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German Pages 320 Year 2000
RONALD TORKA
Nachtatverhalten und Nemo tenetur
Strafrechtliche Abhandlungen . Neue Folge Herausgegeben von Dr. Ebemard Schmidhäuser em. ord. Professor der Rechte an der Universität Hambwg
und Dr. Dr. h. c. (Breslau) Friedrich-Christian Schroeder ord. Professor der Rechte an der Universität Regensbwg
in Zusammenarbeit mit den Strafrechtslehrern der deutschen Universitäten
Band 130
Nachtatverhalten und Nemo tenetur Eine Untersuchung über die Grenzen "zulässiger Verteidigung" und die Relevanz des Nemo-tenetur-Prinzips bei der Strafzumessung selbstbegünstigenden Nachtatverhaltens gern. § 46 Abs. 2 StGB
Von
Ronald Torka
Duncker & Humblot . Berlin
Zur Aufnahme in die Reihe empfohlen von Professor Dr. Werner Beulke, Passau
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Torka, RonaId:
Nachtatverhalten und Nemo tenetur: eine Untersuchung über die Grenzen "zulässiger Verteidigung" und die Relevanz des Nemo-tenetur-Prinzips bei der Strafzumessung selbstbegünstigenden Nachtatverhaltens gern. § 46 Abs. 2 StGB / von Ronald Torka. - Berlin : Duncker und Humblot, 2000 (Strafrechtliche Abhandlungen; N.F., Bd. 130) Zug\.: Passau, Univ., Diss., 1998/99 ISBN 3-428-10056-5
D739 Alle Rechte vorbehalten
© 2000 Duncker & Humblot GmbH, Berlin
Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-7271 ISBN 3-428-10056-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706
e
Meiner Mutter, meinem Vater
Vorwort Zuallererst möchte ich meinen Eltern danken: Ohne ihr beinahe grenzenloses Vertrauen in mich wäre es nicht zur Beendigung der vorliegenden Arbeit gekommen. Natürlich ist die Arbeit ihnen gewidmet. Gleich an zweiter Stelle gebührt Dank meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Wemer Beulke: Dank ftir seine hervorragenden Vorlesungen, u. a. aus denen sich meine Vorliebe für das Strafrecht entwickelt hat; Dank auch für die Anregung zu diesem Thema sowie für die wissenschaftliche Freiheit, die er mir bei dessen Bearbeitung gewährt hat, um »en cas de malheur« sogleich mit präzisem Urteil zur Stelle zu sein. Herrn Prof. Dr. Bernhard Haffke, der das Zweitgutachten erstellt hat, danke ich v.a. für die besonders rege Aufnahme meiner (gewagten) Thesen. Nicht unerwähnt bleiben darf das überaus freundliche und fachkundige Team der Bibliothek des BGH in Karlsruhe, allen voran deren Leiter, Herr LdtRegDir Pannier, sowie dessen Stellvertreter, Herr BiblOR Dr. Obert. Die Recherchen im sprichwörtlich unerschöpflichen Fundus dieser Bibliothek waren mir ein besonderer Genuß. Dank dafür! Herr Dr. Arne Ott hat es auf sich genommen, die Arbeit korrekturzulesen; dabei ist es freilich nicht geblieben - auch für seine vielfaltigenAnregungen und Hinweise bin ich ihm sehr dankbar. Ein Dank geht nicht zuletzt an Herrn Dr. Christi an B. Heyers, Herrn und Frau Carsten und Susanne Wulff-Kuckelsberg, Herrn Michael Sanden und Herrn Dr. Martin Osterkom, deren aufbauender Zuspruch mir viel geholfen hat. Die vorliegende Arbeit ist im Wintersemester 1998/99 von der Juristischen Fakultät der Universität Passau als Dissertation angenommen worden; Literatur und Rechtsprechung sind auf dem Stand von Dezember 1998. Passau, im September 1999
Ronald Torka
,,>Sagen Sie einfach die Wahrheit!< Ich sage zum Richter, weil ich schon merke, auf was er hinaus will, sage ich, selbst wenn ich die Wahrheit sage, also mal angenommen, woher weiß ich, daß es auch so war, wie ich es gesehen habe ... ... und wenn es -tatsächlich eine hundertprozentige Übereinstimmung mit dem gibt, was ich gesehen habe, und dem, wie es war, also wenn das >an sich< mit dem >für sich< eins wird, wie kann ich dann sicher sein, daß das, was ich Ihnen sage, auch von Ihnen so verstanden wird, wie ich's meine? Da hat er geschaut, wia a Singerl, wenn's blitzt."
BrunoJonas Passauer Kabarettist "One criminal lawyer I know, who charges $ 50,000 for a criminal trial, says that $ 5,000 of the fee is for preparing and trying the case; the remaining $ 45,000 is for advising at the close of the prosecution's case whether to take the whitness stand."
Alan M. Dershowitz US-amerikanischer Juraprofessor und Strafverteidiger
Inhaltsverzeichnis ProblemsteUung ......................................................................
21
Erster Teil Schuldstrafrecht, Strafzumessung und Nemo tenetur de interpretatione lata A. Schuld und Strafe ..................................................................
25
I. Zweck des Strafrechts I des Strafens ..........................................
25
1. Normen als Verhaltensregeln ..............................................
25
2. Sinn der Verhaltensregeln .................................................
26
3. Rechtsgtiterschutz durch das Strafrecht ....................................
27
4. ·Strafzwecke .............................................................
30
11. Schuld als Strafbarkeitsvoraussetzung ........................................
30
III. ..Schuld" als Grundlage fUr die Strafzumessung ..............................
32
1. Individuelle Strafzumessungsschuld .......................................
32
2. Ermittlung der Strafzumessungsschuld ....................................
33
IV. Indizmethode ................................................................
35
1. Allgemeines ..............................................................
35
2. Das Nachtatverhalten .....................................................
38
a) Terminologische KlarsteIlung ..........................................
38
b) Kritik.................................................................. (I) Jahn ............................................................... (2) Tröndle ............................................................
38 39 41
3. Indiz vs. Motivation .......................................................
42
B. Die Freiheit vom Zwang zur Selbstbelastung - Nemo tenetur de interpretatione lata
43
I. Das Nemo-tenetur-Konzept von Rogall .......................................
44
1. Die Thesen ................................................................
44
a) Einfachgesetzliche Herleitung der Nemo-tenetur-Idee ..................
44
12
Inhaltsverzeichnis b) Verfassungsrechtliche Verortung des Prinzips
45
c) Nemo tenetur und die Unterlassungsdelikte ............................
47
2. Stellungnahme ............................................................
48
a) Gefahren der "induktiven" Methode ...................................
48
b) Menschenwürde als Sedes rationis ..................................... (1) Menschenwürde keine widerlegbare Vermutung ................... (2) Gebot der »intrapersonalen Orientierung« des Rechts .............. (3) »Selbstbegünstigungstrieb« ........................................
49 50 50 54
c) "Sonderopfer" Rechtstreuer? ...........................................
54
d) Selbstbelastung durch Passivität .......................................
55
e) *Der Beschuldigte als Beweismittel....................................
57
3. Erstes Zwischenfazit ......................................................
57
11. Schneider: Grund und Grenzen des Selbstbegünstigungsprivilegs .... . . . . . . . . .
58
1. Die Thesen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . .
58
a) Nemo tenetur als Justizgrundrecht .....................................
58
b) Nemo tenetur als Recht auf Passivität ..................................
59
c) Privilegierung ,,illegitimer" Selbstbegünstigung als ,,Rechtswohltat" ...
60
d) ,,Basishandlungen" Flucht und Lüge: »Kompensationstheorie« .........
61
2. Stellungnahme ............................................................
62
a) Zur verfassungsrechtlichen Verortung ..................................
62
b) Zur Kategorisierung in Aktivität/Passivität............................
62
c) Zur Unschuldsvermutung ..............................................
64
d) Zur Kategorisierung in "legitim" / ,,illegitim" ..........................
68
e) Zur »Kompensationstheorie« .......................................... (1) Effektivitätsgrundsatz; Norrnintemalisierungsfahigkeit............. (2) Abwesenheit von Kriterien zur Handhabung der Theorie ........... (3) Sinn der Beschuldigteneinlassung ..................................
69 69 70 71
3. Exkurs: Lügeverbot - de lege ferenda verfassungsgemäß? .................
72
a) Herkömmliche Erklärungsansätze: Parallelen zwischen Schweigen und Leugnen ............................................................... (1) Motivatorische Parallele........................................... (2) Inhaltliche Parallele ............................................... (3) Strukturelle Parallele ..............................................
72 72 73 75
b) Neuer Ansatz: Wahrheitspflicht de lege ferenda verfassungsgemäß? .... (1) Unvermeidbarkeit von Fehlurteilen................................ (2) Schuldgrundsatz: Gebot der quantitativen und qualitativen Minimierung der Eingriffsintensität des Fehlurteils ..................... (3) »Nagelprobe«: Wahrheitspflicht des Zeugen / Sachverständigen ....
77 77
4. Zweites Zwischenfazit ....................................................
84
80 82
Inhaltsverzeichnis
13
III. Wolf!.· Einbringung des Schuldgrundsatzes ...................................
85
1. Die Thesen ........ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
85
a) Plädoyer zugunsten der Menschenwürderelevanz im Selbstbegünstigungskontext ..........................................................
85
b) Schuldgrundsatz als Sedes materiae der Nemo-tenetur-Idee ............
85
2. Stellungnahme ............................................................
87
3. Drittes Zwischenfazit .....................................................
88
IV. » Theorien vom unmittelbaren Zwang« .......................................
88
1. Grünwald: Vermeidung des inneren Konflikts .............................
88
a) These. ... ......... ..... ....... ... ..... ...... ... ... ..... ...... .... ......
88
b) Stellungnahme.........................................................
89
2. Reiß: Der Beschuldigte als Wissens träger .................................
89
a) These ...... .... ... ...... ...... ..... ... ... ... ... ... ...... ..... .... ......
89
b) Stellungnahme.........................................................
90
3. Viertes Zwischenfazit .....................................................
90
V. Hoffmann: Das Recht auf freie Selbstverteidigung............................
91
1. Die Thesen................................................................
91
2. Stellungnahme ........................... . ..................... . ..........
92
3. Fünftes Zwischenfazit .....................................................
94
VI. Das Selbstbegünstigungskonzept der Rechtsprechung ........................
94
I. Auffassung des BVerfG .................... . ..............................
94
a) Drei ausgewählte Entscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
94
b) Stellungnahme.........................................................
95
2. Auffassung der Revisionsgerichte .........................................
98
a) Zu Nemo tenetur im besonderen .......................................
98
b) Zur Selbstbegünstigung im allgemeinen................................ (1) Das ..zulässige I angemessene Verteidigungsverhalten" ............. (2) Orientierung der Argumentation am Leugnen...................... (3) Latente Zugrundelegung der Nemo-tenetur-Idee ................... (4) System zweier korrelierender Grundsätze.......................... (5) »Salvatorische Formel« ............................................ (6) Uneinigkeit bei der Bewertung vorausgeplanten Nachtatverhaltens
98 99 100 101 101 102 103
14
Inhaltsverzeichnis c) Stellungnahme......................................................... (I) Aktivität/Passivität keine taugliche »Primärkategorie« ............ (2) Keine taugliche Definition der "Verteidigungsfreiheit" ............. (3) Überschneidungen von Nemo tenetur und der "Verteidigungsfreiheit" ............................................................... (4) Mißbrauchsgefahr bei »salvatorischer Formel« ....................
105 105 105 108 109
3. Sechstes Zwischenfazit .................................................... 109 VII. Bosch: Nemo tenetur als Recht zur freien Selbstdarstellung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 l. Die Thesen .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II 0
a) Notwendigkeit der Anpassung von Nemo tenetur an die Verfahrenswirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II 0 b) Ratio: Innere Annahme des Urteils. . .. ...... .. ....... ... ..... ...... .... III c) Recht zur freien Selbstdarstellung...................................... 112 2. Stellungnahme............................................................ 114 3. Siebtes Zwischenfazit ..................................................... 117 VIII. Gesamtfazit des Ersten Teils ................................................. 117
Zweiter Teil
Verfassungsrechtliche Verortung des Nemo-tenetur-Prinzips und dessen Interpretatio ferenda A. Analyse der Strafverfolgungssituation .............................................. 119 I. Die beteiligten Interessen .................................................... 119 l. Interessen des Strafverfolgten ............................................. 119
2. Interessen der Rechtsgemeinschaft ........................................ 120 3. Interessenkonflikt doppelter Intensität .................................... 120 11. Die verfassungsrechtlichen Prämissen ........................................ 121 l. Gebot der Achtung der Menschenwürde................................... 121
2. Rechtsstaatsprinzip ........................................................ 121 a) Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege ............................. 121 b) Kritik.................................................................. 122 (I) Grünwald .......................................................... 122 (2) Hassemer.......................................................... 123 c) Stellungnahme......................................................... 124 3. "Praktische Konkordanz" ................................................. 125 4. Idee der Gerechtigkeit; Rechtssicherheit ................................... 126
Inhaltsverzeichnis
15
B. Nemo tenetur - de interpretatione ferenda .......................................... 127 I. Nemo tenetur vs. Duldungspflicht ............................................ 127 1. Die beiden Prinzipien als ausbalancierte »Antagonisten« .................. 127 2. Erläuterung zu Nemo tenetur .............................................. 128 a) Verfassungsrechtliche Verortung ....................................... 128 b) Keine »Fremdbelastung«! .............................................. 129 3. Erläuterungen zur Duldungspflicht ........................................ 131 a) Konkretisierte Duldungspflicht ......................................... 131 b) Potentielle Duldungspflicht ............................................. 132 c) "'Allgemeine Duldungspflicht .......................................... 132 11. Das Schweigerecht ........................................................... 133 1. »Verdichtungsthese« ...................................................... 133 2. "'Einwand gegen ein Schweige-,.Recht" ................................... 133 III. Die Beschuldigtenlüge ....................................................... 134 1. Verfassungsrechtliches Gebot der Lügefreiheit ............................ 134 2. »Fusion« von Lügefreiheit und Nemo tenetur .............................. 135 3. Vorschlag zur Tenninologie ............................................... 137 4. Hat der Beschuldigte ein ,.Recht zur Lüge"? ............................... 138 IV. Flucht........................................................................ 140 V. Prozeßverhalten des Angeklagten: Ein Sonderproblem? ...................... 141 VI. Zusammenfassung............... ............................................ 144
c.
Konkretisierung der Neuinterpretation .............................................. 144
I. (Prüf-)Schema ............................................................... 144 1. Selbstbegilnstigungsrelevanz .............................................. 145 a) Verhaltensweisen ohne Selbstbegilnstigungsrelevanz ................... 145 b) »Selbstbegünstigendes Minimum« als Maßstab? ....................... (1) Bezüglich nonverbaler Selbstbegilnstigung ........................ (2) Bezüglich der Einlassung des Beschuldigten....................... (3) Ergebnis...........................................................
146 146 148 149
2. Selbstbegünstigungsmotivation ............................................ 149 a) Verhaltensweisen ohne Selbstbegünstigungsmotivation ................. 149 b) Ansonsten: Gesamtwürdigung ......................................... 150 c) In dubio pro reo ........................................................ 152 3. Rechtsgilterschutz des StOB als absolute Grenze? ......................... 153
16
Inhaltsverzeichnis 11. Rechtsgüterschutz vs. Lügefreiheit ........................................... 156 1. »Zeugen-Variante« des § 164 StGB ....................................... 156 a) Lösungsansätze ........................................................ 156 b) Stellungnahme......................................................... 157 2. »Verdachts-Variante« des § 164 StGB ..................................... 158 a) Lösungsansätze ........................................................ 158 b) Stellungnahme......................................................... 159 3. § 145d Abs. 2 Nr. 1 StGB ................................................. 160 a) Lösungsansätze ........................................................ 160 b) Stellungnahme......................................................... 162 4. § 187 StGB ............................................................... 163 a) Lösungsansätze ........................................................ 163 b) Stellungnahme......................................................... 164 5. Zwischenfazit ............................................................. 164 6. Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens................................. 165 a) Als alIgemeiner übergesetzlicher Entschuldigungsgrund? .............. 166 b) Als spezieller übergesetzlicher Entschuldigungsgrund? ................. 168 c) Vorschlag: Spezieller Entschuldigungsgrund der Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens zur Sicherung der verfassungsrechtlich garantierten Lügefreiheit ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Systematisch bedingte Skrupel; Rückgriff auf § 35 (Abs. 1 S. 1) StGB .............................................................. (2) Sonstige mögliche Einwände ...................................... (3) Irrtum des Selbstbegünstigungstäters (entsprechend § 35 Abs. 2 StGB) ..................................... '" ..................... (4) Zusammenfassung.................................................
179 183
d) Anwendung auf die problematisierten Konstellationen ................. (1) § 164 StGB ........................................................ (2) § 145d Abs. 2 Nr. 1 StGB .......................................... (3) § 187 StGB ........................................................
183 186 188 190
171 172 178
III. Rechtsgüterschutz vs. Bezichtigungsfreiheit .................................. 191 1. § 145d Abs. 2 Nr. 1 StGB ................................................. 191 2. §§ 303, 274 StGB ......................................................... 193 3. Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 a) Fallvarianten .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 b) Absolute Grenze (entsprechend dem normativen Korrektiv des § 35 Abs. 1 S. 2 StGB) ...................................................... 197
Inhaltsverzeichnis IV. Der Beschuldigte und die Aussagedelikte (§§ 153 ff. StGB)
17 201
1. Benennung eines unerkannten Mittäters als Entlastungszeuge.............. 201 a) »Tatsächliche Benennung« als Anknüpfungspunkt ..................... 204 b) Beschuldigter als möglicher Teilnehmer an den Aussagedelikten ....... 206 c) Psychische Anstiftung ................................................. 209 d) Keine Entschuldigung wegen Unzumutbarkeit ......................... 216 2. Benennung sonstiger Entlastungszeugen................................... 216 a) Rechtsgutsbezug der GarantensteIlung ................................. 217 b) Keine GarantensteIlung durch Benennung.............................. 218 3. Benennung nach Anstiftung............................................... 221 4. Beschuldigter ..veranlaßt" Zeugenaussage................................. 221 V. Die vorausgeplante Selbstbegünstigung ...................................... 222 D. Beginn der ..Nachtat"-Phase ........................................................ 224 E. Fazit des Zweiten Teils ............................................................. 226 Dritter Teil
Fallgruppenweise, die beiden Interpretationen vergleichende Analyse
A. Schweigen I Teilschweigen ......................................................... 229 I. Vollumfangliches Schweigen ................................................. 229
1. ..Schweigen" als Schweigen zur Sache .................................... 229 2. Schlüsse aus dem Schweigen .............................................. 230 3. *Mehrere Taten im prozessualen Sinn ..................................... 232 11. Teilschweigen .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 233 1. Horizontales Teilschweigen ............................................... 234 2. Vertikales Teilschweigen .................................................. 234 3. »Technisches« vertikales Teilschweigen ................................... 239 4. *Der unbegründete Widerruf des Geständnisses ........................... 243 B. Leugnen............................................................................ 244 I. ..Basishandlung" Lüge ....................................................... 245
1. Argumente ................................................................ 245 2. »Salvatorische Formel« 2 Torka
248
18
Inhaltsverzeichnis 3. Behauptung eines Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgrundes
251
4. *Abzielen auf Strafmilderung ............................................. 252 11. Lüge mit Fremdbezug ........................................................ 252 1. Substantiiertes Leugnen »betrifft« den Zeugen ............................ 252 2. Substantiiertes Leugnen »betrifft« das Opfer .............................. 255 3. Substantiiertes Leugnen »betrifft« (den) Mitangeklagte(n) ................. 259 4. Verdacht wird auf andere gelenkt .......................................... 260 III. Sonderproblem: Falschaussage des Entlastungszeugen ....................... 263 1. Leugnen ..veranlaßt" Zeugenaussage ...................................... 264 2. Der Beschuldigte benennt einen Entlastungszeugen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 264 a) Ohne Kenntnis von dessen Bereitschaft zur Falschaussage ............. 264 b) In Kenntnis der Bereitschaft zur Falschaussage......................... 265 c) Benennung eines bislang unentdeckten Mittäters als Entlastungszeuge 266 3. *Veranlassung durch Dritte; in dubio pro reo .............................. 267 IV. »Faktische Lüge« ............................................................ 267 V. Sonstiges .................................................................... 269 1. Folgeentscheidungen/Nebenentscheidungen .............................. 269 2. *Überlange Verfahrensdauer .............................................. 270 C. Konsequentes Folgeverhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 272
I. Fehlende Reue/ Schuldeinsicht ............................................... 272 1. Argumente ................................. . .............................. 272 2. »Salvatorische Formel« ................................................... 275 3. Folgeentscheidungen ...................................................... 275 11. Fehlendes Mitleid/fehlende Betroffenheit.................................... 276 1. Argumente ................................................................ 276 2. *Fehlen eines Milderungsgrundes als Strafschärfungsgrund? .............. 277 III. Fehlende Schadenswiedergutmachung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 278 1. Vorüberlcgungen .......................................................... 278 2. Argumente ............ '." . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 279
Inhaltsverzeichnis
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D. Spurenbeseitigung .................................................................. 281 I. Spurenbeseitigung im allgemeinen ........................................... 282
11. Beutesicherung .............................................................. 287 III. »Behandlung« der Leiche .................................................... 289
1. Fallübersicht .............................................................. 289 2. Argumente ................................................................ 292 E. *Flucht............................................................................. 297 F. *Unterlassene Hilfeleistung, § 323c StGB .......................................... 297 G. Fazit des Dritten Teils.............................................................. 298 Gesamtergebnis ...................................................................... 300 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 304 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . .. 315
Problemstellung § 46 Abs. 1 S. 1 StGB 1· bestimmt, daß die Schuld des Iaters Grundlage für die Strafzumessung ist. Abs. 2 der Vorschrift benennt als Umstand, der für oder gegen den Tater sprechen und bei der Strafzumessung berücksichtigt werden kann, sein Verhalten nach der Tat. Das wirft die Frage auf, ob hiermit jegliches Nachtatverhalten, also letztlich die gesamte Lebensführung des Täters gemeint ist (Nachtatverhalten i.w.S.) oder nur solches Verhalten, das sich auf die vorangegangene und zur Aburteilung stehende Straftat bezieht (Nachtatverhalten i.e.S.). Schon auf den ersten Blick weckt die weite Auffassung Bedenken. Jeder Mensch verhält sich einmal »unmoralisch«2· oder »unsozial«, bewegt sich gelegentlich »außerhalb der üblichen Bahnen«. Warum sollte dem Täter aus Anlaß seiner Straftat zur Last gelegt werden, was ansonsten in strafrechtlicher Hinsicht unbeanstandet bleibt? Und an welchem Maßstab sollte sich der strafzumessende Richter orientieren? Die Berufung auf einen allgemeinen Verhaltenskodex reichte nicht aus, schließlich bestimmt Art. 103 Abs. 2 GG, daß keine Strafe ohne Gesetz verhängt werden darf. Angesichts der eingangs zitierten Vorschrift laufen diese Bedenken auf die Frage hinaus:
• Was ist "Schuld" i.S. von § 46 Abs. 1 S. 1 StGB? Dies wird man nicht beantworten können, ohne zuvor die logischen Vorfragen geklärt zu haben: • Wozu dient Strafe bzw. was ist der Zweck des Strafrechts? Die Auffassung, der zufolge nur das Nachtatverhalten i.e.S. bei der Strafzumessung gern. § 46 StGB berücksichtigt werden darf, birgt weitere Unklarheiten in sich. Zumeist wird das auf die Tat bezogene Nachtatverhalten - z. B. das Verwischen von Spuren, das Verstecken der Beute, das Erfinden eines Alibis u.s.w. dazu dienen, sich der Strafe zu entziehen. Auch hierin liegt aber auf den ersten Blick nichts Täterspezifisches, ist doch jedem Menschen der Drang zu eigen, Negatives - im aktuellen Zusammenhang also: eine Strafe - von sich femzuhalten. Dem Täter dies aus Anlaß der Straftat vorzuwerfen, müßte als ungerecht empfunI Die in dieser Untersuchung verwendeten Abkürzungen orientieren sich an Kirchner, Abkürzungsverzeichnis, passim. - Mit einem Stern (".") gekennzeichnete Fußnoten enthalten (u. a.) Erläuterungen zur äußeren Form der Untersuchung. 2 Nur wörtlich Übernommenes wird im folgenden unter Verwendung der üblichen "Gänsefüßchen" zitiert; die sog. »Deutschen Anführungszeichen« kennzeichnen sonstige (ggf. im Verlauf dieser Untersuchung entwickelte) Schlagwörter bzw. bildhaft oder pointierend verwendete Ausdrücke.
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Problemstellung
den werden. Zudem bestimmt Art. 14 Abs. 3 Buchst. g des Internationalen Pakts über staatsbürgerliche und politische Rechte 3, der It. Bekanntmachung v. 14.6. 19764 in der BR Deutschland als einfaches Bundesrecht am 23. 3. 1976 in Kraft getreten ist: ,,[Der wegen einer strafbaren Handlung Angeklagte] darf nicht gezwungen werden, gegen sich selbst als Zeuge auszusagen oder sich schuldig zu bekennen." Diese Vorschrift korrespondiert mit dem strafprozessualen, durch entsprechende Belehrungspflichten 5 abgesicherten Schweigerecht des Beschuldigten bzw. Angeklagten, welches allgemein 6 * aus dem Grundsatz des Nemo tenetur se ipsum prodere7 hergeleitet wird. Grob übersetzt lautet dieses Postulat: Niemand ist gezwungen, sich selbst »ans Messer zu liefern«8. Gälte diese Bezichtigungsfreiheit uneingeschränkt, wäre die Möglichkeit der Berücksichtigung eines auf die Tat bezogenen Nachtatverhaltens, das ja zumeist dem Ziel der Selbstbegünstigung dient, praktisch obsolet. Im übrigen sieht das StGB in einigen Vorschriften 9 sogar eine Strafschärfung für den Fall vor, daß die Tatbestandsverwirklichung um einer Selbstbegünstigung willen geschehen ist. Damit stellen sich folgende Fragen: • Welche Norrnqualität (Verfassungsrechtssatz oder einfaches strafprozessuales Recht) kommt dem Nemo-tenetur-Satz lO * zu? • WeIche Ratio liegt dem Nemo-tenetur-Satz zugrunde? • In weIchem Verhältnis steht der Nemo-tenetur-Satz zu den Vorschriften des StGB im allgemeinen und zu § 46 StGB im besonderen? Text in: BGBI. 11 (1973), S. 1533-1555. In: BGBI. 11 (1976), S. 1068. S In den §§ 115 Abs. 3 S. I, 128 Abs. I S. 2, 136 Abs. 1 S. 2, 163a Abs. 3 S. 2 und Abs. 4 S. 2, 243 Abs. 4 S. 1 StPO. 6 M.V.N.: Rogall, in: SK, Vor § 133, Rn. 66; aus dem älteren Schrittum: Kohler, in: AcP, Bd. 60 (1913), S. 213 (212)*; vgl. auch Beulke, Strafprozeßrecht, § 7 IV 6 (S. 53 bei Rn. 125) sowie Paeffgen, in: SK, Vor § 112, Rn. 31. 7 In der Wahl dieser Formulierung liegt freilich schon einen gewisser Vorgriff, wird der Grundsatz doch auch, ja: öfter mit dem Verbum "accusare" zitiert (so z. B. in der Rechtsprechung des BVerfG - siehe dazu das Zitat unten B VI 1 a - und des BGH sowie bei Rogall, in: SK, Vor § 133, Rn. 66); schon ein grober Übersetzungsversuch fördert den (bedeutsamen) Unterschied zutage: Ein "accusare" setzt gedanklich eine entdeckte (und damit gern. §§ 152 Abs.2, 160 Abs. 1 StPO verfolgte) Straftat voraus, während "prodere" auch das zeitliche Vorfeld umfaßt, in dem nur der Täter - und nicht einmal unbedingt das Opfer, man denke etwa an Betrugsdelikte - von der Straftat positive Kenntnis hat; wie hier auch lahn, in: StV 1998, S. 656 (652). 8 Vgl. Peters, in: ZStW, Bd. 91 (1979), S. 123 (121). 9 §§ 211 Abs. 2 (3. Gruppe), 306b Abs. 2 Nr. 2, 315 Abs. 3 Nr. 1 Buchst. b, 315b Abs. 3 StGB. 10 Die Groß- bzw. Kleinschreibung lateinischer Ausdrücke orientiert sich im folgenden an deren grammatikalischer Funktion im deutschen Satz. * In Abweichung zur üblichen Zitierweise wird im folgenden zuerst die Seite, auf der die entsprechende Aussage zu finden ist, und danach in Klammern die Anfangsseite des betreffenden Textes angegeben. 3
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Problemstellung
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Bei einem Blick in die Entscheidungen der Revisionsgerichte fällt auf, daß diese im Kontext selbstbegünstigenden Nachtatverhaltens nicht mit Nemo tenetur, sondern mit den Begriffen der "zulässigen I angemessenen Verteidigung", des ,,Rechts auf Verteidigung" oder der "Verteidigungsfreiheit" operieren. Dementsprechend erweitert sich der Fragenkatalog: • Welche Norrnqualität (und welche Ratio) kommt der "Verteidigungsfreiheit" zu? • In welchem Verhältnis stehen die "Verteidigungsfreiheit" und Nemo-teneturSatz zueinander? Man könnte meinen, daß die Bewertung des Nachtatverhaltens als eine im Rahmen der Strafzumessung gern. § 46 StGB regelmäßig auftauchende Frage zur Genüge geklärt ist. Indes vergeht kein halbes Jahr, in dem nicht ein paar Revisionsentscheidungen veröffentlicht werden, die sich diesem Problem widmen. 11 Das läßt auf eine große Verunsicherung der Instanzgerichte in diesem Bereich der Rechtsanwendung schließen. Allerdings wird sich im Verlauf des Ersten Teils dieser Untersuchung herausstellen, daß auf die Fragen nach Nemo tenetur und der "Verteidigungsfreiheit" noch keine jeweils vollständig überzeugenden Antworten vorliegen, was die Flut der Urteile und Beschlüsse zur Strafschärfungsrelevanz selbstbegünstigenden Nachtatverhaltens erklärt. Im Zweiten Teil sollen die bis dahin gleichwohl gewonnenen Erkenntnisse herangezogen werden, um die beiden benannten Grundsätze im Wege einer Neuinterpretation des Nemo-tenetur-Satzes zusammenzuführen. Zudem gilt es dort das Folgeproblem des Verhältnisses von Nemo tenetur zu den Vorschriften des StGB zu klären. Im Dritten Teil wird die bisherige Rechtsprechung zur Berücksichtigung des Nachtatverhaltens bei der Strafzumessung, geordnet nach Fallgruppen, referiert und im Licht des neuen Nemo-tenetur-Satzes analysiert. Wer sich mit der strafrechtlichen Relevanz der Selbstbegünstigung des Beschuldigten beschäftigt, stößt früher oder später auf die äußerst umstrittene l2 Vorschrift des § 142 StGB. Jedes nähere Eingehen auf die Problematik der sog. "Verkehrsunfallflucht,,13 hätte indes bedeutet, daß neben das gerade beschriebene Ziel der Arbeit ein zumindest gleichgewichtiger weiterer Schwerpunkt getreten wäre, worunter unweigerlich Stringenz und Übersichtlichkeit der Untersuchung gelitten hätten. Da andererseits jedes gleichsam nur »häppchen weise« Anbringen des § 142 StGB den (wahrscheinlich gar berechtigten) Vorwurf selektiver Wahrnehmung 11 Siehe die regelmäßige Rechtsprechungsübersicht in der NStZ (1981, S. 133/134; 1982, S.151/152; 1983, S. 493; 1985,S. 160/161; 1986,S. 157/158; 1987,S. 165 und 459; 1989, S. 175 und 468; 1990, S. 221/222 und 485/486; 1991, S. 275 und 477; 1993, S. 178 und 475; 1994, S. 176 und 475; 1995, S. 171 und 488; 1996, S. 184 und 426; 1997, S. 176 und 477/448; 1998,S. 184 und 503; 1999,S. 121. 12 Siehe dazu nur die umfangreichen Literaturangaben zu Beginn der jeweiligen Kommentierung. \3 So Tröndle (§ 142, Rn. 5) zufolge die frühere Überschrift des § 142 StGB.
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Problemstellung
nahelegen würde, ist - bis auf eine unumgängliche Ausnahme bei der Darstellung des Selbstbegünstigungskonzepts der Rechtsprechung im Ersten Teil (unter B VI 2 b) - gänzlich darauf verzichtet worden, die inkriminierte Vorschrift in den anzustellenden Diskussionen heranzuziehen. Die dieser Untersuchung vorangestellten Zitate sind entnommen: Bruno Jonas, "Wirklich wahr", München 1991, S. 8/9; Alan M. Dershowitz, "The best defense", New York 1982, S.95. 14•
14 Die (eingerückt und) in einem kleineren Schriftgrad gedruckten Texte enthalten im folgenden Ergänzungen zum unmittelbar vorangegangenen Haupttext. Die Formulierung ist stets so gewählt, daß das )'Überspringen« einzelner - oder gar aller - Ergänzungstexte den Lesefluß nicht stocken läßt. Allerdings wird in den Ergänzungstexten die Kenntnis des Inhalts der jeweils vorherigen voraussetzt. Auch die relevanten Entscheidungen werden zum Zwecke der übersichtlicheren Gliederung des Textes zumeist im Ergänzungstext-Modus zitiert; es ist dann zur schnelleren Unterscheidung gegenüber den eigentlichen Ergänzungstexten das Aktenzeichen bzw. der Name der Entscheidung kursiv gedruckt. Bilden Ergänzungstexte einen eigenständigen Gliederungspunkt, so ist dieser in der Gliederungsübersicht mit einem Stern (,,*") versehen.
Erster Teil
Schuldstrafrecht, Strafzumessung und Nemo tenetur de interpretatione lata A. Schuld und Strafe I. Zweck des Strafrechts/des Strafens 1. Normen als Verhaltensregeln
Schon bei einem oberflächlichen Blick in das StGB fällt auf, daß dort keine ausdrücklichen Verbote zu finden sind, sondern gewisse Verhaltenserfolge mit einer Strafandrohung belegt werden. So heißt es z. B. in § 212 Abs. 1 StGB nicht etwa (in bester Tradition alttestamentarischer Klarheit): »Du sollst nicht töten.« Vielmehr wird dort bestimmt, daß jemand, der einen Menschen tötet (ohne Mörder zu sein), "mit Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren bestraft" wird. Es ist also zumindest ungenau, wenn Tröndle den strafrechtlichen Tatbestand als "ein Denkschema, nämlich die Beschreibung menschlicher Handlungen in abstrakten Begriffen"! definiert. Im Zentrum des Tatbestands steht vielmehr ein bestimmter Erfolg menschlichen Verhaltens, das Gesetz legt sich gerade nicht darauf fest, wie die zu diesem Erfolg führende menschliche Handlung aussehen muß. Exakt - in Anlehnung an Tröndle - formuliert ist demnach der Tatbestand ein Denkschema, nämlich die Beschreibung eines bestimmten Erfolgs menschlichen Verhaltens in abstrakten Begriffen. Gegen diese Definition könnte eingewendet werden, daß es eine Gruppe von Delikten gibt, bei denen schon ein bestimmtes Verhalten. nicht erst ein ggf. daraus resultierender Erfolg unter Strafe steht. Als Beispiel für diese sog. Tätigkeitsdelikte 2 mag hier § 153 StGB dienen: Für eine Strafbarkeit nach dieser Vorschrift kommt es nicht darauf an. ob die Falschaussage des Täters zu dem von ihm gewünschten Erfolg, also zur Täuschung des Gerichts. geführt hat. Einen von der Tathandlung gedanklich abgrenzbaren Erfolg, wie ihn die deshalb sog. Erfolgsdelikte 3 verlangen. setzen eben u. a. die Aussagedelikte nicht voraus. - Dieser scheinbare Einwand löst sich auf. wenn man genau beachtet. in welchem Sinn die obige Definition den Begriff ..Erfolg" verwendet; er steht hier nämlich für das Ergebnis. das Resultat des menschlichen Verhaltens. Um diese Diktion auf das Beispiel anzuwenden. muß genau unterI 2
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Tröndle. Vor § 13, Rn 2 (Hervorhebung nicht im Original). Statt vieler Tröndle. Vor § 13. Rn 13. Beulke. in: Wessels/Beulke. Strafrecht AT, § 1 11 2 a (S. 7 bei Rn. 22).
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1. Teil: Schuldstrafrecht, Strafzumessung und Nemo tenetur
schieden werden zwischen dem tatbestandlichen Verhalten des Täters, also der wie auch immer vorgenommenen Artikulation von gedanklichen Sinneinheiten, die sich im Kopfnicken auf eine entsprechende Frage erschöpfen kann,4 und dem Resultat dieses Verhaltens, daß nun eine falsche Aussage zur Würdigung durch die zuständige Stelle »im Raum steht«. Dies ist im Sinn der obigen Definition der tatbestandliehe Verhaltenseifolg des § 153 StGB. 5
Was nun die Rechtsfolgenseite der Strafrechtsnonnen anbelangt, so könnte man sich sogar zu der Aussage verleitet sehen, daß das StGB die Tötung eines Menschen gar nicht verbiete, sondern »lediglich« eine negative Sanktion der Rechtsgemeinschaft für den Fall der Tötung eines Menschen in Aussicht stelle. Indes macht es keinen Unterschied, ob ein bestimmtes Verhalten ausdrücklich verboten ist oder - wie im StGB - indirekt qua Strafandrohung für den Fall des Zuwiderhandeins. Aus der Strafandrohung ist im Umkehrschluß das Gebot zu folgern, man solle sich so verhalten, daß der beschriebene Erfolg nicht eintrete. Die Nonnen im StGB sind also letztlich Verhaltensregeln 6 •
2. Sinn der Verhaltens regeln
Wozu aber gibt es überhaupt solche Verhaltensregeln? Grundsätzlich sind vielerlei Rationes denkbar, doch angesichts des Postulats der Achtung der Menschenwürde, welches von Art. I Abs. I GG aus als "oberste[s] Konstitutionsprinzip,,7 die gesamte deutsche Rechtsordnung überstrahlt und auf diese einwirkt8 , fällt die Antwort eindeutig aus: Demnach muß der Mensch als "selbstverantwortliche Persönlichkeit ... mit Eigenwert,,9 anerkannt werden, da das Wesen des Menschen "darauf angelegt ist, in Freiheit und Selbstbewußtsein sich selbst zu bestimmen und in der Umwelt auszuwirken.,,10 Diese Zitate klingen auf den ersten Blick so, als ob damit gemeint sei, jeder könne unter dem Schutz des Menschenwürdeprimats tun, was er wolle. Da aber jedem Menschen gleichermaßen die Menschenwürde im obigen Sinn anhaftet, ist der Schluß zwangsläufig, daß der Mensch in der vom Grundgesetz durchwirkten Rechtsordnung nicht ein »selbstherrliches Individuum« sein kann, sondern als eine "in der Gemeinschaft stehende[ ] und ihr vielfältig verpflichtete[ ] Persönlichkeit" II begriffen wird.
4 Vgl. Willms, in: LK, Vor § 153, Rn. 15. S Vgl. dazu auch Schäfer; Strafzumessung, S. 106 (bei Rn. 226a). 6 V gl. dazu Lenckner, in: Sch I Sch, Vorbem §§ 13 ff., Rn. 3: "Das StGB knüpft die Strafe an ein bestimmtes Verhalten an, ... " 7 BVerfG, in: E, Bd. 61, S. 137 (126) in Anlehnung an Wintrich, in: BayVBI. 1957, S. 137. 8 Vgl. nur das BVerfG in: E, Bd. 35, S. 225 (202). 9 BVerfG, in: E, Bd. 45, S. 228 (187). 10 So der BGH (in: Z, Bd. 35, S. 8 (I» in Anlehnung an Wintrich (in: BayVBI. 1957, S. 138 (137». 11 Vgl. das BVerfG, in: E, Bd. 12, S. 51 (45).
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A. Schuld und Strafe
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,,Die Gesetze sind die Bedingungen, unter denen unabhängige und isolierte Menschen sich in GeselJschaft zusammenfanden, Menschen, die es müde waren, in einem ständigen Zustand des Krieges zu leben und eine infolge der Ungewißheit ihrer Bewahrung unnütz gewordene Freiheit zu genießen. Sie opferten davon einen Teil, um des Restes in Sicherheit und Ruhe sich zu erfreuen.,,12
Für die vorliegende Frage bedeutet dies, daß sich (auch) die Verhaltensregeln des StGB zu orientieren haben am Menschen, wie er ist, daß sich ein belehrender oder gar umerziehender Charakter von Strafrechtsnormen verbietet. Die einzig denkbare, da mit dem Menschenbild des Grundgesetzes zu vereinbarende Ratio des Strafrechts ist es demnach, Mindeststandards für ein geordnetes und gedeihliches Zusammenleben von Individuen aufzustellen, I3 vermittels derer jeder einzelne eine in Anbetracht seiner Mitmenschen größtmögliche Freiheit genießt. ,,Es war somit die Notwendigkeit, weIche die Menschen zur Dahingabe eines Teils der eigenen Freiheit zwang; demnach ist es gewiß, daß ein jeder nur den geringstmöglichen Teil seiner Freiheit in das öffentliche Verwahrnis einbringen will, nur so viel, wie hinreicht, um die anderen dazu zu bringen, auch ihn zu schützen.,,14 - "Dagegen hat der Staat nicht das Recht, den einzelnen mit Hilfe von Strafdrohungen zu zwingen, bestimmte religiöse, moralische oder sonstige WertvorstelJungen zur Richtschnur seines Verhaltens zu wählen, ... ( ... ). Dies folgt bereits aus der rein weltlichen Zielsetzung unseres Staates. Seine Aufgabe ist es nicht, göttliche oder andere transzendente Ziele zu verwirklichen. Die Aufgabe des heutigen Staates, der alJ seine Staatsgewalt vom Volke ableitet, beschränkt sich vielmehr notwendig darauf, die für ein gedeihliches Zusammenleben freier Bürger in unserer verfassungsmäßigen Gesellschaft notwendigen Voraussetzungen zu schaffen ... Zu mehr können die Bürger, da ihnen selbst unstreitig jedes Recht fehlt, ihre Mitbürger moralisch zu bevormunden, die von ihnen gewählten Staatsorgane gar nicht ermächtigen ( ... ).,,15.
3. Rechtsgüterschutz durch das Strafrecht
Es lassen sich aber auch außerhalb des Strafrechts Verhaltensregeln finden, die letztlich demselben Ziel (also dem friedlichen Zusammenleben freier Menschen) dienen, was freilich insofern nicht verwunderlich ist, als ja auch die anderen Rechtsgebiete unter denselben Postulaten des Grundgesetzes stehen. Wenn z. B. § 535 BGB in Satz I bestimmt, daß "durch den Mietvertrag ... der Vermieter verpflichtet [wird], dem Mieter den Gebrauch der vermieteten Sache ... zu gewähren" bzw. Satz 2 den Mieter "verpflichtet, dem Vermieter den vereinbarten Mietzins zu entrichten", so gibt diese Vorschrift den groben Rahmen, wie Vermieter und Mieter sich zu verhalten haben, 12 Beccaria, Verbrechen und Strafe (Hrsg.: Aljf), Kap. I (S. 58). 13 Nachweise ,,[alus dem insoweit unübersehbaren Schrifttum" etwa bei LAckner, in: Gallas-FS, S. 118 (117) in Fn. 7. 14 Beccaria, Verbrechen und Strafe (Hrsg.: Aljf), Kap. "(S. 60). 15 Rudolphi, in: SK, Vor § I, Rn. 1. - Bei wörtlichen Zitaten indizieren die in Klammern gesetzten Auslassungspunkte, daß sich an dieser StelJe im Original parenthetisch angeführte Nachweise befinden; ausgelassene Fußnoten erscheinen im Zitat als eckige Klammern.
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1. Teil: Schuld strafrecht, Strafzumessung und Nemo tenetur
vor. - Auch das Verwaltungsrecht besteht zu einem großen Teil aus Verhaltensregeln, als anschauliches Beispiel diene hier § 23 Abs. I VwVfG: "Die Amtssprache ist deutsch." Gern. § I Abs. 2 StVO "hat sich [jeder Verkehrsteilnehmer] so zu verhalten [sic!], daß kein anderer geschädigt, gefährdet oder mehr, als nach den Umständen unvenneidbar, behindert oder belästigt wird."
Es muß demnach geklärt werden, was die Verhaltensregeln im StGB von jenen anderen unterscheidet. Der Hinweis auf die in diesen befindlichen Strafandrohungen klingt auf den ersten Blick banal, bringt aber die Überlegung einen entscheidenden Schritt weiter, schließlich greift die konkret verhängte Strafe, sei dies nun eine Freiheits- oder eine Geldstrafe (vgl. §§ 38, 40 StGB), massiv in Grundrechtspositionen ein. 16 Das läßt sich in einem Staatswesen, das dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verpflichtet ist,17 nur rechtfertigen, wenn die Verletzung der betroffenen Verhaltensregel dementsprechend schwer wiegt. Es ist bereits oben 1 festgestellt worden, daß in der typischen StGB-Norm ein bestimmter Verhaltenserfolg unter Strafe gestellt wird. Die darin enthaltene Mißbilligung 18 des Verhaltenserfolgs geschieht nicht, wie oben 2 aufgezeigt, um ihrer selbst willen. Schaut man sich die möglichen Verhaltenserfolge näher an, so stellt man fest, daß sie sämtlich in der Verletzung (oder Gefährdung) derjenigen "sozialen Gegebenheiten"19 bestehen, die als "unverzichtbare ... Funktionseinheiten,,2o in besonderem Maße die konsentierten Grundlagen des Zusammenlebens in dieser Rechtsgemeinschaft ausdrücken und über den strafrechtlichen Schutz zu Rechtsgütern werden. Tatsächlich kann man sich kein "gedeihliches Zusammenleben freier Bürger,,21 vorstellen, ohne daß deren Rechtsgüter geschützt wären. 22 Damit ist die Aufgabe des Strafrechts im Rechtsgüterschutz gefunden. Damit ist zugleich klargestellt, daß die schützenswerten Rechtsgüter vom Konsens in der Rechtsgemeinschaft hinsichtlich ihrer Grundlagen und Grundüberzeugungen detenniniert werden. Der Strafgesetzgeber ist demnach nicht völlig frei in der Auswahl der strafrechtlich zu schützenden Rechtsgüter. 23 Andererseits ist deren Katalog auch nicht abschließend vorgegeben; denn es können sich Überzeugungen im Bewußtsein der Gesellschaft verändern, 16 Zumeist wird nur auf Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG (Freiheit der Person) hingewiesen (so z. B. durch das BVerfG, in: E, Bd. 57, S. 274 (250»; besonders die Freiheitsstrafe tangiert indes potentiell den Schutzbereich jedes Grundrechts; vgl. auch Wolf!, Selbstbelastung und Verfahrenstrennung, S. 49-51, 54-55. 17 Vgl. z. B. Badura (Staatsrecht, D 53 (S. 272-273» und Hamann (Grundgesetz und Strafgesetzgebung, S. 28 unter Bezugnahme auf den Beitrag von Sax zu dieser Problematik (in: Beuennann I Nipperdey IScheuner, Grundrechte III/2, S. 907 -1014». 18 Schmidt-Aßmann, in: M/D, Art. 103 Abs. 11, Rn. 165. 19 Rudolphi, in: SK, Vor § I, Rn. 2. 20 Ders., a. a. 0., Rn. 8. 21 Ders., a. a. 0., Rn. I. 22 V gl. dazu auch die apodiktisch-trockene Fonnulierung bei Stree, in: Sch I Sch, Vorbem §§ 38 ff., Rn.!. 23 Vgl. nur Eser, in: Sch/Sch, Vorbern § I, Rn. 27; Rudolphi, in: SK, Vor § I, Rn. 5 (anhand des Beispiels des Urnweltstrafrechts).
A. Schuld und Strafe
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einer solchen Entwicklung hat dann der Strafgesetzgeber, freilich vorsichtig und die Wertordnung des Grundgesetzes achtend,24 zu folgen, will er nicht riskieren, daß die eine oder andere Strafrechtsnorm eben nicht mehr von diesem Konsens gedeckt wird und infolgedessen im Laufe der Zeit der Nichtbeachtung anheimfällt. Der Hinweis, daß jeder gesetzgeberische ,,Fehlgriff geeignet ist, zwischen der allgemeinen Überzeugung und dem Gesetz eine Kluft aufzureißen,,25, findet sich bezeichnenderweise in der Amtlichen Begründung zum Entwurf eines Strafgesetzbuchs ("E 1962"26), in dem mit einer Anpassung der (damals noch sog.) Straftaten gegen die Sittlichkeit27 an die "sittlichen Grundanschauungen des Volkes,,28 begonnen wurde; überhaupt gibt die Reform dieser Delikte ein anschauliches Beispiel für die oben konstatierte Notwendigkeit der Anpassung der Gesetze an die gesellschaftlichen Grundüberzeugungen. 29 - Umgekehrt kann auch über den Weg der (vorsichtigen) Einführung von Strafrechtsnormen das allgemeine Bewußtsein zukunftsorientiert geprägt werden, so wie dies in den letzten Jahren im Zuge der Ausformung des Umweltstrafrechts geschehen ist. 3o
Über den Vergleich der jeweiligen Strafrahmen untereinander kann der Stellenwert der entsprechenden Rechtsgüter ermittelt werden. 3) Auch hinsichtlich der Wertigkeit der einzelnen Rechtsgüter können im Bewußtsein der Rechtsgemeinschaft Verschiebungen eintreten; so ist es z. B. eines der Ziele des Sechsten Gesetzes zur Reform des Strafrechts (6. StrRG)32 gewesen, die allgemein für überholt gehaltene Übergewichtung des strafrechtlichen Eigentums- und Vermögensschutzes gegenüber dem Schutz der körperlichen Integrität auszugleichen,33 womit der Gesetzgeber endlich den z. B. von Wintrich 34 schon 1957 aus der Menschenwürdegarantie abgeleiteten Interpretationsgrundsatz des unbedingten Vorranges des Personen werts vor dem Sachgüterwert realisiert.
Zusammenfassend kann als Zwischenergebnis festgehalten werden, daß Strafrechtsnormen Verhaltensregeln sind, die den Schutz von Rechtsgütern bezwecken. "Damit die Strafe ihre Wirkung habe, genügt es, daß sie ein Übel ist, weIches dem aus dem Verbrechen erwachsenden Vorteil überwiegt.,,35 Dabei kommt es denknotwendigerweise nicht entscheidend darauf an, wie das geschützte Rechtsgut verletzt (oder gefährdet) wird. Das wird zum einen deutlich an der im StGB gebrauchten 24 Vgl. Eser (a. a. 0.) und Sax (in: Bettermann / Nipperdey / Scheuner, Grundrechte III /2, S. 911-913 (907». 25 BT-Drs. IV /650, S. 359. 26 BT-Drs. IV /650, S. 3. 27 Zur interessanten Entstehungsgeschichte der heutigen Überschrift des 13. Abschnitts des Besonderen Teils des StGB Laufhütte. in: SK, § 174, Rn. I. 2K BT-Drs. IV /650, S. 359. 29 Einen kurze, gleichwohl informative Übersicht hierzu bietet Laufhütte. in: LK, Vor § 174ff., Rn. 1-4. 30 Zu dessen "Vorreiterfunktion" Rudolphi. in: SK, Vor § I, Rn. 5. 31 Vgl. BVerfG, in: E, Bd. 27, S. 29 (18). 32 Vom 26. I. 1998, BGBI. I, S. 164-188. 33 Siehe Kreß. in: NJW 1998, S. 633. 34 Wintrich. Problematik der Grundrechte, S. 13. 35 Beccaria. Verbrechen und Strafe (Hrsg.: A/ff), Kap. XXVII (S. 121).
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1. Teil: Schuldstrafrecht, Strafzumessung und Nemo tenetur
Regelungstechnik der Mißbilligung eines Verhaltenseifolgs, nicht des Verhaltens selber (oben 1). Als flankierendes Argument mag § 13 StGB herangezogen werden, der gedanklich voraussetzt, daß einem Unterlassen der gleiche sozialethische (Un-)Wert innewohnen kann wie einem aktiven Handeln. Der strafrechtliche Rechtsgüterschutz wäre unvollständig, würde man ihn alleine über die äußere Verhaltensweise und nicht vom Verhaltenseifolg her definieren. Klarstel1end - und paral1el zur oben I (im 1. Ergänzungstext) getroffenen Feststel1ung, wonach auch Tätigkeitsdelikte in ihrem Tatbestand Verhaltenserfolge beschreiben - sei hinzugefügt, daß sich der mißbilligte Verhaltenserfolg nicht in einer tatsächlichen Verletzung des geschützten Rechtsguts niederschlagen muß. Schon die konkrete Gefahr einer Verletzung kann qua Strafe mißbilligt werden (vgl. §§ 22,23 Abs. 1 StGB).
4. *Strajzwecke Zu einem Strafrecht, dessen einziger, per definitionem in die Zukunft gerichteter Zweck es ist, das friedliche Miteinander von Menschen sicherzustel1en, paßt keine Strafe, die vornehmlich retrospektiv als Repression wirkt. Durch die fragliche Straftat ist ja dieses friedliche Miteinander schon ein Stück weit zerstört, Strafe kann dies nicht rückgängig machen. Vielmehr dient die Strafe in erster Linie gleichsam prospektiv der Prävention weiterer Straftaten. Dabei kommen grundSätzlich zwei Adressaten in Betracht: Der Straftäter sol1 von der Begehung weiterer Rechtsgutsverletzungen abgehalten (sog. negative Spezialprävention) und zu einem Leben ohne Straftaten angeleitet werden (sog. positive Spezialprävention). Zugleich sol1en andere potentiel1e Straftäter vor der Begehung ähnlicher Delikte abgeschreckt werden (sog. negative Generalprävention); im übrigen bezweckt die Strafe auch die Erhaltung und Stärkung des al1gemeinen Vertrauens in die Durchsetzungskraft der Rechtsordnung (sog. positive Generalprävention).36 Gälte die Strafe jedoch ausschließlich der Prävention, müßten konsequenterweise die am häufigsten vorkommenden Straftaten - z. B. Ladendiebstahl - am härtesten, seltenere Delikte - z. B. Mord - dagegen milder bestraft werden. Das dies nicht sein kann, liegt auf der Hand. Aus § 46 Abs. I S. 1 StGB ergibt sich vielmehr, daß Strafe nicht zuletzt dem Schuldausgleich dient. 37 Damit stel1t sich die Frage: Was ist "Schuld"?
11. Schuld als Stratbarkeitsvoraussetzung
Die Feststellung, daß ein geordnetes Miteinander von Menschen nur möglich ist, wenn der einzelne gewisse Verhaltensregeln beachtet, setzt gedanklich voraus, daß der einzelne diese Verhaltensregeln auch beachten kann, oder umgekehrt: Regeln, deren Einhaltung unmöglich ist, können als solche gar nicht wirksam werden. Der Normgeber, d. h. die Rechtsgemeinschaft, muß also bei der Normsetzung denknotwendigerweise davon ausgehen, daß der einzelne Normadressat "befähigt 36 Im einzelnen sich die Bezeichnungen und die exakten Inhalte noch immer umstritten, siehe dazu etwa Tröndle, § 46, Rn. 3. 37 Tröndle, a. a. O.
A. Schuld und Strafe
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ist, sich für das Recht und gegen das Unrecht zu entscheiden, sein Verhalten nach den Nonnen des rechtlichen Sollens einzurichten und das rechtlich Verbotene zu venneiden. ,,38 Diese Willensfreiheit des Menschen ist freilich empirisch nicht nachweisbar. 39 Die Gesellschaft muß sie aber voraussetzen, da es ansonsten sinnlos wäre, Verhaltensanforderungen aufzustellen, die doch - wie gerade festgestellt - für ein gedeihliches Zusammenleben von Menschen unverzichtbar sind. Einen anderen Weg gehen die Vertreter des sog. "sozialen Schuldbegriffs,,4o: Sie versuchen, das Dilemma der Nichtbeweisbarkeit menschlicher Willensfreiheit dadurch zu umgehen, daß sie die Verhaltensanforderungen als auf einen ,,Bürger mit normaler Motivierbarkeit,,41 zugeschnitten ansehen. Diese Strategie tauscht m.E. nur die Begriffe aus, löst nicht jedoch das dahinter steckende Problem. Wendet man nun diese grundsätzliche Überlegung auf die konkrete Straftat an, so ergibt sich die Definition der Schuld wie von selbst: Mit der Straftat verletzt der Täter ein geschütztes Rechtsgut, die Rechtsgemeinschaft reagiert darauf ihrerseits mit einem massiven hoheitlichen Eingriff in (Grund-)Rechtspositionen des Täters, indem sie ihn für sein Verhalten bestraft. In dieser Strafe steckt nicht nur die Mißbilligung des »Du hättest anders handeln sollen« (nämlich den einschlägigen Verhaltensregeln im StGB entsprechend), sondern auch der Vorwuif des »Du hättest anders handeln können«42. Schuld ist also der Zustand des Vorwuifs43, dem sich der Täter dadurch aussetzt, daß er eine strafrechtlich bewehrte Verhaltensregel verletzt, obwohl er diese beachten könnte. Die z. B. in § 212 StGB ausgedrückte Mißbilligung bezieht sich auf die Tötung eines anderen Menschen und erschöpft sich darin; wer tötet, löst die gesellschaftliche Reaktion der Mißbilligung aus, hat er doch den mißbilligten Erfolg bewirkt. Die Folge der Mißbilligung bzw. - aus Sicht des Täters - der Mißachtung des Gebots, nicht zu töten, kann in einer Strafe bestehen, wenn sich herausstellt, daß der Täter Handlungsalternativen gehabt hätte, die nicht zu einer Tötung geführt hätten. Die Strafe ist Folge dieses Vorwurfs, nicht Folge der in § 212 StGB ausgedrückten grundsätzlichen Mißbilligung jeglicher Tötung. Damit steht fest, daß das StGB ein "Schuldstrafrecht,,44 ist, also nach BGH, in: St, Bd. 2, S. 200 (194). Nachweise zum dort sog. ,,Ewigkeitsproblem" bei Lenckner; in: SchI Sch, Vorbem §§ 13 ff., Rn. 109; für Dreher (Willensfreiheit, S. 379-387 (inbes. S. 383» bedarf die Willensfreiheit keines Beweises, weil diese als Teil der von uns erlebten Wirklichkeit existent sei und es für uns keine andere als die erlebte Wirklichkeit gebe. Vgl. auch Bosch, Aspekte, S.124. 40 Lackner; in: Lackner, Vor § 13, Rn. 23. 41 Ders., a. a. O. 42 Vgl. Lenckner; in: SchISeh, Vorbem §§ 13ff., Rn. 110. 43 Gerne wird die verkürzte Formel "Schuld ist Vorwerfbarkeit" vorgetragen (z. B. bei Trändie, Vor § 13, Rn. 28); sie ist freilich nicht exakt, worauf besonders dezidiert Lenckner (in: SchISeh, Vorbem §§ 13ff., Rn. 114) hinweist. 44 Nur klarstel1end daher die Begründung der Bundesregierung zu deren Entwurf eines Strafgesetzbuches vom 4. 10. 1962 ("E 1962"), in: BT-Drs. IV 1650, S. 96 und 180. 38
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I. Teil: Schuldstrafrecht, Strafzumessung und Nemo tenetur
seiner Konzeption jede Strafe Schuld voraussetzt,45 die man angesichts ihrer soeben beschriebenen Wirkung als "Strafbegründungsschuld ,,46 bezeichnet. Der Schuldgrundsatz wird vom BVerfG47 aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) hergeleitet und korrespondiert48 mit dem in Art. 1 Abs. 1 GG verankerten Gebot der Achtung der Menschenwürde, wonach sich eine objekthafte Behandlung des Menschen verbietet,49 er vielmehr als "selbstverantwortliche Persönlichkeit ... mit Eigenwert anerkannt,,50 werden muß. Wenn auch solche "allgemeine Formeln ... lediglich die Richtung andeuten,,51 können, in der Fälle der Verletzung der Menschenwürde zu finden sind, so ergibt sich aus ihnen doch im vorliegenden Zusammenhang problemlos die Notwendigkeit des Schuldstrafrechts: Die Anerkennung der Selbstveranwortlichkeit des Menschen bedeutet gleichzeitig dessen Freiheit von Verantwortung für nicht in eigener Person bewirkte, also mehr oder weniger fremdbewirkte Zustände. "Würde [der Mensch] dagegen auch für einen Verstoß gegen die Rechtsordnung, der ihm mangels seiner Schuld subjektiv nicht zugerechnet werden kann, bestraft, so würde er, soweit die Strafe nur an das Unrecht der Tat anknüpft, als auswechselbare, vertretbare Größe behandelt. Denn nicht seine Persönlichkeit, seine ,personhafte ' freie Entscheidung gegen das Recht, sondern lediglich die äußere Tat hat ihm dann dem sozial diskriminierenden Makel und die damit verbundene Minderung seiner sozialen Achtung eingebracht. Eine solche Behandlung würde aber seine sittliche Persönlichkeit mißachten und ihn entwürdigen.,,52
111. "Schuld" als Grundlage für die Strafzumessung
1. Individuelle Strafzumessungsschuld Ein Blick auf die Strafandrohungen des StGB zeigt, daß dort - mit Ausnahme des § 211 Abs. 1 StGB - für die jeweilige Verletzung (oder Gefährdung) des Rechtsguts keine absolut bestimmte Strafe, also auch kein pauschaler Schuldvorwurf konstatiert wird. Vielmehr deutet das Angebot eines Strafrahmens darauf hin, daß je nach Einzelfall die Intensität des Vorwurfs der Rechtsgemeinschaft gegenüber dem Täter variiert. Dafür spricht auch die Formulierung des § 46 Abs. 1 S. 1 StGB, dem zufolge die Schuld des Täters Grundlage für die Strafzumessung sein 45 Vgl. Stree, in: Sch/Sch, Vorbem §§ 38ff., Rn. 6. 46 So z. B. Lenckner; in: Sch/Sch, Vorbem §§ 13 ff., Rn. 111. 47 Z. B. BVerfG in: E, Bd. 6, S. 439 (389); Bd. 20, S. 331 (323); Bd. 23, S. 132 (127); Bd. 25, S. 285 (269); Bd. 41, S. 125 (l2\); Bd. 45, S. 259/260 (187) - dort al\erdings auch unter flankierender Heranziehung des Menschenwürdeprimats. 48 Vgl. die in der vorangehenden Fn. zuletzt angeführte Entscheidung des BVerfG. 49 Vgl. z. B. BVerfG, in: E, Bd. 27, S. 6 (I). 50 BVerfG, in: E, Bd. 45, S. 228 (187). 5\ BVerfG, in: E, Bd. 30, S. 25 (I). 52 Stree, Deliktsfolgen und Grundgesetz, S. 53.
A. Schuld und Strafe
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soll; bei einer Pauschalstrafe bedürfte es keiner ,,zumessung". Daß dem Täter offensichtlich ein individueller Schuldvorwurf gemacht wird, kann nicht Ausfluß des Schuldgrundsatzes sein, wie er oben 11 hergeleitet worden ist; schließlich läßt sich theoretisch ein Strafrecht denken, in welchem tabellengleich jedem Rechtsgut eine punktgenau bestimmte Strafe und damit ein pauschaler Schuldvorwurf zugeordnet ist; der Forderung des »Keine Strafe ohne den Vorwurf des Anders-handeln-Könnens 53 !« wäre dem Buchstaben nach Genüge getan. Eine solche, pauschale Festlegung des Schuldmaßes verstieße aber gegen Art. 1 Abs. 1 GG: Das Postulat der Achtung der Menschenwürde gebietet es - wie bereits oben I 2 aufgezeigt -, den einzelnen nicht als Objekt des Strafverfahrens zu behandeln. Das Auswerfen einer Pauschalstrafe »ohne Ansehen der Person«, also ohne Berücksichtigung der individuellen Subjektartigkeit des Täters, käme jedoch einer objekthaften Behandlung gleich. 54 Damit steht fest, daß mit dem Begriff der "Schuld" in § 46 Abs. 1 S. 1 StGB eine individuelle "Strafzumessungsschuld,,55 gemeint sein muß. Weil der Schuldgrundsatz auch für sie gilt, ist zugleich klargestellt, daß Strafe nur "im Umfang der Schuld,,56, also nur proportional zur Höhe der Schuld verhängt werden darf. Dieses Erfordernis der Schuldangemessenheit der Strafe impliziert, daß das Maß der Schuld auch die Obergrenze für die konkrete Strafe bildet. 57
2. Ermittlung der Strafzumessungsschuld
Wie oben 11 die "Strafbegründungsschuld" als Zustand des Vorwurfs gegenüber dem Täter, er hätte anders handeln können, definiert worden ist, so muß im folgenden untersucht werden, was die individuelle "Strafzumessungsschuld" ausmacht. Der Katalog des § 46 Abs. 2 StGB hilft dabei nicht weiter; man kann ihn - wie 53 54
a.E.). 55 56
57
Vgl. Lenckner, in: Sch/Sch, Vorbem §§ 38ff., Rn. 110. Vgl. die Argumentation bei Stree, Deliktsfolgen und Grundgsetz, S. 53 (und oben I 5 Stree, in: Sch / Sch, § 46, Rn. 9a. Stree, in: Sch/Sch, § 46, Rn. 6. "Art. I Abs. I, Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip gebieten,
daß die verhängte Strafe die Schuld des Täters nicht übersteigen darf, sondern in einem gerechten Verhältnis zur Schwere der Tat und zum Maß der Schuld des Täters stehen muß ( ... )" (BVerfG, in: E, Bd. 50, S. 12 (I)). Vgl. auch die anschauliche Herleitung bei Stree (in: Sch/Sch, § 46, Rn. 6-8 m. w. N.), der darauf hinweist, daß der Gesetzgeber ausweislich schon der Begründung zum ,,E 1962" (siehe Fn. 26) diesen logischen Schluß aus dem von ihm selber propagierten Schuldgrundsatz nicht ziehen wollte, dies mit dem Hinweis darauf, daß ansonsten der Eindruck entstehen könne, "als sei die Schuld eine feste Größe, der eine feste Maßzahl der Strafe entspreche" (BT-Drs. IV/650, S. 96). Das würde, worauf Stree (De\iktsfolgen und Grundgesetz, S. 51) einleuchtend hinweist, zu einer Strafe ohne Schuld führen, die jedoch. wie bereits oben 11 erkannt, gegen Art. I Abs. I GG verstieße: "Der Umstand, daß das Ob der Strafe immerhin vom Vorliegen einer Schuld abhängig bleibt, ändert hieran nichts. Er verhindert nicht, daß der Täter jedenfalls zum Teil eine Strafe erleidet, die er nicht aufgrund seiner schuldhaften Fehlentscheidung verdient." 3 Torka
1. Teil: Schuldstrafrecht. Strafzumessung und Nemo tenetur
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bereits in der Problemstellung gesehen - im Gegenteil erst sachgerecht anwenden. wenn die soeben gestellte Vorfrage geklärt ist. Eine Orientierungshilfe bieten aber die überindividuellen. pauschalen Vorgaben. die in den Strafrahmen der StGB-Vorschriften zu finden sind: Je schützenswerter das Rechtsgut ist, desto höher kann die Strafe ausfallen. Der individuelle Strafzumessungsschuld-Vorwurf hängt also vom Eifolgsunwert des in Frage stehenden Verhaltens ab. So ergibt z. B. ein Vergleich der §§ 123 Abs. I und 212 Abs. I StGB. daß der Hausfriedensbrecher unter keinen Umständen die (Strafzumessungs-)Schuld des Totschlägers auf sich laden kann.
Die §§ 22, 23 StGB bestätigen diesen Befund. Es macht das Wesen des Versuchs aus, daß das fragliche Täterverhalten nicht zum Erfolg geführt hat, mithin keine endgültige Verletzung des geschützten Rechtsguts eingetreten ist. Es hat sich also im Ergebnis der Rechtsgüterschutz durchgesetzt, eine entsprechende (fakultative, vgl. § 23 Abs. 2 StGB) Minderung des strafrechtlichen Vorwurfs ist in Anbetracht der oben I 3 herausgearbeiteten Ratio des Strafrechts konsequent. Des weiteren fällt auf, daß die Verletzung desselben Rechtsguts strenger bestraft wird, geschieht sie vorsätzlich. Überhaupt bestimmt § 15 StGB, daß die Strafbarkeit grundsätzlich an den Vorsatz anknüpft, fahrlässiges Handeln hingegen nur dann strafbar ist, wenn das Gesetz dies ausdrücklich vorsieht. Damit steht fest, daß die Begehungsweise der Tat das Maß der Vorwerfbarkeit beeinflußt und der sich darin manifestierende Handlungsunwert eine Komponente der Strafzumessungsschuld bildet. s8 Vor dem Hintergrund des bezweckten Rechtsgüterschutzes leuchtet dies nicht ohne weiteres ein, ist doch der mißbilligte Erfolg in beiden Alternativen gleichermaßen eingetreten. Die Erklärung hierfür kann demnach nur in der Beziehung des Täters zum betroffenen Rechtsgut gefunden werden. Plakativ umschrieben bedeutet Vorsatz Wissen um die und Wollen der Tatbestandsverwirklichung. s9 Der Täter entscheidet sich also bewußt für einen Angriff gegen ein Rechtsgut, er legt es gezielt auf dessen Verletzung an. In der Mißachtung des Rechtsgüterschutzes liegt gleichzeitig eine Auflehnung gegen die bestehende Rechtsordnung. Der Fahrlässigkeitstäter verläßt dagegen nicht bewußt den Pfad der Rechtstreue, er »rutscht« gleichsam aus Unachtsamkeit »ab«. Eine grundsätzliche Ablehnung des Rechtsgüterschutzes läßt sich also anläßlich der Fahrlässigkeitstat nicht festKurz und prägnant dazu: Schäfer, Strafzumessung. S. 106/107 (bei Rn. 228). Siehe nur LAckner, in: Lackner. § 15, Rn. 3. Daß diese Kurzformel ungenau ist und zumindest das Element der Tatbeherrschung vermissen läßt (Tröndle. § 15. Rn. 2-4) kann hier vernachlässigt werden, zielt doch die aktuelle Fragestellung erkennbar in eine andere Richtung als der exakten Definition des Vorsatzes. Gleichwohl soll an dieser Stelle die bemerkenswerte grundSätzliche Kritik an der im Haupttext wiedergegebenen ",systematischen' Verkürzung von Problemen" (Krauß. in: Schaffstein-FS. S. 418 (411) m. weiterführenden N.) auch im Zusammenhang mit dem Vorsatz nicht verschwiegen werden. S8
S9
A. Schuld und Strafe
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stellen. Die Einstellung des Täters zum verletzten Rechtsgut ist nicht feindlich, er verhält sich diesem gegenüber »lediglich« nicht mit der gebotenen Sorgfalt.60 Daraus erhellt, daß die Fahrlässigkeit dem Vorsatz als aliud gegenübersteht, "da sie in Gestalt der Außerachtlassung verkehrsmäßiger Sorgfalt einen eigenständigen Vorwurf gegenüber dem Täter begründet,,61. Der entscheidende Faktor für die Differenzierung zwischen vorsätzlicher und fahrlässiger Begehungsweise und die »Privi legierung« der zweiten Handlungsalternative gegenüber der ersten in Hinsicht auf die Strafandrohung bei gleichem Erfolgsunwert liegt also in der Einstellung des Täters zum betroffenen Rechtsgut bzw. zu seiner Tat und mithin, weil daraus ableitbar, zur Rechtsordnung. Je mehr Rechtsfeindschaft aus der Tat spricht, desto nachhaltiger ist der strafrechtliche Vorwurf. Damit steht fest, daß die Einstellung des Täter zu seiner Tat dessen individuelle Strafzumessungsschuld präjudiziert. IV. Indizmethode
1. Allgemeines
Die einzige Person, die Auskünfte über die Einstellung des Täters zu seiner Tat geben könnte, ist der Täter selber. Indes steht dem Beschuldigten im Strafverfahren ein durch entsprechende Belehrungspflichten flankiertes 62 Schweigerecht zur Seite (vgl. §§ 115 Abs. 3 S. 1, 128 Abs. 1 S. 2, 136 Abs. I S. 2, 163a Abs. 3 S. 2 und Abs.4 S. 2, 243 Abs. 4 S. 1 StPO), darüber hinaus trifft ihn für den Fall seiner Einlassung keine Wahrheitspflicht63 , was sich nicht zuletzt aus den §§ 153 - 163 StGB ergibt. Der Beschuldigte fällt somit als Informant aus, ganz abgesehen davon, daß er nicht immer auch tatsächlich Täter der verfolgten Straftat ist. Da jedoch einerseits das Strafrecht einen "unentbehrliche[nl Beitrag zur Aufrechterhaltung der Ordnung in einer Gemeinschaft,,64 leistet, mithin die Gesellschaft einer praktizierten Strafrechtspflege bedarf, andererseits aber - wie gerade gesehen - das Menschenwürdeprimat, das Rechtsstaatsgebot und der Gleichheitssatz des Art. 3 60 Es kann hier - entsprechend dem gerade zum Vorsatz Konstatierten - dahingestellt bleiben, wie die Fahrlässigkeit in konstruktiver Hinsicht zu definieren ist, denn die im vorliegenden Zusammenhang allein interessierende Frage ist nicht das Wie der Fahrlässigkeitsstruktur (sehr übersichtlich zu den verschiedenen Auffassungen Cramer; in: Sch I Sch, § 15, Rn. 111119), sondern das Warum der Strafminderung gegenüber der Vorsatztat. 61 Cramer; in: SchI Sch, § 15, Rn. 3. 62 Vgl. Eser; in: Beiheft zu ZStW, Bd. 86 (1974), S. 147 (136). 63 Dies ist völlig unbestritten, siehe nur Rogall, in: SK, Vor § 133, Rn. 72, sowie Boujong, in: KK, § 136,Rn. 20 (jew.m.v.N.). Hanack (in: LlR, § 136, Rn. 41) betont ausdrücklich, daß sich die Frage, ob der Beschuldigte sittlich zur Wahrheit und damit ggf. zu einem Geständnis verpflichtet sei (so z. B. Peters, Strafprozeß, § 28 IV 2 (S. 207», "nicht auf prozeßrechtlichem Gebiet" bewege; ebenso die immer noch aktuelle Argumentation von Eb. Schmidt, Lehrkommentar (Nachtr. I), § 136, Rn. 23-27. Zur Herleitung der LUgefreiheit des Beschuldigten freilich erst später (unter B 11 3). 64 Stree, in: Sch I Sch, Vorbem §§ 38 ff., Rn. 1.
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1. Teil: Schuldstrafrecht, Strafzumessung und Nemo tenetur
Abs. 1 GG6S ein pauschales Strafen allein auf der Basis der Feststellung des äußeren Geschehens verbieten, bleibt nur der Weg, vom objektiv Wahrnehmbaren auf die der sinnlichen Wahrnehmung verborgene innere Befindlichkeit des raters zu schließen. Dabei gilt es freilich, die "Gesetze [ 1 der Wissenschaft und der Logik"66 sowie ,.Erfahrungssätze des täglichen Lebens,,67 zu berücksichtigen. Die BeweiswÜfdigung muß anhand dieser Kriterien - nicht zuletzt in Hinblick auf eine mögliche, anläßlich der Sachrüge gern. §§ 337, 344 Abs. 2 S. I Alt. 2 i.V.m. 261 StPO initiierte Revision der tatrichterlichen Entscheidung - nachvollziehbar sein; sie ist im Gegenteil rechtsfehlerhaft, wenn sie Widersprüche, Lücken oder Unklarheiten aufweist, gegen Denkgesetze und allgemeine Erfahrungen verstößt. 68 Eine solche Beweiswürdigung verletzt den materiellen Gehalt des § 261 StPO, der mithin eine speziell auf das Strafrecht angepaßte Ausformung des Willkürverbots 69 darstellt.
Angesichts der §§ 155, 264 StPO läge es nahe, die Anknüpfungstatsachen für den Rückschluß auf die innere Einstellung des Täters zu seiner Tat nur dieser angeklagten Tat zu entnehmen. Das böte jedoch eine sehr schmale Basis, zumal das äußere Tatgeschehen innerhalb der Deliktsgruppen naturgemäß immer mehr oder weniger dieselben Züge aufweist. Eine solche isolierte Betrachtungsweise wäre dementsprechend extrem fehleranfällig. Auch wenn der Richter Tatsachen in seine Überlegung miteinbezieht, die zwar in einem inneren Zusammenhang mit der Tat stehen, aber doch außerhalb des eigentlichen Tatgeschehens liegen, verläßt er nicht das durch die Anklageschrift i.S. von §§ 155, 164 StPO abgesteckte Terrain. Er ermittelt weiterhin die Schuld des Täters zum Zeitpunkt der Tat. Je umfassender aber die täterbezogenen Informationen sind, desto exakter kann der Richter aus ihnen Schlüsse auf die innere Einstellung des Täters ziehen. Das Bild des Täters und die Analyse seines bisherigen Lebens bzw. seiner momentanen Lebensumstände dienen dabei als Indizien für die Ermittlung der individuellen Schuld, die der Täter durch die Tat auf sich geladen hat. In diesem Sinn ist auch der Katalog des § 46 Abs. 2 StGB gemeint, was man der Begründung des Entwurfs eines Strafgesetzbuchs v. 4. 10. 1962 (nE 1962")70 entnehmen kann, in der die Vorschrift als § 6071 diskutiert wird: 72 Vg!. Stree, Deliktsfolgen und Grundgesetz, S. 10/11 sowie 12-15. BGH, in: St, Bd. 17, S. 385 (382). 67 BGH, in: St, Bd. 29, S. 21 (18). 68 StaU vieler Meyer-Goßner. in: KI/M-G, § 337, Rn. 27. 69 Dessen Bezug zum Gebot der Achtung der Menschenwürde aufzeigend Benda. in: Hdb. d. VerfR, 2. Kap., 2. Abschn., I 3 (S. 114/115). 70 In: BT-Drs. IV 1650. 71 A. a. 0., S. 19. 72 § 46 StGB ist dann im Zuge des Ersten Gesetzes zur Reform des Strafrechts (1. StrRG v. 25. 6. 1969, in: BGB!. I, S. 645 -682 (§ 13 auf S. 645» als § 13 in das StGB eingefügt worden; die Vorschrift hat durch das Zweite Gesetz zur Reform des Strafrechts (2. StrRG vom 4. Juli 1969, in: BGB!. I, S. 717 -742 (§ 46 auf S. 723» mit Wirkung zum 1. Oktober 1973 ihren heutigen Platz zugewiesen bekommen. 6j
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A. Schuld und Strafe
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Fast stets seien innerhalb eines bestimmten Tatbestandes Fälle von sehr verschiedenem Unrechtsgrad möglich. Deshalb "erscheint es zweckmäßig, wenn das Gesetz auf Gesichtspunkte hinweist, die der Richter bei der Zumessung der Strafe beachten muß oder doch soll. Das ist das Ziel des § 60. Zwar lassen sich für die Strafzumessung keine festen Regeln aufstellen, die dazu führen könnten, daß ein einer bestimmten Tat überfllhrter Angeklagter vor jedem Gericht zu derselben Strafe verurteilt würde. Denn die Zumessung der Strafe, die eine der vornehmsten Aufgaben des Strafrichters ist, wird und muß im Grunde immer ein Akt des Ermessens bleiben. Aber gerade darum erscheint es wichtig, wenn das Gesetz wenigstens die Grenzen dieses Ermessens absteckt und Richtlinien aufstellt, nach denen es ausgeübt werden soll, selbst wenn sich diese Richtlinien in gewissem Umfang aus der Natur der Sache ergeben. Nur so kann eine Annäherung an die erwünschte Gleichmäßigkeit der Strafzumessung erreicht werden.,,73 "Satz 2 des Absatzes 2 nennt die Umstände, die für die Zumessung in erster Linie Bedeutung haben, läßt aber erkennen, daß ihre vollständige Berücksichtigung in Ausnahmefällen entbehrlich sein kann und daß die Nichtberücksichtigung im Einzelfall als solche noch keinen Revisionsgrund darstellt. Außerdem wird damit zum Ausdruck gebracht, daß bei den Umständen, die der Richter nach Satz 1 gegeneinander abzuwägen hat, auch solche sein können, die Satz 2 nicht erwähnt."74 Das ist konsequent, lassen sich doch nicht alle möglicherweise relevanten Indizien im voraus gleichsam »erfinden«. Der Katalog des § 46 Abs. 2. S. 2 StGB ist mithin unbestrittenermaßen 75 nicht abschließend.
Auf den ersten Blick erstaunt, daß sich in der Rechtsprechung des BGH Anklänge an die Indizmethode schon lange vor der Nonnierung des heutigen § 46 StGB finden. So heißt es in einem Urt. des BGB vom 24.6. 1954 (4 StR 893/53 76, auf S. 6): "Soweit das außerhalb der Tatausführung liegende Verhalten und die Lebensführung des Angeklagten mit der Straftat zusammenhängen, wenn sie z. B. Schlüsse auf ihren Unrechtsgehalt zulassen oder Einblick in die innere Einstellung des Täters zu seiner Tat gewähren, ist ihre Berücksichtigung nicht zu beanstanden ( ... )."
Tatsächlich hat der Gesetzgeber im 1. StrRG diejenigen Grundsätze zur Ennittlung der Strafe nonniert und damit sanktioniert, die sich schon vorher in der Rechtsprechungspraxis herausgebildet hatten. 77 73 BT-Drs. IV /650, S. 180. 74 BT-Drs. IV /650, S. 181. 75 Siehe nur Stree, in: Sch/Sch, § 46, Rn. 10 und 53; Trondle, § 46, Rn. 30; Born, in: SK, § 46, Rn. 97; BGH, in: MDR 1973, S. 370 - diese Entscheidung betrifft das Teilschweigen des Beschuldigten; sie ist daher auch im Dritten Teil (unter A 11 2, im 3. Ergänzungstext) relevant. 76 In: MDR 1954, S. 693. TI Siehe z. B. die Rechtsprechungsübersichten zur Strafzumesung von Seibert, in: MDR 1952, S. 458 (457); 1959, S. 258-261; 1966, S. 806 (805); Bruns schreibt (in: NJW 1956, S. 241) von einer "durchweg auf Gewohnheitsrecht beruhende[n] Lehre von der Strafzumessung". Allerdings ist der Katalog des § 46 Abs. 2 StGB von Anfang an als zu wenig konkret und damit wenig hilfreich angesehen worden, vgl. Bruns, Strafzumessungsrecht, 1. Haupnl., 1. Kap., III 1 (S. 13/14).
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I. Teil: Schuldstrafrecht, Strafzumessung und Nemo tenetur
2. Das Nachtatverhalten
a) Terminologische KJarstellung Damit steht die Antwort auf eine weitere der einleitend gestellten Fragen fest: Das Verhalten des Täters nach der Tat ist ein bei der Strafzumessung zu berücksichtigender Umstand i.S. von § 46 Abs. 2 StGB, wenn und soweit es in einem derartigen inneren Zusammenhang mit der Tat steht, daß aus ihm Schlüsse auf die Einstellung des Täters zum verletzten Rechtsgut und damit zur Rechtsordnung überhaupt gezogen werden können (Nachtatverhalten i.e.S.). Dieser Befund ermöglicht zugleich eine terminologische KlarsteIlung: Wenn vor allem in der Rechtsprechung von einer "strafschärfenden,,78 Berücksichtigung dieses oder jenes Nachtatverhaltens zu lesen ist, so gibt diese Formulierung die tatsächlich angestellten Strafzumessungsüberlegungen nur verkürzt und ergebnisbezogen wieder. denn das Nachtatverhalten wird, wie gerade aufgezeigt, dem Täter nicht direkt zum Vorwurf gemacht, was man - die kritisierte Formulierung wörtlich nehmend - vermuten könnte. Gewisse Verhaltensweisen nach der Tat lassen freilich, wenn sie in einem inneren Zusammenhang mit dieser stehen, einen negativen Schluß auf die Einstellung des Täters zu seiner Tat (zum Zeitpunkt der Tat), mithin auch zur Rechtsordnung, zu, woraus wiederum der Schluß auf eine höhere (Strafzumessungs-)Schuld gezogen werden kann. Gern. § 46 Abs. I S. I StGB kann dies auch eine höhere Strafe zur Folge haben. Die Berücksichtigung des Nachtatverhaltens wirkt sich in einem solchen Fall also im Ergebnis "strafschärfend" aus. Würde demnach die Strafe ohne die Berücksichtigung des fraglichen Nachtatverhaltens niedriger ausfallen, so kann man praktisch in der Differenz zwischen der ausgeworfenen (höheren) Strafe und der hypothetischen (niedrigeren) Strafe einen zusätzlichen Vorwurf gegenüber dem Verurteilten sehen, der eben aus der Einbeziehung des Nachatverhaltens in die Strafzumessungsüberlegungen resultiert. 79 Diese tatsächliche, vorwurfsmodifizierende Wirkung, welche die Berücksichtigung der Umstände des § 46 Abs. 2 StGB nach sich zieht, muß man stets im Auge behalten, argumentiert man über die Strafzumessung und über dabei zu berücksichtigende Gesichtspunkte. b) Kritik Angesichts der mit der Indizmethode einhergehenden Gefahr, auf dem Umweg der Berücksichtigung nicht tatschuldrelevanter Indizien bzw. der fehlerhaften Gewichtung eigentlich zu Recht in die Erwägung miteinbezogener Indizien letztlich Vgl. dazu etwa die Zitate unten B VI 2 b (5). Vgl. auch Baumann (in: NJW 1962, S. 1793), der befürchtet, daß "über die Strafzumessung praeter legern Pönalisierungseffekte erreicht werden, die die gesetzliche Pönalisierung eines Tages überspielen könnten." 78
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doch eine ,,Lebensführungs-Schuld,,8o zu ennitteln, verwundert es nicht, daß viele der dargestellten Technik des Schlüsseziehens grundsätzlich skeptisch gegenüberstehen. Wachsen können die Befürchtungen, daß die Indizmethode zu Fehlanwendungen verleite, auch angesichts von Formulierungen wie z. B. der, wonach "die Tat als Bewertungsobjekt . .. nicht eine isolierte Erscheinung im Leben des Taters sein kann, sondern in seine gesamte Lebensführung eingebettet ist,,81.
Als Beispiel für die Kritik an der Indizmethode seien im folgenden zwei besonders auf das Nachtatverhalten abzielende Stellungnahmen genannt: (1) lahn
Jahn 82 entwickelt seine Kritik entlang einer Anmerkung zu einem einschlägigen BOR-Urteil: Im Urt. v. 3. 8. 1994 (2 StR 161/9483 - im folgenden: »In-flagranti-Fall«) hatte der BGH zu entscheiden, ob die Berücksichtigung des folgenden Nachtatverhaltens rechtsfehlerhaft ist: Der Angeklagte war bei dem Versuch, die Geschädigte zu vergewaltigen, vom Zeugen K. überrascht worden. Diesem gegenüber und auch vor Gericht behauptete er nun, die Zeugin (S. 4) ,,habe sich ihm für 20,- DM angeboten, dann im Wald ihren Unterkörper entblößt und die Situation, in der sie ihn dadurch besonders aufgereizt habe, dann noch zum Erheben einer Zusatzforderung von weiteren 30,- DM ausnutzen wollen." Der BGH erblickt in der strafschärfenden Berücksichtigung dieses wahrheitswidrigen Vorbringens keinen Rechtsfehler, weil der Angeklagte über die Behauptung des freiwilligen Geschlechtsverkehrs hinausgegangen sei und damit dem Opfer "ein in besonderem Maße anstößiges Verhalten" (S. 6) unterstellt habe.
Einleitend bemängelt Jahn, daß sich die Argumentation des BOR "manchmal nur durch eine Aneinanderreihung von generaIklauselartigen Begriffen in mehr oder weniger großer Nähe zum Normtext des § 46 StOB auszeichnet. ,,84 Von dieser Basis aus startet er den eigentlichen Angriff gegen die Indizienmethode. Diese trage die Oefahr in sich, die Grenzen zwischen moralischen und rechtlichen Normen zu verwischen, weil der "Umweg der Indizientheorie über eine negative Persönlichkeitsbewertung,,85 am Wortlaut des § 46 Abs. 2 S. 2 StOB vorbeiliefe, schließlich sei nach dieser Vorschrift "das Verhalten des Taters nach der Tat" zu bewerten, nicht aber "seine im Anschluß an diese Tat durchbrechende, vermeintlich oder tatsächlich verbrecherische Persönlichkeitsstruktur". Die Indizienkonstruktion führe zwangsläufig zu einer "Bewertung der Nachtat-Lebensführungsschuld", die "einer Mezger. in: ZStW, Bd. 57 (1938), S. 689 (675). 81 Stree, in: Sch / Sch, § 46, Rn. 9 (Hervorhebung nicht im Original). 82 Jahn, in: StV 1996, S. 259-262. 83 Der Besprechung vorangehend veröffentlicht in: StV 1996, S. 259. 84 Jahn, in: StV 1996, S. 259. 85 Ders., a. a. 0., S. 260 (259) - wie auch die folgenden wörtlichen Zitate.
!IO
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rationalen Nachprüfung kaum mehr zugänglich [ ]" sei. lahn plädiert daher für einen ,,rein objektiven Begriff des Nachtatverhaltens". Indes gilt es zu differenzieren: Die Indizienmethode verlangt vom Richter eine strenge analytische Disziplin. Nicht nur, daß er seine persönliche Meinung, welches Nachtatverhalten besonders aussagekräftig für die innere Einstellung des Täters zu seiner Tat ist, zugunsten einer allgemein konsentierten, mit der Lebenserfahrung des durchschnittlichen Rechtsgenossen kongruenten Bewertung hintanstellen muß; auch ist es gern. Art. 20 Abs. 3 GG seine Pflicht als Richter, den Schritt davor im Einklang mit Wortlaut und Ratio des Gesetzes zu gehen und gar nicht erst solches Tatsachenmaterial in die Schuldbemessung miteinzubeziehen, welches keinen zweifelsfreien Indiziengehalt in sich birgt. Daß die Methode als solche schwierig zu handhaben ist, begründet nicht schon ihre Fehlerhaftigkeit. Die Notwendigkeit der individuellen Schuldermittlung gibt Art. 1 Abs. 1 GG vor (oben III 1), die Notwendigkeit strafbewehrter »Grund-Verhaltenregeln« zur Aufrechterhaltung des Zustands gedeihlichen Zusammenlebens ist unbestritten (oben I 1, 2). In diesem Dilemma ist der Richter dazu aufgerufen, aus objektiv Wahrnehmbarem auf die innere Befindlichkeit des von ihm für schuldig Befundenen, der nun einer gerechten, verhältnismäßigen, also in erster Linie schuldangemessenen Strafe harrt, zu schließen. Indem lahn einem ,,rein objektiven Begriff des Nachtatverhaltens" das Wort redet, will letztlich auch er aus einem Verhalten auf (Strafzumessungs-)Schuld schließen. Daß dieses Verhalten ggf. auf eine Persönlichkeits struktur hindeutet, die in puncto Rechtstreue bzw. Rechtsbewußtsein Defizite aufweist, ist für sich allein nicht schon der Ermittlung einer Lebensführungsschuld gleichzusetzen. Auf der Suche nach Rat, wie man etwa ohne die Technik des Schlüsseziehens eine möglichst akkurate Schuldanalyse bewerkstelligen könnte, hilft auch Fezer nicht weiter, der von Jahn als Kritiker der Indizienkonstruktion zitiert wird. 86 An der genannten Stelle87 wendet sich Fezer gegen den Indizienschluß von der ,vorausgegangenen, nachgewiesenen Lüge des Angeklagten hinsichtlich des einen Tatkomplexes darauf, daß dessen Aussage in Bezug auf einen anderen Tatkomplex ebenfal1s erlogen ist. Hier aber geht es erkennbar um eine andere Frage.
Ausgehend von der (richtigen und unbestrittenen) Erkenntnis, daß eine Bestrafung von allgemeiner Rechtsfeindlichkeit ohne Rechtsgutsgefährdung dem deutschen Strafrecht fremd sei, propagiert er einen "differenzierenden Ansatz! ),,88 rechtsgutsorientierter Betrachtung des Nachtatverhaltens: Dem "Konnex zwischen der zur Aburteilung anstehenden Tat i. S. d. § 264 Abs. 1 StPO und der Tat i. S. d. § 46 Abs. 2 StGB" solle dadurch Ausdruck verliehen werden, daß nur solches Nachtatverhalten Berücksichtigung finde, welches sich gegen das Rechtsgut der Ausgangstat wende. In dem der Besprechung zugrunde liegenden Sachverhalt sei eine "weitere Verletzung des Selbstbestimmungsrechts durch die Verleumdung der Geschädigten" nicht zu erkennen; in der Verleumdung der Zeugin komme eben 86 87
88
Ders., a. a. 0., in Fn. 5. Fezer, in: Stree I Wessels-FS, S. 683 (663). Jahn. in: StV 1996, S. 262 (259) - wie auch die folgenden wörtlichen Zitate.
A. Schuld und Strafe
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nicht "genau derjenige verbrecherische Wille zum Ausdruck, den die versuchte Vergewaltigungstat vom Rechtsgut her erfaßt". Dieser Einschätzung ist jedoch entgegenzuhalten, daß der Vergewaltigungstäter, indem er freiwilligen und I oder sogar bezahlten Geschlechtsverkehr behauptet, einen zweiten, verbalen Angriff gegen das Rechtsgut der sexuellen Selbstbestimmung der Frau führt, bestätigt er doch mit diesem Vorbringen, daß er deren geschlechtliche Verweigerung nicht ernst nimmt, was inhaltlich der Negation des in Frage stehenden Rechtsguts gleichkommt. (2) Tröndle
Für im Gegenteil zu eng hält Tröndle89 die Indizmethode. Er verweist darauf, daß de lege lata z. B. die Schadenswiedergutmachung (gern. § 46 Abs. 2 S. 2 StGB, letzte Gruppe; vgl. auch § 46a StGB) auch dann noch bei der Schuldermittlung zu berücksichtigen sei, wenn sie auf einen "Sinneswandel des Täters nach der Tat,,9Q zurückgehe. Tatsächlich scheint der benannte Strafzumessungsgesichtspunkt auf den ersten Blick der Prämisse, § 46 StGB meine nur die Schuld des Täters zum Zeitpunkt der Tat, zu widersprechen. Dabei darf indes nicht übersehen werden, daß das StGB die Schuld des Täters nicht als eine diesen bis an sein Lebensende begleitende Bürde ansieht, sondern vielmehr als einen Vorwurf, der gleichsam »abgearbeitet« werden kann; die Strafe dient jedenfalls auch91 dem Schuldausgleich; Schuld kann getilgt, also schrittweise vermindert werden. Anders ließe sich z. B. die Möglichkeit der Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung gern. 57 StGB nicht erklären: Die vorzeitige Haftentlassung dient zwar dem Ziel der ResoziaIisierung,92 sie setzt jedoch gedanklich die Annahme voraus, daß auf dem Täter nicht mehr die volle Tatschuld lastet; wie könnte man ihn ansonsten in die Freiheit entlassen? In den Worten des Gesetzgebers: ,,Die Regelung des § 57 Abs. I S. 1 StGB führt ... bei der zeitigen Freiheitsstrafe dazu, daß stets eine bestimmte Relation zwischen der auf der Grundlage der Schuld des Täters bemessenen Strafe und dem Zeitpunkt der bedingten Haftentlassung gewahrt ist.,,93 - Auch § 57a Abs. 1 S. I Nr. 2 StGB weist auf den Zusammenhang zwischen (bestehender Rest-)Schuld und tatsächlicher Haftverbüßung hin. 94
Wenn der Tatrichter zu der Erkenntnis kommt, daß die Schadenswiedergutmachung auf einen Gesinnungswandel des Täters nach der Tat zurückzuführen ist, so kann dieses Nachtatverhalten die Tatschuld mindern. Tröndles Beispiel setzt mit89 TromJle, § 46, Rn. 16 (bei »berichtigender Auslegung« der insoweit fehlerhaften Numerierung) - wie auch das folgende wörtliche Zitat. 90 Trondle, § 46, Rn. 16 - Hervorhebung nicht im Original. 91 Vgl. Trondle, a. a. 0., Rn. 3 (a.E.). 92 Siehe nur Tröndle, § 57, Rn. la; Horn, in: SK, § 57, Rn. 2. 93 Begründung zum Entwurf eines Siebzehnten StrÄndG, in: BT-Drs. VIII/3218, S. 7 Vgl. auch Horn, in: SK, § 46, Rn. 132: Nachtatumstände als "eine Art vorweggenommener Ersatz" der schuldangemessenen Strafe. 94 Vgl. Gribbohm, in: LK, § 57a, Rn. 2 mit Verweis auf das BVerfG (in: E, Bd. 64, S. 271 (261».
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1. Teil: Schuldstrafrecht, Strafzumessung und Nemo tenetur
hin voraus, daß die konkrete Tatschuld bereits ermittelt ist, und kann daher nicht als zwingendes Argument gegen die Indizmethode herangezogen werden.
3. Indiz vs. Motivation
Damit rückt der nächste in der Problemstellung vorangestellte Fragenkomplex in den Blickpunkt: Das auf die Tat bezogene Nachtatverhalten resultiert zumeist aus einer Motivation der Selbstbegünstigung. Es liegt auf der Hand, daß falsche Rückschlüsse auf die individuelle Täterschuld zum Zeitpunkt der Tat gleichsam vorprogrammiert sind, wenn der retrospektive Indiziengehalt eines Nachtatverhaltens überlagert wird durch dessen prospektiv ausgerichteten Motivationsgehalt, die bevorstehenden negativen Konsequenzen der begangenen Tat zu vermeiden. Als anschauliches Beispiel hierfür mag der im folgenden sog. »Prahlerei-Fall« (BGHBeschl. v. 10. 2. 1994-1 StR 811 /93 95 ) dienen: Der Tater hatte ein ihm flüchtig bekanntes 15-jähriges Mädchen vergewaltigt und kurz darauf gegenüber den späteren Zeugen (S. 3) "damit geprahlt, er habe A. >geficktAnspruchsgrundlage< als vielmehr der reale tatsächliche Befugnisumfang, der interessieren sollte." 131 Anschaulich dazu Dürig. in: M/D, Art. lAbs. III, vor Rn. 127 m.v.N. 132 Rogall. Der Beschuldigte, S. 153-154. 133 Ders., a. a. 0., S. 162. 134 Zum Begriff etwa Beullee. in: Wessels/Beulke. Strafrecht AT, § 16 I 1 b (S. 222 bei Rn. 697). 135 Ders., a. a. O. 128
129
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1. Teil: Schuldstrafrecht, Strafzumessung und Nemo tenetur
2. Stellungnahme
a) Gefahren der "induktiven" Methode Der Schluß aus den einfachgesetzlichen Vorschriften auf die Qualität des Nemotenetur-Satzes als einer Verfassungsgarantie, nicht an der eigenen Überführung aktiv mitwirken zu müssen, ist extrem fehleranfällig. 136 Die bloße Abwesenheit einer Verpflichtung auf der einfachen Gesetzesebene ist noch kein zwingendes Argument dafür, daß eine solche Verpflichtung gegen die Verfassung verstoßen würde. 137 Erst wenn das Verbot des Zwanges zur Selbstbelastung auf ein verfassungsrechtliches Prinzip zurückzuführen ist, kann nicht gleichzeitig eine Selbstbelastungspflicht verfassungskonform sein. Der Weg, den Rogall beschreitet, liegt freilich nahe, will man sich nicht in Mutmaßungen über den thematisierten Verfassungssatz verlieren; das Schweigerecht bietet angesichts der Selbstverständlichkeit, mit der es als Ausfluß des Nemo-tenetur-Satzes beschrieben wird,138 eine hinreichend gesicherte Orientierungsmarke. Gleichwohl darf hierbei die Normenhierarchie 139 des Grundgesetzes nicht außer acht gelassen werden. Gegen diese Kritik läßt sich nicht etwa mit Reiß einwenden, daß "die Konkretisierung und Weiterentwicklung von Verfassungsgrundsätzen gerade auch dem Gesetzgeber obliegt,,140 und daher die "Ausprägungen dieses Prinzips in der einfachgesetzlichen Rechtsordnung mit einzubeziehen" sind, ist doch der einfache Gesetzgeber gern. Art. 20 Abs. 3 GG an die verfassungsmäßige Ordnung gebunden. Wie soll er ein bisher vielleicht verkanntes Prinzip zutreffend konkretisieren? Im übrigen könnten sich die einfachen Gesetze letztlich als verfassungswidrig erweisen 141 oder unvollständig in dem Sinn, daß sie das ihnen jeweils zugrunde liegende Verfassungsprinzip nur zum Teil abdecken. 142 Insofern ist Rogall auch nicht zu folgen bei seinem neuerlichen Vorschlag l43 , sich auf den tatsächlichen Befugnisumfang des Nemo-tenetur-Satzes zu konzentrieren: 136 Wolf! (Selbstbelastung und Verfahrenstrennung, S. 48) meint gar, es handle sich um einen Zirkelschluß. 137 Vgl. dazu etwa die Argumentation Schneiders, die unten 11 referiert wird. 138 Siehe nur Beulke, Strafprozeßrecht, § 7 IV 6 (S. 53 bei Rn. 125). 139 Zum "Stufenbau der Rechtsordnung" eingängig Badura, Staatsrecht, D 51 (S. 271272). 140 Reiß, Besteuerungsverfahren, S. 141, wie auch das folgende wörtliche Zitat. 141 Auch und gerade, weil sie gegen einen möglichen Verfassungsrechtssatz des Nemo tenetur se ipsum prodere verstoßen, vgl. Weßlau, in: ZStW, Bd. 110 (1998), S. 13 (I) in Fn. 36. 142 Kritisch gegenüber der "induktiven Methode" (siehe dazu auch Fn. 104) ist auch lahn (in: StV 1998, S. 654 (653) in Fn. 10), der ihre Anwendung sehr pointiert auf "eine[ 1 gewisser 1Verfassungs(rechts)müdigkeit in der Strafrechtsdogmatik" zurückführt. Ein weiteres Argument gegen die "induktive Methode" hält Bosch (Aspekte, S. 353) bereit, siehe dazu un ten VII I a. 143 Rogall, in: StV 1996, S. 64 (63); ihm schließt sich Verrel (in: NStZ 1997, S. 364 (361) an.
B. Die Freiheit vom Zwang zur Selbstbelastung
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Ist vielmehr anhand der bisherigen Stellungnahmen zum Nemo-tenetur-Prinzip, anhand eines Blicks auf seine historische Entwicklung und nicht zuletzt mit Hilfe der Übersetzung der Aussage des Nemo tenetur se ipsum prodere der grobe Kontext, in dem sich der gesuchte Verfassungsrechtssatz versteckt hält, erkannt, bedarf es der Analyse, welche Ratio dem Prinzip zugrunde liegen könnte. b) Menschenwürde als Sedes rationis In Übereinstimmung mit der überwiegenden Meinung l44 führt Rogall Nemo tenetur darauf zurück, daß der menschliche Selbsterhaltungstrieb einem Zwang zur Selbstbe1astung entgegensteht. 145 Dementsprechend würde sich eine Verankerung des Prinzips in Art. 1 Abs. 1 GG anbieten, die Rogall allerdings ablehnt. Bei seiner Begründung mag man an die Feststellung Belings 146 denken, der zufolge sich wohl noch Generationen den Kopf über der Frage zerbrechen würden, was Menschenwürde sei. Auch gibt es Meinungen 147 , die gerade in der Strafe das Menschenwürdepostulat, Existenz und Handeln des Menschen zu achten, verwirklicht sehen. So betrachtet entfiele Art. 1 Abs. 1 GG tatsächlich als dogmatische Basis für den Nemo-tenetur-Satz. Als Vertreter dieser Denkrichtung sei hier Starck zitiert: "Das Recht des Beschuldigten und späteren Angeklagten, nicht zur Sache aussagen zu müssen,! I folgt nicht aus der Garantie der Menschenwürde. Wenn vom Angeklagten verlangt wird, an der Aufklärung der ihm zur Last gelegten Tat aktiv mitzuwirken, so kann er sich entweder im Falle seiner Unschuld entlasten oder muß im Falle seiner Schuld nur die Konsequenzen seiner Handlungen tragen, was niemals seine Menschenwürde verletzen kann,,148. Ähnlich argumentiert auch das BVerfG: ,,Der Staatsbürger wird nicht entwürdigt, wenn die Rechtsordnung von ihm verlangt, daß er für die Folgen seines menschlichen Versagens einsteht ... ,,149
144 Siehe Kallnwnn. in: GA 1907, S. 231 (230); Schleutker; Das prozessuale Verhalten, S. 131; Sautter; in: AcP, Bd. 161 (1962), S. 250 (215); Rupp. in: Verhandlungen/I 46. DJT, S. 178 (167); Erdnwnn. Selbstbegünstigungsgedanke. S. 23; Rüping. in: JR 1974, 136m. w. N. (135); Günther; in: GA 1978, S. 194 (193) und JR 1978,91 (89); Keller; Provokation, S. 135; vgl. auch Ulsenheimer; in: GA 1972, S. 23. 25 (I). 14~ Rogall. Der Beschuldigte. S. 146. 146 Beling. Beweisverbote, S. 37. 141 Günther; in: GA 1978, S. 197 (193); Fischer. Divergierende Selbstbelastungspflichten, S. 99 (vgl. dazu die kritische Besprechung von Rieß. in: GA 1981, S. 47/48); Schneider; Grund und Grenzen, S. 46; ähnlich Pawlik, in: GA 1998, S. 381 (378). 148 Starck, in: vMI KI S, Art. I Abs. I, Rn. 37. 149 BVerfG, in: E, Bd. 16, S. 194 (191); siehe unten VI I a. 4 Torka
1. Teil: Schuldstrafrecht, Strafzumessung und Nemo tenetur
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( 1) Menschenwürde keine widerlegbare Vennutung Dieser letztgenannte Lösungsvorschlag, Strafe und Menschenwürde dergestalt in eine Beziehung zueinander zu setzen, daß gerade in der Verhängung der Strafe die vornehmste Anerkennung der selbstverantwortliche "Persönlichkeit ... mit Eigenwert,,15o, mithin der Menschenwürde liegt, woraus beim einzelnen die Pflicht folgt, sich des Anspruchs auf Achtung würdig zu erweisen und dementsprechend für seine Taten die Verantwortung zu übernehmen, widerspricht der Konzeption des Grundgesetzes, die unstreitig und offenkundig davon ausgeht, daß der Mensch eine Würde hat (vgl. den Wortlaut des Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG: ,,Die Würde des Menschen ist unantastbar.") und diese nicht erst beweisen muß. Mit anderen Worten: Das Grundgesetz postuliert die Würde des Menschen und stellt diesbezüglich nicht nur eine widerlegbare Vermutung auf. 1S1 Das Ziel des Strafrechts - namentlich die Verantwortungsübernahme für eigenes Fehlverhalten qua Ableisten einer Kriminalstrafe - steht zweifellos in Einklang nicht nur mit der ,,Morallehre und der Theologie" 152, sondern auch mit dem Gebot der Achtung der Menschenwürde, würde doch ansonsten jede Strafrechtsnorm - und erst recht jedes einzelne Strafurteil - gegen Art. 1 Abs. 1 GG verstoßen, was allein schon deshalb nicht sein kann, weil die Existenz eines strafrechtlich bewehrten Rechtsgüterschutzes für ein gedeihliches Miteinander in einer (Rechts-)Gemeinschaft unabdingbar ist (oben A I). Hier aber steht die verfassungskonforme Ausgestaltung des Weges in Frage, auf dem dieses gerade beschriebene Ziel erreicht werden kann. 153
(2) Gebot der »intrapersonalen Orientierung« des Rechts Der (nicht nur)154 von Rogall vorgebrachte Hinweis auf die mangelnde Klarheit des verfassungsrechtlichen Würdebegriffs und eine daraus resultierende Ungeeignetheit des Gebots der Achtung der Menschenwürde, den Nemo-tenetur-Gedanken verfassungsrechtlich zu fundieren, ist ebensowenig überzeugend. Es stimmt zwar, daß bis heute noch keine allgemein konsentierte Definition der Menschenwürde vorliegt, was nicht verwundert, da auf dem Begriff "sozusagen zweieinhalbtausend BVerfG, in: E, Bd. 45, S. 228 (187). Paeffgen (in: Vorüberlegungen, S. 48, Fn. 169) hält die entsprechenden Argumentationsketten rur "bedenklich". 152 Rupp, in: Verhandlungen I I 46. DJT, S. 178 (167). 153 Ähnlich Wolf! (in: Selbstbelastung und Verfahrenstrennung, S. 45), der argumentiert, daß die Konzeption, der zufolge vom Menschen erwartet werden könne, kraft seines Personseins für die Folgen menschlichen Versagens einzustehen, folgendes übersehe: Nemo tenetur woUe es dem Täter nicht abnehmen, die Folgen seiner Tat zu tragen; der in Frage stehende Grundsatz streite lediglich gegen eine aktive Mitwirkungspflicht des Beschuldigten bei der Aufklärung der Tat. Diese beiden Aspekte seien voneinander zu unterscheiden. 154 Neben den bei Wolf!(a. a. 0., S. 41) Aufgeflihrten auch Schneider (Grund und Grenzen, S. 52; dazu unten 11 1 a), Bosch (Aspekte, S. 38; dazu unten VII 1 b) und wohl auch Bruns (in: Schmidt-Leichner-FS, S. 8 (I». 150
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B. Die Freiheit vom Zwang zur Selbstbelastung
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Jahre Philosophiegeschichte lasten. Von Menschenwürde kann man schwer reden, ohne sich sogleich in einer bestimmten philosophischen Tradition wiederzufinden.,,155 ,,Im Begriff der Würde bündeln sich Erkenntnisse und Bewertungen über den Menschen, seine Rolle in Staat und Gesellschaft, ja den Sinn seiner Existenz, welche Philosophie und Theologie, sodann die modemen Sozialwissenschaften formuliert haben, ohne zu allgemein gültigen Aussagen unterhalb eines hohen Abstraktionsniveaus gelangen zu können.,,156
Wollte man aber angesichts der Komplexität des Würdebegriffs von vorneherein darauf verzichten, gleichwohl mit ihm zu argumentieren, wäre Art. 1 GG im Grunde obsolet. Andererseits besteht Einigkeit darüber, daß es sich beim Menschenwürdeprimat um das "oberste Konstitutionsprinzip des Grundgesetzes"157 handelt; 158 selbst das Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) und das Gebot der Gleichheit (Art. 3 GG) sind daraus abzuleiten. 159 - Zudem wäre eine Definition der Menschenwürde überhaupt nicht wünschenswert, denn "mit der Verbürgung der Menschenwürde ist die [O]ktroierung von Würdekonzeptionen unvereinbar."l60 Es bleibt also zumeist einzig der Weg, sich - dem Diktum des BVerfG 161 folgend - ex negativo dem Begriff zu nähern, indem man einen konkreten bzw. konkret gedachten Vorgang dahingehend untersucht, ob in ihm eine Verletzung der Würde zu erblicken ist. 162. 163 Als eine Art Hilfsüberlegung hat das BVerfG hierfür die sog. "Objektfonnel"l64 entwickelt: ,.Es widerspricht der menschlichen Würde, den Menschen zum bloßen Objekt im Staat zu machen.,,165 Zwangsläufig bedarf diese Hilfsüberlegung zusätzlicher Wertungskriterien,l66 zwangsläufig bleibt daher jeder anhand der "Objektfonnel" gewonnene Befund angreifbar und unvollständig. Indes ist zur Beurteilung der hier in Frage stehenden Problematik, ob und inwiefern sich das Fehlen eines Zwanges zur Selbstbezichtigung aus der Verfassung ableiten läßt, die Heranziehung dieser als "Objektfonnel" bekannten Hilfsüberlegung IS5 Pieroth/Sehlinle, Grundrechte, § 7 II (S. 80 bei Rn. 353). Kunig, in: v. Münch, Art. I, Rn. 19. 157 BVerfG (in: E, Bd. 61, S. 137 (126» in Anlehnung an Wintrieh (in: BayVBl. 1957, 156
S. 137). 158 Siehe auch Dürig, in: M/D, Art. 1 Abs. I, Rn. 14; Klein, in: S-B/K, Art. 1, Rn. 1. 159 Siehe: Kriele, in: Hdb. d. VerfR, 3. Abschn., I 1 (S. 129); Maihojer, Die Würde des Menschen, S. 57 - 61 et passim; Sehmidt-Aßmann, in: HStR I, § 24 III (S. 1003 bei Rn. 30); Reiß, Besteuerungsverfahren, S. 167. Vgl. auch Dürig, in: MI D, Art. 1 Abs. I, Rn. 3 - 7. 160 Pierothl Sehlinie, Grundrechte, § 7 II (S. 80 bei Rn. 356). 161 BVerfG, in: E, Bd. 3D, S. 25/26 (1). 162 Siehe v. Müneh, Art. I, Rn. 14 (m.v.N.). 163 Siehe im übrigen auch das Plädoyer für eine an der Menschenwürde orientierten Argumentation bei Wolf!, Selbstbelastung und Verfahrenstrennung, S. 42-44 (und unten III 1 a). 164 Siehe Fn. 121. 165 BVerfG, in: E, Bd. 27, S. 6 (1). 166 Siehe nur Rogall, Der Beschuldigte, S. 141. 4·
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1. Teil: Schuldstrafrecht, Strafzumessung und Nemo tenetur
gar nicht erforderlich: Der Drang, als negativ empfundene Einflüsse von sich fernzuhalten, ist ein den Menschen konstituierendes Wesensmerkmal und als solches nicht nur eine widerstrebend hinzunehmende »anthropologische Binsenweisheit«167. Vielmehr stellt der Selbsterhaltungstrieb - wie Maurach zu Recht pathetisch formuliert - das "Schwungrad der Kulturentwicklung,,168 dar. Daß also die meisten Menschen nicht die innere Stärke besitzen, sich - ungeachtet der Gefahr des unweigerlich mit einer Kriminalstrafe einhergehenden Schadens 169 für eigene Rechtsgüter - freiwillig der Durchsetzung geltenden Rechts zu fügen, ist mithin nicht primär auf grundsätzliche Rechtsuntreue, sondern auf den in ihnen unweigerlich wirkenden Selbsterhaltungstrieb zurückzuführen, 170 betrifft doch das Strafverfahren den Beschuldigten in seiner ganzen Existenz. 171 Die unbedingte Bindung des Gesetzgebers an das Gebot der Achtung der Menschenwürde 172 impliziert, daß sich das Recht orientieren muß am Menschen, wie er ist, und nicht daran, wie er idealerweise sein sollte. 173 Das ergibt im übrigen auch - neben den schon oben A I 2 hinsichtlich des Zwecks des Strafrechts angestellten Überlegungen - eine »Negativprobe«: "Wenn man bei der Auslegung der Verfassungsnorm nicht von dem Menschen ausgeht, wie dieser in der Realität ist, sondern sich an einem sozialethischen Idealbild orientiert, dürften sich gerade solche besonders schutzbedürftigen Personengruppen eigentlich nicht auf Art. 1 Abs. 1 GG berufen,,174: Angehörige einer Minderheit oder "sonst am Rande der Gesellschaft Lebende, wie z. B .... straffallig Gewordene." Noch einmal sei es betont: Aus dem Menschenwürdeprimat folgt, daß sich das Recht am Menschen zu orientieren hat, »wie es ihn vorfindet«, daß sich ein erziehender oder moralisierender Charakter des Rechts 167 Diese Begriffsschöpfung spielt auf Niese (in: ZStW, Bd. 63 (1951), S. 219 (199» an, der vom Schweigerecht als einer "prozessualen Binsenweisheit" schreibt. 168 Maurach, zitiert nach Erdmann, Selbstbegünstigungsgedanke, S. 256 (mit Fn. 3). 169 Worauf Wo{ff (Selbstbelastung und Verfahrenstrennung, S. 49~50, 54-55) besonders eindringlich hinweist. 170 Ebenso: Kallmann, in: GA 1907, S. 231 (230); Schleutker. Das prozessuale Verhalten, S. 131; Sautter. in: AcP, Bd. 161 (1962), S. 250 (215); Rupp, in: Verhandlungen/I 46. DJT, S. 178 (167); Enlmann, Selbstbeglinstigungsgedanke, S. 23; Rüping, in: JR 1974, 136 (135) m.v.N. in Pn. 14 und 15; Günther. in: GA 1978, S. 194 (193) und JR 1978,91 (89); Keller. Provokation, S. 135; vgl. auch Ulsenheimer; in: GA 1972, S. 23,25 (1). 171 Günther; a. a. 0.; vgl. auch Sax, in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner, Grundrechte 1II/2, S. 954 (907), und BGH, in: St, Bd. I, S. 343 (342). 172 Dem "oberste[n] Konstitutionsprinzip" (BVerfG, in E, Bd. 61, S. 137 (126» des An. 1 Abs. 1 S. 1 GG kommt zugleich - entgegen der insoweit mißverständlichen Formulierung des An. 1 Abs. 3 GG und sowohl der Systematik als auch der Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes folgend (Pierothl SchlinIe, Grundrechte, § 7 I (S. 79 bei Rn. 350» - Grundrechtsqualität zu. 173 Anders u. a. Schneider (Grund und Grenzen, S. 48) und Pawlik (in: GA 1998, S. 380 (378», die die Anerkennung des »Menschen, wie er ist«, als primär normative Frage verstehen. 174 Benda, in: Hdb. d. VerfR, 2. Kap., 2. Abschn., I 3 (S. 114) - wie auch das folgende wörtliche Zitat.
B. Die Freiheit vorn Zwang zur Selbstbelastung
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verbietet. Diese spezifische Auswirkung des Menschenwürdeprimats auf die Rechtsschöpfung soll hier als »Gebot der intrapersonalen Orientierung« des Rechts bezeichnet werden. Gleichzeitig muß freilich die ebenfalls auf das Gebot der Achtung der Menschenwürde zurückzuführende 175, bereits oben A I 1,2 konstatierte, gleichsam »interpersonale« Zielsetzung des Rechts, für ein gedeihliches und geordnetes Zusammenleben in der Gemeinschaft zu sorgen, im Auge behalten werden.
In Anspielung auf Art. 1 Abs. 1 des sog. Herrenchiemseer (Verfassungs-)Entwurfs 176 kann man prägnant formulieren, daß das Recht um der Menschen willen da sei, nicht der Mensch um des Rechts willen. 177 Die Menschenwürde ist somit jedenfalls dann verletzt, wenn gesetztes Recht der ,,Natur des Menschen schlechthin,,178 widerspricht. 179 Ein Gesetz, welches Eltern und Kindern verböte, füreinander Zuneigung zu entwickeln bzw. zu empfinden, wäre nicht nur "psychologisch absurd und voraussehbarerweise ineffektiv"lSO, sondern verstieße als das Wesen des Menschen ignorierend gegen den grundgesetzlieh verankerten Menschenwürdeprimat. Schon Beccaria hat darauf hingewiesen, daß zwischen Gesetz und Selbsterhaltungstrieb kein Widerspruch entstehen dürfe; alle Gesetze seien nutzlos und schädlich, die dem natürlichen Menschengefühl widerstrebten. 1Sl
Da aber der Selbsterhaltungstrieb einen Wesenszug des Menschen ausmacht, muß er angesichts des Gebotes der »intrapersonalen Orientierung« des Rechts bei der Ausgestaltung (und Auslegung) einfachgesetzlicher Normen berücksichtigt werden. 182 175 Vgl. Benda, a. a. 0., S. 115. 176 Im: Bericht über den Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee, S. 61. 177 Ähnlich Nipperdey (in: Neumann I Nipperdey I Scheuner, Grundrechte 11, S. I: "Denn für den Menschen allein ist das Recht bestimmt." Bis zur Idee der römischen Humanitas verfolgt Radbruch (in: SJZ 1947, Sp. l31-l32) diesen Gedanken zurück. 178 Nipperdey. a. a. O. 179 Dies verkennen m.E. die in Fn. 147 Genannten. Schneider gelangt letztlich zu dem hier vertretenen Ergebnis. indern er auf die begrenzte Norrninternalisierungsähigkeit des Menschen abstellt (dazu unten 11 1 d). Und Pawlik (GA 1998. S. 382 (381» lehnt mit dem Hinweis auf des einzelnen Eingebundensein in und sein Angewiesensein auf die Gesellschaft eine "überzeitliche[ ] Gültigkeit" des Schweigerechts ab, um sogleich - sich (mit Fn. 26) beziehend auf Rousseau. der selber eingestanden habe, daß sein Gesellschaftsideal ,,mit der rechtlichen und sozialen Wirklichkeit moderner, pluralistisch verfaßter Großgesellschaften nicht in Einklang zu bringen" sei - zu konstatieren, daß in Ermangelung einer überzeugenden Begründung für die Annahme einer Aussagepflicht die Aussagefreiheit eben doch als Recht des Beschuldigten anerkannt werden muß. 180 So der Kommentar Roxins (in: NJW 1969, S. 2040 (2038» zu der fiktiven Erwartung gegenüber dem Tater, bis zum Eintreffen der Polizei am Tatort zu verbleiben. 181 So wird Beccaria von Pfenninger (in: Rittler-FS, S. 367 (355» wiedergegeben. 182 Weshalb hier auch nicht weiter die (in einer Rezension der Monographie Rogalls. in: ZStW, Bd. 91 (1979), S. 121-123 zu findende) Ansicht Peters' weiterverfolgt werden soll,
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I. Teil: Schuldstrafrecht, Strafzumessung und Nemo tenetur
(3) »Selbstbegünstigungstrieb«
Freilich muß ein Straftäter heute für den Fall, daß er überführt und verurteilt wird, nicht mehr um sein Leben furchten, mithin ist dabei der ursprüngliche Selbsterhaltungstrieb gar nicht berührt. Der Mensch meidet jedoch naturgemäß nicht nur Lebensgefahren, sondern alles, was ihm unangenehm ist, und strebt umgekehrt nach Wohlbefinden. Er meidet also instinktiv negative Konsequenzen seines Handelns. Einer Untersuchung über "Empirische Grundlagen der Generalprävention"J83 zufolge entfalten ggf. sogar weniger die strafgesetzlichen Folgen einer Tat, sondern vielmehr deren Konsequenzen im sozialen Nahbereich, also die sog. informellen Sanktionen (general-)präventive Wirkung: 84 Die Gefahr, eine mit dem möglichen Strafverfahren (bzw. der letzlich verhängten Strafe) einhergehende Minderung des sozialen Status quo hinnehmen zu müssen;85 wiegt für viele subjektiv schwerer als die offizielle Strafandrohung. 186 Die spontane Reaktion nach einem allgemein sozial mißbilligten Verhalten zielt auf eine Vermeidung dessen möglicher und als negativ empfundener Folgen; 187 im weiteren Verlauf dieser Untersuchung soll daher dieses Phänomen als »Selbstbegünstigungstrieb« bezeichnet werden. c) "Sonderopfer" Rechtstreuer? Im Rahmen der Bestimmung des Verhältnisses von Nemo tenetur zu den Unterlassungsdelikten unterläßt es RogalJ, einen gedanklichen Zwischenschritt zu erwähnen, der im vorliegenden Kontext jedoch bedenkens wert ist: Die mögliche Einschränkung des strafrechtlichen Vorwurfs qua Instrumentalisierung des Nemotenetur-Gedankens im Rahmen der Zumutbarkeitsbewertung bedeutet zugleich eine grundSätzliche Minderung des Rechtsgüterschutzes auf seiten des betroffenen Dritten. Macht man sich bewußt, daß die Idee des Nemo tenetur se ipsum prodere gedanklich eine begangene Straftat und deren Verfolgung durch den Staat voraussetzt, mithin Nutznießer des diskutierten Verfassungsrechtssatzes jedenfalls derjenige ist, welcher sich durch eine von ihm begangene Rechtsgutsverletzung der Frage des Se ipsum prodere selber ausgeliefert hat;88 so führt letztlich die von der zufolge es sich bei dem Nemo-tenetur-Gedanken "nur um einfaches strafprozessuales Beschuldigten- und Zeugenrecht handelt". 183 Schöch, in: Jescheck-FS/2, S. !081-ll0S. 184 Ders., a. a. 0., S. 1096/1097 (1081); vgl. zur Generalprävention oben A 14*. 18~ Schon anfang des Jahrhunderts hat Kallmann (in: GA 1907, S. 231-232 (230» hierfür vielfältige Beispiele benannt: Vermeidung der wirtschaftlichen Vernichtung, Bewahrung der äußeren Ehre und der gesellschaftlichen Stellung, das durch "die Bloßlegung einer häßlichen Seelenregung" (S. 232) ausgelöste Schamgefühl. Ähnlich Schleutker. Das prozessuale Verhalten, S. 124. 186 Vgl. dazu auch Krauß (in: Schaffstein-FS, S. 424 (411»: "Vermutlich schreckt kaum etwas den potentiellen Straftäter so sehr ab wie der symbolbeladene Strafprozeß." 187 So ausdrücklich Erdmann, SelbstbegUnstigungsgedanke, S. 23.
B. Die Freiheit vom Zwang zur Selbstbelastung
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Rogall vertretene Konzeption zu einem verminderten Rechtsgüterschutz des rechtstreuen Dritten gegenüber dem qua Nemo tenetur begünstigten Rechtsbrecher; im Ergebnis erbringt jener diesem ein "Sonderopfer,,189. Diese Kritik stellt zugleich die Begrenzung des Nemo-tenetur-Schutzes auf passives Abwarten der Strafverfolgung in Frage, denn erst die Prämisse, der zufolge Nemo tenetur lediglich ein Recht auf Passivität gewähre, hat Rogall dazu genötigt, das Zumutbarkeitskriterium im vorliegenden Kontext einzuführen. Die vorgebrachte Kritik flankierend mag noch auf die mit der Zumutbarkeits-Konzeption zwangsläufig einhergehende Rechtsunsicherheit hingewiesen werden, schließlich ist die Nemo-tenetur-Problematik für den einzelnen in der konkreten Situation nicht unbedingt erkennbar, sie fließt vielmehr erst ex post in die strafrechtliche Bewertung des Geschehenen ein. 190
Freilich ist es noch zu früh für eine abschließende Stellungnahme hinsichtlich des Vorschlags, wegen Nemo tenetur gewisse Rechtsgüterverletzungen durch den Beschuldigten unter dem Gesichtspunkt, normgemäßes Verhalten sei ihm in seiner Situation nicht zuzumuten (gewesen), in Kauf zu nehmen. Es kann indes schon jetzt festgestellt werden, daß der (im vorliegenden Zusammenhang vom BVerfG angeführte) Hinweis auf die "Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit,,191 des einzelnen nicht aus sich selbst heraus stichhaltig ist, denn diesen Status hat auch der bislang unbeteiligte Dritte inne (ausführlicher dazu unten VII b). d) Selbstbelastung durch Passivität Die Begrenzung der Nemo-tenetur-Idee auf den Schutz des passiven Abwartens 192 der Strafverfolgung paßt nicht zur Feststellung Rogalls, der zufolge ,jeder Zwang zur Selbstbelastung ... die psychologischen Grenzen überschreiten [würde], die durch den Selbsterhaltungs-,Trieb' des Menschen gesetzt werden.,,193 An anderer Stelle schreibt Rogall gar von der ,.zumutung an den Beschuldigten, sich selbst der Strafverfolgung zu überliefern und sich einer unüberwindlichen inneren Zwangslage auszusetzen"I94. Indes kann gerade auch Passivität eine Selbstbela188 Auch Schneider (Grund und Grenzen, S. 376) argumentiert mit dem Veranlassungsgedanken. 189 Schneider. a. a. O. 190 So auch Nothhelfer (Freiheit von Selbstbezichtigungszwang, S. 86 m. w. N.) sowie Schneider (Grund und Grenzen, S. 33), der (auf S. 375) schreibt: ..Der sich des strafrechtlichen Schutzes partiell entkleidet [So 376] sehende Bürger müßte seine Mitmenschen nunmehr als legalisierte potentielle Gegner betrachten, denen alles zuzutrauen sei." 191 BVerfG, in: E, Bd. 56, S. 49 (37). 192 Ebenso - aus dem neueren Schrifttum: Deutscher. Straftatverdächtigung, S. 162; Saal, Vortäuschen einer Straftat, S. 186. 193 Rogall, Der Beschuldigte, S. 146. 194 Ders., a. a. 0., S. 147.
l. Teil: Schuldstrafrecht, Strafzumessung und Nemo tenetur
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stung herbeiführen; auch das Gebot, nicht selbstbegünstigend zu handeln, setzt den Täter ggf. der von Rogall reklamierten psychischen Zwangslage aus. Diese Kritik an der Beschränkung der Nemo-tenetur-Idee auf das passive Abwarten der Strafverfolgung ist nicht neu. Roxins pointierter Einwand ist bereits (oben b (2) im 3. Ergänzungstext) zitiert worden. Nach Hoffmann bedeutete es einen ,,mittelbaren Zwang zur Selbstbezichtigung, wenn man von dem ... Tater generell ... verlangen würde, sich nicht vom Tatort zu entfernen oder jegliche Verschleierung der Tatspuren zu unterlassen.,,195 Kühnes Argument zielt in dieselbe Richtung: "Geradezu unsinnig mutet dann das konsequente Ergebnis an, den Einbrecher außerhalb des § 243 StGB aus dem Grunde bestrafen zu wollen, weil er nicht auf die Polizei gewartet und somit versucht hat, den Schadensersatzanspruch seines Opfers zu vereiteln. Das aber wäre die Folge, wollte man den Grundsatz >nemo tenetur se ipsum accusare< so interpretieren, daß Selbstbegünstigung durch aktives Tun nicht darunter fiele.,,196 - Hartmann-Hilter versucht, das Problem rein sprachlich zu lösen: ,,Das Nemotenetur-Prinzip statuiert somit das Recht, alle Verhaltensweisen zu unterlassen, die eine Überführung der eigenen Person zur Folge haben können. [ ) Daraus wird auf ein Recht zur Passivität und auf die Strafbarkeit der aktiven Selbstbegünstigung geschlossen. [ ) Aber auch Unterlassungen stellen Verhaltensweisen dar. Zum Beispiel ist eine Unterlassung gegeben, wenn man sich still ,verhält'. Dieses Verhalten wird unterlassen, indem man eine Handlung vornimmt, also aktiv wird, zum Beispiel ein Gespräch beginnt. ... Das Nemo-tentur-Prinzip kann somit nur grundsätzlich, aber nicht ausschließlich ein Recht auf Passivität sein."I97
Indes führt dieser Einwand nicht zwingend zur Notwendigkeit, grundsätzlich auch aktives Handeln unter Nemo tenetur zu subsumieren; er suggeriert, daß die angesprochenen Verhaltensweisen - Entfernen vom Unfallort, Spurenbeseitigung etc. - sich allein deshalb strafschärfend auswirken können, weil sie nicht unter den Nemo-tenetur-Schutz fallen. Damit wird aber die Möglichkeit verkannt, daß zur Privilegierung aktiven selbstbegünstigenden Nachtatverhaltens ein anderes Verfassungsprinzip - möglicherweise die in der Problemstellung bereits erwähnte "Verteidigungsfreiheit" - bereitsteht, sO' daß diese Handlungen gar nicht der Wirkung von Nemo tenetur bedürfen. Aus diesem Grund soll der Einwand hier noch nicht weiterverfolgt werden, wenn es auch fremd anmutet, daß ggf. zwei Rechtsgrundsätze zur Implementierung ein und derselben Ratio herangezogen werden müssen, je nachdem, ob es gilt, ein Handeln oder ein Unterlassen zu bewerten. Als prominenter Bezugspunkt für das hier aufgetauchte Bedenken kann der die Verfassung einleitende Grundrechte-Katalog herangezogen werden: Nicht nur die in ihm ausdrücklich aufgeführten Handlungen, sondern auch die entsprechenden Unterlassungen sind vom Schutz des Grundgesetzes erfaßt. Die »klassischen« Grundrechte schützen nicht »lediglich« ein Handeln, sondern die Freiheit der Entscheidung: Und das Ergebnis eines inneren Entscheidungsprozesses kann eben zu einem Handeln anregen - oder ein Unterlassen bewirken: So darf man sich z. B. unter dem Schutz des Art. 9 GG in Vereinen, Gesellschaften etc. vereinigen, muß dies aber nicht (sog. "negative Vereinigungsfreiheit" 198). Das Recht auf eine gewisse HojJmann, Selbstbegünstigung, S. 60. Kühne, Strafprozessuale Beweisverbote, S. 54/55. 197 Hartmann-Hilter; Warten am Unfallort, S. 17. 198 Klein, in: S-B / K, Art. 9, Rn. 3. 195
196
B. Die Freiheit vom Zwang zur Selbstbelastung
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Handlung gewinnt erst durch die Möglichkeit, die Handlung zu unterlassen, seine Bedeutung. l99 - Dort, wo ein Unterlassen jedoch nicht erwünscht ist, kommt auch dies im Grundgesetz deutlich zum Ausdruck - was als Ausnahme die gerade gefundene Regel bestätigt: So fungiert z. B. gern. Art. 6 Abs. 2 S. 2, Abs. 3 GG der Staat gleichsam als »Ersatzerziehungsberechtigter«, falls die Eltern die ihnen obliegende Pflege und Erziehung ihrer Kinder unterlassen.
e) *Der Beschuldigte als Beweismittel Ein letzter Einwand: Die Formulierung Rogalls, der Beschuldigte dürfe nicht zum Beweismittel gegen sich selbst gemacht werden, ist insofern mißverständlich, als er sehr wohl als Augenscheinsobjekt in die Beweiserhebung miteinbezogen werden kann,2°O was im übrigen, wie Reiss formuliert, ,,noch nie unter dem Gesichtspunkt von nemo ·tenetur bestritten,,201 worden ist. Der Beschuldigte ist mithin ein Beweismittel Lw.S., denn alle Vorgänge in der Hauptverhandlung dienen dem Gericht als Erkenntnisquelle; so findet auch der Eindruck, den der Angeklagte durch Mimik, Gestik und überhaupt sein gesamtes Verhalten auf die Richter gemacht hat,202 als Teil des Inbegriffs der Hauptverhandlung Eingang in die Beweiswürdigung gern. § 261 StPO,203 was freilich auch Rogale04 konzediert.
3. Erstes Zwischen/azit • Der traditionelle Rechtsgrundsatz des Nemo tenetur se ipsum prodere ist in der deutschen Rechtsordnung zwar nicht ausdrücklich normiert, ihm kommt gleichwohl Verfassungsrang zu, weil er angesichts seiner Ratio, wider eine Selbstbelastungspflicht zu streiten - womit er dem natürlichen Trieb des Menschen, negative Einflüsse von sich fernzuhalten, Rechnung trägt -, letztlich auf das in Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 79 Abs. 3 GG niedergelegte Menschenwürdeprimat zurückgeführt werden kann. Im Gegensatz dazu sieht Rogall den Nemo-tenetur-Satz im allgemeinen Persönlichkeitsrecht des Art. 2 Abs. 1 GG verankert, wobei auch er dieses Ergebnis mit einem Hinweis auf die Menschenwürdeidee stützt. • Für die hier vorgeschlagene Verankerung des Nemo-tenetur-Satzes ist ein Rückgriff auf die "Objektformel" nicht notwendig. Der Hinweis darauf, daß es gerade Ausdruck der Menschenwürde sei, vom einzelnen zu verlangen, für sein Fehlverhalten einzustehen, geht insoweit fehl, als Nemo tenetur nicht die Strafe seIber in Frage stellt, sondern das Vorgehen zur Ermittlung dieser Strafe beeinflußt. • Einfachgesetzliche Auswirkung der Nemo-tenetur-Idee ist das strafprozessuale Schweigerecht des Beschuldigten; darüber hinaus schützt Nemo tenetur den 199 Vgl. Pieroth/Schlink, Grundrechte, § 20115 (S. 197 bei Rn. 800). Vgl. Gollwitzer; in: LlR, § 244, Rn. 325, 328; Peters, Strafprozeß, § 28 III 2 (S. 203). 201 Reiß, Besteuerungsverfahren, S. 175. 202 Siehe Günther; in: GA 1978, S. 196 (193) m. w. N. in Fn. 27. 203 Vgl. Gollwitzer; in: LlR, § 261, Rn. 3. 204 Rogall, Der Beschuldigte, S. 33 (ebenfalls m. w. N.). 200
I. Teil: Schuldstrafrecht, Strafzumessung und Nemo tenetur
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Beschuldigten jedenfalls vor einem Zwang zur aktiven Mithilfe an der eigenen Strafverfolgung. • Aus zweierlei Gründen vermag die von Rogall vertretene traditionelle Begrenzung des Schutzbereichs von Nemo tenetur auf Passivität nicht zu überzeugen: Zum einen können fraglos auch Unterlassungen spezifischer Handlungen auf eine Eigen-Überführung hinauslaufen. Zum anderen erstaunt, daß im Nemotenetur-Kontext eine ansonsten dem deutschen (Straf-)Recht fremde Kategorie den Ausschlag über Eingreifen oder Nichteingreifen eines Verfassungsrechtssatzes geben soll: die äußere Verhaltensweise. Speziell auf das Strafrecht bezogen widerspricht diese Kategorisierung dem - in § 13 StGB zum Ausdruck kommenden - Primat des Rechtsgüterschutzes bzw. dem Primat der Frage nach dem sozialethischen (Un-) Wert des konkreten menschlichen Verhaltens.
11. Schneider: Grund und Grenzen des Selbstbegünstigungsprivilegs 1. Die Thesen
a) Nemo tenetur als Justizgrundrecht Für Schneider ist der Nemo-tenetur-Satz "Ausfluß althergebrachter rechtsstaatlicher Überzeugungen,,2os. Indes wendet sich Schneider gegen eine Überfrachtung der Nemo-tenetur-Idee mit ,,Menschenwürdeballast,,206 und begründet diese Ablehnung vor allem mit dem Hinweis, daß es wahrscheinlich nie eine konsensfabige Definition des Menschenwürdebegriffs geben wird. Indem er - wie Rogall - davon ausgeht, daß Nemo tenetur lediglich ein Recht zur Passivität gewährt,207 läßt sich Schneider auf der Suche nach dessen verfassungsrechtlicher Verortung von der Geschichte der Rezeption des Prinzips im deutschen Strafrecht leiten 208 und entdeckt "thematische Verbindungslinien zu den allseits anerkannten rechtsstaatlichen Unterprinzipien der Unschuldsvermutung bzw. zum Grundsatz der Verfahrensfaimess,,209. Diese "materiell-strukturellen Parallele[n],,210 führen ihn zu Art. 20 Abs. 3 GG als Sedes materiae. Die durch Nemo tenetur ausgedrückte "Garantie der negativen Mitwirkungsfreiheit,,211 erhält so den "Charakter eines Justizgrundrechts,,212, was zugleich die Frage nach einer mittelbaren Drittwirkung des Selbstbegünstigungsprivilegs erübrigt, "da sich das Recht des Beschuldigten zur Pas205 206 207 208
209 210
211 212
Schneider. Grund und Grenzen, S. 40. Ders., a. a. 0., S. 52. Ders., a. a. 0., S. 28. Ders., a. a. 0., S. 40. Ders., a. a. 0., S. 41. Ders., a. a. 0., S. 42. Ders., a. a. 0., S. 29. Ders., a. a. 0., S. 38.
B. Die Freiheit vom Zwang zur Selbstbelastung
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sivität als klassisch-liberales, anti-etatistisches Abwehrrecht naturgemäß nur gegenüber dem Staat aktualisiert, ohne darüber hinausgehende Wirkungen zu zeitigen.,,213 Infolge der Zugehörigkeit des Nemo-tenetur-Satzes zum Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG hat das Selbstbegünstigungsprivileg am Schutz der sog. ,,Ewigkeitsgarantie,,214 des Art. 79 Abs. 3 GG teil. 215 . So definiert gleicht der Nemo-tenetur-Satz tatsächlich den sog. ,)ustizgrundrechten,,216; auch sie sind letztlich auf das Rechtsstaatsprinzip zurückzuführen,217 auch bei ihnen ist eine mittelbare Drittwirkung gar nicht erst denkbar: Ansprüche wie z. B. der auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) oder den "gesetzlichen Richter" (Art. 101 Abs. 2 Satz 2 GG) sind ebenso naturgemäß auf das Verhältnis zwischen Bürger und Staat begrenzt. wie Schneider dies für Nemo tenetur (in der oben zitierten Umschreibung) feststellt.
b) Nemo tenetur als Recht auf Passivität Schneider mag sich indes nicht vorschnell mit der Begrenzung des Nemo-tenetur-Satzes zufrieden geben und zieht daher die Möglichkeit in Betracht, das Prinzip "als globales Abwehrrecht,,218 zu begreifen, welches grundsätzlich auch Aktivität schützen könnte. Er wählt dafür jedoch den indirekten Weg, indem er die entsprechenden Vorschläge von Kühne 219 und Reiß220 einer kritischen Würdigung unterzieht. Schneider verwirft deren vorgebrachte Argumente, führt dabei allerdings wie er selber eingesteht - "ergebnisorientierte[ ] Einwände,,221 ins Feld: Eine Ausweitung des Nemo-tenetur-Schutzes auf aktives Verhalten würde seiner Meinung nach - mehr noch als der Zumutbarkeitsansatz von Rogall - zu einer nicht hinnehmbaren Rechtsunsicherheit führen und dem in Frage stehenden Grundsatz eine "normunterminierende Tendenz,,222 verleihen. Schneider zieht daraus den Schluß, daß die Idee, den Nemo-tenetur-Satz für Aktivität zu öffnen, abzulehnen sei. Mithin bleibt es für ihn dabei, daß Nemo tenetur eine "bestimmte, am Schweigen ausgerichtete Verteidigungsstrategie,,223 gewährleistet.
213 Ders., a. a. 0., S. 42. 214 So u. a. Dellmann. in: S/H, Art. 79, Rn. 3. m Schneider, a. a. 0 .• S. 40-42. 216 Vgl. dazu Dreier, in: Dreier. Vorb. C III 3 c (S. 72 bei Rn. 66). 217 So Schmidt-Aßmann. in: M/D. Art. 103 Abs. I, Rn. 5. 218 Schneider, Grund und Grenzen. S. 31. 219 Kühne. Strafprozessuale Beweisverbote, S. 53-55; siehe schon das Zitat oben I 2 d (im 1. Ergänzungstext). 220 Reiß. Besteuerungsverfahren, S. 177 - 180; dazu ausführlicher unten IV 2. 221 Schneider, Grund und Grenzen. S. 33. 222 Ders., a. a. O. 223 Ders., a. a. 0., S. 360.
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1. Teil: Schuldstrafrecht, Strafzumessung und Nemo tenetur
c) Privilegierung ..illegitimer" Selbstbegünstigung als ,.Rechtswohltat" Auch Schneider anerkennt freilich die ..psychologische[ ] Gesetzmäßigkeit des Selbsterhaltungstriebes,,224. Da er aber das Selbstbegünstigungsstreben als ..an sich illegitim[ ],,225 einstuft, was er e contrario aus dem legitimen Strafrechts schutz schließt, ist es für ihn ..eine primär normativ zu beantwortende Frage, ob die Rechtsordnung [das Selbstbegünstigungsinteresse des einzelnen] rezipiert und in rechtlich anerkannte Positionen umsetzt. ,,226 De lege lata seien einfachgesetzliche Bewertungen zu erkennen, die sich aus individual-psychologischen und generalpräventiv-kriminalpolitischen Faktoren ergäben, mithin nicht primär verfassungsrechtlich determiniert seien. 227 In der Detailanalyse siebt Schneider dementsprechend von grob bis fein alle Verhaltensweisen aus, die nicht privilegiert werden könnten: Auf der ersten Stufe blieben diejenigen selbstbegünstigenden Handlungen hängen, die ein Individualrechtsgut verletzten. Private verfügten über keine (bzw. nur ungenügende) Selbstschutzmöglichkeiten;228 sie seien arglos den Angriffen des Taters ausgeliefert. Zudem würde eine wie auch immer ausgestaltete Privilegierung der Selbstbegünstigung gegenüber den privaten Interessen Unbeteiligter zu Rechtsunsicherheiten führen. Schneider verweist darüberhinaus auf den Veranlassungsgedanken: Der Tater habe die Konsequenzen seiner Handlungen selber zu tragen, eine Aufweichung des Schutzes der Rechtsgüter Dritter würde aus deren Sicht ein ..Sonderopfer,,229 bedeuten. Ein solches lehnt Schneider mit Hinweis darauf ab, daß das Bestreben nach Sanktionsvereitelung ..ausnahmslos illegitim,,230 sei. Auf der zweiten Stufe scheidet Schneider Delikte mit gesellschaftlicher Schutzrichtung aus - als Beispiel nennt er die Urkundsdelikte; sie bewirkten letztlich nur eine generalisierende Vervielfaltigung des Individualschutzes. 231 Demzufolge sei einzig der Bereich der originären Rechtspflegedelikte einer Privilegierung zugänglich. Die gerade zitierte Prämisse, der zufolge die Entscheidung zwischen Privilegierung oder Pönalisierung selbstbegünstigenden Verhaltens von generalpräventiven Selbstschutzerwägungen abhänge, setzt er als dritten Filter ein und kommt so - geleitet von der (zusätzlichen) Prämisse, daß die Freiräume insoweit möglichst eng und überschaubar gehalten werden sollten232 - zu folgendem Ergebnis: Nur 224 22S 226 227 228 229
230 231 232
Ders., a. Ders., a. Ders., a. Ders., a. Ders., a. Ders., a. Ders., a. Ders., a. Ders., a.
a. 0., S. 48. a. 0., S. 17. a. 0., S. 48. a. 0., S. 372-385. a. 0., S. 375. a. 0., S. 376. a. 0., S. 377. a. 0., S. 378. a. 0., S. 381.
B. Die Freiheit vom Zwang zur Selbstbelastung
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dort, wo der Rechtsgemeinschaft genügende "Selbstschutz- und Kompensationsmöglichkeiten,,233 gegenüber einem selbstbegünstigenden Verhalten des einzelnen zur Verfügung stünden, könne sie getrost der subjektiven Zwangslage des Täters entgegenkommen. Diese Voraussetzung sieht er in zwei Basissituationen als gegeben an, die er gesondert untersucht:
d) ,,Basishandlungen" Flucht und Lüge: »Kompensationstheorie« Die "Rechtswohltat,,234 der Straflosigkeit der Selbstbegünstigunghandlungen Flucht und Lüge könne sich nach Schneiders Ansicht der Staat getrost leisten, da ihm "hinreichend effektive Kompensationsmittel'.235 zur Verfügung stünden. Beide Privilegierungen erklärt Schneider zusätzlich mit einem ,.zusammentreffen generalpräventiver Kompensationstechniken, sozialpsychologischer Betrachtungen und liberal-humaner Maximen,,236. Die Lüge des Beschuldigten 237 sei dem Staat manchmal sogar willkommen, namentlich dann, wenn sie einen Anknüpfungspunkt dafür biete, den leugnenden Beschuldigten in Widersprüche zu verwickeln und letztlich zu überführen. 238 Zudem lasse sich "eine allgemeine Haltung der Nachsicht gegenüber verbaler List im Vergleich zu massiveren Angriffsarten non-verbaler Art feststellen.,,239 Hinsichtlich der Fluchtproblematik differenziert Schneider: Die Gefangenenselbstbefreiung begegne "durch die permanente Kontrolle besonders effektiven Kompensationsstrategien,,240. Die Straflosigkeit der Flucht muß Schneider freilich angesichts der Tatsache, daß sie in der Regel die Strafverfolgungstätigkeit "zum Teil nachhaltig" erschwert und eben "nicht sofort kompensiert werden" kann, anders begründen: "Bedenkt man, daß die Bürger die Straflosigkeit der Selbstschutzmaßnahme ,Flucht' praktisch durchgängig internalisiert haben und als minimalen Normalfall selbstbegünstigenenden Verhaltens begreifen, steht nicht zu erwarten, daß ein Fluchtverbot zu einer schnellen und wirksamen Umorientierung eingeschliffener Verhaltensmuster führen könnte. Vielmehr würde eine entsprechende Verbotsnorm permanent übertreten, wodurch die Glaubwürdigkeit der Strafrechtsordnung und der Prozeß der Norminternalisierung insgesamt Schaden nehmen müßten.,,241 233 234
23S 236
237 238 239 240
241
Ders., a. a. 0., S. 383. Ders., a. a. 0., S. 383. Ders., a. a. O. Ders., a. a. 0., S. 386. Siehe zu deren Straflosigkeit §§ 153-163 StGB. Ders., a. a. 0., S. 383/384. Ders., a. a. 0., S. 385. Ders., a. a. 0., S. 386 - wie auch die beiden folgenden wörtlichen Zitate. Ders., a. a. 0., S. 387.
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1. Teil: Schuldstrafrecht. Strafzumessung und Nemo tenetur
Allerdings ist nach Schneiders Ansicht der strafrechtliche Universalrechtsgüterschutz jederzeit reaktivierbar; daß der Staat dennoch auf diesen Schutz verzichtet. gehe solange an. als dadurch die Leistungsfähigkeit der Strafverfolgungsorgane nicht nachhaltig beeinträchtigt werde. Maßgeblich sei insoweit eine ..gesamtgesellschaftliche Effekti vitätsprüfung,,242.
2. Stellungnahme a) Zur verfassungsrechtlichen Verortung Da Schneider wie zuvor schon Rogall eine Verankerung des Selbstbegünstigungsprivilegs in Art. 1 Abs. 1 GG ablehnt und hierbei die schon bekannten Argumente vorbringt, kann diesbezüglich auf die Stellungnahme zu Rogall (oben I 2 b) verwiesen werden. Auch offensichtliche thematische Parallelen der Nemo-teneturIdee zum Rechtsstaatsprinzip stehen einer Verortung des Selbstbegünstigungsprivilegs im Gebot der Achtung der Menschenwürde nicht zwingend entgegen, kann man doch letztlich auch den Rechtsstaatsgedanken auf die Idee des Art. 1 Abs. 1 GG zurückführen. 243 Ist man daher zu der Auffassung gelangt, daß Nemo tenetur in Art. 20 Abs. 3 GG wurzele,244 bleibt die Frage, ob das Privileg einen Bestandteil des Menschenwürdekerns dieser zentralen Verfassungsvorschrift darstellt. Zumindest dies muß man aber vor dem Hintergrund des aus Art. 1 Abs. 1 GG folgenden Gebots, daß sich das Recht zu orientieren habe am Menschen, wie er ist, konzedieren. Außerdem steht und fällt die von Schneider geknüpfte Argumentationskette mit der Begrenzung des Schutzbereichs der Nemo-tenetur-Idee auf (abwartende) Passivität,245 die bereits oben I 2 d nicht zu überzeugen vermocht hat.
b) Zur Kategorisierung in Aktivität / Passivität Schneiders Argument, daß eine Öffnung der Nemo-tenetur-Idee für selbstbegünstigende Aktivitäten zu Rechtsunsicherheiten führen würde, kann in dieser Pauschalität nicht überzeugen: Strafrecht ist Rechtsgüterschutz (oben A I 3). Strafrechtliche Überlegungen setzen mithin ein, wenn ein konkretes Rechtgut verletzt worden ist oder seine VerletDers., a. a. 0 .• S. 375. Siehe nur Maihofer. Die Würde des Menschen. S. 57-61; vgI. dazu auch Sachs (in: Sachs, Art. 20, Rn. 49 und 52 (m. w. N. in Fn. 109, 119», Schmidt-Aßmann (in: HStR I. § 24, Rn. 30) und Sax (in: KMR, EinI. 11, Rn. 13). 244 Was eine im Vordringen befindliche Auffassung ist. siehe Jahn, in: StV 1998, S. 654 (653). 245 Auch Neumann (in: GA, Bd. 140 (1981). S. 286 (284» bedauert, daß sich Schneider "durch die Beschränkung auf einen restriktiv interpretierten nemo-tenetur-Grundsatz" der Chance begeben habe. eine neue. normative Begründung für das Prinzip zu finden. 242 243
B. Die Freiheit vom Zwang zur Selbstbelastung
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zung jedenfalls unmittelbar bevorsteht (vgl. §§ 22, 23 StGB).246 Ist keine Handlung ersichtlich, die kausal den Verletzungserfolg herbeigeführt hat, stellt sich in einem zweiten Schritt die Frage, ob das Unterlassen eines am fraglichen Vorgang Beteiligten ursächlich 247 für die Verletzung geworden ist (bzw. im Falle des Versuchs geworden wäre). Oben (A I 3) ist bereits festgestellt worden, daß in strafrechtlichen Normen für einen bestimmten Verhaltenserfolg (Rechtsgutsverletzung) eine Strafe angedroht wird. Damit steht der Gesetzgeber aber vor einem sprachlichen Problem, denn für die Beschreibung einer Rechtsgutsverletzung stehen eben zwei Verhaltensmodi zur Verfügung: aktives Tun und passives Unterlassen. Das unter Schutz zu stellende Rechtsgut kann (in den meisten Fällen) durch beide gleichermaßen verletzt bzw. gefährdet werden. Aus Gründen der sprachlichen Prägnanz und Griffigkeit orientiert sich der Gesetzgeber bei der Formulierung des gesetzlichen Tatbestandes am Regelfall der Rechtsgutsverletzung, also am Handeln. 248 Sprachlich erfaßt eine Strafrechtsnorm daher immer nur eine Verhaltensweise; das Rechtsgut ist deshalb aber nicht nur »von dieser einen Seite her« geschützt: § 13 StGB stellt dies für die sprachlich als Tätigkeits- bzw. Erfolgsdelikte 249 gefaßten Vorschriften klar. Indes können auch beide Regelungsformen in einer Norm auftreten - wie dies z. B. beim Hausfriedensbruch gern. § 123 Abs. I StGB der Fall ist: In ihrer ersten Alternative wird die Verletzung des Rechtsguts aktivisch (eindringen) umschrieben, in der zweiten passivisch (verweilen, sich nicht entfernen); damit ist die Vorschrift in ihrer ersten Alternative ein Erfolgsdelikt, in ihrer zweiten ein echtes Unteriassungsdelikt;2S0 gleichwohl schützt sie in beiden Varianten dasselbe Rechtsgut. 2S1
Freilich müssen bei Unterlassungs-»Taten« die Umstände, unter denen eine Strafbarkeit angenommen werden kann, im wahrsten Sinn des Wortes »definiert« werden, ist doch das Unterlassen im Hinblick auf fremde Rechtsgüter die übliche Verhaltensweise,252 worauf schon Feuerbach - "die ursprüngliche Verbindlichkeit des Bürgers [geht] nur auf Unterlassungen,,253 - hingewiesen hat. Diese Aufgabe 246 Die Nichtanzeige geplanter Straftaten bildet hierzu keine Ausnahme, was eramer (in: Sch I Sch, § 138, Rn. I - 2, m. w. N.) nachweist: Auch hierbei geht es um den Schutz der in der Vorschrift genannten Rechtsgüter. 247 Zur "Quasi-Kausalität" bei den Unterlassungsdelikten siehe nur Lenckner, in: SchI Sch, Vorbem §§ 13 ff., Rn. 73 (ff.). 248 Siehe Mitsch, in: Baumann I Weber I Mitsch, Strafrecht AT, § 15 I (S. 248/249 bei Rn. 1-3). 249 Zu den Begriffen anschaulich Beulke, in: Wesseis I Beulke, Strafrecht AT, § 1 11 2 a, b (S. 7 bei Rn. 21-24). 250 Tröndle, § 123, Rn. 12. 251 Dazu gewohnt prägnant Tröndle, § 123, Rn. I; differenzierter Rudolphi, in: SK, § 123, Rn. 1-7. 252 Siehe Arzt, in: JA 1980, S. 553 (in Beispiel 2). 253 Feuerbach, Lehrbuch des Peinlichen Rechts, S. 24.
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1. Teil: Schuldstrafrecht, Strafzumessung und Nemo tenetur
der Begrenzung der Unterlassens-Strafbarkeit erfüllt § 13 StGB, der somit denknotwendigerweise einen verhaltensunabhängigen Rechtsgüterschutz voraussetzt und zugleich (qua Entsprechungsformel) bestätigt, daß ein Unterlassen einem Handeln hinsichtlich des sozialethischen Unwerts gleichkommen kann. 254 Für den Fall, daß die Idee des Nemo tenetur se ipsum prodere grundsätzlich auch auf Aktivität angewendet wird, müßte eine enge Grenzziehung dessen, was noch ohne gesellschaftlichen Vorwurf »durchgeht«, vorgenommen werden. Es würde sich dann das Problem des § 13 StGB gleichsam »reziprok« stellen: Während dort aus dem weiten Feld der möglichen Unterlassungen diejenigen herausgefiltert werden, an die ein strafrechtlicher Vorwurf knüpfen muß, sind bei einem auch Aktivität erfassenden Nemo-tenetur-Prinzip innnerhalb des weiten Feldes möglicher selbstbegünstigender Nachtathandlungen diejenigen zu definieren, derentwegen dem Täter kein (zusätzlicher) Vorwurf (vgl. oben A IV 2 a) gemacht werden kann. Gelingt aber diese Definition, so führt die Ausweitung des Nemotenetur-Schutzes ebensowenig zu Rechtsunsicherheiten, wie solche hinsichtlich der Unterlassungsdelikte reklamiert werden.
c) Zur Unschuldsvermutung Indem Schneider ausdrücklich auf die "thematischen Verbindungslinien,,255 von Nemo tenetur zur Unschuldsvermutung abstellt, folgt er zumindest ein Stück weit der - vor allem früher vertretenen 256 - Auffassung, das Verbot des Zwanges zur Selbstbezichtigung sei Ausfluß dieses Grundsatzes,257 der zwar in der StPO nicht ausdrücklich niedergelegt ist, jedoch einen ,,Leitgedanken,,258 des Strafprozesses darstellt. Während ihn z. B. das BVerfG259 aus dem in Art. 20 Abs. 3 GG verankerten Rechtsstaatsprinzip herleitet, suchen andere 260 seine Begründung im Menschenwürdeprimat des Art. lAbs. 1 GG.261 Tatsächlich legen diese Vorschläge 254 Einer der wenigen, die diese Selbstverständlichkeit ausdrücklich erwähnen, ist Busch. in: v.Weber-FS, S. 194 (192). m Schneider, Grund und Grenzen, S. 41. 256 Siehe die Zitate im folgenden Ergänzungstext. 2S7 Jüngst führt Lorenz (in: JZ 1992, S. 1006 (1000)) wieder die Unschuldsvermutung als einen den Nemo-tenetur-Satz mitbestimmenden "Aspekt[ ]" an; die beiden Prinzipien bringen ebenfalls in Verbindung Dingeldey (in: JA 1984, S. 409 (407)) und Eser (in: Beiheft zur ZStW, Bd. 86 (1974), S. 139 (136)). 258 So der BGH, in: St, Bd. 14, S. 264 (258). 259 Z. B. BVerfG, in E, Bd. 19, S. 347 (342). 260 Z. B. Sax, in: KMR, Ein!. 11, Rn. 13, sowie in: BeUermann 1Nipperdey 1Scheuner, Grundrechte III 12, S. 987/988 (907); wohl auch der BGH, a. a. O. 261 Jedenfalls muß nicht auf Art. 6 Abs. 2 EMRK, die kraft Gesetzes vom 7. 8. 1952 (BGB!. 11, S. 686-670) Bestandteil des innerdeutschen einfachen (siehe Peters, Strafprozeß, § 4 11 (S. 30); Dürig, in: M/D, Art. lAbs. 11, Rn. 59 m. w. N.) Rechts geworden und laut Bekanntmachung vom 15. 12. 1953 (BGB\. n ( 1954), S. 14) am 3. 11. 1953 in Kraft getreten
B. Die Freiheit vom Zwang zur Selbstbelastung
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hinsichtlich der verfassungsrechtlichen Verortung der Unschuldsvermutung. die denen zur Verortung des Nemo-tenetur-Satzes entsprechen. den Schluß nahe. dieser Grundsatz resultiere aus jenem. So argumentiert Friedrich Gottfried Leue schon im Jahr 1840: ..Allen Versuchen. den Verdächtigen zum Bekenntnis zu bringen. liegt immer die Voraussetzung zum Grunde. daß er schuldig sei.! J Setzte man seine Unschuld voraus (wie [der Untersuchungsprozeß] es verlangt). so würde man ihn wohl zur Erklärung. aber nicht zum Bekenntnis auffordern und seine Vertheidigung auf jede Weise begünstigen. Setzte man aber gar nichts über seine Schuld oder Unschuld voraus (wie es eigentlich sein sollte). so würde wenigstens das Andringen zum Bekennen wegfallen und er bliebe frei. wie er sich erklären und vertheidigen wolle.,,262 Und Kohlrausch stellt 1925 fest: .,Der einer Straftat Verdächtige ist zu keiner positiven Mitwirkung an dem gegen ihn eingeleiteten Verfahren verpflichtet. Es ist Sache des Staates. die Beweise gegen ihn zu sammeln ... Der Beschuldigte darf sich völlig passiv verhalten. Die unlogische Annahme. er habe. falls schuldig. die .Pflicht' zu gestehen •... ist mit dem Übergang zum Anklageprozeß aufgegeben. ,,263 Arndt kann sich 1966 immerhin schon auf Art. 6 Abs. 2 der Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK)264 berufen: ..Nach dieser Vorschrift gilt jedermann bis zu seiner rechtskräftigen Verurteilung als schuldlos. Diese gesetzliche Vermutung schützt den Angeklagten davor. seinem eigenen Wi1\en zuwider zum Beweismittel gegen sich selber gemacht zu werden. Denn die gesetzliche Vermutung der Schuldlosigkeit würde gegenstandslos. dürfte der Angeklagte gezwungen werden. selbst an der gegen ihn gerichteten Strafverfolgung mitzuwirken und sich der entgegengesetzten Vermutung seiner Schuld ausgesetzt sehen. falls er sich nicht verteidigt. ,,2M Und 1980 schreibt Ingo Müller: ..Unabhängig von der Prozeßkonstruktion folgt aus der Unschuldsvermutung das Recht des Angeklagten. zu den gegen ihn erhobenen Vorwürfen zu schweigen (§ 243 Abs. 4 StPO).,,266
Um diese These verifizieren zu können. muß zunächst Klarheit bezüglich der Ratio der Unschuldsvermutung geschaffen werden:
In der »klassischen« Prozeßsituation ist die Rollenverteilung dergestalt. daß der eine etwas behauptet. was der andere bestreitet. Auch für den Fall. daß keine Seite einen Beweis für die Richtigkeit ihrer Position erbringen kann. daß es also. mit anderen Worten. beim bloßen Behaupten einerseits und beim Bestreiten andererseits bleibt. muß das Verfahren mit einer eindeutigen Entscheidung beendet werden. Ruft man sich in Erinnerung. daß es die Aufgabe des Rechts - und damit ist. zurückgegriffen werden; so wohl auch Rogall (Der Beschuldigte. S. 109-112). der er an keiner Stelle über die Geltung der Menschenrechtsartikel im deutschen Recht und über deren Rang räsoniert. 262 Leue. Anklageprozeß. S. 128/129. 263 Kohlrausch. in: JW 1925. S. 1441 (1440). 264 Vgl. dazu Fn. 261. 2M Arm/I. in: NJW 1966. S. 870 (869). 266 Müller; Rechtsstaat und Strafverfahren. S. 63. 5 Tnrka
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1. Teil: Schuldstrafrecht, Strafzumessung und Nemo tenetur
auch der rechtsprechenden Gerichte - ist, ein gedeihliches, da friedliches Zusammenleben der Menschen zu ermöglichen (oben All), mithin Rechtsfrieden aufrechtzuerhalten bzw. (wieder-)herzustellen, muß für den mit der Behauptung »Angegriffenen« eine Art »Vermutung« der Richtigkeit seiner Position des Abstreitens gelten; andernfalls könnten Behauptungen, die gleichsam »ins Blaue hinein« erhoben worden sind, zum Erfolg führen, was dem Rechtsfrieden zweifellos abträglich wäre. Die »Vermutung« zugunsten des »Angegriffenen« überwindet der »Angreifer«, indem er seine Behauptungen beweist. Damit ist ein Grundprinzip gefunden, der alle auf wirklichen und dauerhaften Rechtsfrieden abzielenden Verfahrensordnungen folgen: Die »Beweislast«267 liegt jeweils bei dem, der etwas für sich (i.w.S.) »Positives« behauptet. - Überträgt man diese abstrakte Erkenntnis auf den Strafprozeß, so spielt hierbei die Rolle des Behauptenden der Staat, dessen zuständige Behörde mit Einreichung der Anklageschrift (vgl. § 174 Abs. 1 StPO) dem Beschuldigten (vgl. § 157 StPO) eine Tat zur Last legt (§ 200 Abs. 1 S. 1 StPO). Folglich trifft den Staat auch die »Beweis last«. Im Strafverfahren geht es um die Feststellung der persönlichen Verantwortlichkeit des Beschuldigten für eine Straftat, also mit anderen Worten darum, ob er (Strafbegründungs-)Schuld auf sich geladen hat (oben A TI). Solange die Anklagebehörde dies nicht beweisen kann, streitet die O.g. »Vermutung« dafür, daß der »angegriffene«268 Beschuldigte die ihm zur Last gelegte Straftat nicht begangen hat, mithin unschuldig ist. Es folgt also nach dieser Erklärung die Unschuldsvermutung aus der rechtsstaatlich bedingten, verfahrensimmanenten »Beweislastverteilung«269 und nicht - wie zumeist 270 behauptet - umgekehrt diese aus der Unschuldsvermutung. Eine andere Frage ist es, wie das Gericht die Situation zu behandeln hat, in welcher der »Angegriffene« die Behauptung des »Angreifers« einräumt. Geht es - wie im Zivilverfahren - um die Herstellung des inter partes gestörten Rechtsfriedens, muß folgerichtig als Grundlage der zu treffenden Entscheidung der materielle Gehalt des Anerkenntnisses herangezogen werden, vg!. § 307 ZPO. Das Strafverfahren hingegen betrifft die gesamte Rechtsgemeinschaft; die Entscheidung vermag deshalb nur dann ihre befriedende Wirkung zu entfalten, wenn inter omnes der Eindruck vorherrscht, es sei der wirkliche Täter der angeklagten Straftat verurteilt worden; eine dem § 307 ZPO entsprechende Bindung des Tatrichters an das Geständnis des Angeklagten kann es daher im Strafverfahren nicht geben.
267 Schon aus dieser Herleitung geht hervor, daß hier nicht von einer "Beweislast im zivilprozessualen Sinn", auch nicht von einer "materiellen Beweislast" die Rede ist; gleichwohl sei dies hier vermittels eines Hinweises auf Schäfer (Einführung, Ein!. Kap. 13, Rn. 45 (S. 241/242», der von einer "Beweislast im übertragenen Sinn" schreibt und diese mit den heiden zuvor benannten Varianten kontrastiert, noch einmal hervorgehoben. 268 Dasselbe Bild verwendet Sax. in: KMR, Ein!. I, Rn. 10 ("dem Strafprozeß innewohnender Kampfcharakter"), und Ein!. IV, Rn. 19. 269 So im Ergebnis auch das BVerfG, das (u. a. in: E, Bd. 22, S. 265 (254) mit Bezug auf E, Bd. 19, S. 247 (242» die Unschuldsvermutung direkt aus dem Rechtsstaatsprinzip ableitet. 270 So z. B. Rogall. Der Beschuldigte. S. 110, mit Verweis auf Partsch (Rechte und Freiheiten der EMRK, S. 159) und Guradl.e (EMRK, Art. 6, Anm. 24 (S. 105».
B. Die Freiheit vom Zwang zur Selbstbelastung
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Bezeichnet man die Unschuldsvennutung als "Grundsatz.. 271 , so kann dies angesichts der soeben geführten, rechtsstaatliche Verhältnisse voraussetzenden Argumentation nur deklaratorisch gemeint sein. Ebenso ist dann freilich auch Art. 6 Abs. 2 EMRK deklaratorischen Inhalts. Auch die üblicherweise an der Unschuldsvermutung festgemachte Forderung, der zufolge sich die Ausgestaltung des Verfahrens am unschuldigen Beschuldigten zu orientieren habe,272 folgt nach der hier vertretenen Ansicht letztlich aus der verfahrensimmanenten Beweislastverteilung.
Nemo tenetur könnte dann allenfalls aus der »Beweislastverteilung« folgen?73 Daß dem nicht so ist, fällt leicht nachzuweisen, wenn man mit der herkömmlichen Auffassung voraussetzt, daß jedenfalls das Schweigerecht des Beschuldigten den Kembereich des Nemo-tenetur-Gedankens ausmacht: 274 Nach dem geführten Schuldnachweis entfiele ansonsten das durch Nemo tenetur vennittelte Schweigerecht; die Ratio des Nemo-tenetur-Satzes (Stichwort: »Selbstbegünstigungstrieb«, siehe oben I 2 b (3)) entfällt jedoch mit einer Schuldfeststellung keineswegs. Wer umgekehrt mit der wohl überwiegenden Meinung in der Unschuldsvennutung einen konstituierenden Grundsatz erkennt,275 aus der die »Beweislastverteilung« im Strafverfahren resultiert,276 kommt auf folgendem Weg zu dem gleichen Ergebnis: Erwüchse Nemo tenetur aus der Unschuldsvennutung, würde deren Wegfall zwangsläufig auch den Wegfall des Schweigerechts zur Folge haben; eine Aussagepflicht könnte zwar etabliert werden, wäre indes angesichts der dann bestehenden Schuldvennutung zuungunsten des Beschuldigten überflüssig 277 ?78 Hinzu kommt folgendes: Die Erwartung gegenüber dem Beschuldigten, an der gegen ihn gerichteten .Strafverfolgung mitzuwirken, kann nur derjenige als einen m So z. B. Bischojberger, Verfahrensgarantien der EMRK, S. 124. So etwa Rogall, Der Beschuldigte, S. 110 und 112 (m. w. N.); Krauß, in: SchaffsteinFS, S. 428 (411). 273 So wohl Weßlau, in: ZStW, Bd. 110 (1998), S. 36 (I). 274 Siehe nur Rogall, in: SK, Vor § 133, Rn. 66. Aus den älteren Schrifttum: Kohler, AcP, Bd. 60 (1913), S. 215 (213). 275 So ausdrücklich z. B. Gollwitzer (in: LlR, Art. 6 MRK, Rn. 103), der gleichzeitig die Unschuldsvermutung mit dem Schuldgrundsatz in Verbindung bringt. Jene kann indes m.E. aus diesem nicht hergeleitet werden, geht es doch dort um das Ob einer Strafe - Keine Strafe ohne Schuld! -, hier (im übertragenen Sinn) um das Wie: Wie ist zu entscheiden, wenn Zweifel (an der Schuld des Angeklagten) bleiben? Stellte man zur Beantwortung der Frage ausschließlich auf die Wichtigkeit der Durchsetzung des Strafrechts für ein friedliches Miteinander in der (Rechts-)Gemeinschaft ab, so käme man wohl zu einer Schuldvennutung, bei deren Umsetzung freilich die Autorität des (Straf-)Rechts in der gerade im Haupttext beschriebenen Weise Schaden nähme. 276 Siehe die Nachweise in Fn. 270. 277 Ebenso Rogall, Der Beschuldigte, S. 112. 278 Ähnlich Nothhelfer, Freiheit von Selbstbezichtigungszwang, S. 39-40, sowie Wolf!, Selbstbelastung und Verfahrenstrennung, S. 36-37. Nach Bosch (Aspekte, S. 93) erfährt der Nemo-tenetur-Satz durch die Unschuldsvermutung einen flankierenden Schutz; diese Formulierung beschreibt m.E. das Verhältnis beider Prinzipien zueinander am besten. 212
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I. Teil: Schuldstrafrecht, Strafzumessung und Nemo tenetur
Zwang zur Eigen-Überführung ansehen, welcher von der Schuld des Betroffenen ausgeht. Wird im Gegenteil dessen Unschuld vermutet, so muß folglich mit einer entlastenden Aussage des Beschuldigten gerechnet werden. Aus der Unschuldsvermutung ließe sich demnach sogar ein Aussagezwang (und damit das Gegenteil des von Nemo tenetur bewirkten Schweigerechts) herleiten. Dem stünde auch nicht die soeben dargestellte Beweislastverteilung entgegen: Schließlich hat gern. § 160 Abs. 2 StPO die Staatsanwaltschaft nicht nur die zur Belastung, sondern auch die zur Entlastung dienenden Umstände zu ermitteln und die entsprechenden Beweismittel herbeizuschaffen; ein solcher Umstand bzw. ein solches Beweismittel wäre, nach dem gerade Festgestellten, die Aussage des Beschuldigten. Insofern relativiert sich die von Roga1l 279 vorgetragene Auffassung, wonach aus der Unschuldsvermutung das materielle Gebot folge, die Gestaltung des gesamten Strafverfahrens am unschuldigen Beschuldigten zu orientieren und ihm deshalb nur das absolut notwendige Maß an Belastungen bzw. Eingriffen zugemutet werden dürfe: Pointiert könnte man im Gegenteil behaupten, daß die StPO hinsichtlich der Frage einer Aussagepflicht des Beschuldigten von dessen Schuld ausgehe.
Zu Recht konstatiert Schneider also sehr vorsichtig nur "thematische Verbindungslinien,,28o der Nemo-tenetur-Idee zur Unschuldsvermutung, ohne eine »Abstammung« des einen Grundsatzes aus dem anderen zu behaupten. d) Zur Kategorisierung in "legitim" /"illegitim" Die Kategorisierung von Verhaltensweisen in legitim/illegitim hilft insofern nicht weiter, als man mit Rogall genauso überzeugend die Meinung vertreten kann, daß der Schutz der Ehre und der Existenz,281 um die es ja im Strafprozeß geht, "ein völlig legitimes Anliegen,,282 sei. Zwar gilt auch dies: "Strafe und Strafverfolgung mit ihren Konsequenzen für die Rechtsgüter des Straftäters sind gewollte Folgen: diese Rechtsgüter sollen in dem jeweiligen, von einem unabhängigen Richter bestimmten Umfang gerade nicht erhalten werden' I. Die Rechtsordnung kann daher nicht positiv - unrechtsmildernd - die Verhinderung dessen werten, was sie herbeiführen will und soll: nämlich die Beeinträchtigung gewisser Rechtsgüter eines Straftäters.,,283 Indes steht die Notwendigkeit eines strafrechtlichen Rechtsgüterschutzes außer Frage (oben I 2 b (I)). Zu diskutieren bleibt, inwieweit das Recht psychologische, im Menschen angelegte Gesetzmäßigkeiten berücksichtigen muß. Nach Schneider scheint der Gesetzgeber innere Befindlichkeiten des einzelnen, der dem Streß der Strafverfolgung ausgesetzt ist, nicht berücksichtigen zu müssen. Nachweise bei Rogall, Der Beschuldigte, S. 110- 112. Schneider, Grund und Grenzen, S. 41. 28\ Siehe nur BGH, in: St, Bd. \, S. 343 (342). 282 Rogall, a. a. 0 .• S. 146. 283 Ulsenheimer, in: GA 1972. S. 24 (I); auf ihn beruft sich Schneider, a. a. 0., S. 52/ 53, wörtlich. 279
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B. Die Freiheit vom Zwang zur Selbstbelastung
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e) Zur »Kompensationstheorie« Daß Schneider bei der Frage nach einer möglichen Eingrenzung des Selbstbegünstigungsprivilegs, wie es de lege lata in der Straflosigkeit von Flucht und Lüge zum Ausdruck kommt, ausschließlich generalpräventiv-kriminalpolitische Überlegungen anstellt und eine Rücknahme des ..staatliche[n] Entgegenkommen[s],,284 für jederzeit möglich hält, widerspricht der von Schneider reklamierten Teilhabe des Selbstbegünstigungsprivilegs an der ..Ewigkeitsgarantie,,285 des Art. 79 Abs. 3 GG. (J) Effektivitätsgrundsatz; Norminternalisierungsfähigkeit
Umgekehrt überrascht das ..Entgegenkommen" vor dem Hintergrund der von Schneider postulierten Illegitimität des Selbstbegünstigungsstrebens. Schließlich hat sich das Handeln des Staates an Effektivitätsüberlegungen zu orientieren. 286 Oder - mit Schneiders Worten: Warum sollte ..die Leistungsfahigkeit staatlicher Strafverfolgung unnötig aufs Spiel gesetzt [werden]"287? Grundsätzlich gegen die Verwendung dieses Arguments im Selbstbegünstigungskontext wendet sich Bosch: ,.Effektiv ist die Strafrechtspflege nur dann, wenn das Verfahren und die Verteidigungsrechte des Betroffenen so ausgestaltet sind, daß sichergestellt ist, daß kein Unschuldiger bestraft wird und nicht unverhältnismäßig in die Rechtspositionen der Verfahrensbeteiligten eingegriffen wird. ,,288 Das Argument paßt indes nicht durchgängig: Ist ein von der Polizei eindeutig identifizierter Straftäter flüchtig, so wird dies zwar Fahndungsmaßnahmen, nicht aber die Inhaftierung eines unschuldigen Dritten zur Folge haben.
Schneider beantwortet seine Frage mit dem Hinweis auf die begrenzte Norminternalisierungsfähigkeit des einzelnen (oben 1 d). Damit stellt er im Grunde nichts anderes fest, als daß ein Gesetz seinen Adressaten nicht überfordern darf; gerade dies geschieht aber, wenn die fragliche Norm dem Wesen des Menschen zuwiderläuft. 289 Während sich Schneider dem hier angesprochenen Phänomen des »Selbstbegünstigungstriebs« gewissermaßen aus einem negativen Blickwinkel nähert - »Die Normintemalisierungsfähigkeit des Menschen ist begrenzt« -, ist oben A I 2 und B I 2 b (2) der positive Weg eingeschlagen worden - »Das Recht muß sich am Menschen orientieren, wie er ist«. Schneider; Grund und Grenzen, S. 383. Siehe Fn. 214. 286 So Zipf, Kriminalpolitik, S. 31. Auch der BGH (in: St, Bd. 42, S. 159 (153» argumentiert mit der "Pflicht des Rechtsstaates zur effektiven Strafverfolgung"; vgl. auch Beulke, Der Verteidiger, S. 88. Die Pflicht zur Effektivität der Strafverfolgung stellt im übrigen nur die Kehrseite der Tatsache dar, daß das Gewaltmonopol beim Staat liegt, worauf etwa Vogel (in: NJW 1978, S. 1218 (1217» hinweist. 287 Schneider; Grund und Grenzen, S. 381. 288 Bosch, Aspekte, S. 68. 289 Ähnlich argumentiert Rupp, in: Verhandlungen/l 46. DIT, S. 178 (167). 284 28S
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I. Teil: Schuldstrafrecht, Strafzumessung und Nemo tenetur
Auch indem Schneider sich auf das .. sozialpsychologische Klima,,29o und auf ..sozial-psychologische Gegebenheiten,,291 beruft, ist er vom hier sog. Gebot der »intrapersonalen Orientierung« des Rechts (oben B I 2 b (2)) nicht weit entfernt, folgen doch gesellschaftliche Überzeugungen letztlich aus der Grundbefindlichkeit jedes einzelnen ihrer Mitglieder. Im übrigen kann man Schneider beispielsweise die Rezeption der zum Teil neugeschaffenen 292 Umweltdelikte (§§ 324 - 330d StGB) entgegenhalten. Eingeschliffene Verhaltensmuster können de lege ferenda durchaus beeinflußt werden; die Grenze verläuft dort, wo der Mensch dem Recht nicht mehr folgen will, weil er ihm nicht folgen kann.
(2) Abwesenheit von Kriterien zur Handhabung der Theorie Schneider beschränkt sich darauf zu behaupten, daß der Rechtsgemeinschaft momentan ausreichende Abwehr- und Kompensationsmöglichkeiten zur Verfügung stünden, weshalb sie hinsichtlich der selbstbegünstigenden Basishandlungen Lüge und Flucht dem Beschuldigten entgegenkommen könne. Angesichts der Polizeistatistiken (PKS) kann man Schneiders Prämisse, wonach dem Recht de lege lata genügend Durchsetzungskraft zukommt, schon grundsätzlich in Frage steilen. So beträgt z. B. für das Berichtsjahr 1991 die Gesamtaufklärungsquote 44,1 %?93 Ist diese Zahl an sich schon nicht besonders hoch, relativiert sich der Eindruck erfolgreicher Strafverfolgung erst recht bei einem differenzierten Blick auf die Aufklärungsquoten einzelner Straftatengruppen: 294 Diebstahl unter erschwerenden Umständen - 13,6 %; Sachbeschädigung - 22,4 %; Raub - 41,2 %; Vergewaltigung - 69,1 %. Die im Vergleich dazu relativ hohe Gesamtquote kommt u. a. durch außerordentliche Aufklärungserfolge bei Rauschgiftdelikten (95,1 %) zustande, bei denen Bekanntwerden und Aufklärung in der Regel zusammenfallen 295 und daher die entsprechende Zahl nichts über die tatsächliche Kriminalitätsbelastung und das sog. Dunkelfeld (d.h. die Summe der nicht entdeckten - bzw. zwar entdeckten, aber nicht angezeigten - Straftaten 296 ) aussagt.297 Schneider versäumt es, diejenigen Kriterien zu benennen, welche ihn zu dieser Zustandsbeschreibung veranlassen und anhand derer man Veränderungen des IstZustands in der Zukunft allgemeinverbindlich feststellen könnte, um darauf gesetzgeberisch - ggf. mit dem Ziel der Rücknahme der selbstbegünstigenden "Rechtswohltaten" - zu reagieren. Zumindest wäre eine Auseinandersetzung mit der Frage vonnöten gewesen, ob für eine Gesetzesänderung die theoretisch möglichen oder 290 Schneider, Grund und Grenzen, S. 380. 291 Ders., a. a. 0., S. 381. 292 Vgl. die Übersicht bei Trändie, Vor § 324, Rn. I und la. 293 PKS (1991), S. 58. 294 A.a. 0., S. 60. 295 Siehe Kaiser, Kriminologie, § 27, I (S. 178). 296 Ders., a. a. 0., § 28, 2.2 (S. 202). 297 Worauf in der PKS (1991), S. 58, ausdrücklich hingewiesen wird.
B. Die Freiheit vom Zwang zur Selbstbelastung
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aber die praktisch vorhandenen Abwehr- und Kompensationsmöglichkeiten den Ausschlag geben sollen: Während nämlich Wissenschaft und Technik immer subtilere 298 Überführungsmöglichkeiten bereitstellen (so z. B. die Möglichkeit, aus Tatspuren einen sog. "genetischen Fingerabdruck,,299 des Taters zu gewinnen), was - denkt man Schneiders Ansatz konsequent weiter - sogar für eine Ausweitung der Selbstbegünstigungsfreiräume des Täters spräche, hemmen »chronische« Geldknappheit in den öffentlichen Haushalten und, damit einhergehend, die Überlastung der Strafverfolgungsorgane die tatsächliche Nutzung dieser Möglichkeiten; nach Schneiders Logik müßte dies zu einer Einengung der Selbstbegünstigungsprivilegien führen. Solange diese konzeptimmanente Ambivalenz bestehen bleibt und darüber hinaus die Kriterien zur praktischen Anwendung des Konzepts fehlen, können Schneiders Thesen nicht zur Erklärung der bestehenden Selbstbegünstigungsprivilegierungen herangezogen werden, ganz abgesehen davon, daß die reklamierten Unvollständigkeiten auch rechts politische Gefahren in sich bergen?OO (3) Sinn der Beschuldigteneinlassung
Schneiders flankierendem Argument hinsichtlich der Lügefreiheit des Beschuldigten muß entschieden widersprochen werden: Die Aussage des Angeklagten ist kein Beweismittel i.S. der StPO, sondern strukturell der Beweisaufnahme vorgelagert. 30 ! In rechtsdogmatischer Hinsicht kann sie daher nicht der Wahrheitsfindung dienen. Daß sie auf dem von Schneider beschriebenen Weg gelegentlich doch zur Wahrheitsfindung beiträgt,302 ist ein faktisches »Nebenprodukt« der Gesetzeslage, keinesfalls liegt darin aber deren Ratio. Aus Systematik und Wortlaut des § 243 Abs.4 S. 1 (i.V.m. § 136 Abs. 2) StPO sowie unter Berücksichtigung der flankierenden Beiehrungspflichten 303 ergibt sich vielmehr, daß die Äußerung des Beschuldigten, die - um den Gegensatz zur (Zeugen-)Aussage zu verdeutlichen - als "Einlassung" bezeichnet wird,304 seiner Verteidigung dient. 305 Vgl. zur Entwicklung der Kriminalistik etwa Thorwald. Die gnadenlos Jagd, passim. (Statt vieler. weil mit prägnanter Erklärung) Tromlle. § 81a, Rn. 36. 300 Man denke an den großen Einfluß der (Medien-)Berichterstattung auf das Rechts- bzw. Sicherheitsgefühl in der Bevölkerung. vgl. dazu etwa Bockelmann. in: NJW 1960, S. 220 (217). 301 So u. a. Fezer. in: Stree/Wessels-FS. S. 669 (663). 302 Was z. B Günther (in: JR 1978. S. 91 (89)) bestätigt. 303 Auf die in diesem Zusammenhang besonders StratelVentzke (in: StV 1986, S. 32 (30» hinweisen. 304 Deutlich wird dies z. B. anhand der entsprechenden Übersicht bei Beulke. Strafprozeßrecht. § 101 (S. 78 bei Rn. 179). 305 StratelVentzke bezeichnen dies (in: StV 1986. S. 32 (30) in Fn. 21) als "str."; dabei vermögen die vereinzelten Stimmen in der Literatur, welche die hier vertretene Auffassung nicht teilen. mangels Argumente nicht zu überzeugen; wie hier u. a. Rieß. in: JA 1980, S. 297 (293); Bosch. Aspekte, S. 146 (m. w. N. in Fn. 92). Weßlau weist (in: ZStW. Bd. 110 (1998). 298
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1. Teil: Schuldstrafrecht, Strafzumessung und Nemo tenetur
3. Exkurs: Lügeverbot - de lege ferenda verfassungsgemäß ?
Schneiders Ausführungen bezüglich der Straflosigkeit der Lüge werfen die Frage auf, ob de lege ferenda ein Lügeverbot gegenüber dem Beschuldigten eingeführt werden könnte. Davon zu unterscheiden ist die Auffassung einiger306, daß die Wahrheitspflicht de lege lata schon existiere und lediglich als lex imperfecta ausgestaltet, also nicht strafbewehrt sei.
Dabei soll die folgende, von Henkel vorgeschlagene Unterscheidung eingehalten werden: "Unsubstantiiertes Bestreiten (als bloßes ,Nein' auf die Schuldfrage) sei hier als Leugnen (im weiteren Sinn), substantiiertes Bestreiten durch objektiv und subjektiv wahrheitswidrige Darstellung als Lüge bezeichnet.,,307 a) Herkömmliche Erklärungsansätze: Parallelen zwischen Schweigen und Leugnen In Schrifttum und Rechtsprechung stößt man im wesentlichen auf drei Ansätze zur Erklärung der Straflosigkeit der Lüge: ( J) Motivatorische Parallele
Zum einen wird auf motivatorische Parallelen hingewiesen, die das Schweigen und das Leugnen bzw. Lügen aufweisen: Es gebe im Menschen den natürlichen Drang, auf die Anklage eines anderen etwas zu erwidern und nicht bloß zu schweigen,308 das Schweigen werde regelmäßig als (Schuld-)Eingeständnis gewertet. 309 Deshalb sei das reine Schweigerecht ein ,,[P]rivilegium odiosum,,3IO*. Und weil auch das schlichte Leugnen - »Ich war es nicht« - wenig Erfolg verspreche, müsse sogar das substantiierte Leugnen dem Schweigen gleichgesetzt werden. 311 S. 12 (1) in Fn. 34) auf den "eindeutigen Wortlaut" des § 136 Abs. 2 StPO hin und (a. a. 0., S. 34) darauf, daß den §§ 136 Abs. I, 136a StPO nur eine ..flankierende Funktion" zukommt. Wie hier übrigens schon Leue (Anklageprozeß, S. 130) im Jahre 1840! Vg!. aber auch Eb. Schmidt, Lehrkommentar (Nachtrag I), § 136, Er!. 12: ..Der Zweck der Vernehmung ... besteht dari,!, die wahrheitsgemäße Aufklärung eines Sachverhalts zu ermöglichen." 306 So z. B. Schleutker, Das prozessuale Verhalten, S. 128; Höra, Wahrheitspflicht, S. 81. Für eine sittliche Pflicht zur Wahrheit u. a.: Engelhard, in: ZStW, Bd. 58 (1939), S. 354 (335), sowie Peters, Strafprozeß, § 28 IV 2 (S. 207) und das BayObLG, in: MDR 1965, S. 318. Interessante Stellungnahmen zur Wahrheitspflicht des Beschuldigten im Strafprozeß aus den Jahren 1908/1909 zitiert Pfenninger, in: Rittler-FS, S. 355. 307 Henkel, Strafverfahrensrecht, § 39 IV 1 (S. 176). 308 Vg!. Schleutker (Das prozessuale Verhalten, S. 115) sowie Stree (in: JZ 1966, S. 594 (593». 309 Hoffmann, Selbstbegünstigung, S. 55; Günther, in: GA 1978, S. 202 (193). 310 Pfenninger, in: Rittler-FS, S. 368 (355). Zur Groß- und Kleinschreibung lateinischer Ausdrücke siehe in der Problemstellung Fn. 10. 311 So Hoffmann, Selbstbegünstigung, S. 55; dazu unten V 1.
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Diese Ableitung des Fehlens eines Lügeverbots bzw. einer Wahrheitspflicht aus dem Schweigerecht findet ihre Modifikation in dem Argument, wonach in praxi der Angeklagte beinahe nie schweige, also de facto dem Nemo-tenetur-Satz auch nicht annähernd die Bedeutung zukomme, die er entsprechend seiner verfassungsrechtlichen Stellung in der strafprozessualen Dogmatik einnehme. 312 Indes hilft der Hinweis auf die Motivationslage nicht weiter: Im StGB finden sich viele Vorschriften, die an eine Selbstbegünstigungsmotivation sogar eine Strafschärfung anknüpfen (§§ 211 Abs. 2 (Gruppe 3), 306b Abs. 2 Nr. 2, 315 Abs. 3 Nr. 1 Buchst. b, 315b Abs. 3 StGB). Der Ansatz der motivatorischen Ableitung aus dem Schweigerecht ersetzt mithin nur das eine Explanandum durch ein anderes. Die Existenz eines Rechts wird im übrigen nicht allein deshalb entwertet, weil nur wenige von ihm Gebrauch machen. Wie wenig hilfreich der Hinweis auf die Rechtswirklichkeit zur Herleitung einer Lügefreiheit ist, mag man auch daran erkennen, daß - der Logik der vorgebrachten Erklärung folgend - aus der verschwindend geringen Zahl von wirklich schweigenden Beschuldigten ebensogut auf die Verzichtbarkeit des Schweigerechts geschlossen werden könnte!
(2) Inhaltliche Parallele Vor allem in der Rechtsprechung wird die Straflosigkeit der Lüge inhaltlich aus dem Schweigerecht abgeleitet: "Behauptet jemand lediglich seine Unschuld, so stellt dies dem Sinn nach ein völliges Schweigen zu dem ihm gemachten Vorwurf dar.,,313 Leugnen wie Schweigen seien gleichermaßen Ausdruck für die fehlende Bereitschaft, an der Aufklärung der Tat mitzuwirken. 314 Der BGH weist (in seinem Beschl. v. 11. 5. 1989-1 StR 184/89315 ) zusätzlich darauf hin, daß dem, der nicht gestehen wolle, nur die Möglichkeit bleibe entweder zu schweigen - oder eben zu leugnen. Dogmatisch wird dies entweder direkt aus dem ,,Recht auf Verteidigung" (BGH, Beschl. v. 26. 3. 1982-2 StR 704/81 316 -, S. 3) abgeleitet oder aber indirekt, indem das Leugnen als "zulässiges Verteidigungsverhalten" (BGH, Urt. v. 16.9. 1992-2 StR 277/92317 -, S. 12) bezeichnet wird; eine strafschärfende Verwertung des Leugnens / der Lüge würde im Ergebnis darauf hinauslaufen, "vom 312
stützt.
Pfenninger, Rittler-FS, S. 368 (355), auf dessen Argumentation sich Hoffmann, a. a. 0.,
OLG Celle, in: NJW 1974, S. 202. So das OLG Hamburg, in: VRS, Bd. 50 (1976), S. 366 (mit Verweisen auf OLG Celle (siehe Fn. davor), und OLG Hamm, in: NJW 1973, S. 1708). Ebenso: Castringius, Schweigen und Leugnen, S. 67; ähnlich Hoffmann, Selbstbegünstigung, S. 55; dazu unten V 1. 315 In: BGHR StGB § 46 Abs. 2, Verteidigungsverhalten 5; siehe auch: Zweiter Teil, B III 2; Dritter Teil, B vor I. 316 In: StV 1982, S. 418; ebenso im Urt. des BGH v. 18. 10. 1979 (4 StR 517/79), in: JR 313
314
1980, S. 336 (335). 317 In: StV 1993, S. 469.
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Angeklagten zu verlangen, daß er seine Verteidigungsposition aufgibt ( ... ),,318(BGH, Urt. v. 24. 6.1985-3 StR 127/85 319 -, S. 5). Auch im Schrifttum wird häufig auf die Verteidigungsfreiheit rekurriert, um das Fehlen einer Wahrheitspflicht bzw. Lügenstrafe im StGB zu erklären. So schreibt z. B. Maurach von der "Verteidigungsfunktion des Angeklagten,mo. Schleutker behauptet sogar, daß Stillschweigen keine Verteidigung sei, "weil der Angeklagte in diesem Fall nichts zu seiner Entlastung vorbringen könne,,321. So meint auch Meyer-Goßner: ,,[W]er schweigt, verzichtet auf das Recht, sich redend zu verteidigen ( ... ). Der Beschuldigte hat keine zwei Verteidigungsmöglichkeiten ( ... ), sondern eine Aussagefreiheit ... ,,322. Die Suche nach einer Definition der "Verteidigungsfreiheit" führt nicht weiter als zu den gerade zitierten Aussagen (siehe dazu auch unten VI 2 b (2)). Indes ist evident, daß die einleitend vorgetragene Wertung (Leugnen gleich Verweigerung der Mitwirkung gleich Schweigen) die Abwesenheit einer Wahrheitspflicht bzw. das Fehlen des Lügeverbots nicht erklärt, sondern diesen Rechtszustand voraussetzt: Auch bei Vorhandensein eines Lügeverbots bzw. einer Wahrheitspflicht könnte der Tater eine der drei möglichen Reaktionen - zu gestehen, zu schweigen oder zu leugnen - wählen; im letzteren Fall würde er sich »lediglich« einem zusätzlichen Vorwurf aussetzen, mag er auch dem Sinngehalt nach als Leugnender genau dieselbe Aussage tätigen denn als Schweigender. Aus demselben Grund - mutatis mutandis - bietet der in einschlägigen Entscheidungen 323 angebrachte Hinweis auf den fehlenden Geständniszwang bzw. darauf, daß der Angeklagte nicht verpflichtet sei, bei der Aufklärung des Sachverhaltes mitzuwirken, nicht die gesuchte Erklärung.
Dem Argument, wonach sich der schweigende Angeklagte gar nicht verteidigen könne, ist entgegenzusetzen, daß niemand ernstlich behauptet, der schweigende Angeklagte bräuchte dementsprechend auch keinen Verteidiger, was verdeutlicht, daß mit dem Begriff der "Verteidgung" i.S. der StPO nicht nur gleichsam »eindimensional« das besagte Vorbringen entlastender Umstände gemeint ist - wenn es nur darum ginge, könnte man angesichts des § 160 Abs. 2 StPO womöglich gar auf den Verteidiger verzichten. "Verteidigung" i.S. der StPO bedeutet vielmehr das Geltendmachen der dem Angeklagten (bzw. seinem Prozeßvertreter324) zustehenden prozessualen Rechte und darüber hinaus die Überwachung der Justizförmigkeit des Verfahrens 325 . Zur Zitierweise siehe die Fn. 15. In: StV 1986, S. 15-16. 320 Maurach, Strafrecht AT, § 63 11 B 3 a (S. 849). Ähnlich Rüping (in: JR 1974, S. 139 (135» sowie Schäfer, Strafzumessung, S. 132 (bei Rn. 291). 321 Schleutker, Das prozessuale Verhalten, S. 115. 322 Meyer-Goßner, in: KI/ M-G, § 136, Rn. 7 (Hervorhebung nicht im Original). 323 Siehe die Nachweise im Dritten Teil (unter B I I). 324 SO Z. B. bei § 147 StPO. m Statt vieler: Peters, Strafprozeß, § 29 I (S. 212). 31R
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In diesem Zusammenhang ist der von Salditt vorgebrachte Hinweis auf die »verteidigungswirksamen« Vorteile erwähnenswert, die das Schweigen des Angeklagten in psychologischer Hinsicht mit sich bringt: "Wer schweigt, bezieht selbst keine Position, die ihn zu einem gedanklichen Kontrahenten des Gerichts macht und den Spruchkörper dialektisch dazu herausfordert, diese Position des ihm unterworfenen Angeklagten, sei es auch nur in Kleinigkeiten, zu widerlegen .... Wer schweigt, provoziert nicht. Er kann ... ein persönliches Spannungsverhältnis zum Gericht vermeiden .... [Es bietet] sich vor einem soIchen Hintergrund die Chance, die rechtens sachentscheidenden Beweisfragen konzentriert in den Mittelpunkt der Hauptverhandlung zu rücken,,326, und Richter II ergänzt: "Das Schweigen des Angeklagten hat eine Förderung der Autonomie des Zeugenbeweises, was die Verteidigung anbelangt, zur Folge. ,,327
(3) Strukturelle Parallele
Einen strukturellen Ansatz wählt Fezer328 . Unter der Überschrift "Hat der Beschuldigte ein ,Recht auf Lüge,?,,329 legt er dar, daß ein Rückgriff auf das Schweigerecht zur Erklärung der Straflosigkeit der Lüge bzw. des substantiierten Leugnens nicht nötig sei, sich dieser Rechtszustand vielmehr eigenständig begründen lasse. 33o Zu diesem Zweck richtet Fezer das Augenmerk auf die Struktur des Strafprozesses: Da das Ziel des Strafverfahrens die Wahrheitsfindung sei, müsse sich das Gericht auf wahre Beweismittel stützen können; diese müßten ihm uneingeschränkt zur Verfügung stehen, was wegen des Schweige rechts nicht für die Aussage des Beschuldigten gelte: ,,Die gerichtliche Wahrheitsfindung erfolgt mit den Beweismitteln, die die StPO zu diesem Zwecke vorsieht. Diese Beweismittel müssen, damit sie ihre Funktion erfüllen können, für die Wahrheitsfindung zur Verfügung stehen und soweit wie möglich zuverlässig sein. So ist insbesondere folgerichtig, daß der Zeuge aussage- und wahrheitspflichtig ist und daß insoweit auch eine materiell-rechtliche Absicherung der Wahrheitsfindung besteht. Dem Beschuldigten muß mit Hilfe dieser Beweismittel Täterschaft und Schuld nachgewiesen werden. Seine eigene Einlassung ist, da er schweigen darf, strukturell ohne Bedeutung, d. h. die Verfahrensordnung hat sie nicht als Mittel der Wahrheitsfindung vorgesehen."331 An anderer Stelle schreibt Fezer: "Die StPO hat darauf verzichtet, die Wahrheit mit Hilfe der Aussage des Beschuldigten zu finden. Die Aufklärungstätigkeit der Strafverfolgungsbehörden und die Wahrheitsfindung der Gerichte sind so angelegt, daß sie ohne Aussage der Beschuldigten auskommen müssen und können. Macht der Beschuldigte Angaben, dann mag dies im Einzelfall große faktische Bedeutung haben, bleibt aber ohne strukturelle Relevanz. Da Aufklärungs- und Wahrheitsfindung mit Hilfe von Beweismitteln erfolgen, ist es konsequent, die Wahrheitsfindung insoweit strafrechtlich ab326 327
m 329 330 331
Salditt, in: StV 1988, S. 76 (75). Richter /I, in: StV 1994, S. 692 (687). Fezer, in: Stree/Wessels-FS, S. 663-684. Ders., a. a. 0., S. 663. Ders., a. a. 0., S. 677 (663). Ders., a. a. 0., S. 669 (663).
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I. Teil: Schuldstrafrecht, Strafzumessung und Nemo tenetur zusichern. Genauso konsequent ist es, das Aussageverhalten des Beschuldigten nicht zu pönalisieren. ,,332
Die (innere) Rechtfertigung für die Straflosigkeit des Leugnens folge nicht aus dem Schutz vor einem Selbstbelastungszwang; diesen biete bereits das Schweigerecht. Das Leugnen sei vielmehr erlaubt, weil es durch keine Vorschrift untersagt sei. 333 - Schon daraus wird deutlich, daß Fezer sich auf Begründung für die bestehende Gesetzeslage beschränkt, ohne verfassungsrechtliche Aspekte in seine Überlegungen einzubeziehen. Er schreibt jedoch - auf Schneider verweisend - zur Straflosigkeit der Lüge de lege lata: ,,Die Rechtsgemeinschaft kann sich dieses ,Entgegenkommen' im Hinblick auf die Leistungsfähigkeit staatlicher Strafverfolgungsorgane erlauben. [ ),,334 Die Wortwahl läßt - wie bei Schneider (siehe oben 11 I d) - den Eindruck entstehen, de lege ferenda könnte - bei einem entsprechenden Aufklärungsdefizit - ein Lügeverbot bzw. eine Wahrheitspflicht (wieder) eingeführt werden.
Indes erscheint gerade anhand der soeben nachgezeichneten strukturellen Analyse das Fehlen einer Wahrheitspflicht des Beschuldigten bzw. sein "Recht auf Lüge,,335 nicht lediglich als ein disponibles "Entgegenkommen", stellt Fezer doch letztlich das Schweigerecht in das Zentrum seiner Argumentation (was aus der zitierten TextsteIle deutlich wird). Dieses aber folgt - nach dem bisher Geschriebenen - unstreitig aus dem Nemo-tenetur-Satz, dem seinerseits Verfassungsrechtsqualität zukommt. So gesehen ist in Fezers Konstruktion das Fehlen einer Wahrheitspflicht (bzw. die Abwesenheit einer Lügenstrafe) via Schweigerecht zwar aus der Verfassung herzuleiten, stellt jedoch keine zwingende Folge eines Verfassungsrechtssatzes dar: Es gibt schließlich - man denke nur an den anglo-amerikanischen Strafprozeß336 - die Möglichkeit, dem Angeklagten ein Schweigerecht an die Seite zu geben, ihn aber für den Fall der freiwilligen Aussage mit einer Wahrheitspflicht zu belegen. 337 Es kann freilich gerade an dieser Konstruktion liegen, daß im anglo-amerikanischen Strafprozeß das Schweigen eher als Indiz für die Schuld des Angeklagten gewertet wird,338 ganz abgesehen davon, daß - wie Salditt betont - eine aus Laien bestehende Jury "sicherlich anflilliger,,339 für einen solchen Schluß ist.
332 Ders., a. a. 0., S. 677 (663). 333 Ders., a. a. 0., S. 676/677 (663). 334 Ders., a. a. 0., S. 674 (663); es verwundert nicht, daß Fezer an dieser SteHe auf Schneider (Grund und Grenzen, S. 291 ff., 374 ff.) verweist. 335 Fezer, in: Stree/Wessels-FS, passim (z. B. auf S. 679, 680, 68\). 336 Siehe Hammerstein. in: Middendorff-FS, S. 115 (111); 337 Ebenso Pfenninger, in: Rittler-FS. S. 366 (355). 338 Vgl. Schmid. Strafrecht in den Vereinigten Staaten, S. 71; Hirschberg. Rechtsvergleich, S. 21; besonders dezidiert: Herrmann. Reform der Hauptverhandlung, S. 425 - 428. 339 Salditt. in: StV 1988, S. 76 (75).
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Herrrnann 340 weiß von keinem Fall zu berichten, in dem der leugnende, gleichwohl verurteilte Angeklagte sich nachträglich auch noch wegen Meineids hätte verantworten müssen; bemerkenswert und für die folgenden Überlegungen in Erinnerung zu halten ist die Begründung hierfür: "Tatsächlich stehen einer Bestrafung ... verschiedene Hindernisse entgegen. Zunächst bestimmt eine Vorschrift des anglo-amerikanischen Beweisrechts, daß rur eine Verurteilung wegen Meineids die Aussage eines Zeugen nicht ausreicht, weil in diesem Fall Eid gegen Eid stehen würde! 1.,,341
b) Neuer Ansatz: Wahrheitspflicht de lege ferenda verfassungsgemäß? Mithin bleibt als Zwischenergebnis festzuhalten, daß die üblichen Ansätze zur Begründung der Lügefreiheit keine endgültige Antwort geben auf die hier gestellte Frage nach der Möglichkeit, »im Bedarfsfall«, d. h. wenn die von Schneider dafür als Maßstab vorgeschlagene "gesamtgesellschaftliche Effektivitätsprüfung,,342 die Notwendigkeit der Rücknahme staatlichen "Entgegenkommens" aufzeigt, de lege ferenda ein an den Beschuldigten adressiertes Lügeverbot in der StPO zu installieren. Das Schweigerecht, von dem die referierten Erklärungsversuche jeweils ausgehen, scheint kein tauglicher Ansatz zu sein. Es bietet sich daher an, den komplementär zur Lüge/reiheit stehenden Begriff der Wahrheitspflicht als Ausgangspunkt für die Überlegung zu wählen. (1) Unvermeidbarkeit von Fehlurteilen
Oberstes Ziel des Strafprozesses ist die Findung der Wahrheit. 343 Die Beteiligten wirken arbeitsteilig darauf hin, den wahren Täter und die wahren Tatumstände zu ermitteln. Der durch die Kriminalstrafe bewirkte existenzielle Grundrechtseingriff ist nur gegenüber dem wahren Täter gerechtfertigt (vgl. oben A III 1). Die Kriminalstrafe entfaltet ihre general präventive Wirkung nur, wenn (und solange) in der Rechtsgemeinschaft der begründete Eindruck vorherrscht, es sei der wirkliche Täter bestraft worden (vgl. oben AI 4*). In der Feststellung und Durr:hsetzung des staatlichen Stra!anspruchs 344 bzw. der Herstellung des Rechts!riedens 34s die Hauptaufgabe des Strafverfahrens zu sehen, ist insofern ungenau, als auch ein Unschuldiger angeklagt sein kann, ihm gegenüber jedoch kein Strafanspruch besteht und seine Verurteilung nur einen oberflächlichen Rechtsfrieden herstellt. 346 Herrmann, Reform der Hauptverhandlung, S. 432-433. Ders., a. a. 0., S. 431 (Hervorhebung nicht im Original). 342 Schneider, Grund und Grenzen, S. 375. 343 BVerfG, in: E, Bd. 57, S. 275 (250); Bd. 63, S. 61 (45); aus dem Schrifttum seien hier nur herausgegriffen Strate (in: 16. Strafverteidigertag, S. 23) Kemp! (in: 11. StV-Frühjahrssymposium, S. 27 (21» und Krauß (in: Schaffstein-FS, S. 431 (411». 344 Vgl. Beulke, Strafprozeßrecht, § I IJI (S. 2/3 bei Rn. 3). 345 SO Z. B. Basch, Aspekte, S. 115 m.v.N. 346 Präziser insofern Günther, der (in: JR 1978, S. 89) als die heiden Ziele des Strafverfahrens die Bewahrung des Unschuldigen vor unverdienter Bestrafung sowie die Findung einer 340 341
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Beulke347 stellt der Wahrheitsfindung jedenfalls noch ein weiteres Prozeßziel, namentlich die Justiz/örmigkeit des Verfahrens, zur Seite. Es ist indes eindeutig, daß - pointiert formuliert - das Verfahren nicht um der richtigen Anwendung der Verfahrens regeln willen durchgeführt wird. Daß Beulke zugleich von der Justizförmigkeit als einem ggf. "das Gebot der Wahrheitsfindung überlagern[den] ... tragenden Prinzip des Strafprozesses,,348 schreibt, erhellt, warum er den benannten Grundsatz so betont: Die vielfachen Verfahrenssicherungen bezwecken, daß bei aller Anstrengung, die Wahrheit zu ermitteln, nicht die Maximen der Rechtsstaatlichkeit aus dem Blick geraten.
Doch die Möglichkeiten, Geschehenes (oder gar innere Vorgänge) mit Sicherheit zu rekonstruieren, sind begrenzt. Zudem gilt: Wo immer Menschen urteilen, besteht naturgemäß die Gefahr von Fehleinschätzungen. Das Strafverfahren kann zur Feststellung der objektiven Wahrheit führen, doch sind angesichts der vielfältigen Fehlerquellen Irrtümer nicht auszuschließen. ,,Niemand wird behaupten, daß fehlerhafte und ungewisse Urteile vollständig zu beseitigen wären. Sie sind ebensowenig zu verhindern wie ärztliche Irrtümer, auch wenn Wissenschaft und Praxis noch so fortgeschritten sind.,,349 ,,Der richterliche Urteilsvorgang vollzieht sich auf drei Stufen: Sachverhaltsfeststellung, Gesetzesanwendung und Rechtsfolgebestimmung.... [Die Sachverhaltsfeststellung] vollzieht sich nicht selten in der Auseinandersetzung mit den Prozeßbeteiligten. Sie unterliegt Angriffen und Verfälschungen innerhalb des Beweisverfahrens. Sie ist der Lüge und dem Irrtum der Aussagepersonen, dem Fehler des Sachverständigengutachtens, der Verfälschung objektiver Beweismittel, dem Mißverständnis und der Fehleinschätzung des Richters ausgesetzt. Die Fehlerquellen im Prozeß, vor allem in dem von allen Seiten emotional bestimmten Strafverfahren, sind außerordentlich vielfältig.,,3so - "Das Problem des fehlerhaften und ungewissen Urteils infolge unzulänglicher Sachverhaltsfeststellung ergibt sich aus der Sache selbst. Es ist notwendigerweise mit der Kompliziertheit der Sachverhaltsfeststellung verbunden. Es ergibt sich zugleich auch aus menschlichen Gründen. Irrtum und Unsicherheit gefährden den Menschen jeder Zeit. Der Beurteiler ist umso mehr der Gefahr falscher und unsicherer Schlüsse ausgesetzt, als er sich weitgehend auf Angaben von Menschen stützen muß, die ihrerseits zu bewußten Verfälschungen und Irrtümern neigen. Es geht um das Versagen, Können und Wollen des Menschen.,,351 - "Die Fehlerhaftigkeit und Ungewißheit des Urteils beruht zunächst auf einer mißlungenen Beweisaufnahme. Das Mißlingen der Beweisaufnahme kann auf Mängel bei den Beweismitteln zurückzuführen sein .... Das personale Beweismittel kann infolge Irrtums, Gleichgültigkeit oder bewußter Unwahrhaftigkeit der Aussageperson den Beurteiler an der Wahrheit vorbeiführen. Aber auch die mit der Wirklichkeit übereinstimmende Aussage kann den Beurteiler die Wahrheit verfehlen lassen, weil er aus der Aussage falsche Schlüsse zieht. Der Sach-
dem Unrechts- und Schuldgehalt der Tat entsprechenden Strafe gegenüber dem Schuldigen bezeichnet. 347 Beulke, Verteidiger, S. 63 (m. w. N.). 348 Ders., a. a. O. 349 Peters, Fehlerquellen /2, § I I (S. I). 3S0 Ders., Fehlerquellen/I, S. V. 351 Ders., Fehlerquellen/2, § 1 I (S. I).
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beweis kann künstlich mit dem Ziel unrichtiger Sachverhaltsfeststellung errichtet sein. Der unverfälschte Sachbeweis wiederum kann vom Beurteiler der Wirklichkeit zuwider ausgewertet werden .... So sehr die Beweismittel richtige Tatsachen wiedergeben, so wenig lassen sie einen endgültigen Schluß zu. Das Hauptbeispiel ist der lückenhafte Indizienbeweis .... So ergeben sich zahlreiche Fehlerquellen. ,,3S2
Es findet also im gerichtlichen Verfahren der Versuch einer möglichst weitgehenden Annäherung an die objektive Wahrheit statt. 353 ,,Auch dem Richter ist deshalb verschlossen, die absolute Wahrheit zu finden. Er kann sich nur zu einer für sein richterliches Gewissen gültigen, also subjektiven oder relativen Wahrheit, nämlich der ,richterlichen Überzeugung' durchringen ( ... ).,,354 Ob das von ihm als wahr Erkannte auch tatsächlich wahr ist, vermag letztlich niemand mit Sicherheit zu behaupten. Auch kann niemand genau einschätzen, wie nahe das als wahr Erkannte an der objektiven Wahrheit liegt;355 das würde nämlich deren Kenntnis voraussetzen. Verfügte man jedoch über diese Kenntnis, dürfte man sich nach dem einleitend Festgestellten nicht mit einer bloßen Annäherung an die objektive Wahrheit zufriedengeben. Man kann sogar noch einen Schritt weiter gehen und über die Gewißheit gelegentlicher Fehlurteile hinaus die Behauptung aufstellen, ,,[d]aß ein jedes strafrichterliches Urteil fehlerhafte Feststellungen und Lücken enthält, die sich im Einzelfall sogar auswachsen können zu Justizirrtümern, [was] der ihm vorausgehenden Prozedur immanent [ist]; die Wahrheit über ein historisches Ereignis - die geschehene Tat - und die darin eingebundenen Personen werden stets nur in Ausschnitten getroffen.,,356 Mit hundertprozentiger Sicherheit könnten Fehlurteile nur ausgeschlossen werden, indem die Rechtsgemeinschaft gänzlich auf das Urteilen, also überhaupt auf eine Strafrechtspflege verzichtete. Da aber das Strafrecht eine wesentliche Voraussetzung für das gedeihliche und friedliche Zusammenleben von Menschen darstellt (oben A I 3), kann eine Gesellschaft diesen Verzicht nicht leisten. Vor dem Hintergrund der Erkenntnis, daß die »wirkliche Wahrheit« nie vollständig rekonstruiert werden kann, liegt die Frage nahe, "ob der Gewinn von Wahrheit überhaupt die tragende Funktion rechtlich geregelter Verfahren ist.,,3s7 Luhmann meint, es ginge auch und gerade im Strafprozeß eher 3s8 darum, zu einer allgemein akzeptierten Entscheidung zu kommen. Die "generalisierte Bereitschaft, inhaltlich noch unbestimmte Entscheidungen ... hinzunehmen,,3s9, hänge davon ab, ob sich die beteiligten Personen an ein allgemein konsentiertes Verfahren gehalten haben; sei dies der Fall, werde die Entscheidung als legitim akzeptiert. Dem ist m.E. entgegenzuhalten, daß die Verfahrensregeln überhaupt erst als verbindlich und 352 Ders., a. a. 0., S. 2. 353 Ebenso: Bosch. Aspekte, S. 111; Dahs. HandbuchS, A I 2 (S. 9 bei Rn. 6). 354 Schmidt. in: KK, Vor § 359, Rn. 2. Ähnlich Dahs. HandbuchS, Rn. 6 (S. 9). 355 So auch Kempf, in: 11. StV-Frühjahrssymposium, S. 25 (21). 3S6 Strate, in: 16. Strafverteidigertag, S. 26 (23) - Hervorhebung nicht im Original. 357 Luhmann, Legitimität durch Verfahren, S. 22. 358 Vgl. ders., a. a. 0., S. 17. 359 Ders., a. a. 0., S. 28.
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zielführend anerkannt werden, wenn sie dazu geeignet scheinen, die »wirkliche Wahrheit« aufzudecken. 36O Der Versuch, die beiden gerade gewonnenen Erkenntnisse - Unvermeidbarkeit von Fehlurteilen einerseits sowie Unverzichtbarkeit des Strafrechts andererseits in Einklang zu bringen, führt zwangsläufig zur Zulassung (der Möglichkeit) der Wiederaufnahme eines rechtskräftig abgeschlossenen Verfahrens. Die Existenz der §§ 359-373a StPO bedeutet also nichts anderes als das normative Eingeständ-
nis der Rechtsgemeinschaft, Fehlurteile einzukalkulieren bzw. einkalkulieren zu müssen.
In diesem Zusammenhang beklagt Strate, "daß die vornehmste richterliche Pflicht, nämlich die Wahrheit zu erforschen, in der veröffentlichten Literatur zum Wiederaufnahmerecht nahezu nirgends überhaupt eine Erwähnung findet, geschweige denn für die Praxis der richterlicher Entscheidungstätigkeit i[n] Wiederaufnahmesachen bestimmend wäre.,,361
Vorschriften wie die des Vierten Buches der StPO sind für einen Rechtsstaat unverzichtbar: Zwar kann dieser - schon allein der notwendigen Rechtssicherheit wegen - auch nicht auf das Institut der Rechtskraft verzichten. 362 Angesichts der Eingriffe in die Grundrechte des Verurteilten muß jedoch letztlich das gesamte Strafverfahren - über den Zeitpunkt des Eintritts der Rechtskraft hinaus - unter dem Primat der Wahrheit und Gerechtigkeit stehen. Stellt sich nachträglich heraus, daß das rechtskräftige Urteil aller Wahrscheinlichkeit nach falsch ist, so kann der erstrebte Zustand des Rechtsfriedens nur vermittels der Möglichkeit, die Entscheidung zu revidieren, wiederhergestellt werden. 363 In den Worten des BVerfG: "Das Rechtsinstitut der Wiederaufnahme ... steHt eine Konfliktsituation zwischen den Grundsätzen der materieHen Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit dar, die sich heide verfassungskräftig aus dem Rechtsstaatsprinzip ableiten. ,,364
(2) Schuldgrundsatz: Gebot der quantitativen und qualitativen Minimierung der Eingriffsintensität des Fehlurteils Muß demnach eine gewisse Fehlerquote in Kauf genommen werden, kann es folgerichtig nur darum gehen, erstens die Anzahl von Fehlurteilen geringstmöglich zu halten, und zweitens den im Fehlurteil zum Ausdruck kommenden (objektiv falschen) Vorwurf auf das geringstnötige Maß zu beschränken. Vgl. auch die Anmerkungen zu Luhrrumn von Krauß, in: Schaffstein-FS, S. 422 (411). Strafe, in: 16. Strafverteidigertag, S. 29 (23). 362 Siehe nur Peters, Fehlerquellen /3, § 1 I (S. 1). Beulke (Verteidiger, S. 63) benennt denn auch (m. w. N.) die Rechtssicherheit - neben der Wahrheitsfindung und der Justizförmigkeit des Strafverfahrens - als drittes Prozeßziel. 363 Vgl. Pfeif/er. Vorbemerkung vor § 459, Rn. I. 364 BVerfG, in: MDR 1975, S. 469 (468). 360 361
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Die erstgenannte Notwendigkeit der Minimierung der Fehlurteilsquote ist zum einen systemimmanent: Die Kriminalstrafe erzielt - wie bereits einleitend zu (1) erwähnt - ihre präventive und damit ihre rechtsfriedensbewahrende I-wiederherstellende Wirkung denknotwendigerweise nur, wenn sie gegenüber dem wahren Täter durchgesetzt wird. 365 Entsteht in der Bevölkerung der Eindruck, daß vor Gericht viele Fehlurteile ausgeworfen werden, geht der Glaube daran verloren, daß Rechtstreue zu Straflosigkeit führt. Fällt aber dieser Anreiz zur Rechtstreue weg, weil die Wahrscheinlichkeit groß ist, auch als Unschuldiger verurteilt zu werden, so verfehlt das Strafrecht zwangsläufig seinen Regelungszweck.
Zum anderen folgt das Erfordernis der quantitativen Reduzierung von Fehlurteilen auch aus dem Schuldgrundsatz, der seinerseits zum Teil aus dem Rechtsstaatsprinzip 366, zum Teil direkt aus dem Gebot der Achtung der Menschenwürde 367 abgeleitet wird, wobei diese Diskrepanz insoweit vernachlässigenswert ist, als Einigkeit über seinen Inhalt besteht: Ohne individuelle Schuld darf jedenfalls keine Kriminalstrafe verhängt werden (oben A TI). Lassen sich aber - wie gerade (1) aufgezeigt - Fehlurteile, das heißt: Verurteilungen ohne Schuld nicht gänzlich vermeiden, muß der Gesetzgeber, der schließlich gern. Art. 20 Abs. 3 GG an die "verfassungsmäßige Ordnung" gebunden ist, wegen des in der Verfassung verankerten Schuldgrundsatzes für eine möglichst fehlerresistente Ausgestaltung des Strafverfahrens Sorge tragen. 368 Dieser Bindung an das Schuldprinzip ist der Gesetzgeber dadurch nachgekommen, daß er das Strafverfahrensrecht mit zahlreichen Sicherungen versehen hat. Beispielsweise seien erwähnt: die Installation des Ermittlungs- und des Zwischenverfahrens; die Gewährleistung der Öffentlichkeit der Hauptverhandlung; die Möglichkeit, gegen ein Urteil Berufung einzulegen bzw. es einer Revision unterziehen zu lassen;369 die Zulassung eines Verteidigers als Gegengewicht zum Vertreter der Anklagebehörde,370 welcher seinerseits gern. § 160 Abs. 2 StPO zu neutraler Strafverfolgung verpflichtet ist; die Regel(n) der Beweiswürdigung gern. § 261 StPO, die bereits oben A IV 1 (im 1. Ergänzungstext) als die spezifisch strafrechtliche Ausformung des allgemeinen Willkürverbots erkannt worden sind. 371
365 An sich bedürfte diese Selbstverständlichkeit keines Beleges. Wenn hier dennoch auf die Rechtsprechung des BVerfG (in: E, Bd. 57, S. 275 (250» hingewiesen wird, so deshalb, weil auch die folgende Argumentation dort bereits angelegt ist, ohne freilich auf eine Herleitung der Lügefreiheit des Beschuldigten zu zielen. 366 V.a. in der Rechtsprechung, so z. B. des BVerfG, in: E, Bd. 6, S. 439 (389); Bd. 20, S. 331 (323); Bd. 25, S. 285/286 (269); w.N. bei Stree, in: SchI Sch, Vorbern §§ 38ff., Rn. 6. 367 So z. B. Lenckner. in: Sch I Sch, Vorbem §§ 13 ff., Rn. 103. 368 Ganz abgesehen von den letztlich irreparablen Schäden, die dem Verurteilten durch die Vollstreckung des Fehlurteils entstehen; einer der wenigen, die ausdrücklich auf diesen Aspekt hinweisen, ist - soweit ersichtlich - Eichenberger. Richterliche Unabhängigkeit, S. 87. 369 Diese Beispiele werden von Peters (Fehlerquellen 13, § 1 I (S. 1» angeführt. 370 Statt vieler: Peters, Strafprozeß, § 29 I 1 (S. 212). 371 Siehe dazu auch Rüping, in: BK, Art. 103 Abs. 2, Rn. 16. 6 Torka
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Doch auch wenn diese Sicherungen im konkreten Strafverfahren nicht wirksam geworden sind und der Tatrichter trotz umfassender Sachverhaltsaufklärung (§ 244 Abs. 2 StPO) und korrekter Beweiswürdigung (gern. § 261 StPO) in Verkennung der Wahrheit den Unschuldigen für der angeklagten Tat überführt hält, ist der Schuldgrundsatz noch nicht »thematisch verbraucht«; vielmehr folgt aus ihm nunmehr das Postulat geringstnötiger Eingriffsintensität. Hierbei muß freilich konstatiert werden, daß der im Fehlurteil ausgesprochene, materiell falsche Vorwurf hinsichtlich der angeklagten Tat - er soll im folgenden als »Primärvorwurf« bezeichnet werden - denknotwendigerweise das Fehlurteil als solches erst ausmacht, er mithin unvermeidbar ist. Vermieden werden kann dagegen der zusätzliche (falsche) »Sekundärvorwurf« der Lüge, indem man ihn nicht erhebt: Strafrechtspflege »funktioniert«372 auch ohne die Aussage des Beschuldigten. 373 Ist aber der »sekundäre« Lügevorwurf gegenüber dem Verurteilten vermeidbar; ohne daß die Strafverfolgung als solche in Gefahr gerät und die konkrete Strafverfolgung (angesichts der sonstigen, dem Tatrichter uneingeschränkt zur Verfügung stehenden Beweismittel) wesentlich erschwert wird, so entfällt im Kontext der Einlassung des Beschuldigten das Argument, welches im allgemeinen Strafverfolgungskontext für die zwingende Hinnahme einer gewissen Fehlerquote streitet. Weil der (ggf. falsche) liigevorwurf vermeidbar ist und auf ihn auch verzichtet werden kann, ohne daß die Rechtsdurchsetzung grundsätzlich gefährdet wäre, darf er von Verfassungs wegen nicht erhoben werden. Inhaltlich besagt ein Lügevorwurf gegenüber dem zu Unrecht Verurteilten lediglich, daß dessen Einlassungen nicht mit dem übereinstimmen, was das Gericht als wahr erkannt hat. Das die »wirkliche Wahrheit« verkennende Gericht wirft dem Angeklagten im Urteil nicht vor. nicht die Wahrheit gesagt zu haben, sondern legt ihm die Diskrepanz zwischen seiner Einlassung und dem in der Hauptverhandlung als wahr Erkannten (pointierter: Verkannten) zur Last.
Die hier geknüpfte Argumentationskette kommt ohne den von Fezer zwar kritisierten,374 letztlich aber doch - wie oben a (3) aufgezeigt - praktizierten Rückgriff auf das Schweigerecht aus und bietet damit eine wirklich eigenständige Begründung dafür, daß die Lüge des Beschuldigten prozessual und materiell-rechtlich sowohl de lege lata erlaubt ist als auch de lege ferenda erlaubt bleiben muß. (3) »Nagelprobe«: Wahrheitspflicht des Zeugen/Sachverständigen
Die »Nagelprobe« der hier entwickelten These stellt die Wahrheitspflicht des Zeugen und des Sachverständigen gern. §§ 153-163 StPO dar. Oben (2) ist der das Fehlurteil erst konstituierende falsche »Primärvorwurf« der Tatbegehung 372 Vgl. dazu die Diskussion über die ,,Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege" im Zweiten Teil (unter A 11 2). 373 Noch einmal sei hier auf die strukturelle Analyse des Strafprozesses von Fezer (in: Stree/Wessels-FS. S. 669 (663» hingewiesen. 374 Vgl. Fezer, a. a. 0 .• S. 663, 676 und 677.
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gegenüber einem Unschuldigen als - in einer Gesellschaft, die nicht gänzlich auf die regelnde Wirkung des Strafrechts verzichten will - unvermeidbar erkannt worden; vermeidbar - weil für die Rechtsdurchsetzung nicht essentiell - ist hingegen der über diesen (falschen) »Primärvorwurf« hinausgehende, zwangsläufig mit ihm einhergehende und daher ebenfalls falsche »Sekundärvorwurf«, dem zufolge der (die angeklagte Tat leugnende) Beschuldigte vor Gericht nicht die Wahrheit gesagt habe. Der Zeuge bzw. Sachverständige erlebt indes den gern. §§ 153 ff. StGB erhobenen Vorwurf der Unwahrheit als »Primärvorwurf«. Insoweit wird also die oben (2) angesichts des Rechtsstaatsgebots (Art. 20 Abs. 3 GG) aufgestellte Forderung erfüllt, wonach ein Fehlurteil, ist es als solches schon nicht vermeidbar, nur die geringstnötige Eingriffsintensität entfalten darf. Dagegen kann nicht eingewendet werden, daß man angesichts der Unmöglichkeit, die »wirkliche Wahrheit« zu erkennen, konsequenterweise auf den Zeugen- bzw. Sachverständigenbeweis verzichten müßte: In einem Verfahren, in dem es darum geht, menschliches Fehlverhalten festzustellen und zu bewerten, spielt zwangsläufig der Personalbeweis eine zentrale Rolle; die Betroffenen erleben zudem nach der Konzeption der StPO das Erfordernis der wahrheitsgemäßen Aussage nicht als Zumutung, gegen ureigenste Interessen handeln zu müssen, stehen ihnen doch in den §§ 52, 53, 53a und 55 StPO umfassende Zeugnis- und Auskunftsverweigerungsrechte zur Seite. Da das Gericht zugleich auf »wahre« Beweismittel angewiesen ist 37S - nur aus solchen Beweismitteln kann sich ein der objektiven Wahrheit möglichst angenähertes Bild des behandelten Lebenssachverhalts ergeben -, muß es bei der Wahrheitspflicht von Zeugen (und Sachverständigen) bleiben. Es bleibt im Einzelfall daher auch bei der als unvermeidbar eingestuften Zumutung, trotz wahrheitsgemäßer Aussage dem falschen »Primärvorwurf« des Verstoßes gegen die §§ 153-163 StGB ausgesetzt zu sein, wenn das Gericht in seiner Fe~lbarkeit die betreffende (wahre) Aussage nicht als wahr erkennt. Die Existenz der Aussagedelikte bestätigt also bei näherer Betrachtung die hier vertretene These von der selbständigen Herleitung der Lügefreiheit des Beschuldigten, anstatt sie - wie es auf den ersten Blick erscheint - zu widerlegen.
Aus demselben Grund kann der hier vertretenen Auffassung nicht entgegengehalten werden, daß der Angeklagte sich infolge seines substantiierten Abstreitens ggf. einer Verleumdung gern. § 187 StGB strafbar mache. Zur Verdeutlichnung des möglichen Einwands kann man den oben (A IV 2 b (I» geschilderten »ln-flagranti-Fall« heranziehen: Zumindest in der Behauptung des Beschuldigten, die Zeugin - also nach den Feststellungen des Gerichts: das Opfer der versuchten Vergewaltigung - habe sich ihm gegen Geld sexuell hingeben wollen und darüberhinaus seinen Zustand fortgeschrittener Erregung ausgenutzt, um eine Zusatzforderung zu erheben, liegt eine tatbestandliehe Verleumdung LS. des § 187 StGB.
Dieser Vorwurf stellt sich - parallel zum Ausgangsvorwurf - als hier sog. »Primärvorwurf« dar: Nach Einschätzung des Gerichts entspricht die Einlassung des Angeklagten nicht der als wahr erkannten Sachlage. Die Situation weist lediglich die Besonderheit auf, daß das vom Gericht als strafbare Handlung bewertete Vorbringen zugleich die Verteidigungsposition des Angeklagten ausmacht. 37S
6*
Siehe ders., a. a. 0., S. 669 (663).
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1. Teil: Schuldstrafrecht, Strafzumessung und Nemo tenetur
Es ist an dieser Stelle freilich noch zu früh für die Erörterung der Frage, welche Auswirkungen der soeben getroffene Befund auf die Strafzumessung hinsichtlich der angeklagten Ausgangstat mit sich bringt und wie z. B. im »ln-flagranti-Fall« das »Mindestvorbringen« der Freiwilligkeit des (versuchten) bewiesenen Geschlechtsverkehrs, das ja ggf. auch eine wider besseres Wissen vorgebrachte Tatsachenbehauptung i.S. des § 187 StGB darstellt, zu behandeln ist (dazu im Zweiten Teil: C 11 6 d (3». Jedenfalls entfällt ein verleumderisches Verteidigungsvorbringen nicht auf der Konkurrenzebene als sog. mitbestrafte Nachtat, weil es ein anderes Rechtsgut verletzt. 376
4. Zweites Zwischen/azit
Damit kann eine endgültige Stellungnahme zu Schneiders Konzept erfolgen: • Auch Schneider macht sich das traditionelle Verständnis des Nemo-teneturGedankens als eines Rechts auf Passivität zu eigen. Das begegnet den schon in Bezug auf die Konzeption von Rogall aufgetretenen Bedenken: Dem deutschen (Straf-)Recht ist die Unterscheidung zwischen Aktivität und Passivität als primäre Definitionskategorie fremd; diese Erkenntnis folgt zwingend aus der strafrechtlichen Ratio des Rechtsgüterschutzes und findet ihre Bestätigung in § 13 StGB. Eine Anwendung des Nemo-tenetur-Satzes fUhrt nicht zwangsläufig zu der von Schneider vorausgesagten Rechtsunsicherheit; es müßte lediglich - »reziprok« zu § 13 StGB - sichergestellt werden, daß Nemo tenetur auf Extremkonstellationen beschränkt bleibt. • Den Grund fUr gewisse Privilegierungen selbstbegünstigender Handlungen sieht Schneider darin, daß dem Staat gegenüber diesen genügende Abwehr- und KompensationsTnÖglichkeiten zur Verfügung stehen. Konsequenterweise sind fUr Schneider die genannten Privilegierungen nicht verfassungsrechtlich bedingt, sondern stellen lediglich Rechtswohltaten dar. Schneider benennt indes keine Kriterien, welche ihn zu der Behauptung kommen lassen, daß sich der Staat de lege lata hinreichend gegen die Vereitelung der Strafverfolgung seitens des Beschuldigten wehren könne. Auch zeigt er nicht auf, unter welchen Umständen der Staat seine selbstbegünstigungsprivilegierenden Rechtswohltaten zurücknehmen könnte, konstatiert jedoch zugleich, daß diese Möglichkeit jederzeit bestünde. • Indem Schneider die Straflosigkeit der Basishandlungen Flucht und Lüge mit dem Hinweis auf das (sozial-)psychologische Phänomen der beschränkten Normbefolgungsflihigkeit des einzelnen erklärt, anerkennt er letztlich, daß eine Rechtsgemeinschaft solche Verhaltenserwartungen, die dem Wesen des Menschen widersprechen, nicht aufstellen kann (hier sog. Gebot »der intrapersonalen Orientierung des Rechts«).
376
Vgl. (statt vieler) Tröndle, Vor § 52, Rn. 50.
B. Die Freiheit vom Zwang zur Selbstbelastung
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• Schneiders Definition der Straflosigkeit der Lüge des Beschuldigten als ,,Rechtswohltat" löst die Frage aus, ob de lege ferenda eine Wahrheitspflicht im deutschen Strafrecht eingeführt werden könnte: Vor dem Hintergrund der Gefahr, die »wirkliche Wahrheit« zu verkennen, erweist sich der - im Gegensatz zum primären Tatvorwurf - sekundäre Lügevorwurf gegenüber dem Verurteilten als verzichtbar, ohne daß damit die grundsätzlich notwendige Durchsetzung des Strafrechts gefahrdet wäre. Die solchermaßen eigenständig (d. h. ohne den üblichen Rückgriff auf das Schweigerecht) aus der Verfassung herleitbare Lügefreiheit des Beschuldigten stellt mithin - im Gegensatz zu Schneiders Auffassung - kein jederzeit zurücknehmbares Entgegenkommen des Staates dar.
m. Wolff: Einbringung des Schuldgrundsatzes 1. Die Thesen
a) Plädoyer zugunsten der Menschenwürderelevanz im Selbstbegünstigungskontext Den Ausgangspunkt der Überlegungen Wolffs bildet ein Plädoyer zugunsten der Menschenwürde als mögliche Sedes materiae der Nemo-tenetur-Idee. Die oben (I 2 b) bereits angeführte Argumentation, der zufolge der Würdeanspruch des Menschen gerade dadurch eingelöst wird, daß die Gesellschaft von ihm das Tragen von Verantwortung für eigenes Fehlverhalten verlangt, übersehe, "daß der nemo tenetur Grundsatz dem Beschuldigten nicht die Folgen für seine Tat abnehmen will, sondern nur die aktive Mitwirkungspflicht.,,377 Damit ist zugleich klargestellt, daß auch Wolff davon ausgeht, Nemo tenetur gewähre lediglich ein Recht auf Passivität. Der Meinung, die Menschenwürde lasse sich nicht allgemeingültig definieren und sei daher kein tauglicher Anknüpfungspunkt für einen so zentralen Verfassungsgrundsatz, hält Wolff entgegen, daß andere "weltanschaulich geprägte[] Begriffe wie Ehre und Gewissen,,,378 gegen die man dasselbe einwenden könnte, (relativ) problemlos gehandhabt würden. Durch die Normierung der Garantie der Menschenwürde sei bewußt ein geistesgeschichtlich geprägter Begriff ins Zentrum einer Verfassungsnorm gerückt und also mit normativem Gehalt angereichert worden. 379 b) Schuldgrundsatz als Sedes materiae der Nemo-tenetur-Idee Nach dieser Stellungnahme wendet sich Wolff dem bisher außer acht gelassenen Phänomen zu, daß viele staatliche Verfahren Mitwirkungspflichten gegenüber dem
378
Wolff, Selbstbelastung und Verfahrenstrennung, S. 45. Ders., a. a. 0., S. 42.
379
Ders., a. a. 0., S. 43.
377
1. Teil: Schuldstrafrecht, Strafzumessung und Nemo tenetur
86
Betroffenen statuieren, deren Beachtung ihm Nachteile einbringen kann, ohne daß dabei ernsthaft eine Verletzung der Menschenwürde reklamiert würde. Als Beispiel führt Wolff die Offenbarung von Steuertatbeständen oder von Gründen im Sinne des § 35 I 1 GewO an. 380 Eine Erklärung dafür findet er in den spezifischen Wirkungen der Kriminalstrafe. Der Verurteilte erleide durch sie einen partiellen Rechtsverlust,381 denn er müsse als Adressat von Geldstrafe und Freiheitsentzug eine rechtliche Statusminderung hinnehmen. 382 Gleichzeitig führe die in der Strafe ausgesprochene hoheitliche sozialethische Mißbilligung zu einem - wenn auch zeitlich begrenzten - partiellem Entzug des Achtungsanspruchs des Taters. 383 Diese existentiellen Auswirkungen der Kriminalstrafe seien nur zu rechtfertigen, wenn schuldhaftes Handeln, d. h. eine steuerbare Entscheidung für das Unrecht,384 vorliege. Der Betroffene werde so stark durch keine andere staatliche Maßnahme in seiner persönlichen Selbständigkeit getroffen. 38S Mit dem Stichwort der "Selbständigkeit" hat Wolff das aus seiner Sicht verknüpfende Element zwischen dem Schuldgrundsatz und Nemo tenetur gefunden. Die von letzterem garantierte Aussagefreiheit sorge dafür, daß dem Tater im Strafverfahren noch diese Selbständigkeit, um deren Beschneidung qua Kriminalstrafe es letztlich gehe, gewährt werde. 386 Nur der Schuldgrundsatz könne "die notwendige Beziehung des nemo tenetur Grundsatzes mit der Sanktion Strafe herstellen.,,387 ,,Dafür läßt sich auch die Argumentation des BVerfG gewinnen. Nach ihr sichert das Strafverfahren das Schuldprinzip. Die Aussagefreiheit wiederum ist ein tragendes Prinzip des Strafverfahrensrechts, [) so daß auch unter diesem Aspekt die Beziehung zum Schuldgrundsatz naheliegt. Darüber hinaus ermöglicht das nemo tenetur Prinzip unter dem Gesichtspunkt der kontradiktorischen Erörterung die verfahrensrechtlichen Gewährleistungen für die Ermittlung des wahren Sachverhalts. Die Erforschung der Wahrheit wird aber wiederum von der verfahrensrechtlichen Seite des Schuldgrundsatzes gefordert...388
So kommt Wolff zu dem Ergebnis, daß Nemo tenetur aus dem Schuldgrundsatz herzuleiten ist, der seinerseits nach der überwiegenden Ansiche 89 aus dem Rechtsstaatsprinzip i.Y.m. Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 GG resultiert.
Ders., a. a. 0., S. 47. Ders., a. a. 0., S. 54. 382 Ders., a. a. 0., S. 50. 383 Ders., a. a. 0., S. 54. 384 Ders., a. a. 0., S. 54. 385 Ders., a. a. 0., S. 55. 386 Ders., a. a. 0., S. 57. 387 Ders., a. a. 0., S. 60. 388 Ders., a. a. 0., S. 61. 389 SO Z. B. Lenckner, in: Sch/Sch, Vorbern §§ 13ff., Rn. 103; Schmidt-Aßmann. in: MI D, Art. 103 Abs. 11, Rn. 170; zur Rspr. des BVerfG vgl. die umfangreichen Nachweise bei Wo{ff, Selbstbelastung und Verfahrenstrennung, S. 59 (in Fn. 290). 380
381
B. Die Freiheit vom Zwang zur Selbstbelastung
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2. Stellungnahme
Die Entdeckung der offensichtlichen Beziehung zwischen Schuldgrundsatz und Nemo tenetur wird von Wolff nicht überzeugend verarbeitet. Letztlich schöpft er seine These der verfassungsrechtlichen Verortung des Nemo-tenetur-Gedankens im Schuldgrundsatz aus der "Parallele,,390, daß es sich bei beiden um ein auf die Menschenwürde bezogenes rechtsstaatliches Prinzip handele. 391 Näher liegt es jedoch, aus diesem Befund auf eine Gleichwenigkeit der beiden Garantien im Sinne eines sich gegenseitig unterstützenden Nebeneinander zu schließen. Daß Wolff eine solche Sichtweise nicht fremd ist, kann man an seiner Einschätzung des Verhältnisses zwischen Nemo tenetur und der Unschuldsvermutung erkennen: "Die Anerkennung des Zusammenhangs beider Garantien verdeutlicht zugleich, daß diese nicht aufeinander aufbauen. ,,392 Demselben Einwand begegnet der von Wolff als Argument für seine These ins Feld geführte Hinweis auf den dogmatischen Zusammenhang der Prinzipien, welcher sich daraus ergebe, daß sowohl das Schuldprinzip als auch die Aussagefreiheit tragende Grundsätze des Strafverfahrensrechts darstellten. 393
Zur Verifizierung der hier dem Modell von Wolff entgegengestellten Vermutung bieten sich zwei Wege an: Durch die Verhängung einer Geld- bzw. Freiheitsstrafe greift die Rechtsgemeinschaft immer in zwei Rechtsgüter des Verurteilten zugleich ein, nämlich in sein Vermögen bzw. seine Freiheit und - worauf Wolff schließlich besonders hinweise 94 - in seinen gesellschaftlichen Achtungsanspruch. Weil dem so ist, bedarf es des die Strafe rechtfertigenden und zugleich die Strafbarkeit begrenzenden Gedankens, wonach ein strafrechtlicher Vorwurf nur gegenüber demjenigen erhoben werden darf, der "eine steuerbare Entscheidung für das Unrecht,,39S getroffen, mithin schuldhaft gehandelt hat, also für die eingetretene Rechtsgutsverletzung verantwortlich ist (oben All). Dieses die strafrechtliche Eingriffsintensität rechtfertigende und zugleich begrenzende Element ist der Schuldgrundsatz, der jedoch die Eingriffsintensität als solche nicht verringen. Seine Beachtung macht die Strafe, die ihre einschneidende Wirkung behält, eben nur sozial (v)erträglich. Aber gerade die als Ergebnis der Strafverfolgung drohende Eingriffsintensität ist es, die eine Erwartung gegenüber dem Beschuldigten, an der eigenen Überführung mitzuwirken, als "psychologisch absurd und voraussehbarerweise ineffektiv,,396 erscheinen läßt. Der Nemo-tenetur-Gedanke knüpft also dort an, wo auch der Schuldgrundsatz 390 391 392 393
394 395
396
Wolf!, a. a. 0., S. 63. Ders., a. a. O. Ders., a. a. 0., S. 36. Ders., a. a. 0., S. 61; vgl. den oben 1 b (im Ergänzungstext) zitierten Text. Ders., a. a. 0., S. 54. Ders., a. a. 0., S. 54. Roxin, in: NJW 1969, S. 2040 (2038).
1. Teil: Schuldstrafrecht, Strafzumessung und Nemo tenetur
88
seine Wirkung entfaltet: bei der strafrechtlichen Eingriffsintensität der Kriminalstrafe. Daraus erhellt, daß das eine Prinzip nicht vom anderen abhängen kann. Die »Negativprobe« führt zu demselben Ergebnis: Gäbe es den Schuldgrundsatz nicht (und könnte dementsprechend Strafe auch ohne Schuld verhängt werden), so entfiele konsequenterweise auch das nach Ansicht von Wolff auf diesem Grundsatz basierende Nemo-tenetur-Prinzip mit der Folge, daß ein Zwang zur Selbstbezichtigung eingeführt werden könnte!
3. Drittes ZwischenJazit • Die Arbeit von Wolff mit dem Titel "Selbstbelastung und Verfahrenstrennung" untersucht den Nemo-tenetur-Satz aus verwaltungsrechtlicher Perspektive und lenkt das Augenmerk auf den bisher vernachlässigten Aspekt, daß an vielen Stellen außerhalb des Strafrechts vom einzelnen eine Selbstbelastung abverlangt wird. • Wolff fokussiert dabei seinen Blick auf den offensichtlichen Zusammenhang zwischen der Nemo-tenetur-Idee und der durch die Kriminalstrafe bewirkten Intensität des Eingriffs in die Grundrechte des Verurteilten. Aus diesem Blickwinkel erscheint es einleuchtend, daß in anderen als Strafverfahren sehr wohl Zwänge zur aktiven Mitwirkung - also u. a. zur Preisgabe sich für den Betroffenen negativ auswirkender Fakten - bestehen und daß deren Verfassungsmäßigkeit bis dato noch nicht ernsthaft angezweifelt worden ist. • Wolff sieht das Nemo-tenetur-Prinzip im Schuldgrundsatz verortet, wogegen spricht, daß beide Prinzipien nebeneinander - wie im Verhältnis des Selbstbegünstigungsprivilegs zur Unschuldsvermutung - auf derselben Überlegung beruhen, was auf ihre Gleichrangigkeit hindeutet. • Es bleibt daher - vorbehaltlich weiterer Erkenntnisse - bei dem Befund der Verankerung von Nemo tenetur in Art. 1 Abs. 1 GG.
IV. »Theorien vom unmittelbaren Zwang«
1. Grünwald: Vermeidung des inneren Konflikts a) These Für Grünwald397 steckt hinter dem Verbot des Zwanges zur Selbstbelastung der Grund, dem Betroffenen einen inneren Konflikt zu ersparen: ,,Die Qual, zwischen der Mitwirkung an der eigenen Überftihrung und dem Hinnehmen anderer Übel - wie Ordnungsgeld, Ordnungshaft oder Beugehaft - wählen zu müssen, soll dem 397
Grünwald. in: JZ 1981, S. 423-429.
B. Die Freiheit vom Zwang zur Selbstbelastung
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Beschuldigten erspart bleiben. ,,398 Als Kriterium zur Bestimmung der Zulässigkeit von Maßnahmen im Rahmen der Strafverfolgung bietet sich demnach aus seiner Sicht die Unterscheidung zwischen vis absoluta, welche dem Beschuldigten die »Qual der Wahl« hinsichtlich einer Mitwirkung abnimmt, und vis compulsiva an. Grünwald zufolge verbietet Nemo tenetur jeglichen ,,zwang auf die Willensbildung des Beschuldigten dahin ... , daß er zu seiner Überführung beiträgt,,399, weshalb nur der Einsatz von vis absoluta zulässig sei. b) Stellungnahme Grünwald entwickelt dieses Konzept angesichts mehrerer Gerichtsentscheidungen zur Problematik der Gegenüberstellung;400 er wirft darin u. a. dem BGH "einen Mangel an Phantasie und Sensibilität für das Demütigende der Situation, in der ein Mensch als der mögliche Verbrecher dem ,Beschauen' durch Mitbürger ausgesetzt wird,,401, vor. Eine demütigende Wirkung kann indes auch dadurch hervorgerufen werden, physische Ohnmacht gegenüber den Strafverfolgungsbehörden durch vis absoluta vor Augen geführt zu bekommen. Wahrend der eine Betroffene den inneren Konflikt, an der Eigen-Überführung mitwirken zu müssen, als quälend empfindet, registriert möglicherweise der andere eine Erniedrigung darin, einem absoluten Zwang seitens des Staates (z. B. im Rahmen einer Untersuchung gern. § 81a StPO) ausgeliefert zu sein. 402 Für eine derartig unterschiedliche Behandlung beider gleichermaßen naheliegenden Reaktionen, wie Grünwald dies vorschlägt, ist kein Grund ersichtlich. Nach Reiß403 würde es zudem, denkt man den von Grünwald entwickelten Gedanken konsequent zu Ende, nicht gegen die Nemo-tenetur-Idee verstoßen, auf das Wissen des Beschuldigten mittels vis absoluta zurückzugreifen, sollte dies einmal möglich sein.
2. Reiß: Der Beschuldigte als Wissensträger a) These Auch Reiß404 bezweifelt die Richtigkeit der Begrenzung des Nemo-teneturSchutzes anhand der äußeren Kriterien Handeln I Dulden, zumal auf der Grundlage Ders., a. a. 0., S. 428 (423). Ders., a. a. O. 400 BVerfG, in: E, Bd. 47, S. 239-253; KG Berlin, in: JR 1979, S. 347; NJW 1979, S.1668-1669. 401 Grünwald. in: JZ 1981. S. 425 (423). 402 Ähnlich Wolfslast. in: NStZ 1987, S. 104 (103). 403 Reiß. Besteuerungsverfahren, S. 180. 404 Eine prägnante Zusammenfassung der Untersuchung von Reiß bietet Streck in seiner Besprechung in: StV 1987, S. 557 -558. 398 399
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I. Teil: Schuldstrafrecht, Strafzumessung und Nemo tenetur
der Prämisse, der zu folge ein Zwang zu abwartender Passivität den Betroffenen geringer belaste. Vielmehr verbiete Nemo tenetur den "zwangsweisen Zugriff auf den Beschuldigten als Wissensträger.,,4os Dabei geht Reiß von der Überlegung aus, daß "es allein die Aufgabe des Staates sei, durch die Strafverfolgungsorgane den Beweis der Schuld zu führen. ,,406 Wo der Staat auf die Mitwirkung des Betroffenen angewiesen sei, müsse er auf das Beweismittel, so es nicht freiwillig angeboten werde, verzichten und freisprechen. Rein äußerlich betrachtet ist also auch für Reiß das entscheidende Kriterium die Frage nach der Art des im Rahmen der Strafverfolgung eingesetzten Zwanges. Allein in der Begründung setzt er im Vergleich zu Grünwald einen anderen Akzent: Die Anwendung unmittelbaren Zwangs sei deshalb unbedenklich, weil sich hierbei der Staat das Beweismittel eben ",unabhängig' von einer erzwungenen Mitwirkung des Beschuldigten,,407 beschaffe. - In verfassungsrechtlicher Hinsicht hält Reiß es für "müßig,,408, sich darüber auseinanderzusetzen, ob Nemo tenetur aus dem Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG oder aus dem Persönlichkeitsrecht des Art. 2 Abs. 1 GG abzuleiten sei, da beide Ansichten letztlich auf die Menschenwürde abstellten. 409 b) Stellungnahme Daß Reiß zwar den Zugriff auf das Wissen des Beschuldigten, nicht aber (ggf. intensive und unangenehme) körperliche Untersuchungen als menschenwürdeverletzend ansieht, ist das Ergebnis einer subjektiven Wertung, die nicht auf jeden Menschen gleichermaßen zutrifft; insofern kann auf die Stellungnahme zum Konzept von Grünwald verwiesen werden. 410 Der Unterschied zwischen dem Wissen eines Menschen und seiner Physis besteht vielmehr darin, daß man letztere naturwissenschaftlich-objektiv nachweisen, erstere nur anhand von Gegebenheiten, die außerhalb einer Person liegen, rekonstruieren kann. Absolute Sicherheit ist hierbei nicht zu erlangen. Indem Reiß also auf das Wissen des Beschuldigten abstellt, klingt darin bereits die oben 11 3 b entwickelte selbständige Herleitung der Lügefreiheit des Beschuldigten an. 3. Viertes Zwischenjazit • Die von Grünwald und Reiß vertretene (hier sog.) »Theorie vom unmittelbaren Zwang« geht gedanklich davon aus, daß rein äußerliche Kriterien nicht zur BeDers., a. a. 0., S. 177. Ders., a. a. O. 407 Ders., a. a. 0., S. 180. 408 Ders., a. a. 0., S. 168. 409 Ders., a. a. 0., S. 168/169; siehe auch S. 167. 410 Kritisch zu Reiß auch Weßlau (in: 'ZStW, Bd. llO (1998), S. 27, 34 und 36 (I», die auf den Wortlaut von § 136 Abs. 2 StPO und die Entstehungsgeschichte dieser Vorschrift abstellt. 405
406
B. Die Freiheit vom Zwang zur Selbstbelastung
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stimmung des Schutzbereichs eines Verfassungsprinzips taugen. Indes beinhaltet sie als Kriterium dafür, ob ein konkreter Selbstbelastungszwang mit der Verfassung in Einklang steht oder nicht, ebenfalls eine äußere Kategorie - nämlich die Unterscheidung zwischen vis compulsiva und vis absoluta. • Die Wertung, der zufolge es für den einzelnen zwar eine "Qual" bedeute, aktiv an der eigenen Überführung mitwirken zu müssen, ihn hingegen der mittels vis absoluta sichergestellte Zwang zur (passiven) Duldung der Überführung nicht quäle, verkennt individualpsychologische Gesetzmäßigkeiten. • Auch der zwangsweise Zugriff auf das Wissen des Beschuldigten kann deshalb nicht ohne weiteres als menschenwürdeverletzend eingestuft werden; das Wissen eines Menschen ist »lediglich« naturwissenschaftlich-objektiv nicht nachweisbar.
v. Hoffmann: Das Recht auf freie Selbstverteidigung 1. Die Thesen Ausgehend von der Feststellung, daß der schweigende Angeklagte in der Praxis so gut wie überhaupt nicht vorkomme,411 meint Hoffmann unter ausdrücklicher Bezugnahme auf Pfenninger412 , der Schutzbereich von Nemo tenetur müsse großzügiger definiert werden, um die praktische Relevanz des Prinzips der ihm unbestrittenermaßen zukommenden verfassungsrechtlichen Bedeutung anzugleichen. Pfenninger hat in diesem Zusammenhang das Schlagwort vom Nemo-tenetur-Prinzip als einem ,,[P]rivilegium odiosum,,413 aufgebracht. In seinen vierzehn Jahren als Staatsanwalt sei ihm ein einziger Beschuldigter begegnet, der konsequent die Aussage verweigert habe. Das Schweigerecht sei wegen der Seltenheit seiner Instrumentalisierung im konkreten Verfahren "praktisch ohne große Bedeutung,,414.
Ausgehend von dieser Erkenntnis, setzt Hoffmann zu einem »argumentativen Dreisprung« an: Aus Nemo tenetur müsse auch das Recht (des Täters) folgen, die Tat zu bestreiten. Dieses Bestreiten wiederum könne "sinnvoll, d. h. mit Aussicht auf Erfolg, nur motiviert geschehen.,,41s Darüberhinaus müßten auch solche Handlungen "straffrei bleiben, durch die sich der Täter erst die Möglichkeit schaffe, die Tat in bestimmter Weise mit Aussicht auf Erfolg zu bestreiten,,416. Ausdrücklich nennt Hoffmann in diesem Zusammenhang die Entfernung des Täters vom Tatort HofftJumn, Selbstbegünstigung, S. 55. Pfenninger, in: Rittler-FS, S. 368 (355). 413 Ders., a. a. O. 414 Ders., a. a. O. 415 HojJmann, Selbstbegünstigung, S. 55 - Hervorhebung nicht im Original. 416 Ders., a. a. 0., S. 60 - Hervorhebung nicht im Original. 411
412
1. Teil: Schuldstrafrecht, Strafzumessung und Nemo tenetur
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und die Beseitigung von Spuren.417 Hoffmann lehnt zudem eine Wahrheitspflicht des Beschuldigten ab, weil sie Fehlurteile nicht verhindern, sondern im Gegenteil größere Gefahren für die Wahrheitsfindung heraufbeschwören würde: ,,[Die Wahrheitpflicht] kann z. B. einen unschuldigen Angeldagten, der seine Beweissituation angesichts gegen ihn sprechender Indizien für aussichtslos hält, zu einem wahrheitswidrigen Geständnis veranlassen, um nicht als hartnäckiger Lügner angesehen und deswegen besonders schwer bestraft zu werden. Das ganze Ausmaß dieser Gefahren läßt sich insbesondere an dem Beispiel politischer Prozesse mit grundlosen Selbstanldagen später rehablitierter Personen unschwer erkennen.,,418
2. Stellungnahme
Eine kritische Auseinandersetzung mit dem hier sog. »argumentativen Dreisprung« vom Schweigen zum einfachen Leugnen, von dort zum qualifizierten Leugnen und letztlich zu Vertuschungshandlungen muß auf zwei Ebenen erfolgen, eröffnet er doch eine praxisbezogene Perspektive für die Bewertung selbstbegünstigenden Nachtatverhaltens und weist zugleich dogmatische Mängel auf. Zu letzterem ist festzustellen, daß Hoffmanns Ausgangspunkt nicht überzeugt: Als - soweit ersichtlich - unbestrittene419 Sedes materiae des Schweigerechts stellt Nemo tenetur eines der zentralen, tragenden Konstruktionsprinzipien der StPO dar. Die rechtliche Ausgestaltung der Strafverfolgung ist in struktureller Hinsicht am schweigenden Beschuldigten ausgerichtet,420 mag er auch tatsächlich die Ausnahme bleiben. Ein Recht verliert nicht allein deshalb seine dogmatische Qualität, weil nur wenige von ihm Gebrauch machen (so schon oben 11 3 a (1) - im 1. Ergänzungstext). Es macht gerade das Wesen eines Rechts aus, frei über seine Ausübung oder Nichtausübung entscheiden zu können - im Gegenteil zur Pflicht, die per definitionem diese Entscheidungsmöglichkeit ausschließt. Freilich muß sichergestellt sein, daß der einzelne das betreffende Recht überhaupt kennt; angesichts der umfassenden Belehrungspflichten hinsichtlich des Schweigerechts des Beschuldigten - in den §§ 115 Abs. 3 S. I, 128 Abs. 1 S. 2, 136 Abs. 1 S. 2, 163a Abs. 3 S. 2 und Abs. 4 S. 2, 243 Abs. 4 S. 1 StPO - ist dies hier unproblematisch.
Beim »Sprung« vom einfachen Abstreiten zur substantiierten Lüge stellt sich die Frage nach dem Verhältnis, im welchem das Strafvermeidungsinteresse des einzelnen zum Strafverfolgungsinteresse der Rechtsgemeinschaft steht. Die Argumentation, der zufolge ein Bestreiten "sinnvoll, d. h. mit Aussicht auf Erfolg, nur 417 Ders., a. a. 0.; siehe das Zitat oben I 2 d (im 1. Ergänzungstext). 418 Ders., a. a. 0., S. 56. 419 Rogall, Der Beschuldigte, S. 155, und in: SK, Vor § 133, Rn. 66-67 (m. w. N.); vgl. auch Beulke, Strafprozeßrecht, § 7 IV 6 (S. 53 bei Rn. 125). 420 So besonders Fezer, in: Stree/Wessels-FS, S. 669 (663); siehe dazu schon oben 11 3 a (3).
B. Die Freiheit vom Zwang zur Selbstbelastung
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motiviert,,421 geschehen könne, läßt vennuten, daß Hoffmann von einem generellen Überwiegen der auf die Venneidung von Strafe abzielenden Individualinteressen ausgeht, was angesichts der »interpersonalen« Zielsetzung des Strafrechts (oben A I) nicht richtig sein kann. Auch schwingt in der Begründung des hier nachgezeichneten Plädoyers für eine Ausweitung des Nemo-tenetur-Schutzbereichs auf die substantiierte Lüge der Verdacht mit, daß Hoffmann der weitverbreiteten, gleichwohl irrigen422 Meinung anhängt, der schweigende Angeklagte könne sich nicht verteidigen (siehe oben 11 3 a (1».
Hingegen überzeugt Hoffmanns »Dreisprung« in praktischer und psychologischer Hinsicht. Gerade die Ausgestaltung des Strafrechts, bei dem menschliche Eigenheiten, Schwächen und Reflexe spontan und daher besonders unverfälscht zutage treten, sollte sich letztlich an der Lebenswirklichkeit orientieren - wie sich ja überhaupt das Recht an der Wirklichkeit des Menschen, also gleichsam »intrapersonal« (oben I 2 b (2» zu orientieren hat. Wo gegensätzliche Positionen gleichermaßen überzeugend begründbar sind, sollte das Gewicht der Lebenswirklichkeit in die Waagschale geworfen werden, um so zu einer realitätsgerechten Lösung zu kommen. Bezogen auf die Anregungen Hoffmanns heißt dies:
Zwar besteht zwischen dem »Ich sage nichts« und dem »Ich war es nicht« ein semantischer Unterschied - worauf Fezer zutreffend hinweist423 : hier Lüge, dort Berufung auf das Schweigerecht. Indes erscheint es wenig gerechtfertigt, dem Beschuldigten daraus verschiedene »dogmatische Stricke zu drehen«, je nachdem, wie er sich in den Bruchteilen von Sekunden entscheidet, die auf die Verdachtseröffnung seitens der Ennittler folgen. Angesichts der Verwirrung, in welcher sich der frisch Beschuldigte regelmäßig befindet - zumal der bislang im Umgang mit Strafverfolgungsbehörden unerfahrene Beschuldigte - mutet es unsachgemäß an, diese Reaktion anders zu behandeln als jene. Ebenso wenig überzeugt eine rechtliche Unterscheidung zwischen einfachem und qualifiziertem (also: substantiierten) Leugnen: Gerade der Vernehmungsbeamte wird sich mit ersterem nicht zufriedengeben und dementsprechend nachfragen. Nicht selten ist es also dieser, der tatsächlich die »Lawine« von Ausreden und Erklärungen des Beschuldigten auslöst. Auch ist Hoffmann darin zuzustimmen, daß sich zwischen der Spurenbeseitigung und dem (qualifizierten) Leugnen eine logische Parallele findet, denn in Sprache übersetzt »sagt« der z. B. seine Fingerabdrücke verwischende Täter: »Seht her, Ihr werdet von mir keine Spuren finden, also war ich es nicht.« So gesehen bietet der hier sog. »argumentative Dreisprung« von Hoffmann einen interessanten Ansatzpunkt für die weiteren in Hinblick auf das Selbstbegünstigungsprivileg anzustellenden Überlegungen.
421
422 423
Hoffmann, Selbstbegünstigung, S. 55. So auch Bosch. Aspekte. S. 123 (siehe unten VII 1 c). Fezer, in: Stree I Wessels-FS, S. 676 (663).
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1. Teil: Schuldstrafrecht, Strafzumessung und Nemo tenetur
3. Fünftes ZwischenJazit
• Nicht zwingend für die Notwendigkeit, den Schutzbereich des zugrunde liegenden Nemo-tenetur-Satzes auszuweiten, spricht die von Hoffmann hervorgehobene Beobachtung, daß nur wenige Beschuldigte tatsächlich vollumfänglich von ihrem Schweigerecht Gebrauch machen. • Der Vorschlag, Schweigen, Leugnen und sogar sonstige selbstbegünstigende (Vertuschungs-)Handlungen des Beschuldigten - wie z. B. das Verwischen von Tatspuren - gleichzubehandeln, ist aber insofern bedenkenswert, als alle diese Verhaltensweisen auf dieselbe Motivationslage, nämlich den menschlichen »Selbstbegünstigungstrieb«, zurückzuführen sind. • Im übrigen ist oben (TI 3 b) das verfassungsrechtliche Gebot der Lügefreiheit bereits eigenständig, d. h. ohne Rückgriff auf das Schweigerecht hergeleitet worden; es bedarf daher nicht des von Hoffmann vorgeschlagenen Rückgriffs auf das Schweigerecht.
VI. Das Selbstbegünstigungskonzept der Rechtsprechung 1. Auffassung des BVerjG
a) Drei ausgewählte Entscheidungen In seinem Beschl. v. 13. 1. 1981 (1 BvR 116177424 ), der sog. "Gemeinschuldner-Entscheidung", stellt das BVerfG fest: "Am weitesten reicht der Schutz gegen Selbstbezichtigungen ... für Beschuldigte im Strafverfahren oder in entsprechenden Verfahren. Soweit für [diese] ein Zwang zur Mitwirkung besteht, der zu strafrechtlichen Nachteilen führen kann ( ... ), handelt es sich um passive, ... Duldungs- und Verhaltenspflichten.,,425 "Demgemäß gehört das Schweigerecht des Beschuldigten (§§ 136, 163a, 243 IV StPO) seit langem zu den anerkannten Grundsätzen des Strafprozesses (nemo tenetur se ipsum accusare); ... [es] wird in der Rechtsprechung als selbstverständlicher Ausdruck einer rechtsstaatlichen Grundhaltung bezeichnet, die auf dem Leitgedanken der Achtung vor der Menschenwürde beruhe ( ... ).,,426 Zusätzlich weist das BVerfG auf die "Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftegebundenheit" des einzelnen hin: ,,Das Grundrecht gebietet daher keinen lückenlosen Schutz gegen Selbstbezichtigungen ohne Rücksicht darauf, ob dadurch schutzwUrdige Belange Dritter beeinträchtigt werden. Das Grundgesetz hat ... die Spannung Individuum-Gemeinschaft im Sinne der Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Personen entschieden; der ein424 425 426
In: E, Bd. 56, S. 37 -52; StV 1981, S. 213 -216. BVerfG, in: E, Bd. 56, S. 42 (37). BVerfG, a. a. 0., S. 43.
B. Die Freiheit vom Zwang zur Selbstbelastung
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zeine muß sich daher diejenigen Schranken seiner Handlungsfreiheit gefallen lassen, die der Gesetzgeber zur Pflege und Förderung des sozialen Zusammenlebens in den Grenzen des allgemein Zumutbaren vorsieht, vorausgesetzt, daß dabei die Eigenständigkeit der Person gewahrt bleibt. .. 427 Später hat das BVerfG (in seinem Besch\. v. 7. 7. 1995-2 BvR 326/92428 2. Kammer des 2. Senats) noch andere in Bezug auf das Schweigerecht relevante Verfassungsgrundsätze angeführt: ,,Das dem Beschuldigten im Strafverfahren aus den erörterten verfassungsrechtlich relevanten Gründen zustehende Schweigerecht wird verfahrensrechtlich ergänzt und abgesichert durch den aus dem Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes in Verbindung mit dem allgemeinen Freiheitsrecht (Art. 2 I GG) hergeleiteten Anspruch auf.ein rechtsstaatliches, faires Verfahren ( ... ). Danach darf der Beschuldigte im Rechtsstaat des Grundgesetzes nicht bloßes Objekt des Verfahrens sein; ... Das aus der Menschenwürde des Beschuldigten hergeleitete Schweigerecht wäre illusorisch, müßte er befürchten, daß sein Schweigen später bei der Beweiswürdigung zu seinem Nachteil verwendet wird ( ... ); eine Verwertung des Schweigens zum Schuldnachweis setzte den Beschuldigten mittelbar einem unzulässigen psychischen Aussagezwang aus ( ... )...429 In einer dritten Entscheidung (Beschl. v. 29. 5. 1963-2 BvR 161/6343°) zur Vereinbarkeit des § 142 StGB (a.F.431 ) mit dem Grundgesetz nähert sich das BVerfG dem hier aufgeworfenen Problem von der anderen Seite, indem es nicht den Zwang zur Selbstbezichtigung, sondern das in der benannten Vorschrift normierte Verbot der Selbstbegünstigung in verfassungsrechtlicher Hinsicht analysiert: ,,[A]us dem Rechtsstaatsprinzip läßt sich ein Satz des Verfassungsrechts nicht herleiten, nach dem die Selbstbegünstigung als Ausfluß der persönlichen Freiheit straflos oder darüber hinaus immer erlaubt sein müsse. Die Haftgründe der Fluchtund Verdunkelungsgefahr zeigen vielmehr, daß die Rechtsordnung die Selbstbegünstigung nicht immer billigt. ... Der Staatsbürger wird nicht entwürdigt, wenn die Rechtsordnung von ihm verlangt, daß der für die Folgen seines menschlichen Versagens einsteht ... ,,432 b) Stellungnahme Die Kritik an den Entscheidungen des BVerfG zur Problematik der Selbstbegünstigung beschränkt sich zumeist auf den Hinweis, daß man diesen nicht entnehmen könne, welche verfassungsrechtliche Verortung das Gericht letztlich vorziehe. BeBVerfG, a. a. 0., S. 49. In: StV 1995, S. 505-506; NStZ 1995, S. 555-556. 429 BVerfG, in: NStZ 1995, S. 555. 430 In: E, Bd. 16, S. 191-194. 431 Die durch die Verordnung v. 2. 4. 1940 (in: RGBI. I, S. 606) als § 139a eingefügte Vorschrift ist durch Gesetz v. 4. 8. 1953 (in: BGBI. I, S. 735) in § 142 umbenannt worden. 432 BVerfG, in: E, Bd. 16, S. 194 (191). 427 428
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I. Teil: Schuld strafrecht, Strafzumessung und Nemo tenetur
sonders prägnant schreibt Lorenz von einem in die Debatte geworfenen ..Füllhorn an Verfassungssätzen,,433; in der eingangs zitierten ..Gemeinschuldner-Entscheidung" sieht er das BVerfG einen ..verfassungsrechtlichen >tour d'horizon••• sich kaltblütig in eine Falschaussage verrennen("; ,,Anhaltspunkte dafür, daß die Angeklagte P. zu der falschen Aussage veraniaßt hätte, bestehen nicht". Der BGH argumentiert wie folgt: Die Angeklagte hätte nur durch ein (Teil-)Geständnis die entlastende Falschaussage des Zeugen verhindern bzw. richtigstelIen können; hierzu sei sie aber - auch angesichts der besonderen Beziehung zwischen ihr und dem Zeugen - nicht ver11
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In: JR 1978, S. 89. Vgl. Stree, in: JZ 1966, S. 594 (593) m.N. in Fn. 10 und 12. In: StV 1987, S. 281 - 282. In: StV 1995, S. 505-506; NStZ 1995, S. 555-556. BVerfG, in: NStZ 1995, S. 555 - Hervorhebung nicht im Original. Rogall, in: SK, Vor § 133, Rn. 194 m. w. N. (Hervorhebung nicht im Original). In: BGHR StGB § 46 Abs. 2, Verteidigungsverhalten 12.
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3. Teil: Fallgruppenweise, die beiden Interpretationen vergleichende Analyse
pflichtet gewesen. - Zur Frage der Strafbarkeit des Angeklagten wegen Beihilfe zur Falschaussage (des Entlastungszeugen) durch Unterlassen siehe unten B III. -+ Nach dem bisher zur Wirkung von Nemo tenetur im Strafzumessungskontext Geschriebenen (Stichwort: »Rückschluß-Sperre«) kann nicht bezweifelt werden, daß sich auch der letztgenannte Schluß verbietet; das durchgängige und umfassende Schweigen des Beschuldigten ist und bleibt für den Tatrichter in jeder Hinsicht tabu. Allerdings besteht der Vorteil der umfassenden Neuinterpretation des Nemotenetur-Satzes darin, daß man anband seiner das in Frage stehende Recht des Beschuldigten auch dogmatisch-konstruktiv begründen kann und nicht darauf angewiesen ist, auf die Situation de lege lata - also etwa auf § 136 Abs. 1 S. 2 StPOzu verweisen: Dem Nemo-tenetur-Gedanken, nicht zu seiner eigenen Überführung beitragen zu müssen (hier sog. »erweiterte Rogallsche Formel«, Zweiter Teil: B I 1), steht die Duldungspflicht gegenüber, der zufolge man die Strafverfolgung zu dulden hat. Praktisch bedeutet dies: Beinahe jedes erdenkliche selbstbegünstigende Nachtatverhalten kann durch eine konkrete Duldungspflicht unterbunden werden. Ein Ausnahme bildet das Schweigen; hier verdichtet sich der Nemotenetur-Gedanke zu einem Recht (»Verdichtungsthese«; Zweiter Teil: BIll).
3. *Mehrere Taten im prozessualen Sinn Bei mehreren Taten im prozessualen Sinn wertet es der BGH (z. B. in seinem Urt. v. 26.10.1983 -3 SIR 251/83 18 -aufS. 9) nicht etwa als Teilschweigen, wenn der Beschuldigte ,,zu einer von mehreren selbständigen Taten schweigt. Die Tatsache, daß er sich überhaupt - zu einer Tat - zur Sache einläßt, führt nicht dazu, daß sein Schweigen zu anderen Taten indiziell [So 10] gegen ihn verwertet werden kann ( ... ). Denn insoweit hat er sich eben nicht als ein Beweismittel zur Verfügung gestellt, sondern von seinem Recht Gebrauch gemacht, zur Sachaufk\ärung nicht beizutragen. Diese Rechtslage hängt nicht davon ab, [ob] wegen der verschiedenen Taten überhaupt oder im selben Verfahren Anklage erhoben worden ist." In seiner Anmerkung zu dem eben zitierten Urteil scheint Volk 19 die Ansicht vertreten zu wollen, daß die Aussagefreiheit nur solange gewährt werde, als die Gefahr, sich durch seine Einlassung der Strafverfolgung auszuliefern bzw. zu seiner eigenen Überführung beizutragen, auch tatsächlich drohe;2o sei also eine vorherige Tat nicht mehr verfolgbar, könnten - entsprechend der von Volk aufgestellten Prämisse - aus einem diesbezüglichen, nicht mehr von Nemo tenetur gedeckten Schweigen sehr wohl Schlüsse hinsichtlich der verfolgten Tat gezogen werden. Konsequent zu Ende gedacht, bedeutete diese Argumentation, daß qua Einführung des sog. "Schuldinterlokuts" Nemo tenetur de facto ausgehöhlt werden könnte (dazu auch unten B V 121 ). Dabei wählt Volk als argumentativen Ansatz durchaus zu recht den ,,inneren Grund 18 In: NStZ 1984, S. 377 (m. Anm. Volk, S. 377-378; Anm. Kühl in: JuS 1986, S. 115-
122).
19 S. Fn. davor. Volk, in: NStZ 1984, S. 378 (377). 21 Mit den Fn. 195 - 196. 20
A. Schweigen 1Teilschweigen
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der Aussagefreiheit,022, legt diesen jedoch mit dem alleinigen Hinweis auf die (straf-)rechtlichen Konsequenzen einer Straftat nur gleichsam »eindimensional«, mithin zu eng aus. -+ Der Nemo-tenetur-Gedanke privilegiert hingegen nicht nur die Angst des einzelnen vor den möglichen offiziellen Folgen, sondern generell die Angst des einzelnen vor negativen Folgen seines Handeins, oder, positiv gewendet: Nemo tenetur privilegiert das Bestreben des einzelnen, seinen Status quo (mindestens) zu erhalten (Erster Teil: B I 2 b (2». Oft ist es die Angst vor den informellen (negativen) Konsequenzen des eigenen Handeins, die den Täter vor einem Eingestehen seiner Verantwortung zurückschrecken läBt. 23 Nicht weniger schutzwürdig ist das Unvermögen des Täters, die Tat sich selber gegenüber einzugestehen, etwa weil er sich ihrer schämt. All diese Konsequenzen drohen dem Beschuldigten noch lange nach einem Schuldspruch bzw. nach dem Zeitpunkt, in dem die Tat unverfolgbar geworden ist. Dementsprechend bleibt das Nemo-tenetur-Privileg auch danach noch virulent (vgl. dazu auch unten B VI: erneute Verhandlung zur Straffrage bei rechtskräftigem Schuldspruch).
ll. Teilschweigen Der völlig und durchgängig schweigende Beschuldigte ist, wie viele 24 aus der Praxis zu berichten wissen, selten. 2s Viel häufiger sind die Fälle, in denen der Beschuldigte sich teilweise einläßt und teilweise schweigt, wobei man dieses Teilschweigen wie folgt kategorisieren kann: Entweder der Beschuldigte verweigert anläßlich seiner Einlassung eine Stellungnahme zu einzelnen Aspekten der untersuchten Straftat, oder er läßt sich zwar vollumjänglich ein, dies jedoch nicht in allen Stadien des Verfahrens. Denkt man sich die Prozedur der Strafverfolgung graphisch in eine Zeitachse eingetragen, so drängen sich die für diese heiden Grundformen des Teilschweigens von Richter rr26 geprägten Begriffe geradezu auf: Im erstbenannten Fall liegt ein vertikales Teilschweigen vor, im letzteren ein horizontales Teilschweigen.
Ders., a. a. O. Vgl. dazu den bereits im Ersten Teil (unter B I 2 b (3) mit Fn. 183, 184) zitierten Beitrag von Schöch (in: Jescheck-FS/2, S. 1081-1105) und die a. a. O. in Fn. 185 wiedergegebenen informellen negativen Konsequenzen, die Kallmann (in: GA 1907, S. 231-232 (230» aufzählt. Schleutker (Das prozessuale Verhalten, S. 124) benennt zusätzliche mögliche Folgen: Enttäuschung von Angehörigen, die noch an die Unschuld des Angeklagten glauben, »Abfärben« der "Schande" auf Familienangehörige des Beschuldigten. Auf die mit der Kriminalstrafe einhergehende Gefahr einer Minderung des sozialen Achtungsanspruchs des Verurteilten weist besonders Wo{ff(Verfahrenstrennung und Selbstbegünstigung, S. 54) hin. 24 So z. B. Stree, in: JZ 1966, S. 596 (593); Pfenninger, in: Rittler-FS, S. 368 (355); Hoffmann, Selbstbegünstigung, S. 55. 2S Was Richter 11 (in: StV 1994, S. 691/692 (687» allerdings bestreitet. 26 In: StV 1994, S. 689 (687). 22 23
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3. Teil: Fallgruppenweise, die beiden Interpretationen vergleichende Analyse
1. Horizontales Teilschweigen Einigkeit herrscht hinsichtlich der Bewertung des zeitweisen Schweigens: Zum Wahlrecht zwischen Einlassung und Schweigen gehöre auch das Recht, den Zeitpunkt der Äußerung frei zu bestimmen. 27 Nach Benennung vieler einschlägiger Entscheidungen (auf S. 9/10) führt der BGH in seinem Urt. v. 26. 5. 1992 (5 StR 122192 28 ) dazu (auf S. 10) aus: ,,Müßte der Beschuldigte befürchten, daß sein Schweigen später bei der Beweiswürdigung zu seinem Nachteil verwertet wird, so wäre sein Schweigerecht in einer nicht vertretbaren Weise beschränkt. Er wäre dann nämlich, um diesem Nachteil zu entgehen, gezwungen, schon bei der ersten Vernehmung zur Sache auszusagen. Damit aber wäre er in seiner freien Willensentschließung beeinträchtigt." - Ebenso: Beschl. v. 7.12.1983 (3 StR 484/83 29 ), Urt. V. 2. 4.1987 (4 StR 46/87Y:J); in den auf diese beiden Entscheidungen vorausgegangenen Urteilen hatte der Tatrichter das - nach anfänglichem Schweigen - sehi" späte Vorbringen notwehrbegründender Umstände als ein Beweisanzeichen für deren Unglaubwürdigkeit gewertet.
Die Tatsache, daß der Beschuldigte auch sehr persönliche Motive haben kann, sich in verschiedenen Verfahrensabschnitten unterschiedlich zu verhalten, sei als flankierendes Argument hinzugefügt. Es geschieht z. B. in der Praxis gar nicht so selten, daß der Beschuldigte die betreffende Verhörsperson von früheren Verfahren in unangenehmer Erinnerung hat. - In seinem Beschl. v. 12. 12. 1980 (3 StR 458/80 3 \ - Zitat: unten eIl) gibt der der BGH zu bedenken, daß das Schweigen des Beschuldigten während der Untersuchungshaft auch in seiner entsprechend emotional belasteten Situation begründet liegen könnte.
2. Venikales Teilschweigen Unterläßt der Beschuldigte die Antwort auf einzelne Fragen, so kann dem BGH zufolge "dieses Schweigen von indizieller Bedeutung sein" (Urt. v. 26. 10. 19833 StR 251/83 32 -, S. 9), soweit es um die Beurteilung der Glaubwürdigkeit des Beschuldigten bzw. um die Frage geht, ob er Tater der angeklagten Tat ist. Zur Begründung dieser Ansicht weist das Gericht darauf hin, daß der Angeklagte sich selbst zu einem Beweismittel mache, sobald er sich in Kenntnis seines Schweigerechts zur Sache äußere. 27 Siehe nur Rogall, in: JR 1993, S. 382 (380); Stree. in: JZ 1966, S. 597 (593); Richter /I. in: StV 1994, S. 689/690 (687). 2S In: JR 1993, S. 378-380 (m. Anm. Rogall. S. 380-382); St, Bd. 38, S. 302-307. 29 In: NStZ 1984, S. 209-2\0. Y:J In: StV 1987, S. 281-282. 3\ In: StV 1981, S. 122. 32 In: NStZ 1984, S. 377 (m. Anm. Volk. S. 377 - 378); St, Bd. 32, S. 140-146; JR 1985, S.70-71.
A. Schweigen / Teilschweigen
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Im Urt. des BGH v. 3. 12. 1965 (4 StR 573/65 33 ), auf das im vorliegenden Zusammenhang immer wieder verwiesen wird, liest man (auf S. 5): ..Im übrigen war das Landgericht nicht gehindert, [das vertikale Teilschweigen] zum Nachteil des Angeklagten zu werten"; dies folge aus der Vorschrift des § 261 StPO, die es dem Tatrichter nicht nur gestatte, sondern ihn sogar dazu verpflichte. alle durch die Hauptverhandlung gewonnenen Erkenntnisse umfassend zu würdigen. ,.Äußert [der Angeklagte] sich jedoch zur Sache, obwohl er ... weiß, daß er nicht dazu verpflichtet ist, so macht er sich in freiem Entschluß selbst zu einem Beweismittel und unterstellt sich damit der freien Beweiswürdigung, [So 6] so daß seine Erklärungen wie jede andere Beweistatsache vom Tatrichter zu würdigen sind ( ... ). Dem Tatrichter kann es dann auch nicht verwehrt sein, daraus Schlüsse zu ziehen, daß ein Angeklagter, der sich sonst äußert, bestimmte Einzelfragen unbeantwortet läßt ( ... )." Ebenso: Urt. v. 26. 5.1992 (5 StR 122/92 34), S. 10-11 m. w. N. .
Daß diese Bewertung des (vertikalen) Teilschweigens in praxi eminente Auswirkungen nach sich zieht, liegt auf der Hand: ,,Man denke ... daran, daß der Vorsitzende fragt: Sagen Sie mal, ist das Ihre Unterschrift? Kaum ein Angeklagter wird sich daran hindern lassen, ... daß er daraufhin spontan antwortet: 1a, das ist meine Unterschrift. Oder auch: Das ist sie nicht - was es ja auch geben soll. Wenn man die Begründung des BGH ernst nimmt, daß der entscheidende Schritt ist, daß sich der Beschuldigte selbst zum Beweismittel macht, dann wäre ab jetzt sein Schweigen in der Hauptverhandlung für ihn negativ verwertbar. ,,3S Bei der Strafzumessung mag der BGH allerdings keine nachteiligen Schlüsse aus dem vertikalen Teilschweigen ziehen: Aus dem Urt. des BGH v. 25. 3. 1981 (3 StR 61181 36 ), S. 7: ..[Der Angeklagte] kann ... , um seine Verteidigungsposition nicht zu gefahrden, Angaben zu bestimmten Punkten, z. B. zur Identität der Rauschgiftlieferanten, verweigern, ohne daß ihm ein solches Schweigen bei der Strafzumessung zum Nachteil gereichen dürfte ( ... ). Das Recht, sich gegen die Anklage zu verteidigen, darf ihm hier auch nicht mit der Begründung beschränkt werden, durch sein teilweises Schweigen unterlasse er es, die Verursachung eines weiteren Schadens durch den Dealer zu verhindern." Ebenso: Beschl. v. 7.11. 1995 (J StR657/95 37 , S. 3: ,,Das Recht des Angeklagten zu schweigen[ ] umfaßt auch das Recht, zu bestimmten Einzelfragen Angaben zu verweigern.") und schon Beschl. v. 19. 12. 1972 (2 StR 368172 38 ). Gegen diese Ansicht des BGH wird üblicherweise von drei Richtungen aus argumentiert: Rogall 39 bezieht sich auf die Aussage/reiheit als solche, die unteilbar sei und auch das Recht zur Teileinlassung umfasse. Bei einer für den Beschuldigten In: St, Bd. 20, S. 298-301. In: StV 1992, S. 355-356; NStZ 1992, S. 448-449; IR 1993, S. 378-380 m. Anm. Rogall, S. 380-382. 3S Richter 11, in: StV 1994, S. 690 (687). 36 In: StV 1981, S. 276; NStZ 1981, S. 257-258. 37 In: BGHR StGB § 46 Abs. 2, Nachtatverhalten 23. 38 In: MDR 1973, S. 370. 39 Rogall, in: SK, Vor § 133, Rn. 205, sowie: Der Beschuldigte, S. 254/255. 33 34
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3. Teil: Fallgruppenweise, die beiden Interpretationen vergleichende Analyse
ungünstigen Würdigung des Teilschweigens trete eine Beeinträchtigung der Aussagefreiheit in derselben Weise ein wie bei einer entsprechenden Verwertung des völligen Schweigens.4o - Dieses Vorbringen ist nicht stichhaltig: Mit dem Wortlaut der Belehrungsvorschriften der StP041 läßt sich die Rechtsauffassung des BGH durchaus vereinbaren; und das anglo-amerikanische Straf(prozeß)recht zeigt, daß sich Aussagefreiheit und Wahrheitspflicht nicht grundsätzlich ausschließen (worauf bereits im Ersten Teil (unter B 11 3 a (3)) hingewiesen worden ist). Wahr ist aber vor allem eine vollständige Aussage. Auf den ersten Blick überzeugender ist der, soweit ersichtlich, erstmals von Kühl in die Diskussion eingebrachte Aspekt der ,,Möglichkeit freier Selbstdarstellung im Strafverfahren,,42.43 Tatsächlich ist die StPO - man denke etwa an § 136 Abs. 244 - so konzipiert, daß der Angeklagte sich auf das Vorbringen entlastender Momente beschränken kann.45 Mehr noch: Der Verteidiger des Angeklagten ist sogar zu strenger Einseitigkeit verpflichtet,46 er ,,[hat] alles den Beschuldigten Entlastende vorzubringen und das ihn Belastende kritisch ... zu würdigen,,47. Folgte man dagegen der Ansicht des BGH, wäre dieser Aspekt der verfassungsrechtlich garantierten Verteidigungsmöglichkeit scheinbar in Frage gestellt. Im übrigen lassen sich viele »harmlose« bzw. (sogar) achtenswerte Gründe für ein teilweises Schweigen des Beschuldigten denken, ein Einwand, der unweigerlich die Frage nach der Sicherheit der aus dem Schweigen zu ziehenden Schlüsse aufwirft. 48
Dieses Argument geht jedoch insofern an der hier gestellten Frage vorbei, als es thematisiert, welcher Verfahrensbeteiligter was in das Verfahren einbringen kann bzw. darf; hier geht es hingegen um die Beweiswürdigung des ins Verfahren Eingebrachten und ob man das vertikale Teilschweigen dazu zählen kann bzw. darf. Ders., in: JR 1993, S. 381 (380). Namentlich in den §§ 115 Abs. 3 S. I, 128 Abs. 1 S. 2, 136 Abs. 1 S. 2, 163a Abs. 3 S. 2 und Abs. 4 S. 2, 243 Abs. 4 S. 1. 42 Kühl, in: JuS 1986, S. 121 (115). 43 Auf diesen Gesichtspunkt konzentriert sich auch Bosch, Aspekte, S. 118/119,353; siehe im Ersten Teil: B VII 1 c. 44 Vg!. Weßlau (in: 'ZStW, Bd. 110 (1998), S. 34 (1» 45 Rogall, in: JR 1993, S. 381 (380). 46 Siehe nur Dahs, Handbuch, A I 2 (S. 8 bei Rn. 5); Peters, Strafprozeß, § 29 I (S. 213); Sax, in: KMR, Ein!. IV, Rn. 21. Und Krekeler (in: NStZ 1989, S. 146) greift das von Sax (in: KMR, Ein!. IV, Rn. 10 und 19) geprägte Bild des "Angriffs" auf: ,,Aufgabe und Pflicht des Verteidigers ist es, diesen für den betroffenen Bürger abzuwehren. Dazu hat er auf der Beachtung aller zugunsten des Beschuldigten sprechenden rechtlichen und tatsächlichen Umstände zu bestehen." 47 Sax, a. a. 0., Rn. 35. 48 Statt vieler, weil mit lebensnahen Beispielen, warum der Beschuldigte sich dazu entschließen mag, auf einzelne Fragen nicht zu antworten (,,Rücksichtnahme auf seine Ehe, auf private oder geschäftliche Beziehungen usw."), Wesseis, in: JuS 1966, S. 172 (169). 40 41
A. Schweigen / Teilschweigen
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Bleibt noch der generelle Einwand der Inkonsequenz49: "Über die Zulässigkeit von Schlußfolgerungen aus dem Schweigen eines Beschuldigten sollte nur einheitlich entschieden werden"so. Vor Erscheinen der Untersuchung Boschs über Aspekte des Nemo-tenetur-Prinzips (Erster Teil: VII 1) hätte man dieser Kritik schlicht mit dem Hinweis begegnen können, daß es sich bei der Beweiswürdigung gern. § 261 StPO einerseits und der Strafzumessung nach den Grundsätzen des § 46 StGB andererseits um zwei verschiedene Vorgänge handelt. Bei Boschs1 klingt indes ein Argument an, daß einer näheren Analyse bedarf: Würde sich der Angeklagte nicht darauf beschränken, auf einzelne Fragen zu schweigen, sondern antwortete er jeweils mit einer Lüge, dürfte sich dies für ihn wegen der ihm zustehenden Lügefreiheit nicht negativ auswirken. Der Lüge indes haftet, denkt man in ethisch-sittlichen Kategorien, ein größerer Unwert an als dem einfachen Schwe~ gen. Die Ansicht des BGH führt mithin zu einem Wertungswiderspruch, ganz abgesehen davon, daß ihr zufolge die »Abgebrühtheit« (oder Routine?) dessen, der Lücken in seiner Einlassung mit einer Lüge füllt, scheinbar belohnt wird, Skrupel dessen, der sich zu einer solchen »kosmetischen Lüge« nicht durchringen kann, hingegen bestraft werden. Wiederum ist es hilfreich, exakt zu differenzieren: Nach der überwiegenden MeinungS2 darf die vom Tatrichter als solche erkannte Lüge zwar nicht strafschärfend berücksichtigt werden, ein (im Ergebnis negativer) Schluß von der Lüge auf die Glaubwürdigkeit des Angeklagten bzw. gar auf seine Thterschaft soll hingegen zulässig sein. Dabei konzediert freilich auch der BGH - so z. B. im Urt. v. 21. I. 1998 (5 StR 469/97 s3 )-, daß es hierzu besonderer Umstände bedürfe, schließlich könne auch ein Unschuldiger Zuflucht zur Lüge nehmen. So unwiderlegbar dieser Hinweis ist, überzeugender, weil dogmatisch bedingt, ist ein anderer: Geriete etwa beim Scheitern eines vom Angeklagten eingebrachten Alibibeweises der fehlende Nachweis der Unschuld - wer zur Tatzeit woanders war, kann nicht am Tatort gewesen sein - zum Schuldindiz, widerspräche dies der aus der »Beweislastverteilung«S4 im Strafverfahren resultierenden ss Unschuldsvermutung (vgl. im Ersten Teil: B 11 2 C).S6 - Im gerade angeführten Urteil konstruiert der BGH in Abwandlung des dort zu bewertenden Sachverhalts (auf S. 6) folgendes Beispiel: Eine Besonderheit wäre es, "wenn der Angeklagte für einen Teil des - nunmehr festgestellten - Tatzeitraums ... ein
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So auch Rüping, in: JR 1974, S. 138 (134), und Günther, in: JR 1978, S. 91 (89).
so Rogall, in: SK, Vor § 133, Rn. 207.
Bosch, Aspekte, S. 193/ 194. Z. B. Hanack, in: LI R, § 136, Rn. 42; Boujong, in: KK, § 136, Rn. 20; Rüping, in: JR 1974, S. 139 (135); Castringius, Schweigen und Leugnen, S. 67. S3 In: BGHR StPO § 261, Überzeugungsbildung 30. S4 Siehe dazu im Ersten Teil: B 11 2 c (mit Fn. 267). ss Umgekehrt die h.M., siehe die Nachweise im Ersten Teil in Fn. 270. S6 Siehe Strate, in: StV 1982, S. 159; zur Beweiswürdigung eines fehlenden Alibis bzw. eines gescheiterten Alibibeweises siehe auch BGH, in: St, Bd. 41, S. 153-156; BGHR StPO § 261, Überzeugungsbildung 11; StV 1982, S. 158 und 158-159. SI
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3. Teil: Fallgruppenweise, die beiden Interpretationen vergleichende Analyse
unwahres Alibi vorgebracht hätte, obwohl er - wenn nicht durch Tatbegehung - von der Tatzeit nicht hätte wissen können".
Als Argument wird dasselbe vorgebracht, was die Rechtsprechung zur Begründung der Berücksichtigung des vertikalen Teilschweigens anführt (oben a), daß sich nämlich der lügende Angeklagte, indem er aussagt, als Beweismittel i.w.S. zur Verfügung stelle und daher seine Äußerung der freien Beweiswürdigung unterliege. 57 - Im Licht der überwiegenden Meinung gibt es also den gerade reklamierten Wertungs widerspruch gar nicht; gleich ob der Beschuldigte die Antwort auf bestimmte Fragen verweigert oder sich, um den Anschein der vollumfänglichen Einlassung zu erwecken, mit »kosmetischen Lügen« behilft - beides kann, ja: muß gleichermaßen gern. § 261 StPO gewürdigt werden. -+ Freilich stellt sich nun die Frage, ob die im Rahmen der Beweiswürdigung stattfindende Berücksichtigung der (vom Tatrichter als solche erkannten) Lüge gegen die verfassungsmäßig garantierte Lügefreiheit verstößt, so wie sie im Ersten Teil (unter B 11 3 b) hergeleitet worden ist. Die dortige Argumentation steht und fallt mit der Feststellung, daß der negative Indizienschluß von der (vermeintlich) unwahren Äußerung des Beschuldigten auf die von ihm verwirkte Schuld (Stichwort: Indizmethode - Erster Teil, A IV 1) einem zum »primären« Tatvorwurf akzessorischen, zusätzlichen »Sekundärvorwurf« gleichkäme, der für den Fall, daß das Gericht die Wahrheit verkennt, dem Beschuldigten nicht etwa die Lüge zur Last legt - denn er hat ja nicht gelogen -, sondern vielmehr die Tatsache, daß seine Einlassung nicht mit dem übereinstimmt, was das Gericht als wahr erkannt hat. Die Berücksichtigung der Einlassungen des Beschuldigten im Rahmen der Beweiswürdigung führt indes nicht zu einem solchen zusätzlichen Vorwurf; in Frage steht hier die angeklagte Tat, also der, sollte das Gericht den Beschuldigten ihrer für überführt halten, »Primärvorwurf«. Auf diese Frage bezieht sich die eben nachgezeichnete Argumentationskette nicht. Daraus erhellt, daß die Lügefreiheit einer Berücksichtigung der als unwahr (v)erkannten Aussage des Beschuldigten nicht entgegensteht.
Die Lüge steht hier in ihrer Wirkung den sonstigen Beweisergebnissen gleich: Auch diese können materiell unrichtig sein, ohne daß der Tatrichter angesichts dieser Möglichkeit auf jegliche BeweiswÜfdigung verzichten müßte. Dem Ziel einer wahrheitsgemäßen Tatsachenfeststellung und damit einer Minimierung der Fehlurteilquote dienen vielmehr die im Strafverfahren vorgesehenen vielfältigen Sicherungen (Beispiele im Ersten Teil unter B 11 3 b (2) im 2. Ergänzungstext).
Führt also der Umweg über die Lügefreiheit nicht zu einer Ablehnung der Möglichkeit, das vertikale Teilschweigen des Beschuldigten im Rahmen der Beweiswürdigung gern. § 261 StPO zu berücksichtigen, bleibt die Frage, ob das (aus einer »Verdichtung« der Nemo-tenetur-Idee resultierende, hier unter der Bezichtigungsfreiheit subsumierte) Schweigerecht selber gegen die von der überwiegenden Mei57
Hanaele, in: LlR, § 136, Rn. 42.
A. Schweigen f Teilschweigen
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nung befürwortete Praxis spricht. Diesbezüglich kann auf den schon oben gegen die Argumentationsführung Rogalls erhobenen Einwand verwiesen werden. Die Option, schweigen zu dürfen, steht nicht im logischen Gegensatz zur Erwartung gegenüber dem Beschuldigten, sich im Fall der Aussage an die Wahrheit zu halten. Das Verbot, aus dem Schweigen des Beschuldigten negative Schlüsse zu ziehen, dient nicht der Sanktionierung unwahrer Äußerungen im Strafverfahren, sondern soll einzig und allein sicherstellen, daß der Beschuldigte sich frei und ohne Druck entscheiden kann, ob der sich überhaupt zur Sache einlassen will oder nicht58 und wann er sich einläßt. 59
Nemo tenetur steht mithin de interpretatione ferenda einer Würdigung des vertikalen Teilschweigens des Beschuldigten gern. § 261 StPO nicht entgegen; strafschärfend darf das vertikale Teilschweigen indes nicht berücksichtigt werden.
3. »Technisches« vertikales Teilschweigen Freilich kollidiert die dargestellte Rechtsprechung auf den ersten Blick mit zentralen Verfahrensrechten des Beschuldigten, namentlich den Frage- und Erklärungsrechten gern. §§ 240 Abs. 2 S. 1,257 Abs. 1,258 StPO sowie dem immerhin aus Art. 103 Abs. 1 GG herzuleitenden60 Beweisantragsrecht. Es liegt auf der Hand, daß sich der Angeklagte - zumal der in strafrechtlichen Belangen unerfahrene kaum dieser Instrumentarien bedienen kann, ohne Erklärungen zur Sache abzugeben. Hat er es bisher vorgezogen, zum Anklagevorwurf zu schweigen, so durchbricht er nun mit diesen in seinen Fragen, Erklärungen oder Anträgen enthaltenen Tatsachenbehauptungen sein Schweigen zur Sache, das sich mithin auf ein vertikales Teilschweigen reduziert und aus dem nach Ansicht der Rechtsprechung negative Schlüsse in Hinblick auf Glaubwürdigkeit und Täterschaft des Angeklagten gezogen werden können. Man denke hierbei etwa an das oben 2 (im 2. Ergänzungstext) angeführte Beispiel, in dem der Richter den Angeklagten fragt, ob die vorgezeigte Unterschrift seine sei.
Da dieses Teilschweigen also aus einer Wahrnehmung der dem Beschuldigten zustehenden prozessualen Rechte resultiert, soll es im folgenden der Prägnanz wegen als »technisches vertikales Teilschweigen« bezeichnet werden. Die überwiegende Meinung behilft sich in den Fällen der §§ 240, 257, 258 StPO gleichsam mit einer teleologischen Reduktion der Äußerungen des Angeklagten, indem deren unvermeidlicher61 Einlassungs-Charakter einfach ignoriert oder als bloße Stellungnahme zum Beweisergebnis62 uminterpretiert wird. Will man sich S8 59 60 61 62
Dezidiert auf die Entscheidungsfreiheit stellt auch Stree (in: JZ 1966, S. 595 (593» ab. Vgl. auch Rogall, in: JR 1993, S. 382 (380). Siehe nur die Nachweise bei Meyer-Goßner. in: KIf M-G, § 244, Rn. 29. Vgl. Richter 11, in: StV 1994, S. 690 (687). Vgl. Rogall, Der Beschuldigte, S 251.
240
3. Teil: Fallgruppenweise, die heiden Interpretationen vergleichende Analyse
auf diese ,,Eiertänze,,63 nicht einlassen, muß man feststellen, daß sich die benannten Rechte einerseits und das Schweigerecht andererseits de facto als einander ausschließende Alternativen gegenüberstehen. Hinsichtlich sonstiger Erklärungen und des Beweisantragsrechts muß vorweg klargestellt werden: Daß Erklärungen des Verteidigers sowie in dessen Beweisanträgen notwendigerweise 64 liegende Tatsachenbehauptungen nicht ..ohne weiteres" als Einlassung des Angeklagten verwertet werden dürfen (so aber bezüglich der erstgenannten Konstellation der BGH im Beschl. v. 14. 8. 1997 - 1 StR 441/9765 -, S. 1), ist keine spezifische Folge der dargestellten Rechtsprechung, denn auch wer meint, aus dem vertikalen Teilschweigen als solchem keine Schlüsse zu Ungunsten des Angeklagten ziehen zu dürfen, muß ennitteln, ob sich der Angeklagte die Erklärungen bzw. Tatsachenbehauptungen des Verteidigers zurechnen lassen will. Falls dem nämlich so sein sollte, bedeutete die Nichtbeachtung dieser Einlassung eine Verletzung des aus Art. 103 Abs. 1 GG herzuleitenden Anspruchs des Angeklagten auf rechtliches Gehör66 , die Nichtwürdigung der Einlassung daruber hinaus einen Verstoß gegen § 261 StPO. Die letztgenannte Rüge könnte mutatis mutandis der (mittlerweile) Verurteilte erheben, wollte er die anwaltlichen Äußerungen nicht als seine verstanden wissen, sind sie aber als seine gewürdigt worden. In heiden Fällen verstieße der Tatrichter zudem gegen den Ermittlungsgrundsatz des § 244 Abs. 2 StPO, der ihm auferlegt, ..allen erkennbaren und sinnvollen Möglichkeiten zur Aufklärung des Sachverhalts nachzugehen"67. Hierzu gehört freilich auch die Unterscheidung der Einlassungen des direkt betroffenen Angeklagten von den Äußerungen des Verteidigers, dessen »tägliches Brot« schließlich die ..spekulative Darstellung alternativer Geschehensabläufe,,68 ist.
Dementsprechend heißt es z. B. im Beschl. des BGH v. 29. 5. 1990 (4 StR 118/ 9069), daß Erklärungen des Verteidigers als Einlassung des Angeklagten verwertet werden dürfen, wenn (S. 11) ..durch Erklärung des Angeklagten oder des Verteidigers klargestellt wird, daß der Angeklagte diese Äußerungen als eigene verstanden wissen will ( ... )." Ebenso (mit Verweis auf die zitierte Entscheidung): BGH, Urt. v. 24. 7. 1991 (4 StR 258/ 91 70), S. 4. 63 64
Richter 11, in: StV 1994, S. 690 (687). Siehe nur Tröndle, § 244, Rn. 20 (m. w. N.).\
In: StV 1998, S. 59 (m. Anm. Park, S. 59-61). Siehe das BVerfG, in: E, Bd. 42, S. 367/368 m.v.N. (364); Bd. 60, S. 252 (250); Bd. 64, S. 144 (135). 67 BGH, in: BGHR StPO § 244 Abs. 6, Beweisantrag 23 (zur Suche nach einem Zeugen). 6S OLG Hamm, in: JR 1980, S. 82. 69 In: NStZ 1990, S. 447 -448; BGHR StPO § 243 Abs. 4, Äußerung 2. 70 In: BGHR StPO § 243 Abs. 4, Äußerung 4. 6S
66
A. Schweigen I Teilschweigen
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Diese Ansicht stimmt zwar mit dem gerade Konstatierten überein, indes erweist sich ihre Begründung als fehlerhaft: Vor dem Hintergrund des § 261 StPO kann weder eine entsprechende Erklärung des Angeklagten noch eine solche des Verteidigers ausschlaggebend für eine Zurechnung sein, sondern allein die Überzeugung des Gerichts von einer tatsächlich existierenden Vertretungsmacht des Verteidigers hinsichtlich der fraglichen Äußerungen. 71 Die richterliche Überzeugung kann (und darf) sich gern. § 261 StPO nur in Bezug auf denjenigen Prozeßstoff entwickeln, der Bestandteil des Inbegriffs der Hauptverhandlung geworden ist, also in Bezug auf "die eigene Einlassung des Angeklagten oder eine Zeugenaussage des Verteidigers"n .73 Fezer hingegen mißt allein der Antwort des Angeklagten auf die entsprechende Frage des Tatrichters Bedeutung bei: ,,Bestätigt der Angeklagte die Darstellung des Verteidigers, dann hat er sich selbst unmittelbar zur Sache eingelassen.... Verweigert er die Antwort, dann kann die Schilderung des Verteidigers nicht zum Gegenstand der Beweiswürdigung gemacht werden ...74
Bis hierher wirft die Rechtsprechung zum vertikalen Teilschweigen also keine besonderen Probleme auf: Der Tatrichter muß sowieso ermitteln, was er letzlich als Einlassung des Angeklagten LS. der StPO zu würdigen hat. Und da dem Verteidiger ein selbständiges75 Beweisantragsrecht zukommt,76 ist das Schicksal des konkreten Antrags nicht von der Erklärung des Angeklagten abhängig, er wolle die Beweisbehauptung als eigene Einlassung zur Sache verstanden wissen; im Gegenteil: verneinendenfalls bleibt sein Schweigen ungebrochen, ist also für die Beweiswürdigung weiterhin unverwertbar, der beantragte Beweis muß dennoch erhoben werden, ist er in Gemä8heit des § 244 StPO gestellt. Kann also der verteidigte Angeklagte ein »technisches« vertikales Teilschweigen, wie gerade beschrieben, vermeiden, ist das dem unverteidigten Angeklagten, der einen Beweisantrag stellen will, nicht möglich: Er kann schlecht eine Beweisbehauptung aufstellen und zugleich versichern, sie habe mit seinem persönlichen Wissen um das fragliche Geschehen nichts zu tun. Angesichts seiner FÜfSorgepflicht muß das Gericht dem Angeklagten möglicherweise sogar dabei helfen, den Beweisantrag in Einklang mit den Anforderungen der StPO zu stellen,TI also ggf. auch darauf hinwirken, daß er eine Beweisbehauptung aufstellt. So auch Park, in: StV 1998, S. 61 (59). Fezer. in: JR 1980, S. 85 (82). 73 Siehe auch die Entscheidung des BGH (in: NStZ 1994, S. 184-185) zur ggf. aus dem Unmittelbarkeitsgrundsatz resultierenden Notwendigkeit der Vernehmung des Verteidigers als Zeugen. 74 In: JR 1980, S. 82. 75 Diesen Aspekt hebt Beulke (Der Verteidiger, S. 129) besonders hervor. 76 Gollwitzer. in: LlR, § 244, Rn. 96; Tröndle, § 244, Rn. 30 (m.zahlr.N.). 77 Vgl. Meyer. in: Alsberg/Nüse/Meyer, 2. Buch, 3. Haupttl., 1. Kap., § 3 (S. 396-397); Tröndle, § 244, Rn. 35. 71
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16 Torka
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3. Teil: Fallgruppenweise, die beiden Interpretationen vergleichende Analyse
Freilich könnte man dem aufgezeigten Dilemma auf dem etwas »krummen« Weg entkommen, der bei Anwendung der §§ 240, 257, 258 StPO beschritten wird. Noch unangebrachter wäre es, die Regel aufzustellen, der zufolge zwar das vertikale Teilschweigen, nicht aber das hier sog. »technische« vertikale Teilschweigen berücksichtigt werden dürfte. öffnete sie doch der Möglichkeit des Mißbrauchs der benannten Rechte zu »folgenlosen« Einlassungen Tür und Tor. Mithin wirft die Existenz der §§ 240, 257. 258 StPO sowie des Beweisantragsrechts erneut die grundsätzliche Frage nach der Verwertbarkeit des vertikalen Teilschweigens im Rahmen der Beweiswürdigung gern. § 261 StPO auf. Dabei bedeutet die Tatsache. daß gewisse, dem Beschuldigten zustehende Rechte sich gegenseitig ausschließen, nicht schon per se eine Systemwidrigkeit. Regeln die solchermaßen alternativ eingreifenden Rechte verschiedene Sachverhalte, so ist ihre gegenseitige Exklusivität nur logisch. Dieser Gedanke ist hier der richtige Anknüpfungspunkt: Die §§ 240,257, 258 StPO sind zugeschnitten auf den Angeklagten, der in der Hauptverhandlung aktiv mitwirken will; sie sollen die durchgängige Implementierung des ihm zustehenden rechtlichen Gehörs (gern. Art. 102 Abs. 3 GG) sicherstellen.78 damit es sich nicht so verhält, daß sich der Angeklagte nur zu Beginn der Hauptverhandlung äußern darf, während des folgenden Verfahrens hingegen nicht mehr. Die benannten Rechte setzen also, mit anderen Worten, gedanklich einen Angeklagten voraus, der sich entschieden hat, von seinem Schweigerecht keinen Gebrauch (mehr) zu machen. Ob er sein Schweigen vermittels einer eigenständigen Erklärung oder aber im Rahmen etwa einer Stellungnahme zur geschehenen Beweiserhebung gern. § 257 StPO bricht, ist gleichsam nur eine »technische« Frage, die an der Tatsache der Einlassung als solcher inhaltlich nichts ändert. Hinzu kommt die Überlegung, die WesseIs so anschaulich in Worte faßt: "Wer durch teilweises Schweigen - anders als beim Verzicht auf Entlastung durch gänzliches Schweigen - den ,guten Tropfen' genießt (d. h. die Möglichkeit zum Vortrag aller entlastenden Tatsachen ausnutzt), muß den ,bösen Tropfen' (d. h. die freie Würdigung seiner Gesamteinlassung) in Kauf nehmen ...79
Zudem bedeutet die grundsätzliche Verwertbarkeit des vertikalen Teilschweigens anläßlich der Beweiswürdigung nicht, daß dieses Verhalten gleichsam automatisch zuungunsten des Beschuldigten ausgelegt wird. Im Gegenteil: Der Tatrichter wird anläßlich seiner Beweiswürdigung Ld.R. feststellen, daß diesem Schweigen gerade keine Aussagekraft zukommt. Nicht von ungefähr bezeichnet Stree aus dem Schweigen gezogene Schlüsse generell als "mehr oder minder Mutmaßungen"80, und auch Günther81 , negative Schlüsse nicht grundsätzlich ablehnend, rät zu äußerster Vorsicht. 82 78 Siehe nur Meyer-Goßner, in: KIIM-G, § 257 und § 258, jew. Rn. 1, sowie Einl, Rn. 23 und 29. 79 Wesseis, in: JuS 1966, S. 172 (169) in Fn. 20. 80 Stree, in: JZ 1966, S. 598 (593). 81 Günther, in: JR 1978,94 (89).
A. Schweigen I Teilschweigen
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Die Unbrauchbarkeit des vertikalen Teilschweigens als Beweisanzeichen tritt anband des oben 2 (im 2. Ergänzungstext) angeführten Unterschriften-Beispiels besonders deutlich hervor: Aus der Tatsache, daß der Angeklagte bestätigt hat, die ihm gezeigte Unterschrift stamme von ihm, wird der Richter nicht auf die Unglaubwürdigkeit der Antwort schließen daß also die vorgezeigte Unterschrift doch nicht die des Angeklagten sei! Insofern ist Günther83 zu folgen, der die Regel aufstellt, daß das Schweigen umso mehr an Beweiskraft verliere, je weniger der Angeklagte aussage. Doch schon der Umkehrschluß zeigt, daß man auch in diesem Punkt keine (Beweis-)Regeln aufstellen kann: Günther hält es ,,für am ehesten auslegungsfähig, wenn der Angeklagte sich nahezu vollständig einläßt und nur zu einem einzigen Sachpunkt die Antwort verweigert. ,,84 Doch gerade dieses Aussageverhalten kann auch für die Glaubwürdigkeit des Angeklagten sprechen: Warum sollte er, wenn er denn schon zu dem einen oder anderen Punkt gelogen hat, ausgerechnet vor einer Lüge auf die letztlich unbeantwortet gebliebene Frage zurückschrecken? Die nötige Sicherheit des negativen Schlusses aus dem Schweigen wird der Tatrichter im übrigen aus den sonstigen Beweisergebnissen ziehen, so daß de facto dieser Schluß gar nicht mehr nötig ist. 85
Auch die Existenz der dem Angeklagten zustehenden prozessualen Rechte steht mithin einer grundsätzlichen Verwertbarkeit seines Schweigens zu einzelnen Punkten im Rahmen der Beweiswürdigung nicht entgegen. Aufgrund der regelmäßig geringen Aussagekraft des Schweigens werden Schlüsse daraus - parallel zur entsprechenden Problematik der Berücksichtigung der Lüge gern. § 261 StPO - nur unter besonderen Umständen zu ziehen sein.
4. *Der unbegründete Widerruf des Geständnisses Wohin indes die Rechtsprechung über das vertikale Teilschweigen führen kann, ist anband des Besch!. des BGH v. 14. 11. 1997 (3 StR 529/97~) ersichtlich: Nachdem der Angeklagte im Ermittlungsverfahren vor Polizei und Ermittlungsrichter umfangreiche und im wesentlichen geständige Angaben gemacht hatte, schwieg er in der Hauptverhandlung. Seine früheren Angaben wurden daher anderweitig eingeführt, woraufhin er ohne nähere Begründung seine ursprünglichen, geständigen Äußerungen widerrief. Am Ende der Hauptverhandlung gab dann der Verteidiger fllr den Angeklagten "eine ,wie maßgeschneidert' auf das bisherige Beweisergebnis zugeschnittene Einlassung" (S. 3) ab, ohne daß der Angeklagte für Fragen hierzu zur Verfügung gestanden hätte. - Die Revisionsrichter hielten das ursprüngliche Geständnis für glaubwürdig - ausweislich der Urteilsgründe wurde es "durch das übrige Beweisergebnis weitgehend bestätigt" (S. 4), mußten also vice versa den Widerruf als unglaubwürdig einstufen, was im Urteil durch folgende Konstruktion erreicht wird: Der BGH qualifiziert zunächst den Widerruf als ,.Angabe zur Sache und nicht lediglich ein pauschales Be82 Siehe auch die oben in Fn. 48 angeführten Beispiele von Wesseis (in: JuS 1966, S. 172 (169), der anband ihrer die auch bei ihm bestehende Skepsis gegen Schlüsse aus dem (vertikalen) Teilschweigen begründet. 83 Giinther, in: JR 1978, S. 94 (89). 84 Ders., a. a. O. 85 Vg!. Strate, in: StV 1982, S. 159. ~ In: NStZ 1998, S. 209.
16"
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3. Teil: Fallgruppenweise, die beiden Interpretationen vergleichende Analyse
streiten" (a. a. 0.), was - semantisch betrachtet - richtig ist, beinhaltet doch der Widerruf einer Aussage denklogischerweise deren kontradiktorisches Gegenteil. Die also im Widerruf liegende Angabe zur Sache ist, da sie weder mit einer Begründung, geschweige denn mit einer die erste Version ersetzenden »Zweitversion« einhergeht, unvollständig, demnach eine Teileinlassung. Komplementär dazu wird das Fehlen einer Begründung für den Widerruf als (vertikales) Teilschweigen gedeutet. Aus dieser Lückenhaftigkeit schließt der BGH auf die Unglaubwürdigkeit der tatsächlichen Teileinlassung - hier: des Widerrufs. Dieser umständlichen Konstruktion hätte es nicht bedurft: Das Schweigerecht spielt hier richtigerweise nur insoweit eine Rolle, als es die Frage provoziert, ob das ursprüngliche, später widerrufene Geständnis noch gewürdigt werden darf, wenn der Angeklagte nun zur Sache schweigt (bzw. den Tatvorwurf pauschal abstreitet), ist doch klar, daß der Widerruf als solcher das vorher Geschehene - eben auch die geständigen Einlassungen des Beschuldigten - nicht ungeschehen macht. Aus dem Schweigen als solchem dürfen keine negativen Schlüsse gezogen werden, weil sich ansonsten der Beschuldigte nicht unbeeinflußt und ohne Druck dazu entscheiden könnte. 87 Geschützt ist also die (Freiheit der) Entscheidung zu schweigen oder auszusagen,88 was die freie Wahl des Zeitpunktes dieser Entscheidung mitumfaßt. 89 Mit anderen Worten: Der Übergang vom einen in den anderen Zustand muß jederzeit und ohne »Repression« möglich sein. Der Übergang vom Schweigen zum Reden ist denklogischerweise nahtlos; umgekehrt bedarf es hingegen eines logischen Zwischenschritts, des Widerrufs der vorherigen Äu&rung(en). Diese Entscheidung, vom Reden zum Schweigen überzugehen, kann der Beschuldigte also nur dann frei treffen, wenn weder aus dem späteren Schweigen (als solchem) noch aus dem Widerruf (als solchem) negative Schlüsse gezogen werden dürfen. Daraus erhellt, daß das Schweigerecht einer Würdigung der ursprünglichen Aussage nicht entgegensteht, daß, umgekehrt formuliert, die Aussagefreiheit dem Angeklagten keinen Anspruch darauf gewährt, ..bereits geleistete Beiträge zur Wahrheitserforschung zurOckzuziehen,,90, also gleichsam zu ..annullieren,,91. Der BGH schießt über das Ziel hinaus, indem er den Widerruf (wie gerade dargestellt) in zwei Elemente - den eigentlichen Widerruf sowie dessen Begründung - aufspaltet und den unbegründeten Widerruf als vertikale Teileinlassung qualifiziert, aus deren Lückenhaftigkeit er auf die U nglaubwürdigkeit der »Resteinlassung« - hier: des eigentlichen Widerrufs - schließt, mithin de facto für den Widerruf eine Begründung fordert, ohne daß diese Forderung in der StPO eine StUtze findet.
B.Leugnen Für den Beschuldigten in der Vernehmung bzw. den Angeklagten in der Hauptverhandlung, der sich gegen ein Geständnis entschieden hat, gibt es nur zwei selbstbegünstigende Verhaltensalternativen: 92 Entweder er schweigt zur Sache und muß die damit zwangsläufig einhergehenden Nachteile in Kauf nehmen. 87
88
89 90 91
92
Stree. in: JZ 1966, S. 595 I 596 (593).
Ders., a. a. 0., S. 595 (593). Rogall. in: JR 1993, S. 382 (380); siehe dazu schon oben 1. Stree. in: JZ 1966, S. 597 (593). Beulu. Strafprozeßrecht, § 21 n 3 (S. 180 bei Rn. 416). Auch Günther (in: JR 1978, S. 91 (89» hebt hervor: ..[T]ertium non datur."
B. Leugnen
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Diese sollen hier noch einmal kurz Erwähnung finden: Dem konsequent zur Sache schweigenden Beschuldigten ist der Weg, auch Entlastendes vorzubringen, versperrt. Im Hauptverfahren muß er sich sogar minimalster Korrekturen an den Aussagen der vernommenen Zeugen enthalten. Beides abverlangt dem Beschuldigten ein hohes Maß an Disziplin, ist doch das Bedürfnis, sich auf einen Vorwurf zu äußern, ein oft zu beobachtendes Phänomen. 93 ,,[S]o überrascht es nicht, daß sich bislang verhältnismäßig wenige Beschuldigte gegen jede Aussage entschieden haben. ,,94 Richter 11 bezeichnet den Rat gegenüber einem Mandanten, dem Tatvorwurf mit Schweigen zu begegnen, als "aus der Sicht vieler immer noch exotischen Schritt,,95. Und Salditt meint: ,,[D]en Luxus solcher Empfehlungen an seinen Mandanten kann sich nur ein Verteidiger leisten, der überzeugt sein darf, daß die das Verfahren umgebende Rechtskultur tief im Bewußtsein der Beteiligten, auch der Laien, verankert ist...96
Oder der Beschuldigte bestreitet den Tatvorwurf (substantiiert), womit er zweifellos die Nachteile des Schweigens venneidet, dafür aber einen anderen - versteckten, gleichwohl nicht zu unterschätzenden - Nachteil hervorruft: ,,Der Gerichtsalltag beweist, wie oft die Einlassung des Angeklagten ungewollt zu seinen Lasten ausschlägt, weil er durch widersprüchliche Angaben an Glaubwürdigkeit einbüßt oder in Unkenntnis rechtlicher Zusammenhänge bisher unbekannte oder unbeweisbare belastende Umstände offenbart.,,97 Auch der BGH anerkennt diesen Alternativitätszusammenhang zwischen Schweigen und Leugnen. Aus dem Beschl. des BGH v. 11. 5. 1989 (J StR 184/89 98 , S. 3): ,,Leugnete der Angeklagte seine (subjektive) Tatbeteiligung, so kamen nach Lage der Dinge als Täter nur seine Mitarbeiter in Frage. Dem Vorwurf, die Schuld auf sie >abzuschiebenüberlagerten Rache< dafür [unterstellt], daß die Staatsanwaltschaft ihre Falschabrechnungen aufgedeckt habe, und ... ihr die Ausnutzung des zwischen ihm und der Zeugin bestehenden Vertrauensverhältnisses durch diese Zeugin zum Vorwurf [gemacht]. Dies, sowie der weitere Umstand, daß er in besonders verletzender Weise gerade die Personen zu Unrecht beschuldigt hat, zu denen über Jahre hinweg ein gegenseitiges Vertrauensverhältnis bestanden hatte, die ihm gegenüber in einer starken beruflichen Abhängigkeit standen, sich ihm zum Teil zur Ausbildung anvertraut und deshalb besondere Schwierigkeiten hatten, sich seinen Anweisungen auf Falscheintragungen zu widersetzen, die er ... durch sein Verhalten über Jahre hinweg in die Gefahr strafrechtlicher [So 10] Verstrickung gebracht hatte, ging über sein Leugnen durch Beschuldigen anderer hinaus und durfte deshalb von der Strafkammer als Ausdruck einer besonders verwerflichen Einstellung des Täters strafschärfend gewertet werden." - Am Ende dieses Zitats entpuppt sich die Entscheidung mithin als eines der oben 2 a.E. angekündigten Beispiele dafür, daß der BGH gelegentlich (und nach der hier vertretenen Auffassung richtigerweise) erst dann eine Strafschärfung erwägt, wenn das fragliche Nachtatverhalten die Grenzen der zulässigen Verteidigung überschreitet - was ja gerade nicht Inhalt der vom BGH vertretenen »salvatorischen Formel« ist. Ausweislich des Urt. v. 9. 9. 1987 (3 StR 307/87129 ; im folgenden: »KirchenvorstandsFall«) hatte der dort Angeklagte behauptet, "der Zeuge habe ihn ermuntert, bei finanziellen Schwierigkeiten in die Kirchenkasse zu greifen bzw. sich aus ihr zu bedienen". (S. 7) Weil der Angeklagte "damit den Zeugen wider besseres Wissen einer besonders verwerflichen Anstiftung verdächtigte, die geeignet war, diesen als Pfarrer und Vorsitzenden des Kirchenvorstandes beruflich und charakterlich ungeeignet erscheinen zu lassen", ließ der BGH die auf den benannten Umstand gestützte Strafschärfung unbeanstandet.
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In: In: In: In:
StV 1982, S. 523. BGHR StGB § 46 Abs. 2, Nachtatverhalten 1. BGHR StGB § 46 Abs. 2, Verteidigungsverhalten 10. BGHR StGB § 46 Abs. 2, Verteidigungsverhalten 1; NStZ 1988, S. 35.
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3. Teil: Fallgruppenweise, die beiden Interpretationen vergleichende Analyse
Nach Ansicht des BGH ist die Grenze der zulässigen / angemessenen Verteidigung jedenfalls dann überschritten, wenn (und soweit) der Angeklagte versucht, auf einen Zeugen einzuwirken bzw. diesen einzuschüchtern. Siehe dazu das Urt. des BGH v. 12.9. 1984 (3 StR 333/84 130) auf S. 13 mit Verweis auf das Urt. v. 18. 10. 1979 (4 StR 517/79 131 ); dort wiederum wird (auf S. 12) auf das Uet. v. 10.6.1969 (1 StR 193/69 132) verwiesen. -+ Bei der Komplexität der heutigen Lebensverhältnisse stellt beinahe jede (substantiierte) Lüge zwangsläufig einen Drittbezug her. Wollte man diesen von vornherein zum Anlaß nehmen, dem Beschuldigten das Selbstbegünstigungsprivileg zu versagen, würde dadurch die Lügefreiheit de facto ausgehöhlt. Zudem bleibt dem Angeklagten gar nichts anderes übrig, als den Belastungszeugen der Unglaubwürdigkeit, mithin also - zumindest indirekt - der Falschaussage zu bezichtigen, will er nicht gänzlich auf die Möglichkeit verzichten, auch der Wahrheit zuwider die angeklagte Straftat abzustreiten. Der solchermaßen bestehende Konflikt zwischen der verfassungsrechtlich garantierten Lügefreiheit und dem Rechtsgüterschutz des Zeugen kann dadurch aufgelöst werden, daß man auf die tatbestandliehe Falschverdächtigung gern. §§ 164, 153 StGB durch den Beschuldigten den Speziellen Entschuldigungsgrund der Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens zur Sicherung der Lügejreiheit 133* anwendet, der freilich nur dann eingreift, wenn die fragliche Beschuldigtenäußerung eine objektive Conditio sine qua non für das Bestreiten darstellt (Zweiter Teil, C TI 6 c vor (1». Die Entschuldigung des tatbestandlichen Nachtatverhaltens bedeutet zum einen, daß die Gesellschaft wegen Nemo tenetur dem Täter angesichts seiner Selbstbegünstigungshandlung keinen eigenständigen Vorwurf macht; zum anderen bleibt das fragliche Nachtatverhalten vom Selbstbegünstigungsprivileg erfaßt, obwohl es »fremdbelastend« ist und demnach eigentlich aus dem Schutzbereich von Nemo tenetur herausfallen müßte (Zweiter Teil, C I 3).
Gegenüber der etwas unscharfen Rechtsprechung hat diese Vorgehensweise den Vorteil, daß zum einen vermittels ihrer sämtliche Kollisionsfälle zwischen Selbstbegünstigung und Rechtsgüterschutz einheitlich behandelt werden können und daß zum anderen solche Dritte strafbar bleiben, die an der tatbestandlichen Selbstbegünstigung teilnehmen (also z. B. den Beschuldigten dazu anstiften, die Unglaubwürdigkeit des Belastungszeugen zu behaupten), ohne unter dem qua Nemo tenetue privilegierten Nachtatstreß zu stehen.
In welcher Form der Angeklagte die »fremdbelastende«, gleichwohl im Rahmen des »selbstbegünstigenden Minimums« liegende Lüge vorträgt, ist hingegen irreIn: StV 1985, S. 146-147. In: JR 1980, S. 335 - 336. 132 In: MDR 1969, S. 724. 133 Im folgenden wieder - wie im Zweiten Teil (siehe dort unter C 11 6 c): ,.Entschuldigungsgrund der Unzumutbarkeit ( ... )". 130
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B.Leugnen
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levant, was man anhand der Herleitung der Lügefreiheit unschwer nachvollziehen kann. Geht der Beschuldigte inhaltlich über das zum Bestreiten absolut Erforderliche hinaus, indem er z. B. - wie im »Falschabrechnungs-Fall« - über angebliche Motive des Zeugen, ihn zu belasten, mutmaßt, verläßt er den privilegierten Verhaltensbereich der Conditio sine qua non und macht sich ggf. einer Falschverdächtigung strafbar. In sämtlichen gerade benannten Fällen gelangt man daher bei Anwendung des neuinterpretierten Nemo-tenetur-Satzes zu denselben Ergebnissen wie der BGH: In den Fällen der versuchten Beeinflussung bzw. Einschüchterung des Zeugen durch den Angeklagten kann man sich diese »Fremdbelastung« sehr wohl hinwegdenken, ohne daß auch die Selbstbegünstigung qua Abstreiten gänzlich entfallen müßte. - Im »Falschabrechnungs-Fall« mag es zwar sein, daß durch das Leugnen des Chefs der Tatverdacht unter Umständen zwangsläufig auf ihm untergeordnete Mitarbeiter(innen) fällt - und vor diesem Hintergrund konstatiert der BGH (auf S. 9) zu Recht, daß "es einern eine Straftat leugnenden Angeklagten unbenommen ist, sich damit zu verteidigen, daß er anderen die Schuld an der Tat zuschiebt" -, indes ist der Angeklagte mit der substantiierten Angabe mutmaßlicher Motive der von ihm Bezichtigten über das zur Wahrnehmung seiner Lügefreiheit absolut Erforderliche hinausgegangen. Ebenso ist mutatis mutandis der »Kirchenvorstands-Fall« zu bewerten.
2. Substantiiertes Leugnen »betrifft« das Opfer
Wird infolge des Leugnens des Angeklagten die erneute Vernehmung des Opfers in der Hauptverhandlung notwendig und damit der diesem durch die Tat entstandene seelische Schaden noch vertieft bzw. bei ihm die Erinnerung an die Tat wieder wachgerufen, so ist dies der Rechtsprechung zufolge kein Strafschärfungsgrund, da andernfalls auf den Angeklagten der Zwang ausgeübt würde, noch vor der Beweisaufnahme ein Geständnis abzulegen. Hier ist die auf den fehlenden Geständniszwang und die fehlende Mitwirkungspflicht des Beschuldigten gestützte Argumentation tatsächlich zielführend. SoimBGH-Urt. v. 30. 8.1951 (3 StR494/51 134 ), im Urt. v. 29.10.1953 (4 StR516/53)näheres dazu sogleich -, im Urt. v. 26. 6. 1962 (1 StR 227/62 13S ); im Urt. v. 18. 1. 1966 (J StR 571/65 136); ebenso OLG Düsseldorf, Besch!. v. 19. 12. 1987 (2 Ss 431/87 -168/871l1 137).
Im Besch!. v. 10. 11. 1994 (4 StR 548/94) konstatiert der BGH jedoch (auf S. 6), daß "psychische Nachwirkungen der Tat, die durch mehrfache Vernehmungen des Opfers gegebenenfalls noch verstärkt werden, als vorn Tater verschuldete Tatfolgen bei der Strafzumessung strafschärfend,,138 berücksichtigt werden können. 134 In: St, Bd. I, S. 342-343. In: GA 1962, S. 339-340. 136 In: NJW 1966, S. 894-895. 137 In: StV 1990, S. 13-14. 138 Hervorhebung nicht im Origina!. 13S
256
3. Teil: Fallgruppenweise, die beiden Interpretationen vergleichende Analyse
Grundsätzlich bewertet der BGH das Inzweijelziehen der Glaubwürdigkeit des den Angeklagten belastenden Opfers nicht anders als das entsprechende Verhalten des Angeklagten gegenüber dem Zeugen. So z. B. im Beschl. des BGHv. 9. 5.1986 (2 StR 208/86 139 ).
Soweit ersichtlich, verwendet der BGH zum ersten Mal das im Rahmen dieser Untersuchung als entscheidend erachtete Argument für diese Einschätzung im Urt. v. 29. 10. 1953 (4 StR 516/53, S. 5): "Das Abstreiten der Tat gegenüber den Bekundungen von Belastungszeugen enthält diesen gegenüber immer den Vorwurf der Unglaubwürdigkeit." Der Angeklagte hatte im dem benannten Urteil zugrunde liegenden Sachverhalt sein eigenes Kind implizit als Lügner hingestellt. Doch auch das in der Hauptverhandlung explizit ausgesprochene "Warum lügst Du?" (Beschl. vom 12.4. 1994-5 StR 102/94 140 -, S. 4) liegt für den BGH noch im Rahmen des zulässigen Verteidigungsverhaltens. Das Revisionsgericht geht indes nicht auf die durch das zitierte Vorbringen tatbestandlich erfüllte Falschverdächtigung gern. §§ 164, 153 StGB ein. Die höchstrichterliche Toleranz gegenüber dem Verteidigungsvorbringen des Angeklagten endet dort, wo dessen Behauptungen "ehrverletzend und aus der Luft gegriffen" (BGH, Beschl. v. 28. 6. 1988-4 StR 67/88 141 -, S. 4) sind, "eine unzulässige Herabwürdigung des Opfers" (BGH, Beschl. v. 12. 4. 1994-5 StR 102/ 94 142, S. 4) darstellen bzw. über das zum Abstreiten erforderliche Maß hinausgehen, was man besonders anhand der Urteilsgründe im hier sog. »DiskoFall« (BGH, Urt. v.4. 10. 1994-5 StR 352/94) nachvollziehen kann (S. 5): ,;Zwar lastet das Landgericht dem Angeklagten an, er habe der Wahrheit zuwider die Geschädigte ,als ein leichtlebiges Mädchen dargestellt, die nur deshalb in Berlin wohnen möchte, um ihre Nächte in Diskotheken verbringen zu können. Er hat sie schließlich als Diebin dargestellt'. Dies ist indessen nicht zu beanstanden. Die persönliche Herabwürdigung des Opfers erfolgte zwar, um dessen belastende Aussagen unglaubhaft erscheinen zu lassen. Das Interesse des Angeklagten, sich zu verteidigen, rechtfertigt derartige Eingriffe in Rechte Dritter indes nicht ( ... )." Als Nachweis beruft sich der BGH auf den »Falschabrechnungs-Fall« (auszugsweise zitiert: oben 1). Gleichwohl gibt es auch in diesem Zusammenhang Entscheidungen, in denen der BGH schlicht mit der ..angemessenen Verteidigung" (BGH, Beschl. v. 27. 4. 1989 - 1 StR 10/ 89 143 -, S. 4) bzw. mit dem ,.zulässigen Verteidigungsverhalten[]" (BGH, Beschl. v. 27.6.1990 - 2 StR 256/90 144 -, S. 4) argumentiert.
139
140 141 142 143
144
In: In: In: In: In: In:
StV 1986, S. 429-430. StV 1994, S. 424. BGHR StGB § 46 Abs. 2, Verteidigungsverhalten 2. StV 1994, S. 424. BGHR StGB § 46 Abs. 2, Verteidigungsverhalten 4. BGHR StGB § 46 Abs. 2, Verteidigungsverhalten 9.
B.Leugnen
257
Im Beschl. v. 6. 6. 1989 (1 StR 272/89 145) übersieht der BGB die Frage, inwieweit die Anträge der Verteidiger, ,.zeugen für ein besonders freizügiges Sexualleben der Geschädigten zu laden" (a. a. 0., S. 3), und die nach Einschätzung des Tatgerichts bei der vorliegenden Prozeßlage ..nur den Zweck [hatten], die junge Frau schlecht zu machen und in den Dreck zu ziehen", überhaupt den Angeklagten zugerechnet werden konnten (vgl. dazu oben A 11 3).
Am griffigsten sind noch die Grenzziehungen entlang der Trennlinie zwischen verteidigungshalber und "angriffsweise" (»ln-jlagranti-Fall«, Urt. v. 3. 8. 19942 StR 161/94 146 -, S. 5) vorgebrachten opferbezogenen Lügen bzw. entlang der Linie zur "Verleumdung oder Herabwürdigung" (Urt. v. 14. 11. 1990-3 StR 160/ 90 147 -, S. 10). Daß der BGH die von ihm selbst gezogene Grenze nicht einhält bzw. daß er sein Konzept zur Bewertung selbstbegünstigenden Nachtatverhaltens mit Opferbezug nicht genügend ausdifferenziert, zeigt die Gegenüberstellung der folgenden zwei Entscheidungen: Im »ln-flagranti-Fall« geht der BGH (auf S. 5) wie selbstverständlich davon aus, daß "der Verteidigungszweck ... Verleumdungen ... insoweit zu rechtfertigen [vermag], als sie ... inhaltlich zugleich das Leugnen belastender Tatsachen bedeuten ( ... )". Das Gericht sieht eine ..angriffsweise" Verleumdung lediglich in der zusätzlichen (auf S. 4 wiedergegebenen) Behauptung, ..die Zeugin habe sich ihm für 20,- DM angeboten, dieses Geld vereinnalImt, im Wald ihren Unterkörper entblößt und die Situation, in der sie ihn besonders aufgereizt habe, dann noch zum Erheben einer Zusatzforderung von weiteren 30,-DM ausnutzen wollen".
Zwar entspricht dieses Diktum der gerade dargestellten höchstrichterlichen Ansicht, war doch die Behauptung der Freiwilligkeit des Geschlechtsverkehrs im vorliegenden Fall die einzige dem Beschuldigten verbliebene erfolgversprechende Verteidigungsmöglichkeit. Die Rechtfertigung dieses verleumderischen Vorbringens schießt indes über das Ziel der Gewährleistung einer Mindestprivilegierung selbstbegünstigenden Vorbringens hinaus (abgesehen von der Fragwürdigkeit der Anwendung des § 193 StGB auch auf Verleumdungen, siehe dazu im Zweiten Teil unter eIl 4 b): Dem Opfer wird zum einen die (zumindest theoretisch bestehende) Möglichkeit einer Notwehr gegen das Vorbringen genommen, zum anderen schlägt wegen der "limitierten Akzessorietät" der §§ 26, 27 StGB die Rechtfertigung auch auf eventuelle Teilnehmer an der tatbestandlichen Verleumdung durch. Im »Prahlerei-Fall« (Beschl. v. 10. 2. 1994-1 StR 811 /93 148) stuft der BGH die Behauptung des freiwilligen Geschlechtsverkehrs ebenfalls als zulässiges, da aus dem ,,Erklärungsnotstand" (S. 3) des Beschuldigten resultierendes VerteidiIn: BGHR StGB § 46 Abs. 2, Verteidigungsverhalten 6. In: StV 1996, S. 259 (m. Anm. lahn, S. 259-262); der Sachverhalt ist im Ersten Teil (unter A IV 2 b (1» wiedergegeben. 147 In: BGHR StGB § 46 Abs. 2, Verteidigungsverhalten 10. 148 In: StV 1994, S. 305; zum Sachverhalt siehe im Ersten Teil: A IV 3. 145
146
17 Torka
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3. Teil: Fallgruppenweise, die beiden Interpretationen vergleichende Analyse
gungsverhalten ein und übersieht dabei die Nuance, um die sich der hier zu bewertende Sachverhalt von der »In-flagranti-Konstellation« unterscheidet: Während sich dort der Beschuldigte in einem (der Tat sozusagen immanenten) "Erklärungsnotstand" befunden hat, weil er auf frischer Tat betroffen worden ist, hat sich hier der Beschuldigte erst durch die Prahlerei vom erfolgten Geschlechtsverkehr gegenüber den späteren Zeugen in den "Erklärungsnotstand" versetzt. Die Vorinstanz hatte dem Angeklagten dies im Rahmen der Strafzumessung angelastet, siehe das Zitat im Ersten Teil (A IV 3, a.E.).
Warum in dieser eindeutig nicht verteidigungshalber - es lag ja noch keine Anschuldigung durch das Opfer im Raum -, sondern zweifellos angriffsweise vorgetragenen Behauptung noch ein "zulässiges Verteidigungsverhalten" liegen soll, läßt der BGH, obwohl - wie aufgezeigt - die Gründe des vorinstanzlichen Urteils dazu Anlaß gegeben hätten, unerörtert. Ähnlich inkonsequent ist der BGH bei der Anwendung der im Rahmen dieser Untersuchung bereits mehrfach kritisierten, hier sog. »salvatorischen Formel«: Während in ihr ein eigentlich vom Selbstbegünstigungsprivileg erfaßtes Nachtatverhalten als im Ausnahmefall gleichwohl strafschärfend heranzuziehendes Indiz definiert wird, folgen zahlreiche Entscheidungen im Ergebnis der hier vertretenen Auffassung, wonach das Selbstbegünstigungsprivileg eine absolute »RückschlußSperre« darstellt. So heißt es etwa im Urt. des BGHv. 18. 10. 1979 (4 StR 517179 149) aufS. 12: ,,Eine rechtsfeindliche Einstellung des Angeklagten, die den Strafrichter zur Strafschärfung berechtigt, kann allerdings darin gesehen werden, daß [der Angeklagte] sich in einer jürdie Verteidigung nicht eiforderlichen Weise gegen die Glaubwürdigkeit eines Zeugen wendet ... "ISO. Und im Beschl. v. 27. 4. 1989 (1 StR 10/89 151 ) moniert der BGH (auf S. 3): ,,Jedenfalls stellen die Urteilsgrunde nicht klar, daß das Prozeßverhaiten eines Angeklagten, mit dem er den Angaben eines Belastungszeugen entgegentritt, bei der Strafzumessung nicht ohne weiteres zu seinen Lasten berUcksichtigt werden darf ( ... ). [So 4] Das Landgericht hat nicht ausreichend dargelegt, mit seiner den Zeugen M. belastenden Einlassung sei der Angeklagte über die Grenzen einer angemessenen Verteidigung hinausgegangen, was als Ausdruck einer zu mißbilligenden Einstellung zu werten sei ( ... ).,,152 Im übrigen verweisen beide Entscheidungen auf das Urt. des BGH v. 10.6. 1969 (1 StR 193/69 153); siehe dazu auch das oben 1 auszugsweise zitierte Urt. des BGHv. 14. 11. 1990 (3 StR 160/90 IS4) im »Falschabrechnungs-Fall«. -+ Die hier vertretene Interpretation von Nemo tenetur kommt ohne das vom BGH verwendete, unscharfe Abgrenzungskriterium der Verleumdung oder Herabwürdigung aus. Die in der Einlassung des Beschuldigten liegende Verleumdung ist 1"9
ISO ISI lS2
IS3
1S4
In: JR 1980, S. 339-340; MDR 1980, S. 240-241. Hervorhebung nicht im Original. In: BGHR StGB § 46 Abs. 2, Verteidigungsverhalten 4. Hervorhebung nicht im Original. In: MDR 1969, S. 724 (unter § 267 III). In: BGHR StGB § 46 Abs. 2, Verteidigungsverhalten 10.
B. Leugnen
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nach den oben I skizzierten Grundsätzen insoweit entschuldigt, als ihm ansonsten die Lügefreiheit gänzlich versagt werden müßte. Dies betrifft im »In-flagranti-Fall« allein die Behauptung der beabsichtigten freiwilligen sexuellen Hingabe des Opfers. Die darüber hinausgehenden Behauptungen der Hingabe gegen Geld und sogar der (angeblich absprachewidrigen) Nachforderung stellen eine gern. § 187 StGB strafbare Verleumdung des Opfers dar; an sie kann daher auch angesichts der Lügefreiheit eine Strafschärfung anknüpfen. Im »Prahlerei-Fall« hat erst die Angeberei des Beschuldigten zu dessen - vom BGH als Anknüpfungspunkt für eine Selbstbegünstigungsprivilegierung herangezogenen - ,,Erklärungsnotstand" geführt; der Beschuldigte hat also die Notwendigkeit der Verleumdung im Prozeß autonom und unabhängig von der Tat herbeigeführt. Darin liegt der entscheidende Unterschied zum »In-flagranti-Fall«: Der dort zu konstatierende Erklärungsnotstand des Beschuldigten war gleichsam »tatimmanent«.
Im »Disko-Fall« scheitert eine Entschuldigung des Angeklagten - parallel zum »Kirchenvorstands-Fall« und zum »Falschabrechnungs-Fall« (oben 1) - wohl daran, daß dieser mit der Angabe von - nach Überzeugung des Gerichts: falschen - Tatsachen, die seine Behauptung der Unglaubwürdigkeit des Opfers untermauern sollten, über die Grenzen des unbedingt zu seinem Leugnen Notwendigen hinausgangen ist. Ob dieser »Nemo-tenetur-Exzeß« als aus einem unvermeidbaren Irrtum resultierend eingestuft werden kann - mit der Folge, daß die entsprechende Verteidigungsbehauptung entsprechend dem Rechtsgedanken des § 35 Abs. 2 StGB entschuldbar ist -, muß hier mangels näherer Wiedergabe des Geschehens in der Entscheidung offenbleiben. Jedenfalls hinsichtlich der »Basisverteidigung«, das Opfer sei ein "leichtlebiges Mädchen", mag ggf. die im Zweiten Teil (unter C 11 6 c (3» sog. »Faustformel« eingreifen.
3. Substantiiertes Leugnen »betrifft« (den) Mitangeklagte(n)
Im Kontext der Belastung Mitangeklagter argumentiert der BGH wie folgt (aus dem Beschl. v. 25. 4. 1990-3 StR 85/90 155 -, S. 4): "Wenn der Angeklagte ... versuchte, seinen Tatbeitrag herunterzuspielen, so mußte dadurch zwangsläufig der Mitangeklagte ... belastet werden. Selbst wenn diese Einlassung nach Auffassung der Kammer wahrheitswidrig war, hielt sie sich dennoch im Rahmen des zulässigen Verteidigungsverhaltens ( ... ).,,156 Ähnliches ist im Beschl. v. 11.5. 1989 (1 StR /84/89 157 ) zu lesen, in dem der 8GH auch darauf abstellt, daß dem läter, der nicht gestehen bzw. auf den Tatvorwurf schweigen will, als dritte Verhaltensalternative nur das (substantiierte) Leugnen bleibt. Zur Anschuldigung des Mitangeklagten "als alleinigen Dealer" siehe z. B. den Beschl. des 8GH v. 28. 9. 1989 (1 StR 630/89, S. 2): Der Angeklagte sei damit nicht über die Grenzen einer "angemessenen Verteidigung" hinausgegangen. ISS 156
IS7
17·
In: BGHR StGB § 46 Abs. 2, VerteidigungsverlIalten 8. Hervorhebung nicht im Original. In: BGHR StGB § 46 Abs. 2, VerteidigungsverlIalten 5.
260
3. Teil: Fallgruppenweise. die beiden Interpretationen vergleichende Analyse
Im BGH-Beschl. vom 21. 4. 1995 (1 StR 69/95) findet sich (auf S. 7) der Hinweis, daß die Umstände, unter denen die Beschuldigung Mitangeklagter geschieht und deren sich der Tatrichter bewußt ist, "geeignet sein können. das Gewicht eines solchen Verhaltens des Angeklagten zumindest zu relativieren" 158.
- In den benannten Fällen scheidet eine Strafbarkeit des die Verantwortung auf einen Mitangeklagten abschiebenden Beschuldigten gern. § 164 StGB zumeist deshalb aus. weil das fragliche Verhalten nicht dazu "geeignet"159 ist, einen (zusätzlichen) Verdacht bei den Ermittlungsbehörden entstehen zu lassen. Ansonsten gilt auch hier: Der Beschuldigte handelt dann selbstbegünstigungsprivilegiert. wenn er eine Denunzierung des / der Mitangeklagten nur dadurch vermeiden könnte, daß er schweigt oder den ihm in der Anklageschrift zugeordneten Tatbeitrag zugibt. Die in der Beschuldigung der anderen liegende »Fremdbelastung« entspricht dann dem »selbstbegünstigenden Minimum«.
4. Verdacht wird auf andere gelenkt Soweit der (später als Tater ausgemachte) Beschuldigte bewußt konkrete Vorwürfe gegen bislang unbeteiligte oder zumindest unverdächtig(t)e Dritte erhebt. darf dies laut BGH vom Tatrichter bei der Strafzumessung strafschärfend berücksichtigen, eine Ansicht, die das Revisionsgericht nicht spezifisch begründet. Immerhin fUgt der BGH im Urt. v. 13. 7. 1966 (2 SIR 157/66 1ro) die aus dem bezeichneten Verhalten (hier: Vorwurf gegen vernehmende Polizeibeamte, um ein im Ermittlungsverfahren abgelegtes Geständnis auszuräumen) sprechende •.mangelnde Schuldeinsicht" (a. a. 0 .• S. 14) an; im dem Besch\. v. 30. 1. 1973 (4 SIR 544172 161 ) zugrundeliegenden Sachverhalt hatte der Angeklagte Polizeibeamte beschuldigt. sie hätten (S. 12) •.Diebsgut in seine [So 13] Garage geschmuggelt. um ihn der Tat zu überführen". Fällt der Verdacht dagegen zwar infolge der substantiierten Äußerungen auf einen Dritten, sind aber keine Anzeichen dafür erkennbar, daß es der Beschuldigte genau auf diesen Ermittlungsablauf abgesehen hat, so verbietet sich nach Ansicht des BGH eine daran anknüpfende Strafschärfung - in dubio pro reo. Siehe dazu den bereits im Zweiten Teil (unter B I 2 b) zitierten »Schwager-Fall« (Urt. v. 22. 1. 1974- 1 StR 593173 162 ). Im Urt. v. 15.5. 1985 (2 SIR 83/85 163 ) zieht der BGH zur Begründung einmal mehr den fehlenden Geständniszwang bzw. die fehlende Auf1clärungspflicht des Beschuldigten heran. 158
159
160 161 162 163
Hervorhebung nicht im Original. Tröndle. § 164. Rn. 3. In: MDR 1966. S. 894. In: MDR 1973, S. 370-dort fälschlicherweise mit dem Az...4 StR 554/72" angegeben. In: MDR 1974, S. 721. In: StV 1985, S. 455; NStZ 1985. S. 453.
B. Leugnen
261
Dies soll dem Beschl. des BGH v. 12. 6. 1992 (1 StR 341/92 164 - »MaisfeldFall«; siehe schon im Zweiten Teil, C V im 3. Ergänzungstext) zufolge sogar geIten, wenn der Beschuldigte "sich mit Hinweisen auf andere mögliche Tater [verteidigt]" (S. 3) und dadurch "eine falsche Fährte [legt]", solange damit nicht "eine konkrete Verdächtigung einer anderen Person" einhergeht. Ausweislich der Entscheidungsgründe hatte das Landgericht dem Angeklagten "an[gellastet, er habe, auf der Flucht in eine Polizeikontrolle geraten, nicht bloß die Tat bestritten, sondern sogar eine falsche Fährte gelegt, indem er auf einen angeblich vom ihm in der Nähe des Tatorts gesehenen ähnlichen Pkw derselben Marke mit dem amtlichen Kennzeichen für Neu-Ulm verwies."
Hinsichtlich der speziellen Konstellation, in der nur zwei Personen - alternativ - als Tater in Frage kommen (was laut Rechtsprechung 16S regelmäßig in den »Beifahrer-Fällen« der Fall sein soll), hat sich - parallel zur oben 3 referierten Rechtsprechung des BGH zur Bewertung des Verhaltens Mitangeklagter - der Lösungsweg des OLG Düsseldorf durchgesetzt, das in seinem Beschl. v. 21. 8. 1991 (5 Ss 232/91- 76/91 1166) wie folgt argumentiert: Wenn es schon nach der wiederholt zum Ausdruck gebrachten Ansicht des BGH dem leugnenden Angeklagten nicht strafschärfend angelastet werden dürfe, daß er es versucht habe, die Schuld einem anderen zuzuschieben - damit bezieht sich das OLG offensichtlich auf den »Falschabrechnungs-Fall« (oben 1) -, und ihm ebensowenig vorgeworfen werden könne, einen Belastungszeugen als unglaubwürdig dargestellt zu haben, so "verbietet es sich von selbst, ein solches Verhalten als gesonderte Straftat, z. B. als falsche Verdächtigung nach § 164 StGB, zu verfolgen,,167. Interessant ist in diesem Zusammenhang, daß das OLG Hamm im Vrt. v. 13. 10. 1964 (3 Ss
965/64 168) seine gegenteilige Auffassung (also: Strafbarkeit wegen falscher Verdächtigung)
noch vermitteis der Bezugnahme auf den damaligen Absatz 3 des § 164 StGB sehr plausibel begründen konnte; die benannte Vorschrift lautete damals: ,,Ist die Tat in der Absicht begangen, sich oder einem Dritten einen Vorteil zu verschaffen, so ist die Strafe Gefängnis nicht unter drei Monaten." Die herrschende Meinung subsumierte darunter vor allem "die Abwendung eines Verdachts von sich als wirklichem Täter,,169. Schon früh hat Maurach die entsprechenden Judikate als ,,konstruktiv zweifellos richtig, der notstandsähnlichen Natur einer solchen Lage aber wohl kaum gerecht werdend" 170 bezeichnet. Auch dem Gesetzgeber war diese Gesetzesanwendung durch die Gerichte wohl suspekt, weshalb er im Zuge des 1. StrRG 171 164 In: StV 1992, S. 570. 165 Siehe dazu aber die exaktere Sichtweise von Schneider (in: NZV 1992, S. 473 (471», der auf die grundsätzliche Möglichkeit hinweist, daß sich bis zum Eintreffen der Polizei weitere Insassen vom Kfz (ggf. der Fahrer?) entfernt haben. 166 In: NJW 1992, S. 1119-1120. 167 OLG Düsseldorf, in: NJW 1992, S. 1120 (1l19). 168 In: NJW 1965, S. 62. 169 Dreher. in: Schwarz/Dreher29 , § 164, Anm. 3 (S. 537/538). 170 Maurach, Strafrecht BT, § 77 11 B 2 (S. 534). 171 In: BGBL I (1969), S. 653 (645).
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3. Teil: Fallgruppenweise, die beiden Interpretationen vergleichende Analyse
den betreffenden Absatz gestrichen hat; in der Begrundung hierzu liest man: ,,Diese Regelung des geltenden Rechts ist zu starr und kann zu Härten vor allem deswegen führen, weil nach der Rechtsprechung ein erstrebter Vorteil jeder Art, z. B. auch die Absicht, einen Verdacht von sich abzuwenden, die Strafschärfung begrundet. Im künftigen Recht soll es dem Ennessen des Richters überlassen bleiben, ob und in welchem Umfang die Vorteilsabsicht des Taters eine höhere Strafe rechtfertigt." 172 -+ Infolge des substantiierten Abstreitens fällt der Verdacht auf einen konkreten Dritten, ohne daß es der Beschuldigte darauf abgesehen hat: Mangels Vorsatzes ist schon der Tatbestand des § 164 StOB nicht erfüllt; daß die »Fremdbelastung« nicht bewußt und gezielt geschehen ist, erhält dem Beschuldigten zudem das Nemotenetur-Privileg (Zweiter Teil: B 12 b).
Der Beschuldigte verdächtigt gezielt einen konkreten Dritten; hierbei muß unterschieden werden: Hat der Dritte bereits vor der Äußerung des Beschuldigten zum - von den Ermittlungsbehörden eingegrenzten - Kreis der Verdächtigen gehört und läge schon im Abstreiten des einen zugleich die Bezichtigung des anderen, greift jedenfalls der Spezielle Entschuldigungsgrund der Unzumutbarkeit ( ... ); dem Beschuldigten bliebe ansonsten nichts anderes übrig als zu gestehen oder zu schweigen. Mangels geeigneter Handlung wird jedoch in diesen Fällen zumeist schon der Tatbestand des § 164 StGB nicht erfüllt sein, beinhaltet doch das entsprechende Vorbringen des Beschuldigten unter den gegebenen Umständen kein neues, verdachtsrelevantes Tatsachenmaterial (siehe dazu im Zweiten Teil die Überlegungen zum »Falschverdiichtigungs-Fall« unter eIl 1).
Willigt der Dritte in die ihn betreffende Falschverdächtigung ein, so ist diesbezüglich der denunzierende Beschuldigte nach der hier zu § 164 StOB vertretenen »subsidiaritätsorientierten« Individualrechtsgutstheorie (Zweiter Teil, C n 6 vor a) gerechtfertigt.173 Die Einwilligung vermag indes nicht den rechtspflegeschützenden Reflex des § 164 StOB zu entkräften, weshalb - nach »verbrauchter« Subsidiarität - die Fehlorientierung der Strafverfolgungsorgane an § 145d (Abs. 2 Nr. 1) StOB zu messen ist. Zugunsten des Denunzianten greift freilich auch hier der Spezielle Entschuldigungsgrund der Unzumutbarkeit ( ... ), der einwilligende Dritte hingegen bleibt des mittäterschaftlichen Vortäuschens einer Straftat gern. §§ 145d Abs. 2 Nr. 1,25 Abs. 2 StOB strafbar, es sei denn, er ist ein Angehöriger des Beschuldigten; für diesen Fall sollte § 258 Abs. 6 StOB entsprechend angewendet werden (Zweiter Teil, C n 6 c (4) a.E.). Der Dritte hat vor der fraglichen Äußerung des Beschuldigten noch nicht zum - bewußt von den Ermittlungsbehörden ins Auge gefaßten - Verdächtigenkreis BT-DrS IV /650, S. 628. Die überwiegende Meinung (Nachweise im Zweiten Teil unter e 11 6 d vor (1) mit Fn. 281) nimmt eine tatbestandsausschließende Einwilligung an; wie hier Hirsch, in: Schröder-GS, S. 320/321 (307). 172
173
B. Leugnen
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gehört, was zugleich bedeutet, daß im Abstreiten des Beschuldigten nicht eo ipso die Beschuldigung des Dritten liegt: Schon aus dieser Situationsbeschreibung ergibt sich, daß mangels eines schon bestehenden Anfangsverdachts gegenüber dem Dritten mit dessen Benennung der Tatbestand des § 164 StGB erfüllt ist und diese Bezichtigung in Hinblick auf die Lügefreiheit des Beschuldigten keine objektive Conditio sine qua non darstellt. Hier ist der »Maisfeld-Fall« einzuordnen: In der bloßen Angabe eines substantiierten Alibis gegenüber der Polizeistreife durch den Beschuldigten konnte nicht zugleich und automatisch die Bezichtigung einer konkreten anderen, von der Polizei bereits als Verdächtigen ins Auge gefaßten Person liegen. Vielmehr hat der Beschuldigte durch seinen Hinweis auf ein bestimmtes, in der Nähe geparktes Kfz einen entsprechenden Verdacht der Ennittler erst herbeizuführen versucht. Denkt man sich das Geschehen in der vom Beschuldigten intendierten Richtung weiter, so tritt die Parallele zum »Prahlerei-Fall« deutlich zutage: Wäre es aufgrund des Hinweises des Beschuldigten dazu gekommen, daß als Verdächtige letztlich er sowie der Fahrer I Halter des von ihm benannten Fahrzeugs übriggeblieben wären, und wllrde der Beschuldigte die Tat weiterhin leugnen, so enthielte dieses Abstreiten zwar zwangsläufig die Bezichtigung des anderen; die Zwangsläufigkeit (im »Prahlerei-Fall«: der ,,Erklärungsnotstand") wäre indes Folge der früheren Angaben des Beschuldigten, die dieser autonom und unabhängig von der Tat an der Polizeikontrolle (im »Prahlerei-Fall«: gegenüber den späteren Belastungszeugen) gemacht hat.
UI. Sonderproblem: Falschaussage des Entlastungszeugen
Da das Rechtsgut der §§ 153 ff. StGB vor indirekten Angriffen des Angeklagten geschützt ist, kann sich dieser einer Anstiftung (gern. § 26 StGB) bzw. Beihilfe (gern. § 27 StGB) zur Falschaussage des Entlastungszeugen strafbar machen (Zweiter Teil, C IV 1 b). Im Urt. v. 26. 2. 1953 (4 StR 682152 174 ) bewertet der BGH die "planmäßige Vorbereitung übereinstimmender falscher Aussagen der Entlastungszeugen" (S. 5) als Beihilfe zum Meineid des Zeugen. (Freilich wird es wenige Fälle geben, in denen der Zeuge sich unabhiingig vom Angeklagten dazu entschließt, zu dessen Gunsten falsch auszusagen.)
Auch ist er möglicher Unterlassungtäter, wobei allerdings die zur sog. "Überwachergarantenpflicht" führende Ingerenz nicht schon aus der Tatsache resultiert, daß das fragliche Nachtatverhalten - weil »fremdbelastend« - nicht vom Nemotenetur-Privileg erfaßt wird (Zweiter Teil, C IV 2 b). Siehe dazu den im Zweiten Teil (unter C IV 3) zitierten Sachverhalt, der dem Urt. des BGHv. 18.5.1993 (1 StR 209/93 175 ) zugrunde liegt.
174 17S
In: MDR 1953, S. 272. In: NStZ 1993, S. 489.
264
3. Teil: Fallgruppenweise, die beiden Interpretationen vergleichende Analyse
1. Leugnen .. veranlaßt" Zeugenaussage Der Angeklagte leugnet "hartnäckig", bringt Ausflüchte vor und zieht objektiv erst dadurch die Zeugen mit in das Verfahren hinein: Das OLG Köln (Urt. v. 22. 1. 1980-1 Ss 1055179-756 176 ) läßt eine an die objektive "Veranlassung" der Zeugen zur Falschaussage und an das darauf folgende Dulden der unwahren Angaben geknüpfte Strafschärfung unbeanstandet; zwar bemerkt das Gericht, daß es in der zu bewertenden Entscheidung der Vorinstanz "an einer näheren Konkretisierung" der "Veranlassung" fehle, diese sei jedoch durch das (hier eingangs benannte) Verhalten des Angeklagten ,,hinreichend mitgeteilt". -+ Bei wort- und sinngetreuer Anwendung des § 145d Abs. 2 Nr. I StGB erfüllt bereits das wahrheitswidrige Abstreiten des Tatvorwurfs den Tatbestand der benannten Vorschrift. Gerät ein bislang unbeteiligter Dritter zwar au/grund des Leugnens in den Sog der Strafverfolgung, hat es der Beschuldigte jedoch darauf nicht abgesehen, so greift trotz objektiver »Fremdbelastung« das Nemo-teneturPrivileg; das muß entsprechend auch für das substantiierte Abstreiten gelten, will man der Vernehrnungsrealität Rechnung tragen (Zweiter Teil, C 11 6 d (2».
Die Berufung auf das Schweigerecht darf zwar vom Tatrichter nicht negativ verwertet werden, damit sind aber noch nicht diejenigen psychologischen Gesetzrnäßigkeiten aufgefangen, welche während des Ermittlungsverfahrens wirken. Ein pauschales Abstreiten ohne jegliche Zusatzerklärung wird die ermittelnden Personen wenig überzeugen und eher zu einer Vertiefung des bestehenden Verdachts gegen den Betroffenen fUhren.
Daraus erhellt, daß das fragliche Verhalten wegen Unzumutbarkeit ( ... ) entschuldigt ist.
2. Der Beschuldigte benennt einen Entlastungszeugen
a) Ohne Kenntnis von dessen Bereitschaft zur Falschaussage Der Angeklagte hindert den von ihm benannten, jedoch nicht angestifteten Entlastungszeugen nicht daran, zu seinen Gunsten falsch auszusagen: Nach Auffassung der Revisionsgerichte macht sich der Angeklagte einer Beihilfe zur Falschaussage durch Unterlassen strafbar,177 wenn er - so die gängige Formulierung, hier dem Beschl. des OLG Köln v. 10.7. 1990 (Ss 320/90178) entnommen - durch sein Vorverhalten "die Aussageperson in eine besondere, dem Prozeß nicht mehr eigentümliche (inadäquate) Gefahr der Falschaussage gebracht hat ( ... )." In: MDR 1980, S. 594. Zur Entwicklung dieser Rechtsprechung detailliert und zugleich prägnant Willms, in: LK, § 154, Rn. 17. 178 In: NStZ 1990, S. 594. 176
In
B. Leugnen
265
Eine solche Gefahr bejaht das OLG beispielsweise für den Fall, daß der Angeklagte "den Zeugen durch schlüssiges Verhalten in Sicherheit wiegt, [er] werde ihn nicht durch widersprechende Angaben in Schwierigkeiten bringen ( ... )". Jedenfalls muß der Zeuge durch das Verhalten des Angeklagten ,,in besonderer Weise der Versuchung zu einer Falschaussage" ausgesetzt sein.
Die Gerichte verneinen eine Stratbarkeit wegen aktiven Tuns deshalb, weil der Beschuldigte I Angeklagte ein prozessuales Recht darauf habe, Entlastungszeugen zu benennen. Angesichts der "für den Zeugen bestehenden besonderen Gefahrenlage,,179 treffe den Angeklagten "eine Garantenpflicht aus Ingerenz, die erwartete Falschaussage des Zeugen notfalls durch Bekennen der Wahrheit zu verhindern bzw. dies zu versuchen". Hinsichtlich der Ingerenz-Konstruktion ist den Revisionsgerichten insofern zuzustimmen, als für den Angeklagten nur eine Stellung als "Überwachergarant" in Frage kommt (Zweiter Teil, C IV 2 b). Allerdings sind die entsprechenden Entscheidungen zumindest mißverständlich formuliert, wenn dem Angeklagten eine GarantensteIlung gegenüber dem Zeugen zugesprochen wird; eine solche trifft den Angeklagten ebensowenig wie z. B. den GerüstbauerjUr sein Gerüst. Vielmehr knüpft die Unterlassensstratbarkeit an die aus dem Schaffen einer Gefahrenquelle resultierende Verantwortlichkeit rur das Unversehrtbleiben des gefährdeten Rechtsguts; im vorliegenden Fall ist dies die "wahrheitsgemäße Tatsachenfeststellung" 180, der Zeuge ist die vom Angeklagten durch die Benennung geschaffene Gefahrenquelle. -+ Eine Strafbarkeit des Beschuldigten wegen Beihilfe (§ 27 StGB) scheidet aus, weil durch die Benennung erst die Möglichkeit zum Tatentschluß eröffnet wird; der Beschuldigte ist aber auch kein Anstifter (§ 26 StGB) zur Falschaussage, eine i.S. von § 26 StGB hinreichend "bestimmende" geistige Einwirkung auf den späteren Haupttäter liegt nicht vor (Zweiter Teil, C IV 1 c). Dieser entscheidet sich vielmehr autonom zur Falschaussage. Die Zeugenbenennung ist indes nicht schon deshalb eine auf das Rechtsgut der §§ 153 ff. StGB bezogene pflichtwidrige (und damit eine Überwachergarantenpflicht auslösende) Handlung, weil sie als bewußt »fremdbelastendes« - also einen bisher unbeteiligten Dritten ohne objektive Notwendigkeit in das laufende Strafverfahren hineinziehendes - Nachtatverhalten nicht von Nemo tenetur privilegiert wird (Zweiter Teil, B I 2 b). Die Benennung kann mithin zwar im Rahmen der Strafzumessung strafschärfend berücksichtigt werden, ist jedoch nicht eigenständig stratbar.
b) In Kenntnis der Bereitschaft zur Falschaussage Der Angeklagte benennt den Entlastungszeugen in Kenntnis von dessen Bereitschaft zur Falschaussage (und verhindert diese nicht): 179 Leitsatz der o.g. Entscheidung des OLG Hamm in: StV 1994, S. 132 (wie auch die Fortsetzung des Zitats). 180 Lenckner. in: Sch I Sch, Vorbem §§ 153 ff., Rn. 2.
266
3. Teil: Fallgruppenweise, die beiden Interpretationen vergleichende Analyse
Dieses Nachtatverhalten wird dem Beschuldigten in der revisionsgerichtlichen Rechtsprechung überwiegend strafschärfend angelastet, wobei die »salvatorische Formel« als Anknüpfungspunkt dient. So im Urt. des BGH v. 13. 1. 1993 (3 StR 491/92 181 ) sowie im Besehl. v. 24. 3. 1995 (4 StR 113/95). Daß das (auch substantiierte) Abstreiten des Anklagevorwurfs ein zulässiges Verteidigungsverhalten darstellt, wird in den benannten Beschlüssen schon gar nicht mehr erwähnt, mithin (richtigerweise) postuliert.
Hat der Beschuldigte den Entlastungszeugen gar zur Falschaussage angestiftet und verhindert er in der Hauptverhandlung, obwohl er dazu die Möglichkeit hätte, nicht dessen Meineid, so sei er bezüglich der letztgenannten Straftat auch der Beihilfe durch Unterlassen strafbar; sein pflichtwidriges Vorverhalten liege in der strafbaren Anstiftung (Urt. des BGH v. 18.5. 1993 (1 StR 209/93 182 ; Zweiter Teil: CIV3) -+ Weiß der Beschuldigte von der Bereitschaft des Entlastungszeugen, der Wahrheit zuwider auszusagen, so macht er sich mit dessen Benennung einer Beihilfe zur Falschaussage gern. §§ 153, 27 StGB strafbar. Zugleich kann dieses »fremdbelastende« Verhalten - da nicht von Nemo tenetur gedeckt - im Rahmen der Strafzumessung bezüglich der Ausgangstat negativ verwertet werden. Diese zweifache Berücksichtigung der Zeugenbenennung verstößt nicht etwa gegen das Doppelbestrafungsverbot des § 46 Abs. 3 StGB: Hier geht es um Rückschlüsse auf die Einstellung des Taters zur Basistat, dort um eine (strafrechtlich eigenständige) Folgetat. 183
c) Benennung eines bislang unentdeckten Mittäters als Entlastungszeuge Nach Ansicht des OLG Hamm stellt dieses Nachtatverhalten entsprechend der oben a nachgezeichneten Argumentation eine Beihilfe zur Falschaussage durch Unterlassen dar (Urt. v. 29. 1. 1992-3 Ss 1128/91 184 ; siehe im Zweiten Teil: C IV 1), was aber mangels GarantensteIlung des Angeklagten nicht sein kann; wohl aber ist der Angeklagte einer psychischen Anstiftung zur Falschaussage strafbar: Die Benennung ruft im Zeugen den Tatentschluß hervor, dem als Mittäter nichts anderes übrig bleibt, als die Version des Angeklagten zu bestätigen und diesen damit zu entlasten, will er nicht se ipsum prodere; mithin besteht das erforderliche »enge Band« zwischen der Teilnahmehandlung und der Haupttat, letztere ist infolge der besonderen Umstände auch "bestimmt" genug i.S. von § 26 StGB (ausführlich dazu im Zweiten Teil: C IV 1 c). 181 182 183 184
In: BGHR StGB § 46 Abs. 2, Nachtatverhalten 20. In: NStZ 1993, S. 489. Siehe nur Bruns, in: NStZ 1981, S. 86 (81), Leitsätze 4 und 5 (unter VII). In: StV 1994, S. 132-133.
B. Leugnen
267
-+ Die Strafbarkeit des Beschuldigten entfällt auch nicht auf der Schuldebene wegen einer etwaigen Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens; die Benennung ist keine objektive Conditio sine qua non zur Erhaltung der Bezichtigungs- bzw. Lügefreiheit des Beschuldigten (vgl. im Zweiten Teil: C 11 6 c).
3. *Veranlassung durch Dritte; in dubio pro reo Der Vollständigkeit halber sei auch die Selbstverständlichkeit erwähnt, daß dem Beschuldigten eine von Dritten veranlaßte Falschaussage des Zeugen weder im Rahmen der Strafzumessung bezüglich der angeklagten Tat noch über den »Umweg« einer Unterlassensstrafbarkeit angelastet werden kann (so der BGH im Beschl. v. 29. 5. 1981 - 2 StR 191/81 - auf S. 5 (allerdings mit »salvatoriseher Formel«) sowie im Beschl. v. 10.3. 1998 - 4 StR 66/98 18S _ auf S. 3). Freilich schwingt bei dieser Einschätzung auch der In-dubio-Grundsatz mit; im zuletzt benannten Beschl. des BGH (v. 10.3. 1998) hatten die Brüder des Angeklagten (!) die Zeugen entsprechend beeinflußt. Eine Beeinflussung durch den Angeklagten liegt im »Stiefvater-Fall« (BGH, Beschl. v. 6.5. 1987 - 2 StR 201/87 186) nahe, in dem der Zeuge jede sexuelle Belästigung durch seinen Stiefvater verneint hat; gleichwohl war auch hier in dubio pro reo zu entscheiden: "Wieso aber der Angeklagte für diese Falschaussage verantwortlich sein soll, ist nicht ersichtlich. Daß er auf den Zeugen in diesem Sinn eingewirkt hätte, ergeben die Feststellungen [des erstinstanzlichen Urteils] nicht" (a. a. 0., S. 3).
IV. »Faktische Lüge«
Eine weitere, subtilere Möglichkeit, die Aufmerksamkeit der Strafverfolger von sich abzulenken, besteht für den Täter darin, falsche Spuren zu legen bzw. falsche Indizien zu schaffen, was entweder eine substantiierte (falsche) Einlassung ganz ersetzen oder zumindest flankieren soll. Aufgrund dieser »strukturellen Verwandtschaft« zur Lüge wird das in Frage stehende Verhalten hier sytematisch der Fallgruppe ,,Leugnen" zugeordnet und im folgenden als »faktische Lüge« bezeichnet. Man denke etwa an den im Zweiten Teil (unter C III 1) erwähnten »Sedlmayr-Fall«, in dem die Tater durch entsprechechende »Drapierung« des Tatorts einen Mord aus dem Stricher-Milieu vortäuschen wollten; die Tat als solche wäre nicht zu vertuschen gewesen. Oder der Angeklagte legt - wie im »Tagebuch-Fall« - ein gefälschtes Tagebuch vor, aus dem seine Unschuld hervorgehen soll und das vage und verklausulierte Beschuldigungen gegenüber dem Opfer und anderen Personen enthält (vgl. BGH, Beschl. v. 12. 3. 1991 - 5 StR 2191 181). In den vorliegenden Zusammenhang gehört auch der »Türkinnen-Fall« (BGH, Beschl. v. 17.9. 1990 - 3 StR 313/9): ,,Nachdem die Angeklagte, eine Türkin, sah, daß sie in Verdacht 18S 186 181
Bei Detter. in: NStZ 1998, S. 503. Etwas unscharf wiedergegeben in: MDR 1987. S. 799. In: BGHR StGB § 46 Abs. 2, Verteidigungsverhalten 11.
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3. Teil: Fallgruppenweise, die beiden Interpretationen vergleichende Analyse
geraten war, das Opfer, ebenfalls eine Türkin, mit Messerstichen getötet zu haben, täuschte sie einen Überfall auf sich selber vor, nachdem sie sich mit einem Küchenmesser einige Bauchwunden zugefügt hatte. Damit wollte sie sich selbst als Opfer eines unbekannten 'ßiters darstellen, der türkische Frauen mit dem Messer angreift und der demnach auch als 'ßiter für die ihr angelastete Tat in Frage gekommen wäre" (a. a. 0., S. 3). Soll es dagegen nach der Konzeption des 'ßiters nie einen ,.Beschuldigten" geben und legt er es dementsprechend darauf an, daß die Tat als solche gar nicht erst entdeckt wird, ist es mißverständlich, von einer (»faktischen«) Lüge zu sprechen. Tatverschleierndes Verhalten wird daher unter der Überschrift "Spurenbeseitigung" behandelt (unten D), wobei freilich diese Einordnung nur um der besseren Handhabbarkeit der betreffenden Fälle geschieht; an der rechtlichen Bewertung ändert sie nichts. Bei der Bewertung dieser »faktischen Lüge« kommt der BGH zu keinem anderen Ergebnis als hinsichtlich des substantiierten Abstreitens: Solange der Angeklagte den Verdacht nicht bewußt auf einen konkreten (tatsächlich existierenden) Dritten lenkt, wird ihm das entsprechende Verhalten nicht angelastet; eine griffige Begründung läßt der BGH indes auch hier vermissen. In beiden gerade benannten Entscheidungen (»Tagebuch-Fall«, »Türkinnen-Fall«) stellt der BGH nicht ausdrücklich auf die Verteidigungsfreiheit des Beschuldigten ab, sondern allenfalls indirekt, indem er die »salvatorische Formel« zitiert und jeweils mangels weiterer erstinstanzlicher Feststellungen für nicht einschlägig erachtet. Im »Türkinnen-Fall« (a. a. 0, S. 4) weist er ergänzend darauf hin, "daß die Angeklagte durch ihr Verhalten eine Straftat vorgetäuscht und sich möglicherweise dadurch strafbar gemacht hatte." Ggf. wird die »faktische Lüge« nicht lanciert, um die Täterschaft zu verschleiern, sondern um die Tat in einem milderen Licht erscheinen zu lassen. Im dem Besch!. des BGH v. 27. 11. 1987 (3 StR 519/si 88 - »Selbstmord-Fall«) zugrunde liegenden Sachverhalt hatte der Angeklagte mehrere Selbstmordversuche vorgetäuscht, um "das Geschehen als eine Verzweiflungstat erscheinen zu lassen und dadurch ihn entlastende Umstände zu schaffen" (a. a. 0., S. 3). Der BGH klassifIziert dieses Nachtathandeln des Beschuldigten als zulässiges Verteidigungsverhalten und verweist - ohne erkennbaren inneren Bezug - auf einige seiner früheren Entscheidungen zur fehlenden Wiedergutmachung (Besch!. v. 10.6.1981-3 StR 169/81 189 ) oder zur Beseitigung der Leiche (»Kanal-Fall«, unten D III 1; Sachverhalt: Zweiter Teil, C III 3). Diese Hinweise sowie der auf das Urt. v. 25.3. 1981 (3 StR 61/81 190), in dem sich Rechtsprechungsnachweise zu allen möglichen Verhaltensweisen nach der Tat finden, bestärkt den Eindruck, daß der BGH in der »strafmildernden faktischen Lüge« ein ganz normales Verteidigungsverhalten erblickt. - Das ebenfalls im »Selbstmord-Fall« angeführte Urt. v. 26. 2. 1986 (3 StR 18/86 - »Fußtritt-Fall«) betrifft - wie unten D I zu sehen sein wird - gar kein Nachtatverhalten. -+ Anhand der Neuinterpretation des Nemo-tenetur-Satzes sind die benannten Fälle wie folgt zu bewerten: Das Legen einer falschen Spur in eine bestimmte 188 189 190
In: BGHR StGB § 46 Abs. 2, Nachtatverhalten 10. In: StV 1981, S. 516; NStZ 1981, S. 343. In: NStZ 1981, S. 257.
B. Leugnen
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Richtung (vgl. »Sedlmayr-Fall«) und die - wenn auch nicht explizite - Angabe bestimmter Verdachtsmomente, die bei konkret benannten Dritten vorliegen sollen (»Tagebuch-Fall«), gehen über das zur Erhaltung der Lüge- bzw. Bezichtigungsfreiheit objektiv Notwendige hinaus; eine entsprechende Strafbarkeit gern. § 145d Abs. 2 Nr. 1 bzw. 164 StGB kann daher nicht unter dem Gesichtspunkt der Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens entschuldigt werden. Anders liegt es hingegen im »Türkinnen-Fall«. da hier die Beschuldigte lediglich versucht hat, mit den sich selbst zugefügten Messerstichen den Verdacht auf den »Großen Unbekannten« abzulenken; solange aber das substantiierte Leugnen gleichsam »ins Blaue« zielt, ist es aus den oben (ll 4) benannten Gründen qua Nemo tenetur privilegiert. Strafschärfend könnte dieses Nachtatverhalten nur berücksichtigt werden, wenn dieser unbekannte Täter tatsächlich existierte und die Beschuldigte - etwa angeregt durch entsprechende Meldungen in den Medien - ihm die Verantwortung auch für ihre Tat zuschieben wollte. Im ..Selbstmord-Fall« führt Nemo tenetur de interpretatione ferenda zu keiner anderen Bewertung.
v. Sonstiges 1. Folgeentscheidungen / Nebenentscheidungen
Ist der Tatrichter von der Täterschaft und der strafrechtlichen Verantwortlichkeit des Angeklagten im Sinne des § 261 StPO überzeugt, so hat er nicht nur die zu verhängende Hauptstrafe zuzumessen, sondern darüberhinaus ggf. noch diese oder jene Folgeentscheidung zu treffen. So steht z. B. bei einer verwirkten Freiheitsstrafe von unter zwei Jahren gern. § 56 StGB die Frage der Strafaussetzung zur Bewährung im Raum. Hat der Angeklagte indes eine Freiheitsstrafe von über zwei Jahren verwirkt und handelt es ich bei ihm um einen Wiederholungstäter, so droht ihm die Anordnung einer Sicherungsverwahrung gern. § 66 StGB. Die Anordnung eines Berufsverbots gern. § 70 StGB droht dem Täter, der die Straftat "unter Mißbrauch seines Berufs ... oder unter grober Verletzung der mit [ihm] verbundenen Pflichten" begangen hat.
Dabei darf nach Ansicht des BGH ein zulässiges Verteidigungsverhalten ebensowenig berücksichtigt werden wie bei der eigentlichen Strafzumessung. Das Revisionsgericht führt zur Begründung an, daß sich der Angeklagte ansonsten nicht wirklich frei entscheiden könne, wie er sich verteidigen wolle. So im Urt. des BGH v. 16.9. 1992 (2 StR 277/92 191 ) hinsichtlich der Prognoseentscheidung gern. § 66 Abs. I Nr. 3 StGB mit Verweisen auf Entscheidungen zur Strafaussetzung zur Bewährung (u. a. das Urt. v. 18. 8. 1992 - 1 StR 435/92 192) und zur Anordnung eines 191 192
In: StV 1993, S. 469. In: StV 1993, S. 591.
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3. Teil: Fallgruppenweise, die beiden Interpretationen vergleichende Analyse
Berufsverbots (u. a. das Urt. v. 3. 10. 1986 - 2 SIR 256/86 193 - siehe dazu auch unten
eIl 2*).
-+ Diese Überlegung des BGH entspricht dem oben (I 2) gegen die »salvatorische Formel« Vorgebrachten: Was dem Beschuldigten »erlaubt« ist, muß ihm durchgängig und ohne Ausnahme »erlaubt« bleiben, soll eine »Ergebnisrechtsprechung« verhindert werden (vgl. auch im Ersten Teil: B VI 2 c (4)). Ein weiteres im vorliegenden Zusammenhang entscheidendes Argument erschließt sich bei einem Blick auf die mögliche Prozeßsituation, in der nach erfolgtem Schuldspruch nur noch über die Strafzumessung bzw. Gesamtstrafenbildung verhandelt wird.
Oe lege lata geschieht dies nach einer erfolgreichen Strafmaßrevision l94 . Oe lege ferenda ergäbe sich die problematisierte Situation über eine generelle Zweiteilung der Hauptverhandlung. Dieses sog. "Tat- oder Schuldinterlokut,,195, bei dem es im ersten Teil der Hauptverhandlung nur um die Schuld des Angeklagten ginge, dagegen erst im zweiten Teil um die zu verhängende Sanktion, wird in der Literatur aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes des Angeklagten und der Objektivität des Tatrichters zunehmend propagiert. 196
Daß die Ratio von Nemo tenetur auch noch greift, wenn der Tater schon überführt ist und die Konsequenz der Minderung seines rechtlichen, wirtschaftlichen, sozialen etc. Status quo grundsätzlich bereits feststeht, ergibt sich bereits aus der Herleitung des Selbstbegünstigungsprivilegs im Ersten Teil (unter BI 2 b). Ansonsten könnte der Verurteilte sich de lege lata nicht frei über das Einlegen einer StrafrnaBrevision entscheiden; de lege ferenda könnte Nemo tenetur qua Einführung des "Schuldinterlokuts" umgangen werden.
2. *Überlange Verfahrensdauer Die überlange Dauer des Strafverfahrens kann angesichts ihrer spezifischen, vom Rechtsstaatsgedanken nicht mehr gedeckten negativen Folgen für den Angeklagten bei der Strafzumessung mildernd ins Gewicht fallen. l97 Gilt dies aber auch für den Fall, in dem sich das 193 In: BGHR StGB § 46 Abs. 2, Nachtatverhalten 2. 194 Die Möglichkeit, den Revisionsantrag solchermaßen zu beschränken, ist mittlerweile anerkannt, siehe Hamm, Revision, Teil 4, C (S. 70 bei Rn. 151». 195 Beullee. StPO, § 19 V (S. 173 bei Rn. 397). 196 Siehe nur Krauß. in: Schaffstein-FS. S. 430/431 (411). Auf die aus einer Zweiteilung der Hauptverhandlung resultierenden Schwierigkeiten weist Peters (StrafprozeB, § 60 IV (S. 560-561» hin. 197 Ein aus dieser Verzögerung resultierendes Verfahrenshindernis wird hingegen allgemein abgelehnt, siehe nur Rieß. in: LlR, § 206a, Rn. 56. Das BVerfG (in: StV 1993, S. 353 (352» meint, die Verfahrensverzögerung könne ,Jm Extrembereich zur Einstellung ( ... ) oder zum Vorliegen eines unmittelbar aus dem Rechtsstaatsgebot des Grundgesetzes herzuleitenden Verfahrenshindernis[]" führen; grundsätzlich dagegen Meyer-Goßner; in: KlIM-G, Art. 6 (MRK), Rn. 9 (m.v.N.). Vgl. dazu auch (m.jew.v.N.) Trondle. § 46, Rn. 35; Stree. in: Sch/Sch, § 46, Rn. 57; Gribbohm, in: LK, § 46, Rn. 231 und 232.
B. Leugnen
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Verfahren letztlich deshalb in die Länge zieht, weil der Angeklagte den Tatvorwurf leugnet? In seinem Beschl. v. 26. 1. 1983 (3 StR 513/82 198) argumentiert BGH dahingehend, daß das Fehlen eines Strafmilderungsgrundes nicht stra/schärfend berücksichtigt werden dürfe (dazu eingehend unten C 11 2*): Das Landgericht hatte im zur Revision vorgelegten Urteil eine entsprechende Strafmilderung mit der Begründung abgelehnt, der Angeklagte (S. 3) ,,habe ... die Tat bis zum Hauptverhandlungstermin geleugnet, so daß, um ihn zu überführen, die Vernehmung seiner beiden Mitangeklagten erforderlich gewesen sei. Die Hauptverhandlung habe deshalb erst nach Verhaftung des Mitangeklagten B. anberaumt werden können." Der BGH kritisiert dies mit dem Hinweis darauf, "daß eine Strafe nicht allein deshalb geschärft werden kann, weil ein Tater die Tat leugnet ( ... ). Dies hat das Landgericht im Ergebnis getan, indem es von einer gebotenen Milderung der Strafe aus Gründen abgesehen hat, die nur darauf zurückzuführen sind, daß der Angeklagte die Tat vor der Hauptverhandlung geleugnet hat." 199 Abgesehen davon, daß das Argument hier gar nicht paßt, schließlich ist ja der zur möglichen Strafmilderung führende Sachverhalt objektiv gegeben - in Frage steht nur, ob dem Angeklagten angesichts seiner Verteidigungsstrategie die Strafmilderung versagt werden darf -, liegt der hier relevante »Knackpunkt« woanders: Die Pflicht des Richters zur freien Beweiswürdigung gern. § 261 StPO bezieht sich selbstverständlich auch auf ein eventuelles Geständnis des Angeklagten. 200 Oder umgekehrt formuliert: Von einer durch das Geständnis vermittelten, gleichsam »automatischen« Zeitersparnis könnte man nur ausgehen, gäbe es - als Ausnahme zum benannten Grundsatz des § 261 StPO - eine Art (gesetzlicher) Beweisregel 201 • die besagte, daß Geständnisse auch ohne Überprüfung hinsichtlich ihrer Glaubwürdigkeit und Vollständigkeit zur Urteilsfindung herangezogen werden dürften. Es mag im Einzelfall freilich zutreffen, daß ein Geständnis zeitsparend wirkt; die im Gerichtsalltag zunehmenden Absprachepraxis funktioniert letztlich genau 50: 202 Im Gegenzug für ein (Teil-)Geständnis des Angeklagten wird diesem eine Strafmilderung bzw. eine konkrete (Höchst-)Strafe zugesichert. Dieses Vorgehen machte keinen Sinn, würde es nicht zu einer Verfahrensbeschleunigung führen und damit auch dem Tatrichter zugute kommen. Denklogische Voraussetzung für eine solche gerichtsentlastende Beschleunigung aber ist die mehr oder weniger ungeprüfte Übernahme des abgesprochenen Geständnisses als Basis für den Schuldspruch. - Diese Wirkung des ,,Deals", der zuweilen schon als eigenständiges Rechtsinstitut eingestuft wird,203 kann indes nicht als allgemeingültige Prämisse herangezogen werden.
198 In: StV 1983, S. 103; NStZ 1983, S. 261. 199 Hervorhebung nicht im Original. 200 Siehe nur Gollwitzer, in: LlR, § 261, Rn. 73. 201 Siehe dazu etwa Peters. Strafprozeß, § 37 XI I b (S. 298). 202 Übersichtlich und zugleich kritisch: Beulke. StPO, § 19 IV I, 2 (S. 170-172 bei Rn. 394 - 395). 203 Siehe Beulke. a. a. O. (S. 170 bei Rn. 394).
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3. Teil: Fallgruppenweise, die beiden Interpretationen vergleichende Analyse
C. Konsequentes Folgeverhalten J. Fehlende Reue / Schuldeinsicht 1. Argumente
Zahlreich sind die Entscheidungen, in denen die fehlende Reue / Schuldeinsicht des leugnenden Angeklagten als Strafschärfungsgrund abgelehnt wird. Das hierbei zumeist vorgebrachte Argument nimmt seinen gedanklichen Ausgang bei der Lügefreiheit bzw. dem Schweigerecht des Beschuldigten im Strafverfahren. Stellvertretend für alle einschlägigen Judikate sei hier aus dem Urt. des OLG Düsseldorf v. 23. 1. 1996 (2 Ss 357/95 - 75/95 m204 ) zitiert, weil in ihm sowohl der logische, innere Zusammenhang zwischen der äußeren Verteidigungsstrategie und der emotionalen Reaktion des Angeklagten auf den Tatvorwurf als auch die »strategische Verwandtschaft« von Schweigen und Leugnen besonders anschaulich dargestellt wird: Die Argumentation nimmt ihren Ausgangspunkt in der Feststellung, daß das Recht eines jeden Angeklagten auf Bestreiten des Tatvorwurfs nicht auf dem Wege einer negativen Bewertung des Nichtvorliegens eines Geständnisses vereitelt werden dürfe. Und weiter: ,,Diese Folge versteht sich in ihrer logischen Konsequenz von selbst und bedarf keiner näheren Begründung. Aus dem Fehlen eines Geständnisses darfkonsequenterweise auch keine Uneinsichtigkeit zum Nachteil des Angeklagten abgeleitet werden. Von einem leugnenden Angeklagten kann naturgemäß nicht erwartet werden, daß er Reue und Einsicht zeigt, weil er sonst seine Verteidigung ad absurdum führt, zumindest seine Verteidigungsposition gefährdet ( ... ).,,20S Ebenso: BGH, Beschl. v. 22. 12. 1981 (2 StR 727/81 206) - auf angebliches Notwehrrecht gestUtzte Verteidigungsposition; Beschl. v. 30. 6. 1982 (2 StR 226/82 207) - Angeklagter räumt zwar tatbestandsmäßiges Handeln ein, behauptet jedoch "einen Geschehensablauf ... , bei dem sein Tun gerechtfertigt oder entschuldigt wäre" (a. a. 0., S. 3); siehe zu beiden Beschlüssen schon oben B I 3. Beschl. v. 21. I. 1998 (5 StR 670/97 208 ) - dem Angeklagten, der Geschlechtsverkehr ,,im gegeseitigen Einverständnis" (a. a. 0., S. 3) behauptet, kann dementsprechend nicht die fehlende Auseinandersetzung mit seiner Tat angelastet werden. Beschl. v. 11. 6. 1993 (4 StR 244/93 2f») - Behauptung des leugnenden Angeklagten, "sein Geständnis sei ihm durch die) Verhörspersonen< aufgenötigt worden" (a. a. 0., S. 5). Ohne Besonderheiten: Beschl. v. 29. 7. 1983 (3 StR 252/8321~; Urt. v. 6. 8. 1986 (3 StR 243/86 211 ). 204 2O~
206 207 208 209 210
In: StV 1996, S. 217. OLG Düsseldorf, in: StV 1996, S. 217. - Hervorhebung nicht im Original. In: StV 1982, S. 223. In: NStZ 1983, S. 21; St, Bd. 31, S. 96-101. Bei Detter; in: NStZ 1998, S. 503. In: StV 1993, S. 533. In: StV 1983, S. 501.
C. Konsequentes Folgeverhalten
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Konsequenterweise ist nach der revisionsgerichtlichen Rechtsprechung die Beriicksichtigung fehlender Reue gegenüber einem geständigen Angeklagten nicht zu beanstanden. So z. B. im Urt. des BGH v. 24. 7. 1985 (3 StR 134/85): Die Angeklagte hatte nicht nur keinerlei Reue hinsichtlich der von ihr gestandenen Straftaten entwickelt, sondern diese sogar "erheiternd" (a. a. 0., S. 5) gefunden.
Allerdings dürfe einem geständigen Angeklagten nicht angelastet werden, daß er erst in der Hauptverhandlung Reue gezeigt hat. Diese Erkenntnis korrespondiert mit dem oben B n 1 Festgestellten, dem zufolge der Angeklagte den Zeitpunkt seiner Einlassung frei, d. h. ohne die Gefahr des Vorwurfs, er habe sich zu spät kooperationsbereit gezeigt, auswählen kann. Kurios ist die Begründung des BGH-Beschl. v. 12. 12. 1980 (3 StR 458/80212, S. 2): ,,Das angefochtene Urteil enthält keine Feststellungen dazu, weshalb [der Angeklagte] sich nicht früher um [das Opfer] gekümmert hat. Das braucht nicht auf Rechtsfeindschaft oder einer besonderen Gefährlichkeit als Straftäter zu beruhen, sondern kann - was naheliegt - auch [So 3] damit zusammenhängen, daß der Angeklagte am Tage nach der Tat verhaftet worden ist und sich bis zur Hauptverhandlung in Haft befunden hat." - Ausweislich dieses Zitats liefert die Entscheidung auch ein weiteres Beispiel dafür, daß die »salvatorische Formel« in den seltensten Fällen mit der nötigen Sicherheit (in dubio pro reo!) angewendet werden kann. Gesteht der Angeklagte erst in der Hauptverhandlung, so kann ihm freilich sein bisheriges reueloses Verhalten nicht angelastet werden (OLG Koblenz. Beschl. v. 9. 12. 1996 - 2 Ss 342/96 213 ).
Erst recht nicht strafschärfend angerechnet werden darf dem Angeklagten die fehlende Reue I Schuldeinsicht beim Vorwurf der Fahrlässigkeit. Aus dem Urt. des KG Berlin v. 27. 9. 1956 ([2]1 Ss 327/56 214): ,,Die fehlende verstandesmäßige Einsicht, daß das eigene Verhalten fahrlässig und daher schuldhaft sei, braucht weder ein Anhaltspunkt für das Maß der persönlichen Schuld noch ein Beweis dafür zu sein, daß es sich um einen seiner inneren Einstellung nach rücksichtslosen Kraftfahrer handelt ( ... ).,0215
Im übrigen warnt der BGH grundSätzlich vor einer "Überbewertung des Prozeßverhaltens" (Urt. v. 15. 11. 1963-4 StR 402163 216) des Angeklagten. In dem angeführten Urt. heißt es (auf S. 4): ,,Daß sich ein Angeklagter gegen das Eingeständnis seines Unrechts sträubt, vor Gericht immer wieder seine Unschuld beteuert und seine Zuflucht unter Umständen zu bloßen Schutzbehauptungen nimmt, um nicht verurteilt zu werden, ist begreiflich und so häufig, daß sich hieraus allein keine zuverlässigen Schlüsse In: StV 1987, S. 5. In: StV 1981, S. 122. 213 In: StraFo 1998, S. 236. 214 In: VRS, Bd. 11 (1956), S. 462-465. m KG Berlin, in: VRS, a. a. 0., S. 464 (462). 216 In: VRS, Bd. 26 (1964), S. 22-23.
211
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18 Torka
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3. Teil: Fallgruppenweise, die beiden Interpretationen vergleichende Analyse
auf seine [Einstellung zur Tat] ziehen lassen. Die in der Hauptverhandlung aus Furcht vor Strafe bekundete ,Einsichtslosigkeit' braucht nicht immer ein Zeichen für die innere Haltung des Angeklagten gegenüber seinen Verfehlungen zu sein, zumal Geständnisse umgekehrt nicht selten nur deshalb bereitwillig abgelegt werden, um eine milde Strafe zu erreichen." Der zitierte Text befaßt sich zwar mit der Frage der Strafaussetzung zur Bewährung und gehört damit eigentlich unter den folgenden Gliederungspunkt 3, ist indes so allgemeingültig und treffend fonnuliert, daß er sich besser hier als dort in die Darstellung der Argumentation der Rechtsprechung einfügt. -+ Selbst nach der ursprünglichen Rogallschen Formel ist das Unterlassen (!) von Bekundungen der Reue bzw. einer Schuldeinsicht seitens des leugnenden Beschuldigten von Nemo tenetur erfaßt, würde dieser doch ansonsten seinem Verteidigungsvorbringen in inhaltlich-logischer Hinsicht widersprechen und damit (zumindest indirekt) zur Eigen-Überführung beitragen (vgl. dazu im Ersten Teil: B I 1 a). Hierbei zeigt sich jedoch einmal mehr das aus dieser zu engen Definition resultierende Defizit: Die auf dem Leugnen logisch aufbauende Vermeidung jeglicher Kundgabe von Reue bzw. Schuldeinsicht nimmt am Nemo-tenetur-Privileg teil, das entsprechende Basisverhalten Leugnen hingegen wird unter der "Verteidigungsfreiheit" subsumiert. Damit »hängt« - um es bildhaft zu formulieren - der Nemo-tenetur-Schutz »in der Luft« (Erster Teil, B VI 2 c (3». Die hier vertretene Neuinterpretation des Nemo-tenetur-Satzes vermeidet diesen logischen Bruch: Soweit das Leugnen von Nemo tenetur erfaßt wird, muß dies auch für das auf diesem Leugnen logisch aufbauende (konsequente) Folgeverhalten gelten, soll das Privileg nicht de facto ausgehöhlt werden. Die Behandlung des selbstbegünstigenden Nachtatverhaltens ist somit gleichsam »aus einem Guß«.
Dies gilt freilich auch umgekehrt, was hier anhand des »ln-Jlagranti-Falles« erläutert werden soll: Die Behauptung der freiwilligen sexuellen Hingabe des Opfers ist wegen der Unzumutbarkeit ( ... ) zur Sicherung von Nemo tenetur entschuldigt. Dem Angeklagten kann somit auch nicht etwa angelastet werden, er habe sich dafür nicht beim Opfer entschuldigt. Die Behauptung der sexuellen Hingabe gegen Geld und die darüberhinausgehende Behauptung einer Nachforderung gegenüber dem sexuell erregten »Kunden« (also dem Angeklagten) ist nicht vom Nemo-tenetur-Privileg erfaßt, kann demnach grundsätzlich als Anknüpfungspunkt für negative Schlüsse auf die Einstellung des Täters zu seiner Tat i.S. von § 46 Abs. 2 Satz 2 (letzte Fallgruppe) StGB dienen; desgleichen die Tatsache, daß der Angeklagte von dieser Behauptung in der Hauptverhandlung nicht abgewichen ist, sich nicht dafür entschuldigt hat o.ä.
Der Nemo-tenetur-Satz ist - untechnisch formuliert - ein »Angebot« der Rechtsgemeinschaft gegenüber dem Beschuldigten, dem zufolge es diesem freistehe, an der Aufklärung der verfolgten Straftat mitzuwirken. Entscheidet sich der Beschuldigte solchermaßen freiwillig für ein Geständnis, also für eine Mitwirkung an seiner eigenen Überführung, so verzichtet er damit zugleich auf den von Nemo tenetur gewährten Schutz. Das Fehlen von Reue kann ihm dann ebenso im Rahmen der Strafzumessung angelastet werden wie die fehlende (Bereitschaft zur) Schadenswiedergutmachung o.ä.
C. Konsequentes Folgeverhalten
275
2. »Salvatorische Formel«
Auch im vorliegenden Kontext bedienen sich die Revisionsgerichte der hier sog. »salvatorischen Formel«: Aus dem Besehl. des OLG Düsseldorfv. 10.5.1990 (2 Ss 71/90-19/90 111217): ,,Fehlende Unrechtseinsicht und fehlende Reue sind für sich allein weder ein Grund zur Strafschärfung noch zur Versagung der Strafaussetzung. Ein solches Verhalten kann nur dann zu Lasten des Angeklagten berücksichtigt werden, wenn es nach Art und Tat und nach der Persönlichkeit des Täters auf Rechtsfeindschaft, Gefährlichkeit und die Gefahr künftiger Rechtsbrüche sehließen läßt ( ... ).,,218 Ebenso: BGH, Beschl. v. 9. 6. 1983 (4 StR 257/83 219); Beschl. v. 11. 11. 1986 (1 StR 564/86 22°); Besehl. v.4. 11. 1993 (1 StR 655/93; siehe dazu auch unten 3).
Und entsprechend den bisherigen Erfahrungen mit dieser Formel stößt man bald auf Entscheidungen, die - freilich nicht mehr überraschende - Unsicherheiten bei deren Anwendung erkennen lassen. Das kuriose Beispiel des oben I zitierten Besehl. (v. 12. 12. 1980 - 3 StR 458/80 221 ) sei nochmals in Erinnerung gebracht.
Besonders plastisch liest sich der BGH-Beschl. v. 30. 7. 1985 (I StR 340/85): ,,Die Strafkammer hat dem Angeklagten unter anderem strafersehwerend angelastet, daß er nur ,eine sehr geringe Schuldeinsicht' zeige; er versuche immer noch, durch, Wortklauberei' darzutun, daß der im einstweiligen Verfügungsverfahren gegen ihn geltend gemachte Unterlassungsanspruch unbegründet gewesen sei" (S. 2). Nach Anfügung der »salvatorischen Formel« erkennt der BGH:
,,Das hartnäckige Abstreiten des Angeklagten beruht ersichtlich nicht auf Rechtsfeindschaft, sondern auf seinem Hang zur Rechthaberei und seiner Unfahigkeit, Kritik anzuerkennen" (a. a. 0., S. 3). -+ Zur Ablehnung der »salvatorischen Formel« (auch) im Lichte von Nemo tenetur wird auf oben B I 2 verwiesen.
3. Folgeentscheidungen
Auch nach rechtskräftigem Schuldspruch bzw. im Rahmen von Folgeentscheidungen wird dem Angeklagten das Fehlen von Reue bzw. Einsicht nicht strafschärfend angelastet. 217 218
219
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IS'
In: StV 1990, S. 11-13. OLG Düsseldorf, in: StV 1990, S. 13 (11). In: NStZ 1983, S. 453. In: BGHR StOB § 46 Abs. 2, Nachtatverhalten 5. In: StV 1980, S. 122.
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3. Teil: Fallgruppenweise, die beiden Interpretationen vergleichende Analyse
Aus dem Beschl. des BGH v. 4. 11. 1993 (1 StR 655/93), S. 3: Die widerlegte Einlassung durfte als ,.zulässiges Verteidigungs vorbringen ... dem Angeklagten nicht straferschwerend angelastet werden ... Daran ändert nichts, daß der Schuldspruch inzwischen rechtskräftig ist; auch danach durfte der Angeklagte auf seinem Standpunkt beharren, er habe sich nicht strafbar gemacht." Ebenso: BGH-Urt. v. 15. 11. 1963 (4 StR 402163 222 ; siehe dazu schon oben 1: "Überbewertung des Proze8verhaltens"); Urt. v. 18.8. 1992 (1 StR 435/92 223 ) - jeweils zur Strafaussetzung zur Bewährung. BGH-Beschl. v. 30. 7. 1985 (1 StR 340/85; siehe dazu schon oben 2: "Wortklauberei"); Besehl. v. 7. 11. 1986 (2 StR 563/86 224); Beschl. v. 16.9. 1988 (2 StR 124/88 22S ); Beschl. v. 11. 6. 1993 (4 StR 244/93 226 ; siehe dazu schon oben 1: angeblich ,,abgenötigtes Geständnis"); Besehl. v. 30. 7. 1998 (4 StR 400/98) - jeweils nach rechtskräftigem Schuldspruch. -+
Zu Nemo tenetur bei den Folgeentscheidungen siehe B V 1.
11. Fehlendes Mitleid I fehlende Betroffenheit 1. Argumente Analysiert man im vorgegebenen Kontext die relevanten Judikate, so fällt auf, daß die Revisionsgerichte die Begriffe Mitleid, Reue, Betroffenheit und (Schuld-) Einsicht oft ohne Differenzierung, also gleichsam synonym gebrauchen. So z. B. im BGH-Urt. v. 3. 10. 1986 (2 StR 256/86 227 , S. 8): ,,Der Angeklagte, der jegliches strafbares Tun in Abrede gestellt hat, hat möglicherweise nur deshalb Reue und Mitgeftihl mit dem Gesehädigten nicht zum Ausdruck gebracht, um sich zu seiner Verteidigung nicht in Widerspruch zu setzen.,0228 - Ähnlich: Besehl. v. 16.9. 1988 (2 StR 124/88 229 ). Allein auf das fehlende Mitgefühl stellen ab der Beschl. v. 9. 6. 1982 (2 StR 249/82 230 ) sowie der Beschl. v. 20. 11. 1986 (2 StR 599/86 231 ): jeweils keine Strafschärfung.
Allerdings kann auch ein unbeteiligter Dritter Mitleid, Mitgefühl und Betroffenheit ob der Tat gegenüber dem Opfer entwickeln. Die benannten Gefühlsregungen etablieren mithin keinen objektiven Widerspruch zu einer leugnenden VerteidiIn: VRS, Bd. 26 (1964), S. 22-23. In: StV 1993, S. 591. 224 In: BGHR StGB § 46 Abs. 2, Nachtatverhalten 4; NStZ 1987, S. 171; StV 1987, S. 100 (dort nur als Leitsatz). 22S In: StV 1989, S. 199. 226 In: StV 1993, S. 533. 227 In: BOHR StGB § 46 Abs. 2, Nachtatverhalten 2. 228 Hervorhebung nicht im Original. 229 In: StV 1989, S. 199. 230 In: StV 1982, S. 218. 231 In: BGHR StGB § 46 Abs. 2, Nachtatverhalten 6. 222 223
c. Konsequentes Folgeverhalten
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gungsposition. Konsequenterweise haben die Tatrichter im dem Beschl. des BGH v. 23. 10. 1992 (2 StR 483/92) zugrundeliegenden Urteil dem ausländischen Angeklagten nicht das Fehlen von Reue, wohl aber "fehlende Betroffenheit über den Tod seines früheren Freundes" (a. a. 0., S. 4) angelastet. Der BGH konstatiert dazu (a. a. 0.): ,,Daß der Angeklagte als Ausländer über Ausdrucksmöglichkeiten verfügt, um den Unterschied zwischen diesen beiden Gefühlshaltungen ohne Gefährdung seiner Verteidigungsposition zu akzentuieren, liegt nicht nahe." Ein gewisses Unbehagen hinterläßt indes der aus diesem Diktum möglicherweise zu ziehende Umkehrschluß, dem zufolge einem inländischen, der deutschen Sprache hinreichend mächtigen Angeklagten durchaus abverlangt werden kann, zwischen Reue und Betroffenheit zu unterscheiden. -+ Angesichts der Tatsache, daß die Grenzlinie zwischen dem konsequenten Folgeverhalten der Reuelosigkeit und einem an sich jedem Unbeteiligten - als solcher gibt sich ja der leugnende Angeklagte - möglichen Mitleid schwer zu ziehen ist, sollte auch das letztgenannte Verhalten grundsätzlich am Nemo-tenetur-Schutz teilhaben, zumal der Beschuldigte durch diese Verteidigungsposition keine (zusätzlichen) Rechtsgüter verletzt. Ihm mag zwar klar sein, daß gewisse Gefühlsregungen objektiv in keinem Widerspruch zum Abstreiten des Tatvorwurfs stehen, doch woher soll er wissen, daß auch das Gericht diese subtile Differenzierung vornimmt? Bevor der Beschuldigte also Gefahr läuft, daß die an sich neutrale Kundgabe von Betroffenheit / Mitgefühl mißinterpretiert wird, entscheidet er sich ggf. zu völliger äußerlicher Neutralität. Konstruktiv erreicht man dieses Ergebnis über die Anwendung des im Zweiten Teil (unter C TI 6 c (3» auch für den Speziellen Entschuldigungsgrund-der Unzumutbarkeit ( ... ) als brauchbar erkannten Irrrtumsgedankens des § 35 Abs. 2 StGB: Der Irrtum darüber, daß das Tatgericht (womöglich sogar ehrlich empfundenes) Mitleid fehldeuten wird, ist jedenfalls unvermeidbar.
2. *Fehlen eines Milderungsgrundes als Strafschäifungsgrund? Früher hat der BGH auch im vorliegenden Zusammenhang gelegentlich mit dem Hinweis auf einen angeblichen Zusammenhang von Strafmilderungs- und Strafschärfungsgründen argumentiert, so z. B. im Urt. v. 3. 10. 1986 (2 StR 256/86 232) auf S. 6. ,,Hätte der Angeklagte Betroffenheit über die Auswirkungen seiner Straftaten für die von ihm geschädigten Mandanten gezeigt, so wäre ihm dies bei der Straf-[S. 8]zumessung zugute gehalten worden. Das bloße Fehlen eines Strafmilderungsgrundes darf aber nicht strafschiirfend gewertet werden (ständige Rechtsprechung; siehe die Nachweise bei Mösl NStZ 1982, 148, 151; 1983, 160, 163).,,233 - Diese Überlegung hat jedoch ,,keine Anerkennung als ausnahmslos geltender Rechtssatz gefunden,,234. Eine »Schlüsselentscheidung« ist hierbei der Beschl. v. 10.4. 1987
232 233 234
In: BGHR StGB § 46 Abs. 2, Nachtatverhalten 2. Hervorhebung nicht im Original. Tröndle, § 46, Rn. 36a.
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3. Teil: Fallgruppenweise, die beiden Interpretationen vergleichende Analyse
(GSSt 1/86 235 ), in dem der Große Senat des BGH für Strafsachen konstatiert, daß fehlende Geldnot sehr wohl strafschärfend berücksichtigt werden könne, obwohl sich Geldnot in der Regel als Strafmilderungsgrund auswirke. 236 - Der Grund, warum die referierte und auf den ersten Blick durchaus überzeugende Argumentation nicht zu einem allgemeingültigen Rechtssatz erstarken kcmn. liegt offensichtlich darin, daß sie auf der empirischen Beobachtung basiert, der zufolge ein bestimmter Aspekt - z. B. die Entschuldigung gegenüber dem Opfer, das Bekunden von Reue, der Versuch, den entstandenen Schaden wiedergutzumachen (siehe dazu sogleich III) - meistens, aber nicht immer und daher zwingend einen tauglichen Strafmilderungsgrund abgibt. Nur wenn dem so wäre, würde die eingangs zitierte Überlegung stimmen, weil sich der in Frage stehende Aspekt ansonsten entweder positiv oder negativ auswirkte, nie aber in Hinblick auf die Strafzumessung neutral bewertet werden könnte. (Die von der Rechtsprechung für einige Zeit propagierte, eingangs zitierte »Regel« krankt also an demselben Defizit wie die im Zweiten Teil (unter C IV I c) kritisierte Behautung, es gebe keine psychische Anstiftung.)
In. Fehlende Schadenswiedergutmachung 1. Vorüberlegungen Auf den ersten Blick könnte man versucht sein, die Beutesicherung als Unterfall der fehlenden Schadenswiedergutmachung zu verstehen; eine solche Klassifizierung böte sich an vor dem Hintergrund, daß die Beute jedenfalls einen (der möglicherweise vielen) Schadensposten des Opfers der Straftat ausmacht. Bei näherer Analyse wird jedoch schnell die »strukturelle Verwandtschaft« von Beutesicherung und Spurenbeseitigung einerseits, von fehlender Reue und fehlender Schadenswiedergutmachung andererseits augenfällig. Die Argumentationsführung orientiert sich im folgenden an dieser Erkenntnis.
In § 46 Abs. 2 Satz 2 StGB wird das ,,Bemühen, den Schaden wiedergutzumachen" ausdrücklich als ein ggf. zu berücksichtigender Strafzumessungsumstand erwähnt. Daraus, daß sich dieses Bemühen wohl meistens zugunsten des Angeklagten auswirkt, kann man indes nicht eine Regel des Inhalts, das bloße Fehlen der Schadenswiedergutmachung dürfe nicht als Strafschärfungsgrund herangezogen werden, ableiten (oben 11 2*). Gehört der Eintritt eines VemJÖgensschadens zum gesetzlichen Tatbestand der angeklagten Tat (so z. B. bei § 263 Abs. 1 StGB237 ), so ist der Frage, ob eventuell die Nichtwiedergutmachung des entstandenen Schadens wegen Nemo tenetur nicht strafschärfend berücksichtigt werden darf, die Beachtung des Doppelverwertungsverbots gern. § 46 Abs. 3 StGB vorgelagert. 235 In: BGHSt, Bd. 34, S. 345-352; StV 1987, S. 337-338; NStZ 1987, S. 450-451 m. Anm. Bruns, S. 451-452. 236 Ausführlicher Gribbohm. in: LK, § 46, Rn. 67 - 71. 237 Siehe nur Kühl, in: Lackner, § 263, Rn. 32.
C. Konsequentes Folgeverhalten
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Aus dem Beschl. des OLG Köln v. 16.8. 1988 (Ss 289/8lf38 ): "Würde daneben auch die bloße Nichtwiedergutmachung des angerichteten Schadens strafsehärfend in Ansatz gebracht, käme das im Ergebnis auf eine ungerechtfertigte Doppelverwertung desselben Strafzumessungsgesichtspunktes hinaus. Denn hierbei würde im Ergebnis derselbe Umstand, einmal in positiver und einmal in negativer Umschreibung, zur Strafschärfung eingesetzt, ohne daß dafür einleuchtende Gründe angeführt werden könnten ... 239
2. Argumente Stellvertretend für alle Judikate zur Grundkonstellation der fehlenden Schadenswiedergutmachung sei aus dem Beschl. des BGH v. 6. 5. 1987 (3 StR 121/87240 ) zitiert (S. 3): ,,Macht ein leugnender Beschuldigter, der dazu in der Lage ist, den Schaden wieder gut oder zeigt er sich dazu bereit, so kann dies als Schuldeingeständnis gewertet werden und damit seine Verteidigungsposition im Strafverfahren gefährden. Ein solches Verhalten nach der Tat kann von ihm nicht mit der Folge erwartet werden, daß ihm schon dessen bloße Unterlassung zur Strafschärfung gereicht ( ... )." Ebenso: BGH. Urt. v. 8. 1. 1954 (2 StR 602153 241 ); Urt. v. 28. 4. 1976 (3 StR 109176); Beschl. v. 15. 6. 1976 (3 StR 197176); Beschl. v. 25. 4. 1996 (1 StR 6/96); Besehl. v. 17.10.1986 (2 StR 550/86 242 ); Beschl. v. 21. 3.1979 (4 StR 606178 243 ); Urt. v. 9. 12. 1980 (5 StR 610/80 244 ); Beschl. v. 10.6.1981 (3 StR 169/81 245 ). Siehe dazu auch den (sehon oben I I auszugsweise zitierten) kuriosen Beschl. v. 12. 12. 1980(3StR458/80 246 ).
Das soll freilich auch gelten, wenn der Schuldspruch bereits rechtskräftig ist und nur noch über die Strafe befunden werden muß. So der BGH im Beschl. v. 23. 9. 1992 (1 StR 501/92 247 ); zur Bekräftigung dieses Diktums zitiert der BGH Entscheidungen, die hinsichtlich fehlender Reue/fehlenden Mitgefühls ergangen sind - namentlich die schon oben 13 erwähnten Beschlüsse v. 7. 11. 1986 (2 StR 563/86 248 ) und v. 16.9. 1988 (2 StR 124/88 249 ) - und anerkennt damit zumindest indirekt In: StV 1989, S. 533-534. OLG Köln, in: StV 1989, S. 534 (533). 2AO In: BGHR StOB § 46 Abs. 2, Nachtatverhalten 8; StV 1987, S. 530. 241 In: St, Bd. I, S. 238-239. 242 In: BOHR StOB § 46 Abs. 2, Nachtatverhalten 3. 243 In: NJW 1979, S. 1835. 244 In: StV 1981, S. 122 - nicht zu verwechseln mit dem unter CI 1 zitierten, sogleich noch einmal (mit Fn. 246) angeführten kuriosen Besehl. v. 12. 12. 1980 (3 StR 458/80), der auf der gleichen Seite abgedruckt ist. 245 In: StV 1981, S. 516; NStZ 1981, S. 343. 246 In: StV 1981, S. 122. 247 In: BGHR StOB § 46 Abs. 2, Nachtatverhalten 19; StV 1993, S. 242. 238 239
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3. Teil: Fallgruppenweise, die beiden Interpretationen vergleichende Analyse
deren in der Vorbemerkung postulierte »strukturelle Verwandtschaft« zur hier aktuellen Frage der Schadenswiedergutmachung.
Konsequenterweise kann nach Ansicht des BGH die fehlende Bereitschaft des geständigen Angeklagten zur Wiedergutmachung strafschärfend berücksichtigt werden. BGB, Urt. v. 14.5. 1974 (5 StR 151/74 250 ) sowie Urt. v. 13.2. 1992 (4 StR 638/91 251 ); der BGB stellt in der letztgenannten Entscheidung unter Berufung auf den oben 11 2* behandelten Beschl. des Großen Senats v. 10.4. 1987 (GSSt 1/86 252 ) auf § 46 Abs. 2 Satz 2 StGB ab (S. 6): "Wie der Umstand der fehlenden Schadenswiedergutmachung zu bewerten ist, ist dabei nach Lage des Einzelfalls zu beurteilen ( ... )." Freilich setzt eine an die fehlende Bereitschaft des geständigen Angeklagten zur Schadenswiedergutmachung anknüpfende Strafschärfung voraus, daß er "nach seinen persönlichen wirtschaftlichen Verhältnissen" dazu in der Lage wäre (BGB, Urt. v. 29. 10. 1965 - 4 StR 476/65 253 -, S. 12). - Ebenso der gerade angeführte Beschl. v. 23. 9. 1992 (1 StR 5011 92 254). - Das im vorangegangenen Absatz angeführte Urteil v. 13. 2. 1992 (4 StR 638/91) bietet hierfür ein interessantes Beispiel: ,.Im [So 7] vorliegenden Fall begegnet die strafschärfende Bewertung der fehlenden Schadenswiedergutmachung in Anbetracht der Tatsache, daß der Angeklagte ein monatliches Nettoeinkommen von rund 3000,- DM erzielt und zusammen mit seiner Ehefrau Eigentümer zweier Mehrfamilienhäuser ist, jedenfalls keinen rechtlichen Bedenken."
Doch auch der leugnende Angeklagte muß mit einer Strafschärfung rechnen, wenn die (Bemühung um) Schadenswiedergutmachung seine Verteidigungsposition nicht gefährdet hätte. Man fragt sich freilich, wie das möglich sein soll. Ein anschauliches Beispiel liefert der dem Urt. des BGB v. 27. 1. 1988 (3 StR 61/87 255 - im folgenden: »Festgeld-Fall«) zugrundeliegende Sachverhalt: Der Angeklagte hatte seiner Bank zur Sicherung eines Kredits mehrere Unterkonten, auf denen Festgeld angelegt war, angedient. Diese Transaktion - der Zinssatz für die Festgelder lag um 3 % unter dem des Darlehens - begründete der Fachanwalt für Steuerrecht gegenüber seiner Bank mit steuerlichen Erwägungen. In Wirklichkeit hatte der Angeklagte die Festgeldkonten mit Treugeldem seiner Mandanten - u. a. der Zeugin H.R. gespeist, was der Bank deshalb nicht auffallen konnte, weil die Einzahlungen jeweils mit Eigenschecks vorgenommen wurden. ,,Nachdem der Angeklagte Vereinbarungen über die teilweise Rückführung der Kredite nicht eingehalten ... hatte ... , kündigte die Bank ... die Geschäftsverbindung und setzte zum Ausgleich der Kredite ... eine Frist ... , andernfalls ,die 248 In: BGHR StGB § 46 Abs. 2, Nachtatverhalten 4; NStZ 1987, S. 171; StV 1987, S. 100 (dort nur als Leitsatz). 249 In: StV 1989, S. 199. 2SO In: GA 1975, S. 84. 251 In: StV 1992, S. 145. 252 In: St, Bd. 34, S. 345 - 352. 253 In: MDR 1965, S. 560. 2S4 In: BGHR StGB § 46 Abs. 2, Nachtatverhalten 19; StV 1993, S. 242. 25S In: BGHR StGB § 46 Abs. 2, Nachtatverhalten 12.
D. Spurenbeseitigung
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als vereinbarte Sicherheit gesperrten Guthaben' auf den Festgeld-Unterkonten ... verrechnet würden" (a. a. 0., S. 5). Es kam, was kommen mußte: ,,Der Angeklagte begab sich auf die Bahamas. Am [Datum] verrechnete die Bank die Guthaben der Festgeldkonten mit dem Debetsaldo des Angeklagten" (a. a. 0., S. 6). - Weil der Bank der Fremdgeldcharakter nicht bekannt war (und auch nicht bekannt sein mußte), werden die Klagen der Treugeber gegen die Bank auf Auszahlung der entsprechenden Guthaben abgewiesen. In der Hauptverhandlung bestreitet der Angeklagte nicht den eben geschilderten, tatsächlichen Geldfluß; damit ist auch der zivilrechtliche Anspruch seiner Treugeber - mit deren Geld "ein Teil seiner ... Schulden bei der Bank ... beglichen worden war" (a. a. 0., S. 13) - gegen ihn unstreitig und von der strafrechtlichen Bewertung der Vorgänge unabhängig. Der Angeklagte bestreitet lediglich, die Untreue (gern. § 266 StGB in der Variante des Treubruchs) vorsätzlich begangen zu haben; er habe nie damit gerechnet, daß der Kredit notleidend werden könne, auch hätte er für diesen Fall auf Mittel seiner Frau zurückgreifen können. Selbst wenn das Landgericht dieser Verteidigung gefolgt wäre, hätte dies keine Auswirkung auf den O.g. zivilrechtlichen Rückforderungsanspruch gehabt. Daher konnte das Landgericht auch (a. a. 0.) "strafschärfend berücksichtigen, daß der Angeklagte zur Wiedergutmachung des Schadens, der insbesondere die Zeugin H.R. außerordentlich hart getroffen hat, ,keinerlei Anstalten gemacht hat· ...2s6 ~ Das Unterlassen des Anerbietens einer Schadenswiedergutmachung ist ebenso wie das Unterlassen der Bekundung von Reue bzw. Schuldeinsicht als konsequent auf einem selbstbegünstigungsprivilegierten Leugnen des Beschuldigten basierendes Folgeverhalten von Nemo tenetur gedeckt. - Ist der Angeklagte indes geständig, so heißt dies zugleich, daß er auf das Nemo-tenetur-Privileg verzichtet hat (oben eIl a. E.).
D. Spurenbeseitigung Im folgenden sollen solche Handlungsweisen auf ihre Strafzumessungsrelevanz untersucht werden, bei denen es dem Täter darum geht, Spuren der Tat zu beseitigen. Im Gegensatz dazu ist oben B IV die hier sog. »faktische Lüge« schon behandelt worden, vermittels derer der Handelnde neue Spuren legt bzw. hinzufügt. die die Aufmerksamkeit der Strafverfolgungsorgane in eine falsche Richtung lenken sollen. Bei der »faktischen Lüge« gibt es also nach der Konzeption des Taters einen Beschuldigten, bei der Spurenbeseitigung handelt der Tater hingegen nach dem Motto: »Wo keine Tat ist, da ist auch kein Beschuldigter.« Auf die rechtliche Bewertung hat diese Einteilung freilich keinen Einfluß (so schon oben B IV).
256 Andererseits wird von den Strafverfolgungsbehörden "ein rein menschlich motiviertes Verhalten ... oft als ein taktisches Manöver betrachtet", wie Weihrauch (Verteidigung im Ermittlungsverfahren, S. 110 bei Rn. 157) zu berichten weiß.
282
3. Teil: Fallgruppenweise. die beiden Interpretationen vergleichende Analyse
I. Spurenbeseitigung im allgemeinen Im Urt. des BGH v. 12.7. 1977 (1 StR 305/77257 ) heiBt es (auf S. 4): "Ebenso wie es das Recht des Angeklagten ist. zu den gegen ihn erhobenen Vorwürfen zu schweigen ( ... ) und darüber hinaus die Tat zu leugnen ( ... ). kann ihm von Rechts wegen auch nicht verwehrt sein. die Tatspuren zu beseitigen. um nicht mit ihrer Hilfe überführt zu werden." Dieses Diktum hätte insofern richtungweisend wirken können. als der BGH darin den Weg für eine einheitliche Bewertung selbstbegünstigenden Nachtatverhaltens vorgezeichnet hat. In späteren Entscheidungen findet man allerdings keine Fortentwicklung dieses Gedankens der Gleichstellung von Schweigen und Leugnen mit der Spurenbeseitigung. sondern den pauschalen Hinweis. es sei "einem Tater unbenommen, sich der- Strafverfolgung zu entziehen" (BGH, Beschl. v. 6. 9. 1989 - 3 StR 281/89258 -, S. 3). ,,DaS ein Angeklagter sich dabei umsichtig und kaltblütig verhält, rechtfertigt für sich genommen noch keine andere Beurteilung ( ... ),,259 (BGH, Beschl. v. 10.2. 1994-1 StR 850/93260 -, S. 3). Ebenso: BGH. Beschl. v. 30. 9. 1981 (2 StR 434/81 261 ); Urt. v. lO.5 1988 (1 StR 175/ 88 262); Beschl. v. 1l. 8. 1989 (2 StR 366/89 263 ).
,,Entsprechendes gilt auch für die Beseitigung von Tatwerkzeugen, wenn dies ausschließlich dem Ziel dient, nicht als Täter überführt zu werden,,264 (BGH, Urt. v. 9. 11. 1989-4 StR 542/ 89265 -, S. 5). An den einschlägigen Entscheidungen fällt auf, daß der BGH sich die Möglichkeit offenhält, im Einzelfall die Spurenbeseitigung sehr wohl strafschärfend zu berücksichtigen (vgl. dazu die hervorgehobenen Textstellen), wie sich auch in der Mehrzahl der angeführten Judikate die »salvatorische Formel« wiederfindet.
Einen der seltenen Fälle, in denen der BGH seine »salvatorische Formel« auch tatsächlich anwendet, stellt das Urt. v. 26. 2. 1986 (3 StR 18/86) dar - weil der Täter die letzlich tödlichen Verletzungen seines Opfers durch FuBtritte hervorgerufen hat, soll der Fall im folgenden als »Fußtrin-Fall« firmieren: Nach Ansicht der Tatrichter äußerte sich die rohe Gesinnung des Angeklagten auch ...... darin. daß er die Taschen des sterbenden Opfers durchwühlte. nur noch daran dachte. die 257 258 259 260 261 262 263
264 265
In: MDR 1977. S. 982. In: BGHR StGB § 46 Abs. 2, Nachtatverhalten 18. Hervorhebung nicht im Original. In: StV 1995. S. 13l. In: StV 1982. S. 20. In: BGHR StGB § 46 Abs. 2. Nachtatverhalten 13. In: BGHR StGB § 46 Abs. 2. Nachtatverhalten 17 Hervorhebung nicht im Original. In: StV 1990. S. 259/260.
D. Spurenbeseitigung
283
Spuren zu verwischen und sich überlegt ein Alibi zu verschaffen'" (a. a. 0., S. 6). - Zunächst konstatiert das Revisionsgericht hierzu, daß die zitierten Erwägungen nicht gegen § 46 Abs. 3 StGB verstießen und weder die unterlassene Hilfe noch die einfache Spurenbeseitigung, noch gar den Versuch des Täters, sich ein Alibi zu verschaffen, in unzulässiger Weise berücksichtigten, und fährt fort:
,,Durch [die voranstehend zitierten] Ausführungen wird nur die bei der Tat gezeigte rohe Gesinnung besonders herausgestellt und näher begründet. Aus dem Verhalten nach der Tat auf die rohe Gesinnung bei der Tat zu schließen, ist nicht rechtsfehlerhaft ( ... ),,266 (a. a. 0., S. 6267 ). Der Versuch des Taters, ein bereits im Gewahrsam der Strafverfolgungsbehörden befindliches Beweismittel zu entwenden oder zu manipulieren, kann diesem nach Ansicht des BGH ohne weiteres angelastet werden. So hat z. B. das OLG Frankfurt (in seinem Urt. v. 12.4.1972 - 2 Ss 491/71 268 ) folgende strafschärfende Bewertung der Vorinstanz unbeanstandet gelassen: Der Angeklagte, ein Assistenzarzt, hatte bei einem Kollegen, der am gerichtsmedizinischen Institut in seiner Sache befaßt war, vorgefühlt, ob es möglich sei, eine von ihm am Vortag entnommene Blutprobe gegen eine »ungefahrliche« auszutauschen bzw. die Analyse der Original-Blutprobe zu manipulieren (»Blutproben-Fall« - siehe dazu im Zweiten Teil: B I 3 c*).
Unklar hinsichtlich der Relevanz vorausgeplanter Selbstbegünstigung ist der aktuelle Beschl. des 4. Strafsenats des BGH v. 30. 7. 1998 (4 StR 346/98). Auf S. 3 wird aus dem erstinstanzlichen Urteil folgendes zitiert: .. ,Gegen den Angeklagten sprach auch sein planmäßiges Vorgehen, das von einer hohen kriminellen Energie zeugt. Dieses wird dadurch deutlich, daß daß er die Tat sorgfältig und über einen längeren Zeitraum geplant und durchgeführt hat. Er hat auch sämtliche Tatspuren verschleiert, indem er die Insulinflaschen, die restlichen Tabletten und den ersten Abschiedsbrief in einer Weise entsorgte, die ein Auffinden erheblich erschwerte... Zu seinen Lasten war auch sein Verhalten nach der Tat zu berücksichtigen. Der Angeklagte versteckte die Spritzen im Auto, um ein Entdecken zu verhindern ......,
U.a. 269 mit Verweis auf den »Bahngleis-Fall« bemerkt das Revisionsgericht dazu lapidar (auf S. 4), daß "der Versuch, sich selbst (durch Spurenbeseitigung) der Strafverfolgung zu entziehen, ... ,als solcher' kein zulässiger Strafschärfungsgrund" sei. Die Thematisierung der Spurenbeseitigung in beiden Absätzen, von denen der erste die Vorausplanung der Tat, der zweite das Verhalten des Täters nach der Tat zum Thema hat, Hervorhebung nicht im Original. Mit Verweis auf auf den »Ohrläppchen-Fall« (siehe unten 1112) und den in NJW 1971, S. 1758 veröffentlichten Fall (»Fremdarbeiter-Fall«, unten 1111), in denen jeweils die »salvatorische Formel« zwar erwähnt, nicht aber angewendet wird. 2JJ8 In: NJW 1972, S. 1524. 2JJ9 Zitiert werden auch die in BGHR (StOB § 46 Abs. 2, Nachtatverhalten 13 und 18) veröffentlichten Entscheidungen, die eingangs schon Erwähnung gefunden haben. 266
2JJ7
284
3. Teil: Fallgruppenweise, die beiden Interpretationen vergleichende Analyse
irritiert, zumal der erkennende 4. Strafsenat des BGH derjenige ist, welcher einer möglichen Berücksichtigung der vorausgeplanten Selbstbegünstigung im Grunde zuneigt (siehe dazu im Ersten Teil: B VI 2 b (6». Mag sein, daß im vorliegenden Fall in dubio pro reo entschieden worden ist und daß das Revisionsgericht zwar die Tat als solche, nicht aber die Spurenbeseitigung als voraus geplant eingestuft hat.
_ Nach der hier entwickelten Neuinterpretation von Nemo tenetur besteht dieser Grundsatz aus zwei gleichrangigen Komponenten, namentlich der - verbale Selbstbegünstigungen privilegierenden - Lügefreiheit und der - die übrigen Nachtatverhaltensweisen erfassenden - Bezichtigungsfreiheit (Zweiter Teil, B VI). Letztere ist mit der hier sog. »erweiterten Rogallschen Formel« nur unvollständig umschrieben, schließlich folgt auch der flüchtende Täter seinem »Selbstbegünstigungstrieb« (Zweiter Teil, B IV). Will man also die Reichweite der Bezichtigungsfreiheit schlagwortartig abstecken, so bietet sich dafür tatsächlich die Formulierung der Rechtsprechung an, wonach es dem Tater unbenommen sei, sich der Strafverfolgung zu entziehen.
Die Unterlassung der "einfache[n],,270 Spurenbeseitigung bedeutete indes regelmäßig eine Eigen-Überführung im von Rogall 271 gebrauchten Sinn. Daraus erhellt, daß solches Nachtathandeln grundsätzlich einer Privilegierung qua Nemo tenetur zugänglich ist. In den meisten Fällen geht die Spurenbeseitigung mit der Verletzung (täter-) fremder Rechtsgüter einher. Wollte man sich an der pauschalen Feststellung der Rechtsprechung (und vieler Stimmen im Schrifttum272 ) orientieren und den Selbstbegünstigungstäter in die engen, vom StGB abgesteckten Schranken verweisen, liefe dies mithin de facto auf ein Verbot der einfachen Spurenbeseitigung hinaus eine Konsequenz, die, wie soeben aufgezeigt, auch die Rechtsprechung nicht ziehen mag. Deren »Lösung«, namentlich auf die durch die Spurenbeseitigung zumeist verwirklichte Sachbeschädigung (§ 303 StGB) gar nicht erst einzugehen, ist schon rur sich gesehen unbefriedigend, vor dem Hintergrund des benannten Postulats, dem zufolge der Selbstbegünstigungstäter kein neues Unrecht schaffen dürfe,273 entpuppt sie sich als unhaltbar.
Es liegt nahe, den notwendigen Ausgleich zwischen dem existenziellen Selbstbegünstigungsinteresse des Täters / Beschuldigten und dem essentiellen Interesse der Rechtsgemeinschaft (und damit jedes einzelnen) an einem durchsetzungskräftigen Rechtsgüterschutz auf der Schuldebene zu suchen und dort - wie im Kontext der Lügefreiheit - mit einem Speziellen Entschuldigungsgrund der Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens zur Sicherung der verfassungsmäßig garantierten Bezichtigungs!reiheit274* zu operieren. Aus der Notwendigkeit der Etablierung
272
Gribbohm, in: LK, § 46, Rn. 190. Rogall, Der Beschuldigte, S. 155. Z. B. Bosch, Aspekte, S. 192; Rieß, in: JA 1980, S. 297 (293).
273
BGH, in: St, Bd. 3, S. 19 (18).
270 271
D. Spurenbeseitigung
285
eines solchen Entschuldigungsgrundes ergibt sich zugleich seine Begrenzung: Er »greift« nur, wenn das fragliche Verhalten eine objektive Conditio sine qua non für die Realisation der dem Beschuldigten zustehenden Bezichtigungsfreiheit - und damit in der hier vertretenen Interpretation: des ihm gewährten Nemo-teneturSchutzes - darstellt. Diese Begrenzung führt realiter dazu, daß nur die Verletzung derjenigen Rechtsgüter entschuldigt wird, von denen eine unmittelbare und spezifische Überführungswirkung ausgeht. Zur Illustration der praktischen Auswirkungen des hier vertretenen Lösungsvorschlags sei auf die Beispiele im Zweiten Teil (unter C III 3) verwiesen.
Besondere Erwähnung verdient dabei ein Aspekt, dem die soeben gewählte Formulierung bereits Rechnung trägt, der aber schon deshalb der Aufmerksamkeit zu entgehen droht, weil er im Kontext der Lügefreiheit keine Rolle spielt, namentlich die latente Überlagerung der Bezichtigungsjreiheit durch die strafverjahrensspezijischen Duldungspflichten (Zweiter Teil, B I 3): Sobald eine solche Duldungspflicht konkretisiert worden ist, schaltet diese das Nemo-tenetur-Privileg aus. Die hier vertretene Nemo-tenetur-Interpretation s01l auf ein »Ring-Beispiel« in Varianten angewendet werden: Der Tater T tötet in seiner Wohnung die ihm bekannte B. Erste Variante: Nachdem er ihre Leiche hat »verschwinden« lassen, entdeckt er bei sich zuhause einen Ring der B, den er vernichtet (vgl. dazu den Beschl. des BGH v. 10.2. 19911 StR 850/93 275 -, S. 3). - Fände man das Schmuckstück bei ihm, geriete T in den engeren Kreis der Tatverdächtigen, was intensivere Nachforschungen in seiner Richtung und letztlich wohl seine Überführung bedeuten würde - schließlich kann er als Tater für die Tatzeit kein »wahres« Alibi haben. Das Belassen des Ringes am Fundort liefe also im Ergebnis auf eine Eigen-Überführung hinaus; seine Vernichtung ist mithin nemo-tenetur-relevant, die von T begangene Sachbeschädiguni76 ist eine zur Sicherung der Bezichtigungsfreiheit notwendige Conditio sine qua non und also nach den hier aufgeste1lten Grundsätzen entschuldigt. Zweite Variante: T befürchtet, daß die ermittelnde Polizei in der Wohnung der B einen ihm gehörenden Gegenstand findet; er bricht in die Wohnung ein und nimmt diesen an sich. Von den beim Einbruch verletzten Rechtsgütern (vgl. §§ 123,242,243,303 StGB) geht fraglos keine unmittelbare und spezifische, auf T weisende Überj"ührungswirkung aus, eine Entschuldigung kommt daher nicht in Frage. Zugleich bedeutet dies, daß die beschriebene Nachtathandlung die Grenzen des Nemo-tenetur-Privilegs überschreitet, indem sie ein neues, unabhängig von der Ausgangstat (lbtung der B) dem T vorwerfbares Unrecht schafft; sie kann diesem daher auch im Rahmen der Strafzumessung hinsichtlich der Ausgangstat gern. 274
Im folgenden wieder - wie unter C III 3: ,.Entschuldigungsgrund der Unzumutbarkeit
( ... )".
m In: StV 1995, S. 131-132. Da es dem Tater nur um die Zerstörung der Sache geht, fehlt es an der für eine Strafbarkeit gern. § 242 StGB erforderlichen Aneignungsabsicht, siehe nur Eser, in: Sch/Sch, § 242, Rn. 55 (m. w. N.); zur Entwendung von Strafakten BGH, in: NJW 1977, S. 14601461 (m. Anm. Lieder, das., S. 2272-2273). 276
286
3. Teil: Fallgruppenweise, die beiden Interpretationen vergleichende Analyse
§ 46 Abs. 2 StGB strafschärfend angelastet werden. (Ein Irrtum kann hier wohl ausgeschlossen werden, vgl. dazu im Zweiten Teil: C 11 6 c (3).)
Dritte Variante: Während einer Vernehmung zeigt der ermittelnde Beamte dem T einen in dessen Wohnung sichergestellten Ring, von dem man vermute, daß er dem Opfer gehört habe.
In einem günstigen Moment nimmt T den Ring an sich, »schmuggelt« ihn aus der Dienststelle und vernichtet ihn. - Zwar geht genau von diesem vernichteten Ring eine auf T weisende Überführungswirkung aus, die Aktion des T betrifft ansonsten - im Gegensatz zur zweiten Variante - kein »tatfremdes« Rechtsgut. Indes etabliert die gern. § 94 StPO erfolgte und gern. § 136 StGB strafrechtlich bewehrte Sicherstellung eine konkrete, strafverfolgungsspezifische Duldungspflicht des Inhalts, diesen Stand der Ermittlungen hinzunehmen, zu »erdulden« (Zweiter Teil, B I 3 c; siehe auch den dort angeführten »Blutproben-Fall«); diese Duldungspflicht überlagert den Nemo-tenetur-Schutz, woraus folgt, daß eine Strafschärfung wegen des beschriebenen Nachtatverhaltens im Rahmen der Strafzumessung hinsichtlich der Ausgangstat gern. § 46 Abs. 2 StGB möglich ist.
Zugleich stellt aber Nemo tenetur sicher, daß auch de lege ferenda ein Mindeststandard an Selbstbegünstigungsprivilegien gewährt bleibt, könnte doch ansonsten durch die Normierung entsprechender Duldungspflichten die Bezichtigungsfreiheit gänzlich ausgehöhlt werden. Zur Bewertung des hier sog. »Fußtritt-Falles« bedarf es gar nicht solcher umfangreichen Überlegungen: Leicht zu übersehen, aber gleichwohl bemerkenswert ist zunächst die der Strafzumessungserwägung des BGH vorausgegangene Überlegung, wonach das Durchwühlen des sterbenden Opfers ein Nachtatverhalten darstellt, was mit der im Zweiten Teil (unter D) entwickelten »Begehungs-These« korrespondiert. Hier zeigt sich besonders die Zufallsanfälligkeit der »Beendigungs-These«: Hätte der Täter etwa warten sollen, bis das Opfer tot war, um mit (privilegierten) SelbstbegUnstigungsmaßnahmen beginnen zu können? Oder hätte er ihm gar den »Gnadentritt« versetzen sollen? Es zeigt sich hier aber auch die von der »salvatorischen Formel« ausgehende Gefahr der Beliebigkeit: Im Grunde ist es nach Ansicht der Rechtsprechung egal, ob das in Frage stehende Verhalten noch zur Tatausführung gehört oder schon als Nachtatverhalten eingestuft werden muß, kann doch auch letzteres - mit entsprechender Begründung - strafschärfend herangezogen werden. Bei Anwendung der hier entwickelten selbstbegünstigungsprivilegierenden Grundsätze gelangt man indes zu einem anderen Ergebnis: Das fragliche Nachtatverhalten war selbstbegünstigungsrelevant und selbstbegünstigungsmotiviert, eine wie auch immer geartete »Fremdbelastung« ist im Urteil nicht dargelegt, woraus folgt, daß wegen Nemo tenetur ein Rückschluß vom Versuch, die Taterschaft zu verschleiern, auf die Einstellung des Taters zur Tat nicht hätte gezogen werden dürfen.
Oe interpretatione ferenda erstreckt sich der Nemo-tenetur-Schutz nicht auf die vorausgeplante Selbstbegünstigung, hier: Spurenbeseitigung, weil diese einen gedanklichen Teil der Ausgangstat darstellt (Zweiter Teil: C V).
D. Spurenbeseitigung
287
ll. Beutesicherung Wird bei jemandem das aus einer Straftat stammende Beutegut aufgefunden, so deutet dies prima vista zumindest auf dessen Involviertsein in das Tatgeschehen, wenn nicht gar auf dessen Täterschaft hin: Die Überführungswirkung des Beutefundes entspricht der des Auffindens von Tatwerkzeugen beim Beschuldigten. Insofern liegt in der Beutesicherung regelmäßig eine Tatspurenbeseitigung. Dementsprechend konstatiert der BGH in seinem Beschl. v. 13. 5. 1980 (l StR 11/80) auf S. 3: ,,Da sich der Angeklagte jedoch damit verteidigte, er habe sämtliche Gelder, die auf dem von ihm geführten Treuhandkonto eingegangen waren, an die Gesellschafter der Firma E. weitergeleitet, konnte er. nicht andererseits Angaben dazu machen, wo sich die nach Überzeugung des Gerichts von ihm veruntreuten Gelder befinden." Indes folgt die Rechtsprechung dieser Erkenntnis nicht durchgängig, sondern bedient sich gelegentlich einer »Splitting-Methode«, indem sie innerhalb des fraglichen Verhaltens differenziert zwischen dem Bestreben, sich der Strafverfolgung zu entziehen, und dem Bemühen, die durch die Tat geschaffene Unrechtslage aufrechtzuerhalten. So z. B. im Urt. v. 30.6. 1988 (1 StR 165/88 277 ).
Falsche Angaben des ansonsten geständigen Angeklagten zum Verbleib der Beute können nach Ansicht des BGH strafschärfend berücksichtigt werden. BGB, Urt. v. 14.5. 1974 (5 StR 151/74 278): Der Angeklagte hatte sich im der Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt dahingehend eingelassen, (a. a. 0., S. 3) "er habe die bei dem Banküberfall erbeuteten 7420 DM zur Zeit seiner Festnahme durch die Polizei bei sich [So 4] getragen und später in der Toilette der Polizeistation hinuntergespült". - Ebenso BGB, Urt. v. 19. 4. 1966 (5 StR 112/66279 ) mit bemerkenswerter Begründung (auf S. 7): ,,[D]aß H. und P. nach Verbüßung der Strafe das gestohlene Geld dazu verwenden wollen, auf Kosten anderer ein bequemes Leben zu führen, anstatt wie sonst die Mitglieder der menschlichen Gesellschaft ihren Lebensunterhalt durch Arbeit zu verdienen ... kann mit gutem Grund als ,asozial' bezeichnet werden."
'1
Nach dem Beschl. des BGH v. 10.6. 1981 (3 StR 169/81 28 sind besondere vorausgeplante Maßnahmen des Angeklagten zur Sicherung der Beute auch für den Fall seiner Überführung nicht vom Selbstbegünstigungsprivileg erfaßt. -+ Die »Aufsplittung« eines realen Geschehens in zwei verschieden zu bewertende, weil von unterschiedlichen Motivationen getragene Handlungen ist lebensfremd. Sie leistet - darin ähnlich der »salvatorischen Formel« - zudem einer Umgehung des Nemo-tenetur-Satzes Vorschub und dürfte in den meisten Fällen gegen 277 278 279 280
In: In: In: In:
BGHR StGB § 46 Abs. 2, Nachtatverhalten 15. GA 1975, S. 84. MDR 1966, S. 560. StV 1981, S. 516.
288
3. Teil: Fallgruppenweise, die beiden Interpretationen vergleichende Analyse
den auch im Rahmen der Strafzumessung unumschränkt geltenden In-dubio-Satz verstoßen (siehe dazu im Zweiten Teil: CI 2 c). ,.Regelmäßig läßt sich im Strafverfahren auch gar nicht feststellen, ob beispielsweise der Beschuldigte, der zunächst einen Teil der Beute vor der Polizei verheimlicht hatte, allein in der Absicht, seine Schuld geringer erscheinen zu lassen und dadurch einer härteren Bestrafung zu entgehen, gehandelt und die Vorteilssicherung nur als notwendige Nebenfolge dieses Bestrebens in Kauf genommen hatte oder ob es ihm ausschließlich oder daneben darauf angekommen war, sich die betreffenden Gegenstände für die Zeit nach seiner Strafverbüßung zu erhalten. Eine Strafbarkeit der sachlichen Eigenbegtinstigung würde in derartigen Fällen praktisch dazu fUhren, daß gerade deljenige, der nachträglich eingesteht, er habe sich von der Absicht der Vorteilssicherung leiten lassen, schwerer zu bestrafen wäre als ein weniger ehrlicher Straftäter, der wahrheitswidrig, aber unwiderlegbar behauptet, er habe die Eigenbegünstigung aus Furcht vor Strafe begangen.,,281 Zu welchen Kapriolen die »Splitting-Methode« verleitet, zeigt der Beschl. des BGB v. 14.5. 1987 (4 StR 213/87 282 ): Ihm zufolge durften dem Angeklagten die mit erheblichem Aufwand betriebenen Bemühungen, sich den Erfolg der Tat zu erhalten, zwar bei der Strafzumessung negativ angelastet werden, indes war nach Ansicht des BGH dasselbe Verhalten hinsichtlich der anstehenden Prognoseentscheidung gern. § 70 StGB ,,nicht hinreichend aussagekräftig, soweit es dem Zweck diente, sich der Bestrafung zu entziehen" (S. 4). Ist diese Differenzierung nur schwer nachvollziehbar,283 so ist deren folgende Erläuterung schlichtweg falsch: Der BGH moniert nämlich (a. a. 0.), daß "die Strafkammer bei [der benannten Prognoseentscheidung] nicht zwischen dem Verhalten, das aus der Sicht des Angeklagten für seine Verteidigung unverzichtbar war, und solchem, das er ohne Gefährdung seiner Verteidigungsposition hätte unterlassen können, unterschieden, vielmehr pauschal das Nachtatverhalten verwertet hat,,284. Evidentermaßen schließen beide Positionen einander nicht aus, weil diese anhand objektiver Kriterien definiert wird, jene hingegen von einem subjektiven Blickwinkel aus. Daß es selbstbegünstigende Verhaltensweisen gibt, die - in der Diktion des BGH - aus Sicht des Angeklagten unverzichtbar sind, obwohl sie doch objektiv ohne Gefährdung der eingenommenen Verteidigungsposition unterlassen werden könnten, ist bereits oben 11 1 (Stichwort: fehlendes Mitleid) aufgezeigt worden.
Als ein konsequent das Schweigen oder das (substantiierte) Leugnen flankierendes Verhalten ist auch die Beutesicherung von Nemo tenetur gedeckt, wenn und soweit deren Unterlassen aus Sicht des Beschuldigten einer Eigen-Überführung gleichkäme - was freilich den Regelfall kennzeichnet. Durch die Beutesicherung verwirklicht der Tliter nicht etwa neues Unrecht, sondern er »perpetuiert« gleichsam das Unrecht seiner Ausgangstat, indem er einen Schuldausgleich zu »torpedieren« versucht. Zur Relevanz des Nemo-tenetur-Satzes bei Folgeentscheidungen o.ä. siehe die entsprechenden Gliederungspunkte der Analyse der vorangegangenen Fallgruppen; zum» Verzicht« 281 282 283
Boffmann, Selbstbegünstigung, S. 62. In: BGHR StGB § 46 Abs. 2, Nachtatverhalten 7. Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung hegt auch Gribbohm (in: LK, § 46,
Rn. 191). 284 Hervorhebung nicht im Original.
D. Spurenbeseitigung
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auf Nemo tenetur qua Geständnis siehe oben eIl; dazu, daß die Vorausplanung des Verhaltens nach der Tat nicht vom Nemo-tenetur-Privileg erfaßt wird, siehe im Zweiten Teil (unter CV).
111. »Behandlung« der Leiche In vielen Tdtungsfallen würde das unveränderte Belassen der Leiche am Tatort auf eine Eigen-Überführung hinauslaufen, sei es, daß das Geschehen an einem Ort stattgefunden hat, den man ohne Zögern mit dem Tater in Verbindung bringt (z. B. seine Wohnung, sein Kfz), sei es, daß Spuren an der Leiche auf den Tater hinweisen oder er aus anderen Umständen zwangsläufig in Tatverdacht geriete, würde die Tat entdeckt. Die Behandlung der Leiche ist also unter der Fallgruppe "Spurenbeseitigung" einzuordnen. Sie wird hier gesondert analysiert, weil man anband dieser Thematik besonders plastisch herausarbeiten kann, wie weit die Toleranz der Rechtsgemeinschaft gegenüber dem vom »Selbstbegünstigungstrieb« geleiteten Straftäter geht bzw. angesichts der verfassungrechtlichen Qualität der Nemo-tenetur-Idee gehen muß. J. Fallübersicht
Aus Sicht des Taters führt das einem Tdtungsdelikt nachfolgende selbstbegünstigende Handeln idealerweise dazu, daß das Schicksal des Opfers völlig im Dunkeln bleibt. Viele Tater versuchen daher. die Leiche endgültig »verschwinden« zu lassen. Zwar wird das Opfer wohl irgendwann vermißt. weil es aber keine Spuren gibt. die auf eine Straftat hindeuten. kann und wird eine gezielte Strafverfolgung nicht einsetzen. Darauf hat der Tater im hier sog. »Fremdarbeiter-Fall« (BGH, Beseht. v. 6. 8. 1971 -4 StR 273/71 285 ) spekuliert: ,,Der Angeklagte hat den Leichnam nur deshalb im Walde begraben, weil er die Tat verheimlichen und den Anschein erwecken wollte, sein Opfer müsse in die Türkei zurückgereist sein" (a. a. 0., S. 3). - Zum Vergraben im Wald auch: Beseht. v. 11. 3. 1992 (3 StR 44/92). Im »Kanal-Fall« (BGH, Beseht. v. 17. 8. 1984 - 3 StR 293/ 8428~ hat der Täter immerhin erreicht, daß das Opfer monatelang als vermißt galt und erst bei einer routinemäßigen Untersuchung des Kanals gefunden wurde: ,,Nach den Feststellungen packte der Angeklagte die Leiche der von ihm getöteten Frau C. nachts in zwei Plastiksäcke. Er sehleppte sie aus dem Keller vor die Haustür, legt sie in einen herumstehenden Einkaufswagen eines nahegelegenen Supermarktes und transportierte sie damit einige hundert Meter weit nach einem Kanalsehacht, in dem er sie verschwinden ließ" (S. 3); weiteres Sachverhaltszitat im Zweiten Teil: C III 3 a. Im dem Beseht. des BGH v. 11. 8. 1995 (2 StR 362/95) zugrunde liegenden Sachverhalt hatte der Angeklagte nach der Tat das Wohnzimmer aufgeräumt, sodann "die Leiche in ein 285
286
In: NJW 1971, S. 1758. In: StV 1984, S. 508.
19 Tom
290
3. Teil: Fallgruppenweise, die beiden Interpretationen vergleichende Analyse
Waldstück verbracht und den Pkw der Ehefrau weggefahren, um so vom Geschehen im Haus ,abzulenken und vorzutäuschen, seine Frau sei mit dem Fahrzeug verschwunden'" (a. a. 0., S.3).
Eine andere Möglichkeit der Tatverschleierung besteht darin, einen Unfall vorzutäuschen. So z. B. indem der Tater die Leiche eine Treppe hinunterwirft und ihr - vielleicht um die »Inszenierung« noch realitätsnaher erscheinen zu lassen - einen Ketchup-Eimer hinterherwirft (vgl. dazu den »Babyflaschen-Fall« im Zweiten Teil unter C I I asowie 2 b. Oder der Tater arrangiert - wie im dem Beschl. des BGH v. 6. 10. 1997 (1 StR 179/97im folgenden: »Wohnungsbrand-Fall«) zugrunde liegenden Sachverhalt - ein Feuerunglück (a.a.O, S. 3): ,,Anschließend übergoß er die auf einem Sofa liegende Leiche mit Spiritus und setzte sie ,wie auch Teile des Sofas mit einem Einwegfeuerzeug in Brand'. Danach verließ er die Wohnung. Als er etwa 90 Minuten später wiederkam, hatte sich ,das Feuer wegen de[r] rundum geschlossenen Fenster[ ] nicht recht ausbreiten können. Jedoch qualmte es mächtig .. .'. Der Angeklagte alarmierte die Polizei; er erklärte dabei wahrheitswidrig, als er eben nach Hause gekommen sei, seien Haus- und Wohnungstür zu seiner Überraschung offen gewesen, alles sei voll Rauch, seine Frau liege auf dem Sofa, er wisse nicht, was mit ihr los sei. Die von der Polizei herbeigerufene Feuerwehr ,löschte den inzwischen voll ausgebrochenen Brand rasch und barg die schon weitgehend verkohlte Leiche· ...
Auf den Effekt der Straftat-Verschleierung zielt auch das Vortäuschen eines Selbstmords. Im hier sog. »Bahngleis-Fall« (BeschI. v. 9. 7. 1996 (I StR 338/96287 ; siehe schon im Zweiten Teil unter C I I b) beschäftigt sich der BGH (u. a.) mit der Strafzumessung gegenüber einem Angeklagten, der (a. a. 0., S. 6) "die Leiche auf die Bahngleise gelegt hat ... Sie wurde von einem mit einer Geschwindigkeit von etwa 100 km/h fahrenden Güterzug überfahren und in viele Teile zerstückelt".
Angesichts der modemen Analysemethoden, auf die die forensische Medizin zurückgreifen kann - man denke hierbei vor allem an die sog. DNA-Analyse -, muß der Täter ggf. befürchten, daß die Leiche solche Spuren trägt, welche ihn als Täter überführen könnten. Er wird die Leiche dann nicht - wie in den bisher behandelten Fällen - beseitigen, auf daß die Tat (als solche) gar nicht erst entdeckt werde, sondern um eine »Überführung im Labor« zu verhindern. In seinem Beschl. v. 16.5. 1989 (1 StR 116/89) zitiert der BGH (auf S. 3) aus dem ihm zur Revision vorgelegten Urteil des Schwurgerichts: ,,Eine erhebliche kriminelle Energie ... ergibt sich daraus, wie umsichtig und zielgerichtet [der Angeklagte] nach der Tat versucht hat, Spuren durch Verbrennen der Leiche, durch das Wegwerfen der Pkw-Schlüssel und seiner Turnschuhe sowie auch das Waschen seiner Kleidung zu beseitigen." In diesem Zusammenhang besonders anschaulich ist der hier sog. »Porsche-Fall«: Am Silvesterrnorgen 1992 wurde eine 24-jährige Frau im Bett ihres Appartements mit durchgeschnittener Kehle aufgefunden. Eine Untersuchung der Leiche ergab, daß das Opfer vor oder während des Verbrechens - wohl mit dem Tater - oralen Geschlechtsverkehr gehabt 287
In: NStZ-RR 1997, S. 99-100.
D. Spurenbeseitigung
291
hatte; Spennazellen konnten sichergestellt werden. Zugleich gab es Hinweise, daß der Taiter ein Porsche-Fahrer aus München sein könnte, dies unter anderem deshalb, weil in der frostigen Tatnacht vor dem Haus des Opfers ein entsprechendes Kfz mit eisfreien Scheiben geparkt war. Daraufhin erfolgte das "bisher umfangreichste[] genanalytische[] Tater-AusschlußVerfahren[ ] in der Geschichte der Bundesrepublik,,288:289 Ein Großteil der zum damaligen Zeitpunkt ca. 5000 Münchner Porsche-Fahrer wurde aufgefordert, Blutproben abzugeben, um die daraus isolierbaren Erbinfonnationen mit dem Genprinting der sichergestellten Spennazellen vergleichen und so den Täter überführen zu können. 290
Droht der Täter - aus seiner Sicht - schon wegen des Fundorts der Leiche in Tatverdacht zu geraten, so wird er sie an einen anderen Ort verbringen. »Straßengraben-Fall« (BGH, Beschl. v. 8. 5. 1985 - 3 StR 91/85 -, S. 3): ,,Das Landgericht wertet als Ausdruck krimineller Energie strafschärfend, daß die Angeklagte, ohne sich etwas anmerken zu lassen, die Leiche - ,kühl überlegend' - aus dem Haus geschafft und dann an geeigneter Stelle aus dem Auto in den Straßengraben geworfen habe." »Paket-Fall« (BGH, Beschl. v. 9. 3. 1990 - 2 StR 577/89 -, S. 5): ,,Des weiteren wird [vom Landgericht] strafschärfend berücksichtigt, daß der Angeklagte es fertig brachte, seine Ehefrau nach der Tat wie ein Paket zu verschnüren und an der Landstraße abzulegen, was von einer beträchtlichen Gefühlskälte ... zeuge. [So 6] Die dem Urteil zugrunde liegenden Feststellungen ... sprechen dafür, daß das dem Angeklagten angelastete Verhalten Ausfluß seines Bemühens war, die Leiche unbemerkt - insbesondere auch unbemerkt von seiner Mutter - wegzuschaffen. " »Parkplatz-Fall« (BGH, Urt. v. 23. 7. 1992 - 4 StR 219/92 -, S. 4; siehe schon im Zweiten Teil unter C I 2 b): ,,In der folgenden Nacht versuchte der Angeklagte, die Leiche zu beseitigen. Er transportierte. sie auf einen Parkplatz, übergoß sie mit Benzin und zündete sie an."
Dabei mag dem Täter der Transport der Leiche als zu riskant oder aus anderen Gründen undurchführbar erscheinen, weshalb er sie zerteilt. So geschehen z. B. im »Messerstich-Fall« (BGH, Beschl. v. 24. 2. 1984 - 1 StR 834/ 80 291 ): Messerstich in den Bauch, anschließendes Zerteilen der Leiche (siehe das Zitat aus der Entscheidung im Zweiten Teil unter C I 2 b). Aus den Gründen des BGH-Beschl. v. 16. 1. 1996 (l StR 660/95, S. 2): Nach den Feststellungen des Landgerichts hat der Angeklagte "ca. 2 Stunden nach der Tat beschlossen, ,um keine Schereien zu bekommen, ... die Leiche zu verschaffen' und sie - ,weil sie zu schwer war' - zu zerteilen." 288 Süddeutsche Zeitung v. 4. 2.1994 (Nr. 28/94), S. 18. 289 Dieser Rekord ist mittlerweile eingestellt worden: Nach Durchführung des "größte[n] Massen-Gentest[s] der Kriminalgeschichte" (Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 13. 11. 1998 (Nr. 264/98), S. 11) an 18.000 jungen Männem haben norddeutsche Strafverfolger einen Verdächtigen ausgemacht, der zwei kleine Mädchen sexuell mißhandelt und danach ermordet haben soll. 290 Siehe dazu die Berichte in der Süddeutschen Zeitung v. 24. 1. 1994 (Nr. 18/94), S. 23, v. 4. 2. 1994 (Nr. 28/94), S. 18, und v. 8. 1. 1998 (Nr. 5/98), S. 37; ausweislich des letztgenannten Artikels sind bis zu diesem Zeitpunkt ca. 4000 Porsche-Fahrer überprüft worden. 291 In: NStZ 1981, S. 300. 19'
292
3. Teil: Fallgruppenweise, die beiden Interpretationen vergleichende Analyse
2. Argumente In den gerade aufgeführten Beispielsfällen hat der BGH - von zwei Ausnahmen (im »Babyflaschen-Fall« sowie im »Bahngleis-Fall«, dazu sogleich in den Ergänzungstexten) abgesehen - die an das entsprechende Nachtathandeln anknüpfende Strafschärfung seitens der Landgerichte mit dem Hinweis darauf beanstandet, daß es dem Täter unbenommen sei, sich der Strafverfolgung zu entziehen; ihm die Beseitigung der Leiche (wenn auch nur im Rahmen der Strafzumessung) vorzuwerfen, liefe auf eine Strafschärfung wegen einfacher Beseitigung von Tatspuren hinaus. Strafschärfend könne allenfalls die "qualifizierte" Spurenbeseitigung herangezogen werden, wobei dem Tatrichter bei der Frage, ob diese oder eine - nicht im Rahmen von § 46 Abs. 2 StGB berücksichtigungsfähige - "einfache" Spurenbeseitigung vorliegt, ein ,,Beurteilungsspielraum" zukomme (so ausdrücklich im »Bahngleis-Fall«, S. 7). Selbst im »Wohnungsbrand-Fall« hat der BGH in dubio pro reo entschieden (a. a. 0., S. 4): "So ist ... nicht deutlich, ob der Angeklagte beim Verlassen der Wohnung wollte, daß das Feuer voll ausbricht; hiergegen könnte sprechen, daß er zuvor sorgfältig das Messer verstaut und die Wohnung gereinigt hat. Dies ist mit der Absicht, die ganze Wohnung in Brand zu setzen, jedenfalls nicht ohne weiteres vereinbar." - Allerdings mußte der BGH den Strafausspruch der Vorinstanz schon deshalb aufheben, weil das Landgericht sogar "das Verstauen des Messers und die Beseitigung der Blutflecken" (a. a. 0.) strafschärfend gewertet hatte.
Im »Babyjlaschen-Fall« hatte der Angeklagte nicht nur den leblosen Körper seiner Ehefrau die Kellertreppe hinuntergestoßen, sondern auch ,,mit der Babyf1asche an ihrem Geschlechtsteil manipuliert" (a. a. 0., S. 3). Der BGH bewertet das Gesamtgeschehen als ,,schimpfliche Behandlung ... , die deutlich über das Bestreben eines Täters hinausging, die Tatspuren zu beseitigen, um nicht mit ihrer Hilfe überführt zu werden ( ... )" (a. a. 0., S. 5). Seit dieser Entscheidung zieht der BGH am Übergang von der einfachen Spurenbeseitigung zur "schimpflichen Behandlung" der Leiche die Grenze zur möglichen Strafschärfung, so z. B. im Urt. v. 10.5. 1988 (1 StR 175/88 292 ) und im Besch!. v. 11. 8. 1989 (2 StR 366/ 89 293 ).
Diese Argumentation ist in dreierlei Hinsicht bemerkenswert: Zum einen geht der BGH jeweils mit keinem Wort auf die mit der Beseitigung der Leiche regelmäßig einhergehenden Rechtsgutsverletzungen ein. Man wundert sich - zweitens über die Allgemeingültigkeit des zitierten Diktums, ist doch noch die im Ersten Teil dieser Untersuchung (unter B VI 2 b) bereits angeführte Feststellung des BGH erinnerlich, der zufolge "das Gesetz dem Bestreben eines Straffälligen, die Strafverfolgung gegen ihn zu vereiteln, nur begrenztes Verständnis entgegenbringt" (BGH, Urt. v. 22. 5. 1962-1 StR 103/62294 -, S. 4). Und drittens führt der BGH in einigen der benannten Fälle
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294
In: BGHR StGB § 46 Abs. 2, Nachtatverhalten 13. In: BGHR StGB § 46 Abs. 2, Nachtatverhalten 17. In: BGHSt, Bd. 17, S. 236-240.
D. Spurenbeseitigung
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- namentlich im »Straßengraben-Fall«, im »Fremdarbeiter-Fall«, im Beschl. v. 11. 3. 1992 (3 StR 44/92) sowie im Beschl. v. 16.5.1989 (1 StR 166/89)-
die »salvatorische Formel« zwar an, macht von ihr hingegen - mit Ausnahme des »Bahngleis-Falles« - keinen Gebrauch, obwohl man dies gerade im vorliegenden Zusammenhang - entsprechend der oben 11 kritisierten »Splitting-Methode« - erwarten könnte, etwa wenn der Täter eine Form des Beseitigens der Leiche gewählt hat, die objektiv nicht nötig gewesen wäre. Anhand des »Bahngleis-Falles« kann man deutlich erkennen, daß die »salvatorische Formel« nicht nur die Gefahr der Umgehung des Nemo-tenetur-Privilegs in sich birgt (vgl. dazu schon B I 2), sondern auch zu Zirkelschlüssen verleitet: ,,[Der Hinweis der Strafkammer], das Verhalten des Angeklagten sei eine über bloße Spurenbeseitigung weit hinausgehende schimpfliche Behandlung der Leiche und offenbare eine rohe Gesinnung, belegt, daß sie die [in der hier zitierten Entscheidung zuvor] genannten, über eine ... ,einfache Spurenbeseitigung' hinausgehenden subjektiven Umstände beim Angeklagten deshalb als gegeben ansieht, weil er gerade diese Form der Spurenbeseitigung gewählt hat" (a. a. 0., S. 8). Mit anderen Worten: Der BGH benennt keine Kriterien, anhand derer die Entscheidung zwischen "einfacher" und "qualifizierter" Spurenbeseitigung getroffen werden kann, sondern definiert lediglich die im konkreten Einzelfall gewählte Form der Spurenbeseitigung als "schimpfliche Behandlung" der Leiche und damit als möglichen Anknüpfungspunkt fllr eine Strafschärfung. Diese Argumentation kann nicht überzeugen (siehe auch die Kritik an der Entscheidung im Zweiten Teil unter C I 2 b).
In mehreren Entscheidungen deutet der BGH an, daß er die Beseitigung der leiche für den Fall, daß der Täter sie schon vor der Tat geplant hätte, als potentiellen Strafschärfungsgrund ansehen würde. Aus dem Beschl. des BGH v. 3. 1. 1997 (3 StR 451/96, S. 4): ,,Der Schluß auf besondere kriminelle Energie bei der Begehung der Tat wäre nur dann gerechtfertigt gewesen, wenn der Angeklagte die aufwendige Beseitigung der Leiche schon vor der Tat geplant hätte ( ... )."
Ebenso: »Straßengraben-Fall« (auf ihn wird im obigen Beschluß (a. a. 0.) indirekt verwiesen), »Kanal-Fall« sowie die BGH-Beschl. v. 10. 2. 1994 (1 StR 850/93 295 ) und V. 4.2. 1998 (2 StR 605/97 296 ).
Allerdings hat sich bereits im Ersten Teil (unter B VI 2 b (6» der Eindruck ergeben, daß der BGH hinsichtlich der Vorausplanung selbstbegünstigender Nachtathandlungen keine klare Linie verfolgt. Siehe dazu die dort im Ersten Teil angeführten Entscheidungen des BGH hinsichtlich anderer vorausgeplanter, täterschaftsverschleiernder Maßnahmen (wie z. B. das Überziehen einer Maske anlä8lich eines Tankstellenraubes). -+ Überprüft man die Strafzumessungserwägungen in den gerade angeführten Fällen anhand des Schemas, das sich aus der hier entwickelten Neuinterpretation 295 296
In: StV 1995, S. 131-132. Bei Detter. in: NStZ 1998, S. 503.
294
3. Teil: Fallgruppenweise, die beiden Interpretationen vergleichende Analyse
des Nemo-tenetur-Satzes ergibt, so sind allenfalls geringfügige Abweichungen zu den Judikaten des BGH zu verzeichnen: Zunächst ist das fragliche Nachtatverhalten in Hinblick auf seine Selbstbegünstigungsrelevanz zu untersuchen, dies freilich unter Beachtung der konkreten Tatumstände. Auf dieser ersten Prüfebene werden nur wenige Handlungen als keinesfalls selbstbegünstigungsprivilegiert einzuschätzen sein. Eine solche Ausnahme bilden etwa sinnlose Messerstiche in den Bauch des schon toten Opfers (»Messerstich-Fall«). Ohne Hinzutreten spezieller Umstände kann man das derartig gewaltsame Manipulieren an der Scheide des toten Opfers, daß dort sogar ein größerer Einriß entsteht, nur als ,,Ausdruck einer besonderen Mißachtung des Tatopfers" (»Babyjlaschen-Fall«, S. 4) deuten. Nicht eindeutig einzuordnen sind jeweils für sich gesehen folgende Nachtathandlungen: ,,[Der Angeklagte hat der Toten] ein brennendes Feuerzeug ans Ohrläppchen gehalten, ihr zwei oder drei Finger in den Mund gesteckt, sie getreten, ins Gesicht geschlagen und schließlich in eine Badewanne gelegt, in die er Wasser einließ" (»Ohrläppchen-Fall«, BGH, Beschl. v. 30.1. 1980-3 StR 513/79-, S. 3). Auch wenn der Täter die Leiche die Treppe hinunterfallen läßt, mag dies aus einer rohen Gesinnung heraus geschehen oder aber dazu dienen, einen Unfall vorzutäuschen. Vor allem ist zu beachten, daß (auch) de interpretatione ferenda nicht nur solchen Verhaltensweisen am Nemo-tenetur-Schutz teilhaben, die in der konkreten Situation objektiv notwendig sind, um eine Überführung zu vermeiden; entscheidend für eine Bejahung der Nemo-tenetur-Relevanz ist vielmehr die Ex-ante-Sicht des Beschuldigten (Zweiter Teil, eIl b (1». Die Art und Weise der Beseitigung der Leiche ist also auf dieser Prüfungsstufe irrelevant; ob der Täter sich kräftig genug fühlt, die Leiche gleichsam ..am Stück« zu transportieren, oder sie zerteilt (..Messerstich-Fall«), ob er sie nur an einer geeigneten Stelle ablegt (..Straßengraben-Fall«), sie dort versteckt, wo er sie vor Entdeckung sicher wähnt (.. Kanal-Fall«) oder sie sogar vergräbt (..Fremdßrbeiter-Fall«), ob er sie verbrennt (..Parkplatz-Fall«, .. Wohnungsbrand-Fall«), auf Bahngleise legt (..Bahngleis-Fall«) oder mit einem unverdächtigen Betonmantel umhüllt - all dies spielt hier noch keine Rolle; entscheidend ist allein die individuelle Erlebnis- und Vorstellungswelt des Täters. Nemo tenetur privilegiert entsprechend seiner Ratio denjenigen Täter, welcher sich der Strafverfolgung entziehen will, mit anderen Worten: Nemo tenetur privilegiert nur ein selbstbegünstigungsmotiviertes Nachtatverhalten. Diese Motivation kann unzweideutig aus der Handlung selber zu schließen sein - man denke etwa an das Vergraben oder Verstecken der Leiche. Ist die in Frage stehende Nachtathandlung ambivalent, so geben wiederum die begleitenden Umstände (sowie die Einlassung des Beschuldigten) den Ausschlag für eine Bewertung - wie im »Treppen-Beispiel«: Vortäuschung eines Unfalls oder Ausdruck der besonderen Mißachtung des Opfers? Legt der Täter etwa eine Bananenschale auf die Treppe oder bohnert er sie nach der Tat, so spricht dies fUr den ernsthaften Versuch, einen Unfall vorzutäuschen. Ist hingegen das Hinun-
D. Spurenbeseitigung
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terwerfen nur eine von mehreren massiven Einwirkungen auf die Leiche, die, in ihrer Gesamtheit nach den Regeln der richterlichen Beweiswürdigung betrachtet, nicht selbstbegünstigungerelvant sind, so beeinflußt diese Bewertung des Gesamtgeschehens die Bewertung der einzelnen Nachtathandlungen. Auch im Licht von Nemo tenetur - de interpretatione ferenda - ist daher im »Babyflaschen-Fall« das Nachtatverhalten des Täters nicht selbstbegünstigungsprivilegiert. - Freilich kann auch die (glaubwürdige) Einlassung des Angeklagten eine schlüssige Erklärung für die prima vista nicht eindeutig einzuordnenden Nachtathandlungen bieten. Im »Ohrläppchen-Fall« beanstandet der BGH die strafschärfende Berücksichtigung des Verhaltens des Täters durch die Vorinstanz: Der Angeklagte habe dies alles mit (der Leiche) seiner Frau gemacht, "weil er erreichen wollte, daß sie endlich auf seine Zurufe reagiere. Auch als er erkannte, daß er sie getötet hatte, wollte er dies nicht wahrhaben ... und versuchte ... , doch noch ein Lebenszeichen von ihr zu erzwingen, bis ihm die Wasserprobe endgültige Klarheit verschaffte. Diese Motivation nimmt seinem Handeln nach der Tat den Charakter des Verwerflichen" (a. a. 0., S. 4.). Das geschilderte Nachtatverhalten ist also gar nicht selbstbegünstigungsmotiviert gewesen. Der Fall liefert mithin ein sehr anschauliches Beispiel dafür, daß die Ablehnung eines Nemo-tenetur-Schutzes richtigerweise nicht automatisch eine Strafschärfung zur Folge hat. Der Tatrichter ist vielmehr gern. § 261 StPO i.V.m § 46 Abs. 1 S. 1 StGB dazu aufgerufen, das nichtprivilegierte Nachtatverhalten in Hinblick auf seine Indizienhaltigkeit zu untersuchen. Der Blick auf die (Gesamt-)Umstände ist freilich nur dann angebracht, wenn bei der isolierten Betrachtung des fraglichen Verhaltens Zweifel bestehen bleiben; so hat etwa im »Messerstich-Fall« der sinnlose und daher nicht selbstbegünstigungsprivilegierte Stich in den Bauch des toten Opfers keinen Einfluß darauf, daß das spätere Zerteilen der Leiche zweifellos dem Zweck diente, die Leiche möglichst unauffaIlig fortzuschaffen, und daher unter das Nemo-tenetur-Privileg fallt.
Bleiben dem Tatrichter Zweifel, so muß er in dubio pro reo eine Selbstbegünstigungsmotivation annehmen. Das Nemo-tenetur-Privileg versagt dort, wo das selbstbegünstigende Nachtatverhalten >>.fremdbelastend« wirkt, was jedenfalls dann der Fall ist, wenn es mit einem neuerlichen Verstoß gegen die Rechtsordnung einhergeht. In den (im »Bahngleis-Beschluß« auf S. 6 zu findenden) Worten des BGH: ,,[D]er Gedanke einer sich nicht strafschärfend auswirkenden Selbstbegünstigung [ist] nicht mehr tragfähig ... , wenn hierdurch weitere strafbewehrte Gebote verletzt werden ( ... )".
Wie bei der Spurenbeseitigung im allgemeinen und hinsichtlich der Lügefreiheit des Beschuldigten liefe auch im Zusammenhang mit der Beseitigung der Leiche eine ausnahmslose Befolgung des soeben zitierten höchstrichterlichen Postulats auf ein faktisches Verbot dieses selbstbegünstigenden Nachtatverhaltens hinaus; auch hier schafft die Anerkennung eines Speziellen Entschuldigungsgrundes der Unzumutbarkeit ( ... ) den notwendigen Interessenausgleich (entsprechend den oben I dargestellten Grundsätzen). Das hat zur Folge, daß eine Zerstörung der Kleidung des Opfers oder solcher Gegenstände, die das Opfer unmittelbar bei sich trägt (Brieftasche, Armbanduhr, Schmuck usw.), i.d.R. entschuldigt ist; siehe dazu auch die Beispiele im Zweiten Teil (unter C m 3 a).
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3. Teil: Fallgruppenweise, die beiden Interpretationen vergleichende Analyse
Ist also die Rechtsgutsverletzung in diesem Sinne keine objektive Conditio sine qua non, bleibt sie stratbar und kann - weil nicht vom Nemo-tenetur-Schutz erfaßt - grundsätzlich als Indiz für die Ermittlung der Schuld des Täters zum Zeitpunkt der Tat herangezogen werden. Im »Bahngleis-Fall« (wie auch im »Wohnungsbrand-Fall«, dazu sogleich) läßt der BGH die Frage, ob sich der Angeklagte durch sein Nachtatverhalten einer strafbaren Handlung - hier (zwecks leichterer Nachvollziehbarkeit aktulisiert, vgl. § 2 Abs. I StGB): eines zumindest versuchten gefährlichen Eingriffs in den Bahnverkehr in einern schweren Fall gern. § 315 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 3 Nr. 1 Buchst. b, Abs. 2 StGB - schuldig gemacht hat, ausdrücklich offen - dies mit der Begründung (auf S. 6), daß die Strafzumessungsrelevanz des betreffenden Nachtatverhaltens ohnehin schon festgestellt worden sei. - Dem hier vertretenen Nemo-tenetur-Konzept zufolge ist aber gerade die Frage nach der strafrechtlichen Bewertung des Aufdie-G1eise-Legens der Leiche entscheidend und gibt im konkreten Fall den Ausschlag zugunsten der grundsätzlichen Zulässigkeit einer strafschärfenden Berücksichtigung hinsichtlich der Ausgangstat, haftet doch den durch die fragliche Nachtathandlung gefährdeten (und durch § 315 StGB geschützten) Rechtsgütern keinerlei tatunmittelbare und tatspezijische Überführungswirkung an. Sollte ein Angeklagter in vergleichbarer Position geltend machen, ihm sei keine mildere Vertuschungshandlung eingefallen, so wird ihm entgegenzuhalten sein, daß er angesichts der Schwere möglicher Rechtsgutsverletzungen intensivere Überlegungen diesbezüglich hätte anstellen müssen. - Auch hier führt also die Anwendung der Neuinterpretation des Nemo-tenetur-Satzes zu keinem anderen als dem von der Rechtsprechung gefundenen Ergebnis; während diese sich jedoch angesichts ihrer Argumentation dem Vorwurf des (wohl ergebnisorientierten) Zirkelschlusses ausgesetzt sieht (dazu gerade bei den Argumenten der Rechtsprechung), folgt der hier vorgeschlagene Lösungsweg dem objektiven Kriterium des strafrechtlichen Rechtsgüterschutzes. Ebenso im »Wohnungsbrand-Fall«: Eine Strafbarkeit des Angeklagten lehnt der BGH angesichts des In-dubio-Satzes ab (siehe das Zitat oben 1) und rekurriert auf die somit einzig übrigbleibende Frage, ob im Anzünden der Leiche als solchem eine ,Jm hohen Maße umglimpfliche Behandlung" (a. a. 0., S. 5) zu erblicken sei. Die Antwort wird freilich offengelassen, weil der Strafausspruch schon aus anderen Gründen (siehe oben 2) keinen Bestand haben konnte. - M.E. hat sich der Beschuldigte mit dem geschilderten Nachtatverhalten durchaus einer versuchten besonders schweren Brandstiftung gern. (wiederum aktualisiert) §§ 306b Abs. 2 i.V.m. 306a Abs. 1 Nr. 1, 12 Abs. 1, 22, 23 Abs. 1 StGB strafbar gemacht. Die Umstände sprechen dafür, daß der Täter zumindest bedingt vorsätzlich gehandelt hat, was fIlr die hier konstatierte Strafbarkeit ausreicht. 297 Der Hinweis des BGH, die vorausgegangenen Bemühungen, Tatspuren zu beseitigen, ließen Zweifel daran aufkommen, ob der Täter wirklich die ganze Wohnung in Brand setzen wollte, greift nicht. Es ist im Gegenteil dem Revisionsbeschlu8 (auf S. 3) selber zu entnehmen, daß diese Bemühungen - auch aus Sicht des Täters - gescheitert waren: ,,Er wischte das Blut vorn Boden auf und wischte auch Blutspritzer von den Wänden ab. Als dies nur unvollkommen gelang, überstrich er mit Dispersionsfarbe nahezu alle Blutspritzer. ,,298 Hinsichtlich der Entschuldigungsfrage ist zu bemerken, daß weder von der Wohnung noch von den in ihr befindlichen Gegenständen erst recht nicht von den ansonsten gefährdeten Menschen eine unmittelbare und spezifische Überfüh297 So für die n.F. der Brandstiftungsdelikte nach dem 6. StrRG (vgl. dazu im Ersten Teil: AI 3 mit Fn. 32, 33) Wolters, in: JR 1998, S. 273 (271). 298 Hervorhebung nicht im Original.
F. Unterlassene Hilfeleistung, § 323c StGB
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rungswirkung ausging (dazu, daß die höchstwertigen Rechtsgüter Leib, Leben und Gesundheit per se keine unmmittelbare und spezifische Überführungswirkung in sich tragen, siehe auch unten F). An das solchermaßen nicht vom Selbstbegünstigungsprivileg erfaßte (versuchte) Inbrandsetzen der Wohnung hätte mithin grundsätzlich eine Strafschärfung anknüpfen können. Ob allerdings aus diesem konkreten Nachtatverhalten sichere Schlüsse auf die Einstellung des Täters zu seiner Tat hätten gezogen werden können, ist aus dem Beschluß des BGH nicht zu rekonstruieren.
Ist die Rechtgutsverletzung jedoch eine Conditio sine qua non, so hat der Tatrichter auch keinen Beurteilungsspielraum hinsichtlich der Frage, ob eine "einfache" oder eine "qualifizierte" Spurenbeseitigung vorliegt. Als gedanklicher Teil des intendierten Rechtsgutsangriffs .können vorausgeplante selbstbegünstigende Nachtathandlungen nicht am Nemo-tenetur-Privileg teilhaben. So etwa, wenn der Täter erwiesenermaßen (in dubio pro reol) bereits vor dem geplanten Mord eine Grube ausgehoben hatte, in der er später die Leiche seines Opfers »verscharrt« hat.
E. *Flucht Bezüglich der Flucht des Beschuldigten kann auf die entsprechenden Ausflihrungen im Zweiten Teil (unter B IV) verwiesen werden.
F. *Unterlassene Hilfeleistung, § 323c 8tGB Stehen die höchstwertigen Rechtsgüter des StGB (Leib, Leben, bedeutende Sachen) auf dem Spiel, so kann nicht auf die als Ausnahme zur Sicherung eines Nemo-tenetur-Mindestschutzes konzipierte »Unzumutbarkeitslösung« (Zweiter Teil: C III 3 b) zurückgegriffen werden. Entsprechendes gilt hinsichtlich des § 323c StOB; die Hilfeleistung gegenüber einem sich in Leibes- bzw. Lebensgefahr Befindlichen ist dem Täter nicht etwa deshalb nicht ,,zuzumuten", weil ihm ansonsten die Überführung droht. Drei Beispiele mögen die Bandbreite dieser Problematik aufzeigen: Beispiel 1299 : Aufgeweckt von einem nächtlichen Einbrecher schleicht der Hausbesitzer, ohne das Licht einzuschalten, die Kellertreppe hinunter, um den Einbrecher zu stellen. Im Dunkeln stürzt er und bleibt am Fuß der Treppe schwerverletzt und bewußtlos liegen. - Weil sich im Sturz nicht das typischerweise mit einem Einbruchsdiebstahl verbundene Risiko verwirklicht, kommt dem Einbrecher keine GarantensteIlung für Leben und Gesundheit des Hausbesitzers qua Ingerenz zu (vgl. im Zweiten Teil, C IV 2 b). Das ggf. gern. § 323c StGB strafbare Unterlassen der Hilfeleistung ist jedenfalls nicht wegen Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens zur Sicherung des Nemo-tenetur-Privilegs entschuldigt, weil die Nachtatphase, in der Nemo tenetur relevant sein könnte, noch gar nicht begonnen hat (siehe im 299
Nach Stree, in: Klug-FS, S. 397 (395).
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3. Teil: Fallgruppenweise, die beiden Interpretationen vergleichende Analyse
Zweiten Teil: C V); das Selbstbegünstigungsprivileg vermittelt kein »Recht auf ungestörte Deliktsausübung«. Beispiel 2: Der Täter tötet sein Opfer im Wald und vergräbt die Leiche dort. Beim Heraustreten aus dem Gehölz entdeckt der Täter einen schreienden Säugling, der kurz zuvor von seiner überforderten minderjährigen Mutter dort ausgesetzt worden ist. Der Täter läßt ihn im Wald liegen, weil er seine Überführung für den Fall befürchtet, daß er das Baby an einer geeigneten Stelle abliefert und wahrheitsgemäß auf die Frage nach Fundzeit und Fundort antwortet. - Fraglich ist, ob von den bedrohten Rechtsgütem des Säuglings - Leben, Gesundheit - eine tatunmittelbare und tatspezifische, auf den Täter weisende Überführungswirkung ausgeht; man könnte dies bejahen mit dem Hinweis darauf, daß der Täter sich ja aus Anlaß des zuvor von ihm begangenen Verbrechens zu der bestimmten Stunde an der bestimmten Stelle aufgehalten hat. Ausschlaggebend ist indes eine andere Überlegung: Durch sein Untätigbleiben beläßt der Täter das Baby in dessen Leibes- bzw. Lebensgefahr, was nach den im Zweiten Teil (unter III 3 b) entwickelten und soeben in Erinnerung gerufenen Kriterien nicht als Folge einer Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens (hier: Verletzung der allgemeinen Hilfspflicht gern. § 323c StGB) eingestuft werden kann. Beispiel 3 (nach dem Urt. des BGH v. 1. 4. 1958 (1 StR 24/583~: K ist zugegen, als S dem V eine lebensgefährliche Stichwunde beibringt. Anstatt, wie von P, einem Kameraden des Schwerverletzten, verlangt, Hilfe zu leisten, folgt K der Aufforderung des Täters S, »abzuhauen«. - Das Nemo-tenetur-Privileg bleibt dem K nicht etwa deshalb versagt, weil er nicht 1liter der gefährlichen Körperverletzung (§ 224 StGB) ist; Nemo tenetur kommt sogar dem Unschuldigen zugute (vgI. im Ersten Teil: B VII 1 b sowie 2), der Negatives (hier: die vorläufige Festnahme und die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens) zu vermeiden sucht. Negatives indes hat K nicht von den bedrohten Rechtsgütem des V (Leben, Gesundheit) zu befürchten, sondern allenfalls von der (Glaubwürdigkeit der) Aussage des Zeugen P. Hinsichtlich der Unzumutbarkeit einer Hilfeleistung LS. von § 323c StGB sei auf das Beispiel 2 verwiesen.
G. Fazit des Dritten Teils • Vollumfängliches (horizontales Teil-)Schweigen darf dem Beschuldigten im Strafverfahren deshalb unter keinem Gesichtspunkt angelastet werden, weil ansonsten das in der StPO vorgesehene Schweigerecht des Beschuldigten für diesen ein im Grunde wertloses "privilegium odiosum" darstellen würde, könnte er sich doch nicht wirklich frei entscheiden, ob und wann er sich überhaupt zur Sache einläßt. • Indes steht auch die im Zweiten Teil vorgeschlagene Neuinterpretation des Nemo-tenetur-Satzes einer in Gemäßheit des § 261 StPO stattfindenden Würdigung des Beschuldigtenschweigens auf einzelne Fragen (vertikales Teilschweigen) grundsätzlich nicht entgegen; regelmäßig werden jedoch aus diesem Teilschweigen keine hinreichend sicheren Schlüsse auf die Täterschaft zu ziehen sein. Strafschärfend darf das Schweigen auf einzelne Fragen wegen Nemo tene300
In: St, Bd. 11, S. 535-537.
G. Fazit des Dritten Teils
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tur nicht verwertet werden, was zwingend ein Vergleich mit der Situation ergibt, in der der Beschuldigte, anstatt nur zu schweigen, sich mit einer Lüge beholfen hätte (dazu sogleich), um in seiner Einlassung keine Lücken entstehen zu lassen .
• Die (als solche) erkannte Lüge muß der Tatrichter gern. § 261 StPO bei der Beweiswürdigung berücksichtigen; er darf indes nicht von dieser Lüge pauschal auf die Unglaubwürdigkeit der sonstigen Äußerungen des Beschuldigten schließen, wie überhaupt der Indiziengehalt einer Lüge sehr gering ist. Wegen der hier unter Nemo tenetur subsumierten ,,Lügefreiheit" ist es dem Tatrichter grundsätzlich verwehrt, Schlüsse i.S. des § 46 Abs. 2 StGB aus der Lüge zu ziehen. • Was die Berücksichtigungsfähigkeit sonstiger selbstbegünstigender Nachtatverhaltensweisen im Rahmen der Strafzumessung anbelangt, so führt die Neuinterpretation des Nemo-tenetur-Satzes in den meisten Fällen zu den gleichen Ergebnissen, wie sie auch in den analysierten Revisionsentscheidungen zu finden sind.
(;esammtergeblds Die Konturen des Nemo-tenetur-Grundsatzes sind in Bewegung geraten. Die Aussage des Nemo tenetur se ipsum prodere war ursprünglich gar nicht im Gedankengut, welches dem deutschen (Straf-)Recht zugrundeliegt, enthalten; sie wurde jedoch bald nach Einführung der Anklagemaxime durch das einheitliche "Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich" angesehen als die dogmatische Basis des Rechts des Beschuldigten, auf den Anklagevorwurf zu schweigen. Im Lauf der Zeit hat sich die allgemeine Überzeugung herausgebildet, daß das nämliche Prinzip für ein Recht des Beschuldigten auf Passivität im Strafverfahren streitet. Diese Inhaltszuschreibung deckt sich prima vista sowohl mit seiner landläufigen Übersetzung, wonach niemand verpflichtet sei, sich selbst anzuklagen bzw. (der Strafverfolgung) auszuliefern, als auch mit der rechtlichen Ausgestaltung des Strafverfahrens, wobei - neben dem schon erwähnten Schweigerecht - vor allem auf die in der StPO bereitgehaltenen Zwangsmittel verwiesen wird (Rogall). Verfolgt man auf der Suche nach der verfassungsrechtlichen Verortung des Prinzips diese Spur, gerät unweigerlich das in Art. 1 Abs. 1 GG der Verfassung und damit der gesamten Rechtsordnung als Leitlinie vorangestellte Gebot der Achtung der Menschenwürde in den Blick: Der Zwang, sich der eigenen Straftat bezichtigen zu müssen, würde evidentermaßen der Natur des Menschen zuwiderlaufen, die diesem eingibt, negative Einflüsse auf seinen Status quo zu fliehen, mithin diesen zumindest zu erhalten. Die Kriminalstrafe aber zielt notwendigerweise auf eine Minderung der Rechtsgüter es Betroffenen. Ein Zwang zur Selbstbezichtigung wäre demnach mit der zitierten Leitlinie, die man salopp dergestalt umschreiben kann, daß das Recht dem Menschen zu diesen habe und nicht umgekehrt der Mensch dem Recht, nicht in Einklang zu bringen. Sedes rationis des den menschlichen »Selbstbegünstigungstrieb« privilegierenden Nemo-tenetur-Satzes ist mithin Art. 1 Abs. 1 GG. Angesichts dieser Erkenntnis verwundert die eingangs konstatierte rechtsdogmatische Bewegung, die um Nemo tenetur zu verzeichnen ist, wenig, wird doch dessen Ratio durch die herkömmliche Inhaltszuschreibung nur zum Teil abgedeckt: Gerade passives Nachtatverhalten liefe in den meisten Fällen auf eine Eigen-Überführung hinaus. Die wenigen ausdrücklichen Versuche, das Nemo-tenetur-Privileg dergestalt aufzubereiten, daß es auch auf aktive Selbstbegünstigungen anwendbar ist, bleiben jedoch auf halbem Wege stehen (Bosch) oder vermögen in dogmatischer Hinsicht nicht zu überzeugen (Hoffmann); die Nonchalance, mit der zuweilen das Nemo-tenetur-Prinzip auf die aktive Selbstbegünstigung angewendet wird (Jahn), gibt indes die Richtung an, in die sich die laufende Diskussion bewegt.
Gesamtergebnis
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Den Schlüssel zur Lösung des verzeichneten Problems hält die Rechtsprechung mit dem von ihr entwickelten "Recht auf Verteidigung" bereit. Sie anerkennt mit dieser Konstruktion das Bedürfnis des Beschuldigten (im Strafverfahren bzw. des Täters einer Straftat), aktiv einer Überführung entgegenzuwirken. Als Ratio der auch sog. "Verteidigungsfreiheit" kommt nur der »Selbstbegünstigungstrieb« in Betracht. Hier knüpft die in dieser Untersuchung entwickelte Neuinterpretation von Nemo tenetur an: Die Implementierung ein und derselben Ratio durch zwei Prinzipien, deren Anwendungsbereich sich rein über die Kategorie des äußeren Verhaltens definiert, ist dem Rechtssystem ansonsten fremd; speziell rur das Strafrecht zeigt dies § 13 StGB: Einem Unterlassen kann der gleiche normative Unwertgehalt zukommen wie einem Handeln und umgekehrt. Demnach sollte Nemo tenetur de interpretatione ferenda als ein Handlungen wie Unterlassungen gleichermaßen erfassendes Selbstbegünstigungsprivileg definiert werden. Es wird zudem vorgeschlagen, diese "Bezichtigungsfreiheit" zu umschreiben als Freiheit, sich der Strafverfolgung zu entziehen, da diese Formulierung auch die Flucht des Beschuldigten erfaßt. Der »interpersonalen« Zielsetzung des Rechts, namentlich dem Erfordernis der Rechtsdurchsetzung, tragen die in der StPO etablierten Duldungspflichten Rechnung, die, falls per Anordnung (z. B. der Untersuchungshaft) gegenüber dem Beschuldigten konkretisiert, das Selbstbegünstigungsprivileg aktuell, ansonsten - als jederzeit anzuordnend - jedenfalls latent begrenzen, was zur Folge hat, daß das Nemo-tenetur-Privileg nicht zu einem Recht erstarken kann, es sei denn zugunsten des schweigenden Beschuldigten, ist doch eine Duldungspflicht, die das Schweigen unterbinden könnte, nicht denkbar (» Verdichtungsthese«). Parallel zu diesem Vorschlag der Neuinterpretation der "Bezichtigungsfreiheit" entwickelt sich anläßlich der Befassung mit dem Verhalten des einer Straftat Beschuldigten eine neue Erklärung rur die Tatsache, daß diesem eine "Lügefreiheit" zukommt. Die vorliegenden Stellungnahmen zu diesem Phänomen orientieren sich an den Leges latae (Fezer) - hierbei vor allem am Schweigerecht des Beschuldigten (Hoffmann; Rechtsprechung) - und an schwer zu fassenden sozialpsychologischen Gesetzmäßigkeiten (Schneider). In dieser Untersuchung wird der dazu komplementäre Weg eingeschlagen und die Frage aufgeworfen, ob de lege ferenda eine Wahrheitpflicht des Beschuldigten verfassungskonform wäre, wohlgemerkt eine Wahrheitspflicht, deren Verletzung negative Konsequenzen - sei es in Form einer eigenständigen Strafe, sei es qua "strafschärfender Berücksichtigung" der Lüge nach sich ziehen würde. Doch schon diese Frage impliziert im Grunde die zu gebende Antwort: Wer wollte von sich behaupten, die »wirkliche Wahrheit