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German Pages [181] Year 2019
Wissenschaftliche Monographien zum Alten und Neuen Testament 157
Elisabeth Krause-Vilmar
Nah ist und schwer zu fassen der Gott Die ambivalente Beschreibung der Nähe Gottes in Jer 20,7–18 und Ps 139
Wissenschaftliche Monographien zum Alten und Neuen Testament
Begründet von Günther Bornkamm und Gerhard von Rad Herausgegeben von Cilliers Breytenbach, Martin Leuenberger, Johannes Schnocks und Michael Tilly 157. Band
Elisabeth Krause-Vilmar
Nah ist und schwer zu fassen der Gott Die ambivalente Beschreibung der Nähe Gottes in Jer 20,7–18 und Ps 139
Vandenhoeck & Ruprecht
Das Werk wurde fþr den Druck þberarbeitet. Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet þber http://dnb.de abrufbar. 2019, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Gçttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschþtzt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen FÐllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz: 3w+p, Rimpar
Vandenhoeck & Ruprecht Verlage j www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2567-9694 ISBN 978-3-7887-3417-6
Vorwort Bei dem vorliegenden Buch handelt es sich um die geringfügig überarbeitete Fassung meiner im Februar 2017 vom Fachbereich Evangelische Theologie der Philipps-Universität Marburg angenommenen Dissertation. An erster Stelle danke ich von Herzen meiner Doktormutter, Prof. Dr. Christl M. Maier, für ihre beispiellose Unterstützung, ihren Rat und ihr Wohlwollen. Prof. Dr. Ulrike Wagner-Rau danke ich für wertvolle Hinweise und das Zweitgutachten. Ihre Unterstützung meines Vorhabens, eine theologische Fragestellung über die Grenzen der theologischen Disziplinen hinweg von der alttestamentlichen Exegese bis in die Homiletik zu verfolgen, ist keine Selbstverständlichkeit. Prof. Dr. Martin Leuenberger und Prof. Dr. Johannes Schnocks haben dankenswerterweise die Aufnahme meiner Arbeit in die Reihe WMANT ermöglicht. Meine Dissertation nahm ihren Ausgang an der Dormitio in Jerusalem. Ich danke allen Freunden des 33. Theologischen Studienjahrs, besonders unserem Dekan Prof. Dr. Joachim Negel, Dr. Uta Zwingenberger vom Forum Theologisches Studienjahr Jerusalem e.V., Johanna Breidenbach und Sara Misterek. Für die kritische und freundschaftliche Begleitung meiner Dissertation danke ich Christina Torrey, Dr. Ann-Cathrin Fiß, Johannes Meier, Dr. Friederike Neumann und Dr. Peter Schüz. Auch den Kolleginnen und Kollegen am Fachbereich Ev. Theologie gilt mein großer Dank, insbesondere Dr. Mareike Schmied, Jan Hofmann, Charlotte Voss und Josephine Haas. Es war für mich ein Privileg, als Pfarrerin am Hans-von-Soden-Institut zu promovieren. Für diese einzigartige Möglichkeit und für den großzügigen Druckkostenzuschuss bin ich der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck sehr dankbar. Die Treffen mit der Leitung des Instituts (zunächst Prof. Dr. Dietrich Korsch, dann Prof. Dr. Ulrike Wagner-Rau) und den Kolleginnen und Kollegen habe ich als ideale Arbeitsbedingungen empfunden. Größte Unterstützung habe ich mein Leben lang und auch in der Promotionszeit durch meine Eltern Dietfrid und Irmtraud Krause-Vilmar erfahren. Ihnen sei dieses Buch gewidmet. Bad Vilbel im Advent 2018
Elisabeth Krause-Vilmar
Inhalt
1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Heute von der Nähe Gottes reden? . . . . . . . . . . . . 1.2 Die ambivalente Nähe Gottes als Grenzaussage im Alten Testament . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Begründung der Textauswahl . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Zum Ambivalenzbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5 Vorgehensweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2. Die Nähe Gottes in Jer 20,7–18 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Zur Forschungsgeschichte der Konfessionen Jeremias . . . . . . 2.2 „In meinem Herzen wie brennendes Feuer“: Einzelexegese von Jer 20,7–18 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Gliederung und sprachliche Analyse . . . . . . . . . . . . 2.2.3 Die Verben in Jer 20,7–18 als Beschreibung der ambivalenten Nähe Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.4 Literarkritische und redaktionskritische Überlegungen . 2.3 Jer 20,7–18 im Kontext des Jeremiabuches und der Konfessionen Jeremias . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Zu Jer 11,18–23 und 12,1–6 . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2 Zu Jer 15,10–21 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3 Zu Jer 17,14–18 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.4 Zu Jer 18,18–23 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.5 Jer 20,7–18 als Höhepunkt der Konfessionen . . . . . . . 2.4 Traditionsgeschichte: Das Motiv der ambivalenten Nähe Gottes im Körperkonzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Wirkungsgeschichte: Theologische Aufnahmen und Weiterführungen am Beispiel einer Predigt von Dietrich Bonhoeffer über Jer 20,7 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6 Ertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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3. Die Nähe Gottes in Psalm 139 . . . . . . . . . . 3.1 Zur Forschungsgeschichte des Psalms . . . 3.2 Einzelexegese von Ps 139: Nähe und Flucht 3.2.1 Übersetzung . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Gliederung und sprachliche Analyse .
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Inhalt
3.3 3.4 3.5 3.6
3.2.3 Die Verben in Ps 139 als Beschreibung der ambivalenten Nähe Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 3.2.4 Literarkritische und redaktionskritische Überlegungen . 92 Psalm 139 im Kontext des Psalters . . . . . . . . . . . . . . . . 95 Traditionsgeschichte: Das Motiv der ambivalenten Nähe Gottes im Körperkonzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 Wirkungsgeschichte: Theologische Aufnahmen und Weiterführungen am Beispiel einer Predigt von Paul Tillich über Ps 139 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Ertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116
4. Theologische Befunde und Reflexion . . . . . . . 4.1 Vergleich zwischen Jer 20,7–18 und Ps 139 . . 4.2 Theologische Motive der Nähe Gottes . . . . 4.2.1 Rudolf Otto: Der lebendige Gott . . . . 4.2.2 Abraham Heschel: Das göttliche Pathos 4.2.3 Ertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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5. Konsequenzen für die gegenwärtige Rede von Gott . . . . . . . . . . 141 5.1 Ausblick auf die homiletische Praxis . . . . . . . . . . . . . . . 141 5.2 Heute von der Nähe Gottes reden . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 6. Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 6.1 Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 6.2 Forschungsliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 7. Anhang: Wirkungsgeschichtliche Bezugstexte . . . . . . . . . . . . 163 7.1 Dietrich Bonhoeffer, Predigt zu Jeremia 20,7 . . . . . . . . . . . 163 7.2 Paul Tillich, Flucht vor Gott (Predigt zu Psalm 139) . . . . . . . 166 Bibelstellenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175
1. Einleitung 1.1 Heute von der Nähe Gottes reden? Ist es sinnvoll und noch zeitgemäß, heute von der Nähe Gottes zu reden und nicht von der mit Geborgenheit verbundenen, sondern der fremden und überwältigenden Nähe? Das scheint auf den ersten Blick nicht in die Zeit zu passen. Überhaupt von Gott zu reden ist gegenwärtig keine Selbstverständlichkeit. Viele verhalten sich in Deutschland indifferent gegenüber dem Glauben an Gott oder bestreiten dessen Existenz. Ob dieser dann als nah oder fern erfahren wird, scheint irrelevant geworden zu sein. Wenn es um die Gottesfrage geht, greift Sprachlosigkeit um sich.1 Die vorschnelle Konsequenz, dass es in dieser zunehmend säkularen Zeit angebrachter zu sein scheint, vornehmlich von der Ferne Gottes zu sprechen, trügt jedoch. Dieser Schlussfolgerung liegt der Kurzschluss zu Grunde, dass die Nicht-Selbstverständlichkeit und Fremdheit Gottes mit seiner Abwesenheit gleichzusetzen wäre. Doch enthält die fremd gewordene biblische Rede von Gott nicht Möglichkeiten, über Gottes Anderssein neu nachzudenken und ins Gespräch zu kommen? Es liegt nicht unmittelbar auf der Hand, heutzutage von der Nähe Gottes zu sprechen. Wenn man es wagt, dann gilt es besonders in Predigten, nicht vorschnell in einseitige Beschreibungen zu verfallen, sondern redlich und komplex das Ineinander von Nähe und Ferne, das alltäglich in zwischenmenschlichen Beziehungen erlebt wird, zu betonen.2 Verstellt die Erfahrung der Nähe – grundsätzlich und besonders im Hinblick auf die Gottesbeziehung – nicht auch einen klaren Blick und macht unkenntlich? Schwingt in der Annahme, Gott sei den Menschen fern, nicht auch etwas Entlastendes mit? Und kann Gottes Nähe nicht auch als zu eng und Gottes Ferne als befreiend empfunden werden?
1 Vgl. Gr ff, Friederike, Ist Gott noch Mitglied der evangelischen Kirche? Zeit-Online, 22. 02. 2014 [Die Angabe der URL und das Abrufdatum der Internetquellen sind im Literaturverzeichnis aufgelistet.]. 2 Vgl. Wanke, Roger Marcel, Praesentia Dei. Die Vorstellung von der Gegenwart Gottes im Hiobbuch (BZAW 421), Berlin/Boston 2013, 47: „Es wird damit deutlich, dass die Gegenwart Gottes die Verborgenheit voraussetzt. Der Versuch, sie zu trennen, wäre eine Trennung des Wesens Gottes. Zu betonen ist also die Vorstellung der Heilsgegenwart in der Unheilsgegenwart.“; Kasper, Walter Kardinal, Barmherzigkeit. Grundbegriff des Evangeliums – Schlüssel christlichen Lebens, Freiburg/Basel/Wien 2012, 59: „Seine Transzendenz ist nicht unendliche Ferne und seine Nähe ist nicht distanzlose Kumpelhaftigkeit.“
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Einleitung
Es ist bemerkenswert, dass gerade zwei Veröffentlichungen eine große Nachfrage erfahren, die mutig neue und radikale Wege in der Rede von Gott suchen und in diesem Zusammenhang der Kirche eine Glättung der Botschaft vorwerfen.3 Esther Maria Magnis wurde 1980 geboren und studierte Geschichte und Vergleichende Religionswissenschaft. Ihr Buch „Gott braucht dich nicht. Eine Bekehrung“ ist ein Bericht ihres Lebens und Glaubens. Der Tod ihres Vaters führte sie in eine Auseinandersetzung mit ihrem Gottesbild. Sie spricht zornig und verstörend über und zu Gott und beschreibt tröstliche und erschreckende Seiten Gottes.4 Erik Flügge wurde 1986 geboren und ist als Berater tätig. Der Kommunikationsexperte untersucht in seinem Buch „Der Jargon der Betroffenheit. Wie die Kirche an ihrer Sprache verreckt“ die religiöse Rede in Kirchen. Diese verwende oft Floskeln und erscheine dadurch belanglos.5 Die große Zustimmung, die diese Bücher erfahren, ist vielleicht gerade darin begründet, dass sie so ungewohnt und fremd von Gott sprechen und damit einen Weg aus der Sprachlosigkeit weisen. In dem Artikel „Ist Gott noch Mitglied der evangelischen Kirche?“6 von Friederike Gräff, die der Kirche „Leisetreterei“ und Sprachlosigkeit über „Glaubensdinge“ vorwirft, und dem Beitrag „Himmelherrgottnochmal“7 von Marc Baumann vermissen die Autorin und der Autor eine komplexe Rede von Gott. Baumann berichtet, dass er keine Predigten hört, die ihn erreichen und beschäftigen. Er schildert seinen Eindruck, dass Pfarrerinnen und Pfarrer die Gemeinde nicht überanstrengen möchten, und fragt sich, ob diese es noch wagen, in einer „immer kleiner werdenden Gemeinde unbequeme Worte zu sagen. Da wird die Angst vor der Zumutung selbst zur Zumutung: einer mutlosen Predigt.“8 Er plädiert für mehr Mut, irritierend und herausfordernd zu predigen. 3 Vgl. Magnis, Esther Maria, Gott braucht dich nicht. Eine Bekehrung, Hamburg 42013; Negel, Joachim, Versehrender Segen. Zu E.M. Magnis’ Buch ,Gott braucht Dich nicht‘, GuL 88 (2015), 414–422; Fl gge, Erik, Der Jargon der Betroffenheit. Wie die Kirche an ihrer Sprache verreckt, München 32016. 4 Vgl. Magnis, Gott, 223 f: „Gott ist schrecklich. So schön er auch ist – so unendlich tief seine Liebe und Zuneigung zu den Menschen sein mag. Ich erschrecke vor Gott. (…) Und es ist eine Lüge, die in manchen Kirchengemeinden verbreitet wird, wenn sie sagen: Wir haben keine Drohbotschaft, wir haben eine Frohbotschaft. Es ist nicht wahr. (…) Unser Glaube hat in sich das Wissen um den ganzen Dreck der Welt. Er hat einen Schrecken. So wie diese Welt. Und erst dann kommt die Frohe Botschaft. Vorher gibt es keinen Grund, dumm grinsend auf der Kanzel zu stehen und die Menschen, die echte Not haben, deren Ehen gerade kaputtgehen, deren Kinder krank werden, deren Geschwister sterben und Eltern dement werden, deren Herzen gebrochen werden, deren Stolz verletzt wird, mit einem weichen gemütlichen Gesäusel und Sozialkitsch einzulullen.“ 5 Vgl. Fl gge, Jargon, 55: „Mein Problem ist, dass Kirche mich nur unterbricht, aber nicht stört. Ich würde mir wünschen, sie würde mich stören oder gar verstören. Was bei mir ankommt, ist aber immer wieder ein Text, der mir zu klein, zu nett, zu brav ist und der mich aufhält statt aufzuwühlen.“ 6 Gr ff, Gott. 7 Baumann, Marc, Himmelherrgottnochmal, SZ-Magazin 52 (2015), 16–19, 17. 8 Baumann, Himmelherrgottnochmal, 19.
Die ambivalente Nähe Gottes als Grenzaussage im Alten Testament
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Als Pfarrerin habe ich gute Erfahrungen damit gemacht, über biblische Texte, die Anfechtungen thematisieren, zu predigen. Dies zeigte mir, dass Gemeinden für die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Gottesbildern offen sind. Mir ist als Theologin bewusst, dass zahlreiche biblische Texte, wie auch die Psalmen und die Konfessionen Jeremias, nicht einem abstrakten Reden über, sondern einem Ringen mit Gott entstammen. Die biblischen Texte bieten keine einfachen Lösungen, sondern regen zum Nachdenken und zur tieferen Reflexion an. Sie lassen die ganze Bandbreite von menschlichen Erfahrungen zu Wort kommen und veranschaulichen die Dynamik der Nähe und Ferne Gottes. Auf den Aspekt der Nähe Gottes richten sich meine Aufmerksamkeit und die folgenden Untersuchungen.
1.2 Die ambivalente Nähe Gottes als Grenzaussage im Alten Testament Gottesnähe ist ein „kulturell geformter und spezifisch dimensionierter Erfahrungsraum“9, in dem sich Gott und Mensch begegnen. Die Nähe ist mit einem Schutzraum zu vergleichen, der von Gott gegen Gegner verteidigt und von Menschen durch ihre Gebetspraxis evoziert wird.10 Allerdings richtet sich die Gottesnähe im Alten Testament nicht nur gegen Gegner. Inmitten der Vielfalt der Beschreibungen der Nähe Gottes wird diese ganz und gar nicht als harmlos dargestellt. Hiob erfährt, dass Gottes Nähe unerklärliches Unglück verursacht (Hi 7,17–21). Auch Jakob ist von der allzu nahen und schmerzhaften Begegnung mit Gott sein Leben lang gezeichnet (Gen 32,23–33).11 „Es gibt im Leben der YHWH-Verehrer Situationen, in denen sie hinter den von Gott geschickten Leiden und Übeln keinerlei Sinn erkennen können, in denen ihnen Gott, obgleich sie ihn zugleich suchen und um seine Hilfe anflehen, so ambivalent, rätselhaft, feindlich, niederdrückend geworden
9 Janowski, Bernd, Konfliktgespräche mit Gott. Eine Anthropologie der Psalmen, NeukirchenVluyn 2003, 326 [Hervorhebung im Original]. 10 Vgl. Meyer, Insa, Aufgehobene Verborgenheit. Gotteslehre als Weg zum Gottesdienst, PThW 3, Berlin 2007, 42. 11 Vgl. Frettlçh, Magdalene L., Gott Gewicht geben. Bausteine einer geschlechtergerechten Gotteslehre, Neukirchen-Vluyn 22009, 32. Auch Dorothee Sölle macht an Gen 32,23–33 eine Suche nach und ein Ringen mit Gott fest. Vgl. Sçlle, Dorothee, An der Furt: „Da rang einer mit ihm bis zur Morgenröte“. Der Kampf mit dem Unbekannten, in: Gr nberg, Wolfgang/ Weisse, Wolfram (Hg.), Zum Gedenken an Dorothee Sölle (Hamburger Universitätsreden, Neue Folge 8), Hamburg 2004, 71–84, 74: „Und so suche ich nicht Jakob auf in der Geschichte, ich bin ja schon Jakob, ich suche den anderen, der überfällt und töten will, ich suche den, der segnet.“
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Einleitung
ist, daß sie zugleich nur in Gottesferne wenigstens ein kurzes, bescheidenes Leben zu fristen hoffen können.“12 Gleichwohl wird die Nähe Gottes im Alten Testament nicht durchgängig ambivalent, sondern überwiegend positiv beschrieben. Das bedeutet jedoch nicht, dass die ambivalenten und negativen Aussagen über Gottes Nähe Randaussagen oder Ausnahmen wären – eher beschreiben sie Grenzen und gehören zutiefst zum biblischen Gottesbild dazu.13 Im Folgenden erläutere ich die hebräischen Begriffe 5LK („sich nähern, nahe sein“) und K;L („fern sein“) und die Vorstellung vom Angesicht Gottes, die eng mit seiner Nähe verbunden ist.
Etymologie und Verwendung der hebräischen Begriffe Zunächst wird die Nähe etymologisch durch das Verb 5LK („sich nähern/nahe sein“) ausgedrückt: „qrb bezeichnet in späterer Zeit mehr das stete Nahe-Sein Jahwes.“14 Diese Nähe gilt denen, die ihn anrufen (Dtn 4,7; Jes 55,6; Ps 145,18; Klgl 3,57). Das Verb 5LK („sich nähern/nahe sein“) – wie auch das Adjektiv 59LK („nahe“) – bezieht sich in den meisten Fällen auf konkrete Personen, Sachen und Orte und auf juristische Rechte, aber auch auf abstrakte Begriffe wie soziale Beziehungen, religiöse Privilegien und Worte, die als nahe betrachtet werden. Z. B. wurde der Streit in umstrittenen Rechtslagen vor JHWH gebracht (Num 27,5; Dtn 1,17). Die Grundbedeutung bezieht sich meistens auf physische und räumliche Nähe, aber auch zeitliche Nähe und Beziehungsgeschehen (z. B. Verwandtschaft) sind gemeint. Wie ich im Folgenden zeigen werde, wird das Verb nicht nur in der kultischen Bedeutung, sondern auch in der prophetischen Eschatologie verwendet. Nahe sein wird vorwiegend im kultischen Sinne von heran- und hervortreten verstanden (zum Altar: Ex 12,48; Lev 21,17 f; Num 17,5; zu JHWH: Ex 16,9; Lev 16,1). Das Wort beschreibt auch Grenzen der Nähe: „Rein physische Nähe zwischen Gott und Menschen ist beschränkt (Ex 3,5; vgl. Jos 3,4). Zutritt zu heiligen Gegenständen und Orten ist qualifiziertem kultischem Personal 12 Gross, Walter, Bedrohliche Gottesnähe als Gebetsmotiv, in: Eberhardt, Gçnke/Liess, Kathrin (Hg.), Gottesnähe im Alten Testament (SBS 202), Stuttgart 2004, 65–83, 75. 13 Vgl. Berges, Ulrich, Die dunklen Seiten des guten Gottes. Zu Ambiguitäten im Gottesbild JHWHs aus religions- und theologiegeschichtlicher Perspektive (Nordrhein-Westfälische Akademie der Wissenschaften und Künste, Geisteswissenschaften 443), Paderborn 2013, 37: „Dies und viele andere Texte stehen nicht am Rande der biblischen Bezeugungen von JHWH, dem Gott Israels, sondern sind integraler Bestandteil der Offenbarung. Bibeltheologisch geht es keineswegs darum, diese negativen Stellen gegen die positiven aufrechnen zu wollen – oder gar einer ,chronique scandaleuse‘ JHWHs das Wort zu reden –, sondern darum, die Polarität, ja Ambiguität, die dieser Gottesvorstellung inhärent ist, in den Blick zu nehmen.“ 14 K hlewein, Johannes, Art. 5LK, THAT II, 1976, 674–681, 680 [Hervorhebung im Original].
Die ambivalente Nähe Gottes als Grenzaussage im Alten Testament
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vorbehalten (…).“15 Auch die Unnahbarkeit JHWHs wird mit 5LK („sich nähern/nahe sein“) ausgedrückt (Gen 28,16 f; 32,31; Ex 3,5; Jos 3,4).16 In prophetischen Texten findet das Adjektiv 59LK („nahe“) eine besondere Verwendung zur Beschreibung vom bevorstehenden Heil bzw. Unheil. Z. B. werden der Tag JHWHs und Zeiten des Zorns in Jes 13,6.22; Jer 48,16; Ez 7,7; 12,23; 22,4; 30,3 als nahe beschrieben. „Die Tatsache, daß der Tag Jahwes als nahe angekündigt wird, unterstreicht das Gerichtswort in seiner Schärfe. Jahwe selbst kann sich zum Gericht nahen (Mal 3,5).“17 Im Alten Testament wird die Gottesbeziehung u. a. durch das Spannungsfeld zwischen Nähe und Ferne beschrieben. Das Pendant zu 5LK („sich nähern/nahe sein“) ist K;L („fern sein“). Der theologische Sprachgebrauch von K;L („fern sein“) ist vor allem in den Psalmen und den prophetischen Texten belegt.18 Das Verb kann die räumliche, zeitliche und seelisch-geistige Entfernung von Gott ausdrücken.19 Als Gegensatzpaar dienen 5LK und K;L zur Bezeichnung einer Gesamtheit (Dtn 13,8; 1Kön 8,46; Jes 57,19; Jer 25,26; 48,24; Ez 22,5; Dan 9,7).20 Dabei ist Gottes Nähe vorwiegend positiv und Gottes Ferne negativ konnotiert: „Gottes Nähe bedeutet Heil und Leben, seine Ferne Leid und Tod.“21 JHWHs Nähe wird ersehnt (Ps 69,19), um JHWHs Nähe wird gebeten (1Kön 8,59; Ps 69,12) und die Nähe JHWHs ist mit Zuversicht verbunden (Jes 50,8). JHWHs Hilfe ist nahe denen, die ihn fürchten (Ps 85,10). JHWHs Worte sind nahe und verständlich (Dtn 30,14). Aber es gibt auch Grenzen der mit Geborgenheit verbundenen Nähe Gottes: Gottlose können nicht in der Nähe bestehen (Jer 12,2) und Gottes Wirken lässt sich nicht auf die Nähe reduzieren (Jer 23,23). Gottes Ferne wird als Leiden, Tod, Welt der Finsternis und Auflösung von sozialen Beziehungen beschrieben (Ps 6,8; 74,1).22 Gottesferne bedeutet eine lebensbedrohliche Gefahr. Bedrohliche Situationen werden als fern von Gott dargestellt und beklagt (Ps 10,1). Den Gottlosen sei Gott fern (Ps 119,155; Spr 15,29). Das Verständnis von Nähe und Ferne zu Gott beinhaltet folglich anthropologische, soziale und kosmologische Aspekte, weil Selbst-, Welt- und Gottesverständnis im Alten Testament zusammengedacht werden. Die Nähe und Ferne Gottes werden – auch über die Begrifflichkeit von 5LK („sich nähern, nahe sein“) und K;L („fern sein“) hinaus – nicht abstrakt, sondern dynamisch 15 16 17 18 19 20 21
Gane, Roy E./Milgrom, Jacob, Art. 5LK, ThWAT VII, 1993, 147–161, 148. Vgl. K hlewein, 5LK, 678. K hlewein, 5LK, 680 [Hervorhebung im Original]. Vgl. K hlewein, Johannes, Art. K;L, THAT II, 1976, 767–771, 769. Vgl. W chter, Ludwig, Art. K;L, ThWAT VII, 1993, 490–496,491. Vgl. K hlewein, K;L, 769. Kaiser, Otto, Der Gott des Alten Testaments. Wesen und Wirken, Theologie des Alten Testaments, Teil 2: Jahwe, der Gott Israels, Schöpfer der Welt und der Menschen, Göttingen 1998, 149. 22 Vgl. Janowski, Konfliktgespräche, 64 f.
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Einleitung
und existenziell beschrieben. Hier werden die Grenzen des Gottesbildes und die Ambivalenz der Nähe Gottes ausgelotet.
Transformationen des Gottesbildes und die Rede vom Angesicht Gottes Im Zentrum des altorientalischen und alttestamentlichen Weltbilds steht der Tempel, der Mittelpunkt der Stadt ist und als Nahtstelle zur Welt der Gottheiten verstanden wird. Erbauer des Tempels und erster Repräsentant Gottes auf Erden ist der König, dessen Herrschaft von den Gottheiten legitimiert wird. Gottes Nähe wird als Heilsgegenwart beschrieben, die vorrangig im Tempel zu erfahren ist. In alttestamentlichen Aussagen wird Gott im Heiligtum jedoch auch als unzugänglich beschrieben.23 Insgesamt werden die Gottheiten im Alten Orient als faszinierend und erschreckend erfahren.24 Da die Gottesnähe für den Menschen auch gefährlich werden kann, muss sie reguliert werden: „Wer JHWH, seiner Heiligkeit und seinem Heiligtum zu nahe kommt, kann in tödliche Gefahr geraten. Wer sich ungerufen nähert oder gar überheblich in sein Geheimnis und in das Mysterium seiner Gottheit eindringen will, betritt den Bannkreis des Todes. Darin ereignet sich die ambivalente Unergründlichkeit der Hoheit und Tiefe Gottes. Kultisch zeigt sich dies darin, daß der Hohepriester nur einmal im Jahr, am Versöhnungstag, das Allerheiligste betreten darf. Diese Einsicht prägt offensichtlich auch die Spiritualität Israels.“25 Nach dem Verlust des Königtums und des Jerusalemer Tempels im frühen 6. Jh. v. Chr. werden diese Vorstellungen sukzessive modifiziert: JHWH wird als im Namen (Dtn 12,14 f), in seiner Herrlichkeit (Ex 16,10; 24,16 f; 40,34 f), in seinem Wort (Neh 8; 2 Chr 33,8) erfahrbar und als Einwohnung mitten in seinem Volk (Ez 11,16) beschrieben. „Sein Name (AM) und seine Herrlichkeit (795?) stehen für das, was Jahwe selbst ist und gibt: Anteil an sich selbst schenkender, nahbarer Gott.“26 Dies wird u. a. in der nachexilischen Theologie 23 Vgl. Hartenstein, Friedhelm, Die Unzugänglichkeit Gottes im Heiligtum. Jesaja 6 und der Wohnort JHWHs in der Jerusalemer Kulttradition (WMANT 75), Neukirchen-Vluyn 1997, 149: „Die vorexilische Jerusalemer Kulttradition enthielt offenbar nicht nur die Vorstellung einer heilvollen Präsenz JHWHs im Heiligtum (…), sondern auch – durch die Aufnahme von Wettergottvorstellungen – die einer unzugänglichen Transzendenz des Wohnorts Gottes.“ 24 Vgl. Hartenstein, Unzugänglichkeit, 69 [Hervorhebung im Original]: „Der ,Licht‘- und ,Schreckensglanz‘ ist im Bereich der sumerisch-babylonischen Kultur durch die Jahrtausende hindurch ein immer wiederkehrendes generelles Kennzeichen göttlicher Machtausübung und Lebenskraft. Er erscheint dabei wie die Gottheiten selbst in seinen Auswirkungen und Erscheinungswesen ambivalent.“ 25 Fuchs, Ottmar, „Näher mein Gott zu dir“?! Assoziationen eines praktischen Theologen, in: Eberhardt, Gçnke/Liess, Kathrin (Hg.), Gottes Nähe im Alten Testament (SBS 202), Stuttgart 2004, 150–167, 151. 26 Spieckermann, Hermann, Heilsgegenwart. Eine Theologie der Psalmen, Göttingen 1989, 288.
Die ambivalente Nähe Gottes als Grenzaussage im Alten Testament
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der Psalmen deutlich, die nun Gott als ewigen König preist.27 Sie will „Rühmung der heilsamen Gegenwart des Königs Jahwe sein, die sich in Herrlichkeitsentäußerung und Namenskundgabe (vom Tempel aus in die Welt) manifestiert und damit das Gotteslob allererst ermöglicht.“28 Für den einzelnen bedeutet dies, dass er am Tempel JHWHs Gegenwart und Geborgenheit erfahren kann: „So in Ps 23, der mit der Prädikation ,Jahwe ist mein Hirte‘ beginnt (V. 1) und mit der Hineinnahme des Beters in die ewige Jahwegegenwart im Tempel schließt (V. 6).“29 Zerstörung und Exil werden vor allem in prophetischen Texten als richtende Nähe Gottes verstanden, die meist mit der Abwendung des Volkes von JHWH und mit sozialen Vergehen begründet wird (Jes 13,6–9; Ez 7,5–10; Joel 2,1–11; Obd 1,15; Zef 1,7.14; vgl. noch das Gericht über Moab Jer 48,16). Im nachexilischen Joelbuch folgt auf die Ankündigung dieses als Gerichtstag geschilderten Tag JHWHs ein Umkehrruf (Joel 2,12–17). In der rückblickenden Reflexion verbindet sich der im Gericht nahe Gott mit der Vorstellung seiner Allmacht: „Gottes Nähe wie Gottes Ferne, seine Fülle wie sein Wort sind Aspekte seiner richtenden Allgegenwart geworden.“30 Die Nähe Gottes findet besonders in Körpermetaphern Ausdruck. Die zugewandte und verborgene Nähe Gottes sind im Alten Testament und insbesondere in den Psalmen eng mit der Vorstellung vom Angesicht Gottes (898= =DH) verbunden.31 Friedhelm Hartenstein hat herausgearbeitet, dass dafür die königliche Audienzvorstellung den Hintergrund bildet: „So hatte die mentale Ikonographie der Gottesbegegnung im Tempelkult ihren Haftpunkt und schöpfte aus dessen Symbolik, sie konnte aber auch fern des Heiligtums durch Texte und Riten vergegenwärtigt werden. Dies gilt auch für die vielen Psalmen Israels. Durch die Symbolfunktion der höfisch-kultischen Sprache partizipierte ein Leser/Beter der Psalmen an dem nach dem Muster einer Audienz geregelten Gotteskontakt.“32 Die Klagelieder des Einzelnen spiegeln 27 Vgl. Saur, Markus, Die Königspsalmen. Studien zur Entstehung und Theologie (BZAW 340), Berlin/New York 2004, 277: „Der König ist zum Zeitpunkt der Redaktion und Komposition der Königspsalmen kein konkret erlebter Herrscher mehr, sondern er ist zu einer die Identität der nachexilischen Gemeinde prägenden Erinnerungsfigur geworden; aus dieser Erinnerung an das Königtum erwächst innerhalb der Königspsalmen eine Hoffnung auf die Gültigkeit der Zusagen Jahwes in bezug auf das Königtum, die in späteren Texten zu einem ausgeprägten Messianismus führt.“ 28 Saur, Königspsalmen, 288. 29 Saur, Königspsalmen, 287. 30 Spieckermann, Hermann, Der nahe und der ferne Gott. Ein Spannungsfeld alttestamentlicher Theologie, in: Eberhardt, Gçnke/Liess, Kathrin (Hg.), Gottes Nähe im Alten Testament (SBS 202), Stuttgart 2004, 115–134, 131. 31 Vgl. Hartenstein, Friedhelm, Das Angesicht JHWHs. Studien zu seinem höfischen und kultischen Bedeutungshintergrund in den Psalmen und in Exodus 32–34 (FAT 55), Tübingen 2008. 32 Hartenstein, Friedhelm, Das „Angesicht Gottes“ in Exodus 32–24, in: Kçckert, Matthias/ Blum, Erhard (Hg.), Gottes Volk am Sinai. Untersuchungen zu Ex 32–34 und Dtn 9–10 (VWGTh 18), Gütersloh 2001, 157–183, 163 [Hervorhebung im Original].
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diesen höfisch-kultischen Vorstellungshintergrund einer grüßenden und segnenden Königsgestalt. Die Audienz vor Gott gewährt Schutz, bringt Rettung und Teilhabe an der Fülle JHWHs. Nicht die Unterscheidung zwischen materiell und geistig, sichtbar und unsichtbar ist entscheidend, sondern das Verhältnis zwischen Nähe und Verborgenheit Gottes, d. h. zwischen gewährter und abgelehnter Audienz, die seine lebensspendende Zuwendung verbirgt. Gleichwohl bedeutet die Audienzvorstellung auch, dass Gott trotz seiner Abwesenheit ansprechbar bleibt und mit seiner erneuten Zuwendung gerechnet wird. Dass jedoch das Angesicht Gottes nicht uneingeschränkt positiv konnotiert ist, verdeutlicht Hartenstein an Ex 32–34 und insbesondere an Ex 33,20. In Ex 32–34 bleiben die Theophaniekonzepte in einer Spannung zwischen Gottesschau und Verschonung; Ex 33,20 „stellt alle Deutungen auf einen Heilscharakter der Gottesnähe unter einen prinzipiellen Vorbehalt.“33 Dass Mose versucht, das Volk Israel vor Gott zu bewahren, zeige die veränderte Sicht auf die Gottespräsenz, die nach dem Abfall des Volkes als Gericht erscheint: „Auch das Mitziehen des ,Angesichts‘ in Ex 33 muss demnach ambivalent gedeutet werden. Seine an sich schützende, auf die Feinde zielende Vernichtungsmacht könnte sich auch gegen das Volk richten und unterliegt der ständigen Selbstbeherrschung Gottes.“34 Das Vorüberziehen JHWHs an Mose, der ihm nur hinterhersehen darf (Ex 33,21 ff) geht auf Vorstellungen der Sinaitradition zurück, die konträr zu Aussagen der Jerusalemer Psalmensprache stehen. JHWH schützt Mose davor, ihn direkt anzusehen. „All dies ist offenbar nötig, weil der direkte Anblick des ,vorüberziehenden‘ JHWH tödlich sein müßte (V. 23b).“35 Die Skepsis gegenüber der Möglichkeit eines heilvollen unmittelbaren Gotteskontakts wird auch in Hi 9,11 f erkennbar. JHWHs Erscheinung am Sinai beinhaltet somit den Aspekt der Lebensgefährlichkeit einer unmittelbaren Begegnung mit Gott: „Eine Gottesbegegnung ist nach Ex 33,18.21–23 auch für Mose nur unter dem Gerichtsvorbehalt möglich. Unter Weiterführung dieses Aspekts ins Grundsätzliche fügte dann wohl eine spätere Hand in Ex 33,20 (von V. 23b inspiriert) den im Alten Testament in dieser Form singulären Satz hinzu: ,Nicht kannst du mein Angesicht sehen, denn nicht sieht mich ein Mensch und bleibt am Leben!‘“36 Der Widerspruch zu den Bitten in den Psalmen, Gottes Angesicht zu sehen, deutet darauf hin, dass es sich in Ex 33,20 um eine spätere Reflexion handelt, die eine Gottesbegegnung „von Angesicht zu Angesicht“ nur noch als für Menschen bedrohlich beschreiben kann. Diese ambivalente Sicht auf die Nähe Gottes wird auch im Buch Hiob 33 34 35 36
Hartenstein, Angesicht JHWHs, 202. Hartenstein, Angesicht JHWHs, 277 [Hervorhebung im Original]. Hartenstein, Angesicht JHWHs, 280 [Hervorhebung im Original]. Hartenstein, Angesicht Gottes, 178 [Hervorhebung im Original].
Begründung der Textauswahl
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thematisiert: „Eine Sachparallele, die sich offenbar ausdrücklich auf Ex 33,18 ff zurückbezieht, stellt die von dunkler Skepsis geprägte Äußerung des leidenden Gerechten in Hi 9,11 f dar, wonach niemand den ,vorüberziehenden‘ und dahinschaffenden JHWH ,sehen‘ kann. Sollte also in dem viel zitierten Vers Ex 33,20 weniger ein ,Grundsatz‘ des alttestamentlichen Glaubens als vielmehr ein ,Grenzsatz‘ dieses Glaubens formuliert worden sein?“37 Es hat sich gezeigt, dass die Nähe Gottes in alttestamentlichen Aussagen vorwiegend positiv, jedoch auch fremd und bedrohlich beschrieben wird. Die Nähe und die Ferne Gottes schließen sich nicht aus, sondern ihr dynamisches Ineinander steht im Vordergrund. Anhand der Nähe Gottes werden Erfahrungen der Unterschiedenheit zwischen Gott und Mensch beschrieben, daher trifft der Ausdruck der Grenzaussage bzw. des Grenzsatzes zu.
1.3 Begründung der Textauswahl Im Alten Testament kann die Nähe Gottes auch als bedrohlich angesehen werden und sich gegen die betende Person wenden. „Die in bestimmten Frömmigkeitskreisen oft etwas zu schnell begrüßte Nähe Gottes ist zudem eine heikle Geschichte. Gottes Nähe kann gefährlich sein, ist es aber nicht automatisch; vielmehr hängt dies von den Umständen ab. (…) Geht es den Menschen um einen ungehörigen Zugriff auf das Geheimnis Gottes, droht ihnen der Tod; geht es ihnen um eine größere Gerechtigkeit unter den Menschen, bekommen sie Unterstützung.“38 Gleichwohl bleibt auch in diesem Fall die Nähe Gottes unverfügbar für den Menschen. „So erweist sich Gottes Nähe, wie sie sich in den Texten und Theologien zeigt, als etwas, das nicht ohne weiteres den menschlichen Wünschen entspricht. Sie ist nicht greifbar oder berechenbar. Sie läßt sich nicht an etwas binden und festhalten.“39 Sie wird existenziell an Einzelschicksalen wie z. B. denen der Propheten und der Psalmbetenden beschrieben und ist mit einem dynamischen Beziehungsgeschehen verbunden.40 Dabei wird die Gottesnähe nicht als harmlos erlebt und doch bleibt sie das Ziel des Gebets: „In paradoxer Weise suchen diese Beter durch den Akt des Gebetes die Nähe Gottes und bitten doch explizit, von dieser Nähe verschont zu werden. Der Widerspruch zwischen Inhalt und 37 Hartenstein, Angesicht JHWHs, 291 [Hervorhebung im Original]. 38 Fuchs, Assoziationen, 151. 39 Eberhardt, Gçnke/Liess, Kathrin (Hg.), Gottes Nähe im Alten Testament (SBS 202), Stuttgart 2004, 8; vgl. Kçckert, Matthias, Ausgespäht und überwacht, erschreckend wunderbar geschaffen: Gott und Mensch in Psalm 139, ZThK 107 (2010), 415–447, 430 f. 40 Vgl. Berges, Seiten, 37: „Auch die Confessiones des Jeremia (…) und die Klagen Ijobs (vgl. Ijob 16,11–17; 19,6–14) durchkreuzen ein eindimensionales Gottesbild, in dem nur Platz für Licht und Segen ist und alles Negative markionitisch ausgeblendet wird. Nicht von ungefähr brechen die Ambiguitäten JHWHs gerade dort auf, wo es um das Schicksal des Einzelnen geht.“
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Vollzug des Gebetes weist schon darauf hin, daß die Zurückweisung der Gottesnähe nicht durchgehalten werden kann; diese Nähe bleibt das letztliche Anliegen auch dieser Gebete.“41 Um diese Ambivalenz der Gottesnähe näher zu untersuchen, eignen sich insbesondere Ps 139 und die letzte Konfession Jeremias Jer 20,7–18. Von daher ist es naheliegend, dass beide Texte in alttestamentlichen Studien zur Nähe Gottes zitiert werden. Sie schildern die Gottesnähe als bedrängend, unkalkulierbar und übermächtig. Jer 20,7–18 und Ps 139 problematisieren die Nähe Gottes und thematisieren das Leiden daran.42 Damit weisen beide Texte über die heute verbreitete Vorstellung, dass die Nähe Gottes vorwiegend positiv und die Ferne negativ erfahren werde, hinaus. Zwar weist die jüngere Forschung auf das Problem der ambivalenten Nähe Gottes hin: Hartenstein weist z. B. im Zusammenhang beider Texte auf das „Leiden herausgehobener Einzelner an dessen übermächtiger Nähe“43 hin. Was jedoch fehlt, ist eine detaillierte Untersuchung von Jer 20,7–18 und Ps 139 unter dem Gesichtspunkt der ambivalenten Beschreibung der Nähe Gottes. Das ist das Ziel meiner Studie. Zudem werde ich diesen biblischen Befund im Blick auf die gegenwärtige Rede von der Nähe Gottes in Predigten auswerten.
1.4 Zum Ambivalenzbegriff Die Nähe Gottes wird in Jer 20,7–18 und Ps 139 als ambivalent beschrieben. In der Forschungsdiskussion wird der Begriff der Ambivalenz zwar – insbesondere bei diesen beiden Texten – verwendet, allerdings scheint er in der Theologie des Alten Testaments wenig beachtet zu werden. Das ist erstaunlich, da die alttestamentlichen Texte in meinen Augen reich an ambivalenten Beschreibungen sind.44 Eine Ausnahme bildet die interdisziplinäre Studie von Walter Dietrich (Altes Testament), Kurt Lüscher (Soziologie) und Christoph Müller (Praktische Theologie), die gemeinsam ein Konzept der Ambivalenz entwickeln und auf ausgewählte Texte anwenden. Der Begriff stamme aus der Psychiatrie und beschreibe „Erfahrungen des Oszillierens oder eines dynamischen Hin und Her, die innerhalb konkreter 41 Gross, Gottesnähe, 81. 42 Vgl. Pola, Thomas, Gott fürchten und lieben. Studien zur Gotteserfahrung im Alten Testament (BThSt 59), Neukirchen-Vluyn 2007, 117; Kçckert, Gott, 429. 43 Hartenstein, Friedhelm, Gott als Horizont des Menschen. Nachprophetische Anthropologie in Ps 51 und 139, in: Lux, R diger (Hg.), Die unwiderstehliche Wahrheit. Studien zur alttestamentlichen Prophetie (FS Arndt Meinhold, ABIG 23), Leipzig 2007, 491–512, 499 [Hervorhebung im Original]. 44 Vgl. Br ndl, J rgen, Gottes Nähe. Der Heilige Geist und das Problem der Negativität in der Theologie, Freiburg im Breisgau 2010, 48 f: „Das Alte Testament hat jedenfalls die Ambivalenzen der Begegnung mit dem Gottesgeist nie unter den Teppich gekehrt.“
Zum Ambivalenzbegriff
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Handlungszusammenhänge bedeutsam für das Selbstverständnis individueller und kollektiver Akteure und deren Handeln sind.“45 Vor diesem Hintergrund beschreiben Dietrich, Lüscher und Müller die Ambivalenz als Schwanken zwischen negativen und positiven Gefühlen, das insbesondere in Familien- und Generationenbeziehungen relevant ist. Auch die biblischen Texte seien geprägt von Ambivalenzen: „Die biblischen Autoren malen nicht schwarz-weiss, sie gängeln die Leserschaft zumeist nicht durch eindeutige Meinungskundgaben und klare Anweisungen, sondern versetzen sie in freie Interpretationsräume, in denen eigene Erfahrung, eigene Einfühlung, eigenes Nachdenken und eigene Entscheidungen gefragt sind.“46 Dietrich, Lüscher und Müller kommen zu folgender Definition: „Das Konzept der Ambivalenz dient dazu, Erfahrungen eines zeitweiligen oder dauernden Oszillierens zwischen polaren Gegensätzen zu umschreiben, denen Bedeutung für die Identität und dementsprechend für die Handlungsbefähigung, die sozialen Beziehungen sowie die Gesellschaftlichkeit individueller und kollektiver Akteure zugeschrieben werden kann.“47 Die Ambivalenzen beruhen auf der dynamischen und zweideutigen Erfahrung von Polaritäten, Gegensätzen und Differenzen, die sich auf den ersten Blick ausschließen; sie beziehen sich auf ein Gemeinsames, wodurch sie sich von der Ambiguität bzw. der Mehrdeutigkeit unterscheiden.48 Ambivalenzen müssen demnach keineswegs negativ sein: Es geht vielmehr um den Umgang mit ihnen. Die Ambivalenztoleranz kann sogar die eigene Identität stärken. Da Ambivalenzen zum Leben gehören, machen die Autoren Mut, auf sie sorgfältig zu achten – auch bei der Auslegung biblischer Texte.49 Ihren Ansatz einer „ambivalenz-bewusste[n, EKV]“50 Exegese halte ich für plausibel. Allerdings thematisieren die Autoren in den von ihnen analysierten Texten fast ausschließlich zwischenmenschliche Beziehungen, besonders die Erzelternerzählungen. Das ist – gerade im Dialog mit der Soziologie – nachvollziehbar. Allerdings hätte die Gottesbeziehung in ihrer Studie noch stärker in den Blick genommen werden können. Gleichwohl ist das von den Autoren definierte Konzept der Ambivalenz hilfreich zur Analyse der Nähe Gottes. Es weist auf die in alttestamentlichen Texten beschriebene widersprüchliche Erfahrung der Nähe Gottes hin und betont, die Auseinandersetzung mit Ambivalenzen als Möglichkeit zur Identitätsbildung zu be45 Dietrich, Walter/L scher, Kurt/M ller, Christoph, Ambivalenzen erkennen, aushalten und gestalten. Eine neue interdisziplinäre Perspektive für theologisches und kirchliches Arbeiten, Zürich 2009, 11. 46 Dietrich/L scher/M ller, Ambivalenzen, 9. 47 Dietrich/L scher/M ller, Ambivalenzen, 44. 48 Vgl. Dietrich/L scher/M ller, Ambivalenzen, 46. 49 Vgl. Dietrich/L scher/M ller, Ambivalenzen, 116 f: „Sofern das Ambivalente zur Grundkonstitution des Menschseins und menschlichen Erlebens und Zusammenlebens gehört, und sofern die Bibel ein Grundbuch menschlicher Erfahrung und Lebensbewältigung ist, verwundert es eigentlich nicht, dass sich mit dem ,Konzept der Ambivalenz‘ wohl sehr viele ihrer Schriften erschließen lassen.“ 50 Dietrich/L scher/M ller, Ambivalenzen, 221.
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greifen. Die hier vorgelegte ambivalenzbewusste Exegese von Jer 20,7–18 und Ps 139 will zeigen, ob und falls ja inwiefern die Vorstellung von der Ambivalenz Entscheidendes für das Reden von der Nähe Gottes erschließen kann.
1.5 Vorgehensweise Meine Studie zu Ps 139 und Jer 20,7 zielt darauf, exegetische Einsichten für die heutige Rede von der Nähe Gottes zu gewinnen. Die Annahme dabei ist, dass die biblischen Texte zwar aus einer anderen Zeit mit einem fremden Weltbild stammen, jedoch eine tiefgründige Auseinandersetzung mit dem Gottesverständnis ausdrücken und dadurch für Menschen heute an Aktualität nicht verloren haben. Insbesondere die Psalmen prägen seit Jahrhunderten die Frömmigkeit von Jüdinnen und Juden, Christinnen und Christen. In ihnen können Menschen Gebetsformen begegnen, mit deren Hilfe sie Gott anreden und dadurch ihr Leben in Bezug zu Gott setzen können.51 Psalmen bewegen Menschen auch im nicht explizit kirchlichen Rahmen. So stehen Gedichte von Nelly Sachs und Rainer Maria Rilke für Psalmenfrömmigkeit in der Dichtung.52 Gerade weil die Psalmen in der kirchlichen Praxis verankert sind, bedarf es der ständigen Reflexion ihrer Gottesbilder. Die Rezeption alttestamentlicher Texte, die ein ambivalentes Gottesbild bieten, ist daher ein weiterer Gegenstand der vorliegenden Untersuchung. Die Studie verbindet die Exegese der gewählten Texte und deren Rezeption in ausgewählten Predigten aus dem 20. Jahrhundert, um anhand dieser Beispiele Möglichkeiten heutiger Rede von der Nähe Gottes auszuloten. Nach einem forschungsgeschichtlichen Überblick über die Auslegungen der Konfessionen Jeremias untersuche ich die Beschreibung der Nähe Gottes in Jer 20,7–18 im Kontext dieser Gebetstexte und des Jeremiabuchs. Traditionsgeschichtlich steht dabei das Motiv der ambivalenten Nähe Gottes anhand der verwendeten Körpermetaphorik im Vordergrund. Als modernes Beispiel der Rezeption dient eine Predigt über Jer 20,7 von Dietrich Bonhoeffer. Auch die 51 Vgl. Zenger, Erich, Die Psalmen, in: Ders. (Hg.), Stuttgarter Altes Testament. Einheitsübersetzung mit Kommentar und Lexikon, Stuttgart 32005, 1036–1219, 1036: „Mit den zu einem Buch ausgestalteten Psalmen haben Generationen von Menschen ihr Leben im Angesicht ihres Gottes gelebt – in Freude und in Leid, im Kampf für Gerechtigkeit und im Widerstand gegen Unterdrückung, im Erleben festlicher Gemeinschaft und im geschwisterlichen Ertragen von Unglück, mit Klage und Lobpreis, mit Bitte und Dank.“ 52 Vgl. M nsterschwarzacher Psalter, Die Psalmen, Münsterschwarzach 22003, Anhang: „Aber im Mannesjahr / maß er, ein Vater der Dichter, / in Verzweiflung die Entfernung zu Gott aus, / und baute der Psalmen Nachtherbergen / für die Wegwunden.“; Rilke, Rainer Maria, Briefe an seinen Verleger, Leipzig 1934, 247: „Ich habe die Nacht einsam hingebracht in mancher innerer Abrechnung und habe schließlich, beim Scheine meines noch einmal entzündeten Weihnachtsbaumes, die Psalmen gelesen, eines der wenigen Bücher, in dem man sich restlos unterbringt, mag man noch so zerstreut und ungeordnet und angefochten sein.“
Vorgehensweise
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Analyse von Ps 139 bietet nach einem forschungsgeschichtlichen Überblick eine sprachliche Analyse, die Einordnung des Psalms im Kontext des Psalters und die traditionsgeschichtliche Untersuchung des Motivs der ambivalenten Nähe Gottes. Die Rezeption dieses Psalms wird am Beispiel einer Predigt von Paul Tillich dargestellt und mit Blick auf das Gottesbild diskutiert. Ich habe die Predigten von Bonhoeffer und Tillich exemplarisch ausgewählt, da sie einen Brückenschlag zwischen den exegetischen Kapiteln und den Konsequenzen für die homiletische Praxis (Kapitel 5) leisten. An dieser Stelle ist grundsätzlich auf Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen der Exegese und der Homiletik hinzuweisen. Auf der einen Seite fragt die Homiletik im Gegensatz zur Exegese nach dem gegenwärtigen Erfahrungsbezug der biblischen Texte und zielt auf eine Lebensorientierung. Auf der anderen Seite wirken Exegese und Homiletik zusammen und sind Teil eines kontinuierlichen Interpretationsprozesses: „Die Exegese zeigt bei jedem Text: Er ist in sich schon das Ergebnis eines Traditionsprozesses. (…) Insofern setzt jede Predigt fort, was schon im Text begonnen wurde: In jeder Predigt werden aus der Vergangenheit stammende Texte für die Gegenwart reaktualisert. (…) Das Verhältnis der biblischen Autoren ihren Traditionen gegenüber ist ein Modell für das Verhältnis des gegenwärtigen Predigers gegenüber dem Bibeltext.“53 Schon innerhalb der biblischen Texte wurden veränderte Auslegungen integriert.54 Die Predigt ist eine kommunikative und öffentliche Form der Auslegung und Textformulierung: Sie reaktualisiert die biblische Zeichenwelt in historisch-hermeneutischer, exegetisch-hermeneutischer, theologischer und existenzieller Dimension.55 „Der Prediger wird zum Ko-Autor des biblischen Textes, den er aus seinen Voraussetzungen heraus neu schafft. Er predigt aus der Bibel, nicht über sie.“56 In diesem Sinne sind die biblischen Texte „offene Texte“57, deren Sinn in der Auslegung entfaltet und vom Leser „ergänzt“ wird.58 Es geht mir in der Wirkungsgeschichte von Jer 20,7–18 und Ps 139 darum, beispielhaft anhand der Predigten von Bonhoeffer und Tillich zu zeigen, inwiefern das ambivalente Gottesbild der biblischen Texte in der Rezeption erneut diskutiert wird und welche Bedeutung dies für die jeweiligen zeitgeschichtlichen Kontexte hat. Das in den Konfessionen ausgedrückte Leiden Jeremias und das in Ps 139 geschilderte Ringen und dessen Deutungen mithilfe der Vorstellung der ambivalenten Nähe Gottes sind offen für analoge Theissen, Gerd, Zeichensprache des Glaubens. Chancen der Predigt heute, Gütersloh 1994, 13. Vgl. Theissen, Zeichensprache, 21. Vgl. Theissen, Zeichensprache, 22 f. Theissen, Zeichensprache, 45. Theissen, Zeichensprache, 49. Vgl. Wagner-Rau, Ulrike, Komplexe Wirklichkeit. Über die Kunst, sie in der Predigt zur Sprache zu bringen, in: Pohl-Patalong, Uta/Muchlinsky, Frank (Hg.), Predigen im Plural. Homiletische Perspektiven, Hamburg 2001, 116–132, 124: „Unter Bezug auf die Textwelt des alten Textes und ohne sie zu verharmlosen, soll die Predigt einen neuen Text entwerfen, der von der heutigen Situation her und für sie formuliert ist.“ 58 Vgl. Theissen, Zeichensprache, 52.
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Situationen. Wie sich zeigen wird, wurde das Gottesbild bereits innerhalb der Textgeschichte der biblischen Texte erweitert und verändert. Mit ihren Predigten beziehen Bonhoeffer und Tillich die in den Texten geronnene Erfahrung mit der Nähe Gottes gedanklich auf ihre Gottesbeziehung, ihr Leben und ihre Zeit. Bonhoeffer entwickelt seine Gotteslehre angesichts der Säkularisierung („etsi deus non daretur“59) und Tillich setzt sich intensiv mit dem Atheismus auseinander. Die Situationen beider Theologen, in denen die Rede von Gott nicht selbstverständlich ist, sind ähnlich derjenigen, in der wir uns gegenwärtig befinden: „Die Religion oder ihr Fehlen ist weitgehend Privatsache. (…) In unseren ,säkularen‘ Gesellschaften kann man sich uneingeschränkt politisch betätigen, ohne je Gott zu begegnen, also ohne an einen Punkt zu gelangen, an dem sich die ausschlaggebende Bedeutung des Gottes Abrahams für dieses ganze Unterfangen eindringlich und unverkennbar bemerkbar macht.“60 Im vierten Kapitel setze ich mich im Horizont der ausgewählten biblischen Texte und meiner Ergebnisse mit Positionen aus der jüdischen und christlichen Theologie auseinander. Dabei beziehe ich die Theologien von Rudolf Otto und Abraham Heschel ein, die sich beide – Otto religionswissenschaftlich, Heschel biblisch-theologisch – intensiv mit der Erfahrung und dem Reden von der Nähe Gottes befasst haben. Abschließend streife ich verwandte mystische Bezüge. Schließlich möchte ich die exegetischen und systematisch-theologischen Einsichten vor dem Hintergrund meiner eigenen theologisch-wissenschaftlichen und pastoralen Praxis reflektieren und Konsequenzen für die gegenwärtige homiletische Praxis herausarbeiten. Die Relevanz meines Themas ist mir im Jahr 2014 noch einmal verstärkt deutlich geworden, da die Jahreslosung 2014 „Gott nahe zu sein ist mein Glück“ (Ps 73,28) weithin sehr einseitig ausgelegt wurde. Einige dieser Interpretationen werden daher in Kapitel 5 diskutiert. Ziel dieser Studie ist es, ein den biblischen Texten und der menschlichen Erfahrung angemessenes Verständnis von der Nähe Gottes zu gewinnen und dieses Verständnis für das Reden von der Nähe Gottes in der theologischen Praxis fruchtbar zu machen.
59 DBW 8, 533. 60 Taylor, Charles, Ein säkulares Zeitalter, aus dem Englischen von Joachim Schulte, Frankfurt am Main 2009, 11 f.
2. Die Nähe Gottes in Jer 20,7–18 2.1 Zur Forschungsgeschichte der Konfessionen Jeremias Vorbemerkungen Die Konfessionen Jeremias1 gehören zu den umfassend erforschten Texten des Alten Testaments. Sie stehen nicht hintereinander, sondern finden sich in Textzusammenhängen zwischen Jer 11 und Jer 20. Viele Exegetinnen und Exegeten haben sich seit Jahrhunderten an sie herangewagt. Auch wenn ihre Forschungen in manchen Punkten widerlegt oder überholt sind, müssen sie in meine Fragestellung einbezogen werden, wie ich im Folgenden verdeutlichen werde. Zentrales Thema in der Forschungsgeschichte der Konfessionen Jeremias sind die auffallenden Parallelen zu den Psalmen, insbesondere den Klageliedern des Einzelnen. Die große Ähnlichkeit besteht darin, dass sowohl in den Psalmen als auch in den Konfessionen die Nähe Gottes nicht abstrakt behandelt, sondern existenziell an einem Einzelschicksal und in metaphorischer Sprache beschrieben wird. Die Forschungsgeschichte der Konfessionen ist in die allgemeine Prophetenforschung einzuordnen. Hierbei ist die Unterscheidung zwischen der klassischen und der nachklassischen Prophetenforschung entscheidend, die sich, wie im Folgenden zu sehen sein wird, auf die Konfessionen Jeremias anwenden lässt. In der Forschungsgeschichte werden thematische Fokussierungen deutlich, die wiederkehren bzw. in bestimmten Zeiten die Diskussion bestimmt haben.2 Es sind vor allem zwei Richtungen, die sich gegenüberstehen.3 Auf der einen Seite steht die individuelle Deutung: Die Konfessionen werden Jeremia biographisch-psychologisch in den Mund gelegt und die prophetischen Elemente der Konfessionen werden betont. Insbesondere zu Beginn des 20. Jh. ließ die Forschung dem Ich Jeremias eine große Bedeutung zukommen. Auf der anderen Seite steht die kollektive bzw. exemplarische Deutung, die die Konfessionen als späte Stilisierung Jeremias versteht und die starke Verbindung zu den Psalmen betont. Auch gegenwärtige Diskussionslinien bewegen sich in 1 Vgl. Jer 11,18–23; 12,1–6; 15,10–21; 17,14–18; 18,18–23; 20,7–18. 2 Vgl. Liwak, R diger, Vierzig Jahre Forschung zum Jeremiabuch. IV. Intertextualität und Rezeption, ThR 77 (2012), 1–53. 3 Vgl. Bezzel, Hannes, Die Konfessionen Jeremias. Eine redaktionsgeschichtliche Studie (BZAW 378), Berlin 2007, 4.
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diesem Spannungsfeld.4 Auch in meinem Verständnis der Konfessionen ist Jeremia nicht als historische Gestalt, sondern als literarische Person zu deuten. Diese Auffassung bedeutet für die Auslegung der Konfessionen jedoch keinen Verlust, da an Jeremia eine existenzielle Auseinandersetzung mit dem Gottesbild beschrieben wird. Im Folgenden untersuche ich die verschiedenen Deutungen der Konfessionen und stelle aktuelle Forschungsansätze und Konsequenzen dar.
Klassische und nachklassische Prophetenforschung Diese beiden Richtungen, die individuelle und die kollektive Deutung, entsprechen weitgehend der Unterteilung in die klassische und nachklassische Prophetenforschung. Nach Konrad Schmid umfasst die klassische Deutung die Zeit des Endes des 19. Jh. und Anfang des 20. Jh., in der der Prophet eine geniale Einzelgestalt darstellt, der mündlich wirkt und von einer Gottunmittelbarkeit ausgezeichnet ist.5 Die Komplexität der prophetischen Bücher ist demnach in der göttlichen Offenbarung begründet. Die Aufgabe der Forschung ist zu dieser Zeit, das ursprünglich Prophetische in den Texten herauszuarbeiten. Vertreter der klassischen Deutung sind Julius Wellhausen, der in den Propheten Mittlergestalten zwischen Gott und Mensch und Begründer der Religion des Gesetzes sieht, Bernhard Duhm, den die psychologische Disposition der Propheten interessiert, und Hermann Gunkel als Vertreter der Formgeschichte, der die Ekstase als Grunderlebnis aller Prophetie voraussetzt und damit den mündlichen Charakter der prophetischen Botschaft betont: „Die Offenbarung Gottes war dem ausgehenden 19. Jahrhundert als eine dem menschlichen Geist gleichgerichtete (…) nicht mehr ohne weiteres plausibel, und so wurden die maßgeblichen biblischen Offenbarungsträger nun zu weltfremden Ekstatikern, die das Wort ihres Gottes in eine geistig gänzlich anders geartete Welt ausrichteten.“6 In diesem Sinn greift die Dialektische Theologie auf die Konfessionen Jeremias zurück. Sie steht im Kontext der klassischen Prophetenforschung und sieht in den Propheten gottunmittelbare Offenbarungsträger, die mit dem fremden Wort Gottes konfrontiert werden. Demnach haben die Propheten nicht eigene Reflexionen öffentlich zu vertreten, sondern eine unerwartete und unerwünschte Botschaft, die wie ein
4 Vgl. Bezzel, Konfessionen, 7: „Diese Polarisierung prägt die aktuelle Forschungslandschaft. Entweder man geht davon aus, in den Konfessionen Zeugnisse des Historischen Jeremia aus dem frühen sechsten Jahrhundert zu finden, oder man sieht in ihnen eine ,Identifikationsfigur‘ der spätnachexilischen Zeit.“ 5 Vgl. Schmid, Konrad, Klassische und nachklassische Deutungen der alttestamentlichen Prophetie, ZNThG 63 (1996), 225–250. 6 Schmid, Deutungen, 241.
Zur Forschungsgeschichte der Konfessionen Jeremias
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„angezündetes und brennendes Feuer (Jer. 20,9), in anderer Hinsicht doch auch eine sie erfüllende überschwängliche Wonne (Jer. 15,16)“7 ist. Die ab Beginn des 20. Jh. einsetzende nachklassische Deutung akzentuiert Schmid folgendermaßen: Das Prophetische sei ein kollektives und schriftliches Phänomen, das sich aus Erfahrungen und Deutungen des Weltgeschehens speise. Die Komplexität der prophetischen Bücher lasse sich dadurch erklären, dass die Texte Resultate eines langwierigen Prozesses sind und von einer innerbiblischen literarischen Auslegung und einem Gespräch mit der Überlieferung zeugen. Nach Gertz bietet das Alte Testament daher Text und Auslegung zugleich.8 Die Aufgabe der Forschung bestehe dann darin, die prophetischen Bücher nach der sachlichen Einheit eines theologischen Konzepts zu untersuchen. Der Ansatz der nachklassischen Deutung ist zuerst bei Gerhard von Rad zu finden, der die Botschaft der Propheten auf die weltgeschichtlichen Ereignisse bezieht und sie als ein Gespräch mit der Überlieferung beschreibt und damit ihre Welt- und Traditionsbezogenheit betont. Von Rad betont, dass die Prophetenforschung sich nicht auf die Persönlichkeiten der Propheten konzentrieren sollte. Denn so „original, so persönlich und gottunmittelbar, wie man es sich damals dachte, waren die Propheten doch nicht“9. In dieser nachklassischen Auslegung wird Gewicht auf die unterschiedlichen Akzente und Aussagelinien der prophetischen Bücher gelegt, wodurch z. B. die Redaktoren eine neue Bewertung erlangen. Das Augenmerk wird weniger auf die Prophetengestalten und mehr auf die Prophetenbücher gerichtet. In dieser schriftlichen Tradierung und Aktualisierung geht nach Schmid kein Gehalt der Texte verloren. Der Akzent verschiebt sich jedoch von der prophetischen Persönlichkeit zu einem Kreis aus Autoren und Redaktoren: „Die Prophetie ist in diesem nachklassischen Bild vermehrt ein kollektives Phänomen, nicht mehr an die genialische Einzelgestalt gebunden, und sie ist wieder vermehrt schriftlicher geworden, nicht mehr nur als mündliche Erscheinung gesehen.“10 Das Prophetische zeichnet sich daher nicht durch einen besonderen Gotteskontakt aus, sondern durch die schriftliche Deutung des Geschehens: Prophetische Texte und ihre Fortschreibungen sind Deutungen ihrer jeweiligen Gegenwart.11 Schmid fasst zusammen: „Das Alte Testament bezeugt nicht diskrete Punkte genialischer Gotteskontakte, sondern ist der literarische Niederschlag des auslegenden Umgangs mit Schrift und Erfahrung, im wesentlichen aus der resultativen Perspektive des nach-
7 Barth, Karl, Die kirchliche Dogmatik, Bd. III/3, Zollikon-Zürich 1950, 27. 8 Vgl. Gertz, Jan Christian, Altes Testament. Schriftauslegung in alttestamentlicher Perspektive, in: N ssel, Friederike (Hg.), Schriftauslegung (ThTh 8), Tübingen 2014, 17–31, 25. 9 Rad, Gerhard von, Theologie des Alten Testaments. Bd. II: Die Theologie der prophetischen Überlieferung Israels (EETh 1), München 41965, 14. 10 Schmid, Deutungen, 248. 11 Vgl. Gertz, Schriftauslegung, 23.
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exilischen Judentums.“12 Wie groß die zeitliche Spanne jedoch zwischen den Propheten und dem literarischen Produkt ist, ob die Gerichtsprophetie aus der theologischen Schriftgelehrsamkeit entstand und damit von Redaktionen umgeschriebene Heilsprophetie ist oder ob die Schriftprophetie an die historische Ursprungssituation des mündlichen Prophetenwortes gebunden bleibt und diese Unheilsworte zur Bewältigung verschriftlicht und gesammelt wurden, wird gegenwärtig insbesondere von Jörg Jeremias und Reinhard G. Kratz diskutiert. Es besteht Konsens darüber, dass die Frage nach der ursprünglichen prophetischen Verkündigung nicht mehr im Fokus des Forschungsinteresses steht und dass kein Weg hinter die ersten Tradenten zurückführt.13 In Bezug auf die Konfessionen Jeremias bedeutet dies Folgendes: „Lange Zeit hat man sie psychologisierend als Belege für die prophetischen Gefühle missverstanden und damit ihren schriftlichen Charakter verkannt.“14 Die Deutungen des Propheten Jeremia sind, wie nicht anders zu erwarten, zeitgebunden. Dabei ist auch zu erkennen, dass sich Forscher mit Jeremia unterschiedlich identifizierten. Zu Beginn des 20. Jh. gilt Jeremia als ein Wegbereiter des individuellen Religionsverständnisses, während in der Mitte des 20. Jh. das einbrechende Wort Gottes betont wird. Die Dialektische Theologie beeinflusst die biographisch-theologische Lesart, indem sie den Verkündigungscharakter betont bzw. die Texte existenziell-theologisch liest. Heute stehen in der Prophetenforschung weniger individuelle Deutungen und zunehmend Kontext und Redaktion im Mittelpunkt: „Aber die an Boden gewinnende redaktionsgeschichtliche Forschung schuf zunehmend ein Bewusstsein für die Unterschiede zwischen dem historischen und dem literarischen Propheten und lenkte damit den Blick vom Propheten auf das seinen Namen tragende Buch. Der Weg der Forschung verläuft deshalb inzwischen öfter vom Buch zum Propheten als vom Propheten zum Buch.“15
12 Schmid, Deutungen, 250. 13 Vgl. Kratz, Reinhard G., Die Worte des Amos von Tekoa, in: Ders., Prophetenstudien. Kleine Schriften II (FAT 74), Tübingen 2011, 310–343; Jeremias, Jçrg, Das Rätsel der Schriftprophetie, ZAW 125 (2013), 93–117; Kratz, Reinhard G., Das Rätsel der Schriftprophetie. Eine Replik, ZAW 125 (2013), 635–639. Aufgegriffen wird die Diskussion in: Grund, Alexandra, Heil und Unheil, Kritik und erste Sammlungen. Zum altorientalischen Hintergrund der israelitischen Schriftprophetie, BZ 57 (2013), 216–243. 14 Jeremias, Jçrg, Theologie des Alten Testaments (ATD, Ergänzungsreihe 6), Göttingen 2015, 178. 15 Liwak, R diger, Vierzig Jahre Forschung zum Jeremiabuch, I. Grundlagen, ThR (76) (2011), 131–264, 139. Diese Tendenz spiegelt sich in der gesamten Jeremiaforschung. Vgl. auch Maier, Christl M., Das Jeremiabuch, in: Dressler, Bernhard/Schroeter-Wittke, Harald (Hg.), Religionspädagogischer Kommentar zur Bibel, Leipzig 2012, 218–226, 223: „Das Jeremiabuch überliefert deshalb der neueren Forschung zufolge weniger das tatsächliche Schicksal eines einzelnen Propheten, einer herausragenden Einzelgestalt, als die sich im Schicksal des Propheten kristallisierende kollektive Erinnerung an die Zerstörung Jerusalems im Jahre 587 v. Chr., die zugleich eine massive Infragestellung des Glaubens an den Gott Israels bedeutete.“
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Individuelle und kollektive Deutung Im Folgenden stelle ich zunächst die Ansätze der individuellen und anschließend die der kollektiven Deutung dar. Dabei ist anzumerken, dass diese Unterscheidung nicht immer trennscharf ist, da Individualität nicht ohne das Kollektiv zu denken ist.16 In den Zuschreibungen an Jeremia ist die Unterscheidung zwischen der individuellen und der kollektiven Deutung gleichwohl hilfreich. Der Begriff der „Konfessionen“ stammt von Julius Wellhausen: „Sein Buch enthält nicht bloss seine Reden und Weissagungen, sondern mitunter auch Confessionen über seine Leiden und Anfechtungen und über seine verzweifelten Kämpfe, in denen er sich zwar keineswegs zu Ruhe und Seligkeit durchrang, wohl aber zum Bewusstsein des Sieges in der Niederlage. Daran hat die Folgezeit sich erbaut.“17 Wellhausen unterstreicht die Bedeutung der Texte für die individuelle Frömmigkeit, da sie für Leidenssituationen Worte für Zweifel und Vertrauen zur Verfügung stellen. Seitdem hat sich die Bezeichnung „Konfessionen“ in der Auslegung dieser Texte eingebürgert. Die Titel der Arbeiten wie z. B. „Klagegedichte“ (Baumgartner), „Konfessionen“ (von Rad), „Liturgie“ (Reventlow), „Interpretationen“ (Gunneweg) sind aussagekräftig und immer auch schon ein deutlicher Hinweis, welche Auslegungsrichtung die Interpreten bevorzugen. Aus zwei Gründen möchte ich an dem Begriff der Konfessionen festhalten. Er ermöglicht erstens eine Abgrenzung der Texte zu anderen Klagetexten im Jeremiabuch und zweitens sind die Konfessionen im Grunde Bekenntnisse zu etwas, bedeuten ein Eintreten für eine Sache und können persönlich und leidenschaftlich sein. Auch wenn die Konfessionen weitgehend der Form nach Klagelieder sind, die mehrfache literarische Fortschreibung erfahren haben und nicht von Jeremia stammen, sind sie Ausdruck einer Theologie und Frömmigkeit, die sich in religiöser Sprache mit dem Gottesbild auseinandersetzt.18 16 Vgl. Hermisson, Hans-J rgen, Jeremias dritte Konfession (Jer 15,10–21), ZThK 96 (1999), 1–21, 20 [Hervorhebung im Original]: „Unsere Alternative ,Individuell/kollektiv‘ wird den Texten nicht gerecht: Jeremia ist nicht ,Individuum‘ im modernen Sinn. Das gilt schon für den Beter des ,individuellen‘ Klagelieds, der nur in extremer Notlage zum einzelnen wird und aus der Gemeinschaft herausgefallen ist, und die Konfessionen machen ja von der Sprache der Klagepsalmen reichlichen Gebrauch. Vollends gilt es für den Propheten, der ein Mittleramt wahrzunehmen hat und Israel vor Jahwe repräsentiert, der, wie sich zeigte, Israels Geschick zuerst in sich zu fassen und zu erleiden hat.“; Levin, Christoph, Die Entstehung des Judentums als Gegenstand der alttestamentlichen Wissenschaft, in: Maier, Christl M. (Hg.), Congress Volume Munich 2013 (VT.S 163), Leiden 2014, 1–17, 10 f: „Das Ineinander von Kollektivierung und Individualisierung der Gottesbeziehung wird von nun an [Levin bezieht sich auf den Untergang des davidischen Königtums, EKV] für das Alte Testament kennzeichnend.“ 17 Wellhausen, Julius, Israelitische und jüdische Geschichte, Berlin 31897, 143 f. 18 Vgl. O’Connor, Kathleen M., The Confessions of Jeremiah. Their Interpretation and Role in Chapters 1–25 (SBLDS 94), Atlanta 1988, 234: „(…) the traditional title ,confessions‘ should be
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Wellhausen erkennt in den Texten Ursprünge von individueller Religiosität und geht davon aus, dass die Konfessionen Jeremia zum Verfasser haben. Auch sieht er in den Texten ein Vorbild für die Psalmendichtung.19 Eindrücklich beschreibt er, dass Jeremia an dem Zwang zur Unheilsverkündigung und der daraus folgenden Vereinsamung leidet und seine Geburt verflucht: „Sein inneres Leben war ein steter Seelenkampf, eine stetige Überwindung seines Selbst, seiner menschlichen Wünsche und Sympathie, durch Jahve. Gern hätte er ihm zu Zeiten seinen Beruf vor die Füsse geworfen, aber immer liess er sich wieder von unwiderstehlichem Drange verlocken: wenn Jahves Worte sich fanden, so verschlang er sie und sie schienen ihm Freude und Wonne des Herzens.“20 Wellhausen skizziert ein spätromantisches und psychologisierendes Prophetenbild. Er beschreibt die Gottesbeziehung Jeremias als ambivalent. Für ihn sind die Konfessionen Ausdruck der Zwiesprache und des Ringens zwischen Gott und Jeremia. Das grundlegende Standardwerk des 20. Jh. zu den Konfessionen, auf das sich alle Autorinnen und Autoren bis heute beziehen, stammt von Walter Baumgartner.21 Sein Ansatz wird schon im Titel deutlich: Er spricht von „Klagegedichten“ und meidet den in seinen Augen psychologisierenden Begriff „Konfessionen“, da die Form im Mittelpunkt seiner Untersuchungen steht. Nachdem das Verhältnis von Konfessionen und Psalmen heftig – Baumgartner spricht in diesem Zusammenhang im Jahr 1917 (!) von einem „Waffengang“22 – diskutiert wurde, u. a. auch inwieweit Jeremia als Verfasser einzelner Psalmen gelte oder einzelne Psalmen als Vorlage für Jeremia dienten, gelingt Baumgartner eine entscheidende Veränderung der Fragestellung. Dabei nimmt er auf die Gattungsforschung Hermann Gunkels Bezug, der diese auf die Konfessionen anwendet und die Texte individuell-psychologisch versteht.23 Daran anschließend ist das Ergebnis seiner Untersuchung folgendes:
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recognized as appropriate because it describes the theological purpose of the poems – to confess Yahweh’s power over the wicked and the unjust.“ Vgl. auch O’Connor, Kathleen M., Jeremiah. Pain and Promise, Minneapolis 2012, 81 f. Vgl. Wellhausen, Geschichte, 143 f: „Die Psalmen wären ohne Jeremias nicht gedichtet. An seine Sprache lehnte sich die Sprache der Frömmigkeit an, und manche Gleichnisse der geistlichen Poesie wurden aus den Schicksalen seines Lebens gewählt. So löste sich aus der Prophetie nicht bloss das Gesetz aus, sondern zum Schluss auch noch die individuelle Religiosität.“ Wellhausen, Geschichte, 142. Vgl. Baumgartner, Walter, Die Klagegedichte des Jeremia (BZAW 32), Gießen 1917. Neben seiner bleibenden Gültigkeit wird an folgendem Zitat deutlich, dass das Werk aus einer anderen Zeit mit einem anderen Welt- und Menschenverständnis stammt. Vgl. Baumgartner, Klagegedichte, 14: „Als Gegenstück zur grausamen Schadenfreude der Gegner trägt der Kranke erst recht alle Leidenschaft in den Kampf hinein, was ihm bei seinem morgenländischen Temperament ohnehin nicht schwer fällt.“ Baumgartner, Klagegedichte, V. Vgl. Gunkel, Hermann, Einleitungen, in: Schmidt, Hans, Die großen Propheten (SATA II,2), Göttingen 21923, IX–LXX, LX f: „Da lernen wir ihn [Jeremia, EKV] in seinem innersten Wesen kennen: eine zart angelegte Natur, viel zu weich für seinen furchtbaren Beruf, aufs bitterste unter dem Kampf mit seinem Volke, ja mit seinen nächsten Angehörigen, leidend, beständig
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Jeremia habe in Formen der Klagepsalmen gedichtet, d. h. im Stil der Psalmen und nicht in Abhängigkeit von einzelnen Psalmen.24 Das Besondere der Konfessionen liegt nach Baumgartner in der Verbindung der Klagelieder des Einzelnen mit dem prophetischen Kontext.25 Der Stil der Klagelieder sei für Jeremia besonders attraktiv gewesen, da in ihnen (auch körperliches) Leiden eines Individuums Ausdruck findet.26 Dabei diene der Stil der Klagelieder der prophetischen Rede.27 Außerdem entstehe ein neues Prophetenbild: Nun sei auch der Mensch mit Gedanken und Gefühlen hinter der Prophetengestalt zu erkennen.28 Im Unterschied zu den Psalmen seien die Konfessionen „völlig ,geistlich‘“29 und setzten keinen älteren kultischen Hintergrund voraus. Baumgartner sieht die Aufgabe der alttestamentlichen Forschung darin, die Abweichungen in Form und Inhalt von den Psalmen herauszuarbeiten. Diese „prophetischen Züge“30 stünden in Übereinstimmung mit der Verkündigung Jeremias an anderer Stelle. Baumgartners Anliegen besteht darin, die Echtheit der Konfessionen zu belegen. Dass Jeremia einzelne Psalmen nachgeahmt habe, hält er nicht für überzeugend; gleichwohl erkennt er an, dass Vertreter dieser Position wichtige Psalmenbezüge herausgearbeitet haben. Letztlich seien sie jedoch nicht zutreffend. Er verweist auf den prägenden Psalmenstil und spricht sich für die Authentizität der „Klagegedichte“ aus. Auf den ersten Blick bietet Baumgartner vor allem der individuellen Deutung ein Fundament, gleichwohl kann sich auch die kollektive Deutung auf ihn beziehen, da er die starken Bezüge zu den Psalmen betont und dadurch auch einer Deutung, die in Jeremia das exemplarische Ich wie in den Psalmen vermutet, Argumente liefert. Von Rad erkennt in den Konfessionen theologische Konzepte. Für ihn ist ein psychologisches Verständnis unzureichend und er betont den theologischen Charakter der Konfessionen.31 Sie seien nicht als privat-religiöse Rede
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schwankend zwischen schmerzlichem Mitgefühl und glühendem Zorn, zwischen barmherziger Fürbitte und der Gewißheit, daß hier kein Beten mehr Gehör findet, mit seinem Gotte ringend und hadernd und doch immer wieder von ihm überwunden. So erscheint es nicht befremdlich, daß dieser persönlichste unter allen Propheten für sein Eigenstes eine neue Form gefunden hat; er fand sie aber, indem er eine bisher nicht von den Propheten gebrauchte Gattung aufnahm.“ Vgl. Baumgartner, Klagegedichte, 92: „Für uns handelt es sich nicht mehr um die Abhängigkeit der Propheten von einzelnen Psalmen, sondern vom Psalmenstil.“ Vgl. Baumgartner, Klagegedichte, 71. Vgl. Baumgartner, Klagegedichte, 86. Vgl. Sch le, Andreas, Das Geschick des Propheten und die Weisheit prophetischen Lebens. Die ‘Konfessionen Jeremias’ als Beispiel alttestamentlicher Biographik, in: Ders., Biographie als religiöser und kultureller Text/Biography as a religious and cultural text (Literatur – Medien – Religion 4), Münster 2002, 180 [Hervorhebung im Original]: „Die Klage wird zum Medium prophetischer Rede, und das bedeutet im Blick auf den Text des Jeremiabuches: sie wird zu einer Gattung von Schriftprophetie.“ Vgl. Baumgartner, Klagegedichte, 89. Baumgartner, Klagegedichte, 81. Baumgartner, Klagegedichte, 71. Vgl. Rad, Gerhard von, Die Konfessionen Jeremias, EvTh 3 (1936), 265–276.
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neben Jeremias prophetischer Existenz zu verstehen, sondern „allein aus seiner Situation als Prophet heraus“32. Die Aussagen stammen aus seiner Krise als Prophet, seine Konflikte seien durch die Berufung zum Propheten ausgelöst.33 Obwohl zeitlich später zu verorten, sind in diesem Sinne auch die Studien von Norbert Ittmann34 und Hans-Jürgen Hermisson35 zu verstehen: Ittmann liest die Konfessionen individuell als Reflexion Jeremias. Sie schildern einen „Entwicklungsprozess jeremianischen Nachdenkens über die eigene Verkündigung“36. Die Konfessionen seien eine Kategorie sui generis und weder aus Kultformularen noch als Schriften der Schüler Jeremias zu verstehen. Hermisson hält es ebenso für möglich, dass Jeremia Verfasser der Konfessionen ist. Die Texte sind seiner Ansicht nach eng verwoben mit der jeremianischen Verkündigung und den Konflikten mit seinen Gegnern. Sie haben einen objektiven Sinn, der über das private Geschick des Propheten und Identifikationen anderer mit ihm hinausgehe: „In den Texten wird Jeremia ausgelegt und Amt und Botschaft des widerstrebenden Propheten verstanden, nicht ein Paradigma für die Identifikation frommer Gruppen geschaffen.“37 Bei Hermisson ist deutlich zu erkennen, dass die „Frage nach der Person des Propheten und seinen Worten durch diejenige nach der ,sachlichen Einheit eines theologischen Konzepts‘“38 ersetzt wird. Als einer der letzten Vertreter der individuellen Deutung kann Werner H. Schmidt gelten.39 Er geht nach wie vor davon aus, dass die Konfessionen im Kern auf Jeremia zurückgehen. Obwohl sie literarisch nicht einheitlich seien, sondern gewachsen sind und erhebliche Zusätze enthalten, seien sie nicht als spätere Eintragungen zu verstehen. Er vertritt die These, dass Jeremia nicht im Nachhinein Psalmensprache beigelegt wurde und damit auch nicht im Sinne des exemplarischen Ichs des Psalters zu deuten sei. Schmidt begründet dies 32 Rad, Konfessionen, 266. 33 Vgl. Rad, Konfessionen, 274. 34 Vgl. Ittmann, Norbert, Die Konfessionen Jeremias. Ihre Bedeutung für die Verkündigung des Propheten (WMANT 54), Neukirchen-Vluyn 1981. 35 Vgl. Hermisson, Hans-J rgen, Jahwes und Jeremias Rechtsstreit. Zum Thema der Konfessionen Jeremias, in: Oeming, Manfred (Hg.), Altes Testament und christliche Verkündigung (FS A. H. J. Gunneweg zum 65. Geburtstag), Stuttgart 1987, 309–343; Hermisson, Konfession, 1–21. 36 Ittmann, Konfessionen, 35. 37 Hermisson, Konfession, 20. 38 Schmid, Deutungen, 248. 39 Vgl. Schmidt, Werner H., Jeremias Konfessionen, JBTh 16 (2001), 3–23; Schmidt, Werner H., Das Buch Jeremia. Kapitel 1–20 (ATD 20), Göttingen 2008. Auch Karin Finsterbusch und Jenö Kiss, der in seiner literarkritischen Analyse versucht, authentische Worte Jeremias herauszuarbeiten, stehen in dieser Deutungslinie der Konfessionen (vgl. Kiss, Jenç, Die Klage Gottes und des Propheten. Ihre Rolle in der Komposition und Redaktion von Jer 11–12, 14–15 und 18 [WMANT 99], Neukirchen-Vluyn 2003; Finsterbusch, Karin, „Konfessionen Jeremias“, Das Wissenschaftliche Bibellexikon im Internet 2015, 4.1.).
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damit, dass prophetische Vorgänger Vorformen der Konfessionen kennen, dass Jeremias Botschaft auch sonst in Form der Klage auftritt, dass die Konfessionen Motive beinhalten, die in den Psalmen nicht vorkommen (Jer 15,10.16–18; 17,16; 20,8 f) und dass die Eigenart prophetischer Sprache die Unterschiede zu den Psalmen verstärke und Bezüge zu dem Geschick Jeremias aufweise.40 Als weitere Argumente führt er an, dass die Konfessionen untereinander in Sprache und Motivik einen Zusammenhang bilden und dass die Konfessionen eine zeitlich nahe Rezeptions- und Wirkungsgeschichte haben (Ez 2,8 ff gestalte Jer 15,16 aus). Die von ihm aufgeführten Gründe überzeugen jedoch nicht, denn es bleibt unklar, inwiefern seine Argumente eine Autorenschaft Jeremias begründen und z. B. die Stichwortaufnahmen und Motivverbindungen nicht auch auf spätere Redaktionen zurückzuführen sind. Die angelsächsische Forschung betont den legitimierenden Charakter der Konfessionen, deren Ziel es sei, Jeremia als wahren Propheten darzustellen. Nach Kathleen M. O’Connor wurden die Konfessionen in das Jeremiabuch eingetragen, um zu zeigen, dass Gottes Wort abgelehnt wurde.41 O’Connor liest die Konfessionen im Rahmen der Kapitel 1–25, distanziert sich von einer biographisch-psychologischen Deutung und vermutet, dass die Konfessionen aus dem Schülerkreis Jeremias stammen, der eine theologische Rechtfertigung des Untergangs des Volkes entwickeln will.42 Rüdiger Liwak zufolge führt O’Connor die Forschung weiter, indem sie die literarisch-kontextuelle Interpretation der historisch-biographischen vorzieht.43 Als gemeinsames Thema der Konfessionen arbeitet sie die prophetische Legitimation heraus: „His struggle with God, his questions of theodicy, his complaints about his fate, all serve the same prophetic purpose – to establish him as a true prophet.“44 Gegen ein biographisch-psychologisches Verständnis der Konfessionen wendet sich auch Henning Graf Reventlow, der dieser individuellen Auslegung eine amtlich-liturgische entgegensetzt und die Verkündigungsabsicht der Konfessionen betont.45 Die Form des Klagelieds sei eine an den Kult und die Liturgie gebundene Gattung, die nicht nur theologisch oder geistlich zu verstehen sei.46 Das Amt und die liturgische Funktion des Propheten seien nicht voneinander zu trennen. In den Konfessionen repräsentiere Jeremia das Volk: „Dieses Amt ist als Mittleramt aber grundsätzlich auf die Gemeinschaft des Ganzen ausgerichtet, des Gegenübers zwischen Gott und Volk, und zugleich 40 Schmidt wendet sich, wie im Folgenden deutlich wird, u. a. gegen Gunneweg und Welten. 41 Vgl. O’Connor, Confessions, 232 f. 42 Vgl. O’Connor, Confessions, 233: „Second, the confessions were preserved because they played a public, prophetic function in the life of Jeremiah. Psychological and biographical interest were not primary in their preservation.“ 43 Vgl. Liwak, Intertextualität, 28. 44 O’Connor, Confessions, 233 f. 45 Vgl. Reventlow, Henning Graf, Liturgie und prophetisches Ich bei Jeremia, Gütersloh 1963, 210. 46 Vgl. Reventlow, Liturgie, 208.
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Repräsentanz dieses Ganzen.“47 Dies sieht Reventlow insbesondere in Jeremias Fürbitten begründet, die wiederum kultisch-liturgisch verankert seien. Reventlows Position lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Die Konfessionen werden als Teile eines liturgischen Formulars verstanden, worin der Prophet als Mittler zwischen Gott und dem Volk angesehen wird.48 Antonius H. J. Gunneweg versteht die Konfessionen ebenso wenig als „lyrische Herzensergüsse“49. Er stützt seine These auf die Forschungen Reventlows und entwickelt diese weiter: Die Konfessionen seien zwar individuelle und auch auswechselbare bzw. liturgische Klagelieder, jedoch nicht kollektive bzw. Volksklagelieder. Die Konfessionen seien Interpretationen von Jeremias Verkündigung und deuteten diese im Sinne des exemplarischen Ichs der Klagelieder: „Was Jeremia erleidet, ist Erfüllung und Konkretisierung dessen, was das Klageformular immer schon aussprach; Jeremia ist der exemplarisch leidende Gerechte.“50 Dadurch werden sowohl die Figur des Jeremia als auch die Interpreten in das verkündigte Unheil des Jeremiabuches einbezogen.51 Im Anschluss an Gunneweg ist Peter Weltens Ansatz zu verstehen, der der individuellen Deutung ebenso kritisch gegenübersteht.52 Welten untersucht die Konfessionen im Rahmen seiner traditionsgeschichtlichen Untersuchung zum Leiden im Buch Jeremia. Er kommt zu folgendem Ergebnis, das dem Gunnewegs gleicht: Die Konfessionen sind weder Texte, in denen Jeremia über seine Gefühle spricht, noch stammen sie von Jeremia selbst; sie sind in späterer Zeit aus Elementen des Klagelieds des Einzelnen, Teilen anderer Psalmengattungen und Anklängen an bestehende Texte im Jeremiabuch entstanden. Demnach sind die Konfessionen als spätere Interpretationen von Jeremiatexten mit Elementen aus den Psalmen zu verstehen. Das Ich der Klagelieder wird dabei mit Jeremia identifiziert. Die Einfügung der Stücke in 47 Reventlow, Liturgie, 209. 48 Ähnlichkeiten zu den Thesen Reventlows weist der Ansatz von Timothy Polk auf. Er verfolgt zwar einen synchron-literarischen Ansatz, doch übernimmt darin Jeremia die kollektive Identität des Volkes. Vgl. Polk, Timothy, The Prophetic Persona. Jeremiah and the Language of the Self (JSOT.S 32), Sheffield 1984. 49 Gunneweg, Antonius H. J., Konfessionen oder Interpretationen, ZThK 67 (1970), 395–416, 398. 50 Gunneweg, Konfessionen, 399. 51 Vgl. Gunneweg, Konfessionen, 413 f: „Freilich diese Gerechten verstehen sich darum und darin als gerecht, daß sie Jeremias Verkündigung bejahen, d. h. die eingetretene Katastrophe als Erfüllung von Jahwes Wort und als verdientes Gericht verstehen. (…) Jeremias Lebensweise selbst ist symbolisch und präfigurativ für das, was er zu verkündigen hat, sie stellt im voraus dar, wie das Leben in der totalen Unheilssituation allein noch möglich ist, möglich sein wird.“ 52 Vgl. Welten, Peter, Leiden und Leidenserfahrung im Buch Jeremia, ZThK 74 (1977), 123–150. Auch Karl-Friedrich Pohlmann und Dong Hyun Bak schließen sich Gunneweg an. Beide gehen von einer Spätdatierung aus. Vgl. Pohlmann, Karl-Friedrich, Die Ferne Gottes – Studien zum Jeremiabuch. Beiträge zu den „Konfessionen“ im Jeremiabuch und ein Versuch zur Frage nach den Anfängen der Jeremiatradition (BZAW 179), Berlin/New York 1989, 191; Bak, Dong Hyun, Klagender Gott – klagende Menschen. Studien zur Klage im Jeremiabuch (BZAW 193), Berlin/New York 1990, 223.
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den Kontext des Jeremiabuchs führt zur Darstellung Jeremias als exemplarisch leidenden Gerechten.53
Aktuelle Forschungsansätze und Konsequenzen Auch die neueren Forschungen von Hannes Bezzel gehen davon aus, dass die Konfessionen spät in das Jeremiabuch eingetragen wurden.54 Bezzel kritisiert, dass sich die Forschung letztlich noch oftmals in der Tradition Baumgartners bewege; ihr Ziel sei es weiterhin, auf „reine“ oder „ursprüngliche“ Überlieferungseinheiten zurückzugreifen und diese historisch und kulturell zu verorten. Er setzt diesem Vorgehen und einem rein synchronen Vorgehen den redaktionsgeschichtlichen Ansatz entgegen.55 Da die Konfessionen nun im Jeremiabuch überliefert sind, sollte es nicht das Ziel sein, eine ursprüngliche mündliche Fassung zu rekonstruieren. Seiner Analyse zufolge sind die Konfessionen folgendermaßen zu deuten: Sie bestehen aus einer Grundschicht und drei Fortschreibungen.56 Während Jeremia in der Grundschicht sein eigenes Leiden als Prophet verkörpere, werde er in den Fortschreibungen sukzessive „als Leidender Gerechter, Leidendes Volk und Leidender Mensch“57 interpretiert. Die Grundschicht etabliere ein Bild von Jeremia, das von dem Konflikt zwischen Erwählung und Leiden bestimmt ist. Bezzel deutet die Grundschicht biographisch-theologisch und nicht autobiographisch: „Ihr ,biographisch-theologischer‘ Charakter liegt darin, daß sie das theologische Problem von Leiden und Erwählung im Leben eines literarischen Protagonisten verankert und durch seine Person artikuliert. Er, Jeremia, gerät so zur Personifikation von Theologie. (…) Hieran knüpfen die Konfessionen an, wenn sie im Beter beide Linien des Buches, die theologische wie die an der Person Jeremias interessierte, wieder zusammenführen. Er wird zur Inkarnation der Frage nach dem Grund des Leidens im Angesicht der Erwählung.“58 Diese Fragestellung biete Raum für Fortschreibungen, die sukzessive getätigt wurden. Die ersten beiden Fortschreibungen verändern die Deutung der Gestalt Jeremias. Die erste kollektiv-exemplarische Schicht stellt Jeremia unter Aufnahme weisheitlicher Sprache als leidenden Gerechten dar, der das 53 Vgl. Welten, Leiden, 149 f: „Die Darstellung des leidenden Propheten als eines Gerechten macht deutlich, daß der unmittelbare Zusammenhang von Tun und Ergehen durchbrochen ist. Die bedrängten Frommen der späteren nachexilischen Zeit können sich an der Gestalt des leidenden Jeremia trösten. So wie dessen Leiden gerade nicht Zeichen eines ungeordneten Gottesverhältnisses sind, so sind es auch die Leiden jener bedrängten Menschen der politisch und wirtschaftlich schwierigen nachexilischen Zeit nicht.“ 54 Vgl. Bezzel, Konfessionen, 285. 55 Vgl. Bezzel, Konfessionen, 9. 56 Vgl. Bezzel, Konfessionen, 284 ff. 57 Bezzel, Konfessionen, 288 f. 58 Bezzel, Konfessionen, 288 f.
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Wohlergehen der Gottlosen beklagt. In diesen Klagen identifiziert sich Jeremia mit den unterdrückten Frommen.59 Die zweite kollektiv-repräsentative Fortschreibung stellt Jeremia als Verkörperung des leidenden Gottesvolks dar: Jeremia repräsentiert nicht ausschließlich die Gerechten, sondern das ganze Volk Israel. Die dritte Fortschreibung sieht in Jeremia den leidenden Menschen, da er u. a. in Jer 20,14–18 seine eigene Existenz verflucht. „Dieses Resultat bestätigt in gewisser Weise das ganze forschungsgeschichtliche Spektrum seit Baumgartner.“60 Liwak beschreibt Bezzels Untersuchung „als Höhepunkt in der Erforschung der ,Konfessionen‘“61 und sieht darin einen Beitrag zum Vorzug von literarischen Deutungen vor historischen Gleichsetzungen.62 Bezzel sieht die Konfessionen im Wesentlichen als Jeremiadeutung, die „aus dem ge- und beschriebenen Prophetenbild“63 eine biographische Theologie Jeremias konstruieren. An seinem Beispiel werde sich mit grundsätzlichen theologischen Fragestellungen auseinandergesetzt. Daher gehe es in den Konfessionen nicht um das Schicksal Jeremias, sondern um eine Theologie, die mit der Prophetengestalt erzählt wird.“64 Neben vielen anderen Alttestamentlern und Alttestamentlerinnen spricht Bezzel den Konfessionen erst am Ende seiner Untersuchung grundlegende theologische Bedeutung zu. Fast alle nachklassischen Untersuchungen – unabhängig von der Forschungsrichtung – enden mit diesem kurzen Zugeständnis. Die Konfessionen seien „Zwiegespräch mit Gott“65, sie haben eine „theologisch wie seelsorgerlich bedeutende Funktion“66, sie enthalten „theologisch zu verstehendes Kerygma“67 und führen zu „Grundfragen der Theologie“68. Zollen diese Aussagen der Tatsache Tribut, dass diese „theologischen“ Fragen nach Gott und den Menschen in der nachklassischen Prophetenforschung nicht deutlicher thematisiert wurden? Sind sie Eingeständnisse für Fragen, die in diesen Untersuchungen nicht gestellt wurden? Es ist heute nicht mehr davon auszugehen, dass Jeremia die Konfessionen geschrieben hat. Heutige Ansätze sehen keine historische Person hinter den Konfessionen, sondern begreifen Jeremia als literarische Figur. Diese Erkenntnis, dass sie ein theologisches und mehrfach fortgeschriebenes literarisches Werk sind, ist auch Bezzel zu verdanken, der verschiedene Positionen – individuelle und kollektive Deutungen, synchrone und diachrone Ansätze – in seiner Studie plausibel vereint und verdeutlicht, dass eine autobiographi59 60 61 62 63 64 65 66 67 68
Vgl. Bezzel, Konfessionen, 286. Bezzel, Konfessionen, 288. Liwak, Intertextualität, 32. Vgl. Liwak, Intertextualität, 35. Bezzel, Konfessionen, 55. Bezzel, Konfessionen, 55. Schmidt, Konfessionen, 7. Welten, Leiden, 150. Gunneweg, Konfessionen, 416. Hermisson, Konfession, 19.
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sche Auslegung nicht vertretbar ist. Doch selbst wenn gegenwärtig von einem literarischen Jeremia auszugehen ist, bleiben die Konfessionen Zeugnisse einer Frömmigkeit, die sich mit einem ambivalenten Gottesbild auseinandersetzt. Denn auch die Fortschreibungen wurden angesichts des Schicksals von Jeremia verfasst und sollten als seine Selbstäußerung verstanden werden.69 Diese Intention darf nicht in Vergessenheit geraten. Von den klassischen Prophetenforschern am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde die Auseinandersetzung mit dem Gottesbild deutlich erfasst und zum Thema gemacht. Sie beschreiben Jeremia als „mit seinem Gotte ringend und hadernd“70, die Gottesgemeinschaft als „tiefste[s, EKV] Wesen der Frömmigkeit“71, die Gottesbeziehung als konfliktgeprägt („Oft wollt es ihm da vorkommen, […] als lasse auch Jahwe, für den er doch alles eingesetzt hat, ihn im Stich.“72) und die Konfessionen als „intime Aussprachen mit Gott“73. Auch wenn Wellhausen, Gunkel, Baumgartner und von Rad noch von nicht mehr gegebenen Voraussetzungen ausgehen und zum Teil an einem authentischen Jeremia festhalten, sind ihre Untersuchungen weiterhin von Gewicht, weil sie die Frage nach dem ambivalenten Gottesbild stellen und Theologie und Biographie zusammendenken. Diese älteren Theologen legten den Fokus auf das in den Konfessionen geschilderte Beziehungsgeschehen, in dem radikale Aussagen über Gott gemacht werden. Ihren Fragen ist weiterhin nachzugehen, ohne die Erkenntnisse der gegenwärtigen Forschung zu vernachlässigen. In meiner Untersuchung möchte ich den Konfessionen nicht nur – wie in anderen nachklassischen Untersuchungen (s. o.) – theologische Bedeutung zusprechen, sondern sie wesentlich als Theologie in der Form des Gebets bzw. der Anrede verstehen, die existenziell an einem Einzelschicksal beschrieben wird. Diese exemplarische Darstellung weist über das Einzelschicksal hinaus und führt zu Fortschreibungs- und Rezeptionsprozessen. Die Konfessionen haben theologische Relevanz, weil sie das Weltgeschehen deuten, indem sie eine Frömmigkeit artikulieren, die eine Auseinandersetzung und ein Ringen mit der Fremdheit Gottes beinhaltet. Diese soll in diesem Kapitel unter dem Gesichtspunkt der ambivalenten Beschreibung der Nähe Gottes im Mittelpunkt stehen. Die sechste Konfession (Jer 20,7–18) beschreibt 69 Vgl. Bezzel, Konfessionen, 54 f [Hervorhebung im Original]: „Gleichwohl ist es nicht verwunderlich, daß gerade die Konfessionen traditionell im Zentrum der Jeremiabiographien stehen. Die Grundschicht in 11,18–23 will ja als eine Selbstäußerung des Mannes gelesen werden, dessen Namen das Prophetenbuch trägt und dessen Ergehen und Erleben in den sogenannten ,Fremdberichten‘ in der dritten Person geschildert wird. Die Bezüge zur Buchüberschrift, zum Fremdprophetenabschnitt von Kapitel 23 und zur Schilderung der Tempelrede in Kapitel 26 verdeutlichen, daß es hier nicht um die Exponierung eines exemplarischen ,Leidenden Gerechten‘, sondern um einen ganz konkreten, in einen mehr oder weniger fiktiven historischen Kontext eingepaßten ,Leidenden Propheten‘ geht.“ 70 Gunkel, Einleitungen, LX f. 71 Wellhausen, Geschichte, 143. 72 Baumgartner, Klagegedichte, 86. 73 Rad, Konfessionen, 265.
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die Nähe Gottes als besonders ausdrucksstark und herausfordernd. In der folgenden Einzelexegese werde ich daher Jer 20,7–18 übersetzen und sprachlich analysieren, eine Gliederung des Textes erstellen und ihn unter literar- und redaktionskritischen Aspekten untersuchen. Im Anschluss daran ordne ich die sechste Konfession in den Kontext der Konfessionen und des Jeremiabuchs ein.
2.2 „In meinem Herzen wie brennendes Feuer“: Einzelexegese von Jer 20,7–18 2.2.1 Übersetzung 7
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Du hast mich getäuscht74 und ich habe mich täuschen lassen, du bist mir zu stark geworden75 und hast gewonnen. Ich bin zum Gespött geworden den ganzen Tag, alle76 verhöhnen mich. Denn so oft ich rede, schreie ich, „Gewalt und Zerstörung“ rufe ich. Denn das Wort JHWHs ist mir zur Schande und zum Spott den ganzen Tag geworden. Dachte ich aber: Ich will nicht an ihn denken, und will nicht mehr in seinem Namen reden, dann war es in meinem Herzen wie brennendes Feuer, verschlossen in meinen Gebeinen. Ich mühte mich ab es auszuhalten, aber vermochte es nicht.
74 Vgl. zur Übersetzung und exegetischen Diskussion zu 8NH in dieser Studie Kapitel 2.2.3 Die Verben in Jer 20,7–18 als Beschreibung der ambivalenten Nähe Gottes. 75 Wilhelm Rudolph (vgl. Rudolph, Wilhelm, Jeremia [HAT 12], Tübingen 1947, 110) schlägt vor, =DNK:; äquivalent zu =@ NK:; oder =DBB NK:; zu verstehen. Arnold B. Ehrlich (vgl. Ehrlich, Arnold B., Randglossen zur Hebräischen Bibel, Bd. 4. Jesaia, Jeremia, Hildesheim 1968, 293), Artur Weiser (vgl. Weiser, Artur, Das Buch Jeremia. Kapitel 1–25,14 [ATD 20], Göttingen 8 1981, 167) und Baumgartner (vgl. Baumgartner, Klagegedichte, 63) ergänzen die Hifilform („Du hast mich gepackt“). Bezzel (vgl. Bezzel, Konfessionen, 217 f) und McKane weisen darauf hin, dass die Übersetzung von der Deutung des gesamten Verses abhängt: „For Weiser (…) the emendation has particular exegetical implications, since it combines with their view that a single image of seduction and violation is sustained throughout v.7a.“ (vgl. McKane, William, A Critical and Exegetical Commentary on Jeremiah, Bd. I: Introduction and Commentary on Jeremiah I–XXV [ICC], Edinburgh 1986, 469). 76 In V. 7 liegt wie in Jer 15,10 die ungewöhnliche Form mit Suffix 8@? (@? + Suffix 3.Sg.m. = seine Gesamtheit) vor. Die LXX übersetzt sie mit diet]kesa, also als Perfektform von 8@?.
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10 Denn ich habe gehört die Verleumdung von Vielen: „Schrecken ringsum, zeigt (ihn) an, wir wollen (ihn) anzeigen!“ Alle mir Befreundeten (jeder Mensch meines Friedens) geben Acht (auf) meinen Sturz. „Vielleicht lässt er sich täuschen, dass wir etwas gegen ihn vermögen und Rache an ihm nehmen können.“ 11 JHWH ist für mich wie ein starker Held, deshalb werden meine Verfolger straucheln und nicht gewinnen. Sie sollen sich sehr schämen (Pf.), denn sie haben (Pf.) keine Einsicht, ewige Schmach – sie wird nicht vergessen werden. 12 Aber JHWH Zebaoth prüft den Gerechten77, sieht Nieren und Herz. Ich werde deine Rache an ihnen sehen, denn dir habe ich meine Rechtssache anvertraut. 13 Singt JHWH, lobt JHWH! Denn er hat das Leben des Armen gerettet aus der Hand derer, die Böses tun. 14 Verflucht der Tag, an dem ich geboren wurde! Der Tag, an dem meine Mutter mich geboren hat, sei nicht gesegnet! 15 Verflucht der Mann, der meinem Vater die gute Botschaft gebracht hat: „Geboren wurde Dir ein Sohn, ein Knabe!“ Sehr hat es ihn gefreut. 16 Jener Mann sei wie die Städte, die JHWH umgestürzt hat und sich nicht erbarmt hat. Er soll Geschrei am Morgen hören und Kriegslärm in der Mittagszeit. 17 Weil er mich nicht im Mutterleib78 getötet hat, dann wäre mir meine Mutter zu meinem Grab geworden, und ihr Mutterleib wäre ewig schwanger.
77 Im MT ohne den Artikel. Da es sich um einen weisheitlichen Spruch handelt, ist der Typus des Gerechten gemeint. 78 Mehrere andere Bezeugungen (LXX, VL und Peschitta) verstehen den Tod nicht wie im MT „von Mutterleibe an“, sondern „im Mutterleib“. Diese breit bezeugte textkritische Variante ist dem MT vorzuziehen.
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18 Wozu79 denn bin ich aus dem Mutterleib hervorgegangen, um Elend und Kummer zu sehen, und meine Tage in Schande enden?
2.2.2 Gliederung und sprachliche Analyse Jer 20,7–18 ist monologisch geprägt: Bis auf V. 10 bringt der Text die Sicht Jeremias zum Ausdruck. Gleichzeitig hat diese Konfession Dialogcharakter, da sich der literarische Jeremia an JHWH wendet, der Auslöser für sein Leiden ist. Für die Gliederung des Textes ergeben sich zunächst zwei große Einheiten: die V. 7–13 und 14–18.80 Die V. 7–9 beschreiben die Macht JHWHs über Jeremia und die soziale Isolation als Konsequenz des Prophetenamtes. Diese wird in V. 10 näher erläutert. Dagegen ist in den V. 11–13 eine andere Stimmung vorherrschend: Auf die Vertrauensäußerung in den V. 11 f folgt in V. 13 eine Aufforderung an andere zum Lob. Die V. 11–13 nehmen somit eine Position zwischen der Klage (V. 7–10) und der folgenden Selbstverfluchung (V. 14–18) ein. Jenö Kiss und Siegfried Wagner plädieren daher für eine Dreiteilung von Jer 20,7–18.81 Die V. 7–11 sind jedoch durch die Worte 8NH („täuschen“) in den V. 7 und 11, durch @?= („vermögen/durchsetzen/obsiegen“) in den V. 7.9.10 und 11 sowie durch folgende Ausdrücke für Schande und Spott verbunden: V. 7 K9;M („Gespött“) und 6F@ („verhöhnen“), V. 8 8HL; („Schande“) und E@K („Spott“), in V. 11 NB@? („Schmach“). Daher geht Hubmann von einer „offenbar überlegt komponierten Einheit“ aus.82 Aufgrund dieser Verbindungen halte ich an der vorgeschlagenen Gliederung (V. 7–13.14–18) fest, betone jedoch, dass die V. 11–13 herausstechen und jeweils für sich unterschiedliche inhaltliche Schwerpunkte haben: V. 11 formuliert ein Vertrauensbekenntnis, V. 12 thematisiert JHWHs Gerechtigkeit und V. 13 fordert zum Lob auf. Die Besonderheit dieser Verse zeigt sich auch in den verschiedenen Zeitstufen: Während in den V. 7–10 Verbformen, die abgeschlossene Handlungen benennen, den Text prägen, richtet sich der Blick in 79 Die 8B@-Frage ist mit „wozu“ und nicht mit „warum“ zu übersetzen, da sie nach der Absicht des göttlichen Handelns fragt (vgl. Janowski, Konfliktgespräche, 360). 80 So auch Lewin, Ellen Davis, Arguing for Authority. A Rhetorical Study of Jeremiah 1.4–19 and 20.7–18, JSOT 32 (1985), 105–119, 111: „Form critically, two independent poems may be distinguished in this section: a Lament of the Individual (vv.7–13) and a Curse (vv.14–18).“ Vgl. auch Michel, Andreas, Krise, Übergang und neue Perspektive. Jeremia 20, EuA 84 (2008), 376–385, 373. 81 Vgl. Kiss, Jenç, Die letzte Konfession. Jer 20,7–18, ZAW 124 (2012), 369–384, 369; Wagner, Siegfried, Überlegungen zur Klage des Jeremia in Kapitel 20,7–18, in: Graupner, Axel/ Aupperle, Lutz (Hg.), Verbindungslinien (FS Werner H. Schmidt zum 65. Geburtstag), Neukirchen-Vluyn 2000, 399–412, 403: „Der Konfessionstext aus Kapitel 20 gliedert sich deutlich in drei Segmente: V 7–10; V 11–13; V 14–18 (…).“ 82 Vgl. Hubmann, Franz D., Anders als er wollte: Jer 20,7–13, BiLi 54 (1981), 179–188, 183.
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V. 11 f auf noch unabgeschlossene, daher zukünftige Vorgänge. V. 13 deutet diese Zukunft als bereits eingetreten.83 Abschnitt A: Vv. 7–13 Vv. 7–10:
Anklage Gottes V. 7: Vv. 8–10:
Vorwurf der Täuschung durch Gott Konsequenz des Prophetenamtes: Spott und Isolation
Vv. 11–13: Vertrauensäußerung Vv. 11–12: Vertrauensbekenntnis V. 13: Aufforderung zum Lob Abschnitt B: Vv. 14–18 Vv. 14–18: Selbstverfluchung Vv. 14–16: Verfluchung der eigenen Geburt Begründung der Verfluchung V. 17: Infragestellung der eigenen Existenz V. 18:
Der erste Teil, Jer 20,7–13, beinhaltet Elemente des Klagelieds des Einzelnen: Der Anrufung JHWHs in V. 7 folgen die Schilderung der Not und die Klage über die Feinde (V. 10). Die Verse 11 f scheinen auf V. 10 mit einer Vertrauensäußerung und einem Bekenntnis zur Zuversicht zu antworten und V. 13 mündet in einen Aufruf zum Lob. Dieser erste Abschnitt bietet thematische Wechsel zwischen dem Zwang zur Prophetie (V. 7ab.8ab.9) und den negativen Folgen (V. 7cd.8cd.10).84 Vers 7a schildert Gewalt, aus der ein Zwang und gesellschaftliche Ausgrenzung entsteht (vgl. Klgl 3,14). Diese Folgen werden in den V. 8 und 10 durch =? („denn“) erklärt und begründet. Die Klage über Jeremias Gegner in V. 10 steht in Zusammenhang mit Jer 20,3 und weist starke Ähnlichkeiten zu Ps 31,14 auf. In 20,3 wird der Ausdruck 5=5EB L96B („Schrecken ringsum“) als Name für den Priester Paschhur verwendet. Ps 31,14 stimmt nahezu wörtlich mit Jer 20,10aa überein. Eine weitere Verbindung zwischen Jer 20,7–18 und Psalm 31 besteht auf Grund der inhaltlichen, jedoch nicht wörtlichen Ähnlichkeit von Jer 20,13 und Ps 31,24: In beiden Versen wird zum Lob Gottes aufgerufen, das in seinem rettenden Handeln begründet wird. Nach Kiss lässt sich das Abhängigkeitsverhältnis der 83 Vgl. Hubmann, Anders, 183. 84 Vgl. Clines, David J. A./Gunn, David M., „You tried to Persuade me“ and „Violence! Outrage!“ in Jeremiah xx 7–8, VT 28 (1978), 20–27, 26.
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beiden Textstellen folgendermaßen begründen: Ps 31,14aa sei in seinen Kontext eingebunden, „in dem ein unschuldig Verfolgter um die Rechtshilfe JHWHs bittet. Jer 20,10aa dagegen harmoniert mit seinem unmittelbaren Kontext (V. 7–9) nicht, weil in ihm weder von Feind noch von Verschwörung die Rede ist. Demzufolge stammt der zitierte Satz aus Ps 31.“85 In V. 11 wird das Handeln der Gegner Jeremias mit den Verben 8NH („täuschen“) und @?= („vermögen/durchsetzen/obsiegen“) beschrieben, die in V. 7 das Handeln Gottes an Jeremia charakterisieren.86 Gegen die Gegner wird nun JHWH als I=LF L956 („starker Held/gewaltiger Kriegsheld“) angerufen (vgl. Hiob 16,14).87 Vers 12 beschreibt mit Hilfe von Rechtsausdrücken, dass Jeremia seine Gegner der Rache JHWHs anempfiehlt: „Die Erfahrung eines bedrohlichen, feindlichen Gottes (20,7) hat ihr Gegengewicht eben nicht in dem gewalttätigen Krieger (20,11), sondern erst im Erweis der göttlichen Vergeltung (V. 12).“88 An diese erwiesene Gerechtigkeit scheint auch der Aufruf zum Gotteslob gebunden zu sein. Im Jer 20,14–18, dem zweiten Teil, verflucht Jeremia, was seine Geburt nicht verhindert hat. V. 17 begründet die in den V. 15 f geschilderte Verfluchung. Die V. 14 und 18 sind durch das Motiv der Geburt miteinander verbunden. In ihnen wird die Ohnmacht Jeremias ähnlich wie in V. 9b geschildert. Der Begriff NM5 („Schande“) in V. 18 weist Bezüge zu anderen Ausdrücken für Spott und Schande in Jer 20,7.9.10 f auf (s. o.), das Stichwort A9= („Tag“) wird sowohl in Jer 20,14.18 als auch in Jer 20,7.8 verwendet. Trotz dieser Nähe zum ersten Teil bestehen auch Unterschiede zwischen den beiden Abschnitten: „In der Form unterscheidet sich dieses Lied [Jer 20,14–18, EKV] wesentlich von den Klagegedichten. Es wendet sich nicht an Jahwe, ist also kein Gebet. Man möchte es eine Selbstverfluchung nennen.“89 Doch indem Jeremia den Tag seiner Geburt und den Überbringer der Geburtsnachricht verflucht, verflucht er auch JHWH, verstanden als Schöpfer des Lebens (vgl. Hi 3,1–10). Er drückt den Wunsch aus, nicht geboren worden zu sein (vgl. Jer 15,10) und nicht diese leidvolle Berufung erhalten zu haben, die bedeutet, Gottes Wort zu verkörpern.90 „Die Du-Anrede Gottes ist verstummt, geblieben ist die negative Faszination eines erbarmungslos zerstörerischen Gottes, der nur noch einmal in 85 Kiss, Konfessionen, 372. 86 Vgl. Michel, Krise, 379. 87 Vgl. Bezzel, Konfessionen, 219: „Vor dem Hintergrund von V. 10 wird deutlich, daß der Beter JHWH hier nicht nur um Rettung anruft, sondern ihn selbst auch zur Schar seiner Feinde rechnet – dieser Umstand spricht wiederum dagegen, hier lediglich ein ,überreden‘ zu sehen, und er widerrät jeder positiven Deutung.“ 88 Michel, Krise, 380. 89 Baumgartner, Klagegedichte, 67. 90 Vgl. Fretheim, Terence E., Caught in the Middle: Jeremiah’s Vocational Crisis, WorWor 22 (2002), 351–360, 358: „From the womb he has been the embodiment of God’s word, a word decisively shaped by the message of sword, famine and death.“
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V. 16 auftaucht, im Zentrum dieser Fluch-Einheit aus den V. 14–18. Nur noch so, nur noch so destruktiv ist von Gott die Rede, und nur noch über ihn, nicht mehr zu ihm.“91 Der Prophet stellt den Sinn seiner Existenz in Frage, da sie durch Elend und Kummer (V. 18) geprägt ist. Ein Grund der Existenz Jeremias liegt jedoch gerade in seiner Berufung, die das Leiden beinhaltet (vgl. Jer 1,5).92 Deshalb bedeutet die Verfluchung des Tages der Geburt auch eine Anklage an Gott. Die Interpretation der Anklage bedeutet nicht, dass der Gebetscharakter diesen Versen abgesprochen werden muss. In diesem Sinn versucht auch Wagner die V. 14–18 zu erklären: „Eine Position könnte darin bestehen, daß vor Gott herausgeschrien wird, was den Propheten am Sinn seines Lebens verzweifeln lässt. Daß er zu Gott gegen Gott klagt, spricht für ein letztes Zutrauen zu Gott.“93 2.2.3 Die Verben in Jer 20,7–18 als Beschreibung der ambivalenten Nähe Gottes In den ersten beiden Versen von Jer 20,7–18 werden bereits die Leitworte erwähnt, die die gesamte sechste Konfession thematisch durchziehen: 8NH („täuschen“), @?= („vermögen/durchsetzen/obsiegen“) und L57 („reden“). Diese Verben zeigen bereits an, worum es geht: Ein Kommunikationsgeschehen, in dem Machtfragen und Krisen angesprochen werden: „Es muß eine Art Ringen um die Zustimmung zu einer gemeinsam zu unternehmenden Handlung gewesen sein, da der Prophet regelrecht davon sprechen kann, daß er von Gott überwunden worden sei und JHWH gesiegt habe (V 7a).“94 Die Frage ist, ob 8NH („täuschen“) in V. 7 als Verführung oder als Täuschung JHWHs zu verstehen ist. Das Verb kommt in V. 7 mit JHWH als Subjekt und in V. 10 im Passiv in Bezug auf Jeremia vor. Es bedeutet, eine Person zu manipulieren, sodass sie nicht mehr handlungsfähig ist und in der Konsequenz angegriffen werden kann (Ri 14,15; 16,5; Spr 1,10–19; 16,29). Jeremias Gegner spekulieren darauf, dass er sich in diesen Zustand versetzen lässt.95 Die Deutung des Wortes ist insbesondere in V. 7 kontrovers.96 Überträgt man die Verwendung von 8NH aus dem Kontext der Verführung von Jungfrauen (Ex 22,15) und das ebenfalls in Jer 20,7 verwendete K:; („stark sein/machen“) aus dem Kontext der Rechtsfolgen von Vergewaltigungen (Dtn 22,25) auf Jer 20,7–18, ist eine sexuelle Konnotation möglich.97 Da jedoch 8NH häufiger in 91 Michel, Krise, 381. 92 Vgl. Lewin, Authority, 116 f; Hubmann, Franz D., Stationen einer Berufung. Die „Konfessionen“ Jeremias – eine Gesamtschau, ThPQ 132 (1984), 25–39, 32. 93 Wagner, Überlegungen, 407 [Hervorhebung im Original]. 94 Wagner, Überlegungen, 404. 95 Vgl. Mosis, Rudolf, Art. 8NH, ThWAT VI, 1989, 820–831, 828. 96 Vgl. Mosis, 8NH, 829. 97 Gerlinde Baumann betont allerdings, dass mit dem Verb K:; („stark sein/machen“) in Jer 20,7
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Texten mit dem Thema Prophetie bzw. Falschprophetie belegt ist (1 Kön 22,20–22; Ez 14,9), dieser Bezug auch in V. 10 besteht,98 in dem die Widersacher hoffen, dass Jeremia getäuscht werde, und in den Konfessionen das Täuschen Gottes thematisiert wird (vgl. Jer 15,18), erscheint mir eine Übersetzung mit „täuschen“ angebrachter.99 Dieses Täuschen beinhaltet auch, dass Jeremia der Willkür seiner Gegner preisgegeben wird. Clines und Gunn argumentieren einleuchtend: „As far as Jer. xx 7 is concerned, it is obvious that Jeremiah is protesting against Yahweh’s pitt ing, but not, we suggest, because to pitt involves deception, not because Yahwe’s pitt ing has led to Jeremiah’s being overpowered (…). We might translate: ,You tried to persuade me [to be a prophet], and I was persuaded; You [i. e. your arguments] proved too strong for me, and you overpowered me‘.“100 Die Übersetzung soll nichts beschönigen, denn der Vorwurf der Täuschung ist Ausdruck der Ambivalenz des prophetischen Amtes: „Interpreted in this way, the verse summarizes the ambivalence with which Jeremiah views his relationship with God and the prophetic office (…).“101 @?= („vermögen/durchsetzen/obsiegen“) kommt in Bezug auf JHWH (V. 7), Jeremia (V. 9) und die Gegner Jeremias (V. 10 f) vor. Es drückt JHWHs Stärke, Jeremias scheiternden Widerstand gegen seine Berufung, die Erwartung der Gegner, Jeremia zu besiegen und die Hoffnung von Jeremia auf ein Eingreifen JHWHs aus. Dadurch wird Gottes Macht beschrieben als „the source of his suffering (v. 7) and the guarantee of his ultimate vindication (v. 11b)“102. Insbesondere in den V. 7 und 9 erinnert dieses Verb an den Widerstand und zugleich die Ohnmacht Jeremias in dem Berufungsbericht (Jer 1,19). Es zieht sich wie ein roter Faden durch die Konfessionen (Jer 11,18.19; 12,3; 15,14.15; 17,16; 18,23).
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kein sexueller Übergriff beschrieben wird. Vgl. Baumann, Gerlinde, Liebe und Gewalt. Die Ehe als Metapher für das Verhältnis JHWH – Israel in den Prophetenbüchern (SBS 185), Stuttgart 2000, 139, Anm. 434: „Das Verb bringt durchaus eine totale Überwältigung durch Stärkere zum Ausdruck, insofern könnte hier ,Vergewaltigung‘ in metaphorischen Verständnis gemeint sein. Sexuelle Konnotation hat K:; ohne weitere Näherbestimmung im Kontext aber nicht. 8NH trägt diese Konnotation nur am Rande.“ Vgl. Mosis, 8NH, 829 [Hervorhebung im Original]: „Der Verfasser / Redaktor der Einheit vv.7–9.10 ff. hat dann aber auch pth pi und niph von v.7 nicht von der fernen Bestimmung des Bundesbuches Ex 22,15, sondern von pth pu v.10 her verstanden. Jedoch auch ohne Berücksichtigung von v.10 im heutigen Kontext ist es äußerst unwahrscheinlich, daß pth pi und niph v.7 die Vorstellung von sexuell-erotischer Verführung wecken will.“ Vgl. Mosis, 8NH, 829: „Jeremia macht hier JHWH den Vorwurf, daß er ihn mit der Berufung zu seinem Propheten zu einem ,Narren‘ gemacht hat, so daß Jeremia, weil er JHWHs Prophet geworden ist, nun nicht mehr imstande ist, klug das ihm Förderliche wahrzunehmen und Schaden von sich abzuwenden.“ Clines/Gunn, Jeremiah, 22. Lewin, Authority, 113; vgl. Lewin, Authority, 113: „A translation such as ,entice‘ or ,cajole‘ could convey a sense of ambiguity and, moreover, suggest the not-entirely-rational power of the divine argument.“ Lewin, Authority, 112.
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Die Wurzel L57 („reden“) weist auf den prophetischen Kontext hin.103 Sie begegnet in V. 8 als Substantiv (898= L57 „Wort JHWHs“) und in V. 9 als Verb (L57 „reden“). V. 8 steht im engen Bezug zu Jer 15,16, der die Verinnerlichung und die Ambivalenz des Wortempfangs beschreibt. In den Belegstellen werden das Leiden und die soziale Ausgrenzung ausgedrückt, die die Verkündigung des Wortes JHWHs für den Propheten bedeutet. Jeremia verkörpert den Schmerz, den das Wort JHWHs auslöst: „In other words, because he embodies the word of God regarding violence he suffers what that word suffers at the hand of others.“104 898= L57 („Wort JHWHs“) findet auch in anderen Konfessionen Erwähnung (vgl. Jer 15,16; 17,15; 18,18). Nicht nur @?= („vermögen/durchsetzen/obsiegen“) erinnert an den Berufungsbericht, sondern auch 8NH („täuschen“) steht im engen Zusammenhang zu diesem, insbesondere das Motiv des „Propheten wider Willen“105. Jeremia wird in Jer 1,4–10 als Prophet dargestellt, der trotz der Unausweichlichkeit seiner Situation in der Berufung Widerspruch eingelegt hat. Dieses Streiten oder Ringen mit JHWH zieht sich durch die Konfessionen.106 Wagner spricht in diesem Bezug vom Formelement des selbstmindernden Widerspruchs, „mit dem sich der Berufene oder Designierte dem Berufenden gegenüber dem Auftrag zu entziehen versucht“107. Bereits im Berufungsbericht am Beginn des Buches wird deutlich, dass die Auseinandersetzung wesentlicher Bestandteil von Jeremias prophetischem Amt ist: „It becomes clear that Jeremiah is more than a passive vehicle for a one-way transmittal from heaven to earth; his own questioning, challenging ego is part of his qualification for the mediatorial office.“108 Der Dialog deutet an, dass Prophetie ständige Kommunikation bedeutet, mit dem Auftraggeber, den Empfängern und mit sich selbst.109
2.2.4 Literarkritische und redaktionskritische Überlegungen Jer 20,7–18 steht an einer Nahtstelle zwischen Klagen und Leidensgeschichte im Jeremiabuch. Diese Nahtstelle bietet Anlass für Deutungen und Ergänzungen. In Jer 20,7–18 fällt der Bruch zwischen den V. 13 und 14 auf: Zum einen wird in V. 13 zum Lob Gottes aufgerufen. Dieses Lob wird in seinem rettenden 103 104 105 106 107 108
Vgl. Lewin, Authority, 112. Fretheim, Jeremiah, 355. Wagner, Überlegungen, 404 f. Vgl. Lewin, Authority, 107. Wagner, Überlegungen, 404 f. Lewin, Authority, 107; vgl. auch Maier, Christl M., Jeremiah as YHWH’s Stronghold (Jer 1:18), VT 64 (2014), 640–653, 652: „As a programmatic prelude to the book, the call narrative with its strong metaphors signifies the lasting relevance of Jeremiah as a contested prophet who prevailed despite profound inner and outer challenges.“ 109 Vgl. Lewin, Authority, 107.
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Handeln begründet. Zum anderen verflucht Jeremia in V. 14, was seine Geburt nicht verhindert hat. Die Nähe, aber auch die Unterschiede im Vokabular, in der Rederichtung und in der Stimmung zwischen den V. 7–13 und 14–18 wurden bereits herausgearbeitet.110 Diese Auffälligkeiten werden in Bezzels These, dass Jer 20,7–18 den jüngsten Einschreibungstext für den vorliegenden Kontext darstellt, plausibel gedeutet. Er legt die für mich schlüssige Erklärung vor, die Konfessionstexte als späte und über einen längeren Zeitraum hin entstandene Einschreibungstexte zu begreifen, die die Verzögerung von Gottes Gerichtshandeln im leidenden Propheten inkorporieren und problematisieren. Konkret leidet Jeremia an dem nicht vollzogenen Gericht Gottes und der erfahrenen Ausgrenzung. Diese literarische Darstellung entspricht dem Charakter der Kapitel 1–20, in denen Jeremias innere Auseinandersetzungen u. a. in Zeichenhandlungen, deren Interpretation und seine Klagen im Mittelpunkt stehen. Die historische Tiefendimension der Konfessionen wird durch die vielschichtige Textgestaltung deutlich. Die Konfessionen Jeremias setzten bereits sowohl die Komposition Jer 1–10 über die Unheilsverkündigung des Propheten und die Deutung des Erlebten als Strafe für das Vergehen des Volkes als auch die erzählten Zeichenhandlungen in Jer 11–20 und das mit beidem verbundene Leiden des Propheten voraus. Auch Andreas Schüle zufolge überwiegt in der alttestamentlichen Forschung die Annahme, dass die Konfessionen nicht den Kern von Jer 1–20 bilden, sondern „auf redaktionellem Weg in das Jeremiabuch eingearbeitet wurde[n, EKV]“111. Bezzel zufolge können zwischen dem historischen Jeremia und der literarischen Grundschicht der Konfessionen Jahrhunderte liegen: Er setzt die Einschreibung der Konfessionsgrundschicht in Jer 11–20 um das Jahr 400 an.112 Seinen Untersuchungen nach bestehen die Konfessionen aus einer Grundschicht, in der ein Bild von Jeremia etabliert wird, das von dem Konflikt zwischen Erwählung und Leiden geprägt ist, sowie drei Fortschreibungen und Neuinterpretationen: Die Grundschicht orientiert sich an der Form der Klage des Einzelnen im Psalter und besteht aus Jer 20,7.8b.9–11. Ihr Thema ist die Ambivalenz JHWHs als Feind und Retter. Entscheidend ist der Vorwurf der Täuschung: „Das Schicksal, das Jeremia beklagt, ist nicht der negative Inhalt seiner Botschaft, der seine Zeitgenossen gegen ihn aufbringt, sondern die Tatsache, daß nicht eintritt, was er prophezeit. Jahwe setzt nicht in die Tat um, was er durch seinen Propheten ankündigt, läßt diesen also gleichsam ,hängen‘.“113 Auch die Gegner Jeremias sind in der Grundschicht von zentraler Bedeutung. Die Ausdrücke 7M9 EB; („Gewalt und Zerstörung“) und 5=5EB L96B („Schrecken ringsum“) spielen auf Jeremias prophetisches Wirken in Jer 6,7 (7M9 EB; 110 111 112 113
Vgl. dazu in dieser Studie Kapitel 2.2.2 Gliederung und sprachliche Analyse. Sch le, Geschick, 179. Vgl. Bezzel, Konfessionen, 284. Sch le, Geschick, 181.
„In meinem Herzen wie brennendes Feuer“: Einzelexegese von Jer 20,7–18 45
„Gewalt und Zerstörung“) und Jer 6,25; 20,3; 46,5; 49,29 (5=5EB L96B „Schrecken ringsum“) an. Diese Worte verbinden Jer 20,3 mit der Grundschicht (Jer 20,10). In Jer 20,3–6 kündigt Jeremia dem Priester Paschhur Unheil an, da er Jeremia Gewalt antat. Diese Verbindung zum Leiden Jeremias hat im Kontext somit einen konkreten Anlass, ist also keine abstrakte Klage.114 Die Grundschicht endet in V. 10 f positiv: Jeremias Leiden und Spott in V. 8 steht in V. 11 das Vertrauensbekenntnis zu JHWH als einem Helden gegenüber, der seine Gegner überwältigt. Die erste kollektiv-exemplarische Redaktion sieht in Jer 20,8a.12 die Person Jeremias als Leidenden Gerechten. Sie ist von der Weisheit geprägt und klagt nicht mehr über konkrete Verfolger, sondern beklagt ein Gerechtigkeitsdefizit in der Welt. Kiss, der davon ausgeht, dass V. 12 (zusammen mit V. 10) später ergänzt wurde, sieht den Sinn in V. 12 darin, „den Grund des Leidens um die politisch orientierte Verkündigung auszuweiten“115. In der zweiten kollektiv-repräsentativen Redaktion (Jer 20,13) ist ein tempeltheologisches Gottesbild vorherrschend. Jeremia verkörpert darin die klagende Gemeinschaft. Er wird zum Armen, der Israel repräsentiert (Ps 22,24–27). Lewin fasst treffend zusammen: „Verse 13 might be seen as a sort of editorial warning against a privatized reading of the lament (one that is, perhaps, more necessary for twentieth-century readers than their predecessors).“116 Auffallend ist, dass die drei Redaktionen in den V. 11 (Grundschicht), 12 (kollektiv-exemplarische Redaktion) und 13 (kollektiv-repräsentative Redaktion) durchgängig positiv enden. Die jüngste Fortschreibung in Jer 20,14–18 beschreibt demgegenüber keine Klage über andere, sondern eine Selbstverfluchung, eine Verzweiflung am Leben. „Jer 20,14–18 stellt allerdings keine Korrektur, sondern eine Intensivierung der vorausgehenden Klage dar.“117 Die Verbindung von Leid und Erwählung wird in dieser Fortschreibung nicht aufgehoben: „Diese dreifache Auswahl an ,happy endings‘ konnte ein weiterer Schreiber nicht nachvollziehen. (…). Hier artikuliert sich nicht der ,Leidende Gerechte‘, aus diesen Zeilen sprechen ,Elend und Mühsal‘ (C96=9 @BF) des ,Leidenden Menschen‘ schlechthin, die buchimmanent nicht aufgehoben, sondern als kritische Anfrage an jede Theologie des Leidens ernstgenommen werden wollen.“118 Auch Schüle 114 115 116 117
Vgl. Kiss, Konfessionen, 383. Kiss, Konfessionen, 383. Lewin, Authority, 116. Kiss, Konfessionen, 380; gegen Finsterbusch, die Jeremia als Sprecher der Konfessionen vermutet, allerdings Jer 20,14–18 in den Mund Paschhurs legen möchte. Damit werde das Vertrauen Jeremias bestätigt und der Rechtsstreit mit Jeremia zu seinen Gunsten geführt (vgl. Finsterbusch, Konfessionen, 3.5.). 118 Bezzel, Konfessionen, 257; vgl. Culley, Robert C., The Confessions of Jeremiah and Traditional Discourse, in: Ders./Olyan, Saul M. (Hg.), „AWise and Discerning Mind“ (Essays in Honor of Burke O. Long, BJSt 325), Providence 2000, 69–81, 81: „At the more fundamental level, the prophet sees hostility coming from the deity who is supposed to be vindicator and rescuer. Texts such as this, which embrace an unresolved tension, can never be considered closed
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Die Nähe Gottes in Jer 20,7–18
deutet Jer 20,14–20 als weisheitliche Reflektion des problematischen Auseinanderdriftens von Gottes Wort und Handeln.119 Darauf weisen auch die Ausdrücke C96=9 („Kummer“) und @BF („Elend“) hin.120 „An dem Propheten erweist sich, was jedem ,Knecht Gottes‘ bestimmt ist (…). Auf diese Weise öffnet sich die Prophetie der Weisheit, und umgekehrt exemplifiziert sich die Weisheit anhand der Lebensgestalt der Propheten Israels.“121
2.3 Jer 20,7–18 im Kontext des Jeremiabuches und der Konfessionen Jeremias Im Folgenden ordne ich Jer 20,7–18 in den Kontext des Jeremiabuches ein. Anschließend untersuche ich die Verbindungen insbesondere zwischen Jer 20,7–18 und den anderen Konfessionen, wobei Jer 15 aufgrund der Vielzahl der Bezüge ein besonderes Gewicht erhält. Die Konfessionen sind durch zahlreiche sprachliche und inhaltliche Bezüge miteinander verbunden.122 Neben einer kurzen Einführung in die jeweilige Konfession soll bei der Untersuchung gefragt werden, inwieweit die anderen Konfessionen etwas zur Beschreibung der ambivalenten Nähe Gottes beitragen und damit für mein Thema relevant sind. Das Jeremiabuch setzt sich neben den Konfessionen Jeremias aus Sammlungen von Prophetensprüchen und Prophetenerzählungen zusammen. Der Zusammenhang der zu verkündigenden Botschaft Jeremias und sein Schicksal sind ein Kernthema des Buches und damit auch der Forschung.123 Die Textsorte der Konfessionen stellt Jeremia in den Kapiteln 11–20 als Propheten dar, der durch seinen Auftrag in Bedrängnis gerät. Thematisch zeugen sie von der Auseinandersetzung um die Gerichtsbotschaft, die Jeremia zu verkündigen hat und deren Eintreten sich verzögert. Die Kapitel 1–25 im Jeremiabuch sind ohnehin geprägt von Gerichtsworten an Israel und Juda. Die sechste Konfession steht an einer Verbindungsstelle zwischen Klagen und Leidensgeschichte im Jeremiabuch: „Der Leser von Jer 1–20 wird in dem Jeremia der Erzählungen, die mit 20,1–6 beginnen, das klagende Ich der Konfessionen wiederfinden, während umgekehrt der verfolgte Prophet der Legenden nun, durch die Artikulation in den Klagegebeten, zur Personifikation des Grundsatzproblems von Leiden im Angesicht der Erwählung
119 120 121 122 123
because they contain within themselves a claim to reopen the question, and so foster and encourage further reflection.“ Vgl. Sch le, Geschick, 193. Vgl. Sch le, Geschick, 194. Sch le, Geschick, 195. Vgl. Hubmann, Stationen, 27. Vgl. Sch le, Geschick, 176 ff.
Jer 20,7–18 im Kontext des Jeremiabuches und der Konfessionen Jeremias 47
gerät.“124 Jeremia wird als Prophet beschrieben, der diese Spannungen zwischen Zorn und Erbarmen JHWHs erträgt, die durchgängig das Jeremiabuch prägen. Der Berufungsbericht in Jer 1 und die sechste Konfession in Jer 20 sind eng aufeinander bezogen und können als Inclusio verstanden werden.125 Lewin macht plausibel, dass diese Rahmung nicht mit einer Erklärung einhergeht. Eher nehme Jer 20 auf die Themen wie z. B. Widerstand und Ohnmacht von Jer 1 Bezug und führe diese fort.126 Die umliegenden Kapitel und Verse von Jer 20,7–18 weisen wichtige Bezüge zu dieser Konfession auf: In Jer 20,2 wird geschildert, dass Jeremia von dem Priester Paschhur in einem Block eingeschlossen wird. Dies hat zur Folge, dass Jeremia in Jer 20,3–6 Paschhur Unheil ankündigt und ihn als Falschpropheten bezichtigt (Jer 20,6). Die Worte 5=5EB L96B („Schrecken ringsum“) verbinden die V. 3 und 10. Paschhur wird wiederum in Jer 21,1 im Kontext von Gerichtsworten an den König Zedekia, an die Stadt und das Volk erwähnt. Der Eindruck entsteht, als sei Jer 20,7–18 in einen Text, in dem Paschhur vorkommt, eingeschoben worden, denn Anlass für Klage gibt die Auseinandersetzung mit Paschhur in jedem Fall. Charakteristika der Konfessionen Jeremias insgesamt sind der Dialog zwischen Gott und Jeremia, die Form der Klage und die Reaktion Jeremias auf erfahrene Ausgrenzung. Das Thema ist das Leiden Jeremias an der in Anspruch nehmenden Nähe Gottes und die innere und äußere Bedrängnis, in die er durch seinen Auftrag gerät.
2.3.1 Zu Jer 11,18–23 und 12,1–6 Die erste Konfession (Jer 11,18–23) hat weitgehend ein ungestörtes Vertrauensverhältnis zum Inhalt, beschreibt Gott als gerechten Richter und legitimiert sein Gericht. Das enge Beziehungsgeschehen wird auch an der Verwendung des Verbes F7= („erkennen“) deutlich, das sich durch die Berufungsgeschichte (Jer 1,5) und die Konfessionen (Jer 12,3; 15,15; 17,16; 18,23) zieht und in Jer 11,18 sowohl das Wissen JHWHs als auch die Erkenntnis Jeremias beschreibt. Die zweite Konfession hinterfragt klagend das Wohlergehen der Gottlosen. Diese Anklage bleibt bestehen und wird nicht gelöst. In der ersten Konfession steht Jeremias Schicksal im Mittelpunkt, in der zweiten Konfession (Jer 12,1–6) wird eher generell nach der Gerechtigkeit Gottes gefragt. Beide Konfessionen unterbrechen eine Gerichtsrede (Jer 11,9–12,17), die nach dem Ablehnen des Volks, die Bundesworte zu halten (Jer 11,2–8), erfolgt. 124 Bezzel, Konfessionen, 240. 125 Vgl. Janzen, J. Gerald, Jeremiah 20:7–18, Interp. 37 (1983), 178–183, 178. 126 Vgl. Lewin, Authority, 117.
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Die Nähe Gottes in Jer 20,7–18
Durch die Metapher des Baumes (11,16.19) bleiben die Konfessionen mit den vorherigen Versen verbunden und zeigen die problematisierende Fortschreibung an: Während in Jer 11,16 eine weibliche Größe (Zion) mit N=: („Ölbaum“) verglichen wird, der grünt, dem jedoch Unheil droht (V. 17), drohen in Jer 11,19 die Gegner den Baum (hier wird dafür der Ausdruck IF verwendet) zu vernichten. In 12,1 f werden A=FML („Gegner“) beschrieben, die wachsen und gedeihen. Im Gegensatz dazu wird Gott in allen drei Belegen gleich beschrieben: Gott pflanzt und reißt aus.127 Die Fortschreibung beschreibt am Schicksal Jeremias die Konsequenzen des Gerichts und klagt ein generelles Gerechtigkeitsdefizit ein. Jer 11,18–23 und Jer 12,1–6 fasse ich an dieser Stelle zusammen, da sie direkt aneinander anschließen und thematisch stark aufeinander bezogen sind.128 In der Literatur werden sie oft gemeinsam verhandelt und Bezzel geht z. B. davon aus, dass Jer 12,1–6 eine relecture von Jer 11,18–23 darstellt.129 Nach Baumgartner entspricht Jer 11,18–20 der Form des Klagelieds des Einzelnen: Unschuldsmotiv (V. 19), Unschulds- und Vertrauensmotiv (V. 20a) und Bitte um Vergeltung (V. 20b).130 Der Abschnitt 11,21–23 sei dagegen seiner Form nach prophetisch.131 In V. 19 schildert das Ich des Textes die bedrohliche Lage, in die der literarische Jeremia durch seine prophetische Botschaft gerät: Er wird von ungenannten Gegnern massiv angefeindet und mit dem Tod bedroht. Die Klage über die Gegner wird in V. 19a eingeleitet durch eine Klage über die eigene Situation: Der Beter fühlt sich wie ein unschuldiges Lamm, das zur Schlachtung geführt wird. Die für die Konfessionen wichtige Auseinandersetzung mit den Gegnern beginnt in Jer 11,20 und endet in Jer 20,13. Die Verse lassen sich daher als Rahmen erkennen.132 In 11,20 folgt plötzlich ein Vertrauensbekenntnis, das jedoch unpersönlich formuliert ist und die Zuversicht vermittelt, JHWH werde sich an den Gegnern rächen. Dieser Vers bietet die engste Parallele zu Jer 20,12. Daher ist Baumgartner recht zu geben, dass die V. 18–20 der Form des Klagelieds entsprechen und die V. 21–23 in der Form eines doppelt durch die Botenformel eingeleitetem Drohworts gegen die Männer von Anatot formuliert sind. Auch V. 18 thematisiert den prophetischen Wortempfang, wenngleich in direkter Anrede, und ist daher kein psalmtypischer Anfang eines Klagegebets.133 127 Vgl. Bezzel, Grünen der Frevler – ein Grund zur Klage. Die Baummetapher im Rahmen der „Konfessionen Jeremias“ – Weisheit im prophetischen Mantel –, WO 38 (2008), 7–21, 15. 128 Vgl. Wagner, Überlegungen, 402: „Es wird wohl offen bleiben müssen, ob 11,18–23 und 12,1–6 unmittelbar zusammengehören, oder ob nicht vielmehr zwei eigene Textkomplexe aneinandergeschlossen worden sind.“ Finsterbusch versteht Jer 11,18–12,6 sogar als eine Konfession (vgl. Finsterbusch, Konfessionen, 2). 129 Vgl. Bezzel, Konfessionen, 40. 130 Vgl. Baumgartner, Klagegedichte, 32. 131 Vgl. Baumgartner, Klagegedichte, 33. 132 Vgl. Hubmann, Stationen, 28; Hubmann, Anders, 187. 133 Vgl. Baumgartner, Klagegedichte, 32.
Jer 20,7–18 im Kontext des Jeremiabuches und der Konfessionen Jeremias 49
Jer 12,1–6 beklagt das Leiden des Gerechten im Gegensatz zum Glück seiner Feinde und stellt JHWHs Gerechtigkeit in Frage (Jer 12,1). Dadurch wird das in Jer 11,18–23 verhandelte Thema ins Grundsätzliche gehoben. Insgesamt rechnet Bezzel die gesamte erste Konfession (Jer 11,18–23) zur Grundschicht innerhalb der Konfessionen und Jer 12,1–6 zum großen Teil zur kollektiv-exemplarischen Fortschreibung (Jer 12,1–3bb.5–6). Jer 12,4aba wird der kollektiv-repräsentativen Fortschreibung zugeschrieben. Die engsten Parallelen zu Jer 20 (insbesondere V. 12) finden sich in Jer 11,20a und 12,3 (und 17,10) und betreffen JHWHs Prüfen von Herz und/ oder Nieren. Jer 11,20a 5@9 N9=@? C;5 K7J üHM N945J 898=9 Jer 20,12a 5@9 N9=@? 84L K=7J C;5 N945J 898=9 Jer 12,3a
ýN4 =5@ ND;59 =D4LN =DNF7= 898= 8N49
Jer 20,12a und 11,20a unterscheiden sich zunächst in der Wahl der Verben: Während in Jer 20,12a C;5 („prüfen“) im Blick auf den Gerechten ausgesagt wird und 84L („sehen“) in Bezug auf Nieren und Herz, wird das Prüfen in Jer 11,20a an Nieren und Herz vorgenommen. Außerdem verwendet Jer 11,20a üHM („richten“) mit dem Objekt K7J („Gerechtigkeit, Recht“) und ist daher nicht ausdrücklich auf eine Person ausgerichtet. In Spr 31,9 begegnet die Wendung K7J üHM („schaffe Recht!“) im Imperativ als Aufforderung an den König. Das Motiv, dass JHWH Herz und Nieren prüft und kennt, begegnet ansonsten im Psalter (u. a. Ps 7,10; 26,2). Eine weitere Variante findet sich in Jer 17,10 in einer Selbstvorstellung JHWHs (N9=@? C;5 5@ CK; 898= =D4). Jer 11,20 beschreibt die richterliche Nähe als ambivalent: Einerseits bietet diese Grund für Zuversicht, andererseits geht sein Prüfen „bis ins Innerste“134. Das bedeutet, dass sie auch als überwältigend und zu nah erfahren werden kann. Andererseits entspricht V. 20 auch Jer 20,12: Jeremia vertraut auf JHWHs ausgleichende Gerechtigkeit und Vergeltung. Jer 12,3 bezieht sich auf Jer 11,18–23 und bekräftigt das Vertrauen auf JHWHs Prüfen und Vergelten. Bezzel hält Jer 11,20 für den Ausgangspunkt der Tradition, während er Jer 20,12 und Jer 12,3 seiner ersten, kollektiv-exemplarischen Fortschreibung zuordnet. Auch Jer 17,10 rechnet er dieser Fortschreibung zu.135 Ich halte diese Abhängigkeitsrichtung für plausibel, da Jer 11,20 eher das Schicksal des Propheten beleuchtet, das in Jer 20,12 und 12,3 kollektiv zum leidenden Gerechten fortgeschrieben wurde. Außerdem ist insgesamt innerhalb der Kon134 Fischer, Georg, Jeremia 1–25 (HThKAT), Freiburg im Breisgau 2005, 422. 135 Vgl. Bezzel, Konfessionen, 177: „Die Einschreibung von V. 9 f. trägt dieser Verschmelzung von klagender Einzelgestalt und betendem Kollektiv Rechnung, wenn sie durch den Rückgriff auf JHWHs Herzens- und Nierenprüferschaft einerseits auf ein Thema zurückgreift, das bereits der Konfessionengrundschicht am Herzen liegt, dabei jedoch andererseits sprachliche Varianten heranzieht, die eine Verbindung zur Volksklage von Ps 44 nahelegen.“
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Die Nähe Gottes in Jer 20,7–18
fessionen eine Verschärfung zu erkennen: Die Entwicklung führt von der von Vertrauen geprägten ersten Konfession zu der Selbstverfluchung Jeremias in der sechsten Konfession. 2.3.2 Zu Jer 15,10–21 Die dritte Konfession beschreibt die Reaktion des Propheten auf das Verbot, Fürbitte zu leisten, d. h. auch die Ohnmacht, selbst durch Gebete Gott nicht bewegen zu können. Hinzu kommt der Vorwurf, dass auf Gottes Handeln kein Verlass sei.136 Jer 15,10–21 folgt auf die Zurückweisung von Gebeten zugunsten Judas; die Vernichtung scheint unausweichlich. Der Text ist durch den Dialog zwischen JHWH und Jeremia und den Klagestil geprägt: In V. 10 klagt Jeremia, in den V. 11–14 antwortet JHWH, in den V. 15–18 klagt Jeremia erneut, woraufhin JHWH in den V. 19–21 erneut antwortet. Der Text bietet also einen zweifachen Wechsel zwischen der Klage Jeremias und Gottes Antwort. Auf die klagende Frage (8B@) in V. 18 folgt aber – stilistisch ungewöhnlich – eine prophetische Ankündigung eingeleitet mit C?@, d. h. hier stehen liturgische und prophetische Redeformen nebeneinander. Die Selbstverfluchung (vgl. Hi 3,3), mit der die dritte Konfession beginnt, verdeutlicht, dass Jeremia als in seiner eigenen Existenz gefährdet beschrieben wird. Die Antwort JHWHs ist zwar vorerst ermutigend (V. 11), beinhaltet jedoch gleichzeitig eine Gerichtsankündigung gegen die Feinde Jeremias (V. 14), die eine enge Parallele zu Dtn 32,22, einer Ankündigung der bedingungslosen Vernichtung, aufweist. In der erneuten Klage Jeremias werden in V. 15 folgende Formulierungen der Nähe verwendet: gedenken (L?:), heimsuchen (7KH), rächen (AKD). Während mit diesen Verben auch die heilsame Nähe Gottes erfleht werden kann (Ps 8,5; 80,15; 106,4), werden sie im Jeremiabuch eng mit dem Gerichtshandeln Gottes verbunden (Jer 5,9.29; 9,8). In Jer 15 drücken sie Jeremias Bitte an Gott aus, an seinen Gegnern Rache zu nehmen. Die Terminologie in den folgenden Versen drückt Jeremias Gehorsam und Abhängigkeit aus: Er hat die Worte Gottes verinnerlicht (Jer 15,16) und wurde sozial isoliert. Die besondere Gottesnähe führt bei Jeremia in die Einsamkeit. V. 17 greift die Hand (7=) auf, die Gott in der Berufungsszene ausstreckt, um seine Worte in Jeremias Mund zu legen (Jer 1,9).137 Das Eingreifen der Hand Gottes führt in V. 17 zur sozialen Ausgrenzung Jeremias, nimmt ihn aus dem Leben heraus und bewirkt Schmerz (Jer 15,18). Die erneute Unschuldsbeteuerung in V. 17 erinnert an Ps 1,1 und Ps 26,4 f: Jeremia sitzt abgesondert von denen, die das Gotteswort verachten und leidet 136 Vgl. Bezzel, Konfessionen, 100. 137 In Jer 15,11–21 lassen sich Bezüge zu Jer 1 erkennen. Neben dem Verweis von V. 16 auf Jer 1,9 entspricht V. 20, JHWHs Ermutigung und Beistandszusage, fast wörtlich Jer 1,18, die Ankündigung, Jeremia werde zur unzugänglichen Mauer aus Bronze. In diesem Bild steht Jeremia für Jerusalem, vor dessen Mauer sich die Gegner versammeln werden (Jer 1,15).
Jer 20,7–18 im Kontext des Jeremiabuches und der Konfessionen Jeremias 51
darunter (vgl. Ps 74,10.18). Diese Isolation ist auf JHWHs Wirken zurückzuführen. Der Vorwurf, Gott sei wie ein Trugbach, übertrifft allerdings den Klageduktus des Psalters.138 Er ist als Auflehnung gegen den prophetischen Dienst verstanden worden, da in V. 19 von JHWH die Weiterführung des prophetischen Amtes thematisiert wird (7BFN =DH@ und 8=8N =H?).139 Im Fall von Jer 15,10–21 umfasst nach Bezzel die Konfessionengrundschicht die Verse Jer 15,15.16a.17–20.140 Sie orientiert sich an der Form der Klage des Einzelnen (V. 15.16a: Anrufung, Bitte um Rettung, Verweis auf Besonderheit des Propheten; V. 17 Unschuldsmotiv/Klage; V. 18: Anklage gegen Gott, Gericht über Jeremia; V. 19: Beistand). Der größere Textabschnitt Jer 14,1–15,9 hat bereits Dialogcharakter. Inhaltlich geht es um die Klage angesichts einer Dürre, die dann zu einem Fürbittenverbot Gottes für Jeremia führt (Jer 14,11). In Jer 16 ergeht an Jeremia das Verbot, zu heiraten und Kinder zu zeugen (Jer 16,2) sowie Trauer zu bezeugen (Jer 16,5). Formal kann Jer 16 als ein Selbstbericht Jeremias, in dem er einen Befehl JHWHs zitiert und ausführt, verstanden werden. Die erste kollektiv-exemplarische Redaktion rahmt die Grundschicht durch die V. 10 und 21 und erweitert das Jeremiabild (Erwählung und Leiden) inhaltlich um das eines am Gerechtigkeitsdefizit leidenden Gerechten (V. 10). Das Gottesbild ist von dem befreienden Handeln JHWHs geprägt (V. 20). In der zweiten kollektiv-repräsentativen Redaktion (Jer 15,11–14.16b) verkörpert Jeremia nach Bezzel die klagende Gemeinschaft, denn das genannte Unglück und die beschriebene Feindbedrohung verweisen auf die Situation Judas bzw. Jerusalems (vgl. Jer 13,20–27) und nicht auf die des Propheten. Es bestehen zahlreiche inhaltliche Verbindungen zwischen Jer 20,7–21 und Jer 15,10–21, unter dem Gesichtspunkt der Täuschung: Jer 20,7
NH49 898= =DN=NH
Jer 15,18 9DB4D 4@ A=B 5:?4 9B? =@ 8=8N 9=8, hinsichtlich des Themas des Wortes JHWHs: Jer 20,8
A9=8.@? E@K@9 8HL;@ =@ 898=.L57 8=8.=?
Jer 15,16 =55@ N;BM@9 C9MM@ =@ ý=L57 =8=9 A@?49 ý=L57 94JBD und über das Motiv der Beistandszusage:
138 Vgl. Baumgartner, Klagegedichte, 40; vgl. Schmidt, Konfessionen, 20. 139 Vgl. Baumgartner, Klagegedichte, 38 f. 140 Vgl. Bezzel, Konfessionen, 132.
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Die Nähe Gottes in Jer 20,7–18
Jer 20,11 =N94 898=9 Jer 15,20 =D4 ýN4.=?.
Diese Verse der dritten Konfession stehen im Folgenden im Mittelpunkt, die Bezzel zufolge alle der Konfessionengrundschicht zuzuordnen sind. Jer 15,18 zeigt deutlich, wie strittig scheinbar selbstverständliche Wahrheiten geworden sind: Es ist ein stetes Ringen um ein Verstehen Gottes angesichts der erfahrenen Ablehnung seiner prophetischen Botschaft.141 Die Erwartung an Gottes Handeln und die Erfahrung dessen driften auseinander. Mit der Bezeichnung 5:?4 („Trugbach“) wird die Selbstbezeichnung JHWHs (Jer 2,13: A==; A=B L9KB „Quelle des lebendigen Wassers“) konterkariert: Wirkt Gott als Quelle lebendigen Wassers oder entlarvt sich sein Wesen als Trugbach? Seine gerechte Macht steht zur Debatte. Voraussetzung dafür ist jedoch, dass er auch in Krisenzeiten beim Wort genommen und auf sein Einschreiten gehofft wird. Das Phänomen eines Trugbachs wird in Hiob 6,15–20 ausführlich beschrieben: „Danach ist der akzab ein Bach, der wohl zur Winterzeit, wenn es Regen gibt und manchmal gar Schnee und Frost, unter erklecklichem Rauschen trübe Wasserfluten wälzt, zur wasserarmen Sommerzeit aber nicht einmal mehr ein Murmeln hören läßt, weil er gänzlich austrocknet.“142 Wurde die Hoffnung auf Wasser in einem ausgetrockneten Bachtal Palästinas enttäuscht, konnte dies lebensbedrohlich für den Menschen sein. Mit der Anklage in Jer 15,18 werden die Verheißungen aus Jer 1 also massiv in Frage gestellt: „Es geht um die Wahrheit und Wirksamkeit des ihm anvertrauten Gotteswortes und damit um die Grundlage seiner prophetischen Existenz als ganzer.“143 Jer 15,18 ist Ausdruck von tiefer Enttäuschung und beschreibt ein Ringen mit dem Anderssein und der Freiheit Gottes.144 Jer 15,16 beschreibt die Vorstellung eines verinnerlichten Wortempfangs mit dem Verb @?4 („essen“). Das Verb ist „Ausdruck lebensnotwendiger Funktionen oder Zeichen des Wohlbefindens und der Freude“145. Diese 141 Vgl. Schmidt, Konfessionen, 19: „Zieht diese Aussage nicht eine der grundlegendsten Glaubensaussagen von Gott als Retter in der Not in Zweifel? Erfährt Jeremia, der mit Gott hadert und sich von ihm getäuscht fühlt, nicht mehr, wie die Berufungsgeschichte (1,8) verheißt, die Gegenwart und den Beistand Gottes in der Not? Jedenfalls bildet diese Klage oder Anklage gewiß eine der härtesten, radikalsten, trotzdem uneingeschränkt überlieferten Aussagen des Alten Testaments.“ 142 Klopfenstein, Martin A., Die Lüge nach dem Alten Testament. Der Begriff, ihre Bedeutung und ihre Beurteilung, Zürich/Frankfurt am Main 1964, 249 [Hervorhebung im Original]. 143 Klopfenstein, Lüge, 250. 144 Vgl. Hermisson, Rechtsstreit, 36: „Der Prophet ist so in dieses Amt verwickelt, daß er um Jahwes und um seines Lebens willen ein Interesse am Eintreten der Katastrophe haben muß und diesem Interesse doch zugleich widerstrebt; und auch dieses Widerstreben gehört zu seinem Amt. Er hat in alledem von sich aus keine Machtbefugnis, und Jahwe bleibt frei, ist nicht an die Erwartungen des Propheten gebunden, den er seinerseits so völlig in Anspruch nimmt.“ 145 Ottosson, Magnus, Art. @?4, ThWAT I, 1973, 252–259, 253.
Jer 20,7–18 im Kontext des Jeremiabuches und der Konfessionen Jeremias 53
Wortverinnerlichung drückt die körperliche Erfahrung des Prophetenseins aus und hat eine Parallele in der Berufungserzählung Ezechiels, der eine Buchrolle essen muss (Ez 2,8–3,3). „Jer 15,16 antwortet damit direkt auf Gottes Anrede bei des Propheten Berufung: In Jer 1,9 wird Jeremia schließlich dadurch als ,Prophet wie Mose‘ ausgezeichnet und ausgerüstet, daß JHWH selbst ihm seine Worte in den Mund legt. (…) Jeremia hat das gegessen, was ,sich fand‘, ergo was ihm von Gott in 1,9 zugeteilt worden war – er hat sich gewissermaßen bereitwillig füttern lassen.“146 Es ist verständlich, dass Worte vom Mund eines Propheten ausgehen. Das Besondere an Jer 15 ist, dass Jeremia Gottes Worte „isst“ und sie sich dadurch zu eigen macht.147 Jeremia wird zum Träger des Zorns Gottes. Die Verinnerlichung des Gotteswortes wird durch diese ungewöhnliche Metaphorik verstärkt. In V. 16 wird die Erfahrung der Nähe Gottes als intim und einverleibend beschrieben. V. 17 korrespondiert mit V. 16, indem die Verinnerlichung des Zornes Gottes in Jeremia beschrieben wird: Jeremia wird – wie Ezechiel – als ein Gefäß charakterisiert, das Gottes Botschaft und seinen Zorn enthält. In diesen Versen wird die Ambivalenz der prophetischen Existenz zwischen Freude (Jer 15,16) und Vereinsamung (Jer 15,17) deutlich. Beides wird durch Gottes Wirken ausgelöst. Am Beispiel des Zorns wird das Ineinander von Nähe und Ferne Gottes deutlich: Das Bild des Zornes Gottes wird oft mit seiner Verborgenheit parallelisiert, in Jer 15,17 beschreibt es jedoch auch seine übermächtige Nähe.148 In Jer 15,20 (und auch Jer 15,11–14.19 ff) wird der Beistand Gottes mit Worten aus der Kriegsmetaphorik beschrieben. Jeremia erscheint als 8L9J5 NM;D NB9; („unzugängliche Mauer aus Bronze“), die Angriffe überstehen wird. In den Versen Jer 15,20 f werden mit @?= („überwältigen/bezwingen“), A;@ („kämpfen“), @JD („befreien“), 87H („erlösen“) Verben verwendet, die Phasen der Kriegsführung beschreiben. Auch sie zielen darauf, Jeremia als unbesiegbare Festung, die unter JHWHs Schutz steht und der sein Beistand zugesichert ist, zu beschreiben: „It would seem that the prophet’s situation is thereby metaphorically depicted as a situation of war, with the prophet as the besieged fortress and his neighbours, friends and family as the attacking enemy. (…) Yahweh, the warrior, will fight on the prophet’s side and ensure victory.“149 Auch wenn in der dritten Konfession positive Aspekte der Gottesnähe betont werden (Freude am Wort Gottes, Beistand und Rettung), überwiegen die negativen Konsequenzen, v. a. die geschilderte soziale Isolation Jeremias. Die 146 Bezzel, Konfessionen, 128 f. 147 Vgl. Bezzel, Konfessionen, 128. 148 Vgl. Meyer, Verborgenheit, 25: „Daß Gott sich oder sein Angesicht verbirgt, wird häufig mit dem Bild des Zornes Gottes parallelisiert. Das Entbrennen des Gotteszornes, das Schlagen des Volkes und das Verbergen (des Angesichts) Gottes erscheinen als Synonyme, die dafür stehen, daß Gott sein Volk sich selbst und anderen Mächten überläßt.“ 149 Smit, Jacobus H., War-related terminology and imagery in Jeremiah 15:10–21, OTE 11 (1998), 105–114, 111.
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Die Nähe Gottes in Jer 20,7–18
Bindung an Gottes Wort kann mit Jer 15,10–21 nicht mit Wohlergehen gleichgesetzt werden. Es ist gut vorstellbar, dass dieser Text für Leidende aufgrund ihrer Frömmigkeit zum Trost wurde. Die Verse klagen radikal an und deuten Gottes Wirken als fremd, einverleibend und übermächtig.
2.3.3 Zu Jer 17,14–18 Die vierte Konfession zeichnet ein Bild des angefochtenen Jeremia, der auf Grund seiner Situation als Verfolgter und mit dem Ausbleiben des Wortes Gottes ringt, Gott zur Rechenschaft zieht und um das Eintreten des Gerichts bittet: „Dieser Schritt des Propheten erscheint äußerst bedeutsam, weil das nicht nur heißt, daß er jetzt auch insofern auf die Seite Jahwes tritt, sondern auch für sich diesen Weg anzunehmen beginnt.“150 Der Konfession geht in Jer 16 der dreifache Auftrag voraus, sich in sozialer Abstinenz zu üben. In Jer 17 finden in den Versen unmittelbar vor Jer 17,14–18 im Rahmen der Konfessionen verwendete Motive Erwähnung: Die Baummetapher151 (17,8), das Prüfen von Herz und Nieren (17,10) und die Quelle lebendigen Wassers (17,12). Es geht um die Wahl zwischen einem Lebensweg, der von Fluch oder von Segen gezeichnet ist.152 Die kosmische Ordnung wird dabei weniger exakt beschrieben, als vielmehr vor Gott die Ungerechtigkeit geklagt, dass ein Leben, das auf Gott gegründet ist, nicht mit Wachstum und Wohlergehen gleichzusetzen ist.153 Der Text entspricht der Form eines Klagelieds des Einzelnen mit der Bitte um Heilung (V. 14), der Klage über die Feinde (V. 15), einer Unschuldsbeteuerung (V. 16), dem Vertrauensmotiv (V. 17) und der Bitte um Rache (V. 18).154 Nach Bezzel ist Jer 17,14–18 literarisch einheitlich und gehört der Grundschicht an, während die Fortschreibung in den vorherigen Versen der Konfession zu erkennen ist (kollektiv-exemplarische Fortschreibung: Jer 17,5–8.9.10a.11; kollektiv-exemplarische Fortschreibung: Jer 17,12 f). Während Jer 12,1–6 und Jer 15,10–21 die jüngsten Einschreibungen in den Kontext bilden, ist Jer 17,14–18 der älteste Bestandteil in seinem textlichen Umfeld. In dieser Konfession findet Jeremias Klage keine Resonanz, weshalb sie zur Grundschicht zu rechnen ist. Allerdings enthalten auch die Fortschreibungen im Kontext keine göttliche Antwort. Bezzel deutet den Befund so: „Anders als der Prophet, der in den Kapiteln 18 und 20 noch einmal seine Stimme erheben wird, hat JHWH mit 15,21 offensichtlich alles gesagt, was es aus seiner Sicht 150 151 152 153 154
Hubmann, Stationen, 35. Vgl. dazu in dieser Studie Kapitel 2.3.1 Zu Jer 11,18–23 und 12,1–6. Vgl. Finsterbusch, Konfessionen, 3.3. Vgl. Bezzel, Frevler, 18. Vgl. Baumgartner, Klagegedichte, 43.
Jer 20,7–18 im Kontext des Jeremiabuches und der Konfessionen Jeremias 55
zum Thema zu sagen gibt. Die Rettung des Propheten, des Gerechten, des erwählten Volkes wird von ihm nicht mehr erneut bestätigt, sie findet im Fortgang des Buches wie der Geschichte einfach statt.“155 Es bestehen inhaltliche Bezüge zwischen Jer 20,7–18 und Jer 17,14–18, nämlich zwischen den jeweiligen Vertrauensbekenntnissen, die beide der Grundschicht zuzuordnen sind: Jer 20,11 =N94 898=9, Jer 17,16 8=8 ý=DH ;?D =NHM 4J9B NF7= 8N4. Ein weiteres gemeinsames Thema ist der Beistand Gottes: Jer 17,16 8=8 ý=DH ;?D =NHM 4J9B, Jer 15,19 8=8N =H? (…) 7BFN =DH@, Jer 18,20 L?: =MHD@.
In Jer 17,16 wird das, was aus Jeremias Lippen hervorgeht, als JHWH bekannt beschrieben, in Jer 15,19 wird der Prophet zum Mund Gottes erklärt, in Jer 18,20 erinnert Jeremia JHWH, dass er unmittelbar vor ihm steht. Alle Verse thematisieren so die enge Bindung und Nähe zwischen Gott und dem Propheten, die auch im Rahmen der Berufung expliziert wird (Jer 1,9).156
2.3.4 Zu Jer 18,18–23 Die fünfte Konfession beschreibt Jeremias Bedrohung durch seine Feinde, sein Ringen um JHWHs Aufmerksamkeit, seine Bitte um Schutz durch JHWH und um Rache bzw. das Eintreffen des göttlichen Gerichtwortes. Bereits der erste Vers deutet an, dass Jeremias Gegner unheilvolle Pläne gegen den Propheten schmieden. Der Text weist Elemente des Klagelieds des Einzelnen auf mit einer Klage über die Gegner (V. 18), einer Bitte (V. 19), einer Unschuldsbeteuerung nach einer erneuten Klage über die Gegner (V. 20), der Bitte um Rache (V. 21.22a), einer Klage (V. 22b), einem Vertrauensbekenntnis (V. 23a) und einer Bitte um Vergeltung (V. 23b).157 Die Klage des Propheten unterbricht den thematischen Zusammenhang zwischen dem Töpfergleichnis (Jer 18,1–7) und der Symbolhandlung des 155 Bezzel, Konfessionen, 179. 156 Vgl. Fischer, Jeremia, 99: „Daß ein Prophet für Gott zu sprechen hat, gehört zu seinem Wesen. Wie dieses Moment in Jer ausgestaltet ist, zeigt aber besondere Züge und rückt beide, Gott und Jeremia, in sehr enge Nähe. (…) Die Austauschbarkeit beider scheint in der Geste von 1,9 und mehr noch in 15,19 (,wie mein Mund sein‘) geradezu zum Programm erhoben.“ 157 Vgl. Baumgartner, Klagegedichte, 48.
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zerbrochenen Tonkrugs (Jer 19,1–15). Die Konfession lenkt den Blick in eine neue Richtung: Die Schuld des Volkes liegt nicht in der Hinwendung zu anderen Göttern, sondern in der Ablehnung von JHWHs Wort bzw. dessen Verkörperung in Jeremia.158 Bezzel ordnet Jer 18,18–23 bis auf Jer 18,20a (kollektiv-exemplarische Fortschreibung) aufgrund der engen Parallele zur Klage des Einzelnen, der eindeutigen Identifikation mit Jeremia durch die Nennung seines Namens in V. 18 und der Bezüge auf den Kontext des Jeremiabuchs seiner Konfessionengrundschicht zu.159 Eine thematische Verbindung zwischen Jer 20,7–18 und Jer 18,18–23 besteht zwischen den jeweiligen Vertrauensbekenntnissen: Jer 20,11 =N94 898=9 Jer 18,23 =@F ANJF.@?.N4 NF7= 898= 8N49.
JHWH wird die Eigenschaft zugeschrieben, Absichten der Menschen zu erkennen. Dies ist sowohl eine Vertrauensaussage als auch ein Bezug zu Jer 20,12 (und Jer 11,20; 12,3; 17,10), d. h. zum Bild eines gerecht prüfenden Gottes. Jer 18,18–23 thematisiert insgesamt eine Verschärfung des Konflikts zwischen JHWH, dem Volk und dem Propheten, der in Jer 20 insbesondere zwischen JHWH und Jeremia eine Zuspitzung erreicht.
2.3.5 Jer 20,7–18 als Höhepunkt der Konfessionen Wie aufgezeigt, ist die sechste Konfession thematisch eng mit den weiteren Konfessionen verbunden: In V. 7 wird JHWH vorgeworfen, Jeremia getäuscht zu haben (vgl. Jer 15,18), V. 8 thematisiert das Wort JHWHs (vgl. Jer 15,16), V. 11 enthält ein Vertrauensbekenntnis (vgl. Jer 17,16; 18,23 bzw. die Beistandszusage in Jer 15,20) und V. 12 beschreibt JHWHs Prüfen von Herz und/ oder Nieren (vgl. Jer 11,20; Jer 12,3). Die Zuversicht, die in den ersten Konfessionen zum Ausdruck kommt, wird in den weiteren Texten schwer erschüttert.160 Auch die Gottesnähe wird innerhalb der Konfessionen verstärkt problematisiert. Während in der ersten Konfession noch das Vertrauen auf JHWH und seine Eigenschaft als gerechter Richter betont wird, geht in den folgenden Konfessionen die Gottesnähe verstärkt mit negativen Aspekten einher: Das Leiden wird als persönliches Leiden dargestellt. Jeremia wird als sozial isoliert, von JHWH überwältigt und
158 Vgl. Bezzel, Konfessionen, 198. 159 Vgl. Bezzel, Konfessionen, 214 f. 160 Vgl. Hubmann, Stationen, 30.
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von ihm abhängig beschrieben: „Der Beter muss die ganze Ambivalenz dieses Gottes ertragen und weiß, dass einzig in ihm seine mögliche Rettung liegt.“161 Doch in Jer 20,13 scheinen sich auch Auseinandersetzungen zu lösen: „Dieses Gebet ist in jeder Hinsicht eine Zusammenfassung des Weges, den Jeremia mit seinem Gott in den ,Konfessionen‘ gegangen ist und es ist zugleich auch das letzte Stadium im Konflikt mit den Gegnern.“162 Insgesamt stellt die sechste Konfession den inhaltlichen Höhepunkt der Konfessionen dar,163 insofern sie die Gottesbeziehung steigert bzw. dramatisiert: von der Vertrauensaussage in Jer 11 zur verzweifelten Klage und der Selbstverfluchung in Jer 20.164
2.4 Traditionsgeschichte: Das Motiv der ambivalenten Nähe Gottes im Körperkonzept Jer 20,7–18 beschreibt anhand der Person Jeremias und seines besonderen Geschicks die Auseinandersetzung mit der ambivalenten Nähe Gottes. Es sind vor allem Metaphern, die Aussagen über die Erfahrung der Nähe Gottes machen, die oft mit Leiden einhergeht. Daher bietet es sich an, diese unter den Kategorien der Körper-, Natur- und Kriegsmetaphorik weiter zu analysieren. Zur Körpermetaphorik gehören in der sechsten Konfession folgende Ausdrücke: 5@ („Herz“) in Jer 20,9.12, AJF („Gebein“) in Jer 20,9, N9=@? („Nieren“) in Jer 20,12, MHD („Seele/Leben/Person“) in Jer 20,13, A;L („Mutterleib“) in Jer 20,17. V. 9 beschreibt, was es bedeutet, entgegen der Berufung zum Propheten nicht mehr im Namen Gottes sprechen zu wollen. Dies sei wie ein brennendes Feuer (NLF5 M4?) im Herzen, d. h. unerträglich. Der Ausdruck 5@ („Herz“) stellt im alten Orient und im Alten Testament den Ort der Gedanken und des Verstandes dar, der offen vor Gottes Augen liegt.165 Wenn der literarische Jeremia bei sich denkt, seiner Berufung, das Unheil zu verkündigen, nicht nachzukommen, dann bedeutet dies eine Qual für sein Gewissen, sein Innerstes, das Zentrum seiner Person. Der Erwählte kann sich also seiner Berufung nicht entziehen: Die Verweigerung der ohnehin leidvollen Unheilsverkündigung wird als unerträglich beschrieben. Das Feuer, das durch den möglichen Ungehorsam gegenüber JHWH entsteht, brennt jedoch nicht nur 161 Wilke, Alexa F., Die Gebete der Propheten. Anrufungen Gottes im ,corpus propheticum‘ der Hebräischen Bibel (BZAW 451), Berlin/Boston 2014, 329. 162 Hubmann, Stationen, 36 [Hervorhebung im Original]. 163 Vgl. Janzen, Jeremiah, 179. 164 Vgl. Brueggemann, Walter, The Theology of the Book of Jeremiah (OTT), Cambridge 2007, 167. 165 Vgl. Schroer, Silvia/Staubli, Thomas, Die Körpersymbolik der Bibel, Darmstadt 22005, 34 f.
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im Herzen, sondern ist auch in den Gebeinen zu spüren. NBJF („Gebeine“) gehören zur Grundsubstanz des Körpers und können als Synonym für die Person des Beters verwendet werden.166 Dies deutet darauf hin, dass im Fall von Jeremia nicht nur Gedanken und Inneres leiden, sondern dass sein ganzer Körper davon betroffen ist. In V. 12 wird das Prüfen des Gerechten durch JHWH, der Herz und Nieren sieht, erwähnt. In weiteren Textstellen des Alten Testaments werden die Nieren häufig in Verbindung mit dem Herzen erwähnt, dabei sind beide Organe Gottes durchschauender und ergründender Prüfung ausgesetzt.167 N9=@? („Nieren“) werden als Sitz der Empfindungen von seelischer Not bis tiefer Freude angesehen.168 Da sie als Gefühlszentrum gedeutet werden können, stehen sie für die gesamte Einzelperson.169 Auch Hans-Walter Wolff erwähnt als wichtigste Organe neben dem Herzen die Nieren und deutet sie ebenso im Kontext der Gewissensprüfung.170 Dieses göttliche Prüfen „hinter den Fassaden“ ist in meinen Augen ambivalent: Zum einen bedeutet es, dass Gott die Menschen an ihren Nieren, also in ihren Gefühlswelten, erkennt und durchschaut, so dass innere Abkehr und Verdrängen ausweglos erscheinen. Der Mensch wird ergründet, nicht nur seine Taten, sondern vor allem seine innere Haltung, sein Ringen, Unvermögen und auch Versagen. Zum anderen – und das lese ich insbesondere in V. 12 – bedeutet Gottes durchdringender Blick auch Hoffnung auf Barmherzigkeit und ausgleichende Gerechtigkeit. Der Lobpreis in V. 13 handelt davon, dass JHWH das Leben (MHD) des Armen aus der Hand der Übeltäter rettet. MHD („Seele/Leben/Person“) steht für die Kehle, das Verlangen, aber auch für die Person als Ganze.171 Da Jeremia in diesem Vers Israel repräsentiert (s. o.), wird der Hoffnung auf Leben und Lebendigkeit trotz innerer und äußerer Anfechtungen Ausdruck gegeben. In V. 17 verflucht Jeremia den Überbringer seiner Geburtsnachricht. Er, der in diesem Vers den leidenden Menschen verkörpert, wünschte im A;L („Mutterleib“) gestorben zu sein. Der Mutterleib ist im Alten Testament als Ort der Schöpfertätigkeit Gottes zu verstehen, da das Handeln Gottes in engem
166 Vgl. Beyse, Karl-Martin, Art. AJF, ThWAT VI, 1989, 326–332, 331. Vgl. auch Ps 22,15; 31,11; Hi 4,14; 21,24; 30,17; 33,19; Klgl 1,13. 167 Vgl. u. a. Ps 7,10b: Denn du, gerechter Gott, prüfst Herzen und Nieren; Ps 26,2: Prüfe mich, Herr, und erprobe mich, erforsche meine Nieren und mein Herz; Jer 11,20: Aber du, Herr Zebaoth, du gerechter Richter, der du Nieren und Herzen prüfst (…); Jer 17,10: Ich, der Herr, kann das Herz ergründen und die Nieren prüfen. 168 Vgl. Janowski, Konfliktgespräche, 170 f; Kellermann, Diether, Art. N9=@?, ThWAT IV, 1984, 185–192, 191. 169 Vgl. Eberhardt, Gçnke, JHWH und die Unterwelt. Spuren einer Kompetenzausweitung JHWHs im Alten Testament (FAT II 23), Tübingen 2007, 131. 170 Vgl. Wolff, Anthropologie, 105 f. 171 Vgl. Maier, Christl M., Beziehungsweisen. Körperkonzept und Gottesbild in Ps 139, in: Hedwig-Jahnow-Forschungsprojekt (Hg.), Körperkonzepte im Ersten Testament. Aspekte einer Feministischen Anthropologie, Stuttgart 2003, 172–188, 181.
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Bezug zu dem Gebären der Mutter steht.172 Im Alten Orient gehört die Geburt zur Sphäre der Göttin. Wenn JHWH als Herr über den Mutterleib genannt wird, geht das mit einer Kompetenzausweitung JHWHs einher.173 Gott lässt die Menschen auf die Welt kommen: „Darum bekennen der Gottesfürchtige (Ps 22,11) sowie das Volk Israel (Jes 46,3), daß man bereits vom Mutterleib an existenziell von JHWH abhängig ist. Andererseits wünscht der Leidende und Bedrängte, daß er aus dem Mutterschoß nie herausgekommen wäre (Jer 20,17 f; Ijob 3,11; 10,18).“174 Jeremia und auch Hiob bilden eine Ausnahme, insofern sie den Tag ihrer Geburt verfluchen.175 Bei Jeremia ist diese Verfluchung literarischer Ausdruck des Widerstands gegen seine Berufung und sein Auflehnen gegen JHWHs Schöpfertätigkeit. Es wird deutlich, dass der Mensch bzw. sein Körper im Alten Testament nicht als eine Zusammensetzung von Organen aufgefasst wird, sondern ganzheitlich und als „ein menschlicher Körper, der nicht an und für sich betrachtet wird, sondern in seinen Beziehungen zur Umwelt und zu anderen Lebewesen“176. Deshalb wird der menschliche Körper als leidend charakterisiert, wenn die Person versucht, die Beziehung zu Gott zu verdrängen. Analog dazu wird in Jer 20,7–20 Gottes Nähe als einverleibend und unausweichlich beschrieben. Hinsichtlich der Naturmetaphorik erscheint mir für das Problem der ambivalenten Nähe Gottes der Ausdruck NLF5 M4? („wie brennendes Feuer“) signifikant. Feuer wird im Alten Testament oft in Verbindung mit dem Wirken Gottes gebracht: als Zeichen seines Zorns und seiner machtvollen Erscheinung.177 V. 9 betont, dass Jeremia ein Leben ohne Leid verwehrt bleibt. Entweder er leidet durch seine Gegner, indem er Unheil verkündet, oder er leidet körperlich, indem er seinen göttlichen Auftrag verneint. Baumgartner deutet dies als einen „Zwangszustand“178: „Vielmehr, je weniger er darüber redet, um so heißer wird die innere Glut, bis er sie schließlich doch wieder in Worten ausströmt.“179 Jeremia kann nicht anders, als zu prophezeien (vgl. Am 3,8; 1 Kor 9,16). William McKane versucht diesen Zwang zu deuten und vertritt die These, dass existenzielle Aussagen oft innere Widerstände überwinden müs172 Vgl. Bester, Dçrte, Körperbilder in den Psalmen. Studien zu Psalm 22 und verwandten Texten (FAT II 24), Tübingen 2006, 148 f. 173 Vgl. Schroer/Staubli, Körpersymbolik, 63 ff. 174 Kronholm, Tryggve, Art. A;L, ThWAT VII, 1993, 477–482, 480. 175 Vgl. Brueggemann, Theology, 171: „It is clear that both texts utilize the same genres in order to enter the contested world of the righteous sufferer.“ Bezzel spricht sich gegen eine direkte literarische Abhängigkeit aus und befürwortet es, an dieser Stelle die Parallelen formkritisch zu erklären (vgl. Bezzel, Konfessionen, 253 f, Anm. 197). 176 Maier, Beziehungsweisen, 174. 177 Vgl. Bergmann, Jan/Krecher, Joachim/Hamp, Vinzenz, Art. M4, ThWAT I, 1973, 451–463, 460; vgl. Jeremias, Jçrg, Theophanie. Die Geschichte einer alttestamentlichen Gattung (WMANT 10), Neukirchen-Vluyn 21977, 108. 178 Baumgartner, Klagegedichte, 65. 179 Baumgartner, Klagegedichte, 65.
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sen: „The thoughts which are congenial to us and which we are inclined to embrace, or the attitudes which are agreeable with our desire for security are more liable to error than those which force themselves on us because they have a truth which we cannot ultimately evade and to which we must give expression, even if we fear or shrink from the consequences of so speaking.“180 So wie Gott sein Gericht nicht zurückhalten kann, so kann auch Jeremia dieses Wort nicht bei sich behalten.181 Das Feuer als Wort JHWHs verdeutlicht den machtvollen und bedrohlichen Aspekt der Gottesnähe. Das Jeremiabuch ist durchzogen von Kriegsmetaphorik.182 In V. 11 kommt die militärische Sprache dadurch zum Ausdruck, dass JHWH als I=LF L956 („starker Held/gewaltiger Kriegsheld“) beschrieben wird.183 Während JHWH in Jer 15,21 Jeremia von der Macht eines I=LF befreit und weitere Belegstellen auf Feinde hinweisen, wird er in Jer 20,11 selbst mit einem Helden verglichen, dem diese Eigenschaft zugeschrieben wird. Auch weitere Belegstellen dieses Ausdrucks weisen auf persönliche und nationale Feinde hin (vgl. Jes 13,11; 25,3; 29,5; 49,25; Ez 28,7; 30,11; 31,12; 32,12; Ps 37,35; 54,5; 86,14). Auf der einen Seite wird Jeremia in Jer 20,7–18 als Mensch beschrieben, der mit JHWHs übermächtiger Stärke ringt und leidet, auf der anderen Seite findet er unter dieser Stärke Schutz. Dies unterstreicht Andreas Michel: „Dieser Gott, den Jeremia nach V. 7 wie einen Gegner erfährt, der ihn verführt, gepackt und überwältigt hat – das sind negative, kämpferische Qualifikationen –, ist derselbe in V. 11: ein gewalttätiger Krieger.“184 Gottes ambivalente Macht wird durch Jeremias Vertrauensaussage in V. 11 unterstrichen.185 Es wird wiederum deutlich, wie ambivalent die Macht JHWHs dargestellt wird: „This theme of domination or power runs through the poem: Jeremiah finds himself utterly powerless (…); but the prophet’s own experience of Yahweh’s power becomes the source of his confident expectation of vindication: Yahweh is a ,fearsome mighty man‘ (…) and Jeremiah will not fall ultimately into the power of his
180 McKane, Commentary, 474. 181 Vgl. Hermisson, Rechtsstreit, 343: „Man muß dazu an die jeremianischen Texte erinnern, in denen das ,Ich‘ Jahwes und das des Propheten zu verschmelzen scheinen, d. h. in denen der Prophet das Pathos Jahwes in Klage, Anklage und Gerichtsansage zu vertreten und zu artikulieren hat. Die Konfessionen zeigen dagegen überdeutlich auch die Differenz: Jahwe kann warten, der Prophet nicht.“ 182 Vgl. Keel, Othmar, Zeichensysteme der Nähe Gottes in den Büchern Jeremia und Ezechiel, in: Eberhardt, Gçnke/Liess, Kathrin (Hg.), Gottes Nähe im Alten Testament (SBS 202), Stuttgart 2004, 30–54, 43. 183 Vgl. Michel, Krise, 379: „Der Leser des hebräischen Urtexts hört dabei aufgrund des gleichen Wortes, aber auch aufgrund weiterer Gleichklänge Ijob 16,14 mit, den Abschluss einer der härtesten Anklagen Gottes in der Bibel überhaupt (Ijob 16,7–14). Zugespitzt auf den Vorwurf, Gott ,stürme‘ gegen Ijob an ,wie ein Krieger‘.“ 184 Michel, Krise, 379. 185 Vgl. Lewin, Authority, 112.
Wirkungsgeschichte: Theologische Aufnahmen und Weiterführungen
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enemies (…).“186 Beide Aspekte, die Übermacht und der Schutz JHWHs, werden in V. 11 deutlich und beschreiben Gottes Wirken als ambivalent.
2.5 Wirkungsgeschichte: Theologische Aufnahmen und Weiterführungen am Beispiel einer Predigt von Dietrich Bonhoeffer über Jer 20,7 Die sechste Konfession erweist sich als Reflexion über Gottesbilder, die konkret herausfordern und in Anspruch nehmen. In Jer 20,7–18 wird die übermächtige Nähe Gottes nicht abstrakt behandelt, sondern existenziell an einem Einzelschicksal beschrieben. Dieser Zusammenhang von Theologie und Biographie ist offen für analoge Situationen und beeinflusst die Rezeption des Textes. Die Textgeschichte der Konfessionen hat gezeigt, dass die sechste Konfession erweitert und verändert wurde. Auch an einer Predigt von Dietrich Bonhoeffer über Jer 20,7 lässt sich beschreiben, wie der biblische Text in einem spezifischen Kontext rezipiert wird.187 Wie eingangs dargestellt, ist die Predigt eine besondere Form der Auslegung.188 Der biblische Text dient der Predigt als ein offener Text, „der im Kontext des Lebens immer wieder neue Bedeutungen gewinnt“189. Bonhoeffer setzt sich in seiner Predigt mit dem Thema der Nähe Gottes auseinander, indem er Jer 20,7 interpretiert und für Andere in einer bestimmten Situation verdeutlicht.190 Im Folgenden analysiere ich den Kontext des Predigers und gehe auf wesentliche inhaltliche Punkte der Predigt im Hinblick auf das Thema der Nähe Gottes ein. Dabei finden die Haltung des Predigers, der Bezug zum biblischen Text und die Situation – 186 Clines/Gunn, Jeremiah, 26 f. 187 Vgl. Engemann, Wilfried, Einführung in die Homiletik, Tübingen 22011, 88 [Hervorhebung im Original]: „Beim Textbezug der Predigt geht es um eine inhaltliche Kontinuität zwischen einem Stück biblischer Überlieferung und einer zeitgenössischen Kommunikation des Evangeliums. Die Wertschätzung dieser Kontinuität ergibt sich u. a. aus dem (…) Verständnis der Predigt als Überlieferungs- und Kommunikationsprozess: Die Predigt ist eine Sequenz innerhalb jenes unabschließbaren Verstehens- und Verständigungsprozesses, in dem das Evangelium jeweils im Kontext spezifischer Situationen zur Sprache kommt, was auf die eine oder andere Weise wiederum zur Fortsetzung bzw. erneuten Aufnahme der Kommunikation des Evangeliums führt.“ 188 Vgl. dazu in dieser Studie Kapitel 1.5 Vorgehensweise. 189 Vgl. Theissen, Zeichensprache, 79. 190 Vgl. Engemann, Homiletik, 88 [Hervorhebung im Original]: „Sich auf einen Text zu beziehen bedeutet also immer auch, danach zu fragen, wie andere Menschen vor uns gedacht und geglaubt haben, als sie vor vergleichbaren Herausforderungen gestanden und ähnliche Erfahrungen gemacht haben. Diese Herausforderungen und Erfahrungen zu verstehen, die einst zu den biblischen Texten geführt haben, ist ein wesentlicher Versuch, sich in die ,Tradition‘ dieser Texte zu stellen; sie betrifft nicht einfach die unmittelbare Übernahme und Zustimmung zu den facettenreichen ,Ergebnissen‘ und ,Kernaussagen‘, die sich in der Überlieferung niedergeschlagen haben.“
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besonders auch im Hinblick auf die Hörenden – Berücksichtigung. Anschließend lege ich die Rezeption der Predigt dar. Auf diese Darstellung folgt ein Ertrag. Kontext Am 3. Sonntag nach Epiphanias, dem 21. Januar 1934 (!) predigte Dietrich Bonhoeffer in London über Jer 20,7.191 Dort war er von Oktober 1933 bis April 1935 Gemeindepfarrer. Es war die Zeit nach der nationalsozialistischen Machtergreifung, der Einführung des sogenannten Ermächtigungsgesetzes, des staatlich gelenkten Boykottaufrufs gegen jüdische Geschäfte, Ärzte, Banken und Anwälte und der Bücherverbrennung. Für Bonhoeffer war es keine leichte Entscheidung, nach London zu gehen. In einem Briefwechsel ruft ihn Karl Barth zur Rückkehr auf.192 Der kirchengeschichtliche Zusammenhang der Predigt ist von der sogenannten „braunen Synode“ im September 1933, die gegen Bonhoeffers Protest beschließt, den Arierparagraphen zukünftig auch in der Kirche einzuführen, und der sich anbahnenden Entscheidung der deutschen Kirchenführer, sich hinter den Reichsbischof Ludwig Müller zu stellen, geprägt. Bonhoeffer schließt am 15. April 1934 das Manuskript „Die Kirche vor der Judenfrage“ ab193. Er befand sich demnach zur Zeit der Predigt in kirchlicher Opposition, allerdings noch nicht im organisierten politischen Widerstand.194 In seiner Predigt weicht Bonhoeffer von der Perikopenordnung ab und wählt bewusst diesen Text. Wolfgang Grünberg stellt dazu überzeugend fest: „Die Wahl des Textes selbst ist der entscheidende Situationsbezug.“195 Dies wird noch einmal mehr deutlich, wenn man die Ansprache von Bonhoeffer „Der Führer und der Einzelne in der jungen Generation“, die am 1. Februar 1933 im Rundfunk gesendet wird, hinzuzieht.196 In dieser setzt sich Bonhoeffer ausführlich mit dem Begriff des Verführens, der für den Predigttext Jer 20,7 zentral ist, und des Führers auseinander. Er betont die Begrenztheit, den Dienst und die Verantwortung eines Führers.197 Bonhoeffer 191 Vgl. DBW 13, 347–351. 192 Vgl. DBW 13, 33: „Und so darf man jetzt noch weniger nach England gehen! (…) Sie müßten jetzt alle noch so interessanten denkerischen Schnörkel und Sondererwägungen fallen lassen und nur das Eine bedenken, daß Sie ein Deutscher sind, daß das Haus Ihrer Kirche brennt, daß Sie genug wissen und was Sie wissen gut genug zu sagen wissen, um zur Hilfe befähigt zu sein und daß Sie im Grunde mit dem nächsten Schiff auf Ihren Posten zurückkehren müßten!“ 193 Vgl. DBW 12, 349–358. 194 Vgl. Tietz, Christiane, Theologe im Widerstand, München 2013, 90 ff. 195 Gr nberg, Wolfgang, Wider die Art, „gemütlich von Gott zu reden und zu denken“! Zur Neuausgabe von Dietrich Bonhoeffer: Predigten – Auslegungen – Meditationen 1925–1945, EvTh 45 (1985), 463–467, 466. 196 Vgl. DBW 12, 242–260. 197 Vgl. DBW 12, 257 f [Hervorhebung im Original]: „Der Führer wird sich dieser klaren Begrenzung seiner Autorität verantwortlich bewußt sein müssen. Versteht er seine Funktion anders, als sie so in der Sache begründet ist, gibt er nicht dem Geführten immer wieder klar
Wirkungsgeschichte: Theologische Aufnahmen und Weiterführungen
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unterscheidet zwischen der Autorität eines Führers und der letzten Autorität, die bei Gott liege: „Nirgends als dort, wo er sieht, daß das Amt vorletzte Autorität ist gegenüber einer letzten, unsagbaren Autorität, gegenüber der Autorität Gottes. Und vor dieser Autorität weiß sich der einzelne erst ganz als einzelner. Vor Gott ist der einzelne verantwortlich. Und diese Einzelheit des Stehens des Menschen vor Gott, des Sichunterwerfens unter eine letzte Autorität, ist dort vernichtet, wo die Autorität des Führers oder des Amtes als letzte Autorität gesehen werden. (…) Es ist die furchtbare Gefahr der Gegenwart, daß wir über dem Schreien der Autorität, des Führers oder des Amtes, vergessen, daß der Mensch einzelner ist vor der letzten Autorität und daß jeder, der sich hier am Menschen vergreift, ewige Grenzen verletzt, übermenschliche Verantwortung auf sich lädt, die ihn zuletzt erdrückt. (…) Führer und Amt, die sich selbst vergotten, spotten Gottes und des vor ihm einsam werdenden einzelnen und müssen zerbrechen.“198
Gliederung und inhaltliche Schwerpunkte Die Predigt lässt sich in acht Abschnitte gliedern: Im ersten Teil steht die Berufung Jeremias zum Propheten im Mittelpunkt. Bonhoeffer beschreibt die Bewegung von der Abwehr bis hin zur Aufnahme der Berufung zum Dienst als Prophet. Das Wort Gottes habe Jeremia ergriffen: „er kann sich nicht mehr entziehen, es ist um ihn geschehen, Gott hat sein Opfer; oder wie es einmal heißt, der Pfeil des allmächtigen Gottes hat das gehetzte Wild. Jeremia ist sein Prophet.“199 Im zweiten Teil bleibt der Prophet Jeremia unerwähnt, dafür wird „der Mensch“ viermal erwähnt: Es geht um die Wirkung des Wortes Gottes allgemein. Bonhoeffer beschreibt den Empfang des Wortes Gottes als ambivalent: „Da hilft kein Widerstreben, sondern da heißt Gottes Antwort: Ich kannte dich, ehe ich dich im Mutterleibe bereitete, du bist mein. Fürchte dich nicht! Ich bin dein Gott, der dich hält. Und dann ist dies fremde, ferne, unbekannte, gewalttätige Wort auf einmal das uns schon so unheimlich wohlbekannte, Auskunft über die Begrenztheit seiner Aufgabe und über dessen eigenste Verantwortung, läßt er sich von dem Geführten dazu hinreißen, dessen Idol darstellen zu wollen – und der Geführte wird das immer von ihm erhoffen – dann gleitet das Bild des Führers über in das des Verführers, dann handelt er unsachlich am Geführten wie an sich selbst. Der echte Führer muß jederzeit enttäuschen können. Das gerade gehört zu seiner Verantwortung und Sachlichkeit. Er muß die Geführten von der Autorität seiner Person weg zur Anerkennung der echten Autorität der Ordnungen und des Amtes führen. Der Führer muß den Geführten hineinführen in die Verantwortlichkeit gegenüber den Ordnungen des Lebens, gegenüber Vater, Lehrer, Richter, Staat. Er muß sich dem Reize, der Abgott, d. h. die letzte Autorität des Geführten zu werden, radikal versagen.“ 198 DBW 12, 259 f. 199 DBW 13, 347.
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unheimlich nahe, überredende, betörende, verführende Wort der Liebe des Herrn, den es nach seinem Geschöpf verlangt.“200 Das Wort Gottes habe eine Bindekraft, von der der Mensch nicht mehr loskommt, welches ihn aber nicht verlässt: „Der Weg ist vorgeschrieben. Es ist der Weg des Menschen, den Gott nicht mehr losläßt, der Gott nicht mehr los wird; das heißt aber auch der Weg des Menschen, der nie mehr – im Guten oder Bösen – Gott-los wird.“201 Der dritte Abschnitt kehrt thematisch zur Situation des Propheten Jeremia zurück: „Phantast, Querkopf, Friedensstörer, Volksfeind hat man ihn gescholten.“202 Bonhoeffer beschreibt die qualvollen Konsequenzen des Wortes bei Jeremia: „es lag wie ein Zwang, wie ein Druck auf ihm; es war, als säße ihm einer im Nacken und triebe ihn von einer Wahrheit zur anderen, von einem Leiden zum anderen.“203 Es wird deutlich, dass nicht nur die Berufung einen massiven Eingriff in das Leben Jeremias bedeutet haben muss, sondern vor allem deren Umsetzung. Nach einem indirekten Bezug auf Jer 20,1–6 und die darin geschilderte Folter, die Jeremia erlitt, lässt Bonhoeffer den Predigttext Jer 20,7 zu Wort kommen. Bonhoeffer erkennt in ihm ein Gebet, in das Jeremia unter dem Eindruck der erlittenen Gewalt geflüchtet sei. Im vierten Teil wechselt Bonhoeffer in die eigene Gebetssprache und hält sich in der Anredeform und Semantik eng an Jer 20,7: „Gott, du hast es mit mir angefangen. Du hast mir nachgestellt, hast mich nicht loslassen wollen, bist mir immer wieder hier und dort plötzlich in den Weg getreten, hast mich gelockt und betört (…).“204 Sowohl die Überredung als auch das Hinterhergeschleift-Werden am Siegeswagen Gottes beschreiben psychische und physische Grenzüberschreitungen. Durch die Erfahrung der Nähe Gottes sei die Entscheidung über Bonhoeffers Leben gefallen: „Du hast entschieden. Du hast mich an dich gebunden, auf Gedeih und Verderb. Gott, warum bist du uns so furchtbar nahe?“205 Insbesondere aus heutiger Perspektive bietet sich die Deutung an, dass Bonhoeffer hier ausschließlich sein Leben beschreibt, allerdings kann er hier genauso auch andere im Blick gehabt haben, die er im folgenden Abschnitt der Predigt erwähnt. Im fünften Teil bezieht Bonhoeffer Jer 20,7 auf seine Zeit und Situation und stellt damit erneut eine gegenwartsbezogene Konkretion her. Gemeindemitglieder und Pfarrer seien von Unterdrückung und Verfolgung bedroht. Auf den Weg der Wahrheit und des Zeugnisses seien sie von Gott geführt worden. Es wird deutlich, dass Bonhoeffer diese seine Situation und diejenige Jeremias ähnlich wahrnimmt: „Aber ein Zwang liegt auf ihnen, weh uns, wenn wir das
200 201 202 203 204 205
DBW 13, 347. DBW 13, 348. DBW 13, 348. DBW 13, 348. DBW 13, 348 f. DBW 13, 349.
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Evangelium nicht predigen! ,Gott, warum bist Du uns so nahe‘.“206 Damit greift Bonhoeffer auch auf 1 Kor 9,16 zurück.207 Der sechste Abschnitt bezieht sich auf das christliche Leben als solches, das von Bonhoeffer als konstante Beunruhigung und ein Nicht-Mehr-Loskommen von Gott verstanden wird: „Und diese dauernde Nähe Gottes wird dem Menschen zuviel, zu groß, geht ihm über seine Kraft und er denkt wohl manchmal: O hätte ich es nie mit Gott angefangen.“208 In diesem Abschnitt wird deutlich, dass Bonhoeffer Jer 20,7 mit der prinzipiell-theologischen Fragestellung der herausfordernden Nähe Gottes verknüpft. Er zitiert nicht nur Jer 20,7 und setzt es in Bezug zu anderen Bibelstellen, sondern versteht es als grundlegendes biblisches und theologisches Thema. Im siebten Teil steht die Perspektive der Gemeinde im Mittelpunkt. Bonhoeffer formuliert weitgehend in der 1. Person Plural und beantwortet die vorher gestellte Frage nach der furchtbaren Nähe Gottes. In Momenten der Schwäche werde Gottes Nähe zu Trost und Hilfe. „Von Gott nicht mehr loskommen, das bedeutet viel Angst, viel Verzagtheit, viel Trübsal, aber bedeutet doch auch im Guten und im Bösen nie mehr Gott-los sein können.“209 In menschlicher Schwachheit und Leiden erweise sich Gott als gegenwärtig: „Der Siegeszug der Wahrheit und der Gerechtigkeit, der Siegeszug Gottes und seines Evangeliums durch diese Welt schleift hinter dem Siegeswagen die Gebundenen und Gefangenen hinter sich her.“210 In diesem Abschnitt wird – wie auch im zweiten, vierten und fünften – zweimal das Wegmotiv in dem Sinne, dass Gott auf allen (!) Wegen herausfordernd und tröstend begleitet, verwendet. Der achte Teil stellt eine Hoffnungsperspektive für die Gemeinde dar. Bonhoeffer will sich der Nähe Gottes stellen und ergeben. Dies wird auch im Schlusssatz der Predigt deutlich, den Bonhoeffer in der Sprache Jeremias formuliert: „Herr, überrede uns immer neu und werde stark über uns, damit wir dir allein glauben, leben und sterben, damit wir deinen Sieg schauen.“211 In der gesamten Predigt erscheinen mir drei inhaltliche Schwerpunkte zentral: Die in der Predigt beschriebene analoge Situation Jeremias und Bonhoeffers, die Beschreibung der Nähe Gottes und insbesondere die Auseinandersetzung mit dem Gottesbild. In Bonhoeffers Predigt wird die gegenwärtige Situation als eine gedeutet, die mit der von Jeremia zu vergleichen ist. Verfolgung und Gewalt erscheinen in beiden Lebenswelten nicht abstrakt und fern, sondern werden als bedrohlich erfahren. Obwohl Jeremia und Bonhoeffer auf ihre Verfolgung als Individuen verweisen, sind sie jedoch gleichzeitig Repräsentanten für eine 206 207 208 209 210 211
DBW 13, 349 f. 1 Kor 9,16: Und wehe mir, wenn ich das Evangelium nicht predigte! DBW 13, 350. DBW 13, 350. DBW 13, 351. DBW 13, 351.
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Krisensituation, der das Kollektiv ausgesetzt ist. In diesen Situationen, die von politischen Krisenzeiten und Umbrüchen geprägt sind, gelingt es sowohl den Autoren des Jeremiabuchs als auch Bonhoeffer, Gott ins Spiel zu bringen212 – in der Form der Anrede und des Gebets. Sie beschreiben Gott nicht als eine Macht, die sich der schrecklichen Wirklichkeit entzieht, sondern als einen nahen Gott, der dazu aufruft, das Leiden wahrzunehmen und sich gegen das Übel in der Welt zu wenden. Demnach wird der Mensch stärker durch die Gottesnähe als durch die Gottesferne angefochten.213 Die Nähe kann sogar als Zwang erfahren werden, als ein Nicht-mehr-Loskommen von Gott. Signifikant ist in meinen Augen, dass sowohl die Autoren der sechsten Konfession als auch Bonhoeffer die politisch bedrängende Situation nicht einfach bzw. eindimensional auf ihr Gottesbild, im Sinne von „Gott will das“, beziehen. Ihr Leben, ihr Umfeld und ihre Gottesbeziehung werden als ambivalent dargestellt. Sie beschreiben das Leben als ein Ringen mit und Ausgesetzsein vor Gott. Durch ihre Gebete und Anklagen halten sie die Begegnung mit Gott offen, ohne ihn auf etwas festzulegen. Gleichwohl betonen sie seine herausfordernden Eigenschaften.
Rezeption Bonhoeffers Deutung von Jer 20,7 wurde wiederum von Uwe Weise, Werner Kallen und Peter Zimmerling rezipiert. Diese unterschiedlichen Auslegungen zeigen, dass es sich immer um Rezeptionsprozesse handelt, die kontextuell bestimmt sind. In der Auslegung zu Bonhoeffers Predigt über Jer 20,7 betont Uwe Weise, dass diese Predigt oft auf ihren kirchenpolitischen Hintergrund um das Jahr 1934 reduziert wird.214 Dem setzt er entgegen, dass Jer 20 an zahlreichen Stellen in Bonhoeffers Biographie anklingt und die ganze Predigt – nicht nur ihre zeitgeschichtlichen Aussagen – es wert sei, analysiert und wahrgenommen zu werden. Nach Weise ist für Bonhoeffers Jeremiaauslegung das Berufungsgeschehen von zentraler Bedeutung. In seiner Predigt akzentuiert Bonhoeffer zuerst den Aspekt der Worterfahrung als ein Nicht-Loskommen212 Der Ausdruck stammt aus dem Handbuch zum Neuen Evangelischen Pastorale. Vgl. Eulenberger, Klaus/Friedrichs, Lutz/Wagner-Rau, Ulrike, Gott ins Spiel bringen. Handbuch zum Neuen Evangelischen Pastorale, Gütersloh 2007. 213 Vgl. Barth, Karl, Evangelium und Gesetz (TEH, NF 50), München 1956, 6: „Gottes Wort kann uns nun freilich vielerlei sagen: es kann uns nicht nur trösten, heilen, lebendig machen, es kann uns nicht nur belehren und erleuchten, es kann uns auch richten, strafen, töten; und es tut tatsächlich das alles.“ 214 Vgl. Weise, Uwe, Dietrich Bonhoeffers Jeremiaauslegung als biblisch-theologischer Horizont eines Lebens in der furchtbaren Nähe Gottes. Ein Beitrag zum Verständnis von Text, Biographie und Theologie, Dietrich Bonhoeffer Jahrbuch 3 (2007/08), 280–310.
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Können. Weise zufolge beschreibt Bonhoeffer bereits den Beginn der Beziehung zu Gott als ambivalent: „Die (furchtbare) Nähe Gottes liegt also darin begründet, dass der Mensch, wenn Gott es mit ihm angefangen hat, nicht mehr von Gott loskommen kann.“215 Weise zieht folgende Konsequenz: „Insofern wirbt Bonhoeffer für eine gelebte Teilhabe und bewusste Teilnahme an der Nähe Gottes, trotz oder gerade auch wegen aller damit verbundenen Zumutungen und Leiden.“216 Während Weise die Aussage des Nicht-Mehr-Loskommens von Gott als Kern der Jeremiadeutung Bonhoeffers beschreibt, benennt Werner Kallen das In-Anspruch-Genommen-Werden und betont die Unentrinnbarkeit der Gottesbegegnung.217 Jeremia und Bonhoeffer stellten Ausnahmen dar. Beide erführen die überwältigende und unverständliche Nähe Gottes und es sei ein Fehler, diesen Einbruch „sprachlich völlig auszublenden oder so zu glätten, daß daraus fälschlicherweise nur noch etwas Einvernehmliches und Verständliches wird“218. Er weist auf einen Vortrag Bonhoeffers (1928 in Barcelona gehalten) hin, in dem dieser über Jeremia sagt: „Die Berufung ist der Wendepunkt seines Lebens geworden, und es gibt für ihn nur noch eines: dieser Berufung folgen, mag sie ins Unglück, in den Tod führen.“219 Kallen legt plausibel dar, dass Bonhoeffers Theologie und Frömmigkeit zentral von dem göttlichen „Du“ bestimmt wird. Dies sei zu beschreiben als „erfahrbare, zugestoßene und zugemutete Liebe (…) – überwältigend und liebend zugleich“220. Peter Zimmerling nimmt Bezug auf Kallen und erkennt an, dass er die Bezüge Bonhoeffers zur christlichen Mystik herausgearbeitet hat. Zimmerling weist jedoch auf eine entscheidende Differenz zwischen Bonhoeffer und mystischen Motiven hin: „Anders als die Beschreibung vieler mystischer Erfahrungen hebt Bonhoeffer hervor, daß die Berufung nicht durch ein Wort ,aus den Tiefen unserer Seele‘, sondern allein durch Gottes Wort erfolgt, das den Menschen von außen ergreift (…).“221 Zimmerling erkennt auch, dass sich in der doppelten Charakterisierung des Wortes Gottes die lutherische Konzeption von Gesetz und Evangelium verbirgt: „Gott beruft den Menschen, indem er ihn richtet und darin begnadigt. Damit hängt ein weiterer Gedanke unmittelbar zusammen: Bonhoeffer geht wie Luther davon aus, daß Gottes Liebe sich unter ihrem Gegenteil verbirgt. ,Konnten wir es wissen, daß deine Liebe so weh tut, daß deine Gnade so hart ist?‘ (…) heißt es in der Mitte, auf dem 215 Weise, Jeremiaauslegung, 293. 216 Weise, Jeremiaauslegung, 309. 217 Vgl. Kallen, Werner, In der Gewißheit seiner Gegenwart. Dietrich Bonhoeffer und die Spur des vermißten Gottes, Mainz 1997. 218 Kallen, Gegenwart, 67. 219 Kallen, Gegenwart, 65; vgl. DBW 10, 288. 220 Kallen, Gegenwart, 76 f. 221 Zimmerling, Peter, Das prophetische Moment in Bonhoeffers Predigt, PTh 89 (2000), 317–331, 325.
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Höhepunkt der Confessio.“222 Weiterhin versteht Zimmerling das „,JeremiaMotiv‘ in der Predigt über Jer 20,7 als Deutung der eigenen Biographie“223 Bonhoeffers. „Dass Bonhoeffer sein Leben vom ,Jeremia-Motiv‘ her verstanden hat, bestätigen Aussagen in seinem letzten Gespräch mit Bischof George Bell im Mai 1942 in Schweden. Er sieht darin – ähnlich wie Jeremia im Hinblick auf Israel – die einzige Möglichkeit für die Weiterexistenz Deutschlands in der Annahme der bedingungslosen Kapitulation, d. h. im Verzicht auf jede Form von Verständigungsfrieden. Die Niederlage muss von den Vertretern des Widerstands gegen Hitler als Gottes Gericht über Deutschland angenommen werden.“224 Die Predigt über Jer 20,7 sei Beleg für den untrennbaren Zusammenhang von Theologie und Biographie bei Bonhoeffer.225 Zimmerling erkennt drei prophetische Motive in den Predigten Bonhoeffers: In der Theozentrik sei die Prägung durch die Theologie Karl Barths deutlich zu erkennen, die die Souveränität und Majestät Gottes betont.226 Weiterhin vertraue Bonhoeffer auf die Kraft und Wirkung des Wortes Gottes: „Gut reformatorisch stehen für Bonhoeffer Gericht und Gnade als zentrale Wirkungsweisen von Gottes Wort fest. Sie erhalten in seiner Predigt jedoch prophetische Dringlichkeit.“227 Ein drittes prophetisches Motiv sei die Aufforderung zum Gehorsam gegenüber Gott, die im Begriff der Nachfolge Verbreitung gefunden hat.228 Zimmerling sieht Bonhoeffer als eine Ausnahmeerscheinung in einer besonderen Zeit. Gleichwohl ließen sich Bezüge zur Predigt in der Gegenwart ziehen. Dabei betont er, dass am Beispiel Bonhoeffers deutlich wird, wie wichtig insbesondere in der Predigtpraxis die Verknüpfung von Theologie und Biographie ist.229 Die Rezeption der Predigt über Jer 20,7 verdeutlicht die unterschiedlichen theologischen Versuche, die Predigt von Bonhoeffer einzuordnen. Während Weise betont, dass Bonhoeffers Auslegung über den zeitgeschichtlichen Wert hinaus von grundsätzlicher theologischer Bedeutung ist, betont Kallen die mystischen Motive in der Predigt und Zimmerling erkennt Bezüge zur lutherischen und dialektischen Theologie. Weise, Kallen und Zimmerling beschreiben die herausfordernden Aspekte der Nähe Gottes und betonen die Verbindung von theologischer Auseinandersetzung und Frömmigkeit.
222 223 224 225 226 227 228 229
Zimmerling, Moment, 325 f. Zimmerling, Moment, 324. Zimmerling, Peter, Bonhoeffer als Praktischer Theologe, Göttingen 2006, 96 f. Vgl. Zimmerling, Moment, 324. Vgl. Zimmerling, Moment, 326. Zimmerling, Moment, 327. Vgl. Zimmerling, Moment, 327 f. Zimmerling, Moment, 329.
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Ertrag Zusammengefasst wird in der Auslegung der Predigt Bonhoeffers deutlich, wie stark sich Bonhoeffer mit Jeremia identifiziert hat. Beide erfahren Leid durch ihre besondere Gottesgemeinschaft.230 Bonhoeffer erfährt Gottes Nähe als harte Forderung.231 Es ist eine Nähe, die der Mensch sich nicht aussucht, sondern die den Menschen trifft und in sein Leben einbricht.232 Bonhoeffer muss in Jeremia eine Person gesehen haben, die wie er in einer politisch bedrohlichen Zeit lebte, Gottes bedrohliche Nähe erfahren hatte und sich von Gott berufen fühlte, für Wahrheit und Gerechtigkeit einzutreten. Er beschreibt Jeremia als „Volksfeind“ und charakterisiert darin auch sich selbst.233 Dabei deutet er Jer 20,7 als einen authentischen Text des Propheten Jeremia. Damit geht Bonhoeffer ganz konform mit der Jeremiaauslegung zur Zeit der Dialektischen Theologie.234 Seine Orientierung an dieser Deutung Jeremias wird auch an der Betonung des Wortes Gottes, das als mächtig und den Menschen von außen ergreifend beschrieben wird, deutlich. Zwar setzt sich Bonhoeffer in der Predigt über Jer 20,7 mit fundamental-theologischen Fragen auseinander, die starke Bezüge zur Gegenwart aufweisen, doch wird an dieser Stelle deutlich, dass sich die Situation im Hinblick auf die Hörerinnen und Hörer in der Predigtpraxis verändert hat. Heute werden mehr dialogische und kommunikative Aspekte der Predigt betont und die Hörenden sind weniger passive Rezipienten, sondern selbst Subjekte ihres Glaubens und der Interpretation.235 Auch wenn gegenwärtig nicht mehr von einem authentischen Text des Propheten Jeremia auszugehen ist, verliert seine Predigt nicht an Gewicht, da 230 Vgl. DBW 10, 292. 231 Fuchs, Assoziationen, 160 [Hervorhebung im Original]: „Bonhoeffer formuliert hier ebenfalls eine Nähe Gottes, die ,hart ist‘ und wird in diesem Kontext der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und seinen destruktiven Mächten zum Zeugnis einer Nähe Gottes, die ihm am Ende das Leben kosten wird, die aber zugleich durch sein Zeugnis die Nähe Gottes in dieser Geschichte aufscheinen ließ.“ 232 Vgl. Fuchs, Assoziationen, 160. 233 Der Begriff „Volksfeind“ ist eine vom Nationalsozialismus aufgegriffene Bezeichnung für Regimegegner. Vgl. Bott, Hermann, Die Volksfeind-Ideologie. Zur Kritik rechtsradikaler Propaganda, Stuttgart 1969. 234 Vgl. dazu in dieser Studie Kapitel 2.1 Zur Forschungsgeschichte der Konfessionen Jeremias. 235 Vgl. Engemann, Wilfried, Semiotische Homiletik. Prämissen – Analysen – Konsequenzen (THLI 5), Tübingen 1993, 154 [Hervorhebung im Original]: „Die Interpretationsfähigkeit der Predigt ist eine Gegebenheit, die nicht vom Sender her außer Kraft gesetzt werden kann, sondern vom Hörer (als Empfänger) ergriffen wird, um die Predigt – wenigstens für den Augenblick – zu vollenden.“; Engemann, Homiletik, 143: „Der für die Brauchbarkeit bzw. Verständlichkeit der Predigt entscheidende Umschlagplatz und Ort des Verstehens ist jedoch (…) die Lebenswirklichkeit des Hörers. Er soll durch die Predigt, die sich auf einen Text bezieht, dazu instandgesetzt werden, aufs Neue zwischen Tradition und (seiner) Situation zu vermitteln.“
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Bonhoeffer sich in seiner Predigt mit dem Gottesbild der sechsten Konfession auseinandersetzt. Er versucht die Frage nach Gott und die Begegnung mit ihm in Zeiten von Bedrohung und Diktatur offen zu halten und Gott allem Augenschein zum Trotz Gott sein zu lassen. Die Bedeutung der Aussagen über Jeremias Geschick und seine Klagen werden über sein Einzelschicksal vermittelt. Auch in seiner literarischen Gestalt erscheint Jeremia als eine lebendige und authentische Persönlichkeit. Das in den Konfessionen ausgedrückte Leiden Jeremias und dessen Deutung mithilfe der Vorstellung der ambivalenten Nähe Gottes sind offen für eine Rezeption in analogen Situationen. Innerhalb der alttestamentlichen Textgeschichte wurden sie bereits erweitert und als repräsentativ für kollektive Erfahrungen verstanden. Bonhoeffer führt nun in seiner Predigt diese Erfahrung gedanklich wieder auf ein Einzelschicksal – sein eigenes – zurück, weil auch er sich berufen fühlt zu einem Dienst, von dem er weiß, dass er sich Feinde macht und verfolgt wird. Dass Bonhoeffer 1934 allerdings schon ahnte, dass dieser Weg ihn sein Leben kosten würde und dass er durch Jeremias Worte seine Todesbereitschaft ausdrückt, davon ist nicht auszugehen. Die Predigt Bonhoeffers verdeutlicht, wie stark der Glaube politische Konsequenzen hat, insbesondere wenn die religiösen Inhalte anecken und gegen den Mainstream stehen. Der dargestellte Widerspruch zwischen dem Anspruch der Nationalsozialisten und dem Anspruch Gottes zeigt, dass es Umstände gibt, in denen Christen nicht staatsstreu sein können. Das fordernde Gottesbild Bonhoeffers, das einen Anspruch an den Einzelnen darstellt, hat an seiner Aktualität nichts eingebüßt.
2.6 Ertrag In Jer 20,7–18 wird die Nähe Gottes als übermächtig, einverleibend und unausweichlich beschrieben. Jeremias Schicksal wird als Leiden an der Gemeinschaft mit Gott beschrieben. Der Prophet wird aufgrund seiner erfahrenen Gottesnähe sozial isoliert. Jeremias persönliches Wohlergehen und die Gottesnähe werden einander entgegengesetzt dargestellt, d. h. dass sein Leiden keinen Hinweis auf Gottesferne darstellt. Gottes Eingreifen durch sein Gericht bleibt vorerst aus, die prophetische Botschaft und deren Erfüllung in der Welt treten auseinander. Keine einfachen Antworten Dass Jer 20,7–18 mit einer Selbstverfluchung endet, ist ein Merkmal dafür, dass die Konfessionen die Spannung zwischen Erwählung und Leiden keinesfalls als gelöst ansehen. In diesen Versen artikulieren sich die Qualen eines leidenden Menschen, auf die es keine einfachen Antworten gibt. Nach Lewin
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besteht die Glaubwürdigkeit der Botschaft in der dargestellten Leidenserfahrung Jeremias.236 Auch die Erfahrung der Rettung verringert das Leiden nicht: Die V. 14–18 weisen einerseits darauf hin, dass es wieder Zeiten der Verzweiflung geben kann.237 „At the more fundamental level, the prophet sees hostility coming from the deity who is supposed to be vindicator and rescuer. Texts such as this, which embrace an unresolved tension, can never be considered closed because they contain within themselves a claim to reopen the question, and so foster and encourage further reflection.“238 Andererseits können die V. 14–18 auch verstanden werden als „verzweifelter Appell an Gott, seine andere Seite zu zeigen, die Jeremia nicht erlebt und nicht erfahren, die er aber immer geglaubt und erhofft hat: Seine Reue und sein Erbarmen.“239 Das dargestellte Ringen zwischen Gott und Jeremia wird bereits von denen, die die Konfessionen überarbeiteten, als Ausdruck der Krise der Beziehung zwischen Gott und seinem Volk verstanden.240 Es ist ein nachexilischer Versuch, auch Leiden und Zerstörung mit dem Gottesbild in Verbindung zu bringen, d. h. JHWHs Macht zu hinterfragen und Zweifel durch Erklärungsversuche zu beheben: „Mit Gott und um das Gottesbild ist in dieser Umbruchs- und Übergangsphase heftig gerungen worden.“241 Dieser Versuch endet mit offenen Fragen (Jer 20,14–18). Die Unbegründbarkeit göttlicher Souveränität hinterlässt einen versehrten Menschen.242 Nach dem Eintreten der Warnungen Jeremias setzt eine Reflexion anhand von Jeremias Geschick ein, in der das Gericht Gottes als Rettung verstanden und die Gottesnähe zum Zeichen des leidenden Gerechten wird. Die Nähe Gottes wird weiterhin ersehnt, jedoch nicht als etwas Harmonisches, sondern als eingreifendes Gericht Gottes, das Unheil abwendet, Ungerechtigkeit beendet und die Gegner heimsucht (vgl. Jer 11,22). Am konkreten Schicksal des Propheten Jeremia, der für seine Botschaft angefeindet und mit dem Tod bedroht wird, wird eine „Innensicht“ auf das Gottesverhältnis formuliert, die sich leicht auf andere Verfolgungssituationen ausweiten lässt und eine generelle Ambivalenz des Gottesverhältnisses darstellt. Jeremias Identität zeichnet sich durch Vertrauen und Hoffnung auf JHWH aus. Seine Klagen verstehe ich als Versuch, JHWH an seine Verheißungen zu erinnern. Die Differenz zwischen Hoffnung und Erfahrung bewirkt eine sich fortschreibende Auseinandersetzung mit dem Gottesbild, an der sich 236 Vgl. Lewin, Authority, 117: „Only that personal confrontation substantiates his claim that God is Deliverer, for Israel as for himself, and provides the basis on which the argument for authority must finally rest.“ 237 Vgl. Wagner, Überlegungen, 409: „Aber das von Gott herkommende, aufgeschriebene, Heil schaffende Wort bietet keine Garantie dafür, daß nicht künftig wieder Resignation und Verzweiflung die Oberhand gewinnen können. Das auszuweisen, mag der Sinn der so gestalteten Konfession sein.“ 238 Culley, Confessions, 81. 239 Michel, Krise, 383. 240 Vgl. Hermisson, Konfession, 10. 241 Michel, Krise, 377. 242 Vgl. Wilke, Gebete, 325.
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Generationen bis in die Gegenwart beteiligen: „In aller Widerständigkeit und Ambivalenz öffnen die Konfessionen Jeremias das Gottesbild für die Fülle möglicher Erfahrungen mit einem Gott, der unverfügbar bleibt.“243 Die Frömmigkeit, die anhand der Konfessionen beschrieben wird, zeichnet sich durch die Anrede aus, die auf ein Eingreifen Gottes hofft. Jeremia wird als exemplarischer Diener JHWHs dargestellt, dessen Nähe zu Gott auch bedrohlich ist, der Gott als ein nicht einschätzbares Gegenüber, als Feind und Beschützer erfährt: „Der Beter muss die ganze Ambivalenz dieses Gottes ertragen und weiß, dass einzig in ihm seine mögliche Rettung liegt.“244
Ambivalenzen in der prophetischen Existenz und im Wirken Gottes Die Beschreibung der Nähe Gottes ist in Jer 20,7–18 eng mit einer Loyalität zu Gott und mit Ambivalenzen sowohl in der prophetischen Existenz als auch in Gottes Wirken verbunden. Die Konfessionen sind Ausdruck einer besonderen Gottesbeziehung. In der Loyalität zu Gott und dem Erschrecken darüber, wie sehr Gott gegen menschliche Erwartungen handelt, ähneln die Konfessionen an manchen Stellen den Psalmen, insbesondere den Klagepsalmen des Einzelnen. Jeremias Leiden und seine Klagen sind Zeichen der Standhaftigkeit und des Vertrauens und „gerade nicht Zeichen eines ungeordneten Gottesverhältnisses“245. Diese Loyalität bleibt auch bestehen, obwohl Jeremia Gott selbst als Auslöser seines Leidens versteht – oder gerade deswegen? An der Person Jeremias werden Konflikt und Krise dargestellt. In der beschriebenen Zerrissenheit wendet sich der literarische Jeremia an den Auslöser des Konflikts durch Gebet, Klage und Anklage: „Offenkundig kann man im Gebet an Gott starke, ja extreme Worte richten, die in einer besprechenden, gar reflektierenden Rede über ihn gänzlich unerträglich, blasphemisch wären.“246 Gegen seine Erwählung meldet Jeremia Widerstand an. Gleichzeitig bietet sie eine gute Basis für seine Haltung und Rede, auf die er sich berufen kann. Die Berufung ist thematisch die Voraussetzung für die enge Beziehung Jeremias zu Gott. Jer 20,7–18 beschreibt einerseits die ambivalente prophetische Existenz. Jeremia fühlt sich aufgrund der Anfeindungen seiner Mitmenschen, sowohl politischer Gegner als auch eigentlich vertrauter Menschen, und der folgenden sozialen Isolation, aufgrund der fehlenden erkennbaren Zuverlässigkeit JHWHs, der sein Unheilswort, das er Jeremia aufnötigt, nicht realisiert, von 243 Wilke, Gebete, 418. 244 Wilke, Gebete, 329. 245 Welten, Leiden, 149; vgl. Wagner, Überlegungen, 407: „Daß er zu Gott gegen Gott klagt, spricht für ein letztes Zutrauen zu Gott.“; Fretheim, Jeremiah, 359: „This is the type of honest interaction the God encourages in relationships, and the many biblical laments are witness to that. (…) God is part of the problem, but that is, finally, occasion for hope, not despair.“ 246 Michel, Krise, 380.
Ertrag
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JHWH getäuscht. Er möchte seine Prophetentätigkeit beenden und kann es doch nicht aufgrund des göttlichen Zwanges, den er als inneren Zwang erlebt, Gottes Wort weiterzugeben (Jer 20,7.9). Die Last des Prophetenamtes, die innere Zerrissenheit und entschiedene Ablehnung führen zu dem vergeblichen Versuch, sich aus dem Prophetenamt zu lösen. Dass der auserwählte Prophet in seiner Zerrissenheit dargestellt wird, zeigt, dass der Konflikt unausweichlich ist und gleichzeitig zutiefst menschlich, über das Einzelschicksal hinausführend ist: „Jeremias Lebensweise selbst ist symbolisch und präfigurativ für das, was er zu verkündigen hat, sie stellt im voraus dar, wie das Leben in der totalen Unheilsituation allein noch möglich ist, möglich sein wird. Prophet und Mensch treten also nicht auseinander, wie man angenommen hat, sondern das Leben des Propheten selber wird zur Verkündigung.“247 Die Ambivalenz der prophetischen Existenz liegt letztlich in Gottes Wirken selbst begründet: Es geht in Jer 20,7–18 „um die zentrifugalen Kräfte im Leben Gottes selbst, um die zwei Seiten Gottes zwischen Gerechtigkeit und Erbarmen, zwischen Rache und Reue“248. Gott verspricht Jeremia Beistand und ist Auslöser für sein Leiden, beides wird durch Gottes Handeln verursacht.249 „Für den Propheten bedeutet das freilich, ohne äußere Absicherung an Jahwe und seiner Botschaft festhalten und selbst ein scheinbar widersprüchliches Verhalten Gottes aushalten zu müssen.“250 Jer 20,7–18 ist u. a. eine Reflexion über das Leiden – auch an Gott.251 Das Leiden wird jedoch nicht nur als von Gott ausgelöst beschrieben, es ist auch Ausdruck für das Leiden Gottes: „Nonetheless, these prayers let us see (…), that the abrasive intimacy between God and the prophet requires the prophets to experience and dwell in the grief and pathos of Yhwh’s own life over failed Jerusalem.“252 Die Verbindung zwischen Gott und Jeremia wird in Jer 20,7–18 als nah und ineinander verwoben beschrieben, so dass auch Jeremias Leiden als Mitfühlen mit Gottes Schmerz verstanden werden kann. 247 Gunneweg, Konfessionen, 414; vgl. Lewin, Authority, 117: „Jeremiah offers the prophetic process itself as the validation of his message. His experience provides the hermeneutic clue by which his audience may read and test that message. Like the people he addresses, Jeremiah has faced God as Enemy (cf. 21.3–10). Only that personal confrontation substantiates his claim that God is Deliverer, for Israel as for himself, and provides the basis on which the argument for authority must finally rest.“ 248 Michel, Krise, 384. 249 Vgl. Bezzel, Konfessionen, 249; Fretheim, Jeremiah, 355: „He suffers if he speaks the word of God and he suffers if he doesn’t, and the God who called him from the womb is ultimately responsible for both realities. (…) God is weary from holding back the judgement on an unrepentant people. So Jeremiah, in being unable to hold back the word, is conformed to the very word of God he embodies. His weariness and God’s are one and the same piece; as it is with God, so it is with Jeremiah.“ 250 Hubmann, Stationen, 31. 251 Vgl. Feldmeier, Reinhard/Spieckermann, Hermann, Der Gott der Lebendigen. Eine biblische Gotteslehre (Topoi Biblischer Theologie 1), Tübingen 2011, 374; Bezzel, Konfessionen, 54 f. 252 Brueggemann, Theology, 64 f.
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Die dargestellten Ambivalenzen in der prophetischen Existenz und im Wirken Gottes verdeutlichen die Radikalität und Tiefe der sechsten Konfession. Diese Spannungen sollten nicht verharmlost werden, sondern z. B. mithilfe der ambivalenzbewussten Exegese problematisiert und zur Sprache gebracht werden.253 Bezüge zur Gegenwart und Konsequenzen Zusammengefasst zeigen die dargestellten Perspektiven, die sich um die Auslegung der sechsten Konfession und des Schicksals Jeremias bemühen, deutlich, dass die Nähe Gottes nicht vorschnell und leicht als positiv konnotiert interpretiert werden kann. Die Tatsache, dass Leiden als von Gott ausgelöst beschrieben wird, schildert bereits die Ambivalenz der Nähe Gottes. Diese Nähe, verstanden als Gericht, weist über dichotome und vereinfachende Zuordnungen hinaus und ist Ausdruck für Gottes Anderssein, Freiheit und Unverfügbarkeit. Nähe und Verborgenheit erscheinen ineinander verschränkt: „Conventionally, ,witness‘ connotes presence and ,sending‘ absence. Is it possible that the two in this instance are one? That the sense of absence communicates, strangely, a presence?“254 Verborgenheit ist dann nicht als Abwesenheit Gottes zu verstehen, sondern als Fremdheit, Anderssein, Entzogenheit und damit als Verborgenheit der Barmherzigkeit: „The God of this text is not a warm, fuzzy God (…). Rather, this is a God who stands over and apart from, who has a distinct purpose on the earth, and who will have no one as a permanent ally.“255 Die in Jer 20,7–18 beschriebenen Ambivalenzen zeigen sich auch als für die Gegenwart relevant.256 Sie eröffnen Resonanzräume – nach Michel unter der 253 Vgl. Dietrich/L scher/M ller, Ambivalenzen, 218 [Hervorhebung im Original]: „Mitten durch die prophetische Existenz geht ein tiefer Riss: auf der einen Seite die Verzweiflung eines Vereinsamten, auf der anderen das Rechnen auf göttliche Gerechtigkeit; einerseits die fast süchtige Abhängigkeit von Gott und seinem Wort, andererseits der Aufschrei eines, der sich von Gott vergewaltigt (! Jer 20,7) und dann verstoßen fühlt. Und Gott? Gott tadelt seinen Propheten – hält ihn aber in seinem Dienst fest und spricht ihm Mut zu. Wie könnte Ambivalenz eindringlicher ausgedrückt werden?“ 254 Janzen, Jeremiah, 181. 255 Brueggemann, Theology, 49. Brueggemann bezieht sich dabei auf Jer 23,23 f. Er weist an anderer Stelle auch auf die verharmlosende Rede von Gott in theologischer Reflexion und religiöser Rede hin, die sich mit den prophetischen Texten nicht vereinbaren lasse (vgl. Brueggemann, Walter, The Practice of Prophetic Imagination. Preaching an Emancipating Word, Minneapolis 2012, 3). 256 Vgl. Ahuis, Ferdinand, Der klagende Gerichtsprophet. Studien zur Klage in der Überlieferung von den alttestamentlichen Gerichtspropheten (CTM 12), Stuttgart 1982, 21: „Es gibt wenige alttestamentliche Textkomplexe, denen von so unterschiedlichen Seiten her ein so großes praktisch(-theologische)s Interesse entgegengebracht wurde wie gerade den Konfessionen Jeremias. (…) Dieses starke Praxisinteresse wäre undenkbar, wenn sich nicht Menschen unserer Zeit wie auch anderer Zeiten immer ganz unmittelbar wiedergefunden hätten in den
Ertrag
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Voraussetzung, sich „nicht mit raschen und glatten Antworten zu begnügen“257. Michel betont die sensible Wahrnehmung von Leiden in der sechsten Konfession. Diese fordere auch gegenwärtige Leserinnen dazu auf, sich mit Leid nicht zufriedenzugeben.258 Weiterhin sei der Text eine Ermutigung, „zusammen mit dem Propheten Jeremia diesem Gott hoffend, betend, verweigernd in die Arme zu fallen“259. Brueggemann verdeutlicht die Gegenwartsbedeutung des Texts in Bezug auf den Umgang mit und das Aussprechen von Krisen: „The Book of Jeremiah (…) is a script whereby crises are outlined and so made bearable if not ultimately containable.“260 In diesem Sinne können Jeremia und das Jeremiabuch nach O’Connor zur existenziellen Lektüre werden: „Jeremiah’s angry, raping, punishing God is healing because this violent theology keeps God alive in the midst of disaster, keeps God from disappearing through an ,temporary stay against confusion‘. This God is a work of art, an expression of divine involvement when we are stuck in the mud, lost in intense pain, wandering with no compass. Above all, this what drives this God is relentless, passionate desire for relationship with the people.“261 Die Konfessionen sind insgesamt ein eindrückliches Beispiel biographischer Theologie. Diesen Aspekt unterstreicht Andreas Schüle, der die Konfessionen im Rahmen der alttestamentlichen Biographik deutet.262 Dabei gehe es weder darum, Jeremias Leben von Geburt bis zum Tod nachzuerzählen, noch darum, Jeremias Persönlichkeit zu ergründen, „eher geht es darum, daß an Jeremia in exemplarischer Weise das Schicksal eines wahren Propheten Jahwes dargestellt wird“263. Zu erklären sei dies durch das „Auseinandertreten von prophetischer Botschaft und deren ereignisgeschichtlicher Erfüllung“264. In dieser Spannung sei die thematische Entstehung der Konfessionen anzusiedeln: „Der für jede Form von Prophetie elementare kausale Nexus von göttlichem Wort und geschichtlicher Wirklichkeit hat weder auf der Ebene von Erkenntnis, Emotionalität oder gesundem Menschenverstand einen Anhalt, und eben dieses Defizit prägt die Reaktionen auf das Auftreten der Propheten wie auch deren eigene Selbstwahrnehmung.“265 Schüle erkennt in dem literarischen Jeremia eine Gestalt, die die Welt unter dem Gerichts- und Verheißungswort JHWHs versteht. Es überrascht nicht, dass sich Schüle in diesem
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Konfessionen, wenn die Konfessionen nicht eine Hilfe gewesen wären, die eigene Problematik als Mensch, als Christ, als Verkündiger zur Sprache zu bringen.“ Michel, Krise, 376. Vgl. Michel, Krise, 383 ff. Michel, Krise, 384. Brueggemann, Theology, 195. O’Connor, Jeremiah, 137. Vgl. auch Bezzel, Konfessionen, 55. Sch le, Geschick, 184 [Hervorhebung im Original]. Sch le, Geschick, 185. Sch le, Geschick, 193.
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Zusammenhang auf Bonhoeffer bezieht und dessen Worte an den Schluss seiner Analyse stellt: „Der Gott, der uns in der Welt leben läßt ohne die Arbeitshypothese Gott, ist der Gott, vor dem wir dauernd stehen.“266 Dass Schüle in seiner Auslegung der Konfessionen Jeremias Bonhoeffer heranzieht – ohne sich dabei direkt auf Bonhoeffers Predigt über Jer 20,7 zu beziehen – und Bonhoeffer in seiner inneren Zerrissenheit Jer 20,7 als Predigttext wählt, liegt darin begründet, dass an dem Schicksal Jeremias die herausfordernde Gottesnähe beschrieben wird, an der auch Bonhoeffer leidet. Bonhoeffer identifiziert sich in seiner Predigt über Jer 20,7 mit dem Schicksal Jeremias und versteht sich wie Jeremia, der an der Gottesnähe leidet.267 Die Nähe Gottes wird als Nicht-Mehr-Loskommen von Gott und als In-AnspruchGenommen-Werden beschrieben. In der politischen und persönlichen Krise gelingt es Bonhoeffer – wie auch den Autoren des Jeremiabuches – die Radikalität der Nähe Gottes zu erfahren und von Gott nicht zu lassen. Sie glätten ihre Gottes-, Welt- und Selbsterfahrung nicht, sondern beschreiben den Einbruch der Nähe Gottes als unentrinnbar, überwältigend, erschreckend und als Gebot, für Wahrheit und Gerechtigkeit einzutreten – wie hoch der Preis dafür auch sein mag. Die sechste Konfession als biblische Grundlage der Predigt erweist sich dabei als offen für analoge Situationen und als Möglichkeit, in die Erfahrungswelt Anderer mit der ambivalenten Nähe Gottes einzutreten.
266 Sch le, Geschick, 195. Das Zitat stammt aus DBW 8, 533 f (Brief aus Tegel vom 16. 07. 1944). 267 Vgl. Begrich, Gerhard, Alle Winter fluten ins Licht. Einmischung als Lebensmotto, Stuttgart 2006. Begrich versteht Jeremia, Hölderlin und Bonhoeffer als Personen, die sich „der Wahrheit Gottes in der Welt“ (Begrich, Winter, 77) aussetzen und an der Nähe Gottes leiden.
3. Die Nähe Gottes in Psalm 139 3.1 Zur Forschungsgeschichte des Psalms Psalm 139 ist in der christlichen Frömmigkeit weit verbreitet, wird in den meisten Fällen ohne die V. 19–22 rezitiert und ist durchgängig positiv konnotiert. In der Lutherbibel wird er unter der Überschrift „Gott der Allwissende und Allgegenwärtige“1, im Evangelischen Gesangbuch ohne die V. 19–22 als das Gebet „Erforsche mich, Gott, und erkenne mein Herz“2 und als Lied „Gott ist mein Lied“3 aufgeführt, in dem Gottes Allgegenwart besungen wird. In der katholisch-benediktinischen Tradition gehört er (mit allen Versen) zur Nachthore und wird unter das Thema „Geborgenheit“4 gestellt. Auch in der alttestamentlichen Forschung wurde Ps 139 zunächst unter der Perspektive der positiven Erkenntnis der wunderbaren Allgegenwart Gottes beschrieben.5 Es erscheint berechtigt zu fragen, ob diese positive Rezeption nicht einseitigen Interpretationen geschuldet und eng mit Auslassungen von Textstellen verbunden ist.6 Im Folgenden untersuche ich Ansätze der älteren und jüngeren Forschung im Blick auf die Rezeption des Psalms, da diese eng mit der Deutung der Nähe Gottes zusammenhängt. Hermann Gunkel vertritt die These, dass im Psalm JHWHs Geheimnisse bestaunt werden. Aufgrund des hohen Reflexionsniveaus des Psalms über Gottes Allwissenheit und Allgegenwart geht er von einer Nähe zu Hiob und Kohelet aus. Bei seiner Interpretation bezieht er sich vor allem auf die V. 1–18 und kommt zu einer positiven Interpretation.7 Gunkel betont die besondere Got-
1 Die Bibel, 619. 2 Evangelisches Gesangbuch, Ausgabe für die Evangelische Kirche von Kurhessen-Waldeck, Kassel 51998, 754. Eine Ausnahme bildet das Gesangbuch der evangelisch-reformierten Kirche der deutschsprachigen Schweiz, das den Psalm vollständig aufführt. Vgl. Gesangbuch der Evangelisch-reformierten Kirche der Deutschsprachigen Schweiz, Basel/Zürich 2 2000, 225. 3 Evangelisches Gesangbuch, 598. 4 Vgl. M nsterschwarzacher Psalter, Anhang. 5 Vgl. Westermann, Claus, Ausgewählte Psalmen, Göttingen 1984, 189; Gunkel, Hermann, Die Psalmen, Göttingen 51968, 587. 6 Vgl. Weber, Beat, Werkbuch Psalmen II. Die Psalmen 73 bis 150, Stuttgart 2003, 345. 7 Vgl. Kçckert, Gott, 424: „Schon Hermann Gunkel bemerkte den Wechsel im Ton von den Versen 1–18 zu den Versen 19–24 und meinte, ,der Psalm würde uns ohne den leidenschaftlichen Schluß bei weitem mehr gefallen‘. Gottfried Quell, ein anderer Berliner Vorgänger, hat das mit der Bemerkung ,Spießer‘ kommentiert.“
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Die Nähe Gottes in Psalm 139
teserfahrung des betenden Ichs8 und erkennt im Psalm einen Hymnus, da das betende Ich Gott lobt und Gottes Werke (Ps 139,14), seine zahllosen Absichten (Ps 139,17 f) und seine Schöpfung bewundert und preist (Ps 139,14). Gleichzeitig betont er auch die für die Form des Hymnus ungewohnte Hervorhebung des betenden Ichs.9 Der für Gunkel nicht zentrale Schlussteil ist für Ernst Würthwein Basis der Interpretation. Er sieht in den V. 19 ff den Hinweis auf den Sitz im Leben des Psalms: ein kultisches Verfahren zur Feststellung der Unschuld des Beters. Daher werde auch um JHWHs Prüfung gebeten. Aus diesem Grund sei der Psalm kein positiv gestimmter Hymnus, sondern ein negativ konnotiertes Gebet, ein Klagegebet eines Angeklagten.10 Gegen Gunkels These, dass Psalm 139 als Hymnus zu verstehen sei, sieht er den Psalm als eine „rechte Vorbereitung für einen Menschen, der vor diesem Gott zur Verantwortung gerufen ist“11 und betont den normativen Charakter des Psalms. Würthwein siedelt den Psalm im Kult an und meint ein Gebetsformular eines wegen Götzendienstes Angeklagten und auf das Gottesurteil Wartenden zu erkennen. Dieser Position schließen sich Hans-Joachim Kraus (der weiterhin den Charakter einer Lehrdichtung12 und Problemdichtung13 von Psalm 139 betont) und Klaus Seybold14 an. Claus Westermann beschreibt anhand von Psalm 139 die Loslösung von Formen15 und erkennt die reflektierte Erweiterung der Unschuldsbeteuerung, 8 Zu diesem Begriff vgl. Bester, Körperbilder, 96 ff: „Mit dem ,betenden Ich‘ sind meines Erachtens die in den Psalmen mit ,Ich‘ verbundenen Vorstellungen und Implikationen treffend zusammengefasst (…). Die Psalmen sind keine spontanen Gebete, sondern kunstvoll gestaltete, poetische Texte. Das Ich, das in ihnen spricht, ist nicht gleichzusetzen mit einem bestimmten historischen ,Beter‘ oder gar dem Autor eines Psalms, sondern zunächst formal auf der Ebene des Textes zu verorten (…). Das Ich in den Individualpsalmen ist durch die grammatisch neutrale Form der 1. Person Singular, aber auch durch die in den Ich-Aussagen genannten Körperteile, die den Körper des betenden Ichs so gut wie nie geschlechtlich festlegen, weitenteils geschlechtlich indifferent (…). Mit der Rede vom ,betenden Ich‘ wird dieser grundsätzlichen Offenheit der Texte für ein männliches und weibliches Subjekt sprachlich Rechnung getragen.“ Daher ist das Ich überindividuell zu verstehen. Vgl. Maier, Beziehungsweisen, 174: „Obwohl das Gebet eine Momentaufnahme darstellt, kann die hier beschriebene Beziehung insofern als überindividuell angesehen werden, als der Text für verschiedene Situationen des Beters offen ist.“ 9 Vgl. Gunkel, Psalmen, 587. 10 Vgl. W rthwein, Ernst, Erwägungen zu Psalm CXXXIX, VT 7 (1957), 165–182. 11 W rthwein, Erwägungen, 180. Vgl. W rthwein, Erwägungen, 165 f: „Besonders wenig befriedigt m. E. das Resultat, zu dem die bisherige Forschung im Gefolge GUNKELS bei Ps CXXXIX gelangt ist.“ 12 Vgl. Kraus, Hans-Joachim, Psalmen, Bd. 2: Psalmen 60–150 (BKAT XV/2), Neukirchen-Vluyn 5 1978, 1094 f. 13 Vgl. Kraus, Hans-Joachim, Psalmen, Bd. 1: Psalmen 1–59 (BKAT XV/1), Neukirchen-Vluyn 5 1978, 64 f. 14 Vgl. Seybold, Klaus, Die Psalmen (HAT I/15), Tübingen 1996, 515. 15 Vgl. Westermann, Claus, Lob und Klage in den Psalmen, Göttingen 51977, 105 [Hervorhebung im Original]: „Die Schöpfungspsalmen sind die einzige Gruppe von Lobpsalmen im Psalter, in der sich ein Motiv zu einem selbstständigen Psalm entwickelt hat: 8; 19; (29); 104; 139; (148).
Zur Forschungsgeschichte des Psalms
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die ein Motiv der Klage des Einzelnen darstellt.16 Westermann und ebenso Siegfried Wagner zufolge begleiteten die Psalmen – und ganz besonders Psalm 13917 – die Menschen neben dem Kultgeschehen in ihrem Alltag und ihren Gedanken: Sprache und Dynamik der im Kult entstandenen Gattungen spielen darin eine wichtige Rolle.18 Daran anschließend nimmt die jüngere Forschung Abstand von einer eindeutigen Gattungsbestimmung, die ich im Folgenden darstelle.19 Psalm 139 sei eine weisheitliche Meditation über das intime Gottesverhältnis des Beters und über die Erfahrung der prüfenden Nähe Gottes. Die weisheitlichen Elemente betonen auch Erich Zenger, Walter Gross und Gönke Eberhardt, die den Psalm unabhängig von einem Kultgeschehen interpretieren.20 Maßgeblich geprägt wurde die Auslegung von Ps 139 durch die Forschungen von Gross, der anhand von Ps 139 das Bedrohliche der Nähe Gottes untersucht.21 Er erkennt in den Psalmen Gebete, die nicht einem abstrakten Reden über, sondern einem Ringen mit Gott entstammen. Gross versteht die Texte als Beschreibung von Gottes fremder und abgründiger Nähe. In Ps 139 liege das Bedrohliche der Nähe Gottes in seiner Allwissenheit und Omnipräsenz. Diese führen zu einer Flucht vor Gott. Eberhardt beschreibt, dass Psalm 139 inzwischen als ein Psalm mit positiven und negativen und auch ambivalenten Erfahrungen interpretiert wird.22 Auch die V. 19–22 werden mehrheitlich nicht mehr kategorisch aus der Analyse ausgeschlossen, sondern als wichtig für das Mensch-Welt- und das Gott-Mensch-Verhältnis erachtet. Psalm 139 wird als Lehrtext verstanden, in dem es um die Verhältnisbestimmung von Gott und Mensch geht: Der Mensch kann sich Gottes Blick nicht entziehen. Psalm 139 ist „nicht ein Traktat oder ein Hymnus über Gott und die Welt (…), sondern über Gott und den Menschen. Nicht zuletzt aus diesem Grunde sind Kategorien wie ,Allwissenheit‘, ,Allgegenwart‘ und ,Allwirksamkeit‘, mit denen in der Deutung des Psalms
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Jeder von ihnen ist ganz eigener Art. Diese Gruppe zeigt: Wo ein Motiv zu einem ganzen Psalm ausgeweitet wird, gibt es keine festen Formen mehr.“ Vgl. Westermann, Psalmen, 188. Vgl. Wagner, Siegfried, Zur Theologie des Psalms CXXXIX, VT.S 39 (1978), 357–376, 374: „Bemerkenswerterweise begegnet der Psalmsprecher Jahwe offenbar nicht im Raum der Geschichte (…) und nicht in den Gottesdiensten seines Volkes, sondern vielmehr in seinen Reflektionen.“ Vgl. Westermann, Psalmen, 188: „Die Psalmen hatten ihren Sitz im Leben nicht nur im Tempelgottesdienst. Sie gingen mit den Leuten aus dem Gottesdienst mit in ihr Leben draußen. Sie dachten über die Worte des Psalms nach, es ging ihnen daran etwas auf, was sie erfreute, erstaunte, was sie nicht verstanden hatten.“ Vgl. Maier, Beziehungsweisen, 175. Vgl. Zenger, Erich, Die Nacht wird leuchten wie der Tag. Psalmenauslegungen, Freiburg 1997, 467 f; Gross, Gottesnähe, 81; Eberhardt, JHWH, 148. Vgl. Gross, Gottesnähe, 65–83. Vgl. Eberhardt, JHWH, 130.
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vielfach sehr großzügig umgegangen wurde (…), fehl am Platz.“23 Eberhardt weist im Fall von Ps 139 auf den Charakter eines theologisch reflektierten Lehrtextes hin, der sich der Form eines Gebets bedient.24 In der folgenden Einzelexegese werde ich Ps 139 übersetzen und sprachlich analysieren, eine Gliederung des Textes erstellen, ihn unter literar- und redaktionskritischen Aspekten untersuchen und ihn in den Kontext des Psalters einordnen. In dem forschungsgeschichtlichen Überblick ist bereits deutlich geworden, dass die Interpretation des Psalms eng damit zusammenhängt, ob er als ganzer Psalm mit allen Versen wahrgenommen wird.25
3.2 Einzelexegese von Ps 139: Nähe und Flucht 3.2.1 Übersetzung 1 Dem Musikdirigenten. Von David. Ein Psalm. JHWH, du hast mich erforscht und erkannt. 2 Du, du hast erkannt mein Sitzen und mein Stehen, Du hast verstanden meine Absicht26 von fern. 3 Mein Wandern und mein Liegen hast du gemessen, und mit allen meinen Wegen warst du vertraut.
23 Eberhardt, JHWH, 153. 24 Vgl. Eberhardt, JHWH, 152: „Sowohl die engen Verbindungen des Psalms mit dem Hiobbuch, insonderheit mit dem Text Hi 10,2–22 und Hi 23,8 f., als auch seine elaborierte Komposition und die Verankerung in der weisheitlichen Tradition sprechen dafür, dass es sich nicht um einen kultisch oder privat verankerten Gebetstext, sondern um einen theologischen reflektierten Lehrtext handelt, der sich der Form des Gebetes bedient.“ 25 Vgl. Gross, Walter, Von YHWH belagert. Zu Ps 139,1–12, in: Ders. (Hg.), Studien zur Priesterschrift und zu alttestamentlichen Gottesbildern (SBAB 30), Stuttgart 1999, 173–183, 181: „Die Aussage des Ps 139 ist aus der Gewichtung und Zuordnung aller seiner Teile zu gewinnen.“ 26 In V. 2 liegt mit =FL@ ein textkritisches Problem vor. FL stammt von der aramäischen Wurzel 4/8FL („begehren/wollen/denken/planen“) und ist im Sinne von Wollen, Absicht und Gedanke nur in Ps 139 gebraucht (vgl. Gesenius, Handwörterbuch, 1252). Auch Hossfeld versteht FL als „ein aramäisches Lehnwort in der Bedeutung ,Absicht/Gedanke‘“ (Hossfeld, Frank-Lothar, Psalm 139, in: Ders./Zenger, Erich, Psalmen 101–150 [HThKAT], Freiburg im Breisgau u. a. 2000, 715). Das in einigen Handschriften belegte =F7@ könnte eine Buchstabenverwechslung sein. Doch auch umgekehrt k önnte =FL@ eine Verwechslung von =F7@ darstellen, da ý=FL in V. 17 begegnet. Dafür spräche auch, dass es zwar eine aramäische Wurzel 8FL („begehren/wollen/denken/planen“) gibt, diese aber meistens 4FL geschrieben wird. In diesem Fall bezöge sich =F7@ auf F7 („Wissen, Kenntnis“). Auch könnte dann der LXX, die =FL@ mit diakocisl|r („meine Gedanken“) übersetzt, eine Vorlage mit =F7@ vorgelegen haben. Doch: „Die in einigen hebr. Hss. belegte Lesart =F7@ ,mein Wissen‘ ist f ür die LXX–Vorlage unwahrscheinlich (gegen BHS App.), weil für
Einzelexegese von Ps 139: Nähe und Flucht
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4 Denn es ist kein Wort auf meiner Zunge, JHWH, das du nicht (schon) ganz gekannt hast. 5 Von hinten und vorne27 hast du mich eingeschlossen und Deine Handfläche auf mich gelegt. 6 Zu wunderbar ist deine Erkenntnis28 für mich, es ist unbegreiflich, ich vermag es nicht. 7 Wohin soll ich gehen vor Deinem Geist, wohin vor Deinem Angesicht soll ich fliehen? 8 Wenn ich hinaufstiege zum Himmel, dort bist du, bettete ich mich in der Unterwelt, siehe, du bist da. 9 Erhöbe ich die Flügel29 der Morgenröte, ließe ich mich nieder am hintersten Meer – 10 auch dort, Deine Hand führte mich, und ergreifen würde mich Deine Rechte. 11 Und spräche ich: „Nur Finsternis soll mich bedecken, und Nacht versperre mir Licht.“ 12 Auch Finsternis wäre nicht dunkel bei Dir, und Nacht leuchtete wie Tag, [gleichwie Finsternis ist Licht.]30
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Derivate von F7= immer der cmy-Stamm verwendet wird, hier dann also cm_sir o. ä. zu erwarten gewesen wäre (vgl. nur V .1b.2a.5a.6a).“ (Septuaginta, Erl äuterungen, 1860). Daher folge ich dem MT. LXX, Aquila, Symmachus und die Peschitta verbinden A7K9 L9;4 in V. 5 mit V. 4b. Das feminine Suffix von 8@? bezieht sich zwar auf das feminine Wort 8@B. Allerdings wird die Referenz, wenn man nur die Konsonanten betrachtet, weniger deutlich, da 8@? auch als „das Ganze/ganzes“ verstanden werden kann. So übersetzt auch die LXX p\mta („alle“). Den überzeugenden Einwand gegen die Textvarianten der LXX, Aquila, Symmachus und Peschitta verdeutlicht Hossfeld: „LXX verbindet V 4b mit der einleitenden Ortsangabe aus V 5a. Damit wird V 4a zum Monokolon. Der so erweiterte V 4b (,Siehe, Herr, du wei ßt alles, die Zukunft und die Vergangenheit‘) wird umgeformt zu einer Aussage von Gottes Allwissenheit über den gesamten Zeitverlauf.“ (Hossfeld, Psalm, 715). Diese Universalisierung ist eine bewusste Abweichung und passt zur Tendenz der LXX-Übersetzung des Psalters (vgl. Septuaginta, Erläuterungen, 751). Ich halte es f ür sinnvoll, dem MT und seiner Verseinteilung zu folgen. Die Übersetzung ohne Artikel ist schwierig und irritiert. Im textkritischen Apparat der BHS wird die Ergänzung des Artikels vorgeschlagen. Neben dem Artikel führt die LXX mit B cm_s_r sou das Personalpronomen der 2. Sg. an. Da es im Kontext der Verse um die Erkenntnis geht, die Gott über die betende Person hat, folge ich an dieser Stelle der LXX. Auch die Belege der LXX und Peschitta zu =HD? in V. 9 scheinen eine leichtere Lesart darzustellen. Das jat’ eqhqom („frühmorgens“) der LXX ist Ausdruck des Versuchs, den mythologischen Bezug zurückzudrängen (vgl. Septuaginta Deutsch, Erläuterungen und Kommentare, 1862 f). Die Wendung 8L94? 8?=M;? fällt wegen der Stichenlänge auf. Viele Ausleger deuten die Worte als Glosse (vgl. Seybold, Psalmen, 516: „Denn für JHWH ist – wie eine Glosse die theologische Quintessenz zusammenfasst [12b] – Finsternis wie Licht, d. h. es gibt keinen Unterschied.“; Westermann, Psalmen, 187; W rthwein, Erwägungen, 178; Kraus, Psal-
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13 Denn du hast meine Nieren geschaffen, Du hast mich im Bauch meiner Mutter gewoben. 14 Ich preise Dich dafür, dass ich furchtbar wunderbar gemacht bin, wunderbar sind Deine Werke, mein Ich weiß (das) genau. 15 Nicht war verborgen mein Gebein vor dir, als ich gemacht wurde im Verborgenen, buntgewirkt31 wurde ich in den Tiefen der Erde. 16 Mein Ungeformtes32 haben deine Augen gesehen, und in dein Buch wurden sie alle aufgeschrieben, die Tage wurden gebildet – und (noch) nicht einer von ihnen war (da).33 17 Aber mir – wie kostbar geworden sind deine Gedanken, Gott? Wie mächtig sind ihre Summen? 18 Würde ich sie zählen – sie wären zahlreicher als Sand. Ich erwachte und noch immer war ich bei dir. 19 Wenn du doch tötetest, Gott, den Gottlosen! Und ihr Blutmenschen, weicht von mir!
men 2, 1092). Andere plädieren für die Beibehaltung der Textstelle (vgl. Eberhardt, JHWH, 106: „Die verschiedenen griechischen Auslassungen gehen wahrscheinlich auf entsprechende aberrationes oculi zurück. 12c wird oft – meist ohne Begründung – als Glosse gestrichen, kann aber beibehalten werden. Der griechische Text von 12c beruht auf der Interpretation der femininen Wortendungen als Suffixe.“; Krasovec, Joze, Die polare Ausdrucksweise im Psalm 139, BZ 18 [1974], 224–248, 241). Ich deute die Worte aufgrund des unregelmäßigen Versmaßes als Glosse. Sie haben inhaltlich keine entscheidende, sondern höchstens eine relativierende Bedeutung. 31 Die Veränderung der LXX von =NBKL könnte aus Unkenntnis des seltenen AKL entstanden sein. Nach Hossfeld (vgl. Hossfeld, Psalm, 715) versteht die LXX =NBKL als Konstruktusform mit 1.Sg.m. des Substantivs 8BKL („Buntgewirktes“). Allerdings stünde dafür in Ps 44,14 die Wiedergabe pepoijikl]mg. „jai rp|stas_r lou kommt so jedenfalls nur noch in Ps 38,6.8 (vgl. Ps 88,48) vor, wo in ähnlicher Weise von Gottes Schöpfertätigkeit in bezug auf den Beter die Rede ist.“ (Septuaginta, Erläuterungen, 1865). 32 A@6 ist ein Hapaxlegomenon im Alten Testament. Auch in der LXX ist t¹ \jat]qcastom („das Ungeformte“) ein Hapaxlegomenon. Allerdings wird im talmudischen Hebr äisch der Begriff für den Embryo verwendet. Da dies zu dem schöpfungstheologischen Thema der Verse 13–16 passt, halte ich eine Übersetzung mit „meinen Embryo“ oder „mein Ungeformtes“ für sinnvoll. 33 BHS schl ä gt f ü r V. 16 eine Streichung bzw. eine Umstellung des Satzbaus vor. Obwohl V. 16b durch A@? auf A=B= in V. 16c vorausweist und diese Tatsache f ü r eine Umstellung spricht, halte ich am MT fest, da V. 16b durch die in V. 16 folgenden Worte dadurch inhaltlich erl ä utert wird, dass die Lebenstage in einem Buch aufgeschrieben sind, bevor sie eintreten.
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20 Sie, die mit Hinterlist über Dich reden, die sich gegen dich erheben, deine Feinde!34 21 Soll ich nicht hassen, die dich hassen, JHWH, und soll ich nicht Ekel empfinden vor denen, die gegen dich aufstehen? 22 Mit äußerstem Hass hasse ich sie. Feinde sind sie für mich geworden. 23 Erforsche mich, Gott, und erkenne mein Herz, prüfe mich und erkenne meine Gedanken. 24 Und siehe, ob ein Weg des Schmerzes bei mir ist und leite mich auf dem ewigen Weg.35
3.2.2 Gliederung und sprachliche Analyse Für die Gliederung ist zunächst die Rahmung zwischen V. 1 und 23–24 auffallend. Forschungskonsens besteht weitgehend darin, dass sich der Psalm in die V. 2–6 und 7–12 gliedern lässt. Ob ein weiterer Abschnitt in V. 16 oder 18 endet und ob daraus folgend der letzte Abschnitt mit V. 17 oder 19 beginnt, gilt es im Folgenden zu klären. Zenger versteht den Psalm als Gebetsweg, der von der Spannung der Rahmung zwischen V. 1 und 23–24 getragen und in diese eingebettet ist: Der Weg vom objektiven Erkanntwerden hin zum eigenen Lebensweg, der selbst gegangen werden müsse und zugleich identitätsstiftend von Gott begleitet werde. Dieser Gebetsweg werde auch in den vier weiteren Strophen des Psalms deutlich, die allesamt das Beziehungsgeschehen zwischen JHWH und dem Beter beschreiben (V. 2–6: JHWH – Beter, V. 7–12: JHWH – Kosmos – Beter, V. 13–16: JHWH – Beter, V. 17–22: JHWH – Gottlose – Beter).36 Hartenstein nimmt eine ähnliche Gliederung vor, obwohl er die V. 17–24 als einen Abschnitt liest und die Rahmung nicht besonders herausstellt: Der erste Abschnitt (V. 1–6) beschreibe
34 Nach Eberhardt (vgl. Eberhardt, JHWH, 108) ist ý=LF wohl ursprünglich mit @ statt L zu lesen und dann ist 4MD reflexiv mit „haben sich erhoben zur Lüge gegen dich“ zu übersetzen. So auch der Vorschlag der BHS. 4MD ist mit dem Namensmissbrauchsverbot in Ex 20,7 und Dtn 5,11 zu vergleichen und somit mit „erheben über“ zu übersetzen. 35 In V. 24 bezieht sich der textkritische Apparat auf 5JF. Der MT ist beizubehalten (vgl. Eberhardt, JHWH, 109), jedoch bleibt die Frage bestehen, wie 5JF zu übersetzen ist. Zur Debatte stehen eine Übersetzung im Sinne von „Mühsal/Beschwerde/Schmerz“ (vgl. Jes 14,3; 1Chr 4,9) oder mit „Götzenbild“ (vgl. Jes 48,5). Für die Übersetzung von 5JF sind der Inhalt und die Bezüge innerhalb des Psalms entscheidend. Vgl. dazu in dieser Studie Kapitel 3.2.2 Gliederung und sprachliche Analyse. 36 Vgl. Zenger, Erich, Ich will die Morgenröte wecken. Psalmenauslegungen, Freiburg 21996, 245 f; Zenger, Nacht, 467 f.
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Die Nähe Gottes in Psalm 139
das Problem der ambivalenten Gottesnähe, die nächsten beiden Abschnitte (V. 7–12.13–16) thematisierten Gott als Horizont des Menschen und der vierte Abschnitt (V. 17–24) benenne die Folgerungen angesichts der Theodizee.37 Diesen vierten Abschnitt teilt er wiederum in drei Unterabschnitte ein: das Resümee (17–18), die Bitte um Gottes Gericht (19–22) und die Bitte um Prüfung (23–24).38 Etzelmüller begründet diese vierteilige Gliederung mit dem Stilmittel der rhetorischen Frage in V. 7 und V. 17 sowie dem nur in Ps 139 belegten FL im Eröffnungsvers der ersten und vierten Strophe.39 Wagner und Seybold vertreten auch eine weitgehend vierteilige Gliederung, sehen jedoch die V. 13–18 als einen Abschnitt und dementsprechend die V. 19–24 als einen weiteren.40 Da Seybold V. 1a als Überschrift deutet, spricht er von fünf Abschnitten. Die V. 13–18 versteht er als Erinnerung, die V. 19–24 als Appell. Wagner begründet seine Gliederung mit den inhaltlichen Zäsuren nach den V. 6.12 und 18.41 Anders als in diesen Gliederungen versteht Eberhardt die V. 7–18 als einen Abschnitt, erkennt drei große Hauptteile mit zwei Zwischenrufen und kommt daher zu folgender Struktur: 1–6.7–18.19–22.23–24.42 Ich gliedere den Psalm unter dem Gesichtspunkt der dargestellten Beziehung zwischen Gott und dem betenden Ich. Die Beziehung zeichnet sich durch eine ambivalente Beschreibung der Nähe Gottes aus. Ein entscheidendes Merkmal von Psalm 139 ist, dass das betende Ich nicht über Gott spricht, sondern ihn anspricht.43 JHWH wird dreimal namentlich genannt (V. 1.4.21) und zweimal mit den generellen Begriffen für Gott als 89@4 (V. 19) und @4 (V. 23) bezeichnet.44 Gott wird zweimal direkt mit 8N4 angesprochen (V. 2.13) und ansonsten mit Personalpronomina bezeichnet. Letztere sind besonders in den V. 1–6 und 13–18 auffällig, so dass man in diesen Abschnitten von einer Du – Ich – Beziehung sprechen kann. V. 1 verstehe ich dabei als Überschrift, die sich durch den Neueinsatz 8N4 von V. 2 deutlich abgrenzt und inhaltlich 37 Vgl. Hartenstein, Gott, 498. 38 Vgl. Hartenstein, Gott, 498. 39 Vgl. Etzelm ller, Gregor, Überlegungen zur Schöpfungstheologie in Psalm 139, in: Brandt, Sigrid (Hg.), Resonanzen. Theologische Beiträge (Michael Welker zum 50. Geburtstag), Wuppertal 1997, 324–334, 324. 40 Vgl. Wagner, Theologie, 359; Seybold, Psalmen, 516 ff. 41 Vgl. Wagner, Theologie, 359. 42 Vgl. Eberhardt, JHWH, 112. 43 Vgl. Krasovec, Ausdrucksweise, 245: „Das ergibt sich aus dem vertieften Verständnis der ,DuIch‘-Redeweise. Die wichtigste Besonderheit Israels ist nämlich eben in der Möglichkeit der ,Anredbarkeit‘ Gottes zu sehen.“ 44 Auf den ersten Blick entsteht der Eindruck, dass 898= in denjenigen Versen verwendet wird, in denen die besonders enge Beziehung zwischen JHWH und dem betenden Ich beschrieben wird. Demgegenüber würden dann die Verse, die @4 oder 89@4 gebrauchen, sich eher auf die Tradition und damit auch Gottes Verheißungen beziehen (vgl. Hakizimana, Giscard, Der Mensch als Gefährte Gottes. Untersuchungen zu Struktur und Theologie von Ps 139 [FzB 132], Würzburg 2015, 177–181). Hakizimana übersieht jedoch die Verwendung von 898= in V. 19. Außerdem trägt seine Argumentation nur bedingt, da z. B. in den V. 1 und 23 bei ähnlichem Inhalt unterschiedliche Gottesnamen verwendet werden.
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mit den V. 23–24 einen Rahmen bildet. Vor allem in V. 1–6 wird durch die vehemente Anrede die Beziehung zwischen Gott und dem betenden Ich charakterisiert. In den V. 7–12 wird eher aus der Perspektive des betenden Ichs gesprochen (Ich – Du – Beziehung). Zu einer Erweiterung der Beziehung zwischen Gott und dem betenden Ich kommt es in den Versen 19–22, in denen die Welt und Umwelt des betenden Ichs in das Geschehen einbezogen wird. Wieder im Sinne der Rahmung zwischen den ersten und den letzten Versen des Psalms steht in den V. 23–24 erneut die Du – Ich – Beziehung im Mittelpunkt. Daher sind meines Erachtens die Ich – Du – Struktur des Psalms und die Sprechrichtung bzw. der Subjektwechsel bei der Gliederung vorrangig zu behandeln. Dieser Subjektwechsel (Ich – Du, Du – Ich), die sprachliche Gestaltung, z. B. die verwendeten Tempora, die Terminologie und der Inhalt führen zu folgender Gliederung, die die Rahmung (1.23–24) und vier Strophen (2–6.7–12.13–18.19–22) enthält: Rahmen: V. 1 V. 1:
Erforschtsein durch Gott
Abschnitt A: Vv. 2–6 (Du-Ich-Beziehung) Vv. 2–3: Vv. 4–5: V. 6:
Erkanntwerden durch Gott Übermächtige Nähe Gottes Fazit und Eingeständnis des eigenen Nicht-Begreifens
Abschnitt B: Vv. 7–12 (Ich-Du-Beziehung) Ausweglose Flucht im Raum: Himmel – Unterwelt, Morgenröte – Meer Vv. 11–12: Ausweglose Flucht in der Zeit: Finsternis – Licht, Nacht – Tag Vv. 7–10:
Abschnitt C: Vv.13–18 (Du-Ich-Beziehung) Vv.13–16: Vv.17–18:
Schöpfungserkenntnis des betenden Ichs Staunendes Unvermögen Gottes Gedanken zu erfassen
Abschnitt D: Vv. 19–22 (Du-Ich-Feinde) Vv. 19–20: Bitte um Gottes Eingreifen Vv. 21–22: Positionierung des betenden Ichs gegenüber Gott und den Feinden Rahmen: Vv. 23–24 Vv. 23–24: Bitte um Prüfung und Leitung durch Gott
Im Folgenden werde ich diese Gliederung inhaltlich begründen. Die verwendeten Tempora sind u. a. für diese Aufteilung des Psalms aufschlussreich,
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da die Zeitformen den inhaltlichen Abgrenzungen in Psalm 139 weitgehend zu entsprechen scheinen. Anhand der vorgeschlagenen Gliederung erläutere ich die inhaltlichen Schwerpunkte und Bezüge untereinander und weise auf die kunstvolle sprachliche Gestaltung hin. Die Überschrift und die erste Strophe (2–6) sind bis einschließlich V. 5 in Formen des Perfekts verfasst. Dazu werden zweimal der Infinitiv constructus und einmal das Imperfekt consecutivum verwendet. V. 6 ist aus der Perspektive des Tempusgebrauchs ein Übergangsvers, da sowohl eine Perfekt- als auch eine Imperfektform verwendet werden. Strittig ist die Übersetzung der Verbformen der ersten fünf Verse. Anschließend an Gross habe ich die V. 1–5 in der Vergangenheit übersetzt.45 Trotz unterschiedlicher Temporaverwendung (Perfekt gegenüber Imperativ) und unterschiedlicher Gottesnamen (V. 1: 898=, V. 23: @4) stimmen V. 1 und V. 23–24 inhaltlich überein und rahmen Ps 139. Es geht um die Prüfung und das Erkanntwerden durch Gott. Dazu bestimmt ein gemeinsames Wortfeld die V. 1b–3b und 23–24, wozu auch die Verwendung des Wortes ýL7 in den V. 3b.24a und 24b gehört. Auch die V. 2–4 sind inhaltlich eng aufeinander bezogen. Beide Verse betonen das Erkennen (F7=) Gottes, indem V. 2 Gott zuschreibt, alle Lebensbereiche des betenden Ichs zu kennen, und V. 4 (beginnend mit der erklärenden Konjunktion =?) mit Verneinungen ausdrückt, dass es kein Wort gibt, welches Gott nicht kennt. Nach Hartenstein beschreibt V. 5 die Ambivalenz der Nähe Gottes als ein Erkenntnisproblem.46 Dieser Vers unterstreicht den Eindruck der Belagerung von allen Seiten, auf die die Fluchtversuche in den folgenden Versen reagieren.47 V. 2b weist auf die zahlreichen Wortverbindungen innerhalb des Psalms hin, in diesem Fall mit V. 17 (FL), V. 6a und 14b (4@H). Die V. 7–12 verwenden durchgängig Imperfektformen und drücken in starker bildhafter Sprache die Fluchtversuche des betenden Ichs aus.48 Die V. 8–12 sprechen kosmisch-geographische Vorstellungen an und sind unter Raumgesichtspunkten beachtenswert. Sie beschreiben ein umfassendes Bild der Wirklichkeit: die vertikale (Himmel – Scheol/Unterwelt), die horizontale (Flügel der Morgenröte – hinterstes Meer) und die zeitliche Dimension (Tag – 45 Vgl. Gross, YHWH, 176: „Der Psalmist (…) spricht nicht von gegenwärtigen Sachverhalten, sondern von seinen zurückliegenden und abgeschlossenen Erlebnissen, deren Konsequenzen allerdings in seine und YHWHs Gegenwart hinreichen (…) er berichtet, wie er von YHWH völlig ausgeforscht und erkannt wurde.“ 46 Vgl. Hartenstein, Gott, 498 f. 47 Vgl. Gross, Gottesnähe, 77. 48 Für die Verse 8–12 habe ich eine Übersetzung der Formen mit dem Irrealis gewählt, weil sie die Unmöglichkeit der Flucht vor JHWH beschreiben und rhetorischen Gehalt haben. Vgl. Gross, Gottesnähe, 77: „Zu dem Block der Ich-Sätze mit den Fluchterwägungen V. 7–12 zunächst eine grammatische Vorbemerkung: Es gibt keinen modus irrealis im Hebräischen. In Bedingungssätzen, die nicht mit 9@, sondern mit A4 gebildet sind, wie hier in V. 8, entscheiden wir aus rein inhaltlichen Gründen, ob wir eine reale oder eine irreale Bedingung annehmen, und legen uns durch unsere Übersetzung differenzierter fest, als der hebräische Text dies tut.“
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Nacht, Licht – Finsternis). Diese Horizontmetaphorik drückt nach Gross und Zenger49 die zum Scheitern verurteilten Fluchtversuche des Beters aus: JHWH ist über Raum und Zeit erhaben.50 Krasovec macht auf den polaren Ausdruck aufmerksam, der die V. 7–12 prägt51 und den kategorialen Unterschied zwischen Gott und Mensch beschreibt: Der Mensch kann sich zu einer bestimmten Zeit nur einer bestimmten Tätigkeit widmen, während Gott zugleich alle Dimensionen umfasst.52 Dass Gott den Menschen in diesen Dimensionen führt und leitet (V. 10), kann sowohl positiv53 als auch ambivalent54 bewertet werden. Die V. 10 und 12 sind durch die Konjunktion A6 verbunden. Auch diese Strophe weist zahlreiche Wortverbindungen innerhalb des Psalms auf: V. 8a und V. 19a (A4), V. 9a und 20b (4MD), V. 10a und 24b (8;D) und V. 11a und 20a (LB4). Diese sprechen sowohl für das Ineinander-Verwobensein des Psalms als auch für seine innere Dynamik, so ist z. B. zwischen V. 6a und 14b die Bewegung vom Erkennen zum Loben des Wunders der Schöpfung deutlich sichtbar. Die V. 13–18 sind mehrheitlich im Perfekt gehalten, jedoch tauchen in den Versen 13.14.16 jeweils eine Imperfektform und in V. 18 zwei Imperfektformen auf. Außerdem werden in den V. 14 und 15 dreimal Partizipien verwendet. Die Strophe beginnt mit einer begründenden Konjunktion (=?), die sich auf den Inhalt der vorherigen Verse bezieht. Die Aussagen in V. 13 beziehen sich auf den gesamten Psalm, da das in diesem Vers vorkommende 8N4 in Bezug zu der direkten Anrede mit 8N4 in den V. 2 und 8 steht.55 Während V. 13 das Bilden bzw. Erschaffen des Menschen durch Gott beschreibt, ist das Thema von V. 15 das Beobachten Gottes bei der Schöpfung des Einzelnen vor seiner Geburt. Die V. 17–18 thematisieren das staunende Unvermögen, Gottes Gedanken ganz zu erfassen. In der den Menschen verborgenen Entstehung des Menschen wird Gott ein besonderes Wissen zugewiesen: Er weiß um den Ursprung des einzelnen Menschen; er weiß, woher die Person kommt. Wie schon in V. 12 die Ausweglosigkeit einer Flucht vor Gott ausgedrückt wird, 49 Zenger, Psalmen, 1203: „V. 7–12 steigert noch die Ambivalenz der Allgegenwart JHWHs. Mit mehreren Paradoxien betont er die Unmöglichkeit, dem Herrschaftsbereich JHWHs zu entkommen.“ 50 Vgl. Bernhardt, Karl-Heinz, Zur Gottesvorstellung von Ps 139, in: Benckert, Heinrich (Hg.), Kirche – Theologie – Frömmigkeit (FS Gottfried Holtz), Berlin 1965, 20–31, 24. 51 Vgl. Krasovec, Ausdrucksweise, 233. 52 Vgl. in Bezug auf Ps 139,8: Kr ger, Thomas, Zur Sicht des Todes in Ps 139, BN, NF 169 (2016), 77–82, 80: „So wie der Mensch am Anfang seines Lebens von Jahwe in der Dunkelheit des Mutterleibs geschaffen wurde, so wird er sich am Ende bei Jahwe und von ihm umgeben in der Dunkelheit der Unterwelt zu Ruhe legen und sein Leben beenden. So ist der endliche Mensch nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich ,hinten und vorne‘, am Ende wie am Anfang seines Lebens, von Gott umschlossen – weil Gott nicht nur ein Gott der Lebenden ist, sondern auch der Toten (und der noch nicht Geborenen).“ 53 Vgl. Maier, Beziehungsweisen, 178. 54 Vgl. Eberhardt, JHWH, 124 f. 55 Vgl. Eberhardt, JHWH, 130.
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beschreibt auch V. 15 die Unmöglichkeit einer Flucht vor Gott, diesmal jedoch dadurch begründet, dass der Mensch Gott von Anfang an nicht verborgen gewesen ist.56 Der Ton in V. 15 ist ein anderer, nahezu positiver. Das unterstreicht auch V. 16b, der verdeutlicht, dass die Ereignisse im Leben des betenden Ichs von Gott bestimmt werden. LHE („Buch“) kann bedeuten, dass das betende Ich weder vergessen noch verloren gehen kann, da es von Gott aufgezeichnet wurde. Die Vorstellung, dass Gott Buch über den Menschen führt, ist nicht einzigartig im Alten Testament (vgl. Ps 69,29). Allerdings ist der Gedanke neu, dass das Buch Gottes nicht nur alle Taten des Menschen, sondern auch alle zukünftigen Lebenstage eines noch nicht geborenen Menschen umfasst.57 Dieses Eingeständnis des betenden Ichs in V. 16 verstehe ich als Vertrauensaussage zu Gott (vgl. Ps 31,16a) und nicht als Ausdruck einer negativen Bestimmung der Einengung (vgl. Hi 5,5 f). Die Bedrängnis und Fremdheit Gottes ist der Einsicht in das Schöpfungsgeschehen gewichen. In den V. 19–22 werden fast abwechselnd Imperfekt- (vier) und Perfektformen (drei) verwendet. Dazu tauchen in den V. 21 und 22 zwei Partizipien und ein Imperativ in V. 19 auf. Die V. 23–24 sind durchgängig im Imperativ verfasst. V. 24 ist als Bitte zu verstehen, den Beter vor dem Verhalten derer zu bewahren, die falsch über Gott reden (Ps 139,19–21). Diese Haltung kann als kränkende Missachtung Gottes verstanden werden; deshalb halte ich – mit Hubert Irsigler58 – eine Übersetzung von 5JF in V. 24 mit „Kränkung“ oder „Schmerz“ für sinnvoll. Insgesamt befassen sich die V. 19–24 mit der Treue des betenden Ichs gegenüber Gott im Gegensatz zu denen, die sich von Gott abwenden. Das betende Ich positioniert sich klar zu dem Verhalten der Gottlosen und versucht, in seinem Verhältnis zu Gott und gegenüber den Gottlosen seine Glaubwürdigkeit zu vermitteln.59 In diesem Sinne gehören die V. 19–22 konstitutiv zu dem Psalm. Ps 139 fällt durch eine kunstvolle sprachliche Gestaltung auf: Das Versmaß ist vor allem durch einen 3+3 Rhythmus geprägt und bietet überwiegend Bikola (in V. 16 deren zwei). V. 1b stellt „ein isoliertes Kolon als
56 Vgl. Eberhardt, JHWH, 137. 57 Vgl. Behler, Gebhard Maria OP, Der nahe und schwer zu fassende Gott. Eine biblische Besinnung über Ps 139 (138), BiLe 6 (1965), 135–152, 147 f. 58 Vgl. Irsigler, Hubert, Psalm 139 als Gebetsprozess, in: Ders./Olason, Kristinn (Hg.), „Wer darf hinaufsteigen zum Berg JHWHs?“. Beiträge zu Prophetie und Poesie des Alten Testaments (FS Sigurdur Örn Steingr msson, ATSAT 72), St. Ottilien 2002, 223–264, 232 [Hervorhebung im Original]: „Davon, dass sie eigentlichem Götzendienst frönen, ist nicht die Rede! Der Kontrast zu V. 19–21 ist am besten gewahrt, wenn usb im weiten Sinn als ,Kränkung‘ Gottes interpretiert wird. Solche Kränkung kann freilich falsche Rede von Gott, im übertragenen Sinn als ,abgöttisch‘ verstanden, einschließen, setzt jedoch keine Anklage wegen ,Götzendienst‘ voraus!“ 59 Vgl. Eberhardt, JHWH, 143: „Auf diese Weise dient das Feindmotiv dazu, Gott von der Gerechtigkeit und Integrität des Beters zu überzeugen.“
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Motto-Angabe“60 dar. In V. 12 wirkt das Versmaß durch eine Glosse gestört. Die V. 14 und 15 bieten Trikola. V. 16 enthält zwei 3+3 Verszeilen.61 In Psalm 139 fallen aramäisierende Formen in den V. 3 (=F5L „mein Liegen“), 4 (8@B „Wort“), 8 (K@E „hinaufsteigen“) und 16 (A@6 „mein Ungeformtes“) auf.62 Diese Lehnworte bzw. durch das Aramäisch beeinflusste Formen sprechen für eine späte Entstehung des Texts.63 13 Verse beginnen mit 4, insbesondere in den V. 7–9 und V. 18–19 in einer erstaunlichen Dichte. Dies verleiht dem Psalm einen akrostichischen Charakter. Alliterationen treten in den V. 1, 6 (@), 7 (4), 8 (4 und M), 12 (?), 14 (D), 16 (=) und 22 (M) auf. Lautauffälligkeiten bestehen vor allem im V. 11 (Assonanzen), im V. 19 (Sibilanten) und den V. 21 und 22 (Lautspiel M D 4) und Paronomasien in den V. 2b.3a, 2b.7a und 3b.13b. Diese variantenreichen Formen erweisen den Text als hochgradig stilisiert.
3.2.3 Die Verben in Ps 139 als Beschreibung der ambivalenten Nähe Gottes Für die Deutung des gesamten Psalms sind die Verben besonders relevant. Mit ihnen lässt sich die ambivalente Beschreibung der Nähe Gottes aufzeigen.64 In V. 1 drücken die Verben LK;65 („erforschen“) und F7= („erkennen“) die Motive des Erforschens und Erkennens aus, die den gesamten Psalm prägen. Die Verben werden mehrfach verwendet (F7= in den V. 1b.2a.4b.6a[als Nomen].14c.23a und LK; in den V. 1b.23a). Subjekt des Durchschauens ist in beiden Fällen JHWH (vgl. Ps 44,22). In V. 2 erfasst (C=5 „verstehen/unterscheiden“) Gottes Nähe K9;LB („von fern“) das betende Ich. C=566 beschreibt das göttliche Wissen und Verstehen: „Keine Lebensäußerung ist zu gering, als dass sie nicht Gegenstand der Wahrnehmung Gottes wäre.“67 Das Verb 8L: („messen“) in V. 3 verstärkt diesen Gedanken der ständigen und genauen Aufmerksamkeit Gottes. In V. 5 wird die Nähe durch die Verwendung des Verbs L9J („einschließen/ 60 61 62 63 64 65
Irsigler, Psalm, 227. Vgl. die einheitliche Struktur von V. 3–9 in der Darstellung der BHS. Vgl. Gunkel, Psalmen, 590. Vgl. Seybold, Psalmen, 515. Vgl. Kçckert, Gott, 426. Vgl. Gross, Gottesnähe, 76 [Hervorhebung im Original]: „HQR mit göttlichem Subjekt bezeichnet zwar eine intensive richterliche Prüfung, aber da der Psalmist sich keiner Schuld bezichtigt, muss er eine derartige Untersuchung nicht fürchten.“ 66 Vgl. Ringgren, Helmer, Art. C=5, ThWAT I, 1973, 621–629, 621–624 [Hervorhebung im Original]: „Die Wurzel C=5 hängt mit dem als Präposition gebrauchten Substantiv bajin, ,Zwischenraum‘ zusammen (…). Die Grundbedeutung ist somit ,unterscheiden‘ (…). Schon mehrmals wurde mit C=5 Verstehen übersetzt. (…) Ps 139,2: Gott ,versteht‘ unsere Gedanken von ferne.“ 67 Vgl. Hartenstein, Gott, 498.
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einengen“) negativ konnotiert beschrieben.68 Peter Riede hebt hervor: Das Verb „ist Terminus technicus für Belagerung. Es steht für die Belagerung von Städten oder von Personen, die sich in die Sicherheit von Städten zurückgezogen haben.“69 Die Verwendung von L9J führt zu einer negativen Konnotation: „Nimmt der Leser die Nähe Gottes anfänglich noch als ambivalent wahr, so zeigt sich in V. 5 endgültig ihre erschreckende Seite. Gottes Nähe, andernorts händeringend erfleht, erscheint hier als unverhüllte Drohung.“70 Eberhardt kommt zu einem ähnlichen Ergebnis: Ihrer Auslegung nach lassen die V. 1–4 noch eine positive Deutung zu, während V. 5 eindeutig negativ konnotiert sei.71 Auch Maier sieht in V. 5 den entscheidenden Vers für die Deutung des ersten Teils von Psalm 139: „Von V. 5 her gelesen endet also der erste Abschnitt des Psalms nicht im Staunen, sondern in der Verzweiflung: Die Beterin versteht sich als von Gott bedrängt, umgriffen, als machtlos ihm gegenüber.“72 Hartenstein sieht in Psalm 139 das Leiden an der übermächtigen Nähe Gottes beschrieben und bezieht sich in seiner Deutung auch auf den entscheidenden V. 5: „Dieses Problem der Ambivalenz der Gottesnähe wird in Ps 139,5 f. präzise als ein Erkenntnisproblem formuliert (…).“73 Dem betenden Ich ist die Erkenntnis zu wunderbar (4@H) und unbegreiflich (56M). Die Wurzel 4@H74 taucht auch in V. 14 auf und stellt die Unbegreiflichkeit der göttlichen Schöpfung für das betende Ich im Psalm dar. Die Fluchtgedanken in V. 7–12 tragen entscheidend zur Deutung der Nähe Gottes als bedrohlich bei.75 Dies wird v. a. in den V. 5 und 7 deutlich: „Von vorn und hinten, also von allen Seiten eingeschlossen, bin ich umzingelt wie eine belagerte Stadt, und auf mir liegt drückend seine flache Hand. Aus diesem Belagerungsring sind Ausbruchsversuche zwecklos.“76 Insbesondere wird dies in V. 7 durch das negativ konnotierte Verb ;L5 („fliehen“) ausgedrückt. ;L5 drückt eine Einengung aus und beschreibt den Versuch, vor Gott zu fliehen (Hos 12,13; Hi 27,22). ;L5 drückt die Unmöglichkeit aus, dass Einzelpersonen, z. B. Sklaven, vorgegebene Abhängigkeitsstrukturen verlassen und kann auch 68 Vgl. Eberhardt, JHWH, 116. 69 Riede, Peter, Im Netz des Jägers. Studien zur Feindmetaphorik der Individualpsalmen (WMANT 85), Neukirchen-Vluyn 2000, 76 f [Hervorhebung im Original]. Vgl. auch Thiel, Winfried, Art. L9J, ThWAT VI, 1989, 968–973, 969: „Es ist eine Nebenform zu srrI und hat die ˙ Grundbedeutung ,einbinden, einschnüren, verschnüren‘. (…) Von der Bedeutung ,einschnüren‘ her wird s r zur Bezeichnung des ,Einschließens‘ und dadurch zum term. techn. des ˙ ,Belagerns‘.“ 70 Kçckert, Gott, 428. 71 Vgl. Eberhardt, JHWH, 119. 72 Maier, Beziehungsweisen, 177. 73 Hartenstein, Gott, 499 [Hervorhebung im Original]. 74 Conrad, Joachim, Art. 4@H, ThWAT VI, 1989, 596–583, 570 [Hervorhebung im Original]: „Bei den Belegen geht es stets um Sachverhalte, die für den Menschen unbegreiflich sind, also sein Erkenntnis- und Vorstellungsvermögen übersteigen. Von da aus gesehen legt sich die übliche Wiedergabe des niph mit ,wunderbar sein‘ auch als Grundbedeutung nahe.“ 75 Vgl. Kçckert, Gott, 431 f. 76 Kçckert, Gott, 427.
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für eine zum Scheitern verurteilte versuchte Flucht vor Gott verwendet werden.77 Somit beinhaltet das Verb auch „die Nuance des Unausweichlichen, von Gott Gefügten am Wort“78 und beschreibt eine Spannung, in der Gott die Rolle eines Feindes zukommt.79 Die Verwendung von ;L5 in V. 7 wirft ein negatives Licht auf den gesamten ersten Teil des Psalms (V. 1–12). In V. 10 sind die Verben 8;D („führen“) und :;4 („ergreifen“) für die Deutung der Nähe Gottes von Bedeutung. Ersteres stellt eine Brücke zu V. 24 dar. Ob das betende Ich geführt oder ergriffen wird, bleibt vom Hebräischen her offen und unterstreicht die ambivalente Beschreibung der Nähe Gottes. Nach Eberhardt seien die V. 7–12 nicht durchweg negativ zu verstehen.80 Gross dagegen deutet den gesamten ersten Teil (V. 1–12) als negative Beschreibung der Nähe Gottes: „Der Teil 1–12 bewertet das (bisherige) Gottesverhältnis des Beters ausschließlich und massiv negativ: Der Psalmist erfuhr sich als von diesem Gott belagert.“81 Köckert betont die Ambivalenz der Nähe Gottes in Ps 139 insbesondere anhand der Verben der V. 1–12 und kommt zu dem Ergebnis, dass Ps 139,1–12 negativ zu deuten sei: Die Fluchtgedanken machten die Bedrohung der Gottesnähe gewiss.82 Die V. 13–18 stellen zu den vorherigen eine Gegenbewegung dar, da sie das Bild von Gott als Schöpfer zeichnen, der wohlwollend auf das noch ungeborene Leben schaut und das betende Ich erst ins Dasein bringt. Die verwendeten Verben sind positiv konnotiert (8DK „erschaffen/schaffen“, ý?E „weben“, 8L= „preisen“, 4@H „wunderbar sein“, AKL „bilden“, LJ= „bilden/formen“). Die Verben in den V. 19–22 drücken starke Gefühle aus (u. a. 4DM „hassen“) 77 Vgl. Jenni, Ernst, „Fliehen“ im akkadischen und im hebräischen Sprachgebrauch, in: Ders., Studien zur Sprachwelt des Alten Testaments, Stuttgart/Berlin/Köln 1997, 72–81, 79; Riede, Netz, 79 f: „Schon daß V. 7b das Verb ;L5 verwendet, zeigt, daß die Aussagen in V. 1–12 nicht positiv konnotiert sein können. (…) Wenn ;L5 die Flucht von Einzelpersonen umschreibt, handelt es sich fast immer um Sklaven oder anderweitig abhängige Personen und um Untertanen eines Königs. Meist wird dann der frühere und, sofern die Flucht gelingt, auch der neue Herrschaftsbereich ausdrücklich genannt. Vor allem Jona 1,3.10; 4,2 unterstreichen diese Interpretation, vgl. z. B. Jon 1,3.“ 78 Gamberoni, Johann, Art. ;L5, ThWAT I,1973, 778–781, 780. 79 Vgl. Riede, Netz, 82: „Anders ist es in den betreffenden Passagen des Hiobbuches und in Ps 139,1–12. Hier wird das Bild der Belagerung jeweils intensiviert, was die Art und Verwendung von Waffen und Belagerungstechniken angeht, aber auch was den Gegner des Beters betrifft: Es ist Gott selbst, der als Feind auftritt und ihm mit kriegerischen Handlungen begegnet. Die Gottklage übernimmt hier Elemente der Feindklage.“ 80 Vgl. Eberhardt, JHWH, 130: „Wie bereits die Verse 1–4 ist der Absatz 7–12 in beide Richtungen, positive wie negative deutbar.“ Gegen die Deutung einer verzweifelten Flucht vor Gott und einer Wendung in V. 13 spricht sich Brown aus. Sie bietet eine positive Deutung. Vgl. Brown, William, Creatio Corporis and the Rhetoric of Defense in Job and Psalm 139, in: Brown, William P./McBridge Jr., S. Dean (Hg.), God who creates (Essays in Honor of W. Sibley Towner), Grand Rapids/Michigan, Cambridge/U.K. 2000, 107–124, 110 f: „The fact that the psalmist cannot escape from God’s searching presence is, however, no reason to lament. It is, to the contrary, his source of comfort and basis of appeal.“ 81 Gross, YHWH, 181. 82 Vgl. Kçckert, Gott, 430.
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und stellen einen inneren Konflikt dar: Das betende Ich wird als verfolgt beschrieben. Es ist von dem Reden und Handeln der Gegner Gottes angefochten. Die Beziehung der Gegner zu Gott steht im klaren Gegensatz zum Gottesverhältnis des betenden Ichs in den V. 13–18. Während sich das betende Ich in den V. 19–22 deutlich als zu Gott stehend erklärt, können die folgenden V. 23–24 als Befragung dieser Selbsteinschätzung gedeutet werden. Die Bitten, Gott möge den Beter erforschen (LK; „erforschen“, F7= „erkennen“, C;5 „prüfen“) und auf den eigenen Weg leiten (8;D), verdeutlicht die Fragilität der eigenen Orientierung. Zusammengefasst lassen sich mit den mehrfach verwendeten Verben die vielen Verbindungen der Verse untereinander belegen. Außerdem ist folgende Dynamik im Psalm zu erkennen: Die Überschrift (V. 1) und die erste Strophe (V. 2–6) beschreiben die Ambivalenz der Nähe Gottes. Dabei ist V. 5 negativ konnotiert (L9J „einschließen/einengen“). Dadurch erscheint der Beter in der gesamten ersten Strophe machtlos und bedrängt von Gott. Die zweite Strophe (V. 7–12) schließt daran an und beschreibt die Fluchtgedanken des betenden Ichs. Dies wird besonders an dem verwendeten Verb (;L5 „fliehen“) deutlich, das aus dem Kontext struktureller Abhängigkeitssituationen (z. B. Sklaverei) kommt. Die Verben der Schöpfungsthematik in den V. 13–16 schildern im Kontrast zur zweiten Strophe den tiefen Grund der Beziehung zwischen dem betenden Ich und Gott. Dieser erkannte Grund wirkt identitätsstiftend und führt zu einer Positionierung gegenüber Anderen (V. 19–22) und zu einer kritisch-reflektierenden Haltung der eigenen Position vor Gott (V. 23–24). 3.2.4 Literarkritische und redaktionskritische Überlegungen Wie eben gezeigt, sind die Bezüge einzelner Worte und Verse in Ps 139 zueinander so eng, dass er mit Ausnahme der Glosse in V. 12b als Einheit verstanden werden muss.83 Mit den Gegnern wird ab V. 19 eine neue Größe im Psalm erwähnt und die V. 19–24 erinnern an die Feindthematik in den Klagepsalmen. In der Forschung wird diskutiert, inwieweit diese mit den V. 1–18 in Verbindung stehen oder ob sie insgesamt später hinzugefügt wurden.84 Meiner Meinung nach findet in diesem Schlussteil des Psalms eine Positionierung des Beters statt, ohne die der Psalm insgesamt unvollständig erscheinen würde. Zum Gottes- und Selbstverhältnis gehört das Weltverhältnis dazu. Das betende Ich begreift sich als in der Schöpfer-Geschöpf-Beziehung stehend, was sich auch auf sein Weltverhältnis auswirkt, das in der vierten Strophe (V. 19.22) thematisiert wird.85 Aus dieser Verbindung zu Gott entwi83 Vgl. dazu in dieser Studie Kapitel 3.2.1 Übersetzung. 84 Vgl. dazu in dieser Studie Kapitel 3.1 Zur Forschungsgeschichte des Psalms. 85 Vgl. Maier, Beziehungsweisen, 180: „Ausgelöst durch die Reflexion über Gottes Macht über die Finsternis (V. 12) setzt mit V. 13 also ein Stimmungsumschwung der Beterin ein, der zu einer
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ckelt sich eine neue Verbindlichkeit. Wegen der zahlreichen inhaltlichen Bezüge und der auffallenden Rahmung durch V. 1 und V. 23 f verstehe ich den Psalm mit Seybold, Kraus, Irsigler und Köckert als Einheit.86 So auch Maier: „Da V. 23 nahtlos an V. 18 anschließbar ist, wird V. 19–22 gelegentlich als späterer Einschub angesehen. Kaum erklärbar bleibt dann aber, wieso die Beterin angesichts ihrer eingangs geäußerten Gewissheit, dass JHWH sie kenne, am Ende verlangt, geprüft zu werden, und dass sie sich selbst unsicher ist hinsichtlich des richtigen Weges. Im Übergang von V. 18 zu V. 23 fehlt gewissermaßen eine inhaltliche Begründung für die verlangte Prüfung. Diese Begründung liefern die Verse 19–22.“87 Wie in der Darstellung der Forschungsgeschichte bereits deutlich wurde, beinhaltet Psalm 139 verschiedene Gattungselemente und gehört zu den Psalmen, die nicht einer bestimmten Gattung zuzuordnen sind. Aufgrund des hohen Reflexionsniveaus ist er als ein spätnachexilischer eigenständiger Text zu verstehen. Psalm 139 gehört zu den jüngsten Teilen des Psalmenbuches.88 Nach Köckert sprechen die Art der Reflexion, das Vokabular und die Bezüge zum Hiobbuch für eine weisheitliche Meditation aus „spätpersischer, wenn nicht sogar frühhellenistischer Zeit“89. Zum Hiobbuch finden sich deutliche inhaltliche Berührungen. Gott bewacht jeden Schritt (Ps 139,3 bzw. Hi 13,27; 14,16) und seine Nähe führt zum Leiden des Einzelnen.90 Hartenstein betont dies und verweist auf die prophetische Tradition: „Denn die Anfangsverse stehen im Gefolge prophetischer (und weisheitlicher) Texte, die angesichts einer verdunkelten Wirklichkeit mit Gott ringen. (…) In den sogenannten Konfessionen des Jeremia (bes. in Jer 20,7–18) und noch einmal anders im Hiobbuch (vgl. Hi 7,16–20) artikuliert sich dann – auf diese unergründliche Freiheit Gottes bezogen – ein Leiden herausgehobener Einzelner an dessen übermächtiger Nähe. Dieses Problem
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veränderten Einschätzung ihrer Beziehung zu Gott führt. Die Macht Gottes über das eigene Schicksal anerkennend fühlt sich die Beterin wie schon in V. 6 überwältigt, diesmal aber nicht mehr verzweifelt, sondern staunend.“ Vgl. Seybold, Psalmen, 515; Kraus, Psalmen 2, 1093; Irsigler, Psalm, 224; Kçckert, Gott, 426. Maier, Beziehungsweisen, 183. Vgl. Wagner, Theologie, 376: „In Ps cxxxix begegnen Meditation (Reflektion), Bekenntnis und Gebet, offenbar Frömmigkeitsäußerungen des intellektuell regsamen Gottesfürchtigen in der spätnachexilischen jüdischen Gemeinde, der sich bestimmten weisheitlichen Schulen angeschlossen haben mag.“; Maier, Beziehungsweisen, 175. Kçckert, Gott, 426. Vgl. Ebach, J rgen, Streiten mit Gott. Teil 1: Hiob 1–20, Neukirchen-Vluyn 1996, 82 f [Hervorhebung im Original]: „Hiob wiederholt in seiner Klage die Sprache und die Bitten der Psalmen, aber er spitzt sie sarkastisch zu und verkehrt sie damit ins Gegenteil. Er bittet um Gottes Abwendung, weil er sterben will. Er erfährt Gottes Zuwendung, die ihn am Leben erhält, als unerträgliche Bedrückung, als permanente Überprüfung (wie ein ,big brother is watching you‘) ohne die kleinste Pause. (…) Gottes Aufmerksamkeit realisiert sich als permanente Musterung, seine Zuwendung als Erdrückung.“
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der Ambivalenz der Gottesnähe wird in Ps 139,5 f. präzise als ein Erkenntnisproblem formuliert.“91 Wie in Ps 139 geht es auch im Hiobbuch nicht nur um ein individuelles Schicksal, sondern um die Verhältnisbestimmung des Menschen zu Gott.92 Die besondere Beziehung des Menschen zu Gott, die schöpfungstheologisch begründet wird, findet in seiner Gottesbeziehung Grund und Grenze.93 Bei aller Vertrautheit durchschaut Gott den Menschen (Ps 139,1.2), während dem Menschen Gottes Gedanken unverständlich bleiben (Ps 139,6.17) und schließlich der Mensch Gott mehr vertraut als sich selbst (Ps 139, 23 f). Diese Abhängigkeit erfährt im Buch Hiob eine Steigerung: Gott wird in absoluter Souveränität dargestellt. Der Mensch ist dieser gegenüber wehrlos (Hi 9,12; 23,13). Die Gerechtigkeit Gottes und Hiobs eigenes Erleben stehen sich unversöhnlich gegenüber. Gottes Wirken erscheint ihm unbegreiflich und ambivalent. Es wird auch als Quelle des Leidens verstanden (Hi 7,20). Dies zeigt einen Wandel im Gottesbild: Gottes Güte steht im Widerspruch zu anderen Wirkweisen Gottes.94 Dieser Widerspruch löst sich nicht eindeutig auf.95 Gott scheint nicht nur zu retten, sondern auch zu zerstören. Eva Harasta deutet dies als die Liebesbedürftigkeit Gottes bzw. als Sehnsucht Gottes nach grundloser und bedingungsloser Liebe.96 Allerdings ist auch der 91 Hartenstein, Gott, 498 f. 92 Vgl. Ebach, Streiten, 83: „In immer neuen Anläufen geht es in Hi 7 um das Verhältnis von Gott und Mensch, Gott und Hiob.“; vgl. auch Remus, Martin, Menschenbildvorstellungen im IjobBuch. Ein Beitrag zur alttestamentlichen Anthropologie (BEAT 21), Frankfurt am Main 1993, 113 [Hervorhebung im Original]: „Die Gottesreden machen radikal ernst mit dem unendlich großen qualitativen Unterschied zwischen Gott und Mensch.“ 93 Vgl. Remus, Menschenbildvorstellungen, 112. 94 Vgl. Remus, Menschenbildvorstellungen, 51: „Gott als ein Gott der guten Ordnungen, als ein das menschliche Tun beachtender und gerecht vergeltender, aber auch barmherziger und dem Menschen zugewandter Gott – das alles scheint für Ijob nicht oder zumindest nicht mehr zu gelten.“ 95 Vgl. Remus, Menschenbildvorstellungen, 113 [Hervorhebung im Original]: „Die sich ergebende Mehrstimmigkeit des Ijob-Buches und die Offenheit seiner Fragestellungen sind nicht als Negation, als Resignation angesichts unbeantwortbarer Fragen zu verstehen, sondern als Position. Sie bringen zum Ausdruck, daß es beim Fragen nach menschlichem Ergeben und göttlicher Gerechtigkeit nicht nur eine mögliche Antwort gibt, sondern daß von unterschiedlichen Positionen aus und auf Grund differenter Erfahrungen unterschiedliche, sich aneinander reibende, nicht zu harmonisierende Antworten mit jeweils eigenem Legitimitätsanspruch und eigenem Wahrheitsgehalt möglich sind.“ 96 Vgl. Harasta, Eva, Satanische Verse? Zur Rolle des Satans in Hiob 1–2 aus systematischtheologischer Sicht, in: Ratschow, Leonie/Sass, Hartmut von (Hg.), Die Anfechtung Gottes. Exegetische und systematisch-theologische Beiträge zur Theologie des Hiobbuches (ABG 54), 91–104, 103 [Hervorhebung im Original]: „Das Hiobbuch lässt sich als Drama göttlichen Liebesbedürfnisses lesen, als Anfechtung göttlicher Sehnsucht nach bedingungsloser Erwiderung in der Liebe zwischen Gott und Mensch. (…) Die Gottesfigur des Hiobprologs sucht Bedingungslosigkeit in der Gottesliebe, wo es solche Bedingungslosigkeit nicht geben kann – beim Geschöpf, dessen Handeln stets bedingt ist, dessen Handeln stets Gründe und Gegengründe, Geschichte und teilweise Abhängigkeit hat. (…) Mit seiner Andeutung der Sehnsucht nach Bedingungslosigkeit geht das Hiobbuch an eine Grenze der Gotteslehre (…). Gottes Ringen um Bedingungslosigkeit und Erwiderung in der Gott-Mensch-Beziehung weist in Richtung einer
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Einspruch Hiobs als solcher gegen unerklärliches und grundloses Leiden und die Klage bzw. Anklage vor Gott von Bedeutung.97 Insgesamt hat Psalm 139 eine große Nähe zur weisheitlichen Reflexion, in der es um das Wissen vom Leben, die Kunst zu leben und darum geht, die von Gott bestimmte „allumfassende Ordnung im Lebensvollzug zu erkennen und durch das Tun von ,Gerechtigkeit‘ zu festigen“98. Das betende Ich in Psalm 139 ist sich einer göttlichen Ordnung der Welt bewusst und hat doch Zweifel. Gerade in der Skepsis und dem Betonen der Unbegreiflichkeit Gottes ist Psalm 139 in den Horizont der späten Weisheit einzuordnen (Koh 3,11).99
3.3 Psalm 139 im Kontext des Psalters Psalm 139 ist den jüngsten Teilen des Psalmenbuches zuzuordnen. Er gehört zu den 73 Psalmen, die durch die Überschrift mit David verbunden sind100, zur fünften Sammlung von Davidpsalmen (138–145) und zum fünften Teil des gesamten Psalmenbuches (107–145). Während in den letzten Jahrhunderten die Psalmen vor allem als 150 Einzeldokumente untersucht wurden, legt die neuere Psalmenforschung verstärkt Wert auf den Kontext des einzelnen Psalms und die intertextuellen Verbindungen der Psalmen untereinander sowie des gesamten Psalters als kunstvoll gestaltete theologische Buchkomposition.101 Zenger zieht folgende Konse-
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Verlebendigung Gottes. Nicht nur will JHWH hier etwas, das unter geschöpflichen Bedingungen unmöglich ist, und will es doch einzig vom Geschöpf. Nein, gerade im Pochen auf den schlechthinnigen Unterschied zwischen Gott und Mensch beginnt auch die Verletzlichkeit Gottes aufzusteigen. Mitteilen muss er sich, rücksichtslos und rückhaltlos mitteilen, weil Hiob und seine Freunde Teil seines Lebens sind.“ Vgl. Remus, Menschenbildvorstellungen, 54 f: „Bereits die Tatsache, daß sich Ijob in fast allen seinen Reden von den Freunden weg an Gott selbst wendet und mit ihm ins Gespräch zu kommen sucht, bringt ja zum Ausdruck, daß und wo Ijob gegen allen Anschein eine Hoffnung sieht und sucht.“ Zenger, Erich, Das Buch der Psalmen, in: Zenger, Erich u. a. (Hg.), Einleitung in das Alte Testament (KStTh 1,1), Stuttgart 72008, 330 [Hervorhebung im Original]. Vgl. Ebach, Streiten, 82 [Hervorhebung im Original]: „Wenn er Hiob sein Leben häwäl bezeichnen läßt, stellt ihn der Hiobdichter in den Problemkreis der Fragen nach dem Sinn des Lebens und der skeptischen bis zynischen Antworten Kohelets sowie in den Zusammenhang der Fragen nach den Opfern, die sinnlos gemordet wurden, deren Tod keinen Sinn gegeben werden kann. Deshalb ist auch darin Hiobs Klage eine Frage an Gott und eine Anklage Gottes.“ Das Überschriftensystem gestaltet sich im 4. und 5. Teil des Psalters anders, so taucht nach Ps 90 ff nur noch dreimal die Überschrift „dem Musikdirigenten“, u. a. in Ps 139, auf. In der Abfolge der Psalmen ist eine Tendenz von der Klage hin zum Lob zu erkennen. Vgl. Zenger, Erich, Der Psalter als biblisches Buch. Alte und neue Wege der Psalmenauslegung am Beispiel von Ps 23, Religionsunterricht an höheren Schulen 49 (2006), 324–337, 330: „Der überlieferte masoretische Psalter verdankt sich dem Gestaltungswillen zahlreicher Sammler, Redaktoren und Editoren. Er ist das Ergebnis eines mehrere Jahrhunderte dauern-
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quenz: „Die Psalmenexegese muss ergänzt werden durch die Psalterexegese, d. h. ein Psalm muss sowohl als Einzeltext als auch als Teiltext des Buchzusammenhangs, in dem er steht, betrachtet werden. Das ist eine wichtige neue Einsicht der Psalmenforschung, die sich in den letzten dreißig Jahren mehr und mehr durchgesetzt hat.“102 Dabei stellt sich die Frage, inwieweit ein einzelner Psalm durch seine jeweilige Positionierung im Buchkontext eine zusätzliche Bedeutungsebene erhält, d. h. für diese Studie, inwieweit die Deutung von Ps 139 durch den Kontext der fünften Sammlung von Davidpsalmen (138–145) bestimmt wird bzw. Ps 139 die umliegenden Psalmen prägt. Die Psalmen 138–145 sind insgesamt als Lobpreis zu verstehen. Er wird gerahmt durch die Aufrufe zum Lob in Ps 138,5 und Ps 145,21. Zenger sieht folgende inhaltliche Schwerpunkte: „Der diese Psalmen singende ,David‘ ist freilich, wie Ps 139–144 zeigen, der von Feinden und Gotteshassern, sogar von eben diesen ,Königen‘ verfolgte und verachtete ,Knecht JHWHs‘ (vgl. 140,13; 142,7; 143,2.12; 144,10).“103 Christoph Buysch verdeutlicht die Stichwortverbindungen der Psalmen 138–145 untereinander, die thematisch die Eigenschaften JHWHs, die Freund- und Feindterminologien, die Körpermetaphorik und das Wegmotiv betreffen.104 Es sind individuelle Klage- und Bittgebete in größter Bedrängnis. Nach Buysch sind die Psalmen 138–145 als ein Ringen des betenden Ichs um seine Gottesbeziehung zu deuten, welches in einem Lob und Bekenntnis endet. Als theologische Schlüsselstelle für diese Interpretation gelte Ps 139, da in diesem das Gottesverhältnis grundlegend reflektiert werde.105 Obwohl Ps 139 nur wenige Stichwortverbindungen zu den umliegenden Psalmen aufweist, hat er eine große theologische Bedeutung für den fünften Davidpsalter; die folgenden Psalmen knüpfen in der Feindesterminologie und der Wegmetapher an Ps 139 an: „Er [Ps 139, EKV] führt als Thema ein, daß die Feindbedrängnis des Beters (David, dann auch: Israels) aus seiner Gottesnähe
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den Prozesses, der unterschiedliche Aktionen umfasste: Zusammenstellung kleiner Teilsammlungen, Komposition von Teilpsaltern, sukzessive Zusammenfügung von einzelnen Teilpsaltern zu größeren Textkomplexen, Endkomposition bzw. Edition des nunmehr vorliegenden biblischen Psalmenbuchs. Die Sammler und Redaktoren haben die Einzelpsalmen nach bestimmten Ideen hintereinander gestellt, manchmal haben sie die von ihnen zusammengestellten Psalmen bearbeitet, um sie miteinander zu verklammern, und manchmal haben sie eigene Psalmen verfasst, um das theologische Profil ihrer Teilsammlungen zu schärfen und zu vertiefen.“ Vgl. auch Zenger, Erich, Psalmenexegese und Psalterexegese. Eine Forschungsskizze, in: Zenger, Erich, The Composition of the Book of Psalms (BEThL 238), Leuven/Louvain 2010, 17–65, 29. Zenger, Erich, The Composition of the Book of Psalms (BEThL 238), Leuven/Louvain 2010, 1 f. Zenger, Morgenröte, 252. Vgl. Buysch, Christoph, Der letzte Davidpsalter. Interpretation, Komposition und Funktion der Psalmengruppe Ps 138–145 (SBB 63), Stuttgart 2009, 324 f. Vgl. Buysch, Davidpsalter, 325 f.
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erwächst und fungiert damit als theologisches Vorwort für die kommenden Klagepsalmen.“106 Innerhalb der fünften Sammlung von Davidpsalmen fällt Ps 139 als einzigartig auf, gleichwohl ist er durch Stichwortverbindungen und thematische Bezüge mit den umliegenden Psalmen verbunden. Psalm 139 ist durch das Motiv, dass Gott den Menschen erkennt (vgl. Ps 144,3), mit Ps 144 verbunden. Das Verb F7= ist in Ps 144 in ein Lob eingebunden und drückt ein Staunen aus. Dies ist auch in Ps 139 der Fall. Eine besondere Nähe weist Ps 139 zu Ps 138 auf. In Ps 138 werden ebenso folgende Worte verwendet: V. 1 f.4 8L= („lobpreisen“), V. 5 ýL7 („Weg“), V. 6 84L („sehen“), V. 7 ý@8 („gehen“), 5=4 („Feind“), 7=/C=B= („Hand/Rechte“), V. 8 8MFB („Tat, Werk“), V. 10 7=/C=B= („Hand/Rechte“). Inhaltlich sind Ps 139 und Ps 138 besonders durch das Wegmotiv (Ps 138,5; Ps 139,3.24) und die Feindesterminologie (Ps 138,7; Ps 139,22) verbunden. Während jedoch in Ps 138 das Lob über die Rettung durch Gott überwiegt, bittet Ps 139 Gott um ein Eingreifen gegen die Widersacher. Christoph Buysch betont in diesem Zusammenhang auf der einen Seite die Individualität von Ps 139.107 Auf der anderen Seite kommt er zu dem Schluss, dass Ps 139 von Ps 138 aus gelesen nicht negativ zu deuten sei: „Die Fluchtbewegung des Beters von Ps 139,7–10 bekommt durch Ps 138,7 eine andere Tendenz. (…) Von Ps 138,7 aus gelesen, verliert Ps 139,10 letztendlich seine durch die vorausgehenden Verse negative Prägung.“108 Als Begründung führt er die positive Verwendung der Handmetapher in Ps 138,7 an, die tatsächlich auch in Ps 139,10 zentral ist. Meine Deutung lässt eine größere Spannung zwischen Ps 138,7 und Ps 139,10 zu. Wie im Folgenden gezeigt wird, plädiere ich aufgrund des Kontexts der Fluchtgedanken in Ps 139 und der verwendeten Verben in V. 10 für eine negative Konnotation.109 Gerade wenn Ps 139 der theologische Kern der Psalmengruppe ist, erscheint es mir naheliegend, dass in diesem Psalm Tiefendimensionen und Ambivalenzen einzigartig herausgestellt werden. 106 Ballhorn, Egbert, Zum Telos des Psalters. Der Textzusammenhang des vierten und fünften Psalmenbuches (Ps 90–150) (BBB 138), Berlin u. a. 2004, 270. 107 Vgl. Buysch, Davidpsalter, 135: „Trotzdem wahrt sich Ps 139 aufgrund seines inhaltlichen Profils und seiner ihm eigenen Stilistik (z. B. die Vielzahl polarer Ausdrücke oder die durchgehende Intimität des Gebets in der ausschließlichen Ich-Du-Kommunikation) einige Alleinstellungsmerkmale in seinem Psalterkontext.“ Vgl. auch Buysch, Davidpsalter, 140 f: „Mehrfach ist schon erwähnt worden, dass Ps 139 in Form und Stil innerhalb des Psalters nahezu ein Solitär darstellt. (…) Der Psalm ist vielmehr eine von psalmenüblicher Gattung oder liturgischem Sitz im Leben losgelöste, meditative Reflexion auf das Verhältnis von Gott und Beter, das sich stellenweise geprägter Psalmrethorik bedient. (…) Es lässt sich vielmehr schließen, dass Ps 139 mit geprägter Psalmenrhetorik arbeitet, ohne besondere Abhängigkeiten von einzelnen Psalmen innerhalb des Psalters zu zeigen.“ 108 Buysch, Davidpsalter, 138. 109 Vgl. Hossfeld, Psalm, 723. Vgl. dazu auch in dieser Studie Kapitel 3.2.3 Die Verben in Ps 139 als Beschreibung der ambivalenten Nähe Gottes und Kapitel 3.4 Traditionsgeschichte: Das Motiv der ambivalenten Nähe Gottes im Körperkonzept.
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Darüber hinaus lassen sich weitere aus Ps 139 bekannte Motive in anderen Psalmen finden. Hartenstein weist auf die Nähe zu Psalm 51 hin. Der Erkenntnis Gottes als Horizont des Menschseins käme in Krisenzeiten, die auch das Gottesbild betreffen, entscheidende Bedeutung zu. Ps 51 und Ps 139 seien Beispiele dafür, dass Aussagen der Schriftprophetie, die Gott als Horizont des Menschseins bewusst werden lassen, aufgenommen werden.110 Beide Psalmen entstammen prophetischen und weisheitlichen Denktraditionen, die ein Ringen mit Gott angesichts einer verdunkelten Wirklichkeit beschreiben und die Freiheit und Souveränität Gottes betonen.111 Hartenstein weist in diesem Zusammenhang auf Am 9,2–4; Jer 23,23 f; Jes 14,13–15; 66,1 f hin, die Gottes weltumfassende Macht beschreiben. Es seien Herrschaftsaussagen, die Gottes Größe betonen (vgl. Hi 11,7–9) und seine Unergründlichkeit (vgl. Jes 45,6 f) benennen. Ps 51 wie auch Ps 139 seien eine Reflexion unter Aufnahme dieser prophetischen Inhalte.112 In beiden Psalmen erscheine „Gott als die letzte Instanz der Wirklichkeit auch angesichts der Schulderfahrung (Ps 51,5)“113. Nach Hartenstein haben Ps 51 und Ps 139 Aussagen der Schriftprophetie zur Schuld der Menschen und dem Verwurzeltsein in Raum und Zeit ins allgemein Anthropologische übertragen.114 Sie stellten eine Art nachprophetische Anthropologie dar, in der Gott „als Horizont einer Neuschöpfung“115 erscheint. Dabei gehe es darum, in einer Krise der Gemeinschaft „um des Menschen willen Gott Gott sein zu lassen“116. Eine weitere Verbindung zur Vorstellungswelt der Schriftprophetie ist das Motiv der prüfenden und richtenden Nähe Gottes, das sich in Psalm 139 auf das Individuum bezieht.117 Den Zusammenhang von der richterlichen Funktion des allgegenwärtigen Gottes und der Flucht des Menschen als Reaktion darauf unterstreicht Karl-Heinz Bernhardt. Amos 9,1–4 schildere z. B. die Unmöglichkeit der Flucht vor dem Gericht Gottes, da er allgegenwärtig sei. Dass die Flucht vor Gott vergeblich ist, sei eine kontinuierliche Erfahrung Israels, die Gottes Souveränität verdeutliche: „Jeremia muß trotz seines Sträubens der ,Mund Jahwes‘ sein, und des Propheten Jona Fluchtversuch wird durch wunderbare Vorgänge vereitelt. (…) Am Ende dieser Entwicklung steht der allgegenwärtige, über Raum und Zeit erhabene Gott von Ps 139.“118 Auch Köckert betont den hohen Reflexionscharakter des Psalms und zieht motivliche Parallelen zum Gottesbild in Ps 90 und Ps 102: „Gott ist in der Welt 110 111 112 113 114 115 116 117
Vgl. Hartenstein, Gott, 494. Vgl. Hartenstein, Gott, 498. Vgl. Hartenstein, Gott, 500–503. Hartenstein, Gott, 506. Vgl. Hartenstein, Gott, 507. Hartenstein, Gott, 509. Hartenstein, Gott, 509. Vgl. Spieckermann, Gott, 131: „Gottes Nähe wie Gottes Ferne, seine Fülle wie sein Wort sind Aspekte seiner richtenden Allgegenwart geworden.“ 118 Bernhardt, Gottesvorstellung, 30.
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und deren mythischen Grenzbereichen überall und immer nahe. Vor diesem Gott gibt’s kein Entrinnen, nirgends. (…) Der Dichter kann diese Einsicht nur durch Nachdenken gewonnen haben.“119 Die Vorstellung, dass Gott als ständiges Gegenüber erfahren wird, findet sich analog auch in den Psalmen 90, 102 und 139. Zahlreiche Bezüge von Ps 139 zu weiteren Psalmen lassen sich feststellen. Psalm 139,1 f beschreibt das Prüfen und Erkennen Gottes und erinnert an Ps 1,7. Psalm 139,6 hat die Unbegreiflichkeit Gottes zum Thema und ist mit Ps 92,6 und 131,1 zu vergleichen. Psalm 139,13–15 bezieht sich auf die Schöpfung im Mutterleib und berührt sich darin mit Ps 22,10 f. Psalm 139,16 hat die pränatale Bestimmung des Menschen zum Inhalt und steht durch die Erwähnung eines Buchs des Lebens im Bezug zu Ps 69,29. Psalm 139,17 f beschreibt die unzählbare Größe Gottes – wie auch Ps 40,6 und 92,6. In Ps 139,19 positioniert sich der Beter auf der Seite Gottes und grenzt sich von den Gegnern ab, wie auch in Ps 119,11 f. Die Aufforderung zur Prüfung durch Gott in Ps 139,23 f erinnert an Ps 17,3 und Ps 26,2, die Aufforderung zur Wegweisung an Ps 25,4. Zusammengefasst verweisen die vielen Stichworte und Motive von Ps 139 darauf, dass Ps 139 kein Solitär, sondern insbesondere in den fünften Davidpsalter eingebunden ist. Im Ringen um das Gottesbild in Krisenzeiten versucht das betende Ich an Gott festzuhalten, indem es sich mit dem Grund und der Grenze der Gottesbeziehung auseinandersetzt, die Nähe Gottes als ambivalent, als ein Bewusstsein für die göttliche Erwählung und damit Gottes Freiheit und Unverfügbarkeit erfährt. Dies wird in Ps 139 exemplarisch und universell mit der tiefgründigen Beziehung des Menschen zu Gott beschrieben.
3.4 Traditionsgeschichte: Das Motiv der ambivalenten Nähe Gottes im Körperkonzept Wesentliche Bedeutung in der Beschreibung der Nähe Gottes kommt der Körpermetaphorik in Ps 139 zu. Sie bestimmt einen Großteil des Psalms (v. a. die V. 4–16) und bezieht sich sowohl auf Gott als auch auf den menschlichen Körper. Erwähnte Körperteile sind die Nieren, der Mutterleib und die Gebeine. Gott werden die Hand, die Rechte und die Handfläche, das Angesicht und die Augen zugeschrieben. Im Folgenden analysiere ich Vers für Vers die erwähnten Körperteile, stelle deren Bedeutung im Kontext von Ps 139 dar und verbinde sie mit dem Motiv der ambivalenten Nähe Gottes. Dabei beziehe ich mich auf Studien zur alt119 Kçckert, Gott, 432.
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testamentlichen Anthropologie. Diese wird maßgeblich durch das Standardwerk von Hans Walter Wolff geprägt, der bei den anthropologischen Grundbegriffen ansetzt.120 Daran anschließend haben sich nach Christian Frevel vier Forschungsansätze entwickelt.121 Erstens ein kulturanthropologischer Ansatz, der aktuelle Diskurse der Kulturwissenschaft und Mentalitätsgeschichte aufnimmt (z. B. Raum- und Zeitkonzeptionen), zweitens eine mit diesem eng verbundene historisch-anthropologische Forschungsrichtung, die Kritik an einem unwandelbaren Menschenbild ausübt und die historische Variabilität von menschlichen Verhaltensweisen beschreibt, drittens eine Ausrichtung an Körperkonzeptionen und viertens die Einbettung der Kategorie Geschlecht in den alttestamentlichen Anthropologiediskurs. Neben der grundlegenden Anthropologie von Hans Walter Wolff beziehe ich mich insbesondere auf die Ansätze von Bernd Janowski und Silvia Schroer/Thomas Staubli: Im Gegensatz zu einer einheitlichen Wesensbeschreibung des Menschen unterstreicht Janowski „den Dialogcharakter, der – bei aller Variabilität im einzelnen – die anthropologischen Texte des Alten Testaments insgesamt auszeichnet“122. Er geht über Wolff hinaus, indem er einen Ansatz verfolgt, „der von der Korrelation von ,Mensch‘ und ,Kultur‘ und dementsprechend vom Begriff der Person (1) über die Sphäre des Sozialen (2) zur Wahrnehmung der Welt (3), also gleichsam von innen nach außen voranschreitet. Der Mensch bewegt sich immer in allen drei Kontexten – dem individuellen, dem sozialen und dem kulturellen Kontext (…).“123 Schroer und Staubli wählen einen Zugang über das Körperkonzept Gender und richten sich gegen eine leibfeindliche christliche Auslegungstradition.124 In Ps 139 begegnet die Körpermetaphorik zuerst in V. 4 durch das Wort C9M@125 („Zunge“). C9M@ steht für die Sprache schlechthin und die menschliche Sprachfähigkeit.126 Sie kann recht (2 Sam 23,2; Jes 35,6) oder falsch reden (Ps 5,10; 12,4; 109,2; Jes 59,3; Spr 6,17). Während der Körperteil als solcher nicht negativ konnotiert ist und z. B. auch für das Loben Gottes und Erzählen von seiner Gerechtigkeit verwendet wird (Ps 71,24), ist er in V. 4 in einen bedrängenden Kontext eingebunden. Am Beispiel der Zunge bzw. der Worte des betenden Ichs in V. 4, die Gott schon erkennt, bevor sie ausgesprochen wer120 Vgl. Wolff, Hans Walter, Anthropologie des Altes Testaments, München 1973. 121 Vgl. Frevel, Christian, Menschenkinder!? Einige Anmerkungen zum Stand der Forschung zur alttestamentlichen Anthropologie – zugleich eine Einführung in den vorliegenden Band, in: Ders. (Hg.), Biblische Anthropologie. Neue Einsichten aus dem Alten Testament (QD 237), Freiburg 2010, 8–28, 11–17. 122 Janowski, Bernd, Der Mensch im alten Israel, ZThK (2005), 143–175, 150. 123 Janowski, Mensch, 153 [Hervorhebung im Original]. 124 Vgl. Schroer/Staubli, Körpersymbolik, XIII. 125 Vgl. Kedar-Kopfstein, Benjamin, Art. C9M@, ThWAT IV, 1984, 595–605, 605 [Hervorhebung im Original]: „JHWH, der alles Tun des Menschen kennt, weiß von jedem Wort auf dessen lason (Ps 139,4; ähnlich Qumrantexte: ,Du hast den Geist in der Zunge geschaffen und kennst ihr Reden‘ [1 QH 1,28 f.]).“ 126 Vgl. Schroer/Staubli, Körpersymbolik, 118.
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den, wird deutlich, „dass ihr Sprechen und Handeln nicht vor Gott verborgen und sie ohnmächtig ist, ein Wort gegen Gott auszusprechen und gegen seinen Willen zu handeln“127. Die Beziehung zwischen Gott und Mensch ist in V. 4 von Unsicherheit und Ohnmacht geprägt. In V. 5 wird beschrieben, wie JHWH die Handfläche (G?) auf den Beter legt. Die Frage ist, ob dies eine einengende oder schützende Geste ist.128 Generell kann die Hand beides ausdrücken. G? in Verbindung mit @F ist jedoch negativ konnotiert (z. B. Hi 31,21; 40,32).129 Dazu taucht G? in V. 5 in Verbindung mit dem Verb N=M („legen“) auf. Dies wird in Ps 3,7 und Jes 22,7 als Terminus für eine Belagerungssituation verwendet. Dementsprechend wäre die Handfläche ein Belagerungswerkzeug: „Sie legt sich um den Beter wie ein Belagerungswall, wie feindliche Truppen, die den Belagerten vollständig einschließen.“130 Der Belagerungsaspekt von V. 5 ist deutlich, insbesondere wenn man die Bedeutung des in diesem Vers verwendeten Verbs L9J („einschließen/einengen“) bedenkt.131 In V. 7 beschreiben die Metaphern ;9L („Geist“) und A=DH („Angesicht“) Gottes Nähe. In den meisten Fällen sind sie positiv konnotiert und werden im Psalter zur Beschreibung der Sehnsucht nach Gott verwendet. ;9L („Geist“) beschreibt neben dem Wind als Naturphänomen auch eine Macht Gottes, die Menschen ergreift, bewegt und belebt und zu ihrer Lebenskraft werden kann.132 ;9L („Geist“) löst in den meisten Fällen positive Wirkungen aus, bleibt jedoch unergründlich und unfassbar.133 A=DH („Angesicht“) beinhaltet die Organe Augen, Mund und Ohren und steht damit für Kommunikationsaufbau und auch für den Abbruch von Beziehungen. Durch Mimik können Gefühle ausgedrückt werden. Im Alten Testament ist belegt, dass JHWH sich von Angesicht zu Angesicht offenbart (Gen 32,22–32); gleichzeitig kann Gottes Angesicht auch bedrohlich sein (Ex 33,20–23).134 Das Angesicht ist in den Psalmen ein Begriff, mit dem die Nähe und Verborgenheit Gottes beschrieben wird (Ps 13,2; 27,8 f; 88,15). Hartenstein verdeutlicht, dass hier die Gottesvorstellung einer audienzhaltenden Königsgestalt im Hintergrund steht.135 In seiner ausführlichen Studie weist er auf, dass das Angesicht Gottes in erster Linie einen Soziomorphismus und nicht einen Anthropomorphismus dar127 Maier, Beziehungsweisen, 176. 128 Vgl. Hartenstein, Angesicht JHWHs, 280: „Darin schirmt Gott ihn mit seiner ,Handfläche‘ noch einmal als zusätzliches Schutzdach ab (=H? [vgl. Ps 139,5; Hi 36,32]).“ 129 Vgl. Eberhardt, JHWH, 116. 130 Riede, Netz, 78. 131 Vgl. dazu in dieser Studie Kapitel 3.2.3 Die Verben in Ps 139 als Beschreibung der ambivalenten Nähe Gottes. 132 Vgl. Wolff, Anthropologie, 58 ff. 133 Vgl. Schroer/Staubli, Körpersymbolik, 171. 134 Vgl. Schroer/Staubli, Körpersymbolik, 70–75. 135 Vgl. dazu in dieser Studie Kapitel 1.2 Die ambivalente Nähe Gottes als Grenzaussage im Alten Testament.
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stellt.136 Die Menschengestaltigkeit von Gottheiten sei im Alten Orient vorauszusetzen und die jeweilige Besonderheit einer Gottheit leite sich aus ihrer sozialen Rolle ab. Die Vorstellung eines königlichen Gottes beschreibt dessen Autorität und Macht, seinen Status als Thronender und Herrschender und sein Handeln als kämpfend, kriegerisch und rettend. Das Gotteskonzept steht im Zusammenhang mit dem religiös-kultischen Symbolsystem: „Rituale und Szenerie des Tempelkults waren also zu einem wesentlichen Teil dadurch sozial lesbar, daß sie höfischen Formen eines geregelten Kontakts mit dem Höhergestellten folgten.“137 Die Audienzvorstellung bilde einen Resonanzraum für die Imagination der Gottespräsenz. Diese mentale Ikonographie sei im Vorstellungshintergrund fest eingeprägt und beschreibe einen konkreten Zugang zu Gott sowie die heilvollen Auswirkungen des Aufenthalts in seiner Nähe. Die Kommunikation mit JHWH laufe nach einer höfischen Szenerie im Rahmen der Symbolik des Jerusalemer Kults ab – auch unabhängig vom Tempel.138 Mit Bezug zur Aussage in Ps 139,12, dass Gott größere Macht als die Finsternis besitzt, könnten der Geist und das Angesicht Gottes Zuwendung ausdrücken, gleichwohl überwiegt in V. 7 die dargestellte Bedrohung, sodass die Fluchtabsichten auf eine übermächtige Nähe Gottes hinweisen. Dies unterstreicht das in V. 7 verwendete Verb ;L5 („fliehen“). Das betende Ich in Ps 139 thematisiert also die Unmöglichkeit, vor dem Angesicht des Königsgottes zu fliehen. In V. 10 wird JHWHs Nähe an den Grenzen der Erde durch 7= („Hand“) und C=B= („Rechte“) beschrieben. Grundsätzlich bringt die Hand Macht und Kraft zum Ausdruck.139 Die Gesten der Hände verdeutlichen Beziehungen und Stimmungen (z. B. der Handschlag, der Beifall oder die Handerhebung).140 Das Erwähnen von Körperteilen geht nach Janowski mit dem Aspekt ihrer Funktion einher, im Fall von 7= („Hand“) sei dies „das kraftvolle Zupacken“141. Die Rechte ist die bevorzugte Hand: „Im Vorderen Orient wurde die rechte, segnende und überhaupt schicksalswaltende Hand Gottes im Laufe der Zeit zum Symbol des höchsten Gottes“142. Während die Hand und die Rechte in den meisten Fällen Zeichen der positiv eingreifenden Nähe JHWHs sind (vgl. 1 Kön 18,46; Esr 8,22; 1 Chr 4,10; Ps 18,36; 31,6.16; 63,9), erhalten sie in Ps 139 durch den Kontext der Fluchtgedanken und die in V. 10 verwendeten Verben 8;D („führen“) und :;4 („ergreifen“) eine negative Konnotation. Damit werden sie zu „Zeichen seiner zugreifenden Reichweite“143. 136 137 138 139 140 141 142 143
Vgl. Hartenstein, Angesicht Gottes, 161. Hartenstein, Angesicht Gottes, 161 [Hervorhebung im Original]. Vgl. Hartenstein, Angesicht Gottes, 163. Vgl. Wolff, Anthropologie, 108 f. Vgl. Schroer/Staubli, Körpersymbolik, 123. Janowski, Konfliktgespräche, 20 f. Schroer/Staubli, Körpersymbolik, 130. Hossfeld, Psalm, 723.
Das Motiv der ambivalenten Nähe Gottes im Körperkonzept
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In den V. 13–16 vollzieht sich auch unter dem Gesichtspunkt des von Gott erschaffenen bzw. unter seiner Begleitung entstandenen Körpers eine Veränderung: Das betende Ich erkennt, dass Gott es beziehungsfähig und beziehungsbedürftig geschaffen hat und ist in der Lage, ihm dafür zu danken. In V. 13 wird Gott als derjenige angeredet, der die 8=@? („Nieren“) des betenden Ichs geschaffen hat. Die Nieren werden als Sitz der Empfindungen von seelischer Not bis zu tiefer Freude angesehen. Da sie als Zentrum des Menschen gedeutet werden können, stehen sie pars pro toto für die gesamte Einzelperson.144 In alttestamentlichen Textstellen besonders in den Konfessionen Jeremias werden die Nieren häufig in Verbindung mit dem Herzen erwähnt. Dabei sind beide Organe Gegenstand von Gottes durchschauender und ergründender Prüfung (Ps 7,10b; 26,2; Jer 17,10; 20,12). Damit steht V. 13 in Beziehung zu den V. 1 und 23. Für das Prüfen und Kennen Gottes führt V.13 eine Begründung an: Der einzelne Mensch ist von Gott geschaffen und diese Schöpfung beginnt mit dem emotionalen Kern: den Nieren.145 Erst später folgt das in V. 15 verwendete AJF („Gebein“), das auch für den gesamten Menschen steht.146 Umso erstaunlicher ist, dass die Nieren nur in Ps 139 in einem schöpfungstheologischen Kontext stehen. Dadurch, dass Gott die Nieren geschaffen hat, ist der Mensch in seinem Wesen mit Gott verbunden und überall in Gottes Gegenwart – ohne eine Fluchtmöglichkeit. Der Aussage, dass Gott die Nieren und somit jede Einzelperson geschaffen hat, schließt sich im selben Vers der Satz an, dass Gott den Beter im A4 Cü5 („Bauch der Mutter“) gewoben hat. Das Verb ý?E ist hier mit „weben, formen“ übersetzt, da es im Kontext der Schöpfung und parallel zu 8DK steht.147 Der Mutterleib als Ort der Schöpfertätigkeit Gottes wird auch an anderen Stellen im Alten Testament erwähnt (Jer 1,5; Ps 22,10 f). Im Fall von Ps 22,10 f tritt Gott jedoch nicht in der Rolle des Schöpfers auf, sondern als Hebamme bei der Geburt. Dabei steht das Handeln Gottes in engem Bezug zu dem Gebären der Mutter.148 Es besteht ein deutlicher Bezug zwischen Ps 139,15 und Ps 139,13. Jedoch unterscheiden sich die Schöpfungsvorstellungen der beiden Verse.149 V. 13 beschreibt Gott explizit als bildenden Schöpfer, während in V. 15 Gott an dem Schöpfungsvorgang zwar teilnimmt, aber doch eher beobachtet und die Mutter bzw. die Erde die Menschen hervorbringt. Ort der Schöpfung ist an dieser Stelle das Verborgene, die Tiefen der Erde. Mit Bezug auf Hi 1,21 beschreibt Etzelmüller die Parallele zwischen den Tiefen der Erde und dem Bauch der Mutter.150 Eine
144 145 146 147 148 149 150
Vgl. Eberhardt, JHWH, 131. Vgl. Wolff, Anthropologie, 146. Vgl. Behler, Gott, 147. Vgl. Kronholm, Tryggve, Art. ý?E, ThWAT V, 1986, 838–856, 839.844. Vgl. Bester, Körperbilder, 148 f. Vgl. Keel/Schroer, Schöpfung, 109 ff. Vgl. Etzelm ller, Schöpfungstheologie, 329.
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Verbindung zwischen diesen könnte auch durch die Vorstellung einer „Mutter Erde“ und die betonte Weiblichkeit hergestellt werden.151 V. 14 erweitert das Bild der Schöpfung des Individuums auf die Werke Gottes insgesamt. Der Schöpfer der Welt ist zugleich Schöpfer und Begleiter jedes einzelnen Menschen. Während das betende Ich in den V. 6 und 18 das Unvermögen ausdrückt, Gottes Gedanken zu erfassen, äußert es in V. 14, dass seine MHD (urspr. „Kehle/Rachen“) die Werke Gottes als wunderbar erkennt. Der schöpfungstheologische Kontext wird auch durch die Verwendung von MHD in anderen Stellen deutlich, z. B. in Gen 2,7: Der Mensch wird durch Gottes Lebensatem zu einem lebenden Wesen (8=8 MHD): „Diese näfäsch-Artigkeit des Menschen bedeutet, daß wir ganz und gar, von allem Anfang an, auf Beziehung angelegt sind. Immer und überall haben wir Bedürfnisse, die nur durch etwas anderes oder durch andere gestillt werden können.“152 MHD ist als Organ der Nahrungsaufnahme, des Atmens und des Begehrens zu verstehen. Es ist „Sitz der elementaren Lebensbedürfnisse“153 und umfasst das ganze Individuum.154 Nachdem das betende Ich in V. 3 begreift, dass Gott alle seine Wege und somit auch die gegenwärtige Situation durchschaut, begibt es sich in V. 13 gedanklich zurück in die Vergangenheit, in den Mutterleib. Dabei erkennt das betende Ich in V. 14, dass Gott es geschaffen und von Anfang an begleitet hat, deshalb kann es sich auch in der Gegenwart als Gottes Geschöpf verstehen. In V. 16 wird erneut der Ursprung des Menschen im Angesicht Gottes thematisiert und knüpft damit inhaltlich an die V. 13 und 15 an: Gottes =D=F („Augen“) sehen den Menschen, obwohl er für das menschliche Auge noch nicht zu sehen ist – im Verborgenen. Dass Gott den Menschen sieht, macht ihn lebendig.155 Die Bedeutung ist generell ambivalent: Das Sehen kann durch ein prüfendes Strafen und durch ein schützendes Begleiten geprägt sein.156 In V. 16 ist es in einen schöpfungstheologischen Kontext eingebunden und positiv konnotiert. In V. 23 bittet das betende Ich um das Erforschen seiner Person und das 151 Vgl. Maier, Beziehungsweisen, 180: „Der Mutterleib und die Tiefen der Erde (V. 15) korrespondieren einander, weil beide auf das Weibliche als Leben Gebendes verweisen. Auch das in V. 13 als Weben und Buntwirken, das Herstellen eines bunten Stoffes, bezeichnete Schöpferhandeln entstammt dem Bereich weiblicher Tätigkeiten.“ 152 Schroer/Staubli, Körpersymbolik, 46. 153 Wolff, Anthropologie, 31. 154 Vgl. Maier, Beziehungsweisen, 181 [Hervorhebung im Original]: „Allerdings ist näfäsch kein Körperteil. Sie repräsentiert vielmehr das Individuum und zwar in seiner Bedürftigkeit einerseits und in seiner Lebendigkeit andererseits. (…) An fast hundert Stellen kann es wie in Ps 139,14 pronominal übersetzt werden: ,meine näfäsch weiß‘ ist gleichbedeutend mit einem betonten ,ich weiß‘.“ Vgl. Maier, Beziehungsweisen, 182 [Hervorhebung im Original]: „Die biblischen Texte bieten jedoch keine Leib-Seele-Dichotomie, sondern verstehen die Person als psychosomatische Einheit. Das Individuum ist ein lebendiges Wesen, das keinen Körper hat, sondern ein Körper ist, wobei einzelne Körperteile zugleich die ganze Person repräsentieren können.“ 155 Vgl. Janowski, Konfliktgespräche, 68. 156 Vgl. Schroer/Staubli, Körpersymbolik, 88.
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Erkennen seines Herzens (55@). Das Herz (5@/55@) ist der häufigste anthropologische Begriff und bezieht sich überwiegend auf den Menschen.157 Es steht für die Vernunft, die in heutigem Denken mit dem Kopf assoziiert wird.158 Allerdings geht die Bedeutung über rationale Funktionen hinaus, denn das Herz (5@/55@) beschreibt „das vegetative, das emotionale, das noetische und das voluntative Wesen des Menschen“159. Es ist gewissermaßen „ein Herz mit Verstand“160, ein weises und lebenskluges Herz (vgl. 1 Kön 3,9), in dem Überlegungen und Pläne entstehen und das die Gedanken, den Verstand und das Gewissen umfasst. Nach Ps 139,23 weiß das betende Ich um die „unentrinnbare, in seinem Schöpfertum begründete[n] ,Menschenkenntnis‘ JHWHs und seiner Nähe zum Beter“161. Mithilfe der Körpermetaphorik beschreibt der Psalm ein ganzheitliches Menschen- und Gottesbild. Die verwendeten Körperteile unterstreichen die „Beziehungsfähigkeit und -bedürftigkeit des Körpers“162. Sie beschreiben die Nähe Gottes als bedrängend, mächtig, einengend und belagernd, gleichwohl werden auch schützende, zugewandte und begleitende Aspekte betont. Sie ist aufs engste mit der Prüfung Gottes und mit seinem Schöpfungshandeln verbunden und führt zu einer Stärkung und Positionierung des Individuums.163
3.5 Wirkungsgeschichte: Theologische Aufnahmen und Weiterführungen am Beispiel einer Predigt von Paul Tillich über Ps 139 Ich beziehe mich im Folgenden erneut auf eine Predigt aus dem 20. Jahrhundert, in der Paul Tillich den Psalm besonders eindrücklich zum Thema macht.164 Es zeigt sich, dass das in Ps 139 geschilderte Ringen mit dem Gottesbild und die ambivalente Beschreibung der Nähe Gottes offen sind für analoge Situationen. In seiner Predigt „Flucht vor Gott“165 setzt sich Tillich mit Ps 139 auseinander und diskutiert das Thema der Unentrinnbarkeit Gottes. Er 157 158 159 160 161 162 163 164
Vgl. Wolff, Anthropologie, 68. Vgl. Wolff, Anthropologie, 77. Janowski, Konfliktgespräche, 167. Schroer/Staubli, Körpersymbolik, 33. Eberhardt, JHWH, 146. Maier, Beziehungsweisen, 174. Vgl. Eberhardt, JHWH, 113 f. Theissen, Zeichensprache, 27: „In der Predigt geht es um mehr. Hier soll der Hörer zu einem Einverständnis mit der Bibel gelangen: zum Glauben an das, was ihn in diesen Texten ,unbedingt angeht‘.“ 165 Tillich, Paul, Flucht vor Gott, in: Ders., Religiöse Reden. Nachdruck von In der Tiefe ist Wahrheit (9. Auflage 1985), Das Neue Sein (6. Auflage 1983), Das Ewige im Jetzt (4. Auflage 1986), Berlin/New York 1987, 39–50.
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Die Nähe Gottes in Psalm 139
stellt Bezüge von seiner Interpretation des biblischen Textes zum Atheismus seiner Zeit her.166 Im Folgenden analysiere ich den Kontext des Predigers und gehe auf inhaltliche Schwerpunkte der Predigt im Hinblick auf das Thema der Nähe Gottes ein. Dabei finden die Haltung des Predigers, der Bezug zum biblischen Text und die Situation – besonders auch im Hinblick auf die Hörenden – Berücksichtigung. Anschließend lege ich die Rezeption der Predigt dar. Auf diese Darstellung folgt ein Ertrag. Kontext Paul Tillich (1886–1965) hat sein Leben und Denken selbst mit dem Symbol der Grenze beschrieben.167 Er war als Pfarrer (u. a. als Feldprediger im 1. Weltkrieg) und Professor in Kirche und Universität tätig. 1933 emigrierte er in die USA, da er aufgrund seiner Veröffentlichungen politische Verfolgung zu befürchten hatte. Das Symbol der Grenze umfasste mehr als sein Leben im Exil und die Disziplinen Theologie und Philosophie, in denen er sich gleichermaßen bewegte: „Er sieht sich z. B. auf der Grenze von Theorie und Praxis, von Heteronomie und Autonomie, von Religion und Kultur, von Kirche und Gesellschaft, von Luthertum und Sozialismus, von Idealismus und Marxismus, von Heimat und Fremde.“168 Als Professor lehrte Tillich von 1933 bis 1955 am Union Theological Seminary in New York, anschließend in Harvard (1955–1962) und an der Divinity School der Universität Chicago (1962–1965). In New York veränderte sich Tillichs Haltung zum Gottesdienst: Aus dem sporadischen Kirchgänger wurde ein regelmäßiger Prediger.169 Tillichs Predigt über Ps 139 erschien, als der Grenzgänger Tillich am Union Theological Seminary in New York lehrte und predigte, unter dem Titel „The Escape from God“ 1948 in dem amerikanischen Predigtband „The Shaking of 166 Vgl. Engemann, Homiletik, 88 [Hervorhebung im Original]: „Eine Predigt soll die Hörer in erster Linie nicht an Texte heranführen, sondern sie (unter Bezugnahme auf die alten Glaubenszeugnisse) in ihr Leben hinein begleiten und dazu beitragen, dem ,Leben aus Glauben‘ auf der Spur zu bleiben. Dazu gehört es, den Text im Predigtvollzug in dem Sinne historisch werden zu lassen, dass die Hörer schließlich nicht einem Text gegenüberstehen, dem sie zustimmen oder eben ,nicht glauben‘, sondern dass sie in lebendiger Rede in eine Auseinandersetzung über ihr Leben aus Glauben verwickelt werden.“ 167 Vgl. Tillich, Paul, Auf der Grenze. Aus dem Lebenswerk Paul Tillichs, Stuttgart 41962, 13: „Als ich die Aufforderung erhielt, die Entwicklung meiner Gedanken aus meinem Leben heraus darzustellen, entdeckte ich, daß der Begriff der Grenze geeignet ist, Symbol für meine ganze persönliche und geistige Entwicklung zu sein. Fast auf jedem Gebiet war es mein Schicksal, zwischen zwei Möglichkeiten der Existenz zu stehen, in keiner ganz zu Hause zu sein, gegen keine eine endgültige Entscheidung zu treffen.“ 168 Sch ssler, Werner/Sturm, Erdmann, Paul Tillich. Leben – Werk – Wirkung, Darmstadt 2007, 18. 169 Cornehl, Peter, „In der Tiefe ist Wahrheit“. Tillichs ,Religiöse Reden‘ und die Aufgabe der Verkündigung, in: Fischer, Hermann (Hg.), Paul Tillich. Studien zu einer Theologie der Moderne, Frankfurt am Main 1989, 256–278, 257 f.
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the Foundations“.170 Der Text wurde als Aufsatz bereits 1943 unter dem Titel „Flight to Atheism“ veröffentlicht.171 Diese Tatsache erklärt den abstrakten und dichten Stil der Predigt. Im Deutschen erschien die Predigt erst 1952 unter dem Titel „Flucht vor Gott“ in der Sammlung von Predigten „In der Tiefe ist Wahrheit“172. Tillich setzte in seinen Predigten philosophisches Denken und bildhaftes biblisches Reden von Gott in Beziehung, oft indem er Glaubensund Lebensthemen mit ausgewählten biblischen Texten problematisierte.173 Es war Tillichs zentrales Anliegen, kontextuelle Theologie zu treiben und relevant zu predigen: „Die Situation der Säkularisierung (und in Tillichs letzten Jahren auch die Relevanz der anderen Religionen) bilden den lebensweltlichen Bezugsrahmen für Tillichs Theorieentwicklung.“174 Seine Predigten waren an die Menschen der Gegenwart gerichtet und wurden in akademisch geprägten Gottesdiensten gehalten; sie gelten als seine Spätwerke und erschienen im Zeitraum von 1948 bis 1963, d. h. in einem ähnlichen Zeitraum wie seine Systematische Theologie (1951–1963). Dies unterstreicht, dass für Tillich theologische Reflexion und religiöse Rede ineinander gehen und in beidem seine Methode der Korrelation Anwendung findet: Die Fragen der Gegenwart (Situation) werden mit religiösen Texten und Themen (Botschaft) in Beziehung gesetzt. Dabei findet die in der menschlichen Existenz liegende Frage eine Antwort in der christlichen Botschaft.175 Fragen, die für die religiöse Lebensdeutung in der Gegenwart relevant sind, werden im Licht der biblischen Texte, die als Erfahrungsdokumente des Glaubens zu verstehen sind, gedeutet.176 Nach Tillich bleibt die christliche Botschaft auch in der Moderne, die sich v. a. durch eine technische Vernunft und Fortschrittsdenken auszeichnet, auskunftsfähig. Er hat Menschen vor Augen, die sich durch eine gebrochene Autonomie kennzeichnen.177 Zentrum seiner Predigten ist die Rechtfertigungsbotschaft: „die Annahme unserer 170 Vgl. Tillich, Paul, The Shaking of the Foundations, New York 1948, 38–51. 171 Vgl. Tillich, Paul, Flight to Atheism, The Protestant 4 (1943), 43–48. 172 Die für diese Studie verwendete Ausgabe ist ein Nachdruck von In der Tiefe ist Wahrheit (9. Auflage 1985). 173 Vgl. Sch ssler/Sturm, Tillich, 8.21. 174 J ger, Stefan S., Glaube und religiöse Rede bei Tillich und im Shin-Buddhismus. Eine religionshermeneutische Studie (TillRes 2), Berlin/Boston 2011, 168. 175 Vgl. Sch ssler/Sturm, Tillich, 199. 176 Die Situation und Lebensthemen der Hörenden ernstzunehmen bedeutet auch, dass in der Verkündigung keine fertigen Antworten geliefert werden, sondern dass Fragen gestellt werden, Interesse geweckt und an den Glauben erinnert wird. Vgl. Lange, Ernst, Zur Theorie und Praxis der Predigtarbeit, in: Schloz, R diger (Hg.), Ernst Lange. Predigen als Beruf, Aufsätze, Stuttgart 1976, 9–51, 28; vgl. Weyel, Birgit, Predigt, in: Gr b, Wilhelm/Weyel, Birgit (Hg.), Handbuch Praktische Theologie, Gütersloh 2007, 627–638, 633. 177 Vgl. Cornehl, Aufgabe, 259: „Der Mensch der Gegenwart ist herausgetreten aus den fraglos geltenden religiösen Traditionen und hat sich von den vorgegebenen kirchlichen Autoritäten befreit. Aber er ist in seiner Autonomie nicht mehr sicher. Er verfügt über keine umfassende Weltanschauung mehr, die ihm Sinn und Wesen des Daseins einheitlich deutet.“
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selbst, obwohl wir unannehmbar sind.“178 Tillichs Verständnis der Predigt setzt bei der „Fragwürdigkeit und Gebrochenheit des menschlichen Selbstverständnisses in der Moderne“179 an und verfolgt damit ein soteriologisches Predigtanliegen.180 Er hält die supranaturalistische Deutung der christlichen Überlieferung und die verbreitete kirchliche Sprache für nicht mehr anschlussfähig und formuliert den Gottesbegriff neu: „Im Zentrum der Neuformulierung steht der Begriff des ,ultimate concern‘. Damit wird zugleich deutlich, dass der Gottesbegriff im Zentrum der Bemühungen Tillichs um die (apologetische und seelsorgerliche) Kommunikation der christlichen Botschaft steht.“181 Dieser Gottesbegriff müsse in Verbindung mit der gebrochenen Glaubens- und Lebenswirklichkeit gebracht werden: „Folgt man Tillich, dann geht es darum, in der Predigt das Paradoxon zur Sprache zu bringen, dass in der Grenzsituation, durch sie hindurch das Ja Gottes aufleuchtet und in diesem Ja zugleich die Fragen und Zweifel der Grenzsituation nicht verschwinden.“182
Gliederung und inhaltliche Schwerpunkte Der Predigt „Flucht vor Gott“ ist Psalm 139 mit allen Versen vorangestellt. Der Text entspricht im Wesentlichen der Übersetzung Luthers in der Fassung von 1912. Die Predigt ist deutlich in sechzehn Abschnitte unterteilt. Abschnitt für Abschnitt legt Tillich den Text aus. Gleichwohl hält sich Tillich in seiner Auslegung nicht an die Reihenfolge des Psalms. Seine Predigt beginnt, indem er V. 7 zitiert. Im Anschluss daran legt er die V. 8.9.10.11.12 aus. Dann erst widmet er sich wiederum Abschnitt für Abschnitt den V. 1.2a.3.2b.4.5. Im Folgenden legt Tillich die V. 15–24 Vers für Vers aus. Keine explizite Erwähnung finden die V. 6 und 13 f; ihre Aussage, das Eingeständnis des NichtBegreifens Gottes und das Staunen über das Geschöpf-Sein, nimmt er jedoch auf. Im Folgenden gehe ich auf die wesentlichen Punkte der Predigt ein und lasse dabei Tillich selbst zu Wort kommen. Die Predigt lässt sich in zwei große Teile gliedern: Die Beschreibung der Gegenwart Gottes, vor der jegliche Flucht vergeblich ist, wird in den ersten elf Abschnitten thematisiert. Die Abschnitte 12–16 zeigen Lösungswege für das Problem der unentrinnbaren Gegenwart Gottes auf. Im ersten Teil (Abschnitt 1–11) stellt Tillich Ps 139,7 an den Anfang: „Wo soll ich hingehen vor Deinem Geist, und wo soll ich hinfliehen vor Deinem 178 179 180 181 182
Vgl. Sch ssler/Sturm, Tillich, 201. Wagner-Rau, Wirklichkeit, 127. Sch ssler/Sturm, Tillich, 211. J ger, Glaube, 227. Wagner-Rau, Wirklichkeit, 127.
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Angesicht?“183 Damit erklärt er ihn zum zentralen Vers des Psalms. Tillich legt die Intention der Predigt offen, es gilt „diese Behauptung [von Ps 139,7, EKV] und die machtvollen Bilder näher [zu, EKV] betrachten, in denen der Psalmist sie auszudrücken versucht“184. Es geht in ihm um „die unentrinnbare Gegenwart Gottes. (…) Mann kann Gott nicht entrinnen. Er ist nur Gott, weil man ihm nicht entrinnen kann. Und nur das Unentrinnbare ist Gott.“185 Daher auch der Titel der Predigt: „Flucht vor Gott“186. Schon der erste Abschnitt zeigt Tillichs Predigtkunst, existentielle Themen mit religiösen Texten zu verbinden: Anhand von Ps 139,7 beschreibt Tillich die Erfahrung der Unentrinnbarkeit Gottes. Diese Erfahrung verdeutliche den grundlegenden theologischen Unterschied zwischen Gott und Mensch, d. h. mache Gottes spezifisches Wirken aus. Auch wird schon zu Beginn deutlich, dass Tillich als Zeitgenosse predigt: Fast ausschließlich spricht er als „wir“ und „uns“. Im Anschluss an den Predigtanfang zur unentrinnbaren Gegenwart Gottes zieht sich das Thema der Flucht vor Gott auch durch den zweiten Abschnitt: Mit Hilfe des Zitats von Ps 139,8a betont Tillich, dass es keinen Ort gibt, an dem Gott nicht ist. Die „Idealisten aller Zeiten“187 haben versucht, vor Gott zu fliehen in einen Himmel höherer Werte, wie z. B. Wahrheit und Gerechtigkeit. „Das ist jedoch ein von Menschen gemachter Himmel ohne die drängende Unruhe des göttlichen Geistes und ohne die richtende Gegenwart des göttlichen Antlitzes.“188 Tillich beleuchtet sein zentrales Thema der Flucht vor Gott im folgenden Abschnitt mit einem Gegenwartsbezug unter dem Gesichtspunkt des Suizids, der scheinbar einen Ausweg vor den „göttlichen Forderungen“189 darstellen könnte. Tillich beschreibt den Suizid als verbreiteten Wunsch, sich von der Schwere der Wirklichkeit zu befreien. Hier wird die Zeit deutlich, in der die Predigt geschrieben wurde: Sie war von Kriegs-, Krisen- und Verlusterfahrungen – auch von der Existenz des Militärs – geprägt. In diesen bedrängenden Situationen konnten Verantwortung und Schuld zu unerträglicher Belastung werden.190 Auch diese Flucht in den Suizid – wie die des betenden Ichs in Ps 139,8b – sei jedoch ausweglos: „Aber in der Tiefe seines Herzens weiß jeder, daß der Tod keine wirkliche Ausflucht ist vor der inneren Forderung, die ihm auferlegt ist.“191 Diesen Gegenwartsbezug, den Tillich im dritten Abschnitt mit den Worten „unter uns“192 verdeutlich, setzt er im vierten Abschnitt durch 183 184 185 186 187 188 189 190
Tillich, Flucht, 40. Tillich, Flucht, 40. Tillich, Flucht, 40 [Hervorhebung im Original]. Tillich, Flucht, 39. Tillich, Flucht, 41. Tillich, Flucht, 41. Tillich, Flucht, 41. Vgl. Cornehl, Aufgabe, 261: „Kontinuierlich und konkret hat er (…) die Fragen nach Schuld und Verantwortung diskutiert, hat er immer wieder versucht, in die eigentliche Tiefe dessen, was sich auf der Oberfläche des Kriegsgeschehens abspielt, vorzudringen.“ 191 Tillich, Flucht, 41. 192 Tillich, Flucht, 41.
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Formulierungen in der 1. Person Plural fort. Die Aussage aus Ps 139,9 f, dass Gottes Hand den Menschen überall hin begleitet und hält, bezieht Tillich auf seinen Kontext und seine Zeit, indem er das zentrale Thema der Flucht vor Gott mit der technischen Zivilisation, der Moderne und dem Fortschrittsgedanken ins Spiel bringt. Nach Tillich jagen die Menschen seiner Zeit dem Fortschritt nach und entfernen sich dabei von sich selbst: „Der moderne Weg, Gott zu entfliehen, ist der ,Fortschritt‘, das Vorwärts-Jagen in jeder Beziehung, der Wille, vorzustoßen in Raum und Zeit, so weit wie möglich, so schnell wie möglich. (…) Aber Gottes Hand fällt auf uns, und sie ist schon schwer und vernichtend auf die Zivilisation gefallen – unsere Flucht erwies sich als vergebens.“193 Tillich versteht also das betende Ich auch als kollektives Ich, die geschilderte Gottesbeziehung als für alle Menschen oder zumindest eine Gruppe gültig. Auch Ps 139,11.12a legt Tillich aktualisierend aus: Man könne Gott zwar zeitweise aus dem Bewusstsein verdrängen, aber „wir wissen, daß wir ihn nur deshalb verneinen können, weil er uns dazu treibt, ihn zu verneinen. Es gibt keine Flucht vor Gott, auch nicht im Verdunkeln und Verdrängen.“194 An dieser Stelle formuliert Tillich einen ähnlichen Gedanken wie Carl Gustav Jung, der ebenso die menschliche Flucht vor der eigenen Person und den damit verbundenen Konflikten problematisiert und die befreiende Bedeutung der Selbstannahme betont.195 Der Wunsch, vor sich selbst und damit vor Gott zu fliehen, gehört für Tillich zur Gottesbeziehung konstitutiv dazu. Die Fluchtabsichten, die auch in Ps 139,7 geschildert werden, zeigen gerade, dass das Gottesbild nicht eigenen Wünschen entsprechen kann: „Ein Gott, den wir leicht ertragen können, ein Gott, vor dem wir uns nicht verbergen müssen, ein Gott, den wir nicht hassen, ein Gott, dessen Vernichtung wir niemals wünschen, ist in Wahrheit kein Gott. Er existiert nicht!“196 Den Wunsch, vor Gott zu fliehen, findet Tillich in Friedrich Nietzsche und seiner Erzählung Zarathustras: Gott wird getötet, da er den Menschen in seinen Tiefen erkannte. Tillich folgert daraus: „Der Gott, der jedes Ding sieht, ist der Gott, der getötet werden muß. Der Mensch kann es nicht ertragen, daß solch ein Zeuge lebt.“197 Tillich beschreibt Gottes Gegenwart als eine geistige, die das eigene Selbst bedroht und verwendet dafür den Begriff der Nähe: „Der menschliche Widerstand gegen eine so unbarmherzige Nähe kann kaum gebrochen werden. Jeder Psychiater und Beichtvater kennt die Macht des Widerstandes gegen jede Selbstoffenbarung. (…) Wir wehren uns dagegen, Zeuge unserer selbst zu sein. Wie können wir dann dem Spiegel standhalten, in dem nichts verborgen bleiben kann?“198 193 Tillich, Flucht, 41. 194 Tillich, Flucht, 42. 195 Vgl. Jung, Carl Gustav, Über die Beziehung der Psychotherapie zur Seelsorge, in: Jung, Carl Gustav, Psychologie und Religion, Olten 1971, 129–152, 143 f.149. 196 Tillich, Flucht, 42 f. 197 Tillich, Flucht, 43. 198 Tillich, Flucht, 43 f.
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Der Mensch lehne Gott ab, so Tillich, weil er sich davor fürchte, in seinen Tiefen ergründet zu werden. Der Weg in die Tiefe sei aber nach Tillich auch gegen eigene Widerstände zu gehen, da in der Tiefe ein neuer Zugang zu Gott und zu sich selbst zu finden sei.199 Tillich nimmt im Folgenden erneut auf Friedrich Nietzsche Bezug und erkennt die im Psalm beschriebene Ablehnung Gottes auch bei „Heiligen, Theologen und Reformatoren“200. Er erläutert dies am Beispiel von Martin Luther: „Martin Luther war ebenso wie unser Psalmist von der alles durchdringenden Gegenwart Gottes ergriffen. Er wußte, daß Gott jeder Kreatur näher ist als diese sich selbst. Gott umfaßt alle Dinge, er ist in allen Dingen. Aber diese allerinnerste Gegenwart Gottes erweckte in Luther dasselbe Gefühl wie in Nietzsche. Er wünschte, daß Gott nicht Gott sei. Er bekennt: ,Ich liebte Gott nicht, ich haßte den gerechten Gott… ich war zornig auf ihn, wenn schon nicht in mutwilliger Auflehnung, so doch in heimlicher Lästerung.‘ (…) Luther wußte ebenso wie der Psalmist, daß ein Entrinnen nicht möglich ist.“201 Abschließend wird in der Predigt Ps 139,5 zitiert: „Von allen Seiten umgibst Du mich und hältst Deine Hand über mir.“202 Tillich macht in diesem Abschnitt deutlich, wie übermächtig und einengend die Nähe Gottes in dem Psalm, besonders aber in V. 5 beschrieben wird und sieht darin den Grund für die Fluchtabsichten des Psalmisten und der gegenwärtigen Menschen vor Gott. Die menschliche Flucht vor Gott führt Tillich in Auseinandersetzung mit dem Atheismus näher aus. Er bezieht sich in diesem und in den folgenden beiden Abschnitten nicht direkt auf einzelne Verse des Psalms, freilich auf Motive, die er bereits ausgeführt hat, wie z. B. die Flucht vor einem als allgegenwärtig beschriebenen Gott. Es sei eine menschliche Grunderfahrung, dass der Mensch Gott nicht standhalten könne: „Der Mensch versucht, Gott zu entfliehen, und haßt ihn, weil er ihm nicht entfliehen kann. Der Protest gegen Gott, der Wunsch, es möge keinen Gott geben, und die Flucht in den Atheismus, das alles sind echte Elemente tiefer Religiosität.“203 Er äußert Kritik an der theologischen Wissenschaft, die diese prägende menschliche Erfahrung oft nur abstrakt in Bezug zur göttlichen Allgegenwart und Allwissenheit setze. „Der fromme Mann des Alten Testaments, der heilige Mystiker des Mittelalters, der Reformator der christlichen Kirche und der Prophet des Atheismus“204 teilen nach Tillich die tiefe religiöse Erfahrung der Unentrinnbarkeit Gottes. Diese stellt Tillich dem abstrakten Reden über Gott entgegen und formuliert damit deutliche Kritik an der Theologie seiner Zeit. Daran schließt er im elften Abschnitt an, in dem er den ursprünglichen Sinn von abstrakten Begriffen wie Allgegenwart und Allwissenheit erläutert: „Allwissenheit be199 200 201 202 203 204
Vgl. Cornehl, Aufgabe, 266 f. Tillich, Flucht, 44. Tillich, Flucht, 44. Tillich, Flucht, 44. Tillich, Flucht, 45. Tillich, Flucht, 45.
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deutet, daß unser Geheimnis offenbar wird. Allgegenwart bedeutet, daß unsere Verborgenheit erkannt wird. Das Zentrum unseres ganzen Seins ist eingeschlossen in das Zentrum alles Seins, und das Zentrum alles Seins ruht in dem Zentrum unseres Seins.“205 Dieser Abschnitt des ersten Teils der Predigt (Abschnitte 1–11) bildet eine Brücke zu Tillichs Lösungsvorschlägen zum Problem der unentrinnbaren Gegenwart Gottes. Im zweiten Teil der Predigt (Abschnitt 12–16) zeigt Tillich zu Beginn einen Ausweg aus dieser Spannung auf, indem er auf Nietzsches Erzählung verweist: „Der Mörder Gottes findet Gott wieder in einem Menschen. Es ist ihm nicht gelungen, Gott zu töten. Gott ist zurückgekehrt in Zarathustra und in der neuen Weltperiode, die Zarathustra ankündigt. Gott ersteht immer wieder in irgend jemandem oder in irgend etwas. Er kann nicht gemordet werden. Das ist die Geschichte jedes Atheismus.“206 Anders dagegen sei die theologische Lösung in Psalm 139: Tillich hebt im dreizehnten Abschnitt die Schöpfungsthematik hervor, insbesondere ihren individuellen und identitätsbildenden Aspekt. Gott sei der Schöpfer des eigenen Seins, d. h. der Seinsgrund: „Der Gott, dem er nicht entfliehen kann, ist der Grund seines Seins. Und dieses Sein, seine ganze Person, seine Seele und sein Leib, ist ein Werk unendlicher Weisheit, Ehrfurcht erweckend und wunderbar. Die Bewunderung der göttlichen Weisheit überwindet das Grauen vor der göttlichen Gegenwart. Sie weist hin auf die freundliche Gegenwart einer schöpferischen Weisheit.“207 Tillich fasst im vierzehnten Abschnitt zusammen, dass Menschen Gott zwar nicht standhalten können, er jedoch gleichzeitig Quelle von Weisheit und Güte sei: „Das Zentrum des Seins, in dem unser eigenes Zentrum beschlossen ist, ist die Quelle gnädiger Huld, der wir immer und immer wieder begegnen, in den Sternen und Bergen, in Blumen und Tieren, in Kindern und reifen Menschen.“208 Tillich sieht in dem Psalm jedoch nicht nur den Grund des Seins beschrieben, sondern auch das Ziel des Lebens. Dabei bezieht er sich auf V. 11: „Deine Augen sahen mein Wesen, da ich noch unbereitet war, und alle Tage waren in Dein Buch geschrieben, als derselben keiner da war.“209 Dieses sprachliche Bild drücke aus, dass Gott unser Leben als Ganzes sehe. Dies könne als Bestimmung und Ziel erfahren werden: „Und wo immer wir dieser letzten Bestimmung gewahr werden, ob sie uns groß oder unbedeutend erscheint, erkennen wir Gott, den Grund und das Zentrum jeglichen Sinnes.“210 Diese Erkenntnis lade dazu ein, in den Psalm einzustimmen, insbesondere in V. 12: „Aber wie köstlich sind vor mir, Gott, Deine Gedanken! Wie ist ihrer so eine große Summe. Sollte ich sie zählen, so würde ihrer mehr sein denn des 205 206 207 208 209 210
Tillich, Flucht, 46. Tillich, Flucht, 46 f. Tillich, Flucht, 47. Tillich, Flucht, 47. Tillich, Flucht, 47. Tillich, Flucht, 48.
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Sandes. Wenn ich aufwachte, würde ich noch dabei sein.“211 Das ist für Tillich die Lösung, um mit der unentrinnbaren Nähe Gottes umzugehen, der Weg von der bedrohlichen Gegenwart hin zur Zusage Gottes, vom Gesetz zum Evangelium: „So bezwingt der Psalmist das Erschrecken vor dem alles spiegelnden Spiegel und dem niemals schlafenden Zeugen durch Hinwendung zu dem unendlichen Geheimnis des Lebens, seines Grundes und Sinnes.“212 Es ist beeindruckend, wie Tillich an dieser Stelle explizit dem sichtbaren Umschwung in Ps 139,13–18 folgt und diesen mit seiner Theologie von Grenze und Grund des Seins verbindet. Im fünfzehnten Abschnitt nimmt Tillich Bezug auf die V. 19–22 über die Gegner.213 In diesen Versen sieht Tillich das Gefühl geschildert, Gott gleich zu sein und bezeichnet dies als „Sünde der Religion“214. Er weist auf die Gefahr des „Fanatismus“215 hin, die gegeben ist, wenn Menschen zu wissen meinen, was der Wille Gottes sei und sich dazu berufen fühlen, diesen Willen mit Gewalt durchzusetzen. Auch Fuchs macht in diesem Zusammenhang auf den schmalen Grat zwischen der Selbsthingabe um Gottes und der Menschen willen und der Gottesbemächtigung aufmerksam.216 Zu diesen Versen gibt es mehrere Deutungen.217 Tillichs Interpretation zielt nicht auf den exegetischen Diskurs um diese Verse, sondern ist auf eine Predigt ausgerichtet.218 Allerdings ähnelt seine Deutung Ergebnissen der älteren alttestamentlichen Forschung, für die die V. 19–22 nicht das Zentrum der Interpretation bilden.219 In der jüngeren alttestamentlichen Forschung werden die V. 19–21 verstärkt für die Deutung des Psalms für wichtig erachtet: Sie werden als Positionierung des betenden Ichs im Anschluss an die schöpfungstheologisch begründete Gottesbeziehung verstanden. Das entspricht auch meinem exegetischen Befund: Im Anschluss an die identitätsstiftenden 211 212 213 214 215 216
Tillich, Flucht, 48. Tillich, Flucht, 48. Vgl. Tillich, Flucht, 48. Tillich, Flucht, 49. Tillich, Flucht, 49. Vgl. Fuchs, Assoziationen, 161: „Diese Differenz ist genau zu sehen: Das Martyrium als Selbsthingabe um des je größeren Gottes und um aller bzw. jedes Menschen willen oder das Martyrium als Selbsthingabe um des je sichereren Gotteszugriffs und der Vernichtung nicht zum eigenen Bereich dazugehöriger Menschen. Im Martyrium selbst kann so der Überschritt von der Gottesfurcht in die Gottesbemächtigung erfolgen. Auch hier zeigt sich: Die Nähe Gottes kann, auch wenn sie als bis zur Selbsthingabe herausfordernd erfahren wird, selbst in sich noch die Gefahr transportieren, Gott sehr, sehr ferne zu sein.“ 217 Vgl. Engemann, Homiletik, 477. 218 Vgl. Theissen, Zeichensprache, 50: „Homiletisches Kommentieren von Texten ist etwas anderes als wissenschaftliches Kommentieren. Wer für den Primat der Exegese eintritt, tritt damit nicht für die Predigt als wissenschaftliche Miniaturexegesen ein.“; Theissen, Zeichensprache, 75: „Wissenschaftliche Texte sind ent-kontextualisierte Texte; der Kontext des individuellen Lebens des Autors ist aus ihnen verschwunden. Anders das homiletische Kommentieren. Hier ist es ganz entscheidend, daß alle sachlichen Argumente zum Text in einen anschaulichen Lebensvollzug eingebettet werden.“ 219 Vgl. dazu in dieser Studie Kapitel 3.1 Zur Forschungsgeschichte des Psalms.
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V. 13–18, die die tiefe Beziehung zum Grund des Seins verdeutlichen, stellt sich das betende Ich auf die Seite Gottes.220 Der letzte Abschnitt schließt mit V. 23 f, den Tillich als eines der „größten Gebete aller Zeiten“221 bestimmt. Damit finde die Spannung des Psalms eine Lösung: „Er [der Psalmist, EKV] hat entdeckt, daß die Gegenwart des Zeugen, die Gegenwart des Zentrums allen Lebens in dem Zentrum seines Lebens ein Doppeltes bedeutet und daß diese Doppelheit die Antwort auf seine Fragen enthält: Die unentrinnbare Gegenwart Gottes ist beides, ein radikaler Angriff auf sein Dasein und der letzte Sinn seines Daseins. Wir sind erkannt in unseren dunklen Tiefen, in die wir kaum hineinzusehen wagen. Und zugleich werden wir gesehen in einer Vollendung, die unsere höchste Hoffnung übersteigt.“222 Dieser Spannung zwischen zutiefst erforscht und umfassend gesehen zu werden sei nicht zu entkommen. Wenn der Mensch sie jedoch aushalte, führe sie ins Leben.223 Gott sei Grund, Geheimnis und Sinn des Lebens und gerade Gott, weil ihm nicht zu entkommen sei. Nichts bleibe Gott verborgen und niemand könne der Wirklichkeit entgehen, dass er in seiner Tiefe durchschaut sei. Ps 139 und Tillichs Theologie geben dies gleichermaßen kund. Rezeption Die Predigt von Tillich nimmt Ps 139 theologisch auf und führt die Deutung des Psalms weiter. Diese Rezeption des Psalms in der Form der Predigt wurde wiederum in der Forschung diskutiert: Die Predigt Tillichs über Ps 139 wurde insgesamt wenig rezipiert, aber von Stefan Jäger und Joachim Ringleben deutend aufgenommen. Jäger bezieht sich in seiner Auslegung insbesondere auf das Ende der Predigt, in dem die Gegenwart Gottes als „radikaler Angriff auf sein Dasein und der letzte Sinn seines Daseins“224 beschrieben wird. In diesem Gedankengang sieht Jäger Tillichs Begriff der Grenzsituation beschrieben, „in der das Nein ins Ja, die Negation in die Affirmation umschlägt.“225 Dies werde auch in der bekannten Predigt Tillichs „Dennoch bejaht“ (orig. „You are accepted“) über Röm 5,20 deutlich, die starke Bezüge zur Predigt „Flucht vor Gott“ hat. Auch hier schildert Tillich, dass Gott von uns Radikales fordert und diese Grenze der Grund unseres Seins ist.226 Jäger betont 220 221 222 223 224 225 226
Vgl. dazu in dieser Studie Kapitel 3.2.4 Literarkritische und redaktionskritische Überlegungen. Tillich, Flucht, 49. Tillich, Flucht, 49. Tillich, Flucht, 50. Tillich, Flucht, 49. J ger, Glaube, 209 f. Vgl. Tillich, Paul, Dennoch bejaht, in: Ders., Religiöse Reden. Nachdruck von In der Tiefe ist Wahrheit (9. Auflage 1985), Das Neue Sein (6. Auflage 1983), Das Ewige im Jetzt (4. Auflage 1986), Berlin/New York 1987, 144–153, 150: „Wir fühlen, daß etwas Radikales, Ganzes und Unbedingtes von uns gefordert wird, aber wir lehnen uns dagegen auf, wir versuchen, uns
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angesichts der Unmöglichkeit, vor Gott zu fliehen, und der Verzweiflung und Vergeblichkeit der Fluchtversuche einen Gedanken Schellings.227 Alles Sein partizipiert selbst am Grund des Seins. Der Mensch kann sich weder sich selbst noch seiner Umwelt entziehen, so sehr er es auch versucht. Anders als Jäger untersucht Joachim Ringleben die Predigt im Rahmen einer Studie zur Theologie Paul Tillichs. In dieser analysiert er die Predigt über Ps 139 unter dem Aspekt der fremden Nähe Gottes.228 Auch er, wie schon Jäger, verdeutlicht die Auseinandersetzung mit dem Atheismus als ein Grundthema der Theologie Tillichs und auch der Predigt über Ps 139: „Weil Gott dem menschlichen Geist näher ist, als dieser sich überhaupt sein kann, ist er auch im Gegenteil seiner ausdrücklichen Behauptung, im Zweifel oder in leidenschaftlicher Bestreitung seiner Existenz, noch verborgen anwesend.“229 Anhand von Ps 139 mache Tillich deutlich, dass Gott den Menschen näher sei, als sie sich selbst sein können und gleichzeitig Geheimnis bleibe: „Aus Tillichs Texten ließen sich zahllose Belege dafür beibringen, daß er die Nähe Gottes als Nähe des Sein-Selbst in allem Seienden und insbesondere in dem Seienden, daß wir selbst sind, denkt.“230 Ringleben bezeichnet dies als das „Interiorintimo-meo-Motiv“ und findet hier sowohl Bezüge zu Thomas von Aquin als auch zu Augustinus. Auf beide wie auch auf Martin Luther und Schleiermacher beziehe sich Tillich, wenn er sagt: „Gott sei Gott nur als schöpferischer Grund von allem Seienden oder auch als die unendliche und unbedingte Macht des Seins bzw. – radikal ausgedrückt – als das Sein-Selbst. (…) Nähe ohne zugleich Ferne oder Fremdheit wäre also nicht mehr Nähe Gottes.“231
Ertrag Meines Erachtens ist die Predigt Tillichs eine überzeugende Aktualisierung von Ps 139. Die Themen des Psalms beziehen sich auf Fragen seiner Gegenwart. Tillich setzt sich intensiv mit dem Atheismus auseinander und deutet ihn als Flucht vor Gott und dem eigenen Selbst. Nach Tillich wird in Ps 139 die
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seiner Dringlichkeit zu entziehen und wollen seine Verheißung nicht annehmen. Trotzdem können wir ihm nicht entgehen. Wenn dieses ,Etwas‘ der Grund unseres Seins ist, so sind wir für alle Ewigkeit daran gebunden, genauso wie wir an uns selbst und alles andere Leben gebunden sind.“ Vgl. J ger, Glaube, 209: „,Der Urgrund zur Existenz wirkt auch im Bösen fort, wie in der Krankheit die Gesundheit noch fortwirkt, und auch das zerrüttetste, verfälschteste Leben bleibt und bewegt sich noch in Gott, sofern er Grund von Existenz ist. Aber es empfindet ihn als verzehrenden Grimm, und wird durch das Anziehen des Grundes selbst in immer höhere Spannung gegen die Einheit, bis zur Selbstvernichtung und endlichen Krisis, gesetzt.‘“ Vgl. Ringleben, Joachim, Gott denken. Studien zur Theologie Paul Tillichs (TillSt 8), Münster 2003, 121. Ringleben, Gott, 130. Ringleben, Gott, 133. Ringleben, Gott, 134.
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Unentrinnbarkeit Gottes beschrieben, die fremd und bedrohlich erfahren werden kann. Gerade diese Unentrinnbarkeit sei ein wesentliches Unterscheidungskriterium zwischen Gott und Mensch: „Er ist nur Gott, weil man ihm nicht entrinnen kann. Und nur das Unentrinnbare ist Gott.“232 Da Gott jedoch nicht nur die Grenze des Seins, sondern auch den Grund des Seins darstellt, ist die Flucht vor Gott und damit auch vor sich selbst unmöglich. Besonders beeindruckt mich, dass der exegetisch belegte Umschwung in den V. 13–16 in Psalm 139 auch für Tillichs Auslegung zentral ist. Diese schöpfungstheologischen Aussagen in Ps 139 kommen Tillichs theologischem Anliegen sehr nahe: Die Verse haben identitätsstiftende Bedeutung, die Negation schlägt um in die Affirmation: der Mensch versteht sich als in Beziehung zum Grund seines Seins. Tillich wird Ps 139 als Predigttext gewählt haben, weil sich an ihm die Komplexität und Ambivalenz der Nähe Gottes verdeutlichen lässt.233 Dies zeigt die theologische Relevanz biblischer Texte. Tillichs Predigt verdeutlicht die Tatsache, dass in Predigten Ambivalenzen nicht ausgeklammert, sondern thematisiert werden müssen. Er setzt sich anhand von Ps 139 mit der Flucht vor Gott auseinander. Gott sei Grund und Grenze unseres Seins und ergründe den Menschen in seinen Tiefen. Darin liege eine unerhörte Herausforderung und Infragestellung. Diese Bedrohung des menschlichen Selbst könne zur menschlichen Ablehnung Gottes führen. Gleichzeitig beschreiben gerade diese herausfordernden Eigenschaften Gottes Wirken.234 Tillichs Predigt kann als Beispiel gelten, in Predigten Ambivalenzen nicht auszuweichen, die Radikalität der biblischen Texte nicht auszuklammern und somit – um mit seinen Worten zu sprechen – den Weg in die Tiefe zu gehen.235
3.6 Ertrag Die Nähe Gottes in Psalm 139 erhält in jedem Vers, sogar in jedem Wort bzw. Sprachbild, eine eigene Bedeutung. Es ist wichtig, den Psalm als ganzen wahrzunehmen und keinen Vers in der Deutung auszulassen. In der sprachlichen Analyse des Psalms und der Untersuchung der Körpermetaphorik ist deutlich geworden, dass die Erfahrung der Nähe Gottes ambivalent geschildert wird. Es „besteht in Ps 139 nicht das Problem der Abwesenheit Gottes, sondern 232 Tillich, Flucht, 40 [Hervorhebung im Original]. 233 Vgl. Ringleben, Gott, 122 f: „In diesem Psalm, der zum Großartigsten und Tiefsinnigsten gehört, was man im Alten Testament lesen kann, finden sich alle Motive unseres Themas versammelt, und insofern hat auch das dogmatische Nachdenken über Gottes Gegenwart als der Nahe und der Ferne an diesem Psalm mannigfachen Anhalt.“ 234 Vgl. Tillich, Flucht, 42 f. 235 Vgl. Cornehl, Aufgabe, 273.
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das der Anwesenheit Gottes im Leben des Beters.“236 Außerdem wird im Psalm (insbesondere in V. 13) eher Gottes Nähe zum betenden Ich begründet, als eine allgemeine Begründung seiner Allgegenwart gegeben: JHWH ist dem betenden Ich nahe, weil er sein Schöpfer ist. Es geht in Ps 139 nicht um die abstrakte Beschreibung von Gottes Allwissenheit oder Allgegenwart, sondern um JHWHs Beziehung zum Menschen, die von einer unentrinnbaren Nähe geprägt ist.237 Dynamisches Beziehungsgeschehen Die Aussagen über Gott in Psalm 139 sind keine Abstracta, sondern handeln von einem betenden Ich, das sich auf ein Du bezieht. Die Anfangsverse schildern die Erfahrung, von Gott in allen Lebensbereichen und Gedanken durchschaut zu werden und dieses Handeln Gottes nicht zu begreifen. Das betende Ich betont sein Unverständnis und seine unzulängliche Erkenntnis Gottes. Es beschreibt ein Ringen mit Gott und ein Nichtertragen seiner Nähe. Das betende Ich sucht seine Verortung in der Wirklichkeit mit Gott und schreitet imaginär die Grenzen der Welt und des Lebens ab. Dabei erscheint ihm ein Raum und Zeit übergreifender Gott, der den Horizont des Menschen darstellt und den es – ausgedrückt durch rhetorische Fragen – nicht zu verlassen vermag.238 Gott wird als Bedränger und sogar als Feind wahrgenommen. Psalm 139 schildert einen Gott, der immer schon zuvor präsent ist.239 Die Nähe Gottes lässt ihn unerkennbar und uneindeutig erscheinen: „Bedrohung und Begleitung liegen ineinander.“240 Doch bei der Darstellung der bedrohlichen Gottesnähe bleibt Ps 139 nicht stehen. Der Psalm schildert das Umgehen mit dieser Erfahrung. In seinem Rückblick zum Anfang seines Lebens (V. 13) und seiner Reflexion begreift das betende Ich, dass es ein Geschöpf Gottes ist: Das bedeutet, dass Gott schon immer mit ihm in Beziehung stand und steht. Negativ ausgedrückt und erfahren mag man das bezeichnen als „Gott sieht alles“.241 Versteht man das 236 237 238 239 240 241
Riede, Netz, 81. Vgl. Eberhardt, JHWH, 125. Vgl. Hartenstein, Gott, 499. Vgl. Irsigler, Psalm, 216. Hartenstein, Gott, 500. So wurde Ps 139 in der Veröffentlichung „Gottesvergiftung“ des Psychoanalytikers Tilmann Moser aufgegriffen (vgl. Moser, Tilmann, Gottesvergiftung, Frankfurt am Main 1976, 41 f). Mosers Religionskritik bezieht sich auf ein Gottesbild, das als bedrängende Übermacht geschildert wird und Angst- und Schuldgefühle auslöst. Moser spricht Gott direkt an und verflucht ihn (vgl. Moser, Gottesvergiftung, 9). Seiner Kritik an diesem für Religion gehaltenen Missbrauch menschlicher Gefühle ist zuzustimmen. Moser bezieht sich v. a. auf die ersten Verse des Psalms, die die bedrohliche und übermächtige Seite von Gottes Nähe betonen und vollzieht den positiven Umschwung durch die schöpfungstheologischen Verse des Psalms nicht mit. So kann Moser die unausweichliche Gottesnähe mit der im Psalm beschriebenen in Beziehung setzen: „Was sich Moser wünscht, daß dieser allsichtige Gott doch lieber fern sei, kann sich auf
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Geschaffensein jedoch als Beziehungsgeschehen, ist eine positive und befreiende Deutung möglich.242 Das betende Ich findet Gewissheit in dem Glauben an einen gütigen Gott, der ihn ins Leben gebracht hat und von dem ihn nichts trennen kann.243 Es vollzieht eine klare Schlussfolgerung: Dadurch, dass es sich als ein Geschöpf Gottes versteht, begreift es, dass es die gegebene räumliche und zeitliche Ordnung nicht durchbrechen kann. Entscheidend bei dieser Erkenntnis ist die Tatsache, dass das betende Ich durch diese Grenzerfahrung neu auf Gott und sich selbst gestoßen ist, was es zu einem Bekenntnis der Größe und Unerforschlichkeit Gottes führt.244 Der Weg der Auseinandersetzung mit der Nähe Gottes wird ein Gewinn für das betende Ich.245 Das Beziehungsgeschehen zwischen betendem Ich und JHWH entwickelt sich zu einem identitätsstiftenden Prozess, der zu einer neuen Verhältnisbestimmung führt. Für diese in Ps 139 dargestellte Verhältnisbestimmung zwischen Gott und Mensch ist entscheidend, dass Gott als unhintergehbarer Grund des Menschen beschrieben wird. Der kategoriale Unterschied zwischen Gott und Mensch wird in Ps 139 mehr als deutlich: „Wir können uns nicht aus der Ordnung von Tag und Nacht, aus der Ordnung der Zeit, wegdenken. Einzig der, der sie gesetzt hat, transzendiert den Horizont menschlicher Erfahrung. Daher gelten allein für ihn andere Kategorien. Der Unterschied von ,Licht‘ und ,Finsternis‘ ist für ihn relativ, für die Menschen hingegen ist er absolut.“246 In der Anrede zu Gott wird das Eintreten in ein Verhältnis deutlich: Die Beziehung von Gott zu dem betenden Ich ist nicht statisch, sondern bezieht das betende Ich und seine Umwelt mit ein. Das betende Ich hat Gott nicht ganz erfasst, auch nicht die Welt in der Gestalt der „Gottlosen“ und sich selbst auch nicht, doch hat es sich verortet und in Bezug zu seinem Schöpfer gesetzt.247 Auf der anderen Seite dieser unhintergehbaren Beziehung ist Gott der, der zu
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biblische Texte selbst berufen, wodurch Moser von außen her zum prophetischen Hermeneuten für das Innen wirkt: Nämlich daß auch wir nicht allzu wohlfeil von Gottes Liebe sprechen, als würden wir durch die Liebe, wie wir sie verstehen, schon sein Geheimnis im Griff haben können.“ (Fuchs, Assoziationen, 152). Später modifiziert Moser dieses Gottesbild und veröffentlicht ein weiteres Werk zu diesem Thema – dieses Mal versöhnlicher gestimmt (vgl. Moser, Tilmann, Von der Gottesvergiftung zu einem erträglichen Gott. Psychoanalytische Überlegungen zur Religion, Freiburg im Breisgau 2003). Vgl. Pressler, Carolyn, Certainty, Ambiguity, and Trust: Knowledge of God in Psalm 139, in: Strawn, Brent A./Bowen, Nancy R. (Hg.), A God So Near (Essays on Old Testament Theology in Honor of Patrick D. Miller), Winona Lake 2003, 91–99, 97: „But in my judgment the mood of the psalm shifts in v.13 from ambivalence, bordering on dread, trust. Ambivalence, then is resolved not into certainty but into trust.“ Vgl. Zenger, Psalmen, 1203. Vgl. Hartenstein, Gott, 502. Maier, Beziehungsweise, 182: „Statt sich von Gottes Gegenwart bedrängt zu fühlen, ist die Beterin nach dem Erwachen von Gottes Nähe getröstet.“ Hartenstein, Gott, 501. Vgl. Korsch, Dietrich, Dogmatik im Grundriß. Eine Einführung in die christliche Deutung menschlichen Lebens mit Gott, Tübingen 2000, 136.
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seinem Geschöpf in Verbindung geblieben ist und bleibt.248 Indem Menschen an Gott glauben, bekennen sie sich dazu, dass sie seit Beginn ihres Lebens – wie in V. 13 von dem betenden Ich erkannt – mit Gott in Beziehung stehen.249 Diese Einsicht führt uns dazu, Gott in unser Leben aufzunehmen und unser Leben annehmen und gestalten zu können.250
Fremde Nähe Gottes Trotz dieser Wendung des betenden Ichs hin zum Gottvertrauen behalten die ambivalenten Aussagen im ersten Teil des Psalms ihre Geltung. Dass Gott ab V. 13 als menschenzugewandt beschrieben wird, verwischt nicht die anderen Aussagen. Die einzelnen Verse des Psalms behalten ihre Geltung. Der erste Teil steht weiterhin für die ambivalenten Erfahrungen mit der unausweichlichen Nähe Gottes, das verzweifelte Unverständnis des betenden Ichs und die Erfahrung Gottes als unüberwindbare Grenze des Menschen. Selbst oder gerade, wenn Gott als nah erlebt wird, bleibt er anders und fremd, manchmal unbegreiflich und größer als der Mensch. Neben der positiven Gewissheit, Gottes Geschöpf zu sein, seine Gegenwart erleben zu dürfen, von ihm im Leben bedacht zu werden, kann Gottes Wirken immer wieder zum Gefühl der Bedrängnis und zu Fluchtgedanken führen. Am Ende der Exegese von Ps 139 steht das Bild eines Gottes, der den Menschen geschaffen hat und ihn auf seinem Lebensweg begleitet. Dieses Ergebnis ähnelt den Worten, mit denen er in der christlichen Frömmigkeitstradition oftmals oberflächlich rezipiert 248 Vgl. Korsch, Dogmatik, 134. 249 Vgl. Korsch, Dogmatik, 17: „Durch den Blick auf die Gestaltung unseres Lebens wird nun aber (…) deutlich, dass die Unmittelbarkeit des Gottesverhältnisses auch mich selbst als individuellen Menschen erreicht. Ich bin immer schon in dieses Verhältnis einbezogen, finde mich darin vor, sobald ich die Augen aufschlage. Das Ineinander von Selbstverhältnis und Weltverhältnis als nicht veränderliche Struktur meines eigenen Lebens anzunehmen und sich auf die Aufgabe einzulassen, es zu gestalten: das macht die Unbedingtheit aus, für die das Gottesverhältnis einsteht.“ 250 Vgl. Korsch, Dogmatik, 17 [Hervorhebung im Original]: „Das Gottesverhältnis kommt (…) darin als die Dimension der Unbedingtheit des Lebens als Selbst in der Welt zur Geltung, dass wir verstehen: dieser Ort des Lebens und die Art und Weise, es zu führen sind für uns ohne Alternative. Wir sind und bleiben Wesen, die in einem Verhältnis zu sich stehen, das nicht aus der Welt erzeugt ist, das aber ohne Welt nicht sein kann. Das Gottesverhältnis ist (…) dann auch darin unbedingt, dass nun die Erkenntnis dieser Lage nicht in Ablehnung oder gar Verzweiflung über die Verfasstheit unseres Lebens stürzt, sondern dazu verhilft, dass wir unser Leben annehmen und uns der Gestaltung unseres Lebens an diesem Ort froh und gern widmen.“ Vgl. Maier, Beziehungsweisen, 186: „Ps 139 drückt durch seine Kommunikationsstruktur und körperbezogene Sprache eine enge Beziehung der Beterin zur Gottheit aus, die von dieser als äußerst bedrohlich erfahren wird und sich erst im Rückblick auf die eigene Geschöpflichkeit zum Positiven wendet. Die Bitte um Prüfung des Herzens und der Gedanken (V. 23) zeigt, dass dadurch die Gottesbeziehung der Beterin zwar nicht ,geheilt‘ ist, aber dennoch als eine Lebensmöglichkeit erscheint.“
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wurde. Der Psalm ist zwar als Psalm der Geborgenheit zu bezeichnen, doch bleibt der Weg hin zu diesem Ziel entscheidend: Ein Weg mit Fragen an Gott, Unverständnis über sein Handeln und Krisen mit Gott.251 Ps 139 zeugt von einer angefochtenen Theologie und Frömmigkeit. In Bedrängnissen und Umstürzen betont er die Unverfügbarkeit und Freiheit Gottes: „Die weisheitliche Reflexion zielt aber darauf ab, die Gottheit Gottes zu wahren, die Nähe Gottes nicht einfach den Bedürfnissen des Beters, für die sie angerufen wird, zuzuordnen, die Differenz zwischen bedürftigem Menschen und nahem Gott bewusst zu machen und auch im nahen Gott den ganz anderen, rätselhaften, uneingrenzbaren mächtigen Gott erleben zu lassen.“252 Bezüge zur Gegenwart und Konsequenzen Paul Tillich hat in seiner Predigt über Ps 139 darauf aufmerksam gemacht, dass das Phänomen der bedrohlichen Nähe Gottes nicht auf den Psalm zu beschränken ist, sondern bis in seine Gegenwart reicht. In seiner Predigt über Ps 139 nimmt Tillich diesen Gedanken auf und bezeichnet Gottes Nähe bzw. Gegenwart als Angriff und zugleich Grund und Sinn des menschlichen Daseins.253 Otto Kaiser beschreibt Gottes Gegenwart als verborgenen Grund der menschlichen Existenz, dem nicht zu entrinnen ist.254 Hartenstein kommt in seiner Deutung von Ps 139 zu einem ähnlichen Ergebnis: Gott sei Grenze und Grund der Welt.255 Ps 139 ist ein Beispiel dafür, dass in ambivalenten Beziehungen die eigene Identität gefunden bzw. gestärkt werden kann, die im Blick auf die Gottesbeziehung gerade darin besteht, dass sie über das eigene Selbst hinausgeht. Auch die vorliegenden Ergebnisse weisen darauf hin, dass die Kategorie der Ambivalenz und eine ambivalenzbewusste Exegese für Psalm 139 tragfähig sind.256 Aus heutiger Perspektive ist es von besonderer Bedeutung, dass sich der 251 Vgl. Maier, Beziehungsweisen, 186: „Eine Rezeption des Psalms, die V. 1–6 als Lob der tröstlichen Nähe Gottes und die in V. 7–12 geäußerten Fluchtgedanken als Lobpreis der göttlichen Allgegenwart versteht, ist von dieser Perspektive aus möglich. Sie steht jedoch in der Gefahr, die Dynamik des Textes zu verwischen und unterschlägt, dass die Gottesbeziehung beschrieben wird.“ 252 Gross, Gottesnähe, 81. 253 Vgl. Tillich, Flucht, 49. 254 Vgl. Kaiser, Theologie, 150: „Wir würden diese Allgegenwart und Allwissenheit Gottes heute mit dem Schlag des Gewissens verbinden, in dem sich ein Anspruch auf unsere Verantwortung für den Nächsten vor Gott und für unser Vertrauen in ihn als den verborgenen Grund unseres Daseins meldet, dem wir nicht zu entrinnen vermögen.“ 255 Vgl. Hartenstein, Gott, 491. 256 Vgl. Dietrich/L scher/M ller, Ambivalenzen, 209. Vgl. Dietrich/L scher/M ller, Ambivalenzen, 116 f: „Sofern das Ambivalente zur Grundkonstitution des Menschseins und menschlichen Erlebens und Zusammenlebens gehört, und sofern die Bibel ein Grundbuch menschlicher Erfahrung und Lebensbewältigung ist, verwundert es eigentlich nicht, dass sich mit dem ,Konzept der Ambivalenz‘ wohl sehr viele ihrer Schriften erschließen lassen.“
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Beter trotz dieser negativen Gotteserfahrung nicht abwendet, sondern Gott weiterhin anspricht und die Ambivalenz aushält und reflektiert.257 Psalm 139 bietet ein Beispiel des gelingenden Umgangs mit ambivalenten Gotteserfahrungen: Das betende Ich sucht die Nähe Gottes, um ihm im Gebet mitzuteilen, dass ihm seine Nähe zu nah ist.258 Er lässt aber von Gott nicht ab.259 Dadurch wird deutlich, dass die Nähe nicht einseitig negativ geschildert wird, sondern als Ambivalenz zwischen der Suche nach der Nähe Gottes im Gebet und gleichzeitigen Fluchtgedanken. Das betende Ich problematisiert vor Gott sein Verhältnis zu ihm und offenbart Gott gegenüber seine Gefühle und Ängste. Das führt zu einer authentischen Gottesbeziehung, in der es vor Gott nichts verbergen muss.260 Weiterhin ist gegenwärtig mit Ps 139 zu fragen, wie über die Nähe Gottes theologisch gesprochen wird. Auch heute gibt es die von Tillich und Becker beschriebene Flucht vor Gott. Das Gottesbild von Ps 139 beinhaltet herausfordernde Aspekte, die zu inneren und anstrengenden Auseinandersetzungen führen, die auch – da unangenehm – vermieden werden können.261 In der 257 Vgl. J ngel, Eberhard, Gott als Geheimnis der Welt. Zur Begründung der Theologie des Gekreuzigten im Streit zwischen Theismus und Atheismus, Tübingen 72001, 66 f [Hervorhebung im Original]: „Ganz anders stellt sich dem neuzeitlichen Menschen die Frage: wo ist Gott? Heute könnte jedermann so fragen. Es könnte die Frage des Atheisten sein, der überhaupt nicht mehr nach Gott fragt. Denn sie ist die – im Nicht-mehr-Fragen freilich verschwiegene – Rechtfertigung seines Nicht-mehr-Fragens. Es könnte aber ebensogut die Frage des aus der Tiefe der Verzweiflung nach Gott Schreienden und durchaus auch die stille Frage der auf vereinsamten Höhen scheinbar unbeirrt von Gott Redenden sein. Nicht nur Gottesfeindschaft, sondern intensive Frömmigkeit könnte heute auf den Gedanken kommen, den die Allgegenwart preisenden 139. Psalm umzudichten: ,Stiege ich hinauf in den Himmel, so bist Du nicht dort.‘“ 258 Vgl. Gross, Gottesnähe, 79: „Der Psalm bietet (…) eine weisheitliche Reflexion darüber, daß auch der nahe Gott notwendigerweise so sehr Gott, anders und übermächtig ist, daß diese Nähe auch ihre unverständlichen, schreckenden Seiten behält und daher – wenn auch entsprechend der Leserichtung die positive Wertung den Ausschlag gibt – bleibend ambivalent erlebt wird.“ 259 Vgl. J ngel, Gott, 66 [Hervorhebung im Original]: „Nicht aber stellt eine grundsätzliche Ungewissheit im Blick auf Gott so etwas wie Gottesgewissheit überhaupt in Frage. Auch die nicht von außen, sondern aus dem eigenen Herzen kommende Anfechtung des eigenen Glaubens an Gott, der allein Glauben zu finden Recht haben sollte, ist so auf keinen Fall zu verstehen. (…) Doch der solchermaßen angefochtene Glaube könnte sich nicht so aussprechen, dass er dadurch das Sein seines Gottes in Frage gestellt sähe.“ 260 Vgl. Zenger, Einleitung, 370: „Sie [Die Psalmen, EKV] machen Ernst mit der biblischen Grundüberzeugung, dass man im Gebet alles, wirklich alles sagen darf, wenn man es nur Gott sagt.“ 261 Vgl. Becker, Silvia, Über die Angst vor Gottes Nähe, GuL 74 (2001), 131–138, 134: „Auch wenn es dem modernen Denken seltsam erscheint: Es gibt nicht nur die immer wieder beschworene Erfahrung der Gottesferne. Es gibt auch umgekehrt – heute vielleicht mehr noch als früher – die Flucht des Menschen vor der Berührung Gottes, die Angst vor seiner Nähe und Gegenwart. Ob diese – zumeist unbewußte – Abkehr nicht die Kehrseite der vermeintlichen ,Gottlosigkeit‘ unserer Zeit darstellt? Der Mensch beklagt die Gottverlassenheit seines Lebens und übersieht dabei, dass er selbst vor der Berührung Gottes davon rennt. Hat er nicht immer trefflichere Mechanismen entwickelt, um das Dasein Gottes aus seinem Alltag zu verdrängen?
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Verkündigungspraxis benötigt es Mut, diese Ambivalenzen auch im Gottesbild anzusprechen und nicht zu glatt von Gott zu sprechen. Wird die Nähe Gottes verharmlost und einseitig beschrieben, taugt sie nicht für Krisen.262 So auch Silvia Becker, die in ihrem Aufsatz aus dem Jahr 2001 „Über die Angst vor Gottes Nähe“ Ps 139 auslegt, ähnliche Schlussfolgerungen zieht und sich für eine komplexe Rede von Gottes Nähe ausspricht. Sie erkennt die „Spannung von unendlich liebender Zuwendung und harter Anforderung, die Spannung von Gnade, Allmacht und Unverfügbarkeit, die ewig gleiche Geschichte von Gottes andrängender Gegenwart und der Flucht des Menschen“263. Daraus zieht sie zurecht folgende Konsequenz: „Vielleicht geht es heute vor allem darum, diese allgegenwärtige Tendenz zu religiöser Beschwichtigung und Verharmlosung zu durchbrechen, ohne dabei zurückzufallen in überwundene Straf- und Höllenängste, mit denen sich unsere Eltern und Großeltern noch herumschlagen mussten. Anders ausgedrückt: Es geht darum, die weitgehend verdrängte Angst vor Gott zu ersetzen durch eine recht verstandene Gottesfurcht und Gottesliebe.“264 Beckers Ansatz ist in meinen Augen ein sinnvolles Beispiel, wie heute Ps 139 ausgelegt werden kann. Gottes Nähe wird nicht harmlos oder einseitig beschrieben, sondern im Rahmen eines dynamischen Beziehungsgeschehens zum Menschen als vielfältig, lebendig und unverfügbar geschildert. Sie verdeutlicht überzeugend, dass mit Ps 139 komplex und herausfordernd von der Nähe Gottes zu sprechen ist. Es gilt, die verschiedenen und fremden Gottesbilder nicht zu glätten, sondern sie auszuhalten und sich mit ihnen auseinanderzusetzen.
Der Psalm stößt auf eine unangenehme Wahrheit: Der Mensch fürchtet sich davor, Gott an sich heran zu lassen. Er glaubt, sich vor ihm schützen zu müssen. Und dies kann mitunter auf sehr subtile Weise geschehen, besonders bei religiösen Menschen.“ 262 Vgl. Becker, Angst, 134: „Nähe Gottes heißt vor allem: Ich darf, ja, ich soll die Hand Gottes auf meiner Schulter annehmen – in Freude und Leid, in Hoffnung und Verzweiflung, in Erfolg und Enttäuschung. Leicht ist das nicht.“ 263 Becker, Angst, 132. 264 Becker, Angst, 138.
4. Theologische Befunde und Reflexion 4.1 Vergleich zwischen Jer 20,7–18 und Ps 139 Die ambivalente Beschreibung der Nähe Gottes in Jer 20,7–18 und Ps 139 bringt zum Ausdruck, dass die Nähe Gottes als abgründig und gefährlich erfahren werden kann und dass sie nicht festlegbar ist, sondern unverfügbar bleibt. Theologiegeschichtlich ist für diese theologische Deutung der Nähe Gottes das Exil von entscheidender Bedeutung. In dieser konkreten Krise setzte man sich verstärkt mit der Fremdheit und Ambivalenz Gottes auseinander. Diese bedrängende Erfahrung wurde biblisch nicht nur mit der Ferne Gottes in Verbindung gebracht, sondern auch mit einer Auseinandersetzung mit dem nahen Gott. Die Zerstörung des Jerusalemer Tempels und die Erfahrung des Exils führten zu einer Krise im Gottesverständnis, zur Enttäuschung von Machterwartungen an die eigene Gottheit und zu einer neuen Auseinandersetzung mit eingeprägten Vorstellungen.1 „Dieses Widerfahrnis hat Israels Gottesverständnis grundlegend verändert, so daß Nähe Gottes forthin nicht mehr dieselbe Nähe und ebenso wenig Ferne dieselbe Ferne sein konnte. Der eine Tag hat eine neue Epoche eingeleitet und in der Theologiegeschichte Israels Epoche gemacht.“2 Die Krise war Ausgangspunkt einer neuen Reflexion über die Nähe Gottes.3 In dieser bleibt der Tempelkult zentraler Vorstellungshintergrund: Das Beziehungsgeschehen zwischen Mensch und JHWH ist weiterhin von der Symbolik des Jerusalemer Kults geprägt. Gleichwohl erfahren individuelle Frömmigkeitsformen verstärkte Hochachtung, die Gotteserfahrung im Wort wird betont und das Leiden auch als individuelle Erfahrung artikuliert. Eng mit dem kultischen Vorstellungshintergrund verknüpft ist die Vorstellung der Heiligkeit Gottes. Die Ehrfurcht vor der Nähe Gottes prägt die Frömmigkeit Israels – auch durch das kaum nahbare Allerheiligste.4 Die Heiligkeit Gottes, das, was Gott anziehend macht, und das, was vor ihm erschauern lässt, ist „das eigentliche Wesen der Gottheit. Wo
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Vgl. Feldmeier/Spieckermann, Gott, 153. Spieckermann, Gott, 123. Vgl. Eberhardt/Liess, Nähe, 7. Fuchs, Assoziationen, 151: „Darin ereignet sich die ambivalente Unergründlichkeit der Hoheit und Tiefe Gottes. Kultisch zeigt sich dies darin, daß der Hohepriester nur einmal im Jahr, am Versöhnungstag, das Allerheiligste betreten darf. Diese Einsicht prägt offensichtlich auch die Spiritualität Israels.“
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Theologische Befunde und Reflexion
dieses Wissen in unserem Reden von Gott nicht mehr mitschwingt, hat er sich uns längst entzogen.“5 Die exegetischen Untersuchungen zu Jer 20,7–18 und Ps 139 haben ergeben, dass Gottes Nähe fremd und wandelbar im Zusammenhang mit einem dynamischen Beziehungsgeschehen zwischen einer Einzelperson und Gott beschrieben wird. Aus den Texten ergeben sich folgende übergreifende Themen, an denen die Ambivalenz der Nähe Gottes deutlich wird: die Verbindung von Theologie und Biographie (1), eine radikale Theologie der Anfechtung (2), die Auseinandersetzung mit dem Bild von einem unausweichlichen und zugleich souveränen Gott (3), gerichtstheologische Vorstellungen (4), das beschriebene Leiden an der Nähe Gottes (5) und die Vergewisserung der eigenen Identität (6). Diese theologischen Befunde fasse ich im Folgenden zusammen und benenne Gemeinsamkeiten und Unterschiede. 1) Die Erfahrung der Nähe Gottes wird in Jer 20,7–18 und Ps 139 nicht abstrakt beschrieben, sondern an einer einzelnen Gestalt dargestellt: an Jeremia und dem betenden Ich des Psalms. Das Individuum wendet sich im Gebet an JHWH, den Urheber seines Leidens und seiner Rettung. Es handelt sich nicht um historische Berichte, sondern insbesondere bei den Konfessionen Jeremias um narrative Theologie; Theologie und Biographie sind eng miteinander verbunden.6 Dabei geht es nicht darum, die Persönlichkeit Jeremias zu ergründen, sondern sein Schicksal als wahrer Prophet in exemplarischer Weise zu deuten.7 Sein Geschick lässt sich übertragen auf Situationen, in denen prophetische Ankündigungen und deren Erfüllung auseinanderklaffen und Leiden zur Konsequenz haben.8 2) In diesem dynamischen Beziehungsgeschehen kommt es zu radikalen Aussagen über Gott: In Ps 139,5 wird Gott als Feind beschrieben, der das betende Ich umzingelt (L9J). Die Konfessionen treffen noch drastischere Aussagen: Gott wird vorgeworfen zu täuschen (Jer 15,18; 20,7) und Jeremia verflucht seine Existenz (Jer 20,14–18). Die Texte handeln von einer Krise, die zentral auch die Gottesfrage erreicht, und von Theologie und Frömmigkeit in Anfechtung. Dies wird u. a. an der körperbezogenen Sprache deutlich. Sowohl Ps 139 als auch Jer 20,7–18 verwenden folgende Körpermetaphern: 5@ („Herz“), AJF („Gebein“), N9=@? („Nieren“), MHD („Seele/Leben/Person“) und A;L („Mutterleib“) bzw. A4 Cü5 („Bauch der Mutter“). An der verwendeten Körpermetaphorik ist zu erkennen, dass die Nähe Gottes in Jer 20,7–18 weitaus herausfordernder und übermächtiger beschrieben wird als in Ps 139.9 Sind die genannten Ausdrücke in Ps 139 weitgehend in Lob eingebunden, so in 5 6 7 8 9
Kaiser, Theologie 2, 111. Vgl. Wilke, Gebete, 248.278 ff.327 f. Vgl. Sch le, Geschick, 248. Vgl. dazu in dieser Studie Kapitel 2.6 Ertrag. Vgl. dazu in dieser Studie Kapitel 2.4 Traditionsgeschichte: Das Motiv der ambivalenten Nähe Gottes im Körperkonzept und Kapitel 3.4 Traditionsgeschichte: Das Motiv der ambivalenten Nähe Gottes im Körperkonzept.
Vergleich zwischen Jer 20,7–18 und Ps 139
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Jer 20,7–18 in die Erfahrung des Zornes Gottes und der Selbstverfluchung. Bei aller Unterschiedlichkeit ist der Mensch jedoch in beiden Texten als ganzer – mit Leib und Seele, beziehungsfähig und beziehungsbedürftig – angefochten und bleibt Gott gegenüber loyal. Die Konfessionen und der Psalm sind Zeugnisse einer Frömmigkeit, die versucht Krisen und Leiden zu deuten, indem sie Gott nicht in weite Ferne rückt, sondern sich mit Gottes (mitunter) schmerzhafter Nähe auseinandersetzt.10 3) Die Beziehung zwischen dem betenden Ich und Gott ist in beiden Texten von Nähe, verstanden als Unausweichlichkeit, geprägt. Die Figur des Jeremia muss trotz seines Widerstrebens den Prophetendienst ausüben (Jer 20,7 ff).11 Baumgartner beschreibt Jeremias Situation als „Zwangszustand“12. Das betende Ich des Psalms kann weder vor Gott, noch seiner Umwelt, noch vor sich selbst fliehen (Ps 139,7–12). Die Unentrinnbarkeit wird als Belagerung, als Eingeschlossen- bzw. Umzingelt-Sein beschrieben. Diese Unentrinnbarkeit löst Fluchtgedanken und der Zwang bei Jeremia Widerstand aus. Samuel Terrien spricht im Zusammenhang von Ps 139 von einem „haunting God“. Die Gottesbeziehung des betenden Ichs sei nicht eindeutig, sondern durchgängig ambivalent: „His attitude toward the haunting God, nevertheless, is not altogether one of dread. An undertone of admiration and perhaps a hint of praise are audible in the stains of his complaint. (…) The God who owns darkness and light has also created him.“13 Damit bezieht sich Terrien auf die Schöpfungsaussagen in Ps 139, die die Nähe Gottes bereits vorgeburtlich beschreiben (V. 13–16). Vor diesem schöpfungstheologischen Hintergrund deutet er die Flucht des betenden Ichs vor Gott plausibel auch als Flucht vor sich selbst.14 Diesen Aspekt betont auch Tillich in seiner Predigt „Flucht vor Gott“, indem er Psalm 139 als Auseinandersetzung mit der unentrinnbaren Gegenwart Gottes versteht. Nach Tillich kann niemand Gott entkommen und gerade diese Er10 Vgl. Hartenstein, Friedhelm, Ein zorniger und gewalttätiger Gott? Zorn Gottes, „Rachepsalmen“ und „Opferung Isaaks“ – neuere Forschungen, VuF 58 (2013), 110–127, 126 [Hervorhebung im Original]: „Es geht ihnen – rekonstruiert man ihre antiken Verständnishintergründe – um Versuche des Umgangs mit den undurchschaubaren und negativen Aspekten der Wirklichkeitserfahrung (in der Natur, in der sozialen Sphäre/der Geschichte und im individuellen Leben). Was uns an diesen Texten als schwierig und problematisch erscheint (Gewaltaussagen, Anthropomorphismen und Anthropopathismen) sind im Licht historisch-kritisch angestoßener Interpretation zwar oft fremde und darin erst zu erschließende Gedanken und Vorstellungen. Bleibend relevant sind aber die darin sichtbaren Bewältigungsversuche für das, was zuletzt weder verstanden noch erledigt werden kann: Die Erfahrung des Leidens und des ,Bösen‘ als ,des Unerklärlichen‘.“ 11 Vgl. Wilke, Gebete, 311: „Wesentliche Momente sind die ambivalente Darstellung JHWHs, der Versuch des Beters, dem Amt zu entgehen, die Deutung des Amtes als Rede und Erinnerung, die Selbsttätigkeit des Wortes und die Lächerlichkeit des Propheten.“ 12 Vgl. Baumgartner, Klagegedichte, 65. 13 Terrien, Samuel, The Elusive Presence. The Heart of Biblical Theology (RPS 26), San Francisco u. a. 1978, 329. 14 Vgl. Terrien, Presence, 331: „By attempting to fly away from the spirit of Yahwe, the psalmist learned that he was also wasting his own selfhood.“
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Theologische Befunde und Reflexion
fahrung mache Gott zu Gott. Gottes Wirken ergründe den Menschen in seiner Tiefe und lasse sich sowohl als Angriff auf die Existenz als auch als Grund des menschlichen Seins beschreiben.15 Flucht und Widerstand erscheinen zwecklos.16 Gott wird als „das unentrinnbare Gegenüber“17 geschildert.18 In beiden Texten dominiert ein Gottesbild, das allgegenwärtig nah ist: fremd, frei, einverleibend, übermächtig. Wann und wie Gott eingreift und richtet oder rettet, ist nicht verfügbar.19 Das betende Ich schwankt in Ps 139 zwischen Flucht und Faszination, in Jer 20,7–18 zwischen Hingabe und Verzweiflung. Die Unverfügbarkeit und das Anderssein Gottes werden in beiden Texten zu Kennzeichen seiner Souveränität. Der Gerechte ist mit einem „wenig einschätzbaren Gegenüber“20 konfrontiert. Die „unergründliche Freiheit Gottes“21 hat das Leiden Einzelner zur Konsequenz. Die Macht Gottes verdeutlicht den kategorialen Unterschied zwischen menschlicher Fragilität und Gottes Wirken.22 JHWH wirkt überwältigend (Jer 20,7–18) und man kann ihm nicht entkommen (Ps 139,7–12). Das bedeutet, dass alle Erfahrungen mit ihm verbunden sind und Gottes Wirken nicht nur mit bestimmten, positiven Erfahrungen in Beziehung gesetzt werden kann.23 Sowohl in den Konfessionen als auch in Ps 139 wird Gottes Nähe mit seiner Macht verbunden und durch seine Erkenntnis, sein Wissen um den Menschen beschrieben (Jer 12,3; 15,15; 17,16; 18,23 und Ps 139,1.2.4.5.6.14.23). Das Prüfen von Herz und Nieren durch Gott unterstreicht diesen Aspekt (Jer 11,20; 12,3; 17,10; 20,12), wobei das betende Ich des Psalms explizit um die Prüfung des Herzens bittet (Ps 139,23). Diese Erkenntnis JHWHs wird als ambivalent erlebt: Sie ist zu nah und bedrohlich, aber auch schützend und rettend.24 Jer 20,7–18 und Ps 139 zeigen, dass sich das betende Ich zum Urheber seines Leidens wendet, der immer auch Urheber seiner Hilfe ist. 4) Die Beschreibung, dass der Mensch Gott nicht entkommen kann, hängt mit gerichtstheologischen Vorstellungen zusammen: „Gottes Nähe wie Gottes Ferne, seine Fülle wie sein Wort sind Aspekte seiner richtenden Allgegenwart
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Vgl. dazu in dieser Studie Kapitel 3.5.1 Eine Predigt von Paul Tillich über Ps 139. Vgl. Behler, Gott, 138; Hartenstein, Angesicht JHWHs, 220. Kaiser, Theologie 2, 129. Vgl. Kaiser, Theologie 2, 138: „Gottes überräumliche Räumlichkeit und überzeitliche Zeitlichkeit besitzt je nach dem Kontext eine für den Menschen bedrohliche oder tröstende Seite. Der Gott, der im höchsten Himmel thront, besitzt jederzeit vollständige Kenntnis von dem, was auf Erden geschieht; daher bleibt nichts von dem, was die Menschen tun, vor ihm verborgen.“ Vgl. Wilke, Gebete, 418: „In aller Widerständigkeit und Ambivalenz öffnen die Konfessionen Jeremias das Gottesbild für die Fülle möglicher Erfahrungen mit einem Gott, der unverfügbar bleibt.“ Wilke, Gebete, 328. Hartenstein, Gott, 499. Vgl. Feldmeier/Spieckermann, Gott, 153. Vgl. Fuchs, Assoziationen, 153. Vgl. Wilke, Gebete, 329.
Vergleich zwischen Jer 20,7–18 und Ps 139
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geworden.“25 Gott ist nicht entweder nah und sorgt für Wohlergehen, oder fern und ist abwesend, sondern er kann auch mit seiner Nähe zerstören und vernichten.26 In den Konfessionen spielt Gottes Eigenschaft als Richter eine größere Rolle als in Psalm 139. Während in der ersten Konfession JHWH als gerechter Richter beschrieben wird (Jer 11,20), leidet Jeremia in den folgenden Konfessionen zunehmend unter der dargestellten Verzögerung von Gottes Gerichtshandeln. Damit wird deutlich, dass mit dem Gericht auch Verheißung, Rettung und ein Eingreifen Gottes zusammenhängen können. Verbunden sind die Konfessionen Jeremias und Ps 139 durch die Beschreibung der prüfenden und richtenden Nähe Gottes. In den Konfessionen prüft JHWH Herz und/oder Nieren (Jer 11,20; 12,3; 20,12). In Ps 139 wird das betende Ich durch Gott erforscht (Ps 139,1) und bittet ausdrücklich um Gottes Gericht (Ps 139,19–22) und dessen Prüfung (Ps 139,23 f). 5) Sowohl in Jer 20,7–18 als auch in Ps 139 wird das Leiden Einzelner an der Gottesnähe deutlich. Die Gottesgemeinschaft hat in beiden Texten Leiden zur Konsequenz. Während in Ps 139 das Leiden durch ein Ringen des betenden Ichs mit Gott, der ihm unausweichlich erscheint, ausgedrückt wird, sind in Jer 20,7–18 Leiden und soziale Ausgrenzung sogar Kennzeichen der Gottesnähe (Jer 20,8).27 Gottesnähe und Wohlergehen scheinen sich auszuschließen. Die Nähe Gottes wird in Ps 139 und Jer 20,7–18 nicht harmlos dargestellt, sondern herausfordernd, einbrechend und in Anspruch nehmend. Sie lässt den betenden Menschen nicht unversehrt zurück.28 Es ist die Nähe und nicht die Verborgenheit Gottes, die Leiden mit sich bringt bzw. die Verborgenheit von Gottes Barmherzigkeit. In den Konfessionen wird das Problem zwischen Leiden und Erwählung besonders deutlich. Die Erwählung ist am Beispiel von Jeremia ein Erkenntnisgeschehen: Jeremia wird vor seiner Formung im Mutterleib erkannt, ausgezeichnet und auserwählt. Gottes Wort und sein Handeln scheinen aber für den erwachsenen Jeremia auseinanderzudriften. Gottes Zusage wird ihm fraglich. Jeremia leidet bis zur Selbstverfluchung an seiner Erwählung. Er nimmt Züge eines Gottesknechts an, wie er in der weisheitlichen Literatur beschrieben wird. Er bleibt in der prophetischen Handlungsrolle und hält an Gott fest. Das betende Ich in Ps 139 scheint diese Haltung schließlich freiwilliger einzunehmen (Ps 139,23), obwohl auch sein Wunsch, sich vor Gott zu verbergen, als Krise angesehen werden muss (Ps 139,11). Diese Krise gleicht zwar nicht der Selbstverfluchung Jeremias, da jedoch in der alttestamentlichen Anthropologie das Gottesverhältnis aufs engste mit dem Selbstverhältnis
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Spieckermann, Gott, 131. Vgl. Fuchs, Assoziationen, 152. Vgl. Wilke, Gebete, 246. Vgl. Wilke, Gebete, 325; vgl. auch Kçckert, Gott, 429: „Gott kommt nicht nur tröstend nahe, sondern auch bedrohlich, so bedrohlich, dass man daran zerbrechen kann.“
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Theologische Befunde und Reflexion
verbunden ist, stellt es zumindest eine Infragestellung der eigenen Person dar.29 Terrien beschreibt das geschilderte Leiden an der Nähe Gottes in Ps 139 als Theodizee: „The problem of theodicy was for him aggravated by his experience of divine presence in its universality and its individuality.“30 Die Konfessionen enden in der Verzweiflung mit der Selbstverfluchung Jeremias (Jer 20,14–18). Sie werden nicht geglättet, sondern enden offen mit einem Vorwurf. Wie andere biblische Texte (vgl. Ps 88; Hi 5,18) machen die Konfessionen und Ps 139 Gott für das Leiden und Wohlergehen verantwortlich. Dass Terrien die Frage der Theodizee mit Gottes Nähe verbindet, ist bemerkenswert, da die Frage der Theodizee in der Forschung vorwiegend im Zusammenhang mit der Verborgenheit und dem Nicht-Eingreifen Gottes verhandelt wird.31 In Ps 139 und Jer 20,7–18 wird das Leiden an Gottes Nähe beschrieben bzw. an der Verborgenheit von Gottes Barmherzigkeit. Gross und Karl-Josef Kuschel unterstreichen die „prinzipielle Unbeantwortbarkeit der Theodizeefrage“ und betonen: „keine Ordnungs- und Leidenstheologie, keine Schuld- und StrafeTheorie, keine Moralisierung, Ästhetisierung und Pädagogisierung des Übels wird dieses Rätsel lösen.“32 Es geht dann darum, „die Erfahrungen des Übels coram Deo artikulierbar zu machen, die Anfechtungen Gott nicht zu verschweigen, Protest wie Klage nicht zu verinnerlichen oder zu beschwichtigen, sondern auszusprechen (…).“33 Dafür sind Ps 139 und Jer 20,7–20 beispielhafte Texte, die Leiden in Worte fassen und allem Augenschein zum Trotz auf Gottes Eingreifen hoffen. Das Leiden an der Gottesnähe wird an der Figur des Jeremia eindrücklich beschrieben und in den Fortschreibungen der Konfessionen immer stärker kollektiv verstanden und universalisiert. Während die Grundschicht der Konfessionen davon bestimmt ist, dass Jeremia als Person unter dem nicht vollzogenen Gericht Gottes leidet, wird Jeremia in der ersten Fortschreibung kollektiv-exemplarisch als leidender Gerechter, in der zweiten Fortschreibung kollektiv-repräsentativ als leidendes Gottesvolk und in der dritten Fortschreibung als leidender Mensch interpretiert. Die Konfessionen wurden sowohl innerhalb der alttestamentlichen Textentwicklung als auch über diese hinaus als Texte verstanden, die für vergleichbare Situationen offen sind. Damit wird Jeremia zum Rollen- bzw. Problemträger, der für Lesende exemplarische Gebete spricht. Bonhoeffer beschreibt die Leidenserfahrung in seiner Predigt über Jer 20,7 als ein Nicht-Mehr-Loskommen von Gott. Die Predigt zeigt erneut, dass auf die Konfessionen Jeremias in vergleichbaren Krisen 29 Vgl. Janowski, Konfliktgespräche, 13. 30 Terrien, Presence, 331. 31 Vgl. Dietrich, Walter/Link, Christian, Die dunklen Seiten Gottes. Bd. 2: Allmacht und Ohnmacht, Neukirchen-Vluyn 32009, 106. 32 Gross, Walter/Kuschel, Karl-Josef, „Ich schaffe Finsternis und Unheil!“ Ist Gott verantwortlich für das Übel?, Mainz 1992, 208 [Hervorhebung im Original]. 33 Gross/Kuschel, Finsternis, 213.
Vergleich zwischen Jer 20,7–18 und Ps 139
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zurückgegriffen und sich mit ihnen auseinandergesetzt wurde. Bonhoeffer fühlt sich von den Worten in Jer 20,7 in seiner persönlichen Lebenssituation, in seinem Gottesverhältnis und der politischen Katastrophe seiner Zeit gesehen und füllt den Text mit seinen Gedanken.34 Auch in Ps 139 ist das betende Ich überindividuell zu verstehen. Der Psalm gleicht einer weisheitlichen Reflexion, die ein Erkenntnisproblem mit der von Gott bestimmten Ordnung der Welt beschreibt. In dieser Hinsicht kann der Psalm exemplarisch interpretiert werden und ist für ähnliche Situationen offen. 6) Die ambivalente Beschreibung der Nähe Gottes führt in Jer 20,7–18 und Ps 139 zu einer (gebrochenen) Vergewisserung der eigenen Identität. Die Nähe Gottes wird als eine Grenzerfahrung beschrieben, die in unterschiedliche Richtungen im Blick auf das Gottes- und Selbstverhältnis in den beiden Texten führt. Jer 20,7–18 endet offen: Jeremias Verzweiflung wird nicht aufgelöst. Diese Unabgeschlossenheit ist nicht gering zu schätzen, macht sie doch das Nachdenken und Ringen mit Gott deutlich, das nicht zu einem Ende kommen kann. In Ps 139 ist ein Weg von der Negation in die Affirmation der Beziehung zwischen dem betenden Ich und Gott zu beobachten. Die Ambivalenz der Nähe Gottes führt das betende Ich zum Grund des Seins: Er begreift sich neu als Geschöpf Gottes (Ps 139,13). Dies kann im Sinne von „Gott sieht und bestimmt alles“ gedeutet werden, gleichwohl aber auch befreiend, so dass Gott als tiefer Grund seines Lebens und als sein Gegenüber erscheint. Das Beziehungsgeschehen in Psalm 139 verdeutlicht den Gewinn, sich diesem „tragenden und fordernden Grund unserer Existenz“35 anzuvertrauen. Der Psalm beschreibt einen Weg von der Anfechtung zur Stärkung der eigenen Identität und anschließenden Positionierung an der Seite Gottes. So bestimmt ein identitätsbildender Prozess Psalm 139, und das betende Ich geht gestärkt aus Ps 139 hervor. Die gedankliche Bewegung zu den Rändern der Welt und des eigenen Selbst dient sowohl der Selbstvergewisserung als auch der Gottesbeziehung. Hartenstein spricht in diesem Zusammenhang von der Horizonterfahrung: Auch an den Rändern von Raum und Zeit werde Gott als nicht zu überschreitender Horizont des Menschen erfahren. Dies führe zu einer Verortung des Menschen als Geschöpf Gottes, zur Vergewisserung des Glaubens und der Gottesbeziehung.36 In dieser Auseinandersetzung mit dem eigenen Gottesverständnis wird die Wirklichkeit nicht verharmlost, sondern der Erfahrung eine andere Realität – wie z. B. eine Beistandszusage oder der Gedanke des Geschaffen-Seins – entgegengestellt. Das bedeutet nicht, dass die ambivalente Beschreibung der Nähe eindimensional geglättet wird, sondern dass Hoffnung Raum findet.37 Die 34 Vgl. dazu in dieser Studie Kapitel 2.5.1 Eine Predigt von Dietrich Bonhoeffer am 21. Januar 1934 in London. 35 Kaiser, Otto, Der Gott des Alten Testaments. Wesen und Wirken, Theologie des Alten Testaments, Teil 3: Jahwes Gerechtigkeit, Göttingen 2003, 403. 36 Vgl. Hartenstein, Gott, 510. 37 Vgl. Fuchs, Assoziationen, 155; vgl. Feldmeier/Spieckermann, Gott, 339 ff.
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Theologische Befunde und Reflexion
Unauflösbarkeit und Vielstimmigkeit der biblischen Texte verdeutlicht, dass es darum geht, die Texte mit ihren Ambivalenzen zur Sprache zu bringen und in ihrer Fremdheit auszuhalten und nicht darum, sie zu glätten und damit auf einen Begriff zu bringen.
4.2 Theologische Motive der Nähe Gottes Jer 20,7–18 und Ps 139 weisen über eine vereinfachende Beschreibung der Nähe Gottes hinaus. In der Systematischen Theologie ist die Nähe Gottes, die biblisch zentral verhandelt wird, kein klassischer Begriff. Das Problem der Nähe Gottes wird jedoch durchaus im Verhältnis zwischen Gott und Mensch mit großer Aufmerksamkeit verfolgt und es lassen sich Bezüge zu den Begriffen der Allgegenwart, der Gegenwart, der Offenbarung und der Verborgenheit ziehen. Ein Beispiel dafür ist Martin Luther, der an der rationalen Unfassbarkeit Gottes und der Rede des fremden und verborgenen Gottes (deus absconditus) festhält.38 Nach Luther beschreibt die Verborgenheit Gottes die Erfahrung, dass Gott dem Menschen nicht offenbar, sondern unzugänglich erscheint.39 Es sei jedoch genug, den verborgenen Gott zu kennen, jedoch solle man sich nicht an ihm orientieren. Mag sich Gott in der menschlichen Erfahrung in seiner Verborgenheit in den Weg stellen, dann gelte es sich in die Arme des Offenbarten (deus revelatus) zu werfen. Gleichwohl betont Luther auch, dass erstens Gottes Verborgenheit nicht mit seiner Abwesenheit gleichzusetzen ist und zweitens aufgrund der sündigen Verfasstheit des Menschen Verborgenheit auch Bewahrung bedeuten kann. Aus diesem Grunde zeige sich Gott nicht direkt, sondern „facit nobis nebulam umbram“40. Nicht zu vernachlässigen ist, dass das Thema der ambivalenten Nähe Gottes nicht nur dogmatisch-theologisch und rational eingeordnet und gedeutet wird, sondern theologiegeschichtlich ebenso andere Wege gegangen ist. An dieser Stelle ist auf verwandte mystische Bezüge zu verweisen, die die Erfahrung der fremden Nähe Gottes betonen. Jer 20,7–18 und Ps 139 gehören zu den biblischen Texten, die mystische Dimensionen enthalten. Für diese gelten folgende Merkmale: die Betonung der Andersartigkeit Gottes, die Beschrei38 Vgl. dazu in dieser Studie Kapitel 2.5.1 Eine Predigt von Dietrich Bonhoeffer am 21. Januar 1934 und Kapitel 3.5.1 Eine Predigt von Paul Tillich über Ps 139. Peter Zimmerling nimmt in seiner Deutung der Predigt Bonhoeffers Bezug auf Martin Luther und sein Verständnis des Wortes Gottes als Gesetz und Evangelium. Paul Tillich erwähnt Martin Luther in seiner Predigt unter dem Gesichtspunkt der Unentrinnbarkeit der Nähe Gottes. In der Rezeption von Tillichs Predigt verdeutlicht Joachim Ringleben die Verbindung zu Luthers Theologie und nennt in diesem Zusammenhang das „Interior-intimo-meo-Motiv“. 39 Vgl. WA 18, 600–787 (De servo arbitrio). 40 WA 39/1, 245,5 f.
Theologische Motive der Nähe Gottes
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bung der Gottesbegegnung als Widerfahrnis mit Konsequenzen und die Auswirkungen der Gotteserfahrung auf den Körper.41 Aufschlussreich erscheint mir, die dargelegten biblischen Befunde zur ambivalenten Beschreibung der Nähe Gottes im Folgenden mit Positionen aus der jüdischen und christlichen Theologie ins Gespräch zu bringen, die auch Gottesnähe mit Herausforderung, Unausweichlichkeit und Leiden in Verbindung setzen und explizit Gottes Anderssein, Freiheit und Unverfügbarkeit betonen. Das trifft besonders für Rudolf Ottos Theologie des Numinosen und Abraham Heschels Theologie des prophetischen Bewusstseins zu, die ich in diesem Zusammenhang für weiterführend halte. Während Otto eher eine religionswissenschaftliche Perspektive einnimmt, indem er mithilfe von Kategorien religiöse Gefühle analysiert, arbeitet Heschel biblisch-theologisch und 41 Vgl. Zimmerling, Peter, Evangelische Mystik, Göttingen 2015, 207. In mystischen Traditionen wird sogar von der Fernnähe Gottes gesprochen. Ausgangspunkt des Gedankens ist PseudoDionysius, der in seiner mystischen Theologie mit den Paradoxa wie Dunkel und Licht und Nichterkennen und Erkennen (Gottes) spielt (vgl. Dionysius Areopagita, Über alles Licht erhaben. Mystische Theologie – Die Namen Gottes – Himmlische Hierarchie – Kirchliche Hierarchie. Übersetzt von Edith Stein [TTB 1009], Kevelaer 2015, 11). In der mittelalterlichen Mystik entwickelt Nikolaus von Cues, dem die Schriften von Pseudo-Dionysius vertraut waren, die Theorie der coincidentia oppositorum: Über Gott lassen sich nur widersprüchliche Aussagen machen und der Ort Gottes, die Unendlichkeit, sei jenseits des Zusammenfalls der Gegensätze zu suchen (vgl. Cues, Nikolaus von, De visione Dei, in: Bohnenstaedt, Elisabeth [Hg.], Von Gottes Sehen [PhB 219], Leipzig 1942, 82). Sein Denkmodell erscheint ähnlich wie alttestamentliche Beschreibungen von Gegensätzen wie Zorn und Liebe oder Nähe und Ferne. Werner Kallen weist auf die Bezüge von Jer 20,7 zur Liebesmystik von Johannes vom Kreuz, der über das von Gott verwundete Herz schreibt, und Teresa von Avila, die die Gottesbegegnung als Schmerz und Freude erfährt, hin (vgl. Kallen, Gegenwart, 73 f). Das Thema, dass Gott unerwartet im Dunklen und in der Ferne nah ist, zieht sich durch die mystischen Texte. Vor dem Hintergrund dieser Tradition setzten sich Marguerite Porete und Madeleine DelbrÞl ausdrücklich mit der ambivalenten Nähe Gottes auseinander. Die im Jahr 1310 hingerichtete Marguerite Porete, eine Zeitgenossin Meister Eckharts, setzt sich ausdrücklich mit der Nähe Gottes auseinander und verwendet in ihrer geistlichen Schrift „Der Spiegel der einfachen Seelen“ den paradoxen Gottesnamen „der Fernnahe“ (vgl. Porete, Margareta, Der Spiegel der einfachen Seelen. Wege der Frauenmystik, aus dem Altfranzösischen übertragen und mit einem Nachwort und Anmerkungen von Louise Gnädinger, Zürich 1987). Die Mystikerin und Schriftstellerin Madeleine DelbrÞl (1904–1964) versteht Gottes Nähe als Herausforderung und Solidarität mit den Menschen. Der Glaube an Gott sei ein „gewaltsamer Zustand“ und die Bekehrung ein „gewaltsames Ereignis“ (vgl. Delbrel, Madeleine, Wir Nachbarn der Kommunisten. Diagnosen, Einführung von Jacques Loew, Einsiedeln 1975, 267). Nah an Ps 139 beschreibt DelbrÞl ihr Gottesbild als ambivalent, das Licht und Dunkelheit beinhaltet. Aus dem Glauben zu leben und diesen zu verkünden zieht nach DelbrÞl auch schmerzhafte Prozesse nach sich. Annette Schleinzer betont, dass die Folgen einer Berufung zu einer Zerreißprobe und Einsamkeit führen können (vgl. Schleinzer, Annette, Die Liebe ist unsere einzige Aufgabe. Das Lebenszeugnis von Madeleine DelbrÞl, Ostfildern 2014, 217). Von Porete und DelbrÞl lassen sich insbesondere in der Beschreibung der ineinander verwobenen Nähe und Ferne Gottes und in der Betonung des Leidens an der Nähe Gottes Bezüge zu den Konfessionen Jeremias und Ps 139 ziehen. Auch erkennen beide die in den biblischen Texten geschilderte Fremdheit und übermächtige Nähe Gottes. Es ist beeindruckend, inwieweit beide zentral die ambivalente Beschreibung der Nähe Gottes in Ps 139 und Jer 20,7–18 erfassen.
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Theologische Befunde und Reflexion
orientiert sich stark an den prophetischen Texten und Themen. Beide Ansätze zeigen, dass die ambivalente Beschreibung der Nähe Gottes in Jer 20,7–18 und Ps 139 kein biblisches Randthema ist, sondern ein grundsätzliches theologisches Problem aufnimmt. Otto bezieht sich in „Das Heilige“ auf Luthers Theologie und Frömmigkeit und auf alttestamentliche Studien: „Ja, an Luthers ,De servo arbitrio‘ hat sich mir das Verständnis des Numinosen und seines Unterschieds gegen das Rationale gebildet lange bevor ich es im Qa¯dosch des Alten Testaments und in den Momenten der ,religiösen Scheu‘ in der Religions-geschichte überhaupt wiedergefunden habe.“42 In Luthers Frömmigkeit stellt Otto „Regungen des numinosen Gefühles“43 fest, die sein Denken von Luther hin zu den alttestamentlichen Schriften führen. Otto bekräftigt Luthers Festhalten an dem deus absconditus: „Und er [Luther, EKV] hält daran fest, daß man allerdings ,davon lehren solle‘! Denn ohne dieses wäre Gott eben nicht Gott, und ohne den deus absconditus wäre der revelatus nur ein ,Gähnemaul‘, und ohne die tremenda majestas wäre die Gnade nicht süß.“44 Im Bereich der alttestamentlichen Wissenschaft wurde Otto in Göttingen von Rudolf Smend und dessen Lehrer Julius Wellhausen, dem Namensgeber der Konfessionen, beeinflusst, auf die Otto auch in seinem Hauptwerk „Das Heilige“ Bezug nimmt.45 Auf Ottos Begriff des fascinosum et tremendum und Heschels Betonung des Pathos Gottes haben sich wiederum bereits u. a. die Alttestamentler von Rad46, Kaiser47 und Spieckermann48 bezogen. Otto und Heschel gehen zwar von Voraussetzungen aus, die nicht dem heutigen Stand der alttestamentlichen Forschung entsprechen (u. a. von authentischen Prophetengestalten), doch ihre Aussagen behalten Geltung, da sich aufgrund ihrer Deutungen Bezüge zu einer Theologie und Frömmigkeit 42 Otto, Rudolf, Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen. Mit einer Einführung zu Leben und Werk Rudolf Ottos von Jörg Lauster und Peter Schüz und einem Nachwort von Hans Joas, München 2014, 123 [Hervorhebung im Original]. 43 Otto, Heilige, 120. 44 Otto, Heilige, 127 [Hervorhebung im Original]. 45 Vgl. Otto, Heilige, 190.234. 46 Vgl. Rad, Theologie, 71 f: „Es ist ja nichts Geringeres, als daß der Prophet in solchen visionärauditionären Zuständen in sonderlicher Weise von sich selbst, von seinen persönlichen Lustund Unlustgefühlen abgelöst und in das Pathos Gottes selbst einbezogen wurde, daß nicht nur die Kenntnis von Geschichtsplänen, sondern auch Affekte des göttlichen Herzens auf ihn übertragen wurden (…). Er wird der Erkenntnis göttlicher Pläne und er wird göttlicher Affekte teilhaftig; aber er denkt nicht daran, diese seine Existenz vor Gott nun für die anderen für normativ zu halten. Es ist bezeichnend, daß kein Prophet jemals seine Zeitgenossen angeleitet oder aufgefordert hat, sich zu gleicher Unmittelbarkeit der Gotteserfahrung zu erheben.“ 47 Vgl. Kaiser, Theologie 2, 111: „[Die Heiligkeit Gottes, EKV], das fascinosum und das tremendum, das, was Gott anziehend macht, und das, was vor ihm erschauern lässt. Sie ist das eigentliche Wesen der Gottheit. Wo dieses Wissen in unserem Reden von Gott nicht mehr mitschwingt, hat er sich uns längst entzogen.“ 48 Vgl. Feldmeier/Spieckermann, Gott, 162.
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ziehen lassen, die den jeweiligen biblischen Texten zu Grunde liegen und in denen ambivalente Gottesbilder Raum haben. Im Folgenden werden zunächst die Positionen von Otto und Heschel dargestellt und anschließend wird ihr Ertrag im Blick auf das Thema der ambivalenten Nähe Gottes und die Deutung von Jer 20,7–18 und Ps 139 formuliert. 4.2.1 Rudolf Otto: Der lebendige Gott Der evangelische Theologe und Religionswissenschaftler Rudolf Otto (geb. 25. 09. 1869 in Peine, gest. 06. 03. 1937 in Marburg) hat mit seinem Hauptwerk „Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen“, das zuerst 1917 erschien, die Theologie und Religionswissenschaft weit über seine Zeit hinaus maßgeblich beeinflusst. „Das Heilige“ ist ein Neuansatz und eine Kritik an der Theologie und anderen Wissenschaften seiner Zeit: Religion sei weder auf ihre kontingenzbewältigende Funktion noch auf die Auslegung ästhetischer Erfahrungen zu reduzieren.49 Vielmehr gehe sie auf ein religiöses Erleben, „ein intuitives Eingestelltsein auf die Tiefe der Welt und das sie umschließende und durchwaltende Göttliche zurück“50. Otto geht es um die Erinnerung an ein Kernproblem der Frömmigkeit: um eine Erweiterung des Religionsverständnisses um das Moment des Irrationalen, das sich begrifflich nicht fassen lasse. Gleichwohl entwickelt er ideo-grammatische Bezeichnungen, die als Deutezeichen des Irrationalen zu verstehen sind.51 Mit Hilfe dieser Ideogramme könnten religiöse Gefühle analysiert werden und bleibe das Irrationale in der Theologie dennoch enthalten. Hier wird das Anliegen Ottos deutlich, die irrationalen Momente der Religion mit den rationalen in Verbindung zu bringen. Otto geht davon aus, dass aller Religion ein Moment innewohnt, das von ihm als Numinosum bezeichnet wird. Das Numinose bzw. das Heilige begreift Otto als tremendum et fascinans. Das Moment des Schauervollen (tremendum) sei ein abdrängendes Moment.52 Um dieses schauervolle Geheimnis näher zu beschreiben führt Otto alttestamentliche Schriftstellen an: Während Ex 23,27 den Schrecken Gottes, der zum Schutz vor anderen dient, betont, weisen Hi 9,34; 13,21 auf den bedrohlichen Aspekt des Schreckens Gottes für Hiob hin.53 Die schützende und bedrohliche Eigenschaft der Scheu ist daher ambivalent. Auch habe sie körperliche Auswirkungen: „Sie kann so stark sein daß sie durch Mark und Bein geht, daß sich die Haare sträuben und die Glieder schlottern“54. Weitere 49 50 51 52 53 54
Vgl. Otto, Heilige, 246. Otto, Heilige, 247. Vgl. Otto, Heilige, 21. Vgl. Otto, Heilige, 13. Vgl. Otto, Heilige, 15. Otto, Heilige, 18 [Hervorhebung im Original].
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alttestamentliche Bezüge für das tremendum sieht Otto in der Beschreibung des Zornes Gottes. Dieser sei nicht zu rationalisieren, sondern Ausdruck des irrationalen Moments des Heiligen. Der Zorn Gottes sei daher auch kein rationaler Begriff, sondern ein Ideogramm, d. h. dass das tremendum als heiliger Zorn schematisiert werde. Das Mysterium Tremendum bilde mit dem Fascinans das Numinose. Das Fascinans beschreibt Otto als zusicherndes Moment und als „Anziehendes, Bestrickendes, Faszinierendes“55. Schematisiert stehe es in Verbindung zu Güte, Erbarmen, Liebe und Gnade. Das Mysterium Tremendum und das Fascinans treten zusammen in eine Kontrastharmonie: „Um dieser zweiten, zu sich ziehenden Seite des Numinosen gerecht zu werden mußten wir dem ,mysterium tremendum‘ von oben beifügen daß es zugleich ein schlechthin fascinans ist, und in diesem zugleich unendlich Schauervollen und unendlich Wundervollen hat das Mysterium seinen eigenen positiven Doppel-Inhalt der dem Gefühle sich kundtut.“56 Otto sieht das Alte Testament besonders durchdrungen vom Gottesbild des übermächtigen Heiligen und Wirken des Numinosen. Das Irrationale und die Lebendigkeit des biblischen Gottesbildes gelte es gegen eine einseitige Versittlichung oder Rationalisierung aufrechtzuerhalten.57 Darauf geht Otto erneut in seinem Aufsatz „Prophetische Gotteserfahrung“ (1923) unter besonderer Berücksichtigung von Jes 6 ein. Es sei ein Ziel der Untersuchung des Heiligen, die biblische Gotteserfahrung besser zu verstehen, indem das beschriebene religiöse Erleben und die Intuition in den Blick genommen werden.58 Auf die „rein gefühlsmäßig besessene[n, EKV] Momente“59 gelte es zu achten, um die Gotteserfahrung der Propheten näher zu erfassen und damit Hinweise auf die „untergründige Gefühlswelt“60 zu erlangen, die den Hintergrund für das alttestamentliche Gottesbild bilde. Die Gefühlsmomente, die im Bezug zum Numinosen stehen, seien im Alten Testament an vielen Stellen mit der ;9L („Wind/Atem/Geist/Energie/Lebenskraft“) verbunden, die Otto als wundersame, schöpferische und verwandelnde Macht beschreibt.61 Unter besonderer Berücksichtigung von Jes 6 beschreibt Otto das alttestamentliche 55 Otto, Heilige, 42 [Hervorhebung im Original]. 56 Otto, Heilige, 56 [Hervorhebung im Original]. 57 Vgl. Otto, Heilige, 96 [Hervorhebung im Original]: „Verwandte Ausdrücke neben der ,Heiligkeit‘ Jahveh’s sind sein ,Grimm‘, sein ,Eifer‘, sein ,Zorn‘, das ,verzehrende Feuer‘ u. ä. Sie alle meinen nicht nur seine vergeltende Gerechtigkeit, auch nicht nur den temperamentvoll-regen, in starken ,p the¯‘ lebenden Gott überhaupt sondern immer alles dieses umgriffen und durchdrungen von dem tremendum und der majestas, dem mysterium und dem augustum seines irrationalen Gottwesens.“ Otto bezieht sich dabei auf folgende Bibelstellen: Dtn 5,23; Jos 3,10; 1 Sam 17,26.36; 2 Kön 19,4; Jes 37,4.17; Jer 10,10; 23,36; 2 Makk 7,33; Mt 26,63. 58 Vgl. Otto, Rudolf, Prophetische Gotteserfahrung, in: Ders., Sünde und Urschuld. Und andere Aufsätze zur Theologie, München 1932, 61–78, 61. 59 Otto, Gotteserfahrung, 62 [Hervorhebung im Original]. 60 Otto, Gotteserfahrung, 63. 61 Vgl. Otto, Gotteserfahrung, 65.
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Gottesbild wie folgt: „Er ist der wahrhaftige, der lebendige und der eifernde Gott, der Gott der hohen Wundermacht, der Gott des lohenden Zornes und der unbegreiflichen Gnade. (…) Er ist nicht ruhendes Sein, nicht stilles Gesetz, er ist heiße Vitalität in starker Gemütskraft, ist ungeheure innere Erregtheit, ist drängender, glühender Wille, ist im Gegensatz zu allen Filosofen-göttern pathos und starke Leidenschaft (…). Er ist wahrlich nicht ,die absolute Vernunft‘, nicht Geist im rationalen Sinne des Wortes und im Sinne des dogmatischen Theismus. Er ist Geist, aber als ;9L, als numen.“62 Diesem in Dienst nehmenden Gott werde gedient in Wahrheit und in Hingabe von Gemüt und Willen.63 Diese Hingabe sei jedoch nicht ein einseitiges, sondern ein wechselseitiges Geschehen. Am Beispiel des Gottesknechts verdeutlicht Otto den Bundesbegriff als „wechselseitige Gemeinschaft, und zwar zuerst als starker und tiefer Gemütsbesitz. Aber er ist zugleich mehr. Er ist oder hat keimhaft in sich die Idee der Wi l l e n s -gemeinschaft, der Verbundenheit in Wille, Tat und Wirken.“64 Ottos Darstellung des alttestamentlichen Gottesbildes als lebendig, geheimnisvoll, ergreifend und doch nicht greifbar zeigt, dass die Beschreibung der Nähe Gottes in Jer 20,7–18 und Ps 139 als ein fundamental theologisches Problem zu verstehen ist. Religiöses Leben sei Begegnung mit dem ganz Anderen. Damit betont Otto die Fremdheit, das Unvertraute und das Staunen Auslösende des Religiösen.65
4.2.2 Abraham Heschel: Das göttliche Pathos Der Rabbiner, Schriftgelehrte und Religionsphilosoph Abraham Joshua Heschel (geb. 11. 01. 1907 Warschau, gest. 23. 12. 1972 in New York) entwickelt in mehr als drei Jahrzehnten, zuerst in seinem Werk „Das prophetische Bewusstsein“ (1932), das 1936 als „Die Prophetie“ erschien, zuletzt in „The Prophets“ (1962), aus dem prophetischen Denken und Fühlen eine pathetische Theologie. Heschel gehörte zusammen mit Tillich einem theologischen Gesprächskreis in New York an. Zentrum dieses Gesprächskreises, zu dem auch der Alttestamentler Terrien gehörte, war das liberale Union Theological Seminary. Dort herrschte in der Nachkriegszeit eine besonders interdisziplinäre und ökumenische Atmosphäre, in der gemeinsam gerungen wurde, das Böse und Zerstörerische in der Welt und den Glauben an einen barmherzigen Gott zusammenzudenken. Zentrale Gedanken Heschels sind Gottes Bewegung zum Menschen bzw. die Suche nach dem Menschen durch das göttliche Pathos. Heschels Anliegen ist, 62 63 64 65
Otto, Gotteserfahrung, 71. Vgl. Otto, Gotteserfahrung, 72. Otto, Gotteserfahrung, 74 f [Hervorhebung im Original]. Vgl. Otto, Das Heilige, 31.
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Wesen und Aufbau des prophetischen Bewusstseins zu untersuchen.66 Dieses gebe Ausdruck vom Pathos, der Nähe und der Heiligkeit Gottes, die bei den Propheten auch in der Zuwendung ein Abstandsgefühl hinterließen.67 Heschels Theologie zufolge erfahren die Propheten Gott weniger als gebietend und fordernd, sondern bewegt und betroffen: „Er nimmt alles, was in der Geschichte vorgeht, innerlich und empfindend auf. Die Geschehnisse und Handlungen erregen in ihm Freude oder Leid, Wohlgefallen oder Mißfallen.“68 Daraus folgt die anthropologische Konsequenz, dass der Mensch wertgeschätzt wird und der Dialog und nicht der Gegensatz die Beziehung zwischen Gott und Mensch bestimmen.69 Das Pathos sei Inbegriff aller Beziehung Gottes zu den Menschen: „Gerade als das Unwesenhafte an Gott, als eine unendgültige, dynamische Modalität ermöglicht es eine lebendige Auseinandersetzung zwischen Gott und Volk.“70 Diese Dynamik beschreibt Heschel als ambivalent: „Es wird einerseits als ein gewaltsames Hineingestelltsein in das Feld des göttlichen Bewußtseins, als ein sich nicht Verbergenkönnen vor der göttlichen Schau, andererseits als Geborgenheit im Bewußtsein Gottes erlebt.“71 Im Handeln zeige sich das prophetische Bewusstsein als Religion der Sympathie. In dieser Sympathie, verstanden als Erleben und Mitfühlen mit dem göttlichen Pathos, erfülle sich der göttliche Auftrag. Sie stehe im Mittelpunkt der prophetischen Religiosität.72 Die Gegenwartskritik und Zukunftsschau der Propheten seien durch einen Hinweis auf eine göttliche Emotion begründet.73 Das prophetische Denken und Fühlen werden als eingegeben von Gott verstanden. Göttliche Anliegen bewegen den Propheten. „Nicht asketische Selbstüberwindung, sondern totale Selbstverwendung, der Dienst der ganzen Seele; nicht die stumme Unterordnung, sondern das Zusammengehen mit Gott“74 sei zentral. Dieses Zusammengehen ist eine gegenseitige Bewegung: „Jedes G o t t e r f a s s e n ist ein Von - G o t t - E r f a s s t w e rd e n , jedes Gottschauen ein Geschautwerden. Ein bloßes Gottwollen ohne ein Von-Gott-Gewolltsein bleibt dem Ziele fern.“75 Nach Heschel hat niemand tiefere Einblicke in die Beziehung Gottes zu Israel erlangt und das göttliche Pathos in der Dichte stärker erlebt als der 66 Vgl. Heschel, Abraham, Die Prophetie, Krakau 1936, 1. 67 Vgl. Heschel, Prophetie, 28 f. 68 Heschel, Prophetie, 13. Vgl. Dolna, Bernhard, An die Gegenwart Gottes preisgegeben. Abraham Joshua Heschel: Leben und Werk, Mainz 2001, 328 [Hervorhebung im Original]: „Heschel meint somit, daß der Prophet in der Sympathie mit dem Pathos Gottes nicht das eigene Gefühl erfährt, sondern mit dem Gefühl Gottes konfrontiert und vertraut gemacht wird und sich mit diesem Gefühl gleichstimmt, es mitfühlt, an diesem Gefühl Anteil nimmt.“ 69 Vgl. Heschel, Prophetie, 144. 70 Heschel, Prophetie, 145. 71 Heschel, Prophetie, 164. 72 Vgl. Heschel, Prophetie, 167. 73 Vgl. Heschel, Prophetie, 70. 74 Heschel, Prophetie, 168. 75 Heschel, Prophetie, 182.
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Prophet Jeremia.76 Allerdings sei „d a s v ö l l i g e E r g r i f f e n s e i n von Gemüt und Seele durch die Eingebung“77 auch mit Leiden verbunden. Heschel nimmt Bezug auf Jer 20,9 und fragt nach dem prophetischen Erlebnisgehalt, der sich durch eine überwältigende Kraft auszeichnet. Hier wird das Mitfühlen, die Sympathie des Propheten mit dem göttlichen Zorn beschrieben. Der verwendete Begriff des Feuers stehe für Zerstörung und Vernichtung, konkret für das Zornfeuer, das in Jeremia glühe, die von Gott eingeimpfte Glut: „Das göttliche Wort wirkt aber in ihm als Feuer, weil er das Zornpathos miterlebt. Ebenso wie der pathetische Zorn Gottes zum physischen Vernichtungsfeuer, kann das zornerfüllte Wort des Propheten zum vernichtenden Feuerelement werden.“78 Am Beispiel von Jer 20,7 verdeutlicht Heschel, dass die sympathische Haltung des Propheten auch Erfahrung von Gewalt und Übermacht Gottes bedeuten kann. Die Überredung Gottes und die Antwort des Propheten geben Ausdruck eines zutiefst ambivalenten und niemals harmlosen Beziehungsgeschehens: „In der objektiven Sphäre ist es einerseits das Pathos, das den Propheten bewegt und verlockt, und andererseits die unbedingte Gewalt, die ihn einfach bezwingt. In der subjektiven Sphäre ist es dementsprechend die willige Beantwortung der Überredung durch die Sympathie und dann das völlige, willenlose Ausgeliefertsein an die Übermacht Gottes.“79 Der Prophet kann nicht anders, als das göttliche Wort aufzunehmen, zu erleben, auszutragen und zu verkündigen. Heschel bezieht sich auf Otto und grenzt sich gleichzeitig von ihm ab. In seiner pathetischen Theologie wird das Verbindende und nicht der Abstand zwischen Gott und Mensch betont und das Beziehungsgeschehen beschrieben.80 Das Pathos Gottes sei gerade nicht undurchdringlich und unverständlich, sondern finde im Propheten Ausdruck.81 Während sich Ottos Theologie 76 77 78 79 80
Vgl. Heschel, Prophetie, 65. Heschel, Prophetie, 87. Heschel, Prophetie, 90. Heschel, Prophetie, 93. Vgl. Heschel, Prophetie, 162: „Es gibt keine Wesensdeutung, sondern eine Beziehungsdeutung. Die Offenbarung ist keine Selbstkundgebung Gottes, keine Selbsterschließung, sondern eine Willenskundgebung, eine Pathoserschließung. Nicht das Noumenon, sondern das Phainomenon ist das religiöse Guthaben des Propheten. Er kennt die Offenbarung, nicht die Selbstoffenbarung. Er erlebt keine Wesensschau, sondern eine Offenbarungsschau. Die Propheten kennen also keine Verlegenheit um den Gottesbegriff dank der Scheidung in Wesen und Beziehung. Unmittelbar ist ihnen nicht die Realität des Wesens, sondern die Realität der göttlichen Teilnahme an der Welt gegeben.“ 81 Vgl. Heschel, Prophetie, 140: „Den Propheten ist Gott nicht der ganz Andere, Unbestimmte, Rätselhafte und Geheimnisvolle, sondern der Gott der Ahnen und des Bundes, dessen Willen sie kennen. Das Pathos drückt das Verbindende, die Beziehung zwischen Gott und dem Volk aus. Es unterscheidet sich demnach vom Begriff des Numinosen, der die Undurchdringlichkeit und den Abstand zwischen Gott und Mensch bezeichnet. Der Prophet erfährt das Pathos als verstehbare Wirklichkeit. Sogar der biblische Begriff des Heiligen wird, obwohl es ein auch außerhalb der Bezüglichkeit stehendes Wesensprädikat bezeichnet, als nachahmendes Vorbild gedacht. Schon der Genitiv ,der Heilige Israels‘ zeigt die Zugänglichkeit an. Inhaltlich sagt das Pathetische mehr
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des Heiligen sowohl auf die Konfessionen Jeremias als auch auf die Psalmen beziehen lässt, ist bei Heschel eine besondere Nähe zu den prophetischen Texten zu erkennen. 4.2.3 Ertrag Rudolf Otto und Abraham Heschel heben das ambivalente religiöse Erleben und das Bild eines lebendigen Gottes hervor. Otto und Heschel ziehen vom religiösen Gefühl und dem prophetischen Bewusstsein ausgehend Rückschlüsse auf das Gottesbild. Wie gezeigt wird, tragen sie auf unterschiedliche Weise etwas zur Deutung der ambivalenten Nähe Gottes im Alten Testament und zum Verstehen von Jer 20,7–18 und Ps 139 bei. Gleichwohl unterscheiden sich ihre Ansätze. Rudolf Otto weist auf die Bedeutung der dargestellten Gefühle hin, um Aussagen über das alttestamentliche Gottesbild zu machen. Da die Konfessionen Jeremia als sehr emotional darstellen und Ps 139 von einer gedanklichen und gefühlsmäßigen Dichte geprägt ist, bietet es sich an, Konsequenzen für das darin enthaltene Gottesbild zu ziehen. Jer 20,7–18 und Ps 139 können mit dem Mysterium tremendum und dem Fascinans in Verbindung gebracht werden. Beide Texte beschreiben das Gottesbild als geprägt von Momenten des Schauervollen, Bedrohlichen und Übermächtigen, aber auch Anziehenden und Gewinnenden. Nach Otto zeigt sich die Wirkung des tremendum auch an körperlichen Aspekten. In Jer 20,7–18 und Ps 139 wird fast jede Reaktion mit Metaphern des Körpers beschrieben. Otto geht es dabei um ein lebendiges Gottesbild, das sich in einer dynamischen Beziehung zum Menschen ausdrückt. Heschels Ansatz ist theozentrisch. In erster Linie geht es ihm darum, den lebendigen Gott ernstzunehmen.82 Er beschreibt das Gott-Mensch-Verhältnis als weit und nicht festlegbar. Heschel ordnet dieses Beziehungsgeschehen nicht starr in Kategorien ein, sondern beschreibt signifikante Phänomene. Das eröffnet einen Raum für Ambivalenzen, Polaritäten und Paradoxien: „Gott der ganz Andere sehnt sich nach Beziehung, nach einem Bund mit den Menschen. Der unbegrenzte Gott ist zutiefst in begrenzte menschliche Zustände und Händel verstrickt. Menschliche Taten erfüllen in irgendeiner Weise göttliche Bedürfnisse.“83 Es geht Heschel um Gottes Betroffensein und Teilhabe am Leben der Menschen. Das Leiden des Propheten zeigt ein Erleben von göttlichen Emotionen und nicht eine Entscheidung zur Selbstüberwindung des über den religiösen Erlebnisgegenstand aus als das Numinose. Dieses deutet ihn nur an, jenes bestimmt ihn. Aber das Numinose will ein Ansichseiendes beschreiben (das Göttliche ist an sich furchtbar, nicht nur ein Furchterregendes in Bezug auf mich), das Pathos nur eine Beziehungswirklichkeit.“ 82 Dolna, Gegenwart, 327.357. 83 Dolna, Gegenwart, 353.
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Propheten. Der Mensch nimmt Anteil am Pathos Gottes und wird so zur Erfahrung Gottes: „Prophetic consciousness, it must be stressed again, does not spring from the depths of the human spirit; it is based upon anticipation or inclusion of man in God.“84 Heschels zentraler Gedanke ist die leidenschaftliche Suchbewegung Gottes nach den Menschen. Diese Perspektive verstärkt die Deutung von Jer 20,7–18 und Ps 139 als dynamisches Beziehungsgeschehen zwischen einem betroffenen, zugewandten und herausfordernden Gott und einem erfassten und ergriffenen Menschen: „Not a reciprocal succession of acts, not a distinguishable alteration of sound and echo, but rather in every event of the religious consciousness it is a question of a dual mutual operation, a twofold mutual initiative. Every apprehension of God is an act of being apprehended by God, every vision of God is a divine vision of man.“85 Das hat Konsequenzen für das Gottes- und Menschenbild. Gott wird nicht nur als Auslöser von Leid, sondern selbst als Leidender dargestellt. Der Prophet ist für Heschel nicht nur Überbringer eines Auftrags, sondern Mitergriffener.86 Das Ziel des göttlichen Pathos seien menschliche Handlungen. Denn die menschliche Beziehung zu Gott sei „nicht von der Art eines passiven Vertrauens auf die Allmacht Gottes, sondern von der Art eines aktiven Beistands“87. Die Teilnahme am göttlichen Pathos – an seiner Betroffenheit, seiner Aufmerksamkeit, seiner Zugewandtheit – führt zur Identitätsbildung. Die Zuwendung Gottes kann jedoch auch als Überforderung verstanden werden. Sowohl das betende Ich des Psalms als auch Jeremia werden in Situationen dargestellt, in denen sie für Gott gegen Gegner auftreten und lernen müssen, „Ich“ zu sagen. Dies führt auch in eine Einsamkeit der betenden Person. Gottes Beistand kann ein Zuviel an Zuneigung bedeuten. So herausfordernd und ambivalent es in Jer 20,7–18 und Ps 139 dargestellt wird: Das betende Ich des Psalms und Jeremia werden auf sich selbst zurückgeworfen, verzweifeln und bilden ihre Identität: „Vom Pathos Gottes her wird der Mensch Ich (…). Aber für Heschel ist Gott das Subjekt, derjenige, der uns sucht. Aus dieser Sicht ändert sich die Perspektive. Der Mensch ist Objekt göttlicher Aufmerksamkeit, Objekt göttlicher Sehnsucht, eine göttliche Notwendigkeit.“88 Dass der Mensch vor Gott nicht entrinnen kann und die in Ps 139 geschilderte Flucht vor Gott finden in Heschels Theologie eine Erklärung: Wenn der Mensch durch das Pathos Gottes zu sich selbst kommt, ist er in die Beziehung zu Gott derart verwoben, dass es keinen Ausweg gibt. Otto und Heschel führen die Themen der untersuchten biblischen Texte weiter und betonen das Irrationale am Gottesgedanken, das religiöse Erleben 84 85 86 87 88
Heschel, Abraham J., The Prophets, New York/Evanston 1962, 486. Heschel, Prophets, 488. Vgl. Dolna, Gegenwart, 280. Dolna, Gegenwart, 355. Vgl. Dolna, Gegenwart, 329.
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und das Gottesverhältnis als ein dynamisches Beziehungsgeschehen mit einem lebendigen Gott.
5. Konsequenzen für die gegenwärtige Rede von Gott 5.1 Ausblick auf die homiletische Praxis Aus den bisherigen Ergebnissen ergeben sich Konsequenzen für die gegenwärtige homiletische Praxis. Die untersuchten Predigten von Bonhoeffer und Tillich leisten dabei einen Brückenschlag zwischen der Exegese der biblischen Texte und dem Bezug zur Gegenwart. Die Multiperspektivität der biblischen Texte verweigert sich einer festlegenden Deutung des Gottesbildes. In dem in ihnen abgebildeten Ringen des Menschen mit Gott beschreiben sie ihn als nah und herausfordernd. Die Predigten übersetzen Jer 20,7 und Ps 139 in ihre jeweilige gesellschaftliche Wirklichkeit und stellen plausible Aktualisierungen der Texte dar: Bonhoeffer bezieht sich schon durch die Wahl von Jer 20,7 als Predigttext auf die politische Situation, die von der Machtergreifung der Nationalsozialisten und der Einführung des Arierparagraphen in der Evangelischen Kirche geprägt ist. Er beschreibt die Verfolgung, unter der Gemeindemitglieder und Pfarrer leiden.1 Sein Gottesverhältnis und die gegenwärtige Situation erfährt er als vergleichbar mit den Lebens- und Glaubensumständen des biblischen Jeremia. Bonhoeffers Predigt ist ein eindrückliches Beispiel dafür, wie das Ich des Predigers den biblischen Text existenziell veranschaulicht.2 Bei allen Gefahren des Ich-Sagens in der Predigt kann die Präsenz des Predigers doch zur bildhaften Konkretion führen. In der Predigt über Ps 139 nimmt Tillich vor allem das Fortschrittsdenken, den Atheismus und die Kriegserfahrungen seiner Zeit auf. Krisen, Verluste und die Frage nach Schuld und Verantwortung prägen die Predigt. Aufgrund dieser gewaltvollen Krisensituationen sehen sich Bonhoeffer und Tillich in der Notwendigkeit, ihre Theologie und Frömmigkeit nicht getrennt von der politischen Situation denken und leben zu können: In dieser Verbindung kann die biblische Rede von der Nähe Gottes nur gebrochen vorliegen.
Auseinandersetzung mit Predigten zur Jahreslosung „Gott nahe zu sein ist mein Glück“ (Ps 73,28) Die Relevanz meines Themas ist mir verstärkt deutlich geworden, als 2014 die Jahreslosung „Gott nahe zu sein ist mein Glück“ (Ps 78,28) von der Ökume1 Vgl. DBW 13, 349. 2 Vgl. Josuttis, Manfred, Praxis des Evangeliums zwischen Politik und Religion. Grundprobleme der Praktischen Theologie, München 1974, 87–94; Engemann, Homiletik, 31 f.
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nischen Arbeitsgemeinschaft für Bibellesen ausgewählt wurde.3 Mit dieser Auswahl wird der Eindruck erweckt, dass Gottes Nähe mit Glück gleichzusetzen sei. Abgesehen von der theologischen Aussagekraft ist auch die Übersetzung von Ps 73,28 einseitig. „Glück“ hat im Deutschen eine andere Konnotation als das in diesem Vers verwendete 59ü („gut“).4 Wörtlich übersetzt lautet Ps 73,28: Ich aber, Gott nahe zu sein, ist gut für mich. Wie ich gleich zeigen möchte, wurde die Jahreslosung in Predigten in diesem Sinne, d. h. einseitig ausgelegt. In einem Interview mit Gerhard M. Martin, das nicht berücksichtigt worden zu sein scheint, beschreibt er die Nähe Gottes als Perspektivwechsel bzw. als Gegenperspektive: „Gotteserfahrungen haben ganz verschiedene Erscheinungsformen und sind in unserer Tradition mit den Überlieferungen, den Ritualen, den Liturgien und protestantisch besonders mit den Texten der Bibel verbunden. (…) Diese Texte sind indirekte Selbstbegegnungen. Wenn ich mir selber näher komme, komme ich auch Gott näher. Und ob das dann mein Glück ist oder erstmal mein Schrecken oder einfach meine Orientierung und meine Klarheit, das ist dann nochmal eine andere Frage.“5 Die Nähe Gottes kann nach Martin auch als vorübergehende Irritation erfahren werden: „Wer bin ich eigentlich, wenn ich in allen sozialen Bezügen für ein paar Minuten nicht bin?“6 Martin geht es um eine Perspektiverweiterung im Blick auf Gott, die Mitmenschen und das eigene Selbst. Er versteht Psalm 73 als Schrei des betenden Ichs: „Der Psalm ist – wie der ganze Psalter – ein Dokument der Krise, und es gibt Gründe, ihn in Verbindung mit Hiob und seiner Glaubensproblematik zu lesen.“7 Der Psalm verdeutliche, dass die Nähe Gottes nicht als selbstverständlich erfahren werden kann, sondern als fremd und eng verwoben mit dem Verhältnis zu dem eigenen Selbst. Von Martins Psalmauslegung lassen sich Bezüge zu Tillichs Predigt über Ps 139 herstellen, der ebenso die Nähe Gottes in Verbindung mit der menschlichen Existenz und Fragwürdigkeit deutet: Gottes Nähe sei zugleich Angriff und tiefer Grund des menschlichen Seins. Diese Dynamik hätte in die Auslegung der Jahreslosung mit einbezogen werden sollen. Jedoch blieb ebenso der Artikel von Melanie Köhlmoos zur Jahreslosung, die wie Martin das Gott-Mensch-Verhältnis als spannungsvoll beschreibt, weitgehend unbeachtet. Köhlmoos betont, dass Gottes Nähe auch zur Verzweiflung treiben 3 Die Jahreslosung wird u. a. auf Karten, Kalendern und auf Plakaten in einer Auflage von ca. sieben Millionen veröffentlicht. 4 Vgl. Hçver-Johag, Ingeborg, Art. 59ü, ThWAT III, 1982, 315–339, 324: „Unter dem Aspekt der Eignung oder des Nutzens einer Sache oder Person liegt der Schwerpunkt dabei auf dem funktionalen Aspekt als etwas, das in der rechten Ordnung steht, seinem Wesen, d. h. seiner Aufgabe, entspricht. Es handelt sich also um ,Gutheit für etwas‘ mit einem sehr konkreten und greifbaren Beziehungshintergrund.“ 5 Martin, Gerhard M., „Wenn ich mir selber näher komme, komme ich Gott näher“, evangelisch.de, 01. 01. 2014. 6 Martin, Gott. 7 Martin, Gott.
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könne: „Das Alte Testament kennt indes auch eine Nähe Gottes, die Unglück verursacht, selbst wenn sie keine gottfeindliche Macht abwehrt.“8 Als alttestamentliche Belege führt sie die Beschreibungen der überwältigenden (Jer 20), der prüfenden (Hi 7,17–21) und der verwundenden und zugleich segnenden Nähe Gottes (Gen 32,23–33) an: „Wem Gott unerklärlich zu nahe kommt, der bleibt fürs Leben gezeichnet.“9 Köhlmoos macht plausibel, dass die Nähe Gottes gerade nicht ausschließlich als Glück zu beschreiben ist und dass eine einseitige Beschreibung hinter den spannungsvollen alttestamentlichen Beschreibungen zurückbleibt. Meine Sichtung der einschlägigen Predigthilfen und der Predigten der Datenbank des Predigtpreises10 zur Jahreslosung (Ps 73,28) auf Aussagen über die Nähe Gottes ergab Folgendes: In den Predigtstudien findet die Jahreslosung nur am Rande Erwähnung: „Vielleicht erwarten die Gottesdienstbesucher Gedanken zur Jahreslosung aus Psalm 73 ,Gott nahe zu sein ist mein Glück‘. Nun aber werden sie mit dem gefangenen Paulus und seiner Beziehung zur Gemeinde in Philippi konfrontiert.“11 Eine bewusste inhaltliche Abgrenzung von der Jahreslosung scheint dies jedoch nicht zu sein, da im Folgenden auf Ps 73,28 positiv Bezug genommen wird: „,Gott nahe zu sein, ist mein Glück!‘ (siehe auch die Psalmverse zuvor in Ps 73,23 ff.) – Diese Wahrheit finde ich ebenso in dem Textabschnitt des Briefes an die Philipper. (…) Gott neu nahe zu kommen, Gott nahe zu sein, Gott nahe zu bleiben – das ist der größte Wunsch für das neue Jahr! (…) Gottesnähe und Gottesglück!“12 Die Ausführungen nehmen weder die Nähe Gottes noch die Anfechtungssituation des betenden Ichs in Ps 73 kritisch in den Blick und betonen ausschließlich die positiven Aspekte der Gottesnähe. Differenzierter erscheinen die Predigtmeditationen im christlich-jüdischen Kontext13, da in ihnen auch kritische Gedanken geäußert werden: Vor dem Hintergrund, dass im Jahr 2014 vor 100 Jahren der 1. Weltkrieg und vor 75 Jahren der 2. Weltkrieg begann, stellt Ulrich Schwemer die Frage, ob angesichts dieser furchtbaren Kriege überhaupt noch von der Nähe Gottes gesprochen werden kann. Auch im Blick auf die Gegenwart werden in dieser Predigtmeditation gesellschaftspolitische und kirchliche Herausforderungen 8 Kçhlmoos, Melanie, Gottes Nähe – ein Glück? Ein biblisches Gedankenexperiment, evangelisch.de, 14. 01. 2014. 9 Kçhlmoos, Nähe. 10 Der Ökumenische Predigtpreis, gestiftet vom Verlag für Deutsche Wirtschaft, zeichnet seit dem Jahr 2000 einmal im Jahr Predigten von besonderer Qualität (theologischer Gehalt, biblische Fundierung, Erfahrungsnähe, Glaubwürdigkeit) aus. In der Predigtdatenbank finden sich alle eingereichten Predigten. 11 Schlund, Christine/Schulz, Dirk, Neujahrstag. Philipper 4,10–13 (14–20), Gott und Glück, in: Gr b, Wilhelm u. a. (Hg.), Predigtstudien für das Kirchenjahr 2013/14. Perikopenreihe VI – Erster Halbband, Freiburg im Breisgau 2013, 100–107, 100. 12 Schlund/Schulz, Neujahrstag, 106. 13 Die Predigtmeditationen im christlich-jüdischen Kontext werden von dem Arbeitskreis „Studium in Israel“ herausgegeben und stammen aus Erfahrungen des christlich-jüdischen Dialogs.
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wahrgenommen. Wegen der durch die Weltkriege geprägten Geschichte und einer gegenwärtigen überwiegend säkularen Gesellschaftsstruktur stelle sich die Erfahrung der Nähe Gottes als nicht mehrheitsfähig dar. Gleichwohl wird sie bergend und ausschließlich positiv beschrieben: „Gott – Nähe – Glück. Das ist der Dreiklang aus dem dem Betenden die Kraft erwächst, nicht nur weiter zu leben, sondern Zuversicht zu finden und darin die Kraft, die Taten Gottes zu verkünden.“14 Obwohl in der Predigtmeditation historische Katastrophen und Umbrüche plausibel mit dem Schweigen über die Nähe Gottes in Verbindung gebracht werden, geschieht keine Thematisierung der herausfordernden Aspekte und der Fremdheit der Nähe Gottes selbst. In den Göttinger Predigtmeditationen wird die Jahreslosung sorgfältig exegetisch untersucht und der gegenwärtige Glückbegriff kritisch in Frage gestellt. Glück sei nicht machbar, sondern werde als unverdiente Gnade erfahren. Auch wird verdeutlicht, dass sich das betende Ich von Ps 73 in einer Situation der Anfechtung befindet und dennoch an Gott festhält. Gleichwohl wird die Nähe Gottes nicht ambivalent oder dynamisch beschrieben, sondern als Ursprung von wirklichem Glück dargestellt: „Wahres Glück findet sich allein in der Nähe zu Gott (V. 28).“15 Die Predigten zum Vers der Jahreslosung 2014 des Ökumenischen Predigtpreises beschäftigen sich ausführlich mit dem Glück, beschreiben die Situation des betenden Ichs im Psalm als Anfechtung und als Ringen und beziehen sich auf die erfahrene Ungerechtigkeit, die darin besteht, dass die Gegner Gottes ein sorgloses Leben führen. Die Nähe zu Gott wird nur am Rande und wenn überhaupt, dann eindimensional erwähnt. Christopher Reichert deutet Psalm 73,28 und Gottes Nähe als „Glück der Fülle“16, Rudolf Walter als Rettung „in jeder Hinsicht und in jeder Situation“17 und Georg Nicolaus in einer Konfirmationspredigt als „wahres Glück“18. In der Predigtdatenbank finden sich zwei weitere Predigten über Ps 73,28, die allerdings schon vor dem Jahr 2014 gehalten wurden: Tobias Rautenberg sieht den Psalm als neue Erfahrung von „Gottes Liebe“19 an. Andreas Ullrich versteht das Ende des Psalms als „Liebeslied“20. Die fünf Predigten beziehen sich besonders auf die angefochtene Situation des betenden Ichs im Psalm, auf die beschriebene Ungerechtigkeitserfahrung und auf Ausführungen über das Glück als solches. 14 Schwemer, Ulrich, Jahreslosung. Ps 73,28, in: Studium in Israel (Hg.), Predigtmeditationen im christlich-jüdischen Kontext. Zur Perikopenreihe VI, Plus Re-formatio – Dem Neuen Entgegen, das bei Gott schon da ist. Biblische Aspekte zur Reformation der Kirche, Weihenzell 2013, 64–69, 67. 15 Meister, Ralf, Jahreslosung 2014. Ps 73,28, in: Deeg, Alexander/Dçhling, Jan-Dirk (Hg.), GPM 11 (2013), 70–75, 73. 16 Reichert, Christopher, Predigt über Psalm 73, Predigtpreis, 01. 01. 2014. 17 Walter, Rudolf, Predigt über Psalm 73,28, Predigtpreis, 05. 01. 2014. 18 Nicolaus, Georg, Konfirmationspredigt zum Glück über Psalm 73,28, Predigtpreis, 30. 03. 2014. 19 Rautenberg, Tobias, Predigt über Psalm 73, Predigtpreis, 03. 08. 2006. 20 Ullrich, Andreas, Predigt über Psalm 73, Predigtpreis, 03. 03. 2013.
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Dieses Vorgehen ist nicht verwerflich: In Vers 28 werden die Begriffe 59ü („gut“) und 8E;B („Zufluchtsort“) mit der Nähe Gottes in Zusammenhang gesetzt. Gott wird damit eine schützende und bergende Funktion zugeschrieben. In der von Feinden umzingelten Wirklichkeit des betenden Ichs wird Gott zum Schutz, zur Rettung und zur Zuflucht. Eine Auslegung, die allein diese positive Konnotation der Gottesnähe betont, greift jedoch in meinen Augen zu kurz.21 Auch wenn Vers 28 an sich nicht die Ambivalenz der Gottesnähe betont, beschreibt Ps 73 doch ausführlich das Leiden des betenden Ichs, das aufgrund seiner Gottesgemeinschaft Schmerzen erduldet. Es wäre sinnvoll, wenn diese durchaus als schmerzvoll dargestellten Auswirkungen innerhalb einer durch Nähe geprägten Gottesbeziehung in einer Predigt Erwähnung fänden. Dadurch ließe sich einerseits vermeiden, dass die Nähe Gottes lediglich als Gegenbild der Erfahrung des leidend betenden Ichs eingesetzt würde und andererseits herausstellen, sie als einen integralen Bestandteil der Deutung von Wirklichkeit anzusehen.22 In einer einseitigen und damit defizitären Auslegung von Ps 73,28, in welcher die Grenzaussagen über die Nähe Gottes ignoriert werden, erscheint die Dynamik des Beziehungsgeschehens zwischen Gott und Menschen vernachlässigt.23 Einer Verbindung von gegenwärtigen Fragen und Zweifeln mit der Erfahrungswelt des Psalms steht solch ein Verständnis im Weg. Angesichts der weiteren Aussagen im Psalm sollten auch Fragen an Gott, Unverständnis über sein Handeln und Krisen in der Gottesbeziehung – und nicht nur unter Menschen – in einer Predigt über die Jahreslosung angesprochen werden. Die auch das Leiden in die Gottesgemeinschaft integrierende Wahrnehmung der Lebenswirklichkeit der Psalmen und das Ineinander von Gottes- und Selbstverhältnis, das Tillich und ebenso Martin verdeutlichen, beschreiben grundsätzliche Erfahrungen, auf die in einer Predigt zurückzugreifen sind. Eine facettenreichere und sorgfältigere Auseinandersetzung mit der Nähe Gottes in den Psalmen hätte in einer Predigt zu Reflexionen anregen können, ob sie 21 Vgl. Wagner-Rau, Wirklichkeit, 125: „Unsere Hörerinnen und Hörer merken, ob unser Glaube zu einer scharfen und ehrlichen Wirklichkeitswahrnehmung befreit oder ob er dazu verführt, über vieles hinwegzusehen. Sie hören, ob wir mit dem Wort ,Gott‘ Konflikte und lebendige Prozesse zudecken oder ob der Bezug auf dieses Wort etwas eröffnet. Nicht zuletzt hören sie auch, inwieweit der Glaube sich selbst in Frage stellen kann.“ 22 Vgl. Wagner-Rau, Wirklichkeit, 125: „Und die Homiletik darf es nicht unterlassen, die Frage zu stellen, was denn die Unterschiedenheit von Gott und Mensch für die mögliche Rede von Gott bedeutet. Wird diese Frage übersprungen, gerät die Predigt in die Gefahr einer theologischen Naivität, die sich auch in Form und Aufbau der Predigt widerspiegeln kann: Dann wird etwa zu Beginn der Predigt die gottlose Lebenswirklichkeit mit ihren Problemen und Leiden gezeichnet, um auf dieser dunklen Folie gegen Ende Gott einzuführen wie den Prinzen im Märchen, der mit seiner Liebe doch noch alles unfehlbar zum Guten wendet.“ 23 Vgl. Zenger, Erich, Psalm 73, in: Hossfeld, Frank-Lothar/Zenger, Erich (Hg.), Die Psalmen 51–100 (HThKAT), Freiburg im Breisgau 2001, 330–355, 355: „Er [Psalm 73, EKV] konzentriert die Sehnsucht nach ,Lebensglück‘ in geradezu dramatischem Ringen mit scheinbar gegenläufigen Erfahrungen in der Gemeinschaft mit Gott und weitet diese Sehnsucht zur Hoffnung aus, daß eine in diesem Leben erlebte Gottesgemeinschaft ,ewig‘ sein wird.“
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nicht eher zu einem tiefen Erkanntwerden führt, das nicht nur Glück, sondern eben auch den Schmerz an der eigenen Existenz veranschaulichen kann. Die biblische Rede von der Nähe Gottes führt in Auseinandersetzungen, die nicht banal für die Gemeinde sind. Eine Predigt, die dies widerspiegelt, trifft sowohl die Erfahrungen der Hörenden, verfügt aber ebenso über das Potenzial, eine überraschende Perspektive auf ihr Leben und ihre Gottesbeziehung zu eröffnen.24 Aktueller homiletischer Diskurs Die Auswahl und Auslegung der Jahreslosung von 2014 deuten darauf hin, dass die Nähe Gottes in der Predigtpraxis noch nicht ausreichend bedacht zu sein scheint. Weder lässt sich das Gottesbild auf Einseitigkeiten reduzieren, noch lassen sich Krisenerfahrungen mit einem ausschließlich „lieben“ und „glücklichen“ Gottesbild verbinden. Auf diese Verharmlosung des Gottesbildes und das Verschweigen von ambivalenten Lebenserfahrungen macht auch die aktuelle homiletische Forschungsdiskussion aufmerksam.25 Markus Beile beispielsweise beobachtet und beklagt eine Reduzierung im sprachlichen Ausdruck.26 In Predigten werde in einer wenig überraschenden Weise von Gott gesprochen. Offenbar aus Sorge darüber, dass eine Predigt Anstoß erregen könnte, werden ausschließlich tröstliche, aber auch harmlose Aussagen über Gott getroffen. Gerade das Bild des lieben Gottes, das in seiner Entstehung seine Berechtigung hat, stehe hier einer Textauslegung im Wege, die sowohl dem biblischen Text als auch den Lebens- und Glaubenserfahrungen der Gemeinde gerecht wird.27 Die Gefahr ist eine Banalisierung und Trivialisierung der vielfältigen biblischen Gottesbilder. Zum anderen macht sich auch eine Redseligkeit über Gott in den Predigten Raum.28 Diesen Eindruck teilt ebenso Markus Beile: „Ich sehe in zumindest einigen modernen Predigten eine immer ungehemmtere Tendenz, von Gott in einer läppischen, banalen und biblisch-theologisch höchst fragwürdigen Art zu sprechen. Was 24 Vgl. Engemann, Homiletik, 143. 25 Vgl. Schoberth, Ingrid, Kein bloß ,lieber Gott‘. Die Verharmlosung der Gottesrede als Problem der Praktischen Theologie, ZNT 9 (2002), 60–66, 60: „Auch in der Praktischen Theologie ist mit gutem Grund die Perspektive auf Gottes Liebe vorherrschend: Darin manifestiert sich nicht nur die Abkehr von autoritären Gottesbildern, sondern vor allem die theologische Leitlinie, Gottes ganzes Handeln von seiner liebenden Zuwendung her zu verstehen.“ 26 Vgl. Beile, Markus, Mit Gott auf du und du. Die Rede von Gott in heutigen Predigten, Deutsches Pfarrerblatt 6 (2016), 348–350, 349: „Da ist zum einen eine unerträglich anbiedernde, gewollt muntere und saloppe Sprache. (…) Unerträglich sind für mich auch die Plattitüden und die Vielzahl von theologischen Fehlern, von denen manche Predigten geradezu strotzen.“ 27 Vgl. Wagner-Rau, Wirklichkeit, 126: „Die Rede vom ,lieben Gott‘, durch den alles gut wird oder bleibt, lässt keine Frage offen, aber sie beantwortet auch keine Frage wirklich.“ 28 Vgl. Hçhn, Hans-Joachim, Der fremde Gott. Glaube in postsäkularer Kultur, Würzburg 2008, 14; Halik, Tomas, Ich will, dass du bist. Über den Gott der Liebe, aus dem Tschechischen von Mark ta Barth unter Mitarbeit von Benedikt Barth, Freiburg im Breisgau 22016, 12.
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ich mir von Predigenden stattdessen wünsche, ist ein mehr tastendes, ahnendes, metaphernreiches und symbolisch verschlüsseltes Reden von Gott. Vielleicht ist es genau das, was die Predigthörenden in heutiger Zeit von uns erwarten und was wir ihnen verweigern. ,Gott – das Geheimnis der Welt‘: Vielleicht muss man wieder mehr theologisch ringen um die richtige Art und Weise, von Gott zu reden.“29 Auch Regina Sommer weist darauf hin, dass sich Pfarrerinnen und Pfarrer verstärkt mit widersprüchlichen Gottesbildern in der Verkündigung auseinandersetzen müssten: „Nach jahrzehntelanger Zurückhaltung und der Konzentration auf eine Verkündigung, die mit guten Gründen vor allem die liebevollen und menschenfreundlichen Seiten Gottes und Jesu Christi herausstellte, scheint es nun an der Zeit, sich wieder neu den sperrigen Bildern des christlichen Glaubens, etwa der im zweiten Artikel des Apostolikums benannten Vorstellung eines mit der Wiederkunft Christi verbundenen Gerichts über die Lebenden und Toten, zuzuwenden.“30 Hinter diesem sprachlichen Problem steht nach Beile die Frage nach dem Gottes- und Menschenbild.31 Auf diese beiden Aspekte gehe ich im Folgenden näher ein. Biblische Gottesbilder, wie es an der in dieser Studie exemplarisch vorgeführten ambivalenten Beschreibung der Nähe Gottes deutlich wird, sind vielfältig und herausfordernd, denn „Gott ist in der Bibel (Alten und Neuen Testaments) nicht auf den ,lieben Gott‘ reduziert (…).“32 Eine Reduktion auf ein einseitiges positives Gottesbild, wie z. B. auf das des lieben Gottes, kommt einer Zähmung und Banalisierung der Gottesfrage gleich. So ist Alexander Deeg zuzustimmen, wenn er über den „lieben“ Gott sagt: „Zudem ist er sicher nicht der Gott, der uns auf den Seiten der Bibel entgegenscheint. Eher die zahmgestreichelte und klein gezüchtete Variante dieses biblischen Gottes. (…) Die politische und prophetische Dimension fehlt diesem Gott völlig.“33 Die Reduktion der Gottesbilder wird weder den biblischen Texten noch der Gottes-, Selbst- und Welterfahrung heutiger Menschen gerecht: „Die Verengung Gottes auf den ,lieben‘ und ,zugewandten‘ Gott entspricht (leider!) nicht den Erfahrungen, die Menschen in den Ambivalenzen ihres Lebens machen.“34 So auch Ingrid Schoberth: „Bleibt der auf Nähe und Zuwendung beschränkte Gott nämlich nur noch zuständig für die guten Zeiten des Lebens, dann wird 29 Beile, Rede, 350. 30 Sommer, Regina, Jüngstes Gericht (Mt 25, 31–46) in der Predigt. Analysen und Perspektiven einer homiletischen Herausforderung, PTh 99 (2010), 400–417, 401; vgl. auch Fuchs, Gotthard, Gottesfurcht als Geschenk? Vom wohltuenden Unterschied zwischen Gott und Welt, Meditation 3 (2003), 13–22, 13. 31 Vgl. Beile, Rede, 349 f. 32 Ebach, J rgen/Frettlçh, Magdalene L., Jabboq 2. Zur Einführung, in: Ders. u. a. (Hg.), Gretchenfrage. Von Gott reden – aber wie? Bd. I, Gütersloh 2002, 7–23, 15. 33 Deeg, Alexander, Die nova sprach und die Ambivalenz der Bilder. Zur Einführung, in: Ders., Gottesprojektionen homiletisch. Bilder von Gott in Bibel, Kunst und Predigt, Leipzig 2016, 13–28, 16. 34 Deeg, Ambivalenz, 22 [Hervorhebung im Original].
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der bloß ,liebe Gott‘ unglaubwürdig und der Bezug auf ihn trostlos, sobald die heile Welt sich als Illusion erweist (…).“35 Es lässt sich bezweifeln, dass ein solch harmloses Bild von Gott für Menschen in Tiefen, Zwängen und Unterdrückungen befreiend wirken kann und ihnen Mut und Trost zu geben vermag.36 Dabei geht es nicht darum, autoritäre und strafende Gottesbilder an dessen Stelle zu setzen, sondern Einseitigkeiten und Harmonisierungen in beiderlei Richtung zu vermeiden und stattdessen das in den biblischen Texten geschilderte dynamische Beziehungsgeschehen zwischen Mensch und Gott für heutige Erfahrungen transparent zu machen.37 Die Beschreibungen der Nähe Gottes in den Konfessionen Jeremias und Psalm 139 verdeutlichen, dass Gottes Wirken als unverfügbar und oft als verborgen, ja: auch als schrecklich zu beschreiben ist. Wenn Gott u. a. auch als Feind dargestellt wird, kann mit einem redlichen Anspruch, die biblischen Texte in ihren verschiedenen Dimensionen auszulegen, sein Handeln nicht als selbstverständlich und auch nicht als einseitig „lieb“ verkündigt werden. Thomas Halik sieht es als Aufgabe der Theologie und Seelsorge an, „den banalen Gott (den der Fundamentalismus predigt und der Atheismus widerlegt) abzulehnen und den lebendigen Gott der Bibel“38 zu suchen. Die biblischen Texte haben widersprüchliche Erfahrungen in sich aufgenommen und bieten dadurch die Möglichkeit, dass Menschen sich in ihnen mit ihren eigenen Erfahrungen wiederfinden – sofern die Texte in ihrer Vielstimmigkeit zur Geltung kommen.39 Die Nähe Gottes darf nicht ausschließlich mit eigenem Wohlergehen, einer heilen Welt und einem gelingenden Leben verknüpft sein, sondern muss Raum für Leiden, Fragen und Widersprüche geben: „So ist es gerade die Liebe Gottes, die seinen Zorn, seine Gerechtigkeit und seine Macht einfordert. Insofern bedarf es der Wahrnehmung des ganzen biblischen Redens von Gott, auch in seiner Abgründigkeit und Rätselhaftigkeit, weil Gott nur so der umfassend an dieser Welt handelnde Gott bleibt.“40 Jer 20,7–18 und Ps 139 sind eindrückliche Beispiele, dass die Nähe Gottes nicht eindeutig positiv zu bestimmen ist und damit als Gegenbild zur Ferne Gottes taugt. Vielmehr sind biblische Aussagen über die Nähe Gottes vielfältig 35 Schoberth, Verharmlosung, 60. Vgl. Deeg, Ambivalenz, 16: „Dieser Gott bleibt ratlos und stumm angesichts des Leids in der Welt. Er erweist sich als inkompatibel mit den Erfahrungen von Menschen.“ 36 Vgl. Schoberth, Verharmlosung, 60: „In dieser Vereinseitigung hört dann aber auch die Botschaft von der Liebe Gottes auf, eine befreiende Botschaft zu sein: Sie wird zur Allerweltsaussage (…).“ 37 Vgl. Miggelbrink, Ralf, Der zornige Gott. Die Bedeutung einer anstößigen biblischen Tradition, Darmstadt 2002, 161: „Sie [die Predigt] bleibt Verheißungs- und Heilsbotschaft. Allerdings ist sie Verheißungs- und Heilsbotschaft nicht als eirenischer Indifferentismus, sondern als engagierter Protest, der letztlich getragen ist von der Liebe zum Sein und den Menschen, in der der Mensch die Liebe Gottes zu den Menschen mitvollzieht.“ 38 Halik, Gott, 102 [Hervorhebung im Original]. 39 Vgl. Schoberth, Verharmlosung, 61. 40 Schoberth, Verharmlosung, 62 [Hervorhebung im Original].
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und ambivalent und deshalb nicht mit einseitigen Wertungen, die die Komplexität der Texte vernachlässigen, zu versehen. Das bedeutet keineswegs, dass die Nähe Gottes nicht vorwiegend positiv erfahren werden kann. Jedoch geht es darum, dass die Nähe Gottes nicht persönliches Wohlergehen („Glück“) nach sich ziehen muss. Es gilt auch das Bedrängende und ein Zu-nahe-Rücken Gottes aussagbar zu machen. Eine ambivalenzbewusste Exegese, die von Vornherein den Blick auf Spannungen im Text und in der Gottesbeziehung richtet, könnte eine vorschnelle und einlinige Deutung vermeiden.41 Dadurch würden die Texte nicht verharmlost und auf einen (positiven) Begriff gebracht, sondern kämen in ihrer Polyphonie und manchmal auch in ihrer Atonalität zur Sprache.
5.2 Heute von der Nähe Gottes reden Die vorherigen Kapitel zeigen, wie ambivalent in den Konfessionen Jeremias und in Ps 139 die Nähe Gottes beschrieben wird. Es sind Texte, die Krisen- und Grenzerfahrungen aufnehmen. Aus diesem Grund wurden die Predigten von Bonhoeffer und Tillich in der Zeit vor und nach dem Zweiten Weltkrieg ausgewählt. Gerade diese beiden Predigten verdeutlichen, dass der Text nicht angemessen wahrgenommen wird, wenn man etwa Psalm 139 auf das Bild der Geborgenheit in Gott reduziert. Beide biblischen Texte bieten die Möglichkeit, sich mit herausfordernden Gottesbildern auseinanderzusetzen – ohne in moralisch-autoritäre Gottesbilder zu verfallen. Die Predigten von Bonhoeffer und Tillich zeigen, inwiefern in sich komplexe biblische Texte bedrängenden Lebenssituationen, politischen Konflikten und gegenwärtigen Lebenskrisen standhalten können. Sie zeigen auch, dass der beschriebene Anspruch Gottes mitunter im Widerspruch zu anderen Ansprüchen – auch politischen – stehen kann. In dieser Hinsicht kann ein Gottesbild, das Menschen herausfordert und in existenzielle Fragen hineinführt, zur Selbstreflexion hilfreich sein: „Seelsorgerlich wurde die Notwendigkeit eines komplexeren Gottesbildes in den vergangen Jahren erkannt – und etwa so eingeholt, dass die Klagepsalmen sogar mit den darin enthaltenen Feindbitten wieder eine bedeutende Rolle spielen dürfen. Wie verhält sich unsere Predigtwirklichkeit dazu?“42 Meiner Meinung nach sollte sich diese Entwicklung nicht nur auf die Seelsorge und Liturgie beschränken, sondern auch auf die Auswahl der Predigttexte und deren Verkündigung. Die neuere exegetische Diskussion zu den Psalmen, den Klageliedern und dem Hiobbuch bietet dafür wichtige hermeneutische Grundlagen und methodische Hilfestellungen.43 41 Vgl. dazu in dieser Studie Kapitel 1.4 Zum Ambivalenzbegriff. 42 Deeg, Ambivalenz, 22. 43 Vgl. zur Thematisierung von ambivalenten und gewalttätigen Gottesbildern in Psalmen: Zenger, Erich, Ein Gott der Rache? Feindpsalmen verstehen, Freiburg 1998; Ebach, J rgen, Der
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Die Konfessionen Jeremias und Ps 139 veranschaulichen die Fremdheit und die Alterität Gottes.44 Die biblischen Texte sind „ein Plädoyer für einen Denkund Redestil, der Front macht gegen Gottesbilder, die nicht die radikale Andersheit und Unverzweckbarkeit Gottes zur Geltung bringen.“45 Ein Ziel müsste also darin bestehen, in der eigenen Redeweise die Alterität Gottes zum Ausdruck zu bringen, „die jedes Zusammentreffen zwischen Gott und Mensch zu einer Begegnung macht, in die Gott sich begibt und in der Gott sich entzieht und so unverfügbar und unbegriffen bleibt.“46 Die gegenwärtig säkulare Situation in Deutschland, in der Gott zu einem Fremdwort für viele geworden ist, ist ein Grund mehr, von seinem Wirken nicht selbstverständlich zu erzählen, sondern auch seine Fremdheit und Unverfügbarkeit wahr- und ernstzunehmen und verstärkt fragend über Gott zu sprechen.47 In diesem Zusammenhang spricht sich Ulrike Wagner-Rau für poetische Formen aus, um das Unsagbare in Worte zu fassen: „Aber wenn sie [poetische Formen, EKV] aus der Predigtsprache verschwinden, bleibt eine Eindeutigkeit der Aussagen, die der komplexen und vieldeutigen Wirklichkeit nicht entspricht. Es braucht die poetische Redeweise von Gott, damit die Gottesrede zur Brücke wird, die in die andere Wirklichkeit des Glaubens hinüberweist.“48 Hans-Joachim Höhn plädiert in einer zum Teil „Gott los gewordenen Welt“49 dafür, die Erfahrung des Fehlens und Vermissens Gottes zu betonen. In einer Welt, die Gottes Existenz zunehmend bestreitet, sei von ihm angemessen in einer „Hermeneutik des ,Gott-Vermissens‘“50 zu reden. Das bedeutet nicht, dass über Gott gar nicht mehr gesprochen werden kann, sondern dass die Radikalität und Tiefe der biblischen Texte nicht verschwiegen werden soll. Auch über den Gott der Liebe lässt sich komplex und vielstimmig sprechen.51 Mit meiner Auslegung und diesem Plädoyer für eine den biblischen Texten adäquate Homiletik möchte ich die Aufmerksamkeit auf die ambivalente Beschreibung der Nähe Gottes lenken, zu einem Reflexionsprozess über die Nähe Gottes anregen und einen Beitrag zur theologisch verantworteten Rede von Gott leisten. Biblische Texte wie Jer 20,7–18 und Ps 139 eröffnen Räume für ambivalente Ereignisse – in der Gottesbeziehung und in zwischenmenschlichen Beziehungen. Ich bin davon überzeugt, dass die biblischen Texte mit
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Gott des Alten Testaments – ein Gott der Rache, JK 55 (1994), 130–139; Janowski, Bernd, Ein Gott, der straft und tötet? Zwölf Fragen zum Gottesbild des Alten Testaments, NeukirchenVluyn 2013; Hartenstein, Zorn, 110–127. Vgl. Hçhn, Gott, 102 f. Hçhn, Gott, 8. Frettlçh, Gott, 36 f [Hervorhebung im Original]. Vgl. Hçhn, Gott, 35; Halik, Gott, 25. Wagner-Rau, Wirklichkeit, 130. Hçhn, Gott, 87. Hçhn, Gott, 97. Vgl. Halik, Gott, 22.
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gegenwärtigen Erfahrungen verbunden werden können. Das geht allerdings nur, wenn sie mit ihren Ambivalenzen, Herausforderungen und Fragen zur Geltung gebracht werden. Auch bei sinkenden Kirchenmitgliedszahlen sollte die Komplexität der biblischen Botschaft nicht reduziert bzw. ein harmloses Gottesbild verkündigt werden, deshalb kann ich Deeg nur zustimmen, wenn er sagt: „Vielleicht würden mehr Menschen Predigten spannend finden, wenn dort ein spannungsreiches Ringen mit Gott, ein spannungsreicheres Gottesbild gezeichnet würde!?“52 Das bedeutet für Pfarrerinnen und Pfarrern selbst eine Haltung des Suchens, Fragens und Ringens einzunehmen.53 Als Pfarrerin habe ich häufig die Erfahrung gemacht, dass gerade die Psalmen und die Themen der Konfessionen Jeremias die Menschen unmittelbar in ihren Lebens- und Glaubenserfahrungen ansprechen. Psalmen sind es, die in der Seelsorge Worte für Unaussprechliches bieten und prophetische Texte, die zu vielen Predigtnachgesprächen führen. Das eigene Leben – so wie einzelne Menschen es mit all seinen schönen, schrecklichen und widersprüchlichen Seiten erfahren – vor Gott zu bringen und dadurch Befreiung zu erfahren, davon erzählen die Psalmen und die Konfessionen Jeremias. Das eigene Leid auszudrücken und das Ringen mit und das Bleiben bei Gott ins Gebet zu bringen kann heute viele Menschen in ihrem Glauben und Zweifeln ansprechen.54 Die Psalmen und die Konfessionen Jeremias sind auch deshalb in den Bereichen Seelsorge und Verkündigung wertvoll, weil sie Ausdruck der Gottesbeziehung sind und diese sprachlich ungeschönt, radikal und glaubenserfahren treffend beschreiben. Die Gebets- und Klagetexte des Alten Testaments drücken tiefe menschliche Erfahrungen von Gottes Nähe aus. Bonhoeffers Diktum, dass der Psalter „die große Schule des Gebets“55 sei, erachte ich daher immer noch für gültig.
52 Vgl. Deeg, Ambivalenz, 23. 53 Vgl. Wagner-Rau, Wirklichkeit, 128. 54 Vgl. Welten, Leiden, 148: „Ein Durchdenken von Verkündigung und Diakonie unter den Gesichtspunkten dieses jeremianischen Mitleidens entbehrt auch heute nicht der Aktualität.“ 55 Bonhoeffer, Leben, 37.
6. Literatur Die zitierte Literatur wird in den Fußnoten jeweils zunächst mit vollem Titel genannt. Im weiteren Verlauf wird nach Nachnamen und Kurztiteln zitiert. Ausnahmen werden im Literaturverzeichnis hinter dem Eintrag in Klammern genannt. Bei Internetquellen wird bei wiederholter Zitation ausschließlich der Nachname und Kurztitel und keine Seitenzahl angegeben. Die Abkürzungen der biblischen Bücher orientieren sich an den Loccumer Richtlinien. Ausnahmen: Hiob (Ijob) wird mit Hi abgekürzt. Die bei der Zitation von Literatur verwendeten Abkürzungen folgen in der Regel Schwertner, Siegfried M., Internationales Abkürzungsverzeichnis für Theologie und Grenzgebiete, Berlin/Boston 32014 (IATG3).
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Titel (Zitatnachweis): Hçlderin, Friedrich, Patmos, in: Schmidt, Jochen (Hg.), Friedrich Hölderlin. Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 1: Gedichte, Bibliothek deutscher Klassiker 80, Frankfurt am Main 1992, 350.
7. Anhang: Wirkungsgeschichtliche Bezugstexte 7.1 Dietrich Bonhoeffer, Predigt zu Jeremia 20,71 PREDIGT ZU JEREMIA 20,7. LONDON, 3. SONNTAG NACH EPIPHANIAS, 21. 1. 19342 den 21.I.34. Jer 20,7: Herr, du hast mich überredet und ich habe mich überreden lassen. Du bist mir zu stark gewesen und hast gewonnen. Jeremias hat sich nicht dazu gedrängt, Prophet Gottes zu werden. Er ist zurückgeschaudert, als ihn plötzlich der Ruf traf, er hat sich gewehrt, er wollte ausweichen – nein, er wollte dieses Gottes Prophet und Zeuge nicht sein – aber auf der Flucht packt ihn, ergreift ihn das Wort, der Ruf; er kann sich nicht mehr entziehen, es ist um ihn geschehen, oder, wie es einmal heißt, der Pfeil des allmächtigen Gottes hat das gehetzte Wild erlegt.3 Jeremias ist sein Prophet. Von außen her kommt es über den Menschen, nicht aus der Sehnsucht seines Herzens, nicht aus seinen verborgensten4 Wünschen und Hoffnungen steigt es herauf; das Wort, das den Menschen stellt, packt, gefangen nimmt, bindet, kommt nicht aus den Tiefen unserer Seele, sondern es ist das fremde, unbekannte, unerwartete, gewalttätige, überwältigende Wort des Herrn, der in seinen Dienst ruft, wen und wann er will. Da hilft kein Widerstreben, sondern da heißt Gottes Antwort: Ich kannte dich, ehe ich dich im Mutterleib bereitete.5 Du bist mein. Fürchte nicht! Ich bin dein Gott, der dich hält.6 Und dann ist dies fremde, ferne, unbekannte, gewalttätige Wort auf einmal das uns schon so unheimlich wohlbekannte, unheimlich nahe, überredende, betörende, verführende Wort der Liebe des Herrn, den es nach seinem Geschöpf verlangt. Dem Menschen ist ein Lasso über den Kopf geworfen und nun kommt er nicht 1 DBW 13, 347–351. 2 Bei E. Bornkamm: hsl. Vgl. NL A 43,8: Fotokopie; Abdruck: GS V 505–509 und PAM I 425–430. Die Predigt entstand in den spannungsgeladenen Tagen vor dem Empfang der Kirchenführer bei Hitler. B hatte versucht, durch verschiedene Eingaben den Ausgang des Empfangs zu beeinflussen. Vgl. I/55–62. 3 „oder…erlegt.“ ersetzt: „Gott hat sein Opfer erlegt.“; vgl. etwa Thr 3,12 f. 4 Ersetzt: „geheimen.“ 5 Jer 1,5. 6 Anklänge an Jes 41,10 und 43,1; vgl. die Kantate „ Fürchte dich nicht“ (BWV 153,3) von J. S. Bach.
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Anhang: Wirkungsgeschichtliche Bezugstexte
mehr los. Versucht er zu widerstreben, so spürt [er] erst recht, wie unmöglich das ist; denn das Lasso zieht sich nur enger und schmerzhafter zusammen und erinnert ihn daran, daß er ein Gefangener ist. Er ist Gefangener, er muß folgen. Der Weg ist vorgeschrieben. Es ist der Weg des Menschen, den Gott nicht mehr losläßt, der Gott nicht mehr loswird. Das heißt aber auch, der Weg des Menschen, der nie mehr – im Guten oder Bösen – gott-los wird. Und dieser Weg führt mitten in die tiefste menschliche Schwachheit hinein.7 Ein verlachter, verachteter, für verrückt erklärter, aber für Ruhe und Frieden der Menschen äußerst gefährlicher Narr – den man schlägt, einsperrt, foltert und am liebsten gleich umbringt – das ist dieser Jeremias eben weil er Gott nicht mehr loswerden kann. Phantast, Sturkopf, Friedensstörer, Volksfeind hat man ihn gescholten, hat man zu allen Zeiten bis heute die gescholten, die von Gott besessen und gefaßt waren, denen Gott zu stark geworden war. Wie gern hätte Jeremias anders geredet. Wie gern hätte er mit den anderen Friede und Heil geschrieen, wo doch Unfriede und Unheil war.8 Wie gern hätte er geschwiegen, den anderen recht gegeben – aber er konnte einfach nicht, es lag wie ein Zwang, wie ein Druck auf ihm, es war, als säße ihm einer im Nacken und triebe ihn von einer Wahrheit zur anderen, von einem Leiden zum anderen. Er war nicht mehr sein eigener Herr, er war seiner selbst nicht mehr mächtig, ein anderer war seiner mächtig geworden, ein anderer besaß ihn, von einem anderen war er besessen. Und Jeremias war von unserem Fleisch und Blut, er war ein Mensch wie wir. Er leidet unter den dauernden Erniedrigungen, dem Spott, der Gewalt, der Brutalität der anderen, und so bricht er dann nach einer qualvollen Folterung, die eine ganze Nacht gewährt hatte, in dieses Gebet aus: „Herr, du hast mich überredet und ich habe mich überreden lassen. Du bist mir zu stark geworden und hast gewonnen.“ Gott, du hast es mit mir angefangen. Du hast mir nachgestellt, hast mich nicht loslassen wollen, bist mir immer wieder hier oder dort plötzlich in den Weg getreten, hast mich verlockt und betört, hast dir mein Herz gefügig und willig gemacht, hast zu mir geredet von deiner Sehnsucht und ewigen Liebe, von deiner Treue und Stärke; als ich Kraft suchte, stärktest du mich, als ich Halt suchte, hieltest du mich, als ich Vergebung suchte, vergabst du mir die Schuld. Ich hatte nicht gewollt, aber du überwandest meinen Willen, meinen Widerstand, mein Herz, Gott, du verführtest mich unwiderstehlich, daß ich mich dir hingab. Herr, du hast mich überredet und ich habe mich überreden lassen. Wie einen Ahnungslosen hast du mich gefaßt – und nun kann ich nicht mehr von dir los, nun schleppst du mich davon als deine Beute, bindest uns an deinen Siegeswagen und schleifst uns hinter dir her, daß wir geschunden und zermartert an deinem Triumphzug teilnehmen. Konnten wir es wissen, daß deine Liebe so weh tut, daß deine Gnade so hart ist? Du bist mir zu stark geworden und hast gewonnen. Als der Gedanke an dich in mir stark wurde, da 7 „führt… hinein.“ ersetzt: „ist ein Weg höchster Gefahr.“ 8 Vgl. Jer 6,14; dazu Anspielung auf den „Deutschen Gruß“ der Nazis.
Dietrich Bonhoeffer, Predigt zu Jeremia 20,7
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wurde ich schwach. Als du über mich gewannst, da war ich verloren; da war mein Wille gebrochen, da war meine Kraft zu gering, da mußte ich den Weg des Leidens gehen, da konnte ich dir nicht mehr widerstreben, da9 konnte ich nicht mehr zurück, da war die Entscheidung über mein Leben gefallen. Nicht ich habe entschieden, du hast entschieden. Du hast mich an dich gebunden auf Gedeih und Verderb. Gott, warum bist du uns so furchtbar nahe? Tausende von Gemeindegliedern und Pfarrern sind heute in unserer Heimatkirche in der Gefahr der Unterdrückung und Verfolgung um ihres Zeugnisses für die Wahrheit willen.10 Sie haben sich diesen Weg nicht aus Trotz und Willkür ausgesucht, sondern sie wurden diesen Weg geführt, sie mußten ihn gehen – oft gegen ihren Willen, gegen ihr Fleisch und Blut – weil Gott in ihnen zu stark geworden war, weil sie Gott nicht mehr widerstehen konnten, weil hinter ihnen ein Schloß zugefallen war, weil sie nicht mehr zurück konnten hinter Gottes Wort, Gottes Ruf, Gottes Befehl. Wie wünschten sie es oft, daß endlich Friede und Ruhe und Stille käme, wie wünschten sie oft, sie brauchten nicht immer wieder zu drohen, zu warnen, zu protestieren, die Wahrheit zu bezeugen. Aber ein Zwang liegt auf ihnen. „Weh uns, wenn wir das Evangelium nicht predigten“.11 Gott, warum bist du uns so nah? Von Gott nicht mehr loskommen können, das ist die dauernde Beunruhigung jedes christlichen Lebens. Wer sich einmal auf ihn einließ, wer sich einmal von ihm überreden ließ, der kommt nicht mehr los.12 Wie ein Kind nicht mehr loskommt von seiner Mutter, wie ein Mann nicht mehr loskommt von der Frau, die er liebt. Zu wem er einmal geredet hat, der kann ihn nicht mehr ganz vergessen, den begleitet er immerfort, im Guten und im Bösen, den verfolgt er – wie der Schatten den Menschen. Und diese dauernde Nähe Gottes wird dem Menschen zu viel, zu groß, geht ihm über seine Kraft, und er denkt wohl manchmal: O, hätte ich es nie mit Gott angefangen. Es ist zu schwer für mich. Es zerstört mir den Frieden meiner Seele und mein Glück. Aber es nützt ihm alles nichts mehr. Er kann nicht mehr los, und nun muß er hindurch – mit Gott – es komme, was da wolle. Und wenn er meint, er könne es nicht mehr ertragen, er müsse sich selbst ein Ende machen – dann weiß er doch auch wieder, daß er auch so nicht mehr loskommt von dem Gott, auf den er sich einließ, von dem er sich hat überreden lassen, er bleibt sein Opfer, in seinen Händen. Aber eben hier, wo einer meint, den Weg mit Gott nicht mehr länger gehen zu können, weil es zu schwer ist – und solche Stunden kommen über jeden zu seiner Zeit – wo uns Gott zu stark geworden ist – wo ein Christ unter Gott zusammenbricht und verzagt – da wird uns Gottes Nähe, Gottes Treue, Gottes Stärke zum Trost und zur Hilfe, da erst erkennen wir Gott und den Sinn 9 10 11 12
Gestr.: „war ich zu schwach“. Vgl. zu den Vorgängen dieser Monate nur I/73. I Kor 9,16. Gestr.: „der wird von ihm getrieben“.
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unseres christlichen Lebens recht. Von Gott nicht mehr loskommen, das bedeutet viel Angst, viel Verzagtheit, viel Trübsal, aber bedeutet doch auch im Guten und im Bösen nie mehr gott-los sein können. Es bedeutet: Gott mit uns auf allen unseren Wegen, im Glauben und in der Sünde, in Verfolgung, Verspottung und Tod. Was liegt an uns, an unserem Leben, an unserem Glück, an unserem Frieden, an unserer Schwachheit, an unserer Sünde?13 Wenn nur das Wort und der Wille und die Kraft Gottes an unserem schwachen, sterblichen, sündigen Leben verherrlicht wird, wenn nur unsere Schwachheit ein Gefäß der göttlichen Macht ist. Gefangene tragen keine stolzen Kleider, sondern Ketten. Aber diese Ketten verherrlichen den, der als der Sieger durch die Welt und die Menschheit zieht. Unsere Ketten und die Fetzen unserer Kleider und die Narben, die wir tragen müssen, sind der Lobpreis auf den, der die Wahrheit und die Liebe und die Gnade an uns verherrlichte… Der Siegeszug der Wahrheit und der Gerechtigkeit, der Siegeszug Gottes und seines Evangeliums durch diese Welt schleift hinter dem Siegeswagen die Gebundenen und Gefangenen hinter sich her. Daß er uns endlich an seinen Siegeswagen bände, daß wir doch, wenn auch gebunden und geschunden, an seinem Siege teilhätten! Er hat uns überredet, er ist zu stark geworden, er läßt uns nicht mehr los. Was kümmerten uns die Fesseln und die Bürde, was kümmerte Sünde und Leiden [und] Tod? Er hält uns fest. Er läßt uns nicht mehr. Herr, überrede uns immer neu und werde stark über uns, damit wir dir allein glauben, leben und sterben, damit wir deinen Sieg schauen.
7.2 Paul Tillich, Flucht vor Gott (Predigt zu Psalm 139) FLUCHT VOR GOTT Herr, Du erforschest mich und kennest mich. Ich sitze oder stehe auf, so weißt du es; Du verstehst meine Gedanken von ferne. Ich gehe oder liege, so bist du um mich und siehest alle meine Wege. Denn siehe, es ist kein Wort auf meiner Zunge, das Du, Herr, nicht alles wissest. Von allen Seiten umgibst Du mich und hältst Deine Hand über mir. Solche Erkenntnis ist mir zu wunderbar und zu hoch; ich kann sie nicht begreifen. Wo soll ich hingehen vor Deinem Geist, und wo soll ich hinfliehen vor Deinem Angesicht? Führe ich gen Himmel, so bist Du da. Bettete ich mich in die Hölle, siehe, so bist du auch da. Nähme ich Flügel der Morgenröte und bliebe am äußersten Meer, 13 Gestr.: „Gefangen und gebunden sind wir“.
Paul Tillich, Flucht vor Gott (Predigt zu Psalm 139)
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So würde mich doch Deine Hand daselbst führen und Deine Rechte mich halten. Spräche ich: Finsternis möge mich decken!, so muß die Nacht auch Licht um mich sein. Denn auch die Finsternis nicht finster ist bei Dir, und die Nacht leuchtet wie der Tag. Finsternis ist wie das Licht. Denn Du hast meine Nieren bereitet und hast mich bedeckt im Mutterleibe. Ich will Dich preisen, daß ich wunderbar gemacht bin; wunderbar sind Deine Werke, und das erkennet meine Seele wohl. Es war Dir mein Wesen nicht verhohlen, da ich im Verborgenen gemacht ward, da ich gebildet ward tief unter der Erde. Deine Augen sahen mein Wesen, da ich noch unbereitet war. Und alle meine Tage waren in Dein Buch geschrieben, als derselben keiner da war. Aber wie köstlich sind vor mir, Gott, Deine Gedanken! Wie ist ihrer so eine große Summe. Sollte ich sie zählen, so würden ihrer mehr sein denn des Sandes. Wenn ich aufwachte, würde ich noch dabei sein. Ach Gott, daß du tötest die Gottlosen und die Blutgierigen von mir weichen müßten! Denn sie reden von Dir lästerlich und Deine Feinde gebrauchen Deinen Namen umsonst. Hasse ich nicht Herr, die Dich hassen, und bin ich nicht unwillig über die, die sich wider Dich setzen? Ich hasse sie mit unbegrenztem Haß; sie sind mir zu Feinden geworden. Erforsche mich, Gott, und erfahre mein Herz; prüfe mich und erfahre, wie ichs meine! Und siehe, ob ich auf bösem Wege bin, und leite mich auf ewigem Wege. PSALM 139. „Wo soll ich hingehen vor Deinem Geist, und wo soll ich hinfliehen vor Deinem Angesicht?“ Das sind die Worte, die im Zentrum des 139. Psalms stehen. Sie behaupten in der Form einer Frage die unentrinnbare Gegenwart Gottes. Wir wollen diese Behauptung und die machtvollen Bilder näher betrachten, in denen der Psalmist sie auszudrücken versucht. Mann kann Gott nicht entrinnen. Er ist nur Gott, weil man ihm nicht entrinnen kann. Und nur das Untentrinnbare ist Gott. Es gibt keinen Ort, wohin wir vor Gott fliehen können – keinen Ort, der außerhalb Gottes ist. „Führe ich gen Himmel, so bist Du da.“ Es scheint natürlich für Gott zu sein, daß er im Himmel thront, und unnatürlich für uns, in den Himmel auffahren zu wollen, um ihm zu entfliehen. Aber gerade das haben die Idealisten aller Zeiten versucht. Sie haben den Sprung in einen Himmel der Vollkommenheit und der Wahrheit, der Gerechtigkeit und des Friedens versucht, wo man Gott nicht braucht. Das ist jedoch ein von Menschen gemachter Himmel ohne die drängende Unruhe des göttlichen Geistes
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und ohne die richtende Gegenwart des göttlichen Antlitzes. Aber solch ein Ort ist „kein Ort“. Er ist eine „U-topie“, eine idealistische Illusion. „Bettete ich mich in der Hölle, siehe, so bist Du da.“ Hölle oder Scheol, der Ort der Toten, scheint der rechte Ort zu sein, zu dem man fliehen könnte, um sich vor Gott zu verbergen. Und dorthin versuchen die zu fliehen, die sich nach dem Tode sehnen, um den göttlichen Forderungen zu entrinnen. Ich bin überzeugt, daß kein einziger unter uns ist, der sich nicht manchesmal gewünscht hätte, das Leben von sich zu werfen, um sich der Last seiner Existenz zu befreien. Und ich weiß, daß das für manche unter uns eine tägliche Versuchung ist. Aber in der Tiefe seines Herzens weiß jeder, daß der Tod keine wirklich Ausflucht ist vor der inneren Forderung, die ihm auferlegt ist. „Nähme ich Flügel der Morgenröte und bliebe am äußersten Meer, so würde mich doch Deine Hand daselbst führen und Deine Rechte mich halten.“ Wir können ans andere Ende der Welt fliehen und könnten doch Gott nicht entrinnen. Aber gerade das versucht unsere technische Zivilisation, um das Wissen zu betäuben, daß wir keinen Sinn und keine Mitte mehr in unserem Leben finden können. Der moderne Weg, Gott zu entfliehen, ist der „Fortschritt“, das Vorwärts-Jagen in jeder Beziehung, der Wille, vorzustoßen in Raum und Zeit, so weit wie möglich, so schnell wie möglich. Nie ruht die Tätigkeit des modernen Menschen, nie läßt sein Planen nach, die Enden nicht nur der Erde, sondern des Universums will er erreichen. Aber Gottes Hand fällt auf uns, und sie ist schon schwer und vernichtend auf die Zivilisation gefallen – unsere Flucht erwies sich als vergebens. „Spräche ich, Finsternis möge mich decken, so muß die Nacht auch Licht um mich sein. Denn auch die Finsternis nicht finster ist bei Dir, und die Nacht leuchtet wie der Tag.“ Wenn man auch in die Finsternis flüchtete, um Gott zu vergessen, so könnte man ihm doch nicht entrinnen. Eine Zeitlang können wir ihn aus unserem Bewußtsein verdrängen, ihn von uns weisen, ihn widerlegen, seine Nichtexistenz behaupten, ohne ihn leben, aber im letzten Grunde wissen wir, daß nicht er es ist, den wir widerlegen und verdrängen, sondern sein verzerrtes Bild. Und wir wissen, daß wir ihn nur deshalb verneinen können, weil er uns dazu treibt, ihn zu verneinen. Es gibt keine Flucht vor Gott, auch nicht im Verdunkeln und Verdrängen. „Wo soll ich hingehen vor Deinem Geist, wo soll ich hinfliehen vor Deinem Angesicht?“ Der Dichter, der diese Worte schrieb, war überzeugt, daß der Mensch den Wunsch hat, Gott zu entrinnen. In dieser Überzeugung steht er nicht alleine. Menschen aller Art, Propheten und Reformatoren, Heilige und Atheisten, Gläubige und Ungläubige, haben die gleiche Erfahrung gemacht. Man kann sogar sagen: ein Mensch, der niemals versucht hat, Gott zu entfliehen, hat niemals den Gott erfahren, der wirklich Gott ist. Wenn ich von Gott spreche, so meine ich nicht, die vielen selbstgemachten Götter, mit denen es sich ganz bequem leben läßt, denn es liegt kein Grund vor, einem Gott zu entfliehen, der das vollkommene Bild des Guten im Menschen ist. Warum sollte man vor einem so weit entfernten Ideal fliehen wollen? Und es gibt auch
Paul Tillich, Flucht vor Gott (Predigt zu Psalm 139)
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keinen Grund, einem Gott zu entfliehen, der einfach das Universum ist oder das Naturgesetz oder der Lauf der Geschichte. Warum einer Wirklichkeit zu entfliehen versuchen, von der wir selbst ein Teil sind? Es gibt keinen Grund zur Flucht vor einem Gott, der nichts weiter ist als ein wohlwollender Vater – ein Vater, der uns Unsterblichkeit und ewiges Glück verheißt. Warum vor jemandem fliehen, der uns so freundlich hilft? Nein, das alles sind keine Bilder von Gott, sondern vom Menschen selbst, der versucht, sich von Gott ein Bildnis für seine eigenen Zwecke zu machen. Das sind Produkte menschlicher Einbildung und Wunschbilder, die mit vollem Recht von jedem aufrichtigen Atheisten geleugnet werden. Ein Gott, den wir leicht ertragen können, ein Gott, vor dem wir uns nicht verbergen müssen, ein Gott, den wir nicht hassen, ein Gott, dessen Vernichtung wir niemals wünschen, ist in Wahrheit kein Gott. Er existiert nicht! Friedrich Nietzsche, der große Atheist und erbitterte Feind der Religion und des Christentums, wußte mehr von der Mächtigkeit der Gottesidee als viele gläubige Christen. In einer symbolischen Erzählung sagt Zarathustra, der Prophet des „Höheren Menschen“ zu dem „Häßlichsten Menschen“, dem Gottesmörder: „Du ertrügst den nicht, der dich sah, der immer durch und durch sah … du nahmst Rache an diesem Zeugen … du bist der Mörder Gottes.“ Der „Häßlichste Mensch“ stimmt Zarathustra zu und erwidert: „Er mußte sterben.“ Denn der „Häßlichste Mensch“ weiß, daß Gott mit Augen sieht, die alles sehen; er sieht des Menschen Tiefen und Abgründe, all seine verhehlte Schmach und Häßlichkeit. Der Gott, der jedes Ding sieht, ist der Gott, der getötet werden muß. Der Mensch kann es nicht ertragen, daß solch ein Zeuge lebt. Sind wir fähig, einem solchem Zeugen standzuhalten? Der Psalmist sagt: „Herr, Du erforschest mich und kennest mich.“ Wer könnte es ertragen, so völlig bis in die dunkelsten Winkel seiner Seele durschaut zu werden? Wer möchte einem solchen Mitwisser nicht entrinnen? Und wer möchte nicht schließlich zum Atheisten werden, um Gott zu beseitigen? „Ich sitze oder stehe auf, so weißt Du es, ich gehe oder liege, so bist Du um mich, alle meine Wege sind Dir offen.“ Gott weiß, was wir sind, und er weiß, was wir tun. Wer haßt nicht solch einen Gefährten, der immer gegenwärtig ist – auf jedem Weg und jedem Zufluchtsort? Wer möchte nicht aus diesem Gefängnis einer ständigen Mitwisserschaft ausbrechen? „Du verstehst meine Gedanken von ferne … Herr, es ist kein Wort auf meiner Zunge, daß du nicht weißt.“ Die Gegenwart Gottes hat geistigen Charakter. Sie dringt in die innersten Bezirke unseres Geistes ein. Unser ganzes Innenleben, unsere Gedanken und Wünsche, unsere Gefühle und Phantasien sind Gott bekannt. Das letzte Ziel der Flucht, mein Selbst, dieser nur ihm vertraute Ort, ist in der Sicht Gottes. Das zu ertragen, wird uns am schwersten. Der menschliche Widerstand gegen eine so unbarmherzige Nähe kann kaum gebrochen werden. Jeder Psychiater und Beichtvater kennt die Macht des Widerstandes gegen jede Selbstoffenbarung. Niemand möchte erkannt werden, selbst wenn er weiß, daß seine Gesundheit
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und seine Heilung von solch einer Erkenntnis abhängen. Ja, wir wollen nicht einmal von uns selbst erkannt werden. Wir versuchen die Tiefen unserer Seele vor unseren eigenen Augen zu verbergen. Wir wehren uns dagegen, Zeuge unserer selbst zu sein. Wie können wir dann dem Spiegel standhalten, in dem nichts verborgen bleibt? Hat der „Häßlichste Mensch“ recht? Er ist das Symbol der Häßlichkeit, die in jedem von uns ist, und er ist das Symbol für unseren Willen, wenig-stens etwas davon vor Gott und vor uns selbst zu verbergen. Der „Häßlichste Mensch“ und seine Ablehnung Gottes wird bestätigt von Heiligen, Theologen und Reformatoren. Martin Luther war ebenso wie unser Psalmist von der alles durchdringenden Gegenwart Gottes ergriffen. Er wußte, daß Gott jeder Kreatur näher ist als diese sich selbst. Gott umfaßt alle Dinge, er ist in allen Dingen. Aber diese allerinnerste Gegenwart Gottes erweckte in Luther dasselbe Gefühl wie in Nietzsche. Er wünschte, daß Gott nicht Gott sei. Er bekennt: „Ich liebte Gott nicht, ich haßte den gerechten Gott … ich war zornig auf ihn, wenn schon nicht in mutwilliger Auflehnung, so doch in heimlicher Lästerung.“ Und er fuhr fort, in den Spuren des hl. Bernhard, des großen Meisters religiöser Selbstbetrachtung: „Wir können Gott nicht lieben, und deshalb wollen wir, daß er nicht existiere. Wir können es nicht wollen, daß er der Weiseste und Mächtigste ist.“ Luther erschrak tief, als er den Haß gegen Gott in sich entdeckte. Er war nicht imstande, diesem Haß ebenso schlau zu entfliehen wie seine theologischen Lehrer, die ihm rieten, er solle nicht beständig an die richtende Gegenwart Gottes denken und so die Blasphemie des Gotteshasses vermeiden. Luther wußte ebenso wie der Psalmist, daß ein Entrinnen nicht möglich ist. „Von allen Seiten umgibst Du mich und hältst Deine Hand über mir.“ Der fromme Mann des Alten Testaments, der heilige Mystiker des Mittelalters, der Reformator der christlichen Kirche und der Prophet des Atheismus stimmen in der einen ungeheuren menschlichen Erfahrung überein: „Der Mensch kann dem Gott nicht standhalten, der wirklich Gott ist.“ Der Mensch versucht, Gott zu entfliehen, und haßt ihn, weil er ihm nicht entfliehen kann. Der Protest gegen Gott, der Wunsch, es möge keinen Gott geben, und die Flucht in den Atheismus, das alles sind echte Elemente tiefer Religiosität. Und nur auf der Grundlage dieser Elemente hat die Religion Sinn und Macht. Die christliche Theologie und die religiöse Unterweisung sprechen von der göttlichen Allgegenwart (der Lehre, daß Gott überall ist) und der göttlichen Allwissenheit (der Lehre, daß Gott alles weiß). Es ist schwierig, solche Begriffe im religiösen Denken und in der religiösen Erziehung zu vermeiden. Aber sie sind sicher ebenso gefährlich wie nützlich. Sie geben uns die Vorstellung von Gott als von einem Ding mit übermenschlichen Eigenschaften – allgegenwärtig wie ein elektrisches Kraftfeld und allwissend, wie ein übermenschliches Gehirn. Solche Begriffe wie „göttliche Allgegenwart“ und „göttliche Allwissenheit“ verwandeln eine überwältigende religiöse Erfahrung in eine abstrakte Behauptung, die man annehmen oder ablehnen, definieren und auswechseln
Paul Tillich, Flucht vor Gott (Predigt zu Psalm 139)
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kann. Wenn die Theologie Gott zu einem Objekt neben anderen Objekten macht, dessen Existenz und Natur Gegenstand von Beweisen ist, unterstützt sie die Flucht in den Atheismus. Sie ermutigt alle die, die den bedrückenden Zeugen verleugnen möchten. Der erste Schritt zum Atheismus ist immer eine Theologie, die Gott auf die Ebene der bezweifelbaren Dinge herabzieht. Dann hat der Atheist leichtes Spiel, denn er ist ganz im Recht, wenn er ein solches Phantom mit seinen gespenstischen Eigenschaften zerstört. Und weil der Atheist darin recht hat, sind wir alle geneigt, seine Argumente zu benutzen, um damit den Versuch, Gott zu entrinnen, zu rechtfertigen. Deshalb wollen wir Allgegenwart und Allwissenheit als Begriffe vergessen und versuchen, ihren ursprünglichen Sinn in unserer Erfahrung wiederzufinden. Wir wissen alle, daß wir uns niemals loslösen können von der Welt, zu der wir gehören. Es gibt keine letzte Verborgenheit und letzte Isoliertheit. Wir sind immer gehalten und umfangen durch etwas, das größer ist als wir, das einen Anspruch an uns hat und das Antwort von uns erheischt. Die verborgensten Regungen in der Tiefe unserer Seele sind nicht ganz die unseren, denn sie gehören auch unseren Freunden, der Menschheit, dem Universum und dem Grund alles Seins, dem letzten Ziel unseres Lebens. Nichts kann im letzten verborgen blieben. Es wird in dem Spiegel reflektiert, in dem nichts verheimlicht werden kann. Könnte jemand wirklich glauben, daß seine geheimsten Gedanken und Wünsche nicht in das Ganze des Seins eingehen oder daß die Dinge, die sich im Dunkel seines Unbewußten oder in der Einsamkeit seines Bewußtseins abspielen, nicht ein ewiges Echo bewirken? Kann jemand auf den Gedanken kommen, daß er der Verantwortung für das, was er im Geheimen getan und gedacht hat, entgehen könnte? Allwissenheit bedeutet, daß unser Geheimnis offenbar wird. Allgegenwart bedeutet, daß unsere Verborgenheit erkannt wird. Das Zentrum unseres ganzen Seins ist eingeschlossen in das Zentrum alles Seins, und das Zentrum alles Seins ruht in dem Zentrum unseres Seins. Ich glaube, daß kein ernsthafter Mensch diese Erfahrung leugnen kann, ganz gleich, wie er es ausdrücken mag. Und wenn er es erfahren hat, hat er auch etwas in sich entdeckt, das den Konsequenzen dieser Erfahrung entgehen möchte. Denn der Mensch ist seiner eigenen Erfahrung nicht gewachsen. Er versucht, sie zu vergessen, und er weiß, daß er sie nicht vergessen kann. Gibt es einen Ausweg aus dieser Spannung? Ist es möglich, den Haß gegen Gott und den Wunsch, daß es keinen Gott geben möge, zu überwinden? Gibt es einen Weg, unsere Scham vor diesem ewigen Zeugen und unsere Verzweiflung, die unserer unentrinnbaren Verantwortung entspringt, zu besiegen? Nietzsche zeigt die Lösung, die die gänzliche Unmöglichkeit des Atheismus offenbar macht. Der „Häßlichste Mensch“, der Mörder Gottes, unterwirft sich Zarathustra, weil Zarathustra ihn erkannt hat und in seine Tiefen mit göttlichem Verstehen hineingeschaut hat. Es ist ihm nicht gelungen, Gott zu töten. Gott ist zurückgekehrt in Zarathustra und in der neuen Weltperiode, die Zarathustra ankündigt. Gott ersteht immer wieder in irgend jemandem oder
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in irgend etwas. Er kann nicht gemordet werden. Das ist die Geschichte jedes Atheismus. Der Psalmist gibt uns eine andere Lösung. Er preist Gott für das Wunder seiner Geburt, für die Art, in der er in seiner Mutter Schoß bereitet ist. „Es war Dir mein Wesen nicht verhohlen, da ich im Verborgenen gemacht ward, da ich gebildet ward tief unter der Erde.“ Er benutzt die alte mythologische Idee, daß die Menschen im Abgrund unter der Erde geschaffen werden, und er weist auf das Mysterium der Schöpfung hin, nicht der Schöpfung im allgemeinen, sondern der Schöpfung seines eigenen Seins. Der Gott, dem er nicht entfliehen kann, ist der Grund seines Seins. Und dieses Sein, seine ganze Person, seine Seele und sein Leib, ist ein Werk unendlicher Weisheit, Ehrfurcht erweckend und wunderbar. Die Bewunderung der göttlichen Weisheit überwindet das Grauen vor der göttlichen Gegenwart. Sie weist hin auf die freundliche Gegenwart einer schöpferischen Weisheit. Das ist die Stimmung, die das ganze Alte Testament durchzieht. Ein großer Gelehrter, mit dem ich einmal über den Todestrieb im Menschen sprach, gab derselben Stimmung mit den Worten Ausdruck: „Wir wollen nicht vergessen, daß das Leben auch gütig ist.“ Es gibt eine Gnade im Leben, sonst könnten wir nicht leben. Die Augen des Zeugen, dem wir nicht standhalten können, sind die Augen dessen, der unendliche Weisheit und erhaltende Güte ist. Das Zentrum des Seins, in dem unser eigenes Zentrum beschlossen ist, ist die Quelle gnädiger Huld, der wir immer und immer wieder begegnen, in den Sternen und Bergen, in Blumen und Tieren, in Kindern und reifen Menschen. Aber es ist noch etwas mehr in des Psalmisten Lösung. Er betrachtet nicht einfach den schöpferischen Grund seines Seins. Er sieht auch das schöpferische Ziel seines Lebens. „Deine Augen sahen mein Wesen, da ich noch unbereitet war, und alle Tage waren in Dein Buch geschrieben, als derselben keiner da war.“ Der Psalmist verwendet ein anderes altes mythisches Symbol: das Aufzeichnen irdischer Ereignisse in ein himmlisches Buch. Er drückt poetisch aus, was wir heute den Glauben an einen letzten Sinn des Lebens nennen. Unsere Tage werden eingeschrieben und gezählt, sie sind kein Zufall. Er, der uns am besten kennt, sieht auf das Bild unseres ganzen Lebens. Wir sind dieses Ganze, und jeder Moment hat darin einen Platz von größter Wichtigkeit. Als einzelne und als Gruppen haben wir eine letzte Bestimmung. Und wo immer wir dieser letzten Bestimmung gewahr werden, ob sie uns groß oder unbedeutend erscheint, erkennen wir Gott, den Grund und das Zentrum jeglichen Sinnes. Wir können dann mit dem Psalmisten voller Bewunderung ausrufen: „Aber wie köstlich sind vor mir, Gott, Deine Gedanken! Wie ist ihrer so eine große Summe. Sollte ich sie zählen, so würde ihrer mehr sein denn des Sandes. Wenn ich aufwachte, würde ich noch dabei sein.“ So bezwingt der Psalmist das Erschrecken vor dem alles spiegelnden Spiegel und dem niemals schlafenden Zeugen durch Hinwendung zu dem unendlichen Geheimnis des Lebens, seines Grundes und Sinnes. Aber plötzlich, auf dem Höhepunkt seiner Betrachtung, wendet sich der Psalmist von Gott weg. Er erinnert sich, daß es ein dunkles Element in dem
Paul Tillich, Flucht vor Gott (Predigt zu Psalm 139)
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Bild seines Lebens gibt – Feindschaft gegen Gott, Bosheit und blutige Taten, und da dies Element sein Bild stört, bittet er Gott, es auszulöschen. In plötzlichem Zorn ruft er aus: „Ach Gott, daß Du tötest die Gottlosen und die Blutgierigen von mir weichen müßten, denn sie reden von Dir lästerlich, und Deine Feinde gebrauchen Deinen Namen umsonst. Hasse ich nicht, und bin ich nicht unwillig über die, Herr, die Dich hassen und sich wider Dich setzen? Ich hasse sie mit unbegrenztem Haß. Sie sind mir zu Feinden geworden.“ Diese Worte sollten jeden beunruhigen, der glaubt, daß das Problem des Lebens durch Meditation und religiöse Erhebung gelöst werden könnte. Die Stimmung dieser Worte ist eine ganz andere als die des bisherigen Textes. Gebet schlägt um in Fluch. Und das Zittern des Herzens vor dem alles beobachtenden Gott verwandelt sich in Zorn gegen die Menschen. Dieser Zorn erweckt in dem Psalmisten ein Gefühl der Gleichheit mit Gott, dem Gott, vor dem er in die Finsternis und in den Tod fliehen wollte. Gott soll diejenigen hassen, die er haßt, und Gottes Feinde sollen seine Feinde sein. Gerade noch hat er von dem unendlich großen Abstand zwischen seinen Gedanken und Gottes Gedanken gesprochen; jetzt hat er das vergessen. Religiöser Fanatismus flammt auf, derselbe Fanatismus, der die Arroganz der Kirchen, die Grausamkeit der Moralisten, die Unbeugsamkeit der Orthodoxen entzündet hat. Die Sünde der Religion erscheint in einem der größten Psalmen. Es ist dieselbe Sünde, die die Kirchengeschichte und das Christentum verzerrt hat und selbst von Paulus und Johannes nicht ganz vermieden wurde. Freilich wir, die wir arm an religiöser Erfahrung und schwach in unserm Gotteserleben sind, sollten nicht über die urteilen, deren Leben in dem Feuer göttlicher Gegenwart brannte und die es über die ganze Welt verbreiteten. Trotzdem: diese Sünde der Religion ist Wirklichkeit und widerspricht dem Geist dessen, der seinen Jüngern wieder und wieder verbot, seine Feinde zu hassen. Doch eine Wandlung der Gedanken und Gefühle bringt den Psalmisten plötzlich zurück zum Anfang seiner Dichtung. Er merkt, daß etwas falsch sein könnte in dem, was er gesagt hat. Er weiß nicht was, aber er ist sicher, daß Gott es weiß. Und so schließt er mit einem der größten Gebete aller Zeiten: „Erforsche mich, Gott, und erfahre mein Herz, prüfe mich und erfahre, wie ich’s meine. Und siehe, ob ich auf bösem Wege bin, und leite mich auf ewigem Wege.“ In diesem Moment bittet er Gott, daß er das tun möge, was Gott immer und in jedem Augenblick tut, wie es die Eingangszeilen des Psalms sagen. Der Psalmist hat damit sein Schwanken besiegt – das Schwanken zwischen dem Wunsch, Gott zu fliehen und dem Wunsch, Gott gleich zu sein. Er hat entdeckt, daß die Gegenwart des Zeugen, die Gegenwart des Zentrums alles Lebens in dem Zentrum seines Lebens ein Doppeltes bedeutet und daß diese Doppelheit die Antwort auf seine Frage enthält: Die unentrinnbare Gegenwart Gottes ist beides, ein radikaler Angriff auf sein Dasein und der letzte Sinn seines Daseins. Wir sind erkannt in unseren dunklen Tiefen, in die wir kaum hineinzusehen wagen. Und zugleich werden wir gesehen in einer Vollendung, die unsere höchste Hoffnung übersteigt. Diese unendliche Spannung ist die Atmosphäre,
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Anhang: Wirkungsgeschichtliche Bezugstexte
in der die Religion lebt. In dieser Spannung überwand Luther seinen Haß gegen Gott, als er in Christus, dem Gekreuzigten, das vollkommene Symbol unserer menschlichen Situation erkannte. Es ist die Spannung, in der der moderne Mensch lebt, selbst dann, wenn er den Zugang zur traditionellen Religion verloren hat. Ein Mensch kann letztlich danach beurteilt werden, ob er diese Spannung erreicht hat und ob er sie ertragen kann. In ihr auszuharren ist schwerer und furchtbarer als irgend etwas anderes auf der Welt. Und doch, in ihr ausharren ist der einzige Weg, auf dem wir zum letzten Sinn, zum Glück und zur Freiheit unseres Lebens gelangen können. Jeder von uns ist gerufen auszuharren. Möge jeder von uns den Mut und die Kraft haben, diese Berufung anzunehmen, denn es ist die Berufung, zu der wir als Menschen gerufen sind. Tillich, Paul, Flucht vor Gott, in: Ders., Religiöse Reden. Nachdruck von In der Tiefe ist Wahrheit (9. Auflage 1985), Das Neue Sein (6. Auflage 1983), Das Ewige im Jetzt (4. Auflage 1986), Berlin/New York: de Gruyter 1987, 39–50.
Bibelstellenregister
Genesis Gen 2,7 Gen 28,16 f Gen 32,22–32 Gen 32,23–33 Gen 32,31
104 13 101 11; 143 13
Exodus Ex 3,5 Ex 12,48 Ex 16,9 Ex 16,10 Ex 22,15 Ex 23,27 Ex 24,16 f Ex 32–34 Ex 33 Ex 33,18 Ex 33,18 ff Ex 33,20 Ex 33,20–23 Ex 33,21–23 Ex 33,21 ff Ex 33,23 Ex 40,34 f
12;13 12 12 14 41 133 14 16 16 16 17 16; 17 101 16 16 16 14
Levitikus Lev 16,1 Lev 21,17 f
12 12
Numeri Num 17,5 Num 27,5
12 12
Deuteronomium Dtn 1,17 Dtn 4,7 Dtn 12,14 f Dtn 13,8 Dtn 22,25
12 12 14 13 41
Dtn 30,14 Dtn 32,22
13 50
Josua Jos 3,4
12; 13
Richter Ri 14,15 Ri 16,5
41 41
2 Samuel 2 Sam 23,2
100
1 Könige 1 Kön 3,9 1 Kön 8,46 1 Kön 8,59 1 Kön 18,46 1 Kön 22,20–22
105 13 13 102 42
Jesaja Jes 6 Jes 13,6 Jes 13,6–9 Jes 13,11 Jes 13,22 Jes 14,13–15 Jes 22,7 Jes 25,3 Jes 29,5 Jes 35,6 Jes 45,6 f Jes 46,3 Jes 49,25 Jes 50,8 Jes 55,6 Jes 57,19 Jes 59,3 Jes 66,1 f
134 13 15 60 13 98 101 60 60 100 98 59 60 13 12 13 100 98
176 Jeremia Jer 1 Jer 1–10 Jer 1–20 Jer 1–25 Jer 1,4–10 Jer 1,5 Jer 1,9 Jer 1,19 Jer 2,13 Jer 5,9 Jer 5,29 Jer 6,7 Jer 6,25 Jer 9,8 Jer 11 Jer 11–20 Jer 11,2–8 Jer 11,9–12,17 Jer 11,16 Jer 11,17 Jer 11,18 Jer 11,18–20 Jer 11,18–23 Jer 11,19 Jer 11,20 Jer 11,21–23 Jer 11,22 Jer 12,1 Jer 12,1 f Jer 12,1–3 Jer 12,1–6 Jer 12,2 Jer 12,3 Jer 12,4 Jer 12,5–6 Jer 13,20–27 Jer 14,1–15,9 Jer 14,11 Jer 15 Jer 15,10–21 Jer 15,10 Jer 15,11–14 Jer 15,11 Jer 15,14 Jer 15,15 Jer 15,15–18
Bibelstellenregister 47 44 44; 46 31; 46 43 41; 47; 103 53; 55 42 52 50 50 44 45 50 23; 57 44; 46 47 47 48 48 42; 47; 48 48 47; 48; 49 42; 48 48; 49; 56; 126; 127 48 71 49 48 49 47; 48; 49; 54 13 42; 47; 49; 56; 126; 127 49 49 51 51 51 46; 50; 53 50; 51; 54 31; 40; 50; 51 50; 51; 53 50 42; 50 42; 47; 50; 51; 126 50
Jer 15,16 Jer 15,16–18 Jer 15,17 Jer 15,17–20 Jer 15,18 Jer 15,19–21 Jer 15,19 Jer 15,19 ff Jer 15,20 Jer 15,20 f Jer 15,21 Jer 16 Jer 16,2 Jer 16,5 Jer 17 Jer 17,5–8 Jer 17,8 Jer 17,9 Jer 17,10 Jer 17,11 Jer 17,12 Jer 17,12 f Jer 17,14 Jer 17,14–18 Jer 17,15 Jer 17,16 Jer 17,17 Jer 17,18 Jer 18 Jer 18,1–7 Jer 18,18 Jer 18,18–23 Jer 18,19 Jer 18,20 Jer 18,21 Jer 18,22 Jer 18,23 Jer 19,1–15 Jer 20 Jer 20,1–6 Jer 20,2 Jer 20,3 Jer 20,3–6 Jer 20,6 Jer 20,7
25; 31; 43; 50; 51; 52; 53; 56 31 50; 51; 53 51 42; 50; 51; 52; 56; 124 50 51; 55 53 51; 52; 53; 56 53 51; 54; 60 51; 54 51 51 54 54 54 54 49; 54; 56; 103; 126 54 54 54 54 54; 55 43; 54 31; 42; 47; 54; 55; 56; 126 54 54 54 55 43; 55; 56 55; 56 55 55; 56 55 55 42; 47; 55; 56; 126 56 23; 47; 49; 54; 56; 57; 66; 143 46; 64 47 39, 45; 47 45; 47 47 20; 38; 39; 40; 41; 42; 44;
177
Bibelstellenregister
Jer 20,7 ff Jer 20,7–9 Jer 20,7–10 Jer 20,7–11 Jer 20,7–13 Jer 20,7–18
Jer 20,7–20 Jer 20,7–21 Jer 20,8 Jer 20,8 f Jer 20,8–10 Jer 20,9 Jer 20,9–11 Jer 20,10 Jer 20,10 f Jer 20,11 Jer 20,11 f Jer 20,11–12 Jer 20,11–13 Jer 20,12 Jer 20,13 Jer 20,14 Jer 20,14–16 Jer 20,14–18 Jer 20,14–20 Jer 20,15 f Jer 20,16 Jer 20,17 Jer 20,17 f Jer 20,18 Jer 23,23 Jer 23,23 f Jer 25,26
51; 56; 60; 61; 62; 64; 65; 66; 68; 69; 73; 76; 124; 128; 129; 137; 141 125 38; 40 38 38 38; 39; 44 18; 20; 21; 23; 35; 36–38; 38; 39, 41; 43; 44; 46; 47; 55; 56; 57; 60; 61; 70; 72; 73; 74; 93; 123; 124; 125; 126; 127; 128; 129; 130; 131; 132; 133; 135; 138; 139; 148; 150 59; 128 51 38; 39; 40; 43; 44; 45; 51; 56 31 39 25; 38; 39; 40; 42; 43; 57; 59; 73; 137 44 38; 39; 40; 41; 42; 45; 47 40; 42; 45 38; 40; 42; 45; 52; 55; 56; 60; 61 38; 39 39 38; 39 38; 40; 45; 48; 49; 56; 57; 58; 103; 126; 126 38; 39; 43; 45; 48; 57; 58 40; 43; 44 39 34; 38; 39; 40; 41; 44; 45; 71; 124; 128 46 40 41 39; 40; 57; 58 59 39; 40; 41 13 98 13
Jer 46,5 Jer 48,16 Jer 48,24 Jer 49,29
45 13; 15 13 45
Ezechiel Ez 2,8 ff Ez 2,8–3,3 Ez 7,5–10 Ez 7,7 Ez 11,16 Ez 12,23 Ez 14,9 Ez 22,4 Ez 22,5 Ez 28,7 Ez 30,3 Ez 30,11 Ez 31,12 Ez 32,12
31 53 15 13 14 13 42 13 13 60 13 60 60 60
Hosea Hos 12,13
90
Joel Joel 2,1–11 Joel 2,12–17
15 15
Amos Am 3,8 Am 9,1–4 Am 9,2–4
59 98 98
Obadja Obd 1,15
15
Zefanja Zef 1,7 Zef 1,14
15 15
Maleachi Mal 3,5
13
Psalmen Ps 1,1 Ps 1,7 Ps 3,7 Ps 5,10 Ps 6,8 Ps 7,10
50 99 101 100 13 103
178 Ps 8,5 Ps 7,10 Ps 10,1 Ps 12,4 Ps 13,2 Ps 17,3 Ps 18,36 Ps 22,10 f Ps 22,11 Ps 22,24–27 Ps 23,1 Ps 23,6 Ps 25,4 Ps 26,2 Ps 26,4 f Ps 27,8 f Ps 31 Ps 31,6 Ps 31,14 Ps 31,16 Ps 31,24 Ps 37,35 Ps 40,6 Ps 44,22 Ps 51 Ps 51,5 Ps 54,5 Ps 63,9 Ps 69,12 Ps 69,19 Ps 69,29 Ps 71,24 Ps 73 Ps 73,23 ff Ps 73,28 Ps 74,1 Ps 74,10 Ps 74,18 Ps 80,15 Ps 85,10 Ps 86,14 Ps 88 Ps 88,15 Ps 90 Ps 92,6 Ps 102
Bibelstellenregister 50 49 13 100 101 99 102 99; 103 59 45 15 15 99 49; 99; 103 50 101 39; 40 102 39; 40 88; 102 39 60 99 89 98 98 60 102 13 13 88; 99 100 142; 143; 144; 145 143 22; 141; 142; 143; 144; 145 13 51 51 50 13 60 128 101 98; 99 99 98; 99
Ps 106,4 Ps 107–145 Ps 109,2 Ps 119,11 f Ps 119,155 Ps 131,1 Ps 138–145 Ps 138 Ps 138,1 f Ps 138,4 Ps 138,5 Ps 138,6 Ps 138,7 Ps 138,8 Ps 138,10 Ps 139–144 Ps 139
Ps 139,1 Ps 139,1 f Ps 139,1–3 Ps 139,1–4 Ps 139,1–5 Ps 139,1–6 Ps 139,1–12 Ps 139,1–18 Ps 139,2 Ps 139,2–3 Ps 139,2–4 Ps 139,2–6 Ps 139,3 Ps 139,4 Ps 139,4–5 Ps 139,4–6 Ps 139,5 Ps 139,5 f
50 95 100 99 13 99 95; 96 97 97 97 96; 97 97 97 97 97 96 18; 20; 21; 77; 78; 79; 80–83; 84; 86; 89; 90; 92; 93; 94; 95; 96; 97; 98; 99; 102; 103; 105; 106; 108; 112; 114; 115; 116; 117; 118; 119; 120; 121; 122; 123; 124; 125; 126; 127; 128; 129; 130; 131; 132; 133; 135; 138; 139; 141; 142; 148; 149; 150 83; 84; 85; 86; 88; 89; 92; 93; 94; 108; 126; 127 99 86 90 86 83; 84; 85 91 77; 92 84; 86; 87; 89; 94; 108; 126 85 86 83; 85; 86; 92 86; 89; 93; 97; 104; 108 84; 86; 89; 100; 108; 126 85 99 86; 89; 90; 92; 101; 108; 111; 124; 126 90; 94
179
Bibelstellenregister Ps 139,6 Ps 139,7 Ps 139,7–9 Ps 139,7–10 Ps 139,7–12 Ps 139,7–18 Ps 139,8 Ps 139,8–12 Ps 139,9 Ps 139,9 f Ps 139,10 Ps 139,11 Ps 139,11–12 Ps 139,12 Ps 139,12–16 Ps 139,13 Ps 139,13 f Ps 139,13–15 Ps 139,13–16 Ps 139,13–18 Ps 139,14 Ps 139,15 Ps 139,15–24 Ps 139,16 Ps 139,17 Ps 139,17 f Ps 139,17–18 Ps 139,17–22 Ps 139,17–24 Ps 139,18 Ps 139,18–19 Ps 139,19 Ps 139,19 ff Ps 139,19–20 Ps 138,19–21 Ps 139,19–22 Ps 139,19–24 Ps 139,20
84; 85; 86; 87; 89; 94; 99; 104; 108; 126 84; 89; 90; 91; 101; 102; 108; 109; 110 89 85; 97 83; 84; 85; 86; 87; 90; 91; 92; 125; 126 84 87; 89; 108; 109 86 87; 108 110 87; 91; 97; 102; 108 87; 108; 110; 112; 127 85 84; 87; 89; 92; 102; 108; 110; 112 108 84; 87; 89; 103; 104; 117; 119; 129 108 99 83; 84; 85; 92; 103; 116; 125 84; 85; 87; 91; 92; 113; 114 78; 86; 87; 89; 90; 104; 124 87; 88; 89; 103; 104 108 87; 88; 89; 99; 104 84; 86; 94 78; 99 84; 85; 87 83 83; 84 84; 87; 93; 104 89 84; 87; 88; 92; 99 78 85 88; 113 77; 79; 84; 85; 88; 91; 92; 93; 113; 127 84; 88; 92 87
Ps 139,21 Ps 139,21–22 Ps 139,22 Ps 139,23 Ps 139,23 f Ps 139,23–24 Ps 139,24 Ps 140,13 Ps 142,7 Ps 143,2 Ps 143,12 Ps 144 Ps 144,3 Ps 144,10 Ps 145,18 Ps 145,21
84; 88 85 88; 89; 92; 97 86; 89; 93; 104; 105; 126; 127 93; 94; 99; 114; 127 83; 84; 85; 86; 92 86; 87; 91; 97 96 96 96 96 97 97 96 12 96
Hiob Hi 1,21 Hi 3,1–10 Hi 3,3 Hi 3,11 Hi 5,5 f Hi 5,18 Hi 6,15–20 Hi 7,16–20 Hi 7,17–21 Hi 7,20 Hi 9,11 f Hi 9,12 Hi 9,34 Hi 10,18 Hi 11,7–9 Hi 13,21 Hi 13,27 Hi 14,16 Hi 16,14 Hi 23,13 Hi 27,22 Hi 31,21 Hi 40,32
103 40 50 59 88 128 52 93 11; 143 94 16; 17 94 133 59 98 133 93 93 40 94 90 101 101
Kohelet Koh 3,11
95
Klagelieder Klgl 3,14
39
180
Bibelstellenregister
Klgl 3,57
12
Sprüche Spr 1,10–19 Spr 6,17 Spr 15,29 Spr 16,29 Spr 31,9
Nehemia Neh 8
14
41 100 13 41 49
1 Chronik 1 Chr 4,10
102
2 Chronik 2 Chr 33,8
14
13
Römer Röm 5,20
114
102
1 Korinther 1 Kor 9,16
59; 65
Daniel Dan 9,7 Esra Esr 8,22