendes Zeichen für die Unsterblichkeit des beigesetzten Pharaos sein konnte.
32 Vgl. Hederich, Benjamin: ›Gründliches mythologisches Lexikon‹ (Leipzig 1770) s v Aesculapius.
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Die eine Gleichung: Schlange + Schlangenträger (Ophiuchus) = Hermes als Schlangenstabträger erscheint mir genauso plausibel wie die andere: »Drache« mit dem Pyramidenstern Thuban = Tom Toms alias Hermes’ heimatliches Sternbild, zu dem hin der Unsterbliche sich bald wieder auf den Weg machen muß. Man sollte daher versuchsweise beide Lesarten gelten lassen und dieses für Tom Tom wiederholt abgeänderte Sternbild-Tattoo als künstlerisch kalkulierte Unschärfe auffassen, eine solche, mit der sich der Filmemacher einigen Spielraum eröffnet hat, um der Komplexität seiner mythologischen Hauptfigur gerecht zu werden. Die Querverweise und Evokationen, die ihm so möglich werden, halten nun freilich seinen Interpreten ständig auf Trab und können ihn auch mir nichts, dir nichts auf den Holzweg führen. Zumal wenn wie hier noch ein filmgeschichtliches Zitat vorzuliegen scheint (vgl. S. 191 zu Peter Greenaways Hermesstern Thuban in ›Drowning By Numbers‹).
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Seelenführer in die Unter- und O berwelt. Eine Planetenliebscha ft (Merku r – Venu s). Tom Toms hermetische Hauptrolle ist wie die von Tom Ripley im ›Amerikanischen Freund‹ und Bruno Winter im ›Lauf der Zeit‹ die eines modernen Psychopompos oder Seelengeleiters. Verhilft Ripley dem todkranken Jonathan zu einem letzten großen, so risikoreichen wie euphorischen Abenteuer, das ihn zum Herrn über Leben und Tod setzt, und bringt Winter seinen »Kamikaze«, den zum Suizid entschlossenen Robert Lander, aus dem Hadesfluß zurück ins Leben, so vereint Tom Tom beide Psychopompos-Funktionen. Den nicht mehr zu rettenden Asphaltpoeten Izzy läßt er fallen und wendet sich, nicht ganz selbstlos, der von Izzy erniedrigten Eloise »Ash« zu, die er durch seine opfermutige Liebe aus ihrer seelischen Erstarrung ins Leben zurückholt. Daß seine Liebe zu Eloise ihr die zerstörte Selbstachtung zurückzugeben vermag, richtet sich auch gegen ihre vorige Käuflichkeit, die im weiteren mythologischen Horizont an die dunkle vorderasiatische Herkunft Aphrodites erinnerte, zu der ja die Tempelprostitution gehört. An einer ähnlich sublimierenden Rolle von Hermes hat sich schon Sandro Botticelli in seinem Venus-Bild ›La Primavera‹ (›Der Frühling‹) versucht, einer Allegorie der Domestizierung und Vergeistigung der Liebesleidenschaft. Als Auftragsbild anläßlich einer fürstlichen Eheschließung entstanden, zeigt es neben Zephyr und Chloris alias Flora (wohl als Repräsentanten des Brautpaares) sowie dem schwebenden Amor und den drei Grazien zum einen Venus, die hier »in der Haltung einer christlichen Madonna dargestellt ist«.33 Und zum anderen Merkur, der mit seinem hochgestreckten Botenstab die trüben (Winter-)Nebel zu durchstechen scheint und so, neben der angedeuteten Gewährung spiritueller Erleuchtung, seine spezielle Rolle als Frühlingsbote diesmal in den Dienst der ehelichen Fruchtbarkeit stellt.34 Die Liebesgeschichte zwischen Tom und Eloise stößt selbstverständlich in neue geistige und künstlerische Dimensionen vor, berührt sich aber immer wieder mit den tradierten Mythen und Märchen. 33 Wanner, Hans: ›Individualität, Identität und Rolle. Das frühe Werk Heinrich Manns und Thomas Manns Erzählungen »Gladius Dei« und »Der Tod in Venedig«‹ (München 21977), S. 71 34 Nach einer Stelle in Vergils ›Aeneis‹; vgl. dazu Zöllner, Frank: ›Sandro Botticelli, Bilder des Frühlings und der Liebe‹, S. 9 des Ausdrucks: http://www.uni-leipzig.de/~kuge/TOSKANIS.html Ulrich Rehm führt dagegen in seinem Beitrag ›Instaurare iubet tunc hymenaea Venus: Botticellis Primavera‹ das Gemälde auf den Topos der Hochzeit Merkurs mit der Philologie zurück. In: ›Renaissancekultur und antike Mythologie‹, hg. von Bodo Guthmüller und Wilhelm Kühlmann (Tübingen 1999), S. 253-281.
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S. Botticelli, La Primavera (um 1485) Florenz, Uffizien
Und berührt sich ebenso mit den profanen Mythen und Moden der Gegenwart. Am auffälligsten unter den klassischen Hermes-Attributen ist für Tom Tom die witzige Metamorphose von Flügelhut und -schuhen. Tom Ripley trägt einen schlangenhautverzierten Cowboyhut, entsprechende Stiefel und gleitet in seinem Heckflossen tragenden »Thunderbird« durch die Stadt. Bruno Winter, der sich einmal am Fenster eines Kinos mit einer gefiederten pilosähnlichen Kappe auf dem Haupt zeigt, ist mit seinem geflügelten Speditionswagen »Hermes« wie verwachsen. Tom Tom nun präsentiert sich mit dieser zu einer Flügelkappe stilisierten Frisur, hat die Haare in der Kopfmitte so weit niedergeschoren, daß die hochgebürsteten Seitenbüschel um so steiler wie Vogelschwingen aufstehen. Glaubte einer der Filmkritiker die Frisur bei Snoopys Freund, dem Vogel Woodstock aus ›Peanuts‹ gesehen zu haben (»tufts sticking out of the sides like crab grass«), so verglich ein anderer sie freier mit Schwingen von Seemöwen (»his hair sticking out in Flock of Seagulls wings«).35 Anderthalb Jahre nach der Uraufführung des Films meldete sich jemand unter »Evangeline« auf dem offiziellen »message board« bei Wim Wenders und schrieb: »I wonder at Tom Tom’s hair ... it so speaks to me of Mercury, the Messenger ... of love, of life, a purity beyound our normal experience ... mmmmm. Does anyone know if this was the intention of
35 Elvis Mitchell (»crabb grass«); Charles Taylor (»Flock of Seagulls wings«); URL: http://www.wim-wenders.com/news_reel/2001/0102freview.htm bzw. http://www.salon.com/ent/movies/review/2001/02/02/hotel
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the winged hair style?«37 Evangeline, so dies denn der wirkliche Name hinter dieser Botschaft ist, erhielt keine Antwort und verstummte. Tom Toms anderes abgewandeltes Flugattribut ist sein Skateboard, auf dem er sogleich mit umgehängter Botentasche die Verfolgung der Barfüßigen aufnimmt. Im ›Amerikanischen Freund‹ (1977) läßt Wenders einmal für eine Hermes-Epiphanie einen jungen Mann auf Rollschuhen heranfahren (vgl. S. 203), hätte jetzt also mit dem Skateboard auch technisch nachgerüstet. Die schwarzen Sneakers übrigens, die Tom aus seiner Sammlung hervorzieht und für seinen finalen Sprungflug gegen seine schwarzen Stiefel tauscht, sind an den Fersen dornartig hochgezogen. Der Sprung selbst hat eine hübsche Vorgeschichte, die sich lange vor Wenders’ Beteiligung an dem von Bono angeregten Filmprojekt zutrug. Während der Dreharbeiten zu dem U2-Video ›Where the Streets Have No Name‹ (1987), die auch auf dem Dach dieses Hotels stattfanden, hätte sich der Gitarrist »Edge« davon überzeugt erklärt, daß man vom Dach des Hotels auf das andere des ein paar Meter gegenüberliegenden Gebäudes springen könnte. Bono: »He said, ›If you have faith, if you believe you can do it, you can.« So, that was the first thing that struck me, that ›leap of faith‹«. Als Bono im Jahr darauf Wenders’ späterem Drehbuchautor Nicholas Klein davon erzählte, hätte der spontan erwidert, schon seit langem einmal eine Geschichte mit dem folgenden Satz beginnen zu wollen: »After I jumped, it occured to me...«37 Beinahe zu schön, um wahr zu sein. Wenders nun hat die Ausführung des Sprungs so stilisiert, daß sie sicherlich auch dem ästhetischen Selbstgefühl eines Weitspringers gerecht wird: Die längere Phase der Konzentration, das Sichabstoßen zu dem langen Anlauf von gut 30 Metern, das Zulaufen auf die unversehens frontal postierte Kamera und schließlich, nach mehrfach sich überlappenden Superzeitlupen, der energische Absprung. Nach dem Umschnitt sieht man die aus schwindelerregender Höhe herunterkommende Gestalt noch einige Schritte weiter in der Luft »laufen«.38
Die religiöse Komponente bei diesem »suizidären« und doch so freudig ausgeführten »Glaubenssprung« bleibt im Film noch insofern berücksichtigt, als Wenders hierfür Hermes einsetzt, der sich, Patron aller (Leicht-)Athleten und Personifikation der Lüfte, in seine höhere Sphäre oder auch zu seinem Planeten schwingt, um den Zuschauern danach ausführlich von seinem Liebesabenteuer zu berichten. Auf diesen Planeten, 36 Zuschrift vom 3.7.2001 37 In ›Urban Cinefile‹ 7/12/2000; URL: http://www.urbancinefile.com.au/home/view.asp?a=4329&s=Features 38 Auch die späteren weißen Markierungen auf dem Straßenpflaster scheinen die Haltung eines Weitspringers nachzuzeichnen, der sich soeben vom Balken abstößt; vgl. die Abbildung im MDH-»Filmbuch«, a.a.O. S. 148.
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Merkur, scheint außer den genannten Tattoos ein fünfzackiger Stern hinzudeuten, den sich Tom oberhalb des Herzens hat auftätowieren lassen; vielleicht steht er auch schon für seinen geliebten Nachbarplaneten, den »Fünfstern« Venus. Bestandteile seines abstrakteren Planetenzeichens (Abbildung) wären der große Kreis auf seinem rechten Handrücken und ein kleineres Kreuz auf dem linken. Der zu Merkurs Planetensymbol noch dazugehörige hörnerartige Aufsatz, der mal als Mondsichel gedeutet wird, mal als Flügelhut oder – korrekt – zusammen mit dem Kreis als das versöhnlich sich umringelnde Schlangenpaar seines Botenstabes (Caduceus), »fehlt« hier freilich unter den Tattoos. Es sei denn, man wollte ihn wie beim Schlangenband an Ripleys Hut »verschoben« wiedererkennen, nämlich als die caduceusförmige, mit einem oben deutlich kleineren Teilkreis versehene Ziffer 8 auf dem Button, den Tom seiner Uniform angesteckt hat. Für die Liebesgeschichte zwischen Tom und Eloise alias Merkur und Venus hat Wenders neben den Kreiszeichen noch dynamischere Symbole aufgeboten, die laufend beider extraterre-
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strische Herkunft und Sehnsucht beschwören, das Verlangen des Paares nach Einsamkeit und ebenso nach Überschreitung dieser irdischen Existenz. Wie von ungefähr zeigt sich Tom eine Zeitlang in einem Shirt, dem ein Raketenflugzeug aufgedruckt oder -gemalt ist. Kaum zu übersehen jedoch sind in Eloises Zimmer die Plakate und Photos mit Weltraumund Raketenabschußbildern, die während ihres Dialogs im Rhythmus von Schuß und Gegenschuß mit einbezogen werden. Hinter Eloise außen links ein Plakat, das den an 16.7.1969 erfolgten Start einer Saturn-5-Rakete für die Apollon-11-Mission zeigt (zur ersten Landung eines Menschen auf dem Mond). Und plötzlich, nur im Moment ihrer strahlenden Annäherung an Tom, offenbart sich hinter Eloise ein anderes Bildmotiv: Es ist eine Abbildung von – Venus, »ihrem« Planeten.
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Welch hochvergnügliches Versteckspiel! Auch in der Vergrößerung ist der Planet leider nur verschwommen auszumachen, doch ist es die gleiche physiographische Ansicht, wie sie die beigegebene Internet-Abbildung der Venus zeigt.39
1:18:41
Die lyrischen Songs des Films kreisen ebenfalls ausdauernd um das Planetenmotiv, speziell der schon Héloise – Patricia Highsmith’ Venus – antörnende Lou-Reed-Klassiker ›Satellite Of Love‹ (1972).40 Das ist stimmig, war es doch niemand anders als Aphrodite, die dank ihrer orientalischen Herkunft als »Himmelskönigin« Astarte/Ischtar einst Hermes die Planetenbewegungen beibrachte.41 Das Lied, das auf der Filmmusik-CD auch von Milla Jovovich gesungen wird, setzt jetzt ein, als die beiden sich vor diesen Raketen- und Planetenphotos den kleinkindlichen, für eine Luftgottheit jedoch sehr schicklichen Pustekuß gegeben haben. Während ihrer Liebesnacht wird der Song (»Satellite’s Gone / Up To The Sky ...«) erneut vorgetragen, diesmal von Bono. Das »Satellit«-Motiv selbst kommt schon bei Toms Kontaktaufnahme mit Eloise im Hotelflur auf und wird dort bald abgelöst von einem anderen Motiv mit Satellitenpiepsern und Funksignaltönen, bis der Beat der Musik einen Herzschlag simuliert und Tom endlich seinen Kopf an Eloises Brust legt (17:40–18:25). In der nächtlichen Szene, in der Tom allein auf der Fensterbank dasitzt 39 URL: www.solarvoyager.com/images/venus.jpg 40 Es ist Reeds Platte »Transformer« mit dem »Satelliten«-Stück, die sich Héloise anhört; vgl. ›Der Junge, der Ripley folgte‹ (Zürich 1982), z.B. S. 402f. und 473. 41 Nach Hyginus: ›De Astronomia‹ (II 42,2)
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und im Voice-Over anmerkt, daß in dieser Nacht die Welt sich schneller als gewöhnlich drehe und er sich entsprechend festhalten müßte, erklingt, derweil die Kamera langsam einen Kreisbogen von fast 360 Grad bis hin zum Nachbarfenster schlägt, das U-2-Stück ›Stateless‹, das Bono wie aus der Weltraumperspektive und -schwärze eines fremden Planeten geschrieben hat: »You can cover the world with your thumb / But it’s still so big, so bright, so beautiful ...« Und weiterhin im Liedtext : »I’ve got no home in this world / Just gravity …/ There’s no sunshine in your skies …« (34:02–35:12) Das Planetenmotiv wird gegen Ende des Films noch einmal in Szene gesetzt, diesmal anscheinend als Allegorie für die Erde selbst, für den Planeten, von dem Tom sogleich Abschied nehmen soll. Nach wiederholtem Wechsel zwischen dem Paar und dem klavierspielenden Dixie, dessen ›Für Elise‹ schon während Toms Liebeserklärung im Off aufkam, unterbricht nun dieser »fünfte Beatle« seinen musikalischen Zwittervortrag, der Beethovens Bagatelle und John Lennons ›I Am the Walrus‹ verschmilzt; und erklärt mit einer grandios wegwerfenden, weit über den Horizont dieser Hotelexistenz hinausdeutenden Geste: »Das hier? Was ist das schon? Das ist doch alles Scheiße!« Der Umschnitt zeigt uns die soeben laufenden Abräumarbeiten im Hotelfoyer. In einer gerade zehn Sekunden währenden Einstellung zirkulieren sieben Personen um den
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runden Festtisch der aufgeflogenen Vernissage, fast alle wie die Erde selbst gegen den Uhrzeigersinn. Absurd die Kreisbewegung des Mannes seitlich rechts vom Tisch, der sich mit einem goldflittergekrönten Dekorationsgitter wie mit einer Puppe zweimal um sich selbst dreht. Zwei Männer tragen aus dem Hintergrund eines der großen Teergemälde schräg am Tisch vorbei. Hinter ihnen läuft eine Frau einer in der Höhe 271
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angebrachten Goldpapierschlange nach und zieht sie mit einem Stab Stück für Stück herunter. Im Vordergrund streicht ein Mann langsam am Tisch entlang, steckt sich etwas in die Manteltasche, ergreift sodann die schlangengleich mit einer goldfarbenen Kordel verzierte Vase mit den Blumen und dreht sich damit zuletzt wie unschlüssig hin und her. Von hinten her geht eine andere Frau einige Schritte um den Tisch herum, stellt ein Glas darauf ab und schenkt sich umständlich etwas ein, derweil sich ein Rollstuhlfahrer diagonal dem Tisch nähert, just davor anhält, doch nur um einen Schluck aus seiner mitgebrachten Flasche zu nehmen und nach schwungvoller Kehre wieder zurückzufahren. Ist das nicht die Parodie eines Planetentanzes, eine Choreographie des von höherer Warte aus letztlich sinn- und nutzlosen Treibens auf unserem so vielfältig korrumpierten Planeten? Ironisch akzentuiert wird dieser ganze, in einer Aufsicht gezeigte Ablauf durch den ramponierten Kronleuchter mit seinen kreisförmig angeordneten Lampen.
Hermaphroditos? Toms Verbindung mit Eloise bleibt bis zuletzt ein Mysterium. Ihre wiederholte Erklärung, sich noch auf eine venerische Erkrankung hin untersuchen lassen zu müssen, hält besonders der Vollzug des sexuellen Aktes in der Schwebe und weist den Zuschauer dadurch stärker auf die Dimension der Kindlichkeit hin, die allein – so Wim Wenders – die beiden verbinde.42 In diesem Geiste zeigte er die beiden in einer zarten, nur im filmischen »Diary« bewahrten Szene, wie sie in Toms Zimmer das beschlagene Fenster anhauchen und allmählich über je zwei, drei von ihnen darauf hingemalte Pfeil- und Namenszeichen aufeinander zukommen, um sich schließlich unter einem Hauchkuß zu treffen (27:36–28:32). Die Eliminierung der Szene begründete Wenders mit dem Vorrang der Geschichte »vor dem, was bloß schön ist«. Er entschied sich statt dessen für den kindlicheren Pustekuß. Zur Aura der Kindlichkeit muß für die Hermesgestalt Tom Tom nichts weiter gesagt werden. Doch auch Aphrodite, die Inkarnation der Frau, hat schon als olympische Gottheit mädchenhafte Züge und wird öfter als nicht ganz ernst zu nehmendes Wesen hingestellt, gerade auch als Verkörperung der erotischen Schönheit und sexuellen Anziehungskraft,
42 »This ›idiot‹ is the only one who could possibly wake up this girl to herself. And he can only do it by touching her in the one area they have in common so to speak, and that’s their childhood«. Interview mit Megan Spencer (14. 12.2000.Transkript bei URL: www.abc.net.au/triplej/arts/access/wenders.htm
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HERMAPHRODITOS?
die sich über Verstand und Verdienst unkalkulierbar hinwegsetzt.43 Eloise nun richtet die ihr abgepreßte sexuelle Annäherung an Tom unverhohlen als Kinderspiel ein. Er muß ihr gegenüber erst »den Idioten spielen«, ehe sie ihre Rolle als Hure spiele (51:43–52:40). Wie weit dieses Spiel hier geht, möge also dahingestellt bleiben. Es gibt da freilich eine ungewöhnliche visuelle Inszenierung, die an den Mythos denken läßt, wonach aus Hermes und Aphrodite der Hermaphrodit hervorgegangen
Oben: 1:39:25
Unten: 1:43:02
ist. Ich meine die letzten Einstellungen auf die beiden, als Eloise von der gemeinsamen Flucht nach Südamerika phantasiert und beide Kopf an Kopf auf dem Bett daliegen. Dessen Überwurf ist mit Mohn- oder mit Rosenmotiven verziert – was so zweideutig bleibt wie die Fisch- und Vogelmuster auf ihrem Pullover, sind doch wie diese Tiere auch beide Blumen der Aphrodite heilig. Die Mohnblume oder auch die Anemone (alias Buschwindröschen) entwuchs den Tränen, die einst Aphrodite um ihren getöteten Geliebten Adonis vergoß. Neben Tom auf diesem geblümten Bett daliegend, treten Eloise zum erstenmal Tränen in die Augen, als sie sein Tatmotiv vernimmt. Izzy habe er fallen lassen, weil er sie liebe und sie für ihn kein Nichts sei. Sie beendeten soeben ihren lautstark geführten Streit über Toms Fluchtchancen, indem die Hand des einen den Mund des anderen verschlossen hielt. 43 Hederich (a.a.O.) verweist auch s v Venus auf die folgende Ableitung ihres Namens: »aphainein, unsinnig sein«.
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Eine von beiden geteilte hermetische Geste, die in den allerletzten Einstellungen als Zwillingsgebärde weitergeführt wird: Beide haben nun den Kopf nach hinten zurückgebeugt, Eloise, die ausgestreckt auf dem Rücken liegt und Tom, der mit dem Rücken zu ihr, gegen das Bett gelehnt, dasitzt. Erinnert diese Kopf-an-Kopf-Position, die man auch als Motiv auf griechischen Münzen kennt, nicht von fern her an eine Doppelherme? Selbstverständlich hat sie nichts von der brutalen Strenge der römischen Ausführung, die zwei an den Hinterköpfen zusammengewachsene Personen zeigt. Es ist vielmehr eine künstlerisch freie Gestaltung, die für Tom und Eloise als Bild der Vereinigung und des Abschieds zugleich gelten kann. Sowohl Hermes und Aphrodite als auch den Hermaphroditen selbst hat man als Doppelbüste oder -figur dargestellt.44 Eine Photographie, die unter dem Stichwort »Sonderapplikationen« auf der Film-DVD zu finden
Thrakische Drachme; ca. 350 v. Chr.
ist, zeigt die Verschmelzung des Paares in einer drastischeren Variante, die den androgynen oder hermaphroditischen Charakter der beiden Liebenden kenntlicher macht. Die sexuelle Zweideutigkeit schon der Eltern des Hermaphroditen faszinierte auch Patricia Highsmith, die ihren Hermes Tom in ›Der Junge, der Ripley folgte‹ zeitweilig in Frauenkleidern auftreten läßt, während ihre Aphrodite Héloise dort am liebsten Lou Reeds Schallplatte» Transformer« auflegt, die sexuellen Transformationen im allgemeinen und den Transvestismus im besonderen gewidmet ist.45 Der Hermaphroditismus ist bei Highsmith wie bei Wenders zwar nur ein Nebenmotiv, deutet aber insofern weit über die sexuelle Dimension hinaus, als er eine der Erscheinungsformen von Hermes ist, des uni-
44 Vgl. Rückert, Sabine: ›Die Herme im öffentlichen und privaten Leben der Griechen‹ (Regensburg 1988), S. 156-159 und 182. Neuere Abbildungen überwiegend in alchimistischer Literatur, s. etwa ›Alchimia. Ideologie und Technologie‹, hg. v. Emil Ernst Ploss u.a. (München 1970), S. 138f. und 167. 45 Vgl. Anm. 40
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VEXIERGESTALT SKINNER
versellen Mittlers, der vitale ebenso wie geistige Gegensätze und Konflikte auszusöhnen oder auszugleichen trachtet.46
Vexiergestalt Skinner Es sieht so aus, als würde Skinner zuletzt in beider Mysterium einbezogen. Wenn Eloise mit den Händen, die sie in Toms Blut tauchte, die Hände des zunächst unwillkürlich Zurückschreckenden ergreift und in der nachfolgenden Umarmung der eine den Kopf über die Schulter des anderen legt, dann schließt dies unmittelbar an jene Zwillingsgesten des Paares an. Das Ganze hat etwas von einem atavistischen Ritual und wird magisch gesteigert durch Überblendungen, die von den beiden hinüber zu dem Photo des ebenfalls Kopf an Kopf gelehnten Freundespaares Tom und Izzy führen, ja, beide Paare in einer einzigen Überblendung vereinigen!
1:50:04-15
Nun wird Skinner dem Zuschauer in einer für Wenders wunderlich penetranten, nahezu Greenawayschen Manier als Vexier- und Rätselfigur angeboten und erscheint zudem als Hybridgestalt, die den abstrusen, Mensch und Tier paarenden Geschöpfen der ägyptischen und indischen Mythologie angenähert und zusätzlich mit zeitgemäßem androiden Outfit versehen wird. Auf diese Weise deutet diese Filmfigur in alle möglichen 46 Kerényi charakterisiert die Gestalt des Hermaphroditen »als Götterbild von urtümlichem ...Typus ... Die Etrusker kannten seit ältester Zeit beide Gottheiten unter demselben...vorgriechischen Namen: Hermes als turms, Aphrodite als turans. Wo der eine der ›Herrscher‹ ist ... ist die andere die ›Herrscherin‹ ... : ein uraltes Götterpaar oder ... die zwei Aspekte desselben Urwesens.« (Essay ›Hermes‹, in: Kerényi, Karl: ›Humanistische Seelenforschung‹ (München/Wien 1966), S. 102.) Nach einer mythologischen Nebentradition galten Hermes und Aphrodite auch als Zwillinge. »Die beiden wurden als Geschwisterpaar betrachtet, nach einer Genealogie als Kinder des Uranos, des nächtlichen Himmels, und der Hemera, der Tageshelle. Zwillinge mußen Hermes und Aphrodite sein, da sie einen gemeinsamen Geburtstag hatten: den vierten des Mondmonates. Ihr Sohn sei Eros gewesen, oder eben jener« (d.i. Hermaphroditos). Kerényi, Karl: ›Die Mythologie der Griechen‹, Bd. 1: ›Die Götter- und Menschheitsgeschichten‹ (222001 München), S. 137.
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und unmöglichen Richtungen, darunter auch in die klassische Mythologie, hat er doch als der einst so virtuose Geigenspieler etwas von Hermes’ großem Bruder Apollon, der als Schinder seines unterlegenen Rivalen Marsyas tatsächlich als »Skinner« auftrat. Oder von dem anderen Bruder, dem Kriegsgott Ares, wenn Skinner bei seinem ersten Auftritt anscheinend unaufhaltsam auf die Hotellobby zugestampft kommt.47 Bald darauf wiederum, im Fahrstuhl, glaubt man Hermes’ Vater Zeus vor sich zu haben, der mit Maia ein Stelldichein sucht (»Code Maia Blue«) und ihr den Kleinen an seiner Seite, der vor einem Graffito »MUMA MIA« dasteht, als »ein Echo« seiner selbst ausgibt (9:06-32). Gleich danach ist er eher eines der antiken Ungeheuer, mit denen Hermes fertig zu werden hatte, speziell Argos, wenn Skinner auf einmal mit einem magischen Kameraauge ausgerüstet erscheint. Tom gegenüber führt er sich später in dem Restaurant wie ein Sophist auf, indem er mit einem satanischen Di- oder Trilemma eine Aussage über den Täter abzupressen versucht. Wenn Skinner gleich Buddha im Lotussitz und mit entsprechender Handgebärde »Erleuchtung« von den Hotelbewohnern verlangt, scheint er – wie von Dixie inspiriert – jedermann auf den Trip nach Indien schikken zu wollen. Dies womöglich gar in Nachfolge von Salman Rushdies Roman ›The Ground Beneath Her Feet‹ (1999), mit dessen gleichnamigem Song Bono den Film beschließt. Was ebenfalls nicht ganz so abwegig wäre, ist doch die mythisch-tragische Grundierung der Liebesgeschichte des Films vergleichbar mit diesem Roman, der eine moderne Version des Unterweltdramas von Orpheus und Eurydike vorlegt (erzählt von beider Seelengeleiter Umeed »Merchant«, der den Song als ein großes »Teenager-Gebet« apostrophiert).48 Doch weist Skinners dritter Arm, der sich in der indischen Mythologie eigentlich nicht übel ausnehmen würde, zugleich wieder in eine andere Richtung, auf Edward Albees Bühnenstück ›The Man Who Had Three Arms‹ (1981), eine Satire über den Ruhm eines Freaks namens Himself und über die amerikanischen Medien, die ihn zuerst pushen und dann – ähnlich wie in unserem Film von »Channel Six« praktiziert – wieder fallenlassen, als der aus seinem Rücken gewachsene Arm sich plötzlich zurückbildet. 47 In der ersten Einstellung auf ihn sieht man kaum mehr als seinen schnallenverzierten Schuh, den er beim Aussteigen aus dem Auto um ein Haar auf eine dort wie ausgelegte Bananenschale setzt. Die Präsentation dieses Schuhs selbst ist ein Zitat, rekapituliert die Inszenierung des ersten Auftritts von Mel Gibson in der ›Mad-Max‹-Trilogie George Millers, wo er über seine Schnallenstiefel ins Bild gesetzt wird (in ›Mad Max‹, 1978). 48 S. 215 der deutschen Ausgabe ›Der Boden unter ihren Füßen‹ (Hamburg 2000); dort auf S. 710f. die Textvorlage für Bonos Schlußsong. Rushdie hat seine Eurydike nicht nur mit Venus, sondern ebenfalls mit den Märchenfiguren Dornröschen und Schneewittchen gleichgesetzt.
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So könnte man sich immer weiter von dieser synthetischen, aus Zitatfragmenten zusammensetzten Figur in die Irre führen lassen, auch tief in die Film- und Fernsehgeschichte hinein. Der eine amerikanische Kritiker fühlte sich eher an einen populären TV-Polizeisergeanten aus LA erinnert, während der andere auf eine TV-Krimiserie mit »Assistant Director Walter Skinner« aufmerksam machte. Ein dritter fand es erwähnenswert, daß Skinner in seinem Stützkorsett Erich v. Stroheim als v. Rauffenstein in Jean Renoirs ›Die große Illusion‹ (1937) verteufelt ähnelt. Dann wiederum stemmt Skinner wie Michael Myers, der geisteskranke Mörder in John Carpenters ›Halloween‹ (1978), Geronimo hoch an die Wand und rammt ihm – statt des Messers – den Kopf in den Leib. Wim Wenders schließlich legt einem in seinem filmischen »Diary« eher den ›Glöckner von Notre-Dame‹ sowie ›Frankenstein‹ nahe, um dann auf einmal eine Szenenprobe vorzuführen, in der Skinner à la Kinski-Dracula lüstern saugend und schlürfend auf jemanden zugeht und sich vor dem Zubeißen eben noch zurücknehmen kann (54:26-30). Ich selber möchte vorschlagen, diese hochartifizielle Figur als eine zusätzliche deliriöse Strophe zu John Lennons ›Walrus‹-Komposition aufzufassen und ihr den Untertitel »Sgt. Pilchard« zu geben. So wird nämlich Skinner in der englischsprachigen Filmfassung von dem in dieser Hinsicht kundigen Dixie einmal tituliert (1:37:00). Nähme man all jene Verweiszeichen für Skinner ernst, machte man ihn zu einem lächerlichen synkretistischen Supermutanten. Er würde in etwa der trüben Hermesgestalt der Spätantike gleichen, die in Ägypten als hundeköpfiger Hermanubis Karriere machte und sodann, entsetzlicher noch für die so licht- und geistvolle griechische Gottheit, im weiteren Verlauf vom Okkultismus wie von der Esoterik der Gegenwart ausgebeutet wurde. Mel Gibson selbst, der Wenders’ Film hinterher deftig verwünschte,49 spielt hier im übrigen großartig und macht im zweiten Teil des Films die menschliche Substanz seiner Rolle kenntlicher, wenn diese schicksalhaft fürs Leben gezeichnete, so rigide um Würde und Haltung bemühte Person sich ihrem Auftraggeber zu widersetzen beginnt.
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»I thought it was as boring as a dog’s ass.« So in einer Pressekonferenz unmittelbar vor dem australischen Start des Films, der von Gibsons Firma »ICON Productions« produziert wurde.
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Filmgeschicht licher Anhang Versteckte Huldigung an ›Citizen Kane‹: Imperiale Auftaktbilder und sich anpirschende Kamera – Schachspiel und Hermesfigur Gaff aus Ridley Scotts ›Blade Runner‹ – Filmzitate jenseits der Hommage; stillschweigende Erwiderungen
›Das Millionen Dollar Hotel‹ setzt mit Helikoptergeräuschen und Autosirenen ein, bis nach der Titelei Bonos Song ›The First Time‹ aufkommt und mit ihm der visuelle Auftakt, der morgendliche Kreisflug um Downtown Los Angeles. Die Kamera von Phedon Papamichael fährt hierzu wie aus der Nachtschwärze heraus in rasch sich öffnender Aufblende auf etwas zu, das zunächst einem Schallplattenstapel gleicht. Ein Gebilde aus mehreren blauen und darüberliegenden rötlichen Streifen, verschwommen alles, bis man es als den oberen Abschluß eines Hochhauses identifizieren kann. Derweil die Kamera nun das steinerne Herz der Innenstadt in einem ¾-Kreisschwenk umfliegt, orientiert sie sich bis zuletzt an dem höchsten Gebäude, das mit seiner gezackten blauen Königskrone im Mittelpunkt der Kreisbewegung bleibt. Die anderen Gebäude liegen kompakt
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wie ein Wall darum, weithin uniform durch ihre schwarzglänzenden Fassaden und grüngelblich durchscheinenden Innenbeleuchtungen. Schließlich verlangsamt sich die Fahrt der Kamera, die sich nun unter leichten Pendelbewegungen strenger auf einige Gebäude ausrichtet, die wie Schachfiguren plaziert erscheinen: Jenes mit der blauen Rundkrone (der von Pei erbaute »Library Tower«), dicht davor eine zu ihm passende »Dame« (der mit einer schiffsbugförmigen Krone wie mit einem Diadem versehene »Gas Company Tower«) sowie auf der einen Seite ein kleinerer schlanker »Läufer« (der »PacBell Tower«). Vielleicht gehört noch der auf der anderen Seite – etwas tieferliegende – gedrungene »Turm« (vom »Regal Biltmore Hotel«) dazu. Eine Konstellation, die von der 278
FILMGESCHICHTLICHER ANHANG (ZU ›CITIZEN KANE‹ UND ›THE BLADE RUNNER‹)
leicht auf- und abschaukelnden Kamera festgehalten wird, bis von unten her, wie aus der Unterwelt oder auch einem U-Boot gleich, die – digital reanimierte – Dachreklame vom »Million Dollar Hotel« auftaucht! Die kippende Kamera läßt das Reklamegestell optisch langsam höher steigen, und als es endlich das Wolkenkratzer-Ensemble beinahe überdeckt und mit der Spitze die gläserne Königskrone zu berühren scheint, erlöschen schlagartig die roten und dann die grünen Glühbirnen der Hotelreklame. Eine Überblendung leitet auf die Rückseite dieses Dachgestells hin, und schon tritt Tom Tom ins Bild und geht langsam zum Geländer zurück, um sich auf den Anlauf zum Absprung zu konzentrieren. Vor ihm liegt als Horizontstreifen das Morgenrot, das immer stärker im Nachtblau des Himmels aufkam. Sehe ich recht, enthält dieser Auftakt eine Huldigung an gleich zwei große thematisch eng verwandte Filme, an Ridley Scotts in Los Angeles spielenden und ebenfalls insgeheim um eine Hermesfigur kreisenden ›Blade Runner‹ (1982) sowie an Orson Welles’ ›Citizen Kane‹ (1941). Welles hat in Gestalt des Pressezaren Charles Foster Kane eine ebenso egozentrische und tyrannische Persönlichkeit wie den Medienmogul Stanley Goldkiss zum erstenmal genauer charakterisiert und mag darum hier den Vortritt haben: Die Anfangssequenz seines Films ist so bekannt, daß man sie sogleich leicht verfremdet betrachten möge, nämlich im vergleichenden Blick mit dem vorhin beschriebenen Auftauchen des »Million Dollar Hotels« unterhalb des thronenden Königsgebäudes. In betörenden Überblendungen arbeitet sich Gregg Tolands Kamera gegen das abweisende Schild »NO TRESPASSING« hoch zum Palast Kanes, dem neuen Xanadu. Eine der ÜberCitizen Kane (1941) 01:07 blendungen zeigt das von Kanes »K«-Monogramm gekrönte Portal in der Weise, daß es gleich jenem Hoteldachgerüst schon halb auf den Palast hin geschwenkt erscheint. Und ebenso erlischt zuletzt das Licht schlagartig, als die Kamera droben vor dem erleuchteten Fenster angekommen ist. Auch hier erfolgt an dieser Stelle ein Perspektivwechsel, in Form einer Überblendung, die nun von innen her auf das Spitzbogenfenster eingerichtet ist und das vor dem Fenster stehende Bett mit dem sterbenden Kane zeigt. Im ›Million Dollar Hotel‹ wird an dieser Stelle von dem Gerüst mit der erloschenen Dachre279
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klame auf dessen Rückseite übergeblendet, wo sich Tom auf dem Hoteldach soeben anschickt, in den Tod zu springen. Und wenn er sich nun hinunterstürzt und statt seiner – zeitversetzt – das kleine Eisstück drunten aufs Pflaster schlägt und zersplittert, dann ist dort zu sehen, wie die Schneekugel, das Symbol seiner lebenslangen Sehnsucht nach dem »Rosebud«-Schlitten seiner Kindheit, Kanes Hand entgleitet und einige Stufen hinunterspringt, bis sie auf dem Steinboden zerschellt. Lakonischer läßt Orson Welles in einer späteren Szene die Kamera erneut in einer solchen Aufwärtsbewegung in ein Gebäude eindringen und auf jemanden zufahren. Diesmal ist es die abgefallene »Königin«, die von Kane geschiedene Susan Alexander. Von dem über dem Nachtclub »El Rancho« angebrachten Porträt der Sängerin her steigt die Kamera höher der rhythmisch blinkenden Dachreklame entgegen und fährt durch sie hindurch auf ein kleines erleuchtetes Glasdach zu, auf dem ein rosenähnlich stilisierter Gegenstand liegt. Sogleich kippt die Kamera suchend hinunter. Und fährt nach der Überblendung näher auf Susan zu, die drinnen soeben von dem Wochenschaureporter Thompson aufgespürt wurde und gebeugt vor ihrem Highball dasitzt. Welles setzt diese gleichermaßen investigative wie Citizen Kane 13:55 indiskrete Annäherungshaltung der Kamera weiterhin leitmotivisch gegen Kane und Susan ein. Was insofern eine ironische Umkehrstrategie ist, als sie sich gegen den Meister der Enthüllungs- und Diffamierungspresse selbst richtet. Ähnlich befürchtet nun Goldkiss, durch Konkurrenzblätter erledigt zu werden. Und wie schon Randolph Hearst, das Urbild der Kunstfigur Kane, mittels FBI-Recherchen diesen Film von Orson Welles unterdrücken wollte, so sucht Goldkiss sich des FBI-Agenten Skinner zur Vertuschung zu bedienen. Die deutsche Filmfassung hat lange Zeit das Schlußbild von ›Citizen Kane‹ unterschlagen, die nun trostlose Wiederholung der Anfangseinstellung auf den Palast. Kaum wurde der »Rosebud«-Schlitten von einem Bediensteten in die Flammen geworfen und zog die Kamera draußen hoch auf die schwarzen Rauchschwaden, die aus dem Kamin quollen, führt nun noch eine Überblendung wieder auf den Maschendrahtzaun und das Schild »NO TRESPASSING« zurück. Darüber legt sich bald in einer weiteren Bildüberlagerung jene Einstellung, die neben dem Portal-
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aufsatz mit dem »K« von unten her den Palast zeigt: Jetzt jedoch ohne lockendes Fensterlicht, nur noch mit der Rauchfahne. Bei Welles stellt diese Kamerafahrt eine besonders zudringliche Art der »subjektiven Kamera« dar und repräsentiert primär Blick und Einstellung des Reporters Thompson, dessen Gesicht immer nur im Profil oder überschattet gezeigt wird. Wenn er zuletzt die von ihm gesuchte und nicht gefundene BedeuCitizen Kane 1:52:10 tung von »Rosebud« mit einem der Mosaikstückchen von Susan Alexanders Puzzle vergleicht, einem, das womöglich verlorengegangen sei, dann scheint jene Schlußeinstellung der Kamera seiner resignativen Erklärung beizupflichten. Dieses »NO TRESPASSING«50 wendet sich überdies an den perspektivisch überlegenen Zuschauer, darauf insistierend, daß trotz des ihm soeben exklusiv präsentierten Detailgeheimnisses (des Schlittennamens) das eigentliche Lebensgeheimnis im letzten unerklärlich geblieben sein dürfte. Wer wollte denn auch ernstlich ableiten wollen, daß aus dieser beschädigten Kindheit eine solch monströse Persönlichkeit erwachsen würde? Wim Wenders hat die sich anpirschende Kamerafahrt nun freilich in anderer Funktion zitiert, nicht um sich damit dem Lebensgeheimnis seines zynischen Magnaten anzunähern, sondern umgekehrt in Betonung der Solidarität mit den armen Teufeln drunten, bei denen die Lichter soeben ausgingen. Gleichwohl ist die Stoßrichtung die nämliche, mag es auch so aussehen, als sollte das egomane Prinzip Goldkiss, das notfalls auch die eigenen Kinder verschlingt, wieder einmal davonkommen. In ›Citizen Kane‹ war das Hauptopfer Susan Alexander, deren Zusammenbruch als Opernsängerin ein immer hektischer flackernder und dann erlöschender Bühnenscheinwerfer veranschaulichte. Die in der Eröffnungsszene des ›Million Dollar Hotel‹ visuell so sorgfältig kalkulierte Anordnung der zentralen Hochhäuser, der beiden gekrönten Gebäude und ihrer Begleiter »Läufer« und »Turm«, läßt an die Aufstellung auf einem Schachbrett denken. An diese Anfangsaufstellung 50 Das noch heute gebräuchliche Verbotsschild ist im ›Million Dollar Hotel‹ neben einem Fahrstuhl gerade in dem Moment zu sehen, als Skinner ihn in Begleitung von Best betritt, um gesetzwidrig Wanzen in Geronimos Zimmer anzubringen (36:19).
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schließt der Film zum Abschluß an, wenn ein Helikopterflug von der am Fenster sitzenden Eloise hinwegführt und dabei doch Hotel und jene Zentralgebäude zugleich im Bildkader behält. Während der Filmhandlung werden »König«, »Königin« und »Läufer« wiederholt optisch pointiert ins Spiel gebracht, einmal, bei Toms Vision von dem in die Tiefe hinwegkippenden Izzy, bleibt der »König« zunächst Sekunden lang durch dessen Körper verdeckt (47:14-15). Sodann spielt Best verbal auf ein Schachspiel an, als er sich über seinen Kollegen Skinner mit den Worten lustig macht, daß ihn die Hotelbewohner mit ihren rührseligen Auftritten vor der TV-Kamera »schachmatt gesetzt« hätten. Wim Wenders selbst spricht an einer Stelle seines Audiokommentars von Tom Tom als dem »Bauernopfer« seiner Mitbewohner (1:13:08). Zu ihnen gehört die reizende alte Jessica, die zufälligerweise oder auch nicht den Nachnamen d’Orville51 trägt. In diesen und weiteren Details nun zeichnet sich für mich eine filmsprachliche Anknüpfung an den im Jahre 2019 ebenfalls in Los Angeles spielenden ›Blade Runner‹ von Ridley Scott ab. Er erzählt im Motiv der Auflehnung der Androiden (»Replikanten«) gegen ihren gottgleich sich gebärdenden Schöpfer Tyrell eine zunächst aggressivere Version des Widerstandes. Als Anführer der Replikanten, die im Weltraum Sklavendienste zu leisten haben, sucht Roy seinen Schöpfer auf, um die so entsetzlich knapp bemessene Lebenszeit von vier Jahren für sich und die anderen genetisch korrigieren zu lassen. Die Vorentscheidung fällt dabei über eine Schachpartie, durch die sich Roy den Zugang zu dem wolkenhoch über dem verrottenden LA liegenden Arkanbereich seines eitlen »väterlichen« Schöpfers verschafft. Er schlägt ihn und danach, als Tyrell auch zu seinem Genetikprogramm keinen Rat mehr weiß, liquidiert er ihn. Die entscheidenden Schachzüge Roys kreisen um die drei auffälligsten Figuren des ›Million Dollar Hotels‹: »Dame schlägt Läufer ... Läufer zu König«. Bei Ridley Scott entsprechen sie bekanntlich dem Ende der als »The Immortal Game« berühmt gewordenen Londoner Partie von 1851 zwischen Anderssen und Kieseritzky. Verfolgt wird Roy von dem »Blade Runner« Deckard, dessen polizeilicher Auftrag euphemistisch als »Verabschiedung« (»retirement«) bezeichnet wird und unverhüllt lautet: »to kill, upon detection, any trespassing replicant.« NO TRESPASSING also auch im ›Blade Runner‹, der neben Fritz Langs ›Metropolis‹ (1926) so manches dem Studium von ›Citizen Kane‹ verdankt, speziell der megalomanen Architektur und
51 August d’Orville war im 19. Jahrhundert der große Vertreter des Schachspiels als einer »Problemkunst«, die sich primär für eine ästhetische befriedigende Lösung auch des Mattzuges interessierte.
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FILMGESCHICHTLICHER ANHANG (ZU ›CITIZEN KANE‹ UND ›THE BLADE RUNNER‹)
Lichtsetzung.52 NO TRESPASSING jetzt als Verbot, sich dem Menschen, ihrem Planeten und Gefühlsleben weiter anzunähern. Deckard wird jedoch bei der Erledigung seines abstoßenden »skin-jobs« (so der Polizeichef Bryant) wie Skinner zunehmend verunsichert und in seinem Selbstverständnis so tief getroffen, daß er zuletzt zusammen mit dem weiblichen Replikanten Rachael flüchtet. Was er nur kann, weil der schon sterbende, als rebellische Christusgestalt verklärte Replikantenführer Roy sich seiner erbarmte. Und weil auf der Gegenseite der Polizei die Hermesgestalt Gaff in dessen Rolle eines »Guten Hirten« sich Rachaels erbarmte (»Rachel« = hebräisch »Mutterschaf«). Vor dem Vergleich der Hermesfiguren Gaff und Tom Tom habe ich jedoch auf Bonos Eröffnungssong ›The First Time‹ zurückzukommen, da er im Motiv vom Gefallenen Engel oder auch Verlorenen Sohn für Wim Wenders die Verbindung zwischen dem ›Million Dollar Hotel‹ und Scotts ›Blade Runner‹ nahelegte. Bono veröffentlichte ihn zum erstenmal 1993 im ›Zooropa‹-Album von U2, gleichwohl stimmt der Song so trefflich zu den Bildern des Königspaares und zum Ende des Milliardärssohnes Izzy »far from the golden gates of Bel Air« (Stanley Goldkiss), daß die Vermutung aufkam, Bono hätte damals schon die Handlung von Wenders’ Film im Kopf gehabt. Es ist aber unschwer zu erkennen, daß sein Liedtext auf einer älteren religiösen Tradition beruht, daß er eine rebellische Umkehrform des Gleichnisses vom Verlorenen Sohn (nach Lukas 15,11-32) darstellt. Die Strophe, in der das Angebot des christlichen Vatergottes (»I have many mansions«, nach Johannes 14,2) vom Sohn ausgeschlagen und der Schlüssel zu dem Verheißenen von ihm fortgeworfen wird, lautet bei Bono: My father is a rich man / He wears a rich man’s cloak Gave me the key to his kingdom coming / Gave me a cup of gold He said I have many mansions / And there are many rooms to see But I left by the back door / And I threw away the key … For the First time/I feel love
Ein solcher Rebell, weit angriffslustiger allerdings, ist Roy. Im ›Million Dollar Hotel‹ bleibt diese Rolle weiterhin Izzy zugeschrieben, auch wenn nach seinem Tod gelegentlich Tom Tom den Geist der Revolte zu verkörpern scheint, am wildesten in dem Schlangentanz seiner Skinner-Parodie, den er zu Tito Larrivas Version von ›Anarchy In The USA‹ vor52 Schnelle, Frank: ›Ridley Scott’s Blade Runner‹ (Stuttgart 21997), S. 44. Vgl. ferner den Essay von Donaldson, Wayne: ›Metropolis (1926) as City Noir‹ (1999). URL: http://history.acusd.edu/gen/filmnotes/metropolis2.html
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führt. Toms Pendant im ›Blade Runner‹ ist jedoch Gaff, der als verkappte Hermesfigur zwischen der Oberwelt und hadesnahen53 Unterwelt zugunsten der letzteren vermittelt. In der reichen Literatur zu diesem Film gilt Gaff als rätselhafter und im letzten undurchschaubarer Charakter, der mit seinem Dauerlächeln, bläulich verschatteten Augen, dandyhafter Kleidung und Tics wie dem Falten von Origamis so gar nicht zu dem Repressionsapparat der »Blade-Runner«-Abteilung passen will. Seine ständig sich ändernde Kleidung dürfte aber mitsamt ihren Accessoires von Wim Wenders’ Hermesgestalten her im Prinzip keine Rätsel mehr aufgeben. Gaff trägt gern eine »Fliege« und Hüte, die wie Ripleys Cowboyhut in ›Der Amerikanische Freund‹ (1977) mit Schlangenbandmustern verziert sind; auch zeigt einer seiner Ringe ein Schlangenmotiv. Mit einer Pilotenkappe versehen, steuert der fliegende Bote den »Spinner«, ein auch straßentaugliches Stadtflugzeug, mit dem er Deckard rasch von einem Ort zum anderen bringt. In diesem City-Kauderwelsch aus Japanisch, Spanisch und Englisch kommt er selbstverständlich gut zurecht. Wie Tom Tom Skinner ständig beobachtet, Tom Ripley Jonathan sowie BruRidley Scott, Blade Runner (1982/93) 16:00 und 1:43:56 no Winter Robert Lander, so (Directors’s Cut 1993) läßt der trickreiche »Gaff« Deckard nicht aus dem Auge und überrascht ihn wiederholt, indem er in seinem Rücken herantritt oder -fliegt und ihm einmal, nach dessen Liquidierung der Schlangentänzerin Zhora, derb mit seinem silbernen Stockknauf auf die Schulter klopft. Die drei von Gaff gefalteten Origamis, die Deckards Verhalten und seine unbewußten Wünsche symbolisieren, haben zugleich hermetischen Symbolcharakter: Zuerst das aus zerknülltem Papier hergestellte winzige »chicken«, womit er die soeben gegebene Erklärung des Polizeichefs veranschaulicht, Deckard werde, falls er seinen Job feige aufgebe, wieder ein Nobody sein. Sodann ein Phal53 Speziell die den Film eröffnende Einstellung auf die Industrielandschaft von Los Angeles wird öfter mit dem Inferno verglichen, als »obsessive detailed ›Hades Landscape‹« stellt sie etwa Paul M. Sammon in seinem Buch ›The Making Of Blade Runner‹ (London 2001) vor (S. 2; vgl. auch S. 231ff.).
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losmännchen, das er aus einem Streichholz bastelt, derweil noch Deckard die Schlangenschuppen aufspürt, die ihn zu der verführerischen »Miss Salome« (Zhora) bringen werden. Schließlich das aus Silberpapier gefaltete, für Deckards Identität so bedeutsame Einhorn, das er auf dem Flur vor seiner Wohnung entdeckt, als er an der Seite von Rachael die Flucht antritt. Dieses Fabeltier hat ja im Film ein wundersames Gegenstück, das erst im »Director’s Cut« zu sehen ist, als Vision des betrunkenen, nur mit einem Finger auf dem Klavier vor sich hin klimpernden Deckard, der von einem in einer Waldlichtung herangaloppierenden Einhorn träumt.54 Gaff muß um dieses Traumbild Deckards gewußt haben. Bislang hat man dies Wissen als das stärkste Indiz dafür betrachtet, daß Deckard selber ein Replikant sein müßte, dem man wie den anderen Erinnerungen und Träume implantiert hätte. Dieses Argument wird jetzt erschüttert, wenn man als Quelle der Vision den Traumgott selbst anzusehen hat, HermesGaff, der um die geheimsten Regungen Deckards weiß und ihm dies durch das Einhorn-Origami offenbaren will. Und ihm dadurch auch zu erkennen gibt, daß er es war, der die Wohnungstür offenstehen ließ, daß er die drinnen schlafende Rachael verschonte und weiterhin verschonen wird. Deckard nickt nur zu diesem Origamifund auf dem Flur und zu der im Off zu vernehmenden, ihm erneut durch den Kopf gehenden Erklärung Gaffs: »Ein Jammer, daß sie nicht leben wird! Aber wer tut das schon?« Gaff behält so als Seelengeleiter das letzte Wort im Film und deutet wie Roy mit dem »Immortal Game« das hermetische Grundthema des ›Blade Runner‹ an. Es ist der alte verzweifelte, so gut wie aussichtslose Kampf gegen den Tod, den der Mensch offenbar immer noch nicht aufgegeben hat. Für ihn führten diese Replikanten einen Stellvertreterkrieg, verbirgt sich doch hinter ihrer bescheidenen Forderung nach »mehr Leben« dieses menschliche Verlangen nach Nichtsterblichkeit. ***
Erstaunlich, in welchem Ausmaß so mancher der großen Regisseure der Gegenwart die unbeachteten Schönheiten und Kühnheiten im Werk seiner Vorgänger und auch zeitgenössischer Kollegen in der eigenen Bildsprache kommentiert, sie durch respektvolle Integration in sein Werk zu erhalten oder auch wiederzubeleben sucht. Dies geht über das bekannte Phänomen der Hommage, die ja in der Regel vom Publikum oder zumin54 Als Symbol ist das weiße Einhorn vieldeutig, steht unter anderem für die Jungfrau (Maria) oder auch für Christus (im Schoß der Jungfrau), kann allgemeiner die nur von einer Jungfrau (wie Rachael) zu entdeckende Unsterblichkeit bezeichnen und in der Alchimie speziell das Quecksilber oder Mercurius (eine erste Transmutation hin zum begehrten »Lebenswasser«). Das phallische Horn des Tieres bleibt hierbei freilich auf Deckard bezogen, der auch nach dieser flüchtigen Vision noch den Finger vorgestreckt auf der Klaviertaste liegen hat.
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dest von der Filmkritik bemerkt werden soll, qualitativ so weit hinaus, daß man den Eindruck gewinnen kann, diese heutigen Regisseure hätten jede Hoffnung auf eine adäquate Würdigung solcher Funde längst aufgegeben. Schon Ridley Scott spielte so in seinem ›Blade Runner‹ noch mehrmals verdeckt auf ›Citizen Kane‹ an.55 Wim Wenders ist ein Meister auch solch indirekter und filmgeschichtlich oft beträchtlich zeitversetzter Erwiderung und Argumentation. Kaum einer seiner Filme, der nicht eine Reihe von Anknüpfungen an Werke anderer oder an ehemalige Rollen seiner Schauspieler enthielte, Anknüpfungen, die er zugleich in sein jeweiliges Werk so einzuflechten weiß, daß sie kaum einmal bemerkt wurden. Wie mir scheint, will er sie seinerseits um keinen Deut stärker hervortreten lassen, als es jene von ihm zitierten Regisseure selber taten. Und scheint dabei in Kauf zu nehmen, ihr Schicksal zu teilen, bis auf weiteres zumindest. Den jüngsten Vorstoß etlicher französischer Regisseure, die gegen die zunehmende Verflachung und Bestechlichkeit einer gewissen einflußreichen Spezies der Filmkritik einen ethischen Codex verlangten, hielt er jedenfalls für illusorisch, da diese Abart der Kritik nur ein Symptom sei, Ausdruck eines globalen Verlangens nach Entertainment, das nur noch konsumieren wolle und keinen Gedanken mehr für Veränderung übrig habe.56 Wie Wenders nun im ›Million Dollar Hotel‹ im Großen auf die kalifornischen Filme von Orson Welles und Ridley Scott eingeht, auf die gemeinsame Thematik eines gottgleichen Potentaten und der von ihm hinterlassenen Verwüstungen, so kommt er auch im Kleinen wie in der Einrichtung für Dekor, Perspektive und Licht stillschweigend wieder auf jene (Meister-)Werke zurück. Wie er also von ›Citizen Kane‹ die komplexe Eröffnung auch im Detail neu ins Spiel bringt, so vom ›Blade Runner‹ neben der Kampfaufstellung zur Schachpartie auch eine kleine architektonische Reminiszenz, die eigentlich auf einem Zufall beruht. Ich meine den vom Betrachter beider Filme kaum zu übersehenden Umstand, daß Ridley Scott in seinem 2019 spielenden Film wiederholt das »Million Dollar Theatre« ins Bild bringt, das 1918 in Gegenwart von Chaplin als Lichtspieltheater eingeweiht wurde. Die Geschichte und der ziemlich an55 So richtete er eine Einstellung, in der sich die von Deckard verfolgte Pris Sebastians Puppen angleicht, nach Susan Alexanders Abschiedsszene von Kane ein, wo sie neben einer ihr in Profil und Kleidung angenäherten Puppe zu sehen ist. Für den Tod von Zhora, die neben einer Modepuppe mit einer Glaskugel in der Hand durch Scheiben hindurch in ein wunderliches Schneetreiben stürzt, zitierte er Kanes Sterbeszene, über den ein Schneegestöber gelegt wird, ehe ihm selber die Glaskugel mit der Winterlandschaft aus der Hand gleitet und dann zerschellt. 56 Im Interview mit Richard Phillips vom 10.1.2000 unter dem Titel (einem Wenders-Zitat): ›The culture of independent film criticism has gone down the drain‹. URL: http://www.wsws.org/articles/2000/jan2000/wwen-j10.shtml
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geberische Name des Theaters nun, vielleicht auch die Lage unweit des heruntergekommenen gleichaltrigen Hotels, dürften es Wenders für seine Zwecke so sehr angetan haben, daß er die analoge Leuchtreklame »Million Dollar Hotel« wieder digital restaurieren ließ. Wie im ›Blade Runner‹ zeigt er sie nur en face, zum Abschluß seiner Eröffnungssequenz, die jenes existentielle Schachspiel und ebenso die lockenden Höhenlichter in ›Citizen Kane‹ wieder in Erinnerung ruft.
Ridley Scott, Blade Runner
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1:25:43
NACHWORT »Weiterspinnen« am Mythos Wie »der große Dulder« Odysseus wurde der Seelengeleiter, Seelenwäger und »Gute Hirte« Hermes (»Hermes Kriophoros«)1 als einer der Vorläufer Christi betrachtet. Die Übernahme seiner Attribute oder auch derjenigen von Aphrodite (für Maria) blieb wie die Adaption der griechischen Philosophie nicht folgenlos für die christliche Religion. Ist doch »das Christentum, indem es die antike Kultur in sich aufnahm ... selber Antike geworden«.2 Etliche Jahrhunderte später mochte es christlichen Künstlern und ihren Auftraggebern vorkommen, als gebe es zwischen dem einen und dem Tommaso Laureti, Triumph des Christentums anderen keinen Zusammenhang mehr. Tommaso Lauretis DekOder Verherrlichung des Glaubens kengemälde, das Gregor XIII. 1581/82 für die Stanzen des Vatikans (Konstantinssaal) in Auftrag gab, zeigt als besonders militante Form der Abgrenzung, wie vor dem Gekreuzigten die Marmorstatue seines griechischen Pendants in Stücke zerschlagen am Boden daliegt.3 1 2
3
Vgl. S. 160 Zu dieser »Wandlung des Christentums aus einer jüdischen Sekte in einen griechischen Kult« vgl. den Artikel »Antike und Christentum« in: ›Die Religion 3 in Geschichte und Gegenwart‹, 1. Bd. (Tübingen 1957); Zitate auf Sp. 436 und 444). Vgl. ferner ›Spätantike und Christentum: Beiträge zur Religionsund Geistesgeschichte der griechisch-römischen Kultur und Zivilisation der Kaiserzeit‹, hg. v. Carsten Colpe u.a. (Berlin 1992). »Bemerkenswert die Gegenüberstellung: Hermes-Mercurius erscheint als der Repräsentant der heidnischen Welt, nicht etwa der Göttervater Zeus-Jupiter
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»WEITERSPINNEN« AM MYTHOS
So leicht waren jedoch geistesmächtige Gottheiten und Heroen wie Hermes, Pallas Athene, Apollon und Odysseus nicht zu beseitigen. Ihre Substanz erlaubte ihnen eine Laufbahn, in der sie bis heute immer wieder größere Wandlungen durchlebten. In der Literatur unserer Zeit trifft dies wie auf Odysseus und seine vielfältig variierbaren »Irrfahrten« auch auf dessen göttlichen Urgroßvater Hermes zu. So beruft sich Sten Nadolny genau auf diese Wandlungsfähigkeit, wenn er für seinen Roman ›Ein Gott der Frechheit‹ (1994), der Hermes als charmanten Geistes- und Liebesakrobaten zeigt, »das Recht in Anspruch nahm, griechische Mythologie jenseits der tradierten Geschichten weiterzuspinnen.«4 Grundsätzlicher, als geradezu konstitutive und gleichwertige Leistung, wird diese immerwährende »Arbeit am Mythos«5 durch die jüngere Mythenforschung gerechtfertigt. Nichts anderes macht seit Jahrzehnten Wim Wenders. Eine solche Zuneigung oder Bewunderung mag einen religiösen Hintergrund haben, muß es aber nicht und kann ebensogut ethisch oder geistesgeschichtlich motiviert sein – und ist bei einer so eleganten und erfinderischen Gottheit wie Hermes selbstverständlich auch ästhetisch zureichend zu begründen. Wenders jedenfalls, so sehr er auch eine innere spirituelle Verwandtschaft zwischen dem »Mittler« Hermes und Christus betont und auch seine Odysseus-Nachfolger jedesmal mit Repräsentanten des Christentums oder dessen Prinzipien zusammenbringt, führt weder beide Glaubenswelten synkretistisch zusammen noch versucht er gar, Hermes oder Odysseus insgeheim zu christianisieren. Seinen Odysseus-Nachfolgern Travis Clay Henderson und Mike Max läßt er die Zeit, sich auf ihre gewalttätige Vorgeschichte zu besinnen und einiges wieder wettzumachen, wobei Travis noch stark dem apollinischen Ethos der Selbstläuterung folgt und Mike bald wieder Pallas Athene als nachdenkliche Schutzgöttin
4 5
... Für den Maler scheint die Konkurrenz gerade dieser beiden selbstverständlich gewesen zu sein: Beide sind Boten und Mittler. Der eine geht der andere kommt. Alles zu seiner Zeit!« Jaskolksi, Helmut: ›Hermes. Eine phantastische Karriere‹. (URL: http://www.jaskolski.de/herm_ein.htm) Michel Serres hingegen betont in seiner Interpretation des Bildes die Gemeinsamkeit im Schicksal beider Mittler: »Merkur und Christus liegen beide im Sterben. Die Boten verschwinden angesichts der Botschaft: das ist die Lehre ihrer Passion, ihres Todes und ihrer Zerstückelung.« Serres, Michel: ›Die Legende der Engel‹ (Frankfurt/M.1995), S. 80. Nadolny, Sten: »Schlußbemerkung« zu ›Ein Gott der Frechheit. Roman‹ (München 92001), S. 285f. Blumenberg, Hans: ›Arbeit am Mythos‹ (Frankfurt/M. 21979): »Der Mythos ist immer schon in Rezeption übergegangen, und er bleibt in ihr, mit welcher Gewaltsamkeit auch immer seine Fesseln gesprengt, seine Endform festgestellt werden sollen. Wenn er nur in Gestalten seiner Rezeption vorliegt, gibt es kein Privileg bestimmter Fassungen als ursprünglicher oder endgültiger. Lévi-Strauss hat vorgeschlagen, ein Mythologem durch die Gesamtheit seiner Fassungen zu definieren.« (S. 299f.)
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NACHWORT
zur Seite hat. Ebenso hat Wenders den Hermes-Nachfolgefiguren Bruno Winter, Tom Ripley und Tom Tom durchweg das heidnische, um gewisse christliche Skrupel unbekümmerte Naturell gelassen, dem ersten die antike Nacktheit und Vagantenexistenz des Wegegottes, dem zweiten die windige Existenz und Unverfrorenheit des Tricksters und dem dritten die quecksilbrige, schalkhafte Umtriebigkeit der ewigen Kindgottheit. Wie für Hermes hat die christliche Kirche und Kunst allerdings auch für Odysseus schon immer ein besonderes Interesse gezeigt. Religionsgeschichtlich und ikonographisch wurden sehr früh Verbindungslinien zwischen dem gepriesenen großen »Dulder« Odysseus und dem Christentum, ja Christus selbst gezogen. Im Mittelpunkt entsprechender allegorischer Auslegungen seiner Abenteuer steht die auf S. 123 für Mike Max im ›Am Ende der Gewalt‹ behandelte Begegnung mit den Sirenen, die sich zum erstenmal auf etruskischen Reliefurnen aus dem 2. Jh. v. Chr. findet.6 Während Odysseus auf vielen heidnischen und christlichen Sar-
Odysseus und die Sirenen, römisches Mosaik, Ausschnitt (3. J. n. Chr.) Dougga (Tunesien), Museum Bardo
kophagen der ersten nachchristlichen Jahrhunderte die Seele des Verstorbenen repräsentiert und die Sirenen die mal erwünschte, mal perhorreszierte Verlockung durch das Wissen oder die griechische Weisheit darstellen,7 wird er vom 4. nachchristlichen Jahrhundert an als vorbildlich für das Verhalten eines Christen betrachtet: Freiwillig an den Mastbaum gebunden, der mit der hinzugefügten Segelstange (Rahe) einem Kreuz gleicht, würde er mit seinem Lebensschifflein schon an den weltlichen Gefahren und Versuchungen vorbeikommen und zu seiner (himmlischen) 6 7
Vgl. Abb. Nr. 121-123 in dem von Bernard Andreae hg. Ausstellungskatalog ›Odysseus. Mythos und Erinnerung‹, München 1999. Touchefeu-Meynier, Odette: ›Thèmes odysséens dans l’art antique‹ (Paris 1968), S. 188f.
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»WEITERSPINNEN« AM MYTHOS
Heimat zurückfinden. Die Sirenen wurden dabei zunehmend als Verführerinnen zur Sinnenlust oder zu den Irrlehren der Häretiker gedeutet.8 An einem solchen Mast mit »Antenne« ist Odysseus auf dem abgebildeten römischen Mosaik zu sehen; oder etwa, in der Sakralkunst der Gegenwart, auf einem Berliner Kirchenfenster.9 Nun wurde wohl auch Christus oft mit dem Helden aus Homers Epos verglichen und war so für einen der Kirchenväter »gleichsam der ans Holz des Mastbaums angebundene himmlische Odysseus«,10 jedoch hat man die beiden nicht ernstlich einander gleichgesetzt. So wenig wie man Odysseus als »Dulder« trotz seiner erhabenen Epitheta wie »göttlich/ herrlich/edel/still« mit Christus und seiner Passionsgeschichte identifizieren konnte. »Vielduldend«11 war Odysseus ja unfreiwillig und verhielt sich nicht einmal zur Täuschung wie einer, der auch die andere Wange hinhalten würde. Wollte Wim Wenders also für den neuen Odysseus Michael Max die Abkehr von der Existenz des Gewaltfilmproduzenten glaubhaft machen, mußte er schon zu drastischeren Mitteln – Entführung und Bedrohung mit dem Tode – greifen als für Odysseus’ Urgroßvater, der als göttlicher Bote und mitleidvoller »Seelenführer« auch spirituell ohne weiteres als Vorläufer oder älterer »Bruder« von Christus selbst betrachtet werden konnte.
*** Respektiert hat Wenders die Herkunft dieser Gestalten auch dadurch, daß er ihnen ihre überlieferten Attribute, Fähigkeiten und Gebärden selbst dann läßt, wenn sie den heutigen Betrachter nur noch befremden können. Sodann aber macht er die Probe auf ihre Existenzberechtigung in der Gegenwart und zeigt, welche Metamorphosen sie dabei zu durchlaufen haben. Das führt regelmäßig zu Kollisionen mit unseren Zeitgenossen und sorgt überdies auch bei den Betrachtern der Filme für Befremden oder Mißverständnisse. Cats alias Athenes Neigung zur philosophischen Wesensfrage stellt sich in ihrem kalifornischen Milieu nur noch als Schrulle oder persönlicher Tic dar, während die Überzeugtheit und Hartnäckigkeit, die Doc-Telemach bei seiner Suche nach dem Verschollenen an den Tag legt, bald als lästig empfunden und von seinem Mentor Sheriff Call zuletzt als psychopathologisch hingestellt wird. Mike Max’ Verzicht auf 8
Vgl. das zitatenreiche Kapitel »Odysseus am Mastbaum« bei: Rahner, Hugo: ›Griechische Mythen in christlicher Deutung‹ (Freiburg/Breisgau 1992), S. 281-328. 9 http://www.st-matthias-Berlin.de/-kirchenfenster/dritter%20teil%20kirchenfuehrer.htm 10 Rahner, a.a.O., S. 322 11 Das Attribut »polytlas« bedeutet »vielduldend«, »vieles erleidend«, hat aber auch Nebenbedeutungen wie »verwegen, dreist«.
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sein odysseisches Imperium wirkt auf manchen eher wie ein Rückzug aus dem Streß eines Workaholics ins einfache und bekömmlichere Leben. Travis Clay Henderson ist der Zivilisation so tief entfremdet und auf den Status kindlicher Hilflosigkeit reduziert, daß er anfangs nicht einmal seinem siebenjährigen Sohn Hunter gewachsen ist. Die Penelope-Nachfolgerinnen Claire und Paige können zwar aus der tradierten Frauenrolle ausbrechen, werden aber erst einmal Opfer einer modisch-oberflächlichen Emanzipation, die sie das einst verhaßte amouröse und geschäftliche Gebaren ihrer männlichen Kontrahenten kopieren läßt. Auch den Nachfolgern des Götterboten Hermes mißlingt wie ihrem christlichen Botenkollegen Cassiel in lebensfeindlicher Umgebung etliches, was nicht selten zu grotesken Szenen führt. So kollabiert in dem Softporno-Kino bei Pauline die phallisch-hermetische Potenz von Bruno Winter und muß sich dieser frisch geborene Patron des Lichtspiels am Ende wieder von der deutschen Kinolandschaft jener Jahre verabschieden. Tom Ripley wird mitunter von modernen Empfindungen übermannt, zeigt auf einmal Nerven, wenn er laut rufend hinter seinem neuen Freund Jonathan herläuft, der soeben mit dem VW zum Hades hin abgefahren ist; und schreit vor Abscheu auf, wenn er wie einst dem Argos mit der Sichel nun dem Gangster im Zug mit der Drahtschlinge an die Gurgel gehen muß. Tom Tom wird von der Mehrzahl seiner Mitbewohner – und leider auch von vielen Zuschauern – schlichtweg für unterbelichtet gehalten und schließlich verraten und verkauft. Sogar die originären Zuständigkeiten, Beinamen und Erfindungen der Gottheit hat Wenders bei ihren Nachfolgefiguren gelegentlich kräftig ironisiert. Der geschickt stibitzende Tom Tom wird zu Beginn des Films, als Skinner heranfährt, seinerseits von Straßenkindern beklaut; und obgleich Hermes ein großer Traumspender ist, verfolgen Tom Tom wiederholt traumnahe Visionen (von Izzys Absturz). Der einstige Patron der Redner und Erfinder der Schrift nimmt hier öfter zu Tierlauten seine Zuflucht und sucht bei sich zuspitzender verbaler Auseinandersetzung in atavistischen Übersprungbewegungen sein Heil (plötzlich über Skinner herfallend). Bücher lese er nicht, da er nicht recht wisse, mit welchem er anzufangen habe (beim Warten auf Eloise scheint er diese Buchtexte »abhören« zu wollen). Entsprechend muß sich Bruno Winter von seinem Gast Robert fremdsprachiges Vokabular (»loon«) erläutern lassen und wird gleichfalls als ein von Träumen Heimgesuchter eingeführt, lautet doch sein erster Satz: »Wie kann man nur so’n Scheiß träumen!« Tom Ripley, der wie sein Urbild bisexuelle und kleinkindlichpolymorphe Züge hat, weiß mit Derwatts eigentlich treffenden Charakterisierungen wie »Du bist kein ernsthafter Mann!« und »son of a bitch« nichts mehr anzufangen und wird zunehmend an der eigenen Person irre (»Ich weiß weniger und weniger, wer ich bin«).
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»WEITERSPINNEN« AM MYTHOS
Durch solche Ironisierungen, die sich freilich im Falle von Hermes nicht schlecht mit dessen extrem widersprüchlichem Naturell vertragen, hat Wenders die Identität seiner Nachfolgefiguren noch zusätzlich wie unter einer Teerschicht verborgen. Seine auch satirische Behandlung der antiken Gottheiten und Heroen ist jedoch nicht etwa ein Beweis dafür, daß er sie nicht ernst nähme. Zumal er es ähnlich mit aufdringlichen und scheinheiligen Formen christlicher Religiosität zu halten pflegt.12 Wie heikel es doch sein muß, derartige Filme zu inszenieren! Die Hinweise auf die mythologische Herkunft dieser Figuren müssen als solche kenntlich bleiben, dürfen aber kaum mehr sein als Fingerzeige. Was praktisch bedeutet, daß die klassischen Vorlagen sogleich zu überarbeiten und in ihren Details zu verschieben oder umzuformen sind. Würde man seine Personen unverstellt daherkommen lassen, mit dem Caduceus oder mit den goldenen Sandalen und Schamgebärden der Aphrodite, würden sie allzu rasch kenntlich und den Blick des Zuschauers von der manifesten Filmversion ablenken, die ja schon verwickelt genug ist. Dafür erlauben es all diese Freiheiten bei der Transformation des Mythos, die Götter und Heroen mit der Gegenwart und ihren Usancen in Berührung zu halten und sie in neue Rollen schlüpfen zu lassen, und sei es auch nur mit Hilfe einer so banalen alltäglichen Gebärde wie der, eine Zigarette zu halten, die aber in der Ausführung durch Cat noch an die einen Speer führende Pallas Athene und durch Eloise an die ihr Haar auswringende Aphrodite erinnern können soll. Indem so die klassischen Figuren von ihren Sockeln geholt werden und neuerlich Transformationen durchlaufen, wird ihr mythologischer Gehalt von einem engen buchstäblichen Verständnis befreit und weiter entfaltet. Denen, die in der Nachfolge von Odysseus stehen, wird primär eine ethische Großtat abverlangt, eine Entscheidung gegen ihre bisherige Existenz. Die Hermes-Trilogie kreist um die Rettung oder Euphorisierung der Existenz eines anderen, um das auch christologische Potential in 12 Besonders drastisch im ›Million Dollar Hotel‹, wo sich nicht bloß der harmlose Hotelbewohner »Jesu« in Bekennerkluft präsentiert und auf der Straße ein Christus-Ausrufer einen Kurzauftritt hat. Vielmehr wird Izzy, von der Reporterin Swift als »Heiliger der Straße« und von seinem Vater als der Verlorene Sohn apostrophiert, vor seinem Fall vom Hoteldach mit provozierender Duldermiene und kreuzartig ausgebreiteten Armen gezeigt. Eloise, von Vivien als »Jungfrau Maria« verhöhnt, kniet sich gleichwohl vor laufender Kamera vor ein zweideutiges Teerbild hin und schaut rasch auf, ob sie wohl auch den gewünschten Effekt macht, worüber Toms Kommentar und Stix’ Triumphruf (»Halleluja!«) keinen Zweifel lassen. Gleich danach präsentiert sich selbst Tom Tom in einem Shirt mit aufgedrucktem Christus. Zu der chaplinesken, im Zeitraffer und dann in Zeitlupe gefilmten Verhaftungsszene von Geronimo bemerkt Wenders im Audiokommentar der DVD-Fassung, daß der sich an ihn anklammernde Tom Tom dabei »wie in einer Pietà dahängt«.
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NACHWORT
Hermes’ alten Rollen als »Guter Hirte« und »Seelengeleiter«. Mythos und Film werden auf diese Weise dialektisch bereichert; wie die Filme von Wenders durch die hermetische Erzähldimension an (geschichtlicher) Tiefe gewinnen, so lebt der Mythos in diesen geistreichen und sinnlich strahlenden Filmen neu auf. Auch mein persönliches, in der Knabenzeit eingeschlafenes Interesse an der Mythologie wurde unvermutet wieder erweckt.
Verschwiegene fi lmische E rzäh lw eise und angemessene Inte rpretation . Wenders’ Rolle als »Schattenspieler« »Ein jegliches hat seine Zeit ... Steine zerstreuen und Steine sammeln ... schweigen und reden ... hat seine Zeit.« (Prediger Salomo 3, 1-8)
Der Anlaß zu dieser Studie war die so ahnungslose wie überhebliche Reaktion einiger im deutschen Feuilleton tonangebender Filmkritiker speziell auf Wim Wenders’ ›Million Dollar Hotel‹. Die hermetische Erzählweise von Wenders hatte ich zuvor schon seit längerer Zeit stillschweigend verfolgt, glaubte mich aber schon deshalb mit Verlautbarungen zurückhalten zu müssen, weil ich es hier nicht wie sonst mit jemandem zu tun hatte, dessen Werk schon komplett vorliegt. Bei einem Autor und Künstler der Gegenwart hat man sich ja sogleich zu fragen, ob seine bislang verborgenen Motive, Figuren und Strukturen durch Hinweise wie diese nicht »verbrannt« werden, so daß er mit ihnen nicht mehr arbeiten kann, zumindest nicht mehr in dieser Weise. Freilich hat dieser Autor seit seinen filmischen Anfängen vor nunmehr gut 30 Jahren auch seine hermetische Darstellungsweise weiterentwickelt und thematisch wiederholt umgestellt; und wüßte zweifellos erneut eine künstlerisch überraschende Antwort auf die veränderte Rezeption seines Werks zu geben. Wenders hat wohl vereinzelt von Odysseus als einer für seine Filme vorbildlichen Figur gesprochen, aber offenbar niemals auf eine Hermesfigur oder einen hermetischen Subtext seiner Filmsprache hingewiesen. Daß sich ein Autor zum eigenen Werk nicht näher äußern möchte, ist im übrigen völlig in Ordnung. Ohnehin können seine erklärten Absichten und andere Hinweise von ihm, so aufschlußreich sie sein mögen, für Analyse und Auslegung seines Werkes nicht verbindlich sein. Dieses wird immer weit mehr enthalten, als sein Urheber sich selber hat vorsetzen und ausmalen können. Die neuere Diskussion über die »Intertextualität« von Werken machte nicht nur auf die explizite oder implizite Anwesenheit anderer Werke im jeweiligen Werk aufmerksam, sondern hat ge294
VERSCHWIEGENE FILMISCHE ERZÄHLWEISE UND ANGEMESSENE INTERPRETATION
gen die Vorstellungen einer sakrosankten »Autorintention« und ebenso einer werkimmanenten »Textintention« den Blick für die sinnkonstituierende Rolle des Lesers und Zuschauers geschärft, dafür auch, daß jedes Werk immer erneut die Probe auf das sich überraschend weiterentwikkelnde Verständnis des Betrachters zu bestehen hat. Darüber hinaus enthält jedes Werk bedeutende vor- und nichtbewußte Dimensionen, verdankt nicht wenig den kaum noch zugänglichen Schichten der Phantasie, Erinnerung, Bildungsgeschichte und Wahrnehmung des Autors. So daß der Interpret, sogar wenn er wie ich von dieser oder jener – manifesten oder hermetischen – Erzählerrolle spricht, die in einer bestimmten Szene des Films eingenommen und durchgespielt wird, für die Person des Filmemachers offen lassen muß, wieweit hier noch dessen ästhetischer Kalkül wirksam ist oder sich schon nichtbewußte Impulse und Tendenzen manifestieren. Daß dies auch für einen so reflektierten Künstler wie Wim Wenders gilt, deutete er selber gelegentlich an, so im Zusammenhang mit seinen in ›Einmal‹ (›Once‹) veröffentlichten Photos (»they are all subconscious, and I’m only aware of them afterward, when I see the printed picture«).13 Zudem wird man sich bei seinem ausgeprägten eidetischen Gedächtnis für Orte14 nicht immer festlegen wollen, ob eine bestimmte filmgeschichtliche Situation bewußt zitiert wird oder ob eher eine unwillkürliche Reminiszenz vorliegt, und sei es nur deswegen, weil es im Film »nur einen begrenzten Katalog von Geschichten, Szenen, Situationen« gibt.15 Das unwillkürliche Zitieren dürfte jedoch in Wenders’ an Zitaten reichem Filmwerk eher die Ausnahme sein und war für mich praktisch nur als Memento relevant, im Zweifelsfalle stärkere Zurückhaltung zu üben. In der Regel zeichnet sich in Wenders’ Zitaten klar eine Erzählstrategie ab. Und zugleich, daß er sich den Werken anderer Regisseure gerne widmet, um den Blick auf eine bis dahin unentdeckte Stelle in ihren Filmen 13 Interview mit Christene Barberich von ›CITY‹ (November/Dezember 2001); zitiert nach Wenders’ »Official Site«: ›Newsreel‹ von Januar 2002; URL: http://www.wim-wenders.com/news_reel/2002/jan02-citymag.htm In einem Interview mit Jan Dawson (1976) beschreibt Wenders einen ihm damals unbewußten Konflikt als Regisseur von ›Die Angst des Tormanns beim Elfmeter‹ (1972): »I would describe it as being just on the way to having some identity ... I can see now what I did unconsciously: and the mixture exactly reflects the situation of someone who had inherited something, like the American cinema, but doesn’t have an American mind.« Wiederabdruck in: ›The cinema of Wim Wenders: image, narrative, and the postmodern condition‹, hg. v. Cook, Roger F. und Gemünden, Gerd (Detroit 1997), S. 61. 14 »Ich kann mich an jedes einzelne Hotelzimmer erinnern, in dem ich je gewohnt habe ... sehe alles genau vor mir«. In: ›Die Zeit‹ (Hamburg) vom 10.2.2000 (Rubrik ›Leben‹, S. 5). Vgl. ›Einmal. Bilder und Geschichten‹ (Frankfurt/M. 21995), S. 292 15 Wenders, Wim: ›The Act of Seeing‹ (Frankfurt/M. 1992), S. 223. Vgl. dort S. 222f. zu einer Szene in ›Der Himmel über Berlin‹ und Chaplins ›Circus‹.
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zu lenken. In einem gewissen Maße ist dieses verdeckte Zitieren auch bei anderen Regisseuren zu beobachten und sicherlich hier wie dort darauf zurückzuführen, daß noch ausgeprägter als im Falle der Literaturkritik die Filmkritik den Meisterwerken eigentlich nur selten gewachsen war. Oft waren es die Regisseure selber, die als erste und mitunter einzige mitbekamen, was sich bei den anderen Kollegen im Hintergrund abspielt und die dies bei Gelegenheit in ihrer eigenen Filmsprache zu würdigen und zu vertiefen suchten. Wim Wenders hat sich hierin besonders hervorgetan. Und umgekehrt wurde das eine oder andere seiner – auch kryptischen – Motive etwa von Robert Altman in ›The Player‹ (1992) zitiert, von Theo Angelopoulos in ›Der Blick des Odysseus‹ (1995), Peter Weir in ›The Truman Show‹ (1998), Spike Jonze in ›Being John Malkovich‹ (1999), David Lynch in ›Mulholland Drive‹ (2001) oder Phillip Noyce in ›Rabbit Proof Fence‹/›Long Walk Home‹ (2002). Ich sage es ungern, doch haben bislang auch die wohlwollenden Kritiker, die bei Wenders weiterhin eindeutig überwiegen, leider nur selten einmal einen Schimmer von der Tiefenstruktur seiner Filme gehabt. Und ebensowenig zu würdigen war die Brillanz dieses Oeuvre durch all die Auszeichnungen mit Filmpreisen oder Ehrendoktoraten, die sich immer nur auf dessen manifeste ›Oberfläche‹ und die von hier aus zugänglichen ersten Schichten des filmischen Subtextes bezogen. Wenders’ Filmen zuzusehen wird zu einem neuen hohen Vergnügen, wenn man um dieses Doppelspiel weiß und zwischen den Bedeutungsebenen des Films hin und her zu wechseln vermag. Und das bleibt insofern bis zuletzt spannend und offen, als der Zuschauer nun selber aufgefordert ist, die Rolle des Interpreten zu spielen und auf diese Weise auch die Erfahrung machen dürfte, wie unterhaltsam die Interpretation solcher Filme ist und wie wenig sie ihren spekulativen Charakter je abstreifen kann. Was nun freilich ganz im Sinne von Wenders ist, der sich 1988 in einem Interview mit Ira Paneth die Zuschauer seiner Filme wie folgt vorstellt: »I think I conveive of them as very important collaborators. And I have to explain that. If I look at the films I really like most, and if I look at myself as a spectator of other films, then I clearly favor movies that let me discover them. There is that sort of movies where you can feel excited from the beginning … because you can put some strings together, and it is open to a lot of interpretation, and you have to sort of put in your own experiences or associations in order to make it work … So in a way I’m trying to do the sort of movies that are for people that I presume to be like myself with other directors’ movies. And as I travel a lot with my films and see them with different audiences in different countries, it’s really amazing how much a film can
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WENDERS’ ROLLENSPIELE ALS »SCHATTENSPIELER« change, and how much even between two audiences in the same country; although I know it, I will see a different film.«16
So schließe ich denn am besten meinerseits mit einigen Spekulationen. Wie zu sehen, übernimmt der Filmerzähler Wim Wenders von Zeit zu Zeit Verhaltensweisen seiner Charaktere. In seinem Film über den sterbenskranken Nicholas Ray, der noch in diesem Zustand seine künstlerische Existenz zu behaupten sucht, spielt Wenders in New York den Besuch des Seelengeleiters Tom Ripley bei Ray alias Derwatt nach (vgl. S. 239). Und ein weiteres hermetisches Detail scheint er aus dem ›Amerikanischen Freund‹ für seine Selbstdarstellung als Filmemacher übernommen zu haben. Es ist dies jene mit dem fatalen Wort »aus« bezeichnete Collage einer (Stadt-)Landschaft in Ripleys Elbvilla, die hinter ihm kennt-
Der amerikanische Freund (1977)
1:07:33
lich wird, wenn er zur Brüstung weitergeht, um angesichts des Elbstromes die Totenballade aus ›Easy Rider‹ vorzutragen (vgl. S. 195f.). Bei diesen collagierten Gefilden mag einem wieder die bayounahe Landschaft in Dennis Hoppers Film ›Easy Rider‹ in den Sinn kommen, wo sich die drei vor dem mörderischen Überfall des Kleinstadtmobs zum letzten Mal ums Feuer lagern. Oder auch die indisch-dionysische Landschaftsvision in Thomas Manns ›Tod in Venedig‹, aus16 Wiederabdruck bei Cook/Gemünden, a.a.O. S. 69f.
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gelöst durch die erste verführerische Hermes-Epiphanie eines Wanderers mit »gekreuzten Füßen«.17 Wie auch immer, für mich jedenfalls hat diese Elbvilla-Collage eine hermetische Aura und ist ein Vorläufer des hier abgebildeten Landschaftsbildes auf der »Official Site«18 von Wim Wenders. Mehrfach mit seinem Namen bedeckt und vorwiegend in rotgelben, blauvioletten und grünen Farbtönen gehalten, zeigt es im Schattenprofil den Filmemacher selbst als mehrdeutigen »Schattenspieler«19 – in angedeuteter Kadrierungsgeste – am linken Rande einer fiebertraumnahen Landschaft. Auf ihrer rechten Seite, gleich neben dem phallosförmigen Gebilde eines Kolbens oder Mikrophons, zeichnet sich ein Kopf mit Cowboyhut ab, wie Hopper ihn in ›Easy Rider‹ und abgewandelt dann als Hermesfigur Tom Ripley trägt. Ober- und unterhalb dieses Bildes ablaufende perforierte Bildränder definieren das Ganze als Wenders’ Filmlandschaft. Eine Landschaft im Zeichen von Hermes, den er schon im ›Lauf der Zeit‹ als Patron dieser Schattenwelt des Kinos eingeführt hatte (vgl. S. 186). Als solch hermetischen Fingerzeig interpretiere ich auch die andere kleine Animation auf der »Official Site« von Wenders.20 Hier legt er den Zeigefinger der Linken auf die Lippen und führt ihn dann zum äußeren linken Augenwinkel oder zur Schläfe hin. Sollte sich diese Gebärde nicht auch an die Interpreten seiner Filme richten? Der eine oder andere Hinweis, daß eine gewisse Diskretion und Behutsamkeit gewünscht wird, ist bei Wenders ja nicht zu übersehen. Seine Schweigegebärde sollte jedoch nicht mit der einer obskurantistischen Hermetik21 verwechselt werden, die sich dabei auf eine Gottheit zu berufen wagt, die wie keine andere die geistige Offenheit sowie die Rede- und Entdeckungskunst verkörpert. Ist diese Wenderssche Gebärde nicht vielmehr eine bestimmte und freundliche Aufforderung, seine Filme nochmals zu betrachten und zu beden17 Am Münchner Nordfriedhof erweckt er die »Reiselust« des zuletzt an der »indischen Cholera« erkrankenden Aschenbach und läßt ihn auf der Stelle von »einer Art Urweltwildnis« mit »geilem Farrengewucher« phantasieren. Mann, Thomas: ›Der Tod in Venedig und andere Erzählungen‹ (Frankfurt/M. 1971), S. 8f. 18 URL: http://www.wim-wenders.com/ 19 »Shadow-Play« war einige Zeit lang diese Photographie von Donata Wenders auf der »Official Site« (unter »Biographie«) betitelt; URL: http://www.wimwenders.com/bio/wim_wenders_bio.htm 20 Zur Quelle s. Fußnote Nr. 19 21 Ihre Geschichte beginnt mit der noch unschuldigen Gebärde des Isis-Sohnes Harpokrates, der sich als Säugling oder Kleinkind den Finger in den Mund steckt, später aber zum Gott des Schweigens umgedeutet und umgestaltet wurde. Vgl. ›Emblemata. Handbuch zur Sinnbildkunst des XVI. und XVII. Jahrhunderts‹, hg. vom Arthur Henkel und Albrecht Schöne (Stuttgart 1967), Sp.1823 sowie Spalte 1772 (auf Hermes übertragen und wie oft mit der banalen Empfehlung, seine Zunge im Zaum zu halten).
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WENDERS’ ROLLENSPIELE ALS »SCHATTENSPIELER«
ken, ehe man sich zu ihnen äußert? So daß man mythographisch eher an Hermes’ mahnende Geste bei Dosso Dossi22 denken dürfte, dessen Hermes (»Psychopompos«) die ungeduldige Tugend warnt, Zeus bei seinem schöpferischen Akt, dem Malen von Schmetterlingen alias »Psychen«, zu stören?
Bei dem Dilemma, der Verschwiegenheit wie der Offenheit gerecht zu werden, hilft vielleicht die Erinnerung weiter, daß Hermes der Meister des beredten Schweigens ist. »Hermes geht vorbei«, oder besser: »Hermès passe«23, so übertrug man eine griechische Redensart, für die wir im Deutschen das nicht so treffende, auf eine gewisse Gesprächssituation verengte Äquivalent haben: »Ein Engel geht durch den Raum«. Derart passager ist Hermes in vielerlei Hinsicht; als Genius des Zwischenraums,
Dosso Dossi, Jupiter, Merkur und die Tugend (ca. 1520-30)
22 Zu den Auslegungen des Bildes und zur Quelle (einem Dialog von Lukian) vgl. Gibbons, Felton: ›Dosso and Battista Dossi. Court painters at Ferrara‹ (Princeton 1969), S. 212-214. 23 Laurence Kahn führt in seinem Buch ›Hermès passe ou les ambiguïtés de la communication‹ (Paris 1978) eine breite Palette kommunikativer Zweideutigkeiten, Aporien, Täuschungsmanöver, Verhüllungen und magischer Metamorphosen sowie produktiver Grenzüberschreitungen vor.
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des Randständigen und listig Mehrdeutigen; als Bote, der sich aus innerer Überzeugung unbotmäßig verhalten und so zum Großen Helfer kann, zum Mittler nicht zuletzt zwischen Leben und Nichtsterblichkeit. Genius nicht bloß des Roadmovies, vielmehr der Beweglichkeit schlechthin, die sich über jede der menschlichen Seele eingeimpfte Theologie und Denkschule hinwegsetzt.
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F I L M R E G I S T ER I. Filme von Wim Wenders Paris, Texas (1984): 14-47, 49, 55, 91, 101, 155, 259, [289f.], [292] Der Himmel über Berlin (1987): 49, [171],180, 295 Bis ans Ende der Welt (1991/96): 37, 48-103, 169, 246, [292] In weiter Ferne, so nah/Faraway So Close (1993): 9, 93, [170], [294] Lisbon Story (1994): 241 Die Gebrüder Skladanowsky (1995): [143] Am Ende der Gewalt (1997): 9, [20f.], 25, 30, 37, 46, 51, 55, 64, 91, 104-159, 202, 241, 290, [292f.] Das Million Dollar Hotel (2000): 10f., 13, 39, 92, 110, 142, 154, 161, 165f., 191f., 199, 218, 240287, [289f.], [292], 293f. The Soul of a Man (2004): 259 Don’t Come Knocking (2005): 36
Same Player Shoots Again (1968): 18, 138, 235 Alabama (2000 LIGHT YEARS) (1969): 18, 164, 188, 235, 245 Die Angst des Tormanns beim Elfmeter (1972): 211, 295 Alice in den Städten (1974): 95 Falsche Bewegung (1975): 183 Im Lauf der Zeit (1976): 39, 42, 127, 158, 161, 162-192, 200, 209-211, 213, 238, [258], [261], 268, [290], [292], 298 Der amerikanische Freund (1977): 18, 29, 38f., 77, 144, 161, 164-166, 169f., 172, 192, 193-239, 250, 261, 266, 268, 284, [290], [292], 297f. Nick’s Film - Lightning Over Water (1980): 128, 188-190, 239 Hammett (1982): 98, 188 Der Stand der Dinge (1982): 44, 46, 144, 158, 183, 188, 236, 245
II. Filme anderer Regisseure Altman, Robert: Nashville (1975): 147f., 150 The Player (1992): 296 Short Cuts (1993): 146-150, 153, 155 Angelopoulos, Theo: Der Blick des Odysseus (1995): 296
Antonioni, Michelangelo: Blow Up (1966): 156f. Bigelow, Kathryn: Strange Days (1995): 103 Buñuel, Luis: Los Olvidados (1950): 191 La vía lactea (1969): 191, 262f. 301
FILMREGISTER
Keaton, Buster: The General/Der General (1927): 233 Kramer, Stanley: On the Beach/ Das letzte Ufer (1959): 49 Kubrick, Stanley: Dr. Strangelove or: How I Learned to Stop Worrying and Love the Bomb/ Dr. Seltsam oder Wie ich lernte, die Bombe zu lieben (1964): 72 A Space Odyssey/Odyssee im Weltraum (1968): 90-93, 99, 130 Lang, Fritz: Der müde Tod (1921): 196, 213 Die Nibelungen (1924): 186 Metropolis (1927): 72, 90f., 282f. Das Testament des Dr. Mabuse (1933): 158f., 234 Die tausend Augen des Dr. Mabuse (1960): 157f. Laughthon, Charles: The Night of the Hunter/Die Nacht des Jägers (1955): 134 Lucas, George: Star Wars/Der Krieg der Sterne (1976): [26] Lynch, David: Wild At Heart (1990): 133 Mulholland Drive (2001): 296 Miller, George: Mad Max I-III (1979-1985): 191, 276 Noyce, Phillip: Rabbit Proof Fence/Long Walk Home (2002): 85f., 95, 296 Ozu, Yasujiro: Ochazuke no aji/ Geschmack von Reis mit grünem Tee (1952): 62 Pearce, Richard: Country (1984): 26 Polanski, Roman: Chinatown (1974): 133 Ray, Nicholas: The Lusty Men (1952): 189f., 238 Johnny Guitar (1954): 210, 216, 233, 236, 238 Rebel Without a Cause/Denn sie wissen nicht, was sie tun (1955): 127f., 220, 233f., 236, 238 Renoir, Jean: La grande illusion/ Die große Illusion (1937): 277
Camus, Marcel: Orfeu negro (1959): 191 Carpenter, John: Halloween (1978): 277 Chaplin, Charles: The Circus (1927): 295 Cocteau, Jean: Orphée (1949): 183, 191 Dwan, Allan: Most Dangerous Man Alive (1961): 44 Fleming, Victor: The Wizard of Oz (1939): 56 Ford, John: The Searchers/Der Schwarze Falke (1956): 43-47, 236 Godard, Jean-Luc: Le mépris/Die Verachtung (1963): 40f., 187f. Greenaway, Peter: The Draughtsman’s Contract/ Der Kontrakt des Zeichners (1982): 191, 242 Drowning By Numbers/Verschwörung der Frauen (1988): 191, 265 Heer, Rolf de: The Tracker (2002): 85f. Herzog, Werner: Nosferatu – Phantom der Nacht (1979): [277] Hitchcock, Alfred: The Lady Vanishes/Eine Dame verschwindet (1938): 234f. Shadow of a Doubt/Im Schatten des Zweifels (1943): 234f. Notorious/Berüchtigt (1946): 191 Vertigo (1958): 204 North by Northwest/Der unsichtbare Dritte (1959): 237 The Birds/Die Vögel (1963): 201f., 236f. Marnie (1964): 239f. Torn Curtain/Der zerrissene Vorhang (1966): 191, 238 Hopper, Dennis: Easy Rider (1969): 126, 196f., 199, 297f. Jarmusch, Jim: Dead Man (1995): 101 Jonze, Spike: Being John Malkovich (1999): 296 Kasdan, Lawrence: Grand Canyon (1991): 153f. 302
FILMREGISTER
falschen Braut (1969): 32 Visconti, Luchino: Morte a Venezia/Der Tod in Venedig (1971): 44, 191f. Ward, Vincent: The Navigator. A Medieval Odyssey (1988): 71 Weir, Peter: The Truman Show (1998): 296 Welles, Orson: Citizen Kane (1941): 279-283, 286f. Whale, James: Frankenstein (1931): 74, 277 Wiene, Robert: Das Kabinett des Dr. Caligari (1919): 73
Roeg, Nicolas: Walkabout (1970): 85f. Scott, Ridley: Blade Runner (1982): 73, 191, 279, 282-287 Sternberg, Josef von: The Shanghai Gesture/Abrechnung in Shanghai (1941): 191 Sturges, Preston: Sullivan’s Travels/Sullivans Reisen (1941): 153f. Tarantino, Quentin: Pulp Fiction (1994): 133 Thome, Rudolf: Rote Sonne (1969): 235 Truffaut, François: La Sirène du Mississippi/Das Geheimnis der
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Weitere Titel zum Film:
F. T. Meyer Filme über sich selbst Strategien der Selbstreflexion im dokumentarischen Film August 2005, ca. 220 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 25,80 €, ISBN: 3-89942-359-3
Trias-Afroditi Kolokitha Im Rahmen Zwischenräume, Übergänge und die Kinematographie Jean-Luc Godards Mai 2005, 254 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 3-89942-342-9
Nicola Glaubitz, Andreas Käuser, Hyunseon Lee (Hg.) Akira Kurosawa und seine Zeit März 2005, 314 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 3-89942-341-0
Michael Lommel, Isabel Maurer Queipo, Nanette Rißler-Pipka, Volker Roloff (Hg.) Französische Theaterfilme – zwischen Surrealismus und Existentialismus 2004, 334 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN: 3-89942-279-1
Matthias Uhl, Keval J. Kumar Indischer Film Eine Einführung 2004, 174 Seiten, kart., 18,80 €, ISBN: 3-89942-183-3
Manfred Riepe Intensivstation Sehnsucht Blühende Geheimnisse im Kino Pedro Almodóvars. Psychoanalytische Streifzüge am Rande des Nervenzusammenbruchs 2004, 260 Seiten, kart., zahlr. Abb., 25,80 €, ISBN: 3-89942-269-4
Andreas Becker Perspektiven einer anderen Natur Zur Geschichte und Theorie der filmischen Zeitraffung und Zeitdehnung 2004, 370 Seiten, kart., zahlr. Abb., 28,80 €, ISBN: 3-89942-239-2
Michael Lommel, Isabel Maurer Queipo, Nanette Rißler-Pipka (Hg.) Theater und Schaulust im aktuellen Film 2004, 172 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN: 3-89942-181-7
Kerstin Kratochwill, Almut Steinlein (Hg.) Kino der Lüge 2004, 196 Seiten, kart., 23,80 €, ISBN: 3-89942-180-9
Manfred Riepe Bildgeschwüre Körper und Fremdkörper im Kino David Cronenbergs. Psychoanalytische Filmlektüren nach Freud und Lacan 2002, 224 Seiten, kart., zahlr. SW-Abb., 24,80 €, ISBN: 3-89942-104-3
Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de