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German Pages 464 Year 2018
Nachkriegsliteratur als öffentliche Erinnerung
Nachkriegsliteratur als öffentliche Erinnerung Deutsche Vergangenheit im europäischen Kontext Herausgegeben von Helmut Peitsch in Verbindung mit Konstantin Baehrens, Ira Diedrich, Christian Ernst, Christoph Kapp, Jacob Panzner, Ulrike Schneider und Frank Voigt
ISBN 978-3-05-005857-3 e-ISBN (PDF) 978-3-05-009393-2 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-038062-0 Library of Congress Control Number: 2018951335 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Informationen sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2019 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandabbildung: 12. Dezember 1959 – Kölner Synagoge geschändet. © Keystone Pictures USA / Alamy Stock Satz: Dörlemann Satz, Lemförde Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Inhalt Einleitung
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I: ‚Gedächtnis‘ und ‚Generation‘ Frank Voigt Bilder, Sprache – Töne, Notenschrift Maurice Halbwachs’ Aufsatz „Das kollektive Gedächtnis bei den Musikern“ im Kontext seines Werks 17 1 Bergsons Konzeption von Gedächtnis und Erinnerungsbildern 22 2 Halbwachs’ Grundlegung einer Theorie sozialer Rahmen des Gedächtnisses 24 3 Wahrnehmung und Erinnerung in „Das kollektive Gedächtnis bei den Musikern“ 27 4 Zum Verhältnis von (Noten-)Schrift und Gedächtnis 29 5 Zur Interpretation von Halbwachs’ kollektiven Gedächtnissen als kommunikativen 31 Maurice Halbwachs Das kollektive Gedächtnis bei den Musikern
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Konstantin Baehrens Diskursrelevanz der ‚Generation‘ Zur Diskussion um „Das Problem der Generationen“ von Karl Mannheim bei Richard Alewyn, Werner Krauss und Helmuth Plessner 65 1 Karl Mannheims „Problem der Generationen“ 67 2 Geographische, politische und soziale Differenzierung der Theorie: Richard Alewyns Kritik 77 3 Zeitlich begrenzte Anwendbarkeit und ‚Klassenfrieden‘: Werner Krauss’ Polemik 80 4 Interesse am ‚Generationsbewusstsein‘: Helmuth Plessners Kritik 82 5 ‚Generationenforschung‘: Einschätzungen zur Relevanz 85 6 Interessen im und am Diskurs 87
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Inhalt
II: ‚Vergangenheitsbewältigung‘ Helmut Peitsch Bibliographien und Buchausstellungen zum ‚Dritten Reich‘ in den ersten Nachkriegsjahren 95 1 Die ersten Bibliographien zum ‚Dritten Reich‘: „Übersicht über die wichtigste in Deutschland erschienene Literatur zum Widerstand im Dritten Reich“ 1947, Widerstandsliteratur 1948 98 2 Zwei Buchausstellungen des Jahres 1949: Deutsche Bücher 1933–1945, Das andere Deutschland 103 3 Offizielle Buchausstellungen und Bibliographien: Bibliothek eines geistig interessierten Deutschen 1958, „Das Erlebnis des Zweiten Weltkrieges in der deutschen Literatur“ 1960 105 4 Bibliographien als Kritik ‚unbewältigter Vergangenheit‘: Wahrheit und Fälschung 1959, Wächst Gras darüber?, Deutschjüdisches Schicksal in dieser Zeit 1960 108 5 Vorbereitung neuer Buchausstellungen: Werke von Autoren jüdischer Herkunft in deutscher Sprache 1967, Antifaschistischer Widerstand 1971 112 Christoph Kapp Doktor Faustus und Dr. h. c. Thomas Mann Walter Boehlich über den Schriftsteller und die Politik 119 1 Doktor Faustus im Merkur 121 2 Schwankende Traditionslosigkeit 132 3 Gegen die konservative Tradition 135 4 Öffentlichkeit und universitäre Tradition 137 Ulrike Schneider Thematisierungen des Holocaust in Literaturzeitschriften der DDR am Beispiel der Zeitschrift Neue Deutsche Literatur 147 1 Publikationsmedium und Untersuchungszeitraum 149 2 Veröffentlichungen in der Zeitschrift Neue Deutsche Literatur 3 Analyse von drei Fallbeispielen 154 4 Fazit 165
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Inhalt
Dieter Schlenstedt Auf der Suche nach den Gründen der Barbarei Wolfgang Heise auf der Berliner Historiker-Konferenz 1961 1 Die Berliner Historiker-Konferenz 1961 173 2 Das Referat von Jürgen Kuczynski 177 3 Das Referat von Wolfgang Heise 179 4 Der Eichmann-Prozess als Zäsur der öffentlichen Auseinandersetzung? 185 5 Wolfgang Heises Kritik der ‚Rassentheorie‘ 187 6 Die Konkret-Debatte 1992–1993 194
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Jürgen Doll Kindheit und Jugend im Exil in den besetzten Niederlanden Zu Jakov Linds Selbstporträt 199 1 Deutsch-österreichisch-jüdische Bilanz 199 2 Selbstporträt 200 3 Von Wien nach Holland 203 4 Flucht in den Rachen des Ungeheuers 206 5 Bekenntnis zum Zionismus 207 Jan Loheit „Philosophie im deutschen Faschismus“ Material und Methode eines Argument-Projekts zur Aufarbeitung der Vergangenheit 210 1 Praxiskriterium der Aufarbeitung 212 2 Hilfloser Antifaschismus 214 3 Projekt „Philosophie im deutschen Faschismus“ 217 4 Aktualität der Aufarbeitung 222
III: ‚Authentizität‘ Simone Barck Das verhinderte Schwarzbuch Wassili Grossman und Ilja Ehrenburg und der Genozid an den sowjetischen Juden 231 1 Zum Inhalt des Schwarzbuches 232 2 Zum Schicksal des Schwarzbuches 237
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Magdalena Saryusz-Wolska Holocaust-Darstellungen im polnischen Film. Drei Beispielstudien 1 Wanda Jakubowska Die letzte Etappe 246 2 Andrzej Munk Die Passagierin 251 3 Andrzej Wajda Korczak 255
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Isabella von Treskow Die Wegstrecke der italienischen Nachkriegsliteratur Aus der Erfahrung des politischen Widerstands ins Feld sozialer Ziele und öffentlicher Erinnerung 261 1 Die politische und literarische Situation nach 1945 265 2 Renata Viganò L’Agnese va a morire 267 3 Cesare Pavese La luna e il falò 273 4 Giovanni Pesce Soldati senza uniforme 276 5 Folgerungen 279 Ira Diedrich Unverantwortliche Fiktion: Paul de Man. Leben, Lesen, Bekenntnisse und erzählende Literatur 284 1 ‚Verschwiegene Vergangenheit‘ 289 2 ‚De Man’sche Erzählungen‘ 296 3 ‚Lebenslinie(n)‘, ‚Maskenspiele‘ und ‚Bekenntnisse‘ 301 Hiltrud Arens „So frech möchte ich auch sein“: Robert Cohens Exil der frechen Frauen 334 1 Geschlecht und Vorstellungen von Freundschaft und Liebe 337 2 Geschlecht und Bewegung 341 3 Schreiben im Exil und Erzählstrategie des Autors 343
Inhalt
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IV: Asymmetrische Verflechtung in der Abgrenzung Stephen Brockmann Der Kalte Krieg der Literatur in Deutschland, 1950 351 1 Politische Entscheidung im ‚Literaturkampf‘: Krieg und Frieden in der Literatur 352 2 Nach dem deutschen Sonderweg: Orientierungen an ‚Abendland‘ und Sowjetunion 355 3 Sozialistischer Realismus, Engagement für die westliche Freiheit oder autonome Kunst? Aufgaben der Literatur nach der Katastrophe des Weltkriegs 358 4 Streit um Goethe: Kritik an der Kulturtradition 367 5 Einigkeit im Streit: Literatur und Politik damals, heute und morgen 368 Anne Boden Ein osteuropäisches Pendant zu Anne Frank Das Tagebuch des Dawid Rubinowicz als Erinnerungsmedium in Polen, in der DDR und in der Bundesrepublik um 1960 373 1 Textanalyse 374 2 Pamiętnik Dawida Rubinowicza 376 3 „Wir leiden zusammen mit Dawidek“ – die polnische Rezeption des Tagebuchs 378 4 Die Veröffentlichungen des Tagebuchs in der DDR und der Bundesrepublik 380 5 Rezeption in der DDR und der Bundesrepublik 386 6 Fazit 390 Silvia Schlenstedt Die Kollektivkomposition Jüdische Chronik (1960–1961) 394 1 Entstehung und zeitgeschichtliches Umfeld 394 2 Darstellung des Genozids an den Juden 400 3 Fakten zur Realgeschichte 404
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Inhalt
Bill Niven Zur Rezeption von Nackt unter Wölfen in Westdeutschland 1 Zur Publikationsgeschichte von Nackt unter Wölfen 2 Rezeption des Romans in BRD und DDR 410 3 Der Roman im Kontext der Untersuchungen der SED zu Buchenwald 414
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Christian Ernst Abweichende Geschichtsbilder Erich Kubys und Franz Fühmanns Entwürfe für einen Weiße Rose-Film 417 1 Weder ‚Antifa-Film‘ noch ‚nationaler Heldenfilm‘: Erich Kuby und die Wandlungen des Filmprojekts Die Geschwister Haller 418 2 Franz Fühmanns Wandlungen einer ‚Absicht, ein Geschichtsbild zu geben‘ 426 3 Ausblick 436 Autor/innenverzeichnis Register
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Einleitung Für die Herausgeberinnen und Herausgeber: Helmut Peitsch, Christian Ernst und Jacob Panzner Dieser Band versammelt Diskussionen und Ergebnisse einer fast fünfzehn Jahre andauernden disziplinenübergreifenden Auseinandersetzung mit Aspekten der öffentlichen Erinnerung an den Nationalsozialismus bzw. Faschismus in der Nachkriegsliteratur am Lehrstuhl Neuere deutsche Literatur (des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts) des Instituts für Germanistik der Universität Potsdam, den Helmut Peitsch von 2001 bis 2016 leitete. Bereits an der begrifflichen Alternative Nationalsozialismus/Faschismus wird deutlich, dass dieser Gegenstand besondere Brisanz im Verhältnis von Bundesrepublik und DDR entwickelt hat (vgl. Lengemann 2017, 3). Die damit verbundenen Konflikte im Kontext des Kalten Krieges beeinflussten nicht nur literarische Diskurse, sondern auch die Forschung. Colloquium: Literarische ‚Vergangenheitsbewältigung‘ im OstWest-Vergleich, lautete deshalb der Titel einer Lehrveranstaltung, die vom Wintersemester 2002–2003 bis zum Sommersemester 2015 jedes Semester stattfand. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer diskutierten Projekte für thematisch einschlägige Magister- und Doktorarbeiten, mit auswärtigen Gästen über ihre aktuellen Veröffentlichungen und über theoretisch-methodologische Texte sowie exemplarische Untersuchungen zum Thema. Insgesamt wurden 57 Magister- und Doktorarbeiten diskutiert, mit 37 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern Meinungen ausgetauscht und fast 250 wissenschaftliche Texte analysiert und ausgewertet.
Projekt zur literarischen ‚Vergangenheitsbewältigung‘ im Ost-West-Vergleich Der Titel des Colloquiums zeigt zwei Besonderheiten der Forschungsrichtung an, die sich in diesem Zusammenhang entwickelt hat: Der Ost-West-Vergleich zielt auf eine integrierte Betrachtung von Erinnerungsdiskursen in der Nachkriegszeit und in beiden deutschen Staaten unter Einbeziehung europäischer Kontexte. ‚Vergangenheitsbewältigung‘ bezeichnet einen historisch-kritischen, vom Material zeitgenössischer Diskurse ausgehenden Ansatz, der sich absetzt von der dominanten Verwendung der Begriffe Gedächtnis und Erinnerung in kulturwissenschaftlichen und literaturgeschichtlichen Arbeiten. Ein Drittmittelantrag für ein mehrjähriges Projekt, das denselben Namen wie das Colloquium tragen sollte, wurde unter http://doi.org.de/10.1515/9783050093932-001
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Mitarbeit der Postdoktoranden Thomas Jung und Andreas Degen (bis 2002) und (seit 2004) von Simone Barck und Berthold Petzinna, die bisher am Zentrum für Zeithistorische Forschung, Potsdam, tätig gewesen waren, erarbeitet. Mit der „Einschätzung der Gutachter“ begründete die DFG 2006 die Ablehnung: „neue, für das Projekt einschlägige Diskussionen im Rahmen der ‚kulturwissenschaftlichen Wende‘ der Literaturwissenschaft […] würden offenbar nicht berücksichtigt“ (Geschäftsstelle der DFG 2006, 2). Diese Forschungen wurden im Antrag sehr wohl rezipiert, jedoch explizite Kritik an der „dominierenden Konzeption von Jan und Aleida Assmann“ (Peitsch 2005, 1) geübt: Der Übergang vom kommunikativen ins kulturelle Gedächtnis werde in der Theorie des kulturellen Gedächtnisses zur Generationenfolge erklärt und somit „naturalisiert“ (4). Auch das zweite Argument der Gutachter für die Ablehnung des Projekts richtete sich gegen das Forschungsvorhaben, diesmal nicht hinsichtlich der Methode, sondern des Gegenstands. Die Zusammenfassung des Antrags lautete: Das Projekt vergleicht den Beitrag von Literatur zur ‚Vergangenheitsbewältigung‘ in beiden deutschen Nachkriegsgesellschaften zwischen 1945 und 1972; es zielt auf die systematische Ermittlung von Ähnlichkeiten und Unterschieden, indem es Weisen der Veröffentlichung von Erinnerung an die nationalsozialistische Vergangenheit untersucht. Das Projekt geht von einer breiten Auffassung des Gegenstands ‚Vergangenheit‘ und der ‚Literatur‘ aus und fokussiert auf literarische Öffentlichkeiten. Aus der Verbindung der hermeneutischen und rezeptionsgeschichtlichen Analyse von Texten und der literatursoziologischen Analyse ihrer Veröffentlichungsbedingungen ergibt sich nicht nur die Möglichkeit einer Überwindung des engen Kanons ‚vergangenheitsbewältigender‘ literarischer Werke, sondern auch die einer Historisierung der ‚Vergangenheitsbewältigung‘ selbst. (1–2)
Die Begründung der Ablehnung lautete: „Die bedenklichste Folge dieser schematisch anmutenden Festlegung [ist] jedoch, dass die wichtigsten westdeutschen Autoren, die geradezu als Protagonisten literarischer Vergangenheitsbewältigung gelten könnten (Böll, Lenz, Grass, Andersch, Koeppen), so überhaupt nicht in den Blick gerieten und offenbar für eine Bearbeitung innerhalb des Projekts gar nicht vorgesehen seien. Angesichts einer solchen Auswahl dürfte die Repräsentativität der Ergebnisse kaum gewährleistet sein.“ (Geschäftsstelle der DFG 2006, 2) Die so begründete Ablehnung zeigt, wie wenig die theoretisch-methodische Konzeption und Auffassung des Gegenstands im Colloquium dem, was Claudia Öhlschläger (2017, 139) „hegemonial präsente“ literatur- und kulturwissenschaftliche Diskurse genannt hat, entsprechen. Trotz der ausbleibenden Projektfinanzierung konnten jedoch weite Teile des Projekts im Laufe der Jahre verwirklicht werden. Drei internationale Workshops, die von 2006 bis 2008 in Potsdam stattfanden, realisierten eine wichtige Komponente des ursprünglichen Projekts, nämlich für „synchrone Schnitte zur Rekonstruktion des Stands der öffentlichen
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(auf dem literarischen Markt zugänglichen) Erinnerung an den Nationalsozialismus“ (Peitsch 2005, 7) zu den Jahren 1950, 1960 und 1969 internationale Konferenzen zu organisieren. Nicht zuletzt durch die finanzielle Unterstützung des ersten Workshops durch die Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, des zweiten und dritten durch die Rosa-Luxemburg-Stiftung konnten Wissenschaftler_innen aus den USA, Irland, Großbritannien, Frankreich, Norwegen, Finnland, Polen und Österreich zur Debatte in Deutschland beitragen. Nach Simone Barcks plötzlichem Tod wurde 2007 der zweite Workshop zu ihrem Gedenken durchgeführt, in Kooperation mit dem Zentrum für Zeithistorische Forschung, wie dann auch der dritte. Die Fragezeichen in den Titeln der Workshops „Geteilte Erinnerung?“ für 1950, „‚Unbewältigte Vergangenheit‘?“ 1960 und „‚Geerbte Geschichte‘?“ 1969 verweisen darauf, dass diese Jahre mit der Hypothese gewählt wurden, es seien Jahre, „in denen in nicht-literarischen Dimensionen von ‚Vergangenheitsbewältigung‘ signifikante Veränderungen eintraten“ (Peitsch 2005, 7). So sprachen in der BRD für 1950 Veränderungen in der justiziellen, für 1960 in der pädagogischen sowie medialen ‚Vergangenheitsbewältigung‘ und für 1969 in den Beziehungen beider deutscher Staaten. Der Projekt-Antrag hatte damit auf ein Desiderat aufmerksam gemacht, das die oben zitierte Ablehnungsbegründung der DFG mit dem Hinweis auf einen engen, ausschließlich westdeutsche Autoren umfassenden Kanon negativ bestätigte: Die Forderung nach vergleichender Untersuchung [der beiden deutschen Nachkriegsgesellschaften] hat sich vor allem in Form der am Potsdamer Zentrum für Zeithistorische Forschung (ZZF) erarbeiteten Konzeption (Kleßmann 1999) einer „doppelte[n] Zeitgeschichte“, die „nach asymmetrischer Verflechtung in der Abgrenzung“ fragt (Bauerkämper et al. 1998, 14–15), fest etabliert. Demgegenüber fehlt für die Literaturgeschichtsschreibung eine entsprechende Position. (Peitsch 2005, 2)
In dieser Hinsicht konnten durch Arbeiten von Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern des Colloquiums1 Fortschritte erzielt werden: Einen wichtigen Beitrag zu der im Antrag vorgesehenen thematischen Komponente „Jüdische
1 Die im Kontext des Colloquiums entstandenen Dissertationsprojekte konnten durch Promotionsstipendien finanziert werden: Ulrike Schneiders Dissertation durch ein Stipendium im von der DFG und vom Land Brandenburg geförderten Graduiertenkolleg Makom. Ort und Orte im Judentum des Moses Mendelssohn Zentrums für europäisch-jüdische Studien (MMZ), Potsdam, Peter Paul Schwarz’ Arbeit durch Stipendien der Friedrich-Ebert-Stiftung und der Fazit Stiftung. Christian Ernst erhielt ein Promotionsstipendium von der Hans-Böckler-Stiftung, Sarah Dornick und Jan Kostka vom Land Brandenburg, Christoph Kapp von der Friedrich-Naumann-Stiftung im Rahmen des Walther-Rathenau-Kollegs, Konstantin Baehrens von der Hans-Böckler-Stiftung im
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Erinnerungstexte in Verlagen der Bundesrepublik und der DDR“ lieferte Ulrike Schneiders Dissertation Jean Améry und Fred Wander. Erinnerung und Poetologie in der deutsch-deutschen Nachkriegszeit (2013). Zwei weitere von Teilnehmern des Colloquiums vorgelegte Dissertationen haben die im Projekt geplante „diachrone Untersuchung des Beitrags von Erinnerungsträgern“ (6) geleistet, Peter Paul Schwarz mit seinem Buch Mitöffentlichkeit. Zur deutsch-deutschen Arbeit der Evangelischen Akademie Berlin-Brandenburg (2018) von 1951, dem Jahr ihrer Gründung, bis Ende der siebziger Jahre und Christian Ernst mit seiner Dissertation Die Weiße Rose – eine deutsche Geschichte? (2018) von 1943 bis zur Gegenwart. Zur literaturgeschichtlichen Untersuchung asymmetrischer Verflechtung in der Abgrenzung bundesrepublikanischer und DDR-Literatur haben auf dem Feld der Jüdischen Studien drei weitere Teilnehmerinnen des Colloquiums mit ihren Dissertationen beigetragen: Kornelia Papp über Deutschland von innen und von außen. Die Tagebücher von Victor Klemperer und Thomas Mann zwischen 1933 und 1955 (2006), Sabine Volk über Humane Revolte wider die Selbstaufgabe des Menschen. Jean Amérys engagierte Essayistik als Initial für eine ‚Kritische Denkpraxis‘ nach Auschwitz (2017) und Sahra Dornick über „Die Romane Gila Lustigers im Kontext von Judith Butlers Ethik“ (2017). Wegen der institutionellen Verbindung zum Moses Mendelssohn Zentrum sind neben den bisher noch nicht abgeschlossenen Dissertationen über u. a. Leonhard Frank, Peter Edel, Gisela Elsner und Helga Königsdorf vor allem drei in Graduiertenkollegs des MMZ entstehende zu nennen: Christoph Kapps Intellektuellenbiographie von Walter Boehlich im Walther-Rathenau-Kolleg zu Demokratie und Liberalismus sowie, im Ludwig-Rosenberg-Kolleg zu historischen Bezügen zwischen Arbeiterbewegung und Judentum, Konstantin Baehrens’ Dissertation über die Entwicklung von Georg Lukács’ Theorien zu NS-Ideologie und Antisemitismus und Frank Voigts zu historischem Bewusstsein und historischer Erkenntnis in der Literaturkritik Walter Benjamins. Drei ausländische Teilnehmerinnen des Colloquiums haben ihre Dissertationen in Cardiff, Oslo und Dublin erfolgreich verteidigt: 2002 Joanne Sayner „‚Frauen haben keine Vergangenheit. Oder haben keine zu haben?‘ Depiction of Fascism in Women’s Autobiographies in German“, 2007 Anette Storeide „Das Schreiben über KZ-Gefangenschaft. Eine Analyse von Zeugnissen norwegischer Überlebender des Konzentrationslagers Sachsenhausen“ und 2009 Anne Boden „Mediated Immediacy: Published Diaries of World War 2 as Media of War Remembrance in Post-War East and West Germany“. Jan Kostka stellte auf zwei der Workshops Ergebnisse zu Fotographie und Reportage im Schreiben von Klaus Schlesinger
Rahmen des Ludwig-Rosenberg-Kollegs, beide am MMZ. Frank Voigts Dissertation wird durch ein Stipendium der Rosa-Luxemburg-Stiftung ermöglicht.
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vor, die in seine 2015 erschienene Dissertation eingingen: Das journalistische und literarische Werk von Klaus Schlesinger 1960 bis 1980. Kontext, Entstehung und Rezeption. Die im Band präsentierten Ergebnisse des Colloquiums und seines Umfeldes bieten damit auch einen Einblick in Potenziale des Forschungsprojekts. Einem Teil der Beiträge liegen die Vorträge auf den zwischen 2006 und 2008 organisierten Workshops zugrunde. Die Autorinnen und Autoren wurden gebeten, neuere Forschung einzuarbeiten. Da Simone Barck sowie Silvia und Dieter Schlenstedt verstorben sind, werden ihre Beiträge auf dem damaligen Stand dokumentiert. Ein weiterer Teil der Beiträge stammt aus dem Kreis der Teilnehmenden des Colloquiums, Post-Docs und Promovenden bis 2016. Ihre Beiträge basieren auf Arbeiten für das Colloquium oder in seinem Umfeld entstandenen Dissertationen. Die Anordnung der Beiträge in vier Teilen reflektiert Begriffe, die sich in der Arbeit des Colloquiums als zentral herauskristallisiert haben. Diese Gliederung soll jedoch keineswegs darüber hinwegtäuschen, dass die den Begriffen zugrundeliegenden Problematiken eng miteinander verbunden sind, wie in den einzelnen Beiträgen deutlich wird, die sich oft mehreren Teilen zuordnen ließen. Die Problematisierung der dominanten Verwendungsweise der für die kulturwissenschaftliche Forschung zentralen Begriffe Gedächtnis und Generation (Teil I) bildet den Rahmen für Fallstudien literarischer Vergangenheitsbewältigung (Teil II). Eine mit dem Begriff Authentizität (Teil III) überschriebene Reihe von Beiträgen widmet sich literarischen und medialen Strategien und Formen der Legitimierung von Diskursen im Spannungsfeld von Fiktionalität und Faktualität. Eine weitere Gruppe von Beiträgen untersucht schwerpunktmäßig die asymmetrische Verflechtung in der Abgrenzung (Teil IV) öffentlicher Erinnerung an den Nationalsozialismus in Ost und West.
‚Gedächtnis‘ und ‚Generation‘ Gedächtnis wurde zu einem „Leitbegriff der Kulturwissenschaften“ (Assmann 2002) proklamiert; der maßgeblich von Jan und Aleida Assmann geprägte Begriff des ‚kulturellen Gedächtnisses‘ ist inzwischen nicht nur in akademischen, sondern auch in politischen, medialen und pädagogischen Diskursen etabliert worden. Der Ägyptologe Jan Assmann entwarf Ende der 1980er Jahre ein Modell hinsichtlich der Funktionsweise eines ‚kollektiven Gedächtnisses‘ von Gruppen, das einen „Übergang“ (1988, 15) von einem auf Alltagskommunikation von Zeitgenossen beruhenden ‚kommunikativen Gedächtnis‘ zu einem institutionalisierten und fixierten ‚kulturellen Gedächtnis‘ annimmt, dem auch die Literatur zugeord-
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net wird. Letzteres diene dazu, die kollektive Identität einer Gruppe zu stabilisieren und zu sichern. Verschiedene Aspekte dieses weiterhin wirkmächtigen theoretischen Rahmens sind im letzten Jahrzehnt kritisiert worden: So hat etwa Martin Sabrow den „überzeitlichen und interkulturellen Geltungsanspruch“ (2007, 389) und somit das Problem einer Universalisierung durch die Assmann’sche Modellbildung problematisiert. Ulrike Jureit kritisiert den Essentialismus des zugrundeliegenden Kulturbegriffs, der einer „Biologisierung gesellschaftlicher Phänomene“ Vorschub leiste und das ‚kollektive Gedächtnis‘ „als einen identitätsstiftenden Mechanismus ethnogenetischer Prozesse“ modelliert, in dem „ein Identitätskonzept zugrunde gelegt wird, das Homogenität voraussetzt“, die „in postsouveränen, funktional differenzierten und massenmedial geprägten Gesellschaften“ schlichtweg nicht vorhanden sei (2010, 67–68). Sie macht hierbei auf Fehlinterpretationen der für Assmann zentralen Referenz, der Überlegungen Maurice Halbwachs’ zur mémoire collective bzw. zur sozialen Rahmung individueller Erinnerung, aufmerksam. Frank Voigt, der durch die Analyse von dessen Kritik an Bergson und Durkheim bereits auf einige Probleme der Halbwachs-Lektüren bei Aleida und Jan Assmann aufmerksam gemacht hat (2014), präsentiert und kommentiert einen bisher nicht übersetzten Text von Halbwachs, der am Beispiel des kollektiven Gedächtnisses von Musikern verdeutlicht, dass für Halbwachs die Sprache die Voraussetzung für kollektive Gedächtnisprozesse bildet. Dem widerspricht, wenn in gedächtnistheoretischen Modellen unter Berufung auf Halbwachs eine zentrale Rolle von Bildern angenommen wird (Münkler 1996, 468), in denen Inhalte des kulturellen Gedächtnisses kristallisiert seien. Auseinandersetzungen um Deutungen der Vergangenheit bilden diese jedoch nicht ab. Der Antrag des Colloquiums hatte diese normative Implikation des ‚kulturellen Gedächtnisses‘ als für die „empirische, literatursoziologische und rezeptionsgeschichtliche Untersuchung hinderlich“ kritisiert, denn die „Priorisierung von Eigenart und Einheit – Identität“ führe „zur Subordination von Auseinandersetzung“ (Peitsch 2005, 4). Die damit einhergehende Ausblendung der Konflikthaftigkeit von Erinnerung kritisiert auch Cornelia Siebeck‚ die in den Texten von Jan und Aleida Assmann ein „eigentümliches Nebeneinander explizit sozial-konstruktivistischer und implizit normativ-essentialistischer Annahmen“ konstatiert und vor der „Gefahr einer Entpolitisierung und Enthistorisierung des akademischen Blicks auf gedächtniskulturelle Phänomene“ warnt (2013, 77–78). Die Theorie des ‚kulturellen Gedächtnisses‘ zeigt sich eng mit dem Konzept von ‚Generation‘ verbunden, das spätestens seit Beginn der 1990er Jahre in den deutschen Geschichts- und Kulturwissenschaften eine neue Konjunktur erfährt. Karl Mannheims Aufsatz „Das Problem der Generationen“ von 1928 bildet hierbei einen zentralen Bezugspunkt. Konstantin Baehrens wendet sich in diesem Band
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Mannheims kanonisch gewordenem Text selbst zu. Er rekonstruiert zunächst seinen argumentativen Gehalt und konfrontiert diesen mit der Rezeption des Textes nicht zuletzt im Kontext der ‚Generationenforschung‘. Diese erkennt zwar die diskursive Konstruktion von Generationenzusammenhängen sowie die Gefahr einer möglichen Homogenisierung sozialer Gruppen, hält an dem Konzept aber aufgrund eines ihm zugeschriebenen „erhebliche[n] Identitätspotential[s]“ fest, mit der Begründung, die „Frage nach der eigenen Identität [sei] immer auch eine Frage nach Herkunft und Tradition“ (Jureit 2006, 124–125). In dieser Affirmation kollektiver Identität ergeben sich Parallelen zur Gedächtnistheorie, zumal wenn zwischen individueller Erfahrung und Kollektiv vermittelt werden kann. Da Generationen als „Erinnerungsgemeinschaften“ aufgefasst werden, wird in den Untersuchungen Aleida Assmanns zur deutschen Erinnerungskultur dem „Generationswechsel“ eine entscheidende Bedeutung zugeschrieben (2007, 27). Den gedächtnistheoretischen Grundannahmen folgend werden Veränderungen in der Erinnerung an den Nationalsozialismus generationell erklärt: „In Deutschland z. B. wurde das repressive und komplizitäre Beschweigen der historischen Schuld, das in der westdeutschen Gesellschaft […] bis in die sechziger Jahre anhielt, von den Vertretern einer jüngeren Generation, den 68ern, gebrochen“ (27), deren Erinnerungsstil „von Betroffenheit und Schuldbewusstsein geprägt war“ und inzwischen von einem „‚ideologiefreien‘ Umgang mit Erinnerungskonstruktionen“ abgelöst worden sei (277–278). Die hier zugrundeliegende Annahme eines generationellen Wandels der Erinnerung legt die Frage nahe, inwieweit sich in Aleida Assmanns Konzeption von Erinnerungskultur gedächtnistheoretische Implikationen, Interpretationen deutscher Zeitgeschichte und normative Aussagen zur Erinnerung an den Nationalsozialismus gegenseitig bedingen. Dieser Problematik unterliegt auch Aleida Assmanns Einteilung von „Phasen deutscher Erinnerungsgeschichte“ (1999, 143): Bis 1957 heißt die „Abwehr“ der Erinnerung in der ersten Phase „Vergangenheitspolitik“ und wird von Assmann gleichgesetzt mit „kommunikativem Schweigen“ (143–144); die „zweite Phase von 1958 bis 1984“ heißt „Kritik der Vergangenheitsbewältigung“, die gleichzeitig durch im „Engagement der 68er Generation kulminier[ende]“ Kritik an der „Nichtbewältigung“ (144) charakterisiert gewesen sei; für die dritte Phase „ab 1985“ (144) der „Vergangenheitsbewahrung“ behauptet Assmann, dass „nicht nur die Formen der ‚Vergangenheitsbewältigung‘ kritisiert, sondern das Konzept als solches verabschiedet“ worden sei (146).
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‚Vergangenheitsbewältigung‘ Seit der Mitte der 1980er Jahre ist einerseits die fortdauernde Verwendung älterer, als alternativ (Sabrow 2002; Jureit und Schneider 2010, 13) verstandener Konzepte zu verzeichnen: Aufarbeitung (Adorno 1963) und Trauerarbeit (Mitscherlich 1967), andererseits die Ersetzung des Begriffs Vergangenheitsbewältigung durch – dem Anspruch nach – deskriptive Bezeichnungen: Umgang (Dudek 1992), Erinnerungskultur (Assmann 1999), Vergangenheitspolitik (Frei 1996) und Geschichtspolitik (Wolfrum 1999). Es fällt jedoch auf, dass diese übergreifenden, sich nicht spezifisch auf den ‚NS-Diskurs‘ beziehenden Konzepte von ihren Vertretern historisch in Beziehung zu ‚Vergangenheitsbewältigung‘ gesetzt worden sind. Frei z. B. benutzt den Begriff „Vergangenheitsbewältigung“ positiv (2005, 26) für eine vom Ende der 1950er bis zum Ende der 1970er Jahre reichende Phase. Er bestimmt sie einerseits als „Bruch“ mit der vorangegangen „Vergangenheitspolitik“ (34) und grenzt sie andererseits als „Erinnerungskampf“ von einer darauffolgenden Phase der „Erinnerungskultur“ ab, die er als „Vergangenheitsbewahrung“ auffasst (34). Dass auch die Exponenten der Alternativbegriffe ‚Vergangenheitspolitik‘ und ‚Erinnerungskultur‘ auf ‚Vergangenheitsbewältigung‘ zurückgreifen, zeigt nicht nur die im Material begründete Unvermeidbarkeit, sondern auch die Notwendigkeit der Historisierung2 und Differenzierung. Schon vor den 1980er Jahren war der Begriff kontrovers: Hans Magnus Enzensberger hatte „Vergewaltigung“ aus ‚Vergangenheitsbewältigung‘ herausgehört (1962, 22) und Axel Eggebrecht 1979 über die Bundesrepublik geschrieben: „Die Vergangenheit wurde buchstäblich ‚bewältigt‘; aus dem Gedächtnis getilgt, […] so gründlich, wie das vor drei Jahrzehnten auch die erklärtesten Pessimisten nicht voraussahen“ (Eggebrecht 1979, 10). Im Vergleich zu seinen gegenwärtig gebräuchlichen Konkurrenten fallen somit zwei entschiedene Vorteile des Begriffs ‚Vergangenheitsbewältigung‘ ins Gewicht: er wird zum einen nicht nur überwiegend als historisch entstanden und sich verändernd aufgefasst, sondern er hat vor allem in seinen durchaus unterschiedlichen Verwendungen einen eindeutigen Bezug auf das Verhältnis von jeweiliger Gegenwart der Bundesrepublik und NS-Vergangenheit bewahrt (Schilling 2002, 10; Hardtwig 2007, 171). Zum anderen umfasst kein anderer Begriff „mehr Dimensionen“ (Fischer und Lorenz 2007, 14). Mehrdimensionalität ist nicht nur von den
2 Die Geschichte des Begriffs ist bisher vor allem von Politologen, Soziologen und Historikern geschrieben worden; am breitesten rezipiert worden sind die knappen Abrisse von Grete Klingenstein 1988, Andreas Maislinger 1990 und Peter Dudek 1992; wichtige Korrekturen zur Frühgeschichte finden sich bei Michael Kohlstruck 1997 und Wolfgang Hardtwig 2007, eine Zusammenfassung bei Peter Reichel 2001 und Material bei Eitz und Stötzel 2007.
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Begriffsgeschichten rekonstruiert worden, sondern schon in der Unterschiedlichkeit der Begriffsverwendung im Material selbst historisch gegeben. Die Erforschung dieser Mehrdimensionalität wurde in den 1990er Jahren als Desiderat angemeldet. Maislinger, der vier Dimensionen der Vergangenheitsbewältigung unterschied: die strafrechtliche, die finanzielle, die psychologisch-pädagogische und die politische, formulierte als erster: „Was jedoch weitgehend fehlt, ist eine Diskussion der Beziehungen dieser verschiedenen Maßnahmen.“ (Maislinger 1990, vgl. auch Bergmann 1992, 343, sowie Garbe 1993, 693). Auch wenn in der politologischen, soziologischen und historischen Forschung keine Übereinstimmung darüber besteht, welche Dimensionen von Vergangenheitsbewältigung zu unterscheiden sind, zeichnen sich deutlich wiederkehrende Differenzierungen ab, die sich folgendermaßen schematisieren lassen: Sozialstruktur (klassisch formuliert bei Adorno 1963), politisches System (zentral für König und Kohlstruck 1998), Justiz (Strafverfolgung und Wiedergutmachung) (Frei 1996; schon im Titel von Weinke 2002), Sozialpsychologie/Mentalität (Adorno 1963 und Mitscherlich 1967), Pädagogik (Albrecht et al. 2000), (Geschichts-)Wissenschaft (Reichel 1995), Medien (Classen 1999). Politik, Wissenschaft und Kunst werden durch diese Differenzierungen gerade nicht als Einheit angenommen. Die Untersuchung der Diskurse über den Nationalsozialismus entgeht so der Gefahr einer Kulturalisierung, der etwa Jörn Rüsens Konzept einer ‚Geschichtskultur‘ Vorschub leistet, welche „die unterschiedlichen Strategien der wissenschaftlichen Forschung, der künstlerischen Gestaltung, des politischen Machtkampfes […] so in den Blick“ nehmen will, „daß sie alle als Ausprägungen einer einzigen mentalen Kraft begriffen werden können“, und „die Funktionen der […] Erinnerungsmodi in die übergreifende Einheit der historischen Erinnerung“ synthetisiert (Rüsen 1994, 4). Die ein breites thematisches Spektrum abdeckenden Beiträge dieses Teils haben den gemeinsamen Nenner, dass sie durch Untersuchung von Debatten in literarischen Öffentlichkeiten aufzeigen, wie Literatur die verschiedenen Dimensionen von ‚Vergangenheitsbewältigung‘ aufgreift und verschiedene Aspekte der NS-Geschichte bearbeitet. Die hiermit verbundenen Deutungen sind ebenso plural wie kontrovers. Dazu gehören Thematisierungen von Krieg, politischer und rassistischer Verfolgung‚3 aber auch Widerstand in ihrer Relevanz für die jeweilige
3 „Wir definieren hier den Holocaust als die gezielte Massenermordung und -internierung von Juden und anderen Gruppen (Polen, Sinti und Roma, sowjetische Kriegsgefangene, politische Gefangene und Homosexuelle) durch den deutschen NS-Staat während des Zweiten Weltkrieges.“ (Young 1994, 21) Diese Definition des Kurators der Ausstellung The Art of Memory. Holocaust Memorials in History im Jewish Museum in New York, James E. Young, wurde vom Deutschen Historischen Museum 1994 entfernt, als es die Ausstellung ‚übernahm‘, allerdings nicht aus dem Begleitbuch.
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Gegenwart. Um Positionen und Positionierungen zu verstehen, ist es notwendig, Peter Burkes Unterscheidung der Sphären offizieller, öffentlicher und privat-alltäglicher Erinnerung und der Herausarbeitung von „Erinnerungsträgern“ und „Gruppenerinnerungen“ (1991, 291) folgend, die Rolle von Erinnerungstexten in der Öffentlichkeit im Verhältnis zur offiziellen Erinnerung, zu öffentlich konkurrierender Erinnerung, zur privat-alltäglichen Erinnerung von Adressaten und im Austausch zwischen den Öffentlichkeiten zu rekonstruieren.
‚Authentizität‘ Die öffentliche Erinnerung an den Nationalsozialismus zu rekonstruieren bedeutet zugleich, Prinzipien von Selektivität und Hierarchisierung zu ermitteln, die Einschlüsse und Ausschließungen regeln. Hieraus folgt eine Problematisierung des fiktionale und nicht-fiktionale Texte und Darstellungen gleichermaßen betreffenden neueren Begriffs der ‚Authentizität‘, eng verbunden mit dem bereits in der unmittelbaren Nachkriegszeit verwendeten des ‚Zeugnisses‘. ‚Authentizität‘ und ‚Zeugenschaft‘ betreffen sowohl Gegenstand, Medium, Inhalt und Form von Darstellungen; sie bezeichnen nicht inhärente Eigenschaften eines Textes, sondern verweisen vielmehr auf Fragen der Adressierung, Darstellungsweise und Sagbarkeit sowie Zuschreibung, Legitimierung und Autorisierung in Prozessen der Produktion, Distribution und Rezeption. Diese manifestieren sich nicht zuletzt in ästhetischen Debatten und Wertungen der Kritik, welche sich damit als immanent politisch erweisen. Sie sind wichtige Quellen für Forschungen zu öffentlicher Erinnerung, da hier Ein- und Ausschlusskriterien immer wieder neu verhandelt werden. Besondere Brisanz entfalten diese Fragen bei Darstellungen des Holocaust, der Aleida Assmann zufolge „das Paradigma von Zeugenschaft“ (Assmann 2007, 33–34) bildet. Jedoch waren Debatten um Zeugenschaft, Darstellbarkeit und Fiktionalisierung des Holocausts nicht erst in den 1980er und 1990er Jahren virulent, gerade auch in Bezug auf das Medium Film. Schon in der unmittelbaren Nachkriegszeit wurde diskutiert, wer in welcher Form was legitim bezeugen kann oder welche Art von Darstellungen dem Gegenstand angemessen ist. Authentizität konfligiert hierbei gerade in Bezug auf literarische und filmische Darstellungen mit der Fiktionalisierung biografischer Erfahrung und nicht zuletzt traumatischer Erlebnisse. Nicht als essenzielle, sondern als analytische Kategorie gefasst, rücken Prozesse der Authentifizierung und Legitimierung von Interpretationen der Vergangenheit, die Konstruktion von Autorität im Veröffentlichungskontext in den Blick. Ira Diedrichs Beitrag etwa problematisiert am Beispiel von Paul de Man das Verhältnis von Authentizität und Fiktionalität. Dass die mit dem Begriff Authentizität verbundenen Diskussionen nicht nur den Holocaust,
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sondern auch die Bereiche Krieg und Widerstand betreffen, demonstriert exemplarisch der Aufsatz von Isabella von Treskow. Simone Barcks und Magdalena Saryusz-Wolskas Beiträge zeigen zudem, dass Problematiken legitimer Zeugenschaft des Holocaust in Literatur und Film im Kalten Krieg nicht nur im Westen, sondern auch im Osten diskutiert wurden.
Asymmetrische Verflechtung in der Abgrenzung Die Vernachlässigung von Diskursen in der DDR und in Osteuropa in den gedächtnistheoretisch inspirierten Arbeiten zur Erinnerungskultur ist auf ihnen zugrunde liegende Annahmen zurückzuführen. Aleida Assmann führt die Entstehung der deutschen Erinnerungskultur auf einen doppelten Bruch 1989 zurück: Mit dem Fall der Berliner Mauer und des Kommunismus „brach gleichzeitig noch etwas anderes zusammen, nämlich der Modernisierungsglaube mit seiner Zukunftserwartung und Vergangenheitsvergessenheit“ (2013, 10). Die Annahme eines Endes der Ideologien, das mit dem der deutschen Teilung und der Durchsetzung ‚westlicher Demokratie‘ in Korrespondenz gebracht wird, schließt dabei keineswegs nur an konservative Positionen an, sondern entfaltet ein breites Konsenspotenzial, indem die Diktaturen der Vergangenheit zum Fokus ‚kollektiver Erinnerung‘ erklärt werden. Dabei wird Erinnerung in Demokratien in einen Gegensatz zu der in „totalitäre[n] Gesellschaften“ gebracht, welche „versuchen […] die Vergangenheit nach dem Bilde ihrer jeweiligen Machtinteressen zu formen“ und „die subjektive Kraft der persönlichen Erinnerung, die dieser Fiktion ein Veto entgegensetzen könnte“, unterdrücken (19–20). Assmann verbindet einen antitotalitären Konsens normativ mit der Funktionalisierung von Geschichte für nationale Identität: „Im Medium der Erinnerung vergewissert sich die Nation ihrer Geschichte.“ (29) Die Theorie des kulturellen Gedächtnisses und Assmanns Ausführungen zur deutschen Erinnerungskultur beruhen damit in ihren Prämissen auf den Diskursen, die sie vorgeben zu analysieren. Idealtypische Vorstellungen politischer Systeme in der binären Gegenüberstellung von ‚Diktatur‘ und ‚Demokratie‘ der Totalitarismustheorie und die Konzeption der Nation als ‚Erinnerungsgemeinschaft‘ im Singular führen zu einer Blindheit gegenüber der beziehungsgeschichtlichen Dimension der öffentlichen Erinnerung nach 1945, die durch die von Christoph Kleßmann geprägte Formel der „asymmetrisch-verflochtenen Parallelgeschichte“ (2005, 20–37) beschrieben werden kann. Dies setzt jedoch voraus, Diskurse über die NS-Vergangenheit ausgehend vom Material und den zeitgenössischen Bedingungen seiner Veröffentlichung zu analysieren, nicht als nationale über ‚Identität‘, sondern unter Einbeziehung des europäischen Kontexts. Die Beiträge dieses Teils, in dem auf polnische Kontexte Bezug genommen wird, wie in vor-
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angehenden auf französische, britische, niederländische, belgische, italienische, sowjetische und polnische, zeigen, dass sich durch die beziehungsgeschichtliche Betrachtung öffentlicher Erinnerung für sicher geglaubte Befunde erinnerungskultureller Forschung als einseitig erweisen und rekontextualisiert werden müssen – ein Anspruch, der dem Band als Ganzes zugrunde liegt und zu dem er weitere Anregungen geben möchte.
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I ‚Gedächtnis‘ und ‚Generation‘
Die 1960 von dem 1953 in die DDR übergesiedelten Schriftsteller Jens Gerlach und dem Komponisten Paul Dessau initiierte Komposition Jüdische Chronik wurde zusammen mit den Komponisten Boris Blacher, Karl Amadeus Hartmann und Hans Werner Henze im Westen und dem in der DDR lebenden Rudolf Wagner-Régeny 1961 verwirklicht, aber infolge des Mauerbaus erst 1966 in Köln und Leipzig uraufgeführt. [Boosey & Hawkes Bote & Bock GmbH, Berlin]
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Bilder, Sprache – Töne, Notenschrift Maurice Halbwachs’ Aufsatz „Das kollektive Gedächtnis bei den Musikern“ im Kontext seines Werks Gerade das Lesen bringt die Menschen […] auf vielerlei Weisen mit ihrer Gruppe in Verbindung: Plakate, Zeitungen, Schulbücher, populäre Romane, Geschichtsbücher, usw. erlauben es ihnen, sich einer Menge von kollektiven Denkströmungen in kurzer Zeit zuzuwenden, und ihr gesellschaftlicher und folglich ihr intellektueller Horizont wird sehr eingeschränkt werden, wenn alle diese Tore sich vor ihnen verschließen. (Halbwachs 1985, 104)
Angesichts der Vielfalt der möglichen Mittel und Medien, die die Menschen Maurice Halbwachs zufolge zu kollektiven Denkströmungen in Beziehungen setzen, fällt die Spezifik der seit den 1980er Jahren verstärkt einsetzenden deutschen Halbwachs-Rezeption auf. Der kritisch an Halbwachs anschließende Begriff des ‚kulturellen Gedächtnisses‘ wurde zwar weitgehend institutionalisiert, die Arbeiten, die von ihm als einer methodischen Prämisse ausgehen, sind kaum zählbar, doch Forschungen zum zentralen Referenzautor und theoretischen Begründer ‚kollektiver Gedächtnisse‘, dem 1877 in Reims geborenen Soziologen, sind, zumal in Deutschland, relativ überschaubar. Dieser Umstand bedingt einen weiteren. Halbwachs ist seit den 1990er Jahren vor allem in den Kulturwissenschaften kanonisiert worden‚1 und unter seinen vielen Interessen, Arbeiten und Gegenständen sind es vor allem sein Buch Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen (Les cadres sociaux de la mémoire) von 1925, das postum veröffentlichte Das kollektive Gedächtnis (La mémoire collective) sowie die Studie Stätten der Verkündigung im Heiligen Land (1941), die im Zentrum der Rezeption stehen. Vor dem Hintergrund dieser kulturwissenschaftlichen Kanonisierung verspricht der erstmals ins Deutsche übersetzte Aufsatz „Das kollektive Gedächtnis bei den Musikern“ von besonderem Interesse zu sein. Nicht nur, weil sein Thema, das ‚kollektive Gedächtnis‘ von Musikern, den Themen und Gegenständen in den Literatur- und Kulturwissenschaften mitunter näher kommt als die genannten Bücher. Halbwachs eröffnet in diesem Aufsatz Parallelen und zieht Vergleiche zur Literatur, vor allem zum Theater. Der Text enthält eine Reihe theoretischer und methodologischer Reflexionen zum Verhältnis von Sprache, Schrift, Gedächtnis
1 Nünning 2005, 48–50. Vgl. dagegen die beiläufigen Erwähnungen Halbwachs’ im Handbuch Soziologie im Abschnitt über Wissen und Wissenssoziologie (Baur et al. 2008, 479) sowie im ISA Handbook of Diverse Sociological Traditions (Patel 2010, 78). http://doi.org.de/10.1515/9783050093932-002
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unter Musikern und in der Musik. Darüber hinaus leitet dieser erstmals 1939 in der Revue philosophique erschienene Artikel die kritische Neuedition von La mémoire collective durch Gérard Namer als erstes Kapitel ein, da Halbwachs, so Namer, in den nachgelassenen Manuskripten zum geplanten Buch, vor allem im dritten mit Aufzeichnungen von 1935–1938, so häufig auf diesen Aufsatz Bezug genommen habe, dass ihm seine geplante Integration in das Buch als wahrscheinlich galt. Zugleich bezieht sich Namer auf einen – durch die Philosophin Jeanne Alexandre, Halbwachs’ Schwester und erste Herausgeberin des Buchs von 1950, damals allerdings ohne diesen Aufsatz – ‚mündlich überlieferten‘ Wunsch ihres Bruders, den Aufsatz an den Anfang des Buchs zu setzen (Halbwachs 1997, 8, 12, 253). Von dieser Frage abgesehen, es lohnt sich, für die Lektüre dieses Aufsatzes, Leben und Werk des französischen Soziologen unter einem breiteren Blickwinkel zu betrachten.2 Halbwachs, Sohn eines Deutschlehrers aus dem Alsace, studierte Philosophie an der Pariser École normale supérieur (1898–1901), erhielt 1901 die Aggrégation und arbeitete als Gymnasiallehrer; zunächst im von Frankreich während der Juli-Monarchie 1837 eroberten und kolonialisierten algerischen Constantine, dann in Montpellier, Reims, Tours und Nancy (vgl. Montigny 2005, 6). Zwischenzeitlich kam er 1904 bis 1905 als Lektor und Mitglied der deutsch-französischen Kommission für die internationale Ausgabe der Schriften von Gottfried Wilhelm Leibniz nach Göttingen (vgl. Wetzel 2009, 18), 1907 erschien seine Monographie Leibniz. Nach seiner Rückkehr aus Göttingen studierte Halbwachs Ökonomie, Jura und Mathematik an der Pariser Sorbonne, trat der Redaktion von Durkheims L’Année sociologique bei, der gerade gegründeten sozialistischen Partei SFIO (Section française de l’Internationale ouvrière) und schrieb für die Monatszeitschrift Revue socialiste sowie für die Revue syndicaliste. In seiner Dissertation Les expropriations et les prix des terrains à Paris. 1860–1900 über die Entwicklung der Bodenpreise in der Folge der Umgestaltung von Paris im Nachgang der Revolution 1848 nach den Plänen Georges-Eugène Haussmanns – einer Arbeit, die sein mit François Simiand geteiltes methodisches Interesse für empirische sozialwissenschaftliche Forschung dokumentiert – untersuchte Halbwachs Gründe für den starken, stoßweisen Anstieg der Bodenpreise im Pariser Zentrum, der mit einer Bevölkerungsbewegung vom Zentrum an die Peripherie einherging. Der Anstieg der Bodenpreise sei dabei Folge von Veränderungen der, so Halbwachs, allein ‚kollektiv‘ zu verstehenden ‚Bedürfnisse‘ (der Industrie, des Verkehrs) der Bewohner der Stadt (Halbwachs 1910a, 771).
2 Vgl. hierzu vor allem die von Stephan Egger übersetzte und herausgegebene Reihe verschiedener Texte von Halbwachs in der édition discours bei UVK.
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1909 kommt Halbwachs nach Berlin, um neben dem Studium der Nationalökonomie Material für seine zweite Qualifikationsschrift zu Untersuchungen von „Bedürfnishierarchien und Lebensstandards der Arbeiterklasse in zeitgenössischen industriellen Gesellschaften“ zu sammeln.3 Halbwachs hat kein marxistisches Verständnis von Klassen als bestimmt durch ihre Beziehung zueinander im Prozess gesellschaftlicher Produktion aufgrund ihres Eigentums oder NichtEigentums an Produktionsmitteln, denn, so Halbwachs 1905, „der Inhalt des sozialen Bewußtseins deckt sich weder mit der jeweiligen ökonomischen Wirklichkeit, noch entspricht seine Richtung ihrem tatsächlichen Entwicklungssinn“ (Halbwachs 2001a, 30). Halbwachs grenzt sich – wie auch Jean Jaurès (vgl. Jaurès in: Fetscher 1973, 125) sowie zeitgenössisch innerhalb des Marxismus etwa Georgi V. Plekhanov (1946, 6–12) oder Antonio Labriola (1974, 154) – von einem Marx zugeschriebenen deterministischen Zusammenhang zwischen sozialem Sein und Bewusstsein ab (Halbwachs 2001a, 29–30).4 Er sucht Klassen – auch gegen utilitaristische Ansätze in neoklassischen Theorien – im Anschluss an Durkheim in den kollektiven Vorstellungen der Menschen aufzufinden und dort voneinander abzugrenzen. Dabei stellt Halbwachs Verbindungen zur Art und Umgebung der beruflichen Tätigkeit, zum städtischen oder ländlichen Lebensraum, zu Einkommen, Lebensstandard und Lebensstil her und zieht, so auch im größten Teil seiner Habilitation zur Arbeiterklasse, ein aus statistischen Werken über Haushaltsrechnungen interpretiertes Konsumtionsverhalten bei Ernährung, Kleidung und Wohnung heran, aus dem klassenspezifische ‚Präferenzen‘ abgeleitet werden.5 Halbwachs’ Erarbeitung einer Theorie kollektiver Gedächtnisse steht bis zuletzt in diesem theoretischen Zusammenhang (Halbwachs 2001c [1938], vgl. Egger 2003, 233–234). Sie ist auch eine Antwort auf die relative Trägheit sowie die Veränderungen sozial geteilter Vorstellungen, der Wege ihrer Verbreitung und Tradierung.6 Berlin musste Halbwachs im Dezember 1910 verlassen. In der L’Humanité vom 31. Oktober (anonym) und vom 1. November 1910 hatte er über das Vorgehen der preußischen Polizei bei einem Solidaritätsstreik von Metzgergehilfen für einen entlassenen Kollegen in der Weddinger Schererstraße berichtet (vgl. Halbwachs
3 Maurice Halbwachs. La classe ouvrière et les niveaux de vie. Recherches sur la hiérarchie des besoins dans les sociétés contemporaines. Paris: Alcan, 1913. 4 Vgl. hierzu das Zitat aus Karl Mannheims „Das Problem der Generationen“ (1928) im Beitrag von Konstantin Baehrens: Mannheim 1964, 549. 5 Vgl. Halbwachs 2001b [1926], die Rezension von Robert Meyer (1915) sowie den lesenswerten Aufsatz von Christian de Montlibert (2003, hierzu besonders 34–42). 6 Vgl. dagegen die Interpretation Aleida Assmanns (2006, 159), nach der es für Halbwachs „undenkbar“ gewesen sei, „dass die Vergangenheit überhaupt eine gewisse Macht und einen Einfluß auf die Gegenwart ausüben könnte“.
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1910b). Vom Berliner Polizeipräsidenten Traugott von Jagow (1865–1941) – im März 1920 kurzzeitiger ‚Innenminister‘ der Kapp-Putschisten – wird Halbwachs am 19. Dezember 1910 als „lästiger Ausländer ausgewiesen“.7 Halbwachs’ Artikel allein können diese Ausweisung nicht erklären. Sie steht auch im Kontext des sozialdemokratischen Kampfes gegen das preußische Dreiklassenwahlrecht, der konfliktreichen Reichstagssitzungen zum Haushalt 1911 und eines Streiks von Kohlenarbeitern in Moabit im September 1910, in deren Nachgang ein in der Öffentlichkeit debattierter Gerichtsprozess zum Zeitpunkt der Ausweisung noch nicht abgeschlossen war. Auch Halbwachs hatte in seinem Artikel „Les Troubles de Berlin“ vom 1. November die „Unverhältnismäßigkeit“ der von Polizisten ausgehenden Gewalt und den Anlass des Streiks mit der räumlichen und zeitlichen Nähe zum Streik im benachbarten Moabit in Verbindung gebracht.8 Es ist zumindest ebenso denkbar, dass den Auslöser der Ausweisung ein mit „Bracke“ unterzeichneter L’Humanité-Artikel „Au Reichstag“ vom 16. Dezember darstellt, der von „Tumulten“ anlässlich der Debatten über das Budget schrieb und die „Troubles de Moabit“, den Gerichtsprozess und die internationalen Kundgebungen in Frankfurt und London in einen Zusammenhang brachte (Bracke 1910).9
7 Vgl. das Dokument abgedruckt in: Krapoth und Laborde 2005, 49. 8 Bereits im ersten Satz deutete er diesen Zusammenhang an: „Neue Unruhen schweren Ausmaßes sind gestern Abend im Wedding, einem nördlichen Vorort von Berlin, in der Nähe Moabits ausgebrochen.“ (Halbwachs 1910b) Die Streikwelle war eine Reaktion auf steigende Mieten und Lebensmittelpreise, besonders für Fleisch, bei gleichzeitig stagnierenden Löhnen – und vor allem steigende Mieten und kommunale Bodenpolitik hatte Halbwachs in einer 1908 veröffentlichten Broschüre für Paris, im Vergleich zu Berlin und London, untersucht (vgl. Halbwachs 1908, 3–4, 11–13), die in der Reihe „Les cahiers du socialiste“ im Verlag der SFIO erschien und für 15 Centimes erworben werden konnte. 9 Nicht nur, weil zwischen der Veröffentlichung von Halbwachs’ Artikel und der Ausweisung mehr als sechs Wochen vergingen, erscheint es unwahrscheinlich, dass der Grund der Ausweisung in Halbwachs’ Artikeln allein (vgl. Lepenies 2005, 30) zu suchen ist. Auch wenn von Jagow ohne Absprache handelte, richtete sie sich ebenso gegen L’Humanité, die den seit Anfang 1910 verstärkten Kampf der SPD gegen das preußische Dreiklassenwahlrecht mit regelmäßigen, prominent platzierten Beiträgen auf den Titelseiten unterstützte (Remy 1910a) und über das Vorgehen preußischer und deutscher Polizisten mit Säbeln und Schusswaffen gegen Demonstrierende berichtete (Pressense 1910). Ihr Herausgeber Jean Jaurès hatte am 11. September 1910 bei einer von der SPD organisierten Demonstration im preußischen Frankfurt am Main vor 20–30.000 Menschen eine Rede (auf Deutsch) gehalten („Die internationale Kultursolidarität“ 1910b), die auch vom nationalliberalen Berliner Tageblatt sehr positiv aufgenommen worden war („Das internationale Sozialistenmeeting“ 1910a) und an die L’Humanité am 12. Dezember 1910 erinnerte (Dubreuilh 1910). Die Zeitung schrieb über den steigenden preußischen Landesetat für die Ausstattung der Polizei in Preußen u. a. gegenüber dem für medizinische Versorgung, hatte den Etat mit dem sozialdemokratischen Kampf gegen das Dreiklassenwahlrecht in Verbindung gebracht
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Der Eindruck preußischer Beamter war bei Halbwachs ein nachhaltiger. Noch 1940 zitierte er in einem autobiographischen Text über diese Episode Notizen seiner damaligen Eindrücke, als er in das Berliner Polizeipräsidium am Alexanderplatz bestellt worden war und dort, um in die entsprechende Abteilung zu gelangen, „kilometerlange Korridore durchlaufen und unzählige Treppen steigen“ musste. „Schließlich“, so Halbwachs, trete ich in einen großen Raum ein. Er ist voller Männer, alle stehen, tragen keine Kopfbedeckung und sind kaum voneinander zu unterscheiden: der Typ des preußischen Unteroffiziers, in Wahrheit die Berliner Sicherheitspolizei. Durch den Rauch ihrer Zigarren mustern sie mich. Ich spüre ihre kalten, bösen Blicke, die mich zu photographieren scheinen und wie Fliegen an mir haften, während ich nahe der Tür stehenbleibe. (Halbwachs 2005, 51)
Hatte Jean Jaurès, Vorsitzender der SFIO, vor einem großen Krieg gewarnt und wurde dafür am 31. Juli 1914 von einem französischen Nationalisten ermordet, so stimmte Halbwachs dem Krieg zu. Es sei ein „letzter“, notwendiger Krieg, der sich eigentlich für den Frieden, gegen den „Krieg schlechthin“ wende, wie er am 19. August 1914 in einem Brief an seine Frau, Yvonne Halbwachs, schrieb, denn das größte Hindernis für den Frieden sei das militaristische Preußen; gleichwohl erkannte er, dass der Kriegseintritt eine „Periode“ mit sich bringen werde, in der die „militärische Kaste“ auch in Frankreich „ihr Haupt erhebt“ (Becker 2003, 40). Halbwachs erhielt 1919 eine Professur für Soziologie und Pädagogik an der wieder französisch gewordenen Université de Strasbourg, wo er auf die Historiker und Begründer der Annales-Schule Marc Bloch und Lucien Febvre trifft, mit denen er ab 1929 gemeinsam die Annales d’histoires économique et sociale herausgibt. Nach einer Gastprofessur in Chicago wird er 1935 nach Paris an die Sorbonne berufen, ehe er im Mai 1944 ins Collège de France gewählt wird. Gut zwei Monate später, am 26. Juli 1944, wird Halbwachs, Mitglied des 1934 gegründeten Comité de vigilance des intellectuels antifascistes (deren Mitglieder in der Mehrheit der europäischen Politik des Appeasements kritisch gegenüberstanden), seine Söhne hatten sich der Resistance angeschlossen, von der Gestapo verhaftet, als politischer Häftling ins Gefängnis in Fresnes gesperrt und im August mit seinem Sohn Pierre nach Buchenwald verschleppt, wo er nach Krankheit und Erschöpfung wenige Woche vor der Befreiung am 16. März 1945 im ‚kleinen Lager‘ stirbt, d. h. ermordet wurde.
(Remy 1910b) und berichtete am 2. Oktober 1910 über Misshandlungen von drei englischen und einem amerikanischen Journalisten durch die preußische Polizei im Kontext der Moabiter Septemberstreiks und recht abenteuerliche Rechtfertigungen seitens der Behörden (Jongh 1910).
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1 Bergsons Konzeption von Gedächtnis und Erinnerungsbildern Es ist kein Zufall, dass Halbwachs an zentralen Stellen von „Das kollektive Gedächtnis bei den Musikern“, vor allem im zweiten Abschnitt, immer wieder auf Argumente Henri Bergsons zurückkommt. Er präsentiert sie als Einwände gegen seine Argumentation, um letztere mit ihrer Hilfe zu vertiefen. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Aufsatzes 1939 war Bergson der vielleicht wirkmächtigste philosophische Autor in Frankreich. Die Kenntnis von Begriffen und Theoremen Bergsons setzt Halbwachs daher voraus. Schon im ersten Teil seines 1925 veröffentlichten Buchs Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen hatte Halbwachs seine Theorie in einer Auseinandersetzung mit seinem früheren Lehrer am Lycée Henri IV. entwickelt. Bergson hatte in Materie und Gedächtnis (1896) zur sogenannten Grundfrage der Philosophie, dem Verhältnis von Sein und Bewusstsein, eine Reihe von Thesen aufgestellt, die eine Vermittlung zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Bewusstsein und Materie vorschlugen. Dem Gedächtnis kam dabei eine zentrale Rolle zu und Bergson unterschied zwischen zwei Formen, wenngleich beide miteinander interagierten: einem Körpergedächtnis der Routinen und Gewohnheiten („habitudes“), das einem motorischen Gedächtnis körperlicher Bewegungen entspricht, welches durch Übung und Wiederholung etabliert werde, und einem Bildergedächtnis („mémoire pure“), in dessen ‚reiner‘ Form jedes einst wahrgenommene Detail, die „gesamte Vergangenheit“ virtuell in Form von Erinnerungsbildern („images-souvenirs“) vollständig aufbewahrt sei (Bergson 1991, 70). Die eigentliche Erinnerung, so Bergsons These, vollziehe sich in Bildern, wobei er den Begriff in zweierlei Hinsicht sehr weit und untypisch verwendete. Einmal, weil Bergson unter Bildern sowohl visuelle, akustische als auch verbale ‚Eindrücke‘ fasste, und dann, weil „Bilder“, wie Bergson 1910 im Vorwort zur 7. Auflage schrieb, „halbwegs“ zwischen dem ‚Ding‘ und der ‚Vorstellung‘ angesiedelt seien (I). Bergson verwendete den Begriff ‚Bild‘ also in doppelter Hinsicht als Scharnierbegriff, hielt ihn, wie auch den ‚Leib‘, in einer Spannung zwischen Materialität und Bildhaftigkeit in der Richtung einer zu bewerkstelligenden ‚Vermittlung‘ zwischen Objekt und Subjekt. Der Abruf dieser Erinnerungsbilder unterliege nicht der Kontrolle des Bewusstseins, wohl aber seien sie, markiert mit einem zeitlichen und räumlichen Index, dem Moment ihrer ursprünglichen Wahrnehmung, in der Dauer („durée“) abgelegt (68–71). Unter dieser Dauer versteht Bergson eine vom Bewusstsein erlebte, elastische Zeit. Sie könne sich je nach Grad der Spannung (bei hoher Konzentration) oder Entspannung (in Kontemplation, Hypnose, Schlaf und Traum) zusammenziehen oder ausdehnen. Die „durée“ wird von einem homoge-
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nen, teilbaren, naturwissenschaftlichen Zeitbegriff („temps“) abgesetzt, dessen Anwendung auf Phänomene des Bewusstseins im Zentrum von Bergsons Kritik steht (204). Bereits zuvor, in Zeit und Freiheit, hatte Bergson versucht zu zeigen, wie eine „künstliche“, naturwissenschaftliche, letztlich räumliche Konzeption der Zeit entlang einer mess- und einteilbaren homogenen Linie die subjektive Dauer und die Spezifik der „unmittelbaren Gegebenheiten des Bewusstseins“, so der französische Titel des Buchs, verstelle (Bergson 1949, 84, 86, 88). Dagegen folgten die Bewusstseinsvorgänge in der „reinen Dauer“ einander, durchdrängen sich gegenseitig und bezögen sich aufeinander, denn die „reine Dauer“ sei jene Form, welche die „Sukzession unsrer Bewußtseinsvorgänge“ annähme, wenn sich das Ich „dem Leben“ (86) ganz überlasse und keine Trennung zwischen gegenwärtigem und vorhergehendem Zustand vollziehe. Eine solche Sukzession lasse sich nicht als Nach- und Nebeneinander auffassen, sondern sei, so Bergson in einem Vergleich, wie die Töne einer Melodie als „eine gegenseitige Durchdringung, eine Solidarität, eine intime Organisation von Elementen [zu] begreifen“ (88).10 Für Halbwachs’ Stellung zu Bergson ist das Verständnis von Bergsons intuitionistischer Erkenntnistheorie und mit ihr seine Privilegierung subjektiver ‚Bilder‘ entscheidend. Der subjektiven ‚durée‘ des Individuums und ihren sich durchdringenden, bewegenden Bildern und Gefühlen werden bei Bergson die allgemeinen, sozial geteilten, ‚unpersönlichen‘, einteilenden, die Bewegung fixierenden Begriffe und Wörter der Sprache abstrakt gegenübergestellt. Hob Bergson zwar an der Sprache eine Produktivität im Zwischenraum der Wörter hervor, so habe sie doch „nur die Möglichkeit, von Mal zu Mal die Hauptetappen der Bewegung des Gedankens abzustecken“ (Bergson 1991, 119). Die Wörter zerlegten die ‚lebendigen‘ individuellen Empfindungen und Eindrücke, legten ihre Bedeutung auf wenige Einheiten hin fest, denn „das Wort“, so schrieb Bergson bereits in Zeit und Freiheit‚ mit seinen fest bestimmten Umrissen, das brutale Wort, das in sich aufspeichert, was an Stabilität, an Gemeinsamem und folglich Unpersönlichem in den Eindrücken der Menschheit liegt, vernichtet oder verdeckt wenigstens die zarten und flüchtigen Eindrücke unsres individuellen Bewußtseins. (Bergson 1949 [1889], 110)
10 Bergson mag an eine bestimmte Musik gedacht haben. In einem Interview mit Paris-Journal im Dezember 1910 stimmte Bergson zu, dass die Musik des von ihm bewunderten Claude Debussy und der Impressionisten als eine Musik der ‚durée‘ bezeichnet werden könne, weil ihre kontinuierlichen Melodien geeignet seien, den „einzigartigen und ununterbrochenen Strom von Gefühlen auszudrücken und zu begleiten“ (Bergson 1972, 844; vgl. Pasler 2008, 90).
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Wenn sich die Menschen Bergson zufolge durch Literatur und Musik den eigenen seelischen Zuständen nähern können, so daher, weil Musik wie auch ‚Dichtung‘ über einen Rhythmus verfügten. Diese Auffassung war von Annahmen Bergsons begleitet, die den Leserinnen und Lesern eine nicht gerade aktive Rolle zumaßen – und dem ‚Dichter‘ eine Autorität garantierten: „durch ihn [den Rhythmus] eingewiegt und eingeschläfert gerät unsere Seele in den Zustand traumhaften Vergessens ihrer selbst, in dem sie nur noch mit dem Dichter denkt und fühlt“ (19). In Materie und Gedächtnis spielten Bilderinnerungen und Körperroutinen zusammen, und es war dieses Zusammenspiel, das die von Bergson angestrebte Vermittlung zwischen Objekt und Subjekt, Materie und Gedächtnis ausmachte, da Bergson jede Wahrnehmung als eine „werdende Tätigkeit“ auffasste (Bergson 1991, 70), deren Beziehung zur entsprechenden Erinnerung sich über eine nicht spezifizierte Nützlichkeit zum gegenwärtigen Augenblick herstelle. Bergson nahm hierfür – Halbwachs kommt darauf im Aufsatz über das kollektive Gedächtnis bei den Musikern zurück (38, 45–47)11 – ein stets nebenherlaufendes, sensomotorisches Schema an, nach dem sich wahrgenommene visuelle, akustische und verbale ‚Bilder‘ unmittelbar in vom Körper ‚verstandenen‘, rhythmisch gegliederten Bewegungen fortsetzten, so dass die Eindrücke durch die Routinen analysierend verstanden würden. Die aktuelle Wahrnehmung werde auf diese Weise durch diejenigen Erinnerungsbilder begleitet, vervollständigt oder reinterpretiert, die eine bildhafte Ähnlichkeit mit der aktuellen Wahrnehmung aufwiesen und sich im Hinblick auf nützliche Handlungen einfügen könnten, die der Befriedigung fundamentaler Bedürfnisse des ‚Lebens‘ dienlich seien. Dabei spanne sich die Dauer, erhöhe sich die Aufmerksamkeit des Geistes, um „alle vergangenen Wahrnehmungen [d. h. Erinnerungen], welche der gegenwärtigen Wahrnehmung ähnlich sind, wachzurufen, an das Vorhergehende und Nachfolgende zu erinnern und uns damit die nützlichste Entscheidung einzugeben“ (Bergson 1991, 227).
2 Halbwachs’ Grundlegung einer Theorie sozialer Rahmen des Gedächtnisses Wenn Halbwachs in den ersten vier Kapiteln von Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen in einer „großenteils kritischen Untersuchung“ eine
11 Soweit keine andere Quelle angegeben, beziehen sich Seitenangaben im Folgenden auf die anschließend abgedruckte Übersetzung von Maurice Halbwachs’ Aufsatz „Das kollektive Gedächtnis bei den Musikern“, 36–64.
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„soziologische Theorie des Gedächtnisses“ gegen Bergson zu begründen suchte (Halbwachs 1985, 23), so musste er auf diesem Weg drei wesentliche, einander bedingende Annahmen Bergsons widerlegen, denen zufolge sich das Subjekt (1) kontemplativ, d. h. ohne eine aktive Tätigkeit des Verstandes, (2) im Medium von Erinnerungsbildern und (3) individuell, also abseits gesellschaftlicher Beziehungen, erinnere. Weil der Traum sowohl für Bergson (1928, 76–97) als auch für Durkheim (1981, 87) einen paradigmatischen Fall individueller Erinnerung darstellte – insofern sich das Subjekt darin dem Einfluss der Gesellschaft und ihrer Sprache entzöge –‚12 suchte Halbwachs zu zeigen, dass im Traum zwar einzelne Details – „ein Name, ein Gesicht, das Bild einer Straße, eines Hauses“ – vorkämen, jedoch nie in einem Zusammenhang, der eine eigentliche Erinnerung ausmachen würde; überdies gelänge das Wiedererkennen solcher Einzelheiten nur, weil ihnen mithilfe von Wörtern ein Sinn zugeschrieben und sie insofern wiedererkannt werden würden (vgl. Halbwachs 1985, 97). Die Möglichkeit solcher Zuschreibungen rühre daher, dass ein „Teil der Denkgewohnheiten des Soziallebens“ auch im Traum noch intakt sei (97). Halbwachs wies im weiteren Fortgang des Buchs das Bild als distinktives Element von Erinnerungen zurück, weil es sich in verschiedene Sinnzusammenhänge fügen könnte (vgl. 72). Präzise in ihrer Bedeutung seien dagegen die sozial geteilten Wörter und Begriffe, deren Einfluss auf das Individuum auch im Schlaf nie völlig erlösche. „Was trifft man aber im Bewußtsein an, was in keiner Weise das Hineinspielen von anderen Menschen voraussetzt?“, so fragte Halbwachs in der abschließenden Zusammenfassung seines Buchs gegen Bergson gerichtet: Es ist das Bild, das vom Wort abgetrennte Bild, das Bild, soweit es sich auf den einzelnen und nur auf ihn bezieht unter Absehen von jenem ganzen Hof allgemeiner Bedeutungen, Bezüge und Vorstellungen, d. h. von all jenen gesellschaftlichen Elementen, die man von Anfang an auszuscheiden beschlossen hat. (364–365)
Das Bergson’sche Erinnerungsbild fällt damit nicht völlig aus Halbwachs’ soziologischer Theorie der Erinnerung heraus, wohl aber in seiner isolierten, ‚vom Wort abgetrennten‘ Form, weil die Sprache und ihre Wörter nicht nur zwischen verschiedenen Aspekten der Wahrnehmung vermitteln und Zusammenhänge herstellen, sondern auch Erinnerungen (re-)konstruieren. Mithilfe der Sprache seien sie lokalisierbar – etwa mit zeitlichen Begriffen von Jahren, Monaten, Wochentagen, ‚an
12 Diese vielleicht überraschende Übereinstimmung zwischen Bergson und Durkheim gründet sich darauf, dass Durkheim die individuellen Vorstellungen als sinnliche auffasste, die kollektiven als begriffliche (1985, 57, sowie 1981, 579; vgl. hierzu Voigt 2014, 260–263).
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einem sonnigen Vormittag‘, ‚späten Abend‘ etc. oder räumlichen Ausdrücken und Relationsbegriffen. Es ist dies der Grund, warum Erinnerungen für Halbwachs Rekonstruktionen aus dem Blickwinkel gegenwärtiger Interessen und Beschäftigungen des Subjekts sind. Nicht aus einer unterbestimmten ‚Nützlichkeit‘ wie bei Bergson, sondern weil sie mithilfe der sprachlich strukturierten, von Halbwachs Gruppen zugeordneten Rahmen rekonstruiert werden müssen. Da Bilder ihrerseits über keine stabile Bedeutung per se verfügten, eigneten sie sich auch nicht zur Analyse der ‚sozialen Rahmen‘ des Erinnerns. Es ist daher letztlich recht konsequent, wenn Halbwachs soziale Rahmen als sprachlich verfasste bestimmte: Wir verstehen unter Gedächtnisrahmen nicht nur das Insgesamt derjenigen Vorstellungen [im Original: „l’ensemble des notions“, deutsch etwa: Ensemble von Begriffen], die wir in jedem Augenblick wahrnehmen können, weil sie sich mehr oder weniger in unserem Bewußtseinsfeld befinden, sondern alle diejenigen [„celles-ci“, d. h. mit Bezug auf „notions“], auf die man im Ausgang von jenen in einer der einfachen Reflexion analogen Geistestätigkeit stößt.“13
Die bei Bergson mit so viel Skepsis betrachtete, alles Subjektive vermeintlich nivellierende Sprache musste Halbwachs durch den Nachweis der sprachlichen Vermitteltheit jeder Wahrnehmung und Erinnerung in seiner Kritik rehabilitieren,
13 Halbwachs 1985, 181; Halbwachs 1994, 129. Es zeigt sich an dieser Stelle eine, für den hier besprochenen Zusammenhang allerdings wichtige, Ungenauigkeit in der sonst sorgfältigen deutschen Übersetzung Lutz Geldsetzers von Les cadres sociaux de la meḿoire, denn im Begriff der Vorstellung wird die Differenz zwischen Begriff und Bild verstellt, insofern mit ihm beides gemeint sein kann. Im zitierten Satz sowie an der Stelle, an der Halbwachs den Begriff des sozialen Rahmens als „système de notions“ definierte, entschied sich Geldsetzer für „Vorstellungssystem“ (Halbwachs 1985, 134–135; vgl. dagegen Halbwachs 1994, 91). Vgl. ebenso die Übersetzung von „le cadre de notions“ – Begriffsrahmen oder begrifflicher Rahmen – mit „Rahmen der Vorstellungen“ (Halbwachs 1985, 148; vgl. dagegen Halbwachs 1994, 102). Dies kann eine (allerdings dem ersten Teil des Buchs widersprechende) Lektüre zur Folge haben, in der der soziale Rahmen und individuelle Vorstellungen vermittelnde Weg der Begriffe eingeebnet wird, wodurch der (re-)konstruktive Charakter der Erinnerung zugunsten eines einfachen ‚Anschlusses‘ an den Rahmen entfallen kann, den Halbwachs mit den Verben ‚wiederfinden‘ und ‚erneut etablieren‘ markiert. „On retrouve ainsi et on rétablit la continuité entre l’image et le cadre…“ (Halbwachs 1994, 103, Hervorhebung F. V.). Die deutsche Übersetzung dieser Passage legt durch das Verb ‚stoßen auf‘ nahe, Halbwachs setze eine bereits vorhandene Kontinuität zwischen ‚Bild‘ und ‚Rahmen‘ voraus, die lediglich ‚gefunden‘ werde müsse: „So stößt man wieder auf die Kontinuität zwischen dem Bild und dem Rahmen und setzt sie wieder ein …“ (Halbwachs 1985, 149). Vgl. analog dazu die Auflösung der Differenz zwischen (begrifflicher) Wahrnehmung und (sinnlicher) Empfindung bei Halbwachs, wenn „notions“ und „perception“ (Wahrnehmung) mit „Vorstellungen“ und tendenziell sinnlich zu verstehender „Empfindung“ wiedergegeben werden (156; vgl. dagegen Halbwachs 1994, 108).
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um überhaupt eine soziale Rahmung individueller Erinnerungen theoretisch fundieren zu können. Denn im Gegensatz zu Bergson war es für Halbwachs gerade die Hinwendung zur sozialen Umgebung, zu den verschiedenen Gruppen und ihren Sprachen, die dem Subjekt detailliertere Erinnerungen ermöglichte. Die Sprache hat daher in Halbwachs’ Theorie eine doppelte Funktion. Sie strukturiert (und rekonstruiert) nicht nur die Erinnerung, sondern bereits die Wahrnehmung, da sie bestimmte Objektbereiche bzw. Bilder so miteinander in Beziehung setzt, dass erst von Wahrnehmung oder Erinnerung gesprochen werden kann. Zugleich waren es die von Gruppen gesprochenen Sprachen, die das wesentliche Material für die in Halbwachs’ Fragment gebliebenem La mémoire collective als Ströme (frz. „courants“) bezeichneten Rahmen der Gruppengedächtnisse abgaben.
3 Wahrnehmung und Erinnerung in „Das kollektive Gedächtnis bei den Musikern“ Dieser Argumentations- und Begründungszusammenhang von Halbwachs’ Theorie sozialer Rahmen der Erinnerung liegt auch den interessant gewählten Beispielen zu Beginn des Aufsatzes über das kollektive Gedächtnis bei den Musikern zugrunde. Sie gehen der Frage nach, wie ein akustischer Eindruck wiedererkannt und erinnert bzw. wahrgenommen und identifiziert wird. Ein in seinem Arbeitszimmer am Schreibtisch Sitzender wendet für einen Moment seine Aufmerksamkeit den Geräuschen außerhalb des Zimmers, im Haus und auf der Straße zu. Die Wahrnehmung, das Wiedererkennen einer „Kohlenschaufel im Hausflur“, eines Pferdeschritts auf der Straße, des Schreis eines Kinds geschehe dabei nicht über den Weg eines „typische[n] Lautbild[s]“ (36). Um sie wiederzuerkennen, „muss ich vielmehr an die Objekte oder Wesen denken, die meines Wissens solcherart Geräusche produzieren. Das bedeutet, ich beziehe mich dabei auf Begriffe, die eigentlich keiner lautlichen Ordnung angehören.“ (36) Halbwachs’ Beispiele sind so gewählt, dass die von Bergson angenommene Beziehung zwischen Erinnerung und Wahrnehmung – eine bildhafte Ähnlichkeit, die dem Kriterium einer nützlichen Handlung in der Gegenwart unterliegt – problematisiert werden kann, da sich das Wiedererkennen weder auf eine bildhafte Ähnlichkeit bezieht noch sich ein ‚nützlicher‘ Zusammenhang zwischen der gegenwärtigen Beschäftigung am Schreibtisch und den Objekten der auditiven Wahrnehmung ausmachen lässt. Vielmehr erscheinen beide räumlich voneinander getrennt. Eine andere Akzentuierung bringt das Szenario uns unbekannter oder bekannter Stimmen mit sich, die wir am Telefon oder im Dunkeln hören.
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Bekannte Stimmen ließen uns an die Person dahinter denken, unbekannte hingegen an „Charakterzüge oder Gefühle, die sich in ihnen ausdrücken“; in beiden Fällen bezögen wir uns auf eine gewisse Anzahl uns vertrauter Ideen oder Gedanken, die von Bildern begleitet werden: Gesichter unserer Verwandten oder Freunde, aber auch Gesichter, die in unseren Augen für Sanftmut, Zärtlichkeit, Hartherzigkeit, Boshaftigkeit, Verbitterung oder Gerissenheit stehen. Mit solchen stabilen Begriffen, die genauso stabil sind wie die von Objekten, bringen wir die gehörten Stimmen in Verbindung, um sie wiederzuerkennen oder um uns in die Lage zu versetzen, sie wiederzuerkennen. (37)
In beiden Beispielen geschehe die Wahrnehmung bzw. Wiederkennung in einer Beziehung zwischen „Ideen und Gedanken“, die von „Bildern“ begleitet werden. Die Beziehung zwischen der Erinnerung und der gegenwärtigen Wahrnehmung verläuft dabei vermittels von Begriffen, mit denen „wir die gehörten Stimmen in Verbindung bringen, um sie wiederzuerkennen“. Den Begriffen nachzugehen bedeute, wie im ersten Beispiel, sich eines „Wissens“ zu bedienen, welche „Objekte oder Wesen“ (36) solche Geräusche produzieren, welche Charaktereigenschaften mit diesem oder jenem Gesicht in Verbindung gebracht werden (vgl. 37). Den sprachlichen Aufwand des wahrnehmenden Bewusstseins – der bei Bergson verdeckt wird und in den Bereich einer Wahl aus ähnlichen Erinnerungsbildern fiel, ohne dass deutlich werden konnte, unter welchem Vergleichskriterium das Bewusstsein nach einer Ähnlichkeit zu suchen hätte – stellt Halbwachs anhand von Umkehrproben aus. Im ersten Szenario würde das „Objekt selbst (d. h. das Modell, auf das man sich bezieht)“ nicht von sich aus ein „dazugehöriges Geräusch“ (36) evozieren. Dies zu leisten ist die mehr oder weniger bewusst vollzogene Aufgabe des wahrnehmenden Subjekts, das sein erlerntes Wissen dafür aufrufen muss. Im zweiten Szenario implizieren die Irritation auslösenden Gegenbeispiele – wenn jemand Unbekanntes mit einer Stimme spricht, die „einem unserer Verwandten oder Freunde ähnelt“ (37), bzw. eine Stimme nicht zur physischen Erscheinung einer Person zu passen scheint – einen begrifflichen und daher explizierbaren Widerspruch zwischen bisherigen Überzeugungen und der gegenwärtigen Wahrnehmung (‚Für gewöhnlich haben Menschen dieser Statur nicht eine solche Stimme‘). Gerade das Zweifeln und Abwägen, die Täuschung und Korrektur bei der Wahrnehmung und Erinnerung verdeutlichen das Einbezogensein einer sich der Sprache bedienenden, konstruktiven Tätigkeit des Verstandes.
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4 Zum Verhältnis von (Noten-)Schrift und Gedächtnis Bereits in Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen gehörte es zur Vorgehensweise von Halbwachs, die Argumentation von Bergson gerade innerhalb derjenigen Bereiche und Beispiele zu widerlegen, anhand derer Bergson die Plausibilität und Geltung seiner Theorie zu begründen suchte. Daher beschäftigte sich Halbwachs ausführlich mit dem Traum (im Abschnitt „Der Traum und die Erinnerungsbilder“). Ähnlich verfährt Halbwachs im Musiker-Aufsatz. Das Hören und Wiedergeben von Musik eigneten sich besonders für die Überprüfung von Bergsons Theorem eines sensomotorischen Schemas, das zwischen Wahrnehmung und Erinnerung, motorischen Gewohnheiten und bildhaften Erinnerungen vermittele, da, wie Bergson geschrieben hatte, jede Wahrnehmung bereits eine ‚werdende Tätigkeit‘ sei. Ein Musiker wie auch ein Mensch ohne musikalische Ausbildung und Kenntnis der Notenschrift könne sich durch häufiges Nachsingen und Hören eine Melodie einprägen, es sei dabei nicht notwendig, jeden einzelnen Ton im Gedächtnis abzuspeichern. Halbwachs fasst diesen von Bergson angenommenen Vorgang folgendermaßen zusammen: Bei jedem Hörvorgang wird aber zugleich im System von Gehirn und Rückenmark immer nach dem gleichen Muster eine Reihe motorischer Reaktionen erzeugt, welche sich von Mal zu Mal verstärken. Diese Reaktionen führen schließlich zur Bildung eines motorischen Schemas, das als stabiles Modell fungiert. Mit diesem Schema vergleichen wir in der Folge das gehörte Stück. Es ermöglicht uns so, das Musikstück wiederzuerkennen oder sogar wiederzugeben. (45–46)
Halbwachs scheint eine relative Geltung eines solchen Schemas einzuräumen, doch am Verhältnis von Tönen und Noten, akustischen Eindrücken und Notenschrift zeigt sich eine deutliche Differenz, die für Halbwachs auch die Geltung von Bergsons Theorie tangiert. Nach dieser würden die Zeichen der Notenschrift immer nur sekundär gegenüber den Tönen der Musik sein können. Erst wenn die einzelnen Töne in den Melodien von Individuen unterschieden und mithilfe des angenommenen Schemas analysiert worden sind, wären sie auch als Zeichen darstellbar. „Nach Bergsons Auffassung verwandeln sich also die Bewegungen des Gehirns in Zeichen und nicht umgekehrt die Zeichen in Bewegungen des Gehirns.“ (46) Halbwachs räumt ein, dieser eine Weg sei möglich (wobei, wie er im weiteren Verlauf ausführt, ein sozial teilbarer Rhythmus hierbei die entscheidende Rolle spiele). Die musikalischen Zeichen verhielten sich dann zu den angenommenen Bewegungen wie eine Übersetzung zu ihrem Originaltext. Doch gerade weil das Notationssystem alle wichtigen Informationen darüber enthalte, wie
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ein Stück oder eine Passage gespielt werden müsse, sei ebenso der umgekehrte Weg denkbar – und sogar notwendig, denn die Musiker spielten nur deshalb in einem Ensemble oder Orchester so präzise zusammen, weil sie sich auf eine Übereinkunft, wie sie die Notenschrift darstellt, beziehen und sich ein Musiker die auszuführenden Bewegungen anhand der Noten vorstellen könne.14 Dabei soll das Gedankenspiel der zentralen Nervensysteme als Resonanzapparate in einem Klangraum verdeutlichen (vgl. 47), dass die Aufnahme- und Wiedergabefähigkeit vom Grad der Übung mit bereits erlernten Musikstücken abhängt, woraus folge, dass die Bewegungen der Apparate unterschiedlich ausfielen, was sich auch in einer Notenschrift niederschlagen würde. Es sei daher auf dem Weg sensomotorischer Schemata nicht möglich, so Halbwachs, zu einem einheitlichen Modell zu gelangen, welches die Funktionsweise des Nervensystems bei der Aufnahme und Wiedergabe von Klängen oder Musik für alle Menschen gleichermaßen erklären oder auch nur darstellen könnte. Doch verwenden nicht wenigstens Menschen, die keine Notenschrift lesen können, solche Schemata? Jemand, der sie nicht beherrscht, erinnere sich durch häufigeres Nachsingen oder beim Wiederhören an eine Melodie. Die Musiker hingegen erinnerten sich, weil sie die Melodie nachspielen können, die Noten eines Stücks gelesen haben oder sie im Moment des Zuhörens lesen. Im ersten Fall, der Erinnerung ohne Noten, könnte man von einem motorischen Schema ausgehen, im anderen Fall wird die Notenschrift ein wichtiger Bestandteil der Erinnerung sein. Wenn sich Menschen an Melodien und Lieder erinnern, die keine Musiker sind, so spielte der Text des Lieds eine besonders aktive Rolle, bei einer Melodie hingegen ihr Rhythmus. Häufig genüge es, den Rhythmus einer Melodie auf dem Tisch zu klopfen, um sie wiederzuerkennen oder zu erinnern. Beides – Liedtext und Rhythmus – sind sozial teilbar, ohne größeren Verlust kodifizierbar. Sie – und nicht ein sensomotorisches Schema – würden der Erinnerung ‚auf die Sprünge‘ helfen (vgl. 49). Obwohl zwischen den Tönen der Musik und der Notenschrift kein natürlicher Zusammenhang bestehe, enthielten die symbolischen Zeichen der Notenschrift gerade diejenigen Informationen – Tonhöhe, Dauer, Intervalle, Pausen,
14 „Ein Musiker, der die Noten eines Stücks vor dem Hören gelesen hat, hat es bereits zergliedert und analysiert. Seine Aufmerksamkeit hat sich zunächst auf die von den Noten dargestellten Elemente gerichtet, um die motorischen Reaktionen voneinander zu unterscheiden, die der jeweiligen Note entsprechen. Das häufigere Wiederholen der gleichen Bewegungen hat diese Reaktionen verstärkt. Der Musiker hat geübt, die Bewegungen zu kombinieren, indem er den Kombinationen der Noten gefolgt ist, die er gehört und gelesen hat. Daher hat er von den Noten eine klare Vorstellung: er weiß, was sie alles beinhalten. Ist es daher überraschend, dass er sich nun den Zusammenhang der Bewegungen mit Hilfe der Zeichen vorstellen kann?“ (46)
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Takt und Rhythmus –, denen Musiker wie Laien sich fügen müssten, wenn sie eine Tonfolge spielen oder nachsingen. Die Informationen auf dem Notenblatt entsprächen den auszuführenden Bewegungen. Ohne ein solches Notationssystem der Noten, so Halbwachs’ zentrale These, wäre es einem Musiker unmöglich, ganze Stücke und Stimmen von Orchesterwerken je auswendig spielen zu können (vgl. 41). Er bedarf der Noten während der Aufführung auf dem Pult vor sich und, selbst wenn eine Musikerin oder ein Musiker ganze Passagen oder das gesamte Stück spielen könnte, ohne auch nur einen Blick in die Noten zu werfen, so sei ihnen der materielle Träger der Noten während der vielen Übungsstunden ein notwendiges Hilfsmittel gewesen, um sich überhaupt in die Lage zu versetzen, ein Stück auswendig zu spielen (vgl. 43–44). Ohne Noten sei es unmöglich, eine derart große Zahl an Musikstücken, Melodien und Passagen aus Orchesterwerken im Gedächtnis zu behalten, wie es Musiker vermögen.
5 Zur Interpretation von Halbwachs’ kollektiven Gedächtnissen als kommunikativen Die Leserinnen und Leser mögen ihrerseits überprüfen, ob Halbwachs’ Argumentation sie überzeugt.15 Doch seine Thesen im Musiker-Aufsatz verdeutlichen – wie auch der eingangs zitierte Passus aus Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen von 1925 – die Schwierigkeit einer Interpretation, wonach Halbwachs ausschließlich Prozesse des mündlichen, „kommunikativen Austausch[s]“ in den Blick genommen habe (Assmann 2006, 29, 161; Assmann 2008, 60). „Vergangenes, das nicht länger im Gedächtnis lebender Individuen gegenwärtig, sondern in Texten und anderen symbolischen Formen objektiviert war“, habe Halbwachs „‚Tradition‘“ genannt, „worin er nicht eine Form, sondern das Gegenteil des Gedächtnisses sah“ (Assmann 2001, 248). Diese Lektüre begründete bei Jan und Aleida Assmann die Einführung eines kulturellen Gedächtnisses, einen bei Halbwachs, so Jan Assmann, systematisch ‚ausgeblendeten‘ Bereich (Assmann 2005, 69). Das ‚kommunikative Gedächtnis‘ hingegen wachse „der Gruppe historisch zu“, „entsteht in der Zeit und vergeht mit […] seinen Trägern“ (Assmann 1992, 50). Es handele sich dabei um einen „Erinnerungsraum“, der „allen durch persönlich verbürgte und kommunizierte Erfahrung“ sowie „lebendige Erinnerung“ inner-
15 Eine interessante Kritik zum Verhältnis zwischen professionellen Musikern und Laien bei Halbwachs sowie zu formalistischen Implikationen in Halbwachs’ Überlegungen über eine ‚reine Musik‘ findet sich bei Buch 2007, 77, 79–81.
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halb eines Zusammenhangs von drei bis vier Generationen gebildet werde (vgl. Assmann 1988, 10–11; Assmann, 1992, 50–51). Es ist jedoch nicht nur eine ‚Fehldeutung‘, um die es dabei geht. Zum einen, weil die Metapher des für ein ‚kommunikatives Gedächtnis‘ in Anspruch genommenen ‚Zuwachsens‘ zusammen mit der Implikation eines generationellen Zusammenhangs in Aleida und Jan Assmann Theorie ein quasi biologisches ‚Aussterben‘ von Denk- und Verhaltensweisen zur Folge hat, zumal zwischen beiden Formen des Gedächtnisses – kommunikativ und kulturell – eine ‚fließende Lücke‘ (‚floating gap‘), ein zeitlich mit der Gegenwart mit wandernder Horizont innerhalb eines solchen ‚Generationenzusammenhangs‘ bestehe, der eine „Universalie des kollektiven Gedächtnisses“ darstelle (Assmann 1992, 70). Er wird auf alle Gesellschaften angewendet, unabhängig von ihren Tradierungsformen. Zum anderen aber auch, weil es bei Halbwachs gerade für die Erinnerung ihre sprachliche Rahmung war, die eine Vermittlung auf soziale Gruppen oder ‚Ströme‘ ermöglichte (vgl. hierzu Voigt 2014, 266). Auch Jan Assmann hatte geschrieben, dass Halbwachs den „Bergsonschen Subjektivismus“ überwinden musste, „um das Gedächtnis als ein soziales Phänomen zu interpretieren“ (1992, 35). Doch den für Halbwachs hierfür notwendigen Weg, die Auseinandersetzung mit Bergsons Begriff des ‚Erinnerungsbilds‘, mithin Halbwachs’ Kritik an einer Opposition zwischen einer per se entstellenden Sprache und ihrem Gegenstück, der Robinsonade eines isolierten Individuums, das über ‚sinnliche Gewissheiten‘ verfüge – eine Opposition, die auch Émile Durkheim teilte –‚16 haben Aleida und Jan Assmann nie zur Kenntnis genommen. Differenz und Verhältnis von Begriff und Bild werden dabei nicht nur eingeebnet – es käme, so Jan Assmann, bei Halbwachs zu einer „unauflöslichen Verschmelzung von Begriff und Bild“ (38) –, sondern Bergsons Begriff des Erinnerungsbilds, den Halbwachs als „Typus“ eines „rein individuellen Bewusstseinszustandes“ ohne gesellschaftlichen Zusammenhang zurückgewiesen hatte (Halbwachs 1985, 364– 365), ordnet Assmann erstaunlicherweise der Theorie von Halbwachs zu, indem er mit Bezug auf ihn definiert: „Unter ‚Erinnerungsfiguren‘ verstehen wir demgegenüber kulturell geformte, gesellschaftlich verbindliche ‚Erinnerungsbilder‘“ (1992, 38, Anm. 19). Der Begriff der Erinnerungsfigur, so Jan Assmann, sei gegenüber dem des Erinnerungsbilds nur deshalb vorzuziehen, „weil er sich nicht nur
16 Vgl. Durkheim 1985, 57. W. S. F. Pickering und Dénes Némedi haben darauf hingewiesen, dass die Beziehung zwischen individuellen und kollektiven Vorstellungen in Durkheims Aufsatz nur durch einen ambivalenten Begriff des ‚substratums‘ bewerkstelligt werde, ihre Vermittlung jedoch unklar bleibe (Némedi 2000, 91–92; Pickering 2000, 14).
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auf ikonische, sondern z. B. auch auf narrative Formung bezieht“ (38, Anm. 19). Beide, Ikone und Narrativ, seien aber bereits ‚gesellschaftlich geformt‘ (38). Die Schwierigkeiten aufgrund der ausgebliebenen Rezeption des Sprachund Wahrnehmungsbegriffs werden auch bei der Interpretation von Halbwachs’ Raumbegriff deutlich. Schrieb Halbwachs in Das kollektive Gedächtnis in einer Passage, die in der deutschen Übersetzung nicht vorkommt, „jede Gruppe […] sieht den Raum in der ihr eigenen Perspektive“ (1997, 213), so gingen Jan Assmann zufolge bei Halbwachs „Gruppe und Raum eine symbolische Wesensgemeinschaft ein“ (1992, 39), entstünde die Bedeutung der von Aleida Assmann so bezeichneten „Generationenorte“ durch eine „langfristige[…] Bindung von Familien oder Gruppen an einen bestimmten Ort“ (Assmann 1999, 308). Halbwachs’ Aufsatz über das kollektive Gedächtnis bei den Musikern kann es nahelegen, die Trennung zwischen einem zur Generationenfolge17 naturalisierten Übergang zwischen kommunikativem und kulturellem Gedächtnis zu überdenken und mit ihr die Biologismen des natürlichen Aussterbens sowie des historischen ‚Zuwachsens‘ für den Bereich eines ‚kommunikativen Gedächtnisses‘.
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17 Vgl. den Beitrag von Konstantin Baehrens.
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Frank Voigt
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Maurice Halbwachs
Das kollektive Gedächtnis bei den Musikern [1] Die Erinnerung an ein Wort unterscheidet sich von der an irgendeinen Klang, natürlicher oder musikalischer Art, darin, dass sich erstere immer auf ein Modell oder äußeres Schema bezieht. Dieses ist entweder in den phonetischen Gewohnheiten einer Gruppe (organischer Träger) oder durch Schrift (materieller Träger) fixiert. Bei der Erinnerung an Laute hingegen, die keine Wörter darstellen, sind die meisten Menschen kaum in der Lage, sie mit irgendwelchen rein akustischen Modellen zu vergleichen, weil sie über solche nicht verfügen. Zugegeben, wenn ich in meinem Arbeitszimmer sitze und den Kopf hebe, um für einen Moment meine Aufmerksamkeit den Geräuschen von draußen oder aus dem Haus zuzuwenden, kann ich freilich sagen: hier das Geräusch einer Kohlenschaufel im Hausflur, dort der Schritt eines Pferds auf der Straße, da der Schrei eines Kinds etc. Allerdings sieht man, dass sich die Töne oder Geräusche einer ähnlichen Kategorie normalerweise nicht um ein typisches Lautbild herum anordnen. Wenn ich sie wiedererkennen will, muss ich vielmehr an die Objekte oder Wesen denken, die meines Wissens solcherart Geräusche produzieren. Das bedeutet, ich beziehe mich dabei auf Begriffe, die eigentlich keiner lautlichen Ordnung angehören. Das Gehörte also löst den Gedanken an ein Objekt aus, weil es durch das Geräusch wiedererkannt wird. Dagegen evoziert das Objekt selbst (d. h. das Modell, auf das man sich bezieht) jedoch selten von sich aus ein dazugehöriges Geräusch. Hört man klirrende Ketten, reibende Riemen, knallende Peitschen und Pferde im Galopp, denkt man an einen Gefangenentransport oder an ein Wagenrennen. Wenn uns derartige Spektakel von einem Kinematografen vorgeführt werden, ohne dass ein unsichtbares Orchester sie mit imitierenden Tönen untermalt, denken wir uns die Geräusche nicht zwangsläufig hinzu, und die sich
1 [Diese Übersetzung von Frank Voigt, Christian Ernst und Marie-Hélène Rybicki folgt dem Text der kritischen Ausgabe von Maurice Halbwachs’ La mémoire collective, herausgegeben von Gérard Namer und Marie Jaisson (Paris: Albin Michel 1997, 19–50). Der erstmals 1939 in der Revue philosophique veröffentlichte Aufsatz „La mémoire collective chez les musiciens“ bildet darin das erste Kapitel. Namer begründet diese seine Entscheidung mit Halbwachs’ Verweisen auf den Aufsatz, vor allem im dritten nachgelassenen Manuskript des Buchprojekts von 1935–1938 – zu dem Aufzeichnungen bis 1925 zurückreichen –, sowie mit einem von der Philosophin und Schwester Halbwachs’ Jeanne Alexandre ‚mündlich überlieferten‘ Wunsch von Halbwachs, La mémoire collective mit dem Aufsatz beginnen zu lassen (8, 12, 253). Jeanne Alexandre hatte das Buch 1950 postum erstmals veröffentlicht. Auch im Folgenden werden Anmerkungen der Übersetzer in eckigen Klammern gegeben.] http://doi.org.de/10.1515/9783050093932-003
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stumm auf der Leinwand bewegenden Figuren erwecken in uns viel weniger den Eindruck einer Illusion. Nicht anders verhält es sich bei der menschlichen Stimme, sobald sich unsere Aufmerksamkeit nicht mehr auf die Wörter, sondern auf Klang, Intonation oder Akzent richtet. Nehmen wir einmal an, wir hörten im Dunkeln oder am Telefon Stimmen – einmal von uns bekannten, ein anderes Mal von uns unbekannten Personen. Wir hören einer Person, ohne sie zu sehen, so genau zu, dass wir uns nur auf ihre Stimme konzentrieren. Woran lässt uns diese Stimme denken? Nur selten werden wir uns dabei auf ein auditives Modell beziehen, als ob uns vor allem daran gelegen wäre, die Stimmen hinsichtlich ihrer Qualität oder Wirkung auf die Ohren eines Publikums zu unterscheiden. Eine solche Haltung würde wohl am ehesten bei einer Prüfung an einem Konservatorium oder von einem Theaterdirektor eingenommen werden. Wir hingegen werden, wenn wir bekannte Stimmen hören, eher an die Personen dahinter denken und bei unbekannten Stimmen an Charakterzüge oder Gefühle, die sich in ihnen ausdrücken oder die sie darzustellen scheinen. Auf diese Weise beziehen wir uns auf eine gewisse Anzahl uns vertrauter Ideen oder Gedanken, die von Bildern begleitet werden: Gesichter unserer Verwandten oder Freunde, aber auch Gesichter, die in unseren Augen für Sanftmut, Zärtlichkeit, Hartherzigkeit, Boshaftigkeit, Verbitterung oder Gerissenheit stehen. Mit solchen stabilen Begriffen, die genauso stabil sind wie die von Objekten, bringen wir die gehörten Stimmen in Verbindung, um sie wiederzuerkennen oder um uns in die Lage zu versetzen, sie wiederzuerkennen. Daher manchmal unser Erstaunen darüber, wenn wir jemanden Unbekanntes treffen, dessen Stimme einem unserer Verwandten oder Freunde ähnelt. Erstaunen oder sogar das Gefühl einer gewissen Befremdung stellt sich ein, als ob unser Verwandter eine Maske aufgesetzt oder sich die fremde Person geirrt hätte, indem sie sich einer Stimme bedient, die ihr gar nicht gehört. Ähnliches geschieht, wenn der Klang einer Stimme nicht zur physischen Erscheinung der Person passt, etwa wenn er bei einer zierlichen Person sonor und kräftig ist. Kommen wir nun zu den musikalischen Tönen. Wären wir darauf beschränkt, sie lediglich zu hören, um sie im Gedächtnis zu behalten und uns an sie zu erinnern, würden wir einen Großteil der Noten oder Tonreihen, die wir vernommen haben, schnell wieder vergessen. Berlioz beschreibt in seinen Memoiren, wie er eines Nachts eine Symphonie in seinem Kopf komponierte. Sie schien ihm äußerst gelungen und er war im Begriff, sie aufzuschreiben. Als er aber währenddessen darüber nachdachte, wie viel Zeit und Geld er bis zu ihrer Aufführung verlieren würde, entschied er sich, davon abzulassen, und notierte schließlich nichts. Am nächsten Morgen war jede Erinnerung an das, was er sich einige Stunden zuvor noch so klar und deutlich vorgestellt und innerlich gehört hatte, völlig ausge-
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löscht.[2] Dieser Vorgang wird sich umso mehr bei Menschen zutragen, die weder Noten lesen noch spielen gelernt haben. Kommen sie gerade aus einem Konzert oder haben ein Stück zum allerersten Mal gehört, so bleibt fast nichts in ihrem Gedächtnis zurück. Die Melodien lösen sich auf und die Töne zerstreuen sich wie die Perlen einer Kette, deren Faden gerissen ist. Auch wenn man die Notenschrift nie gelernt hat, ist es sicher möglich, sich an diese oder jene Tonfolge, an Lieder, Motive und Melodien, ja vielleicht sogar an Akkorde und Teile einer Symphonie zu erinnern. Dabei wird es sich aber um Tonfolgen handeln, die man mehrmals gehört und nachzusingen gelernt hat. Die Musiktöne verbleiben im Gedächtnis nicht in der Form akustischer Erinnerungen, sondern wir haben gelernt, sie mit der Stimme wiederzugeben. Wenn wir uns auf diese Weise an eine Melodie erinnern, so beziehen wir uns auf eines der aktiven motorischen Schemata, von denen Bergson spricht und die, selbst wenn sie Teil unseres Gedächtnisses sind, doch außerhalb unseres Bewusstseins bleiben. Oder es handelt sich indes um Tonfolgen, die wir selbst nicht wiedergeben könnten, aber wiedererkennen, und zwar ausschließlich in dem Moment, wenn andere sie spielen oder singen. Nehmen wir einmal an, eine Melodie wurde uns auf einem Klavier vorgespielt und nun hören wir dieselbe Melodie auf einer Violine. Wo ist das Modell zu finden, auf das wir uns beziehen, um sie wiederzuerkennen? Es muss sich in unserem Gehirn und zugleich im uns umgebenden Klangraum befinden. Im Gehirn, in Form einer zuvor erlernten Fähigkeit, um wiederzugeben, was wir gehört haben. Diese Anordnung ist jedoch unzureichend und unvollständig, denn sie erlaubt uns nicht das Gehörte zu reproduzieren. Die Violinentöne kommen nun jedoch unseren Wiedergabeversuchen so stimmig entgegen, dass das, was wir beim Hören wiedererkennen, mit unseren Bewegungen übereinkommt; zwar nicht im Klang, wohl aber in der Differenz der Tonhöhen, in den Intervallen und im Rhythmus, also mit anderen Worten darin, was sich ebenso aufschreiben ließe und von den visuellen Symbolen der Notenschrift dargestellt wird. Sicher, wir hören etwas anderes. Wir nehmen die Töne an sich wahr, und die der Violine klingen so anders als die des Klaviers; auch die Melodie klingt anders, je nachdem ob sie auf dem Klavier oder der Violine gespielt wird. Wenn wir die Melodie dennoch wiedererkennen, ohne die Noten zu lesen, ohne zu sehen, wie sie in der Partitur aufgeschrieben sind, dann, weil wir sie uns auf unsere Art und Weise in den Symbolen vorstellen, nach denen sich die Bewegungen der Musiker richten müssen, ob sie nun Klavier spielen oder Geige. Wir würden demnach nichts wiedererkennen und
2 [Halbwachs gibt eine Passage aus den Memoiren von Berlioz wieder: Hector Berlioz. Lebenserinnerungen. München: Beck, 1914, 514.]
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unser Gedächtnis nichts behalten, wenn es nicht zugleich die Bewegungen im Gehirn und die Noten im Notationssystem der Musiker gäbe. Bislang haben wir zwei Vorgehensweisen unterschieden, wie sich Personen, die weder Noten lesen noch ein Instrument spielen können, an ein musikalisches Motiv erinnern. Die einen erinnern sich, weil sie das Motiv singend wiedergeben können. Die anderen, weil sie es schon gehört haben und nun bestimmte Passagen wiedererkennen. Betrachten wir nun zwei andere Herangehensweisen an den gleichen Vorgang der Wiedererkennung eines musikalischen Motivs, diesmal jedoch bei Musikern oder Personen, die Noten lesen können. Von diesen erinnern sich die einen daran, weil sie es nachspielen können, die anderen, weil sie die Partitur zuvor gelesen haben oder gerade lesen, während sie das Stück hören. Zwischen diesen beiden Kategorien von Musikern, zwischen denen, die spielen, und denen, die sich beim Hören die Notenfolge vorstellen, besteht die gleiche Beziehung wie zwischen jenen, die eine Melodie singen, und jenen, die sie beim Hören wiedererkennen, obwohl letztere keine Noten lesen können. Das musikalische Gedächtnis unter der Gruppe der Musiker hat natürlich einen wesentlich größeren Umfang und ist viel zuverlässiger als das der anderen. Sehen wir uns aber etwas genauer an, worin der Mechanismus aus der Perspektive eines Außenstehenden zu bestehen scheint. Wir befinden uns in einem Konzertsaal, in dem ein Ensemble von Musikern ein Orchester bildet. Während jeder von ihnen seinen Part spielt, fixiert er mit seinen Augen ein Blatt Papier, das mit Zeichen bedruckt ist. Diese Zeichen repräsentieren die Noten, ihre Höhe, Länge sowie die Tonabstände oder Intervalle zwischen ihnen. Alles geht so vor sich, als ob auf dem Notenblatt lauter Signale notiert wären, um den Musiker anzuweisen, was er tun muss. Diese Zeichen sind keine Lautbilder, welche die Töne an sich wiedergäben. Zwischen den Strichen und Punkten, die das Auge wahrnimmt, und den Klängen, die das Gehör vernimmt, besteht überhaupt keine natürliche Beziehung. Die Zeichen repräsentieren nicht die Töne, denn zwischen beiden besteht keinerlei Ähnlichkeit. Vielmehr übersetzen die Zeichen eine ganze Reihe von Anweisungen in eine konventionelle Sprache. Ihr muss der Musiker sich fügen, wenn er die Notenfolge mit ihren Nuancen und dem ihr entsprechenden Rhythmus wiedergeben und spielen möchte. Aber was sieht eigentlich der Musiker, wenn er die Seiten der Partitur betrachtet? Bei dieser wie bei jeder anderen Lektüre vergrößert oder verkleinert sich, je nachdem wie geübt der Leser ist, die Anzahl der Zeichen, die einen Eindruck auf seiner Netzhaut hinterlassen. Unterscheiden wir nun zwischen den Zeichen und den Kombinationen, die diese Zeichen eingehen. Die Zeichen sind ihrer Anzahl nach begrenzt und jedes für sich genommen relativ einfach. Wenn der Musiker sie nun immer wieder liest und die Anweisungen ausführt, die sie ihm mitteilen,
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könnte man annehmen, dass er bereits so vollständig ihren Sinn erfasst hat, dass die Zeichen sozusagen auf die eine oder andere Weise in sein Gehirn eingeschrieben sind: Er braucht ihnen gar nicht mehr auf dem Papier zu folgen, um sie sich in Erinnerung zu rufen. Die Kombinationen hingegen, die mit den einzelnen Zeichen gebildet werden können, sind von unbegrenzter Anzahl und einige von ihnen so kompliziert, dass es unvorstellbar ist, sie alle als solche in der Großhirnrinde in der Form von Mechanismen zu behalten, welche die notwendigen Bewegungen vorbereiteten, um die Kombinationen zu reproduzieren. Doch all dies ist gar nicht notwendig. Tatsächlich befinden sich die Zeichenkombinationen außerhalb des Gehirns. Sie sind auf Papierblättern notiert, und dies bedeutet, sie werden außerhalb, auf eine materielle Weise, festgehalten. Von absoluten Ausnahmefällen abgesehen, sind im Gehirn des Musikers selbstverständlich nicht die Notationen aller Musikstücke in irgendeiner, mindestens jedoch ausreichender Form aufbewahrt, um sie auf Abruf zu reproduzieren. In dem Moment, in dem ein Musiker ein Stück spielt, das er geübt hat, kann er es im Allgemeinen nicht vollkommen auswendig spielen und muss, wenigstens ab und zu, in die Noten schauen. Wohlgemerkt, wenn er sich nicht zuvor die einfachen und elementaren Zeichen und auch die häufigsten Kombinationen, in denen sie auftreten, angeeignet hätte, wäre er beim Spielen und Lesen der Partitur in derselben Situation wie eine Person, die sich beim Vorlesen häufig unterbrechen muss, weil sie auf Buchstaben stößt, die sie nicht identifizieren kann. Ein solcher Musiker könnte nur dann in einem Orchester oder in der Öffentlichkeit spielen, wenn er die Stücke zuvor auswendig spielen lernte. Er brauchte zwar keine Noten mehr, hätte jedoch wesentlich mehr Arbeit bis zu jeder Aufführung und die Anzahl der Stücke, die er so zu spielen in der Lage wäre, würde sich verringern. Weil die einzelnen Zeichen und einfachen musikalischen Kombinationen im Gehirn verbleiben, ist es überflüssig, dass dort auch die komplexen Kombinationen gespeichert werden. Es genügt, wenn sie sich auf den Notenblättern befinden. Die Partitur spielt also hier genau die Rolle eines materiellen Substituts des Gehirns. Betrachten wir die Haltung und die Bewegungen der Musiker in einem Orchester. Jeder von ihnen ist nur ein Teil des Ensembles, zu dem die anderen Musiker und der Dirigent gehören. Sie spielen in der Tat im Akkord – und im Takt. Häufig kennt jeder nicht nur seinen eigenen Part, sondern auch den der anderen ebenso wie die Rolle seines Parts in Bezug zu dem der anderen Musiker. Das Ensemble umfasst auch die geschriebenen Partituren. Allerdings findet hier wie in jedem Organismus eine Form von Arbeitsteilung statt, die Funktionen werden von verschiedenen Organen ausgeübt. Man könnte sagen, dass während sich die motorischen Zentren, welche die Bewegungen der Musiker zur Folge haben, in ihrem Gehirn oder in ihrem Körper befinden, ihre visuellen Zentren teilweise außerhalb
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ihrer Körper existieren. Denn die Bewegungen der Musiker sind mit den Zeichen verbunden, welche sie in ihren Partituren lesen. Diese Beschreibung entspricht zugegebenermaßen nur annäherungsweise der Realität. Einige der Musiker im Orchester könnten ihren Part vollkommen auswendig spielen, andere ganze Passagen, auch wenn sie dabei mit ihren Augen den Noten auf der Partitur folgen. Je nach den persönlichen Fähigkeiten des Musikers, je nachdem wie geübt er ist und wie häufig er geprobt hat, wird er auf die äußere Stütze der geschriebenen oder gedruckten Zeichen verzichten können, die seinem Gedächtnis als Hilfsmittel dienen. Aber wie virtuos er auch sei, er wird doch nie alle jemals von ihm gespielten Stücke so im Gedächtnis behalten, dass er in jedem Moment in der Lage wäre, nach Belieben ein bestimmtes aufzuführen. In jedem Fall, isolierte man den Musiker und nähme ihm alle diese Möglichkeiten der Übersetzung und Fixierung der Töne, welche die Notenschrift bietet und darstellt, so würde es ihm sehr schwer fallen, ja fast unmöglich sein, eine so große Anzahl von Erinnerungen in seinem Gedächtnis zu behalten. Die musikalischen Zeichen und die durch sie ausgelösten zerebralen Veränderungen unterscheiden sich von den Tönen und deren Spuren in unserem Gehirn darin, dass erstere künstlich sind. Die Zeichen beruhen nämlich auf Übereinkunft und haben nur durch den Bezug zur Gruppe der Musiker eine Bedeutung, die sie erfunden oder übernommen hat. Stellen wir uns einen Physiologen vor, der nichts von Musik versteht und nicht weiß, was es mit Konzerten, Orchestern und Musikern auf sich hat. Wenn ein solcher Physiologe Einblick in ihr Gehirn hätte, die dortigen Bewegungen beobachten und sie äußeren Ursachen zurechnen könnte, käme er wohl zu dem Schluss, dass ein Teil dieser Bewegungen auf jene natürlichen, physischen Phänomene zurückgeht, die man Geräusche oder Klänge nennt. Aber bei der Untersuchung des Gehirns eines Musikers, der dabei ist, ein Stück zu spielen und zugleich die dazugehörigen Noten zu lesen, würde er von den Gehirnspuren, welche die Töne hinterlassen, noch andere unterscheiden, und zwar solche, die er auf bildliche Schriftzeichen zurückführte, auf gedruckte Zeichen, von denen sich jedenfalls nicht sagen ließe, man träfe dergleichen in der Natur an. Vielleicht empfände er hierbei das gleiche Erstaunen wie Robinson beim Erkunden der Insel, wenn er unweit des Meeres Spuren im Sand entdeckt. Wir nehmen zunächst an, sie sind von Menschen hinterlassen worden, die am Tag zuvor angekommen und wieder abgefahren sind. Daneben gibt es noch andere Spuren: Fährten von Tieren, Vogelfedern und Muschelschalen. Doch die menschlichen Fußspuren unterscheiden sich von allen anderen darin, dass letztere aus dem Spiel natürlicher Kräfte hervorgegangen sind. Man könnte sagen, die Insel hat sie selbst hervorgebracht. Nun, Spuren menschlicher Schritte entstehen nicht
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von selbst auf einer unbewohnten Insel. Wenn Robinson diese Fußspuren genauer untersucht, sieht er also eigentlich etwas, was nicht mehr zu seiner Insel gehört. Es sind zwar Abdrücke in ihrem Sand, doch führen ihn diese Spuren jenseits der Insel. Durch sie nimmt er wieder Kontakt zur Welt der Menschen auf, denn die Spuren ergeben nur einen Sinn, wenn man sie zur Gesamtheit der Spuren menschlichen[3] Kommens und Gehens allerorts in Beziehung setzt. In gleicher Weise verhält es sich mit den Spuren, die – wie beschrieben – von den Zeichen in der Gehirnsubstanz hinterlassen wurden. Sie decken die Wirkung auf, die, wie ein Physiologe sagen würde, ein System oder eine Kolonie anderer menschlicher Gehirne auf dieses eine ausgeübt hat. Diese Art von Einwirkung zeichnet sich dadurch aus, dass sie durch die Vermittlung von Zeichen zustande kommt, mit anderen Worten, eine vorgängige, andauernde Übereinkunft zwischen den Menschen über die Bedeutung dieser Zeichen voraussetzt. Obwohl sich diese zerebralen Veränderungen in verschiedenen Gehirnen abspielen, bilden sie doch nichtsdestoweniger ein Ganzes, denn das eine reagiert genau auf das andere. Mehr noch, das Symbol oder Zeichen – zugleich Werkzeug der Einheit des Ganzen – existiert materiell: es sind die musikalischen Zeichen und die bedruckten Blätter der Partitur. Alles, was im Gehirn aufgrund dieser Übereinkunft oder Einheit entsteht, kann nicht isoliert betrachtet werden. Jemandem, der von der Gruppe absähe, welcher der Musiker angehört, würde die Einwirkung der Zeichen auf das Gehirn des Musikers als unbedeutend gelten, weil er dabei nur die deutlich sichtbaren Eigenschaften des Zeichens selbst in Betracht zöge. Doch diese unterscheiden das Zeichen kaum von vielen anderen vom Auge wahrgenommenen Objekten, die keinerlei Einfluss auf uns ausüben. Um der Wahrnehmung dieses Zeichens seinen ganzen Wert zukommen zu lassen, müssen wir es in den Zusammenhang stellen, dem es angehört. Dies bedeutet, dass die Erinnerung an ein Blatt voller Noten nur einen Teil einer größeren Erinnerung oder eines Ensembles von Erinnerungen ausmacht. Wenn wir in Gedanken die Partitur sehen, erahnen wir zugleich ein ganzes soziales Milieu, die Musiker, ihre Konventionen sowie die Regeln, die sich uns aufdrängen und denen wir uns fügen müssen, um mit den Musikern in Beziehung zu treten. Betrachten wir noch einmal die Musiker, die in einem Orchester spielen. Sie alle richten ihre Augen auf die Noten, und ihre Gedanken und Bewegungen glei-
3 [Halbwachs schreibt – wörtlich übersetzt – vom Kommen und Gehen der Mitglieder der Gruppe (der Menschen) – „les allées et venues des membres du groupe (des hommes)“. Die Einbeziehung aller Menschen in eine Gruppe ist im Deutschen schwer möglich, verweist jedoch auch auf Halbwachs’ Gebrauch des Begriffs.]
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chen sich einander an, weil sie alle Kopien desselben Modells darstellen. Nehmen wir einmal an, ihr Gedächtnis sei so geübt, dass sie ohne die Hilfe der Noten spielen könnten oder nur ab und zu einen Blick in sie hineinwerfen müssten. Die Noten liegen vor ihnen. Sie könnten aber auch nicht da sein. Es würde keinen Unterschied machen, da die Gedanken der Musiker sich ohnehin einander angleichen. Ihre Noten spielen keine andere Rolle, als diese Harmonie, diese Übereinkunft ihrer Gedanken zu symbolisieren. Können wir dann nicht sagen, dass es keinen Grund gibt, die Aufbewahrung musikalischer Erinnerungen im Gedächtnis durch Noten zu erklären, also von dem Gedanken ablassen, sie fungierten als beharrliches materielles Objekt im Sinne einer notwendigen Stütze, weil die Noten genau in dem Moment aufhören, diese Rolle zu spielen, in dem der Musiker sich das Stück als Erinnerung ganz eingeprägt hat? Als wir gesagt hatten, die Musiker und ihre Partituren bildeten ein Ensemble, das es als Ganzes in Betracht zu ziehen gelte, um die Aufbewahrung der Erinnerungen zu klären, haben wir da nicht den Moment betrachtet, in dem die Erinnerung noch nicht existiert, sondern sich erst bildet, und würde das äußere materielle Objekt, die Noten, nicht in dem Moment verschwinden, in dem sie Eingang in das Gedächtnis erhalten haben und es allein von uns abhinge, sie abzurufen? So gesehen, müssten wir auf die rein physiologische Theorie des Gedächtnisses zurückkommen und demnach zugeben, dass das Gehirn ausreicht, um Abruf und Wiedererkennung dieser Erinnerungen zu erklären. Wir glauben allerdings, dass zwischen einem auswendig spielenden Musiker und einem, der den Noten auf dem Blatt folgt, nur ein gradueller Unterschied besteht. Es sei zunächst angemerkt: Bevor dieser erste auswendig spielen kann, musste er seinen Part doch immer und immer wieder lesen. Ob die letzte Lektüre nun während der Aufführung stattfindet, einige Stunden oder Tage zuvor oder gar noch wesentlich früher, die Zeit, die zwischen Lesen und Aufführung verstreicht, ändert nichts an der Natur der Einwirkung, die das Zeichensystem auf denjenigen ausübt, der es liest und übersetzt. Es gibt keinen Sinneseindruck, der nicht eine gewisse Zeit in Anspruch nähme, damit wir uns seiner bewusst werden, denn es besteht nie ein unmittelbarer Kontakt zwischen dem Bewusstsein und einem Objekt. Am häufigsten bildet sich der Eindruck oder existiert überhaupt erst von dem Moment an, wo sein Objekt gar nicht mehr da ist. Würde man dann trotzdem sagen, dass das Objekt nicht der Grund dieses Eindrucks sei? Wir hielten es an anderer Stelle für notwendig, eine Unterscheidung vorzunehmen: zwischen dem aktiven Gedächtnis einerseits, das für die Erinnerung und Wiedererkennung von Objekten zuständig ist, deren Eindruck wir nicht mehr unterliegen, und der Resonanz eines Objekts andererseits, d. h. seiner verspäteten und fortwährenden Einwirkung, der unser Geist ausgesetzt ist, obwohl eine geringere oder größere Zeitspanne vergangen ist, seit wir es wahrgenommen haben. Somit braucht das
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Objekt nicht mehr da zu sein. Aber wenn seine Einwirkung andauert, ist das von Vorstellung und Objekt gebildete System nicht weniger als ein kontinuierlicher vom Objekt geschlossener Kreis, wie lange die Präsenz des Objekts auch zurückliegt. In unserem Fall ist das Objekt ein Ensemble von Zeichen. Der Einfluss, den dieses Ensemble ausübt, besteht in den Befehlen, die es dem Subjekt erteilt. Auch wenn der Musiker die Noten nicht mehr liest, er verhält sich trotzdem so, als ob er sie läse. Es ist nicht so, als wären die Zeichen der Noten als visuelle Bilder in seinen Geist übergegangen. Er sieht sie ja nicht mehr. Wird man nicht sagen, dass die Bewegungen, die er ausführt, sich miteinander verbunden haben, dass sich ein Mechanismus in seinem Gehirn gebildet hat, so dass jede Bewegung automatisch die darauf folgende bedingt? Zweifelsohne. Aber was es genau zu erklären gilt, ist die Entstehung dieses Mechanismus. Man muss ihn auf eine ihm äußerliche Ursache zurückführen, das heißt auf das System von Zeichen, die von der Gruppe auf Papier festgeschrieben werden. Stellen wir uns eine Wachstafel vor, der eine Folge von Buchstaben und Wörtern eingeprägt wurde. Die Tafel gibt nun in Form von Einkerbungen wieder, was die Buchstaben ihrerseits als Relief darstellen. Nun entfernen wir die Formen. Die Prägung bleibt erhalten, und wir könnten uns vorstellen, dass die von ihnen hinterlassenen Abdrücke miteinander verbunden sind und sich jedes Wort durch das jeweils vorangehende erklärt. Aber wir wissen wohl, dass es sich keineswegs so verhält. Vielmehr erklären sich die Einkerbungen durch die jeweilige Zusammenstellung der Prägeformen. Ihre Einwirkung besteht unverändert fort, auch wenn sich die Formen gar nicht mehr in ihrem Wachsabdruck befinden. In der gleichen Weise kann ein Mensch, der einer Gruppe angehört und in ihr bestimmte Wörter in einer bestimmten Reihenfolge auszusprechen gelernt hat, die Gruppe wieder verlassen und sich von ihr entfernen. Solange er sich noch ihrer Sprache bedient, lässt sich sagen, dass sich der Einfluss der Gruppe auf ihn immer noch geltend macht. Zwischen ihm und dieser Gesellschaft ist der Kontakt nicht stärker unterbrochen als zwischen einem Gemälde und den Händen oder Gedanken eines Malers, der es einst angefertigt hat. Ebenso wenig ist der Kontakt zwischen einem Musiker und einem Notenblatt unterbrochen, das er ein- oder mehrmals gelesen hat, auch wenn er nun scheinbar darauf verzichten kann. In Wirklichkeit kann er es kaum entbehren, das Stück nur deshalb spielen, weil es das Notenblatt gibt, unsichtbar zwar, aber umso wirksamer, genauso wie unsere Anweisungen niemals besser befolgt werden als dann, wenn es nicht notwendig ist, sie jedes Mal zu wiederholen. Wir können nun sagen, wo das Modell zu verorten ist, das es uns erlaubt, die Musikstücke wiederzuerkennen, an die wir uns erinnern. Wir haben auf diesem Beispiel bestanden, weil die musikalischen Erinnerungen unendlich vielfältig sind. Wir glauben, uns hierbei auf dem Gebiet der reinen Qualität zu befinden,
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wie die Psychologen sagen. Jedes Thema, jede Phrase, jeder Teil einer Sonate oder Sinfonie ist für sich einzigartig. Gäbe es nicht irgendein Notationssystem, müsste wohl ein Gedächtnis, das all das behalten wollte, was ein Musiker in einer Reihe von Konzerten zu spielen hat, die Eindrücke jedes einzelnen Moments in der richtigen Reihenfolge anordnen. Welch unendlich schwierige Aufgabe müsste dem Gehirn zugemutet werden, um so viele Vorstellungen und Bilder aufnehmen und separat speichern zu können? Das aber ist nicht notwendig, sagt uns Bergson. Ihm zufolge reiche es aus, dass wir uns auf ein schematisches Modell beziehen, wonach jedes gehörte Stück durch eine Reihe von Zeichen ersetzt wird. Wir müssen nicht mehr alle einzelnen Tonfolgen behalten, deren jede, wie wir gesagt haben, für sich einzigartig ist, sondern nur eine kleine Anzahl von Noten, die der Anzahl der musikalischen Zeichen entspricht. Selbstverständlich müssten wir auch noch die verschiedenen Kombinationsmöglichkeiten dieser Töne im Gedächtnis behalten, und davon gibt es viele, völlig unterschiedliche, so viele wie es voneinander unterscheidbare Musikstücke gibt. Aber diese komplexen Kombinationen lassen sich in einfachere auflösen. Letztere sind zweifelsohne zahlreicher als die Noten, doch sie wiederholen sich in einem Stück oder von einem Stück zum anderen. Ein geübter Musiker, der eine große Anzahl unterschiedlicher Stücke gespielt hat, ist wie jemand, der viel gelesen hat. Denn auch die Zahl der Wörter übersteigt die der Buchstaben so wie die der Wortkombinationen die der Wörter selbst. Auf jeder neuen Buchseite sind weder die Wörter noch gar die Satzteile neu. Dies alles würde man sich recht schnell einprägen. Was wir nun aber behalten oder verstehen müssen, worauf sich unsere Aufmerksamkeit unbedingt zu richten hat, das sind die Kombinationen der elementaren Motive, die Zusammenstellungen bereits bekannter Noten oder Wörter. Auf diese Weise ist die Aufgabe des Gedächtnisses eingegrenzt und vereinfacht. Man versteht so, wie es möglich ist, ganze Stücke – und sogar eine große Anzahl von ihnen – auswendig zu lernen und beim Hören eine gesamte Notenfolge in ihrem Ablauf wiederzuerkennen. Es genügt, sich auf die eine oder andere Weise ein Modell ins Bewusstsein zu rufen, das schematisch darstellt, wie bekannte Elemente neue Kombinationen einzugehen vermögen. Es genügt, sich eine Zusammenstellung von Zeichen vorzustellen. Doch woher kommen diese Zeichen? Wie entsteht das schematische Modell? Nehmen wir Bergsons Perspektive ein, der von einem isolierten Individuum ausgeht. Ein solcher Mensch hört mehrere Male ein und dasselbe Musikstück. Jeder Hörvorgang geht in der Wahrnehmung mit einer unverwechselbaren Folge originärer Eindrücke einher. Bei jedem Hörvorgang wird aber zugleich im System von Gehirn und Rückenmark immer nach dem gleichen Muster eine Reihe motorischer Reaktionen erzeugt, welche sich von Mal zu Mal verstärken. Diese Reaktionen führen schließlich zur Bildung eines motorischen Schemas, das als stabiles
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Modell fungiert. Mit diesem Schema vergleichen wir in der Folge das gehörte Stück. Es ermöglicht uns so, das Musikstück wiederzuerkennen oder sogar wiederzugeben. An diesem Punkt folgt Bergson der physiologisch fundierten Theorie des Gedächtnisses, die aus dem individuellen Gehirn heraus, und aus ihm allein, die beschriebene Art und Weise zu erinnern und wiederzuerkennen erklärt. Gewiss werden Menschen mit einem ähnlich guten Gehör anders auf ein und dasselbe Stück reagieren, so oft man es ihnen auch vorspielen mag, je nachdem ob sie Noten lesen können oder nicht. Doch zwischen den einen und den anderen besteht nur ein gradueller Unterschied. Ein Musiker, der die Noten eines Stücks vor dem Hören gelesen hat, hat es bereits zergliedert und analysiert. Seine Aufmerksamkeit hat sich zunächst auf die von den Noten dargestellten Elemente gerichtet und er hat dabei die motorischen Reaktionen voneinander unterschieden, die der jeweiligen Note entsprechen. Das häufigere Wiederholen der gleichen Bewegungen hat diese Reaktionen verstärkt. Der Musiker hat geübt, die Bewegungen zu kombinieren, indem er den Kombinationen der Noten gefolgt ist, die er gehört und gelesen hat. Daher hat er von den Noten eine klare Vorstellung: er weiß, was sie alles beinhalten. Ist es daher überraschend, dass er sich nun den Zusammenhang der Bewegungen mit Hilfe der Zeichen vorstellen kann? Einem Menschen, der seine Aufmerksamkeit zuvor so gut wie gar nicht auf die elementaren Reaktionen gerichtet hat, welche die isolierten Töne oder einfachen Tonfolgen in ihm auslösen werden, fällt es sehr viel schwerer, die Bewegungen zu unterscheiden, die er auszuführen hat, wenn er ein Musikstück hört. Diese Bewegungen werden verworrener und unpräziser sein, meistens im Ansatz verbleiben. Dennoch würden sie sich nicht wesentlich von denen der Musiker unterscheiden. Dies beweisen Personen, die keine musikalische Ausbildung haben und sich doch an Motive erinnern können, sei es, weil sie sie häufiger gehört haben, sei es, weil sie ihnen aus irgendwelchen Gründen eher aufgefallen sind als andere. Die musikalischen Zeichen würden Bergson zufolge also keine unentbehrliche Rolle spielen. Ganz im Gegenteil, diese Zeichen könnten erst dann existieren, wenn wir die elementaren Noten bereits unterscheiden können. Gegeben wären dann jedoch Ensembles ineinander verschmolzener Töne, d. h. ein kontinuierliches Ganzes. Wir müssen dieses Kontinuum also zunächst entflechten, indem unser Nervensystem auf jeden Ton oder jede elementare Tonfolge mit einer bestimmten Reaktion antwortet. Unter dieser Voraussetzung werden wir diese nun unterschiedenen Bewegungen mit ebenso vielen Zeichen darstellen können. Nach Bergsons Auffassung verwandeln sich also die Bewegungen des Gehirns in Zeichen und nicht umgekehrt die Zeichen in Bewegungen des Gehirns. Es ist übrigens ganz natürlich, dass wir die Noten auf Bewegungen zurückführen können, weil sie eben nur Übersetzungen dieser Bewegungen sind. Doch die Bewegungen
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gingen bei Bergson den Noten voraus, wie der Originaltext seiner Übersetzung vorausgeht. Es gibt jedoch einen Sachverhalt, von dem diese Erklärung absieht, weil er gar nicht in vollem Licht erscheinen kann, wenn man von einem isolierten Individuum ausgeht. Es handelt sich um die Tatsache, dass die Zeichen aus einer Übereinkunft zwischen mehreren Menschen hervorgehen. Die musikalische Sprache ist eine Sprache wie jede andere; das bedeutet, sie setzt ein vorhergehendes Einverständnis zwischen denen voraus, die sie sprechen. Nun, beim Erlernen jedweder Sprache muss man sich einer schwierigen Dressur unterwerfen, die unsere natürlichen und instinktiven Reaktionen durch eine Reihe von Mechanismen ersetzt, deren vorgefertigtes Modell wir außerhalb unserer selbst, in der Gesellschaft finden. Im Falle der musikalischen Sprache könnten wir geneigt sein zu glauben, dass es sich anders verhält. Es gibt in der Tat eine Wissenschaft der Töne, die auf natürlichen, physischen und physiologischen Daten basiert. Nehmen wir einmal an, das Gehirn- und Nervensystem des Menschen sei ein Resonanzapparat, der von Natur aus in der Lage ist, Töne aufzunehmen und wiederzugeben. Die Rolle der musikalischen Sprache wäre darauf beschränkt, die Bewegungen der in ein Klangumfeld gestellten Apparate in Form von Zeichen zu fixieren. Die Konvention, auf die es uns hier ankommt, gründete demnach in der Natur und sie würde virtuell also vollständig bestehen, sobald auch nur ein einziger dieser Apparate gegeben wäre. Aber, wenn wir so argumentieren, vergessen wir, dass die Menschen und sogar die Kinder, bevor sie Musikunterricht erhalten, schon viele Lieder, Gesänge und Melodien gehört haben und ihr Ohr und ihre Stimme bereits zahlreiche Gewohnheiten angenommen haben. Mit anderen Worten, diese Apparate haben bereits über einen langen Zeitraum funktioniert und zwischen ihren Bewegungen gibt es nicht nur einen graduellen Unterschied – so, als wären die einen Apparate klangvoller als die anderen oder als würden die gleichen Töne durch sie deutlicher unterschieden. Vielmehr sind die Töne unterschiedlich oder, besser gesagt, sie werden unterschiedlich kombiniert. Die Schwierigkeit besteht genau darin, dahin zu gelangen, dass diese Apparate identisch bzw. wieder identisch werden, so dass sich deren Teile auf die gleiche Weise bewegen. Man muss daher von einem Modell ausgehen, das mit keinem dieser Apparate verwechselt werden kann. Es gibt nicht nur die Musik der Musiker. Schon früh wird ein Kind in den Armen seiner Amme zu ihren Liedern gewiegt. Später wiederholt es die Melodien, welche die Eltern in seiner Nähe vor sich hin summen. Es gibt Kinderlieder zum Spielen und Arbeitslieder. In den Straßen der großen Städte gehen die Volkslieder von Mund zu Mund, einst gespielt von Leierkästen, heute von Grammophonen. Der
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Singsang der Straßenhändler, Lieder, zu denen getanzt wird, erfüllt die Luft mit Tönen und Akkorden. Es ist für die Menschen gar nicht notwendig, Musikunterricht erhalten zu haben, um eine gewisse Anzahl an Melodien und Liedern als Erinnerungen aufbewahren zu können. Sind sie deshalb musikalischer? Wenn allerdings nur ein gradueller Unterschied zwischen jemandem bestünde, der eine Melodie wiedererkennt, weil er sie häufig gehört hat, und einem Musiker, der sie wiedererkennt, weil er die Noten gelesen hat oder sie gerade liest, so könnten wir glauben, ein Gedächtnis voller Melodien und Lieder genüge als mühelose musikalische Ausbildung. Nur eine kleine zusätzliche Anstrengung wäre notwendig, um nachzuvollziehen, wie sich die gespielten oder gehörten Töne als geschriebene Noten auf dem Papier aneinanderreihen. Doch so einfach ist es nicht. Auch eine Person, die schon viele Lieder gehört hat, bedarf einer umfassenden musikalischen Ausbildung, um in der Lage zu sein, sie vom Blatt lesen zu können. Diese Person wird nicht weniger Zeit und Mühen auf sich nehmen müssen als eine andere, die nur eine sehr kleine Anzahl von Liedern gehört und im Gedächtnis behalten hat. Ja, es ist sogar möglich, dass Erstere eine größere Anstrengung an den Tag legen muss als Letztere, um sich die musikalische Sprache anzueignen, weil ihre alten Gewohnheiten des Singens noch nicht verschwunden sind. Es gibt, mit anderen Worten, zwei Wege, das Behalten von Tönen im Gedächtnis zu erlernen, einen populären und einen gelehrten, und zwischen beiden besteht keinerlei Beziehung. Wie erinnern wir uns an ein Lied, wenn wir keine Musiker sind? Betrachten wir hierfür den einfachsten und zweifellos häufigsten Fall. Wenn wir eine Melodie hören, die einem Text unterlegt ist und ihn begleitet, so unterscheiden wir in ihr genauso viele Teile, wie der Text Wörter oder Satzglieder enthält. Die Töne scheinen gewissermaßen mit den Wörtern verbunden zu sein, die ihrerseits aus diskontinuierlichen Elementen bestehen. Hierbei spielen die Wörter die aktive Rolle. Tatsächlich kommt es häufig vor, dass wir eine Melodie wiedergeben können, ohne an die Wörter zu denken, die sie begleiten. Die Melodie allein führt nicht dazu, dass man sich an den Text erinnert. Hingegen ist es schwierig, den Text eines vertrauten Lieds aufzusagen, ohne zugleich innerlich seine Melodie mitzusingen. Es ist übrigens wahrscheinlich, dass – wenn wir, wie im ersten Fall, ein Lied wiedergeben, das wir einst mit seinem Text gesungen haben – die Wörter weiterhin da sind und ihre Wirkung ausüben, obwohl wir sie nicht artikulieren: Jede mit einem Wort korrespondierende Tonreihe bildet ein unterscheidbares Ganzes, so dass eine Strophe wie ein Satz betont und aufgesagt wird. Doch die Wörter selbst und die Sätze gehen aus sozialen Konventionen hervor, die ihren Sinn und ihre Rolle festschreiben. Das Modell, nach dem wir ein Lied zergliedern, befindet sich stets außerhalb von uns. Außerdem erinnern wir uns an Melodien, die keine Lieder sind, oder an Lieder, deren Text wir nie gehört haben. In diesem Fall werden Melodie und Lied
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nach den vom Rhythmus vorgegebenen Einheiten gegliedert. Wenn jemand mit den Fingern auf den Tisch klopft, um den Rhythmus eines uns bekannten Lieds wiederzugeben, so mögen wir es vielleicht merkwürdig finden, dass eine solche rhythmische Andeutung manchmal genügt, um uns an die Melodie zu erinnern. Doch es ist dies letztlich nicht mehr als die Erinnerung an eine Melodie mithilfe des Liedtexts, der sie begleitet hat. Das durch längere oder kürzere Abstände intermittierende Klopfen – zusammengezogene und beschleunigte, vereinzelte oder wiederholte Schläge – produziert einander identische Töne. Dennoch rufen sie im Bewusstsein eine Folge von Tönen unterschiedlicher Höhe und Lautstärke hervor. Aber genauso verhält es sich mit dem Liedtext, der seinerseits keinerlei Ähnlichkeit mit der ihn begleitenden Melodie aufweist. Unsere Verwunderung geht vorüber, wenn wir bemerken, dass der Rhythmus, ebenso wie die Wörter, uns zwar nicht an die Töne erinnert, wohl aber an die Art und Weise, in der wir die Tonfolge zergliedert und analysiert haben. Bei den Wörtern selbst ist es vielleicht der Rhythmus, der in dieser Hinsicht die wichtigste Rolle spielt. Wenn wir ein Lied aus dem Gedächtnis singen, fällt uns dann nicht häufig der Text ein, weil wir uns an den Rhythmus erinnern? Wir rezitieren die Verse, betonen Silbe für Silbe und verändern – wenn wir das Tempo des Lieds beschleunigen oder verlangsamen möchten – den Rhythmus. Wenn es letzten Endes der Rhythmus ist, der hierbei die Hauptrolle spielt, läuft alles auf die Frage hinaus, was ein Rhythmus ist. Gibt es ihn nicht in der Natur? Können wir uns vorstellen, dass ein isolierter Mensch ganz von allein rhythmische Einheiten in seiner Klangumgebung entdecken kann? Wenn irgendein natürliches Phänomen ihm einen Rhythmus andeutete, bräuchte er ihn nicht von anderen Menschen zu übernehmen. Die Geräusche jedoch, deren Ursprung natürlich, rein natürlich ist, folgen ohne Maß und Takt aufeinander. Der Rhythmus ist ein Produkt des Lebens in Gesellschaft. Ein Individuum könnte ihn von allein nicht erfinden. Die Arbeitslieder beispielsweise gehen durchaus aus wiederkehrenden Bewegungen hervor, und zwar aus jenen der kooperierenden Arbeiter. Diese würden übrigens die von ihnen erwartete Aufgabe nicht erfüllen, wären ihre Bewegungen nicht durch den Rhythmus der Lieder aufeinander abgestimmt. Das Lied bietet einer Einheit von Arbeitern ein Modell, und der Rhythmus des Lieds geht in ihre Bewegungen über. Er setzt also eine vorhergehende kollektive Übereinkunft voraus. Ebenso haben unsere Sprachen einen Rhythmus. Dies erlaubt uns Satzglieder und Wörter voneinander zu unterscheiden, die anderenfalls ineinander verschmelzen und uns nur eine kontinuierliche, verworrene Oberfläche bieten würden, die unserer Aufmerksamkeit keinerlei Anhaltspunkte gäbe. Wir werden von früh an mit Rhythmen vertraut gemacht. Aber es ist die Gesellschaft und nicht die materielle Natur, die uns veranlasst hat, uns ihnen zu fügen.
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Diese Gesellschaft, das ist wohl wahr, besteht vor allem aus Menschen, die keine Musiker sind. Zwischen den Liedern und Melodien, die sie hören und üben, und den Sonaten und Symphonien, die von guten Orchestern gespielt werden, gibt es zweifelsfrei genauso viele Unterschiede wie zwischen dem Rhythmus der Laien und dem der Musiker. Nehmen wir an, eine Person ohne musikalische Ausbildung wohnt der Aufführung eines schwierigen Musikstücks bei. Sie wird nichts von dem Stück im Gedächtnis behalten oder aber sich nur an diejenigen Melodien erinnern, die wie für das Singen gemacht scheinen, die also dem, was sie kennt, am meisten ähneln. Auf diese Weise lösen wir aus einer Symphonie oder einem lyrischen Drama einfach eine Melodie, ein Tanz- oder Marschlied heraus, die in der Tat für sich stehen können und sich ganz natürlich in den Rahmen derjenigen Lieder einfügen, die das Publikum versteht, behält und ohne große Mühe annimmt. Warum behalten wir nur diese Tonfolge und nicht die anderen im Gedächtnis? Dies rührt daher, dass wir ihren Rhythmus sofort erfassen. Nicht nur weil er einfach ist, sondern unser Ohr erkennt in ihm Bewegungen, ein Tempo, ein Wogen und Schwingen wieder, die ihm schon bekannt sind und fast vertraut vorkommen. Ein Musikstück nimmt manchmal die Menschen für sich ein, weil es darin etwas Banaleres und Trivialeres gibt, was es in dem Moment, als der Komponist es geschrieben hatte, kaum war, sondern zu etwas geworden ist, was es zuvor nicht gewesen, weil das Publikum es aufgegriffen und sich angeeignet hat. Vom dem Tag an, an dem Richard Wagners Walkürenritt Eingang in das Programm der Militärmusik fand oder man das Frühlingslied[4] mit der gleichen Intonation und dem gleichen Ausdruck wie irgendein sentimentales Lied gesungen hat, ist es nicht Wagners Schuld, wenn die kultivierten Zuhörer nicht mehr oder nur unter Anstrengung in der Lage waren, sich die herausgelösten Partien in ihrem ursprünglichen Zusammenhang zu vergegenwärtigen und sie darin einzuordnen. Wagner selbst hat daran erinnert, dass man zur Zeit der italienischen Oper vor allem deshalb eine Aufführung besuchte, um einige Bravourstücke zu hören, die darauf angelegt waren, die Gesangsfähigkeiten eines Tenors oder einer Primadonna in Szene zu setzen. Die anderen Stücke waren nur eine Art Verzierung. Das Publikum unterhielt sich, man hörte der Musik nicht einmal zu. Wagner wollte im Gegensatz dazu, dass der Gesang mit der musikalischen Entwicklung als Ganzes eine Einheit bilde und die menschliche Stimme nur ein Instrument unter den
4 [Halbwachs schreibt Frühlings Erwachen („L’éveil du Printemps“), bezieht sich jedoch sehr wahrscheinlich auf eine als Frühlingslied („Chanson de printemps“) popularisierte Version eines Abschnitts aus Richard Wagners Der Ring des Nibelungen. Die Walküre, 1. Aufzug: „Winterstürme wichen dem Wonnemond …“.]
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anderen sei. Er konnte das breite Publikum jedoch nicht daran hindern, sich vor allem derjenigen Partien seines Werks zu erinnern, die geschrieben schienen, um gesungen zu werden. Zu Beginn eines Konzerts, wenn Stille eingetreten ist und die ersten Takte kaum ertönt sind, entsteht ein abgegrenzter Raum, in den nicht nur kein Geräusch, sondern sogar keine Erinnerung an Geräusche von draußen mehr eindringt. Musiker und Zuhörer vergessen die Lieder und Melodien, die üblicherweise im Gedächtnis der Menschen umherschweifen. Um die Musik zu verstehen, die man hört, ist es nicht mehr nötig, sich auf jene konventionellen Modelle zu beziehen, welche die Gesellschaft im weiteren Sinn immer mit sich führt und uns unaufhörlich darbietet. Die Gesellschaft der Musiker jedoch entrollt vor unseren Augen ein unsichtbares Band, auf dem abstrakte Einteilungen ohne Bezug auf traditionelle und uns vertraute Rhythmen markiert sind. Untersuchen wir nun diesen besonderen Rhythmus, der nicht mehr der der Sprache ist und sich nicht aus ihr herleiten lässt. Die Rolle dieser Einteilungen besteht wohl nicht darin, dem Musiker oder versierten Zuhörer die Abfolge der Töne selbst wieder ins Gedächtnis zu rufen. Wie wäre dies auch möglich? Die Takte stellen lediglich identische Zeitintervalle dar. Es sind leere Rahmen. Die Tonfolge muss zunächst gegeben sein und sie ist es in der Tat; sei es in der Partitur, in der die Noten geschrieben stehen, sei es in der Luft, durch welche die Töne das Publikum der Musiker erreichen. Zugleich aber müssen wir beim Wiedergeben oder Hören dieser Töne in der Lage sein, dem Taktmaß zu folgen. Dafür reicht es nicht aus, dem Taktstock des Dirigenten mit den Augen zu folgen oder mit einem Teil seines eigenen Körpers im Takt mitzugehen. Man muss bereits darin geübt sein, die häufigsten Tonkombinationen in einen Takt zu bringen oder jede Tonfolge zu zergliedern und in ihr das Taktmaß zu erkennen, je nachdem ob man selbst spielt oder zuhört. Aber weder die eine noch die andere Vorgehensweise ist natürlich, ebenso wenig wie es der Rhythmus selbst und das Taktmaß sind. Tatsächlich hat der Rhythmus der Musiker nichts mit den anderen Rhythmen gemein. Letztere beziehen sich auf Praktiken, die ihrem Wesen nach nicht musikalisch sind, wie der Marsch, der Tanz und sogar die Sprache, deren erster Zweck im Kommunizieren von Gedanken und nicht in der Wiedergabe von Tönen besteht. Der musikalische Rhythmus hingegen setzt einen genuinen Klangraum sowie eine Gesellschaft von Menschen voraus, die sich nur für musikalische Töne interessieren. In einem genuinen Klangraum würden Menschen mit einem sehr fein ausgebildeten Gehör viele Nuancen in und viele Beziehungen zwischen verschiedenen Tönen unterscheiden können, die uns entgehen. Da aus einer musikalischen Perspektive die Länge des Tons und des Intervalls, das einen Ton von einem anderen trennt, wesentliche Eigenschaften von Tönen darstellen, wären
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diese Menschen für zeitliche Unterschiede empfänglich, die wir gar nicht bemerken. Nehmen wir einmal an, derart begabte Wesen, die sich hauptsächlich für Musiktöne interessieren, würden sich treffen und zu einer Vereinigung mit dem Ziel zusammenschließen, Musikstücke zu komponieren, aufzuführen und zu hören. Für die Aufnahme in diese Gesellschaft bedarf es der Anwendung von Messinstrumenten, die erlauben, alle möglichen Kombinationen von Tönen hinsichtlich ihrer Höhe, ihres Klangs, ihrer Intensität, der Geschwindigkeit ihrer Abfolge sowie ihrer Länge ungemein präzise zu erfassen. Rhythmus und Takt sind in einem solchen Milieu viel strikteren Regeln unterworfen als in all denjenigen Gesellschaften, in denen das musikalische Empfinden eng an dasjenige anderer Menschen gebunden bleibt. Übrigens ist der Einwand, der Unterschied zwischen dem populären Rhythmus und dem der Musiker sei hier nur ein gradueller und kein kategorischer, fehl am Platz, denn im einen wie im anderen Fall messen wir Tonlängen und Intervalle. Kann es dort, wo der Takt in den Vordergrund tritt, noch eine andere Unterscheidung geben als die des Grads an Präzision, welche der Takt mit sich bringt und ihm auferlegt wird? Daher genügen dem Musiker die Rhythmen nicht, denen man sich anpasst, wenn es sich um Sprache oder Bewegungen handelt. Er wird den Rhythmus nicht außerhalb klanglicher Phänomene suchen, sondern in der musikalischen Materie selbst, d. h. in den Tönen, wie sie nur von Musikern wahrgenommen werden. Es ist zweifelsfrei eine fruchtbare und legitime Konvention, die lediglich darauf abzielt, der Natur so nahe wie möglich zu kommen, da die Gesetze der Töne, wie sie die Musiker formulieren, ein physikalisches Fundament haben. Es ist jedoch ebenso eine originelle Konvention, da sie sich nicht nur an natürlichen Gegebenheiten ausrichtet, wie sie von Menschen wahrgenommen werden, die kein Mitglied der Gesellschaft der Musiker sind. Obwohl die Musik auf diese Weise von Konventionen durchdrungen ist, lässt sie sich gewiss oft von der Natur inspirieren. Das Rauschen der Blätter im Wind, das Plätschern des Wassers, Grollen von Donner, Marschgeräusche von Soldaten oder der Lärm einer Menge in Aufruhr, der Tonfall, den die menschliche Stimme annehmen kann, populäre oder exotische Lieder – alle von Dingen oder Menschen hervorgebrachten Geräusche und Laute sind bereits in musikalische Kompositionen eingegangen. Doch was die Musik auch den natürlichen oder menschlichen Milieus entnimmt, sie verwandelt es entsprechend ihrer Gesetze. Wenn die Kunst dergestalt die Natur nachahmt, so tut sie es, könnte man annehmen, um sich einen Teil ihrer Wirkungen zu Eigen zu machen. Trifft es nicht zu, dass bestimmte Stücke auf Motiven aufbauen, die an sich nicht musikalischen Ursprungs sind, als ob man den Eindruck der Musik durch den Reiz des Schauspiels erhöhen wollte? Die Titel solcher Kompositionen lassen vermuten, der Komponist habe die Absicht verfolgt, bei den Zuhörern Emotionen poetischer Art zu erwecken, in ihrer Phantasie Figuren und schauspielhafte Ereignisse hervorzurufen. Dies aber lässt
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sich vielleicht darauf zurückführen, dass es der Gesellschaft der Musiker manchmal nicht gelingt, sich von der übrigen Gesellschaft abzugrenzen, oder dass sie darauf nicht immer Wert legt. Andere Musiker jedoch sind exklusiver und gerade sie können zu der Spur dessen führen, was man die reine Musik nennen könnte. Stellen wir uns also vor, der Musiker verlasse den Kreis von seinesgleichen nicht. Was passiert, wenn er ein Motiv, das er der Natur oder der Gesellschaft entlehnt hat, in eine Sonate oder Symphonie einführt? Wenn das Motiv sich ihm da eingeprägt hat, wo es ihm auffiel, dann zunächst aufgrund seiner rein musikalischen Eigenschaften. Während ein Laie von einer Passage in einer Sonate beeindruckt ist, weil sie auch gesungen werden könnte, so wendet ein Musiker auf einem ländlichen Fest seine Aufmerksamkeit einem Lied zu, weil es aufgeschrieben und als Thema einer Sonate oder Orchesterkomposition verwendet werden könnte. Der Laie löst die Melodie aus der Sonate heraus. Dagegen löst der Musiker das Lied aus anderen Liedern heraus oder löst im Lied die Melodie vom Text ab bzw. entnimmt dem gesamten Lied sogar nur bestimmte Takte. Derart herausgelöst, beraubt, eines Teils ihrer Substanz benommen, wird die Melodie nun in die Gesellschaft der Musiker überführt und sich bald in neuer Gestalt zeigen. Mit anderen Tonfolgen verknüpft, womöglich in ein Ensemble von Tönen verschmolzen, wird ihr Wert, der Wert ihrer Teile durch die Beziehungen zu anderen, ihr bisher fremden musikalischen Elementen neu bestimmt. Wenn die Melodie die Rolle des Themas spielt, wird es im Laufe des Stücks weiter entwickelt werden, aber entlang rein musikalischer Regeln, d. h. indem man von der Melodie nimmt, was zweifelsohne darin enthalten war, was jedoch allein ein Musiker in ihr entdecken konnte. Spielt die Melodie die Rolle eines Motivs, wird sie allen Passagen des Stücks, in denen sie wiedererscheint, eine originelle Farbe verleihen; sie selbst wird sich jedes Mal verwandeln, doch ganz anders, als wenn es der Refrain eines Lieds wäre, der einen jeweils anderen Sinn annimmt, je nach dem Text der Strophe, zu dem er gesungen wird. Die musikalische Seele trennt sich so von diesem Körper und sie behält nicht notwendigerweise Spuren, die an ihn erinnern oder denken lassen. Da die Musik auf diese Weise die Töne von allen anderen Sinneseindrücken absetzt, stellen wir uns manchmal vor, sie würde uns auch von der Außenwelt abschneiden. Gewiss, die Töne haben allemal eine materielle Realität. Es sind physikalische Phänomene. Doch halten wir uns an die hörbaren Sinneseindrücke, denn der Musiker geht kaum über diese Ebene hinaus. Wenn die Musik aus der Außenwelt kommt, verpflichtet uns nichts dazu, dem Rechnung zu tragen. Während die Farben, Formen und anderen Eigenschaften der Materie an Gegenstände gebunden sind, besteht die Besonderheit der Musik darin, dass ihre Töne nur mit anderen Tönen in Beziehung stehen. Da nichts von dem, was in der
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Natur gegeben ist, den Werken der Musiker ähnelt, können wir uns leicht vorstellen, dass sie sich den Gesetzen der Außenwelt entziehen, dass sie sind, was sie sind, vermöge der Kraft des Geistes. Die Welt, in die uns die Musik führte, wäre demnach die innere Welt. Doch schauen wir etwas genauer hin. Eine Kombination oder Folge musikalischer Töne scheint uns von jedwedem Objekt losgelöst zu sein, weil sie selbst ein Objekt ist. Dieses existiert, das ist wohl wahr, nur für die Gruppe der Musiker. Aber was kann uns jemals die Existenz einer Tatsache, eines Wesens, einer Eigenschaft garantieren, wenn nicht die Übereinkunft, die darüber zwischen den Mitgliedern einer Gesellschaft entsteht, das heißt zwischen den Menschen, die sich dafür interessieren? Kein Individuum bringt aus sich selbst, aus sich selbst allein, ein neues Thema, eine neue Tonkombination hervor, die sein Geist aus dem Nichts erschafft. Vielmehr entdeckt es das Thema in der Welt der Töne, welche nur die Gesellschaft der Musiker imstande ist zu durchforschen. Dies gelingt ihm, weil es ihre Konventionen akzeptiert, ja, sogar weil es tiefer von ihnen durchdrungen worden ist als die anderen Mitglieder der Gesellschaft. Die musikalische Sprache ist kein Werkzeug, das im Nachhinein erfunden wurde, um festzuhalten und den Musikern mitzuteilen, was sich einer von ihnen zuvor spontan ausgedacht hat. Im Gegenteil, es ist diese Sprache, welche die Musik erschaffen hat. Ohne sie gäbe es keine Gesellschaft der Musiker, geschweige denn Musiker überhaupt, so wie es ohne Gesetze weder eine Stadt noch Bürger gäbe. Weit davon entfernt, uns in der Kontemplation innerer Zustände einzuschließen, lässt uns die Musik aus uns selbst heraustreten. Sie versetzt uns in eine noch viel exklusivere Gesellschaft, die anspruchsvoller und disziplinierter als alle anderen Gruppen ist, denen wir angehören. Doch dies liegt in der Natur der Sache, denn es handelt sich um präzise Daten, ohne jede Unschärfe, die mit der allerhöchsten Genauigkeit wiedergegeben und gehandhabt werden müssen. In Schopenhauers Kritik an Leibniz’ Definition der Musik – „exercitium arithmeticae occultum nescientis se numerare animi“[5], wörtlich: „die verborgene arithmetische Tätigkeit eines Geistes, der sich nicht dessen bewußt ist, daß er rechnet“ – stimmt Schopenhauer ihr zu. Aber er fügt hinzu, damit sei doch nur die Schale, das Gewand, das Äußere der Klangkunst erfasst.6 Man könnte sogar
5 [Halbwachs zitiert Gottfried Wilhelm Leibniz’ Brief an Christian Goldbach vom 27. April 1712 nach Schopenhauer, der die Ausgabe von Christian Kortholt verwendete: Viri Illustris Godefridi GVIL. Leibnitii Epistolae ad Diversos, Theologici, Iuridici, Medici, Philosophici, Mathematici, Historici et Philologici Argumenti. Lipsiae [d. i. Leipzig] 1734, 241.] 6 Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung. Leipzig: Reclam. S. 338. [Halbwachs bezieht sich auf das 3. Buch „Der Welt als Vorstellung zweite Betrachtung: Die Vorstellung, unabhängig vom Satze des Grundes: die Platonische Idee: das Objekt der Kunst“, § 52: „Wir erkennen
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einwenden, wir beschrieben das Gedächtnis des Musikers sehr treffend, jedoch in rein technischer Hinsicht. Es sei vielmehr notwendig zwischen zwei Aspekten zu unterscheiden: einerseits zwischen der Erinnerung an Bewegungen oder Zeichen, ja sogar zwischen der Erinnerung an Töne, wie sie durch diese Bewegungen erzeugt oder durch diese Zeichen dargestellt werden, und andererseits dem Eindruck, der in uns durch die Töne verursacht wird, ob wir sie nun selbst hervorbringen oder hören. Alles, was wir bisher ausgeführt haben, würde dann nur für den ersten dieser beiden Aspekte gelten, und man kann davon ausgehen, unser Gedächtnis hänge in allem, was im Wesentlichen die Kenntnis und die Praxis der Regeln der Musik impliziert, tatsächlich von der Gesellschaft der Musiker ab. Das musikalische Empfinden jedoch, ja sogar die Gefühle, welche die Musik in uns erregt, sind etwas völlig anderes. Auch wenn diese nicht die gesamte Erinnerung an ein Hörereignis oder eine Aufführung umfassen, so kommt es doch vor, dass sie in den Vordergrund rücken. Auf jeden Fall dürfen sie nicht vernachlässigt werden, da sonst der Musiker, ob er nun spielt oder zuhört, auf eine rein automatische Tätigkeit reduziert wird. Wenn ein Musiker seinen Platz in einem Orchester einnimmt und auf seinem Pult Noten vorfindet, die er oft gelesen hat, so lässt sich sagen, es hat sich nichts geändert: Die gleichen Noten werden in der gleichen Reihenfolge und mit der gleichen Geschwindigkeit wiedergegeben. Wir können ergänzen, dass auch sein Spiel weitestgehend das gleiche sein wird und auch die Schallplatten, welche die erste und letzte Aufführung aufgenommen haben, nicht eben leicht zu unterscheiden wären. Kann man nun sagen, dass wir hier das perfekte Modell eines musikalischen Gedächtnisses vor uns haben? Aber es umfasst doch, und zwar ausschließlich, das, was im Gedächtnis auf einen physikalischen Mechanismus zurückgeführt und auf Papier oder in der Nervensubstanz fixiert werden kann. All dies bleibt wie ein Druck oder eine Zeichnung erhalten, wie alles, was materiell und leblos ist. Aber behält das Gedächtnis nicht noch etwas Anderes? Ob man die Noten lediglich liest oder selbst spielt, es genügt nicht allein, die Zeichen zu verstehen. Ein Künstler interpretiert sie auf seine Weise, indem er
in ihr [der Musik] nicht die Nachbildung, Wiederholung irgend einer Idee der Wesen in der Welt: dennoch ist sie eine so große und überaus herrliche Kunst, wirkt so mächtig auf das Innerste des Menschen, wird dort so ganz und so tief von ihm verstanden, als eine ganz allgemeine Sprache, deren Deutlichkeit sogar die der anschaulichen Welt selbst übertrifft; – daß wir gewiß mehr in ihr zu suchen haben, als ein exercitium arithmeticae occultum nescientis se numerare animi, wofür sie Leibnitz [sic] ansprach (Leibnitii epistolae, collectio Kortholti: ep. 154.) und dennoch ganz Recht hatte, sofern er nur ihre unmittelbare und äußere Bedeutung, ihre Schale betrachtete.“ Arthur Schopenhauer. Die Welt als Wille und Vorstellung. Bd. 1. Leipzig: Reclam, [1892], 337–338.]
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sich von seinem aktuellen oder allgemeinen Gemütszustand inspirieren lässt. Er hat sein eigenes Temperament, so dass er in seine Eindrücke, seien sie auch rein musikalisch, wie auch in sein Spiel einen Teil seiner Originalität einbringt und sich dieser bewusst wird: Wie sollte er auch nicht dieses Werk oder jene Passage mit einer besonderen Gemütslage und Stimmung in Verbindung bringen, in denen er sie gehört oder gespielt hat, und sich der Nuance bewusst werden, die seine musikalischen Empfindungen von denen aller anderen unterscheidet? Ist es nicht so, dass er, indem er sich von den Musikern isoliert, indem er vergisst, Teil ihrer Gruppe zu sein und ihren Konventionen zu gehorchen, in diesem Augenblick die Erinnerung an die Momente wiederfindet, in denen er in seinem tiefsten Inneren in Kontakt mit einer Welt trat, welche ihm die Musik erst eröffnet hatte? Dennoch deutet nichts darauf hin, dass das musikalische Empfinden, auch in seinen offensichtlich persönlichsten Nuancen, uns von den anderen isoliert und uns in uns selbst einschließt. Wenn sie auch auf Regeln beruht, so umfasst die Gesellschaft der Musiker doch auch Menschen. Es ist eine Gesellschaft von Künstlern. Sie interessiert sich sowohl für die musikalischen Begabungen ihrer Mitglieder – für diese vielleicht sogar stärker – als auch für die Technik ihrer Kunst. Sie weiß sehr wohl, dass Regeln das Genie nicht ersetzen können. Sie erinnert sich gleichzeitig an die Werke und an jene, welche sie mit neuen Akzenten und Spielweisen be- und ihre musikalische Substanz angereichert haben, sei es, weil sie in den Werken die Inspiration des Komponisten gefunden haben, sei es, weil sie tiefer in ihre Bedeutung eingedrungen sind. Die Musiker beobachten sich gegenseitig, vergleichen sich, einigen sich auf bestimmte Hierarchien, auf das, was bewunderungswert und begeisterungswürdig ist: Es gibt Götter, Heilige und Hohepriester der Musik. Das Gedächtnis der Musiker beinhaltet also menschliche Informationen, zumal alle diejenigen, die in einer Beziehung zu musikalischen Daten stehen. Stellen wir uns nicht eigentlich vor, das musikalische Empfinden müsse sich, um sich weiterzuentwickeln oder zu vertiefen, der Technik entziehen sowie von all dem zurückziehen, was in der Gesellschaft der Musiker geschieht? Wenn wir das Temperament oder Talent eines Musikers bemerken und erkennen, wenn wir es schätzen und bewundern, dann, weil wir in seiner Feinfühligkeit und seinem Spiel eines der Modelle finden, die fortwährend in den Gedanken derjenigen präsent sind, die sich für Musik interessieren, ein Modell, das am besten die Tendenzen der Gruppe verwirklicht und sie am deutlichsten verkörpert. Der Musiker wird von der musikalischen Genialität höher empor gehoben als andere, aber es ist, als hätte ein unsichtbarer Dämon ihn ergriffen, dessen Geist zwar alle Musiker erfüllt, der sich jedoch nur von einer kleinen Zahl von ihnen einfangen und beherrschen lässt. Wo kann man ihn finden, wenn nicht inmitten der
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Gruppe?[7] Von nun an können ihn alle sehen, ihn anerkennen und sich selbst in ihm wiedererkennen. Von Taubheit betroffen, schrieb Beethoven dennoch seine schönsten Werke. Genügt es, wenn man sagt, er war von nun an, von seinen musikalischen Erinnerungen zehrend, in einer inneren Welt eingesperrt? Isoliert war er gleichwohl nur scheinbar. Die musikalischen Symbole haben für ihn die Töne und Tonverbindungen in ihrer Reinheit aufbewahrt. Doch er hatte sie nicht erfunden. Es war die Sprache der Gruppe. Tatsächlich war er in die Gesellschaft der Musiker stärker eingebunden als je zuvor und als alle anderen. Beethoven war nie allein. Es ist diese Welt voller Gegenstände, für ihn realer als die wirkliche, die er durchforschte; und er hat in sich selbst für diejenigen, die diese Welt bewohnten, neue Regionen entdeckt, die nichtsdestoweniger Teil ihres Terrains gewesen sind und die sich dort sofort mit vollem Recht niederließen. Aber vielleicht machen wir uns von der Musik einen etwas zu engen Begriff. Schließlich ist es nicht notwendig, in die Regeln dieser Kunst eingeweiht und in der Lage zu sein, Noten zu lesen, um ein Konzert zu genießen. Fragen wir einen Musiker, was er sich vorstellt und woran er denkt, wenn er aufeinanderfolgende Motive einer Symphonie hört. Er wird vielleicht antworten, dass er sich gar nichts vorstellt, dass es ihm genügt zu hören, dass er seine Aufmerksamkeit fortwährend auf den gegenwärtigen Moment richtet und ihn jede gedankliche Anstrengung
7 [In der französischen kritischen Ausgabe wird an dieser Stelle folgende von Halbwachs nicht ganz ausformulierte Text-Variante wiedergegeben:] Die Sphären der Musik zirkulieren im Raum: Nicht indem man sich in sich selbst zurückzieht, sondern indem man betrachtet, was außerhalb von uns ist, indem man sich mehr mit den Milieus als (mit uns selbst) identifiziert, versteht der Mensch ihre Harmonie. Die musikalische Welt befindet sich außerhalb von uns. Sie ist eine Konstruktion. Gerade im (Kreis) im Raum, der von einer Gesellschaft bestimmt wird, und nicht innerhalb der Grenzen eines individuellen Bewusstseins zirkulieren diese Sphären. Beethoven, der an Taubheit litt (war ziemlich isoliert), wurde von der unvollkommenen auditiven Welt getrennt, in der sich andere Menschen bewegten. (Zumindest) zehrte er von seinen musikalischen Erinnerungen. Können wir sagen, dass er in einem inneren Universum eingesperrt war? Nein. Aber er hat die allgemeine Gesellschaft nur verlassen, um sich mehr als zuvor in die Welt der Musiker einzubringen und auf einsamen Wegen zu spazieren. Die Symbole, die ihm die Töne darstellten, waren aus seinem Hörhorizont verschwunden (…) Die aus seinem Hörhorizont verschwundenen Töne waren nicht nur ein formbares Material, das auf eine Form wartete. (Die Welt der Musiker) stellt sich Töne und ihre Verbindungen nur mithilfe von Symbolen vor, welche ihm die Töne und ihre Verbindungen in ihrer Reinheit aufbewahrten. (Aber er war nur scheinbar isoliert.) Wird man sagen, dass er in einem inneren Universum eingesperrt war? Er lebte seine musikalischen Erinnerungen, und zwar mittels der Symbole, die ihm die Töne und Tonverbindungen in ihrer Reinheit bewahrten, er blieb (in Berührung), er blieb eng mit der Gesellschaft der Musiker verbunden, und da ihn nichts von ihr entfernte, war er in Wirklichkeit nie allein.
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von dem ablenken würde, was allein wichtig ist, nämlich die Musik. Dies wird uns auch der Zuhörer sagen, der das Musikstück beim Hören in der Partitur verfolgt. Doch es gibt viele andere Menschen, die gern Musik hören, weil sie den Eindruck haben, dabei freier über irgendein sie gerade beschäftigendes Thema nachdenken zu können, und weil es ihnen scheint, dass ihre Vorstellungskraft dabei aktiver ist und sie weniger von ihren Gedankengängen oder Tagträumen abgelenkt sind. Stendhal sagte: „Für mich ist die beste Musik diejenige, der ich zuhören kann, während ich darüber nachdenke, was mich am glücklichsten macht.“ Und weiter: „Das ist mein Thermometer: wenn eine Musik bei einem beliebigen Thema, mit dem ich mich gerade beschäftige, mich zu höheren Gedanken bewegt, ist diese Musik für mich hervorragend. Jede Musik, die mich an Musik denken läßt, ist für mich mittelmäßig.“8 Traurigkeit, Freude, Liebe, Zukunftspläne, Hoffnungen, worin auch immer unsere innere Gemütslage besteht, es scheint, dass jede Musik sie in bestimmten Momenten unterstützen, vertiefen, ihre Intensität erhöhen kann. Alles geschieht so, als ob die Abfolge der Töne uns eine Art formbares Material darbieten würde, das zwar keine bestimmte Bedeutung hat, aber jederzeit in der Lage ist, diejenige anzunehmen, zu der unser Geist gebracht wird, sie ihm zu geben. Wie erklärt sich diese eigenartige Verdoppelung? Wie erklärt es sich, dass unser Geist, während unser Ohr die Töne und das Wiegen des Takts vernimmt, tiefen Gedanken oder einer inneren Vorstellung nachgehen kann, die vom Irdischen losgelöst zu sein scheint? Geschieht dies, weil die Musik unsere Aufmerksamkeit von allen äußeren Gegenständen ablenkt und eine Art Leere in unserem Geist erzeugt, derart, dass jeder Gedanke, der uns kommt, ein freies Feld vorfindet? Oder liegt es vielmehr daran, weil die musikalischen Eindrücke gleich einem kontinuierlichen, unaufhaltsamen Strom aufeinander folgen und uns das Schauspiel einer sich immerfort erneuernden Schöpfung bieten, so sehr, dass unsere Gedanken in diesen Strom hineingezogen werden und wir die Illusion haben, auch wir könnten etwas erschaffen, nichts würde unserem Willen oder unserer Phantasie im Wege stehen? Dieses besondere Gefühl freier, phantasievoller Schöpfung ließe sich wohl eher durch den Kontrast zwischen den Milieus erklären: denjenigen, in denen die Aktivität unseres Verstandes sich normalerweise vollzieht, und dem Milieu, in dem wir uns jetzt wiederfinden. Reflexion und Empfinden, so sagten wir, sind bei einem Musiker, der ausschließlich Musiker ist, manchmal gezwungen, entlang schmaler Pfade zu gehen,
8 Stendhal, Lettres à ses amis, p. 63. [Halbwachs zitiert, leicht gekürzt, Stendhals Brief an Adolphe de Mareste vom 21. März 1818. Hier zitiert nach: Stendhal. Gesammelte Werke in Einzelbänden. Bd. 4: Briefe. Hg. Manfred Naumann. Berlin: Rütten und Loening, 1983, 422.]
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und müssen in einem bestimmten Bereich verbleiben. Die Töne gehorchen in der Tat einer Reihe außerordentlich präziser Gesetze. Als Musiker kann man die Musik nur verstehen und empfinden, wenn man sich ihnen unterwirft. Gehen wir hingegen in ein Konzert dieses besonderen Vergnügens wegen, frei zu denken und zu imaginieren, so wird es ausreichen, wenn wir uns den Gesetzen der Musik gerade soweit fügen, dass wir das Gefühl haben, in einem anderen Milieu zu sein, das heißt, dass wir uns vom Rhythmus wiegen und treiben lassen. So entkommen wir zumindest den Konventionen, die in anderen Gruppen auf einem gelastet und das Denken sowie die Einbildungskraft im Zaum gehalten haben. Wir sind gleichzeitig Teil von zwei Gesellschaften, aber zwischen beiden besteht ein solcher Kontrast, dass wir weder den Druck der einen noch den der anderen spüren. Überdies müssten wir uns in dieser Gleichgewichtsposition halten können. Wir verlieren dieses Gefühl der Freiheit, wenn wir uns entweder zu sehr auf die Musik konzentrieren, meist vergebliche Mühe aufwenden, sie zu verstehen, oder es uns nicht gelingt, Gram und Sorgen während des Konzerts zu vergessen, die wir in der Gruppe, aus der wir kommen, außerhalb der Gesellschaft der Musiker lassen wollten. Es ist die gleiche Musik, die Sie zuvor schon einmal gehört haben, aber sie übt nicht mehr die gleiche Wirkung auf Sie aus, und wenn Sie Ihre Erinnerung mit dem aktuellen Eindruck vergleichen, würden Sie sagen: „War das bereits alles?“ Es gäbe also zwei Arten, Musik zu hören, je nachdem ob sich die Aufmerksamkeit auf die Töne und ihre Kombinationen richtet – auf rein musikalische Aspekte und Objekte also – oder Rhythmus und Tonfolge nur eine Begleitung für unsere Gedanken bilden und diese in ihrer Bewegung mit sich fortreißen. Dieses Gefühl der Freiheit, der Erweiterung, der schöpferischen Kraft, eng an die musikalische Bewegung und den Rhythmus der Töne gebunden, lässt sich sehr wohl in allgemeinen Begriffen beschreiben. Aber es entsteht doch nur bei Zuhörern, die für die Musik selbst empfänglich sind. Gewiss, es sind dies Menschen und zugleich potentielle Musiker, genauso wie Musiker, die komponieren und spielen, Menschen sind. Es ist natürlich, dass sich die Ergriffenheit, die ihnen durch die Folge und den Zusammenklang von Tönen vermittelt wird, in ihrer Vorstellung manchmal in menschliche Gefühle und Gedanken übersetzt, die musikalischen und allen anderen Künstlern sowie sogar allen Menschen überhaupt gemein sind, ob sie für diese Kunst empfänglich sind oder nicht. Lesen wir noch einmal, was Schumann zu diesem Thema geschrieben hat, über „die schwierige Frage, wie weit die Instrumentalmusik in Darstellung von Gedanken und Begebenheiten gehen dürfe“:9
9 Robert Schumann, Gesammelte Schriften über Musik und Musiker, Leipzig, Reclam, Bd. I, S. 108 und 109. [Schumann wird nach der von Halbwachs verwendeten Ausgabe wiedergegeben:
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Man irrt sich gewiß, wenn man glaubt, die Komponisten legten sich Feder und Papier in der elenden Absicht zurecht, dies oder jenes auszudrücken, zu schildern, zu malen. Doch schlage man zufällige Einflüsse und Eindrücke von Außen nicht zu gering an. Unbewußt neben der musikalischen Phantasie wirkt oft eine Idee fort, neben dem Ohre das Auge und dieses, das immer thätige Organ, hält dann mitten unter den Klängen und Tönen gewisse Umrisse fest, die sich mit der vorrückenden Musik zu deutlichen Gestalten verdichten und ausbilden können. Je mehr nun der Musik verwandte Elemente die mit den Tönen erzeugten Gedanken oder Gebilde in sich tragen, von je poetischerem oder plastischerem Ausdrucke wird die Komposition sein…
Er fährt fort: Warum könnte nicht einen Beethoven inmitten seiner Phantasien der Gedanke an Unsterblichkeit überfallen? Warum nicht das Andenken eines großen gefallenen Helden ihn zu einem Werke begeistern? Italien, die Alpen, das Bild des Meeres, eine Frühlingsdämmerung, – hätte uns die Musik wirklich nichts davon zu sagen?10
Und weiter: Die Musik konnte ursprünglich nur die einfachen Zustände der Freude und des Schmerzes ausdrücken (Dur und Moll). Weniger Gebildete haben Mühe sich vorzustellen, daß sie speziellere Leidenschaften übersetzen kann, weshalb ihnen das Verständnis aller individuellen Meister (Beethoven, Fr. Schubert) so schwer fällt.[11]
Aber er fügt hinzu: „Durch tieferes Eindringen in die Geheimnisse der Harmonie ist es der Musik möglich geworden, die feinsten Schattierungen der Empfindung auszudrücken.“[12] Würden wir sagen die Empfindung schlechthin oder diejenige,
Robert Schumann. Gesammelte Schriften über Musik und Musiker. Hg. Heinrich Simon. Bd. 1. Leipzig: Reclam, o. J. [ca. 1889], 108. Weicht Halbwachs’ Übersetzung vom Originaltext Schumanns signifikant ab, wird letzterer nach dieser Ausgabe in den Anmerkungen geboten.] 10 Von dieser romantischen Vorstellung hebt sich am deutlichsten die von Edward Hanslick, Vom Musikalisch-Schönen (1857) ab, für den die Musik nichts anderes als sich selbst ausdrücken und übersetzen kann. [Der letzte Teilsatz lautet bei Schumann: „hätte uns die Musik noch nichts von allem diesem erzählt?“ Halbwachs lässt folgenden Satz zwischen „begeistern?“ und „Italien“ aus: „Warum nicht einen andern die Erinnerung an eine selig verlebte Zeit? Oder wollen wir undankbar sein gegen Shakespeare, daß er aus der Brust eines jungen Tondichters ein seiner würdiges Werk hervorrief, – undankbar gegen die Natur und leugnen, daß wir von ihrer Schönheit und Erhabenheit zu unsern Werken borgten?“ Schumann [ca. 1889], 109.] 11 [„Die Musik ist die am spätesten ausgebildete Kunst; ihre Anfänge waren die einfachen Zustände der Freude und des Schmerzes (Dur und Moll), ja der weniger Gebildete denkt sich kaum, daß es speziellere Leidenschaften geben kann, daher ihm das Verständnis aller individuelleren Meister (Beethovens, Fr. Schuberts) so schwer wird.“ Schumann [ca. 1889], 41.] 12 [„Durch tieferes Eindringen in die Geheimnisse der Harmonie hat man die feineren Schattierungen der Empfindung auszudrücken erlangt.“ Schumann [ca. 1889], 41.]
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wie sie nur von einem Musiker gefühlt und ausgedrückt werden kann? Denn, wir sagen es nochmals, die Musiker sind auch Menschen. Doch auch wenn sie von der technischen zur menschlichen Ebene übergehen können, besteht das Wesentliche darin, dass sie in der Welt der Musik verbleiben. Dies ist es, was – noch einmal – Schumann, zu verstehen gibt: Ein gebildeter Musiker wird eine Madonna von Raphael mit gleichem Nutzen studieren können wie der Maler eine Symphonie von Mozart. Noch mehr: einem Bildhauer wird jeder Schauspieler eine unbewegliche Statue, einem Maler jedes Gedicht ein Bild und der Musiker setzt jedes Gemälde in Töne um.[13]
Wir werden gleichermaßen sagen, dass die Begriffe und Gefühle sich in Musik umsetzen: Wie sonst riefe man sie später auch hervor, unabhängig davon, ob man Teil des Kreises der Musiker ist oder sich daran erinnert, ihm angehört und sich darin aufgehalten zu haben, wenn nicht, indem man um sich selbst herum, zumindest in Gedanken, diese Gesellschaft selbst, mit ihrer Technik, ihren Konventionen und auch mit ihren Beurteilungsmaßstäben und Gefühlsweisen rekonstruiert? Kehren wir zurück zu der Bemerkung, die unseren Ausgangspunkt bildete. Sie bezog sich auf die Rolle der Zeichen im Gedächtnis, wie wir sie am Beispiel der Musik genauer beleuchten konnten. Um Musikstücke aufführen, lesen oder auch nur hören zu lernen, um Töne, ihren Wert und ihre Intervalle wiederzuerkennen und zu unterscheiden, müssen Musiker eine Vielzahl von Erinnerungen aufrufen. Wo befinden sich diese Erinnerungen und in welcher Form werden sie bewahrt? Wenn wir die Gehirne von Musikern untersuchten, so haben wir gesagt, würden wir darin eine Vielzahl von Mechanismen finden, die sich dort jedoch nicht von selbst entwickelt haben. Damit sie sich herausbilden, würde es in der Tat nicht ausreichen, den isolierten Musiker den Dingen auszusetzen und Geräusche sowie natürliche Klänge einfach auf ihn einwirken zu lassen. Tatsächlich müssen wir, um diese zerebralen Fähigkeiten zu erklären, sie mit ihnen entsprechenden, symmetrischen oder komplementären Mechanismen in Beziehungen setzen, die in anderen Gehirnen, bei anderen Menschen am Werke sind. Mehr noch, eine solche Wechselbeziehung konnte nur deswegen hergestellt werden, weil sich zwischen
13 [„Der gebildete Musiker wird an einer Raphaelschen Madonna mit gleichem Nutzen studieren können, wie der Maler an einer Mozartschen Symphonie. Noch mehr: dem Bildhauer wird jeder Schauspieler zur ruhigen Natur [Anm. des Hg. Heinrich Simon: ‚Natur‘ scheint durch einen Druckfehler für ‚Statue‘ zu stehen.], diesem die Werke jenes zu lebendigen Gestalten; dem Maler wird das Gedicht zum Bild, der Musiker setzt die Gemälde in Töne um.“ Schumann [ca. 1889], 40.]
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diesen Menschen eine Übereinkunft etabliert hat. Eine solche jedoch setzt die auf Konvention beruhende Errichtung eines Systems materieller Symbole oder Zeichen voraus, deren Bedeutung klar definiert ist. Diese Zeichen repräsentieren ebenso viele Anweisungen, die die Gesellschaft der Musiker ihren Mitgliedern gibt. Sie sind sehr zahlreich, da eine beträchtliche Quantität an Klangkombinationen existiert und diese Kombinationen selbst Ensembles bilden, von denen jeder Teil einen genau definierten Platz in der Zeit einnimmt. Nun sind Musiker nach ausreichender Übung wohl in der Lage, sich an die einfacheren Anweisungen zu erinnern. Aber der Großteil von ihnen könnte die komplexen Anweisungen, diejenigen, welche sich auf eine sehr umfangreiche Klangfolge beziehen, nicht in seinem Gedächtnis behalten. Aus diesem Grund benötigen die Musiker Notenblätter vor ihren Augen, auf denen alle Zeichen und ihre Abfolge materiell fixiert sind. Ein ganzer Teil ihrer Erinnerungen erhält sich nur in dieser Form, d. h. außerhalb ihrer selbst, in der Gesellschaft derjenigen, die sich, wie sie, ausschließlich für Musik interessieren. Doch selbst die Erinnerungen, die sie in sich aufgenommen haben, Erinnerungen an Noten, Zeichen oder Regeln, finden sich nur deshalb in ihrem Gehirn und ihrem Geist, weil sie Teil dieser Gesellschaft sind, die es ihnen ermöglicht hat, sie sich anzueignen. Ihre Existenz hat nur in Bezug auf die Gruppe der Musiker Bestand und sie werden in ihrem Gedächtnis nur deshalb bewahrt, weil diese Musiker Teil der Gesellschaft sind oder waren. Deshalb können wir sagen, dass die Erinnerungen der Musiker in einem kollektiven Gedächtnis aufbewahrt werden, das sich in Raum und Zeit ebenso weit erstreckt wie ihre Gesellschaft. Wenn wir somit auf der Rolle der Zeichen im musikalischen Gedächtnis bestehen, vergessen wir nicht, dass ähnliche Beobachtungen in vielen anderen Fällen angestellt werden könnten. Gedruckte Bücher bewahren in der Tat die Erinnerung an Wörter, Sätze und Satzfolgen, so wie Noten die an Töne und Tonfolgen festhalten. In einer Kirche lesen Pfarrer und Gläubige laut oder leise Strophen, Sätze und Satzteile in einer bestimmten Reihenfolge, die sich, auch wenn sie nicht gesungen werden, wie Fragen und Antworten zueinander verhalten. In einem Theater spielen die Schauspieler ihre Rollen wie die Musiker ihre Stimmen. Sie mussten sie zuvor auswendig lernen – mithilfe gedruckter Aufzeichnungen. Befindet sich der geschriebene Text nicht vor ihren Augen, so haben sie ihn erst kürzlich, vielleicht im Laufe der letzten Proben wiedergelesen. Übrigens ist ein Souffleur anwesend, d. h. ein Vertreter der Gesellschaft der Schauspieler, der mitliest und ihnen jederzeit unter die Arme greifen kann, wenn ihr Gedächtnis sie im Stich lässt. In beiden Fällen, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen, wäre das Ziel der Gesellschaft nicht erreicht, wenn der Text nicht wortwörtlich wiederholt würde, wenn die Antworten nicht auf die Fragen folgten, wenn die Erwiderung nicht zum vorgesehenen Moment einsetzte.
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Im Übrigen sind die Sprache der Kirche und die des Theaters konventioneller als die gewöhnliche Sprache. Es handelt sich, so könnte man sagen, um Sprachen zweiter Potenz. Denn sie hätten weder von einem isolierten Menschen noch von einem Menschen der Gesellschaft im Allgemeinen erfunden werden können. Weder auf der Straße noch an irgendeinem Ort der Welt reden wir wie Schauspieler auf der Bühne oder zum Gebet versammelte Gläubige. Ohne Zweifel können aus verschiedenen Milieus entnommene Ausdrücke Eingang in Dramen oder Komödien finden; ebenso kann es geschehen, dass inmitten tradierter Texte Gebete anderer Art eingefügt werden, Gebete anlässlich eines neuen Ereignisses, lokale Gebete oder solche für einen bestimmten Menschen; es kann vorkommen, dass man für einen Moment die Sprache der Nation, Provinz oder Familie spricht. Aber all dies muss eine literarische oder erbauliche Form annehmen und geschieht so, als ob das Theater und die Kirche, statt sich neuer Ausdrucksmittel aus der allgemeinen Gesellschaft zu bedienen, dort einfach etwas von sich gefunden und wiederaufgenommen hätten, das sich dahin verirrt hatte. Bei allen Eigenheiten ähnelt die Gesellschaft der Schauspieler, wie die der Gläubigen, der Gruppe der Musiker, und man würde das kollektive Gedächtnis hier wie dort in gleicher Weise beschreiben. Diese Ähnlichkeit mag zum Teil darauf zurückzuführen sein, dass die Musik – auch wenn wir in dem Moment, in dem wir unseren Platz in der Kirche oder im Theater einnehmen, weder Gesang noch Musikinstrumente hören – dennoch einen großen Stellenwert in dieser Art Zusammenkünfte eingenommen hat und immer noch einnimmt. In Wirklichkeit und trotz dieser Analogien, so zutreffend und wichtig sie auch sein mögen, gibt es einen großen Unterschied zwischen der Gesellschaft der Musiker und allen anderen Gemeinschaften, die ebenfalls Zeichen verwenden und von ihren Mitgliedern fordern, buchstäblich dieselben Worte zu wiederholen. Warum erwarten wir, wenn wir ein Theaterstück sehen, von den Schauspielern, dass sie den gedruckten Text exakt wiedergeben? Wir erwarten es, weil es sich um den Text des Autors handelt, der seinem Denken trefflich entspricht, d. h. den Figuren, die er auf der Bühne hat darstellen wollen, den Charakterzügen und Leidenschaften, in die er uns einführen wollte. Hier haben Text, Wörter und Töne ihren Zweck nicht in sich selbst. Sie ermöglichen Zugänge zum Sinn, zu den Gefühlen und ausgedrückten Ideen, zum historischen Milieu oder zu den gestalteten Figuren, also zu dem, was am wichtigsten ist. Es ist das, woran sich unser Denken hält, was wir aufrufen, wenn wir uns daran erinnern werden, dieses Stück gesehen zu haben. Daher wird es jedoch nicht nötig sein, die Worte selbst zu finden, die wir gehört haben. Wir haben andere Mittel und Wege, uns daran zu erinnern, was wir damals empfunden haben. Mit anderen Worten, das kollektive Gedächtnis dieser Zusammenkünfte, während derer Theaterstücke aufgeführt werden, behält zweifelsfrei den Text der Werke,
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vor allem aber das, was diese Worte hervorgerufen haben, was nicht mehr der Sprache oder den Tönen angehört. Dasselbe gilt für die Gläubigen, die sich weniger an die Worte ihrer Gebete zu erinnern versuchen als an die religiösen Gefühle, durch die sie hindurchgegangen sind: Auch hier treten die Wörter in den Hintergrund, und wenn wir versuchen, sie genau zu wiederholen, dann weil wir meinen, dass der Geist untrennbar mit den Buchstaben verbunden sei. Aber es ist doch immerhin zuerst der Geist, den das kollektive Gedächtnis der religiösen Gruppe zu bewahren sucht. Im Gegensatz dazu begnügen sich die Musiker mit den Tönen und gehen nicht über sie hinaus. Damit zufrieden, eine musikalische Atmosphäre geschaffen, in ihr musikalische Motive entwickelt zu haben, ist alles, was sie evozieren und was sich nicht in ihrer Sprache ausdrücken ließe, für sie ohne Belang. Für einen Dichter, Philosophen oder Romancier, auch für einen verliebten oder ehrgeizigen Menschen wird es immer leicht sein – es steht ihm ohnehin frei – in einem Saal, in dem musikalische Werke aufgeführt werden, der Musik nur mit halbem Ohr zuzuhören und sich in seine Betrachtungen oder Tagträume zurückzuziehen. Ganz anders die Haltung eines Musikers, ob er nun spielt oder zuhört: in diesem Moment taucht er in das Milieu der Menschen ein, die einfach damit beschäftigt sind, Tonkombinationen zu erzeugen oder ihnen zuzuhören. Er befindet sich ganz in dieser Gesellschaft. Die anderen haben sich nur mit einem sehr kleinen Teil von sich eingebracht, genug, um sich ein wenig von ihrem gewohnten Milieu zurückzuziehen, von der Gruppe, der sie am stärksten verbunden sind und die sie in Wirklichkeit nicht verlassen haben. Um jedoch die Aufbewahrung musikalischer Werke und die Erinnerung an sie zu gewährleisten, kann man sich nicht, wie im Falle des Theaters, auf Bilder und Ideen, also auf einen Sinn berufen, denn eine solche Tonfolge hat keine andere Bedeutung als sich selbst. Daher muss sie so, wie sie ist, in ihrer Gesamtheit behalten werden. Die Musik ist ohne Frage die einzige Kunst, der diese Bedingung auferlegt ist, weil sie sich vollständig in der Zeit entfaltet, an nichts Bleibendem haftet und weil man sie, um ihrer habhaft zu werden, stets von Neuem hervorbringen muss. Daher gibt es kein besseres Beispiel, an dem deutlicher erkennbar würde, dass eine große Menge Erinnerungen mit all ihren Nuancen bis hin zum kleinsten Detail nur dann aufbewahrt werden kann, wenn alle Ressourcen des kollektiven Gedächtnisses eingesetzt werden.
Konstantin Baehrens
Diskursrelevanz der ‚Generation‘ Zur Diskussion um „Das Problem der Generationen“ von Karl Mannheim bei Richard Alewyn, Werner Krauss und Helmuth Plessner Wenn Sebastian Haffners Polemik von 1966 gegen die Rede vom ‚Generationenwechsel‘ auch fünfzig Jahre später noch besonders lesenswert erscheint (vgl. Haffner 1966)‚1 dann mag das nicht zuletzt mit der zunehmenden Durchsetzung einer Sprachregelung vom ‚kulturellen Gedächtnis‘ zusammenhängen, die ungeachtet ihrer terminologisch differenzierten Spezifik in Alltagskulturen wie Feuilletons weitreichenden Eingang gefunden hat. Einen kodifizierenden Übergang vom noch als relativ heterogen und wandelbar vorgestellten und potentiell demokratisch konzipierten ‚kommunikativen Gedächtnis‘ zum homogener und fixierter, strukturierter, hierarchisierter und exklusiver erscheinenden ‚kulturellen Gedächtnis‘, das für die Kanonisierung des öffentlich und offiziell – und in der Konsequenz, so ist anzunehmen, auch zunehmend alltäglich-privat – zu Erinnernden als wesentlich gedacht wird, sollen unabhängig von den Tradierungsformen einer jeweiligen Gesellschaft nach biblischem Vorbild veranschlagte „3–4 Generationen“ vermitteln, die intern ebenfalls homogenisiert erscheinen (Assmann 1988, 10–15, besonders 14–15; vgl. Assmann 2013, 50–51, 70, 217; vgl. dazu Voigt 2014, 267). Gesellschaftliche Pluralität und Diversität augenscheinlich homogenisierende ‚Generationenwechsel‘ werden so funktionalisiert. Zugleich erscheint der Übergang im Paradox einer absoluten Abgeschlossenheit beider Gedächtnisformen gegeneinander, die durch die Annahme eines innerhalb von jeweiligen ‚Generationen‘ mit der Gegenwart wandernden ‚floating gap‘ abzustützen versucht wird. Dem Anspruch, „das Problem der Kontinuierung kollektiv geteilten Wissens aus der Biologie in die Kultur“ zu verlagern, den Jan Assmann bereits 1988 Maurice Halbwachs und Aby Warburg attestierte (9, vgl. 10–11), läuft die uneingeschränkte Inanspruchnahme der Rede von ‚Generationen‘ zuwider (vgl. 9, 11)‚2 der es um eine „Vererbbarkeit im kulturell institutionalisierten Erbgang einer Gesellschaft“ zu tun ist (14).
1 Der Artikel wurde im August 2016 in der Rubrik Zurückgeblättert online wiederveröffentlicht; vgl. https://www.blaetter.de/archiv/zurueckgeblaettert (7. September 2017). Für anregende Gespräche danke ich Robert Lepenies und Victor Strazzeri. 2 Der Hinweis auf einen auch heute häufig geradezu herbeigeredeten „Tod der letzten Zeitzeuhttp://doi.org.de/10.1515/9783050093932-004
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Schon seit Beginn der 1980er Jahre scheint sich in deutschsprachigen Geschichtswissenschaften ein zunehmend verstärktes Interesse an einem Konzept der ‚Generation‘ durchzusetzen, das als analytischer Begriff für historische Wissenschaften nutzbar gemacht wird. Dieser Umstand wurde bereits mehrfach von Theoretikerinnen und Theoretikern betont, die teilweise ein solches Interesse ihrerseits unterstützen (vgl. etwa Bohnenkamp et al. 2009; Jureit 2006; Jureit und Wildt 2005; Kraft und Weißhaupt 2009; Parnes et al. 2008; Reulecke und Müller-Luckner 2003). Während hier der ‚Trend‘ bemerkt wird, erfolgt eine kritische Reflexion des Phänomens, dem der von ihnen herausgegebene Band selbst angehört, bei Andrea Geier und Jan Süselbeck (2009). Die verschiedenen Vertreterinnen und Vertreter dieser Tendenz haben unter anderem gemein, dass sie sich auf Karl Mannheims Aufsatz „Das Problem der Generationen“ von 1928 als auf eine grundlegende Schrift zumeist zustimmend beziehen. Der folgenreiche Aufsatz, der zuerst in zwei Teilen in den Heften 2 und 3 des siebten Jahrgangs der Kölner Vierteljahreshefte für Soziologie erschien, wird heute als eine der ersten systematischen Untersuchungen zum Thema aufgefasst, mit Bezug auf welche die verschiedenen Ansätze ihre Anwendung eines Konzepts der ‚Generation‘ theoretisch zu fundieren suchen. Daher werde ich mich im Folgenden Mannheims kanonisch gewordenem Text selbst zuwenden, um zunächst seinen argumentativen Gehalt zu rekonstruieren und ihn daraufhin mit seiner mittlerweile verbreiteten Rezeptionsweise in Beziehung zu setzen; anhand kritischer Stellungnahmen von Richard Alewyn, Werner Krauss, Helmuth Plessner und aus der sich etablierenden ‚Generationenforschung‘ soll die historisch-begriffliche Seite des Problems beleuchtet werden. Um die Etablierung des Konzepts der ‚Generation‘, für das nicht nur im deutschsprachigen Raum (vgl. Riedel 1974; Liebau 1997), sondern etwa auch in spanisch- und französischsprachigen philosophischen bzw. englischsprachigen soziologischen Wörterbüchern allenfalls neben José Ortega y Gasset (vgl. Ferrater Mora/Terricabras 1994) insbesondere Karl Mannheim als theoretische Bezugsfigur auftritt (vgl. Rivière 1990; Scott und Marshall 2005, 242–243; Kohli 2009, 1901), hatten sich nach den Diskussionen in der späten Weimarer Republik speziell in der unmittelbaren Nachkriegszeit, vor und nach Gründung der beiden deutschen Staaten, Debatten entsponnen, aus denen exemplarisch die ebenfalls eher begriffstheoretischen Positionierungen von Krauss und Plessner herausgegriffen werden. Abschließend sollen danach
gen“ (Assmann 1988, 17, Anm. 6) kann dabei freilich nicht ausbleiben, insofern mit ihm ein quasi natürliches Entstehen und Vergehen des ‚kommunikativen Gedächtnisses‘ mit dem seiner als unmittelbar konzipierten ‚Träger‘ begründet wird; vgl. Assmann 2013, 50.
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Überlegungen hinsichtlich möglicher Ursachen für ein verstärktes Interesse angestellt werden.
1 Karl Mannheims „Problem der Generationen“ Das Interesse an der ‚Generation‘ durchlief einige Schwankungen der ‚Konjunktur‘, die Stefan Willer folgendermaßen skizziert: Im späten 19. Jahrhundert wird die Generation zum überaus beliebten Thema der Geschichtsund Gesellschaftswissenschaften. Das Interesse steigt um die Jahrhundertwende und vor allem nach dem Ersten Weltkrieg nochmals deutlich an. In den 1920er-Jahren entsteht im deutschen Sprachraum eine Fülle von Arbeiten zum Konzept der Generation, auf deren bekannteste, Karl Mannheims umfangreichen Aufsatz Das Problem der Generationen (1928), sich bis heute die meisten Versuche einer Operationalisierung des Generationsbegriffs beziehen. (2008, 218)
Mannheim hatte 1928 seinerseits auf Traditionen von Versuchen der Theoretisierung typologisierend zurückgeblickt, indem er in seinem zweigeteilten Aufsatz in einem ersten Schritt den Stand der Diskussionen und die Problemlage zusammenfasste und zu erklären suchte, was er als eine die „‚innere Lage‘“ der Fragestellung betreffende Darstellung vorstellte, während der zweite Teil des Aufsatzes darauf angelegt ist, „den eigenen Zugang zur Lösung zu sichern“ (1964, 509). Mannheim, der über Wien in die Weimarer Republik emigriert war, nachdem die ungarische Räterepublik, in der er seinen ersten Ruf an eine Hochschule erhalten hatte, gewaltsam beendet worden war, positionierte sich damit in der noch im Entstehen begriffenen deutschsprachigen Soziologie als gebürtiger Ungar jüdischer Herkunft zu einer Zeit, da osteuropäisch-jüdische Migration vielen an deutschen Debatten Beteiligten als Problem galt (vgl. dazu Hoffrogge 2018). 1930, im Jahr nach dem Erscheinen seiner Aufsatzsammlung Ideologie und Utopie, die ebenfalls lebhafte Diskussionen auslöste, erhielt er dann einen Ruf auf den Lehrstuhl für Soziologie an der Universität in Frankfurt am Main. Nur wenige Jahre später sollte er erneut emigrieren müssen.
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1.1 Die ‚innere Lage‘ des Problems: Der ‚positivistische‘ und der ‚romantisch historische‘ Ansatz Die Problemstellung, der sich Mannheim 1928 konfrontiert sieht‚3 zeichne sich, so gibt er an, durch zwei unterschiedliche Traditionslinien der vertretenen Lösungsansätze aus; einerseits ein ‚positivistischer‘ Ansatz, der eine rationale Quantifizierbarkeit der Periodisierungsproblematik anstrebe, anderseits ein ‚romantisch-historischer‘ Ansatz, der zugunsten eines qualitativen Zugriffs zu einer ‚Verinnerlichung‘ des Problems, also einer angenommenen bloßen Erlebbarkeit und Begrenzung der Mitteilbarkeit der jeweils benannten Kriterien, führe. Im ersten Teil seiner Untersuchung übt Mannheim methodologische und sachliche Kritik an beiden Wegen, um sich einen eigenen Zugang zu erarbeiten, der daraufhin im zweiten Teil erläutert wird. Zentral für die ‚positivistische‘, von David Hume und Auguste Comte beeinflusste und – mit der Ausnahme des Romanisten Ernst Robert Curtius – vornehmlich nicht-deutsche Richtung sei, so Mannheim, „das Bestreben, ein generelles Gesetz der historischen Rhythmik zu finden, und zwar auf Grund des biologischen Gesetzes der begrenzten Lebensdauer des Menschen und der Gegebenheit der Altersstufen“ (1964, 511). Es sind zwei wichtige externe Kritikpunkte, die Mannheim gegen diesen homogenisierenden Ansatz vorbringt: Hierbei wird alles womöglich vereinfacht, eine schematisierende Psychologie sorgt dafür, daß das Alter stets als das konservative Element und die Jugend nur in ihrem Stürmertum gesehen wird. Die Geistesgeschichte sieht in dieser Darstellung aus, als hätte man nur die ‚historischen Zeittafeln‘ studiert. (512)
Während Mannheim die biologischen ‚Gegebenheiten‘ der begrenzten Lebensdauer und der verschiedenen ‚Altersstufen‘ akzeptiert, problematisiert er die Vereinfachung, die einerseits in einer eindeutigen Zuschreibung von bestimmten psychologischen Dispositionen an gewisse derartige Stufen liege und anderseits in einer Schematisierung und Homogenisierung historischer Zeitabschnitte bestehe. Historiographische Periodisierung wird so vorausgesetzt, anstatt ihre Erarbeitung zu ermöglichen.
3 Zur Bedeutung dieses Jahres für die Entwicklung der Diskurse um ‚Generationen‘ vgl. die Darstellung von Steffen Stadthaus (2009, 35–36), der davon ausgeht, dass 1928 „das Gefühl, von den politischen Eliten übergangen und vergessen worden zu sein, […] sich durch die prekäre Situation infolge der Wirtschaftskrise verschärft[e] und […] die Ressentiments einer jungen bürgerlichen Elite gegen die Weimarer Demokratie“ steigerte, was dann besonders prominent im Tat-Kreis artikuliert wurde.
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Mindestens ebenso schwer wiegt der zweite Einwand, den Mannheim gegen den ‚positivistischen‘ Zugang erhebt: „Geburt und Abgang der Menschen in der Gesellschaft erfolgt kontinuierlich, volle Intervalle gibt es nur in der einzelnen Familie“ (513). Generationen, die qua Geburt voneinander eindeutig unterschieden sind, bestehen demnach nur innerhalb von Familien‚4 während die Kontinuität von Geburten in gesellschaftlichem Rahmen eine derartige Differenzierung nicht zulässt. Es müssen also neben dem Faktum des Geburtszeitpunkts noch weitere Faktoren hinzukommen, um ‚Generationen‘ voneinander abgrenzen zu können.5 Die ‚romantisch-historische‘ Fragestellung bezieht Mannheim speziell auf die deutsche Entwicklung und auf Wilhelm Dilthey als deren herausragenden, allerdings vergleichsweise nüchternen Vertreter, der etwa im Gegensatz zu Wilhelm Pinder auch von der ‚positivistischen‘ Richtung gelernt habe (vgl. 517, 520). Die „von konservativen Impulsen getriebene Romantik und der Historismus“ (515) haben demnach eine Unterscheidung im Begriff der Zeit hervorgebracht; im Gegensatz zum modern-liberalen Zeitbegriff, der veräußerlicht und mechanisiert erscheine und in der Figur des Fortschritts vorgestellt werde, betreffe der konservative Begriff nicht messbare, rein qualitativ zu erfassende ‚innere‘ Zeit, etwa des Erlebnisses. In diesem Sinne habe Dilthey die ‚Generation‘ als eine ‚Gleichzeitigkeit‘ bezeichnet, da ihre Mitglieder in ihren gemeinsamen Erlebnissen einheitlichen Wirkungen ausgesetzt seien, insofern sie gleichzeitig aufwachsen (vgl. 516). Bei Dilthey sei demnach noch die „Gemeinsamkeit der Einflüsse geistiger und gesellschaftlicher Art“ ausschlaggebend (518). Demgegenüber habe der Kunsthistoriker Wilhelm Pinder in Das Problem der Generation in der Kunstgeschichte Europas (1926) eine ‚Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen‘ betont, die dadurch zustande komme, dass eine ‚Generation‘ mit einer angeborenen ‚Entelechie‘ einer früheren ‚Generation‘ mit andersgearteter ‚Entelechie‘ gegenüberstehe (vgl. 518). Während die sogenannte ‚Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen‘ von Mannheim
4 Ausgegangen wird dabei häufig vom Normalbild einer durch das Gebot von (serieller) Monogamie und Inzesttabu geprägten Kleinfamilie. Vgl. dazu auch Liebau 1997, 299. Innerhalb von Institutionen, Fachdisziplinen etc. scheint es aufgrund relativer Begrenztheit und dauerhafter Beschäftigung zu ähnlichen Dynamiken kommen zu können, die hier allerdings bereits weit diffuser als in Familien auftreten. Vgl. auch Haffner (1966, 731), der in Abgrenzung von undemokratischen, „hierarchisch geordnete[n] Gebiete[n]“ meinte: „Mir scheint, daß in allen Verhältnissen, wo kein Erbfolgeprinzip herrscht […‚] von Generationenwechsel eigentlich keine Rede sein kann.“ 5 Als Zeitgenosse Mannheims zog der Germanist Julius Petersen angesichts der Kontinuität neuer Geburten, die sich ja auch nicht nach Jahresgrenzen richtet, Schulen und Universitäten zur Begründung der Zusammenfassung nach Jahrgängen heran. Auch dabei ist zu beachten, dass sich die Rhythmen solcher Institutionen häufig nicht an den Grenzen des Kalenderjahrs ausrichten und gewiss nur begrenzt homogenisierend wirken können. Vgl. Petersen 1930, 138.
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produktiv gedeutet wird, um heterogene Strömungen einer Zeit und Gesellschaft ins Blickfeld zu bekommen (vgl. 521), übt er doch auch Kritik an dieser Konzeption angeblich angeborener und zugleich nur durch Rückschluss indirekt konstatierbarer ‚Entelechien‘, „die es sicher gibt“ (520), wie er in Parenthese zugesteht, und die er in die Nähe des Martin Heidegger zugeschriebenen „Begriff[s] des die Einheit erst konstituierenden Geschicks“ (518) rückt: „Diese romantische Strömung in Deutschland“, hier vertreten in Pinder, der „das Gesellschaftliche“ nicht erwähne, „überdeckt völlig die Tatsache, daß zwischen der naturalen Sphäre und der geistigen noch die Ebene der gesellschaftlich formierenden Kräfte liegt“ (519). In der Konsequenz wendet sich Mannheim gegen den Versuch, „unmittelbar alles aus dem Vitalen heraus zu erfassen“ (522) – „das unmittelbar Vitale“ exemplifiziert er dabei als „Rasse, Generation (die es sicher auch gibt)“ (520) – und betont stattdessen die Relevanz der „Formungsschicht“ des „sozialen Geschehens“ (522). So benennt er etwa „die gesellschaftlichen Beziehungen, in denen Menschen zunächst sich treffen, in ihren Gruppierungen, wo sie sich gegenseitig entzünden“, und verwendet Pinders Bezeichnung mit ironisierender Distanz, wenn er weitergehend ausführt, dass nicht zuletzt die „realen Kämpfe“ dieser Gruppen „Entelechien schaffen und von hier aus auch Religion, Kunst usw. in Mitleidenschaft ziehen und weitgehend modellieren“ (520). Entsprechend verweist er unter Bezugnahme zu Diltheys Position auf den jeweiligen „Kulturzustand und die gesellschaftlich politischen Verhältnisse“ (521, Anm. 20).
1.2 ‚Generationslagerung‘, ‚Generationszusammenhang‘ und ‚Generationseinheit‘: Mannheims Lösungsvorschlag Aus der Kritik an beiden Richtungen ergibt sich für Mannheim neben einem Überblick über die ‚innere Lage‘ des Problems auch die „Hauptthese“ des gesamten Aufsatzes, „daß die vitalen Gegebenheiten […] nichts [sic] unmittelbar inhaltlich geistige Verhaltensweisen involvieren (jung nicht unbedingt progressiv gleichzusetzen ist usw.), sondern nur formale Tendenzen, die allein im Elemente des Sozialen und Geistigen relevant werden können“ (535, Anm. 31). Mannheim formuliert als zentrale These seinen Einwand gegen die ‚romantisch-historische‘ Richtung neu, indem er ihn zugleich gegen eine schematisierende Sichtweise der ‚positivistischen‘ Richtung, die etwa jung mit progressiv gleichgesetzt hatte, abgrenzt. Im zweiten Teil des Aufsatzes schlägt Mannheim einen eigenen Lösungsweg vor. Seiner vorhergehenden Kritik entsprechend berücksichtigt er dabei nicht allein den biologischen Faktor der Geburt, sondern besonders auch bestimmte soziale und ideologische Faktoren, die im Folgenden ausgeführt werden. Zudem wird die ‚Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen‘ aus dem ‚romantisch-historischen‘
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Ansatz produktiv übernommen, um mögliche Homogenisierungen, wie sie im ‚positivistischen‘ Ansatz vorlagen, zu vermeiden. Auf der anderen Seite liefert der ‚positivistische‘ Ansatz den Impuls, für die Erklärung gesellschaftlicher Veränderungen wissenschaftlich feststellbare biologische und andere Daten hinzuzuziehen und nicht bloß in einer Art von Deduktion6 von einer vorgefassten Hypothese auf die wirkliche Entwicklung zu schließen. Die drei konstitutiven Merkmale, die Mannheim in seinem Aufsatz als notwendig und gemeinsam hinreichend für das Vorhandensein einer ‚Generation‘ anführt, benennt er als erstens die „Generationslagerung“, zweitens den „Generationszusammenhang“ und drittens die „Generationseinheit“; diese drei Merkmale seien „jene Momente, die auf Grund einer abstrahierenden Analyse am Generationsphänomen als solchem ablesbar sind“ (541). Mannheims Vorgehensweise reflektiert sich in seinem Selbstverständnis als eine Form der Induktion, bei der von konkreten Beobachtungen ausgehend versucht wird, eine allgemeinere Theorie zu entwickeln. Mannheims Bestimmung der ersten Kategorie, der ‚Generationslagerung‘, weicht von einer mittlerweile verbreiteten Deutung ab; während ‚Generationslagerung‘ in diesen Fällen mit ‚Kohortenzugehörigkeit‘ gleichgesetzt wird‚7 sich also allein aus dem gemeinsamen Geburtsjahr der betroffenen Individuen zu ergeben scheint, betont Mannheim für die ‚Generationslagerung‘ einen erforderlichen geteilten ‚historisch-sozialen Lebensraum‘ und eine bestimmte psychologische Disposition: Nicht das Faktum der in derselben chronologischen Zeit erfolgten Geburt, des zur selben Zeit Jung-, Erwachsen-, Altgewordenseins, konstituiert die gemeinsame Lagerung im sozialen Raume, sondern erst die daraus entstehende Möglichkeit an denselben Ereignissen, Lebensgeschichten usw. zu partizipieren und noch mehr, von derselben Art der Bewußtseinsschichtung aus dies zu tun. […] Nur ein gemeinsamer historisch-sozialer Lebensraum ermöglicht, daß die geburtsmäßige Lagerung in der chronologischen Zeit zu einer soziologisch-relevanten werde. (536)
Notwendige hinzukommende Bedingung – nach der ‚Ermöglichung‘ durch die Beschränkung auf einen ‚historisch-sozialen Raum‘ – für die ‚Generationslagerung‘ sei die gemeinsame „Erlebnisschichtung“; denn „[a]uch ältere noch
6 Vgl. zum Begriffspaar Induktion – Deduktion auch Lepsius 2005, 52. Leider werden die Gründe für Lepsius’ Ablehnung der Deduktion dort nicht weiter expliziert. 7 Vgl. etwa Bebnowski 2012, 16; Reulecke 2003, VIII; auch Jürgen Zinnecker (2003, 41) bestimmt die ‚Generationslagerung‘ allein über einen „zeitlich umgrenzten Zeitraum“, wenngleich er Mannheims Kriterium einer „sozialen Lagerung“ mitzitiert.
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präsente Generationen erleben Teilstrecken historischen Geschehens zusammen mit der heranwachsenden Jugend und sind dennoch nicht derselben Lagerung zuzurechnen“; der Grund, den Mannheim hier anführt, weshalb Ältere dennoch nicht derselben ‚Lagerung‘ zugehörten, liegt dabei nicht (oder nicht unmittelbar) in ihrem Geburtsjahr, sondern in ihrer von den Jüngeren abweichenden „Lebensschichtung“ (536).8 Auch in der zweiten Betonung, ‚Kohortenzugehörigkeit‘ sei nicht mit ‚Generationslagerung‘ gleichzusetzen, führt Mannheim aus, dass „die bloß chronologische Gleichzeitigkeit nicht einmal dazu ausreicht, eine verwandte Generationslagerung zu konstituieren. Man muß im selben historisch-sozialen Raume […] zur selben Zeit geboren worden sein, um ihr zurechenbar zu sein.“ (542) Die Einschränkung auf ‚denselben historisch-sozialen Raum‘ tritt also nicht erst mit dem ‚Generationszusammenhang‘ hinzu, sondern ist für Mannheim unentbehrlicher Bestandteil der ‚Generationslagerung‘ selbst. Positiv formuliert Mannheim die Bestimmung der ‚Lagerung‘ in zwei Schritten. Der erste betrifft die Bestimmung des Zeitpunkts: „Verwandt gelagert ist eine Generation zunächst dadurch, daß sie am selben Abschnitt des kollektiven Geschehens parallel teilnimmt.“ (535) Könnte in dieser Bestimmung die gemeinsame ‚Lagerung‘ noch allen zur gleichen Zeit lebenden Individuen zukommen, macht im zweiten Schritt die Einschränkung auf Individuen mit der gleichen ‚Erlebnisschichtung‘ deutlich, dass die angenommene gleiche ‚Empfänglichkeit‘ eine ausschlaggebende Rolle spielt (vgl. 535–536). Diese ‚Erlebnisschichtung‘ wird mit historisch unspezifischen anthropologisch-psychologischen Annahmen über die „Strukturiertheit menschlichen Bewußtseins“ erläutert und begründet, die sich in einer ‚inneren Dialektik‘ ausdrücke: Während die ‚ersten Eindrücke‘ und ‚Jugenderlebnisse‘ die „Tendenz“ besäßen, „sich als natürliches Weltbild festzusetzen“ (536), werde alle darauf folgende Erfahrung (als „zweite, dritte Schicht“) vor diesem Hintergrund verarbeitet, indem sie positiv oder negativ darauf bezogen bleibe. Die Zugehörigkeit zu einer ‚Generationslagerung‘ hängt für Mannheim also nicht unmittelbar vom Geburtsjahr ab, sondern davon, ob die betreffende Person zu einer bestimmten Zeit auf eine bestimmte, ihr restliches Leben prägende Weise empfänglich war und zu dieser Zeit in einem bestimmten ‚historisch-sozialen Raum‘ lebte, von dem sie ihre Eindrücke empfing. Die ‚Lagerung‘ wird dementsprechend von Mannheim als sozial vermittelt beschrieben.
8 Hier wird ersichtlich, dass möglicherweise ältere Personen mit einer ähnlichen ‚Bewußtseins-‘, ‚Erlebnis-‘ oder ‚Lebensschichtung‘ wie jüngere (falls so etwas möglich sein sollte) mit diesen zur selben ‚Lagerung‘ gezählt werden könnten, ungeachtet ihres unterschiedlichen Geburtsjahrs.
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Die Altersgenossenschaft in einem ‚historisch-sozialen Raum‘, also in geographischer, zeitlicher, politischer und sozialer Nähe zueinander ist es, die bisweilen mit Mannheims ‚Generationszusammenhang‘ verbunden wird.9 Doch wie gezeigt, ist damit erst die ‚Lagerung‘ abgedeckt – womöglich sogar ungenau, da die Altersgenossenschaft allein selbst innerhalb dieses ‚Raums‘ noch nicht hinreicht, solange nicht gleiche ‚Empfänglichkeit‘ der Betroffenen gewährleistet ist. Mannheim selbst konstatiert über den ‚Generationszusammenhang‘ im Gegensatz zur ‚Generationslagerung‘: „irgendeine konkrete Verbindung muß noch hinzukommen“ (542). Durch die gemeinsame Lagerung seien Individuen erst „potentiell“ zum selben ‚Zusammenhang‘ gehörig. Als notwendig Hinzukommendes bezeichnet er die „Partizipation an den gemeinsamen Schicksalen dieser historisch-sozialen Einheit“ (543). Es geht also um eine konkrete Verbindung der Personen, die durch tatsächliche Teilnahme an gemeinsamen, sie alle betreffenden Entwicklungen gestiftet wird. Erst wenn sie von den selben „sozialen und geistigen Umwälzungen“ betroffen seien und sich in irgendeiner Weise dazu verhalten, gehörten Personen demselben ‚Generationszusammenhang‘ an (542–543). Die Art freilich, wie sie sich dazu verhielten, könne durchaus unterschiedlich, ja sogar entgegengesetzt ausfallen. Auf dieser Ebene kommt neben einer nicht willkürlich selbst-beeinflussbaren Determiniertheit eine Dimension des Selbstverhältnisses hinzu. Konnte es zu Geburt und Aufenthalt zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort und der entsprechenden Empfänglichkeit in der ‚Generationslagerung‘ noch relativ unabhängig vom aktualen Verhalten der betroffenen Personen kommen, konstituiert sich das reale Teilnehmen an einer Entwicklung gerade im jeweiligen Verhalten, also zumindest vermittelt über eine Ebene der (möglicherweise auch unreflektierten) Entscheidung. Für das Vorliegen einer ‚Generationseinheit‘ ist nach Mannheim eine „viel konkretere Verbundenheit“ (544) notwendig als beim ‚Generationszusammenhang‘; markanterweise wählt er zur Illustration dieser Ausführungen als Beispiel die „romantisch-konservative“ und die „liberal-rationalistische Jugend“ zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts, von denen beide demselben ‚Generationszusammenhang‘ zuzurechnen seien, jedoch aufgrund der unterschiedlichen Arten ihrer Stellungnahme zu den gleichen Ereignissen jede für sich eine eigene ‚Genera tionseinheit‘ bilde. Auch hier läuft der Antagonismus auf eine ähnliche Gegen-
9 Vgl. erneut Bebnowski 2012, 16–17. Hier wird das Kriterium des ‚Partizipierens‘ zwar zitiert, aber nicht als aktive Teilnahme ausgedeutet. Vgl. außerdem den der Konstruktion von ‚Generationen‘ deutlich distanziert gegenüberstehenden (und dabei auch auf Helmuth Plessner zurückgreifenden) Beitrag von Ulrich Herrmann (2003, 170, 185).
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überstellung hinaus wie bei der Skizzierung der beiden Ansätze zur Lösung des theoretischen Problems der ‚Generation‘, nämlich auf den Gegensatz von ‚romantisch‘ und ‚rationalistisch‘. Wodurch sich diese unterschiedlichen Stellungnahmen begründen lassen, bleibt unter der Perspektive der ‚Generation‘ ungeklärt. Mannheim fasst definitorisch zusammen: „Dieselbe Jugend, die an derselben historisch-aktuellen Problematik orientiert ist, lebt in einem ‚Generationszusammenhang‘, diejenigen Gruppen, die innerhalb desselben Generationszusammenhanges in jeweils verschiedener Weise diese Erlebnisse verarbeiten, bilden jeweils verschiedene ‚Generationseinheiten‘ im Rahmen desselben Generationszusammenhanges.“ (544) Die ‚Generationseinheit‘ sei ein „einheitliches Reagieren, ein im verwandten Sinne geformtes Mitschwingen und Gestalten“ (547). Ein solches Verhalten entwickle sich freilich „zumeist nicht freischwebend, ohne persönlichen Kontakt, sondern in konkreten Gruppen“ (547). Allerdings schränkt Mannheim diese Bedingung ein, indem er angibt, häufig werde nur der ‚Kern‘ einer ‚Generationseinheit‘ von einer konkreten Gruppe gebildet, „die von sich aus die wesentlichsten Anregungen, die fortbildbaren Keime in die Welt setzt“ (548).
1.3 Mannheims programmatischer Vergleich von ‚Generation‘ und ‚Klasse‘ Im Zusammenhang der Betonung des sozialen Vermitteltseins des Konzepts vergleicht Mannheim die Zugehörigkeit zu einer ‚Generation‘ mit derjenigen zu einer ‚Klasse‘; so sei die ‚Klassenlage‘ zwar inhaltlich grundverschieden, aber strukturell dem zu Beginn des Aufsatzes von Mannheim noch unspezifisch verwendeten ‚Generationszusammenhang‘ teilweise ähnlich (vgl. 525, 542, Anm. 40). Dabei hänge die ‚Klassenlage‘ allein von der „wirtschaftlich machtmäßigen Position“ ab (526) und sei „fundiert durch das Vorhandensein einer jeweilig sich verändernden, ökonomischen, machtmäßigen Struktur der Gesellschaft“ (527). Im Vergleich dazu sei die ‚Generationslagerung‘ „fundiert durch das Vorhandensein des biologischen Rhythmus im menschlichen Dasein […]. Durch die Zugehörigkeit zu einer Generation, zu ein und demselben ‚Geburtsjahrgange‘ ist man im historischen Strome des gesellschaftlichen Geschehens verwandt gelagert.“ (527) Um die Analogie zwischen ‚Klasse‘ und ‚Generation‘ zu plausibilisieren, tendiert Mannheim an dieser frühen, noch unterminologischen Stelle des Aufsatzes zu einer Vereinfachung seines Konzepts der ‚Generation‘ und scheint die ‚Lagerung‘ auf bloße ‚Kohortenzugehörigkeit‘ zu reduzieren. Allerdings beeilt er sich anzufügen, dass „aus biologischen Strukturen […] das soziale Phänomen der Generationszusammengehörigkeit“ (527) nicht unmittelbar ableitbar sei, sondern vielmehr als „besondere[r] Typus der sozialen Lagerung“ (528) verstanden werden müsse.
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Im Verlauf seiner Argumentation führt Mannheim weitere Vergleiche von Momenten der ‚Generation‘ mit solchen der ‚Klasse‘ an. So betont er, „Generationszusammenhang [sei] entscheidend mehr als bloße Generationslagerung, genau so, wie bloße Klassenlage noch nicht gleichzusetzen ist einer sich selbst konstituierenden Klasse“ (542). ‚Generationseinheit‘ als „Ausdruck“ der ‚Lagerung‘ vergleicht er mit „Klassenideologie“, die – als kollektives Selbstverständnis – ähnlich entstehe (vgl. 548), wobei er erneut, diesmal bereits terminologisch gefestigt, zur Reduktion der ‚Generationslagerung‘ auf einen „Geburtsjahrgang“ tendiert (550). Darüber hinaus macht er Gemeinsamkeiten hinsichtlich des über eine konkrete Gruppe hinausweisenden Wirkungspotentials der Selbstdeutung und bisweilen ihres Ursprungs aus: Aber auch insofern besteht eine gewisse Parallele zwischen dem Klassenphänomen und dem Generationsphänomen, als genau so, wie eine Klassenideologie in Epochen, die der betreffenden Ideologie günstig sind, über den adäquaten Träger – über die entsprechende Klassenlage – hinauszugreifen imstande ist‚[10] auch bestimmte Generationsimpulse in den ihnen günstigen Zeitsituationen einzelne Glieder früherer oder späterer Jahrgänge zu erfassen fähig sind. […] Aber wir können noch weiter gehen, es kommt sehr häufig vor, daß den wesentlichen Keim neuer Generationshaltungen einzelne, noch der vorangehenden Generation angehörige und in dieser noch isoliert dastehende Individuen, (Vorläufer) in sich ausbilden und durch ihr Leben erarbeiten, genau so, wie es möglich ist, daß die Vorläufer einer Klassenideologie noch weitgehend einer fremden Klasse angehören. (549)
Während Mannheim eine geradezu leninistische Avantgardetheorie paraphrasiert, indem er annimmt, dass eine „Klassenideologie“ „ursprünglich von enger verbundenen, konkreten Gruppen gestaltet“ werde und „sich nur insofern durch[setze], als sie mehr oder minder adäquater Ausdruck und Formung der zu einer bestimmten sozialen Lagerung gehörenden typischen Erlebnisse“ sei (548), nennt er als Beispiele für ‚Generationsbewusstsein‘ stiftende Impulsgeber unter ihnen günstigen ideologischen Voraussetzungen Friedrich Nietzsche „als Vorläufer der gegenwärtigen Neuromantik“ und Hippolyte Taine nach seiner „vaterländische[n] Wendung“ von 1870–1871 als „Vorläufer einer nationalistischen Genera-
10 Hier verweist Mannheim zum Beleg, dass „z. B. in den 40er Jahren zur Zeit der Hochflut oppositioneller Ideen auch adelige Jünglinge an diesen Ideen partizipiert“ hatten, (vermeintlich) auf Karl „Marx, Revolution und Kontre-Revolution in Deutschland, 3. Aufl., Stuttgart 1913, S. 20 f., 25“ (1964, 549, Anm. 43). Dies ist der einzige explizite Marx-Bezug im ganzen Aufsatz. Die Artikelserie wurde tatsächlich von Friedrich Engels geschrieben und unter Marx’ Namen publiziert, wie seit 1913, nach der Veröffentlichung des Briefwechsels von Marx und Engels, bekannt war; vgl. Marx und Engels 1960, Bd. 8, 607, Anm. 1.
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tion“ in Frankreich (549, Anm. 45). So deutet er auch auf ein Verbreitungspotential dominanter Deutungsmuster über Grenzen der jeweiligen ‚Lagerungen‘ hinweg hin.
1.4 ‚Generation‘: definitorische Zusammenfassung Eine ‚Generation‘ liegt nach Mannheims Definition erst dann vor, wenn alle drei angeführten Merkmale vorhanden sind (vgl. 558). Individuen ähnlichen Alters, die zur selben Zeit in Bezug auf ein oder mehrere bestimmte Ereignisse in ähnlicher Weise empfänglich waren und diese Ereignisse für ihr weiteres Verhalten prägend verarbeiteten, die in zeitlicher, geographischer, politischer und sozialer Nähe zueinander leben oder zumindest zum relevanten Zeitpunkt lebten (‚Generationslagerung‘), an den gleichen ‚sozialen und geistigen Umwälzungen‘ aktiv teilnahmen (‚Generationszusammenhang‘) und sich auf eine ideologisch einheitliche Weise dazu verhalten oder darauf reagieren (‚Generationseinheit‘), gehören demzufolge einer ‚Generation‘ an – die zudem häufig in konkreten Gruppen gebildet und deren Selbstdeutung als zusammengehörige Einheit bisweilen von einzelnen älteren ‚Vorläufern‘ ‚gestiftet‘ werde (vgl. dazu unten, Anm. 17). Individuen, die diese Gesamtheit von Eigenschaften nicht miteinander teilen, gehören demnach nicht derselben ‚Generation‘ an, selbst wenn sie im selben Jahr geboren wurden. Von den genannten Merkmalen der ‚Generation‘ ist nur eines biologisch bestimmt: das Alter. Alle übrigen sind ausschließlich sozial determinierte Faktoren. Erst wenn diese bestimmten sozialen Faktoren zusammenkommen, kann für Mannheim auch der biologische Faktor wirksam werden. Er selbst hebt diesen Umstand hervor; „das Wesentlichste“ seiner Theorie sei demzufolge: „Nicht eine jede Generationslagerung, also nicht etwa ein jeder Geburtsjahrgang schafft […] Kollektivimpulse […]. Wenn dies geschieht, so wollen wir von einem Aktivwerden der in der Lagerung schlummernden Potentialität sprechen.“ (550) Ein solches Aktivwerden hänge „von außerbiologischen und außervitalen Faktoren ab[…]“ (552–553). Diese Faktoren seien auf ökonomischem oder ‚geistigem‘ Gebiet angesiedelt, wobei Mannheim die Frage, in welchem dieser beiden Gebiete die „gesellschaftliche Dynamik ihre Dominante“ habe, als gesondert zu klären unbeantwortet lässt (553). In Frage gestellt wird die Verwendung der Bezeichnung ‚Generation‘ hingegen durch die Kontinuität der Geburten, die Unbegründetheit des ‚Jahrgangs‘ sowie anthropologisch-psychologischer Annahmen, die auf der Behauptung beruhen, es gebe eine (bei allen Menschen gleiche) ‚Altersstufe‘, die durch Erfahrungen unvergleichlich stark geprägt werde. Die soziale Heterogenität von Altersgrup-
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pen tritt gegenüber einer Betonung bestimmter Gemeinsamkeiten in den Hintergrund.11 Warum, so könnte deshalb gefragt werden, wird das Konzept ‚Generation‘ überhaupt angewandt?12
2 Geographische, politische und soziale Differenzierung der Theorie: Richard Alewyns Kritik Der Frage nach den Gründen für ein verstärktes theoretisches Interesse am Konzept der ‚Generation‘ in historischen Wissenschaften begegnet der Germanist Jost Hermand in seiner historischen Darstellung der eigenen Disziplin auf methodologischer Ebene. Die „Vermischung sozialer Gesichtspunkte mit abstrakt geistesgeschichtlichen oder irrational-biologistischen Argumenten […] im Bereich der sogenannten Generationstheorie, die ihre größte Wirksamkeit zwischen 1925 und 1933 entfaltete“, begründet Hermand mit dem Bemühen, den bisher rein wesensmäßig definierten Epochenbegriffen der Geistesgeschichte endlich einen etwas konkreten Charakter im Sinne der soziologischen Konzepte Karl Mannheims zu geben, also neben den Altersgruppen auch die sozialen Bezüge als determinierende Faktoren bei der Herausbildung kultureller Phänomene einzubeziehen. Wohl den besten germanistischen Beitrag zu solchen Überlegungen leistete Richard Alewyn mit seinem Aufsatz Das Problem der Generation in der Geschichte[…]. Alewyn ging hier nicht nur vom Phänomen der Gleichaltrigkeit aus, sondern unterschied zugleich zwischen sozial, national und regional determinierten Gruppen. (1994, 92–93)
Alewyn hatte 1929 in Reaktion auf Mannheims Arbeit zwar konzediert, es sei nach den neueren Untersuchungen etwa Petersens und Diltheys rational verständlich, dass eine „Gruppe von Menschen, die, als sie auf den Plan trat, eine bestimmte ‚Situation‘ [mit diesem Begriff bezog sich Alewyn auf Benno von Wiese; K. B.], d. h. bestimmte geistige, künstlerische, politische, gesellschaftliche Tatsachen […] vorfand“ und sich dazu verhalten musste, eine „konkrete[…] Erlebens- und Wirkensgemeinschaft“ bilden könne; er fügte hinzu: „die Geburts-
11 Vgl. zu dieser Kritik auch Riedel 1974, auf den bisweilen verwiesen wird, als stehe er seinem Gegenstand rein affirmativ gegenüber. 12 Mannheim selbst stellte in einer Anmerkung als „die in erster Reihe zu lösende Frage“ einer nicht ‚formalsoziologischen‘, sondern ‚historisch-soziologischen‘ Untersuchung: „Warum ist gerade in der jüngsten Zeit Generationseinheit ins Bewußtsein gehoben worden?“ (1964, 526, Anm. 25)
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zeit ist deren Voraussetzung, aber von sekundärer Bedeutung“ (1929, 520). Die Tatsache jedoch, „daß es Generationen gibt“, hatte der Germanist, der 1933 wegen des Nachweises einer jüdischen Großmutter als ‚Vierteljude‘ Lehrverbot erhalten und dann zunächst nach Frankreich emigrieren sollte, dabei als einen Umstand dargestellt, der in den letzten Jahren den Forschern nicht nur „immer deutlicher“, sondern auch immer „wichtiger“ geworden sei (519; Ersteres zit. von Willer 2008, 218 und 259). Er verkannte keineswegs die Bedeutung der dem Wort als Begriff zugesprochenen Relevanz für die diskursive Konstruktion der ‚Generation‘. Erst dadurch, dass gesellschaftliche Gruppierungen die Bezeichnung auf sich selbst anwenden oder von anderen als solche bezeichnet werden, kann tatsächlich eine ‚Generation‘ zustande kommen. Die Anwendung der biologisierenden Bezeichnung auf soziale Akteure kann demnach zur Konstituierung von ‚Generationen‘ führen. Insofern stellt sich nicht die Frage, ob es sie gibt, sondern vielmehr, warum. In starkem Gegensatz zur eigenen Position, die die Geburtszeit als sekundär ansieht, stellte Alewyn die Position etwa Pinders dar, für den eine ‚Generation‘ „nicht oder erst sekundär ein realer Zusammenhang“ und „zunächst […] potentielle ‚Entelechie‘“ sei (520). Die Annahme einer derartigen angeborenen, geheimnisvollen, determinierenden ‚prästabilierten Harmonie‘ bezeichnete Alewyn als unangemessene Spekulation, die durch Anschauung ersetzt werden müsse. Auch für ihn lässt sich dieser Gegensatz in der Unterscheidung von Induktion und Deduktion ausdrücken: für die von Alewyn verworfene, spekulative Theorie „stehen am Anfang nicht mehr auffällige Gemeinsamkeiten, für die nachträglich in der Altersgenossenschaft eine Erklärung gesucht wird, sondern am Anfang steht ein chronologischer Zeitabschnitt, und Aufgabe des Forschers ist es jetzt, für alle zwischen zwei Jahresgrenzen geklemmten Geburten das (postulierte) Gemeinsame zu suchen“ (521). Im Gegensatz zu einem derartigen deduktiven Vorgehen befürwortete Alewyn eine auf Anschauung basierende, induktive Theorie, für die „ausschlaggebend ist, daß Generationen wie alle historischen Wirklichkeiten zunächst Evidenzen (Gestalten) sind und nicht rechnerische oder sonstige Konstruktionen“ (523). In dem Artikel „Generation“ im Sachwörterbuch der Deutschkunde von 1930 führte Alewyn, der damit innerhalb der deutschen Entwicklung verschiedene Linien voneinander differenzierte, als Gegensatz zu Pinder, dem Bibliothekar Hans von Müller und dem Musikhistoriker Alfred Lorenz aus: Andere Forscher (Dilthey, Mannheim, Petersen) verstehen die Bildung von G[enerationen] aus Umwelt und Erlebnissen. Danach ist für die Entstehung von G[enerationen] entscheidend, daß die gleichzeitig aufwachsenden die gleiche geistig-gesellschaftliche Zeitlage vorfinden und von den gleichen Zeitereignissen auf der gleichen Entwicklungsstufe
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getroffen werden. So entsteht der G[eneration]scharakter. Dieser verstärkt sich, wenn er zum Bewußtsein kommt und zu Zusammenschluß und gemeinsamem Handeln treibt. […] Danach besteht G[eneration] zunächst aus diesen Gleichartigkeiten, die zwar eine gewisse Gleichaltrigkeit voraussetzen, ohne daß diese aber streng chronologisch markiert zu sein brauchte. (1930, 404)
Ist die ‚gewisse Gleichaltrigkeit‘, von der Alewyn hier sprach, der gleichartigen ‚Erlebnisschichtung‘, wie Mannheim sie für die ‚Generationslagerung‘ formuliert hatte, vergleichbar, so hängt ihre Gebundenheit an biologische Daten davon ab, inwieweit die anthropologisch-psychologischen Annahmen über die ‚Strukturiertheit des Bewusstseins‘ zutreffen, die Mannheim unter Berufung vor allem auf Eduard Spranger (vgl. 1964, 530, Anm. 27) vorgebracht hatte. Doch Alewyns Einwände gegen eine deduzierende Theorie gingen noch weiter, insofern die sehr allgemein gehaltenen Charakteristiken einer postulierten ‚Generation‘ „überhaupt nur dadurch ermöglicht [werden], daß der größere Teil der Generationsmitglieder einfach ignoriert wird. Müller muß so viele Erscheinungen als Vorläufer, Nachzügler und Außenseiter preisgeben, daß damit die streng chronologische Ordnung im Prinzip schon längst verlassen ist.“ (Alewyn 1929, 522) Dabei übernahm und verallgemeinerte Alewyn Hans von Müllers Bezeichnung der „Gemeng[e]lage“, die dieser nur für gewisse Übergangszeiten geprägt habe: „So wenig wie man geologische Schichten mit dem Metermaß abgrenzen kann, so wenig kann man Generationen mit der Stoppuhr messen. Das liegt zunächst an individuellen Schwankungen der Entwicklung: Tempo, Rhythmus und Kulmination des Lebens sind bei verschiedenen Individuen außerordentlich verschieden.“ (522) Als Beispiele gegen die Annahme von ‚Altersstufen‘, die bei allen Menschen gleich prägend seien, führte er den frühreifen Wolfgang Amadeus Mozart und den spätvollendeten Immanuel Kant an. „Ferner sind die wenigsten Menschen durch ihr Geburtsjahr lebenslang determiniert.“ (522) Indem Alewyn sich hier gegen solche Annahmen über die Determiniertheit der ‚Empfänglichkeit‘ und über ihre Gebundenheit an ein bestimmtes Alter wandte, wie Mannheim sie noch geäußert hatte, löste er die Bestimmung der ‚Generation‘ von ihrem einzigen biologisch fundierten Faktor, dem Geburtszeitpunkt bzw. dem Alter, ab. Dabei verwies er auch auf Differenzierungen, die in der Bestimmung einer ‚Generation‘ auf sozialem, geographischem und politischem Gebiet noch zu machen wären: „Denn Pinders Polyphonie des Gleichzeitigen ist noch verhältnismäßig harmlos. Die Spannungen im chronologischen Querschnitt sind in Wirklichkeit noch ganz andere und viel gewaltiger.“ (524) Nicht die Spannungen zwischen Altersgruppen seien letztlich die wichtigsten, sondern solche zwischen verschiedenen sozial, geographisch und politisch bestimmten Gruppen: „Dasselbe Gesetz der inneren Ungleichzeitigkeit des äußerlich Gleichzeitigen, das wir
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in der räumlichen Horizontale der Kultur erkannten, gilt auch für ihre soziale Vertikale.“ (525)13 In Bezug auf ein nach ‚oben‘ und ‚unten‘ ausgerichtetes gesellschaftliches Schichtenmodell differenzierte Alewyn die Relationen verschiedener Gruppen zueinander. Ebenso, wie es soziale Schichten gebe, die sich anderen gegenüber vornehmlich ‚rezeptiv‘ verhalten und die Veränderungen von dort mit Verzögerung übernehmen, sei auch Deutschland ‚rezeptiv‘, da es gegenüber den ‚europäischen Bewegungen‘ eine empfangende und also verzögerte Rolle einnehme (vgl. 524–525). Entsprechend charakterisierte er bestimmte ‚rezeptive Schichten‘, denen besonders in der deutschen Gesellschaft Bedeutung zukomme: „So ist seit dem 18. Jahrhundert, in dem das gebildete Bürgertum kulturtragend wurde, die gesellschaftlich führende Schicht auf der kulturellen Stufe des Kleinbürgertums geblieben.“ (526, Anm. 2; vgl. dazu bereits Mannheim 1964, 561–563)
3 Zeitlich begrenzte Anwendbarkeit und ‚Klassenfrieden‘: Werner Krauss’ Polemik In der unmittelbaren Nachkriegszeit hatte die Rede von der ‚jungen Generation‘ in Deutschland erneut Hochkonjunktur, wobei zugleich umstandslos an Diskurse aus der Endphase der Weimarer Republik angeknüpft werden konnte als auch verschiedene Modelle einer Umfunktionierung dieser Selbstthematisierungsformel entwickelt wurden (vgl. Stadthaus 2010, 17; außerdem Willer 2008, 234). Besonders scharf äußerte sich 1947 der im selben Jahr von Marburg nach Leipzig gezogene Romanist Werner Krauss anlässlich der Zeitschrift Der Ruf. Unabhängige Blätter der jungen Generation (1946–1949). Der NS-Justiz gegenüber hatte Krauss 1943–1944 sein oppositionelles Verhalten pathologisieren, also biologisieren müssen, um der Vollstreckung des Todesurteils zu entgehen. In seinem Aufsatz „Das Ende der Generationsgemeinschaft“ schickte er 1947 voraus, dass das Bemühen, „das Generationsbewußtsein publizistisch in Anspruch zu nehmen“, wie jeder Ansatz zu einer Bewusstseinsbildung „ernste Beachtung“ finden müsse (1984a, 399). Er kritisierte aber, Mannheim habe es in der Untersuchung des Generationskonzepts unterlassen, „nach den Grenzen seiner geschichtlichen Anwendbarkeit zu fragen“ (400). Als Ergebnis einer dieser Frage nachgehenden
13 Auch M. Rainer Lepsius (2005, 51) bemerkt dies: „Denn selbstverständlich ist nicht die gesamte Kohorte […] überhaupt generationsgeprägt. Das ist immer nur eine Minderheitenprägung, gegliedert nach Schichtung, Religion und Herkunft beispielsweise.“
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historischen Analyse hielt er fest: „Generationsbewußtsein ist aus dem Sieg der bürgerlichen Gesellschaft über die traditionellen Ordnungen entsprungen.“ (402) Folgerichtig schränkte er im Kapitel „IX. Periodisierung und Generationstheorie“ aus seinem einflussreichen Band Grundprobleme der Literaturwissenschaft von 1968, das auf der vorhergehenden Arbeit aufbaute, die Anwendbarkeit der Theorie am Beispiel der Literaturgeschichte auf eine bestimmte Zeit ein: Nur ein Jahrhundert lang fand die Generationstheorie volle Entsprechung im wirklichen Leben der Literatur. Eine Ausweitung und Übertragung auf die gesamte Literaturentwicklung aber kann daher nicht als brauchbarer Beitrag zum Periodisierungsproblem gutgeheißen werden. Einer solchen Konzeption fehlt jede Deckung im Habitus und in den Gepflogenheiten der verschiedenen Literaturepochen. (1984b, 248)
Die Angemessenheit der Bezeichnung hing demnach auch für Krauss davon ab, ob die Betroffenen selbst sich als ‚Generation‘ verstanden und entsprechende Habitus entwickelten. Krauss führte weitergehend an: Gegen die bedingungslose Anwendung der Generationstheorie auf die gesamte Geschichte und Literaturgeschichte ist ein schwer widerleglicher Einwand geltend zu machen. […] Es konnte sich kein Generationsbewußtsein für einen neuen Stilbeginn bilden, solange die Aktualität bei jedem neuen Beginn sich nur als Wiederbelebung von Traditionen begriff. (247)
Die Anwendbarkeit der Theorie richtete sich für Krauss danach, ob in der jeweiligen Zeit entsprechendes Bewusstsein vorhanden war oder ist. So hielt er 1947 die Bedingungen zur Herausbildung von ‚Generationen‘ als Spezifika der sich seit dem achtzehnten Jahrhundert herausbildenden bürgerlichen Gesellschaft für gegeben: „In der Dialektik des Generationsstreits drängten die gesellschaftlichen Widersprüche zum Versuch einer inneren Revolutionierung der herrschenden Gesellschaftsklasse.“ (1984a, 408) Die Bildung eines ‚Generationsbewusstseins‘ als Versuch, das Konzept der ‚Generation‘ anzuwenden, sah er durch spezifische Probleme der bürgerlichen Gesellschaft motiviert, die auf diese Weise gelöst werden sollten, ohne die Gesellschaftsform selbst zu verändern. Doch trotz dieses begründeten Interesses am Konzept der ‚Generation‘ – so formulierte Krauss in kämpferischem Duktus des Kalten Kriegs – „ist es ihr [d. i. der deutschen Jugendbewegung; K. B.] nicht gelungen, die proletarische Jugend ins Schlepptau zu nehmen. Aus den Parolen des Generationskampfes wollte sie nur die Versuchung zum Klassenfrieden vernehmen. Die Entwicklung hat ihre Befürchtung vollständig bestätigt.“ (406) Mit Bezug auf die Zeit seit 1945 als „Zusammenbruch der bürgerlichen Ordnung“ beschrieb Krauss die neue Situation, in der die ‚Generation‘ endgültig veraltet sei; insofern nun „der Spielraum für eine neue Generationsbewegung verschüttet“ sei, sah er für „die geistig lebendigen Elemente der bür-
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gerlichen Jugend“, an die er gleichwohl appellierte, nur die Alternative zwischen Menschheitspathos oder Untergang: „in dem subjektiven Stil der Jugendgemeinschaft zu veralten oder im Eingehen auf den sozialistischen Plan einer Gestaltung der menschlichen Wirklichkeit auch ihr eigenes Menschenwesen zu gewinnen“ (409). Im späteren Kapitel stellte Krauss das Konzept ebenfalls als nicht mehr zeitgemäß dar und beschrieb die Situation um 1968 als eine, in der andere soziale Unterschiede relevanter sind, als das Alter: Die Verständigung der unter gleichem zeitlichem Schicksal angetretenen Zukunftsträger kommt nicht mehr zustande – d. h., sie wird gar nicht mehr angestrebt, unter dem vielleicht vagen, aber sicher richtigen Eindruck, daß der Riß zwischen Jugend und Alter gegenüber den wirklichen Spannungen und den wirklichen Gegensätzen einer zerrissenen Welt alle Bedeutung verliert. (1984b, 248)
Die Betonung sozialer Diskontinuitäten stellte er damit dem Bemühen, biologisch fundierte exklusive Solidargemeinschaften zu konstruieren, unversöhnlich gegenüber.
4 Interesse am ‚Generationsbewusstsein‘: Helmuth Plessners Kritik Ähnlich wie später Jost Hermand hatte auch schon Helmuth Plessner in der unmittelbaren Nachkriegszeit jenes Bestreben, das Wort ‚Generation‘ als analytischen Begriff in historische Wissenschaften einzuführen, „von dem […] positivistischen Wunsch nach einer möglichst an die Tatsachen anschließenden Erklärung der geschichtlichen Fakten beseelt“ (2003, 112) gesehen.14 In seinem „Nachwort zum Generationsproblem“, das zuerst in niederländischer Fassung im Sociologisch Jaarboek von 1949 unter dem Titel „Het probleem der generaties“ publiziert worden war und 1966 in ‚leicht modifizierter‘ (so die „Editorische Notiz“, vgl. 342–343) deutscher Fassung erschien, ging der 1933 als ‚Halbjude‘ mit Lehrverbot belegte und 1934 mit Hilfe des „Groninger Kommitee[s] zur Unterstützung von jüdischen Gelehrten aus Deutschland“ ins niederländische Exil gelangte Plessner (zit. nach Dietze 2006, 98) – nun als Vorstandsmitglied der Nederlandse Sociologische Vereeniging – zunächst auf eine allgemeine anthropologische Ebene zurück: „Jede Art von Zusammenleben kennt spezifische Autoritätsverhältnisse
14 Abgesehen von dieser terminologischen Verschiebung und Ausweitung des ‚Positivistischen‘ paraphrasierte Plessner hier ohne Nachweis Mannheims Darstellung.
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zwischen den Altersstufen und Gruppenbildungen innerhalb ihrer.“ (2003, 107) Obwohl er aber jeder Zeit und jeder Gesellschaftsform derartige Differenzierungen zusprach, konstatierte er erst vom späten achtzehnten Jahrhundert an eine Relevanz der Konzeption von ‚Generation‘ in der Theoriebildung und führte diesen Umstand auf zwei epochenspezifische soziale Faktoren zurück, die er als ‚Industrialisierung‘ und ‚Demokratie‘ benannte. Neben der Industrialisierung, die den Akzent in einer sozialen Ordnung von der Tradition auf den Fortschritt verlagere und somit den ‚Ruf nach Jugend‘ fördere, und der Demokratie, die – bei Plessner begriffen als ‚geistige Haltung‘, nicht als politisches Prinzip oder als Staatsform – „jede Art von traditionell fundierter Rangordnung für Rechtsansprüche in der Gesellschaft abweist“, sei jedoch eine spezifisch deutsche Entwicklung der Grund für ein gesteigertes Interesse an der Bezeichnung ‚Generation‘: „Die Deutschen opponierten gegen die Unfertigkeit und Zweideutigkeit ihres politischen Zustandes, nicht gegen ihn selber. Die äußere Einigung von 1871 sollte durch die Generation, die schon im neuen Reich aufwuchs, vollzogen, die ständischen Schranken und der industrielle Antagonismus von einer vitalen Revolution weggespült werden.“ (111)15 Bestimmte politische oder allgemeiner gesellschaftliche Zustände als ausschlaggebend für ein Interesse an der Anwendung der Bezeichnung ‚Generation‘ ansehend, rekonstruierte Plessner Mannheims Konzept als primär sozial determiniert; allerdings kam es dabei zu einer Verkürzung von Mannheims drei Konstituenten auf die Trias „Geburtsdatum, gleichgeartetes Zeiterleben und Einheitsbildung“ (115), was eine Gleichsetzung von ‚Generationslagerung‘ und ‚Geburtsdatum‘ begünstigte. Dennoch betonte Plessner die Bedeutung des Gefühls der Verwandtschaft, der Zugehörigkeit zur ‚Generation‘, das diese erst konstituiert: „Die Einheit der Generation erscheint also als Gruppe dank Anziehungskraft auf Menschen gleichen Alters, die sich […] durch das, was sie damals geglaubt und mitgemacht, und wie sie es mitgemacht haben, einander verwandt fühlen.“ (116) Das diskursiv bedingte Selbstbild, zu einer bestimmten ‚Generation‘
15 Hier wird deutlich, dass die Interessen, die hinter der Bildung von ‚Generationen‘ und hinter der Verwendung des Wortes vermutet werden, Interessen von größeren und anderen Gruppen als die selbst als ‚Generation‘ bezeichnete sein können: Das Interesse an der vollzogenen deutschen Einheit und an einer Beseitigung des Ständesystems betraf ebenso wie das Interesse an einer Aufhebung des ‚industriellen Antagonismus‘ weitere und andere Kreise der Bevölkerung, nicht nur die als ‚Generation‘ verstandene ‚Jugendbewegung‘. Vgl. Haffners entsprechende Vermutung zu deutscher ‚Vergangenheitsbewältigung‘ (1966, 733): „Vielleicht redet man gerade in Deutschland, und gerade auf politischem Gebiet, deswegen so gern von einem notwendigen Generationenwechsel, weil man auf diese Weise das Gestern und Vorgestern auf billige Weise, sozusagen automatisch, loszuwerden hofft.“
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zu gehören, und nicht etwa nur das Geburtsjahr erschien so als ausschlaggebend: „Der enge Anschluß an den soziokulturellen Aspekt bedeutet jedoch, daß die biologische Marke des Geburtsjahrganges ihre Bedeutung verliert.“ (116) Ebenso wie Alewyn relativierte Plessner mit dem Verweis auf ‚den soziokulturellen Aspekt‘ den Bezug auf die Biologie. Jedoch setzte er den Hinweis auf die entscheidende Relevanz eines entsprechenden Bewusstseins, das bei Alewyn den ‚Generationscharakter‘ nur verstärkt hatte, hinzu: Aber auch die Situation verliert an Schärfe der Begrenzung zugunsten der Bindekraft des zündenden Gedankens. Die Richtung wird das Bindemittel und erweist sich als die eigentlich sozialisierende Kraft. Das Bewußtsein eines gemeinschaftlichen Zieles verdrängt – im konkreten Fall – die Gemeinsamkeit durch gleiches Alter. (116)16
So erschien das Bewusstsein, einer ‚Generation‘ anzugehören, wichtiger als die Sozialisation, die eine tatsächliche Gemeinsamkeit der Individuen hervorrufen soll. Dabei knüpfte Plessner das Entstehen einer ‚Generation‘ explizit an ein solches Bewusstsein: Die dem gleichen [oder auch einem anderen; K. B.17] Jahrgang angehörenden Führer einer Schule, einer Bewegung werden sich ihrer Generationslage nur bewußt werden, wenn sie ihr eine Bedeutung zuschreiben. Ohne ein derartiges Generationsbewußtsein gibt es also keine Generationsbildung mit dem vitalen Akzent, keine Gruppenbildung im Zeichen naturgegebener Momente. (116)
Mannheim habe, so kritisierte Plessner, die Relevanz des ‚Generationsbewusstseins‘ für das Zustandekommen einer ‚Generation‘ nicht erkannt und sei insofern dem ‚Naturalismus‘, wie Plessner den Biologismus nannte, schließlich doch nicht entkommen.
16 Vgl. dazu Petersen (1930, 153), der angesichts heterogener Altersgruppen zwischen ‚führendem‘, ‚umgelenktem‘ und ‚unterdrücktem Typus‘ unterscheidet. Doch schon die Selbstdeutung jener ‚Führertypen‘ als ‚Generation‘ erscheint bei ihm als diskursiv bedingt: „Die neue Generation im geistesgeschichtlichen Sinne entsteht, sobald diese Gleichaltrigen sich bewußt werden, daß sie etwas anderes wollen als die Älteren“ (138). 17 Verschiedene Arbeiten weisen darauf hin, dass ‚Generationsbewusstsein‘ häufig von einzelnen Älteren gestiftet wird. Vgl. bereits Mannheims vermeintlichen Marx-Verweis und die dort beispielhaft genannten Nietzsche und Taine (1964, 549, Anm. 43). Vgl. außerdem Krauss 1984, 399, sowie Willer 2008, 243–244.
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5 ‚Generationenforschung‘: Einschätzungen zur Relevanz Ungeachtet der Frage, ob Mannheim die Bedeutung des ‚Generationsbewusstseins‘ tatsächlich verkannt hat, ist sie doch denjenigen deutlich bewusst, die sich heute auf Mannheim berufen. So stellt Ulrike Jureit im Fazit ihres Lehrbuchs Generationenforschung die Heterogenität solcher Gruppen und die Diskursivität der Konstruktion lapidar als eine Selbstverständlichkeit dar: ‚Generationen‘ „beruhen wie andere gefühlte Gemeinschaften auf nur geglaubter Gemeinsamkeit, denn diese angenommenen Übereinstimmungen würden sich bei genauerer Betrachtung ja als durchaus heterogen erweisen“ (2006, 129).18 Zudem weist sie auf ein mit der Diskursivität verbundenes Risiko hin sowie auf eine Problematik der Deduktion: Wer analytisch mit dem Generationsbegriff arbeitet, geht das Risiko ein, Selbstinszenierungen zu reproduzieren, und es besteht zudem berechtigte Sorge, dass aus altersspezifischen Erfahrungszusammenhängen konkrete Verhaltensweisen abgeleitet werden. Generationseinheiten sind aber nicht zwangsläufig auch Handlungseinheiten, daher ist der Anspruch, historischen Wandel durch Rückbindung an die Generationenzugehörigkeit der Akteure erklären zu können, durchaus problematisch. (130)
Ähnlich beschreibt sie gemeinsam mit Michael Wildt die Schwierigkeit, „durch alle Unterschiede und Widersprüche hindurch das gemeinsame Thema, das von allen Generationsangehörigen bearbeitet wird, entdecken zu müssen, wobei sich das irgendwo tiefer liegende Einigende womöglich nicht auffinden, sondern nur behaupten läßt – mit dem Effekt, daß der Generationenforscher den Gegenstand selbst herstellt, den er eigentlich untersuchen will.“ (2005, 18–19) Ungeachtet dieser Bedenken fassen viele Forscherinnen und Forscher ‚Generation‘ als nützliches Konzept auf (vgl. auch Parnes et al. 2008, 12), was teilweise so weit geht, dass einzelne Passagen geradezu wie Werbeslogans (etwa für ein Eigenheim am Stadtrand) anmuten, dessen normative Implikationen einer weltmarktkonform flexiblen individualistischen ‚Identität‘ zwischen Natur und Kultur so ebenfalls als selbstverständlich erscheinen können: „Generation stellt eine Identitätsformel bereit, die es Menschen in der Moderne erlaubt, ihr Selbstverständnis zwischen Kultur und Natur anzusiedeln“. – „Generationelles Denken bringt Ordnung in
18 Vgl. Parnes et al. 2008, 20: „Nicht die Frage, ob es so etwas wie Generation und Generationen gibt, gilt es also zu analysieren, sondern in welcher Weise und mit welchem Interesse ihr Vorhandensein jeweils deklariert oder konstruiert wird.“
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moderne Gesellschaften, und es verspricht, dass sich der einzelne in der Masse nicht verliert. Diese Qualität kann in Zeiten globaler Märkte wohl kaum hoch genug eingeschätzt werden.“ (Jureit 2006, 125) Entsprechend wird dem Konzept „erhebliches Identitätspotential“ (124) zugeschrieben, „mit hoher Anschlussfähigkeit an unterschiedliche Politikfelder und Ethiken.“ (Parnes et al. 2008, 14) Ein Vergleich mit Werbung scheint allerdings aus dieser Sicht keineswegs unangebracht, geht es doch um die ‚Konjunktur‘ eines Konzepts auf dem „Markt kollektiver Selbstbeschreibungen“, wo ‚Generation‘ mit „anderen Ordnungsmustern“ wie ‚Nation‘ und besonders ‚Klasse‘ konkurriere (Jureit 2006, 124).19 Angesichts dieser Konkurrenz wird einerseits das ‚erhebliche Identitätspotential‘ der ‚Generation‘ hervorgehoben und der Umstand, dass sie „genealogisch konnotiert“ sei, als positiv herausgestellt, denn „[d]ie Frage nach der eigenen Identität [sei] immer auch eine Frage nach Herkunft und Tradition. Offensichtlich empf[ä]nden es viele als notwendig, sich nicht nur sozial und gesellschaftlich, sondern eben auch generativ zu verorten.“ (125) Zugunsten solcher Empfindungen werden anerkannte sachliche Kritikpunkte an einem Konzept der ‚Generation‘ als vernachlässigbar dargestellt. Anderseits wird im selben Schritt das Konzept der ‚Klasse‘ als ein ebenfalls bloß diskursives Konstrukt, als ‚gefühlte Gemeinschaft‘ bezeichnet. So könne es „aufschlussreich sein, warum in dem einen Fall gerade auf generationelle Muster zurückgegriffen wird, während sich andere Formationen auf Klasse oder Schicht berufen. Mit dem Generationenbezug lassen sich offensichtlich spezifische Erfahrungen oder Ansprüche herausstellen, die eher lebensweltlich als beispielsweise ökonomisch zu rechtfertigen sind.“ (127) Erscheint hier die Bezeichnung einer Gruppe als bloße Frage der Wahl, so wird weitergehend die Klassenzugehörigkeit mit einem Klassenbewusstsein gleichgesetzt: „Die Imagination als Generation beruht – wie bei anderen Kollektiven wie Nation oder Klasse auch – auf einer spezifischen, in manchen Fällen ja durchaus verzerrten Selbstdeutung und Wahrnehmung von Welt.“ (131) Explizit, wenn auch abwägend, rechtfertigt Oliver Neun diese Sichtweise: „In neueren Klassentheorien, die sich häufig auf Überlegungen Max Webers stützen, wird ebenfalls auf den Konstruktionscharakter der Klassenbildung verwiesen, also den Subjekten ein interpretativer Anteil zugestanden.“ (2009, 219) Ebenso explizit hatte bereits Plessner eine Verallgemeinerung des in jener Auffassung zugestandenen ‚Anteils‘ abge-
19 Zweifellos wird ‚Generation‘ in Konkurrenz zum Klassenbegriff gebracht, allerdings gibt es auch den Ansatz, zu vermitteln; vgl. Liebau 1997, 296, 298. Jürgen Zinnecker (2003, 36) schreibt dem Konzept der ‚Generation‘ eine „strategische Bedeutung“ im umfassenderen Projekt der Wissenssoziologie zu, die Mannheim in „Abgrenzung von der marxistischen Ideologienlehre entwickelte“.
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wiesen: „Klassenlage und Klassenbewußtsein sind nicht dasselbe.“ (2003, 119) Auch Mannheim hatte festgestellt: „Es gehört keineswegs immer zu einer Klassenlage ein Klassenbewußtsein“ (1964, 526). Die Zugehörigkeit zu einer Klasse müsste demnach unabhängig vom Bewusstsein der Betroffenen feststellbar sein durch die Analyse der sozialökonomischen ‚Stellung im Produktionsprozess‘ verschiedener, funktional bezüglich gesellschaftlicher Arbeitsteilung und des jeweiligen Anteils an Produktionsmitteln systematisch aufeinander angewiesener sozialer Gruppen, die tatsächlich jeder und jedem individuell zukommt und zugleich nicht von der individuellen Reaktion darauf abhängt. Allerdings scheinen einige von Mannheims Äußerungen diese Ansicht wieder zu relativieren, wenn er einerseits die Klassenlage als abhängig von der „wirtschaftlich machtmäßigen Position“ beschreibt (526), anderseits aber sowohl der Bezeichnung ‚Generation‘ als auch der ‚Klasse‘ ein „Superadditum“ (vgl. 527–528) zuspricht, das eben in einer entsprechenden Ideologie, einem Bewusstsein, bestehe. Freilich kann dies eher als Hinweis auf ein Konstituens einer ‚Klasse für sich‘ denn als reduktive Bestimmung gedeutet werden.
6 Interessen im und am Diskurs Während das Wort mit konstitutiv biologischer Implikation bei der Anwendung auf sozial relevante Gruppen ohne sachlich notwendigen Bezug zu biologisch determinierten Faktoren auskommen muss, können kollektive soziale Akteure diskursiv zu ‚Generationen‘ werden, indem sie sich selbst als solche bezeichnen oder von anderen bezeichnet werden, sofern es sich weitgehend genug mit ihrem Alter vereinbaren lässt. Die neuere ‚Generationenforschung‘ durchschaut diesen Umstand und wird nicht müde, ihn zu betonen. Doch wenn die Anwendung des Konzepts dessen Anwendbarkeit wesentlich mit konstituiert, weshalb sollte es angewandt werden? Steffen Stadthaus (2010, 9, vgl. auch 60) weist darauf hin, inwiefern Selbstdeutungen und Erfahrungen der NS-Vergangenheit mithilfe des Konzepts der ‚Generation‘ in bereits während der Weimarer Republik erprobter und „in vermeintlich unpolitischer und damit für die alliierte Besatzungspolitik unverdächtiger Weise sinnstiftend verarbeitet werden konnten“. Auch Thomas Anz hat in seiner Intervention ein Interesse am Konzept der ‚Generation‘ damit begründet, dass eine bestimmte Gruppe eigene Ansprüche gegenüber anderen sozialen Akteuren legitimieren könne, indem sie sich als scheinbar natürlichen Neuanfang inszeniert, und dies zugleich als ein nachvollziehbares Anliegen in einem allgemeineren Interesse von Einigungsbemühungen und Normalisierungsver-
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suchen nach 1989 dargestellt (vgl. 2009, 19–27; vgl. dazu auch Jureit und Wildt 2005, 17). Durch seine Erklärung machte Anz auf ein Problem aufmerksam, das über die Frage hinausgeht, weshalb sozial relevante Gruppen ein Interesse daran entwickeln könnten, selbst als ‚Generation‘ wahrgenommen zu werden; er fragte danach, welche Faktoren die ‚Generationenforschung‘ ihrerseits motivieren, das Wort als Grundbegriff historischer Wissenschaften zu etablieren. Obwohl Anz’ Aufsatz die Frage nach diesem Phänomen, dem er selbst erklärtermaßen angehört (vgl. 2009, 21), nicht abschließend beantwortet, weisen sein Befund des Biologismus (vgl. 16–17) und sein Hinweis auf die Konkurrenz zum Begriff der ‚Klasse‘ (vgl. 21) auf eine Erklärung hin. In dieselbe Richtung orientieren einige Beiträge aus der ‚Generationenforschung‘ selbst; so hebt Jureit hervor, dass heute – nach der Vereinigung der DDR mit der Bundesrepublik, so ließe sich hinzufügen – die Frage nach ‚Identität‘ eine größere Bedeutung erhalten habe; da aber – nach dem von Nazideutschland verschuldeten Zweiten Weltkrieg, um die implizite Prämisse erneut auszuführen – „andere Ordnungsmuster wie beispielsweise Nation nicht zur Verfügung stehen, ihre Bindungskraft eingebüßt haben oder als belastet gelten“ (2006, 124)‚20 biete sich die Bezeichnung ‚Generation‘ besonders an. Zudem wird das Konzept „als Einheit moderner Kohäsionsbildung, ja geradezu als eine der letzten gemeinschaftsstiftenden Denkfiguren im Rahmen der zeitgenössischen Gesellschaft“ dargestellt (Parnes et al. 2008, 15). Stefan Willers direkte Verbindung der Bezeichnung ‚Generation‘ mit ‚Eugenik‘, ‚Euthanasie‘ und Rassismus mag vielleicht etwas drastisch erscheinen, auch wenn die Charakterisierung dieser Verbindung als lediglich „durchaus prekär[…]“ (2008, 219) und scheinbar bloß episodisch wiederum verharmlosendes Potential birgt. So habe etwa der rassistische Anthropologe Walter Scheidt mit seinem Buch Lebensgesetze der Kultur. Biologische Betrachtungen zum „Problem der Generation“ in der Geistesgeschichte (1929) eine „biologische[…] Geschichtsforschung“ (zit. nach 251) begründen wollen. Auch Ernst Günther Gründel und der Tat-Kreis (vgl. 253–254) haben demnach für eine „Popularisierung rassistischen Denkens“ (256) das bereits verbreitete Konzept der ‚Generation‘ verwendet. Schließlich zeige ein offizielles Hebammenlehrbuch (1943), „wie gründlich sich diese Ausprägung generationellen Denkens in der nationalsozialistischen Rhetorik etabliert“ habe (257), in der ‚Generation‘ und ‚Volk‘ letztlich austauschbar wurden, während die NS-Bewegung ihrerseits weithin als eine ‚Jugendbewegung‘ galt (vgl. 258–259),
20 Elke Brüns (2009, 101) sieht in der Anwendung des Konzepts der ‚Generation‘ durch in der DDR geborene Schriftstellerinnen und Schriftsteller eine oft unbeabsichtigte Fortschreibung politischer Realgeschichte in der Literatur.
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wozu übrigens nicht zuletzt Gründels Die Sendung der jungen Generation (1932) beitrug (vgl. Stadthaus 2010, 36–37). Willers Fazit lautet: In diesen Formulierungen zeigt der Generationsbegriff sowohl die interdisziplinäre als auch die politische Reichweite, die er in den späten 1920er-Jahren besitzt. Er ermöglicht es, zugleich soziologisch (über Gruppen und Typen), historisch (über Zeitverläufe und Geschichte) und biologisch (über Abstammung und Rasse) zu sprechen, und gerade darin bietet er sich für den Übergang von der Rassenbiologie zur Rassenhygiene an. (2008, 251)
Doch auch die Parallele vom ‚Geburtenkrieg‘ als Pendant zum ‚Vernichtungskrieg‘ zur Zeit des Zweiten Weltkriegs (vgl. 258) kann durchaus aufschlussreich sein, insofern auch heute politisch begünstigt wird, dass Deutsche, möglichst mit hohem Sozialstatus, Kinder bekommen, um der nationalen Bevölkerungsentwicklung gegenzusteuern, während seitens der Bundesregierung Immigration seit längerer Zeit kriminalisiert und gehemmt wurde und erst seit Ende 2015 angesichts vollendeter Tatsachen Migrantinnen und Migranten wie Geflüchtete, die es bis ins Land schaffen, in größerem Maßstab in den deutschen Arbeitsmarkt und vermeintlich damit automatisch sozial aufgenommen wurden (vgl. dazu Montag 2017). Die sich daraus ergebenden Effekte für die Herkunftsländer bleiben dabei weitgehend ausgeblendet. Abgesehen von intentionellen Begründungen für ein Interesse, soziale hinter Altersdifferenzen zurücktreten zu lassen, sind auch andere historische Deutungen denkbar, die ausgehend von einer historisch-soziologischen Analyse das Interesse am Konzept der ‚Generation‘ und seinen Erfolg erklären, ähnlich wie Alewyn, Krauss, Plessner und andere dies für zurückliegende Zeiträume unternommen haben, und gegenüber jeweiligen zweifelhaften Identifikationsangeboten mit – neben einfachen Jahreszahlen – wenig verlockenden Motiven wie der ‚Hilfe‘ an Flakgeschützen, dem Lebensgefühl auf der Rückbank eines VW Golf oder prekärer Existenz im Praktikum skeptisch bleiben können.
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II ‚Vergangenheitsbewältigung‘
„Dieser Film zwingt zur Identifizierung mit den Menschen, die hier leiden“, schrieb Gerhard Leo in der Wochenzeitung der westdeutschen Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes Die Tat am 15. April 1950 über Wanda Jakubowskas Film Die letzte Etappe: „Gleich bei dem ersten Bild vergessen wir Leinwand, Kino und alles, was uns von dem trennt, das hier gezeigt wird […] – wir werden ins berüchtigte KZ-Lager Auschwitz eingeliefert.“
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Bibliographien und Buchausstellungen zum ‚Dritten Reich‘ in den ersten Nachkriegsjahren In der bisher umfassendsten Bibliographie zum Nationalsozialismus, so der Titel von Michael Rucks 1995 im gewerkschaftseigenen Bund-Verlag erschienenem, 2000 erneut aufgelegtem Buch mit CD, werden auf drei der über 1.200 zweispaltigen Seiten unter „Übergreifenden Hilfsmitteln“ nur 50 „bibliographische“ Titel genannt, von denen die fünf ältesten zwischen 1955 und 1963 erschienen sind (Ruck 1995, 35–38); die überwältigende Mehrheit ist nach 1980 erschienen. Ähnlich sieht es bei der Auflistung von Bibliographien zur „Rezeption der nationalsozialistischen Vergangenheit: Widerstand gegen das NS-Regime“ und zu „Judenverfolgung und Judenvernichtung“ aus; zum ersten Thema wird keine vor 1981 (1181) herausgegebene Bibliographie genannt, zum zweiten keine vor 1973 (346). Zum Thema „Judenverfolgung und Judenvernichtung“ hat Rucks Bibliographie so wie bei anderen eine eigene Rubrik „Erlebnisberichte“. In dieser werden nur drei Titel genannt, die in den ersten vier Nachkriegsjahren erschienen; zum Thema „Konzentrationslager“ werden für die unmittelbare Nachkriegszeit 15 Erlebnisberichte aufgeführt. Alle diese Titel sind in den drei westlichen Besatzungszonen erschienen. Rucks Bibliographie erweckt den Anschein, in der SBZ wären keine Erlebnisberichte über Konzentrationslager und Judenverfolgung gedruckt worden.1 Im selben Jahr 1995 ließ zum Thema 50 Jahre Kriegsende in Deutschland der Börsenverein des Deutschen Buchhandels zur Messe Eine Ausstellung mit 245 Büchern aus 75 Verlagen der Bundesrepublik Deutschland in Frankfurt/Main kuratieren, deren Katalog ein einschränkendes Kriterium der Auswahl offenlegte: Bedingung war aktuelle „Lieferbarkeit“ des Titels; zugleich aber wurde „Zur Kollektion“ ein ausweitendes Kriterium betont: „Raum gegeben wurde biographischen Schilderungen, wie diversen literarischen ‚Schlaglichtern‘, die manches Mal dank der Kraft ihrer fiktionalen Emphase besser in der Lage sein mögen, geschichtliche Momente nachvollziehbar schildern zu können“ (50 Jahre 1995, 2). In seiner „Einführung“ in den Katalog begründet der Kurator der Buchaus-
1 Vgl. z. B. im Bulletin du Comité international d’histoire de la Deuxième Guerre mondiale die Kritik von Piesche et al. an der Bibliographie von Dick van Galen Last (1999–2000, 30–31, 245–307), weil er keinen einzigen in der SBZ/DDR erschienenen Titel aufgenommen hatte (1999–2000, 220–245). http://doi.org.de/10.1515/9783050093932-005
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stellung, welche Wirkung er bei Besuchern der Ausstellung wie Lesern der ausgewählten Bücher erwartet. Der Konzeption liegt eine Einschätzung des Zweiten Weltkriegs als eines dank autoritärer Zurichtung von den Deutschen geführten Eroberungskriegs zugrunde, dessen Opfer die Völker Europas, besonders im Osten, geworden seien und dessen – wie er ein Flugblatt der Weißen Rose zitiert – „‚fürchterlichste[s] Verbrechen‘“ (5) der Judenmord gewesen sei. Dass „zu wenige“ sich in Deutschland widersetzten, begründe „Scham über das Geschehene“, und der Kurator Ulrich Steinheimer fährt fort: „Beide sich neugründende deutsche Staaten versuchten auf unterschiedliche Weise die Erfahrungen des vorangegangenen Krieges zu verarbeiten.“ (5) Dass „von deutschem Boden kein Krieg mehr ausgehe“, „bleibt Aufgabe der Menschen im wiedervereinigten Deutschland“ (5). Aleida Assmann rechnet die Bibliothek als Institution zum – vom Funktionsgedächtnis unterschiedenen – Speichergedächtnis (2001, 17, 20): Das Speichergedächtnis nimmt die ungeheuren Informationsmassen des anwachsenden wissenschaftlichen und historischen Wissens geduldig in sich auf, so geduldig, wie es die materialen Speicher des Gedächtnisses eben zulassen, während das Funktionsgedächtnis aus dieser indifferenten Masse eine Auswahl herstellt, die für lebendige Gedächtnisse erinnerbar ist, ein Identitätsangebot macht und Orientierungsfunktion besitzt. Das sich im Speichergedächtnis kumulierende Wissen ist standpunkt- und perspektivenlos, unbewertet und in keine hierarchische Ordnung gebracht. All dies sind umgekehrt Eigenschaften des Funktionsgedächtnisses. (22)
Inwiefern Bibliographien und Buchausstellungen als Leistungen der Bibliothek diesen Bestimmungen des Speichergedächtnisses entsprechen, wird allerdings fraglich, wenn sie zum Museum anmerkt, dass sich die „Trennung zwischen Speicher- und Funktionsgedächtnis“ (24) dort in der Aufgliederung der „Bestände […] in Ausstellungs- und Magazinräume“ abbilde (24). Zu ihrer Schlussfrage, „welche Wechselbeziehungen zwischen dem Speichergedächtnis und dem Funktionsgedächtnis einer Kultur bestehen“ (28), verweist sie auf ein Kapitel ihrer Monographie Erinnerungsräume (1999, 130–142), das gegen eine „Polarisierung oder Gleichsetzung“ der „zwei Modi der Erinnerung“ ihr „Verhältnis“ als „komplementär“ (134) bestimmt, indem sie ein individualpsychologisches „Modell von Vorderund Hintergrund“ (136), von Bewusstem und Nicht- sowie Unbewusstem (Latentem) (136) auf die national begriffene Kultur überträgt: Funktionsgedächtnis als „bedeutungsgeladen“ (135) durch „Gruppenbezug, Selektivität, Wertbindung und Zukunftsorientierung“ (134), Speichergedächtnis als „bedeutungsneutral“ (135), „das in sich aufnimmt, was seinen vitalen Bezug zur Gegenwart verloren hat“ (134). Diese diplomatische Scheinlösung möchte ich an Bibliographien und Buchausstellungen der in Rucks Bibliographie mit ihren Büchern verschwindenden ersten Nachkriegsjahre in Frage stellen: Ausgangspunkt sollen die beiden ersten,
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1947 bzw. 1948 erschienenen Bibliographien zum ‚Dritten Reich‘ und zwei Buchausstellungen des Jahres 1949 sein. An ihnen sollen die drei im Einstieg mit 1995 aufgeworfenen Probleme dargestellt werden: die thematische Systematisierung des veröffentlichten Materials, der zugrundegelegte Literaturbegriff und die Auswahl von Titeln. Indem ich im Folgenden dann dem Schicksal der beiden frühesten Bibliographien nachgehe, wird sich erstens zeigen, dass staatliche Institutionen und gesellschaftliche Organisationen synchron eine Rolle als Akteure spielen, die Bibliographien und Ausstellungen initiieren, zweitens, dass sich in deren Agieren diachron zwei Wendepunkte abzeichnen, ein erster 1949 mit der Gründung der beiden deutschen Staaten, ein zweiter Anfang der 1960er Jahre. Dieser Befund steht in Widerspruch zu gängigen Zäsuren ‚erinnerungskultureller‘ Forschung und zeigt, dass die öffentliche Erinnerung an den Nationalsozialismus nach wie vor nicht befriedigend erforscht wurde. Trotz einer anhaltenden Forschungskonjunktur zum Thema bleiben vor Jahren geäußerte Kritikpunkte unbeantwortet. Während in Veröffentlichungen von Historikern, Politologen und Soziologen mit bemerkenswerter Klarheit der Forschungsstand als unbefriedigend erkannt wird, beruhigen sich Literaturwissenschaftler wie Helmuth Kiesel mit salomonischen Formeln wie: „[…Es] kann – mit Blick auf die kaum mehr überschaubare Zahl einschlägiger Titel – gesagt werden, daß die NS-Vergangenheit eine Vergegenwärtigung erfuhr und zu einer Vergangenheit wurde, die nun nicht mehr vergehen will.“ (Kiesel 1989, 65) Zutreffender scheint mir die Feststellung der Soziologen Thomas Herz und Michael Schwab-Trapp zu dem „noch wenig entwickelten Kenntnisstand über das Thema“ (Schildt 1998, 23): „Die Literatur ist voll von Behauptungen über die ‚Aufarbeitung der Vergangenheit‘. Ein detailliertes Wissen darüber, wie sie verlief, gibt es jedoch nicht.“ (Herz und Schwab-Trapp 1997, 8) Reinhard Rürup beendete die Besprechung der Bücher Peter Novicks und Norman G. Finkelsteins mit dem „Wunsch“, „in nicht zu ferner Zukunft auch für die deutsche Geschichte seit 1945 eine aus den Quellen gearbeitete zusammenfassende Darstellung des gesellschaftlichen Umgangs mit dem Holocaust zu haben“ (Die Zeit, 8. Februar 2001). Peter Reichels (2001) kurze Gesamtdarstellung erfüllte diesen Wunsch nicht, wie Ulrich Specks Rezension konstatierte: Reichels Buch beweise vielmehr, dass „wir doch noch Meilen entfernt [sind] von einer soliden Deutungsarchitektur, die Linien zieht von der Entnazifizierung über die Auschwitz-Prozesse bis hin zur Mahnmal- und zur Walser-Bubis-Debatte“ (Frankfurter Rundschau, 14. Mai 2001). Und Ute Frevert brachte das Problem auf den Punkt: „Bevor nicht genauere, methodisch kontrollierte Untersuchungen […] vorliegen, lassen sich verbindliche Aussagen über die Art und Tiefenstruktur der NS-Erinnerung kaum treffen.“ (Assmann und Frevert 1999, 221)
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1 Die ersten Bibliographien zum ‚Dritten Reich‘: „Übersicht über die wichtigste in Deutschland erschienene Literatur zum Widerstand im Dritten Reich“ 1947, Widerstandsliteratur 1948 1948 gab der Rat der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) unter dem Titel Widerstandsliteratur. Ein Querschnitt durch die Literatur über die Verfolgung und den Widerstand im Dritten Reich eine Bibliographie heraus, die das Hamburger VVN-Mitglied Franz Ahrens erstellt hatte. Ahrens schrieb seine vorangestellte „Einführung in die Widerstandsliteratur“ in demselben Monat, als der SPD-Parteivorstand, am 6. Mai 1948, beschloss: „Die Mitgliedschaft in der VVN ist unvereinbar mit der Mitgliedschaft in der SPD“, mit der Begründung, dass die VVN „von den Kommunisten als eine ihrer Hilfsorganisationen mißbraucht“ (Schreiber 1997, 26) werde. Sowohl in der „Einführung“ als auch in der kommentierenden Zuschreibung von Wirkung zu einzelnen aufgenommenen Titeln differenziert Ahrens zwischen Lesergruppen. Einleitend unterscheidet er innerhalb der „Bevölkerung“, „unter der […] Aufklärung zu schaffen“ (Ahrens 1948, 6) sei, vier Gruppen von Lesern, von denen er zwei auch in der Anlage der Bibliographie dadurch besonders hervorhebt, dass er die für sie als besonders wichtig angesehenen Titel mit zwei Siglen am Rand hervorhebt: R für Richter und E für Erzieher. Die für Richter ausgewählten Titel nennt Ahrens einen „Quell zur Gewinnung eines Urteils“ (6), insofern die Bücher den Richtern ermöglichen, „sich in die Lage der Geschändeten hineinzuversetzen“ (6). Das Bild vom ‚Quell‘ wiederholt sich im Falle der Erzieher: Für sie wählt Ahrens Titel, die einen „Kraftquell“ bilden für ein Geschichtsbild „schöpferischer Humanität“ (6), das dem bisherigen, als preußisch bezeichneten entgegenzusetzen sei. Preußisch charakterisiert Ahrens auf dieselbe Weise als eine ‚Geisteshaltung‘, wie es die Hamburger Sozialdemokraten und Kommunisten am 20. August 1945 im Hinblick auf ihre Zulassung als Parteien im November 1945 in einem gemeinsamen Aufruf getan hatten (Schneider-Bernem 1977, 65): Die noch nicht ausgerottete Naziideologie sei ein „Geist des Zwanges und der Gewalt“, wirksam noch im „verheerenden Geist des Preußentums“, gegen den sich antifaschistische Aufklärung zu richten habe ebenso wie die „Errichtung einer Erinnerungsstätte inmitten der Stadt, die […] dem Gedenken aller Opfer des Hitler-Systems gewidmet ist“ (63). Bezeichnenderweise wirft Ahrens anlässlich des vom Antifaschismus zu bekämpfenden ‚preußischen Geistes‘ die Schuldfrage auf, die er an die so als mitschuldig aufgefassten Adressaten richtet: „Will man ob dieser Geisteshaltung aber die Frage der Schuld erwägen, dann suche man sie nicht bei der Jugend, sondern bei den
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Erziehern.“ (Ahrens 1948, 7) Mit dieser an die Erzieher gerichteten Forderung von Reflexion eigener Mitschuld kommt eine dritte Gruppe von indirekt Adressierten ins Spiel: die Kinder, für die Ahrens bestimmte Titel eigens markiert, und zwar Kinder vom 10. bis 11. Lebensjahr an (8). Das im Zusammenhang mit der seit 1945 geplanten Gedenkstätte fallende Stichwort „Erinnerung“ benutzt Ahrens auffälligerweise nur im Hinblick auf die „Gefährten“ (5) als Adressaten der Bibliographie; nur für die ‚Verfolgten‘ werden von Ahrens bibliographierte Titel „Erinnerungsbücher“ (6) genannt, für deren „Wert“ wieder das Bild der Quelle benutzt wird: „als ewig neue Kraftquelle für jene leidgezeichneten Opfer, die ihr Schicksal darin wiedergespiegelt finden“ (6). Ahrens betont die Untrennbarkeit von Kampf und Opfer ebenso wie deren Trennung vom Volk: Kampf und Opfer – beide sind nicht zu trennen. Aber: am Anfang war der Widerstand, den zu unterdrücken ein ungeheurer Machtapparat des Terrors in Gang gesetzt wurde. Sicher entspann sich daraus eine Wechselwirkung, daß durch das System des Terrors Menschen ergriffen wurden, die niemals an Widerstand zuvor gedacht hatten, nun aber durch die Verletzung ihrer ureigensten Menschenrechte zum Widerstand gebracht wurden. (6)
„Es gab eine deutsche Widerstandsbewegung“, zitiert Ahrens Günther Weisenborn, ohne dessen Artikel zu nennen, der mit dem Untertitel „Geschrieben im Einverständnis mit Vertretern ehemaliger Widerstandsorganisationen“ in der USamerikanischen Neuen Zeitung am 9. Dezember 1946 erschienen war, um fortzufahren: Wenn der englische Staatssekretär Vansittar[t] – ähnlich wie Frau [Gabriele] Strecker in Amerika [gegen die Weisenborn polemisiert hatte] – verkündete, daß ihm keine Bewegung bekannt geworden wäre, die geeignet gewesen wäre, den Nazismus ernsthaft zu gefährden, dann ist er von der Wahrheit ebenso weit entfernt wie jene, die glauben, die deutsche Widerstandsbewegung mit der Glorie des geheimen Einverständnisses, ja eines Kampfes des ganzen deutschen Volkes umgeben zu können. Die Wahrheit liegt in der Mitte. (Ahrens 1948, 7)
Wenn Ahrens die beiden Gesichtspunkte zusammenfasst, ergibt sich insgesamt ein stärker das Leiden als den Kampf hervorhebendes Deutungsmuster, wenn auch das christliche Bild des Martyriums das Opfer zum Helden macht: Man wird dem wahrhaften Heldentum jener Kämpfer um Freiheit und Menschenwürde sicher nicht gerecht, wollte man die Bewegung verkleinern auf den Kampf einzelner Gruppen und Menschen. Sie alle fügen sich mosaikartig zu einem Gesamtbilde zusammen, das nicht voneinander getrennt werden kann, zu einem Mosaikbild des stillen Duldens und opferreichen Kämpfens, das seine Parallele in der Schaurigkeit der Verfolgung wie Größe des Opfermutes nur in der Zeit der Christenverfolgung vor fast 2000 Jahren findet. (7)
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Das von Ahrens vorausgesetzte Deutungsmuster zeigt sich in Kurzkommentaren, die den Begriff des Helden/tums verwenden, aber besonders in seinem Vorschlag einer „Kernbibliothek“, „die einen treffenden Einblick in das Wesen des Widerstandes und der Verfolgung zu geben geeignet ist“ (43). Nur drei Mal benutzt Ahrens in seinen Kommentaren den Begriff des Helden, einmal zu dem Buchenwald-Erlebnisbericht eines Kommunisten, zweimal zu Büchern über die Judenvernichtung im besetzten Polen. In Werner Eggeraths 1947 im Thüringer Volksverlag erschienenem Nur ein Mensch werde dem „kleinen Mitarbeiter der Arbeiterparteien“ „ein Heldenlied gesungen […] in der schlichten Sprache eines Menschen, der nur ein Mensch im Kampf um Menschenrecht und Menschenwürde sein wollte und blieb“ (10). Ernst Sommers in Mexiko 1944 erschienener und vom SED-Verlag Dietz 1946 nachgedruckter Roman Revolte der Heiligen, „der das Schicksal eines jüdischen Arbeitslagers in Polen schildert, das aus der Todeserkenntnis heraus den Aufstand wagt“, sei „den Helden des Warschauer Ghettos gewidmet“ (13). Wassili Grossmans Die Hölle von Treblinka, die von der SMAD 1945 auch zusammen mit Konstantin Simonows Reportage über die Ankunft der Roten Armee in Maidanek gedruckt wurde: Ich sah das Vernichtungslager, nennt Ahrens „[w]ohl de[n] erschütterndste[n] Bericht aus einem Vernichtungslager auf Grund von Augenzeugen-Aussagen über die Zeit von der Einrichtung des Lagers im Juli 1942 bis zum 2. August 1943, dem Tag des Aufstandes der Todgeweihten“: „Ein Blick in die eiskalte Psychologie des Massenmordes, ein Heldenlied des Widerstandskampfes.“ (30; vgl. den Beitrag von Simone Barck) Es ist Grossmans Bericht, der den ersten Platz von Ahrens’ Kernbibliothek einnimmt, die „einem unbefangenen Leser der Jetztzeit – oder auch einer kommenden Generation – einen getreuen Einblick in das Wesen des Widerstandes zu vermitteln“ (7) habe. Als ‚unbefangen‘ beschreibt Ahrens in der „Einführung“ Leser, die – anders als die Mehrheit der Bevölkerung Nachkriegsdeutschlands, von der gelte: „Sie öffneten nicht die Augen[‚] als ihnen endlich die Binde abgenommen wurde; sie verschlossen sie“ – eine „Bereitschaft“ zeigen „zur Aufnahme und Erkenntnis der Ideen der Menschlichkeit“ durch „Aufklärung über die […], die die Menschenrechte mißachteten, Aufklärung auch über die, die um der Menschlichkeit willen sich opferten“ (6). Grossmans Bericht zählt wie der Eggeraths und Sommers Roman auch zu den Richtern und Erziehern empfohlenen Titeln, was nicht für alle Bücher der Kernbibliothek zutrifft, sondern nur für zwei Bücher über Sachsenhausen, Rudi Goguels Es war ein langer Weg und Arnold Weiß-Rüthels Nacht und Nebel, sowie zwei über Buchenwald, Walter Pollers Arztschreiber in Buchenwald und Eugen Kogons Der SS-Staat. Wolfgang Langhoffs Die Moorsoldaten, Lina Haags Eine Handvoll Staub, Ernst Wiecherts Der Totenwald, Viktor E. Frankls Ein Psychologe erlebt das KZ und Anna Seghers’ Das siebte Kreuz werden nur für Erzieher, Willi
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Bredels Die Prüfung und der Bericht des Internationalen Lagerkomitees (ILK) KL Bu nur für Richter besonders hervorgehoben. Der einzige Titel der Kernbibliothek, der weder für Richter noch für Erzieher markiert wurde, ist Luise Rinsers Gefängnistagebuch. Die Aufnahme des Berichts einer Schriftstellerin kann als Hinweis genommen werden einerseits auf den hohen Anteil von fiktionalen oder sich zur Fiktionalierung bekennenden Texten: neben Seghers’ und Bredels Romanen die ‚dichterisch‘ bearbeiteten Erlebnisberichte von Langhoff, Goguel und Wiechert‚2 andererseits auf das in Ahrens’ Auswahl aufgefächerte politische Spektrum: neben dem sowjetisch-jüdischen Kommunisten Grossman und dem liberalen österreichischen Juden Frankl vertreten das deutsche politische Spektrum sieben Kommunist_innen, ein Sozialdemokrat (Poller), ein Linksliberaler (Weiß-Rüthel), ein Linkskatholik (Kogon), ein Christ (Wiechert) und ein Konservativer (Pechel). Als Ahrens seine Bibliographie im Mai 1948 abschloss, konnte er nur auf eine Bibliographie zurückgreifen, die ihm, wie er zu Friedrich Siegmund-Schultzes 1947 bei Reclam in Stuttgart erschienener Die deutsche Widerstandsbewegung im Spiegel der ausländischen Literatur anmerkt, „manchen wertvollen Hinweis [ge-] geben“ habe, aber „besonders für unsere heranwachsende Jugend von unschätzbarem Wert“ sei und „als Nachschlagewerk in keiner Lehrerbibliothek“ fehlen dürfe (Ahrens 1948, 43). Siegmund-Schultze, der als Präsident des Internationalen Versöhnungsbundes im Juni 1933 wegen der Gründung eines Internationalen Hilfskomitees für deutsche (evangelische, katholische und mosaische) Auswanderer jüdischer Abstammung in die Schweiz ausgewiesen worden war, wo er dann als Studentenpfarrer wirkte, fügte seiner Bibliographie der ihm in der Schweiz zugänglichen ausländischen Literatur einen vierseitigen Anhang hinzu: „Übersicht über die wichtigste in Deutschland erschienene Literatur zum Widerstand im Dritten Reich. Zusammengestellt mit Unterstützung der Württ[embergischen] Landesbibliothek“ (Siegmund-Schultze 1947, 61). Deren Direktor war seit 1945 der Theologe und Bibliothekar Wilhelm Hoffmann, der seit 1942 das dortige Hölderlin-Archiv geleitet hatte und 1949 als Herausgeber des Katalogs zu der Stuttgarter Ausstellung Deutsche Bücher 1933–1945 fungierte. Dass sich Siegmund-Schultzes von der Württembergischen Landesbibliothek unterstützte „Übersicht“ über die in den vier Besatzungszonen veröffentlichte ‚wichtigste‘ Literatur ausschließlich auf den ‚Widerstand der Kirchen‘ bezieht, wird von Ahrens 1948 nicht kritisiert. Von den 50 Titeln, die Siegmund-Schultze aufführt, finden sich 28 auch bei Ahrens; dieser hat Predigten, Vorträge und Aufsätze nicht berücksichtigt, deren Titel keinen Bezug auf das Thema Widerstand verrät. Umgekehrt kann aber auffallen, dass Ahrens eine Reihe von KZ-Erlebnisberichten von Geistlichen aufgenommen
2 Vgl. Peitsch 1990 zu Wiechert (178–191) und Rinser (191–197) sowie Peitsch 2012 zu Goguel.
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hat, die bei Siegmund-Schultze fehlen. Es sind solche, in denen die Verfasser vom eigenen Widerstand und Leiden auf eine Weise berichten, die gerade nicht die Amtskirchen zum Träger von Widerstand erklärt. Alle diese Erlebnisberichte erörtern auch die Beziehungen der Häftlingsgruppen im Lager, insbesondere die der Geistlichen zu den Kommunisten, und die moralischen Probleme von ‚Politischen‘ als Funktionshäftlingen. Zum schlicht Dachau betitelten Erlebnisbericht des Caritas-Direktors Hans Carls merkt Ahrens an: „Will besonders junge Menschen in Leidenschaftslosigkeit ansprechen“ (25). Außer Carls’ Dachau-Erlebnisbericht führt Ahrens zwei weitere an, die Siegmund-Schultze und die Württembergische Landesbibliothek nicht aufgenommen haben, die des Dominikanerpaters Sales Hess Eine Welt ohne Gott (1946) und des Zentrumspolitikers Josef Joos Leben auf Widerruf (1948). „Eine vorläufige Bibliographie mit zumeist wohlabgewogenem Urteil“ wurde Siegmund-Schultzes „Übersicht“ (Salin 1948, 194) noch vor dem Erscheinen von Ahrens’ im dritten Heft der 1948 von dem aus dem schwedischen Exil zurückgekehrten deutschnationalen Historiker jüdischer Herkunft Hans-Joachim Schoeps gegründeten Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte genannt. Der Baseler Wirtschaftshistoriker Edgar Salin eröffnet seine „Bemerkungen über den Quellenwert der bisherigen Widerstandsliteratur“ mit einer gegen visuelle und AudioMedien gerichteten Kritik, die sein eigenes Auswahlkriterium andeutet: Es gehört zu den Kennzeichen der Weltwirrnis dieser Zeit, daß vergängliche Erscheinungen und unwichtige Tatsachen durch Bild und Lautsprecher den Augen und Ohren im In- und Ausland eingeprägt und eingehämmert werden, während das Bedeutsame und Zukunftshaltige nur für Augenblicke aus der Verborgenheit hervortritt und von der peinlich gestörten Öffentlichkeit möglichst schnell wieder der Vergessenheit überantwortet wird. (193)
Der Anspruch Salins, bibliographisch ‚das Bedeutsame und Zukunftshaltige‘ vor ‚Vergessenheit‘ zu bewahren, bestimmt seine Einführung der eigenen Titelliste, an deren Ende die Bibliographie Siegmund-Schultzes steht: „Aus dem bereits sehr reichhaltigen Schrifttum seien folgende Werke und Schriften genannt, die für die Urteilsbildung wichtig sind“ (194). In seiner Kommentierung vor allem der von Siegmund-Schultze aufgeführten Tagebücher von Ulrich von Hassell Vom andern Deutschland, Emil Henks Die Tragödie des 20. Juli und Friedrich Percyval ReckMalleczewens Tagebuch eines Verzweifelten entwirft Salin ein auf die jüngeren Offiziere des 20. Juli, insbesondere Claus Schenk von Stauffenberg fokussiertes Bild „der geistigen Führer“ (198) eines Volks in „verzweifelte[r] innere[r] Lage“ (200). Salin schließt mit „de[m] Dichter der Deutschen“, dessen Namen er nicht nennt, aber dessen Gedicht von 1918 mit dem Titel „An die Toten“ ihn als Stefan George identifizierbar macht (erschienen in Das Neue Reich 1928): „An die Toten mahnt zum andern Mal das Schicksal ein ganzes, in die Irre gegangenes Volk, das
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in der Feier derer, die für seine Ehre starben, den Weg finden mag zu dem Leben in menschlicher Würde, für das sie wirkten.“ (206)
2 Zwei Buchausstellungen des Jahres 1949: Deutsche Bücher 1933–1945, Das andere Deutschland „Deutsche Buchausstellung 1933–1945“ hieß 1948 ein „Aufruf an die Verleger“, den die im Sommer 1945 von dem späteren sozialdemokratischen Kulturpolitiker Carlo Schmid zusammen mit dem Direktor der Württembergischen Landesbibliothek Wilhelm Hoffmann gegründete Württembergische Bibliotheksgesellschaft im (damals noch nur) in Leipzig erscheinenden Börsenblatt des deutschen Buchhandels (4 (1948): 163) veröffentlichte. In Stuttgart sollte in Deutschland zwischen 1933 und 1945 publiziertes „geisteswissenschaftliche[s] und schöngeistige[s] Schrifttum“ (Hoffmann 1949, 10), „soweit es wertbeständig, vom Zeitgeist unbeeinflußt und im abendländischen Sinne traditionsbewußt war“ (Börsenblatt 5 (1949): 250), ausgestellt werden und beweisen, dass es als „Stück deutschen Widerstandes“ über so manche „‚Widerstandsbewegung‘“ in Anführungszeichen zu stellen wäre (Börsenblatt 4 (1948): 163). In der „Einführung“ zu der Bibliographie, die als Katalog Deutsche Bücher 1933–1945. Eine kritische Auswahl zur im September und Oktober 1949 gezeigten Ausstellung erschien, hieß es: „Wir wollten nicht eine Sammlung von ‚Widerstands[…]literatur‘ zusammenbringen, sondern […] aufzeigen[:] Den Wert zu wahren, bedeutete in allen Fällen ein Standhalten gegenüber dem Ungeist.“ (Hoffmann 1949, 10) Das „Geleit“-Wort des Stuttgarter Bibliotheksdirektor beschrieb die gewünschte Wirkung der ausgewählten Autoren auf Besucher und Leser: „Im Innersten erschüttert und unsicher geworden, dürfen wir vertrauend zu den Gestalten hinblicken, die mutig und ihre Integrität gegenüber der Entstellung des deutschen Wesens bewahrend, ja durch deren Anblick noch gestärkt, das Erbe der Väter hüteten und mehrten.“ (7) Schon der „Aufruf“ der Bibliotheksgesellschaft hatte solche „Besinnung auf unsere echten Werte“ in Gegensatz gesetzt einerseits zu „von Ost und West“ „einströmen[den]“ „neue[n] und alte[n] Ideologien“, andererseits zu „Zauberworten“ in „Vorträgen, Broschüren und Artikeln“ seit 1945: „Wir müssen an das anknüpfen, was unsere eigene Generation ausgesprochen hat und was uns angeht.“ (Börsenblatt 4 (1948): 163) Gegen die von Hoffmann getroffene ‚kritische Auswahl‘ gab es in der Wochenzeitung Christ und Welt den – mit dem Ausschluss von drei prominenten Nazis (Josef Nadler, Erwin Guido Kol-
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benheyer und Curt Langenbeck) belegten – Einwand, dass „auch andere Autoren von Rang offenbar aus politischen Rücksichten von der Aufnahme in die Bibliographie ausgeschlossen“ (hk. 1949) worden seien. Die zweite Ausstellung des Jahres der Gründung der beiden deutschen Staaten hatte bereits im März und April in Leipziger Neuen Rathaus stattgefunden. Die noch nicht geteilte VVN war Träger von Das andere Deutschland. Eine Schau der deutschen Widerstandsbewegung gegen das Naziregime. Der ehemalige sozialdemokratische Ministerpräsident Sachsens und jetzige Oberbürgermeister Leipzigs Erich Zeigner schrieb in seinem Beitrag zum Ausstellungskatalog „Wir müssen erkennen
!“: Es gibt bemerkenswerte Bücher über den Todeskampf der deutschen Freiheitsbewegung, ergreifende Berichte über den Heroismus der Antifaschisten. Aber haben sie die Idee des deutschen Widerstandes in allen Teilen unseres Volkes populär gemacht? Hat sich das demokratische Heldentum die Phantasie aller Deutschen erobert? Erzählt man außerhalb der Kämpferkreise an stillen Abenden von dem furchtbaren Ringen so vieler Tausender um eine gerechtere und menschlichere Welt? Nein, in der untergründigen Welt der Gefühle so vieler wimmelt es noch immer von Irrungen und Vorurteilen, von Ablehnungen, ja Feindseligkeiten. Man will die liebgewonnene Bitternis eines ungerechten Schicksals nicht aufgeben, will die eigene Schuld nicht bekennen und will deshalb nicht begreifen und zugeben, daß jene Männer, die gegen […] Hitler aufgestanden sind, es waren, die die Würde unseres Volkes bewahrt haben und daß sie deshalb heute mit Recht als Mahner an Pflicht, Ehre und Brüderlichkeit vor uns stehen. Es ist Zeit, daß hierin Wandel geschaffen wird. Dazu soll und dazu mag die Ausstellung ‚Das andere Deutschland‘ beitragen.“ (Deutschland 1949, *5)3
Zwischen die abgebildeten Austellungstafeln (zu den Themen: Deutschlands nationale Tragödie: 1525, 1848, 1918, 1933–1945; Weimarer Republik; Gründung der NSDAP; 30. Januar 1933; Reichstagsbrand; Wehrpflicht; Legion Condor; Ein-
3 Diesen Appell verschweigt Danyel 1994, 70–71, obwohl ihm die „unzensiert überlieferten“ ‚Publikumsäußerungen‘ aus dem Kreis der 55.000 Besucher der Berliner Ausstellung im September 1948 im SAPMO vorlagen, um stattdessen zwei Widersprüche zu konstruieren, erstens zwischen einer abstrakten, durch Hierarchisierung nach der Norm organisierten antikapitalistischen Kampfes Juden u. a. nicht-kommunistische „Opfer- und Verfolgtengruppen“ „moralisch“ ‚abwertenden‘ Erinnerungsarbeit und einer „konkreten „Erinnerungsarbeit“ an „Leidensgeschichte“, zweitens in den Reaktionen zwischen „Betroffenheit“ und „Abwehrreaktionen“, zu denen „der von der Dokumentation ausgehende moralische Druck […] führte“: „Die Geschichten von Schrecken, Leid und Opfern begegneten einer Alltagserfahrung angepaßten Lebens, ein Widerspruch, den das in der Ausstellung wie in der Öffentlichkeit dominierende Bild vom Nationalsozialismus nicht auflösen konnte.“ (71) Der * im Seitennachweis im Text markiert, dass der Katalog nicht paginiert und die Zählung die des Verfassers ist.
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kreisung Polens; Blitzsiege; „Jeder Punkt ein KZ“; Auschwitz; Plötzensee; Widerstandsgruppen der SPD und KPD; Die Rolle der politischen Emigration; Widerstandsgruppen in Leipzig; Antisemitismus (zwei Tafeln); Bekennende Kirche und katholische Jugendgruppen; Jugendliche Opfer) sind im Katalog jeweils auf einer Seite „Worte von gemordeten oder überlebenden Opfern des Faschismus“ (*41) gesetzt. Die Zitate stammen u. a. von drei in Ahrens ‚Kernbibliothek‘ vertretenen Autoren: Willi Bredel (*9, 13), Eugen Kogon (*25) und dem ILK Buchenwald (*39) und aus dem in Ahrens’ Bibliographie aufgeführten Erlebnisbericht von Zivia Lubetkin Die letzten Tage des Warschauer Ghettos (*33). Erst nach Ahrens’ Widerstandsliteratur erschienen die Bücher, aus denen die Geschwister Scholl (*37), die verfolgten Protestanten Heinrich Grüber und Dietrich Bonhoeffer (*35) sowie der letzte Brief des hingerichteten kommunistischen Widerstandskämpfers Bernhard Bästlein (*29) zitiert werden. Aus Lubetkins Bericht wurde zitiert: In jener Nacht saßen wir alle um das in einer Vertiefung brennende Lagerfeuer und fühlten in unseren Herzen, daß wir die letzten Überlebenden des Warschauer Gettos waren. Wir wußten nicht, was sich überall in Polen abspielte, aber wir fühlten, daß für unser Volk das Ende gekommen war und daß wir Überbleibsel waren, rauchende und verglimmende Aschenreste …
Unsere Zukunft war in Dunkel gehüllt, und wir, die Geretteten, empfanden uns als überflüssig und vereinsamt, verlassen von Gott und den Menschen. Was gab es, das noch getan werden konnte, was wir nicht getan hätten? (*33)
3 Offizielle Buchausstellungen und Bibliographien: Bibliothek eines geistig interessierten Deutschen 1958, „Das Erlebnis des Zweiten Weltkrieges in der deutschen Literatur“ 1960 Wenn 1947–1948 Ahrens und Siegmund-Schulze Widerstandsliteratur bibliographiert hatten, der Hoffmann 1949 die in Nazi-Deutschland erschienene ‚wertbeständige‘ Literatur entgegengesetzt hatte, so legte 1954 der Göttinger Historiker Walter Hubatsch folgendermaßen fest, was in seine Bibliographie Deutsche Memoiren 1945–1953. Eine kritische Übersicht deutscher Selbstdarstellung im ersten Jahrzehnt nach der Katastrophe als „zu erinnernd“ (Hubatsch 1954, 5) aufgenommen wurde: Das Zustandekommen der Führungsentschlüsse, die Aussagen der an verantwortlicher Stelle handelnden Persönlichkeiten zu ergründen, ist heute das Gebot der Stunde. Demgegenüber mußte manches zurücktreten, was auch sonst geeignet sein kann, die Zeit als
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solche zu charakterisieren: Konzentrationslager, Heimatvertreibung, innerpolitische und kirchliche Entwicklung, Aufzeichnung einfacher Soldaten (6).4
Entsprechend konzipiert war eine 1954 zuerst im Rathaus Schöneberg gezeigte Wanderausstellung „Im Brennpunkt Zeitgeschichte“ über die letzten 35 Jahre, die 1800 seit 1945 in Westdeutschland erschienene Bücher zeigte, ergänzt durch „Dokumente und Bilder“ (Zeitgeschichte 1954). Während die Brandenburgischen Neuesten Nachrichten der Ausstellung vorwarfen, dass die Jahre 1933 bis 1945 in „sehr milden Licht“ erschienen, weil in ihrem Mittelpunkt gekrönte Häupter ständen, und über erregte Gespräche zwischen Besuchern berichteten, weil die „Judenverfolgung […] nur am Rande“ vorkomme (Zeitgeschichte 1954), druckte die Westberliner Tageszeitung Der Kurier (16.12.1954) den Bericht eines ihrer Leser „über die Bücherschau“ unter dem Titel „Die ganze Wahrheit ist beklemmend“, denn er nannte die Ausstellung „objektiv“, weil sie gegen den braunen wie den roten Totalitarismus gerichtet sei und deshalb – als der einzige ausgestellte Erlebnisbericht aus den Jahren 1945 bis 1949 – Margarete Buber-Neumanns Als Gefangene bei Stalin und Hitler ihr Zentrum bilde.5 Buber-Neumanns 1949 erschienener Erlebnisbericht u. a. über Ravensbrück und Else Behrendt-Rosenfelds im selben Jahr herausgekommener Ich stand nicht allein. Erlebnisse einer Jüdin in Deutschland 1933–1944, der die eigene Erfahrung der sozialdemokratischen Fürsorgerin von christlicher Hilfe in den Mittelpunkt stellte‚6 waren die beiden einzigen Erlebnisberichte aus den ersten Nachkriegsjahren, die der Direktor der Deutschen Bibliothek, Frankfurt/Main, Hanns W. Eppelsheimer in die Rubrik „Judenverfolgung und -Vertreibung“ (Eppelsheimer 1958, 49) seiner Bibliothek eines geistig interessierten Deutschen aufnahm, die er für den Pavillon der Bundesrepublik auf der Weltausstellung 1958 in Brüssel zusammenstellte. In der Rubrik „Widerstand und Verfolgung“ (48–49) waren nur Pechels Deutscher Widerstand und Hans Rothfels’ Die deutsche Opposition gegen Hitler – eine auf den 20. Juli beschränkte Würdigung – noch in den 1940er Jahren erschienen (das erste Buch auch in Ahrens’ Kernbibliothek, das zweite unter Siegmund-Schultzes Empfehlungen). Die übrigen von Eppelsheimer aufgeführten Titel stammten aus den 1950er Jahren und behandelten – mit Ausnahme
4 Vgl. den entsprechenden Nachweis von „Kriterien auf dem Stand des Geschichtsverständnisses der vierziger/fünfziger Jahre“ bei der Entscheidung über die „Archivwürdigkeit“ von Ton- und Textdokumenten in den Rundfunkanstalten der Nachkriegszeit bei Schumacher und Lersch 1997, 151: „Geschichtsschreibung damals zielte auf das Einmalige, das Besondere, das große Ereignis, die Persönlichkeit, das Bedeutende.“ 5 Zu Buber-Neumann vgl. Peitsch 2002. 6 Hierzu vgl. Peitsch 1990, 165–177.
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einer Biographie des Kardinals von Galen, des Erlebnisberichts der Schwester Inge von Hans und Sophie Scholl Die weiße Rose, des Tagebuchs der Anne Frank und Günther Weisenborns Der lautlose Aufstand – ausschließlich den 20. Juli. (Entsprechend fiel die Auswahl von 50 Repräsentanten der deutschsprachigen ‚Epik‘ des zwanzigsten Jahrhunderts aus: 25 von ihnen waren so genannte Innere Emigranten, 6 Schriftsteller, die mit dem Faschismus zumindest sympathisiert hatten, 12 Autoren, die erst nach 1945 zu schreiben begonnen hatten, und 6 waren Exilierte – keiner von ihnen war in die SBZ/DDR remigriert wie z. B. Brecht, Seghers oder Arnold Zweig, einer war aus der SBZ in die US-Zone übergesiedelt, nämlich Theodor Plievier (76): Alfred Döblin, Lion Feuchtwanger, Leonhard Frank, Hermann Kesten, René Schickele, Carl Zuckmayer). 1960 erschien eine wiederum in der Württembergischen Landesbibliothek erstellte Bibliographie, denn die 1921 in Stuttgart als private Stiftung gegründete Weltkriegsbücherei, die 1948 in Bibliothek für Zeitgeschichte umbenannt worden war, zog 1951 in die Württembergische Landesbibliothek und wurde zunehmend öffentlich finanziert, bis sie 2000 formell eine Abteilung der Landesbibliothek wurde (Kowark 2002). 1960 erschien im 32. Jahrgang der Jahresbibliographie. Bibliothek für Zeitgeschichte. Weltkriegsbücherei Ursula von Gersdorffs Bibliographie „Das Erlebnis des Zweiten Weltkrieges in der deutschen Literatur“. Unter den aufgeführten bibliographischen Quellen sind nicht nur der unmittelbare Vorläufer Bücherschau der Weltkriegsbücherei 1939–1944 und eine Rede Wilhelm Schäfers auf dem Weimarer Dichtertreffen 1942 der vom Propagandaministerium gegründeten Europäischen Schriftsteller-Vereinigung, sondern auch Zeitschriften von Heimkehrer- und Soldatenverbänden der fünfziger Jahre sowie ein Beitrag des Chefredakteurs der Deutschen Soldatenzeitung, Erich Knud Kernmayr. Unter seinem Schriftstellernamen Erich Kern ist dieser mit neun Titeln der bei weitem am stärksten in Gersdorffs Bibliographie vertretene Autor von „Kriegserlebnisliteratur“ (1960, 414). Schwächer vertreten sind drei andere prominente NaziAutoren mit ihren Nachkriegsveröffentlichungen zum Zweiten Weltkrieg: Erich Edwin Dwinger mit vier Titeln und Werner Beumelburg sowie Wilhelm Pleyer mit jeweils einem. Alle vier waren vom Direktor der Landesbibliothek 1949 nicht in seinen Katalog Deutsche Bücher aufgenommen worden – im Unterschied zu zwei Autoren, die bei Hoffmann genauso durch häufige Nennung herausragen wie bei Gersdorff: Ernst Jünger und Gerhard Nebel. Außer ihren sind von den bis 1949 veröffentlichten Tagebüchern von Soldaten aus dem Zweiten Weltkrieg die Joachim Günthers und Erhart Kästners ausgewählt worden. Den die Unterscheidung von fiktionalem und autobiographischem Erzählen aufhebenden Begriff ‚Kriegserlebnisliteratur‘ erläutert Gersdorff, „daß jedes Erlebnis Weisheit in sich birgt. Es entstehen Bilder und Selbstbildnisse und im tieferen Sinn ist alles wahr“ (414). Auch wenn sie als „ungelöste Fragen“ „Zur Bibliographie“ einräumt: „wieweit
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bestimmt die apriorische Zeittendenz das Bild? Welche Stimmen sind nicht zu Wort gekommen, welche Gruppen und Personen treten deutlich hervor?“ (413), gibt ihr Vorwort die Antwort, indem sie „[a]us dem Neben- und Durcheinander der Stimmen“ (412) nur eine als der „Problematik“ des ‚Kriegserlebnisses‘ angemessene zu ‚Gehör‘ bringt. Sie zitiert aus Helmut Pabsts 1953 erschienenem Der Ruf der äußersten Grenze. Tagebuch eines Frontsoldaten: Die Lage, für etwas kämpfen zu müssen, an das man nicht glaubt, dieses Muß nicht als äußeren Zwang, sondern als Konsequenz der Vernunft zu empfinden, die Alternative, auf Deutschland als Machtfaktor oder auf Deutschland als geistigen Raum verzichten zu müssen, in diesem Zwiespalt seine Pflicht nicht nur wohl oder übel, sondern als unantastbare Haltung bis zur letzten Konsequenz zu tun, diese Lage ist die furchtbarste, die denkbar ist (412–413).
Weil die Haltung des Soldaten, der, ohne an den Nationalsozialismus zu ‚glauben‘, seine Pflicht ‚bis zur letzten Konsequenz‘ erfüllte, ‚unantastbar‘ genannt wird, kann er als widerständiges Opfer erscheinen. Dagegen hat die Bibliographin nur zwei Bücher aufgenommen, die auf Widerstand und Judenverfolgung und -vernichtung verweisen: Ulrich von Hassells Tagebücher von 1946 und – als einziger Lyrikband in einer Bibliographie erzählender fiktionaler und autobiographischer Prosa besonders auffällig – Nelly Sachs’ im sowjetischen Sektor von Berlin erschienene Gedichtsammlung In den Wohnungen des Todes von 1947.
4 Bibliographien als Kritik ‚unbewältigter Vergangenheit‘: Wahrheit und Fälschung 1959, Wächst Gras darüber?, Deutsch-jüdisches Schicksal in dieser Zeit 1960 Zwei der drei anderen Bibliographien, die 1959–1960 erschienen‚7 griffen schon im Untertitel oder im ersten Satz des Vorworts ein sich erst in diesen Jahren in der politischen Öffentlichkeit etablierendes Schlagwort auf. 400 Literaturhinweise
7 Vgl. auch das Erscheinen von Sammelrezensionen und Literaturberichten: Schreckenburg 1959; Schmitthenner 1959, 1961; Grebing 1960. Weitere Ausstellungen wären zu nennen: „Die Vergangenheit mahnt“ 1960, „Nacht fiel über Deutschland“ 1960, „Demokratie in Gefahr“ 1960 (Jugendamt und Jugendring Frankfurt/M.), „Deutscher Widerstand 1933–1945“ 1964, „Exil-Literatur 1933–1945“ in der Deutschen Bibliothek 1965, „Auschwitz“ 1966 (getragen vom Frankfurter Bund für Volksbildung, der auch neben dem Studienkreis zur Erforschung und Vermittlung der
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zum Thema unbewältigte Vergangenheit war der Untertitel von Ursel Hochmuths Bibliographie Wächst Gras darüber?, und Heinz Brüdigam begann sein Vorwort zu Wahrheit und Fälschung. Das Dritte Reich und seine Gegner in der Literatur seit 1945. Versuch eines kritischen Überblicks: Das Schlagwort von der ‚unbewältigten Vergangenheit‘ ist zur großen Mode geworden. Es dient nicht selten dazu, einer wirklichen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus durch die Vermittlung von Teilwahrheiten aus dem Wege zu gehen. Seit Jahren schießen denn auch die verschiedensten Veröffentlichungen immer üppiger ins Kraut, die auf allen Gebieten – insbesondere auf dem militärischen – die Zeit des ‚Dritten Reiches‘ verharmlosen und eine Mischung von Fälschung und Wahrheit verbreiten. (Brüdigam 1959, 7)
Während die Bibliographen Hochmuth und Brüdigam Mitglieder der VVN waren, hatte Joseph Melzer nach seiner Rückkehr aus Israel 1958 in Köln einen Verlag gegründet, zu dessen ersten Büchern sein Deutsch-jüdisches Schicksal in dieser Zeit genannter Wegweiser durch das Schrifttum der letzten 15 Jahre gehörte. Melzer schrieb 1960 in der „Vorbemerkung“: Die vorliegende Bibliographie will eine bescheidene Hilfe bei der Neubesinnung bieten, die nach dem Zusammenbruch des Nazi-Reiches notwendig geworden ist. Das Erwachen aus dem Traum des Tausendjährigen Reiches zwang die deutsche Öffentlichkeit, sich Rechenschaft zu geben über das furchtbare Unglück, das das Hitler-Regime über die Welt gebracht, und die Katastrophe, die es damit für Deutschland selbst heraufbeschworen hat. […] Im Mittelpunkt des Interesses steht naturgemäß die Erkenntnis und Darstellung jener Politik der ‚Endlösung‘, die zur Katastrophe des europäischen Judentums geführt hat; daneben in wachsendem Maße die Erforschung der menschlichen und kulturellen Beziehungen, die dem deutsch-jüdischen Verhältnis in der Vergangenheit ihr Gepräge gegeben haben und die sich in Zukunft vielleicht neu gestalten ließen. (Melzer 1960, 7)
Deshalb enthielt Melzers Bibliographie neben acht Kapiteln zur jüdischen „Geschichte, Kultur und Religion“ (mit 1257 Titeln) die abschließenden zwei zu Verfolgung und Widerstand (mit 293 Titeln): „10. Die Jahre des Schreckens. Antisemitismus, KZ-Lager, Nürnberger Prozesse 11. Das andere Deutschland. Widerstand, Wiedergutmachung“ (5). Im letzten Kapitel führt Melzer die Bibliographie von Siegmund-Schultze auf. So erklärt sich, dass er auch vier der von SiegmundSchultze verzeichneten frühen Nachkriegsveröffentlichungen zum Widerstand aufgenommen hat: alle zum 20. Juli, nämlich die von von Hassell, Erich Kordt,
Geschichte des deutschen Widerstandes 1933–1945 die Ausstellung von 1971 zusammen mit dem Hilfswerk für die Opfer des Nationalsozialismus und mit der VVN trug); vgl. den Beitrag von Silvia Schlenstedt.
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Pechel und Rothfels. Obwohl Melzer Ahrens’ Widerstandsliteratur nicht berücksichtigte, ergibt sich jedoch nicht nur durch Pechels Deutscher Widerstand eine partielle Übereinstimmung mit Ahrens’ ‚Kernbibliothek‘, sondern sie betrifft auch die Buchenwald-Berichte des ILK, Kogons und Wiecherts, den SachsenhausenBericht Weiß-Rüthels und die Schriftstellerinnen Luise Rinser und Anna Seghers, von denen Melzer aber andere Texte wählte als Ahrens, nämlich statt des Gefängnistagebuchs Rinsers Erzählung „Jan Lobel aus Warschau“ und statt Seghers’ Das siebte Kreuz den Roman Transit. Brüdigam und Hochmuth verweisen in ihren Bibliographien weder auf Siegmund-Schultze (den Hochmuth (1960, 59) nur im Nachtrag zusammen mit Melzer nennt, während auf Brüdigam in der „Einführung“ (14) hingewiesen wird) noch auf Ahrens, aber sie stimmen in der (wie von Melzer getroffenen) Auswahl von Kogons, Pechels, Weiß-Rüthels und Wiecherts Büchern überein. Wiecherts Der Totenwald wird in Brüdigams Kommentierung seiner Bibliographie stark hervorgehoben als „eines der schönsten literarischen Zeugnisse“ „für die[…] Tatsache“, dass „[d]en größten Widerstand […] von Anfang an die deutschen Arbeiter und […] Arbeiterorganisationen geleistet“ haben: In unserer Zeit des hysterischen Antikommunismus ist nicht gerne die Rede davon, daß die deutschen Kommunisten einen besonders großen Anteil am deutschen Widerstand hatten […], was immerhin auch das Bundesverfassungsgericht veranlaßte, diese historische Tatsache in seiner Urteilsbegründung im KPD-Verbotsprozeß ausdrücklich anzuerkennen. Eine historische Erforschung oder literarische Würdigung des deutschen Widerstandes kann, wenn sie Anspruch auf Wahrhaftigkeit und Vollständigkeit erhebt und nicht der Propagandaliteratur des Kalten Krieges zugerechnet werden will, an diesem historischen Faktum nicht vorbei gehen. (Brüdigam 1959, 43–44)
Brüdigam zitiert deshalb aus Wiecherts Münchener Rede an die deutsche Jugend von 1945 über die „Helden und Märtyrer“ des Widerstands: „‚Unter ihnen gab es wenige von Adel und nicht sehr viele aus den Reihen des reinen Geistes. Unter ihnen gab es viele aus den Bezirken der Kirche, aber sie alle traten zurück hinter den langen Zügen, die aus den Hütten des armen Mannes bei Tag und Nacht ihren Todesmarsch antraten.‘“ (47) Brüdigam schließt an das Zitat einen Hinweis auf das ‚Vergessen‘ des Arbeiterwiderstands an: „In den ersten Jahren nach 1945, als die Überlebenden […] zurückkehrten, sind viele örtliche Berichte über den Widerstand geschrieben worden. Sie sind damals über den Rahmen ihres Erscheinungsortes kaum bekannt geworden und heute fast vergessen.“ (47)8
8 Vgl. hierzu die Äußerungen von Bibliothekar_innen von Gedenkstättenbibliotheken über die Bedeutung des von ihrer Arbeitsgemeinschaft der Gedenkstättenbibliotheken erstellten digitalen
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Brüdigam und Hochmuth stimmen mit Ahrens’ ‚Kernbibliothek‘ überein in der Auswahl von Bredels und Seghers’ Romanen sowie Pollers Arztschreiber in Buchenwald, vier weitere Titel der ‚Kernbibliothek‘ werden jeweils nur von einem der beiden Bibliographen genannt: Grossmans Treblinka-Bericht mit starker Hervorhebung von Brüdigam: „Die faschistische Ausrottungspolitik fand in den Vernichtungslagern ihren brutalsten Höhepunkt“ (33), der Bericht des ILK Buchenwald unter Nennung des Namens des Endredakteurs Ernst Busse auch von Brüdigam (33), während Langhoffs Die Moorsoldaten und Luise Rinsers Gefängnistagebuch nur von Hochmuth aufgenommen wurden. Im Vergleich mit Siegmund-Schultzes Bibliographie zeigt sich beider Übereinstimmung nicht nur in Pechels auch zu Ahrens ‚Kernbibiothek‘ gehörendem Deutschen Widerstand, sondern auch in den von Ahrens nur aufgeführten Büchern zum 20. Juli von von Hassell, Emil Henk, Karl Michel und Schlabrendorff, beide verzeichnen den bei Ahrens fehlenden Rothfels, aber nur jeweils einer wählt Clara Hubers Buch über die Weiße Rose (Hochmuth) oder Erich Kordts über den 20. Juli (Brüdigam). Während Melzers Kapitelbildung die thematische Systematisierung von Verfolgung und Widerstand zugrundelegt, unterscheidet Hochmuths „Einführung“ fünf „Themenkreise“, die „Berücksichtigung“ „fanden“: (1) „NS-System und Ideologie“, (2) „Rassisch, religiös, politisch-weltanschaulich bedingte Verfolgung in Deutschland und Europa“, (3) „Zweiter Weltkrieg“, (4) „Widerstand gegen das Hitlerregime“ und (5) „Hinterlassenschaft des Dritten Reiches“ (Hochmuth 1960, 14), präsentiert aber die hierzu ausgewählten Titel, ohne Abschnitte zu bilden, in alphabetischer Reihenfolge der Autoren. Allerdings untergliedert ein dem Literaturverzeichnis folgendes „Sachregister“ die ‚Themenbereiche‘ weiter, so das Thema (2) ‚Verfolgung‘ zu „3. Judenverfolgung in Deutschland und Europa“ wird (wo die Nummern von 52 Titeln aufgeführt werden) oder das Thema (4) ‚Widerstand‘ zu 8. der „Arbeiterschaft (SPD, KPD, Gewerkschaften u. a.)“ (mit 32 Titeln), 9. „christlicher Hitlergegner“ (28), 10. „Geistesschaffender und Künstler“ (22), 11.
Katalogs in Thein 2017, 43–44: „dass ‚es (…) in allen Gedenkstättenbibliotheken hochspezialisierte Bestände (gab‚) weil viele Überlebendenberichte oft nur in Kleinstverlagen, wenn überhaupt in Verlagen erschienen waren. Die früheren Überlebendenberichte aus dem Ende der 40er, Anfang der 50er Jahre gab es zum Teil vielleicht nur in Ravensbrück oder vielleicht nur in der Gedenkstätte Buchenwald und waren sonst überhaupt nicht vorhanden. Oder auch später – […] die meisten Überlebensberichte sind Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre erschienen – auch da war es so, dass die oft in anderen Sprachen publiziert wurden, in englischer Sprache, vielleicht auch in Französisch und dass die […] Überlebensberichte aus Ravensbrück dann tatsächlich auch nur in der Gedenkstätte Ravensbrück zu finden waren, weil die dort als Schenkung in die Bibliothek gekommen sind.“
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„Jugend und Studenten“ (9), 12. des „20. Juli“ (12), 13. der „Emigration“ (11) (Hochmuth 1960, 61–62). Brüdigam dagegen listet die Titel der bibliographisch vollständig im abschließenden alphabetischen „Literaturverzeichnis“ nachgewiesenen Bücher jeweils zu Beginn seiner Kapitel auf, die ausgehend vom Nürnberger Prozess und von Gesamtdarstellungen zunächst die folgenden Themen behandeln: „Das ‚Dritte Reich‘ und seine Diener“ (Brüdigam 1959, 17), „Die verbrecherischen Organisationen“ (21), „Vom Reichstagsbrand bis zur ‚Endlösung‘“ (24), „Die Konzentrations- und Vernichtungslager“ (30), „Der zweite Weltkrieg“ (35). Es schließen sich auf den übrigen 32 Seiten acht Kapitel zum Widerstand an, unterschieden nach: „Arbeiterorganisationen“, „Christliche[m] Widerstand“, „Jugend im Widerstand“, ‚Roter Kapelle‘, Nationalkomitee Freies Deutschland, 20. Juli, „Widerstand hinter Stacheldraht“ in Konzentrationslagern.
5 Vorbereitung neuer Buchausstellungen: Werke von Autoren jüdischer Herkunft in deutscher Sprache 1967, Antifaschistischer Widerstand 1971 In der noch im Erscheinungsjahr erfolgten zweiten Auflage von Hochmuths Wächst Gras darüber? druckte der Verlag Auszüge aus Briefen von Leser_innen der ersten ab, u. a. von Sarah Schner-Neschamith aus Israel, die für das Haus der Ghettokämpfer zum Gedenken an Yitzhak Katzenelson schrieb: Ich möchte Ihnen meine Anerkennung für die vortreffliche Arbeit ausdrücken, die Sie geleistet haben. Ich nehme mir jedoch die Freiheit, noch einige Bücher zu nennen, die es wert wären, in die Liste aufgenommen zu werden: 1. Im Feuer vergangen. Tagebücher aus dem Ghetto, Berlin 1958. Ich möchte speziell dieses Buch empfehlen. Es wäre sehr ratsam, daß gerade junge Deutsche dieses Buch lesen. 2. SS im Einsatz. Eine Dokumentation über die Verbrechen der SS, Berlin 1957. Dieses Buch ist sowohl seriös als auch wichtig. (Hochmuth 1960, 11)
Beide Bücher waren in der DDR erschienen. Im Feuer vergangen, die von Rachaela Auerbach herausgegebenen und von Arnold Zweig mit einem Vorwort versehenen Ghettotagebücher und die von der Nachfolgeorganisation der VVN, dem Komitee der Antifaschistischen Widerstandskämpfer (KAW) in der DDR, herausgegebene Dokumentation über die Verbrechen der SS unter dem Titel SS im Einsatz (1957) waren zwei von fünf DDR-Publikationen zu Judenverfolgung und -vernichtung,
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aus denen Gerhard Schoenberner, der 1960 den ersten Foto-Text-Band zu diesem Thema Der gelbe Stern. Die Judenverfolgung in Europa 1933 bis 1945 bei Rütten und Loening herausgebracht hatte, Quellen nachdruckte, als er 1962 den Nachfolgeband Wir haben es gesehen erscheinen ließ. Abgesehen von ungedruckten Quellen aus der Wiener Library London und Yad Vashem, stammten die schon einmal gedruckten, übersetzten Texte aus Frankreich und der Volksrepublik Polen bis auf die fünf Bücher aus der DDR: außer den beiden von der israelischen Leserin empfohlenen waren dies die von der VVN herausgegebene Sammlung von Letzten Briefen hingerichteter Widerstandskämpfer (darunter der „Brief einer unbekannten Jüdin“ über die bevorstehende Deportation in ein Vernichtungslager) … besonders jetzt tu Deine Pflicht! (1948, 72–75), Zivia Lubetkins schon zitierter Erlebnisbericht Die letzten Tage des Warschauer Ghettos (1949) und Bernard Marks Der Aufstand im Warschauer Ghetto (1959) (Schoenberner o. J., 425–428; vgl. zu diesen Titeln den Beitrag von Dieter Schlenstedt und zu Schoenberner den von Jan Loheit). Der Aufbau der Dokumentation SS im Einsatz ähnelte in gewisser Weise Brüdigams Bibliographie, aber, wie es in der Nachbemerkung hieß: „Auf Erklärungen und Kommentare wurde verzichtet.“ (KAW 1957, 626). Das I. Kapitel dokumentierte das Nürnberger Urteil über Gestapo, SD und SS, das II. „Verbrechen am deutschen Volk“, Kommunisten (25–49), Sozialdemokraten (50–57), Gewerkschaftern und anderen „demokratischen Kräften“ (58–84) wie Theodor Lessing, Carl von Ossietzky und Erich Mühsam, das III. „Verfolgung und Vernichtung jüdischer Menschen“ (87–142), das IV. „die faschistischen KZ“ (145–290, darunter besonders ausführlich das Vernichtungslager Birkenau, 264–276), das V. medizinische Experimente an Schutzhaftgefangenen und die planmäßige Vernichtung von Geisteskranken (293–401), das VI. die Ausbeutung der Gefangenen durch deutsche Konzerne (405–483) und das VII. Verbrechen in den besetzten Gebieten Europas (487–585). Junge westdeutsche Schriftsteller wurden durch in diesem Buch zum ersten Mal gedruckte Dokumente zu Texten angeregt, die man später ‚Dokumentarliteratur‘ nennen würde: Christian Geissler verwendete sie in Anfrage 1960, Rolf Hochhuth in Der Stellvertreter 1963 und Alexander Kluge in Lebensläufe 1964. Gerhard Schoenberner, dessen Lektor Rolf Hochhuth war, schloss 1960 seine Einleitung zu Der gelbe Stern mit einer vorsichtigen, aber deutlichen Kritik an der offiziellen Erinnerung an das ‚Dritte Reich‘ in der BRD: Die geschwiegen haben, als zum Sprechen Zeit war, reden laut von Versöhnung. Selbst Wohlmeinende sprechen allenfalls von Scham. […] Nachträgliche moralische Verdammung und menschliches Bedauern genügen nicht. Es geht darum, die historischen Fakten zur Kenntnis zu nehmen, die gesellschaftlichen Ursachen zu begreifen, die sie möglich machten, und der eigenen Verantwortung für das, was um uns herum geschieht, bewußt zu werden. Wir entrinnen unserer Vergangenheit nicht, indem wir sie aus dem Gedächtnis
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verdrängen. Nur wenn wir uns mit ihr auseinandersetzen und die Lehren jener Jahre verstehen, können wir uns von der Erbschaft der Hitlerbarbarei befreien. Politik ist kein unabwendbares Schicksal. Sie wird von Menschen gemacht und kann von Menschen verändert werden. (Schoenberner 1978, 8)
Hier deutet sich eine Wende an, die zu zwei Bibliographien im Jahre 1967 führen wird, von denen die eine zusammen mit einer Buchausstellung erscheint, während es bei der anderen vier Jahre dauern wird, bis die ihr entsprechende Buchausstellung stattfindet. Die erste ist die von Desider Stern im Auftrag der jüdischen religiös liberalen Loge B’nai B’rith erstellte Bibliographie Werke von Autoren jüdischer Herkunft in deutscher Sprache. Eine Bio-Bibliographie, deren Ausstellung zuerst 1967 in Wien stattfand, bevor sie 1969 in der Universitätsbibliothek Frankfurt/Main und in der Akademie der Künste Westberlins, 1970 in München und Düsseldorf und 1971 in Hamburg gezeigt wurde (Stern 1970, 4). Die zweite Bibliographie, betitelt „Literatur über den deutschen und europäischen Widerstand“ (Weick 1967, 143–155), erschien 1967 in dem Tagungsband zu der Konferenz „Probleme des Widerstands und der Verfolgung im Dritten Reich im Spiel der Schulbücher und des Unterrichts“, die einberufen worden war u. a. von dem Verleger des Bandes, Lambert Schneider, den Schriftstellern Christian Geissler9 und Günther Weisenborn, dem Vater der Geschwister Scholl, Martin Niemöller, dem Chefredakteur der DGB-Zeitung Welt der Arbeit Walter Fabian, dem Gruppe 47-Mitbegründer und pädagogischen Berater des Frankfurter Instituts für Sozialforschung Oberschulrat Friedrich Minssen, Hochschullehrern wie dem Politologen Wolfgang Abendroth und den Pädagogen Heinz-Joachim Heydorn und Wolfgang Klafki sowie katholischen, jüdischen und kommunistischen VVN-Prominenten wie Joseph C. Rossaint, Max Oppenheimer und Oskar Müller. Der auf der Tagung gegründete Studienkreis (mit den Vorsitzenden Heydorn und Minssen) erhielt nicht den Namen der Konferenz, sondern wurde Studienkreis zur Erforschung und Vermittlung der Geschichte des deutschen Widerstandes 1933–1945 genannt. 1971 veranstaltete der Studienkreis in Frankfurt/Main die Buchausstellung Antifaschistischer Widerstand, zu deren Katalog der hessische DGB-Vorsitzende und SPD-Landtagsabgeordnete Philipp Pless das Vorwort schrieb: „Die Ausstellung Widerstand mahnt uns zur Aktivität und angesichts der wiedererstarkten Kräfte der Reaktion zur Fortsetzung des Widerstands, um neues Unheil zu verhüten.“ (Ausstellung 1971, *4)10
9 Vgl. zu Geissler im Kontext der Ostermarsch-Bewegung und des Linkskatholizismus Peitsch 2017. 10 Vgl. im selben Jahr die Münchener Ausstellung, die der Oberbürgermeister Hans Jochen Vogel eröffnete (Widerstand 1971), sowie zwei Jahre später die Frankfurter Antifaschistische Buchwoche
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In der 3. Auflage von Desider Sterns Bibliographie, die als Katalog zur Ausstellung in München 1970 erschien, die unter der Schirmherrschaft des neuen Bundespräsidenten Gustav Heinemann und des neuen Bundeskanzlers Willy Brandt stand, wurde Sterns Wiener Eröffnungsrede von 1967 erneut abgedruckt: Ein wichtiger Bestandteil der Ausstellung sind die Bücher über die Verfolgung, also Bücher, die von Verfolgten geschrieben wurden oder von den Verfolgungen und Drangsalierungen handeln, denen alles Jüdische gerade in unserer Geschichtsepoche ausgesetzt war (und zum Teil noch immer ist). Möge die Botschaft dieser Bücher, möge ihr Appell gegen das Unrecht und ihr Ruf nach Menschlichkeit verstanden werden. Möge er besonders die jungen Menschen von heute erreichen, denen die Zeit der Nazigreuel erspart geblieben ist. Sie können sich aus den hier zusammengefaßten Büchern, ob es sich nun um Dokumentationen und Erlebnisberichte handelt oder um dichterische Gestaltungen, ein Bild jener furchtbaren Zeit machen […]. Sie werden von namenlosem Grauen erfahren und von brüderlicher Hilfe, von furchtbarer Versuchung und von heldenhaftem Widerstand, von tiefer Verzweiflung und von unerschütterlichem Glauben. (Stern 1970, 16)
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Doktor Faustus und Dr. h. c. Thomas Mann Walter Boehlich über den Schriftsteller und die Politik 1970 erschienen in der Bibliothek Suhrkamp Thomas Manns Schriften zur Politik. Die Zusammenstellung oblag Walter Boehlich, obwohl er schon seit 1968 nicht mehr im Verlag tätig war.1 Da er versprochen hatte, angefangene Arbeiten zu Ende zu führen, kümmerte er sich noch um die Veröffentlichung dieser Schriften. Der Fischer Verlag verweigerte aber zunächst das Recht, den als Auftakt geplanten Aufsatz „Gedanken im Kriege“ von 1914 abzudrucken. Weil Boehlich die Entwicklung Thomas Manns vom Anhänger der Monarchie zum Verteidiger der Weimarer Republik darstellen wollte, legte er Wert auf diesen frühen Aufsatz. Er wandte sich an Golo Mann und legte seine Idee für das Buch dar: „Ich habe versucht, unvoreingenommen zu belegen, was war, und keine Consequenzen aus der Tatsache, die zu verschweigen töricht wäre, dass das politische Denken Thomas Manns und mein eigenes etwa sich nicht aufeinander reimen, zu ziehen.“2 Deswegen bat er Mann, mit seiner Mutter, Katia Mann, zu sprechen, um die Freigabe der Rechte zu erwirken. Golo Mann dürfte es nicht gestört haben, dass Boehlich und Thomas Mann politisch nicht übereinstimmten. Aber der Satz verweist auf eine Befürchtung Boehlichs, die auch begründet, warum er seine Bitte nicht direkt an Katia Mann richtete. Er musste annehmen, dass ihr sein Name in schlechter Erinnerung war. Und das nicht wegen seiner jetzigen radikaldemokratischen, sondern wegen seiner früheren liberalkonservativen Vorstellungen von Politik und Literatur. Nicht alle der vierzehn Texte und Stellungnahmen Boehlichs zu Thomas Mann in Print und Rundfunk sollen hier herangezogen werden (vgl. Thein 2011). Aber anhand einiger der Literaturkritiken und publizistischen Interventionen werden im Folgenden Walter Boehlichs immer schon politische Prämissen der Literaturkritik schlaglichtartig von der Nachkriegszeit bis in die 1970er Jahre nachvollzogen. Dadurch soll auch verständlich werden, warum ein ausgespro-
1 Als ein Sprecher der ‚Literaturproduzenten‘ hatte er sich für mehr Mitbestimmung und Demokratisierung im Verlagswesen eingesetzt, bei Suhrkamp gekündigt und sich fortan im Verlag der Autoren und als freier Publizist weiter engagiert (Unseld 2010, 16–96; Kröger 2011; Sonnenberg 2016, Kap. 2). 2 Walter Boehlich an Golo Mann, 31. Juli 1969. Universitätsarchiv Frankfurt (UAF), Nachlass Boehlich, Korr K1969. Der Nachlass von Walter Boehlich in Frankfurt am Main ist archivalisch noch nicht erfasst, die Signaturen dementsprechend vorläufig. http://doi.org.de/10.1515/9783050093932-006
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chener Kritiker des Schriftstellers eine wesentliche Rolle bei der Aufklärung der Umstände der Aberkennung von Thomas Manns Ehrendoktorwürde 1936 spielte. Schon mit 16 Jahren, also zu der Zeit, als Thomas Mann die deutsche Staatsbürgerschaft entzogen und der Ehrendoktor aberkannt wurde, las Walter Boehlich seine Bücher. Max Rychner, dem Redakteur der Schweizer Zeitung Die Tat, berichtete er später: Ich benutzte damals mein ganzes Taschengeld zum Kauf von Büchern und als ich eines Tages in den finsteren Ecken und Schüben eines Antiquariats kramte, entdeckte ich die Buddenbrooks, die ja nicht verkauft werden durften. Ich war glücklich über den Fund und weiss noch heute, dass die Inhaberin sagte, ich solle ihr einfach dafür geben, was ich in der Tasche hätte; das waren 43 Pfennig, und ich zog selig ab.3
Seinen ersten Artikel über Thomas Mann, eine Besprechung des Doktor Faustus, wollte er 1948 eigentlich in der Hamburger Akademischen Rundschau (HAR) veröffentlichen. Diese Zeitschrift hatte, nachdem er nach dem Zweiten Weltkrieg in Hamburg sein durch die rassistischen Gesetze der Nationalsozialisten in Breslau unterbrochenes Studium der Kunstgeschichte und Germanistik hatte fortsetzen können, seine ersten Literaturkritiken veröffentlicht. Die Hamburger Akademische Rundschau zeichnete sich durch eine starke Präsenz emigrantischer Stimmen aus. Sie war „diejenige Zeitschrift, die umfassender und intensiver als alle vergleichbaren Unternehmen den Kontakt zum ‚anderen Deutschland‘ suchte und mithilfe der intellektuellen Beiträge von Emigranten politisch und moralisch orientierend wirken wollte“ (Krohn 2002, 142). Zeit ihres Bestehens hat sich die HAR mit dem „Fall Thomas Mann“ auseinandergesetzt, weil dieser „symptomatisch für das geistige Klima der deutschen Nachkriegszeit“ (Lang 1947–1948, 555) gewesen sei. Ursula Jaspersen besprach lobend den in Deutschland nicht erschienenen Roman Lotte in Weimar (Jaspersen 1946–1947). In der gleichen Nummer druckte man eine vermeintlich authentische Gesprächsnotiz Goethes mit Friedrich Wilhelm Riemer. Als in einer Leserzuschrift darauf hingewiesen wurde, dass diese tatsächlich Manns Lotte in Weimar entnommen war, und dagegen protestiert wurde, dass durch diese Fehlzuschreibung von kritischen Äußerungen über die Deutschen diesen die einzige Identifikationsfigur genommen werde, verteidigte Hans-Joachim Lang, einer der Gründer der HAR, nicht nur eine kritische Lesart Goethes, sondern auch den gleich mit angegriffenen Thomas Mann gegen den Vorwurf, dieser habe die zwölf Jahre nicht am eigenen Leib erfahren.4 Im Dezem-
3 Walter Boehlich an Max Rychner, 20. Juni 1955. Deutsches Literaturarchiv Marbach (DLA), Nachlass Rychner, A: Rychner. 4 Die falsche Zuschreibung wurde von der Redaktion eingestanden, nicht ohne darauf zu verweisen, dass Thomas Mann Goethes Äußerungen über die Deutschen recht zuverlässig wieder-
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ber 1947 veröffentlichte die HAR Manns Ansprache vor Schweizer Studenten über den Doktor Faustus, um „mit Vernunft und Gesittung an ein Problem heranzutreten, dessen Lösung für die deutsche Zukunft gewiß nicht entscheidend, aber doch symptomatisch sein dürfte“.5 Schließlich widmete die HAR im Mai/Juni 1948 Thomas Mann eine Doppelnummer, in der neben ihm selbst u. a. Erich Heller und Käte Hamburger mit Beiträgen vertreten waren. Aus Platzmangel konnte Boehlichs Rezension über den Doktor Faustus deshalb in der Hamburger Akademischen Rundschau nicht erscheinen.6
1 Doktor Faustus im Merkur Es tat sich jedoch eine neue Veröffentlichungsmöglichkeit auf. 1947 war Boehlich als Assistent des Romanisten Ernst Robert Curtius an die Universität Bonn gewechselt. Dieser veröffentlichte nicht nur regelmäßig im Merkur, sondern fungierte auch als Berater der Herausgeber. Hans Paeschke und Joachim Moras waren bei der Gründung der Zeitschrift schon erfahrene Redakteure. Paeschke leitete u. a. von 1939 bis 1944 die im von Peter Suhrkamp kommissarisch geleiteten Fischer Verlag erscheinende Neue Rundschau. Moras, 1930 bei Curtius promoviert, war von 1933 bis 1945 Redaktionsleiter der in den 1920er Jahren mit einer konservativen Revolution sympathisierenden Europäischen Revue. Im Laufe ihres Bestehens sollte sich das Profil der Zeitschrift Merkur stark wandeln. Zumindest für ihre Gründungszeit, in der Boehlich als Publizist zu ihr stieß, trifft Hans Manfred Bocks Charakterisierung zu, sie sei „Instrument und Laboratorium [des] neokonservativen Siegeszuges im kulturellen Leben der frühen Bundesrepublik Deutschland“ (Bock 2001, 160) gewesen. Ein Charakteristikum der Zeitschrift war es, die „Bedingungen für die Möglichkeiten nationaler Identitätswahrung zu erörtern“ (161).
gegeben hatte (Schubert 1946–1947). Vgl. „Ein Goethe-Gespräch mit Riemer (1824)“. Hamburger Akademische Rundschau 1.3 (1946–1947): 104–105. Angriff und Langs Replik finden sich in H. 8 (1946–1947). Auch andere nutzten das Goethe zugeschriebene Zitat von Thomas Mann, so etwa Johannes R. Becher in seiner Rede zur Gründung des Kulturbunds zur demokratischen Erneuerung Deutschlands. Hartley Shawcross, der britische Chefankläger im Nürnberger Prozess, zitierte die Worte in seinem Schlussplädoyer als Beweis für Goethes prophetische Kraft und Erinnerung an wieder zu verwirklichende humanistische Werte, vgl. Internationaler Militärgerichtshof Nürnberg 1948, 591–592. 5 „Vorbemerkung der Redaktion“. HAR 2.6 (1947–1948): 241. 6 Vgl. Hans-Joachim Lang an Walter Boehlich, 24. März 1948. UAF, Nachlass Boehlich, 013/ N WB.
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Deswegen musste sich der Merkur zum neuen Thomas Mann-Roman äußern, auch wenn anfangs kaum mehr bekannt war, als dass es ein Buch über Deutschland ist. Den Anstoß gab Hans Egon Holthusen. Er schlug „eine Glosse über Thomas Mann vor – über geographisch-biographische Standortgebundenheit im besonderen und allgemeinen“.7 Curtius riet Paeschke jedoch „in politicis im Fall Mann unbedingt zum Schweigen, es sei denn man könne geschickt eine Kritik verbinden mit der Würdigung seines letzten Romans“.8 Er selbst gedachte offensichtlich einen Beitrag über Mann zu schreiben. Das war nicht nur kompliziert, weil der Roman gar nicht so leicht zu besorgen war, sondern auch, weil Thomas Mann den Merkur als die „beste Zeitschrift Deutschlands“ gelobt hatte und man sich Hoffnungen machte, ihn als Autor zu gewinnen. Deshalb sollte Holthusen, mit dem nun eine Rezension fest verabredet war, diese nur in enger Abstimmung mit den beiden Redakteuren verfassen, da sie entscheidend sein könne für „unsere künftige geistige Politik“, insbesondere, wenn es in ihr um die „Schuldfrage und das innere Problem der Emigration“ gehen sollte.9 Auch wenn noch keiner der Beteiligten den Doktor Faustus gelesen hatte, so hatte zumindest Curtius aus erster Hand von dem Roman erfahren. Über eine Begegnung mit Thomas Mann im Baur au Lac schrieb er an Paul Jacobsthal am 4. August 1947: „Es war eine Freude ihn wiederzusehen & von seinem Dr. Faust sprechen zu hören“; der persönlichen entsprach jedoch keine politische Wertschätzung: Aber seine politischen Ansichten sind unbeschreiblich töricht. Er geht nicht nach Deutschland, ‚um sich nicht mit der Emigration zu desolidarisieren‘. Er glaubt, die frz. Generäle hätten 1940 absichtlich den Krieg verloren, um sich an Dreyfus und der 3. Republik zu rächen! (Curtius und Rychner 2015, 400)
Die Redaktion des Merkur registrierte genau, wer wo über Thomas Mann publizierte, und versuchte in Abgrenzung davon, die eigene Position zu bestimmen. Die grobe Richtung gab Curtius vor: „Die heutige Weltlage ist charakterisiert durch den Gegensatz Bolschewismus & Liberalismus. Da muss man Partei ergreifen. Man kann also nur 1 Ziel haben: die grosse liberale Tradition des Westens zu pflegen.“10 Zustimmung fand in der Redaktion nur ein Beitrag Max Rychners aus der Neuen Schweizer Rundschau, der von der Redaktion für seinen Takt gelobt wurde, seine Kritik an Manns als deutschfeindlich gesehenen Positionen in lobende Worte für dessen Werk verpackt zu haben. Paeschke betonte Holthusen
7 Joachim Moras an Hans Paeschke, 18. Juli 1947. DLA Marbach, A: Merkur°Paeschke. 8 Hans Paeschke an Joachim Moras, 27. Januar 1947. DLA Marbach, A: Merkur°Paeschke. 9 Hans Paeschke an Hans Egon Holthusen, 18. Juli 1947. DLA, D: Merkur. 10 Ernst Robert Curtius an Hans Paeschke 24. August 1947. DLA, D: Merkur.
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gegenüber aber: „Freilich haben wir als Deutsche das Recht, um eine Idee explizieter [sic] zu sein.“11 Erst im Januar 1948 schickte Paeschke ein Exemplar des Buches an Curtius, verbunden mit der Bitte, es zu rezensieren: „wer anders könnte das gültige innerdeutsche Wort zum Fall Thomas Mann repräsentativer aussagen?“12 Curtius sagte erst eine Besprechung zu, deutete in einem Brief an Max Rychner am 12. März 1948 jedoch Vorbehalte an und gab dann den Verzicht auf die Rezension bekannt: „Das kann & will ich aber nicht öffentlich sagen, wenigstens nicht bei Lebzeiten des Autors. Ich will ihn nicht kränken.“ (Curtius und Rychner 2015, 424) Er begründete die Absage auch programmatisch als Verzicht der Literaturkritik auf den Anspruch, politisch wirken zu wollen: „Noch weniger habe ich den Wunsch, auf den Geschmack der Mann-Leser einzuwirken. Ich ‚statuiere‘ Kritik als autonome literarische Gattung ablösbar von dem Bestreben, Zustände zu beeinflussen.“ (424) So sagte er schließlich dem Merkur ab, nicht ohne hinzuzufügen: „Es trifft sich gut, dass ich Ihnen beiliegenden Ersatz anbieten kann. Der Vf. ist ein sehr intelligenter Hamburger Student.“13 Den Herausgebern des Merkur war Walter Boehlich noch nicht vorgestellt worden. So mochten sie erst nicht glauben, dass das von Curtius übermittelte Manuskript wirklich von Boehlich stammte, zu sehr schien ihnen der eingesandte Text in Stil und Inhalt einer von Curtius zu sein. Deshalb musste der in einem weiteren Brief die Autorschaft Boehlichs bekräftigen: „Er las hier […] Dr. Faustus und schrieb, ganz unbeeinflusst von mir, seine Besprechung nieder, mit der ich sachlich ganz übereinstimme“; ferner bat er darum, diesen „Vertreter der ‚Jugend‘“14 zu Wort kommen zu lassen und in den Mitarbeiterstamm des Merkur aufzunehmen. Aber die Gewissheit, dass Curtius den Artikel nicht geschrieben hatte, machte Boehlich gleich suspekt: Hier stellt sich nicht die Frage, wie man einen solchen jungen Mann beurteilen soll, der sich derart als Medium gebrauchen lässt. Mag das Gehirn noch so ausgezeichnet funktionieren, sind doch die Wände dieses Kopfes aus Stroh, wenn sie derart durchlässig für die Gedanken eines anderen sind.15
11 Hans Paeschke an Hans Egon Holthusen, 23. Dezember 1947. DLA, D: Merkur. Ein Aspekt, den auch Moras hervorhob: „Vergiss bei der Noblesse nicht, dass R. Schweizer, also weder angegriffen noch verleumdet ist.“ Joachim Moras an Hans Paeschke, 14. Januar 1948. DLA, A: Merkur°Paeschke. Rychners Aufsatz wurde auch in der Sondernummer der HAR zu Thomas Mann nachgedruckt: Rychner 1948. 12 Hans Paeschke an Ernst Robert Curtius, 17. Januar 1948. DLA, D: Merkur. 13 Ernst Robert Curtius an Hans Paeschke, 6. April 1948. DLA, D: Merkur. 14 Ernst Robert Curtius an Hans Paeschke, 17. April 1948. DLA, D: Merkur. 15 Hans Paeschke an Hans Egon Holthusen, 28. April 1948. DLA, D: Merkur.
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Boehlichs Artikel war Paeschke und Moras aber auch aus taktischen Gründen zunächst unlieb. Der Beitrag des arrivierten und politisch unverdächtigen Curtius sollte Holthusen ermöglichen, in seiner Rezension die politischen Differenzen klarer zu benennen.16 Nachdem er den Roman gelesen hatte, missfiel Paeschke Boehlichs Text wegen dessen allein literaturkritischer Ausrichtung. Er verlangte eine Überarbeitung, die eine „sachliche und damit zeitgeschichtliche Auseinandersetzung“ beinhalten sollte.17 Gegenüber seinem Redaktionskollegen zeigte sich Paeschke zudem über Boehlichs Verhältnis zur Hamburger Akademischen Rundschau verwundert: „Boehlich, der in der Redaktion sitzt, scheint in diesen Sachen buchstäblich zu uns emigriert zu sein.“18 Im zehnten Heft 1948 erschien Boehlichs Artikel „Thomas Manns Doktor Faustus“. Dies war die erste Ausgabe des Merkur, die nicht mehr im Heller und Wegner Verlag, sondern bei der Deutschen Verlags-Anstalt erschien. Deswegen wurde sie durch ein programmatisches Vorwort der Redaktion eingeleitet. Der Merkur vertrete „kein Dogma, keine Doktrin, keine Ideologie, sondern eine Haltung“; gleichwohl erhebe er den Anspruch, deutsche Schriftsteller mit den „Wortführer[n] der Anderen“ ins Gespräch zu bringen, die geeint seien „in dem Bewußtsein ihrer in Schuld und Sühne unabänderlichen Zusammengehörigkeit“ (Moras und Paeschke 1948, 482). Dass Boehlichs Beitrag deutlich machen würde, mit wem diese Zusammengehörigkeit nicht erwünscht war, wussten und wollten die Redakteure: Es werde einen „Sturm der Entrüstung“ geben, „aber das ist ja genau was wir brauchen“.19 Öffentlich positionieren wollte man sich als Redaktion jedoch nicht: „Was die Boehlich-Notiz betrifft, auf keinen Fall Stellungnahme. Lediglich: ‚Die Diskussion (des Werkes Thomas Manns) wird fortgesetzt‘.“20 Boehlichs Artikel wollte mehr als eine Rezension sein. Weil der Doktor Faustus schon ein Alterswerk des Autors sei, könne über dieses Werk hinaus nun der
16 „Curtius über Dr. Faustus, schafft uns Thomas Mann gegenüber Freiheit zu jedem Angriff von anderer Seite.“ Hans Paeschke an Joachim Moras, 2. Dezember 1947. DLA, A: Merkur°Paeschke. 17 Hans Paeschke an Walter Boehlich, 4. Juni 1948. DLA, D: Merkur. Wie wenig die Entstehungsbedingungen des Romans bekannt waren, zeigt Paeschkes Bemühen, Adorno als Kritiker der musiktheoretischen Passagen zu gewinnen. Vgl. Hans Paeschke an Hans Egon Holthusen, 4. Juni 1948. DLA, D: Merkur. 18 Hans Paeschke an Joachim Moras, 4. Juni 1948. DLA, A: Merkur Paeschke. Aber auch die Hamburger Kommilitonen beobachteten Boehlichs neuen Publikationsort skeptisch. HAR-Mitbegründer Karl Ludwig Schneider schrieb ihm vom Gedeihen der Zeitschrift und forderte: „Begehen Sie also keine Dummheit und laufen Sie nicht jetzt, da wir uns der Blütezeit nähern, zum Merkurtius über.“ Karl Ludwig Schneider an Walter Boehlich, 5. August 1948. UAF, Nachlass Boehlich, 013/ N WB. 19 Joachim Moras an Hans Paeschke, 6. Juli 1948. DLA, A: Merkur Paeschke. 20 Joachim Moras an Hans Paeschke, 22. Oktober 1948. DLA, A: Merkur Paeschke.
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„Rang“ des Schriftstellers ermittelt werden; dem Text kommt also auch die Funktion zu, Thomas Mann seinen Platz in der Literatur zuzuweisen: „Literaturkritik kann Literaturgeschichte werden.“ (Boehlich 1948, 588) Der Maßstab, an dem das (Gesamt-)Werk gemessen wird, wird anfangs durch Oppositionen umrissen, aber nicht erklärt: Meisterschaft vs. Manier, Genie vs. Talent, Klarheit vs. Verstricktheit. Alle diese Dualismen werden auch als Gegenüberstellung von Poesie und Literatur gefasst. Boehlich strebt den Nachweis an, dass dem Doktor Faustus von alledem immer nur Letzteres zukomme. Am häufigsten wird der Vorwurf des Manierismus erhoben. Manieristisch sei Thomas Manns Versuch, mittels altertümlicher Sprache das Mittelalter zu evozieren, manieristisch das Lutherdeutsch, das Mann dem Kind Nepomuk in den Mund lege (595), und des Erzäh lers Serenus Zeitblom Angewohnheit immer „i. e.“ statt „d. h.“ zu schreiben (598). Ein Riesenmanierismus gar sei der Stil des Erzählers, der ständig sein eigenes Tun und Lassen kommentiere, unterbreche und neu wieder ansetze (602). Auffällig ist dabei, dass Boehlich den Erzähler für Thomas Mann selbst nimmt. Deutlich wird dies, wenn er die politische Einfalt von Mann und Zeitblom vergleicht (596) oder wenn er dessen Rhetorik mit der in den Betrachtungen eines Unpolitischen gleichsetzt (598). Boehlich analysiert nicht, welche Funktion die Erzählweise Zeitbloms hat. Nur deswegen kann er am Ende das Urteil fällen, Mann habe mit dem Roman „einen Weg fortgesetzt, der ihn immer weiter von der Möglichkeit der Meisterschaft entfernt und ihn dem Manierismus angenähert hat“ (603). Die Verwechslung ermöglicht es Boehlich zudem anzudeuten, die Eigenschaften Zeitbloms seien die von Thomas Mann selbst: Pedanterie, Bildungshuberei unter dem Mantel der Bescheidenheit und nicht zuletzt die Unfähigkeit, eine Geschichte zu erzählen. Die Opposition von Klarheit und Verstricktheit sucht Boehlich zu entscheiden, indem er die Position Thomas Manns und des Erzählers als Zwiespältigkeit charakterisiert. Das ironisierende Verfahren Manns wird als ein wesentlicher Makel des Buches gekennzeichnet. Hauptbeispiel dafür ist Boehlich die Teufelsfigur. Diese sei als das schlechthin Irrationale durch Ironie nicht darstellbar (594). Das durchkreuze die Gesamtkonzeption des Romans, die ihm eine solch zentrale Rolle zukommen lasse, weil erst durch den Teufelspakt Leverkühn zu einer Faustfigur werden könne. Da diese Idee nun nicht aufgehe, konstatiert Boehlich: „Thomas Mann hat den Punkt überschritten, an dem Kunst sich in Künstlichkeit, Sicherheit in Unsicherheit wandelt. Das Zwiespältige, das im Zauberberg nur ein Aspekt war, ist im Faustus zum Grundakkord geworden“ (600). Die bemängelte Zwiespältigkeit verweist auf eine unausgesprochene Prämisse der Kritik: Walter Boehlich verlangt Eindeutigkeit. Faust gehört ihm ins Mittelalter, das Okkulte wie die Musik seien nur durch Poesie, nicht durch Literatur zu evozieren, das Irrationale könne nicht ironisiert werden.
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Zwiespältig ist für Boehlich schließlich Thomas Manns Verhältnis zu Deutschland. Nicht auszumachen sei, ob der Doktor Faustus ein Buch des Unmuts oder gar des Abscheus und des Hasses sei (602). Dabei ist Boehlichs Einschätzung selbst zwiespältig. „Mit Recht“ habe Thomas Mann Deutschland als von „neurotischer Verstrickung und stillem Satanismus“ (602–603) bedroht gesehen. Gleichwohl gehe es nicht an, das „Anheimfallen“ Deutschlands an den Nationalsozialismus so zu beschreiben, als habe es sich mit dem Teufel verbündet, da dies eine aktive Willensentscheidung voraussetze. Deutschland sei zwar „dem Bösen verfallen“, habe sich ihm vielleicht aber „unwissend […] verschrieben“ (593). Auch wenn Mann mit seiner Gleichsetzung von Deutschland und dem sich dem Teufel verschreibenden Leverkühn das falsche Symbol gewählt habe, habe ihm die Geschichte als politischem Kommentator, bei all seiner Aufspreizung als „praeceptor Germaniae“, doch „nachdrücklich Recht gegeben“ (588). Eine Torheit sei das „so falsche Gespräch“ über Thomas Mann den Emigranten gewesen. Gleichwohl gibt Boehlich den damaligen Kritikern in einem wesentlichen Punkt Recht: Thomas Mann sei „der Heimat fremd geworden“ (603). Die Schuld dafür liege zwar bei denen, die ihn zwangen, „sie verlassen [zu] müssen“ (603). Aber Thomas Manns Exilland habe ihm das Schreiben über Deutschland erschwert: „Amerika scheint kein Land, in dem Symbole gedeihen können. Es ist ein Land ohne große Dichtung, ohne poetische Tradition, ohne lebendige Kritik.“ (603) Diese Zwiespältigkeit hindert Boehlich nicht, Thomas Mann mit einer Goethe variierenden Formulierung anzugreifen, von der er wissen musste, dass sie ihn treffen würde. Manns Versuch, die „vaterländische Katastrophe Deutschlands“ (602) zu beschreiben, habe misslingen müssen, weil es schwer sei, „solche Dinge zu schildern, wenn man sie nicht erlebt hat. Es war eine Epoche der Weltgeschichte und Thomas Mann kann sagen, er sei nicht dabei gewesen.“ (596) Boehlichs Kritik bekommt besonderes Gewicht, weil er im Namen eines Kollektivs spricht. Dessen Zusammensetzung wird nicht erläutert, aber als durch gemeinsames Alter verbunden vorgestellt: „Als Thomas Mann das Land verließ, waren wir Gymnasiasten“ (603). Dieses Kollektiv sei zudem dadurch geeint gewesen, dass es gewusst habe, dass Thomas Mann zu den Vielen gehörte, „die ein besseres Deutschland verkörperten als das bestehende. Da war ein Gemeinschaftsgefühl schon im Entstehen. Nun sind wir umso tiefer enttäuscht.“ (603) Der Rezensent positioniert sich damit, wie von Curtius gewünscht, als Vertreter der Jugend. Boehlichs Beitrag war der Redaktion an Kritik nicht genug. Dass Thomas Mann überhaupt kritisiert, dessen vermeintliche Rolle als Sprecher des besseren Deutschland in Frage gestellt wurde, reichte nicht hin, klarzumachen, warum dieser Sprecher nicht über Deutschland sprechen könne. Deswegen wurde Hans Egon Holthusens Beitrag zu Thomas Mann besonders eng redaktionell begleitet:
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„Jetzt heisst es: alle Mann an die Front.“21 Das Manuskript Holthusens wurde von Paeschke ausführlich kommentiert, da er sich sicher war, „Angriffe werden todsicher kommen und durchzustehen sein“. So sollte Holthusen nicht erneut auf die „räumliche Distanz Kalifornien/Deutschland anspielen“ und sich nur dezent auf den deutschen Widerstand gegen den Nationalsozialismus berufen. Am wichtigsten sind Paeschke kulturphilosophische Kategorisierungen: Thomas Mann sei „tiefdeutsch“, „er ist als Künstler weiblich geartet, er empfängt Reize, er reproduziert, er spiegelt, er ist dementsprechend subjektiv und wandelbar und seine Phantasie eine solche zweiter Hand, lunar“. In Opposition dazu sieht Paeschke die vom „Mittelmeerischen“ herkommenden Curtius und Valéry, die es vermöchten „autochthone, apriorische Chiffren“22 hervorzubringen. Was hier metaphysisch tönt, deutet Paeschke dem Publizisten Christian E. Lewalter politisch aus, indem er doch wieder auf den Vorwurf zurückkommt, Mann habe Deutschland verlassen: „Das Leiden am Deutschtum ist den wirklich grossen Deutschen aller Zeit aufgegeben und gehört zur Tragik des Lebens“, Thomas Mann aber könne „diese Tragik gar nicht überwinden, weil er durch die Emigration sich selbst in diesen Konflikt eingekerkert hat“.23 In den ersten beiden Heften des Jahrganges 1949 erschien Holthusens Beitrag „Die Welt ohne Transzendenz“.24 Auch er liest den Doktor Faustus als Essay über Deutschland. Hauptkritikpunkte sind die verwendeten Stilmittel der Ironie und Parodie. Sie säkularisierten metaphysische Tatbestände und benähmen ihnen so ihre Würde. Gegen Manns psychologische Herleitung begreift Holthusen das Genie als „transzendentales Phänomen“ (1949, 57). Dem könne Manns Montagetechnik nicht gerecht werden, die der Wahrheit Zwang antue und so das Ziel der heute lebenden Menschen verfehle: „religiöse Gesundung“ (166). Eingebettet in diese christlichen Meditationen finden sich die im engeren Sinne politischen Stellungnahmen mit dem Fazit, Mann sei Vertreter einer „außerdeutschen und antideutschen Perspektive“ (164). Die „Verleumdung und Verteufelung des Deutschen bei entsprechender Verklärung der anderen“ zeige sich im Teufelspakt, bei dem ein ganzes Volk sich dem Bösen verschrieben haben soll; das sei nicht nur
21 Hans Paeschke an Hans Egon Holthusen, 2. Juni 1948. DLA, D: Merkur. 22 Hans Paeschke an Hans Egon Holthusen, 14. Januar 1949. DLA, D: Merkur. 23 Hans Paeschke an Christian E. Lewalter, 10. August 1948. DLA, D: Merkur. 24 Im letzteren der beiden Hefte erschien auch erstmals ein Text Gottfried Benns im Merkur. In seinem „Berliner Brief“ erklärte der Dichter „nach 12 Jahren des Schweigens“ (so die Redaktion), unter welchen Bedingungen er bereit sei, es zu brechen. In Anspielung auf seine Kontroverse mit Klaus Mann im Jahre 1933 um die Frage, warum er aus dem nationalsozialistischen Deutschland nicht emigriere, schreibt Benn (1949, 206), Berlin sei die Stadt, in der er nun nach dem zweiten und dritten „das vierte Reich erlebe und aus der mich nichts zur Emigration bewegen wird“.
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„theologischer Nonsens“, sondern auch „Propaganda“, denn „nur der Einzelne kann Subjekt sein, wenn politisch-moralische Rechenschaft abgelegt werden soll“ (178). Mit der Dämonisierung der gesamten deutschen Geschichte blende Thomas Mann nicht nur die Tradition aus, auf die sich zu berufen immer noch angehe: „die Stürmer und Dränger, Schiller, Kant, Beethovens Fidelio, Stein, Marx, Uhland und die Achtundvierziger“ (178). Er unterschlage auch „das andere Deutschland“, die „Zellen der Widerstandskämpfer“ um den Grafen Moltke und die Häftlinge in den Baracken der Konzentrationslager (178). Holthusen beendet seinen Aufsatz, obwohl er die Konzeption einer Völkerschuld zugunsten der Verantwortlichkeit des Einzelnen vor Gott kurz vorher im Text ablehnt, mit dem Satz: „Denn der Sinn der Geschichte eines Volkes bleibt offen bis zum Gericht.“ (180)25 Ist der ganze Aufsatz also, wie viele der damaligen, zentriert um die Auseinandersetzung mit Thomas Manns Stellungnahmen zur Genese des Nationalsozialismus, weist ein Absatz schon voraus auf eine Ebene der Diskussion, die die künftige Mann-Rezeption bestimmen sollte: seine Positionierung im Kalten Krieg. „Zeitblom, ausgerechnet der humanistische Studienrat Zeitblom, muß in seinen politischen Selbstgesprächen darauf verfallen, mit dem Bolschewismus zu kokettieren.“ (163) Der von der Redaktion so skrupulös vorbereitete Artikel von Holthusen löste allerdings entgegen der Erwartung außerhalb der Zeitschrift kaum eine Debatte aus. Um sie doch noch anzuregen, wurde ein Briefwechsel zwischen Christian E. Lewalter und Hans Paeschke öffentlich gemacht. Lewalter kritisiert darin Holthusens verkürzende, manichäische Theologie, in der die „Dialektik“ Thomas Manns keinen Platz finde: daß Thomas Mann die Krise des Christentums, die Krise der Kunst in ihrer sozialen Funktion und die Krise Deutschlands als Anomalie unter den Nationen exemplarisch darstellt – statt dessen dekretiert Holthusen, man habe Ja zu sagen zu einem Dogmenextrakt, dessen Allerweltsgültigkeit schon Herder und Hamann ein Greuel war (Lewalter und Paeschke 1949, 928).
Diesen Brief präsentierte Paeschke als Anlass, „eine pausenlose mündliche und briefliche Diskussion von Monaten mit einem öffentlichen Zeugnis abzuschließen“ (928). Paeschkes Text ist somit auch eine der wenigen Stellungnahmen der Redaktion pro domo. Er verteidigt Holthusens Lesart. Religiöse Kategorien wie Schuld und Erlösung seien im Doktor Faustus nicht glaubhaft motiviert und
25 Darauf hatte ihn schon Paeschke hingewiesen. „Im Transzendentalen als Idee gibt es doch wohl Völkerschuld, so wie es Völkerschicksale gibt. Denke an das jüdische Problem, denke an die Mythologien.“ Hans Paeschke an Hans Egon Holthusen, 14. Januar 1949. DLA, D: Merkur.
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dadurch entbehre er der Dialektik, die Lewalter am Werk sehe. Aus dieser Diagnose leiten sich für Paeschke auch politische Implikationen ab: Die Succubi des Unbewußten werden übermächtig, während das Bewußtsein unseres Autors immer mehr in den seichten Parolen von Demokratie und Fortschritt verflacht. Ein Humanist à la Zeitblom jedenfalls kann weder mit Leverkühn noch mit den Nazis mehr zum Duell antreten. (932)
Thomas Mann, „Emigrant des Lebens schon vor der Emigration“, liefere nur ein Zerrbild „deutschen Wesens“; Paeschke definiert an der Stelle auch, wessen die Deutschen „bedurft hätte[n]“: „ein[es] Werk[s], das den Geist bestätigt und […] einem gewissen eigensinnigen deutschen Chthonismus seine ewige NikodemusFrage von Oben her beantwortet, im Sinne der Umkehr“ (932). Neben die literaturkritische Bestimmung des Schriftstellers tritt die politische Nutzanwendung. Weil nicht nur Thomas Mann, sondern alle Deutschen am „Deutschtum“ gelitten hätten, verbiete es sich, „daß wir über das eigene Volk zu Gericht sitzen und ihm persönliche Konflikte als Komplexe zusprechen“ (932). Viele positive Reaktionen scheint auch Boehlich auf seinen ersten Aufsatz im Merkur nicht erhalten zu haben, auch wenn Paeschke ihm versicherte, solche seien bei ihm eingegangen. Die Reaktionen der Hamburger Freunde schwankten zwischen Ironie und schroffer Ablehnung. In einem Geburtstagsbrief regte Karl Stackmann scherzhaft statt einer Festschrift für Boehlich eine Sondernummer der Hamburger Akademischen Rundschau an, in der die von ihm kritisierten Autoren Beiträge liefern könnten: „Thomas Mann (Paralipomena zum Faustus mit bemerkenswerten Maximen und Reflexionen über die literarische Kritik in Deutschland)“.26 Peter Wapnewski kritisierte Boehlichs Traditionsverständnis: „Sie haben sich zu sehr zu Hofmannsthal verleiten lassen als daß Sie noch gerecht gegen Thomas Mann sein könnten.“27 Am schärfsten reagierte Hans-Joachim Lang. Boehlichs Rezension sei nicht nur die dümmste […], sondern auch die einzige, die nichts verstanden hat vom Roman […]. Ihre ‚rein literarische Wertung‘ ist ein Seminargeschwätz, unmethodisch und prinzipienlos. Es öffnet einer hoffnungslosen Subjektivität und einem giftigen Ressentiment Tür und Tore. […] Es ist wirklich ärgerlich, dass Menschen eine nicht unbeträchtliche Intelligenz dazu missbrauchen, solchen wirren Unfug zu schreiben, nur um sich an dem Bewusstsein zu kitzeln, einen grossen Mann ‚literarisch‘ abgekanzelt zu haben.28
26 Karl Stackmann an Walter Boehlich, 17. September 1948. UAF, Nachlass Boehlich, 013/ N WB. 27 Peter Wapnewski an Walter Boehlich, 19. April 1951. UAF, Nachlass Boehlich, 014 / N WB. 28 Hans-Joachim Lang an Walter Boehlich, 12. November 1948. UAF, Nachlass Boehlich, 013/N WB.
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Praktische Folgen hatte jedoch Peter Suhrkamps Kritik an Boehlichs Rezension. In einem Brief an die Redaktion bemängelte er zwei Punkte. Zum einen habe dieser sich mit „Details das Air eines Kenners“ gegeben, zum anderen stelle er „willkürlich Thesen auf, um dann an Einzelheiten zu beweisen, daß Thomas Mann seinen Thesen nicht entspricht“. 29 Suhrkamp nahm den Aufsatz nicht als Einzelmeinung, sondern als eine „vom Merkur lanzierte [sic] Attacke“: „Vom Merkur aus ist dieser Aufsatz allerdings eine politische Bekundung“. Deshalb sei es Suhrkamp zukünftig auch nicht mehr möglich, dem Merkur „freimütig Material zur Verfügung“ zu stellen. Diese Ankündigung rief beide Herausgeber auf den Plan. Moras wies auf die möglichen Konsequenzen hin: „Aber wir müssen natürlich darauf gefaßt sein, daß es bei theoretischen Auseinandersetzungen nicht bleibt. Sicher wühlen die Adepten zur Stunde bereits in der schmutzigen Wäsche.“30 Noch am selben Tag meldete er den Konflikt Curtius und verfasste eine Antwort an Suhrkamp. Darin verwahrt er sich gegen dessen Lesart von Boehlichs Aufsatz als einer politischen Bekundung des Merkur. „Gewisse Leute“ wollten ihn wohl so verstehen, aber „daß wir auf deren Mühlen kein Wasser gießen möchten, dafür sollte die allgemeine Haltung Merkur’s bürgen“.31 Eine Woche später meldete sich auch Paeschke brieflich bei Suhrkamp, um die Wogen zu glätten. Natürlich könne er die Beiträge von Boehlich und Holthusen kritisieren. Sinn und Zweck ihrer Veröffentlichung sei es ja gewesen, eine offene Diskussion anzustoßen. Den Vorwurf, Boehlichs Rezension sei eine lancierte Attacke, wies auch er zurück: Ich vermag aber nicht einzusehen, warum der Aufsatz von Boehlich eine ‚politische Bekundung‘ darstellen soll, zumal deshalb nicht, weil ich mich sonst fragen müsste, als was dann die verschiedenen politischen Interviews und Reden von Thomas Mann anzusprechen seien.32
Paeschkes Brief überzeugte Suhrkamp nicht. Eine Bitte um einen Vorabdruck aus Carl Zuckmayers Barbara Blomberg lehnte der Verlag kurze Zeit später unter Verweis auf „den Standpunkt von Herrn Suhrkamp bezüglich der Abdrucke aus unseren Büchern in Ihrer Zeitschrift“33 ab.
29 Peter Suhrkamp an Joachim Moras, 19. Dezember 1948. DLA, D: Merkur; hier auch die folgenden Zitate. 30 Joachim Moras an Hans Paeschke, 22. Dezember 1948. DLA, A: Merkur°Paeschke. 31 Joachim Moras an Peter Suhrkamp, 22. Dezember 1948. DLA, D: Merkur. Vgl. auch: Joachim Moras an Ernst Robert Curtius 22. Dezember 1948. DLA, D: Merkur. 32 Hans Paeschke an Peter Suhrkamp. 29. Dezember 1948. DLA, D: Merkur. 33 Andreas Wolff an Hans Paeschke, 3. März 1949. DLA, D:Merkur.
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Moras’ und Paeschkes Verleugnung der politischen Agenda mag verständlich sein, da sie auf gute Zusammenarbeit mit Peter Suhrkamp angewiesen waren, weil Autoren des Merkur hofften, in dem Verlag veröffentlichen zu können, und die Herausgeber die Rechte für Vorabdrucke aus seinem Verlag haben wollten. Deutlich wird an diesem Streit aber auch, dass es nicht die Absicht der Herausgeber war, eine „Integrationsleistung“ zu erbringen, indem sie „Austauschdiskurse“ zwischen linken und konservativen Autoren initiierten (vgl. Kießling 2012, 248–256). Die Veröffentlichungen von und zu sogenannten belasteten Autoren (Benn, Heidegger, Jünger, Carossa) waren nicht einfach das zur Vervollständigung des Meinungsspektrums notwendige konservative Pendant, es ging nicht allein um die Schaffung eines „Pol[s] der ‚reinen Diskussion‘ […] ohne Bindung an feldfremde Ordnungen“ (Reitmeyer 2004, 67). Die Publikation dieser Autoren war zu diesem Zeitpunkt das wohl vorbereitete eigentliche Ziel, weil die Herausgeber politische Ideen mit ihnen teilten (vgl. Peitsch 2016, 115–116). Auch in der Familie Mann fiel Boehlichs Faustus-Rezension negativ auf. Viktor Mann kommt in seinen 1949 erschienenen Erinnerungen auf ihn zu sprechen: „Mit der Eiseskälte armer Jugend und rasselnd mit einer viel zu weiten geistigen Rüstung schrieb er Fausti ‚Mißlingen‘ des Autors Abkehr von der guten Linie zu, auf der unter anderem der Zauberberg gelegen habe.“ (513) Im gleichen Jahr bereiste Thomas Mann erstmals wieder Deutschland. Im Rahmen der Feiern zum 200. Geburtstag Goethes hielt er in Frankfurt am Main und in Weimar fast gleichlautende Vorträge (vgl. Harpprecht 1996, 1730–1762). Die die Reise begleitenden Debatten kreisten nun nicht mehr um das Verhältnis der Deutschen zum Nationalsozialismus, sondern waren angesichts der absehbaren Teilung Deutschlands geprägt von der Erwartung, Mann solle sich auch zu den Menschenrechtsverletzungen im Speziallager Buchenwald äußern. Deswegen mag die Bemerkung, mit der Mann in seiner Goethe-Rede Bezug auf Boehlich nahm, keinen Anlass zu einer weiteren Debatte geliefert haben. ‚Er kann sagen‘, schrieb jemand, frei nach Goethe, ‚er kann sagen, er sei nicht dabei gewesen.‘ Nicht doch, ich bin dabei gewesen. Wie einer das Schmerzensbuch vom Doktor Faustus gelesen haben und dann noch sagen kann, ich sei nicht dabei gewesen, Ferne und persönliche Sicherheit hätten mich gehindert, stärker und tiefer dabei zu sein als so mancher, der physisch dabei war, das verstehe, wer mag und kann. (Mann 2009a, 674–675)
Im Typoskript der Rede findet sich die nicht verlesene Anmerkung, Boehlich habe „meine Kunst zusammen mit meiner Menschlichkeit gewandt der Verachtung überliefert“ (Mann 2009b, 755).
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2 Schwankende Traditionslosigkeit Für den Merkur war der Streit zwischen Bermann Fischer und Peter Suhrkamp, der im Mai 1950 zur Gründung des Suhrkamp Verlages führte, ein glücklicher Umstand. Die Autoren, die nicht im Ausland von Fischer verlegt wurden, konnten sich für einen der beiden nun getrennt operierenden Verlage entscheiden. Hesse und Brecht votierten für Suhrkamp, Thomas Mann, der auch im Ausland verlegt wurde, blieb im Fischer Verlag (vgl. Unseld 1975, 132–133). Auch dadurch war es möglich, dass 1953 im Merkur Thomas Manns Erzählung „Die Betrogene“ abgedruckt wurde. Als Walter Boehlich 1953 einer Rezension von Thomas Manns Essaysammlung Altes und Neues zustimmte, hatten sich die Erwartungen der Herausgeber also geändert.34 Nachdem im Oktober das Manuskript einging, dankte Moras für die „glänzende Thomas-Mann-Studie“, meldete aber gleich Bedenken an, da an Mann schon „in reichem Maße Kritik geübt“ worden sei.35 Die Redaktion verhandelte zwei Monate lang mit Boehlich um Kürzungen. Der aber wollte an die sechs Jahre zuvor begonnene Kontroverse um den Doktor Faustus anknüpfen, denn „wenn sich jetzt der Kultur- und Literaturkritiker präsentiert, muss eigentlich die Auseinandersetzung fortgesetzt werden und von der dichterischen Substanz auf andere Reaktionsformen übergreifen“.36 Die „Lebendigkeit im Rezensionsteil“ dürfe nicht den Befürchtungen um Vorabdrucke geopfert werden. „Gegen Leute wie Pongs werde ich Th. M. immer verteidigen, aber das heisst doch nicht: widerspruchslos hinnehmen.“37 Paeschke rechtfertigte die redaktionellen Eingriffe. Durch den von Mann gewährten Vorabdruck gehe es nicht an, ihn über Gebühr zu kritisieren. Boehlich solle sich auf „Sachliches“ beschränken und nicht mehr „die Persönlichkeit Thomas Manns in Zweifel“ ziehen. Insgesamt plädierte er für mehr Milde. Manns Hang, seine eigenen Werke zu kommentieren, müsse man einem „alten Mann mit einem solchen Werk hinter sich“ nicht ankreiden, zudem dürften
34 Walter Boehlich an Hans Paeschke, 3. April 1953. DLA, D: Merkur. 35 Joachim Moras an Walter Boehlich, 15. Oktober 1953. DLA, D: Merkur. 36 Walter Boehlich an Joachim Moras, 20. Oktober 1953. DLA, D: Merkur; hier auch die folgenden Zitate. 37 In seiner Rezension von Hermann Pongs’ Im Umbruch der Zeit. Das Romanschaffen der Gegenwart (Boehlich 1953, 497–498) warf er Pongs vor, dessen Kritik der modernen Literatur nutze ähnliche Argumente, wie er sie schon im Nationalsozialismus verwendet habe, und komme der „Konstituierung einer neuen ‚Entarteten Literatur‘“ gleich. Schließlich fordert er die „Paladine Hitlers“ auf, wenn sie das Schreiben schon nicht lassen könnten, sich neutralen Themen zuzuwenden.
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seine Essays nicht als die eines Literaturkritikers genommen werden, da sie nie anderes als „Spiegelungen seiner eigenen Entwicklung“ gewesen seien.38 Im ersten Heft des Jahrgangs 1954 erschien Boehlichs Rezension „Altes und Neues von Thomas Mann“. Er äußert darin erneut Vorbehalte, die er schon dem Doktor Faustus gegenüber hatte: Manns „ungewöhnliche[r] Drang auf Anerkennung“ (Boehlich 1954, 84)‚39 der Schriftsteller „als Exeget und Kritiker seiner selbst“ (84) und dessen „Mangel an Tradition“, die bei ihm nicht „weiter zurück als ins 18. Jahrhundert“ reiche und selten die „Grenzen der Muttersprache“ überschreite (87). Mann habe im Laufe seines Lebens zu viele Positionen revidiert und ganz gegensätzliche Standpunkte vertreten, ohne dass man ihm einen der konträren glauben könne, was Boehlich sowohl anhand von Manns politischen als auch literaturkritischen Essays nachzuweisen sucht. Dazu vergleicht er etwa die Position Manns zu Goethe und Nietzsche zur Zeit seiner Betrachtungen eines Unpolitischen mit denen nach seinem Bekenntnis zur Weimarer Republik: „Wer vorher antidemokratisch entstellt war, wurde nachher demokratisch, bald wieder eng bürgerlich mißverstanden.“ (85) Das gelte auch für Manns im engeren Sinne politische Verlautbarungen. Der Wiederabdruck des als „schriftstellerische Leistung“ die anderen Beiträge überragenden Aufsatzes „Friedrich und die große Koalition“ zeige das „Dilemma eines Mannes, in dem Schriftsteller und Politiker mehr eine personale Einheit als eine ideelle bilden, […] das Dilemma eines wirklich tief Unpolitischen, allzu Wandlungsreichen“ (82). Die Veränderungen von Manns politischen Stellungnahmen untersucht Boehlich auch an den zwei Aufsätzen zu Gerhart Hauptmann. In Bezug auf die darin vertretenen konträren Deutungen erwägt er, ob sie „beide nur wahr und richtig gewesen sind im Augenblicke ihres Entstehens und im Hinblick auf die Tendenz ihres Entstehens, daß ihnen aber jede höhere Form von Wahrheit und Richtigkeit fehlt“ (85). Diese ‚höhere Form von Wahrheit und Richtigkeit‘ ist das Pendant zum im Doktor Faustus gesuchten literaturgeschichtlichen ‚Rang‘ des Autors Thomas Mann. Was den überzeitlichen ‚Rang‘ und die ‚höhere Form‘ ausmacht, wird ebenso wenig erklärt, wie die Prämisse, dass wechselnde politische Bekenntnisse per se unpolitisch seien. In einer von der Redaktion gestrichenen Stelle fasst Boehlich das zusammen als Manns „Mangel an Grösse, Würde, Mass“.40 Entschärft wurden vor allem die politischen Äußerungen Boehlichs. Liest man den veröffentlichten Artikel, scheint der Schwerpunkt zum einen auf ahistorischen
38 Hans Paeschke an Walter Boehlich, 22. Oktober 1953. DLA, D: Merkur. 39 Im Manuskript ist vom „hypertrophierenden“ Drang die Rede. Manuskript „Altes und Neues“. UAF, Nachlass Boehlich, 030, Bl. 4. 40 Manuskript „Altes und Neues“ (wie Anm. 39), Bl. 6.
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Überlegungen zum Gegensatz von Diktatur und Demokratie zu liegen: „Das Wesen und die Möglichkeiten einer Diktatur sind Thomas Mann immer ein wenig fremd geblieben“ (86). Zum anderen leitet Boehlich Manns vorsichtig positive Äußerungen zur Sowjetunion aus seiner Begeisterung für die russischen Schriftsteller des neunzehnten Jahrhunderts ab. Auch wenn er durch sein Gespräch mit Iwan Bunin eines Besseren belehrt worden sein könnte, habe sich Mann „strikt vor der Wirklichkeit des Bolschewismus“ verschlossen (85–86). Nur ein Satz im Merkur zieht die Verbindung zum geteilten Deutschland, wenn Boehlich als den Gipfel dieses Unwissens Thomas Manns Rat an seinen Bruder Heinrich sieht, seinen Lebensabend bei der „volksdemokratischen Regierung in Berlin“ (86) zu suchen. Deutlicher wird seine Empörung in den Sätzen, die ihm nach diesem gestrichen wurden: Ja, ist denn eine Diktatur, die sich nicht gegen die Familie Mann richtet, keine Diktatur, kann man Goethepreise von ihr empfangen und versöhnliche Reden halten vor ihr? Was war denn die zwölfjährige Auseinandersetzung mit einem System der Unfreiheit und Unterdrückung, die Thomas Mann selbst so hoch anschlug, daß er sich von ihr mehr Dankbarkeit unter den Deutschen versprach als von seinen Geschichtenbüchern?41
Die Streichung gerade dieser Sätze zeigt, dass die Redaktion bereit war, den Antikommunismus, der vorher „gleichsam zu den Geschäftsbedingungen für die Mitarbeit an der Zeitschrift“ (Bock 2001, 161) gehörte, in diesem Fall hintan zu stellen, um den umworbenen Thomas Mann nicht zu vergrätzen. Boehlich warf der Redaktion vor, durch die Streichungen den „Kern seiner Meinung“42 entfernt zu haben. Resigniert über die zu einer „lahmen Anzeige“ verstümmelte Rezension stellt er fest: „wenn Sie sonst nichts erreicht hätten, so doch wenigstens, dass ich nicht die geringste Lust mehr habe, zu Thomas Manns Lebzeiten etwas über ihn zu schreiben“.43 Verärgert war auch Thomas Mann. In einem Brief an Klaus Mampell bezeichnete er die Rezension als von einer „falschblickenden Herablassung“ gekennzeichnet; der Rezensent habe „meinen Mangel an Tradition, dazu meine nationale Beschränktheit und daß es mir an europäischer Bildung fehle“ konstatiert: Das schreibt so ein deutscher Unglückswurm, der seit ein paar Jahren überhaupt erst wieder auf der Welt ist – soweit er es ist. Da ist kein Anstand, keine Bescheidenheit, kein Wissen um das eigene Maß und um – andere Maße, keine Dankbarkeit, keine Fähigkeit zum Aufblick, zur Bewunderung, zur Liebe, ohne die man nichts lernt. Man hat nichts gelernt, in keiner Beziehung, man ist nichts als ein Frechdachs (zit. nach Stachorski 2005, 220–221).
41 Manuskript „Altes und Neues“ (wie Anm. 39), Bl. 6–7. 42 Walter Boehlich an Hans Paeschke, 26. Oktober 1953. DLA, D: Merkur. 43 Walter Boehlich an Hans Paeschke, 6. November 1953. DLA, D: Merkur.
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Manns Tagebüchern ist zu entnehmen, dass Boehlich ihm zum Prototypen der Deutschen wird: „Wie der Nichtikus im Merkur, der mir Tradition abspricht. Er, der Deutsche von 1945, hat sie.“ (Mann 1995, 180) Nach Erscheinen des Felix Krull wendet sich Mann deshalb auch an Paeschke, um zu erfragen, ob die im Merkur geplante Rezension „von demjenigen Herren (ich habe seinen Namen vergessen)“ stammen werde, der schon Altes und Neues besprochen und damit ein „recht falschblickendes, herabsetzendes und sonderbar überhebliches Stück Arbeit“ abgeliefert habe.44 In seiner Antwort beruhigte ihn Paeschke und entschuldigte sich förmlich für die Rezension von Altes und Neues: Der Rezensent ist einer der jüngsten unter unseren Literaturkritikern und seiner grossen Begabung entspricht der unter den Jungen überall zu beobachtende Mangel an Verständnis für polarisierte Sympathieverhältnisse; sehen Sie ihm bitte nach, daß er sich der Dialektik Ihres (und ich möchte hier aussprechen dürfen: auch unseres) Verhältnisses zu Deutschlands Geist und Charakter – stehen nicht schon diese Begriffe bei uns wieder und wieder in einem ‚kalten Krieg‘? – nicht gewachsen zeigte.45
Wie bei seiner Rezension des Doktor Faustus wird Walter Boehlich als Vertreter der Jugend apostrophiert, diesmal aber, um ihn aus dem Diskurs auszugrenzen. So rezensierte den Felix Krull Gustav Steinbömer alias Hillard als weises Alterswerk, in dem Mann ein Zentralmotiv seines ganzen Schaffens meisterhaft zur Vollendung bringe: „Er schritt im Faustus auf tragischem Kothurn und lustwandelt nun im Krull auf heiterem Sockel.“ (Hillard 1955, 287)
3 Gegen die konservative Tradition Seit 1957 arbeitete Boehlich als Lektor im Suhrkamp Verlag, dessen Verleger er mit seiner Rezension des Doktor Faustus so verärgert hatte. Hier änderten sich seine literarischen und politischen Präferenzen schnell. Rückblickend merkte er an:
44 Thomas Mann an Merkur, 12. Dezember 1954. DLA, D: Merkur. Boehlich konnte auch diesem Roman nichts abgewinnen: „Ich habe den Krull inzwischen gelesen, kann aber weder Rychners noch Sieburgs Entzücken teilen. Wem mit 80 nichts besseres einfällt als immer neue schwüle Bettszenen, der tut mir leid, trotz Holé! Heho! Ahé! Die älteren Stücke, die noch nicht tiefsinnig sein sollten, sind ja unvergleichlich bedeutender.“ Walter Boehlich an Joachim Moras, 10. März 1955. DLA, D: Merkur. 45 Hans Paeschke an Thomas Mann, 20. Oktober 1954. DLA, D:Merkur.
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in diesem Verlag bin ich zum ersten Mal mit einer ganzen Gruppe von Leuten zusammengekommen, […] die im Gegensatz zu meinen damaligen, muss ich gestehen, liberalen Neigungen, links oder sehr weit links standen. Und das kannte ich im gewissen Umfange aus der Theorie, aber doch nicht als […] Lebenserfahrung. (Zschau 1996)
Auch das Werk Thomas Manns begann er anders zu beurteilen, wie seine Rezension des 1960 postum erschienenen Briefwechsels mit Ernst Bertram zeigt. Max Rychner rezensierte den Band im Monat. Mann gilt ihm dabei, neben Ernst Robert Curtius, als eine der wenigen „übriggebliebenen konservativen Burgen und Stellungen“ (Rychner 1960–1961, 51) in der Weimarer Republik. Dessen „Liebe […] zur eigenen Heimat“ lasse „die Eitelkeit der Vaterländerei wie die der Heimatverleugnung weit unter sich“ (49). Dieser Position stellt Rychner die zeitgenössischen deutschen Schriftsteller gegenüber, die sich eine „Sozialgesinnung“ beilegten, mit der sie „drüben in der DDR Interesse finden“ könnten (51). Ihr Drang, „die jüngste Vergangenheit, wie sie formelhaft behaupten, zu ‚bewältigen‘“ (51), lasse sie die erhaltenswerten Traditionsbestände „über Bord werfen“ (52), so ein „Vaterland ohne Vergangenheit“, also ein „hölzerne[s] Eisen“ konstruierend (52). Boehlichs Replik erschien kurz darauf, zwei Hefte später, ebenfalls im Monat.46 Mann habe sich „sehr langsam und unter bemerkenswerten Mühen“ (Boehlich 2011, 416) von Bertram entfernt, sich schließlich, „wenn auch mit falschen Argumenten und Beispielen“, für „Eberts Republik“ erklärt (418) und sei so zu einem „eifernden Parteigänger des demokratischen Gedankens geworden“ (419). Die Briefe, mit denen er 1933 und 1934 den Bruch mit Bertram vollzogen hatte, seien „großartige Zeugnisse eines mit sich selbst und gegen das Verbrechen einigen Menschen, die in jede Sammlung deutscher Briefe gehörten“ (420). Damit ist freilich nicht gesagt, dass dieser ‚mit sich einige‘ Thomas Mann nun als Schriftsteller und als Politiker die personale und ideelle Einheit bildete, die Boehlich in der Rezension zu Altes und Neues vermisst hatte. Auch wenn Boehlich der Unterschiede zwischen Werk und Leben von Mann und Bertram eingedenk bleibt, betont er doch ihre Gemeinsamkeiten mindestens in den Jahren 1914–1918. Beide teilten, „wo nicht die Beschränkung aufs Deutsche, so doch die unüberwindliche Vorliebe für dieses; das sogenannte Fremde war ihnen beiden fremd. Sie waren stockkonservativ, eingeschworene Feinde jeden demokratischen Gedankens, stramm antiwestlich.“ (416) Die weiteren Kritikpunkte nehmen sich nicht viel anders aus als die in den Rezensionen von Doktor Faustus und von Altes und Neues. Erneut wird die Traditionslosigkeit Manns bemängelt. Seine Bildung erstrecke sich nicht weiter zurück als bis ins achtzehnte Jahrhun-
46 Zur Diskussion mit Rychner vgl. Peitsch 2016, 113–114.
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dert und nehme die nicht-deutsche Literatur nur selektiv wahr. Kritisiert wird nun aber auch das, was Mann tradiert, weil es konservativ sei. Damit ändert sich der Stellenwert des Fremden. Sein Fehlen wird nun nicht mehr als die Enge eines nicht um die europäischen Bezüge der deutschen Nationalgeschichte wissenden Schriftstellers gedeutet. Das Fehlen des Fremden bei Betonung des Eigenen wird jetzt abgelehnt, weil es Zeichen eines „überholten Nationalismus und Konservatismus“ sei (418). Das hat Konsequenzen für die politische Bewertung. Bezugspunkt ist nicht mehr eine an Mann vermisste, aber in der Politik notwendige Stetigkeit. Nun wird der Konservatismus und Nationalismus, der von Mann in den Betrachtungen eines Unpolitischen vertreten wurde, selbst kritisiert. Dadurch verändert ein Argument Boehlichs, das er weiterhin benutzt, seine Funktion. Hatte er mit Manns vermeintlich schlecht begründeter Hinwendung zur Demokratie und seinem vermeintlich historisch mangelhaften Versuch, die Genese des Nationalsozialismus im Doktor Faustus zu beschreiben, noch die fehlende Beständigkeit Manns problematisiert, dass er es also überhaupt nötig gehabt hatte, sich zu ändern, unabhängig davon, welche Position er damit jeweils vertrat; so sind für Boehlich die schlechten Begründungen jetzt Anzeichen dafür, dass er sich möglicherweise nicht genug geändert, sich nicht restlos von seinem Konservatismus verabschiedet hatte.
4 Öffentlichkeit und universitäre Tradition Einer der Texte in Walter Boehlichs Auswahl der politischen Schriften Thomas Manns stammte nicht von diesem selbst. Es ist der Brief des Dekans der Philosophischen Fakultät der Universität Bonn an Thomas Mann vom 19. Dezember 1936: „Im Einverständnis mit dem Herrn Rektor der Universität Bonn“, heißt es dort, „muß ich Ihnen mitteilen, daß die Philosophische Fakultät sich nach Ihrer Ausbürgerung gezwungen gesehen hat, Sie aus der Liste der Ehrendoktoren zu streichen.“ (Mann 1970, 99) Statt des Namens des Verfassers steht darunter: „[Unleserlich] Dekan“. Boehlichs Nachdruck hielt sich damit an die Vorlage in Altes und Neues, in der dieser „Briefwechsel mit Bonn“ zuerst in einem Buch erschienen war. Thomas Mann hatte den Namen damals nicht entziffern können. Indem Boehlich diese Form unverändert beibehielt, stellte er demonstrativ heraus, dass noch immer nicht geklärt war, wer genau für den administrativen Akt verantwortlich war. 1936 war der Dekan laut Vorlesungsverzeichnis der Universität der Professor für Alte Geschichte Friedrich Oertel. Dieser bestritt jedoch sowohl den Brief geschrieben als auch zu der Zeit noch Dekan gewesen zu sein.
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Boehlich hatte den Verfasser des Briefs schon länger identifizieren wollen. Der Geschichte der Universitäten, an denen er studiert hatte‚47 galt Zeit seines Lebens sein Interesse. Eine Rezension von Karl Justus Obenauers Goethe-Taschenlexikon hatte er dem Merkur 1954 auch wegen der Vergangenheit des Autors vorgeschlagen: Sie wissen, daß Obenauer derjenige ist, der Thomas Mann den Ehrendoktor aberkannt hat – trat nur in SS-Uniform auf; 1945 trat er natürlich mit der ganzen Familie zum Katholizismus über (das bedeutet natürlich nicht, dass das Buch schlecht sein muss – aber man soll ihm auf die Finger sehen).48
Anlässlich der Beerdigung von Curtius kam er in einem Brief auf das Thema zurück. Damit, dass der Sprachwissenschaftler Leo Weisgerber dort eine Ansprache hielt, war Boehlich nicht einverstanden: Dass Weisgerber falsche Töne angeschlagen hat, meine ich auch nicht, nur finde ich, dass es herz- und taktlos war, ausgerechnet ihn sprechen zu lassen. Er ist ein unangenehmer und charakterloser Patron, der unter Hitler versucht hat, Triumphe mit seinem völkischen Unfug zu feiern, ein würdiger Gefährte jener anderen Bonner Professoren, Obenauers, der als Decan Thomas Mann eigenmächtig den Ehrendoctor aberkannte, Moldenhauers, der C[urtiu]s Institutsschreibtisch erbrach und ihm mit belastenden Funden das Genick zu brechen suchte, Schmidt-Hiddings, der als Anglist Hass-Arien auf England sang, und so vieler anderer.49
Öffentlich zur Sprache kam die Aberkennung der Ehrendoktorwürde im Rahmen einer 1961 in der Zeit veröffentlichten Artikelserie zu den Hochschulen im Nationalsozialismus. Wegen eines – bezeichnenden – Druckfehlers wurde hier ein Herr Oberländer als treibende Kraft genannt (vgl. Sauberzweig 1961).50 Der Fehler führte zu einer Korrektur der Feuilleton-Redaktion, in der Rudolf Walter Leonhardt Karl Justus Obenauer als Dekan ausmachte und direkt zur Stellungnahme aufforderte: Eine Darstellung sagt, er habe damals eigenmächtig und ohne Befragen der Fakultät gehandelt. Wie das möglich war, wissen nur diejenigen, die dabei waren. Sie schweigen. Es schweigt auch Karl Justus Obenauer. Freilich nur zu dieser Frage. Im übrigen publiziert
47 Breslau ab 1941 wegen der rassistischen Gesetzgebung nur als Gasthörer, Hamburg als Student in der Nachkriegszeit und Bonn als Assistent von Curtius (vgl. Kapp 2011, 24–33). 48 Walter Boehlich an Joachim Moras, 24. November 1954. DLA, D: Merkur. 49 Walter Boehlich an Max Rychner, 20. Mai 1956. DLA, A: Rychner. 50 Im Mai 1960 war Theodor Oberländer als Bundesminister für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte zurückgetreten, nachdem er in Abwesenheit in der DDR wegen Beteiligung an der Ermordung von jüdischen und polnischen Zivilisten in Lemberg verurteilt worden war.
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er in angesehenen Verlagen. Vielleicht dürfen wir hoffen, eines Tages doch auch eine Darstellung von ihm zu bekommen: ‚Wie und warum ich Thomas Mann die Ehrendoktorwürde aberkannte.‘ ([Leonhardt] 1961)
Weil eine Leserzuschrift nach Quellen für diese Darstellung fragte, wandte sich Leonhardt an Boehlich. Beide hatten bei Curtius in Bonn studiert. Die Antwort verweist auf die damaligen Schwierigkeiten, die Frage definitiv zu klären, solange zu den Universitätsarchiven kein Zugang bestand. Boehlich berief sich auf das Wort seines verehrten Lehrers: „Daß Obenauer der Schuldige war, weiß ich von Curtius ganz genau. Da er auch Oertel nicht mochte (der keineswegs so unbelastet war, wie er sich 1945 gab), hätte er nicht gezögert, Oertel verantwortlich zu machen, wenn dieser wirklich verantwortlich gewesen wäre.“ Nur noch als Witz konnte er den direkten Weg vorschlagen, dennoch Aufklärung zu erhalten: Jetzt habe ich noch eine Idee, und das ist die lustigste von allen: schreiben Sie doch einmal einen Brief an die Bonner Philosophische Fakultät bzw. an ihr Dekanat, und bitten die um Stellungnahme. Wahrscheinlich werden sie sich herausreden, alle Dekanatsakten seien verbrannt, und sie wüßten von nichts; aber die wissen natürlich.51
Leonhardt schrieb diesen Brief auch. Eine Antwort ist nicht überliefert. Drei Jahre später kam Boehlich öffentlichkeitswirksam auf die Frage zurück. Am 8. Mai 1964 – dem 19. Jahrestag der Befreiung, in Frankfurt am Main, dem Arbeitsort des Lektors, fand der 43. Verhandlungstag des Auschwitz-Prozesses statt – veröffentlichte die Zeit einen Brief Walter Boehlichs: „Unsere Universitäten haben versagt“.52 Darin warf er den Hochschulen nicht nur vor, sich im Nationalsozialismus den Herrschenden angebiedert zu haben. Schlimmer noch sei, dass sie nach 1945 erneut versagten, weil sie sich nicht um Aufklärung über ihre Vergangenheit bemühten. Die forderte er nun ein: „bis wir so peinlich und genau wie irgend möglich erfahren haben, was von 1933 bis 1945 an jeder einzelnen Universität und in jedem einzelnen Fach geschehen ist“; ungeduldig verlangte er „endlich“ Antworten auf schon oft gestellte Fragen: wer 1933 öffentlich Bücher verbrannt hat; wer Thomas Mann 1936 den Ehrendoktor aberkannte und warum sich die Universität Bonn nie offiziell dazu vernehmen ließ; wer Fritz Martini genötigt hat, Thomas Mann und Jonas Fraenkel zu verleumden; wer Kurt Wais, Ungeheuerlichkeiten über Marcel Proust zu drucken? (Boehlich 1964a)
51 Walter Boehlich an Rudolf Walter Leonhardt, 30. März 1961. DLA, SUA: Suhrkamp/03 Lektorate. 52 Anlass waren behinderte Bemühungen von Studierenden in Marburg, die Vergangenheit der Universität zu thematisieren. Vgl. Oy und Schneider 2013, 137–144.
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Abgesehen von einigen Leserbriefen blieb die Reaktion unbefriedigend. Dies änderte sich nach einem weiteren Artikel Boehlichs, der aber auch dazu führte, dass die Frage nach der Verantwortung für die Aberkennung der Ehrendoktorwürde für Thomas Mann in den Hintergrund rückte. Im Oktober 1964 wurde der Sprachwissenschaftler Hugo Moser zum Rektor der Friedrich-Wilhelms-Universität gewählt, was Boehlich wiederum in der Zeit problematisierte. Zum einen habe Moser mit „Hitler paktiert“, zum Anderen erinnerten noch seine Schriften nach 1945 an dessen „völkischen Rausch“ (1964b). Seine Ablehnung Mosers begründete Boehlich u. a. mit der Bedeutung dieser Universität in der Hauptstadt der Bundesrepublik. In den Augen der gesitteten Welt haftet ihr noch immer an, daß sie es war, die Thomas Mann den Ehrendoktor aberkannte, und es haftet ihr in manchen Augen wohl noch immer an, daß sie bis zum heutigen Tage nicht erklärt hat, wessen Unterschrift unter dem beschämenden Dokument steht, noch, was sich damals wirklich in ihrer philosophischen Fakultät abgespielt hat. (1964b)
Nun sah sich die Universität gezwungen Stellung zu nehmen. Eine Vollversammlung und eine Professorenkommission sprachen Moser das Vertrauen aus. Die weitere Diskussion sollte vor allem ein Argument zur Verteidigung Mosers bestimmen: seine Schriften gingen nicht „über das Maß des damals Üblichen“ (hu 1964a) hinaus. Zudem wurde die causa Mann mit Verweis auf den Kommentarteil in der Briefausgabe bei Fischer und die Wiederannahme der Ehrendoktorwürde 1946 als im Prinzip erledigt bezeichnet. Zwei Wochen später dokumentierte die Zeit diese Erklärung der Universität und druckte einen weiteren Artikel Boehlichs, der sich vor allem der Person Moser und dem ‚damals Üblichen‘ widmete. Die Feuilleton-Redaktion unter Leitung von Leonhardt machte sich die Aufklärung nun zur eigenen Sache. Sie illustrierte beide Beiträge mit einer Abbildung des Briefumschlags von 1936, in dem die Aberkennung zugestellt worden war, und druckte auf zwei Seiten auch Manns damalige Antwort an den Dekan ab. Typographisch davon abgehoben richtete sie „Acht Fragen der Zeit an Rektor und ‚Kommission‘ der Universität Bonn“, um detailliert zu erfahren, welche administrativen Entscheidungen zur Aberkennung führten. Jetzt auch unter seinem eigenen Namen veröffentlichte Leonhardt am 20. November eine Stellungnahme, in der er erläuterte, wie er sich seit längerem um Informationen bemüht hatte, und diese erneut anmahnte (Leonhardt 1964). Ende November trug der Professor für mittelalterliche und neue Geschichte der Universität Bonn, Paul Egon Hübinger, auch er ein Schüler von Ernst Robert Curtius, dem Studentenparlament die Ergebnisse seiner Recherche in den Universitätsakten vor. Demnach hatte Obenauer 1936 den Brief geschrieben. Der Vorgang selbst sei eine „automatisch eintretende Konsequenz der vorher erfolgten Aberkennung der deutschen Staatsbürgerschaft“
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(hu 1964b). Dabei wies er auch die Veröffentlichungen in der Zeit als vorschnell zurück und behauptete, die Universität habe immer bereitwillig erklärt, wer den Brief unterschrieben habe. Die Auseinandersetzung war damit jedoch nicht beendet, Stellungnahmen und Gegenstellungnahmen folgten einander. Diskutiert wurde nicht mehr nur darüber, was in der Vergangenheit geschehen war, sondern auch, wer wie in der Gegenwart zu sprechen legitimiert sei. Während die Universität und Zeitungen wie der Bonner Generalanzeiger strittige Fragen zuerst fakultäts- und universitätsintern ohne Einmischung von außen geklärt sehen wollten, bestanden Boehlich und die Zeit auf ihrer Erörterung in der allgemeinen Öffentlichkeit. Gegenüber Richard Alewyn, dem Direktor des Germanistischen Seminars der Universität Bonn, resümierte Boehlich: „Ich habe in den vergangenen Jahren viele Bonner Professoren gebeten, wenn schon nicht die zwölf Jahre, so doch diesen einen Fall endlich einmal ans Licht zu bringen. Da war nichts möglich.“53 Anfang Dezember veröffentlichte die Zeit einen Beitrag, der diese Frontstellung zwischen Angehörigen der Institution Universität und ihren Kritikern unterlief. Die Redaktion machte schon mit der Überschrift deutlich, dass es ihr dabei nicht mehr nur um die Vergangenheit der Friedrich-Wilhelms-Universität ging: „Zum Beispiel Bonn“. Zusätzliche Brisanz erhielt der Text durch die Bezeichnung „Erklärung der Sieben“, was an die Göttinger Sieben denken ließ. Sieben Professoren forderten darin eine öffentliche Auseinandersetzung mit der Universitätsgeschichte, die sie mit den zukünftigen Aufgaben der Universität verknüpften: Die ‚Verpflichtung der Wissenschaft zur Wahrhaftigkeit‘, die der Bonner Senat beschwört, kann nicht wörtlich genug genommen werden. Sie schließt den Auftrag ein, auch der ‚dunklen Jahre‘ der Universität ohne Scheu, frei von ängstlicher Beschönigung wie von moralischer Überheblichkeit, zu gedenken und nicht zu wähnen, daß nicht auch die Zukunft Entscheidungen fordern könnte. (Borck et al. 1964)
Unterzeichnet hatte unter anderem Karl Ludwig Schneider, mittlerweile Professor für Philologie und Germanistik an der Universität Hamburg, der 1948 als Herausgeber der Hamburger Akademischen Rundschau Walter Boehlich am schärfsten wegen seiner Doktor Faustus-Rezension angegriffen hatte. Mit Boehlichs Freund Peter Wapnewski, Karl Otto Conrady, Eberhard Lämmert und Herbert Singer unterschrieben auch Germanisten, die dann auf dem Germanistentag 1966 öffentlichkeitswirksam aus der Kritik an der Vergangenheit des Fachs auch die Forderung nach dessen Reform ableiten sollten (vgl. Boden 2000). Die Redakteure der
53 Walter Boehlich an Richard Alewyn, 17. November 1964. UAF, Nachlass Boehlich, 007 / N WB. Zu Alewyn vgl. den Beitrag von Konstantin Baehrens.
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Zeit setzten mit ihrer Illustration der Erklärung aber keinen Schwerpunkt auf die innerfachliche Debatte in der Germanistik. Im Gegensatz zum Bonner Generalanzeiger, der Porträtfotografien der in den Texten angesprochenen Professoren zeigte, druckte die Zeit eine die Zeitungsseite dominierende Fotografie Thomas Manns. In der Zeit hielt dennoch der Streit um die Vergangenheit und Zukunft der Germanistik an, wobei Thomas Mann allenfalls noch am Rande eine Rolle spielte. Eine auch für dieses Thema angedachte öffentliche Diskussion zwischen Leonhardt, Boehlich und Vertretern der Universität Bonn wurde, wie Ulrich Wickert, damals Mitglied des Studentenparlaments, berichtete, vor allem auf Grund eines Einspruchs Hübingers wieder abgesagt (Wickert 1965).54 Erst 1974 erschien die von der Philosophischen Fakultät schon zehn Jahre zuvor angekündigte wissenschaftliche Untersuchung Paul Egon Hübingers zur Aberkennung der Ehrendoktorwürde von Thomas Mann. Die publizistischen Veröffentlichungen von 1964 hält er darin immer noch für überflüssig, da die Gremien der Universität immer und schon vor ihnen nach Klarheit gesucht hätten (Hübinger 1974, 2–4). Die Bemühungen Boehlichs und Leonhardts, Informationen zum „Fall“ Thomas Mann von der Universität Bonn zu erhalten, nimmt er nicht zur Kenntnis. Ergebnis seiner akribischen Recherche war, dass Justus Obenauer als gegen den Willen der Fakultät vom Reichserziehungsministerium neu eingesetzter Dekan den Brief abschickte, der Thomas Mann von der Aberkennung seiner Ehrendoktorwürde unterrichtete. Ausschlaggebend sei dabei nicht dessen politischer Standpunkt gewesen: „Obenauers Vorgehen war nicht die Frucht dahinzielender spezieller Bemühungen, sondern eine unvermutet akut gewordene Konsequenz der Ausbürgerung des Dichters und der für derartige Fälle seit dem Spätjahr 1933 auf Anregung der Studentenschaft erlassenen Vorschriften.“ (226) Allein Übereifer könne man ihm in dieser Sache vorwerfen, weil er einen kurz vorher verkündeten Erlass nicht zur Kenntnis nahm, der bestimmte, dass „beim Entzug akademischer Grade als Folge der Ausbürgerung […] die Nachricht an die Betroffenen [entfalle] und […] durch eine Bekanntmachung im Reichsanzeiger ersetzt“ (192) werde.
54 Hübinger hatte nicht über die Vergangenheit der Universität Bonn diskutieren wollen, sondern über die „Zeit als moralische Anstalt“. Zu den Gründen für die Absage schreibt Boehlich an Peter Szondi: „Über die Bonner Diskussion kann ich Ihnen nichts sagen, denn sie hat nicht stattgefunden. Hübinger hat sie auf wenig elegante Weise zu unterdrücken verstanden, indem er einerseits die Studenten unter Druck gesetzt hat, anderseits den teilnehmenden Professoren ihre fachliche Unzuständigkeit vorgeworfen haben soll.“ Walter Boehlich an Peter Szondi, 18. Februar 1965. DLA, SUA: Suhrkamp/03 Lektorate.
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Hübingers Buch rezensierte Boehlich in der Frankfurter Rundschau freundlich. Zwar erinnerte er dabei auch an die öffentlichen Debatten um die Aberkennung von 1964. Dass er selbst darin eine Rolle gespielt hatte, erwähnt er nicht. Die jetzt an der damaligen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit der Universität Bonn geäußerte Kritik kann also auch als Selbstkritik gelesen werden. Häufiger sind damals Personalfragen als Systemfragen gestellt worden – Ausdruck dessen, was bald ‚hilfloser Antifaschismus‘ genannt wurde. […] Das heißt aber auch, daß wenigstens in dieser Hinsicht zu sehr der Sack, der Bonn heißt, und zu wenig der Esel, der sich Drittes Reich nannte, geschlagen worden ist. (Boehlich 1975).
Als hilflosen Antifaschismus hatte Wolfgang Fritz Haug in seiner 1967 in der edition suhrkamp erschienenen Studie die 1964–1965 veranstalteten Ringvorlesungen zur Geschichte der deutschen Universitäten im deutschen Faschismus gekennzeichnet. Hilflos sei der Antifaschismus, weil er, noch in seiner Kritik an zentralen Ideologemen des Faschismus diese reproduzierend, nichts von dem in ihm offenbar gewordenen „sozio-ökonomisch bedingten Verfall des Bürgertums“ (Haug 1977, 13)55 wissen wolle. Daraus leitete er die Forderung ab: „Die Wissenschaft muß, wenn sie sich nicht selbst aufgeben will, ihren gesellschaftlichen Ort neu bestimmen.“ (14) Boehlichs methodische Selbstkritik in der Rückschau auf den Fall Thomas Mann relativiert aber gleich sein nächster Satz: „Allerdings war die Beziehung zwischen Sack und Esel ziemlich innig.“ (Boehlich 1975) Ein letztes Mal kam Walter Boehlich auf das Thema 1996 in einer Kolumne für die Titanic zurück, auch hier noch Thomas Mann für das kritisierend, was er ihm schon in den 1960er Jahren vorgehalten hatte. Die Unvoreingenommenheit, die er 1969 Golo Mann gegenüber für sich reklamierte, beweist sich allerdings in der Insistenz, mit der Boehlich über Jahrzehnte publizistisch Aufklärung einforderte über das Unrecht, das einem Schriftsteller angetan wurde, dessen politische Schriften er wenig und dessen späte belletristische Werke er gar nicht mochte: Wirklich schnell hat eine Universität offenbar nur ein einziges Mal gehandelt, in einem Sonderfall, der unangenehmerweise weltöffentlich geworden war. Es ging dabei nur um einen Ehrendoktor, aber eben um Thomas Mann, den ein paar Reaktionäre nach dem Ersten Weltkrieg glaubten auszeichnen zu müssen – für seine damalige antidemokratische Gesinnung nämlich. 1936 ist ihm nach seiner Ausbürgerung dieser Ehrendoktor von Leuten, die Schlimmeres als Reaktionäre waren, aberkannt worden. 1946 ist er ihm schnell wiederverliehen
55 Thomas Manns Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus brachte Boehlich in einem Beitrag auf die Formel: „Zu spät und zu wenig“ (Boehlich 1976). Haug sah das anders. Programmatisch stellte er seinem Buch ein Zitat aus Mario und der Zauberer voran. Vgl. zu Haug den Beitrag von Jan Loheit.
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worden, allerdings ohne daß die Bonner sich im geringsten darum bekümmert hätten, von wem und auf welche Weise er ihm zehn Jahre zuvor aberkannt worden war. Es hat vieler Mühen bedurft, die Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität dazu zu bewegen, diesen spektakulären Fall sorgfältig zu dokumentieren. Von allein hätte sie nichts unternommen. (Boehlich 1996, 23)
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Ulrike Schneider
Thematisierungen des Holocaust in Literaturzeitschriften der DDR am Beispiel der Zeitschrift Neue Deutsche Literatur Es ist Krieg in Europa […] und ein junger Deutscher hat sich in eine Jüdin verliebt. Sie treffen sich heimlich im Wald und sie trägt den gelben Stern, und in ihren Augen steht das Wissen, daß man sie bald, sehr bald deportieren wird. Sie pflückt für ihn ein Blatt von einem Ahornbaum, und sie sagt ihm, bevor das Blatt verwelkt ist, wird sie ein Viehwagen weit hinter das Tal bringen, dorthin, wo Hunde kläffen und die heiseren Schreie der Wächter die Luft durchschneiden. (Kaufmann 1963, 82)
Der Auszug stammt aus der Kurzgeschichte „Das Ahornblatt“ des Schriftstellers Walter Kaufmann. Kaufmann übersiedelte von Australien, wohin er als ‚feindlicher Ausländer‘ von Großbritannien aus, seinem ersten Exilort, den er im Januar 1939 mit einem Kindertransport erreichte, verschifft wurde, 1957 in die DDR. Die knapp vierseitige Erzählung, deren Hauptfigur, ein junger Autor, nach einer aufrichtigen Darstellungsweise für die Verfolgungssituation einer jungen jüdischen Frau während der NS-Zeit sucht, wurde von Kaufmann auf Englisch verfasst und in der Zeitschrift Neue Deutsche Literatur im Mai-Heft 1963 in deutscher Übersetzung von Elga Abramowitz veröffentlicht. Der Abdruck ausgewählter Erzählungen oder autobiographischer Texte Kaufmanns beschränkt sich nicht allein auf das Mai-Heft der NDL1 und stellt ebenso wenig eine Ausnahme hinsichtlich der verhandelten Thematik dar. Vielmehr reiht sich Kaufmanns Kurzgeschichte in Veröffentlichungen, zum großen Teil Erstpublikationen, von Erzählungen, Romanauszügen, Tagebüchern, Erinnerungen, Gedichten, Dramen oder Reportagen ein, die auf unterschiedlichste Weise den Holocaust, im ostdeutschen Sprachgebrauch den Völkermord an den europäischen Juden‚2 aber nicht minder
1 Vgl. Walter Kaufmann. „Deportation“. NDL 3.10 (1955): 95–100; „Exil“. NDL 5.1 (1957): 53–58; „Mosaik einer Jugend“. NDL 12.8 (1964): 44–58. 2 Die in der DDR verwendeten Termini waren ‚Massenmord‘ und ‚Völkermord an den Juden‘. Die im heutigen Sprachgebrauch gängigen Begriffe Holocaust und Shoah wurden im wissenschaftlichen Bereich nicht angewendet und sind weder in literarischen noch literaturwissenschaftlichen Texten auffindbar. Für die Bundesrepublik konstatiert Adrian Daub in der Enzyklopädie Jüdische Geschichte und Kultur einen vermehrten Einsatz des Begriffes Holocaust seit dem Jahr 1979, in dem nach der Ausstrahlung der US-amerikanischen Serie Holocaust der Terminus von der „Gesellschaft für deutsche Sprache zum ‚Wort des Jahres‘ gewählt“ sowie in „verschiedenen neuen Komposita“ verwendet wurde (Daub 2012, 98). Während der Begriff Shoah allein auf den Genozid an den Juden verweist, werden mit dem Begriff Holocaust auch andere Opfergruppen http://doi.org.de/10.1515/9783050093932-007
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Facetten von Akkulturation, Orthodoxie oder Zionismus bis 1933 sowie Fragen der Erinnerung an den Holocaust verhandelten. Konzentrierte sich die Bestandsaufnahme von Forscher_innen hinsichtlich des Themas Holocaust in der Literaturwissenschaft bisher vornehmlich zum einen auf kanonische Autor_innen, zum anderen auf spezifische Werke, die eine breitere Rezeption sowohl in der DDR als auch/oder in der Bundesrepublik erfahren haben, wie z. B. Jurek Beckers Jakob der Lügner (1969) oder Peter Edels Die Bilder des Zeugen Schattmann (1969)‚3 stellt die Untersuchung von Zeitschriften und Anthologien, wie auch Carola Hähnel-Mesnard und Katja Schubert (2016, 14, Anm. 3) konstatieren, eine Leerstelle im bisherigen Forschungsdiskurs dar. Insbesondere für die Zeitschrift NDL ergibt sich ein Zusammenhang zwischen beiden Untersuchungsfeldern, da seit Ende der 1960er Jahre aus Artikelreihen in der NDL Anthologien hervorgingen, deren Texte bereits beim Erstabdruck in der Zeitschrift unter einem thematischen Rahmen gefasst wurden.4 Eine Berücksichtigung in Zeitschriften publizierter Texte – einer der wenigen, der dies unternommen hat, ist Paul O’Doherty in seiner 1997 erschienenen Monographie –‚5 erlaubt es daher, Veröffentlichungen in den Blick zu nehmen, die mitunter außerhalb der kanonisierten Werke der DDR-Literatur stehen und von randständigen oder heute nicht mehr rezipierten Autor_innen verfasst wurden. Im Vergleich mit Zeitschriften und Anthologien aus der Bundesrepublik könnte sich zudem eine erweiterte Perspektive für zukünftige Forschungen ergeben. Darüber hinaus würden die verstreuten Texte die von Renate Kirchner 2009 erstellte Bibliografie zum Thema „Jüdisches
angezeigt. Die Wahl, im vorliegenden Aufsatz den Terminus Holocaust zu verwenden, orientiert sich an James E. Youngs Entscheidung für diesen Begriff in seiner grundlegenden Monographie Beschreiben des Holocaust, die 1988 auf Englisch unter dem Titel Writing and Rewriting the Holocaust. Narrative and the Consequences of Interpretation veröffentlicht wurde. 3 Vgl. u. a. Thomas Schmidt 2006, Norbert Otto Eke 2006. 4 Vgl. die 1968 und 1969 abgedruckten Texte zum Thema Städte und Stationen, die 1969, anlässlich des 20. Jahrestages der DDR, in der gleichnamigen Anthologie im Hinstorff Verlag erschienen sind, unter der Herausgeberschaft der NDL-Redakteurin Elli Schmidt. Daran anschließend folgte 1970 die Reihe „Wende“, die 1970 die Anthologie Der erste Augenblick der Freiheit bildete, ebenfalls herausgegeben von Elli Schmidt, in der Erlebnisse des Kriegsendes beschrieben wurden, u. a. in Texten von Edith Anderson, Günter de Bruyn, Günther Deicke, Wolfgang Joho, Hermann Kant, Eduard Klein, Günter Kunert, Erik Neutsch und Christa Wolf, vgl. dazu Achim Roscher 2015, 108. Als Forschungsüberblick vgl. den von Günter Häntzschel herausgegebenen Band Literatur in der DDR im Spiegel ihrer Anthologien (2005), im Besonderen den Beitrag von Simone Barck „Die ‚Anthologitis‘ – ein Phänomen des Literaturbetriebes der DDR“ (1–14), in dem sie darauf verweist, dass in der Zeitspanne von 1958 bis 1970 880 Anthologien publiziert worden sind; insgesamt gibt sie für den Zeitraum der SBZ und der DDR die Veröffentlichung von 3.250 Anthologien an (3). 5 Vgl. die ausführliche Bibliographie in der Monographie O’Dohertys 1997.
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in Publikationen aus DDR-Verlagen 1945–1990“ (Kirchner 2010, 264) ergänzen, in der bereits 1.086 Titel versammelt sind. Die von Kirchner gewählten Ordnungsparameter sind insofern nicht unproblematisch, als Texte, die in der SBZ erschienen sind, als solche nicht gekennzeichnet sowie einige Titel subsumiert wurden, die nicht unter die Thematik fallen. Eine detaillierte Übersicht sowie differenzierte Analyse in ostdeutschen Literaturzeitschriften und Anthologien veröffentlichter Texte, in denen Judentum, Jüdisch-Sein und der Holocaust verhandelt wurden, kann aufgrund der Fülle des Materials nur innerhalb eines umfassenden Forschungsprojektes erfolgen, welches neben der hier vorgestellten Literaturzeitschrift weitere Zeitschriften und Zeitungen zu berücksichtigen hätte. Im Folgenden besteht der Anspruch darin, eine erste Bestandsaufnahme der ermittelten Texte zu geben, anhand ausgewählter Beispiele auf Thematisierungen des Holocaust zu verweisen und die damit einhergehenden Deutungsangebote zu befragen.
1 Publikationsmedium und Untersuchungszeitraum Die Grundlage des Artikels bildet die Zeitschrift NDL.6 Im Gegensatz zu den Weimarer Beiträgen (WB), die als „Schnittstelle von Wissenschaft, [Kultur-]Politik und
6 Die Großschreibung folgt der offiziellen Verwendung bis Ende 1979. Ab dem Jahrgang 1963, Heft 1, wurde die Kleinschreibung auf dem Titelblatt und der Innentitelseite verwendet, die Abkürzung aber weiterhin groß gedruckt. Anna Seghers verwendet in ihren im ersten Heft 1963 abgedruckten Glückwünschen zum zehnjährigen Bestehen der Zeitschrift weiterhin die Großschreibung ebenso Willi Bredel. Um eine Einheitlichkeit zu gewährleisten, wird im Artikel daher die Großschreibung aufgenommen. Rückschlüsse zum Druckgenehmigungsverfahren werden im Folgenden nicht unternommen, da, wie Simone Barck (1997, 348) ausführt, „Zeitschriften wie auch Zeitungen […] einmal im Jahr in ihrer Lizenz formal überprüft [wurden] und […] keinem offiziellen DG-Verfahren [unterlagen]“. Auf Debatten oder Leserreaktionen hinsichtlich einzelner abgedruckter Texte in beiden Zeitschriften wird ebenfalls nicht verwiesen, da eine umfassende Kontextualisierung im Rahmen dieses Aufsatzes nur bedingt möglich ist. Für die drei Fallbeispiele wurden im Archiv des Aufbau Verlages die Themenpläne und jeweiligen Jahresberichte geprüft: Staatsbibliothek zu Berlin, Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Archiv Aufbau Verlag, III A, Dep. 38_0049_0004 und Dep. 38_0098_0051. Informationen zu den ausgewählten Texten fanden sich dort ebenso wenig wie Einschätzungen zur Zeitschrift NDL. Lediglich in der Verlagsauswertung von 1967 erschien folgende Notiz: „Es wurde kritisch festgestellt, daß die Arbeit der Verlage mit ihren Zeitschriften – im Aufbau-Verlag z. B. mit Sonntag, Weimarer Beiträgen, auch der Neuen Deutschen Literatur – nicht den Anforderungen ideologischer Literaturarbeit entspricht.“ (0004).
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(literarischer) Öffentlichkeit“ (Dainat 2009, 57) wirkten und Felder der Kultur- und Literaturtheorie, der Ästhetik, des Erbebegriffes, vor allem aber der Literaturgeschichtsschreibung bis zur Gegenwartsliteratur abdecken sollte (vgl. Ende 2009, 90) und ab 1957 den Untersuchungszeitraum auf die „gesamte deutsche Literatur“ (WB 3.1 (1957): 1)7 ausdehnte, war die NDL als offizielles „Organ des Schriftstellerverbandes […] Austragungsort oder ‚Spiegel‘ wichtiger literaturpolitischer Debatten“ (Langermann 1997, 364). Wie die beiden anderen maßgeblichen Zeitschriften auf dem literaturwissenschaftlichen Gebiet, die Weimarer Beiträge und Sinn und Form, Ende der 1940er/Anfang der 1950er Jahre, genauer im Jahr 1953 gegründet, bildete sie die Entwicklungen innerhalb der DDR-Literatur und Literaturwissenschaft ab.8 Sie erschien seit 1954 monatlich. Die Auflagenhöhe lag bei 9.000 bis 10.000 Exemplaren, wobei laut Langermann 8.000 Exemplare auf den Abonnentenstamm entfielen, der hauptsächlich aus „Lehrer[n], Fachberater[n] und Schulräte[n] sowie Kulturfunktionäre[n]“ bestand (387).9 Dieser aus zahlreichen Multiplikatoren bestehende Adressatenkreis konnte die geringere Reichweite des Printmediums, beispielsweise im Vergleich zu der Wochenzeitung Sonntag, der Tageszeitung Neues Deutschland, aber auch zu Zeitschriften wie Das MAGAZIN,
7 Im ersten Heft des Jahrgangs 1957 (WB 3.1 (1957): 1) kündigte die Redaktion an: „Das Fehlen einer allgemeinen literaturwissenschaftlichen Zeitschrift und oft geäußerte Wünsche zahlreicher Kritiker, Autoren und Leser veranlassen uns, […] die bisherige Beschränkung auf die Periode der deutschen klassischen Literatur fallen zu lassen und die gesamte deutsche Literatur von den Anfängen bis auf unsere Tage zum künftigen Veröffentlichungsbereich zu bestimmen.“ Vgl. als Überblick zur Geschichte der Weimarer Beiträge und den inhaltlichen Verschiebungen den Aufsatz von Dieter Schade 2009. 8 Bei den Weimarer Beiträgen lassen sich die verlagerten Schwerpunktsetzungen anhand der wechselnden Untertitel der Zeitschrift ablesen. Von 1955 bis 1969 als Zeitschrift für Literaturwissenschaft mit den Zusätzen geführt: 1955–1956 Studien und Mitteilungen zur Theorie und Geschichte der deutschen Literatur, 1957–1963 Zeitschrift für deutsche Literaturgeschichte, 1964–1969 Zeitschrift für Literaturwissenschaft bzw. Literaturwissenschaftliche Zeitschrift, 1970–1990 Zeitschrift für Literaturwissenschaft, Ästhetik und Kulturtheorie; vgl. Schade 2009, 27. 9 Im Jahresbericht des Aufbau Verlages von 1968 wird die Höhe der Auflage für die Monate Januar bis Juli mit 8.000 Exemplaren, für August bis Dezember mit 7.834 (August) bzw. 7.604 (Dezember) angegeben. Die Vertriebsauflage lag bei 9.950, wobei 1.700 Exemplare exportiert wurden. Weiterhin wurde seitens der Verlagsleitung festgehalten, dass „die Streuung auf die Kioske Anlaß zu Beanstandungen [gibt]. Der Verlag weist dem PZV [Postzeitungsvertrieb] durch seine Kontrollen immer wieder nach, daß die Nachlieferung nicht erfolgt und die Kioske, obwohl zentral noch Bestände vorhanden sind, während der Laufzeit der einzelnen Nummern die Zeitschriften nicht anbieten.“ Vgl. Staatsbibliothek zu Berlin, Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Archiv Aufbau Verlag, III A, Dep. 38_0098_0051. Die Weimarer Beiträge hatten dagegen eine deutlich geringere Auflagenhöhe, die bei 4.000 bis 5.000 Exemplaren lag. Schade (2009, 39) gibt für Ende der 1980er Jahre die höchste Auflage mit 5.500 Exemplaren an.
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ein Stück weit kompensieren. Anhand der Jahrgänge lassen sich Tendenzen zu inhaltlichen Schwerpunkten ablesen und aus der Veröffentlichung von literarischen Texten, Rezensionen oder dem Abdruck von Diskussionen Rückschlüsse auf die Verhandlung von jüdischen Thematiken ziehen. Über die NDL kann sowohl durch den Umstand des Erstabdruckes von Texten – ein Kriterium, mit dem die Zeitschrift ihrer Programmatik als „Zeitschrift für neuere und neueste deutsche Literatur“ (Langermann 1997, 364) gerecht zu werden suchte – als auch über die Breite der gedruckten Autor_innen – von „umstrittenen (St. Heym. E. Loest) [und] interessante[n] jüngere[n] […] (R. Kirsch, V. Braun, P. Hacks, Ch. Wolf, G. de Bruyn, U. Greßmann, K. Schlesinger, W. Bräunig, M. Bieler, H. Weber, H. Bastian)“ bis zu „anerkannten […] [wie] Anna Seghers und Erwin Strittmatter“ (374) – ein Querschnitt zur DDR-Literatur ermittelt werden. Für die NDL wurde der Untersuchungszeitraum auf die Jahre 1953 bis 1970 beschränkt. Insbesondere für diese Periode konstatierte Janina Bach in ihren Arbeiten eine Leerstelle der Verarbeitung des Holocaust in der ostdeutschen Literatur, da die „Verfolgung und Ermordung [der] Juden in literarischen Texten weder als Motivation für den Widerstandskampf noch für eine innere Abkehr der Protagonisten vom Nationalsozialismus eine Rolle“ spiele (Bach 2007, 62).10 Die Funktion eines „Gedächtnismediums“ an den Holocaust übernähmen im Gegenzug in Übersetzung veröffentlichte polnische Erzählungen, Romane oder Berichte, zum Teil in Anthologien publiziert, die laut Bach eine „Reflexion der Zeugenschaft und der moralisch bedingten Mitschuld sowie [eine] Darstellung der Erfahrung von Ausgrenzung, Verfolgung und Vernichtung“ (62) vollzögen. Dass dieser Befund einer Modifizierung bedarf, auch in Erweiterung der Gattungen, die Bach auf Prosatexte begrenzte, verdeutlicht die eingangs erwähnte Kurzgeschichte von Walter Kaufmann. Das für die Zeitschrift untersuchte Material konzentriert sich deshalb vor allem auf autobiographische Texte, Erzählungen sowie auf Theaterstücke. Einzubeziehen ist dabei die nicht allein für das vorliegende Untersuchungsmaterial geltende von Hähnel-Mesnard und Schubert getroffene, mehrere Forschungsarbeiten zusammenfassende Aussage, dass der „genuin[…] literarische[…] Beitrag“ von Autor_innen der DDR-Literatur „zur Frage der Vernichtung der Juden […] auf ihren spezifischen Erfahrungen, Blickwinkeln und Visionen basier[e]“ (Hähnel-
10 Das ausführliche Zitat (Bach 2007a, 62) lautet: „Ab Beginn der 1950er Jahre werden fast zwei Jahrzehnte lang bis zu dem Erscheinen von Jakob der Lügner von Jurek Becker (1969) und Der siebente Brunnen von Fred Wander in der DDR keine Prosatexte deutschsprachiger Autoren veröffentlicht, für die der Holocaust oder die Frage nach kollektiver Mitschuld an der Vernichtung der Juden systemprägend ist.“ Vgl. auch Bachs Dissertationsschrift Erinnerungsspuren an den Holocaust in der deutschen Nachkriegsliteratur (2007b).
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Mesnard und Schubert 2016, 15). Dahingehend ist die Integration des antifaschistischen Widerstandsdiskurses, aber auch die kritische Reaktion darauf, ebenso zu bedenken wie das antifaschistische Selbstverständnis von Autor_innen, welches partiell ebenfalls durch kritische Auseinandersetzungen bestimmt war und neben das, wie Helmut Peitsch (2015, 120–121) gezeigt hat, durchaus die Verhandlung jüdischer Zugehörigkeit treten kann.
2 Veröffentlichungen in der Zeitschrift Neue Deutsche Literatur Für den vorliegenden Untersuchungszeitraum, 1953 bis 1970, wurden 52 Texte meinerseits ermittelt‚11 die entweder das Exil, die Verfolgung, Deportation, Lagerhaft und Ermordung der europäischen Juden – unterschiedlich umfassend – darstellen oder in Form von Literaturkritiken, Essays oder literaturwissenschaftlichen Artikeln auf Biographien und Forschungen zu Autoren_innen wie Heinrich Heine, Franz Kafka, Walter Benjamin, Hilde Domin oder Themen wie den Emanzipationsprozess im neunzehnten Jahrhundert verweisen. So beginnt Gerhard Seidel seinen Artikel „Im Freihafen der Philosophie. Zu den Schriften Walter Benjamins“ in Heft 1 des Jahrgangs 1957 mit einer Charakterisierung des Intellektuellen, in der er die Bedeutung von dessen Schriften für die Gegenwart sowie Zukunft betont und die Auseinandersetzung mit Benjamins „unkonventionellem Denken“ als „Auftrag“ formuliert (Seidel 1957, 59). Bereits seit dem Gründungsjahr 1953 lässt sich eine relative Konstanz hinsichtlich des Abdrucks von Texten erkennen, die nicht für jedes Heft gilt, aber für die einzelnen Jahrgänge festgestellt werden kann und durchschnittlich zwischen drei bis sechs Artikeln pro Jahrgang liegt. Dieses Ergebnis bestätigt die von Therese Hörnigk in ihrer Untersuchung in den Weimarer Beiträgen aus dem Jahr 1978 vorgenommene Zählung – sie gab für die Jahre 1952 und 1953 an, dass in der DDR keine Titel zur Thematik Faschismus und Krieg erschienen seien (Hörnigk 1978, 83) – für die NDL insofern nicht, als 1953 mit dem Abdruck von F. C. Weiskopfs „Vier Anekdoten“ in Heft 11 das Thema Krieg verhandelt wurde. Weiterhin zählte sie für 1954 zwei, für 1955 drei Titel (83). In der NDL sind 1954 und 1955 aber einige Texte abgedruckt worden, z. B. in Heft 2 (1954) ein Auszug aus dem Bericht „Der Untergang“ von Hans Erich Nossack, in Heft 9 (1954) die Erzählung „Stärker
11 Vgl. dazu die chronologisch aufgeführten Titel aus der Zeitschrift am Ende des Literaturverzeichnisses.
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als die Nacht“ von Kurt und Jeanne Stern, in Heft 10 (1954) die Erzählung „Die Kommandeuse“ von Stephan Hermlin, in Heft 12 Hans Hellmut Kirsts „Null-Acht Fünfzehn im Kriege“, in Heft 3 (1955) Peter Nells Reportage „Sind das unsere Deutschen, Mama?“, in Heft 4 (1955) die Geschichte „Das jüdische Kind“ von Rudolf Leonhard und in Heft 10 (1955) die autobiografische Darstellung „Deportation“ von Walter Kaufmann.12 Die wiederholt in der Forschungsliteratur genannten Beispiele – eines Auszugs aus dem Tagebuch der Anne Frank (Heft 12 1965), der Erzählung „David“ von Klaus Schlesinger (Heft 11 1960), von Ausschnitten aus der Kollektivkomposition Jüdische Chronik mit Texten von Jens Gerlach (Heft 11 1961), von Martin Walsers Aufsatz „Unser Auschwitz“ (Heft 2 1966) – als Beispiel für die Veröffentlichung westdeutscher Autoren –, von Günter Kunerts erinnerungskritischem Essay „Betonformen“ (Heft 9 1966), des Auszugs „Der Freitagabend“ aus dem Roman Die Bilder des Zeugen Schattmann von Peter Edel (Heft 2 1969) – der in der Rubrik „Das Wort des Schriftstellers“ von Edel eingeleitet wurde –‚13 des Prosastücks „Blickwechsel“ von Christa Wolf (Heft 5 1970) oder der Erzählung „Der Kampf um die ‚Bohemia‘“ (Heft 9 und Heft 10 1970) des Schriftstellers Jan Koplowitz, die mit dem erweiterten Roman Bohemia – mein Schicksal (1979) die Grundlage der 1980 bis 1982 unternommenen Verfilmung bildete‚14 alle diese Beispiele sollen aufgrund bereits vorhandener Untersuchungen hier nur erwähnt werden. Die Auflistung steht zugleich in Kontrast zu Wolfgang Emmerichs Befund, dass erst „um 1970 […] das Thema Holocaust in der DDR-Literatur […] eine gewisse Aufmerksamkeit [erlangt]“ habe (Emmerich 2010, 58). Auch Buchbesprechungen, etwa zu Jurek Beckers Roman Jakob der Lügner (Heft 12 1969), oder literaturwissenschaftliche Aufsätze, beispielsweise Kurt Batts Resümee zu westdeutschen Autoren‚15 in dem Jakov Lind ein Unterkapitel gewidmet ist (Heft 12 1963), sowie seine Erörterung der zeitgenössischen Kafka-Forschung (Heft 12 1962), in der Batt die „religiös-zionistischen“ (Batt 1962, 30) Deutungen, welche auf die von Max
12 Simone Barck hat in ihrer Monographie Antifa-Geschichte(n) bereits auf die Bedeutung der NDL für die Schließung dieser Leerstelle in der Rezeption verwiesen (2003, 193, Anm. 282): „Die von Taterka behauptete ‚Lücke‘ des Lagerdiskurses für die Jahre 1952–1955 kann schon mit einem Blick auf die NDL relativiert werden.“ 13 Der Vorabdruck des Romans erfolgte bereits im September 1968 im Neuen Deutschland, das Buch erschien 1969 im Verlag der Nation. 14 Vgl. zu der ostdeutschen Verfilmung unter der Regie von Horst Seemann die Artikel von Lisa Schoß (2014) und Gabriele Eckart (2008). Ich danke Jacob Panzner für die Hinweise zur Debatte um die Verfilmung. 15 Langermann attestiert Kurt Batt „eine sachliche und interessante Auseinandersetzung mit Neuerscheinungen der Bundesrepublik, der Schweiz und Österreich“, die auch in Leserbriefen hervorgehoben wurde (1997, 377).
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Brod intendierte Rezeption von Kafkas Werk zurückgehen, kritisch befragt‚ 16 seien nur angeführt, da auch zu diesen Analysen zugänglich sind. Um einen Vergleich hinsichtlich der Verarbeitungsformen zu gewährleisten, konzentriert sich die folgende Analyse auf das Thema Holocaust. Unberücksichtigt bleiben somit Publikationen, die die Zeit der Haskala und der nachfolgenden Jahrzehnte beschreiben oder, wie Edith Anderson, die Einwanderung in die USA zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts und damit verbunden die Loslösung vom Shtetl und den Übergang von der Orthodoxie zum Reformjudentum verhandeln.17 Diese Artikel nehmen nur einen geringen Umfang ein, aber gerade über Andersons sowie Koplowitz’ – hinsichtlich der Figurenzeichnung nicht unproblematischen – Darstellungen werden Einblicke in die Akkulturationsprozesse im neunzehnten Jahrhundert und zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts gegeben. Die Aufmerksamkeit gilt zudem zwei unterschiedlichen Genres, dem autobiographischen Bericht und der Erzählung, über die der Untersuchungsgegenstand betrachtet werden soll. Mit der Wahl des breiter rezipierten Theaterstücks Prozeß in Nürnberg von Rolf Schneider aus dem Jahr 1967 wird die von Bach vorgenommene Einschränkung erweitert.
3 Analyse von drei Fallbeispielen 3.1 Peter Duhr „Causa Gottesmann“ Von Peter Duhr‚18 der die Konzentrationslager in Transnistrien überlebte19 und 1954 aus der Sowjetunion in die DDR übersiedelte, wurde in Heft 9 des Jahrgangs
16 Batt (1962, 30) fasst die Linien der bisherigen Kafka-Forschung folgendermaßen zusammen: „So unterschiedlich nämlich die geistige Heimstatt all dieser Interpreten sein mag, so sehr auch ihre Meinungen über Gehalt und künstlerische Struktur der Werke differieren mögen, so besteht doch uneingeschränkte Einigkeit darüber, daß Kafka als Heiliger – religiös-zionistischer oder säkularisiert-existentialistischer Spielart – zu verehren sei.“ 17 Vgl. die Buchbesprechung René Schwachhofers (1963) zu Helmut Bocks Ludwig Börne. Vom Ghettojuden zum Nationalschriftsteller, Ursula Püschels Rezension (1963) von Herbert Scurlas Begegnungen mit Rahel. Der Salon der Rahel Levin, Edith Andersons „Porträt meiner Mutter“ (1965) und Jan Koplowitz’ „Der Kampf um die ‚Bohemia‘“ (1970). 18 Auf der Schallplatte Lied der Stummen aus dem Jahr 1969 ist der Text „Causa Gottesmann“ aufgenommen, Sprecher ist Peter Duhr. Vgl. zu den ebenfalls auf der Schallplatte aufgenommenen Auszügen aus der Jüdischen Chronik den Beitrag von Silvia Schlenstedt. 19 Transnistrien wurde während der deutschen und rumänischen Besatzung im Sommer 1941 an Rumänien angeschlossen. In dem Gebiet zwischen Dnjestr und südlichem Bug wurden Kon-
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1956 der Text „Causa Gottesmann“ veröffentlicht. Im selben Jahr wurde dieser in den Band Inferno, erschienen im Verlag Rütten und Loening, aufgenommen. Der 12-seitige „Bericht“, so der Untertitel, ist autodiegetisch verfasst, im Unterschied zu den anderen beiden Erzählungen des Bandes, für die eine heterodiegetische Erzählinstanz gewählt wurde. Zu Beginn werden Ort und Jahr (Bratzlaw, Winter 1943), die Konzentrationslager Petschioara und Cariera de Piatre sowie die Namen rumänischer Militärs und ihre Kollaboration mit der SS benannt, womit Merkmale des Erlebnisberichts, dem eine juridische Funktion in der Nachkriegszeit zukam, erfüllt sind. Der Berichtende, er und seine Frau leben aufgrund ihrer Position als Ärztin noch außerhalb der Lager, weist auf Erschießungen und Ermordungen durch Ertränken von ukrainischen und rumänischen Juden, den Hungertod und Suizide hin. Die Schilderung der Ereignisse ist größtenteils sachlich sowie chronologisch wiedergegeben und als Tatsachenbericht verfasst: Die Opfer wurden zuerst von den angeheiterten SS-Leuten mißhandelt, unter Schlägen im Lagerhof zusammengetrieben, auf Lastautos geworfen, verladen, in den Wald von Raigorod gebracht und dort erschossen oder mit Spaten, Brechstangen, Schraubenschlüsseln, Bleiknüppeln, was gerade zur Hand war, erschlagen. Sie wurden in Schanzen oder Gruben geworfen und oberflächlich mit Erde bedeckt. (Duhr 1955, 79)
Die berichtenden Sequenzen dienen zur Aufklärung über die Geschehnisse, die die Tathergänge ebenso umfassen wie die Wiedergabe der Lagerstrukturen. Die Verdeutlichung dieser enthalten Aussagen zu der Zwangsarbeit im Steinbruch und dem Bewachungssystem, welches auf der Zusammenarbeit zwischen der rumänischen Polizei, der Organisation Todt und der SS aufbaute: Die Leute der Organisation Todt legten auf Grund eigener Beobachtung oder nach den Meldungen der Milizionäre die Listen an und rapportierten alle Arbeitsunwilligen oder Arbeitsunfähigen. Diese Rapporte erhielt der Lagerkommandant, gab sie einem SS-Mann weiter, der dann mit einer eigens zu diesem Zweck herbeigeholten SS-Mannschaft oder mit dem in Bratzlaw anwesenden Bewachungspersonal die Opfer liquidierte. So waren sie alle Täter und Komplizen. Die Juden im Lager erhielten als Verpflegung dreimal in der Woche zweihundert Gramm Brot und zweimal täglich heißes Wasser, Suppe genannt. Gearbeitet wurde, mit einer einstündigen Pause, von sechs Uhr früh bis fünf Uhr abends im Steinbruch und an der Straße. (80)
zentrationslager errichtet, in denen bis 1944 zwischen 250.000 und 300.000 Juden aus Rumänien und der Ukraine ermordet wurden. Neben Paul Celan, Rose Ausländer, Alfred Kittner, Immanuel Weißglas hat Edgar Hilsenrath in seinem Roman Nacht (1964) über die transnistrischen Konzentrationslager geschrieben. Vgl. als Überblicksartikel zu der Thematik „Die literarische und dokumentarische Reflexion des transnistrischen Holocaust“ von Klaus Werner in seiner Monographie Erfahrungsgeschichte und Zeugenschaft (2003).
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Einen weiteren Teil des Textes bildet das Zeugnis des Zahnarztes Gottesmann, dem der Ich-Erzähler an der Arbeitsstelle seiner Frau, dem Krankenhaus von Bratzlaw, begegnet. Ausgehend von dessen Beschreibung, in der die Deportation aus Czernowitz, die Lagerhaft und die Zwangsarbeit aus der Perspektive des Zahnarztes dargelegt werden, formuliert der Berichtende die Aufgabe, die dessen sowie seinem eigenen Zeugnis aufgetragen sei und die wiederkehrend artikuliert wird: „‚Es ist schließlich nicht so wichtig‘, sagte ich, ‚was hinter uns liegt. Das einzig Wichtige ist nur, daß ein paar von uns als Zeugen überleben und vielleicht im Gerichtssaal von Europa ihre Stimme werden erheben können.‘“ (83) Gottesmann, der kurz darauf im Lager erschossen wird, betont dagegen in seiner Wiedergabe des Erlebten den eigenen Überlebenskampf für sich und seine Frau, der allein auf das Ende des Krieges ausgerichtet ist. Über die Figur Gottesmann werden durch die Kommentare seitens des Ich-Erzählers konträre Konzepte hinsichtlich der Auslegung der Verfolgungs- und Lagersituation transportiert. Während das Überleben der alltäglichen Lagerhaft für Gottesmann im Zentrum steht, sucht der Erzähler das Erfahrene, Gehörte und Beobachtete einzuordnen. Sieht er darin zum einen das Gebot der Aufklärung, Weitergabe und Anklage, um über den „sadistischen Wahnsinn, von dem mit Geschäft gepaarten organisierten Verbrechen der rumänischen und deutschen Hakenkreuzler“ (79) zu informieren und Zeugnis abzulegen, gilt es zum anderen, der empfundenen Ohnmacht und Erniedrigung Handlungsoptionen im Sinne eines aktiven Widerstands entgegenzusetzen. Darin aufgehoben ist die nicht unproblematische Interpretation der Verfolgung und Lagerhaft, welche auf die Nachkriegszeit orientiert ist und das „Märtyrertum“ zur Grundlage einer neuen „Menschheit“ erhebt; unterstützt wird dies durch den Tempuswechsel, der vom Imperfekt ins Präsens übergeht und der Passage eine doppeldeutige Ausrichtung verleiht – als Hoffnungsmotiv und Kampfansage in der Vergangenheit und als Appell für die Gegenwart: Wir sind die Millionen namenloser Märtyrer, aus deren verwesten Kadavern, auf deren Knochen der neue Tempel der Menschheit errichtet werden wird. Der Sieg ist unser. Auch wenn unser Antlitz durch die Peitschen der Faschisten zerrissen wird, auch wenn sie unsere Knochen durch die Folter brechen, wir sind die Sieger. (85)
Das wiederholt angeführte „wir“ bezieht sich vordergründig auf die jüdischen Verfolgten und Ermordeten der Konzentrationslager, wird jedoch auch um politische Häftlinge und Widerstandskämpfer ergänzt. Obwohl das repetitiv gebrauchte Nomen „Sieg“ die Zeugnisse der jüdischen Überlebenden umfasst, schließt Duhr mit der gewählten Metaphorik vornehmlich an das sich in den 1950er Jahren entwickelnde offizielle ostdeutsche Geschichtsbild vom Sieg über den Faschismus
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an. Bereits Ende der 1940er Jahre durch Publikationen wie Sieg des Lebens20 eingeführt, vereint das Konzept die Vorstellung einer neuen Gesellschaft und eines neuen Menschen mit dem Sieg des Humanismus über die faschistische Barbarei. Bestandteil dieser Geschichtsauslegung bei Duhr ist die Bewertung der Zeugenschaft. Gottesmanns Zeugnis wird vor diesem Hintergrund zu einem privaten, da über dieses eine kampflose Position transportiert wird, die nur auf das eigene Überleben ausgerichtet ist. In der Aussage des Ich-Erzählers, „Es ist schließlich nicht so wichtig, was hinter uns liegt“, kommt den individuellen, heterogenen Erlebnissen eine zweitrangige Bedeutung zu, da sie in erster Linie als Bestandteil eines kollektiven Zeugnisses verstanden werden – als das Vermächtnis der Ermordeten sowie der Widerstandskämpfer –, welches als Grundlage für eine neue Gesellschaftsordnung fungieren soll. Die vordergründig intendierte Sinnstiftung des Erlebten zeigt sich weiterhin in der sprachlich-metaphorischen Darstellung, welche neben einem sachlichen Stil durch ein Vokabular des Kampfes gekennzeichnet ist. Daneben stehen zwar wenige, aber im Gesamtzusammenhang stark abweichende Sätze, die metaphysisch-verklärend wirken sowie resignativ ausgerichtet sind und der wiederholten Forderung eines aktiven Handelns entgegenstehen, so z. B. wenn von dem „steuerlos[en Treiben] ins uferlose Meer“ (88) gesprochen wird. Die Wirkungsabsicht des Textes, die in einer Zusammenführung von Aufklärung, Anklage, Vermächtnis und Gedenken sowie Siegestopoi besteht, wird indessen dahingehend erweitert, dass auch der Ich-Erzähler, hier wiederum in Übereinstimmung mit der Figur Gottesmann, die eigene Angst, Furcht und Trauer benennt, die aus der Situation von Verfolgung und Lebensbedrohung resultiert.
20 Vgl. Sieg des Lebens und andere Erzählungen erschienen im Dietz Verlag 1949 in Berlin sowie die Reihe „Bibliothek des Sieges“ im Verlag Volk und Welt, die jedoch erst 1975 als internationales Projekt initiiert wurde anlässlich des 30. Jahrestages der Befreiung. In der genannten Anthologie ist Wassili Grossman mit drei Erzählungen prominent vertreten, insbesondere mit der titelgebenden Sieg des Lebens. Weiterhin wurde der Text „Die Seele Rußlands“ von Ilja Ehrenburg abgedruckt. Das Vorwort verfasste Friedrich Wolf, in dem es u. a. heißt: „Nie stand über einem russischen Jugendlager wie über dem Pimpfenlager von Witten ein Spruch wie dieser: ‚Wir sind geboren, für Deutschland zu sterben.‘ Wassili Grossmans Erzählung ‚Sieg des Lebens‘ – das ist die Parole der Sowjetmenschen. […] Wir, die wir diesen 30jährigen Krieg seit 1914 an den Fronten und im Lande erlebten, haben den einen heißen Wunsch, daß es den Kriegshetzern nicht mehr gelingt, unsere Jungen wieder als Landsknechte in eine neue dritte Katastrophe hineinzumanövrieren, daß all das Blut und die Tränen nicht vergebens geflossen sind, daß wir aus alledem wirklich etwas gelernt haben.“ (Wolf 1949, 8–9) Vgl. zu Grossman und Ehrenburg den Beitrag von Simone Barck.
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3.2 Rolf Schneider Prozeß in Nürnberg In Heft 1 des Jahrgangs 1968 wurde ein Auszug aus dem Theaterstück Prozeß in Nürnberg von Rolf Schneider abgedruckt, welches im Oktober 1967 im Deutschen Theater uraufgeführt und im selben Jahr im Henschelverlag veröffentlicht wurde.21 In einer kurzen Einführung seitens der Redaktion wird betont, dass das Stück auf „Dokumente“ zurückgehe, deren Hauptquelle die Protokolle des Internationalen Militärtribunals bilden. Die Anordnung des Materials beruhe auf einer spezifischen „Auswahl“ und dem Prinzip der „Montage“. Die Intention des Autors, so der Einführungstext weiter, richte sich auf die Frage, „was an diesem Prozeß von weiterwirkender Bedeutung für die Gegenwart ist“ (NDL 16.1 (1968): 90). Der Autor selbst schrieb in der „Anmerkung“ zu seinem Stück, dass neben der „simplen information“ (Schneider 1970, 588) über den Prozess das Dokumentarstück aus „erinnerungen an geschichtliches [entstand], unbehagen an gegenwärtigem, wozu die zeitgeschichtsschreibung gehört“ (586).22 Ziel des Stückes ist somit nicht allein die Auseinandersetzung der Zuschauer mit der Vergangenheit, sondern vielmehr das Unternehmen einer komplexen Urteils- und Meinungsbildung, die eine kritische Befragung der Darstellung und Interpretation der historischen Ereignisse einschließt.
21 Die NDL verfolgte die Veröffentlichung mehrerer dramatischer Texte während der Jahrgänge 1967 und 1968. Neben Schneiders Stück wurden in Heft 1 unter der Überschrift „Dramatik in komplexer Sicht“ Texte von Horst Salomon (Ein Lorbaß), Friedhold Bauer (Baran oder Die Leute vom Dorf) und Günther Rücker (Herr Schmidt) abgedruckt. Im Einführungsteil schrieb die Redaktion zu dem Vorhaben: „Daß wir auf diesen Seiten in den vergangenen Monaten öfter als zu anderen Zeiten und mit verhältnismäßig großem Raumaufwand neue Dramentexte veröffentlicht haben, ist weder Zufall noch Willkür. Der unbefriedigende Stand unserer Dramenliteratur erforderte und erfordert weiterhin vermehrte Aufmerksamkeit für alles, was auf diesem Gebiet unternommen wird. Unsere Abdrucke von Stücken oder Stückauszügen sollten also nicht für sich betrachtet werden, sondern als Teile eines Größeren. Wir versuchen damit die Hauptlinien erkennbar zu machen, auf denen sich das dramatische Schaffen unserer und auch einiger westdeutscher Autoren bewegt. […] Die Stücke [von Salomon, Bauer und Schneider] bilden überdies den Gegenstand eines beachtenswerten Experiments am Deutschen Theater Berlin. Sie sind dort zu einem komplexen dramaturgischen Unternehmen zusammengefaßt worden. Alle Vorbereitungen, die konzeptionellen Überlegungen sowie die Arbeit an den Inszenierungen selbst liefen von Anfang an parallel, Dramaturgen und Regisseure hielten miteinander Kontakt in der Absicht, nicht lediglich drei neue Stücke gleichzeitig herauszubringen, sondern zu etwas zu gelangen, was sich mit dem Prinzip der Kooperation auf anderen Gebieten vergleichen ließe: statt bloßer Summierung der Kapazitäten deren Multiplizierung.“ (NDL 16.1 (1968): 73) 22 Im Gegensatz zum Originaltext wurde die dort verwendete Kleinschreibung in der NDL aufgehoben.
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Der publizierte Auszug, der im Wesentlichen dem Abschnitt „Technik der Aggression“ folgt und einen, zugleich den längsten der insgesamt sieben Abschnitte bildet‚23 umfasst 24 Druckseiten. Schneider orientiert sich hinsichtlich seiner Textgliederung an der Struktur der Anklageschrift und den Protokollen des Prozesses‚24 indem er zum einen wesentliche Elemente der Gerichtsszenen aufnimmt und die Protagonisten mit den Originalnamen benennt, zum anderen kaum kommentierende Regieanweisungen einsetzt. Mirjam Wenzel wies in ihrer Analyse auf die „strukturelle Analogie zu den Abläufen eines Gerichtsverfahrens“ hin, „indem [das Drama] verfahrenstechnische Erörterungen oder die rituelle Verteidigungsformel der Zeugen anführt“ (Wenzel 2009, 325–326). Basis der sprachlichen Äußerungen bilden die aus den Gerichtsakten ausgewählten, angeordneten und partiell bearbeiteten Passagen, wobei die Modifizierungen vor allem in „Kürzungen“, „der Vereinfachung der Syntax“ (328–329) und stilistischen Streichungen bestanden. Bestandteil des abgedruckten Textauszugs ist u. a. die Vernehmung des Hauptverantwortlichen der Einsatzgruppe D der Sicherheitspolizei und des SD Otto Ohlendorf. Dieser trat während des Nürnberger Prozesses und des nachfolgenden Einsatzgruppenprozesses als Zeuge auf. Seine Aussage steht im Zusammenhang mit der Befragung Wilhelm Keitels, durch die die Zusammenarbeit zwischen den SS-Einsatzgruppen und der Wehrmacht dargelegt wird. Für die NDL wurde damit zudem ein Ausschnitt gewählt, in dem die Ermordung von 90.000 jüdischen Kindern, Frauen und Männern sowie politischen Gegnern geschildert wird. Die sachliche, emotionslose Beschreibung der Vorgänge seitens Ohlendorfs, die sehr detailliert unternommen wird und darin gipfelt, dass ein einmalig formuliertes Mitgefühl nicht den Ermordeten, sondern den Tätern gilt, die angesichts der „Gaswagen“ „seelisch“ (Schneider 1968, 94) zu sehr belastet gewesen seien, verdeutlicht einerseits die bürokratisch organisierte Durchführung der Tötungen, andererseits die Kälte, die mit dieser einherging:
23 Die Überschriften der Abschnitte lauten „praejudiz“ (entspricht einem Prolog), „die technik der legalität“, „die technik der agression“, „markterfordernisse I“, „markterfordernisse II“, „meinungsbildung“, „widerspruch“ (entspricht einem Epilog). 24 Als Materialgrundlage verweist er in der „anmerkung“ zu seinem Stück auf die 42 Protokollbände des Nürnberger Prozesses und auf das Nürnberger Tagebuch. Gespräche der Angeklagten mit dem Gerichtspsychologen des US-amerikanischen Gerichtspsychologen Gustave M. Gilbert, das 1947 auf Englisch, 1962 auf Deutsch im Fischer Verlag erschienen ist, vgl. Schneider 1970, 588. Im Verlag Rütten und Loening wurde 1957 eine zweibändige Sammlung aus Protokollen, Dokumenten und Materialien veröffentlicht: Der Nürnberger Prozess. Bd. 1. 2. Berlin: Rütten und Loening, 1957.
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Der Französische Ankläger: Wo befand sich Ihr Einsatzgebiet? Ohlendorf: In der südlichen Ukraine. […] Der Französische Ankläger: Wissen Sie, wie viele Personen durch Ihr Einsatzkommando beseitigt wurden? Ohlendorf: Von Juni 1941 bis Juni 1942 waren von meinem Einsatzkommandos etwa 90.000 als liquidiert gemeldet. […] Der Französische Ankläger: Wollen Sie dem Gerichtshof Einzelheiten beschreiben? Ohlendorf: Die als Kommissare erkannten Personen, die uns von den Wehrmachtsbehörden überstellt wurden, sowie die Juden wurden mit Lastkraftwagen an den Hinrichtungsort gefahren. Der Hinrichtungsort war in der Regel ein Panzerabwehrgraben oder eine natürliche Gruft. Die Hinrichtungen wurden militärisch durchgeführt: durch Pelotons mit entsprechenden Kommandos. Der Französische Ankläger: Was geschah mit den Leichen? Ohlendorf: Sie wurden in dem Panzergraben oder in der Gruft beerdigt. Die Anfüllung der Gräber war den Kommandos übertragen. Dann wurden die Gräber von Arbeitskommandos aus der Bevölkerung planiert. […] Der Französische Ankläger: In welcher Stellung wurden die Opfer erschossen? Ohlendorf: Stehend oder kniend. (92–93)
Als Beweismittel und zugleich in Kontrast zu Ohlendorfs funktionaler Wiedergabe der Abläufe wird ein Augenzeugenbericht seitens des französischen Anklägers verlesen, in dem die Ermordung einer Familie beschrieben wird. Dieser geht auf die Aussage des Ingenieurs Hermann Friedrich Gräbe im Prozess zurück: Ich habe eine Familie beobachtet von etwa acht Personen, sie waren schon nackt. Eine alte Frau hielt das einjährige Kind auf dem Arm und sang ihm etwas vor. Sie kitzelte das Kind, und das Kind quietschte vor Vergnügen. Der Vater hielt einen etwa zehnjährigen Jungen an der Hand. Der Junge kämpfte mit den Tränen. Der Vater zeigte mit dem Finger zum Himmel und erklärte etwas dazu. Er streichelte dem Jungen über den Kopf. Als die Familie zur Grube geschickt wurde, ging das erwachsene Mädchen an mir vorüber. Sie deutete an sich herab und sagte: 23 Jahre. Die Grube war bereits dreiviertel voll. Ein Teil der Erschossenen bewegte sich noch. Jene, die als nächste liquidiert werden sollten, mußten auf sie treten, mußten auf ihnen knien, haben sie aber gestreichelt oder leise auf sie eingesprochen. Dann hörte ich die nächsten Schüsse. (93)
Schneider weist mit seiner Zusammenstellung der Protokollsequenzen des Weiteren auf den ökonomischen Profit hin, der aus den Tötungen resultierte, indem er am Beispiel von Ohlendorfs Aussage die Verteilung des konfiszierten Eigentums aufzeigt: „Wertgegenstände wurden an das Reichsfinanzministerium gegeben. […] Die Kleider wurden von der Volkswohlfahrt unmittelbar erfaßt und für die deutsche Bevölkerung zur Verteilung disponiert.“ (93) Die für die NDL getroffene
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Auswahl behandelt die Ermordung der Juden, deren nationale Zugehörigkeit nicht konkretisiert wird, als zentralen Punkt. Die Ortsangabe, „südliche Ukraine“ (93), verweist auf den Standort der Erschießungen. Trotz des zitierten Augenzeugenberichts erhalten die Ermordeten keine Individualität, die Konzentration liegt auf der Wiedergabe der Rede der Anklage und der Angeklagten. Die Elemente des strafrechtlichen Verfahrens stehen im Zentrum der Darstellung, darüber wird der Wiedergabe der Vorgänge ein großer Raum zugestanden, womit die Aufklärung über die Ereignisse sowie die Beweisaufnahme akzentuiert werden. Das „Benennen“ der Vorgänge, das Sammeln von Beweismitteln transportiert zugleich die von Schneider formulierte Schwierigkeit in der Darstellungsweise, der sich durch das Dokumentieren zumindest angenähert werden kann: „wir werden weiter den namen, die dinge, die zahlen nennen müssen, benennungen für unnennbares […], stammelnd gesprochen“ (Schneider 1970, 587). In einem anderen, nicht in der Zeitschrift publizierten Abschnitt – „meinungsbildung“ – kommt der Untersuchung des nationalsozialistischen Antisemitismus ein beachtlicher Stellenwert zu. Thematisiert wird dieser zum einen über die Befragung des Angeklagten Julius Streicher, zum anderen über die Zeugenaussage des jüdischen Überlebenden Suzkewer. Über diese beiden, sehr unterschiedlichen Elemente wird die Verfolgung und Ermordung der jüdischen Bevölkerung als expliziter Bestandteil der NS-Ideologie verhandelt.25 Im Gegensatz zu Duhrs Text fokussiert Schneider auf ein distanzierendes, sachliches Verfahren, welches den Anspruch an die Leser stellt, Schlussfolgerungen zu ziehen und Einordnungen für die Gegenwart vorzunehmen. Der Rückgriff auf die Protokolle des Nürnberger Prozesses erfolgte dabei ganz bewusst, da dieser „das modell war für spätere prozesse dieser art“ (588). Mit seinem Auswahlprinzip, das die Vernichtung der europäischen Juden thematisiert, nimmt er die Leser in die Pflicht, ihr eigenes „unbehagen an gegenwärtigem“ (586) und damit die Konsequenzen aus den juristischen Verfahren zu befragen. Auch in einem weiteren, von dem argentinischen Dramenautor und Schriftsteller Abelardo Castillo stammenden Text, der Erzählung „Makkabäus“, welcher im Mai-Heft 1965 anlässlich des 20. Jahrestages der Befreiung vom Faschismus in der NDL erschienen ist‚26 spielt die Aufnahme von Dokumenten eine entschei-
25 Die von James E. Young unternommene Kritik an Peter Weiss’ Ermittlung, dass dieser den „Begriff Jude“ aus „den echten Protokollen“ durch „Verfolgte“ (Young 1997, 123) ersetzt und damit „politische und rassistische Morde […] gleichgesetzt“ (127) habe, ist nicht auf Schneiders Vorgehen zu übertragen. 26 Im gleichen Heft erschien neben Gedichten zum Widerstand, Aufsätzen und literarischen Texten zum Thema Befreiung ein Abdruck aus der Erzählung „Michael“ von Klaus Schlesinger, untertitelt mit „Entwurf zu einer Erzählung“.
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dende Rolle. Über die wiederkehrende Einflechtung von Aktenauszügen wird die Ermordung in den Gaskammern der Vernichtungslager geschildert. Die präzisen Beschreibungen in Form von Aktennotizen verdeutlichen die Bürokratisierung und verweisen auf das alleinige Interesse an der Rationalisierung der Tötungsverfahren seitens der Täter: Die Operation im Osten wird gegenwärtig mit Verbrennungsgasen durchgeführt. Die Juden gehen, noch angezogen, über die in Höhe der Waggons angebrachten Rampen direkt bis zu den Kammern. In der danebenliegenden Garage werden die Motoren der Tankwagen und Lastautos in Gang gesetzt. Das Gas der Motoren wird durch Rohre in die Kammern geleitet. Diese Methode ist unzulänglich. Manchmal arbeiten die Motoren nicht, und dann verzögert sich der gesamte Ablauf. Im allgemeinen dauert es eine halbe Stunde, bis in den Kammern alles still ist, und eine weitere halbe Stunde vergeht, bevor man sie öffnen kann. Anschließend zieht man den Leichen die Kleider aus, befeuchtet sie mit Naphtha und verbrennt sie auf aus Schienen hergestellten Rosten. Blobel hat in Chelmo einige Hilfsöfen gebaut, die mit Holz und Naphtha gefüllt werden. Außerdem versucht er die Leichen mit Hilfe von Explosionsstoffen zu vernichten, eine Methode, die ebenfalls noch keine zufriedenstellenden Resultate brachte.“ (Castillo 1965, 143–144)
Sowohl in dieser als auch in weiteren Sequenzen, in denen das Töten in den Gaskammern geschildert wird‚27 wird die Emotionalisierung der Leser weder durch Kommentare noch Sinnstiftungsangebote erreicht, sondern durch die Wiedergabe aus der NS-Zeit stammender Dokumente. Diese auf der sachlichen Vermittlung beruhende Darstellungsweise ist nicht unproblematisch, da die intendierte Faktizität an den Sprachduktus der Nationalsozialisten gebunden ist. Trotz dieser,
27 Vgl. Castillo 1965, 146–147: „Die für das Krematorium bestimmten Juden werden, nach Männern und Frauen getrennt, in die Räume geführt, wo man ihnen, nachdem sie sich nackt ausgezogen haben, sagt, daß es sich um eine Entlausung handelt. Um keinen Verdacht aufkommen zu lassen, empfiehlt man ihnen, ihre Kleider in ordentlichem Zustand zurückzulassen und vor allem nicht zu vergessen, wo sie sie hingelegt haben. Die mit Duschen und Rohrleitungen ausgestatteten Kammern lassen nicht den leisesten Verdacht entstehen. Nachdem die Türen schnell verriegelt werden, schütten die schon bereitstehenden Verantwortlichen für die Operation durch die Löcher im Dach das Zyklon B, das durch besondere Rohrleitungen bis auf den Fußboden der Kammern gelangt. Die Gasbildung erfolgt sofort. Durch die Gucklöcher kann man beobachten, wie diejenigen, die den Leitungen am nächsten stehen, zuerst umfallen. Das Bewußtsein verlieren sie je nachdem, wie weit sie von der Leitung entfernt stehen, und es hängt außerdem von der Qualität des Gases ab, die nicht immer die gleiche ist. Eine halbe Stunde später wird die Durchlüftungsanlage eingestellt, die Türen werden geöffnet und den Leichen die Goldzähne entfernt und die Haare abgeschnitten. Danach werden die Toten mit Aufzügen zu den Verbrennungsöfen befördert. Die Alten, Kranken und Schwachen fallen zuerst um: nach ungefähr fünf Minuten. Die Jungen und Gesunden, manchmal auch die Kinder: nach fünf bis zehn Minuten. Diejenigen, die schreien: nach weniger als fünf Minuten.“
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vor allem von Young herausgearbeiteten Gefahr der „Illusion von Faktizität und Objektivität“ (Young 1997, 118) ist dem Text das Ziel von Aufklärung und Information über die Ermordung der europäischen Juden inhärent. Auffallend ist nicht allein bei den beiden vorgestellten Texten von Duhr und Schneider, dass die Thematisierung des Holocaust an die während des Zweiten Weltkriegs durch die Wehrmacht und SS besetzten östlichen und südöstlichen Gebiete gebunden wurde. In mehreren in der NDL abgedruckten Texten finden sich Beschreibungen über die Verfolgungen der jüdischen Bevölkerung in diesen Gebieten, ihre Deportation und Ermordung. Scheint dies vor dem gesellschaftspolitischen Hintergrund der DDR und dem Bezug zur damaligen Sowjetunion naheliegend, wird über diese Auswahl der historischen Ereignisse meines Erachtens dennoch ein erweiterter Vergangenheitsdiskurs abgebildet, der die Verfolgung der jüdischen Bevölkerung dezidiert ins Zentrum rückt. Ein Beispiel dafür ist auch Wolfgang Kohlhaases Erzählung „Mädchen aus P.“ in Heft 2 von 1968.
3.3 Günther Brandenburger „Kreuze“ Abschließend soll anhand einer Erzählung auf ein Deutungsmuster verwiesen werden, welches im Zusammenhang mit der Gegenüberstellung von DDR und Bundesrepublik auftritt und den Beweis des Fortwirkens faschistischer Kontinuitäten in der Bundesrepublik zum Ziel hat. In der Erzählung Kreuze des Jugendbuchautors Günther Brandenburger in Heft 12 von 1962 legt ein westdeutscher Reisender, der auf der Rückfahrt von Rumänien dem ostdeutschen Erzähler begegnet, eine Beichte ab – bereits die Figurenkonstellation deutet die Tendenz der Handlung an –, die zweifach ausgerichtet ist. Einerseits betrifft sie das Eingeständnis der individuellen Mitschuld des Reisenden mit dem sprechenden Namen Christ am Zweiten Weltkrieg, andererseits die Schuld gegenüber einer alten jüdisch-rumänischen Frau, die ihre drei Söhne verloren hat: Und dann, als der Krieg zu Ende war, da kam ein Kamerad von ihnen und später noch einer, die erzählten, wie sie gestorben sind und wie die Leichen verbrannt wurden, in großen Öfen, wie ein ganzes Haus in der Stadt, so hoch, und immer zehn und noch mehr tote Menschen wurden darin verbrannt, so viele starben. (Brandenburger 1962, 102)
Eben diese Frau, die Christ in einem kleinen rumänischen Dorf antrifft, pflegt seit Ende des Krieges Gräber mit „vier Holzkreuzen“ (101). Unter den dort beerdigten deutschen Soldaten befindet sich auch der Bruder des Reisenden. Dieser Grabpflege, die von der Frau als Akt des Mitgefühls betrieben wird und an die feste Annahme gebunden ist, dass auch die Gräber ihrer Söhne bewahrt werden –
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„‚Nicht wahr Herr, Sie werden mir ein Bild von den Gräbern schicken?‘ begann sie noch einmal. ‚Man wird dort die Gräber pflegen, auch wenn sie Juden waren, rumänische Juden? Meine Söhne!‘“ (103) –, steht der Reisende hilflos gegenüber. Denn der Ort Dachau, an dem zwei der Söhne ermordet wurden, habe weder einen „Glockenturm“ oder eine „Mahnstätte“ (103), womit ein Verweis auf die 1958 eröffnete nationale Gedenkstätte Buchenwald mit der dazugehörigen Mahnmalanlage erfolgt, noch gebe es jüdische Friedhöfe bzw. seien diese geschändet, da „die Grabsteine umgeworfen, zerbrochen, mit Ölfarbe beschmiert, mit Hakenkreuzen in weißer und roter Farbe“ (103) versehen seien. Thematisiert wird somit zum einen ein fehlendes Gedenken an die Ermordeten in Westdeutschland, das durch den Hinweis auf Buchenwald und den damit verbundenen Widerstands topos anklingt. Zum anderen wird eine Kontinuität hinsichtlich des Faschismus in der Bundesrepublik angedeutet, die in der Integration ehemaliger Nationalsozialisten besteht und antisemitische Übergriffe, der Bezug gilt vordergründig den Friedhofsschändungen 1959–1960, benennt. Der Scham, die bei dem Reisenden Christ damit einhergeht, nicht länger als Journalist die Lügen „der Deutschen Bundesrepublik“ (104) verschleiern und verschweigen zu mögen, wird die standhafte und aufrichtige Haltung des Erzählers gegenübergestellt, die dieser aufgrund der erfolgten Entnazifizierung im ostdeutschen Staat seinerseits einnehmen kann. Die sehr eindeutige Ausrichtung der Erzählung und die damit verbundene didaktische Tendenz subsumiert die Holocaust-Sequenz des Textes. Diese fungiert nur als ein Handlungselement unter mehreren, über das die eigentliche Deutungsausrichtung unternommen wird: Der Vorwurf der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kontinuität in der Bundesrepublik.28 Der Bezug auf die Vergangenheit dient der Gegenwartskritik, über die eine Polarisierung vollzogen und die Frontstellung zwischen beiden deutschen Staaten argumentativ gefestigt wird. Der Rückbezug auf die jüdische Mutter und ihre Lebensgeschichte, die von dem Verlust ihrer Söhne bestimmt ist, steht somit in einem geschichtsideologischen Zusammenhang, dem die Ermordung der europäischen Juden untergeordnet ist.
28 Diese Ausrichtung ist auch in den folgenden literarischen Texten wiederzufinden: Horst Blumes „Lidice“ (1962), „Spanner paßt sich an“ von Karlludwig Opitz (1964), Gerd W. Heyses „Dreißig Jahre“ (1967).
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4 Fazit Aus den ersten, hier vorgestellten Textanalysen können für die NDL folgende Arbeitsergebnisse abgeleitet werden, die jedoch neben einer vertiefenden Kontextualisierung vor allem weitergehender Untersuchungen auf einer breiteren Textbasis sowie eines Vergleichs mit den Zeitschriften Aufbau, Weimarer Beiträge und Sinn und Form bedürfen. Die Verhandlung des Holocaust stellt keineswegs eine „Leerstelle“, wie Wolfgang Emmerich es für die DDR-Literatur verallgemeinernd darlegte (2010, 59), in der Zeitschrift NDL dar. Für die ermittelten Texte des Untersuchungszeitraums 1953 bis 1970 lassen sich differente Verarbeitungsformen feststellen, die Beschreibungen der Verfolgung, der Deportation, der Lagerhaft, des Lageralltags, der Ermordung in den Vernichtungslagern und von Erschießungen unterschiedlich akzentuiert aufnehmen. Ein wiederkehrender Bezug gilt der Schilderung der Situation der jüdischen Bevölkerung in Gebieten der damaligen Sowjetunion, die von der Wehrmacht und der SS besetzt waren. Verbunden mit den unterschiedlich gewählten Handlungsschwerpunkten gehen verschieden akzentuierte Deutungen der historischen Ereignisse einher. Diese bestehen in der Information und Aufklärung über die Situation der jüdischen Bevölkerung, ihre Verfolgung und Vernichtung – den Völkermord an den europäischen Juden –, was die Autor_innen als zentrale Aufgabe begreifen und davon ausgehend, sowohl eine Anklage formulieren als auch die Prozesse von Erinnern und Gedenken thematisieren sowie auf Fragen der Mitschuld verweisen. Daneben treten geschichts ideologische Deutungsmuster sowie Abgrenzungsmechanismen gegenüber der Bundesrepublik, denen der Holocaust als untergeordnetes Handlungselement dient. Trotz dieser Tendenz ist der von Wolfgang Emmerich unterstellten Marginalisierung des Holocaust in der DDR-Literatur, gerade in Rekurs auf eine erweiterte Materialgrundlage, kritisch zu begegnen, da die Verhandlung des Holocaust als, im Gegensatz zu Emmerich, zentrales Thema nach meiner Lesart durchaus für einige Texte zutrifft. Im Zusammenhang mit weiteren Untersuchungen sind die erfassten Deutungsangebote zu prüfen sowie um zusätzliche zu ergänzen wie die Befragung der Funktionalisierung von Juden und Jüdinnen und ihren Darstellungsweisen, die durchaus mit exotischen Zuschreibungen versehen werden, sowie möglicher Entschuldungsstrategien oder Versöhnungsangebote. Darüber gilt es somit zu ergründen, wie Carola Hähnel-Mesnard und Katja Schubert es als Aufgabe für ihren Sammelband bestimmten, welche „Widersprüche, politische Vereinnahmungen, Lücken und Ausgespartes“ (2016, 15) in den einzelnen Texten zu identifizieren sind und welche möglichen Verschiebungen nach 1970, dem hier festgelegten Schlusspunkt der Untersuchung, damit einhergehen. So könnte anhand der Weimarer Beiträge, in denen seit den 1970er Jahren verstärkt Bezugnahmen auf oder Abhandlungen zu jüdischen Themengebieten zu finden
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sind, gefragt werden, ob die von Karin Hartewig festgestellte „vorsichtige Integration jüdischer Lebensgeschichten in das sozialistisch-biographische Genre“ (2000, 506) sich in den Rezensionen und literaturwissenschaftlichen Abhandlungen niederschlägt.29
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29 Vgl. dazu den WB-Artikel von Marianne Lange (1979).
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Ulrike Schneider
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Thematisierungen des Holocaust in Literaturzeitschriften der DDR
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Castillo, Abelardo. „Makkabäus“. Neue Deutsche Literatur 13.5 (1965): 140–156. Schlesinger, Klaus. „Michael“. Neue Deutsche Literatur 13.5 (1965): 156–181. Walser, Martin. „Unser Auschwitz“. Neue Deutsche Literatur 14.2 (1966): 124–135. Kunert, Günter. „Betonformen. Impressionen“. Neue Deutsche Literatur 14.9 (1966): 94–107. Braet, Marc. „Judenballade“. Neue Deutsche Literatur 14.11 (1966): 25. Heyse, Gerd W. „Dreißig Jahre“. Neue Deutsche Literatur 15.8 (1967): 145–160. Stein, Hans J. „Auschwitzer Stenogramm“. Neue Deutsche Literatur 15.9 (1967): 76–78. Schneider, Rolf. „Prozeß in Nürnberg“. Neue Deutsche Literatur 16.1 (1968): 90–114. Kohlhaase, Wolfgang. „Mädchen aus P.“ Neue Deutsche Literatur 16.2 (1968): 46–57. Krause, Friedhilde. „Aufruf des Gewissens [Rezension von Maria Rolnikaite Mein Tagebuch]“. Neue Deutsche Literatur 16.2 (1968): 166–168. Bruyn, Günter de. „Berlin, Große Hamburger“. Neue Deutsche Literatur 16.10 (1968): 32–37. Bräunig, Werner. „Zweimal Karl-Marx-Sadt und zurück“. Neue Deutsche Literatur 17.1 (1969): 111–121. Edel, Peter. „Der Freitagabend [Auszug aus Die Bilder des Zeugen Schattmann]“. Neue Deutsche Literatur 17.2 (1969): 15–69. Schneider, Rolf. „W. zum Beispiel“. Neue Deutsche Literatur 17.7 (1969): 112–126. Joho, Wolfgang. „Lüge aus Barmherzigkeit [Rezension von Jurek Becker Jakob der Lügner]“. Neue Deutsche Literatur 17.12 (1969): 151–153. Wolf, Christa. „Blickwechsel“. Neue Deutsche Literatur 18.5 (1970): 34–45. Koplowitz, Jan. „Der Kampf um die ‚Bohemia‘. Teil 1“. Neue Deutsche Literatur 18.9 (1970): 97–144. Koplowitz, Jan. „Der Kampf um die ‚Bohemia‘. Teil 2“. Neue Deutsche Literatur 18.10 (1970): 72–113. Frei, Bruno. „[Rezension von Günther Anders Die Schrift an der Wand. Tagebücher 1941 bis 1966]“. Neue Deutsche Literatur 18.12 (1970): 189–194.
Dieter Schlenstedt
Auf der Suche nach den Gründen der Barbarei Wolfgang Heise auf der Berliner Historiker-Konferenz 1961 „Die Barbarei – extremster Ausdruck der Monopolherrschaft in Deutschland“: So martialisch krass klang das Thema einer Konferenz, die, veranstaltet vom Institut für Geschichte an der Deutschen Akademie der Wissenschaften, am 19. und 20. Juni 1961 im Museum für deutsche Geschichte (Berlin) stattfand. Ihr Anlass war das am 11. April 1961 eröffnete Jerusalemer Justizverfahren gegen Adolf Eichmann, den für die Judendeportationen und die Transporte in die Vernichtungslager verantwortlich gewesenen Referatsleiter im Reichssicherheitshauptamt des NS-Regimes. Man nahm Bezug auf das die Welt aufregende Gericht, das nach der Festnahme des seit 1945 flüchtig Verborgenen durch den israelischen Geheimdienst in Buenos Aires im Mai 1960 möglich geworden war. Im Entwurf der Konferenz hieß es, „ausgehend vom Eichmann-Prozeß“ sei „das antidemokratische und barbarische Wesen des deutschen Imperialismus wissenschaftlich nachzuweisen“ (Heitzer 1961, 1632). Nicht genau war festgelegt, was unter ‚Barbarei‘ verstanden werden sollte. Ja wohl kaum die von der Evolutionstheorie ausgemachte Übergangsstufe, die nach L. H. Morgan auch im Marxismus zwischen den Stadien der Wildheit und der Zivilisation wahrgenommen wird (vgl. Engels 1962, 30–35). Näher lag das Alltagsverständnis von ‚ungezügelter Roheit‘, ‚Brutalität‘, ‚Bestialität‘. Gegebenheiten des Zivilisationsbruchs waren aufgerufen, der Abbau erlangter Kultur, das Ausschlagen von Alternativen, wie man sie auf der Konferenz mit der – irrtümlich Marx statt Engels und Luxemburg zugeordneten –1 Polarität „Sozialismus oder Verfall in die Barbarei“ auf eine Formel brachte (Kuczynski 1961, 1490). Oder, wie sie von dem gerade zum Chef des Geschichtsinstituts ernannten Ernst Engelberg bestimmt wurde, als ein Abrücken vom Humanismus, das Leugnen der Gleichheit der Menschen, das Geltendmachen von Militarismus, der Gewalt vor dem Recht (vgl. Heitzer 1961, 1636). Der Konferenzberichterstatter Heinz Heitzer verallgemeinerte und verengte sie zum Charakterzug der gesamten Geschichte der Ausbeutergesellschaft, fasste sie spezifisch als „schrankenlosen Gebrauch von Gewalt
1 Bei Luxemburg heißt es 1916 unter Berufung auf Engels: „Übergang zum Sozialismus oder Rückfall in die Barbarei“ (1974, 62). http://doi.org.de/10.1515/9783050093932-008
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zu dem Zweck, eine untergehende Gesellschaftsordnung aufrechtzuerhalten“, so auch als Herrschaftsmethode beim „Untergang des Kapitalismus“, wie er sie in der Folge der hier aufbrechenden Gegensätze und zugleich der hier gegebenen technischen Möglichkeiten ergriffen sah. Barbarisch mochte vieles in der neueren Geschichte anmuten, der Berichterstatter forderte deshalb seine Kollegen auf, weitere Antworten zu finden auf die Frage, „was denn Barbarei eigentlich ist“ (1634, 1638). Mag sein, dass er die 1957 gerade in der DDR veröffentlichte Rede Brechts von 1935 zur Kenntnis genommen hatte, den Rat, beim Faschismus zu bedenken, es komme Barbarei nicht aus der Roheit, es sei angesichts der zur Destruktion gewordenen Produktion „die Wurzel aller Übel“ zu beachten, „unsere Eigentumsverhältnisse“ (Brecht 1957, 140–141). Dass die Krise Anfang der 1930er Jahre dazu geführt hatte, im Interesse der Herrschaft des Kapitals die liberalen Formen des Staates mit denen einer Diktatur zu vertauschen, gehörte nachhaltig zu Brechts Geschichtsbild. Und auch der 1939 von Max Horkheimer formulierte Satz, es solle, wer „vom Kapitalismus nicht reden will“, „vom Faschismus schweigen“ (Horkheimer 1988, 308–309), wirkte im linken Denken fort. Heute passt es eher zur ‚political correctness‘, gerade dazu den Mund zu halten. Ich aber kann nicht erkennen, was an dem Prinzip – auch wenn unter ihm nicht selten irreleitende Verkürzungen hergestellt wurden – falsch sein soll. Zu diesen trügenden Reduzierungen gehörte die im erstarrten Denken für anhaltend gültig erklärte, von Teilnehmern der Historiker-Konferenz so auch zitierte Formel, die Georgi Dimitroff 1935 auf einem Weltkongress der Kommunistischen Internationale gefunden hatte: „Der Faschismus an der Macht“, hieß es da (durchaus im Unterschied zum Faschismus als Bewegung), ist „die offene terroristische Diktatur der reaktionärsten, am meisten chauvinistischen, am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals“ (Dimitroff 1982, 50). Die Problematiken des Satzes wurden damals und später im marxistisch-leninistischen Denken wenig beachtet. Einer Monopolgruppe – wieso es sich dabei gerade um das ‚Finanzkapital‘ handeln sollte, blieb unerklärt – war hier die Rolle eines Subjekts der politischen Macht des Faschismus zugerechnet worden, und man hatte damit seinem politisch-ökonomischen Zusammenhang eine Interpretation gegeben, die die allgemeineren Definitionen aus der Zeit der Vorbereitung des Weltkongresses noch vermieden hatten. Die Frage galt da dem „Faschismus als Versuch, einen Ausweg aus der allgemeinen Krise des Kapitalismus zu finden, als Werkzeug des Kampfes gegen die proletarische Revolution und der Vorbereitung imperialistischer Kriege“ (38). Unbeachtet blieb auch, dass die abstrahierende Formel das reichere Beobachtungsmaterial nicht in sich aufnahm, das darauf wies, dass die „soziale Basis“ der „faschistischen Diktatur“ „außerordentlich buntscheckig“ sei, „verschiedene Klassen und verschiedene Schichten der Gesellschaft“
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umfasse (90–91). Schon die sogenannte Industriellen-Eingabe vom 19. November 1932, mit der der Reichpräsident Hindenburg dazu gedrängt werden sollte, Hitler die Führung der Reichsregierung zu übertragen, war von Repräsentanten nicht nur des Finanzkapitals, sondern auch anderer Kapitalgruppen bis hin zum Mittelstand und der Großagrarier unterzeichnet, und es spielte das Militär in dem agierenden Machtblock eine wesentliche Rolle (vgl. Poulantzas 1973). Und verengt war die Formel insofern, als sie, wie auch das ganze Referat von Dimitroff, für einen Hauptzug des nationalsozialistischen Ideologie-Konglomerats und der terroristischen Diktatur keinen Platz hatte, für den Zusammenhang von „‚Nationalsozialismus‘; Antisemitismus; Rassentheorie“, den zu behandeln die Vorbereitungsmaterialien für den Weltkongress ursprünglich vorgesehen hatten (Dimitroff 1982, 45; vgl. 38). Der Antisemitismus wurde in der Diskussion zum Referat Dimitroffs allerdings zur Sprache gebracht, von Maurice Thorez mit ausdrücklichem Hinweis, dass nicht allein die entscheidenden ökonomischen, dass auch politische Bedingungen geschichtswirksam sind und Traditionen in den Köpfen spuken, und von Wilhelm Florin mit Hinweisen auf die von NS-Partei und Staatsstellen organisierten Judenpogrome, bestialischen Folter- und Mordmethoden, die er in den Kontext zunächst des Terrors gegen katholische Organisationen und protestantische Kreise, allgemeiner der Ablenkung von Unzufriedenheit, der Erzeugung von Schrecken und Willfährigkeit stellte und betonte: Wir Kommunisten, als die Freunde aller Unterdrückten und damit auch der Juden in Deutschland, haben in der letzten Zeit oftmals direkte Gegenaktionen organisieren können. Wir sind dabei auf die breite Solidarität aller anständigen Menschen gestoßen. Der Kampf gegen die tierischen Judenpogrome kann durch die Solidarität aller humanitären Menschen wirksam unterstützt werden. (VII. Weltkongreß 1971, 238; vgl. 211, 215, 232)
Das Muster des dogmatisierten und dabei defensiv werdenden Denkens, das auch den Antisemitismus aus der Herrschaft der Monopole ableitete, verdeutlicht ein Briefwechsel. Besorgt angesichts antisemitischer Vorkommnisse Anfang 1959 in Düsseldorf, wandte sich Arnold Zweig an Albert Norden mit der Frage, ob man nicht seine Weltbühnen-Artikelfolge „Die antisemitische Welle“ von 1919 (Zweig 1991) neu publizieren sollte. Zweig war es hierin um eine Erhellung des Antisemitismus als einer ‚Mittelstandsgeistigkeit‘ gegangen und er hatte dabei nicht nur soziologische, sondern auch psychoanalytische und sozialpsychologische Verfahren verwandt. Nordens Antwort war eine in Hochachtung verpackte Abweisung, die betonte: Wäre es nicht richtiger, bei der erwiesenen Erklärung zu bleiben, daß der Antisemitismus eine Waffe des imperialistischen Finanzkapitals zur Kanalisierung der Volksleidenschaft in
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die jenem gewünschte Richtung, daß der Rassismus ein Teil der Herrenrasse-Ideologie war und bleibt? Und daß erst und allein der Sozialismus den Antisemitismus an seiner Wurzel packt und ihn später völlig ausrotten wird, später, weil Reste der antisemitischen Vorstellungen den Kapitalismus eine Zeitlang überleben?2
Die Struktur eines Festhaltens an älteren Denkformen wiederholte sich in Nordens Reaktion gegenüber dem in Zweigs Artikelfolge von 1919 gehaltenen Plädoyer für die Anerkennung und Erhaltung jüdischer Eigenheit als Basis für ein dauerndes Zusammenleben von Deutschen und Juden. Norden forderte dagegen, weiter auf die Fortsetzung des Vorgangs der Assimilation zu bauen.
1 Die Berliner Historiker-Konferenz 1961 Mit ausgestellter Gewissheit wurde auf der Berliner Tagung 1961 nun das System des aktuellen Kapitalismus, des von Monopolen bestimmten Imperialismus (im Lenin’schen Sinn) (Lenin 1960) als ein dem Sterben naher Spätkapitalismus aufgefasst. Diese Ansicht resultierte aus damals üblichen Denkweisen von Sozialisten, denen auch ich anhing – wie ich gleich sagen will, um mich nicht als einen auszugeben, der schon damals alles besser wusste, wenn er sich nun heute entfremdet, befremdet über die alten Texte beugt. Das Krasse des Themas lag in der mit ihm (schon vor der geforderten neuen Analyse) festgelegten These, dass Barbarei ein ‚Ausdruck‘, ein – freilich nicht unvermeidbares, nicht überall vorkommendes – Produkt speziell der Monopolherrschaft in Deutschland, dass Barbarisches dieser Ordnung latent oder akut immer zugehörig sei, dass diese Möglichkeit sich in den großen Kriegen, in der nationalsozialistischen Praxis, Völker zu versklaven, Juden zu verfolgen, Juden zu vernichten, extrem realisierte, dass man aber auch die Gegenwart als von Barbarei wenigstens bedroht anzusehen habe. Das Eigentümliche des ganz alten Begriffs vom Barbaren, kam dabei unbemerkt ebenfalls in die Sprache, die Idee, dass man es mit Fremden, Feindlichen zu tun habe, jenen, die eine andere Sprache sprechen, jenseits der Grenzen, draußen unheilsschwanger agieren. Dass das Warnzeichen ‚Übergang zum Sozialismus oder Rückfall in die Barbarei‘ als Menetekel längst auch an den Wänden der Länder erschienen war, die sich auf dem Weg zum Sozialismus dachten (vgl. Brecht 1993, 417), blieb in solcher Rede ausgeblendet.
2 Briefwechsel zwischen Arnold Zweig und Albert Norden, 19. März, 21. April, 19. Mai, 22. Mai 1959. Akademie der Künste, Berlin, Arnold-Zweig-Archiv, 20492, Mappe für den Briefwechsel mit der SED-Führung 1947–1967.
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Die DDR-Gesellschaftswissenschaftler waren politische Denker, sie betrieben ihre Forschung nicht kontemplativ, sie sahen sich als Mitkämpfer in den Konfrontationen der Zeit, und sie markierten ihren Standort. Mit überschrillem Ton freilich wollten Konferenzteilnehmer der Bundesrepublik eine „Kontinuität des klerikal-militaristischen Regimes zur faschistischen Diktatur“ zuordnen; dem Umstand, dass es nicht recht gelang oder dass man darauf verzichtete, diese Kontinuität herauszuarbeiten, galt das Bedauern des Konferenzberichterstatters (Heitzer 1961, 1637). Wie sehr die innere Tendenz in der Evolution der Bundesrepublik von Sozialisten zu diesem Zeitpunkt verkannt werden konnte, wird in diesem Bedauern offensichtlich. Man bezog sich auf tatsächlich im System wirkende, vom Nationalsozialismus herkommende Elemente, extrapolierte von daher aber Konsequenzen, die geschichtlich nicht bestimmend wurden. Sicher ging Agitation in solche Rede ein, der Versuch, politisch zuzuspitzen und sich selbst zu überzeugen – wie dies zu den Reaktionen auf die politische Lage gehörte, nicht zuletzt auf den anhaltenden, die Gemüter bedrängenden Streit um den Status von Westberlin.3 Sicher aber redete ebenso ernste Sorge gegenüber der zur Sprache gebrachten Sache. Wie immer sich damals ein Übergang zur Politik der Koexistenz abzeichnete, gab es doch genug, was den forcierten Redezusammenschluss von Imperialismus und Barbarei hervorrufen konnte. Ein ganzes Bündel solcher Bezüge stand im Horizont der Konferenz: Erstens: Das Empfinden, in einer Hoch-Zeit des Kalten Krieges zu leben, bestimmte Aussagen über die Gefahr des Atomkrieges, der drohenden Vernichtung von neuen Millionen. Gerade 1960 hatte der Führungsstab der Bundeswehr die Atombewaffnung der westdeutschen Armee gefordert und so heftige Diskussion ausgelöst. Aggressive Versuche weltweit, Unabhängigkeitsbewegungen zurückzudrängen, wurden als Angriffe auf das Eigene wahrgenommen. Gerade war, in einer Zeit der zu Ende gehenden Kolonialherrschaft in Afrika, im Januar 1961 unter Mitwirkung der CIA der erste Ministerpräsident des unabhängigen Kongos, Patrice Lumumba, brutal ermordet worden und war im April von den USA aus am Ort der ‚Schweinebucht‘ eine Invasion in Kuba versucht worden, ein Angriff auf die Insel, die sich aus dem Systemzusammenhang des Imperialismus löste.
3 Die Konferenzteilnehmer hatten Tag für Tag das Empfinden zu verarbeiten einer krisenhaften Lage der DDR, welche in der unaufhaltsam wachsenden Zahl von Flüchtenden zum Ausdruck kam – 1958 waren es um 200.000, 1959 um 145.000, 1960 um 200.000 und 1961 bis zum Bau der Mauer dann im August, in kritischer Größe wieder um 200.000. Im verbalen Überspielen einer erneuten Niederlage des Sozialismus sollte dargetan werden, wohin man ging, wenn man ging.
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Zweitens: Spezieller war die Rede von Barbarei bewegt von der Beobachtung der westdeutschen Restauration, in der im Verlauf der 1950er Jahre die Aufdeckung, Verfolgung, Bestrafung von nationalsozialistischen Gewaltverbrechen mit wenig Energie betrieben wurde, bis 1958 ein gegen Angehörige einer Einsatzgruppe geführter Prozess in Ulm neue Bewegung brachte. Doch zogen sich trotz der Einrichtung einer zentralen Ermittlungsstelle die Untersuchungen hin. 1960 erst z. B. wurde Richard Baer verhaftet, einer der Kommandanten vom KZ Auschwitz und Mittelbau-Dora, der sich lange Zeit versteckt hatte; zu einem Prozess kam es bis zu seinem Tod in Untersuchungshaft 1963 nicht. Drittens: Immer wieder hatte sich Kritik erhoben gegen die bundesrepublikanische Staatsanstellung von Leuten, die in der Nazizeit führende Positionen bekleidet hatten. So erarbeitete der Berliner Student Reinhard Strecker – nach erfolglosen Versuchen, über den Petitionsausschuss des Bundestages Untersuchungen anzuregen, und nach Anstößen aus dem SDS – im November 1959 eine Ausstellung „Ungesühnte Nazijustiz“, die zuerst in Karlsruhe, dann in weiteren westdeutschen Städten und im Ausland 138 solche Richter und Staatsanwälte vorführte – ein Ereignis, das, da sich die SPD-Führung von der Exposition distanzierte, zum Bruch zwischen SDS und SPD beitrug. Eine juristische Auseinandersetzung folgte der Publikation eines Taschenbuches von Strecker (1961) mit Dokumenten: Dr. Hans Globke (vgl. Fröhlich und Kohlstruck 1999, 185–200). Im Jahr 1959 war vom DDR-Ausschuß für Deutsche Einheit ein Weißbuch vorgelegt worden, auf dessen braunem Umschlag stand: Wir klagen an. 800 Nazi-Blutrichter – Stützen des Adenauerregimes. Fotokopien mit Urteilen dieser Richter konnte man in einer Ausstellung sehen, aufsehenerregend z. B. die zum Präsidenten des politischen Strafsenats am Bundesgerichtshof Ernst Kanter (vgl. Norden 1981, 229–230). Viertens: Der Ausschuß für Deutsche Einheit, speziell sein Vorsitzender Albert Norden, trat in dieser Zeit immer wieder mit Enthüllungsaktionen hervor, die gegen das Fortwirken von höheren an der Barbarei beteiligten Funktionären des NS-Regimes in Regierung, Verwaltung, Justiz, Armee der Bundesrepublik gerichtet waren. Nach anklagenden Pressekonferenzen 1959 und Anfang des Folgejahres fand im April 1960 in der DDR ein Prozess gegen Theodor Oberländer statt, dessen theoretische und praktische Mitarbeit an der nationalsozialistischen Ostpolitik in Polen unter Anklage stand. Der Bundesvertriebenenminister musste dann im Mai 1960 zurücktreten, auch wenn womöglich vom KGB eingebrachte Papiere einen Teil der Begründungen für seine Verurteilung abgegeben hatten. Kritik ereilte Hans Globke, der an der Ausarbeitung antisemitischer Gesetze, nicht zuletzt eines Kommentars zu den Nürnberger ‚Rassengesetzen‘ beteiligt war, besonders seine von Adenauer ausdrücklich verteidigte Tätigkeit als Staatssekretär im Bundeskanzleramt. Das Schauerlich-Groteske von Globkes juristisch ausgefeilter Mitarbeit an der nationalsozialistischen Judenverfolgung zeigten die
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damals veröffentlichten, vor allem aus dem Abdruck von Dokumenten bestehenden Broschüren.4 Fünftens: Das unübersehbar werdende Faktum des Weiterwirkens nationalsozialistischer Amtsträger in den neuen Ämtern führte im Juni 1961 zu einem Bundestagsgesetz, das an Nazitodesurteilen beteiligte, immer noch beamtete Richter zum Rücktritt drängte. Heute weiß man genauer, dass Bemühungen weitgehend erfolglos blieben, Richter und Beisitzer des Volksgerichtshofes in gemäßer Weise zur Verantwortung zu ziehen oder Mitarbeiter des Reichssicherheitshauptamtes zu belangen – zu dem ja Adolf Eichmann gehörte. Von der bundesdeutschen Justiz, so lässt sich vermuten, wäre er, der Verbrecher im Rahmen des „neuen Verbrechens des Verwaltungsmassenmords“ (Arendt 1990, 65), kaum verurteilt worden. Bundeskanzler Konrad Adenauer freilich gab am 10. April 1961, am Tag vor Beginn des Eichmann-Prozesses, im RIAS eine Erklärung ab, in der er seine und der Bundesregierung Einstellung zum Verfahren, seinen Wunsch nach Wahrheit und Gerechtigkeit darlegte und dabei betonte, Deutschland sei jetzt ein Rechtsstaat, man sei in guten Beziehungen zu Israel, es gäbe im „deutschen Volkskörper“, im moralischen Leben des deutschen Volkes keinen Nationalsozialismus, kein nationalsozialistisches Empfinden mehr. Die juristische Praxis in der Bundesrepublik, die vielen Fälle ungesühnter Untaten, der Vorgang der Integration von NS-Tätern in die neue politische und ökonomische Landschaft, der Vorgang, den Jörg Friedrich später kalte Amnestie nannte (1984), bot Kritikern der Restauration ein anderes Bild. Sechstens: Zu dem gehörten auch die antisemitischen Schmierereien an der Düsseldorfer Synagoge Anfang 1959 oder, mit noch lauterem Echo in der Öffentlichkeit, gegen Ende des Jahres die Verunstaltung der kurz vorher eingeweihten Synagoge in Köln, der viele weitere Taten dieser Art folgten. Sie zogen die nationale und internationale Aufmerksamkeit auf sich, so unangenehm, dass westdeutsche Polizei für sie im ersten Fall ohne Beweise einen jungen Kommunisten, Helmut Klier, verantwortlich machen wollte, dass westdeutsche Politiker im zweiten Fall von Geheimdienstaktionen der DDR munkelten – mit bis heute immer wieder aufgelegten Anschuldigungen, die nicht belegt waren und die trotz heftiger Versuche auch in unserer Gegenwart der geöffneten Ost-Archive nicht verifiziert werden konnten. Die offiziell vorgetragene Behauptung, dass man die gegen die jüdischen Einrichtungen gerichteten Vorfälle als jugendliche Einzeltaten behandeln könne, mochten Teilnehmer der Historiker-Konferenz in Berlin
4 Ausschuß für Deutsche Einheit 1960a, nach Auskunft von Friedrich Karl Kaul (1963, 213) war der Journalist Rudolf Hirsch für diese Schrift verantwortlich; Ausschuß für Deutsche Einheit 1960b.
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bezweifeln – sie nahmen sie im Gegenteil als Ausdruck eines latent gebliebenen, in Ausschreitungen zu aktivierenden, wie immer abgewandelten Antisemitismus (Heise 1961, 1443), als Teil der Phänomene, die sie in der Bundesrepublik „immer mehr faschistische Züge“ (Heitzer 1961, 1636) sehen ließen. Ihrem Thema stellten sich insbesondere die zwei Beiträge der Konferenz, die jeweils im Jahrgang 1961 der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft und der Deutschen Zeitschrift für Philosophie gedruckt überliefert sind. Das Referat von Jürgen Kuczynski, Wirtschaftshistoriker an der Akademie der Wissenschaften, hatte als Überschrift den Titel der Tagung. Wolfgang Heise aus dem philosophischen Institut der Humboldt-Universität trat mit einem Diskussionsbeitrag hervor, der, überarbeitet, erweitert publiziert, Antikommunismus und Antisemitismus5 hieß. Dem Zusammenhang der damit aufgerufenen Bestandteile des nationalsozialistischen Ideenkonglomerats und seiner Bedeutung für die barbarische Praxis sollte hier nachgegangen werden.
2 Das Referat von Jürgen Kuczynski Adolf Eichmann, der „Mörder von 6 Millionen Juden“, die „Inkarnation des AntiHumanismus“ wurde von Kuczynski als „Repräsentant einer großen Partei“ charakterisiert und als Mann, „der ein ganzes Herrschaftssystem symbolisiert“ (Kuczynski 1961, 1484). Des Redners Aufmerksamkeit galt der Massenbasis und dem Klasseninhalt des Faschismus: „Die NSDAP war die erste, auf breitester Front erfolgreiche antisemitische Partei Deutschlands. Als das deutsche Monopolkapital Hitler an die Macht brachte, machte es den Antisemitismus zur offiziellen Staatsideologie.“ (1486) Material, das die These detailliert belegen konnte, gewann Kuczynski aus den Protokollen des IG-Farben-Prozesses von 1947–1948. Mit ihm zeigte er, dass der Konzern, der – anders als die Monopole von Kohle, Eisen und Stahl – zunächst nicht forciert daran gearbeitet hatte, die NS-Herrschaft zu etablieren, gleich 1933 die judenfeindlichen Gewalttätigkeiten der Nazis zumindest tolerierte. So wandte man sich keineswegs gegen die international geschäftsschädigenden, einen USA-Boykott beschwörenden antisemitischen Praktiken, zum Schutz des Profits hingegen startete man im Rahmen auch des Wirtschaftsführerkreises und in Kooperation mit dem neueingerichteten Propagandaministerium
5 Heises kürzerer Diskussionsbeitrag hatte in seiner schriftlichen Fassung keinen Titel; vgl. Wolfgang Heise. O. T. [Diskussionsbeitrag, Berliner Historiker-Konferenz 1961]. Seminar für Ästhetik der Humboldt-Universität zu Berlin, Wolfgang-Heise-Archiv, Bestand 1.3.3.1.2./2; im Folgenden nachgewiesen als Heise, O. T., mit Seitenzahl.
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eine große Reklame-Kampagne für die Verhältnisse im Neuen Deutschland des Nationalsozialismus. Jürgen Kuczynski demonstrierte, wie die Zusammenarbeit sich fortsetzte: IG-Leute arbeiteten in staatsmonopolistischen Positionen, so an der Nazidiktatur direkt mitwirkend im Reichsamt für Wirtschaftsaufbau, im Amt für den Vierjahresplan, der Konzern finanzierte Kräfte, die Pläne für die Wiederaufrüstung aufstellten, bestimmte im Wechselspiel mit der Wehrmacht eine kriegsfördernde Investitionspolitik; er ließ Konzepte zur Inbesitznahme der ChemieIndustrie in besetzten Ländern entwerfen, hatte Einfluss auf die Kollaboration von Vichy und Berlin; schließlich richtete er in Auschwitz Betriebswerkstätten ein, die Stätten der Sklavenarbeit und der Todesarbeit waren von Menschen, vielen Juden, die man in das KZ getrieben hatte; und aus der IG kam das „Gas zur möglichst zahlreichen Vernichtung von Juden pro Stunde“ (1489). Ein Hinweis auf Gerhard Schoenberners Dokumentation Der gelbe Stern von 1960 hätte diesen Zusammenhang differenzierter hervortreten lassen. Hier heißt es: Für drei Reichsmark pro Tag vermietete die SS die Häftlinge als billige Arbeitskraft an die schlesischen Kohlengruben und die verlagerten Rüstungsbetriebe, die sich wie Parasiten in der Nähe des Lagers [Auschwitz-Birkenau, D. S.] niederlassen: Siemens-Schuckert, Krupp und vor allem IG-Farben, die sogar ein eigenes Nebenlager errichten. (Schoenberner 1998, 186)
Zu der Mitherrschaft der Monopole im faschistischen Deutschland gab der Wirtschaftswissenschaftler auf diese Weise keine pauschalen Urteile ab. Er neigte zum Konkreten, ihn interessierte das verschiedenartige politische Handeln der verschiedenen Monopolgruppen, vor allem von Kohle, Eisen, Stahl einerseits, von Elektro- und Chemieindustrie andererseits, ihre wechselnden Dominanzen im politökonomischen Gefüge seit dem Ausgang des neunzehnten Jahrhunderts, ihre ungleiche Teilhabe an der Installation und dem Ausbau des Hitlerregimes und zugleich immer ihr die Differenzen übergreifender Interessenzusammenhang. Der Referent widmete sich dann der Nachkriegsgegenwart, in der wiederholt Krieg vorbereitet wurde, der Rolle der neuen mit neuer Chemie und Physik arbeitenden Industrien in diesem Spiel, einem Tun, das die Möglichkeit des Atomkriegs, einer in ihren Größenordnungen gesteigerten neuen Barbarei im Aktionsplan hielt. Und Kuczynski wies die Versammelten auf den konfliktreichen – von ihm in all seinen Konsequenzen sicher noch nicht voll überblickten – Umstand eines sich abzeichnenden Überflüssigwerdens der Bourgeoisie, ihrer Ablösung durch die Schicht der die Verfügungsgewalt gewinnenden und zunehmend aus dem Mehrwert schöpfenden technischen und ökonomischen Manager. Sorge bereiteten ihm die Kontinuitäten, die er unter gewechselter Fassade zwischen der Vergangenheit der NS-Herrschaft und der Gegenwart der Bundesrepublik beobachtete: die Kontinuität in Ideologien und Schlagworten, die Kontinuität in den so
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oder so fortarbeitenden Monopolen und ihren Führungsfiguren, die Kontinuität nicht zuletzt im Leitpersonal des Staates: Immer neue Gestalten der Vergangenheit lösen sich aus den Schatten, die die Spitzenkette der Gesellschaft zu werfen pflegt, und beginnen den letzten Aufstieg zu den Plätzen der Domination. Jedem das Seine: dem SS-Führer die Präsidentschaft einer Polizei, dem Blutrichter des Faschismus eine Bundesrichterstelle, diesem Verbrecher einen Landesministerposten, jenem, der noch barbarischer, das Amt eines Bundesministers. (Kuczynski 1961, 1507)6
Was ihm dagegen Hoffnung gab, waren Widersprüche, die er von der Monopolherrschaft hervorgebracht sah: die zwischen den militanten Gruppen der kleinen Schicht der Monopolbourgeoisie und der Bourgeoisie im Ganzen sich auftuenden Gegensätze, die Unvereinbarkeit des ins Kalkül gezogenen Dritten Weltkriegs mit den ökonomischen Interessen und, viel weiter, den Lebensinteressen der überwiegenden Mehrheit auch der Bourgeoisie. Dies schien ihm Flächen möglichen politischen Konsenses von Arbeiterklasse und Teilen der Bourgeoisie hervorzubringen, die es gestatten würden, dass jene an diese appelliert, zu einer Gemeinsamkeit der Anliegen zu gelangen, den Frieden zu bewahren. Der Konferenzberichterstatter teilte später trocken mit, dass alles dies „sicher auf Einwände stoßen wird“ (Heitzer 1961, 1633). Jürgen Kuczynski hatte nicht den Text der offiziellen DDR aufgesagt, und er hatte sich mit seinen Bildern von der entstehenden Managergesellschaft, vom Enden der Herrschaftsrolle der Bourgeoisie auf ein Terrain der Kapitalismuskritik begeben, das von Marxisten allgemein noch nicht wahrgenommen wurde.
3 Das Referat von Wolfgang Heise Wolfgang Heise wollte in seinem Konferenzbeitrag die Triebkräfte der nationalsozialistischen Politik unter einem besonderen Aspekt verdeutlichen: Er fragte nach dem „Zusammenhang von Antikommunismus und Antisemitismus“.7 Dafür wählte er einen zweifachen Ausgangspunkt.
6 Gedacht wurde hier an Personen von der Art etwa des Friedrich Nägele (SS-Sturmbannführer – dann leitender Beamter im Polizeipräsidium Stuttgart), Hermann Weinkauff (Mitglied des NS-Reichsgerichts – dann BGH-Präsident), Hans Filbinger (NS-Marinerichter – dann Landesinnenminister, später Ministerpräsident in Baden-Württemberg), Theodor Oberländer (Obersturmbannführer der SA, Repräsentant der Ostforschung, mitbeteiligt am Pogrom in Lemberg und an der Partisanenverfolgung – dann Bundesminister für Angelegenheiten der Vertriebenen). 7 Heise, O. T. (wie. Anm. 5), 2.
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Auf der einen Seite begann er emotional bewegt mit den Worten: Name und Person Eichmanns erscheinen als Symbol technisch perfekter wie bestialischer Ausrottungs- und Mordtechnik, als Symbol für den bürokratisch pedantisch organisierten Völkermord mit Beutebeteiligung, mit präziser Abrechnung für ausgebrochene Goldzähne und abgeschnittene Haare, an IG-Farben verliehene Arbeitssklaven und SS-eigene Wirtschaftsbetriebe. (Heise 1961, 1423)
Zugleich wurde konstatiert, dass das Grauen inadäquat bleibt gegenüber dieser „Ausrottungsmaschinerie, die alle vom Hitlerfaschismus okkupierten Gebiete erfaßte, das Pogrom als Staatspolitik und den Massenmord als Synthese von Geschäft und Tötung über Einsatzgruppen und Tötungsfabriken“ (1423), dass es also auch auf rationales Vorgehen, auf Erkenntnis ankommt. Die damit verbundenen Schwierigkeiten erheben sich bis heute immer wieder – nicht gegenüber den Formen, Abläufen, die der Deskription und Dokumentation fähig sind, wohl aber gegenüber den unabsehbaren Ursachen, Zielen, Funktionen des Mordens, der verborgenen Motive der leitenden, mithandelnden, zusehenden Personen und Gruppen. Rationale Argumentation scheint da oft nicht zu greifen. Grenzen des Verstehens heißt es nicht zufällig im Titel eines Readers von 1992, der sich mit der Shoah beschäftigt (Loewy 1992; vgl. auch Diner 1988). Heise merkte an, dass die Wissenschaft schon vieles aufgedeckt hat, dass sie aber versagt „vor dem Problem der Erklärung der Judenausrottung“; seine Sorge war, dass die in ihrer Ungeheuerlichkeit ein „Rätsel“ (Heise 1961, 1432–1433) bleiben könnte. Und auf der anderen Seite gibt der Referent gleich zu Beginn einen Kurs für die Suche nach den Gründen an. Er betont, dass das dem einen Eichmann abgezogene Symbol gefährlich ist, weil eine solche Figur erlaubt, den gesellschaftlichen Boden zu überfliegen, aus dem das Entsetzliche bricht, weil mit ihr „die menschlichen Instrumente und Techniken“ verabsolutiert werden könnten, man vielleicht den Mord an den Juden isolieren, die Kritik moralisch allgemein machen werde. Kuczynski verbalisierte die Kritik, die bei Heise nur mitschwingt: Gegen Eichmann, den Mörder von 6 Millionen Juden läuft der Prozeß in Jerusalem, eng, säuberlich begrenzt, jede gesellschaftliche Ausweitung vermeidend, tief erregend in dem, was von neuem enthüllt wird, Herz und Hirn zerreißend – und doch, welch grausamer Kontrast, spürt man immer die lenkende Hand eines Chefs des Protokolls, der dafür sorgt, daß die Ausdehnung der Anklage auf die, die Eichmann repräsentiert, verhindert wird. (1432–1433)
Heises Bedenklichkeit zeigt: Ein Zeugnis von Selbstgewissheit war die HistorikerTagung von 1961 gewiss nicht. Man hatte sie ganz kurzfristig einberufen. Der Eichmann-Prozess bildete offenbar einen dringlichen Anstoß zu neuem Nachdenken und dabei entstand, wie es scheint, durchaus auch ein defensives Verhalten. Das in Jerusalem ausgebreitete, nun in ein Zentrum der Weltaufmerksamkeit gerückte
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Material war geeignet, Maximen in Zweifel zu ziehen, die das Denken von Sozialisten in der DDR seit langem bestimmt hatten. Dazu gehörte ein Reflexionsmodell, in dem den ökonomischen Interessen einer herrschenden Klasse die entscheidende und alles andere übergreifende Rolle im Spiel der Gesellschaft zugerechnet war, in dem die relative Eigenständigkeit politischer, ideologischer, kultureller Bewegungen aber wenig beachtet, die Frage nach den Reichweiten und Folgen ihrer je partiellen Aktivitäten, ihrer möglicherweise wechselnden Dominanz im Ganzen des Soziums oder Mächtigkeit unter den gesellschaftlichen Teilsystemen kaum gestellt wurde. Dass Faschismus und Monopole, wenngleich nicht ‚unvermeidlich‘, nicht nach ‚historischer Notwendigkeit‘, zusammengehören, war ausgemacht, dass der Faschismus als ‚die Macht des Finanzkapitals selbst‘ anzusehen sei, galt als richtige Charakteristik. Konnte dies festgehalten werde? War aber nicht schon der Verdacht lebendig, ob das, was dem deutschen Faschismus so entsetzlich eigen war, die Barbarei der Judenausrottung, im Rahmen des genannten Gesellschaftsmodells nicht vollständig zu erklären war? In vielfacher Hinsicht hielt zu dieser Zeit das marxistisch orientierte Denken, das auf neue Weise verfahren wollte, doch konservativ und defensiv an alten Maximen fest. Sie fortführend, sie aufrauend und sie überschreitend, ging Wolfgang Heise vor. Er entwickelte zum Problem eine Reihe differenzierterer Thesen, die ich hier nur in Ausschnitten, konzentriert auf die Fragen nach dem Antisemitismus und äußerst verkürzt aufzählen kann. Erstens wird konstatiert: Der moderne Antisemitismus ist zuerst an Formen des Antidemokratismus gebunden, seit der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts an die des Antikommunismus. Dies führt zum harten Kern der Heise’schen Argumentation. Er meint: Der Antikommunismus mit der diffusen Breite seiner illusionär aufgebauten innen- und außenpolitischen Gegnerschaft richtet sich nicht allein gegen Kommunismus, vielmehr gegen alles Fortschrittliche und Revolutionäre. Mit der „Tendenz zu brutalem Terror und nackter Gewalt“ (1427) ist er allgemein das wichtigste ideologisch-politische Instrument des Imperialismus, er ist die bestimmende Ideologie des Nationalsozialismus: Der Antikommunismus erweist sich […] – als Position und Politik – als das eigentlich vereinigende Element der Versklavung und Unterdrückung des eigenen Volkes durch Niederschlagung der revolutionären Arbeiterbewegung, Zerstörung der Demokratie und faschistische Mobilmachung auf der einen, der Aggression gegen die Sowjetunion und der Versklavung der osteuropäischen Völker auf der anderen Seite.8
8 Heise, O. T. (wie. Anm. 5), 4.
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Man spürt hier deutlich den durchaus defensiven Zug der Argumentation. Was mit dem Eichmann-Prozess schärfer ins Bewusstsein trat, warf neu die Frage nach den Kräften auf, die der Faschismus in Deutschland als Feind betrachtete und verfolgte, gegen die seine terroristischen und bald kriegerischen Aktionen gerichtet waren. 1935 hatte sich ein Bild ergeben, in dem er zuerst „antifaschistische Arbeiter, Bauern, Angestellte, Intellektuelle, Kommunisten, Sozialdemokraten und Mitglieder christlicher Organisationen“ grausam bekämpfte, in dem er gegen „das Anwachsen der Kräfte der Revolution“, dann außenpolitisch auf „den militärischen Überfall auf die Sowjetunion“ gerichtet war (Dimitroff 1982, 57, 49). Der Antikommunismus war hier, auch wenn „neben ihm andere Gegner und ‚Erbfeinde‘“ auftraten, als das Fundamentale des Hitlerfaschismus erfasst (Heise 1961, 1444). Ließ sich dieses Bild weiter zeichnen? Musste im Wissen um die Geschichte der Massendeportationen, der Ermordung der Juden, der Dezimierung von Völkern im östlichen Europa ein komplexeres Panorama entworfen werden, in dem auch der Kommunismus als Feind der Nazis einen veränderten Stellenwert erhielt? Dass solche Fragen nicht ohne weiteres akzeptiert wurden, verdeutlichte Engelberg am Beginn der Konferenz, er forderte, heißt es im Tagungsbericht, „nie zu vergessen, daß der faschistische Terror sich zuerst gegen die Kommunisten richtete“ (Heitzer 1961, 1632). Zweitens gilt so als „Grundgedanke“: Der „moderne hitlerfaschistische Antisemitismus ist eine spezifische Form und Methode der Durchsetzung des Antikommunismus als aggressiver imperialistischer Position, Politik und Ideologie“.9 Wird wenig später gesagt, dieser Antisemitismus sei unlösbar mit Antikommunismus, Rassentheorie und extremem Chauvinismus verbunden, erscheint das vorausgesetzte Geflecht flacher, horizontal, nicht in der Art einer Hierarchie verknüpft, die dem Antisemitismus eine unselbständige Rolle, die Seinsweise einer Form oder einer Methode für etwas anderes verleiht. Gerade diese Annahme aber scheint für Heise Anfang der 1960er Jahre eine Möglichkeit gewesen zu sein, das Unbegreifliche zu rationalisieren. Deshalb wird auch gesagt: Der Antisemitismus ist niemals eine selbständige Erscheinung gewesen. Er fungierte in Deutschland als Methode der jeweils herrschenden Klasse, den Klassenkampf zu vertuschen, abzuwiegeln, die Empörung über die Ausbeutung abzulenken und auf progressive Erscheinungen und wehrlose Gruppen zu lenken – über die Entfesselung eines blinden Blut- und Beutedurstes.10
9 Heise, O. T. (wie. Anm. 5), 2–3. 10 Heise, O. T (wie. Anm. 5), 3.
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Drittens sind Antisemitismus und Rassentheorie in diesem Zusammenhang also Formen einer „demagogischen Verkleidung“, und dies neben anderen (Heise 1961, 1430), die dazu beitragen sollten und konnten, eine Massenbasis für Gewalt und Terror und Krieg gegen politische Gegner zu erlangen. Diese Funktion, meint Heise, kann im Laufe der Geschichte, so in der Gegenwart, von anderen spezielleren Ideologien verwirklicht werden. Dass Antisemitismus nicht mehr die „tragende Ideologie“ in Westdeutschland ist (vgl. Heitzer 1961, 1635) – darin war man auf der Konferenz einig und bejahte damit einen prononcierten Diskussionssatz von Rudolf Hirsch (nach seiner Emigration in Palästina/Israel seit 1953 Gerichtsreporter der Zeitung Wochenpost). Wolfgang Heise hielt aber die Ansicht, dass der Antisemitismus von gestern durch den Antikommunismus heute ersetzt sei, für unzutreffend, weil er diesen als übergreifend ansah und jenen als Methode, ihn durchzusetzen (Heise 1961, 1443). In der Publikationsfassung seines Konferenzbeitrags notierte er, Antisemitismus sei für die Herrschenden nach dem Kriege „nicht mehr nötig“, zumal der Verzicht darauf nicht schwer falle, „nachdem die Juden ausgerottet wurden“, er sei nach den Entsetzen erregenden Bestialitäten des Hitlerfaschismus und um einer formalen Distanz zum Nationalsozialismus willen „nicht mehr in der alten Weise möglich und anwendbar“ und dies zudem, da in der neuen Lage der Westbindung das nationalsozialistische Feindbild, das neben dem Kommunismus auch die Plutokraten zu bekämpfen anwies, unpassend geworden sei (1444–1445). Viertens wird so eine These zum Demagogiecharakter des Antisemitismus dargeboten, wie sie seit Ende des neunzehnten Jahrhunderts zum Traditionsbestand sozialistischen Denkens gehört. Die Ausdruckswerte der ideologischen Phänomene, ihre relative Verselbständigung und die Multikausalität in ihrer Produktion werden dabei gering geschätzt. Es wird ein bestimmtes funktionales Konzept eingesetzt (vgl. 1425), das die Aufmerksamkeit auf Effekte in den gesellschaftlichen Prozessen lenkt, die bei den Individuen auftretenden Mixturen aber etwa aus wahnhaftem Glauben und zynischer Manipulation vernachlässigen kann. Um die Person Eichmann muss es so nicht gehen und allgemeiner nicht um die Barbarisierung der Individuen überhaupt. Methodisch verallgemeinert wird (speziell in Polemik mit Eva Reichmanns (1956) soziologisch-psychologischem Verfahren) betont, dass „ideengeschichtliche und sozialpsychologische Analysen“ zeigen können, warum der Antisemitismus wirksam war, dem Nationalsozialismus bei dem von der Krise zermalmten Mittelstand eine Massenbasis zu verschaffen, dass sie aber die Politik der Judenausrottung nicht zu erklären vermögen (Heise 1961, 1432). Die von Heise geforderte funktionale Erklärung dieser Politik will dazu einen Beitrag leisten: „Der Antisemitismus eignete sich eben nicht nur als Ideologie als Ablenkungs- und Aufputschdemagogie zum Instru-
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ment des Stimmenfangs, er war Ferment der Umsetzung des Antikommunismus in imperialistischen Expansionskonzeptionen.“11 Fünftens heißt es: Die Judenausrottung war Praxis in einem Herrschaftssystem, zu dem nicht nur die Apparaturen der SS und der Gestapo, vielmehr auch andere zu nationalsozialistischem Gebrauch hergerichtete Institutionen, Organisationen, Personen in einer Riesenbürokratie gehörten, die der irren Vernichtungswut des Mannes an der Spitze blind folgten. Zu ihr führten nicht unmittelbar ökonomische Gründe und nicht die Bürokratie an sich, wiewohl sie ihre Rollen spielten. Sie „war Teil des Massenmordes“, der zunächst in Konzentrationslagern Demokraten, Sozialdemokraten, Kommunisten betraf und der eine zweite Seite hatte, das Vorhaben, einen Krieg zu entfesseln, im Osten durch aggressive Expansion Land zu gewinnen (Heise 1961, 1433) – und dies unter dem rassentheoretisch unterfutterten Programm eines „deutschen Imperialismus“ (1435), der vorsah, als minderwertig angesehene Völker zu versklaven, viele ihrer Bürger zu ermorden. Sechstens sieht Heise: Von den antisemitischen Konzeptionen wurde immer gerade das und nur so viel realisiert, wie es die jeweiligen historischen Konditionen erlaubten und die jeweiligen Interessen des Herrschaftssystems forderten. Phasen der Politik gegen Juden werden so sichtbar gemacht – und gerade in diesem Historisieren sehe ich einen bedeutenden Vorgang. Drei (im Diskussionsbeitrag mit noch schärferen Differenzen fünf) Stufen werden angegeben: Antisemitismus war zuerst Mittel, das dazu diente, das deutsche Volk zu unterdrücken und zum Herrenvolk zu erziehen, das geeignet war, ein von der Rassenideologie, vom akzeptierten Unterschied der ‚Rassen‘ der Herren und Knechte geprägtes Verhalten einzuüben. Das Diffamieren und Verfolgen der Juden wurde so Modell, es ließ die Verfahren des inneren Terrors auf den internationalen Bereich übertragen. Die Struktur wiederholte sich nach dem Beginn des Krieges in den besetzten Ländern: die Judenverfolgung, -deportation, -gettoisierung diente nicht nur dem unmittelbaren Raube, sondern war Herrschaftsmittel, das die unterworfenen Völker spaltete, einschüchterte und dezimierte, dazu verhalf, ein Gefüge von ‚Herrenmenschen‘ und ‚Untermenschen‘ zu errichten. Mit dem Überfall auf die Sowjetunion schließlich beginnt eine Politik des systematischen Ausrottens, die in Hinsicht auf die Juden „Endlösung“ genannt wird, die aber auch immer mehr Völker des Ostens betraf. „Das System“, schlussfolgert Heise, „bedarf […] einer Sphäre willkürlicher Vernichtung als Herrschaftsinstrument.“ (1439)
11 Heise, O. T. (wie. Anm. 5), 14.
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4 Der Eichmann-Prozess als Zäsur der öffentlichen Auseinandersetzung? Die Berliner Historiker-Konferenz war ein Beispiel für den von vielen, auch von Karin Hartewig in Ost- und Westdeutschland beobachteten Verlauf, worin der Eichmann-Prozess eine Zäsur in der öffentlichen Auseinandersetzung mit dem Holocaust bildete, mit dem – um den problematischen Ausdruck ‚Holocaust‘ zu ersetzen – Völkermord, der Judenvernichtung als Staatspolitik (vgl. Hartewig 2000, 486).12 Doch zeigte sich dieser Wandel auch international, in den USA z. B. 1961 durch den endlichen Druck der schon früher entstandenen grundlegenden Arbeit The Destruction of the European Jews aus der Hand Raul Hilbergs. Von ihm sagte Hans Mommsen 2002: Als Hilberg daran ging, die Geschichte des Holocausts systematisch zu erforschen, arbeitete er in mehrerer Beziehung gegen den Strom. Zu Beginn der 50er Jahre neigten fast alle Überlebenden, auch die jüdischen Verbände in den USA, sowie die internationale historische Forschung dazu, die Erinnerung an den Holocaust herunterzuspielen, ja zu verdrängen. Dies erscheint in Anbetracht der inzwischen international entfalteten Holocaustforschung schwer begreiflich, doch herrschte noch in den 60er Jahren die Tendenz vor, die Massenmorde an den Juden in Forschung und Publizistik zu verschweigen.
Welch bedeutende Stelle der Eichmann-Prozess im Denken der DDR erhielt, zeigt schon das Äußere der Historiker-Tagung. Über 200 DDR-Wissenschaftler verschiedener Fächer waren die Teilnehmer, dazu kamen, „trotz kurzfristiger Einladung“ (Heitzer 1961, 1632), Gäste aus fünf Ländern, und die Tagung trug eine offizielle Note durch ein Präsidium, das mit dem für Wissenschaft und Kultur zuständigen Sekretär des ZK der SED, der Direktorin der Parteihochschule und dem Präsidenten der Akademie dem Geschehen vorsaß. Der Konferenzbericht betonte: „Es gab
12 Für die DDR galt nach Olaf Groehler (1992a, 41): Noch auf programmatischen Historiker-Konferenzen November 1957 und Dezember 1959 gab es keinen Beitrag mit dem Hauptthema NS-Antisemitismus oder Judenvernichtung, und es war eine zukünftige Auseinandersetzung mit diesem Gegenstand auch nicht vorgesehen. „Dies änderte sich [so heißt es dann mit einer Vokabel, die jedem Leser von Victor Klemperers LTI. Notizbuch eines Philologen (Berlin 1947) als Geschichtslosigkeit oder als Diffamierungsversuch erscheinen muss, D. S.] schlagartig, als Ben Gurion am 23. Mai 1960 vor der Knesset die Verhaftung Eichmanns bekannt gab.“ Der Beitrag – ähnlich, dabei gröber im Bestreben der Delegitimierung der DDR, Groehler 1992b – rief eine heftige Diskussion zur Frage nach dem DDR-Umgang mit Antisemitismus und Judenverfolgung hervor, vgl. Kuczynski 1992; Gossweiler 1992; Pätzold 1992; Groehler 1993. Auf Groehler stützt sich Gerber 2004. Eine Darstellung der Entwicklungen in der Bundesrepublik, die dem genannten Datum ebenfalls einen wichtigen Stellenwert gibt, findet sich bei Bieber 1972.
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verheißungsvolle Anfänge einer lebendigen Auseinandersetzung, z. B. über die Rolle des Antisemitismus.“ (Heitzer 1961, 1637) Sicher vergröbert die genannte These zu einer Zäsur den historischen Verlauf. Es lagen schon in der Bundesrepublik der fünfziger Jahre Bücher zum Thema vor, etwa von Hans Günther Adler (1955, 1958) zu Theresienstadt als erste von vielen Einzelstudien, Wolfgang Scheffler (1960) zur Judenverfolgung im Dritten Reich, Gerald Reitlinger (1956) zur ‚Endlösung‘ mit einer Publikation, die damals ein Standardwerk wurde – ganz zu schweigen von den Dokumentenbänden von Léon Poliakov und Joseph Wulf (1955). Schon früher hatte die Sammlung begonnen, die Gerhard Schoenberner zu seiner 1960 erscheinenden großartigen Bilddokumentation Der gelbe Stern (1960) führte und vorher im gleichen Jahr, zusammen mit Hanno Kremer, Ludwig Thürmer, Erik Nohara, zu der Exposition „Die Vergangenheit mahnt“ – als wie unerhört sie jedoch noch erschien, äußerte sich darin, dass vom Berliner Senat aus eine Bildtafel, die auf die Gegenwart von Tätern wies, vor Beginn der Ausstellung in der Kongresshalle übermalt wurde.13 Es fällt auf, und charakterisiert den Zustand der Geschichtswissenschaft, dass unter den Autoren solcher Arbeiten deutsche Historiker kaum zu finden waren. Und auch in der DDR gab es schon vor dem Eichmann-Prozess neue Zuwendungen zu dem Thema, so 1960 die Arbeit von Siegbert Kahn, die das Verhältnis der Arbeiterbewegung gegen Antisemitismus und Rassenhetze dokumentierte, Heinz Kühnrichs Der KZ-Staat, Martin Riesenburgers Dokumente aus der Nacht des Nazismus, oder, im März dieses Jahres, den mit Theodor Oberländer beschäftigten „Film der Beweise“ Mord in Lwow von Walter Heynowski. Silvia Schlenstedt berichtet über weitere Arbeiten in Literatur und Film.14 Sie lassen sich als wie immer spärliche und auch hier nur in wenigen Fällen von deutschen Historikern stammende Zeugnisse eines Neuanfangs sehen – nach den Schriften aus dem Jahr 1948 von Siegbert Kahn Antisemitismus und Rassenhetze und Stefan Heymann Marxismus und Rassenfrage, nach den noch tiefer in der Geschichte versunkenen Arbeiten von Sozialisten, den Untersuchungen Hans Günthers (1981) zum Charakter der nationalsozialistischen Ideologie von 1935, der Abhandlung Otto Hellers über den Untergang des Judentums (1931) und deren auf den Rassenantisemitismus der Nazis konzentrierter, ungedruckt bleibender Korrektur in Der Jude wird verbrannt. Studien zur Juden- und Rassenfrage (1939), oder den ebenfalls nicht gedruckten Untersuchungen Georg Lukács’ von 1941–1942 zu der Frage Wie ist Deutschland zum Zentrum der reaktionären Ideologie geworden? (1982).
13 Auskunft von Gerhard Schoenberner, dem ich wichtige Hinweise verdanke. Vgl. auch Schoenberner 1997; Nohara 1960. 14 Vgl. ihren Beitrag über Jüdische Chronik.
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Deutlich war so eine Pause weitreichenden Verstummens zu Ende gegangen, die von der Politik des Stalinismus, von seiner mit Verschwörungsphantasien operierenden Feindkonstruktion des sogenannten ‚Zionismus‘ mitbewirkt worden war. Es ist aber klar, dass sich seit dem Eichmann-Prozess die Arbeit an dem Gegenstand verstärkte. Einige Beispiele seien angeführt. In der Bundesrepublik erschienen allein 1961 Eichmanns gab es viele von Albert Wucher, Eichmann und die Komplizen von Robert M. W. Kempner, Eichmann, Chefbuchhalter des Todes von Siegfried Einstein. In der DDR äußerte sich der Wandel mit Schriften von Werner H. Krause (1960), Heinz Kühnrich (1961) und dem Ausschuß für Deutsche Einheit zu Eichmann und Globke (1960a, 1960b, 1961) oder auch mit dem wiederum von Heynowski gedrehten Film Aktion J, als nun gegen Globke gerichteten nächsten ‚Film der Beweise‘, zu dem Hanns Eisler die Musik schrieb. Wichtig wurden die Berichte vom Prozess gegen Eichmann und von weiteren Prozessen gegen KZ-Mörder, die Friedrich Karl Kaul in seinem Buch Der Fall Eichmann (1963) und Rudolf Hirsch in Artikeln für die Wochenpost und die Berliner-Zeitung zum ersten Auschwitz-Prozess 1965 vorlegten. Diese und weitere Berichte Hirschs von Strafprozessen gegen Nazitäter wurden 1965 in dem Buch Zeuge in Ost und West und später in Um die Endlösung (1982) publiziert.15 Es sind dies Arbeiten, deren Ausschnitthaftigkeit zunächst 1966 überholt wurde mit dem von Helmut Eschwege, nach Überwindung sich ihm entgegenstellender Widerstände (vgl. Eschwege 1991), herausgegebenen großen Buch Kennzeichen J. Bilder, Dokumente, Berichte zur Geschichte der Verbrechen des Hitlerfaschismus an den deutschen Juden 1933–1945 (1981).
5 Wolfgang Heises Kritik der ‚Rassentheorie‘ Wolfgang Heise setzte seine Arbeit zum Thema bald fort. Neue Akzente zeigen sich dabei, als er 1962–1963 in einer Vorlesungsfolge – die Teil war eines Kollegs zur Geschichte der neueren Philosophie – die ‚Rassentheorie‘ einer groß angelegten Kritik unterzog.16
15 Vgl. auch Angeklagter Nr. 6 1966. 16 Die Vorlesungen zur modernen bürgerlichen Philosophie. Thematische Darstellungen. Rassentheorie (Vorlesungsmanuskript, vermutlich 1962–1963. Seminar für Ästhetik der HumboldtUniversität zu Berlin, Wolfgang-Heise-Archiv, 1.3.2.1.1.3.3) sind nicht datiert, Hörer erinnern sich, dass Heise sie in den Jahren 1962 oder 1963 gehalten hat. Im Folgenden nachgewiesen als: Heise, Vorlesungen, mit Seitenzahl.
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Betont wird hier, dass man unter ‚Rassentheorie‘ nicht einfach eine Theorie über tatsächlich existierende Menschenrassen verstehen sollte – Heise fragt selbst nach der Möglichkeit, einen wissenschaftlich nachprüfbaren, historisch fundierten Rassenbegriff aufzubauen.17 Sie ist in der ihn interessierenden Ausprägung eine Elitetheorie, in der imperialistisch-aggressive Inhalte brutal hervortreten. Mit Hinsichten auf Henri de Boulainvilliers, Arthur de Gobineau, Houston Stewart Chamberlain und vielen anderen, im zwanzigsten Jahrhundert nicht zuletzt auf Hans Friedrich Karl Günther (den ‚Rassegünther‘, der mit seinem Biologismus, mit der auf den Sozialdarwinisten Otto Ammon gestützten, außen- und innenpolitisch gegen ‚Minderrassisches‘ orientierten Idee der „Wiedervernordung“ einer der hervorragenden Theorielieferanten der Nazis wurde, der aber in der Bundesrepublik munter weiter publizierte)‚18 wird ihre Geschichte skizziert und der wissenschaftlich unhaltbare Status des in der ideologisch zugerichteten Theorie gebrauchten Rassenbegriffs demonstriert. Heise nimmt die irrationalistische Art seiner Konstruktion in den Blick, die behauptet, es gebe ‚reine‘ Menschenrassen, sie seien mit eindeutigen körperlichen Merkmalen und auch mit einem konstanten seelischen Habitus ausgestattet, würden sich wertmäßig nach Herren- und Sklavenrassen in den inneren und äußeren Verhältnissen bestimmter Gesellschaften unterscheiden, machten mit ihren Kämpfen den eigentlichen Inhalt der Geschichte aus und bestimmten vor, wer mit seinem Sieg den Sinn der Naturordnung, so der Weltgeschichte erfüllt. Die ‚Rassentheorie‘ ist in Heises Problemaufriss nicht identisch mit der chauvinistischen Idee der Weltmission des deutschen Volkes, die auch andere Begründungen erfahren kann, und nicht identisch mit dem Antisemitismus, der historisch in religiösen Konzepten wurzelt, politisch zementierte ethnische Ausgrenzungen und ökonomisch fundierte Reaktionsformen umschließt. Ihre Amalgamierung war ein entscheidendes Moment der Nazi-Ideologie. Und für Heise war der antikapitalistische Stimmungen auffangende antidemokratische, dann
17 Heise, Vorlesungen (wie Anm. 16), 161–163, beruft sich in seiner Kritik am rassistischen Rassenbegriff auf die „mitschurinsche Biologie“, speziell auf das Konzept der Vererbung erworbener Eigenschaften. Man hat dabei zu beachten, dass Lyssenkos dogmatisierte wissenschaftliche Fehlinterpretationen dieses Konzepts erst seit 1962 eine konsequente und folgenreiche Kritik erfuhren. Die Berufung vereinfacht und verführt Heises Argumentation, leitet sie aber nicht von vornherein in die Irre, weil auch die seit 1953 sich entwickelnde Molekularbiologie mit komplizierteren Prozessen rechnet, als sie in der reinen Weitergabe dessen sich abspielen, was die ältere Genetik mit dem Ausdruck ‚Erbsubstanz‘ fassen wollte, und weil Heise beim Prozess der Vererbung die Wechselwirkung mit der Umwelt, so auch ihre Historizität und Gesellschaftlichkeit betonen will. 18 Heise, Vorlesungen (wie Anm. 16), 168, 170.
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antisozialistische Inhalt des Antisemitismus in Deutschland seit dem Anfang des neunzehnten Jahrhunderts wichtig: Friedrich Rühs, Johann Friedrich Fries, Hartwig von Hundt-Radowsky, die Kreuzzeitung, Adolf Stoecker, Eugen Dühring (der sich nach Engels’ Kritik auf den Antisemitismus warf), Ludwig Woltmann und andere bilden in seiner Betrachtung eine historische Kette, die zum Nationalsozialismus hinführt, in dem nun die Pseudowissenschaftlichkeit in Mythologie überführt wird. Wie hier sich eine militant kriegerische Aktivität mit dem fatalistischen Bewusstsein undurchdringlicher höherer, befehlender und aller Verantwortung enthebender Gewalten verbindet, wie Menschen entstehen, die zu Instrumenten der Gewalt gemacht werden und sich machen, die zugleich im Bewusstsein leben, mit den Befehlenden ‚rassisch‘ gleichen Rang zu haben und gegen mindere Rassen hemmungslos gewalttätig sein zu dürfen – das eben zeichnen die Vorlesungen mit scharfen Strichen. Und sie führen die Skizze soziologisch fort: Entsprechend dieser Struktur des intellektuellen und praktischen Verhaltens wirkt die antisemitische Propaganda vorwiegend hinsichtlich ihres Massenanhangs – in jenen Schichten, die von der Entwicklung des Kapitalismus zerrieben und zermahlen werden: im Kleinbürgertum, Mittelstand, Beamtenschaft, bei den Deklassierten aller Art, bei den Soldaten des ersten Weltkrieges, die nicht in den Friedenszustand finden konnten, schließlich bei relativ funktionslosen Schichten der herrschenden Klasse.19
Heise hält auch hier an der Dimitroff’schen Definition des Faschismus als terroristischer Diktatur der reaktionärsten Elemente des Kapitals fest, an der Auffassung, dass der Faschismus an der Macht nicht von der ‚Rassentheorie‘, vom Antisemitismus erzeugt wurde, er nach innen auf Terror gegenüber der Arbeiterklasse, Unterdrückung aller demokratischen Rechte und nach außen auf Aggression, das Neuaufteilen der Erde zielte.20 Wie Dimitroff auch schon richtet er jedoch zugleich ein Hauptaugenmerk auf die mit dem Nationalsozialismus sich verbindende Massenbewegung, die mit Leidenschaft und Disziplin für die Interessen derer kämpfen lässt, welche die eigene Notlage verschulden. Die sozialen und ökonomischen Prozesse in den zwanziger Jahren und nach 1930, die hier produzierte Not und Verzweiflung war, so Heise, Voraussetzung für die Stunde des Nationalsozialismus in Deutschland: „Er wurde politisches Sammelbecken von Deklassierten oder derjenigen, die sich von Deklassierung bedroht fühlten“‚21 er schien mit seiner sozialen Heilslehre, seinem revolutionären
19 Heise, Vorlesungen (wie Anm. 16), 175. 20 Heise, Vorlesungen (wie Anm. 16), 175. 21 Heise, Vorlesungen (wie Anm. 16), 176.
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Pathos, seinem Versprechen von sozialem Aufstieg, Verzweifelten Perspektive, Sinn, einen Ausweg zu weisen, und er benannte einen Schuldigen an allem Übel. Die Rassendemagogie war die Demagogie, die hier angewandt wurde und Erfolg hatte, sie vermittelte ein falsches Bewusstsein, ein irrationales, intellektuell ohnmächtiges, religiös-gläubiges Verhalten, die Möglichkeit, Knechtsbewusstsein und „Herrenbewußtsein gegenüber Juden und Slawen, gegenüber Negern und anderen“ zu verbinden und so ein im Interesse der Herrschenden liegendes praktisches Verhalten zu erzeugen.22 Hitler wurde dabei als der „erfolgreichste Spezialist dieser Demagogie“ charakterisiert.23 In ihren Nebeln erkennt Heise als letztes Wort der Weltvision die nackte Macht, als letztes Wort des sozialen Entwurfs die Sklaverei, als letztes Wort der Moral die Bestialität, die mitleidlose, rücksichtslose Herrschaft. Der Rückbezug auf die soziale Realität zeigt ihm, wie Hitler nicht nur den absoluten Unternehmerstandpunkt einnimmt, wie er zugleich die Masse als ‚Weib‘ verachtet, das sich nach dem über sie herrschenden Starken sehnt. Zynismus wird als Kehrseite der Elitetheorie ausgemacht und mit Auszügen aus Rauschnings Buch Gespräche mit Hitler (1940) belegt.24 Heises Kommentar: Und auch den Antisemitismus benutzte er ganz bewußt – sein ganzer kreischender Irrsinnstanz von der jüdisch-bolschewistischen Weltverschwörung war künstliche Selbsterregung eines Hysterikers, der zugleich eiskalter Zyniker war, der kein Wort seiner Schreierei glaubte.25
Insgesamt demonstrierte die Kollegreihe die ‚Rassentheorie‘ als eine Vielfalt zweier Seiten in einem: als Kampfideologie und Ersatzreligion, als Elitetheorie und Massendemagogie, als Produkt zielsicherer Reflexion und irrationales Produkt der Verhältnisse. In diesem Gemenge kamen die religiösen Züge der nationalsozialistischen Weltanschauung Heise zufolge gerade in der antisemitischen Gestalt der Rassentheorie zum Vorschein: ‚Der Jude‘ erscheint in den Gegensätzen von Heil und Unheil, von arischer Lichtgestalt und mystischem Gegenbild, als die Inkarnation des Bösen, seine Ausrottung als ein Heil. Sich daran zu beteiligen oder zu tolerieren gehörte zu dem emotionalen und praktischen Verhalten, das dieser Ideologie entsprach, zu der Verbindung von Herrenillusion und Unterwürfigkeit, Glauben und Gehorsam, Gemeinschaftsphantasie und Hierarchiehörig-
22 Heise, Vorlesungen (wie Anm. 16), 177. 23 Heise, Vorlesungen (wie Anm. 16), 178. 24 Die Authentizität von Rauschnings oft zitierten Notizen wurde seit 1983–1984 stark bezweifelt. Sie sind bis heute umstritten. 25 Heise, Vorlesungen (wie Anm. 16), 183.
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keit, Arroganz und Ohnmacht, zu einem Habitus, einem Führer als Propheten der Offenbarung zu vertrauen und sich von Schauder und Faszination bestimmen zu lassen. Wer Ideologiegeschichte der DDR jenseits der heute üblichen Klischees betreiben will, fände, denke ich, in den Arbeiten Wolfgang Heises ein aufschlussreiches Material. Und das gilt auch für die Fortsetzung seiner Analysen zu Antisemitismus und ‚Rassentheorie‘, die sich im Kontext der Kritik der bürgerlichen Philosophie in Deutschland, in seinem Buch Aufbruch in die Illusion (1964) finden. „Der weiteste, umfassendste und zugleich konzeptionell unmittelbar verbindliche Gedanke“, heißt es nun in Heises Charakterbild des Hitlerfaschismus, lag im Rassismus, der das Herrenmenschentum als naturgegebenes Sklavenhaltertum und Rassenqualität suggerierte, daraus die innere Diktatur und Gleichschaltung als Durchsetzung der Konformität der Arteigenheit, die Einübung des Terrors und zugleich Einschüchterung und Demoralisierung über den praktizierten Antisemitismus vermittelte. Zugleich verlieh der Rassismus der imperialistischen Expansion den schicksals- wie naturbestimmten Anstrich der Erfüllung der Herrenmission gegenüber Sklavenvölkern. (Heise 1964, 320)
Die im Dritten Reich wirksam werdende soziale Demagogie eines Pseudosozialismus und des pseudorevolutionären Aktivismus, so wird weiter gesagt, erhielt ihre Stoßkraft durch die Verbindung mit der Rassentheorie und dem Antisemitismus […]. Denn diese beiden legitimierten die innere und äußere Gewaltanwendung, sie proklamierten in den sozialdarwinistischen Formeln das Recht der Gewalt, das Recht der Versklavung und Ausrottung ganzer Völker. (320)
Der Stellenwert, den Heise dem Antisemitismus im Ganzen der nationalsozialistischen Ideologie jetzt zumaß, war in den wenigen Jahren seit 1961 entschieden verändert. Er sah ihn nun im Zentrum einer „Weltanschauung“, die auf „mythisch-magische Weise“ (323) den in Demokratie, Plutokratie, Bolschewismus gesichteten Feind als teuflisch-jüdische Gegenrasse synthetisierte und in der aggressiven Abgrenzung eine Gemeinschaftsbindung anstrebte, welche durch Gleichschaltung eine Konformität der Arteigenheit zu bilden vorgab und durch all das religiöse Züge erhielt. Heise hielt fest an der funktionalen Bestimmung der Naziideologie, wenn er sie weiter im Komplott mit den reaktionärsten und aggressivsten Teilen der Monopolbourgeoisie sah. Weder die ideengeschichtliche Herleitung ihrer Theoreme noch ihre sozialpsychologische Ableitung reichten ihm zu ihrer Erklärung. Worauf er die Aufmerksamkeit lenkte, war ihr Funktionieren in der Entwicklung des gesellschaftlichen Gesamtprozesses. Es schien ihm weniger wichtig, „was dieser oder jener Ideologe“ (327) sich von den Parolen erhoffte, was die „unmittelbaren Trägerschichten“ (329) mit dem einen oder anderen Modul der nationalso-
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zialistischen Gedankenwelt verbanden – Intentionen interessierten ihn nur am Rande. Er warb dafür zu prüfen, in wessen Interessen das reale Wirksamwerden der Ideen objektiv und letztlich lag, auch über die Köpfe der Subjekte hinweg, die da agierten, in einem „Zusammenhang, der unabhängig vom subjektiven Bewußtsein der hitlerfaschistischen Akteure bestand und sich durchsetzte“ (331). Doch differenzierte der Philosoph nun die Durchführung seines Ansatzes dadurch, dass er sozialpsychologische Anregungen intensiver aufnahm und wie in den Vorlesungen die ideengeschichtlichen Überlegungen mit hervorgehobenem Interesse in religionsphilosophische und -psychologische Bereiche führte. Angeführt wird auf der einen Seite z. B. wieder die Untersuchung von Eva Reichmann (1956), ihr Versuch, Wesen und Funktion der NS-Weltanschauung mit Faktoren wie Triebbefreiung und Gewissensberuhigung, regressiven Bedürfnissen nach Ruhe, Verantwortungslosigkeit und Autorität, Rehabilitierung von Hass und Überlegenheitsgefühlen zu charakterisieren. Bestätigt Heise, dass „hinsichtlich der psychologischen Mechanismen hier vieles richtig beschrieben wurde“ (Heise 1964, 326), denkt er zugleich, dass diese Analyse an der Oberfläche bleibt, weil sie subjektiviert, innerhalb der Sphäre der Gefühle, Reaktionen und Meinungen verharrt – auch wenn die ‚Massen‘, von denen dabei die Rede ist, sozial eingegrenzt, die finanzielle Unterstützung der Nazis durch die Schwerindustrie und die Entwertung aller traditionellen Werte durch den Konkurrenzkampf eingerechnet werden. Ähnlich differenziert gestaltet sich das Urteil zu der sozialpsychologischen Argumentation von Christian Graf von Krockow. Danach empfänden sich bestimmte soziale Schichten im Zeitalter einer stürmischen Industrialisierung bedrängt, ja „zwischen Kapitalismus und seinem feindlichen Bruder, dem Sozialismus“ (329) in der Gefahr der Vernichtung – die Agrarbevölkerung, das Mittel- und Kleinbürgertum, die Beamtenschaft, Gruppen der Gebildeten, der evangelischen Landeskirchen. Unerwarteter Weise hätten die sich nun zu „einer Konterrevolution der Ungleichheit“ zusammengefunden und sich dabei der Nazidemagogie geöffnet (Krockow 1964, 166–167, 182). Die Beschreibung, meint Heise, gibt sozialpsychologische Aspekte richtig wieder, und sie ist den vorfindbaren Versuchen überlegen, die Nazigeschichte aus der Dämonie Hitlers oder dem Abfall von Gott zu erklären. Seine Betrachtung ist hier auf die Massenbasis des Nationalsozialismus gerichtet, in einer Orientierung, die man der marxistischen Sichtweise immer wieder absprach – indem man der, mit verabsolutiertem Bezug auf deren dogmatischen Repräsentanten, allein die Dimitroff’sche Definition des Faschismus von 1935 zumaß, die monokausale Ableitung dieser Gesellschaftsform als terroristische Diktatur der reaktionärsten Elemente des Finanzkapitals. Heise urteilt vielschichtiger, er schreibt z. B. – und er kann sich dabei auf Johannes R. Becher (1946, 97) berufen –, dass die Naziideologie ihre eigentliche Wirksamkeit dadurch erreichte, dass sie, so auch der Antisemitismus, materielle Vorteile versprach und
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breiten Schichten auch gewährte, den Raffke- und Raubtierinstinkten der dem System voll angepassten, instrumentalisierten Menschen entgegenkam, die den Untergrund der Oberflächenzivilisation bilden und unter bestimmten Bedingungen nach staatlicher Norm bestialisch ausbrechen können. „Es wäre Aufgabe einer differenzierten Soziologie und Sozialpsychologie“, schreibt Heise im Blick auf weitere Elemente der Nazi-Ideologie, „die spezifische Funktion der nationalen Bindung in Ideologie und Praxis der verschiedenen […] Klassen und Schichten zu bestimmen, aus welchen in der Regel die Massenbasis chauvinistischer Politik gebildet wurde und wird.“ (Heise 1964, 294) Auf der anderen Seite gilt Heises Kritik der nach 1945 in Kreisen der christlichen Parteien produzierten Ansicht, die Ideologie des Hitlerfaschismus sei materialistisch und atheistisch gewesen. Er bringt eine Vielzahl von Äußerungen aus den Zirkeln der Nazigrößen oder auch von Theologen bei, die das Gegenteil, dabei auch den ausdrücklichen Kampf gegen Materialismus und Atheismus zeigen. Vor allem aber führt er vor, dass in der Buntscheckigkeit der nationalsozialistischen Weltanschauung Gemeinsamkeiten hervortreten: ein idealistischer Mystizismus; ein emotionales, in phantastische Vorstellungen entschwebendes Verhalten; vielfältige, auch als Schicksal oder Vorsehung auftretende Gottgestalten; der ins Religiöse gesteigerte, blinde Bindung, gläubigen Gehorsam, irrationale Heils-, Erlösungs- und Wundererwartung einschließende Führerkult – solcherart eine Dekonstruktion der Religion, gebildet aus Zersetzungsmomenten traditioneller Religionen. Und eng verbunden damit sieht Heise die „kultischen Formen – vom Gruß bis zur Weihe der Blutfahne, von der Bildung von Eliteorden zum Märtyrerkult, von Todessymbolik und magischer Weihe zu Ahnenromantik und Kreuzritterpathos“ (289). „Die offizielle Ideologie des Hitlerfaschismus“, heißt es zusammenfassend, trägt einen „Charakter des Kirchenersatzes“ (287). Und zu ihren religiösen Zügen gehört danach auch das von ihr entworfene Bild der „Rasse“ und des „Juden“; Heise notiert: In dieser Ideologie wird die unmittelbar gesellschaftliche Bindung mystifiziert als ‚Erscheinung‘ und Gestaltung der im Blute sich äußernden, sprechenden und wirkenden Rasse. In grotesker Verkehrung und Verfälschung erscheint der gesellschaftliche Antagonismus als Gegensatz von arisch-heldischer Edelrasse und ‚dem Juden‘ als Gegenrasse, als teuflische Ursache allen Übels, als Gegensatz von Erwählten und zu Vernichtenden, von Böse und Gut, und zwar in bildhaft-mythologisierter Gestalt, die zugleich in völlig entgegengesetzten Erscheinungen (Finanzkapital und Kommunismus) sich betätige. (288)
Oder er sagt in psychologischer Wendung: die Kombination eines wunderartigen Umschlags von Not in Heil mit der blind-emotionalen Gefolgschaftsbindung und dem gläubigen Vertrauen in den Führer und seine Begnadung,
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von phantastischem Glauben an die gnadenhafte eigene Rassenkraft mit blinder Unterordnung und Wundergläubigkeit verleiht dieser Ideologie mit dem Mythos von arischer Heilsrasse und teuflisch-jüdischer Gegenrasse religiöse Züge. (320)
6 Die Konkret-Debatte 1992–1993 Beinahe dreißig Jahre später hat Kurt Pätzold in der polemischen Diskussion das Wort ergriffen, die nach Olaf Groehlers Vorwürfen gegen die Unzulänglichkeiten der DDR-Geschichtsschreibung gegenüber der nationalsozialistischen Judenverfolgung und Judenvernichtung entbrannte.26 Er hat darauf verwiesen, dass sich diese Geschichtsschreibung vor allem auf zwei Komplexe des in Wahrheit unendlichen Themas richtete. Zum einen hatte sie einen Betrachtungsschwerpunkt in der Funktion des Antisemitismus der 1930er und 1940er Jahre, es ging ihr um das Geflecht der Beziehungen von Theorie und Praxis des Antisemitismus mit den Interessen der großen Kapitalgesellschaften, um die Rolle der großen Bourgeoisie auf den verschiedenen Stufen der Judenverfolgung – und dies umso mehr und gründlicher, als westdeutsche Historiker, anders interessengebunden, hierauf nicht achten, ja sogar solche Orientierung als irreführend disqualifizieren wollten. Und zum anderen konzentrierte sie sich auf die verbrecherischen Folgen des Antisemitismus während der Kriegsjahre, und dabei darauf, dass auch Menschen „in Feldgrau und Zivil, vor Ort und an Schreibtischen an der ‚Endlösung der Judenfrage‘ beteiligt waren“ (Pätzold 1992, 54). Auch dies war lange Zeit ein vernachlässigtes Feld der westdeutschen Öffentlichkeit. Zu den osmotischen Prozessen, die Simone Barck (2003, 11) im Verhältnis zwischen BRD und DDR beobachtete, gehörten auch die wechselseitig verschiedenen Wahrnehmungen und Verarbeitungen der jeweiligen Argumentationen zur fortdauernden Bewältigung des Faschismus, zum Umgang mit Institutionen und Personen, die für das nationalsozialistische Terror- und Kriegssystem tätig waren, gehörten nicht zuletzt die gegenseitigen Schuldzuweisungen mit dem sehr wohl gleichartigen Verfahren, das Böse jeweils nach außen zu verlagern und im anderen zu sehen, das Fortleben von Faschismus in den personalen und institutionellen Kontinuitäten in der Bundesrepublik oder in den strukturellen Affinitäten in der DDR zu einem totalitären Staatsaufbau. Pätzold hat zur Geschichtsarbeit im ostdeutschen Staat kritisch, selbstkritisch und mit Hinblick auf die politischen Beweggründe angemerkt,
26 Siehe die Angaben zu der Konkret-Debatte 1992–1993 in Anm. 12.
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daß es die Historiker in der DDR nicht zu einer Studie brachten, die gezeigt hätte, wie Millionen von Menschen gegen die Juden eingenommen wurden, sich gegen sie aufhetzen ließen oder sich – was für die Volksmehrheit gilt – gleichgültig und teilnahmslos verhielten, aus Gedankenlosigkeit und/oder Seelenträgheit oder weil sie es ‚mindestens‘ zu einem Teil für berechtigt ansahen. (Pätzold 1992, 54)
Dass sich nur wenige Wissenschaftler mit der „Struktur, Geschichte und Vorgeschichte der Nazi-Ideologie und ihres antisemitischen Wesenskerns befaßten“, mit Untersuchungen also, die zur Erhellung der antisemitischen Mentalitätsdüsternis bei den vielen hätten beitragen können, wird dabei ebenso in Erinnerung gebracht wie die doch vorfindbaren anderen Versuche zu Studien dieser Art. „Die gründlichste frühe Analyse“, heißt es dann, „ist dem Philosophen Wolfgang Heise zu danken, der in seinem Buch ‚Aufbruch in die Illusion‘ […] die Beziehung des Antisemitismus und der Rassentheorie untersuchte und – ganz im Sinne von Heymann/Kahn – schrieb: ‚Die Proklamierung der germanisch-arischen Rassenherrschaft im Verein mit der Praxis des Antisemitismus war – auf der Grundlage des Terrors gegen alle antifaschistischen Kräfte – das entscheidende ideologischpolitische Einschüchterungs-, Korrumpierungs- und Bestialisierungsmittel‘ ([Heise 1964] S. 323).“ (Pätzold 1992, 54)
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Kindheit und Jugend im Exil in den besetzten Niederlanden Zu Jakov Linds Selbstporträt Jakov Linds Thema war, wie er nach seiner LSD-Therapie erkannte, „der Krieg, mein Krieg, die Bedeutung, die er für mich persönlich hatte“ (Lind 1997a, 126), das heißt die Judenvernichtung. „Schrieb ich über den Krieg“, heißt es weiter im dritten Band seiner Autobiographie, „mußte ich über die Juden und die Österreicher oder die Juden und die Deutschen schreiben.“ (131) Sein erster Versuch, sich literarisch des Themas zu bemächtigen, war der Erzählungsband Eine Seele aus Holz, der 1962 mit großem Erfolg im Luchterhand Verlag erschien. Er gehörte zu den meistbesprochenen Neuerscheinungen des Jahres, wurde sehr bald in mehr als zehn Sprachen übersetzt, die Kurzgeschichte Reise durch die Nacht fand Eingang in verbreitete Anthologien1 und Lesebücher, Lind las bei der Gruppe 47, wobei er um den Preis der Gruppe erst in der Endentscheidung gegen Peter Bichsel unterlag. Zwar wird von der Kritik seine Sprache bemängelt, nach dem Rotstift gerufen, doch sind die Besprechungen im Allgemeinen sehr wohlwollend. Allerdings hatten die Rezensenten nicht wirklich erkannt oder erkennen wollen, worauf es Lind ankam, sondern konzentrierten sich auf die Biographie des Autors, der als „Exzentriker“, „Berufs-Chaotiker“, „Vagabund“, „Schelm“, „Nomade“ usw. gehandelt wurde.2 Lind erleichterte den Rezensenten den Ausweg aus der Geschichte in die Biographie, indem er sich selber als Außenseiter zu präsentieren pflegte, „als Ausländer, der obendrein Jude ist“ (Lind 1964, 101).
1 Deutsch-österreichisch-jüdische Bilanz 1963 erschien Landschaft in Beton, ein immer noch unterschätzter Roman um einen deutschen Soldaten mit Gehorsamsneurose, vor dem die westdeutsche und österreichische Kritik mit wenigen Ausnahmen weitgehend versagte. So schreibt etwa Reinhard Baumgart in der Zeit: „Unsägliches geschieht nun in notdürftigem
1 Z. B. Wagenbach 1968; Reich-Ranicki 1972. 2 Vgl. Seeber 2003, 336. Dem Artikel von Ursula Seeber sind auch die folgenden Zitate zur Rezeption von Linds Werken in der westdeutschen und österreichischen Presse entnommen. http://doi.org.de/10.1515/9783050093932-009
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Deutsch. Was uns von jetzt ab zur Lektüre vorgeworfen wird, sind Abfälle einer Phantasie, die sich offenbar für reich hält oder gar gefährlich, obwohl sie nur noch leer- und heißläuft“ (Baumgart 1963), und Hans Magnus Enzensberger‚ der ebenfalls nicht erkannt hat, dass es darin um Judentum und Nationalsozialismus ging, charakterisiert den Roman im Spiegel als „blutige[n] und banale[n] Grießbrei“ (Enzensberger 1963). Linds zweiter, im Wien der Nachkriegszeit spielender Roman, Eine bessere Welt, der 1966 herauskam, wurde dann praktisch von allen verrissen, mit ganz wenigen Ausnahmen wie Franz Schonauer (1966), Linds Lektor im Luchterhand Verlag. Selbst Günter Blöcker (1967), an sich Lind-Fan, kam damit nicht zurecht. In Österreich wurde, dem Selbstverständnis des Landes als erstem Hitler-Opfer gemäß, vom Nationalsozialismus noch weniger gesprochen als in der Bundesrepublik. So fand selbst ein aufgeschlossener Kritiker wie Otto Breicha, dass in der im besetzten Holland spielenden Erzählung Auferstehung aus Eine Seele aus Holz, Lind „den Gegensatz von Christen- und Judentum in den versöhnten Ausklang gemeinsamer Hinopferung löst“ (Breicha 1963). In Wirklichkeit handelt es sich um eine sarkastische Erzählung, in der sich zwei Juden, von denen der eine getauft ist, in einem winzigen Wandverschlag versteckt, vor ihrem Abtransport ins Transitlager Westerbork und nach Auschwitz, über ihre ‚Zukunftsperspektiven‘ unterhalten.
2 Selbstporträt Lind bezeichnete 1975 die drei Prosawerke als „eine Rechentafel mit der deutschjüdischen Bilanz“, nur habe „das Ende der Geschichte den Leuten nicht so gut wie der Anfang gefallen“ (Seeber 2003, 341). Die antisemitische Rede vom Judenproblem umkehrend, schreibt er, Eine Seele aus Holz befasse sich mit seinem österreichischen, Landschaft in Beton mit seinem deutschen Problem (vgl. Lind 1997a, 167). Von diesen Problemen und ihren Folgen handelt auch Selbstporträt, der erste Band seiner Autobiographie, der 1969 unter dem Titel Counting my steps auf Englisch und ein Jahr später, in der Übersetzung von Günther Danehl, auf Deutsch erschien (Lind 1970). Es handelt sich um das erste auf Englisch verfasste Prosabuch des Autors, der seit 1954 im Exil in London lebte.3 In der Vorbemerkung führt der Autor an, er habe das Buch nicht auf Deutsch schreiben können, da er Distanz zum Thema gebraucht habe, doch hängt der Sprachwechsel auch damit
3 Ein Theaterstück, Die Heiden, hatte Lind bereits in den 1950er Jahren auf Englisch geschrieben. Es wurde 1964 in der Übersetzung Erich Frieds in Braunschweig uraufgeführt (Lind 1965).
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zusammen, dass seine grotesk-surreale Prosa über den Nationalsozialismus in der englischsprachigen Welt sehr viel erfolgreicher war als im deutschen Sprachraum (vgl. Hassler 2001, 137–157). Sogar eine dramatisierte Fassung von Eine bessere Welt wurde 1968 unter dem Titel Ergo in New York mit großem Erfolg aufgeführt. Die deutschsprachige Erstaufführung fand erst 1997 im Wiener Volkstheater statt, im selben Jahr, in dem Linds dreibändige Autobiographie im Wiener Picus-Verlag neu aufgelegt wurde. Außerdem fühlte sich Lind in der deutschen Sprache seit langem nicht mehr zu Hause; er habe sie verabscheut, er habe sie nicht mehr hören wollen, schreibt er gegen Ende von Selbstporträt (Lind 1970, 213). Nach den zum Teil fürchterlichen Verrissen seiner beiden Romane wurde Selbstporträt insgesamt wohlwollend aufgenommen, zum Teil von denselben Kritikern, sei es auch nur, weil Lind hier, der Gattung der Autobiographie entsprechend, den grotesk übertreibenden Stil und die deformierte, ‚wilde‘ Sprache seiner fiktionalen Arbeiten zugunsten einer konventionelleren Ausdrucksweise aufgegeben hat. Reich-Ranicki ging dabei so weit zu schreiben, damit sei „der heimliche Wunsch jener in Erfüllung [gegangen], die seine Prosa lesen wollten, ohne sein Deutsch in Kauf nehmen zu müssen“ (Reich-Ranicki 1993, 174). Ein anonymer Kritiker im Spiegel, der die Darstellung des Wahnsinns in Linds Prosa mit dem Wahnsinn des Autors gleichgesetzt hat (9. November 1970), schreibt, Lind, der in den Romanen „wahrhaftig nicht ganz bei Troste“ gewesen sei, habe erfreulicherweise „in seiner Autobiographie seinen Verstand wieder gefunden“. Mehrfach wurde das Buch als sein bestes, als sein entscheidendes bezeichnet, wobei das Unbehagen, das die früheren radikalen Erzählungen und Romane bei den Rezensenten ausgelöst hatten, deutlich durchscheint. Besonders positiv vermerkt wurden neben der „Faktizität“ (Blöcker 1973) der Geschichte seines Überlebens unter falscher Identität die „wohltuende Selbstironie“ (Leiser 1970), eine Darstellung, die auch den Autor selber nicht schone, die nicht aus der Perspektive des Opfers, sondern aus einer Art Schelmenperspektive verfasst sei, wobei, nebenbei gesagt, der Schelmenroman (wie schon in der Beurteilung von Landschaft in Beton) zuweilen als humoristischer Roman missverstanden wurde. Wenn auch in den Rezensionen von Selbstporträt Anfang der siebziger Jahre der Nationalsozialismus eher beim Namen genannt wird als in den Besprechungen der Prosa in den frühen 1960er Jahren, so werden doch vor allem die Züge des Romans geschätzt, die die deutschen Leser zu entlasten scheinen. Zu Recht interessieren sich die Rezensenten für die Identitätsprobleme eines jungen Wiener Juden, der als Holländer in Nazi-Deutschland arbeitet und lebt. Zu Recht auch insistieren sie auf dem Hass als Triebkraft seines Handelns, aber es ist bezeichnenderweise mehr von seinem Selbsthass und dem zeitweiligen Hass auf die in ihr Schicksal ergebenen, dem Tod geweihten Juden die Rede als von seinem Hass auf die Deutschen, dem er letztlich sein Überleben verdankt. Von wesentlichen Themen des Buchs
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wie dem Antisemitismus, den Zuständen im besetzten Holland, dem Zionismus als unverzichtbarem Rettungsanker für den für den Tod bestimmten und in seiner Identität bedrohten Jugendlichen hingegen ist kaum die Rede. Wie Edward Timms (2001, 87) feststellt, beabsichtigt Linds Autobiographie nicht, eine ausgewogene Darstellung seiner persönlichen Entwicklung und seines Familienlebens zu geben, sondern ist, wie jede Autobiographie, notwendig subjektiv und daher selektiv, durch Auslassungen, Pointierungen, Stilisierungen geprägt, die vor allem dem einen Zweck dienen, den jungen Heinz Landwirth4 als entschlossenen, individualistischen, ja zuweilen zynischen Einzelkämpfer zu beschreiben, dem es gelang, die Nazis zu überlisten. Die Auswahl der Erlebnisse wird durch den über 40-jährigen Autor in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre getroffen, was bedeutet, dass diese Autobiographie ebenso viel mit dem Autor zur Zeit der Niederschrift wie mit dem Jugendlichen zu tun hat, dessen Erlebnisse sie erzählt. So sind etwa die völlige Verdrängung des Trennungstraumas von Familie, Kindheitsheimat und Muttersprache5 oder der lakonische, häufig sarkastische Ton, dessen der jugendliche Held sich befleißigt und von dem wir in der Folge einige Beispiele geben werden, eher der distanzierten Haltung des erwachsenen Autors als dem Bewusstseinsstand des kindlich-jugendlichen Protagonisten dieser Erzählung zuzuschreiben. Derselbe Sprachduktus charakterisierte bereits die vorhergehenden Erzählungen und Romane Linds, der diesbezüglich gegen Ende von Selbstporträt ausführt: „Zunächst mußte ich ein Meer von Tränen für das Unwiederbringliche vergießen […], ehe ich mir die Augen wischen und meine jüngste Vergangenheit mit dem gebotenen Sarkasmus schildern konnte.“ (Lind 1970, 210–211) Selbstporträt besteht aus drei Teilen: im ersten, Schule für Metaphysik, ist von Linds Kindheit in Wien bis zu seiner Flucht mit elf Jahren im Dezember 1938 nach Holland die Rede; im zweiten, längeren Teil, Schule für Politik, berichtet Lind über die verschiedenen Etappen seines Exils in Holland vor und nach dem Einmarsch der deutschen Truppen im Mai 1940 sowie über seinen Entschluss, sich dem Zwangsarbeitseinsatz zu entziehen und sich, unter falschem Namen, als holländischer Matrose nach Deutschland zu begeben. Am 2. November 1943, mit sechzehn Jahren, überquerte er die holländisch-deutsche Grenze. Als die Rheinschifffahrt zu gefährlich wurde, fand er sogar eine Anstellung als Laufbursche in einer Abteilung des Reichsluftfahrtministeriums in Dillenburg und Berlin. Sein Aufenthalt „im Rachen des Ungeheuers“ (113) bildet sicher den eindrucksvollsten Abschnitt der Erzählung seines Exils und zu Recht schreibt Lind später: „Meine persönliche
4 Seele aus Holz war die erste Buchveröffentlichung, die unter dem Schriftstellernamen Jakov Lind erschien. 5 Vgl. Steinitz 2013, 20–62.
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Geschichte – wie ich Hitler in Deutschland überlebt hatte – war einmalig.“ (Lind 1997a, 179) Der dritte, kürzeste Teil heißt Schule für Alchimie und handelt von den fünf Jahren, die Lind nach Kriegsende in Israel verbrachte, wohin er ebenso illegal wie zuvor nach Deutschland eingereist war.
3 Von Wien nach Holland Seine Kindheit hat der Erzähler in einem Wiener Gemeindebau verbracht. Seine fürsorgliche, zionistisch eingestellte Mutter hat ihn im Bewusstsein erzogen, sie seien etwas Besseres, doch fällt es dem Kind schwer, diese Behauptung in der Alltagsrealität zu verifizieren. Dennoch hat ihn, wie er mehrmals anmerkt, das Gefühl, etwas Besonderes zu sein, sein ganzes Leben lang begleitet und ihm in schwierigen Situationen geholfen. Seinem untüchtigen Vater, einem „Luftmenschen“, gilt seine Zuneigung, von ihm, einem „echten Österreicher“ (Lind 1970, 31), habe er die Liebe zur österreichischen Landschaft geerbt. Man denkt dabei an Jean Améry, der wie Lind seine österreichischen Zeitgenossen hassen lernte, aber von der österreichischen Landschaft nicht loskam. Das Heimweh des jungen Jakov nach Wien ist immer wieder, etwa in den Passagen mit Anton, dem Wiener in deutscher Uniform, spürbar: „Namen wie Stephansdom, Prater, Kahlenberg, Kärntnerstraße und Wachau konnten wir beide nur unter Seufzern aussprechen“ (108). Nach seinem Israel-Aufenthalt lebte er tatsächlich erneut über drei Jahre in Wien, bevor ihn das Erlebnis des allzu gegenwärtigen Antisemitismus von dort erneut ins Exil trieb, worüber er im zweiten Band seiner Autobiographie berichtet (Lind 1973). Was Deutschland angeht, antwortete er 1964 Hermann Kesten auf die Frage, warum er nicht in der Bundesrepublik lebe, knapp und deutlich: „Weil ich nicht muss.“ (Lind 1964, 101) Der Antisemitismus der Wiener, auf den er nicht im Einzelnen eingeht, sondern den er wohl als bekannt voraussetzt, weckte schon in dem kleinen Buben den Wunsch nach Widerstand: „Wie haben wir die Armut, die Demütigungen und den Antisemitismus von Nachbarn und Mitschülern überlebt?“ fragt sich der nun 43-jährige Autor und fährt fort: „Manchmal sah ich uns als Märtyrer in der Kanalisation eines Ghettos, in dem wir nicht wohnten, Widerstand bis zum letzten leisten“ (Lind 1970, 25). Mit dem von vielen bejubelten Einmarsch der Deutschen am 13. März 1938 begann „der Krieg gegen die Juden“, schreibt Lind, „[a]m Samstag war ganz Wien ein riesiges Hakenkreuz“ (51). Das Kind musste verstehen lernen, dass ein Jude kein Österreicher mehr war, sondern „eine Hyäne, ein Schwein, ein Schweinehund, ein Hund, ein Untermensch, ein Verbrecher, Lügner, Ungeheuer“ (51). In keiner der relativ zahlreichen Besprechungen in der österreichischen
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Presse werden diese literarischen Umsetzungen der Wiener Kindheitseindrücke Linds erwähnt. In Holland, wohin Lind im Dezember 1938 mit einem Kindertransport gelangte‚6 war der von Pubertätsproblemen geplagte Bub bis zum Einmarsch der Deutschen über Vermittlung des jüdischen Flüchtlingskomitees in wohlhabenden jüdischen Häusern untergebracht, danach, Anfang 1941, auf einer zionistischen Jugendfarm in Gouda, in einer von einem Widerstandskämpfer betriebenen Gärtnerei und schließlich, gegen Bezahlung, bei ärmeren jüdischen Familien. „Nun ging’s los“, kommentiert Lind lakonisch den Beginn der deutschen Besatzung (68). Anders als die holländischen Juden, die verzweifelt versuchten, die Deutschen einschließlich Himmler in günstigem Licht zu sehen, machte sich der jugendliche Erzähler, der bereits den Einmarsch in Wien erlebt hatte, keine Illusionen. Angesichts der abwartenden Reaktion der jüdischen Bevölkerung wusste er, dass er sich „von nun an […] um [s]ich selbst zu kümmern“ hatte (68). Jugendliche Rebellion und mutige politische Entscheidung gehen Hand in Hand. Das meiste von dem, was Lind in der Folge erzählt, die wesentlichen antisemitischen Maßnahmen, die Transporte ins Durchgangslager Westerbork, „Raststation auf dem Weg zum Ende“ (Lind 1984, 196), die Zwangsarbeitertransporte nach Deutschland, die Bombardierungen der Städte, das Auf und Ab der Hoffnungen der Juden je nach Kriegsverlauf kennt der Leser aus dem Tagebuch der Anne Frank, die im Übrigen etwa gleich alt war wie Lind damals. Doch ist das, was der Text dem Leser bietet, etwas ganz anderes. Linds Autobiographie ist kunstvoll aufgebaut aus sehr plastischen, zuweilen erschütternden, zuweilen komischen, manchmal ans Groteske grenzenden, geschickt ausgewählten Episoden, die die persönlichen Erfahrungen des späteren Autors sehr konkret mit den allgemeinen gesellschaftlichen Erfahrungen und den geschichtlichen Ereignissen verbinden. Wenn er auch, wie die Rezensenten erleichtert feststellten, sich nun einer konventionellen Sprache und Syntax bediente, so hat er weitgehend den aggressiven Ton aus seinen fiktionalen Texten beibehalten. Linds kalte Ironie und sein manchmal fast unerträglicher Sarkasmus verstören die Leser und vergegenwärtigen das Erzählte auf beklemmende Weise. Vor allem die Erinnerungen an die Deportationen sind von zum Teil schmerzlicher Ironie durch-
6 „Im Dezember 1938 ging ein Zug nach Hoek van Holland ab“, heißt es in Selbstporträt (Lind 1970, 54). In seinem Bemühen, sich als Einzelkämpfer zu stilisieren, unterschlägt der Protagonist die Tatsache, dass er mit einem Kindertransport in Gesellschaft von zwei seiner Schwestern nach Holland kam, was er erst über zwanzig Jahre später in Crossing offenlegte (vgl. Lind 1997a, 30). Desgleichen verschwieg er z. B., dass alle seine 27 Kameraden aus der zionistischen Erziehungsfarm bereits vor ihm untergetaucht waren (vgl. Houwink ten Cate 2001, 36).
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zogen. Dazu einige wenige Beispiele. Der vierzehn-, fünfzehnjährige Bub, auch in Holland Mitglied eines zionistischen Jugendverbands, begann die assimilierten bürgerlichen Juden zu hassen, weil sie sich, so empfand er es, freiwillig auf den Weg in den Tod begaben, auf Lastwagen kletterten, Pakete hinter sich herzerrten, die schreienden Kinder und invaliden Eltern mitnahmen, die Kranken und die Sterbenden aus Krankenhausbetten auf Tragbahren legten, […] die Waisen mitnahmen, die ohnehin wenig vom Leben zu erwarten haben, und […] auch einige Reiche […] mit sich nahmen, um zu beweisen, daß dieses Judenvernichtung genannte Programm nicht von kapitalistischem Klassenbewußtsein bestimmt war (Lind 1970, 76–77).
Mit bitterer Ironie berichtet er, wie sich der Buchhalter Granaat, der ihn beherbergte, auf Schmied umschulen ließ – denn, so meinte er, „als Schmied können sie mich überall verwenden, sogar in Polen“ – und wie er stolz mit einem selbst geschmiedeten siebenarmigen Leuchter nach Hause kam, und schließt als Kommentar an: „Ein Gewehr und Munition herzustellen, wäre unter den gegebenen Umständen vernünftiger gewesen“ (81). Der Abtransport der Großmutter Granaat ist wie folgt beschrieben: Die alte Mutter Granaat wurde von zwei holländischen Polizisten, die ihr den kleinen Koffer trugen, gebeten, mit dem Kartoffelschälen aufzuhören und sich zu einem wartenden Wagen zu begeben. Die alte Dame hatte keinen Stempel. Sie mußte sofort mit der Arbeit in Deutschland beginnen. Das erleichterte manches. (84)
Von geradezu schwarzer Komik ist die Szene, in der Lind schildert, wie er am 20. Juni 1943, dem Tag der letzten großen Razzia, die auch ihm galt, die Zeit fand, vor Angst schwitzend, zum ersten Mal mit einer Frau zu schlafen, während draußen, wie er schreibt, die Polizisten „massenhaft Juden einsammelten“ (87). Dies ist eine der wenigen Passagen, in denen der Autor seinem jugendlichen Protagonisten seinem Alter entsprechende Reaktionen zubilligt. Er habe die Aufforderung der jungen Frau erwidert, „weil [er] ein Held war, ein Trumpeldor, ein Tarzan, ein Tom Mix“ (89). Die Familie, bei der er untergebracht war, so formuliert er, „saß in Erwartung der Deutschen herum, als erwarte sie die Ankunft der Braut des Sohnes“ (90). Bevor sie von der Polizei geholt wurden, schützten sie Stühle und Sessel mit Überzügen und wuschen das Geschirr in der Küche, dass es nur so glänzte. Besonders grotesk und zugleich erschütternd ist die Szene, wie Granaat noch alle Möbel in den Vorraum schafft, um dem vermeintlichen Käufer die Arbeit zu erleichtern. Anders aber als die Familie wartete der jugendliche Protagonist, der nie vorhatte, im KZ zu sterben, nicht geduldig darauf, abgeholt zu werden, sondern türmte über die Dächer und besorgte sich einen holländischen Personalausweis auf den
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Namen Jan Gerrit Overbeek. Um als Holländer akzeptiert zu werden, kam ihm seine offensichtliche Sprachbegabung zu Hilfe, die ihm erlaubt hatte, in einigen Jahren praktisch akzentfrei Holländisch zu sprechen.
4 Flucht in den Rachen des Ungeheuers Er musste nun als Holländer „lernen so zu fühlen, wie die übrige Welt“ (78). Am leichtesten fiel es ihm, wie die Holländer die Deutschen zu hassen, die ihn abtransportieren und töten wollten. Als er als Matrose Overbeek Anfang November 1943 Deutschland betrat, erkannte er, dass der Krieg für seine Feinde verloren war. Alle Städte, in die er kam, wurden durch Flächenbombardierungen zerstört, wobei er sich einredete, sein bloßes Erscheinen ziehe die Bomber an. In Ludwigshafen entkam er im Juni 1944 im letzten Moment einer Bombe, die den Schlepper, auf dem er arbeitete, mitsamt der Besatzung zerstörte. Sarkastisch bemerkt er nach seiner Rettung: „Man bleibt oben. Mannheim und Ludwigshafen brennen. Man muß auch mal die positive Seite sehen“ (123). Die Bombardierungen waren ihm Anlass, seinem Hass im Namen der Deportierten freien Lauf zu lassen: Deutschland ist schön. Brennend oder nicht. Ich wußte gar nicht, daß ich Feuersbrünste so liebte. Jedes brennende Haus ist ein Haus weniger. Jeder tote Deutsche ein Feind weniger. […] Jede Bombe ist eine gute Tat. Wer den Mörder tötet, trägt jedenfalls zur Befreiung der Gefangenen bei. Alle, die mit ihren dreißig Pfund Gepäck abgezogen sind, […] würden mit Vergnügen hören, daß Deutschland jetzt in die Luft gesprengt und niedergebrannt wird. (115)
Mit dieser sarkastischen Evokation des Krieges und seines Hasses auf die Deutschen will der Autor jedoch nicht nur die Gefühlslage des damals Sechzehnjährigen wiedergeben, sondern auch kämpferisch aufklärend in die Gegenwart wirken. „Was damals geschah“, schreibt er in der Vorbemerkung zur Neuausgabe, „scheint heute wie eine Fabel, und schon allein deshalb sind alle, die das Inferno überstanden, ich jedenfalls, der heutigen Generation nichts als die Wahrheit schuldig“ (Lind 1997b, 7). Als der Krieg zu Ende ist, empfindet er zum einen den Triumph, Hitler und Goebbels überlebt zu haben (vgl. Lind 1970, 173), zum anderen die Schuldgefühle des Überlebenden: „Ich hätte wirklich nicht mehr am Leben sein dürfen. Es ist zwar nicht meine Schuld, daß ich noch lebte, aber ganz unschuldig war ich eben auch nicht daran. Dies war die Strafe dafür, daß ich klug gewesen war und Glück gehabt hatte“ (168–169). Er weiß nicht mehr, wer er ist: Jude? Holländer? Nazi? Österreicher? (161), und beschließt, sein zionistisches Versprechen einzulösen und als Jakov Chaklan getarnt zu seinen Eltern und Schwestern nach Palästina zu ziehen.
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5 Bekenntnis zum Zionismus So wie Selbstporträt zu einer Zeit, als man gerade beginnt, Themen wie Exil und Verfolgung in der Öffentlichkeit erneut zu diskutieren, Zeugnis ablegen will über die Realität des Krieges und der Verfolgung, so will es auch, trotz Linds schließlicher Abreise aus Israel, ein kämpferisches Bekenntnis zum Zionismus und zu Israel sein. Zur selben Zeit ärgert sich Lind, wie er im dritten Band seiner Autobiographie mitteilt, über jüdische Londoner Nachbarn wie Elias Canetti oder Hilde Spiel, die sich weigerten, sich mit dem Judentum zu befassen, oder über Erich Fried, dessen Antizionismus ihre enge Freundschaft in Frage stellte.7 Mit acht Jahren entscheidet sich der Protagonist auf Anraten seines Religionslehrers gegen die Rolle des Opfers und für die ‚Selbstachtung‘ und tritt der zionistischen Jugendorganisation Barak bei. In einem Ferienlager im Burgenland spielte er in einem Chanukka-Spiel die Rolle des Vaters von Judas Makkabäus. Dieser und der heroische Soldat Joseph Trumpeldor, der Gründer des Zion Mule Corps, wurden die Helden seiner Kindheit. In Holland hält er die Verbindung aufrecht zum Stadtbüro der Pioniere, das ihm den holländischen Personalausweis besorgt. Das zionistische Selbstbewusstsein erlaubt dem Dreizehnjährigen, nicht zu resignieren und das Äußerste zu wagen. „Keiner soll glauben, er kann uns nach Lust und Laune umbringen“, denkt er. „Ich bin ein Chaluz, ein Pionier, ein Trumpeldor. Ich will bis zum bitteren Ende kämpfen“ (70). Er bekämpft die Nazis im Namen seiner Symbole: der Davidstern ist sein Hakenkreuz, die Losung „Sei stark und mutig, Chaver“ sein „Heil Hitler“ (70). Selbst noch auf dem Lastkahn verleiht ihm ein Rest zionistischen Selbstvertrauens weiterhin die Kraft, sich zu wehren: „Sie wollen, daß ich […] willig in den Tod gehe. Das will ich aber nicht. Ich weigere mich“ (115). Insgesamt kann man seine bittere Kritik an den holländischen assimilierten Juden, die sich in seinen Augen kampflos ergaben, und seine Stilisierung als heldischer Einzelkämpfer gegen die Deutschen als Ausdruck des zionistischen Bewusstseins des jugendlichen Protagonisten und des Autors der Autobiographie lesen, der überzeugt war, der Pazifismus der Juden habe sie „zu wehrlosen Opfern gemacht, zu einer leichten Beute für die Hyänen und Aasgeier dieser Welt“ (Lind 1997a, 127). Als er in Haifa ankam, habe sich seiner jenes sonderbare Glücksgefühl bemächtigt, das alle Juden empfänden, die zum ersten Mal nach Palästina kommen. „Das ‚Land‘“, schreibt er, „ist das Symbol für Sicherheit und Zuhause“ (Lind 1970, 187), also für Heimat, die für Jean Améry (1980, 81) gleichbedeutend ist mit Sicherheit. Da es den Juden gehört, gehöre es auch ihm persönlich. Hier wird deutlich, wie wichtig der Zionismus auch für seine Selbstfindung war; Paläs-
7 Vgl. Lind 1997a, 128–129, 79.
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tina wird zum Garanten für die eigene Identität. Aber trotz der Identifikation mit Israel beschließt er nach fünf Jahren, sich mit schlechtem Gewissen „wieder unter die Ratten des pestverseuchten Erdteils“ Europa zu wagen (Lind 1970, 213). Dieser letzte Teil der Autobiographie heißt Schule für Alchimie und es ist klar, dass die Alchimie zwischen ihm und Israel nicht ganz gestimmt hat. Lind äußert sich wenig über die Gründe, die ihn veranlassten, Israel wieder zu verlassen. Man versteht, dass er weder als Bauer in einem Kibbuz, wo er zusammen mit Edgar Hilsenrath von den Cafés in Saint Germain des Prés träumte, noch als Kabelverleger der Telefongesellschaft oder als Fluglotse glücklich war und endlich das machen wollte, was er seit seiner Kindheit machen wollte, nämlich schreiben, und dass er das in Israel nicht konnte. Er fühlte sich, gesteht er, „sehr als Außenseiter in ‚meinem eigenen Land, unter meinem eigenen Volk‘“ (205). Doch scheint er sich nicht nur seiner europäischen Sozialisation, sondern auch anderer Gründe wegen nicht ganz an seinem Platz gefühlt zu haben: Er hatte ein schlechtes Gewissen, weil er weder aus dem Lager gekommen war noch als Soldat sein Leben aufs Spiel gesetzt hat. „Als ich mir mein eigenes Versteck grub“, schreibt er, „gingen sie per Charter nach Auschwitz“ (179). In Israel schreibt er ein auf Hebräisch publiziertes fiktives Tagebuch des Hanan Edgar Malinek, die Geschichte eines neunzehnjährigen Überlebenden aus Bergen-Belsen, der nach Palästina kommt, kurz im Waffengebrauch unterwiesen und an die Front geschickt wird, wo er knapp vier Wochen nach seiner Ankunft in einer Schlacht im Negev fällt (vgl. Gelber 2001). Dabei sei er selber, gesteht Lind, nie südlicher als Jerusalem gewesen und habe den Krieg Kaffee trinkend auf einer Strandterrasse in Tel Aviv verbracht (vgl. Lind 1970, 211). Man hat das Gefühl, dass er mit seiner Abreise auch versuchte, sein schlechtes Gewissen hinter sich zu lassen (vgl. 205). Der folgende, 1972 auf Englisch, 1973 auf Deutsch erschienene zweite Band der Autobiographie, Nahaufnahme, beginnt mit der Ankunft in Marseille und, vermeintlich Israel und dem Judentum den Rücken kehrend, mit einem Bekenntnis zum Kosmopolitismus, das er unverzüglich relativiert und das von seinem späteren Werk dementiert wird: Endlich eine wirkliche Stadt, und endlich bin ich wieder in der wirklichen Welt. Kein „Nächstes Jahr in Jerusalem“ mehr für mich. Ich war wieder in meiner alten kranken Haut, ein „gewöhnlicher Mensch“. […] Ich hatte Israel verlassen, um den Jüngsten Tag anderswo zu erwarten, und war töricht genug zu glauben, die Tragikomödie „Jude“ sei für mich endgültig vorbei. Ich wollte ein Weltbürger sein, sonst nichts. Daß Weltbürger und Jude identisch sind, begriff ich damals noch nicht. (Lind 1973, 15–16.)
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Jan Loheit
„Philosophie im deutschen Faschismus“ Material und Methode eines Argument-Projekts zur Aufarbeitung der Vergangenheit Als Theodor W. Adorno 1959 das Unbehagen formulierte, das er in der Bundesrepublik mit dem Schlagwort „Aufarbeitung der Vergangenheit“ verband, sprach er aus, was wenig später zu einem der Motive studentischen Protests werden sollte. Die Rede von der „Aufarbeitung“ hatte sich „höchst verdächtig“ gemacht, weil sie zu einem Sprachgebrauch gehörte, der unter das Vergangene „einen Schlussstrich“ ziehen und „womöglich es selbst aus der Erinnerung wegwischen“ sollte: „im Hause des Henkers soll man nicht vom Strick reden“ (2015, 10). Mündigkeit aber setzte für Adorno Verhältnisse voraus, in denen sie sich ungehindert entfalten kann. „Aufgearbeitet wäre die Vergangenheit erst dann, wenn die Ursachen des Vergangenen beseitigt wären.“ (28) Das freilich verlangte zunächst das Begreifen dieser Ursachen. Im Mai desselben Jahres machte an der Freien Universität Berlin eine Studentengruppe, von Professoren als „[j]ugendbewegte Schwärmer einer politischen Romantik“ verunglimpft (Ehrler 1974, 14), mit einer Reihe von Flugblättern gegen Atomrüstung auf sich aufmerksam. Unter dem Einfluss von Margherita von Brentano ging aus diesen Flugblättern die von Wolfgang Fritz Haug, einem ihrer Studenten, herausgegebene Zeitschrift Das Argument hervor. Nur ein Jahr später wendete sich die Zeitschrift zum ersten Mal einem wesentlichen Aspekt jener Aufgabe zu, die Brentano mit dem „endgültigen Abbau des faschistischen Potenzials“ (2010, 303) identifizierte. „Die Überwindung des Antisemitismus“1 lautete der Titel des im Mai 1960 erschienenen Heftes, das Beiträge von Dietrich Goldschmidt, Hanno Kremer und Gerhard Schoenberner versammelte. „Im gleichen Maße“, heißt es dort, „in dem die restaurative Entwicklung zunimmt, um schließlich in offene Reaktion umzuschlagen, wird auch der Antisemitismus, hundertmal verdrängt und verleugnet, von Stufe zu Stufe offener und radikaler als unvermeidliche Komplementärerscheinung sich einstellen.“ (Schoenberner 1960, 201)
1 Für Brentano konnte die „Frage der Überwindung des Antisemitismus“ nicht gestellt werden, ohne dies mit der „Frage nach den Chancen für eine reale, das heißt materielle Demokratisierung“ zu verbinden; wirkliche Demokratie bedeutete eine „Neuorientierung der ökonomischen und mit ihnen der sozialen Verhältnisse und Neuorientierung der individuellen und kollektiven Bewusstseinsstruktur“ (2010, 303). http://doi.org.de/10.1515/9783050093932-010
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Nur ein Heft später schreibt Dietrich Goldschmidt‚2 in Reaktion auf eine Zuschrift, die das Argument aufforderte, sich aufs Kerngebiet der Antiatombewegung zu beschränken, dem Herausgeber ins Stammbuch, die Antiatombewegung könne nur fortbestehen, wenn sie sich weiter öffne und „praktikable humane Alternativen für friedliche Lösungen“ auf der Basis einer „allgemeine[n] politische[n] Besinnung“ entwickele, „sei es über deutsche Fragen wie den Nationalsozialismus und den inhumanen Antisemitismus, sei es über den Algerienkrieg und über die großen Probleme zwischen Ost und West sowie der asiatischen und afrikanischen Völker“ (Goldschmidt 1960b, 260). Das stieß auf offene Ohren. Das Argument, das sich im Geist der Kritik anschickte, nicht beim „bloßen Vorwurf“ stehen zu bleiben, sondern „selbst das Unbegreifliche noch zu begreifen“ (Adorno 2015, 25), wurde schließlich Anfang der 1960er Jahre zum führenden Theorieorgan der beginnenden Studentenbewegung, gestützt auch durch die im Argument-Klub an der Freien Universität organisierten Seminare.3 Dass die Faschismustheorie, die in ihrem Umkreis entstand, über Jahre tonangebend war, ist heute so gut wie vergessen.4 Der Befund, es sei eine „Ironie der Geschichte“, dass bereits an der Schwelle 1964–1965 „die Zeitschrift trotz ihrer theoretischen Grundlagenarbeit in der Studentenbewegung dann keine Hauptrolle mehr spielte“ (Bebnowski 2016, 79), mag erklären, warum die späteren, im Argument-Umkreis entstehenden Materialstudien, die jene Grundlagen vertiefen, heute ebenfalls in Vergessenheit geraten sind. Ein Blick auf das von Haug 1984 initiierte Forschungsprojekt „Philosophie im deutschen Faschismus“ soll dazu beitragen, die aus diesem Umkreis hervorgegangenen Faschismusstudien in Erinnerung zu rufen. Zu diesem Zweck zeichne ich im Folgenden zunächst die in den 1960er Jahren wurzelnden Anfänge
2 Dietrich Goldschmidt, der im Heft zuvor selbst zur „Soziologie des Antisemitismus“ schrieb (1960a), war zu diesem Zeitpunkt Vorsitzender des Berliner Arbeitsausschusses Gegen den Atomtod und wurde wenig später Direktor des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung. 3 So etwa das vom Argument-Klub zusammen mit Brentano und Peter Furth im Wintersemester 1961 organsierte Seminar „Antisemitismus und Gesellschaft“ (vgl. Bebnowski 2016, 77). Die Zeitschrift selbst, noch drei Jahre nach ihrer Gründung mit 700 Exemplaren aufgelegt, vervierfachte zwischen 1966 und 1970 ihre Auflagenhöhe von inzwischen 3.000 auf 12.000 Exemplare (Mitarbeiterbrief 21, März 1971, InkriT-Archiv). Das Argument nahm damit, wie David Bebnowski betont, als ein „Pionier bei der Identitätssuche junger Linker in der Bundesrepublik […] eine wegweisende Funktion für die Studentenbewegung der 1960er und 1970er Jahre ein“ (2016, 73). 4 Davon zeugt nicht zuletzt der ansonsten gründlich recherchierte Eintrag „Faschismus – Theorien und Begriffe“ in der vom Zentrum für Zeithistorische Forschung mit verantworteten Docupedia. Hier sind es „ehemalige Lagerkämpfe zwischen Marxisten und Antimarxisten“, in denen die Akteure und Theorien, entgegen dem eigenen Anspruch, „vom Faschismus-Verständnis der zeitgenössischen marxistischen, liberalen, aber auch konservativen Gegner“ auszugehen, namenlos gemacht und am Ende mit Schweigen übergangen werden (Esposito 2016).
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der Theorieentwicklung nach, um im Anschluss Kontinuitäten und Brüche sichtbar werden zu lassen, die Material und Methode der Studien und damit die im Argument verfolgten Erkenntnisziele durchziehen.
1 Praxiskriterium der Aufarbeitung Die Anfänge des Argument haben in vieler Hinsicht noch journalistischen Charakter, das Interesse am Investigativen ist bestimmend, es entsteht ein Archiv nicht gemeldeter Nachrichten, in dem Informationen zu Atomversuchen gesammelt werden, Tabuthemen werden angefasst, neben der Atomrüstung u. a. das Thema der Oder-Neiße-Grenze oder des spanischen Faschismus.5 Erst allmählich, unter dem Eindruck, für das Unbehagen an den drückenden Verhältnissen im deutschen Postfaschismus keine Sprache zu haben, verschiebt sich das Interesse hin zu Fragen der Theorie. Im Argument-Klub werden in Zusammenarbeit mit dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund erste selbstverwaltete Seminare organisiert. Inspiriert von den in den 1930er Jahren entstandenen, von ihm selbst inzwischen unter Verschluss gehaltenen Schriften Max Horkheimers, bildet sich 1962 auch eine Arbeitsgruppe Faschismus-Theorien. Zwei Archivpapiere6 aus der Frühzeit der Zeitschrift geben Auskunft darüber, unter welcher Maßgabe die Hinwendung zur Theorie erfolgen sollte. „Wir müssen Theorie treiben, als ob wir ‚an der Macht‘ wären“, heißt es in einem der Papiere. Das bedeutete, wie den beiden Seiten in Versalien voransteht, das Begreifen der Praxis zur obersten Maxime von Theorie zu machen und die Theoriebildung selbst nicht zum alleinigen Ziel werden zu lassen: „Wir müssen denken, als ob wir danach handeln könnten“‚7
5 Auch hier wirkte Margherita von Brentano als Stichwortgeberin, als sie 1961 für die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze (vgl. hierzu den Beitrag von Anne Boden) und der DDR plädierte: „die Grenze von 1945 und 1961 ist das faktische und gerechte Ergebnis der Geschichte“ (1975, 97), deren Kehrseite sie in der offiziellen Politik der Bundesrepublik mit ihrer „schrittweise[n] Umwandlung dieses Gebildes in einen nach innen obrigkeitlich-autoritären, nach außen waffenrasselnden Nationalstaat“ sah (2010, 158). 6 Ich danke Frigga und Wolfgang Fritz Haug, die mir die in Esslingen aufbewahrten Archivmaterialien der Zeitschrift zugänglich machten. 7 Folgerichtig lässt Haug 1968 seinen Aufsatz über Bertolt Brechts drei Jahre zuvor aus dem Nachlass veröffentlichtes Buch der Wendungen mit der darin überlieferten Lehre enden: „träumen können und nicht von Träumen beherrscht werden; denken können und Gedanken nicht zu seinem Ziel machen“ (zit. nach Haug 1968, 12). „Im Rückblick“ meint Haug in diesem seinen Aufsatz „einen Schlüsseltext für die weitere Herausbildung des ‚Argument-Marxismus‘ zu erkennen“ (2009, 152).
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zugespitzt: „Protest ist heute wissenschaftlicher als Protokoll“ (Maxime, InkriTArchiv). Die Unmittelbarkeit, in der Theorie und Protest hier unzulässig in eins zu fallen scheinen, relativiert sich im Rückgriff auf Ernst Blochs Prinzip Hoffnung. Der Satz, wonach „eine Formel aller Gemeinheit sein kann, die Dinge zu nehmen, wie sie sind, im Sinn, sie dabei zu belassen“ (Bloch 1976, 1016), wird nicht nur zitiert, sondern in ein „paradox klingendes Programm“ übersetzt, das, im Gestus an Kants Kritik der reinen Vernunft angelehnt, die „Möglichkeit von Theorie“ überhaupt retten soll: 1) Theorie, die sich nicht aus ihrer substanziellen Einheit mit Praxis begreift, ist blind. 2) Theorie, die nicht von der Absicht konstituiert wird, Vernunft zu verwirklichen, d. h. eine neue, vernünftigere Einheit von Theorie und Praxis zu bewirken, verliert ihre Autonomie gegenüber dem Bestehenden. 3) Um der Gleichschaltung zu entgehen, muss Theorie der unmittelbaren Einheit von Theorie und Praxis entsagen. (Maxime, InkriT-Archiv)
Die Thesen, deren fragmentarischer Charakter erkennen lässt, dass sie nicht zur Veröffentlichung gedacht waren, dokumentieren den Beginn einer theoretischen Selbstverständigung. Sie steht im Zeichen der mit Namen wie Brentano, Klaus Heinrich, Hans-Joachim Lieber, Wilhelm Weischedel und nicht zuletzt Günther Anders verbundenen Sozialkritik. In der unaufhebbaren Spannung „zwischen realer Ohnmacht und dem fundamentalen Impetus, Vernunft kritisch sich so entfalten zu lassen, als ob sie als Gesetzgeberin aufgerufen wäre“, sah man „die letzte Chance des Denkens“ (Maxime, InkriT-Archiv). Nun begann zusätzlich die Auseinandersetzung mit der Marx’schen Kapitalismustheorie, die dem Umgang mit empirischem Material auf die Sprünge half. 1964 erschien schließlich, auch in Reaktion auf die ein breites Echo auslösenden Veröffentlichungen von Ernst Noltes Der Faschismus in seiner Epoche (1963) und Joachim Fests Das Gesicht des Dritten Reiches (1963), das erste Argument-Heft, das sich explizit der Kritik bürgerlicher Faschismus-Theorien widmete, eröffnet mit einem Wiederabdruck von Walter Benjamins Besprechung einer Sammelschrift, die Ernst Jünger 1930 unter dem Titel Krieg und Krieger herausgab. Neben Rezensionen der erwähnten Werke finden sich im gleichen Heft auch erste Elemente einer kritischen Theorie des Faschismus, so im Beitrag von Ronald Wiegand (1964, 138–143), der die Begriffe Herrschaft und Entfremdung auf die Probe stellt. 1965, im selben Jahr, als die Argument-Gruppe zusammen mit dem Marburger Institut für sozialwissenschaftliche Forschungen eine Arbeitstagung zu Faschismustheorien organisierte, folgt dem Heft ein zweiter Teil, in dem neben der Ökonomiefrage auch die psychologische Literatur über den Faschismus in den Blick rückt, um eine „Forschungsrichtung“ zu erschließen, „die in den heute (in Ost und West) gängigen Theorien über den Faschismus weitgehend vernachlässigt wird“ (Haug 1965a, 31). In dem in direkter Folge erschienenen dritten Teil wird in
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Material-Exkursen, die aus gemeinsamen Untersuchungen und Diskussionen des vom Argument-Klub an der Freien Universität über mehrere Semester organisierten Arbeitskreises hervorgingen, nach dem Zusammenhang von verschiedenen im Umlauf befindlichen Kategorien wie „Führerpersönlichkeiten“, „Faschistische Ideologie“, „Dämonie“, „Rot gleich Braun“ gefragt. Wenn Haug diese Arbeit als den „Versuch“ bezeichnet, „die Widersprüche und Zerfallenheiten seines Gegenstandes derart aus der Sache selbst zu entfalten, dass Historisches in ihnen erkennbar wird“ (1965b, 32), macht sich die Nähe zur Kritischen Theorie, namentlich zu Adorno bemerkbar. Die angedeutete Methode, dem textanalytischen Verfahren vergleichbar, die Adorno selbst mit seinen eigenen Arbeiten wie mit denen von Walter Benjamin, Siegfried Kracauer und auch Ernst Bloch in Verbindung bringt, gründet in der Einsicht, „dass man den gesellschaftlichen Gehalt in sich organisierter und differenzierter Gebilde nur durch deren Sinnanalyse ergreifen kann“ und nicht indem „man sie in einer Weise von vornherein auf ihre Wirkung festlegt, die mit ihnen selber möglicherweise nichts zu tun hat“ (Adorno 1993, 147–151). Haugs Versuch bereitet vor, was sich als analytisches Verfahren, dann vor allem in der Rezeption der 1968 zum ersten Mal veröffentlichten theoretischen Schriften Bertolt Brechts, der Aneignung der von Werner Mittenzwei 1975 als Materialästhetik bezeichneten Kunstform und der Studien Walter Benjamins, zu einer Lektüre-Methode herausbilden wird (vgl. Loheit 2018).
2 Hilfloser Antifaschismus Das im Argument-Klub in Auseinandersetzung mit den damals gängigen Faschismustheorien gebildete Materialverständnis schuf Grundlagen, auf denen Haug 1967 seine Kritik der Vorlesungsreihen über Wissenschaft und NS an deutschen Universitäten entfaltete.8 Rückblickend situiert er seine Arbeit über den Hilflosen Antifaschismus im „historische[n] Moment des Auftauchens der großen weltweiten, keineswegs auf die Studenten beschränkten ‚Studentenbewegung‘“, die seiner „Analyse ihren radikalen Horizont“ gegeben habe (1993, 11): „Die Studen-
8 Ein Teil dieser Arbeit erschien zunächst im Argument unter dem Titel „‚Positive Werte‘ und Konzeption ‚reiner Wissenschaft‘ in den Ringvorlesungen über Wissenschaft und Nationalsozialismus“ (Haug 1967a), just in dem Moment, als die Kontroversen um eine demokratische Öffentlichkeit an den Universitäten von der Ermordung Benno Ohnesorgs und der „täglich wachsenden Hetze gegen die ‚radikalisierten Minderheiten’“ überschattet und damit die „Virulenz ungelöster Sachfragen bei fehlender rationaler Öffentlichkeit an der Universität wie im Staat“ unübersehbar wurden (Haug 1967b, 92).
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tenbewegung setzte die gesellschaftskritische Aufarbeitung der faschistischen Vergangenheit unüberhörbar auf die Tagesordnung“ (12). Das Schlagwort, über das Adorno klagte, es sei ein Tarnname fürs Verdrängen geworden, wird hier aus der Phrase befreit, indem Objekt und Modus der ‚Aufarbeitung‘ die zu ihrer Durchführung notwendige Spezifikation erhalten. Aufgearbeitet werden muss der Faschismus. Verlangt ist deshalb eine Gesellschaftskritik, die seine Ursachen erforscht. Auffallend ist zunächst die Abwesenheit des Namens, den die deutschsprachige Forschung (in Westdeutschland) im Allgemeinen bis heute für den Nazismus in Gebrauch nimmt. „Hier war der ‚Nationalsozialismus‘ zu Hause, und hier ist es noch immer das Wort“, schreibt Haug 1988 im zweiten Buch seiner Studien zum hilflosen Antifaschismus (1993, 317). „Wer ohne Hintergedanken derart scheingenau spricht, rechnet nicht mit dem Charakter des Regimes. So wenig jeder Zug von der XY-Zigarette ‚reine Natur ist‘, wenngleich die Werbung es behauptet, so wenig war ‚Euthanasie‘ Gutes Sterben.“ (317) Der „phänomenologische Ansatz“, der seine Sprache den Selbstbezeichnungen seines Gegenstandes entlehnt, mache „blind für den propagandistischen Charakter der ‚Phänomene‘“ (317).9 Nicht aber um ‚Nachbildung‘, sondern um Dekonstruktion10 ist es Haug mit seiner 1967 veröffentlichten Kritik zu tun. Sie reagiert auf eine ursprünglich an der Tübinger Universität initiierte Ringvorlesung, nach deren Vorbild unter dem Druck der Studenten, die ihre Professoren und Direktoren auf eine NS-Belastung zu prüfen begannen, an weiteren Universitäten in Berlin und München Vorlesungsreihen entstanden, die sich in einer Vielzahl von Fakultäten dem Verhältnis von Wissenschaft und ‚Nationalsozialismus‘ widmen sollten. Mit seiner Untersuchung der in diesem Zusammenhang veröffentlichten Texte gliedert Haug diese nach wiederkehrenden Topoi auf und fragt nach ihrem Zusammenhang. Die Texte sollen, so die Form, die Haug als „eine Mischung aus Inhaltsanalyse und Streitschrift“ charakterisiert, an ihrem eigenen Anspruch gemessen werden, d. h. daran, ob sie erstens „zur Aufklärung der Ursachen“ beitragen, zweitens ob sie „dafür sorgen, ‚dass so etwas nie wieder geschehe‘“ (31). Untersucht wird zwar die Sprache des „hilflosen Antifaschismus“, doch den „Primat hat die Sache, von der geredet wird“, „am Verhältnis zu ihr“ soll sich die „Sprachkritik“ bemessen: „Nicht auf sprachmateriale Innerlichkeit allein ist
9 Siehe auch die jüngste Diskussion zum Thema, die Ulla Plener im Argument angestoßen hat (Plener 2017 und Haug 2017). 10 Von „Dekonstruktion“ spricht Haug selbst – mit dem Distanzmittel: „wie man heute in französischer Manier sagen würde“ (1993, 12) – allerdings erst im Vorwort der neuen, 1987 erschienenen Auflage.
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zu achten, sondern auf deren Bezug und vielleicht modifizierenden Einfluss auf die Sachinhalte“ (35), so schon mit Blick auf die „faschistischen Eigennamen“, die sich, bei vollständiger Abwesenheit sozialanalytischer Begriffe, „in der Art zweifelsfreier und Identität stiftender Kommunikationssymbole“ durch die untersuchten Texte ziehen: „‚Der Nationalsozialismus‘, ‚das Dritte Reich‘, ‚die Nationalsozialisten‘, ‚die nationalsozialistische Revolution‘, ‚die nationalsozialistische Weltanschauung‘, ‚die nationalsozialistischen Führer‘ und die ‚NSDAP’“ (42). „Hilflos“ ist der Antifaschismus, wo er „im Gestus des Erschüttertseins“ erstarrt, eine „sinnleere[…] Automatik der Stereotype“ bedient und „Phrasen“, die „teils der gehobenen Leichenrede, teils bis zur Unkenntlichkeit verblasster meist manichäischer Mythologie, teils dem billigen Allgemeingut idiosynkratische Bestände“ entstammen, an die Stelle „kritischer Begriffe“ treten lässt; „Schlamm“ (Kotowski), „Nebel“ (Raiser), „Flutwelle“ (Rothfels), „Bazillus“ (Roegele), „Bazillus der Utopie“ (Dahrendorf) – die in den Vorlesungen sich artikulierende Faschismuskritik schöpft aus einem Inventar von Bildern: „Infektion und Krankheitsablauf, aber auch Verführung, Rausch und Triebekstase fungieren immer wieder als Motivkreise, aus denen die Reizwörter und Metaphern entnommen werden, die ein Doppeltes leisten sollen: Deskription historischer Abläufe und gleichzeitig Rezeptionsanweisung.“ (35–40) Die in den verschiedenen Vorlesungen wiederkehrenden Motive der „Schlammflut“ und des „Irrsinns“ kritisiert Haug als „Zauber der Nichtidentität“, der ohne Wirkung bleibt, weil die „Abwehr dem Abgewehrten“ allzu nahe ist (38). Umgekehrt versperrt sich auch die „mimetisch verstehende Diktion“ manches Vortrags, die sich „einfühlt in die Entwicklung zum Faschismus hin“, der „begrifflichen Durchdringung des Gegenstands“; die impliziten „Wertungen und Erklärungsschematismen“ zeigen sich am Ende „dem Faschismus verwandt“, „den sie doch begreifen und kritisieren sollten“ (38–39). Haugs Methode ist es, wiederkehrende Topoi daraufhin zu untersuchen, wie in ihnen Sinn und Bedeutung der Rede organisiert werden. Als Maßstab der Kritik dient die Frage, ob die untersuchte Begrifflichkeit in einer auf verallgemeinerte Handlungsfähigkeit gerichteten Perspektive theoriefähig ist, also zur Bildung wirklicher Aufarbeitung vorausgehenden kritischen Wissens beiträgt. Im Vordergrund stehen hier allerdings noch die Mittel der Entlarvung, während im 1987 erscheinenden zweiten Teil der Studie die implizite Organisationsweise des Materials wichtig wird. Anvisiert ist eine aktive Lektüre, die Bedeutungszwänge in ihrer ideologischen Funktion rekonstruiert. Dieses Vorgehen beschreibt Haug 1987 im Vorwort seiner um einen zweiten Teil erweiterten Studie nun als „Materialanalyse“, die, inspiriert von der Brecht’schen Materialästhetik und mit den Denkmitteln der Kritischen Theorie und Freud’schen Psychoanalyse ausgestattet, auf die „Umorganisierung“ der zuvor im – durch Metaphern und Phrasen befes-
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tigten – Bedeutungszwang gefangenen „Diskurselemente“ gerichtet ist (12). Das Verfahren, das sich in immer neuen Studien erweitert und bewährt, wird zu einer der Leitmethoden der in den folgenden Jahrzehnten im Argument-Umfeld entstehenden kollektiven Forschungsarbeiten.
3 Projekt „Philosophie im deutschen Faschismus“ Ein ganzes Forschungsprojekt, das an die Ergebnisse der aus dem Argument hervorgegangenen Faschismusstudien und der zwischen 1977 und 1985 im Projekt Ideologie-Theorie (PIT) 11 entwickelten Konzepte anschließt‚12 entsteht im Wintersemester 1984 an der Freien Universität. Nachdem im PIT die Auseinandersetzung mit Theorien und Methoden lange Zeit bestimmend blieb, macht die Argument-Gruppe 1980 mit ihrer Hinwendung zu konkretem historischem Material zunächst die Erfahrung eines „Materialschocks“, da die „Materialuntersuchungen […] einer fast vollkommen anderen Logik“ gehorchten als das „Rezipieren und Kritisieren von Theorien“ (Haug 2007, 24). Die Studien betreten nun die „Ebene der konkreten ideologischen Prozesse“, auf der Begriffe und Methoden notwendig sind, die in der Theoriebildung bis dahin noch nicht entwickelt waren, weshalb die Untersuchungen „nicht frei von Widersprüchen und Brüchen“ bleiben: „Im Zweifelsfall haben wir dem Material, der Wirklichkeitserfassung, den Vorzug gegeben.“ (26–27) An die hier gemachten Erfahrungen schließt nun das neue Projekt „Philosophie im deutschen Faschismus“ (PPF) an. Es nimmt die Frage auf, der die in den 1960er Jahren initiierten Vorlesungen über das Verhältnis von Wissenschaft und deutschem Faschismus noch hilflos
11 Das Projekt entwickelte im Anschluss an die Hegemonie-Theorie Antonio Gramscis und an den von Louis Althusser geprägten Begriff der ideologischen Staatsapparate eine Theorie des Ideologischen, die das Ideologische nicht mehr „primär als ‚falsches Bewusstsein’“ auffasst, sondern das Augenmerk „auf die Funktionsweisen der ideologischen Mächte, Apparate und Praxisformen“ legte (Rehmann 2008, 153–168; vgl. Koivisto und Pietilä 1993). „Die vom PIT durchgeführten Studien zu den ideologischen Mächten im deutschen Faschismus wurden von einem Nachfolgeprojekt am Philosophischen Seminar der FU-Berlin weitergeführt, aus dem mehrere Untersuchungen zur Philosophie im deutschen Faschismus hervorgingen.“ (Rehmann 2008, 168) Rehmann nennt: Laugstien 1990, Leaman 1993, Zapata Galindo 1995 und Orozco 1995. 12 Ein wichtiges Zeugnis dieser Studien sind die beiden 2007 von Klaus Weber in einem Buch neu herausgegebenen Argument-Sonderbände Faschismus und Ideologie (AS 60 und AS 62).
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gegenüberstanden, nun im Rückgriff aufs Material der zwischen 1933 und 1945 praktizierten Philosophie selbst. Aus dem erweiterten Umkreis dieser Forschungsgruppe13 gingen in der Reihe „Ideologische Mächte im deutschen Faschismus“ (IMF) acht Bände hervor, darunter neben den Arbeiten zur Philosophie auch eine Studie zu Kirchen im NS-Staat, die zugleich die im PIT entstandenen Studien abschließt (Rehmann 1986), sowie eine Arbeit zur Rolle der Romanistik (Jehle 1996). George Leaman, der sich der Forschungsgruppe anschloss und seine Studie, nach 16-monatigem Forschungsaufenthalt in Berlin, in den USA beendete, hatte mit seiner Arbeit die in Dahlem archivierten Nazi-Akten erschlossen, die für das gesamte Projekt zu einem unverzichtbaren Material werden sollten. Seine Studie macht „all die Philosophen kenntlich, die (wie Heidegger) eine politische Vergangenheit hatten, über die nach Kriegsende Stillschweigen bewahrt werden musste“ (Leaman 1993, 7). Der Blick richtet sich auf die politischen Reden, Vorlesungen und philosophischen Schriften, auf das Verhältnis zur NSDAP und – am Beispiel Heideggers – auf die Frage nach den Verbindungen zwischen Politik und Philosophie, die Leaman in einer kontextbezogenen Analyse rekonstruiert. Mit der Studie von Thomas Laugstien (1990) treten die Kontexte selbst stärker in den Vordergrund, indem er den Strukturwandel der philosophischen Öffentlichkeit, die institutionellen Kräfteverschiebungen und die Konstitutionsversuche der philosophisch-staatlichen Funktion im deutschen Faschismus untersucht. Nachdem Haug (1986), in Anknüpfung an die in den Vor-Projekten gewonnenen Erkenntnisse, zunächst eine umfassende Materialstudie zu praktisch-diskursiven Resonanzverhältnissen zwischen den Bereichen von Medizin, Wirtschaft, Justiz, Sexualität und Ästhetik im NS vorlegte, erschienen erste Studienergebnisse der verschiedenen im PPF mit einer Serie von Forschungsseminaren verbundenen Arbeiten im dritten Band. Er gilt „repräsentativen Veröffentlichungen solcher Philosophen, die weder als Juden noch aus andern Gründen aus dem Amt gejagt worden waren“ (Haug 1989, 11).14 Die Ausgangsfrage, die das Studium der Texte aus dem Zusammenhang der philosophischen Gesellschaften, Kongresse, Vorträge und Zeitschriften jener Zeit anleitete, öffnet einen philosophietheoretischen Horizont: „Was taten die deutschen Philosophen 1933 als Philosophen, in
13 Zum Kern dieser Gruppe gehörten neben Haug v. a. Thomas Laugstien, Teresa Orozco, Rainer Alisch, Thomas Weber, Gerwin Klinger, Monika Leske und Thomas Friedrich. 14 Haug nennt neben den im Band selbst behandelten Autoren: Alfred Baeumler, Bruno Bauch, Julius Binder, Otto Friedrich Bollnow, Rudolf Bultmann, Carl August Emge, Hans Freyer, Hans Georg Gadamer, Hermann Glockner, Friedrich Gogarten, Hein Heimsoeth, Karl Jaspers, René König, Ernst Krieck, Felix Krueger, Karl Larenz, Hans Lipps, Hans Pichler, Heinrich Rickert, Wilhelm Sauer, Carl Schmitt, Helmut Schelsky, Viktor von Weizsäcker und Max Wundt.
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ihrem spezifischen Metier und Material, mit ihren eigentümlichen Denkmitteln?“ (5) Betont wird dabei die Maxime des materialanalytischen Verfahrens: „Wir gehen im folgenden vom wirklichen Material aus und untersuchen nicht ‚faschistische Philosophie‘, sondern Philosophie im Faschismus, um dann induktiv, durch Analyse und theoretische Verallgemeinerung, die weiterführenden Fragen nachvollziehbar stellen und vielleicht sogar manchmal beantworten zu können.“ (10) Das Vorgehen spiegelt sich bereits in der Auswahl der im Band behandelten Philosophen wider. Nicht die notorischen NS-Ideologen, sondern Philosophen, die in der Bundesrepublik Rang und Namen behielten, werden untersucht: Eduard Spranger (Laugstien), Martin Heidegger (Alisch), Theodor Litt (Friedrich), Erich Rothacker (Weber), Nicolai Hartmann (Haug), Arnold Gehlen (Klinger), Joachim Ritter (Weber). Teresa Oroszco, die mit ihrer Dissertation (1995) dieser Reihe von Namen den Hans-Georg Gadamers hinzufügt, bringt den Kern des im PPF verfolgten Vorhabens auf den Punkt. Nicht „das Ungesagte eines Textes“, sondern die „Kontextgebundenheit des Gesagten“, das „für uns Heutige Stummgewordene“ (Oroszco 1995, 16) soll rekonstruiert werden: „In welchem Verhältnis stehen diese Texte zum historischen, politischen und akademischen Kontext des NS? Wo sind, im Medium des Philosophischen, die Abgrenzungen, die Aufnahmen, die Streitigkeiten, die Anschlüsse, die Mahnungen oder der Widerstand?“ (17) Die Fragen begründen eine anti-hermeneutische Stoßrichtung: Die Arbeit ist nicht gerichtet auf einen „hinter dem Text stehenden Sinn“, sondern auf die „Materialität der Texte“ selbst (16–17). Der Begriff des ‚Metiers‘, mit dem die Eigenlogik des philosophischen Mediums betont wird, schließt die institutionellen Diskurse ebenso ein wie die Praktiken, nach deren gesellschaftlichem Dispositiv gefragt ist.15 Um den „Bedürfnissen konkreter Materialanalysen“ gerecht werden zu können, sei zunächst verlangt, die traditionelle „wissenschaftliche Arbeitsteilung mit ihren vorgesehenen methodischen Alternativen“ zu überwinden (Haug 1989, 13). In die Studien geht zugleich die Erfahrung ein, die aus der Kritik am hilflosen Antifaschismus zu machen war: „dass das implizit Politische des materialanalyti-
15 Eine Reihe von Begriffen, die im Projekt Ideologietheorie entwickelt wurden, ist nicht zufällig verwandt mit denen des französischen Strukturalismus. Ihre Aneignung folgte dem Prinzip, sie gemäß dem Praxiskriterium umzuarbeiten, um „eine mögliche Selbstbestimmtheit der Menschen“ im Sinne einer „perspektivischen Vergesellschaftungsform“ (Frigga Haug, 1988, 142), mit anderen Worten eine „Orientierung und Gliederung bezüglich der Richtung der politischen Praxis“ zu ermöglichen: „Selbstbestimmtheit-Fremdbestimmtheit, dies sind für uns zentrale Begriffe.“ (Frigga Haug und Arbeitsgruppe, 1986, 22) Im Gegensatz zu Foucault sollen „Dispositive also nicht als quasi-natürliche, sondern als äußere Anordnung in den gesellschaftlichen Verhältnissen“ begriffen werden, d. h. die Anordnung selbst „als transformierbar zu betrachten“ (Frigga Haug 1988, 142; zuerst bei Wolfgang Fritz Haug 1979, 180).
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schen Verfahrens aktueller geblieben ist als der explizit politische Text“, dessen Schwäche Haug 1987 an seiner Teilhabe „an der Naivität des ‚achtundsechziger‘ Aufbruchs und dessen heroischen Illusionen“ ausmacht (1993, 12). Die Rahmentheorie der „Materialanalyse“, die nach 1968 im Arbeitszusammenhang des Argument entwickelt wurde, macht diese mit der von Haug erstmals 1971 in seinen Vorlesungen zur Einführung ins Marx’sche Kapital als „Sozioanalyse“ vorgestellten Arbeitsweise vergleichbar‚16 die sich im wenige Jahre später ins Leben gerufenen PIT mit der Erarbeitung einer Theorie des Ideologischen verband. In diesem Zuge erhält der Begriff des Materials seine Konturen. Das „Ideologische“ soll nicht „Wesensmerkmale des Materials“ beschreiben, „sondern dessen Organisation, die es in einen Wirkungszusammenhang einbaut“ (Haug 1979, 185). Dieser Wirkungszusammenhang macht die Untersuchung der „Praxis- und Denkformen“ zwingend, „die die ideologischen Apparate ‚vorfinden‘ und als Material für ihre ideologische Umorganisierung benutzen“ (Bosch und Rehmann 1979, 111). Wie sich solche „Umorganisierung“ vollzieht, ist dann auch ein Hauptgegenstand der im PPF entstehenden Studien. An Gerwin Klingers Studie, die im erwähnten dritten Band erscheint, zeigt sich prototypisch der operative Sinn der Materialanalyse. Am Beispiel von Arnold Gehlens Theorie der Willensfreiheit (1933) untersucht Klinger, wie das „Material der klassischen Bildung“ auf eine Weise umgebildet wird, „die Zustimmung der großen Philosophen: Kant, Hegel, Fichte, Schelling, Schopenhauer und Nietzsche“ organisiert (1989, 192). Das Material der Philosophen bleibt freilich auch im Faschismus das Material der philosophischen Tradition. Die Tradition selbst ist es, die umgearbeitet wird. Klinger rückt beispielgebend den von Gehlen aufgegriffenen Topos der ‚Freiheit als Einsicht in die Notwendigkeit‘ ins Zentrum, um dessen Neu-Artikulation zu besichtigen. Die Materialanalyse versucht, die von Gehlen übergangenen „Widerständigkeiten im Material“ (192) der philosophischen Tradition aufzuspüren und die Sinnverschiebung ins Bild zu bringen, die durch die Umgruppierung der einzelnen Elemente entsteht. Am Ende zeigt sich, dass die „Einsicht in die Notwendigkeit“, die traditionell mit dem Topos der „konkreten Freiheit“ verbunden war, ins „Gegenteil verkehrt“ wird: „in die Notwendigkeit der freiwilligen Aufgabe der Freiheit“ (192–193). Das „Wortmaterial selbst bleibt fast unverändert“, aber die Analyse zeigt, dass sich die Bedeutung „autoritär verschoben“ hat (192) und „dem tradierten Gedankenmaterial neue Funktionen“ aufprägt (197).
16 „Dieser nach dem Vorbild des Ausdrucks ‚Psychoanalyse‘ gebildete programmatische Begriff […] steht für eine Methodik ökonomiekritisch, ideologietheoretisch und praxisphilosophisch fundierter Materialanalyse“ (Haug 2003, 14, Anm. 5).
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Ganz ähnlich verfährt Thomas Weber, wenn er in seiner Studie zu Erich Rothackers kulturpolitischen Ideen dessen Standpunkt und Perspektive herausarbeitet. Am Programmentwurf von Rothackers „Reichsvolksdienst 1933/34“ isoliert Weber schließlich einige „semiotische und ideologische Aspekte“, deren Analyse verdeutlicht, wie „das neue deutsche Subjekt gebildet“ wird (1989, 140–141). Mit Rothackers eigenen Worten führt Weber die Programmatik dessen vor, wozu „deutsche Bildung“ dienen soll, als „umfassendste Kenntnis“, die als „Rohstoff für das Erlebnis deutschen Wesens“ dazu beizutragen hat, „sich an seiner Stelle und im einigen Geiste des deutschen Volkes in die wurzelhafte Kontinuität unseres nationalen Lebens einzugliedern“ (Rothacker, zit. nach Weber 1989, 141). Weber gliedert die einzelnen Elemente auf, „die (gegen die Wirklichkeit) als Einheiten reklamiert“ und so in eine ideologische Anordnung gebracht werden: „die Einheit Deutschlands und des deutschen Volkes, konstituiert durch das deutsche Wesen und seine geschichtliche Kontinuität“; Rothacker will Teilhabe organisieren, „indem Kenntnis in Erleben transformiert wird“ und die „Einbildungskraft“, wie Weber zeigt, zur „Ein-Bildung ins soziale Gefüge“ macht (142). Webers Studie verdeutlicht die Art und Weise der Reklamation ehrwürdiger Kategorien wie jener der „Verantwortung“, die das ideologische Subjekt für die Einheit von „(Rasse)Körper-Geist-Staat“ mobilisieren soll (150). „Rothackers Entwurf einer Kulturpolitik sollte dazu beitragen, diesen Zusammenhang und sein Subjekt im Imaginären des Deutschen herzustellen. Hier kam seine Philosophie zur Wirkung, zur Wirklichkeit, so wie er die Wirklichkeit des Nazismus zur Philosophie kommen sah“ (150). Vor der geronnenen Orthodoxie – im Sinne einer ‚faschistischen Philosophie‘ – liegt die „Orthopraxie“17 der Philosophen im Faschismus, um deren Untersuchung es im PPF geht. In diesem Sinne wird auch Martha Zapata Galindo mit ihrer Studie zur Nietzsche-Rezeption nicht auf ein ‚offizielles‘ faschistisches Nietzsche-Bild zielen, sondern auf „Beschreibung und Analyse der gesamten Nietzsche-Rezeption im NS“ und der spezifischen Auslegungsformen des „IdeenMaterials“, das sie in seiner „Bedeutung im NS-Herrschaftskontext“ untersucht (1995, 13–14). „In der Hauptsache sollen diese Nietzsche-Interpretationen als Interventionen in konkrete politische und gesellschaftliche Lagen und Verhältnisse sichtbar werden“, indem sie die „Artikulationskontexte, die Positionsverschiebungen und Paradigmenwechsel“ rekonstruiert (14). Die im Horizont von Herrschaftskritik entwickelte Fragestellung gehört zu den verbindenden Elementen der unterschiedlichen im PPF durchgeführten Materialstudien. Gezeigt werden soll, wie die Interpreten „auf die Faschisierung der deutschen Gesellschaft im
17 Den Begriff der Orthopraxie, die den Primat vor der Orthodoxie innehat, entlehnt Haug der Propaganda-Theorie des französischen Soziologen Jacques Ellul (1962).
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Material ihrer Diskurse reagierten“ und gegebenenfalls „zur Durchsetzung und Stabilisierung der faschistischen Herrschaft“ beitrugen (1995, 14). Die PPF-Studien setzen keinen ‚fertigen‘ Diskurs voraus, sondern untersuchen, wie programmatisch schon im PIT formuliert, die „Schaffung von Bedeutungen durch Aktionen und von Obligationen durch Sprechakte“, in denen sich die „Form des wirkenden Sich-Einfügens“ im Faschismus allererst konstituiert – beobachtbar wird so die Konstitutionsweise selbst, die „diskursive ‚Anziehung‘ und ‚Aufsaugung‘ wirkender Elemente, ihre Herauslösung aus gegnerischen Diskursen und Einfügung in den eigenen Diskurs: Desartikulation und Reartikulation von Ideologemen“ (Haug 2007, 105 und 77). Es geht nun nicht mehr ums ‚Entlarven‘, es geht vielmehr darum, die Frage, wie sich die „Individuen zu Subjekten einer Herrschaftsordnung“ konstituieren und „welche Veränderungen und Funktionalisierungen […] die philosophischen Instanzen und Praktiken durchmachen“, mit der Absicht zu verbinden, die philosophischen Texte „als Resultate von Textarbeit zu lesen“ (Haug 1987, 13). Ein vorläufiges Resümee zieht Haug aus den PPF-Studien in seinem Begleitwort zu Orozcos Gadamer-Studie. In der Masse der untersuchten Texte drücke sich „die NS-Zeit mit jedem Satz“ aus, ohne dass diese je „ausdrücklich“ werde, „unausdrückliche Echoverhältnisse“ bestimmen das Bild, „wechselseitige Aufnahmen, Verstärkungen oder Zurückweisungen“ lassen sich rekonstruieren; das Bild zeigt eine „konjunkturelle Funktionalisierung philosophischer Traditionen“ (Haug 1990, 9), in der sich die traditionelle Grundbegrifflichkeit der Philosophie durch Neugliederung ins Autoritäre transformiert und so der Anrufung autoritärer Subjekte dient. Der im PPF verfolgte Ansatz vollzieht damit, wie Frieder Otto Wolf am Beispiel von Zapata Galindos Studie bemerkt, einen paradigmatischen Ebenenwechsel, mit dem sich nicht nur „bisher beschwiegene vorgelagerte Bereiche der eigentlichen philosophischen Konstruktionsarbeit“ überhaupt erst erschließen, sondern vor allem, statt ein „abstraktes Faschismus-Modell“ vorauszusetzen, der konkrete „Prozess der Faschisierung“ sowohl im Hinblick auf die „konkrete Gesellschaftsformation“ als auch auf die im „philosophischen Raum“ wirksamen „Bruchlinien und Kräfteverhältnisse“ ins Licht trete (Wolf 1995, 10).
4 Aktualität der Aufarbeitung Auf die Frage, was eigentlich gegen ihn spreche, antwortete Adorno 1966 bekanntlich: „Dass ich eine steigende Abneigung gegen Praxis verspüre, im Widerspruch zu meinen eigenen theoretischen Positionen.“ (2003, 737–738) Tatsächlich kommt seine 1959 formulierte Forderung nach wirklicher Aufarbeitung, die auf Verände-
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rung der die Möglichkeit von Faschismus einschließenden Verhältnisse gerichtet ist, ohne den Begriff der Praxis nicht aus. Dialektik geht schwanger mit Praxis, auch die negative. Ja, der „Gedanke, dass materielle Verhältnisse oder bloß Seiendes in sich dialektisch sein können“, könnte „gar nicht gedacht werden“, wenn man nicht den „Begriff der Praxis – also mit anderen Worten: der handelnden Veränderung der Welt – hinzunimmt“, heißt es ein Jahr zuvor in seiner Vorlesung zur Einführung in die Dialektik (2010, 127). Für „das Klima des dialektischen Denkens“, resümiert Adorno damals, sei es „außerordentlich wichtig“, dass eine „ständige Wechselwirkung zwischen dem extrem theoretischen Gedanken und der Wendung zu Praxis besteht“ (55). Dieser Gedanke, den Adorno dadurch bannen wird, dass er Praxis grundsätzlich unter den Verdacht der „Pseudoaktivität“ stellt‚18 wird für den 1984 von anderer Seite wiederum mit dem Vorwurf des Revisionismus gebrandmarkten ‚ArgumentMarxismus‘ von zentraler Bedeutung.19 Dies dürfte dazu beigetragen haben, dass Haug 1968 nicht für Adorno, einen seiner „wichtigsten ‚Fernlehrer‘“ (2009, 152), sondern für Brecht Partei ergriff. Dessen Forderung, Sätze „nicht einseitig als Spiegelungen, Ausdrücke, Reflexe“ zu behandeln, sondern dort zu fassen, „wo sie als ein Verhalten wirken“ (Brecht 1992, 525), und also die „Kritik des Faschismus“ in der Analyse des „Komplexes von Verhaltungsweisen“ zu fundieren (422), gehört zu den Kernanliegen der im PPF durchgeführten Materialstudien.20 Ihre Durchführbarkeit aber erfordert eine Theorie des Ideologischen, die Texte in ihrer in gesellschaftlichen Praxisformen konstituierten Funktion rekonstruieren lässt. Mit dem Komplex von Verhaltungsweisen rückt die Dynamik der Verhältnisse in den Blick:
18 „Die einzelmenschlichen Spontaneitäten, mittlerweile auch weithin die vermeintlich oppositionellen, sind zur Pseudoaktivität, potenziell zum Schwachsinn verurteilt“, schreibt Adorno in seiner Negativen Dialektik (GS 6, 341). „Der praktische Sichtvermerk, den man aller Theorie abverlangt, wurde zum Zensurstempel.“ (146–147) Doch der gerechte Impuls, Theorie der Verpflichtung auf Kompatibilität mit Praxis zu entwinden, weil es das „Interesse von Praxis selber“ sein muss, „dass Theorie ihre Selbständigkeit wiedergewinnt“ (147), kann umgekehrt dazu verführen, die Praxis ins Ungedachte zurücksinken zu lassen. 19 Der Argument-Marxismus ist, streng genommen, erst auf der Welt, als seine Gegner, im Zuge der Debatten um die Krise des Marxismus, ihn auf diesen Namen tauften (vgl. Holz et al. 1984). Im Sinne einer Strömung existiert er nur in der Pluralität der im Argument-Umfeld ab Ende der 1960er Jahre geführten Debatten, in denen Marx und mit ihm Fragen wie die der Kapital-Lektüre, der Philosophie der Praxis oder der Theorie des Ideologischen diskutiert wurden (vgl. Haug 2009). 20 „Wenn Brecht sagen konnte, dank Kapital-Lektüre habe er seine eignen Stücke verstanden, […] so kann ich meine Erfahrung hinzufügen, dass mir bei Materialanalysen ein Licht über materialistische Dialektik aufgegangen ist, wo es darum ging, eine immanente Ordnung aus dem Material herauszudestillieren“ (Haug 2009, 152).
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„Sie bewegen sich nicht planmäßig; keine homogene, übermächtig manipulierende Vernunft der Herrschenden steht dahinter“; ihre Untersuchung zeigt, dass die „Frage nach den Artikulationen, die etwas als etwas anderes artikulieren, es ausdrücken, indem sie es metaphorisch auf einen anderen Bereich beziehen“, eine elementare Frage ist, die von der Theorie verlangt, ihre Bewährungsprobe im historisch-konkreten Material anzutreten. Die mit der historischen Konkretisierung erforderlich gewordene Lektüre-Methode führt auf die Resonanzbeziehungen der unterschiedlichen institutionellen Diskurse und Praktiken: „das immer wieder Neu-Anfangen, das Sich-ans-Material-Verlieren, der Versuch, von jedem Bereich her immer wieder den Zusammenhang zu den anderen Bereichen herzustellen, statt eine fertige Totalität vorauszusetzen“, hält Haug dabei für die „mögliche Stärke“ des Prinzips der Materialanalyse (Haug 1986, 8–9). Auch wenn das Hauptmaterial der im PPF entstandenen Studien die philosophischen Texte selbst sind, geht die Frage der „genetischen Rekonstruktion“, die in allen diesen Studien im Zentrum steht, also nicht in der Philologie auf, so sehr sie auch die entscheidende Grundlage dieser Arbeiten darstellt. Mit Antonio Gramsci, von dessen Gefängnisheften Haug schreiben wird, das „eigentlich Lebensfähige“ an ihnen sei ihr „Charakter der Materialanalyse“ (1991, 11), lässt sich sagen, dass es nötig ist, durch „Zusammenstellungen praktischer Beobachtungen“ die eigentliche „Sphäre der Philologie“ zu erweitern (Gramsci 1994, 1423). Gefordert ist eine „lebendige Philologie“ (1424), die ihre Kriterien daraus zieht, was Gramsci die Philosophie der Praxis nennt. Eine Philologie, die sich ohne Vorurteil, aber nicht naiv ihrem Material zuwendet, armiert mit einem „kritischen Inventar aller Fragen, die vom Marxismus aufgeworfen worden sind“ (Gramsci 1992, 470), nicht als System, sondern im Sinne eines Leitfadens, einer „offene[n], ohne Garantien arbeitende[n] Dialektik“ (Haug 2013, 101). Gemessen an heutigen Forschungsprojekten dieses Umfangs, zeichnet sich das über mehr als ein Jahrzehnt nach diesen Maßgaben arbeitende PPF durch eine starke Kohärenz im Hinblick auf das in sämtlichen Materialstudien angewandte methodische Verfahren und die Bildung theoretischer Modelle aus. Die Studienergebnisse sind aufgrund der im Projekt etablierten Arbeitsweise, die ihre Theoriebildung durch ein hohes Maß an Materialgebundenheit festigt, auf lange Haltbarkeit eingerichtet. Adornos These, wonach „der Faschismus nachlebt“, weil die „objektiven gesellschaftlichen Voraussetzungen fortbestehen“, die ihn hervorbrachten (2015, 22), findet einen Widerhall im Urteil, das aus den im PPF durchgeführten Studien hervorgeht: „Der Faschismus ist alles andere als ein bloßer Einbruch von außen in die bürgerliche Gesellschaft und ihre Institutionen; es ist der Ernstfall ihrer Normalität.“ (Haug 1987, 18) Wenn Haug 1995, in einer Argument-Ausgabe zum Gedenken an den 8. Mai 1945, feststellen muss, dass vieles „von dem, was die Forschungsbeiträge in diesem Heft vorstellen“, noch immer oder „in manchen Fällen
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schon wieder weithin unbekannt“ sei, dann war dies beunruhigend angesichts des „Geschichtsbruch[s] 1989“, in dem faschistische Potenziale wieder aufzukeimen schienen (Haug 1995b, 173). Wie brüchig die demokratischen Institutionen sind, die den ‚Ernstfall‘ bisher nicht noch einmal eintreten ließen, davon mag, noch einmal mehr als zwanzig Jahre später, die mit der aktuellen Krise des Politischen zu konstatierende Erstarkung des europäischen Rechtspopulismus ein Bild geben. Es wäre daher zu wenig, wenn man sagt, der Moment solcher Krisen lasse dem Projekt, das wirklicher Aufarbeitung entscheidende Denkmittel an die Hand gibt, erneut Aktualität zukommen.
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III ‚Authentizität‘
Mitglieder der Deutschen Akademie der Künste, ehemalige Häftlinge von Konzentrationslagern und Peter Weiss lasen Die Ermittlung am 19. Oktober 1965 in der Volkskammer der DDR. Unter den Mitwirkenden waren aus dem Exil zurückgekehrte jüdischer Herkunft wie Helene Weigel, Alexander Abusch, Stephan Hermlin und Wieland Herzfelde und Opfer politischer Verfolgung wie Bruno Apitz, Fritz Cremer und Erwin Geschonneck und Opfer rassistischer Verfolgung wie Peter Edel. [Archiv der Akademie der Künste, Berlin]
Simone Barck
Das verhinderte Schwarzbuch Wassili Grossman und Ilja Ehrenburg und der Genozid an den sowjetischen Juden Vor 65 Jahren, im Sommer und Herbst 1941, begannen deutsche Täter mit jenen beispiellosen Verbrechen, die später Holocaust bzw. Shoa genannt worden sind. Shoa – das meint jenen singulären Massenmenschenmord an den europäischen Juden. Beginnend mit der Verfolgung und Vernichtung der polnischen und sowjetischen Juden, die den der Wehrmacht folgenden SS- und SD-Einsatzgruppen und Polizei-Bataillonen auf polnischem und russischem Gebiet ungeschützt in wahrstem Sinne des Wortes in die Hände fielen. Die ersten Berichte von Überlebenden der Massaker auf sowjetischem Territorium erreichten den Schriftsteller Ilja Ehrenburg (1891–1967), der sich seit dem Überfall der Nazi-Wehrmacht auf die Sowjetunion als Frontberichterstatter der Armee-Zeitung Krasnaja Swesda an vorderster Front befand, Ende 1941/Anfang 1942. Als damals schon bekannter Schriftsteller bekam er die Berichte und Briefe zugeschickt oder persönlich durch sowjetische Frontsoldaten überbracht. Das war der Beginn einer Sammlung von Dokumenten, die er mit Wassili Grossman (1905–1964) und anderen sowjetischen Autoren und Journalisten seit 1943 unter dem Titel Schwarzbuch zusammenstellte. Grossman, ein gelernter Chemie-Ingenieur, war damals ein erst durch wenige literarische Werke bekannt gewordener Schriftsteller. Dieses Dokumenten-Kompendium war Ende 1944 im Wesentlichen abgeschlossen, wurde auch gesetzt und teilweise gedruckt, ist jedoch in der Sowjetunion nie als Buch erschienen. Erhalten blieben, da über Jahrzehnte versteckt, die korrigierten Druckfahnen, mit dem Datum vom 14. Juni 1947 versehen. Sie bilden die Grundlage der deutschen Ausgabe von 1994 (Rowohlt Verlag), mit der umfangreichsten und unzensierten Fassung des Ursprungstextes. Der Umfang beträgt fast 1.000 Seiten und weist namentlich vierzig Mitarbeiter aus.1
1 Auf Seite 15 (Grossman und Ehrenburg 1994) wird als Originaltitel vermerkt: Schwarzbuch über die verbrecherische Massenvernichtung der Juden durch die faschistischen deutschen Eroberer in den zeitweilig okkupierten Gebieten der Sowjetunion und in den faschistischen Vernichtungslagern in Polen während des Krieges l941–1945: „An der Zusammenstellung des Schwarzbuches haben mitgearbeitet M. Aliger, M. Altschuler, P. G. Antokolski, W. S. Apresjan, L. Basarow, A. Derman, A. Efros, I. Ehrenburg, S. Epstein, I. Fefer, R. Fraerman, J. Gechtman, W. Gerassimowa, L. Goldberg, W. Grossman, W. IIjenkow, W. lnber, W. Iwanow, M. Jelin, J. Jossade, W. Kawerin. R. Kownator, L. http://doi.org.de/10.1515/9783050093932-011
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Simone Barck
Bevor das Schicksal dieses einzigartigen Buches beleuchtet werden soll, ist es erforderlich, zunächst etwas zum Inhalt zu sagen und nach seiner Bedeutung als ‚Dokument‘ zu fragen, als ‚Erinnerungsort‘, als historische Quelle, die in besonderer Weise mit den beiden Totalitarismen des zwanzigsten Jahrhunderts verklammert ist. Denn die verhinderte Veröffentlichung dieser Dokumentation der Shoa auf oberstes stalinistisches Geheiß, die beispiellose Kriminalisierung des Buches in dem antijüdischen Geheimprozess von 1952 (und den Todesurteilen für dreizehn Angehörige des Jüdischen Antifaschistischen Komitees (JAK) oder ihm nahe stehende Intellektuelle) offenbarte eine beklemmende, durchaus fatale Nähe im Antisemitismus von NS- und stalinistischer Prägung.
1 Zum Inhalt des Schwarzbuches Im nicht gezeichneten „Geleitwort“ (Grossman und Ehrenburg 1994, 17–18) (Verfasser war vor allem Grossman, von dem auch das nachfolgende „Vorwort“ (19–39) stammt) werden zwei Ziele benannt: Erstens soll sich das Schwarzbuch „als ein Denkmal über den unzähligen Massengräbern der von den deutschen Faschisten gequälten und ermordeten sowjetischen Menschen erheben“ und zweitens möge es als „Dokument der Anklage gegen die faschistischen Verbrecher“ (18) wirken. Zuvor erfolgt eine Erläuterung darüber, warum über das sowjetische Territorium hinaus die Vernichtungslager auf polnischem Gebiet und der Kampf im Warschauer Ghetto einbezogen worden sind: Das erscheine deshalb geboten, weil hier ein großer Teil des Massenmordens stattfand und weil sich hier der Widerstand der „Todgeweihten“ ermutigend zeigte (17). Da die aus Westeuropa einschließlich Deutschlands deportierten Juden in ihrer Mehrzahl auf polnischem und sowjetischem Territorium ermordet worden sind, was sich im Schwarzbuch ebenfalls spiegelt, muss hinzugefügt werden, dass sich auf diese Weise im Umriss auch ein tendenzielles Gesamtbild der Shoa ergibt. Die ins Schwarzbuch eingegangenen Materialien und Dokumente teilen die Herausgeber in drei Kategorien. Eine erste Gruppe bilden Briefe, Tagebücher, stenografisch aufgezeichnete Berichte und Aussagen von Zeitzeugen. Eine zweite Kategorie vereint Skizzen und Schilderungen sowjetischer Schriftsteller, die auf Zeugenaussagen, Briefen, Tagebüchern und schriftlichen Berichten fußen. In einer dritten Rubrik sind Mate-
Kwitko, W. Lidin, B. Mark, S. Michoels, G. Munblit, H. Oscherowitsch, L. Oserow, O. Sawitsch, M. Schambadal, M. Schejnman, M. Schkapskaja, V. Schklowski, L. Sejfullina, H. Smolar, L. Strongin, A. Sutzkever, I. Trainin, O. Tschorny.“
Das verhinderte Schwarzbuch
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rialien von der Außerordentlichen Staatlichen Kommission zur Feststellung und Untersuchung der Verbrechen der faschistischen Okkupanten, d. h. Aussagen von den „unmittelbaren Vollstreckern und Organisatoren der Massenmorde“ (18) vor sowjetischen Untersuchungsorganen versammelt. Die in dieser dritten Kategorie veröffentlichten staatsoffiziellen Dokumente, wie z. B. der Bericht über „die ungeheuren Verbrechen der deutschen Regierung in Auschwitz“ (884–906)‚2 der auch dem Internationalen Gerichtshof in Nürnberg vorgelegt worden war, bleiben im Folgenden, da erst nach 1945 hinzugefügt, aber auch wegen ihres geringeren Umfangs, außerhalb der Betrachtung. Die zuerst genannten beiden Kategorien oder Gruppen von Texten bilden vor allem die originäre Hauptsubstanz des Schwarzbuchs. Diese Texte umfassen den Zeitraum von Ende Juni 1941 bis zum Frühjahr 1945. Wie das Verfahren bei den Texten der zweiten Kategorie, den ‚Skizzen sowjetischer Schriftsteller‘, war, erfahren wir durch den Hinweis jeweils am Ende solcher Texte, wenn zu lesen ist: „zum Druck vorbereitet von“, bei einigen sind auch Autoren namentlich vermerkt. Wiederholt ist auch die jeweils am Ende eines Beitrags stehende Angabe „an der Zusammenstellung des Schwarzbuches haben mitgewirkt“ zu finden. Das bedeutet, dass es sich hier sowohl um bearbeitete Originalbeiträge wie neue, journalistisch-literarische Texte handelte. Diese spezifische Mischung von Textsorten hat jüngst einen Interpreten von einem „halb-künstlerischen Werk“ sprechen lassen, in dem ein Teil der Texte einer „beschränkten, punktuellen Umwandlung“ (Ryklin 2005, 167, 177) unterzogen wurde. Diese normativ konnotierte Wertung als ‚halbkünstlerisch‘ scheint mir nur bedingt geeignet, der komplizierten Textstruktur des Schwarzbuches gerecht zu werden, in dessen Zentrum das Dokumentarische steht, die Überlieferung von verbrecherischen Ereignissen und Einzel- wie Massenschicksalen des Genozids an den europäischen Juden. Die Texte der Kategorie Eins hingegen erscheinen demgegenüber als authentische Texte sui generis, wobei auch hier Eingriffe nicht ausgeschlossen werden können. Damit ist nicht die Zensur gemeint, deren vielfältige Spuren, aber auch Textänderungen und vor allem Streichungen in der vorliegenden Ausgabe in Kursivdruck hervorgehoben sind, worauf noch zurückzukommen sein wird. Es ist uns überliefert, dass es in diesem Punkt, dem Umgang mit den individuellen Dokumenten der Kategorie Eins, im Herbst 1944 zu einer Debatte zwischen Ehrenburg und Grossman in der Literarischen Kommission kam, die von den Kommis-
2 Der vollständige Titel des Berichts lautet: „Mitteilung der Außerordentlichen Staatlichen Kommission zur Feststellung und Untersuchung der Schandtaten der faschistischen deutschen Eindringlinge und ihrer Helfershelfer über die ungeheuren Verbrechen der deutschen Regierung in Auschwitz“.
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sionsmitgliedern zugunsten Grossmans entschieden wurde. Während Ehrenburg möglichst unbearbeitete Texte bevorzugte, „die emotionale Wirkung des Zeugnisses eines Menschen [kommt] der von Kunst sehr nahe“, wollte Grossman darüber hinaus „verallgemeinern“ (Altman 1994, 1069)‚3 worunter er attributive Appelle und generalisierende Anklagen verstand und formulierte. Grossman sah das Hauptanliegen des Buches darin, „im Namen der Menschen zu sprechen, die unter der Erde liegen und selbst nicht mehr reden können“ (1069). Das war jedoch nicht der eigentliche Dissens mit Ehrenburg, für den offensichtlich Dokumentarisches einen gleichberechtigten Status im Literarischen hatte. Und so beschränkte Ehrenburg im Interesse der „Ursprünglichkeit der Quellen“ (1068) seine Form der Bearbeitung auf bloße Kürzungen. In seinen unter Selbstzensur und Zensur leidenden Memoiren (russisch 1966–1967; vgl. hierzu Barck 2003, 262–265; siehe auch Barck 2004) hat er sich nur vorsichtig zu den unterschiedlichen Schreibweisen von sich und Grossman und der Arbeit am Schwarzbuch geäußert. Aber er nutzte die Gelegenheit, um ausführlich aus einigen (auch im Schwarzbuch enthaltenen) Briefen und Tagebüchern zu zitieren, weil „man an Vergangenes erinnern muß, um eine Wiederholung zu verhüten“ (Ehrenburg 1978, 168). Angesichts der erneuten Lektüre nach über zwanzig Jahren habe ihn erneut das Entsetzen gepackt, überkam mich tödliche Trauer. Ich verstehe nicht, wie wir das überlebt und die Kraft zum Weiterleben gefunden haben. Ich meine nicht den Tod, ja nicht einmal die Massenmorde, sondern die Erkenntnis, daß in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts Bewohner eines zivilisierten Landes zu etwas derartigem imstande waren. (Ehrenburg 1978, 167)
Mit den auf diese Weise kommentierten Zitaten wollte Ehrenburg wenigstens an das in der sowjetischen Öffentlichkeit der 1960er Jahre unbekannte Schwarzbuch erinnern, denn eine russische Ausgabe war ja nicht zustande gekommen. Die Texte der Kategorie Eins spiegeln im individuellen Erleben der Juden und anderer Bewohner der Ukraine, Belorusslands, Russlands, Litauens, Lettlands (so die nach dem Territorialprinzip angelegte Gliederung) die vor allem in grausamen Details abweichenden Stationen der Verfolgung, Ghettoisierung und Ermordung von Millionen jüdischer Menschen. Eine Reihe von lebendig Begrabenen, darunter von Kiewer Juden, die das Massaker der 70.000 von Babi Jar überlebt hatten (Grossman und Ehrenburg 1994, 43–58), berichten von der konkreten und ‚nüchternen‘ Systematik der Massenerschießungen.
3 Erarbeitet aus den erst in den 1990er Jahren in Moskau zugänglichen Archivmaterialien des JAK, vgl. hierzu auch Arad et al. 1993.
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Im Jahre 1961 wurde dieser Massenmord in der Schlucht von Babi Jar durch das Gedicht von Jewgeni Jewtuschenko Babi Jar weltbekannt. Es steht kein Denkmal über Babi Jar. Die grobe Grabschrift ist sie selbst, die Schlucht. Mir graust. Bin alt heut ebensoviel Jahr‚ wie sie das Volk der Juden nunmehr bucht. […] Ich bin das Echo tonlos mächtgen Schreis‚ der über abertausend Tote rinnt. lch bin jedweder hier erschoßne Greis. Ich jedes hier erschoßne kleine Kind. Nur kein Vergessen! Doch auch kein Erstarren! Die ‚Internationale‘ dröhn‚ vereint gesungen‚ wird für immer man verscharren den auf der Welt dann letzten Judenfeind. Kein jüdisch Blut pulsiert in meinem Blute. Doch tief verhaßt bin bis zum Lebensschlusse ich allen Judenfeinden wie ein Jude. Und ebendrum bin ich ein echter Russe! (Jewtuschenko 1963, 153–159)4
Überlebende Bewohner einzelner Ghettos geben Einblick in die verschiedenen Phasen der Erniedrigung und des Terrors, Bauern schildern die Auslöschung ganzer Dörfer und Landstriche. Besonders eindringlich sind die Perspektiven von Jugendlichen und Kindern: belorussischen und ukrainischen Waisenkindern (214–215, 366, 369–371). Für Odessa, wo eineinhalb Millionen Juden lebten und sich ein bedeutendes Zentrum geistig-kulturellen Lebens des sowjetischen Juden-
4 Später wurde das Gedicht auch von Paul Celan nachgedichtet. Zur russischen Zensurgeschichte im Zusammenhang der Vertonung durch Schostakowitsch vgl. Redepenning 2005, 298–300; vgl. auch Jewtuschenko 2000, 172–174.
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tums befand, werden besondere Brutalitäten und Perversionen der Okkupanten dokumentiert (135–152).5 In vielen Zeugnissen erscheinen Namen, insgesamt wohl einige hundert bis tausend, wodurch aus den Millionen namenlosen Opfern individuelle und familiäre Schicksale öffentlich werden. In den von der Zensur gestrichenen Passagen befinden sich allerdings auch solche mit vielen jüdischen Opfernamen, auch dies ein Ausdruck der generellen Tendenz, die jüdischen Opfer nicht besonders hervorzuheben. Ähnliches gilt auch für die Berichte aus den Vernichtungslagern Treblinka, Sobibor u. a. und den hier stattfindenden Widerstand. Im Text Der Aufstand im Warschauer Ghetto (955–978) wird „beispielhaft der Kampf der sowjetischen und polnischen Juden zu einer Zeit“ gezeigt, „da die Wahrheit über den Massenmord an den Juden ans Tageslicht gekommen und von den Henkern schon nicht mehr zu verbergen war“ (955–956). Dieser Beitrag stammt von Bernard Mark, der in einer erweiterten Fassung bereits 1944 in Moskau in polnischer Sprache erschienen war. Hiermit und seinen weiteren Recherchen wurde Mark zum anerkannten Historiker des Aufstandes, sein Buch Der Aufstand im Warschauer Ghetto. Entstehung und Verlauf kam 1957 bis 1959 in drei (bearbeiteten und erweiterten) Auflagen im Ostberliner Dietz Verlag heraus.6 Im Buch von 1959 gibt Mark an, dass er sein Material in den Jahren 1946–1953 (Mark 1959, 449) gesammelt habe. Keinerlei Erwähnung findet hier sein Beitrag für das Schwarzbuch aus dem Jahre 1944, ein Indiz für das bei den Schwarzbuch-Mitarbeitern erzwungene übliche Verschweigen dieses Projekts. Der Umstand, dass im Jahre 1963 eine weit voran getriebene russische Ausgabe nicht genehmigt worden war, weil sie „zionistische Propaganda“ (vgl. hierzu Altman 2005, 157) verbreite, kann als einer der Gründe für das Fehlen weiterer Auflagen in der DDR angenommen werden. Benannt werden in den Zeugnissen der Kategorie Eins auch zahlreiche Täter, was für deren spätere strafrechtliche Verfolgung wichtig wurde. Ganz deutlich sind viele deutsche „willige Vollstrecker“ namentlich gemacht, vor allem auch die „ganz normalen Männer“ aus den Polizei-Batallionen.7 Einen besonderen Stellen-
5 Michail Ryklin (2005, 168–169) hat in diesem Zusammenhang in den NS-Handlungsweisen gegenüber den Juden ein „Übersoll, einen Überschuß, der sich nicht durch Befehl und Gesetz erklären läßt“, festgestellt. Einen Überschuss als Faktor der Lust, der für die Umsetzung der ‚Endlösung‘ konstitutiv war. Und er stellt die Frage: Ist hysterisches Vergnügen nicht vielleicht eine notwendige Begleiterscheinung von Massenmord? 6 Vgl. den Beitrag von Silvia Schlenstedt. Die Auflage von 1959 hatte 479 Seiten, weitere Auflagen konnten bisher nicht nachgewiesen werden. Auch steht ein Vergleich dieser Ausgaben ebenso aus wie eine heutige Analyse dieses Buches. 7 Vgl. hierzu Browning 1993; Goldhagen 1996; Browning 2003, 360–448, enthält einen Beitrag von Jürgen Matthäus – „Das ‚Unternehmen Barbarossa‘ und der Beginn der Judenvernichtung,
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wert nimmt meines Erachtens das Tagebuch der litauischen Augenärztin Doktor Elena Kutorgiene-Buivydaite ein, die 1963 verstorben ist. Für ihr Verhalten wurde sie postum im Jahre 1982 von Yad Vashem als ‚Gerechte unter den Völkern‘ ausgezeichnet. Vom 22. Juni bis Dezember 1941 notierte sie, wie in Kaunas und Umgebung die Juden verfolgt und ermordet wurden. Dabei benannte sie den schändlich-aktiven Anteil ihrer litauischen Landsleute daran, von den „Hausmeistern“, die sich als „Räuber und Mörder“ erwiesen, bis zu den „Freiwilligen“ der „Hilfspolizei“, die sich an den Mordtaten beteiligten (Grossman und Ehrenburg 1994, 621–673).8 Auch bezeugt sie den durch Kälte und Hunger verursachten Tod sowie Mord an russischen Kriegsgefangenen.9
2 Zum Schicksal des Schwarzbuches Im Herbst 1944 lag der von der Literarischen Kommission unter der Leitung von Ehrenburg und Grossman, zunächst ohne jeglichen offiziellen Auftrag arbeitend, dann im Rahmen des im April 1942 in Moskau gegründeten JAK, verantwortete Textkorpus vor. Das JAK hatte dessen Drucklegung in Russisch, Englisch und Jiddisch in Aussicht gestellt, wenn „‚es gut wird‘“, worunter es ein in „propagandistischer und politischer Hinsicht brauchbares Buch“ verstand (Altman 1994, 1066). Ehrenburg, dem nochmals ein Konzeptionspapier abverlangt worden war, stellte fest: „‚Da nicht wir die Autoren dieses Buches sind, sondern die Deutschen, das Ziel des Buches jedoch klar ist, verstehe ich nicht, was mit ‚wenn es gut wird‘ gemeint ist; schließlich geht es nicht um irgendeinen Roman, dessen Inhalt unbekannt ist.‘“ (1066) An dieser Stelle wurde eine Parallel-Bemühung um ein Schwarzbuch in den USA unter der Federführung von Albert Einstein, dem Schriftsteller Schalom Asch und Ben Zion Goldberg sowie dem World Jewish Congress wichtig, das von den amerikanischen Urhebern ungewollt und in fataler Weise in Konflikt mit dem russischen Schwarzbuch geriet. Bei einer mehrmonatigen Reise in die USA, Mexiko, Kanada und England ab Juli 1943 hatten Solomon Michoels und
Juni–Dezember 1941“ –, von dem der Rezensent Wolfram Meyer zu Uptrup (2004) meint, dass der Verfasser das Schwarzbuch nicht zu kennen scheint. 8 In der Enzyklopädie des Holocaust (1993, 845) wird ihr Kownoer Tagebuch erwähnt, das teilweise in der UdSSR und in Israel in der Zeitschrift Yalkut Moreschet (1974) veröffentlicht wurde. Auf das Schwarzbuch erfolgt jedoch keinerlei Hinweis. 9 Nach Hilberg (1993, 351) war von den 3.350.000 sowjetischen Soldaten, die bis Ende 1941 in Gefangenschaft geraten waren, die Mehrheit „in jenem Winter an Hunger und Kälte“ gestorben.
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Itzik Fefer vom JAK für die Unterstützung der Roten Armee nicht weniger als 45 Millionen Dollar gesammelt. Auch war von ihnen in den USA eine gemeinsame Ausgabe des Schwarzbuches auf der Grundlage gegenseitigen Materialaustauschs vereinbart worden. Da die amerikanische Seite drängte, kam es auf Weisung des sowjetischen Botschafters in den USA, Andrej Gromyko, der das Erscheinen eines amerikanisches Schwarzbuches ohne sowjetisches Material befürchtete, und Solomon A. Losowskis, des stellvertretenden Chefs des Sowjetinformbüros, im Oktober 1944 zur höchst offiziellen Übergabe von 552 Seiten Manuskript des russischen Schwarzbuches an die amerikanischen Herausgeber.10 Diese Aktion fand nun allerdings hinter dem Rücken von Ehrenburg, Grossman und den übrigen Mitgliedern der Literarischen Kommission statt, stellte also einen autoritären Akt der Usurpation und verstörenden Enteignung dar. Ehrenburgs kategorischer Protest und seine Ankündigung, als Leiter der Literarischen Kommission zurückzutreten, falls die amerikanische Publikation ohne seine Genehmigung erscheinen sollte, blieb ohne Wirkung.11 Im März 1945 schickte Ehrenburg an die Mitglieder der Literarischen Kommission gleichlautende Briefe, in denen er darüber informierte, dass auf Beschluss Losowskis die Herausgabe des Schwarzbuches durch das JAK direkt erfolgen solle: „Daher beendet die von mir für diesen Zweck geschaffene Literarische Kommission ihre Arbeit“; er dankte herzlich für die geleistete Arbeit und drückte seine tiefe Überzeugung darüber aus, „daß die von Ihnen geleistete Arbeit für die Geschichte nicht umsonst war“.12 Ende 1944 und Anfang 1945 gelang es Ehrenburg immerhin noch, zwei Ausgaben von Dokumenten in jiddischer Sprache unter dem Titel Völker-Mörder herauszubringen. Die weitere Arbeit nach Ehrenburgs Rücktritt als Vorsitzender wurde von Grossman übernommen, der als Frontberichterstatter insgesamt über ganze drei Jahre aktiv gewesen war und der mit seinen Berichten und der Novelle Das Volk ist unsterblich (in 18 Folgen in der Armee-Zeitung Krasnaja Swesda 1942 abgedruckt) den Kämpfern und Toten der im Sommer und Herbst 1941 überrannten Roten Armee ein mobilisierendes und zugleich bleibendes Denkmal gesetzt hatte.13 Für ihn wurde die „grausame Wahrheit des Krieges“, zu der für ihn nicht zuletzt die
10 Sie fanden Eingang in The Black Book 1946. 11 Ehrenburg 2004, 334, Brief Ilja Ehrenburgs an das JAK, Moskau, 30. Januar 1945. 12 Ehrenburg 2004, 335, Brief Ilja Ehrenburgs an Wassili Grossman. 13 Vgl. hierzu A Writer at War 2005, 114. Das Buch besteht aus einer umfangreichen und kommentierten Zitatenmontage aus Grossmans von der Familie verborgenen Kriegstagebüchern, die das verheerende Bild der ersten Kriegsmonate ungeschminkt dokumentieren. Ein Vergleich mit den seinerzeit veröffentlichten Texten wäre aufschlussreich.
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Leiden der Zivilbevölkerung und die Ermordung der Juden gehörten, auch später zum Hauptinhalt seines Schreibens. Im Nachkriegsdeutschland wurde er früh durch seinen Bericht Die Hölle von Treblinka (1946) bekannt, einen der ersten Augenzeugenberichte über die NSTodeslager überhaupt. Hierin schildert er die Ankunft der Roten Armee Anfang September 1943 in diesem „größten Menschenschlachthof der SS“ (Grossman 1946, 6)14 und rekonstruiert aus den Berichten der wenigen Überlebenden das grauenvolle Geschehen in diesem Lager. Dabei werden eine Anzahl von hier tätigen Mördern beim Namen genannt. Dieser Bericht war noch in Moskau von Lilly Becher übersetzt worden, war Teil der antifaschistischen Arbeit deutscher Emigranten in der UdSSR. Grossmans dickleibiger Roman Wende an der Wolga (ca. 930 Seiten), russisch 1952 unter dem Titel Für die gerechte Sache nach von der Zensur verlangten Veränderungen herausgekommen, galt mit mehreren Auflagen in den 1950er Jahren als anerkannte patriotische Literatur über den ‚Großen Vaterländischen Krieg‘. Zunächst hatte der Vorwurf gelautet, sein Buch entstelle „den Charakter des sowjetischen Menschen“ (Grossman 1987, 921). In diesem episch ausufernden Roman, der 1958 im Berliner Dietz Verlag erschien, entfaltet Grossman in mehreren Handlungssträngen und einem weit verzweigten Personenensemble, das russische und deutsche Figuren umfasst, das Geschehen um die Schlacht von Stalingrad bis zur ‚Wende an der Wolga‘. Dem zeitlich daran anschließenden Manuskript Leben und Schicksal (ca. 900 Seiten), das der Autor 1960 abgeschlossen hatte und in manchem mit Theodor Pliviers Stalingrad vergleichbar ist, war ein besonderes Schicksal beschieden. Nach der Übergabe des Manuskripts an die Redaktion der Zeitschrift Snamja erschienen KGB-Beamte in seiner Wohnung, um sämtliche Durchschläge und den Roman betreffenden Unterlagen zu beschlagnahmen. Aus dem ZK der KPdSU verlautete, dass dieses Manuskript nicht früher als in 250 Jahren gedruckt werden könne. Beschwerden bei Nikita S. Chruschtschow fruchteten nichts, und der deprimierte
14 Vgl. den Beitrag von Helmut Peitsch. Teile dieses Berichts waren in der sowjetischen Presse, u. a. der Krasnaja Swesda, veröffentlicht worden und dadurch auch in die ausländische Presse der Alliierten gelangt. Das galt auch für Konstantin Simonows Bericht über die Befreiung von Majdanek. Die Internationale Literatur brachte im Mai-Heft 1945 auf den Seiten 53 bis 70 einen Auszug aus Die Hölle von Treblinka. Andere Texte von Grossman in der lnternationalen Literatur waren: 1942 „Der Herr dieser Erde“ (aus der Novelle „Das Volk ist unsterblich“) in Heft 11; 1943 „Stalingrader Überfahrt“ in Heft 1, „Zwei Stalingrader Erzählungen“ in Heft 2, „Sieg des Lebens“ in Heft 9, „Juli 1943“ in Heft 10; 1944 „Der Angriff“, „Zwei Frontberichte“ in Heft 9. In Ost und West erschienen von ihm: 1947 „Der alte Lehrer“ in Heft 2; 1948 „Leben“ in Heft 12. Einen Teil dieser Texte gliederte Grossman später in seinen Roman Wende an der Wolga ein.
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Autor verstarb nur wenig später. Das Buch kam 1980 in Lausanne, 1984 in der BRD heraus. Grundlage dafür war eine „synthetische Textfassung“, die aus zwei wieder aufgefundenen, voneinander abweichenden Varianten hergestellt werden konnte (vgl. hierzu Etkind 1987, 916). Nun wurde klar, worin die Provokation dieses Buches für die Parteiführung bestanden hatte: in der Schilderung einer tendenziellen Gleichheit von faschistischem und stalinistischem Totalitarismus. Heutige Wertungen schätzen Leben und Schicksal als antistalinistisch und antitotalitaristisch ein, während Wende an der Wolga als ‚offiziell‘ verworfen wird.15 Das erweist sich als zu ungenau und verzeichnet meines Erachtens Grossmans Intentionen, der ja das zweite Buch der Zeitschrift Snamja 1960 zur Veröffentlichung übergeben hatte und wohl wusste, dass ein auf der TotalitarismusTheorie fußendes Werk nicht publiziert werden würde. Oder war er nur naiv? Nur ein noch ausstehender expliziter Vergleich könnte Klarheit über die Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Aussage zu diesem Problem bringen. In einer interessanten Analyse hat Klaus Städtke Leben und Schicksal als „ein literarisch bedeutsames und der wissenschaftlichen Analyse von Hannah Arendt in gewisser Weise vergleichbares Werk“ gewertet (2005, 258). Er sieht den Roman in „[r]ussische[r] Erzähltradition und totalitäre[r] Erfahrung“ (259), den Autor während der Arbeit an dem Roman den „Weg […] vom sowjetrussischen zum antisowjetischen Autor“ durchlaufen (260). Auch diese Kennzeichnung von Grossman als ‚antisowjetischer Autor‘ scheint mir noch überprüfenswert. Ebenfalls darf bezweifelt werden, dass jener Grossman, der einst Für die gerechte Sache schrieb, nichts gemein habe mit dem Verfasser von Leben und Schicksal (so Markish 1987, 922). Solch eine schematische Trennung erscheint mir literarhistorisch kaum haltbar. Was für unseren Zusammenhang aber noch als wichtig festzuhalten ist, das ist der Umstand, dass bereits in Wende an der Wolga das Thema des Massenmordes an den sowjetischen Juden präsent ist. Und zwar am Beispiel der betroffenen Mutter einer der Hauptfiguren, des Wissenschaftlers Strum, erfahren wir genaue Schilderungen über das Massenmorden an den ukrainischen Juden in szenischen Beschreibungen, wie wir sie auch ganz ähnlich im Schwarzbuch finden.16 Grossman vemochte auf diese Weise ganz ähnlich wie Ehrenburg, die Informationen
15 Vgl. hierzu Grossman 1987, insbesondere das Nachwort von Etkind und Simon Markishs „Über den Autor“, die meines Erachtens Grossmans ‚Verurteilung des Regimes‘ übertreiben. 16 Vgl. hierzu Grossman 1958, 80–93, in Leben und Schicksal weit ausführlicher (Grossman 1987, 189–208, 322–338, 614). Von Grossman stammt auch die (bereits 1934 geschriebene) literarische Vorlage („In der Stadt Berditschew“) zu dem Film Die Kommissarin von Alexander Askoldov, 1966 gedreht, aber erst 1986 gezeigt. Die späte Erzählung Alles fließt (russisch 1989, deutsch 1990) ist eine scharfe Abrechnung mit der stalinistischen Diktatur aus der Perspektive eines nach 1956 in die sowjetische Gesellschaft zurückkehrenden Gulag-Opfers.
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über den massenhaften Mord an den Juden in sein literarisches Werk zu integrieren. Doch zurück ins Jahr 1945, in dem die Arbeit am Schwarzbuch nun unter Grossmans Leitung weiter ging, auch Ehrenburg beteiligte sich als Mitglied des JAK weiter daran. Ein erstes internes Gutachten der JAK-Leitung stellte im Februar 1945 einen „grundlegenden ‚Mangel‘“ des Manuskripts fest: Es werde in ihm „‚unverhältnismäßig ausführlich über die schändlichen Aktivitäten der Volksverräter unter den Ukrainern, Litauern u. a. berichtet, dies mildert die Kraft der Hauptanklage, die sich gegen die Deutschen richtet, worin ja wohl die grundlegende und entscheidende Aufgabe des Buches zu bestehen hat‘“ (Altman 1994, 1069). Der hier erwähnte Tatbestand der Kollaboration sollte ein zentrales Kriterium der Zensureingriffe werden, wie an den kursiv gesetzten Passagen der 1994er Ausgabe deutlich zu erkennen ist. Weitere Gutachten forderten, dass die Rolle der einheimischen „‚Helfershelfer nicht überbetont werden sollte‘“, um nicht indirekt die faschistische Propaganda zu unterstützen, auch sollten die Mitglieder von Judenräten „‚nicht als durchweg makellose und äußerst heldenhafte Leute dargestellt werden‘“ (1072–1073). An vielen Stellen des Manuskripts war die Benennung der jüdischen Opfer durch den Terminus ‚friedliche sowjetische Bürger‘ ersetzt worden. Während ein redigiertes Manuskript die Grundlage der amerikanischen Ausgabe vom Frühjahr 1946 bildete (vgl. The Black Book 1946)‚17 verzögerte sich die russische Ausgabe. In einem Brief hatte die JAK-Leitung Ende November 1946 bei Andrei Schdanow, Hauptabteilung Propaganda und Agitation beim ZK der KPdSU, um die Freigabe zum Druck und um Papier gebeten. Immerhin sollten 42 Druckbogen in 30.000 Exemplaren erscheinen, und der jüdische Verlag Emes verfügte nicht über ein solches Papierkontingent. Damit war ungewollt das Ende des Projekts eingeleitet: Denn nachdem das gesamte Manuskript angefordert worden war, lehnte der Leiter der Hauptabteilung Verlage und Buchhandel, G. F. Alexandrow, per 3. Februar 1947 dem ZK gegenüber die Veröffentlichung als unzweckmäßig ab. Das Schwarzbuch betreibe Geschichtsfälschung, vermittele eine falsche Vorstellung vom wahren Charakter des Faschismus, es rufe den Eindruck hervor, dass „‚die Deutschen nur deshalb gegen die UdSSR Krieg geführt hätten, um die Juden zu vernichten‘“ (Altman 1994, 1077). Außerdem habe das JAK ohne Kenntnis der Zensur-Behörde das Manuskript nach den USA geschickt, wo eine nur frag-
17 Das Manuskript war außerdem nach Österreich, England, Bulgarien, Ungarn, Italien, Mexiko, Frankreich, Polen, Rumänien, Tschechoslowakei und Palästina geschickt worden. Ausgaben auf dieser Grundlage kamen jedoch nur in Rumänien 1946 und in Israel 1980 (in Russisch) heraus (Altman 1994, 1074; Ehrenburg 1994, 1100).
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mentarische Ausgabe erschienen sei. Hier manifestiert sich der Beginn des Kalten Krieges und die Kriminalisierung des JAK und des Schwarzbuches, wie sie sich in der Ermordung Solomon Michoels am 13. Januar 1948 in Minsk, der Auflösung des JAK im November 1948 und der folgenden Verhaftung von vierzehn seiner führenden Mitglieder einschließlich des Altbolschewiken Losowski niederschlugen. Es waren dies jene Jahre, die Ehrenburg in seinen Erinnerungen (1978, 341) als die „schwersten seines Lebens“ bezeichnet hat. In der Kampagne gegen den „heimatlosen Kosmopolitismus“ (349) wurden seine Artikel nicht mehr gedruckt und er musste sich wie u. a. auch Grossman persönlich bedroht fühlen. Die von Stalin nach einem farcehaften Geheimprozess angeordnete Erschießung von dreizehn führenden Vertretern des geistig-kulturellen sowjetisch-jüdischen Lebens, darunter die Dichter Isaac Fefer, Perez Markisch, Lew Kwitko, David Hofstein, im August 1952 waren Ausdruck von Stalins totalitärem Antisemitismus. In dem Geheimprozess war Beteiligung am oder Nähe zum (nun als sogenannt titulierten) Schwarzbuch zum Anklagepunkt geworden, es wurde als ‚jüdischer Nationalismus‘ geschmäht und das JAK als anti-sowjetisches ‚Spionagezentrum‘ im Dienste der USA und Israels bezeichnet. Die Kassation des Schandurteils im Jahre 1955 wegen „Abwesenheit von konterrevolutionären Verbrechen“18 bedeutete immer noch keine Rehabilitierung, die erst Ende der 1980er Jahre erfolgte. Bis zum Ende der Sowjetunion sollte das Verdikt über das Schwarzbuch anhalten. Die ersten russischsprachigen Ausgaben erschienen in Kiew und Zaporoze 1991, in jeweils 100.000 Exemplaren. Eine ungekürzte russische Fassung kam 1993 in Riga heraus, an ihr hatte Irina Ehrenburg mitgearbeitet, die selbst als Frontkorrespondentin tätig war und ihrem Vater wiederholt bei der Zusammenstellung von Briefen geholfen hatte (vgl. hierzu Ehrenburg 1995; Altshuler et al. 1993). Das 1993 erschienene Unbekannte Schwarzbuch machte erstmals den riesigen Umfang des vom JAK gesammelten Materials deutlich, das zu großen Teilen noch der Auswertung harrt.19 Ein kleiner Teil des Gesamtmaterials von über 180.000 Seiten Dokumentation auf Jiddisch und Russisch, der Eingang in das Unbekannte Schwarzbuch fand, belegt die einzigartige sammlerische Arbeit des JAK und stellt ein bedeutsames historisches Archiv dar (vgl. hierzu Krakowski 1994).20
18 Vgl. hierzu Stalin’s Secret Pogrom 2001; hier wird zum ersten Mal das Prozess-Protokoll veröffentlicht mit den Aussagen der Angeklagten sowie das Dokument zur Aufhebung des Urteils (504); es wird angemerkt, dass die „Schließung des Falls“ noch keine Rehabilitierung der Angeklagten bedeutete. 19 Vgl. hierzu Arad et al. 1993. Ausgewählt sind hier 93 Dokumente, die unredigiert abgedruckt werden. 20 Die vom JAK gesammelten Materialien befinden sich im heutigen Staatsarchiv der Russischen Föderation unter der Signatur P-8114 und sind seit 1989 zugänglich.
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Mit dem Schwarzbuch des JAK blieb über Jahrzehnte ein dokumentarisches Archiv ausgegrenzt, das nach dem Krieg in zwei so ganz entgegengesetzten Prozessen, dem Nürnberger Prozess gegen die NS-Kriegsverbrecher und dem stalinistischen Geheimprozess gegen das JAK in den Zeugenstand gerufen worden war. Seine einzigartige Zeugenschaft des Genozids an den europäischen Juden21 ist bis heute noch nicht in Russlands Erinnerungskultur angekommenen. Das meint Ilja Altman (2005, 149), Historiker und Vizepräsident der Holocaust-Stiftung Moskau. Und wie sieht es damit in Deutschland aus?
Literaturverzeichnis Altman, llja. „Das Schicksal des Schwarzbuches“. Das Schwarzbuch. Der Genozid an den sowjetischen Juden. Hg. Wassili Grossman, Ilja Ehrenburg. Hg. der deutschen Ausgabe Arno Lustiger. Reinbek: Rowohlt, 1994, 1063–1084. Altman, llja. „Shoa: Gedenken verboten! Der weite Weg vom Sowjettabu zur Erinnerung“. Osteuropa 55.4–6: Kluften der Erinnerung. Rußland und Deutschland 60 Jahre nach dem Krieg (2005): 149–164. Altshuler, Mordechai, Yitzhak Arad, Schmuel Krakowski (Hg). Sovetskie evrei pišut Il’e Ėrenburgu 1943–1966. Jersualem: Yad Vashem, 1993. Arad, Y., T. Pawlowa, I. Altman (Hg.). Neizvestnaja černaja kniga. Svidetel’stva očevidcev o katastrofe sovetskich evreev (1941–1944). Nacional’nyj Inst. Pamjati Zertv Nacizma i Geroev Soprotivlenija, Jad Va-Sem. Moskau, Jerusalem: Tekst, 1993. Barck, Simone. „Ehrenburgs Memoiren – ein Buch mit sieben Siegeln“. Fenster zur Welt. Eine Geschichte des DDR-Verlages Volk und Welt. Hg. Simone Barck, Siegfried Lokatis im Auftrag des Dokumentationszentrums Alltagskultur der DDR unter Mitarbeit von Roland Links, Anja Augustin. Berlin: Links, 2003, 262–265. Barck, Simone. „Fluch des Schweigens“. Berliner Zeitung, 29. September 2004. http://www. berliner-zeitung.de/fluch-des-schweigens-15657226 (20. September 2017). The Black Book. The Nazi Crime Against The Jewish People. Under the auspices of the Jewish Black Book Commission, consisting of the World Jewish Congress in New York, the Jewish Anti-Facist Commitee in Moscow, the Vaad Leumi (Jewish National Council of Palestine) in Jerusalem, and the American Commitee of Jewish Writers, Artists, and Scientists in New York. New York: Duell, Sloan and Pearce, 1946.
21 Der Herausgeber der deutschen Ausgabe von 1994, Arno Lustiger, betont in seiner Einführung (9–12) den primären Quellencharakter des Buches zu Recht. Zugleich sei es ein „zeitgebundenes Dokument“, das von späteren Forschungen ergänzt oder auch korrigiert werden müsse. Einzelne Kritik, z. B. an dem Länderbericht über Lettland und den jüdischen Widerstand in Riga, fuße auf neueren Forschungen. In vielen Fällen enthalten die Anmerkungen korrigierende und ergänzende Angaben zu Ereignissen, Sachverhalten und Personen. Vgl. hierzu die kritische Besprechung von Kugler 1994.
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Magdalena Saryusz-Wolska
Holocaust-Darstellungen im polnischen Film Drei Beispielstudien Die Holocaust-Darstellung gehört zu den wichtigsten Motiven des polnischen Films vor und nach 1989 (vgl. Haltof 2012). Während sich die Kinematographien anderer Länder über mehrere Dekaden hinweg dem Thema näherten, war die Judenverfolgung während des Zweiten Weltkrieges im polnischen Nachkriegskino seit seinen Anfängen präsent. Wie sich Perspektiven und Semantiken in den filmischen Holocaust-Darstellungen sowie deren Rezeption in Polen verändert haben, soll in diesem Aufsatz exemplarisch anhand des Vergleichs von drei wichtigen Filmen nachvollzogen werden: Die letzte Etappe (Ostatni Etap, 1948) von Wanda Jakubowska, Die Passagierin (Pasażerka, 1961/1963) von Andrzej Munk sowie Korczak (1990) von Andrzej Wajda. Während sich das Problem der Darstellbarkeit der Shoah im Fall von Wajdas Korczak in die von Claude Lanzmanns Film Shoah (1985) ausgelöste Debatte einschreibt, fragten das Publikum sowie die Rezensenten von Die letzte Etappe mehr als vierzig Jahre davor nicht nur nach der Authentizität der Darstellung von Auschwitz, sondern auch nach dem Recht, ein Vernichtungs- oder Konzentrationslager überhaupt zum Thema einer Kinoproduktion zu machen. Auch im Fall von Munks Die Passagierin äußerten sowohl das Publikum als auch der Autor ähnliche Zweifel. Bemerkenswerterweise wurden Fragen, die bis heute Holocaustforscher sowie Film- und Medienwissenschaftler beschäftigen, bereits in der ersten Nachkriegsdekade gestellt. Jedoch fehlte zu dieser Zeit ein angemessener wissenschaftlicher Diskurs, um über die (Un-)Möglichkeit der Holocaust-Darstellungen ausführlich zu diskutieren.
1 Wanda Jakubowska Die letzte Etappe Wanda Jakubowska gehört aufgrund der Anzahl der von ihr produzierten Filme zu den fruchtbarsten polnischen Filmschaffenden (vgl. Talarczyk-Gubała 2015; Mazierska 2001 und 2006 Kap. 8). Die letzte Etappe1 entfachte als weltweit erster Holocaust-Spielfilm Interesse unter Historikern, Film- und Kulturwissenschaft-
1 Eine offizielle DVD mit dem Film erschien in den USA: The Last Stage. Reg. Wanda Jakubowska. Polart, 2009. Im Internet kursieren diverse Kopien. In Polen wird Die letzte Etappe von Zeit zu Zeit bei Sondervorführungen im Kino oder im Fernsehen gezeigt. http://doi.org.de/10.1515/9783050093932-012
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lern (vgl. Saryusz-Wolska 2012), auch wenn die internationale Resonanz der Forschung sich nicht mit kanonisierten Filmen wie Alain Resnais’ Nacht und Nebel (Nuit et Bruillard, 1955), Gerald Greens und Marvin Chomskys Holocaust (1978), Lanzmanns Shoah oder Steven Spielbergs Schindlers Liste (1993) vergleichen lässt. Die Rezeption von Die letzte Etappe lässt sich in unterschiedliche Phasen einteilen. Zunächst wurde der Film in Polen von Kritik und Publikum breit und positiv aufgenommen. Das Interesse der polnischen Zuschauer an den jüngsten Ereignissen war unmittelbar nach Kriegsende – wie Tadeusz Lubelski (2009, 125– 126) anhand von Umfragen aus dem Jahr 1946 belegt – groß. Die letzte Etappe wurde mit ausländischen Preisen ausgezeichnet und erhielt schnell internationale Anerkennung. Nachdem 1949 der sozialistische Realismus als einzige ästhetische Doktrin ins polnische Kino eingeführt worden war, warfen Kritiker Jakubowskas Film jedoch vor, dieser habe sich zu wenig dem Kommunismus gewidmet. Die Reaktionen der regimetreuen Filmkritiker veränderten sich in eine andere Richtung: Die Regisseurin habe sich in ihrem Film zu wenig dem Alltagsleben im Konzentrationslager gewidmet und zu stark mit der ideologischen und moralischen Verurteilung des Naziregimes beschäftigt. Nach heftigen Diskussionen, die bis in die Anfänge der 1950er Jahre anhielten, wurde es für die nächsten Jahrzehnte still um den Film. Zwar wurde er mehrmals sowohl im Kino als auch später im Fernsehen gezeigt, doch rief er keine größeren Kontroversen mehr hervor. Nach einer Erwähnung des Filmes in Annette Insdorfs erster Filmographie der Holocaust-Darstellung (1983) wurde Die letzte Etappe seit den späten 1980er Jahren in der polnischen und internationalen Forschung stärker beachtet. Der New Yorker Medien- und Filmwissenschaftler Stuart Liebman gehört zu den ersten, die in den 1990er Jahren den Film detailliert untersuchten und international thematisierten (1996 ff.). Interessanterweise folgten ausführliche polnische Analysen des Films und seiner Entstehungsgeschichte erst später (Madej 2000, 11–34). Hanno Loewy, Direktor des Jüdischen Museums in Hohenems in Österreich, warf ein neues Licht auf Die letzte Etappe, indem er die internationalen Kontakte Jakubowskas untersuchte (Loewy 2004). Loewy untermauerte so die These Liebmans (1996), die Regisseurin habe in Die letzte Etappe mehrere Bilder eingeführt, die später zur Entwicklung einer spezifischen und gut erkennbaren Holocaust-Ikonographie beitrugen. Neuerdings griffen Marek Haltof (2010) und Monika Talarczyk-Gubała (2015) dieses Thema wieder auf. Dank der neueren Forschung kann die Geschichte der Filmproduktion rekonstruiert werden. Die verschiedenen Versionen von Die letzte Etappe2 lassen sich
2 Es soll eine Version für das polnische und eine für das ausländische Publikum existieren. Liebman (1996, 192–193) erwähnt allerdings zwei unterschiedlichen Fassungen, die dem ame-
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wie in anderen Fällen mit der Zensur erklären. Jakubowska schrieb das Drehbuch zusammen mit Gerda Schneider, einer deutschen Kommunistin, die sie im KZ Auschwitz kennengelernt hatte. Obwohl die Regisseurin ebenfalls eine engagierte Kommunistin war und der Film auch als Dank an die Rote Armee für die Befreiung von Auschwitz gedacht war, hatte sie Schwierigkeiten, das Drehbuch durchzusetzen. Grund dafür war u. a. ein Konflikt mit Aleksander Ford (Wróbel 2003, 12), einem Kollegen aus dem linken Verband Stowarzyszenie Miłośników Filmu Artystycznego START (Gesellschaft der Liebhaber des künstlerischen Films). START wurde 1930 gegründet und spielte konzeptionell eine wichtige Rolle in der Entwicklung der polnischen Kinematographie. Die START-Mitglieder, zu denen außer Jakubowska und Ford nicht zuletzt der Filmhistoriker Jerzy Toeplitz, der Regisseur Jerzy Zarzycki und der Kameramann Stanisław Wohl gehörten, bildeten den Kern der polnischen Filmindustrie in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Sie hatten wichtige Positionen im staatlichen Unternehmen Film Polski (Przedsiębiorstwo Państwowe Film Polski) und anderen für die Filmproduktion wichtigen Institutionen inne. Nachdem Ford, bei dem damals die Entscheidung über die Zulassung der Drehbücher lag, Die letzte Etappe immer wieder korrigieren ließ und nach neuen Dokumenten und Bescheinigungen verlangte, intervenierte Jakubowska auf höchster politischer Ebene. Ein angebliches Treffen mit Stalin ist wohl als Anekdote zu betrachten, belegt ist jedoch, dass sie sich in der Frage der Drehbuchzulassung an den polnischen Staatspräsidenten Bolesław Bierut wandte, mit dem sie befreundet war (Madej 1998, 13–17). Das Projekt hatte für die Regisseurin auch biografische Gründe. Den Entschluss, einen Film über Auschwitz zu drehen, fasste sie noch während ihrer Zeit im KZ. Die letzte Etappe basiert zumindest teilweise auf eigenen Erfahrungen. Verschiedenen Figuren des Films liegen authentische Vorbilder zugrunde, auch wenn diese nicht historisch verbürgten Personen der kommunistischen Untergrundopposition entsprechen, sondern wohl eher aus mehreren authentischen Personen zusammengesetzt sind (Madej 2000, 26–27; Wróbel 2003, 13–14). In einer der Hauptprotagonistinnen des Films, Marta, erkannten die damaligen Zuschauer Mala Zimetbaum (Madej 2000, 27) – eine Jüdin, die im KZ als Dolmetscherin gearbeitet hatte und einen SS-Mann geohrfeigt haben soll, bevor sie durch den Galgen hingerichtet wurde. Fest steht, dass Mala Zimetbaum im KZ im Widerstand aktiv war und gemeinsam mit ihrem Verlobten (im Film: Tadeusz), ebenfalls Gefange-
rikanischen Publikum präsentiert wurden: Eine soll 110 Minuten lang gewesen sein, die andere 121 Minuten. Loewy (2004) berichtet zudem, er sei in der Sammlung des Museums AuschwitzBirkenau auf eine Fassung mit einer geänderten Schlusssequenz gestoßen, die noch stärker die Verdienste der Roten Armee hervorhob.
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ner im KZ, einen Fluchtversuch wagte und nach dessen Vereitelung hingerichtet wurde. Stärkere Emotionen als die Zuordnung der Filmfiguren zu realen Personen erweckte die Darstellung des Lageralltags im Film. Zwar erzählt Jakubowska die Geschichte auf Grundlage ihrer eigenen Erfahrungen, doch diese dürfen nicht als allzu repräsentativ angesehen werden: Als Kommunistin wurde sie zunächst im Warschauer Gefängnis Pawiak inhaftiert; man deportierte sie dann nach Auschwitz, von dort gelangte sie nach Ravensbrück.3 In Auschwitz hatte Jakubowska jedoch eine vergleichsweise privilegierte Stellung. Sie meldete sich als Fotografin und wurde nach Rajsko versetzt – ein Nebenlager, in dem ‚wissenschaftliche‘ Experimente durchgeführt wurden. Zu Jakubowskas Aufgaben gehörte es vor allem, Pflanzen zu fotografieren. Alina Madej beschreibt Rajsko als einen ungewöhnlichen Ort im Lagerkontext. Die weiblichen Häftlinge (Rajsko war ein Frauenlager) „schliefen einzeln in Baracken, die im Winter geheizt wurden, auf Hochbetten mit drei Ebenen, Strohsäcken, Bettwäsche und Decken. Sie bekamen drei Mahlzeiten täglich, angereichert mit Gemüse aus der Plantage. Sie durften die Unterwäsche sowie die Kleidung wechseln, sie trugen Schuhe aus Leder.“ (Madej 2000, 25) Da die Frauen in der Forschungsabteilung in Rajsko arbeiten sollten, wählte die Lagerleitung gut ausgebildete, zum großen Teil politische Häftlinge aus. Es war zudem eine sehr internationale Gruppe, wie sie die Protagonistinnen in Die letzte Etappe widerspiegeln. Eines der wichtigsten Merkmale des Filmes ist nämlich die nationale Vielfalt der Häftlinge, die alle ihre Muttersprachen sprechen: polnisch, russisch, deutsch, französisch, serbokroatisch. Nur jiddisch wird im Film nicht gesprochen, wie Loewy (2004, 181) bemerkt. Der Einfluss biografischer Erfahrungen erklärt die unmittelbar nach der Premiere des Filmes geführte Diskussion über die Authentizität der dargestellten Ereignisse. Einige Stimmen äußerten Dankbarkeit, dass die Regisseurin auf die Darstellung der Brutalität und des Makabren in Auschwitz verzichtete. Andere hingegen warfen ihr vor, Die letzte Etappe sei nicht realistisch. Sie unterstellten Jakubowska, alle im Film dargestellten Personen hätten einen privilegierten Status. Nicht repräsentativ erschien diesen Kritikern zudem die Darstellung, dass die meisten Protagonistinnen aktive Mitglieder des kommunistischen Widerstands waren. Manchen Zuschauern schienen sie nicht genug „abgemagert“ zu sein (vgl. Loewy 2004, 198; Wróbel 2003, 8).
3 Ewa Mazierska (2001) schreibt zwar, Jakubowska sei zunächst in Ravensbrück gewesen und danach in Auschwitz, wo sie die Befreiung des Lagers miterlebt haben soll, doch es handelt sich dabei um eine offensichtliche Verwechslung.
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Obwohl Jakubowskas Auschwitz-Darstellung ihre Erfahrungen in Rajslo zugrunde liegen, sind zahlreiche Bilder, Aufnahmen und Szenen aus Die letzte Etappe für spätere Holocaust-Filme prägend geworden. Auch wenn der Film international wenig beachtet wurde, lebten seine Bilder – wie Stuart Liebman (1996; 1997), Hanno Loewy (1996) und Marek Haltof (2012) überzeugend nachgewiesen haben – in anderen ikonographischen Holocaust-Darstellungen weiter: Selbstmordgedanken am Stacheldraht, der Blick auf die Schornsteine und den Rauch über dem Krematorium, das Aussortieren von Gepäck, Kleidung, Haaren. Die nächtliche, im Nebel inszenierte Einfahrt des Zuges nach Auschwitz weist Liebman als unmittelbare Quelle für Resnais’ Bild Nacht und Nebel nach, an das später Spielberg in Schindlers Liste visuell anknüpfte (vgl. Liebman 1996, 67; Liebman und Quart 1997; Haltof 2012). Als ikonographische Motive eines Spielfilms wurden diese Bilder zum ersten Mal bei Jakubowska verwendet. Jakubowska versuchte, in ihrem Werk zwei Strategien zu verbinden, die später in filmischen Holocaust-Darstellungen separat verwendet wurden: Die letzte Etappe enthält einerseits eine quasi-dokumentarische Abbildung des Lagers (ca. in den ersten 60 bis 70 Minuten des Films) und andererseits beinahe propagandistische Bilder von engagierten Widerstandskämpferinnen in den Schlusssequenzen. Den Film eröffnen Szenen, die dem Zuschauer das Alltagsleben der Häftlinge in Auschwitz zeigen. Diese stellen filmgeschichtlich die erste filmische Rekonstruktion eines KZs dar. Der dokumentarische Charakter der ersten Filmhälfte wird nicht zuletzt dadurch verstärkt, dass Jakubowska und ihr Team auf dem Gelände des KZs Auschwitz-Birkenau gedreht und als Statisten ehemalige Häftlinge engagiert haben. Erst im Laufe des Films werden die wichtigsten Figuren genauer vorgestellt: die Dolmetscherin Marta, die russische Ärztin Eugenia, die deutsche Kommunistin Anna. Immer stärker konzentriert sich die Handlung auf die konspirativen Aktivitäten der Frauen. Ein Unterschied zu den heute kanonischen Holocaust-Filmen besteht darin, dass Juden in Die letzte Etappe keine eigene Gruppe darstellen. Im Vordergrund stehen politische Häftlinge aller Nationalitäten. Zu den positivsten Figuren gehört die russische Ärztin Eugenia. Sie ist die einzige Protagonistin, die vom Anfang des Filmes an in einem affirmativen Licht dargestellt wird. Andere Frauen müssen erst Metamorphosen durchleben, um sich zu wahren Heldinnen zu entwickeln. Zweifelsohne war das jüdische Erbe in Nachkriegspolen ein problematisches Thema. Bis heute noch werden Pogrome wie das von Kielce (1946) tabuisiert. Allerdings muss betont werden, dass eine Darstellung von Auschwitz als einem Ort einer primär jüdischen Tragödie zu dieser Zeit undenkbar war, da in der offiziellen Parteipropaganda das KZ als Symbol des polnischen Martyriums galt (Wóycicka 2013). Hervorzuheben ist jedoch, dass die Darstellung einzelner Nationalitäten deutlich weniger stereotypisiert wurde, als wir es aus späteren Kriegs- und Holocaust-Fil-
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men kennen. Viel mehr als die Gruppierung der Protagonisten in unterschiedliche Nationalitäten oder Religionen scheint in Die letzte Etappe die ideologische Spaltung eine Rolle zu spielen. Positive Figuren sind nämlich nicht Polinnen oder Jüdinnen, sondern Kommunistinnen. Demnach gibt es bei Jakubowska sowohl ‚böse Deutsche‘, sogar solche, die als Karikaturen eines Deutschen gelten können (vgl. Liebman und Quart 1997), als auch ‚gute Deutsche‘ wie etwa die Kommunistin Anna. Darüber hinaus – dies hat beim polnischen Publikum für große Empörung gesorgt – präsentiert Jakubowska ‚böse Polinnen‘. Diese werden z. B. von der polnischen Capo Elza vertreten, die die Häftlinge weit schlimmer behandelt als manche ‚deutsche‘ Aufseherinnen und Aufseher oder SS-Offizier. Das Thema der Kollaboration der Polen wurde etwa zur selben Zeit in Stanisław Wohls kaum bekanntem Film Zwei Stunden (1946) und in Aleksander Fords Grenzstraße (1948) zum Ausdruck gebracht. Das ambivalente Verhalten einiger polnischer Bürger im Zweiten Weltkrieg wurde schon kurze Zeit später zum Tabu, das erst nach und nach u. a. Jan Błońskis Essay Die armen Polen blicken auf das Ghetto (1987) und Jan Tomasz Gross’ Nachbarn (2001) zu brechen versuchten.
2 Andrzej Munk Die Passagierin Die Idee, eine Begegnung einer ehemaligen KZ-Aufseherin mit einer ihrer Gefangenen nach dem Krieg zu inszenieren, stammte von der Schriftstellerin Zofia Posmysz. Ihr Text Die Passagierin aus Kajüte 45 wurde in ein Hörspiel umgewandelt, auf dessen Basis Andrzej Munk 1960 ein Fernsehspiel inszenierte‚4 das wiederum die Grundlage des Filmprojekts bildet. 1961 begannen die Dreharbeiten, jedoch starb der Regisseur am 20. September 1961 infolge eines Autounfalls. Zu diesem Zeitpunkt waren die meisten Retrospektivszenen, die sich auf die Ereignisse im KZ Auschwitz bezogen, abgedreht. Es fehlte allerdings ein Großteil der Rahmenhandlung über die Nachkriegsbegegnung der beiden Frauen. Munks Mitarbeiter entschieden, auf der Basis des vorhandenen Materials einen Film zu
4 Die TV-Inszenierung ist nicht erhalten geblieben. Ewelina Nurczyńska-Fidelska (1982, 132–144) rekonstruierte sie anhand des Drehbuches, einer Rezension sowie einigen archivalischen Materialien wie Skizzen und Fotos. Aus dieser Rekonstruktion geht hervor, dass im Mittelpunkt der Fernsehinszenierung die Gegenwartshandlung stand und der Umgang des deutschen Ehepaares Walter und Liza mit ihrer Vergangenheit als Aufseherin im KZ. In dieser Fassung soll Munk seine Kritik an dem westdeutschen Schweigen über die Ereignisse des Zweiten Weltkriegs zum Ausdruck gebracht haben. Die Ausstrahlung der Fernsehversion von Die Passagierin fand am 10. Oktober 1960 statt.
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montieren. Sie stellten den Film genau zwei Jahre später, am 20. September 1963, dem Publikum vor. Von einer Vollendung kann hier nicht die Rede sein, denn bis auf einige kleinere, kurz vor Munks Tod genau besprochene Szenen in Auschwitz wurde kein neues Material kreiert. Der Film ist daher mit einer Länge von knapp 60 Minuten etwas kürzer als gewöhnliche Spielfilme. Witold Lesiewicz kontrollierte die Zusammensetzung der von Munk noch gedrehten Fragmente und Wiktor Woroszylski schrieb einen Kommentar, der aus dem Off gelesen wurde. Für die Rahmenhandlung benutzten sie ausschließlich Stills aus den wenigen Szenen, die für diesen Teil des Films bereits vollendet waren. Zudem fügten sie am Anfang des Films Fotografien des Regisseurs aus seiner Privatsammlung ein, die an ihn erinnern sollten. Munk hatte sowohl die deutsche Besatzung Polens als auch die Niederschlagung des Warschauer Aufstands überlebt und studierte nach Kriegsende an der Filmhochschule in Łódź, wo er auch Andrzej Wajda kennenlernte. In den Anfangsjahren seiner künstlerischen Laufbahn (1947 drehte er seinen ersten Kurzfilm) sympathisierte er mit dem Kommunismus. Zwar war er kein engagiertes Parteimitglied, wie Wanda Jakubowska, doch in seinen frühen Dokumentarfilmen folgte er der Doktrin des sozialistischen Realismus, allerdings ohne „jene Aggression oder Feindschaft, die für viele andere Werke dieser Zeit typisch waren“ (Stolarska 2005, 22). Erst später, als Munk zum Spielfilm wechselte, wurde sein Blick auf die soziale Realität sowie auf die jüngste Geschichte deutlich kritischer. Die Passagierin wurde postum als sein größter internationaler Erfolg gefeiert. Im Gegensatz zu Wanda Jakubowska hatte Andrzej Munk keine persönliche Erfahrung mit Auschwitz gemacht – jedoch ist das Drehbuch von Zofia Posmysz, die in Auschwitz inhaftiert war, durch autobiografische Bezüge geprägt. Munk kannte das Lager lediglich aus Zeitzeugenberichten und literarischen Beschreibungen (Nurczyńska-Fidelska 1982, 126–128.). Die Passagierin konzentriert sich auf die Darstellung eines psychischen Konflikts, der zunächst zwischen der Aufseherin Liza und der Gefangenen Marta zum Tragen kommt, sich in den Gedanken der Aufseherin selbst widerspiegelt und entwickelt. Was der Film auf der universellen Ebene thematisiert, ist nicht nur die Erinnerung der SS-Aufseherin an Auschwitz, die durch eine zufällige Begegnung mit einem ihrer Opfer auf einem transatlantischen Schiff ausgelöst wird, sondern auch zwei Arten von Erinnerungen, die durch zwei verschiedene Retrospektionen wiedergegeben werden. Liza erzählt zunächst ihrem Mann ihre Geschichte; danach werden ihre eigenen Erinnerungen eingeblendet. In der ersten Retrospektive stellt sie sich als humane Angestellte im Lager vor, die voller Empathie für die Häftlinge war und sie sogar zu retten versuchte. Die zweite Retrospektive präsentiert sie als eine ‚durchschnittliche‘ Aufseherin, die zwar nicht besonders brutal gegenüber den Gefangenen war, von Rettungsversuchen jedoch kann keine Rede sein. In den beiden Erinnerungen
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spielt der Konflikt mit Marta eine besondere Rolle – die Aufseherin scheint von ihr besessen zu sein. Der Filmkritiker Konrad Eberhardt suggerierte, diese Besessenheit evoziere einen homoerotischen Hintergrund (Eberhardt 1963, 5). Dass Menschen über verschiedene Erinnerungen desselben Ereignisses verfügen können, die in einem Fall für sie selbst, im anderen für andere Menschen bestimmt sind, gehört zu den wichtigsten Thesen des Films. Eine solche Auseinandersetzung mit Multiperspektivität charakterisierte Munks Werk bereits früher. Nachdem schon sein Film Der Mann auf den Schienen (1956) dieselbe Geschichte aus drei Perspektiven erzählt hatte, wurde er von manchen Kritikern mit Orson Welles (Citizen Kane, 1941) oder Akira Kurosawa (Rashomon, 1950) verglichen. Im Fall der Passagierin wird die Konfrontation der Perspektiven zugespitzt, weil die Geschichte aus dem Lager nicht aus der Perspektive eines Opfers, sondern aus der einer Täterin erzählt wird. Munks Film ist sehr still, die Häftlinge schweigen meistens. Es ist Liza, die ständig spricht – sowohl in der Handlung der Auschwitz-Sequenzen als auch als Erzählerin im Off. Ständig hören wir ihre Stimme. Ihre Aussagen, die den Satz wiederholen: „Ich habe nur Befehle ausgeübt“, können aus der Perspektive des Zuschauers ihre Verantwortung oder Schuld nicht mindern. Spätestens in der Gegenüberstellung der Erzählung von Liza mit den lautlosen Bildern aus dem KZ-Leben wird klar, dass von einer Relativierung der Geschichte in Die Passagierin keine Rede sein kann. Munks subtile Weise, über schwierige Themen zu sprechen, erweist sich in dem Fall als durchaus angemessen. Es war sicherlich keine leichte Aufgabe, einen Auschwitz-Film zu drehen, der aus der Perspektive einer Aufseherin erzählt wird und dennoch die Opfer ausreichend würdigt. Es ist dem Regisseur jedoch gelungen, diese zwei Perspektiven erfolgreich zu verbinden, was sowohl in heutigen Interpretationen des Films betont wird (vgl. u. a. Stolarska 2005; Kwiatkowska 2003) als auch aus den Kritiken abzulesen ist, die anlässlich des tragischen Tods von Munk und der Premiere publiziert worden sind (vgl. u. a. Eberhart 1963; Dudzik 1961). Die damaligen Kritiker konzentrierten sich hauptsächlich auf das Problem der Vollendung des Werks durch Lesiewicz und Woroszylski. Diese schrieben im Prolog zum Film: „Wir suchen nicht nach Lösungen, von denen wir nicht wissen, ob sie seine Lösung wären. Wir versuchen nicht Handlungsfäden zu schließen, die durch den Tod des Regisseurs offengeblieben sind. Wir wollen bloß dieses Werk zusammen mit den Zuschauern lesen, so wie es ist, mit seinen Lücken und Unklarheiten“ (Woroszylski 1963, 5). Einige Publizisten griffen aber auch die Frage der Darstellung von Auschwitz auf: „Auschwitz überwältigt uns durch seine Authentizität und zwar nicht, weil der Autor uns die Entsetzlichkeiten vor Augen stellt. Im Gegenteil, Andrzej Munk verwendet konsequent die Methode des Umgehens von drastischen Situationen, Entsetzlichkeiten.“ (Eberhardt 1963, 5) Im Vergleich zu Die letzte Etappe wirken
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die Bilder in Die Passagierin in der Tat authentischer, z. B. in den Szenen der Tätowierung oder der Aussortierung von Gegenständen, die die Häftlinge mitgebracht haben. Munk wollte ein realistisches Bild erzeugen, ohne brutale Szenen zu zeigen (Beylin 1961, 11). Dennoch wertet Liebman (2007, 65) anlässlich der amerikanischen DVD-Premiere 2007 die Bilder von Munk nicht nur als unglaubwürdig, sondern als naiv. Interessanterweise stützt sich Munk in seiner Darstellung von Auschwitz auf einen ähnlichen Bilderkatalog wie Jakubowska oder Alain Resnais, dessen Nacht und Nebel er zweifelsohne rezipiert hat (Nurczyńska-Fidelska 1982, 129). An diesen Film erinnert z. B. die langsame Kamerafahrt entlang des Krematoriums. In einer anderen Szene schaut Liza lange in Richtung des Krematoriums und beobachtet den Rauch aus dem Kamin, die Kinder, die in die Gaskammer geführt werden, sowie das Einwerfen von Zyklon B in die Ventilationsröhre. Von den von Liebman und Loewy aufgezählten ikonographischen Motiven, die in den Holocaust-Filmen besonders oft vorkommen, fehlt in Die Passagierin nur die Einfahrt des Zuges. Die Züge sind hingegen auf der Tonebene präsent – man hört ihr Rattern und Pfeifen. Überhaupt spielt der Ton in Die Passagierin eine wichtige Rolle: Der verstörende Charakter des Ortes wird z. B. durch das Geräusch wiedergegeben, das vom Betreten des matschigen Bodens erzeugt wird. So sehen wir, wie Liza an ihrem Kommando, das Appell steht, entlang marschiert, doch das Quietschen ihrer Schuhe können wir nur hören. Ähnlich wirken die ruhigen Stimmen der sich miteinander unterhaltenden Kinder, die im Off zu hören sind, während die Zuschauer wissen, dass sie sich bereits am Eingang zur Gaskammer befinden. Solche Parallelen zeigen einmal mehr die Verflochtenheit der Ikonographie von Holocaust-Darstellungen. Auffällig ist in diesem Zusammenhang, dass Die Passagierin und Die letzte Etappe Frauenschicksale im KZ in den Fokus nehmen. In beiden Werken spielt Aleksandra Śląska die SS-Aufseherin. Da sie hervorragend Deutsch sprach und die Protagonistinnen in Die letzte Etappe ihre Muttersprachen sprechen sollten, ist die Wahl der Schauspielerin von Jakubowska völlig nachvollziehbar. Zudem beschloss Munk, ähnlich wie Jakubowska, die Inspektion einer (nicht spezifizierten) internationalen Kommission im KZ zu thematisieren. Die Kommission soll feststellen, ob die Häftlinge gut behandelt werden. Genau wie in Die letzte Etappe werden die Mitglieder der Kommission in die Krankenstation geführt, doch im Gegensatz zu Jakubowskas Film, in dem Eugenia mutig die Wahrheit über die Umstände im Lager zu erzählen versucht, schweigt Marta in Die Passagierin. Während Jakubowska im Vordergrund ihrer Handlung mehrere Frauen zeigt, konzentriert sich Munks Film auf eine Aufseherin und eine Gefangene. Diese teilt nicht nur den Vornamen mit der Protagonistin der Letzten Etappe, sie hat ebenfalls einen Verlobten namens Tadeusz, der einer kommunistischen Widerstandsgruppe angehört. Die beiden treffen sich heimlich, wie die
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Aufseherin Liza schnell bemerkt. Hinzu kommt, dass Marta in einer Szene um eine Übersetzung ins Deutsche gebeten wird. All diese Tatsachen weisen darauf hin, dass es sich bei den Figuren von Marta und Tadeusz um eine bewusste Referenz auf Die letzte Etappe handelt. Schließlich ist hier noch die Rahmenkonstruktion zu diskutieren, die aus Stills der unvollendeten Szenen sowie aus privaten Fotografien Munks besteht. Vieles deutet darauf hin, dass Munk großen Wert auf die Rahmenhandlung legen wollte, zumal die Vorlage von Posmysz hauptsächlich in der Gegenwart (Schifffahrt aus Europa nach Amerika) und nicht in der Vergangenheit (Auschwitz) spielt.5 Zeitzeugen berichteten jedoch, dass Munk mit der Rahmenerzählung nicht zufrieden war. Er soll sogar über ein neues Drehbuch für diesen Teil nachgedacht haben. Seine Mitarbeiter entschieden sich, die Rahmenhandlung zu rekonstruieren und sie mithilfe einzelner Photographien darzustellen. Wichtig ist, dass sie diese Bilder zu einem Film montiert haben. Sie werden in eine filmische Erzählung gegossen, etwa durch Schuss-Gegenschuss-Aufnahmen wie bei der Wiederbegegnung Martas mit Liza: Eine Totale des Kreuzfahrtschiffes Batory, auf dem sich die Protagonistinnen treffen. Die Kamera nähert sich jedoch immer weiter den Protagonistinnen, bis wir allein das Gesicht von Liza auf der Leinwand sehen.
3 Andrzej Wajda Korczak Andrzej Wajdas Korczak hat eine lange Vorgeschichte. Eine filmische Biographie des Pädagogen, Kinderarztes und Waisenhausleiters Janusz Korczak, eigentlich Henryk Goldszmit, der 1942 zusammen mit ‚seinen‘ Kindern in Treblinka ums Leben kam, plante Aleksander Ford bereits in den 1960er Jahren.6 Als 1968 in Polen studentische Unruhen ausbrachen, denen eine antisemitische Kampagne der Regierung folgte, wurde klar, dass der Film nicht vollendet werden durfte. Die Dekorationen wurden abgebaut und das Drehbuch ad acta gelegt (Müller
5 Auch in der Radio- und Fernsehfassung spielt die Handlung hauptsächlich in der Gegenwart. Während der Film, den wir heute kennen, den psychischen Konflikt zwischen Liza und Marta in den Vordergrund rückt, spielte in den ersten zwei Versionen dieser Geschichte die Auseinandersetzung zwischen Liza und ihrem Mann, Walter, eine viel größere Rolle (vgl. Nurczyńska-Fidelska 1982). 6 Fords Annäherung an die Holocaust-Thematik ließ sich bereits vor Ende des Krieges beobachten, nämlich in seinem Dokumentarfilm Vernichtungslager Majdanek – Friedhof Europas (Majdanek – cmentarzysko Europy, 1944), den er als Leiter der Polnischen Filmeinheit in der Roten Armee drehte (vgl. Liebman 2003).
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2010). Ein Jahr später wurde Ford zur Ausreise aus Polen gedrängt. 1973 wandte sich der Regisseur dem Thema erneut zu. Der deutsch-israelische Film Sie sind frei, Dr. Korczak kam 1975 in den Verleih (allerdings nicht in Polen), wurde aber kein Erfolg. Das Scheitern der Erstfassung beobachtete Andrzej Wajda, der sich zwanzig Jahre später entschloss, seine eigene Version von Korczaks Leben darzustellen, ebenfalls in einer Koproduktion, denn neben den polnischen Produzenten wirkten auch das ZDF und die BBC bei den Dreharbeiten mit (vgl. Müller 2010). Der 1990 auf dem Filmfestival in Cannes präsentierte Film war Wajdas erstes Werk nach der Wende von 1989. Nur wenige Filme der polnischen Kinogeschichte erweckten vergleichbare Kontroversen. In der Debatte um Korczak engagierten sich französische, amerikanische, britische, deutsche, israelische und nicht zuletzt polnische Kritiker und Intellektuelle. Der Anstoß zur Diskussion kam von Danièle Heymann, der damaligen Filmkritikerin der Le Monde, die den Film, besonders die Schlusssequenz, „zum Kotzen“ (1990) fand. Sie warf Wajda vor, der Film habe den polnischen Antisemitismus verschwiegen und würde Korczak zu stark in christlichen Kontexten darstellen. Kurze Zeit später schloss Claude Lanzmann sich Heymann an, der ihre Argumente noch einmal verstärkt wiederholte; er äußerte zudem (nicht zum ersten Mal) seinen Zweifel am Sinn und moralischen Wert fiktionaler Erzählungen über die Shoah. Lanzmann war der Meinung, Wajda hätte den polnischen Antisemitismus darstellen sollen; er hätte aus Korczak keinen polnischen Märtyrer machen dürfen; und schließlich hätte er überhaupt keine Bilder des Ghettos rekonstruieren dürfen (Lanzmann 1991).7 Auf Heymans Kritik an Korczak antwortete u. a. Agnieszka Holland (2001), die Drehbuchautorin des Films, die selbst nach den antisemitischen Unruhen von 1968 Polen verlassen musste. In einem langen Brief an die französische Tageszeitung Le Monde zählte sie die Quellen für das Drehbuch auf (u. a. ihre eigene Familiengeschichte, denn ihr Großvater, der im Warschauer Ghetto starb, kannte Korczak) und verwies auf die Stellen im Film, die den polnischen Antisemitismus erwähnen. Heymanns und Lanzmanns Hauptargumente bezogen sich vor allem auf die letzte Szene des Films, in der sich auf eine surreale Weise der Waggon mit Korczak und den Kindern vom Rest des Zuges nach Treblinka ablöst und auf einer Wiese stehenbleibt. Die Kinder und der Pädagoge gehen langsam, in slow motion, aus dem Zug heraus und laufen durch das hohe Gras einer Wiese. Die französischen Kritiker sahen darin nicht nur eine Zuspitzung des Holocaust-Kitsches, der den ganzen
7 Die Monatszeitschrift Kino druckte in der letzten Ausgabe von 1990 (Nr. 11/12) sowie in den Ausgaben Nr. 1 und 4 von 1991 die wichtigsten Stimmen der Korczak-Debatte ab. Eine detaillierte Rekonstruktion dieser Debatte liefert Ginsberg (2007).
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Film charakterisiere, sondern auch eine Umwandlung des jüdischen Helden in einen christlichen Heiligen. Die Verteidiger des Films behaupteten, es handele sich lediglich um eine Metapher, zum Teil auch um einen Ausweg, den Tod der Kinder in der Gaskammer nicht direkt zu zeigen, sondern symbolisch anzudeuten. Ein wichtiger Punkt des Streites um Korczak war die Frage nach der nationalen und kulturellen Identität des Protagonisten. Er wird meistens – genau wie viele andere Shoah-Opfer – als ‚polnischer Jude‘ bezeichnet, doch Heymann, Lanzmann und ihre Anhänger verlangten nach einer eindeutigen Zuschreibung: entweder Jude oder Pole. Im Film wird diese Doppelidentität sogar zum Thema eines Gesprächs: Eines der Waisenkinder in Korczaks Heim sagt wörtlich: „Er ist der größte lebende Pole“. Daraufhin antwortet ein anderer Junge: „Und der größte lebende Jude“. Den polnischen Teil seiner Identität verbanden die Kritiker des Films mit den angeblich christlichen Symbolen. Weitere Zeichen, die Korczaks polnische Identität beweisen sollen, sind seine Weigerung, die polnische Offiziersuniform auszuziehen und den Davidstern am Arm zu tragen (Bartov 2005, 155–157). Wajda und andere Künstler, die am Film mitwirkten, haben jedoch Korczaks jüdische Herkunft nie bestritten. Ebenso hat kein angesehener Historiker seine Verankerung in der polnischen Kultur geleugnet. Joanna Preizner, eine Krakauer Filmwissenschaftlerin, sowie Terri Ginsberg, eine New Yorker Filmhistorikerin, gaben deshalb ihren Beiträgen zu diesem Film ähnliche Titel: Preizner (2007) betitelte ihren Artikel „Żydowski Święty“ (Der jüdische Heilige) und Ginsberg (2007) spricht von „St. Korczak of Warsaw“. Da die jüdische Religion keine Heiligen kennt, verweisen diese Formulierungen sowohl auf die Doppelidentität Korczaks als auch auf die verschiedenen Wahrnehmungen seiner Verdienste aus polnischer und jüdischer Perspektive. Korczaks Opfer kann also dazu führen, dass er durch Christen als ‚Heiliger‘ bezeichnet wird (natürlich ohne entsprechende Legitimierung durch den Vatikan) und von Juden als ‚Gerechter‘. Die Kritiker des Films behaupteten, Wajda habe der christlichen Perspektive zu viel Aufmerksamkeit gewidmet. Am problematischsten erscheint in diesem Streit die Entwederoder-Logik. Sie führt dazu, dass die multikulturelle Gesellschaft Polens vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, in der Reibungen, Konflikte und schließlich auch Antisemitismus Alltag waren, aus den Augen verloren wird. Nationale und religiöse Homogenität Polens hingegen sind ein Resultat des Krieges und der kommunistischen Politik. Der Versuch einer eindeutigen Einordnung Korczaks entspricht der Logik der Nachkriegsordnung in Polen, wird aber weder der Realität, in der Korczak lebte, noch dem Film von Andrzej Wajda gerecht. Der kurz nach der Wende 1989 gedrehte Korczak lässt eine wichtige Tendenz der polnischen Nachkriegskultur erkennen. Während in den ersten Jahren nach dem Krieg fast ausschließlich Polen als Opfer des Naziregimes dargestellt wurden, widmete man jüdischem Leiden nach und nach mehr Aufmerksamkeit. Ein
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anderer wichtiger Kontext für die Rezeption von Korczak war die Ausstrahlung von Lanzmanns Film Shoah, der im polnischen Fernsehen 1986 in einer gekürzten Fassung präsentiert wurde. Die auf knapp zwei Stunden gekürzte Version des Polnischen Fernsehens (TVP) konzentrierte sich hauptsächlich auf die ‚polnischen‘ Fragmente des Films, d. h. auf Lanzmanns Gespräche mit polnischen Zeitzeugen. Da Lanzmann die These vertritt, die Polen seien am Holocaust durch ihren Antisemitismus mitschuldig, löste der Film damals große Kontroversen aus. Wajdas Korczak darf man natürlich nicht als eine Antwort oder einen Dialogversuch mit Lanzmann verstehen, dennoch muss die Rezeption des Films mit diesen medialen Geschehnissen in Polen in Verbindung gebracht werden. In der Zeit, als Wajda Korczak drehte, hatten sich bereits unterschiedliche narrative und ästhetische Strategien der Holocaust-Darstellungen entwickelt. Wajda grenzt sich von der dokumentarischen Ästhetik Resnais’ oder Lanzmanns ab und folgt den Regeln eines klassischen Spielfilms. Er wählt also eine künstlerische Strategie, die bereits zum Zeitpunkt seiner Vorbereitungen für Korczak sehr umstritten war. Davon weicht die surreale letzte Szene ab sowie das Drehen in Schwarzweiß. Manche Rezensenten sahen darin einen Versuch, Korczaks Biographie zu ‚dokumentarisieren‘. Hierfür spräche auch die Anwesenheit eines militärischen Filmteams in der Handlung des Films sowie die Einstellung der Kamera in manchen Aufnahmen, die nicht erkennen lässt, ob es sich um die Perspektive des Filmerzählers handelt oder um den Blickwinkel der Filmemacher im Film. Man möge sich jedoch fragen, ob das Aufgreifen der Schwarzweiß-Bilder nicht eher als hilfreiches Argument für Lanzmanns und Heymanns Unterstellungen diente, der Film sei nichts weiter als Kitsch. Die Wirkung dieses Stilmittels wurde allerdings drei Jahre später sichtbar, und zwar als Steven Spielberg seinen Film Schindlers Liste präsentierte. Der Einsatz von Schwarzweiß gehörte damals zu den meistdiskutierten Aspekten des Films, doch in dieser Debatte erwähnte kaum jemand, dass sich Spielberg möglicherweise von anderen Werken inspirieren ließ, nicht zuletzt von Korczak. In diesem Kontext wird noch einmal sichtbar, dass polnische Filme einen bedeutenden Einfluss auf die Entwicklung der international verwendeten Stilmittel zur Darstellung des Holocaust hatten.
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Die Wegstrecke der italienischen Nachkriegsliteratur Aus der Erfahrung des politischen Widerstands ins Feld sozialer Ziele und öffentlicher Erinnerung Die italienische Nachkriegszeit assoziiert man in Literatur, Film und Kunst mit dem Neorealismus, dessen dominierende Prämissen der Idee vorrangig sozialer Funktionen kultureller Produkte und einer Ästhetik des Dokumentarischen verpflichtet waren. Im Zentrum standen thematisch die Beobachtung des Alltags und sozialer Problemzonen, Armut, Ungerechtigkeit und politisch-ökonomische Hierarchien, die Lebenswirklichkeit von Kleinbauern, Bauern, Arbeitern, prekäre Verhältnisse, aber auch soziale Unruhen und die jüngste Vergangenheit, d. h. der Zweite Weltkrieg und der Widerstandskampf gegen die NS-Besatzung und die italienischen Faschisten. Neorealistische Literatur wurde als realitätsgerecht nicht allein bestimmter Schreibweisen wegen, die sich von magischem Realismus, Hermetik oder Futurismus abwandten, aufgefasst, sondern auch, insofern sie das Elend und die Rückständigkeit unterer Bevölkerungsschichten in einem System der Klassengegensätze thematisierte.1 Diese Auffassung steht in Zusammenhang damit, dass die ethisch-politische Grundhaltung des neorealismo als von einem als „marxistisch“‚2 „kommunistisch“ oder „sozialistisch“ bezeichneten Denken grundiert gilt, und unbestritten gibt es eine enge Verbindung der Strömung mit demokratischen Zielen der mehrheitlich linken Resistenza und der politisch-humanistischen Haltung der Intellektuellen der Nachkriegszeit, die aus der Opposition gegen das faschistische Regime erwachsen war. Die Widerstandserfahrung sorgte in diesem Sinne in der Gedächtnisformation nach 1945 für Kontinuität, so dass für Italien, wie Carlo Pacini und Klaus Bochmann bemerkten, nicht von einem „Jahr Null“ (Pacini und Bochmann 1987, 181) die Rede sein kann.
1 Symptomatisch ist hierfür beispielsweise das künstlerische Programm des realismo von Renato Guttoso: „Gli operai e i contadini sono una grandissima parte della realtà contemporanea; e nel nostro paese, nella nostra realtà essi hanno sul volto i segni della miseria, della sofferenza, delle sopraffazioni e dello sfruttamento a cui sono soggetti; e delle lotte che conducono, e delle sciagure che si abbattono su di loro.“ Guttoso 1992, 114. 2 Vgl. zum marxistischen Denken in der Nachkriegszeit Bedeschi 1985, 175–272. http://doi.org.de/10.1515/9783050093932-013
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Die Erinnerungssituation in Italien nach 1945 stand im Zeichen des Strebens nach einem gesellschaftlichen Konsens. Vorbei waren die Jahre der Spaltung im Faschismus und während des Kriegs, als sich mächtig, wenn auch spät, der Widerstand gegen die Diktatur, dann die deutsche Besatzung und die faschistische Repubblica sociale italiana (RSI) erhob. Nach Kriegsende war mit der Spaltung zwar nicht sofort Schluss; teilweise wurden Faschisten und Mitläufer verfolgt, konnten sich jedoch auch als Gruppe konsolidieren und mit rechtskonservativen Kräften verbünden, teilweise wurden die Antifaschisten als solche bzw. als ‚Feinde des inneren Zusammenhalts‘ heftig attackiert. Auf der anderen Seite flossen Widerstandserfahrungen und Dissidenz in die Suche nach neuen demokratischen Formen ein. Die italienische Gesellschaft war politisch und sozial unsicher und zerrissen, wie gerade Literatur und Film im Wunsch nach Orientierung, nach Wegen zur nationalen Gemeinschaft, im Austarieren verschiedener Positionen spiegeln.3 Krieg, Faschismus und Widerstand wurden in dieser Phase auch durch Literarisierung in je verschieden gedeuteter Weise Bestandteile der kollektiven Erinnerung, umgekehrt gedacht konsolidierten sich in der Nachkriegsliteratur ästhetische Formen und spezifisch der Partisanenrealität zuzuordnende Haltungen zur gesellschaftlichen Wirklichkeit, die jahrzehntelang ihre Wirkung entfalten sollten. Die folgende Bestandsaufnahme zum Jahr 1950 wird sich aus dieser Perspektive auf die für die öffentliche Erinnerung Italiens wichtigste Literatursparte, die der Resistenza-Literatur, konzentrieren. Die neorealismo-Konzeptionen der Nachkriegszeit, aber auch aktuelle eher stereotype Wiederholungen sind in den letzten Jahren wieder Gegenstand temperamentvoller Diskussionen geworden‚4 in deren Rahmen auch die folgenden Überlegungen stehen, welche sich sowohl von innen heraus, d. h. unter Rückgriff auf psychotraumatologische Erkenntnisse, als auch aus äußerer Richtung, d. h. durch den Blick auf ideelle Ambitionen und das politische Feld, der Frage nach den Gründen des sogenannten dokumentarischen Stils zuwenden. Es soll das Verhältnis zwischen Literatur, Erfahrung und Motivationen mit Bezug zum neorealistischen Stil in den Scharnierjahren des unmittelbaren secondo dopoguerra an einem Punkt ausgeleuchtet werden, an dem bisherige Untersuchungen sich brachen. Der thematische Schwerpunkt der Kriegsdarstellung, „Volksnähe“ und „Volkstümlichkeit“, das Vorhaben eines Entwurfs
3 Zum Problem der Konsensbildung nach einem Bürgerkrieg bzw. heftigen innergesellschaftlichen Konflikten vgl. Anja Bandau et al. 2008, 7–18, besonders 10–12. 4 Vgl. vor allem den Vorstoß von Giorgio Nisini und seine Kommentare zu vergangenen und laufenden Debatten in Nisini 2012 sowie Pomilio 2012. Vgl. auch Bertoni 2012, 303–324; SeglerMeßner 2015, 123–138.
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des Neuen im Sinne eines politischen Konzepts ‒ „contribuire alla costruzione di un domani migliore, da ipotizzarsi in chiave socialista“ (Pomilio 2012, 11) ‒, die Expansion der Erinnerungsliteratur nach 1945 und das Einfachheits-Credo führten bis heute immer noch zu idealisierenden oder reduktiven Vorstellungen über die Intentionen und die Motivationen der Autorinnen und Autoren von Partisanen-Literatur. Die Folgen der individuell schwer zu bewältigenden Erfahrungen im aktiven Widerstand wurden meist übersehen. Dass Widerstandsliteratur bestimmte als im positiven Sinne „schlicht“ oder historisch präzise erklärte Schreibweisen aufweist, wurde daher nur als Folge der Absicht betrachtet, Wirklichkeit „direkt“ und aus einer „pulsione ‚documentaristaʻ“ (Nisini 2012, 81)5 abbilden zu wollen. Gewiss lässt sich mit Giulio Ferroni sagen, dass die „Sprache“ des Neorealismus sich so weit wie möglich „al movimento della realtà“ (Ferroni 1991, 385) habe annähern wollen. Allein die Begriffe von Wirklichkeit, Wahrheit, Wahrhaftigkeit und Dokumentarismus bleiben jenseits politischer Zielsetzungen oder in konkretem Bezug zur Zeugnisliteratur vage, vor allem wenn sie mit der Idee verbunden werden, die Literatur zu Faschismus, Krieg und Widerstand sei spontan und „oft ohne literarisches Ziel“ (Ferroni 1991, 414) verfasst worden. Bei zahlreichen Schriftstellern und Schriftstellerinnen, deren Literatur sich auf den Partisanenkampf bezieht, sind jedoch ästhetische Phänomene zu konstatieren, die traumatische Effekte einfangen, welche sie mikrostrukturell mit einer Schreibweise verbinden konnten, mit der die Resistenza-Literatur soziale oder politische Ziele verfolgte. Dokumentarische Schreibweise, im Strengen erstarrte Sprache und strukturell nebeneinander stehende Ebenen stehen im Wechselverhältnis, so die These. Der Unterschied zu nicht-neorealistischer Literatur, die ebenfalls in oder nach Ereignissen massiver kollektiver und damit potentiell traumatisierender Gewalt entstand, nicht jedoch diese Kennzeichen aufweist, ist hier, dass die Sensibilität der Autorinnen und Autoren für sprachliche Effekte traumatisierender Situationen in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts in einem konkreten historischen, auch literarhistorischen Moment sehr hoch war, möglicherweise durch die außergewöhnliche „Intensität des historischen Moments“ des „Abenteuers der Partisanen mitten im 20. Jahrhundert“ (Bertoni 2012, 311) ausgelöst wurde, allerdings nicht nur im enthusiastischen Sinne, und sich mit dem Bedürfnis paarte, eine nüchterne Sprache zu wählen, nachdem die Sprache des Faschismus
5 Zur Kategorie des „Neuen“ als fundamental für die Kunst der 1950er Jahre vgl. noch einmal Renato Guttoso, der schreibt, die „richtige Kunst“ wende sich jener Seite der Gesellschaft zu, „che porta le nuove idee, le nuove energie, che si avvia a costruire un mondo piú libero, piú giusto, più felice“ (Guttoso 1992, 115–116).
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und selbst noch postfaschistische Literatur von Übertreibung und Verschleierung gekennzeichnet waren. Diese Sensibilität konnte eigener Erfahrung oder der Beobachtung entspringen. Sprachlich umgesetzt wird beispielsweise in L’Agnese va a morire die Erfahrung von Sicherheitsverlust und großer Ohnmacht in Situationen, die dem Selbstbild des autonomen, starken und handlungsfähigen Individuums zuwiderliefen. Auch die moralische Krise, die die Gewalthandlungen der Resistenza heraufbeschworen, spielt in die sprachlichen Reaktionen hinein, die, wie gesagt, zu häufig schematisierend als „dokumentarisch“ oder „schlicht“ etikettiert wurden.6 Etwas anderes tritt hinzu: Die Idee des Neorealismus beinhaltet nicht nur eine dokumentarische, sondern in der „politisch-sozialen Funktionalisierung“ auch eine „pragmatische“ Ausrichtung (Nisini 2012, 79), die an Giovanni Pesces Soldati senza uniforme sichtbar wird. In dessen literarischer Sprache überlagern sich der problematische Umgang mit dem genannten moralischen Dilemma der Resistenza und eine extrovertierte Strategie der Selbstdarstellung als kühl entscheidendem, hart eingreifendem Politiker. Für das Verständnis der geschichtlichen Vorgänge und speziell für die Mythenbildung in Bezug auf die Resistenza liegen zahlreiche, auch die italienische „Monumentalisierung“ (Cornelißen 2004, 17) dieser Zeit kritisierende Studien der Geschichtsforschung und der Literaturwissenschaft vor, auf die sich die folgenden Überlegungen stützen.7 Die auf die Struktur der Trauma-Reaktion bezogenen Erkenntnisse der Psychologie sollen für das Verständnis der Partisanenliteratur herangezogen werden und die literarhistorische und politikhistorische Perspektive auf das neorealistische Paradigma ergänzen. Die Bedeutung der Integration typischer Reaktionsmuster auf überwältigende Gewalt und Bedrohung und des politischen Kontextes für die Literarisierung der italienischen Widerstandsgeschichte wird an L’Agnese va a morire (1949) von Renata Viganò und Soldati senza uniforme (1949) von Giovanni Pesce aufgezeigt, deren Analysen durch einen Blick auf Cesare Paveses La luna e il falò (1950) kontrastiert werden. Die Sicht auf die Vergangenheit in La luna e il falò steht im Zusammenhang mit den verschiedenen Versuchen, in einer Zeit, in der die „neue“ demokratische italieni-
6 Diese Überlegungen entwickeln meine früheren Einschätzungen zum Verhältnis von Sprachgebrauch und der Darstellung von Resistenza-Gewalt in der italienischen Literatur am Beispiel von Renata Viganò und Giovanni Pesce weiter, u. a. im Rückgriff auf das psychotraumatologische Konzept der Dissoziation von Onno van der Haart, Ellert R. S. Nijenhuis und Kathy Steele (2008). 7 Vgl. etwa Pavone 1991; Bermani 1997. Pavone versucht, den Begriff ‚Bürgerkrieg‘ aus dem Korsett seiner ideologischen Verwendung zu befreien. Vor allem von ‚linker‘ Seite stand er im Verdacht, keine moralische Unterscheidung zwischen Faschisten und Partisanen zu erlauben, bzw. wurde in entsprechender Weise von (post-)faschistischer Seite eingesetzt. Vgl. zur heuristischen Verwendung des Begriffs auch Treskow 2005a, 211–232.
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sche Gesellschaft sich formierte, ein gültiges, der Erinnerung wertes, dabei nicht vereinfachendes Bild der Geschehnisse zu entwerfen.8 Ein besonderer Akzent der Analyse der drei Romane soll daher auf der Wahrnehmung der guerra civile und der Darstellung Deutschlands und der Deutschen liegen, an denen Komplexitätsgrad, Selbstdarstellung der Resistenza-Kämpfer und historische Verankerung im secondo dopoguerra gut erkennbar sind.
1 Die politische und literarische Situation nach 1945 Die Situation im postfaschistischen Italien ist wegen der Wende 1943 weg von der Allianz mit dem nationalsozialistischen Deutschland hin zu Besatzung und Widerstand anders als im Nachkriegs-Deutschland. 1940 trat Italien unter Mussolini in den Krieg ein, 1943 verkündete Badoglio nach dem Sturz Mussolinis den Waffenstillstand mit den Alliierten, woraufhin Deutschland sich vom Verbündeten zum Besatzer wandelte. Im April 1945 endete in Italien der Zweite Weltkrieg mit der Niederlage der Deutschen und der RSI, der Republik von Salò. Während Deutschland 1949 geteilt wurde, fand das durch Faschismus und Bürgerkrieg entzweite Italien wieder zusammen. Das Nachkriegs-Selbstverständnis Italiens basierte auf der Vorstellung, die Italiener seien in den Krieg hineingezogen worden – durch Mussolini und Hitler –, der Faschismus sei oktroyiert, die Italiener eigentlich im aktiven oder passiven Widerstand und letztlich alle Helfer der verfolgten Juden gewesen.9 Auch setzte sich eine Vergangenheitsdeutung fort, in der die Deutschen mehr oder weniger die Rolle des einzig Schuldigen an Krieg und Repression zugewiesen bekamen. Zweck war die eigene moralische Exkulpierung, aber auch, „die Alliierten davon zu überzeugen, gegenüber Italien eine mildere Haltung an den Tag zu legen, als […] im Waffenstillstandsvertrag fixiert worden war“ (Cornelißen 2004, 17). Gleichzeitig wurde das antifaschistische Paradigma der ehemaligen Kämpfer, der Linken und der Intellektuellen zur staatstragenden Idee. Schon 1945 entstanden Vereine ehemaliger Widerstands-
8 Als Beispiele dafür, wie jenseits des Mainstreams der Resistenza-Mythisierung eine differenziertere Darstellung der unmittelbaren Vergangenheit möglich war, wären z. B. Elio Vittorinis Uomini e no (1944) oder Beppe Fenoglios Il partigiano Johnny (postum 1968) zu nennen, auch Cesare Paveses La casa in collina (1949). Zur lange übersehenen differenzierten Kriegsdarstellung in Elio Vittorinis Uomini e no vgl. Meier 2002; zu Vittorini und Fenoglios I ventitre giorni di Alba vgl. Treskow 2008, 159–184. 9 Vgl. Treskow 2013a.
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kämpfer und Widerstands-Institutionen. Aus den klandestinen Verlagen gingen offizielle Verlage, Zeitungen und Zeitschriften hervor, es wurden Gedenksteine für gefallene Widerstandskämpfer eingeweiht, Gedenkplaketten angebracht und Anthologien aus Resistenza-Texten gefertigt.10 Die Widerstandserfahrung prägte auch die neue Verfassung von 1948, die ein Jahr vor den deutschen Verfassungen in Kraft trat und antifaschistische und sozialistische Grundwerte spiegelt.11 Der Aufschwung des linken Parteienbündnisses fand nicht parallel ab 1945 statt, sondern später, am stärksten zwischen den Parlaments-Wahlen 1948 und 1953. Der Stimmenzuwachs auf 35 % ist auch auf eine Veränderung in Italien zurückzuführen, an der Intellektuelle und Schriftsteller erheblichen Anteil hatten. Es ist eine gewisse Zeitversetztheit in Rechnung zu stellen: Direkt nach 1945 herrschte ein allgemeines Aufatmen und ein enormer „Nachkriegsoptimismus“ (Thoma und Wetzel 1992, 362)‚12 für den Kriegsende, Niedergang des Faschismus, Resistenza-Erfahrungen und Neuaufbau entscheidend waren. Um 1950 war unter vielen Intellektuellen wieder eine gewisse Ernüchterung eingetreten. Sie hing mit der als unzureichend empfundenen juristischen Strafverfolgung von Faschisten und Kollaborateuren, mit dem Sieg der christdemokratischen Partei 1948 und der mangelnden Reform sozialer und ökonomischer Missstände zusammen. Das erhoffte „Neue“ war nur zum Teil eingetreten.13 Für 1950 ist in Bezug auf Krieg und nationalsozialistische Vergangenheit von einer segmentierten Erinnerung zu sprechen. Die fiktionale Literatur und die für Italien wichtige Memorialistik, d. h. autobiographische Erinnerungsliteratur,
10 Vgl. Kertzer 1988; Focardi 2003, 333–343. 11 18 Monate hatte die Verfassunggebende Versammlung bzw. eine Kommission für den Entwurf der Verfassung eine juristische Grundlage für den neuen Staat erarbeitet, die dezidiert nicht monarchisch, sondern republikanisch-demokratisch war. Denn die Italiener hatten 1946 bei einem Referendum mit 54 % für die Gründung der Republik gegen immerhin knapp 46 % Monarchie-Befürworter gestimmt. Einerseits gab es also eine heftige antikommunistische Propaganda seitens der Christdemokraten, unterstützt von der katholischen Kirche, für die die ehemaligen Partisanen quasi Kriminelle darstellten. Andererseits sind die Jahre 1945 bis 1950 die Zeit, in der der antifaschistische Konsens vorherrschend wird. Dieser Konsens spiegelt sich u. a. in bestimmten sozialen Prinzipien im neuen Verfassungstext, z. B. der Hochschätzung der „Arbeit“ oder des Fortschritts. Sichtbar ist dies in Formulierungen wie jener des ersten Satzes der Verfassung: „L’Italia è una Repubblica democratica fondata sul lavoro“, „Italien ist eine auf Arbeit begründete demokratische Republik“ (Art. 1), oder dem Verweis darauf, dass alle „Arbeiter“ an der politischen, ökonomischen und sozialen Organisation des Landes partizipieren können sollen (Art. 3), alle Bürger das Recht auf Arbeit haben bzw. jeder Bürger die Pflicht hat, am materiellen und geistigen Fortschritt der Gesellschaft mitzuwirken (Art. 4). 12 Vgl. hierzu auch die entsprechenden Passagen in Carlo Levis L’orologio (1950). 13 Aufschlussreich dazu Garofalo 1950.
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kann in Kriegsliteratur von ehemaligen hohen Militärangehörigen und Frontsoldaten, post- und neofaschistische Literatur von Anhängern der Republik von Salò, Literatur von und über die Erfahrungen der Zivilbevölkerung, Literatur der Judenverfolgung und Resistenza-Literatur eingeteilt werden, verstanden hier als eine Literatur, die nicht nur, aber auch die Resistenza-Erfahrung Ende der 1940er Jahre noch feierte, danach weiter produziert wurde und ihre Wirkung über die Ernüchterungsphase hinweg beibehielt. Innerhalb dieser soll hier eine Partisanen-Literatur als exemplarisch für fiktionale oder autobiographische Texte bezeichnet werden, die nicht nur von der Widerstandshaltung geprägt sind, sondern den Partisanen-Kampf ins Zentrum stellen und deren Autoren und Autorinnen selbst persönliche Lebenserfahrungen mit der aktiven Resistenza verbinden. Dies gilt für Giovanni Pesce und Renata Viganò, nicht aber für Cesare Pavese, was, so eine Hypothese, auch ein Grund für die stilistischen Unterschiede seines Werks zu Viganòs L’Agnese va a morire und Pesces Soldati senza uniforme ist.
2 Renata Viganò L’Agnese va a morire L’Agnese va a morire erschien 1949, erhielt 1950 den hochangesehenen Premio Viareggio und gilt als der exemplarische Resistenza-Roman. Schon 1951 erschien er im Verlag Volk und Welt in der DDR auf Deutsch, noch heute ist er „aktuell“, gehört „zum Kanon der Literatur des Widerstands“ und erschien zuletzt, wie Francesca Bravi berichtet, vom 11. April bis 26. September 2015 „als Beilage zum Corriere della Sera“ (Bravi 2016, 277). Wie viele andere Erzählungen und Romane der Zeit gehen darin Erfahrungen der Verfasserin ein, die darüber hinaus auf Erfahrungen einer anderen Partisanin zurückgriff.14 Der sprachlich „frei von rhetorischen Ausschmückungen“, durch „Sachlichkeit und Klarheit“ (Bravi 2016, 280 und 281) geprägte Roman handelt von den Erlebnissen der älteren Wäscherin Agnese, die zusehen muss, wie ihr Mann von Deutschen deportiert wird, und daraufhin Widerstandskämpfern im Dorf hilft. Sie selbst geht in den Untergrund, nachdem sie den Deutschen Kurt mit einem Gewehrkolben im Schlaf lebensgefährlich verletzt hat. Nach diesem Initialereignis werden die Schwierigkeiten der Resistenza in Bezug auf Organisation, Ausstattung, Unterkünfte, Ernährung, Witterung und menschlichen Zusammenhalt geschildert. Agnes sorgt zum einen durch Kochen und Haushaltsarbeit für die Versorgung der Partisanen und leistet zum anderen Kurierdienste, organisiert Nahrung und Munition, ist tagelang unter schweren
14 Vgl. Zancan 1997, 231.
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Mühen, oft im Regen, bergauf, bergab mit dem Fahrrad unterwegs, immer im Verdacht, dem illegalen Widerstand anzugehören, also immer in Lebensgefahr. Alan Perry hat ihre romaneske Sakralisierung, die schon der Titel verheißt, plausibel aufgezeigt.15 Agnese (deutsch „Lamm“) ist eine Frau ohne jeden Fehl und eine Märtyrerin, die am Ende der grausamen Erschießung durch Kurt zum Opfer fällt, denn der Soldat war nicht tot, nur ohnmächtig, und rächt sich mit ihrer Hinrichtung, indem er ihr kreuzförmig in die Stirn schießt. Christliche Denkweisen und Märtyrer-passiones bilden die Blaupause des Romans und bieten laut Perry die Möglichkeit, schwere Gewalterlebnisse zu literarisieren; sie sorgten auch für gesellschaftliche Akzeptanz im weiterhin tief katholischen Italien.16 Die Sakralisierung der Figur funktioniert zum Teil über ihre einseitig positive Charakterisierung, zum Teil über die Dämonisierung anderer. So dient die klischeehafte Deutschland- bzw. Deutschendarstellung in L’Agnese va a morire als Counterpart der Italien- bzw. Italiener-Darstellung. Die Deutschen sind Repräsentanten der militärischen Großmacht Deutschland und des Faschismus bzw. Nationalsozialismus als eines diktatorischen, repressiven, menschenverachtenden Systems (vgl. Viganò 1949, 13). Wo sie auftauchen, verderben sie, wie es heißt, „die Tenne, die Ländereien, die Welt“ (14). Sie sind gekennzeichnet durch einen „mechanischen, unmenschlichen Anblick, farblose Haut, Wimpern, Haare, schmale, grausame, undurchsichtige Augen wie aus dreckigem Glas“ (15, vgl. ebenfalls 99). Die Maschinengewehre scheinen Teil ihrer Körper zu sein. Sie schreien und sprechen ein ‚barbarisches‘ Italienisch. Solchen Darstellungen, die wir überall in Fiktion und Memorialistik finden, gingen die brutalen Exzesse, die Massaker, Massendeportationen, Folterungen und Erschießungen von Wehrmacht, SD und SS voraus.17 Literarische Differenzierung und Individualisierung waren verständlicherweise nicht für alle die Mittel der Stunde, allerdings ist die Spannbreite in der Literatur doch erheblich. Angesichts der Gräueltaten der Deutschen spielte es für viele Schriftsteller und Schriftstellerinnen kaum eine Rolle, was Einzelne dazu bewogen haben mochte, und die Wahrnehmung der Deutschen en bloc ist nach ihren massenhaften und maßlosen Verbrechen erklärlich. Inwieweit die Autorin und ihre Landsleute den Auftritt der deutschen Soldaten genauso stereotypisiert empfunden haben bzw. inwieweit die Stilisierungen eine Sache der Literarisierung sind, ist schwer voneinander zu trennen. Sandro de Nobile hat jedoch treffend das ungewöhnlich Roboterhafte der Deutschen-Darstellung in L’Agnese va a morire hervorgehoben (de Nobile
15 Vgl. Perry 1999, 433–457. 16 Vgl. Perry 1999. 17 Vgl. zum Verhalten der Wehrmacht in Italien zusammenfassend Schreiber 1997, 93–129.
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2014, 515, vgl. ebenfalls 520). Mit psychotraumatologischen Erkenntnissen lässt sich zusätzlich argumentieren, dass die starke Vereinfachung nicht allein auf die Voreinstellungen der Zeit, auf ein weithin geteiltes Bild der Deutschen als kalte Barbaren zurückzuführen ist, sondern auch auf die Haltung des Individuums zurückgeht, das im Partisanenkampf seine psychische Stabilität sichern musste, wofür eine differenzierte Sicht nicht dienlich war. Nach dieser These würde auch in der später entstandenen Literatur eine affektive Haltung eingenommen, die noch von vormaligen „Abwehrstrukturen“ (van der Haart et al. 2008, 22) zeugt. Deutschland ist Deportationsziel, ein Land, in dem die Deportierten Zwangsarbeit und Lager erwartet, deren Bestimmung in der italienischen Widerstandsliteratur oft im Dunkeln bleibt. Diese Unwissenheit spiegelt literarisch zumeist den Wissensstand in Italien vor 1945, auch in L’Agnese va a morire.18 Darin wird zudem das nationalsozialistische Deutschland als Ort des methodischen Tötens über die Verbindung von Deutschtum und mechanischer Arbeitsamkeit charakterisiert, wie er auch im für Auschwitz oder die Vernichtungslager verwendeten Begriff „Todesfabrik“ mitschwingt (Lüdtke 1996, 5–18). Die Partisanen in Viganòs Roman erleben im Versteck das Nahen eines deutschen Bataillons. Die Soldaten kommen mit regelmäßigem Schritt heran, gehen in präziser Anordnung vor: „Si sentiva solo il rumore delle scarpe. Ripresero il passo regolare, monotono, brum, brum, brum“ (Viganò 1949, 99). Sie kennen ihr „Handwerk“ (102). Die systematische Art und Weise, mit der sie Feld und Landschaft „unermüdlich“ durchpflügen, entspricht, wie es heißt, dem „methodischen Werk von Arbeitern“, ist eine „Arbeit der Angst“ (100). Das heißt: Viganòs Präsentation der Figuren erzielt eine Vergröberung und Vergrößerung des deutschen Feindes. Sie knüpft an bekannte Stereotypen an, etwa das des Fleißes oder das der Methodik. Razzien, Erschießungen und andere in L’Agnese va a morire geschilderte Maßnahmen haben gleichzeitig eine klare Verbindung zur historischen Realität, die hier aus der Sicht der Resistenza wiedergegeben wird. Die Stereotypisierungen dienen darüber hinaus der Übertragung der verbrecherischen Taten ins Figurale und Abstrakte. Die Diabolisierung verweist auf die schwarze Hälfte im Schwarz-Weiß-Schema, in welchem die „weiße“ Seite den Widerstandskämpfern zugehört.19 Die dichotomische Simplifizierung hat die Übertreibung der eigenen Werte – der Solidarität oder der Menschlichkeit – und eigenen Leistungen, vor allem das Gelingen der Anschläge, zum Effekt. Die Schlechtigkeit des Feindes fungiert als Gegenpol und Voraussetzung der
18 So z. B. in Cesare Paveses La luna e il falò oder in Marta Ottolenghi Minerbis La colpa di essere nati; vgl. Viganò 1949, 25. 19 Vgl. auch de Nobile 2014, 513: „anima nera“.
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(unbestreitbaren) moralischen Überlegenheit der Resistenza. Das so geformte Geschichtsbild war einer der Hauptgründe der Preisverleihung 1950 und des großen Erfolgs beim Publikum. Dem Neorealismus wird nun spätestens seit Maria Cortis Il viaggio testuale von 1978 fest das Denken in Gegensatzpaaren zugeordnet, etwa zwischen „Reich“ und „Arm“, Faschismus und Antifaschismus oder eben Faschisten bzw. Deutschen und Antifaschisten.20 Die Wirkung von Viganòs Roman zeigt sich also auch in dieser Extrapolierung. Es formte sich das Stilbild an der Wahrnehmung von Widerstand und Bürgerkrieg in Literatur und Film, in die vielfach in sublimierter Weise Strukturen traumatischer Symptome eingegangen sind, von denen eine die Fixierung eines Weltbilds ist, das im Prozess der Erfahrung extremer Gewalt oder in der Zeit der Angst vor extremer Gewalt ausgebildet wurde, von dem der oder die Betroffene sich im Nachhinein nicht einfach lösen kann. In Viganòs Darstellung unterbleibt nicht zuletzt auch wegen dieser Fixierung eine selbstkritische Auseinandersetzung mit den moralischen Problemen der Resistenza. Die Entmenschlichung des Gegners dient auch der Vermeidung der Auseinandersetzung mit der eigenen Gewalttätigkeit. Die Schematisierungen der Deutschen und die Überzeichnung im Gut-Böse-Schema gehen in L’Agnese va a morire mit Äußerungen großen Hasses und mit Destruktionsphantasien einher.21 Sie scheinen Symptome dafür zu sein, wie die Gewalt des Krieges Empfinden und Denken verändert. Die strukturelle und manifeste Dauergewalt im Faschismus sowie die von Italienern bis dahin nicht gekannte erschütternde Grausamkeit im Bürgerkrieg 1943–1945, in dem man einem extrem brutalen Gegner ausgesetzt war und in dem Nachbarn sich verrieten, Fallen stellten und denunzierten, erzeugten eine permanente aggressive Spannung, der der Einzelne und die Einzelne kaum entkam. Der Text ist von dieser aggressiven Spannung geprägt. Die Schlichtheit der Sprache, das „Realitätsnahe“, „Dokumentarische“22 dient gewiss dazu, das Erleben einer Frau aus dem Volk nachzuzeichnen. Die Autorin versucht, wie Stefano Calabrese formuliert, die „Hämorrhagie der tragischen Erinnerungen mit diesem Text zu dämpfen“23. Hermann W. Wetzel stellte seinerseits fest, dass
20 Vgl. Corti 1978. 21 Vgl. zur Stabilität der neorealismo-Beschreibungen z. B. die nah an den Selbstcharakterisierungen der Autoren und Autorinnen argumentierende Darstellung der neorealistischen Bewegung in Polverini 2007, Kap. 3.3. 22 Vgl. Calabrese 1996, 9: „[…] basti a pensare all’Agnese va a morire di Renata Viganò, la quale tenta di tamponare l’emorragia dei ricordi tragici con un testo semiautobiografico che va arenarsi nella waste land di una facile retorica […].“ 23 Vgl. Calabrese 1996, 9.
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Gewalt in der italienischen Nachkriegsliteratur kaum konkret dargestellt werde‚24 was auch für L’Agnese va a morire gilt. Zwang, Herrschaft und Beherrschung, dauernde Bedrohung und Ohnmachtsgefühle finden jedoch implizit Eingang in den Text, so dass sich Calabreses Position aufnehmend von „emotionale[r] Betäubung“25 (van der Haart et al. 2008, 121) sprechen lässt, die in der Romansprache wirkt und den starken Noli-metangere-Effekt zur Folge hat. Weiches fehlt in L’Agnese va a morire fast ganz‚26 so dass der Autorin z. B. von Giorgio Pullini vorgeworfen wurde, eine Protagonistin geschaffen zu haben, deren „umanità“ nur eine einzige Dimension habe und die nur „univocamente e con […] rigidità“ (Pullini 1976, 171) handle. Man kann in der Rigidität eine Nähe zum mündlichen Ausdruck sehen, eines der kardinalen neorealismo-Kriterien. In L’Agnese va a morire sind schließlich auch die zahlreichen Dialoge als äußerst gedrängte Wortwechsel gestaltet, ähnlich wie in Uomini e no. Die Kürze unterstreicht die Permanenz von Kampf- und Entscheidungssituationen. Diesen Aspekt militärischer Sprache teilt der Roman mit Pesces Soldati senza uniforme, wovon sich La luna e il falò merklich unterscheidet, selbst in der sehr dichten Wiedergabe von Gesprächen. Paveses Duktus ist in den variierenden Gesprächssituationen seines Romans verschachtelter, klar, aber auch komplex, kennt Steigerungen und Abschwellen, Fragen und offene Enden. Bei Viganò bestehen die Gespräche meist aus kurzen Repliken. Rigidität betrifft damit in ihrem Roman sowohl die Sprache wie die Moral. Die positiven Werte der Resistenza werden in L’Agnese va a morire vielfach heraufbeschworen, aber die Aggressivität der Erzählweise spiegelt das Menschliche nicht wider. Die Narration zeugt eher vom Erstarren in Hilflosigkeit und Abwehr, wie es für Traumatisierte als „Dissoziation zwischen einem emotionalen Persönlichkeitsanteil mit Affektverlust und einem erlebenden emotionalen Persönlichkeitsanteil“ (van der Haart et al. 2008, 121) festgehalten wurde. Auf die Struktur von L’Agnese va a morire übertragen heißt dies, dass die Gattung mit allen narrativen Verfahren einen sicheren Rahmen analog zu den „anscheinend normalen Persönlichkeitsanteilen“ (van der Haart et al. 2008, 121) bildet, während auf der Diskursebene Vermeidung von Affekten und „Erleben“ ineinandergreifen, woraus u. a. durch die Wahl der personalen Erzählsituation (die dem auktorialen Erzählen sehr nahekommt) kombiniert mit einem Stil „emotionaler Anästhesie“ (van der Haart et al. 2008, 123 und 127) eine Aufspaltung in getrennte
24 Vgl. Wetzel 1998, 191–212. 25 Zu „Strategien der Vermeidung, Verleugnung oder Verdrängung des Erlebens von Gewalt“ bei Viganò und Pesce vgl. auch meine früheren Überlegungen in Treskow 2013b, 115–133. 26 Vgl. hierzu auch Treskow 2013b, 115–133.
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Sphären folgt. Das subjektive Erleben wird nicht verbalisiert, von der einstigen Erfahrung der Angst wirken hingegen Versteifung und Verdrängung fort. Die Verunsicherung ist beispielsweise an der Schilderung von Landschaft und Witterung ersichtlich, die, u. a. mit Begriffen des Kampfes, fast durchgehend als überaus beunruhigend dargestellt werden. Die Landschaft ist nicht nur Hintergrund, die Sandro de Nobile treffend als „eiskalt“ bezeichnet und die am Romanende Agneses Tod vorbereitet: „Fa da sfondo un paesaggio glaciale, lunare, deserto, presagio di morte“ (de Nobile 2014, 524). Sie fungiert auch als Symbolisierung ihrer psychischen Verfassung: La neve continuò a venir giù sulla valle. L’acqua appariva piú grigia per la bianchezza pesante dei „dossi“, dei tetti carichi. (Viganò 1949, 160) Cadde una notte nera, percossa dal vento. Il silenzio della valle senza vita si rompeva in raffiche sbandate, che arrivavano di lontano, con un fischio da proiettile, davano il senso di una cosa solida, lanciata ed erano fatte di niente. (197) Neve e neve: la notte adesso era quasi bianca, ma non si vedeva niente. Non c’era niente da vedere. (198) Solo neve bianca, e ombre nere di cespugli, macchie sparse a caso, in disordine, senza significato, come inchiostro spruzzato su un foglio di carta. Rimaneva la misura del tempo ma anche questa fu superata, e non accadde niente. (199)
Repetitivität, syntaktische Invariabilität und Schlichtheit, erkennbar z. B. am hohen Anteil parataktischer Satzkonstruktionen‚27 der Begrenzung der Lexik, dem sparsamen Einsatz von Adjektiven und der Vermeidung von Angaben zum subjektiven Empfinden, vermitteln in L’Agnese va a morire einen Zustand, in dem die Angst vor Gewalt, die Angst vor dem Gegner, die dauernde Angst vor Bedrohung und vor der eigenen Überforderung sowie die Erfahrungen von Hunger und Kälte zum Stillstand führen.28 Besonders auffällig ist der häufige Verzicht auf grammatische Explizierung des handelnden Subjekts, wie ihn das Italienische erlaubt. Dabei ist es nicht so, dass die Gefühle von Angst oder Depression gar
27 Vgl. z. B. Viganò 1949, 160: „Per difendersi, per sciogliere quei vincoli che legavano sempre piú stretti, per distruggere i nidi da cui nasceva la morte, bisognava dar fuoco a un paese intero, ammazzare tutti, partigiani e civili, innocenti e traditori, amici e nemici. I tedeschi lo facevano. Un giorno, all’improvviso, bruciavano un villaggio, e non sapevano perché proprio quello e non un altro. Erano tutti uguali: c’era in tutti l’odio contro i tedeschi, l’azione armata, la cospirazione, il terrore, eppure bruciavano quello e non un altro (“Un lavoro della paura“, come diceva Agnese).“ 28 Vgl. z. B. Viganò 1949, 175 oder 182–184. Nicht selten ist in L’Agnese va a morire auch davon die Rede, dass die Protagonistin den Schmerz des eigenen Körpers nicht oder nicht mehr spürt, eventuell ein Hinweis auf den „Verlust des Empfindungsvermögens“ auch in Bezug auf somatische Reaktionen (vgl. van der Haart et al. 2008, 123).
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nicht erwähnt werden (Viganò 1949, 159), im Gegenteil informiert die Erzählfigur mit markanter Distanzlosigkeit unentwegt über die Schrecken des Partisanendaseins und die Schwierigkeiten der Hauptfigur. Allerdings werden Emotionen nur namentlich und objektiviert genannt. Im Zeichen der Abwehr tritt die berührende Dimension der Angst nicht entgegen und kann daher auch in der Leserrezeption kaum wirksam werden. L’Agnese va a morire verbleibt im Modus des Selbstschutzes vor überwältigenden negativen Gefühlen. Das „linguaggio aspro“ (de Nobile 2014, 515), die herbe Sprache, die Viganò für die deutschen Figuren benutzt, und Verknappungstechniken, ja Mechanisierung generell kennzeichnen Agneses ‒ die Reaktionen auf die Dauerbedrohung fortsetzenden, sie folglich „einfrierenden“ (Fischer und Riedesser 2003, 101) ‒ Blick auf die Welt. Viganòs Wille zur Wahrhaftigkeit und ihr „populismo“ (de Nobile 2014, 519), das soziale Anliegen der Volksnähe (im Sinne auch einer Lesbarkeit für alle), verbunden mit dem Wunsch nach der Repräsentation weiblicher Erfahrungen im Bürgerkrieg und des Kampfs gegen die NS-Besatzung‚29 löst das Problem der „Ausdrucksinstrumente“ (Bertoni 2012, 316) nicht, die sich den Schriftstellern und Schriftstellerinnen der Nachkriegszeit stellten. Gleichwohl zeugt meines Erachtens der Romanstil davon, dass in diesem Fall nur die Narrativierung von Betäubung und Distanz ermöglichte (van der Haart et al. 2008, 121), von den belastenden Erfahrungen zu sprechen, mit der Konsequenz, dass L’Agnese va a morire ästhetisch nicht durch poetische Mittel ergreift, sondern durch die Parallelstruktur, d. h. die kategorische Diskrepanz zwischen makro- und mikrostruktueller Ebene.
3 Cesare Pavese La luna e il falò Cesare Pavese verflicht in seinem letzten Roman La luna e il falò polyperspektivisch mögliche Wahrnehmungen des Widerstands und seiner Folgen in einem Stil, den die einen als „klassisch“, andere als von „superiore armonia“ gekennzeichnet nannten (Mengaldo 2014, 160).30 La luna e il falò kritisiert anders als L’Agnese va a morire die Gewaltausübung nicht nur der Deutschen und Faschisten, sondern auch der Partisanen. Mehrdimensionalität, Stilwahl und inhaltliche Komplexität gründen auf Paveses Erzählkunst. Der nachdenkliche Abstand zu den Ereignis-
29 Vgl. hierzu neben dem genannten Aufsatz von Zancan die Ausführungen von Luciano 1999, 151–162. Vgl. auch Wright 1998, 63–85. 30 Vgl. zum zeitgenössischen Urteil z. B. Pampaloni 1950, 582–587.
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sen erklärt sich wohl auch daraus, dass der Autor als Antifaschist vom Regime in die Verbannung geschickt wurde. Die Komplexität des Romans zeigt sich in der Integration verschiedener Zeitebenen bis hin zum Mythos und in der Handlungsstruktur hin zum Kulminationspunkt: La luna e il falò endet buchstäblich mit einem Fanal, der Verbrennung der Leiche der jungen Santina.31 Man wird zögern, Santina als Märtyrerin zu bezeichnen, aber sie ist unzweideutig Opfer des Bürgerkrieges und zwar beider Seiten. Deutlich unpolitisch, eher lebenslustig in ihrer Zusammenarbeit mit den faschistischen Milizionären, für die sie als Sekretärin arbeitet, politisch zum Schluss dann auf Seiten der Partisanen, die sie vor Razzien durch die Miliz warnt, ist sie eine Doppelspionin. Die Kindheitsfreundin Santina und angebetete Frau des Protagonisten ist fröhlich, blond, heiter, in die Ereignisse mehr hineingeraten als willentlich hineingegangen und deswegen von den Partisanen zum Tode verurteilt, weil eine Kehrtwende im Bürgerkrieg nicht statthaft ist. Sie wird erschossen und ihre Leiche in einem großen Feuer, ähnlich einem Johannisfeuer, falò, hoch auf dem Hügel verbrannt. Interessant ist, dass in beiden Fällen Frauen als herausgehobene Opferfiguren präsentiert werden, wobei nur Pavese die Gewalt beider Bürgerkriegs-Seiten demonstriert. Schon in La casa in collina von 1948 hatte er sich nicht gescheut, konkret von guerra civile zu sprechen und das Problem der Gewaltausübung durch die Partisanen zu benennen.32 Auch stellt Pavese unüberhörbar die Frage, ob die „Kreation“ des uomo nuovo in der Nachkriegszeit nicht eine große Illusion sei.33 La casa in collina schlägt damit ganz andere Töne an als die, die in der öffentlichen Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg und den Widerstand generell zu vernehmen waren. In La luna e il falò steht die Frage der beiderseitigen Gewalt weniger im Vordergrund, bleibt aber präsent. Die Handlung spielt in der unmittelbaren Nachkriegszeit. Sie dreht sich um die Rückkehr eines Italieners in seine Heimat und zeigt u. a. das Leben völlig verarmter und ökonomisch abhängiger Landarbeiter in den Langhe.34 In der Retrospektive auf den Krieg wird in erster
31 Zur Mythos-Konzeption in La luna e il falò vgl. König 2015, 105–122. 32 Man denke an den Schluss des Romans: „Ora che ho visto cos’è guerra, cos’è guerra civile, so che tutti, se un giorno finisse, dovrebbero chiedersi: – E dei caduti che facciamo? perché sono morti? – Io non saprei cosa rispondere. Non adesso, almeno. Né mi pare che gli altri lo sappiano. Forse lo sanno unicamente i morti, e soltanto per loro la guerra è finita davvero.“ (Pavese 2001, 123). Zur Problematik der Thematisierung des Bürgerkrieges im Roman und zu dessen Rezeption vgl. Zangenfeind 2008, 139–158. 33 Vgl. hierzu etwa Di Pietro 1985, 41. 34 Die sozialkritischen Parameter des Neorealismus kommen insofern zum Tragen, als Pavese mit dem Bauern Valino eine Figur schafft, der seine Wut über das Elend, in dem er sich befindet, im Auspeitschen und Quälen seiner Familienmitglieder entlädt. Vgl. Pavese 1950, 43 und 61.
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Linie Verständnis für die Partisanen gezeigt, die „wie die Tiere“ (Pavese 1950, 55) gejagt wurden. Genau wird die effiziente antikommunistische Nachkriegspropaganda vorgeführt, die die Christdemokraten zusammen mit der Kirche im Umfeld der Wahlen von 1948 zur Verhinderung eines Siegs des linken Bündnisses betrieben und die von den Lesern 1950 sicher in ihrer Einseitigkeit und Unredlichkeit inklusive der Rehabilitierung ehemaliger Faschisten wiedererkannt wurde.35 La luna e il falò behandelt im Rekurs auf Mythen und Kosmologie Grausamkeit, Elend und Tod, Todesursachen, materielle und seelische Entbehrungen, Armut und häusliche Gewalt, politische Gewalt, ökonomische Gewalt und Tod aus anthropologischer Sicht. Auffällig ist der Pavese’sche Ton, weit entfernt von den ‚neorealistischen‘ Verhärtungen und Verdichtungen anderer Autoren und Autorinnen. Der Roman ist nicht von der Vergangenheit beherrscht, sondern verbindet das Thema der jüngsten Vergangenheit Italiens mit einer Reaktion auf die Attacken der Gegenwart gegen die Resistenza. Der Tod von Partisanen ist in Umkehrung der vormaligen antifaschistischen Propaganda ein anerkennenswertes Opfer für die Nation: „im Kampf gestorben, auf Plätzen erschossen, an Balkonen erhängt, nach Deutschland deportiert“ (Pavese 1950, 44, 51). Obwohl die Resistenza-Darstellung in La luna e il falò klar in einer tiefen antifaschistischen Motivation des Autors gründet, beschränkt dieser sich nicht auf die Tradierung von politischen Idealen, die im Kampf selbst von Bedeutung waren, und auf historische Reduktion. In La luna e il falò kommen problematische Momente wörtlich ans Tageslicht, die die Schattenseite des Partisanenkampfs symbolisieren: Aus dem Fluss taucht die Leiche eines Deutschen auf, ebenso die Leichen von kahlrasierten und teilweise entkleideten Italienerinnen, offenbar von Partisanen ermordet. Die Recherche nach der Identität der Frauen ist schnell beendet, sie gelten als unbekannt. Den Deutschen lässt man liegen. Er wird von Ameisen zerfressen, augenfälliges Symbol für die nicht aufgearbeitete Vergangenheit. Die Position der Nachkriegsära wird als utilitaristisch gebrandmarkt. Ausgerechnet der Pächter Valino, der gewalttätige Schläger der eigenen Töchter und Mörder seiner Lebenspartnerin und damit ihrer Mutter, formuliert eine geradezu kapitalistische These über den Umgang mit der Vergangenheit: Die im Krieg Umgekommenen hätten als Lebende nichts genützt, sie nützten nun auch als Tote nichts. Sich mit ihnen zu beschäftigen, sei nicht fruchtbar, es habe Zeit, sie wegzuräumen (vgl. Pavese 1950, 170–172). Interessant für die Situation 1950 ist, dass in den wohlwollenden Kritiken, von denen es nicht viele gab, diese Perspektive auf den Krieg nicht goutiert wurde. Man schätzte Paveses Adaption des griechischen Mythos, die Belebung kosmologischen Denkens, die musikalische Sprache, den melancholischen Ton, die Kind-
35 Vgl. Moloney 2001, 143.
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heitsdarstellungen, die Illustration der Unruhe des modernen Individuums, die Hinwendung zur ausgebeuteten Landarbeiterschaft. Man schätzte jedoch nicht den Versuch, das Töten im Krieg auch seitens der Resistenza, die z. B. Santina auf dem Gewissen hat, neutral zur Sprache zu bringen.36 Die Literaturkritik webte damit an einem eher einseitigen Vergangenheitsbild mit. Selbst heute noch wird die Frage, wie Paveses Darstellung der inneritalienischen Spaltung einzuordnen sei, gerne mit einem Hinweis auf die traurigen Umstände von Krieg und Bürgerkrieg umschifft.37
4 Giovanni Pesce Soldati senza uniforme Giovanni Pesce präsentiert die Deutschen in Soldati senza uniforme konventioneller im Sinne der sich anbahnenden Unterscheidung in italiani brava gente und barbarische Deutsche, konventioneller auch im Sinne des allgemeinen Trends der Testimonial- oder Erinnerungsliteratur der Nachkriegszeit zur „klare[n] Trennungslinie zwischen Gut und Böse“ (Becherer 2000, 63). Soldati senza uniforme ist ein Memorialtext, in dem Pesce seine Erlebnisse vor allem als Mitglied und Anführer eines Gap (gruppo di azione pattriotica) im städtischen Widerstandskampf schildert, die gegen SS-Soldaten, besonders SS-Kommandeure, faschistische Funktionäre und allgemein Kollaborateure kämpfte, im Text selbst im (verschleiernden) Begriff nazifascisti zusammengefasst.38 Der Autor wurde spätestens mit dieser Veröffentlichung einer der berühmtesten Widerstandskämpfer Italiens (Bocca 1991, 501).39 Seit Erscheinen 1950 gingen Auszüge aus Soldati senza uniforme in Anthologien ein, Pesce selbst wurde zur Legende. Die Erinnerungen dienten als historische Quelle, z. B. für Roberto Battaglias berühmte Storia della Resistenza (1964) und die überarbeitete Fassung für Claudio Pavones Una guerra civile (1991). Die Erinnerungen messen sich selbst dokumentarischen Wert bei, enthalten genaue Orts- und Zeitangaben und detaillierte Schilderungen einzelner Attacken und ihrer Vorbereitung. Pesce geht das Problem der Gewaltausübung im Widerstand erheblich offensiver an als Viganò und Pavese. Soldati senza uniforme ist im Kontext einer Entwicklung zu situieren, in der auch der Terminus Bürgerkrieg (guerra civile) weitgehend aus dem öffentlichen
36 Vgl. Antonicelli 1950, 1413; Pampalone 1950, 582–587. Zur Kritik an allzu „privater“ und „unentschiedener“ Resistenza-Literatur vgl. auch Isnenghi 1989, 256–257. 37 So etwa bei Elio Gioanola 2003. 38 Vgl. Treskow 2005b, 19–51. 39 Vgl. auch http://www.visonesenatore.net/ (23. Februar 2018).
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Gedächtnis getilgt wurde und nur noch von Resistenza (der Begriff funktioniert ohne Angabe des Gegners) bzw. verallgemeinernd vom Kampf gegen die Nazifaschisten die Rede war. Auffällig ist jedoch, dass die Italiener-Figuren häufig zusätzlich individualisiert werden, etwa durch Namens- und Berufsbezeichnungen, während die Deutschen anonym und entindividualisiert, dadurch auch entmenschlicht bleiben. Ihr Vorgehen gegen Zivilisten und Partisanen wird in klaren Worten beschrieben: Jeden Tag erschossen sie Dutzende von Kämpfern und dachten, sie hätten die Aufstandsbewegung des Volkes aufgerieben. Sie massakrierten unschuldige Geiseln, verbrannten in den Bergen ganze Dörfer, terrorisierten die wehrlose Bevölkerung und erreichten das Gegenteil von dem, was sie mit ihrem bestialischen Vorgehen erreichen wollten. Angesichts derartiger Taten fühlte das Volk seinen Haß gegen die Eindringlinge und ihre Knechte immer mehr wachsen. (Pesce 1954, 74)
Der reale Hintergrund dieser Passage ist unbestreitbar, die Schilderung bleibt dabei grob. Es ergibt sich im Text insgesamt eine Sammlung aus Schablonen von deutschen Figuren, im Wesentlichen Repräsentanten der militärischen Übermacht, die unerbittlich bekämpft wird. Die Kampfkraft der Resistenza bemisst sich dabei an der Härte der Deutschen. In diesem Sinne heißt es wörtlich: Wir „folgen der Straße, die sie uns gezeigt haben“ (75); „sie“ sind die Deutschen. In dieser Perspektive gehen militärische Stärke und Opfertum in eins (73–75). Ähnlich wie für Viganòs L’Agnese gilt: Je größer der Gegner, desto größer die eigene Leistung, je moralisch niedriger der Feind, desto moralisch höher die eigene Partei. Diese Einfachheit des Schemas schließlich zeigt die enge Verbindung zur affektiven Haltung der Kriegszeit. Die konkrete gap-Leistung verbindet in Soldati senza uniforme SabotageAktionen und direkte Tötungen mit militärischen und politischen Tugenden. Der Resistenza-Kämpfer ist nicht nur geschickter als die Deutschen bzw. die nazifascisti, er ist ihnen auch moralisch überlegen und dabei Kämpfer für das Volk. Immer wieder wird der Nutzen der Aktionen für ‚il popolo‘ erläutert. Seine Umsicht, seine Kameradschaftlichkeit und Pflichterfüllung machen den Protagonisten zum idealen Soldaten. Die Fürsorge für ‚seine‘ Leute und die Loyalität gegenüber der Führung, der klandestinen kommunistischen Partei, machen ihn zum idealen Offizier. Der fernen Übermacht Deutschland und dem deutschen Feind vor Ort kommt die Funktion eines Mosaiksteins in einer Konstruktion zu, in der das autobiographische Ich sich zur harten, verantwortungsbewussten und vorwärtsblickenden Führungskraft stilisiert. Diese Stilisierung folgt literarhistorisch wahrscheinlich einer Matrix, die Pesce sich durch die Lektüre von Memoiren von Offizieren des Ersten, vielleicht auch des Zweiten Weltkriegs aneignen konnte. Darüber hinaus ist sie im Zusam-
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menhang mit der Nachkriegssituation zu sehen, in der sich Pesce durch seine Erinnerungen als Politiker bei den Lesern förmlich bewarb. Die persönlichen Erinnerungen an Krieg und Widerstandskampf werden der öffentlichen Erinnerung an die jüngste Vergangenheit angepasst bzw. weben daran mit und vertreten damit eine Funktionalisierung der Literatur als „socialmente efficace, anche in termini educativi“ (Bendotti und Bertacchi 1996, 305–307). Die Konditionierung der privaten Erinnerung durch die Anforderungen des Bilds vom Widerstand, von der Angelo Bendotti und Giuliana Bertacchi nachdrücklich sprechen, lässt sich im Fall von Pesce an der Neufassung ablesen, die er 1967 unter dem Titel Senza tregua publizierte. Dieselben Ereignisse werden in beiden Versionen zum Teil mit sehr unterschiedlichen Akzenten wiedergegeben. Maßgebend ist in diesem Zusammenhang die Stellung Pesces im öffentlichen Leben der Nachkriegszeit: Giovanni Pesce war seit Kriegsende leitendes Mitglied mehrerer Partisanen-Organisationen. 1950 – also mitten in der Aufstiegsphase der linken Parteien – verfolgte er das Ziel, bei den nächsten Landeswahlen ins Parlament einzuziehen. Das Vorhaben gelang: Pesce wurde 1953 in Mailand Kommunalrat und blieb es für mehrere Wahlperioden. Die zielgerichtete, nicht nur allgemeine politische Motivation, schlägt sich literarisch in der Stilisierung der Vergangenheit und des eigenen Ich nieder ‒ die Präsentation der Ereignisse ist dem Ziel der ‚Selbstvermarktung‘ geschuldet. Für seine Zwecke günstig verbindet Pesce sprachliche Schlichtheit mit dem Ziel der impliziten (männlichen) Selbstcharakterisierung als eines ‚Soldaten‘ und einer künftigen politischen Führungsfigur mit einer ästhetischen Ausdrucksweise, die wie in L’Agnese va a morire dissoziativ-distanzierende Komponenten hat. Die ausschnitthafte, schlagseitige, kühle Vermittlung des Kriegsgeschehens hilft einerseits dem erzählenden Ich, die Erfahrung des erlebenden Ich zu verbalisieren, ohne zu starke Emotionen zu riskieren, und geschieht andererseits zur Legitimierung begangener Gewalttaten, zu der die Partisanen sich in der Nachkriegszeit genötigt sahen. Sie ermöglicht die Annäherung an ein „Lebensthema“ (Fischer und Riedesser 2003, 175) sicher nicht traumatisierender Natur im klinischen Sinne, aber doch erheblicher, auch psychischer Relevanz und unterstützt die politische und soziale Positionierung des Autors, der damit für viele Zeitgenossen spricht. Dadurch trägt sie zu seiner Einbindung in die sich gerade regulierende politische Ordnung in einem Erzählstil bei, der möglicherweise bei Lesern mit ähnlichen Erfahrungen auf Verständnis stieß. Der Erfolg des Buches, des Wahlsieges und die bis zu seinem Lebensende 2007 ungebrochene Popularität von Giovanni Pesce zeigen, wie gut er die Erwartungen tatsächlich traf.
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5 Folgerungen Die Romane entstanden in der Zeit, in der sich die öffentliche Erinnerung im Zeichen des politischen Austarierens der Positionen differenzierte, stabilisierte und damit auch der Resistenza-Mythos festigte. Deutschland war wesentlich als militärischer und politischer Aggressor präsent, Deutsche finden sich in der Literatur oft holzschnittartig als negative Figuren. Insbesondere die publikumsund öffentlichkeitswirksamen Texte L’Agnese va a morire und Soldati senza uniforme folgen dem Prinzip der Vergröberung und Schematisierung, anders La luna e il falò, worin die Ambivalenzen der Kriegssituation auch am Bild eines toten Deutschen demonstriert werden. Die Technik der Schematisierung ist integrativer Teil einer Resistenza-Literatur, in der das Dilemma der Gewaltausübung, darunter auch eigener zum Teil fehlgerichteter, auf alle Fälle aber schwer ins eigene moralische Ich integrierbarer, da ethisch kaum einzuordnender Gewaltaktionen marginalisiert oder ausgeblendet wurde.40 Die so beförderte Sakralisierung und ‚Monumentalisierung‘ des Widerstands war wichtiger Bestandteil der ideellen Nachkriegsordnung. Seit etwa zwanzig Jahren werden die Idealisierungs- und Überhöhungsvorgänge in Literatur und Kunst, in öffentlichen Stellungnahmen sowie Geschichtstexten als solche benannt. Der „Mythos der Resistenza“ ist zum Schlagwort geworden; Franziska Meier sprach in Bezug auf die Literatur direkt von einem „Wille[n] zum Mythos“ (2002, 180). Die politischen und psychologischen mit den Kriegsund Besatzungserfahrungen verbundenen Erfahrungen scheinen im Begriff der Mythisierung allerdings nur indirekt auf, vor allem wenn man die starke Bindung in Rechnung stellt, die die Betroffenen zur Vergangenheit herstellen, mit der sie zum Teil auch an dieser so verhaftet bleiben, dass die Integration in die Gegenwart, auch die der Gesellschaft, schwach bleibt. Für die kriegsretrospektive Partisanenliteratur besteht zudem das Problem, positive soziale und politische Einstellungen mit deren per definitionem negativer Ursache zu verbinden, d. h. mit Leiden durch Gewalt sowie Gewaltbefürwortung und Gewaltanwendung. Das Problem wird auch in der Literaturkritik manifest, die z. B. Paveses Versuch ignorierte, die Diskrepanz zwischen dem Selbstbild und der Gewalt, auch der Vergehen des Widerstands aus dem Schatten der Verdrängung zu holen. 1950 war der Bezug zwischen der eigenen Destruktivität und der Destruktivität des Feindes allgemein nur im Modus der Selbstopferung denkbar.
40 Vgl. z. B. die Befunde zu Vittorini und Calvino in Treskow 2008, 159–184. Vgl. hierzu auch Morgan 1999, 67–77.
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Die in den vierziger Jahren noch heterogene Erinnerungslandschaft formierte sich um 1950 zugunsten einer dominierenden Identität als ‚antifaschistischer‘ Identität, in die auch die Erfahrungen des Frontkampfes und der Shoah recht unterscheidungslos integriert wurden, obwohl dies logisch kaum vertretbar ist.41 Der Faschismus galt crocianisch als ‚Unfall‘, als ‚Ausnahme‘. Innerhalb der Resistenza-Literatur sind indes bei näherer Betrachtung sehr verschiedene Positionen zu bemerken, gerade zu Faschismus, Krieg, Widerstand und Bürgerkrieg. Parallel dazu gab es erinnerungskulturelle Stränge, die zwar in den Hintergrund traten, aber für die Vergangenheitsaufarbeitung gesellschaftlicher Gruppen stehen, die mit dem antifaschistischen ‚Gedächtnis-Konsens‘ nicht einverstanden waren. In der postfaschistischen, vor allem der neofaschistischen Literatur wurde die diktatorische und paramilitärische Täterschaft verschleiert und aufgeweicht, etwa in Donne e mitra (1950) des regimenahen „sottotenente della Guardia Nazionale Repubblicana“42 Enrico de Boccard, später unter dem Titel Le donne non ci vogliono più bene wiederveröffentlicht. In der Literatur von Militärangehörigen stand die Teilhabe an den faschistischen Kriegen unter dem Zeichen der vaterländischen Pflicht, vorgetragen häufig in beleidigtem Ton. Erinnerungskulturelle Weichenstellungen wurden dabei auch seitens der Rezeption unternommen: Es waren literarisch in der Konkurrenz-Situation 1950 militärische Vergangenheitsdeutungen und moralische Positionen noch so stark umkämpft, dass eine hellhörige Auseinandersetzung mit dem Differenzierungsvermögen in der Literatur in der Literaturkritik und Literaturwissenschaft eigentlich unterblieb und erst in den 1970er bzw. 1980er Jahren einsetzte, als sich Italien wieder neu politisch umgestaltete.
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41 Stefano Lazzarin z. B. vollzieht diese Integration noch heute, vgl. 2003, 237: „Certo, il testimone Levi non era un reduce in senso stretto: non era stato al fronta ma in un campo di concentramento; non era stato soldato ma prigioniero, non aveva sparato contri itedeschi ma lavorato (suo malgrado) per loro. E tuttavia, anche il narratore di Se questo è un uomo combatte, a modo suo, contro il totalitarismo nazista: con i pochi mezzi che la terribile vita del Lager gli offre.“ 42 Umschlagtext zu de Boccard 1995.
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Ira Diedrich
Unverantwortliche Fiktion: Paul de Man. Leben, Lesen, Bekenntnisse und erzählende Literatur „Political and autobiographical texts have in common that they share a referential reading-moment explicitly built in within the spectrum of their significations, no matter how deluded this moment may be in its mode as well as in its thematic content“ (de Man 1979b, 276), schreibt der belgisch-amerikanische Literaturtheoretiker Paul de Man zu Beginn seines Allegories of Reading abschließenden Essays „Excuses (Confessions)“.1 Dieses ist, aus dem Blickwinkel seines dekonstruktiven Zugangs, ein Moment, das vom Text selbst sofort unterlaufen wird und entsprechend nicht in eine feste Bedeutung überführt werden kann.2 In seinem Aufsatz „The Resistance to Theory“ konstatiert er: Literature is fiction not because it somehow refuses to acknowledge ‚reality‚‘ but because it is not a priori certain that language functions according to principles which are those, or which are like those, of the phenomenal world. It is therefore not a priori certain that literature is a reliable source of information about anything but its own language. (de Man 1986, 11)3
1 Der Text erschien zuerst unter dem Titel „The Purloined Ribbon“ in Glyph. Johns Hopkins Textual Studies 1 (1977): 28–49. Es ist de Mans rhetorische Lektüre von Jean-Jacques Rousseaus autobiografischen Schriften, vornehmlich der bekannten „episode of Marion and the ribbon […] a truly primal scene of lie and deception“ (1979b, 278) und „the core of his autobiographical narrative“ (279) sowohl in Rousseaus Confessiones als auch dem Aufgreifen dieser Episode einige Jahre später in Les rêveries du promeneur solitaire. 2 Ein Ausgangspunkt von de Mans Konzept ist, dass Dekonstruktion einem (literarischen) Text inhärent ist: „The deconstruction is not something we have added to the text but it constituted the text in the first place. A literary text simultaneously asserts and denies the authority of its own rhetorical mode […]. Poetic writing is the most advanced and refined mode of deconstruction“ (de Man 1979c, 17). Die Autodekonstruktion des Textes rührt daraus, dass Grammatik und Rhetorik in Spannung zueinander stehen – Sprache ist metaphorisch und das Spiel der Tropen läuft der Grammatik entgegen. Die buchstäbliche, grammatische, Bedeutung eines Textes geht entsprechend nicht einher mit der figurativen, rhetorischen, Bedeutung; beide haben gleichermaßen ihre Berechtigung, bedingen einander, sind jedoch nicht miteinander vereinbar und der Text verharrt entsprechend in Unentscheidbarkeit. Vgl. dazu vor allem de Mans Aufsätze „Semiology and Rhetoric“ (1979c) und „The Resistance to Theory“ (1986, vor allem 12–15). 3 Sein Ausgangspunkt dabei ist der Vorwurf von Kritikern, dekonstruktive Zugänge würden das „reality principle“ (1986, 10) leugnen; er kontert diesem u. a. mit der Argumentation, dass „[i]n a genuine semiology as well as in other linguistic oriented theories, the referential function of lanhttp://doi.org.de/10.1515/9783050093932-014
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Was Fiktion zur Fiktion macht, schreibt er wiederum in „Excuses (Confessions)“, is not some polarity of fact and representation. Fiction has nothing to do with representation but is the abscence of any link between utterance and a referent, regardless of whether this link be causal, encoded, or governed by any other conceivable relationship that could lend itself to systematization. (1979b, 292)
Jedoch erscheint es unmöglich, „to isolate the moment in which the fiction stands free of any signification“ (293), da mit dem Akt des Lesens der Fiktion Bedeutung zugeschrieben wird, ohne die ein Text (auch) nicht vorstellbar wäre (293) – damit wird die Fiktion „at once misinterpreted“ (293; vgl. auch B. Menke 1993, 49–50).4 Wird in einem „fictional statement“ die „essential non-signification“ (de Man 1979b, 292) nicht erkannt, sondern mit Sinn belegt, so liegt die Verantwortung für diese ‚Falsch-Interpretation‘ nicht in der Fiktion selbst, sondern im „misguided reading“ (293; vgl. 292–293), denn „[a]s a fiction, the statement is innocuous and the error harmless“ (293). Referenzielle Rückschlüsse, die gegebenenfalls – wie im Falle Rousseaus und Marions – nicht ohne Auswirkungen bleiben, sind nur aufgrund der Weigerung möglich, anzuerkennen, dass Fiktion Fiktion sei und „that language is entirely free with regard to referential meaning and can posit whatever grammar allows it to say, which leads to the transformation of random error into injustice“ (293). Und als ob es selbstverständlich sei, fügt de Man an: „The radical irresponsibility of fiction is, in a way, so obvious, that it seems hardly necessary to caution against its misreading.“ (293) Hinzukommt, dass das (vermeintlich) autobiografisch-referenzielle Lesemoment bzw. die „referential illusion“ (292), die durch die Fiktion – in Form der Figur der Prosopopöie – entsteht, auch insofern durch diese wiederum unterlaufen wird, als dass sich fragen lässt: „is the illusion of reference not a correlation of the structure of the figure, that is to say no longer clearly and simply a referent at all but something more akin to a fiction, which, however, in its own turn, acquires a degree of referential productivity?“ (de Man 1984a, 69)5
guage is not being denied – far from it; what is in question, is its authority as a model for natural or phenomenal cognition.“ (11) Es wäre „unfortunate to confuse the materiality of the signifier with the materiality of what it signifies“ (11), denn diese „confusion of linguistic with natural reality, of reference with phenomenalism“ sei die Vorgehensweise von Ideologie (11). Deshalb sei Dekonstruktion bzw. „the linguistics of literariness“ ein geeignetes „tool in the unmasking of ideological aberrations, as well as a determining factor in accounting for their occurance“ (11). 4 Paul de Man setzt dieses mit (empirischer) Erfahrung gleich, die zugleich als „fictional discourse“ sowie als „empirical event“ besteht, weshalb es unentscheidbar ist, festzulegen, welche Möglichkeit die richtige sei (de Man 1979b, 293). 5 Der hier zitierte Aufsatz „Autobiography as De-Facement“ erschien zuerst im Jahr 1979 (in MLN 94.5 (1979): 919–930) ebenso wie de Mans weitere Auseinandersetzung mit ‚autobiografischen
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Ein referenzielles Lesemoment respektive die durch Fiktion erzeugte sowie unterlaufene Illusion von Referenz scheint Paul de Man dem Roman Le Parjure des französischen Schriftstellers Henri Thomas zuzuweisen, auf den er seinen französischen Kollegen und Freund Jacques Derrida einst aufmerksam gemacht hat und auf den wiederum Derrida wiederholt seit Mitte der 1980er Jahre (versteckt und offen) in Bezug auf Paul de Man hinweist. Konstatiert er in „Mnemosyne“, der ersten Vorlesung seiner Vortragsreihe Mémoires. Für Paul de Man:6 „Und ich verstehe heute besser als je zuvor, warum einer seiner Freunde ihm, Paul de Man, vor beinahe dreißig Jahren den Beinamen ‚Hölderlin in Amerika‘ gegeben hat. Eines Tages hat er es mir anvertraut“ (Derrida 1988b, 25; Derrida 1988c, 33), wird er in einer (mündlichen) Stellungnahme zu seinem Text über „Paul de Mans Krieg“7 etwas konkreter: Je savais que Paul de Man avait une histoire compliquée: il avait quitté la Belgique juste après la guerre, son installation en Amérique avait été mouvementée, en tout cas sur le plan académique. Un jour il m’a dit: ‚Si vous voulez connaître ma vie‘ – voilà des choses que nous nous disions – ‚lisez le roman d’Henri Thomas, Le parjure [que son auteur avait initialement intitulé Hölderlin en Amérique] et vous saurez.‘ […]. „Hölderlin en Amérique“ est le surnom que Thomas donnait à de Man. ([Derrida] 1990)8
Elementen‘ „Shelley Disfigured“ (1984b), die im die Bezeichnung ‚Yale Critics‘ prägenden Band Deconstruction and Criticisim (Bloom et al. 1979, 39–73) publiziert wurde. 6 Die Vorlesungen wurden im Jahr 1984 zuerst an der Yale University in französischer Sprache gehalten, kurz darauf in englischer Sprache u. a. an der University of California, Irvine (Wellek Lectures); gedruckt erschien Mémoires zuerst in der englischen Übersetzung (Mémoires. For Paul de Man) im Jahr 1986, 1988 in der französischen, um „Comme le bruit de la mer au fond d’un coquillage… La guerre de Paul de Man“ erweiterten, Fassung. Im Folgenden muss im Fall von französischsprachigen Werken aus Platzgründen darauf verzichtet werden, sowohl das Original als auch die deutsche Übersetzung zu zitieren, und es wird nur, sofern existierend, auf Übersetzungen zurückgegriffen; die Angabe der Seitenzahlen der französischsprachigen Versionen erfolgt jeweils im Anschluss. 7 So der Untertitel von Derridas zuerst 1988 in englischer Übersetzung in Critical Inquiry (1988a) erschienenen ersten öffentlichen schriftlichen Auseinandersetzung mit Paul de Mans journalistischer Vergangenheit während der Zeit des Zweiten Weltkriegs, in der er den Schriftsteller-Freund, der de Man mit diesem Beinamen belegt hat, ebenfalls erwähnt (2000 [1988], 105; 1988c, 229); den Namen ‚Henri Thomas‘ nennt Derrida – unabhängig vom Roman – am Ende der letzten Anmerkung, wenn er erwähnt, Thomas habe ihm gesagt, sein Bild von de Man wird „‚niemals das eines collabo sein […]‘“ (2000 [1988], 131, Anm. 69; 1988c, 232, Anm. 1). 8 „Ich wußte, daß Paul de Man eine komplizierte Geschichte hatte: Er hatte Belgien gleich nach dem Krieg verlassen, erst nach vielem Hin und Her konnte er, zumal auf akademischer Ebene, in Amerika Fuß fassen. Eines Tages sagte er zu mir: ‚Wenn Sie mein Leben kennenlernen wollen‘ – solche Dinge sagten wir uns – ‚lesen Sie den Roman von Henri Thomas Le Parjure (dessen Autor diesem ursprünglich den Titel Hölderlin in Amerika gab), und Sie werden wissen.‘ […] ‚Hölderlin
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Diese Aussage wiederholt der Franzose mit einigen kleinen Ergänzungen in „eine[m] seiner letzten großen Essays“ (Hermann 2012, 190), „Le parjure, peutêtre“ (vgl. Derrida 2002a, 170; 2002b, 24)‚9 in dem er nun ausführlich die ambivalenten Verbindungen, die zwischen (der) ‚Realität‘ (dem ‚realen (Leben) Paul de Man(s)‘) und Fiktion (dem Roman) bestehen, analysiert.10 Ihm sei beim Lesen des Romans‚11 schreibt Derrida, schnell klar geworden, dass der Protagonist, der Literaturwissenschaftler Stéphane Chalier, hinsichtlich bestimmter Merkmale Ähnlichkeiten mit de Man aufweise (vgl. Derrida 2002b, 25; 2002a, 170; [Derrida] 1990): Im Roman wird erzählt‚12 wie der gebürtige Belgier Chalier eines Tages
in Amerika‘ ist der Beiname, den Thomas de Man gegeben hat.“ (Übersetzung nach Peeters 2013, 569, ergänzt durch eigene Übersetzungen) Henri Thomas und Paul de Man lernten sich Ende der 1950er Jahre in den USA kennen, als Thomas als Lektor an der Brandeis University tätig war; vgl. Hermann 2012, 190; Derrida 2002a, 175, 299, Anm. 14; 2002b, 30; sowie Barish 2014, 411–412, 418, 448, Anm. 3, 500, Anm. 6. 9 Dieser Aufsatz Derridas wurde bisher nicht ins Deutsche übersetzt, die Zitation erfolgt aus der englischen Übersetzung, ebenfalls unter zusätzlicher Seitenangabe der französischen Fassung. Die englische Übersetzung des Aufsatzes trägt den Titel „‚Le Parjure‚‘ Perhaps: Storytelling and Lying (‚abrupt breaches of syntax‘)“ und verfügt damit gegenüber dem Titel der französischen Originalversion – „Le parjure, peut-être (‚brusques sautes de syntaxe‘)“ – über einen erweiterten und treffenden Untertitel. Die Übersetzung markiert die Worte „Le Parjure“ in der Überschrift als Titel eines Werkes – die Originalversion verzichtet sowohl darauf als auch auf die Kursivsetzung des angefügten ‚Vielleicht‘ – und entfernt damit die Kennzeichnung einer (spielerischen) Ebene des Aufsatzes: Derrida benennt seinen Text im Original (ohne Erkennungsmerkmal) wie den Roman und kennzeichnet dadurch, dass seine eigene Vorgehensweise nicht nur die dekonstruktive Lektüre eines literarischen Textes ist, sondern auch ein (mögliches) Aufzeigen einer Substitution seiner selbst durch den Erzähler des Romans. 10 Seine Lektüre des Romans ist ein dekonstruktives Spiel mit den Grenzverwischungen von ‚Realität‘ und Fiktion. Zu Beginn weist er darauf hin, dass es sich bei Le Parjure um eine literarische Fiktion handelt: „A narrative that remains forever a fiction“ (2002a, 161; 2002b, 16), und damit dieses nicht vergessen wird – „[w]e shall not forget this“ (2002a, 162; 2002b, 17) –, erinnert er im weiteren Verlauf wiederholt daran (vgl. u. a. 2002a, 175; 2002b, 30). Doch auch wenn der Roman in seiner Struktur erzählerisch erscheine, stelle er zugleich furchterregende bzw. erschreckende Probleme in seiner Beziehung her zur „so called ‚real‘ history (that of Paul de Man, which will thus have traversed our own, so to speak, and very closely, that of Hillis Miller and myself, among others)“ (2002a, 165; 2002b, 20). 11 Hölderlin en Amérique erschien in vier Teilen von Dezember 1963 bis März 1964 in Mercure de France (Nr. 1202 bis 1205); die Buchausgabe wurde 1964 unter dem Titel Le Parjure publiziert, den de Man, wie er Derrida 1977 in einem Brief mitteilt, als aufrichtiger empfindet (vgl. Peeters 2013, 471; 2010, 405) und damit auch noch einmal einen Hinweis zu authentischen Aspekten des literarischen Textes gibt. 12 Die Handlung des Romans wird rückblickend fünf Jahre nach den geschilderten Ereignissen von einem namenlos bleibenden ehemaligen Universitätskollegen Chaliers, der in die Geschehnisse involviert war, geschildert.
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überraschend beschließt, Lüttich und damit auch seine Ehefrau Ottilia und die zwei gemeinsamen Kinder zu verlassen und in die USA zu gehen, um dort eine Dissertation anzufertigen. „[M]ein Thema ist Hölderlin in Amerika, und ich werde die Arbeit vor Ort schreiben“ (Thomas 2012, 15; 1964, 20).13 In den USA schlägt er sich zunächst als Tagelöhner und mit Gelegenheitsjobs durch; dabei lernt er die junge Judith Samson kennen. Die beiden heiraten; im Zuge dieser Eheschließung erklärt Chalier unter Eid, dass er weder verheiratet noch geschieden sei – seine Ehe mit Ottilia hatte zu diesem Zeitpunkt noch Bestand. Einige Jahre später sieht er sich, als Gastdozent an der (fiktiven) Eliteuniversität Westford tätig, mit dem Vorwurf der Bigamie und des Meineids konfrontiert. Eine Thematik, die einen nicht-fiktiven Hintergrund im Leben Paul de Mans hat‚14 was Derrida u. a. dadurch verdeutlicht, dass er den Protagonisten als „Hölderlin in America, alias Stéphane Chalier, alias Paul de Man“ (2002a, 187; 2002b, 42) oder auch in verkürzter Form „Chalier alias Paul de Man“ (2002a, 198; 2002b, 53) bezeichnet.15 Im Verlauf der
13 ‚Hölderlin in Amerika‘ ist nicht nur die Thematik der geplanten Dissertation und der Titel der Erstpublikation von Thomas’ literarischem Text im Mercure de France, sondern lässt sich auch auf die Figur Chalier sowie die Person de Man beziehen: „It is true that the real character, my friend, was someone who not only wrote a lot on Hölderlin, in France and in America, but who thought at least to change something or invent something new in the interpretation of the thinking poetry of Hölderlin. […] This friend then, would have in a certain way introduced Hölderlin in America, through and beyond a field of literary theory.“ (Derrida 2002a, 178; 2002b, 33; vgl. zur Polysemie der Benennung Derrida 2002a, 177–179, 2002b, 32–34, sowie McQuillan 2011, 147–151) 14 Paul de Man emigrierte 1948 in die USA und lebte zunächst in New York; seine Ehefrau Anaïde Baraghian zog aufgrund Visaschwierigkeiten mit den drei gemeinsamen Söhnen zunächst nach Argentinien und sollte später folgen. Zu Beginn der 1950er Jahre ging de Man einer Lehrtätigkeit am Bard College nach, lernte dort die Studentin Patricia Kelley kennen, die er heiratete, ohne dass zuvor eine Scheidung der ersten Ehe vollzogen wurde. Vgl. Lehman 1992 sowie 1991, 188–191; Waters 1989, xii–xiii; Barish 2014, 269–323. In seiner Schilderung von de Mans „Life and Works“ verweist Lindsay Waters (1998, lxiv, Anm. 2) auf Thomas’ Roman, dessen Handlung er als „highly fictionalized“ bezeichnet. Dahingegen gibt Evelyn Barish (2014, 419) an, Thomas verwende „many central facts of Paul’s life“. 15 Derrida erscheint in seiner Lektüre des Romans nicht nur die Substitution des Hauptprotagonisten durch de Man als möglich, sondern er lässt die zunächst getrennt erscheinenden Instanzen „narrator“ und „novelist“ oder „author“ schließlich zu „novelist-narrator-witness-character“ (2002a, 170; 2002b, 25) verschmelzen. Diese Ambivalenz, die Fiktion und ‚Realität‘ unauflösbar ineinander übergehen lässt, lässt sich außerdem auch auf seinen eigenen Text beziehen, der sich autobiografisch lesen lässt (vgl. dazu McQuillan 2011, 152–153, 155). Zugleich lässt Derrida auch dieses in der Schwebe bzw. verkompliziert es, indem er die von ihm aufgemachten metonymischen Verschiebungen als anakoluthisch auffasst: „This [anacoluthic] metonymy blurs or complicates all the frontiers; it instigates all possible substitutions: between characters, between the narrator and the characters, between the fiction and reality, between the secret and the manifest, between the private and the public, and so forth.“ (Derrida 2002a, 187; 2002b, 42)
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Vorkommnisse um Chalier, die im Roman zum Unmut des Erzählers als „Affäre Chalier“ (Thomas 2012, 71; 1964, 97) bezeichnet werden, merkt dieser an: „Seit die Dinge für Chalier schlecht liefen, begannen die Leute offenbar, etwas zu vergessen. Was wußte man über die Zeit, bevor er nach Amerika gekommen war?“ (Thomas 2012, 102; 1964, 138–39). Eine Frage, die – wie Derrida (auch) angibt (vgl. 2002a, 184; 2002b, 39) – über zwanzig Jahre nach Erscheinen des Romans wiederholt seit dem Bekanntwerden von Paul de Mans kollaborationistischen Zeitungsartikeln gestellt wurde. Derrida stellt es in seiner Lektüre dieses Textes den Lesern frei, „([…] to make all the transpositions possible between the protagonists of ‚the Chalier affair‘ and those of ‚the de Man affair.‘ There is no relation between them, but all relations are also possible between them.)“ (2002a, 187; 2002b, 43)16
1 ‚Verschwiegene Vergangenheit‘ Die ‚Affäre de Man‘ setzte Ende des Jahres 1987 ein: Am 1. Dezember 1987, vier Jahre nach Paul de Mans Krebstod, titelte The New York Times öffentlichkeitswirksam: „Yale Scholar Wrote for Pro-Nazi Paper“ und brachte damit ans Tageslicht, was seit Sommer 1987 in akademischen Kreisen zunehmend für Unruhe gesorgt hatte: Die Entdeckung von Zeitungsartikeln durch Ortwin de Graef, die Paul de Man für von Deutschen kontrollierte Zeitungen im vom nationalsozialistischen Deutschland okkupierten Belgien während der Zeit des Zweiten Weltkriegs geschrieben hat.17 Der junge de Man arbeitete zu Beginn der 1940er Jahre zwei Jahre lang für die große französischsprachige belgische Tageszeitung Le Soir – aufgrund der Beschlagnahmung auch Le Soir volé (‚Der gestohlene Abend‘) genannt – sowie für die flämische Zeitung Het Vlaamsche Land; insgesamt publizierte er unter seinem Klarnamen
16 Derrida schreibt in einer seiner grenzauflösenden Formulierungen, der Erzähler berichte im Jahr 1964 über die ‚Affäre Chalier‘ (2002a, 184; 2002b, 39), und referiert damit auf das Erscheinungsdatum des Romans, da der Zeitpunkt der Handlung in diesem selbst nicht erwähnt wird. Zudem benennt der französische Philosoph die ‚Affäre Chalier‘ als „first“ (Derrida 2002a, 184; 2002b, 39) und scheint damit eine oder weitere ‚Affäre(n) de Man‘ anzuknüpfen, die weder der Erzähler noch der Autor vorausahnen konnten (vgl. 2002a, 184; 2002b, 39). Im Roman bleibt offen, wie sich das Leben von Stéphane und Judith mit ihrem Verschwinden aus dem Blickfeld des Erzählers entwickelt. 17 Der nicht signierte Artikel berichtet (noch etwas) ungenau und nicht fehlerfrei vom Fund der Artikel. Im Anschluss daran erscheint eine Vielzahl von Artikeln und Beiträgen in Zeitungen, Zeitschriften und Journalen.
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ca. 190 Artikel‚18 die er nie öffentlich thematisiert hat. Die Artikel befassten sich thematisch vornehmlich mit Literatur- bzw. Kulturthemen, waren flämisch-nationalistisch, Nazideutschland gegenüber eher wohlgesonnen und in einigen Fällen antisemitisch.19 Die Veröffentlichung der ‚Entdeckung‘ geschah zu einem Zeitpunkt, als der ehemalige Sterling Professor of Comparative Literature and French der Yale University als einflussreich(st)er Wissenschaftler der sogenannten Yale Critics sowie als „the grand master of US deconstruction“ (Eagleton 2008, 196) galt. Entsprechend hoch wurde die Fallhöhe wahrgenommen, als „Yale Scholar Wrote for Pro-Nazi Paper“ publiziert wurde.20 Der Artikel verfehlte seine Wirkung nicht: In der Folge des Erscheinens brachen in den USA sowie auch in der BRD zum Teil heftige und sehr polemische Debatten um de Mans Artikel, seine Person, seine Authentizität, sein ‚Schweigen‘, seinen theoretischen Zugang und mögliche
18 Für Le Soir verfasste de Man von Dezember 1940 bis zu seiner Entlassung Ende November 1942 ca. 180 Artikel; in Het Vlaamsche Land sind 1942 zehn Artikel von ihm erschienen. Für die nazikontrollierte Bibliographie Dechenne war de Man von Februar 1942 bis März 1943 tätig. Bevor er für die Kollaborationszeitungen schrieb, verfasste de Man 1939–1940 Artikel für das liberaldemokratische Jeudi. Hebdomadaire du cercle ‚Le Libre-Examen‘ sowie Les Cahiers du Libre Examen. Seine ‚Kriegszeit-Artikel‘ sind als Kopien der Originale publiziert in de Man 1988c; eine Auflistung aller Artikel de Mans findet sich in The Paul de Man Notebooks 2014, 315–328. Nach dem Krieg wurde er als Kollaborateur von einem Ankläger der ‚Épuration‘ befragt, was für ihn ohne Konsequenzen blieb (vgl. dazu Barish 2014, 193–202). 19 Der am meisten diskutierte Artikel ist bekanntermaßen „Les Juifs dans la Littérature actuelle“ [Die Juden in der zeitgenössischen Literatur], der am 4. März 1941 auf der antisemitischen Sonderseite „Les Juifs Et Nous. Les Aspects Culturels“ [Die Juden und wir. Die kulturellen Aspekte] von Le Soir erschienen ist. Dieser beginnt mit dem Satz: „Der vulgäre Antisemitismus betrachtet die kulturellen Phänomene der Nachkriegszeit (nach dem Krieg 1914–1918) gern als degeneriert und dekadent, da verjudet.“ (de Man 1988a, 19; 1941a, 10) De Man argumentiert im Folgenden, dass dieses nicht den Tatsachen entspreche, gerade weil jüdische Autoren als zweitrangig zu betrachten seien, sie einen geringen Einfluss auf die westliche Kultur hatten und diese entsprechend nicht prägen konnten. Dass die westliche Kultur sich trotz der Versuche der jüdischen Einmischung ihre eigene Originalität bewahren konnte, spreche für ihre Stärke. Er beendet den Artikel mit folgender Prognose: „Darüber hinaus sieht man also, daß eine Lösung der Judenfrage, die die Schaffung einer Judenkolonie außerhalb Europas ins Auge faßte, für das literarische Leben des Abendlandes keine beklagenswerten Konsequenzen hätte. Es verlöre alles in allem einige Persönlichkeiten von mittelmäßigem Wert und würde sich weiterhin, wie in der Vergangenheit, gemäß dessen großen evolutiven Gesetzen entwickeln.“ (1988a, 19; 1941a, 10) Antisemitische bzw. deutliche pro-nationalsozialistische Äußerungen finden sich auch in den Artikeln „En marge de l’Exposition du livre allemand. Introduction à la littérature allemande contemporaine“ (1942a; 1988b) sowie „Menschen en Boeken. Blik op de huidige Duitsche romanliteratuur“ (1942b; 1988d). 20 Hinzu kam der hohe, wenn auch nicht unumstrittene Stellenwert, der der ‚(French) Theory‘ in den USA zu diesem Zeitpunkt zu kam.
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Zusammenhänge zwischen seinem Leben und seiner Art der Lektüre aus.21 Oder, wie es Hans-Thies Lehmann (1988, 445) ausdrückt, diskutiert wurde „[e]in Knäuel von Themen“, die „Paul de Mans ‚Fall‘ erst zum Fall gemacht“ haben.22 Dabei wird nicht nur der ‚Fall‘ (moralisch und ethisch) debattiert, sondern dieser liefert zum Teil den bereits herrschenden konträren Meinungen zu dekonstruktiven (Lektüre-) Verfahren neue Argumente23 und die Debatte ist, wie es Christoph Menke (1993,
21 Dass in Belgien die Diskussionen dagegen wohl eher verhalten stattfanden, begründen Luc Herman, Kris Humbeeck und Geert Lernout (1989, 12) im Jahr 1989 folgendermaßen: „While this relative lack of Belgian interest may be partly due to the fact that de Man and his work were almost completely unknown in his native country, it does reflect the other simple fact that de Man’s ‚crime‘ is, in the Belgian context, a very minor one.“ Eine Argumentation, die theoretisch auch für die Bundesrepublik Deutschland gelten könnte, in der de Man und sein theoretisches Konzept zu dieser Zeit ebenfalls kaum bekannt waren, aber praktisch nicht gelten kann. Die Debatten in den BRD wurden ausgelöst durch zwei Artikel Frank Schirrmachers (1988a, 1988b), die im Februar 1988 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschienen sind. Der erste, „Totgeschwiegene Schuld“, ist fehlerhaft und vornehmlich abgeschrieben aus The New York Times („Yale Scholar“ 1987) und unkorrekten und polemischen Artikeln in The Nation (Wiener 1988) sowie Newsweek (Lehman 1988) und stellt de Man als überzeugten Nationalsozialisten und Antisemiten dar; der zweite Artikel, eine Reaktion vor allem auf kritische Reaktionen auf seine Berichterstattung seitens Anselm Haverkamps (1988a) und Werner Hamachers (1988a; vgl. auch 1988b) und eine Berichtigung der Fakten-Fehler des vorausgegangen Artikels, betont die Kontinuität von de Mans Zeitungsartikeln zu seinem theoretischen Werk; deutsche Übersetzungen zweier Artikel de Mans erschienen in diesem Zusammenhang nicht in der FAZ, sondern in der taz (de Man 1988a, 1988b). Wie in den USA wurden die Debatten in der BRD auch größtenteils in den Zeitungen und Zeitschriften ausgetragen und die eigentlichen Streitpunkte zum Teil immer unklarer. Robert C. Holub (1992, 225, Anm. 109) konstatiert diesbezüglich: „Indeed, the controversy about de Man in Germany has been more strident than one would expect considering the meager reception of deconstruction in literature and philosophy departments in the Federal Republic. The German interest in this matter seems to stem as much from their own recent controversies about the past, the so-called ‚historians’ debate‘ (Historikerstreit), as from an inherent interest in de Man and deconstruction.“ Und für Christoph Menke (1993, 267) „drängt sich“ angesichts der „nahezu völlige[n] Unbekanntheit des verhandelten Autors“ in der BRD „die Frage auf, ob hier nicht ersatzweise, an einem belgisch-amerikanischen Fall, diskutiert wurde, was man an sehr viel näher liegenden deutschen Fällen nicht diskutieren wollte.“ 22 Lehmann (1988, 445) fährt fort: „Kein einzelner der Faktoren für sich hätte wohl die internationale Aufregung hervorgerufen, in ihrer undurchschauten Verwicklung aber bilden sie die unheimliche Figur eines monströsen Vorgangs, ein sinistres Drama gar, wie es sich manche zusammenphantasieren.“ 23 Hinzu kommt, dass die Auseinandersetzungen zum Teil angereichert wurden durch Gerüchte um de Mans Privatleben und auch diesbezüglich Versuche unternommen wurden, seine Missetaten in Zusammenhänge mit seinem dekonstruktiven Zugang zu bringen. Erste öffentliche Gerüchte um de Mans private und/oder finanzielle Verfehlungen finden sich beispielsweise in Atlas 1988, Lehman 1991 sowie 1992. Evelyn Barish macht in The Double Life of Paul de Man im
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266) schreibt, „sowohl in ihrer amerikanischen Erst- wie in der ihrer deutschen Zweitfassung ein nahezu unauflösbares Gewirr von Argumenten, Vorurteilen, Tatsachen und, nicht zuletzt, privaten Abrechnungen.“ De Man selbst hat kein (öffentliches) Narrativ hinsichtlich seines Lebens in Europa entwickelt, er blieb wohl verhalten respektive war flexibel in seinen Antworten auf Nachfragen bezüglich seiner Aktivitäten während der Kriegszeit.24 Da er sich nun hinsichtlich des öffentlich Bekanntwerdens seiner Zeitungsartikel und seines diesbezüglichen Schweigens nicht mehr äußern konnte, wurden u. a. verschiedene Versuche unternommen, seine späteren theoretischen Texte für ihn sprechen zu lassen und darin Positionen zu finden, die Hinweise auf sein Verhalten enthalten, bzw. Versuche, anhand der Texte zu belegen, dass er seinen dekon-
Jahr 2014 schließlich aus kursierenden Gerüchten belegte Berichte; zu Barishs etwas problematischer Teilbiografie vgl. vor allem die kritisch-differenzierte Rezension von Knörer (2014) sowie auch Menand (2014). 24 Als de Man Doktorand in Harvard war, wurde er von der dortigen Society of Fellows aufgefordert, Stellung zu seiner Aufnahme in Harvard, seiner Einreise in die USA, zu Kollaborationsvorwürfen während der Besatzungszeit in Belgien sowie einer Klage bezüglich des von ihm gegründeten Verlages in Belgien zu beziehen (vgl. de Man 1955, 475). Anders als Stéphane Chalier äußert sich die reale Person im Januar 1955 diesbezüglich selbst in einem Brief: Paul de Man gibt zwar zu, Artikel für Le Soir verfasst zu haben, spielt dieses aber zum einen herunter und lügt zum anderen: „In 1940 and 1941 I wrote some literary articles in the newspaper ‚Le Soir‘ and, like most of the other contributors, I stopped doing so when nazi thought-control did no longer allow freedom of statement. During the rest of the occupation, I did what was the duty of any decent person.“ (476) Er verweist darauf, dass er nicht hätte in die USA einreisen dürfen, wenn ernst zu nehmende Kollaborationsvorwürfe gegen ihn vorgelegen hätten (vgl. 476). Seinen Onkel, den belgischen Politiker Hendrik de Man, bezeichnet er als „[m]y father“ (476), um, wie am Ende seiner ‚Erklärung‘ deutlich wird, auf die „connotations of my name“ (477) aufmerksam zu machen, und weist auf die positive Haltung Hendrik de Mans gegenüber der nationalsozialistischen Besatzung hin, die er zu entschuldigen versucht (vgl. 476), und stellt sich selbst schließlich als ‚Opfer‘ von unhaltbaren Vorwürfen dar, die ihm Schaden zufügen sollten (vgl. 477; vgl. zum Brief z. B. Barish 2014, 349–360, oder auch Derrida 2000 [1988], 83, 118–119, Anm. 54; 1988c, 206–207, Anm. 2, wobei Derrida zu diesem Zeitpunkt davon ausgeht, dass de Man im Brief die Wahrheit gesagt habe, und dieses entsprechend bewertet). In Bezug auf direkte schriftliche Äußerungen zu seiner Vergangenheit, verblieb es bei dieser brieflichen Stellungnahme. Einigen Menschen in seinem Umfeld hat de Man wohl die Wahrheit gesagt. Jean-Marie Apostolidès (1989, 765) beginnt seine Stellungnahme zu Derridas Apologie in Critical Inquiry (1988a) mit dem Hinweis darauf, dass er Anfang der 1980er Jahre auf die Artikel de Mans in Le Soir gestoßen sei und diese mit Kollegen in Harvard bzw. Boston diskutiert habe, und er fragt sich, warum es einige weitere Jahre brauchte, bis diese öffentlich bekannt wurden – Benoît Peeters (2013, 562; 2010, 482) äußert diesbezüglich folgende Vermutung: „Wenn die Affäre nicht zu dessen [Paul de Mans] Lebzeiten ausbrach, so deshalb, weil niemand es wünschte, solange er das beste Department für Vergleichende Literatur in den USA leitete.“
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struktiven Zugang fast dreißig Jahre später (auch) aus dem Grund entwickelte, um seine Artikel und sein öffentliches Schweigen, aber auch seine vermeintlich kontinuierlich ‚faschistischen Ansichten‘ zu verbergen respektive zu rechtfertigen, Rückschlüsse von seinen (zweifelhaften) Charaktereigenschaften auf seinen theoretischen Zugang zu ziehen25 sowie aber auch anhand seiner Schriften aufzuzeigen, dass bereits alles gesagt ist.26 In Bezug auf (die Diskussionen um) Paul de Man „dauerte [es] nicht lange, bis die damals heftig geführten Debatten […] zwischen Wissenschaft und Feuilleton Einzug in die zeitgenössische Literatur hielten“, so konstatiert Jürgen Thaler (2013, 33) rückblickend in seiner Rezension zu Henri Thomas’ Roman Der Meineid und meint damit auch „[d]as Motiv des genialen Wissenschaftlers, der eine Methode erfindet, um sich von seinen eigenen ideologischen Sünden (‚Blindheit‘ [eine Anspielung auf de Mans Essaysammlung Blindness and Insight,
25 Ein treffendes Bild hinsichtlich der Charakterzuschreibungen fertigte David Plunkert für eine Rezension (Romano 2014) zu Barishs Monografie in The Chronicle of Higher Education an; zu sehen ist de Mans Gesicht, über das folgende Worte in Großbuchstaben verlaufen: „Embezzler“, „Anti-Semitic“, „Liar“ und „Forger“ auf der Stirn, „Fraud“ horizontal über die Nase, „Bigamist“ und „Hustler“ jeweils auf den Wangen sowie „Nazi Sympathizer“ am Kinn. 26 Angesichts u. a. der Aussage, dass aufgrund der Unentscheidbarkeit zwischen „fictional discourse“ und „empirical event“ jedes Verbrechen entschuldigt werden könne, aber auch der Darstellung, dass ‚bekennen‘ letztlich nicht möglich ist, wird z. B. sowohl von Kritikern als auch von Verteidigern de Mans Essay „Excuses (Confessions)“ im Hinblick auf seine Vergangenheit zurate gezogen. Ortwin de Graef setzt sich damit beispielsweise auseinander (1989) und Jacques Derrida lädt in „Comme le bruit de la mer au fond d’un coquillage“ alle die, die über de Mans „Schweigen nachdenken, ein, unter anderem ‚Excuses (Confessions)‘ in Allegories of Reading zu lesen“ – darin sei alles gesagt (2000 [1988], 86; 1988c, 209; vgl. auch seine kritische Re-Lektüre von de Mans Aufsatz „Le ruban de machine à écrire (Limited Ink II)“, in der er an einer möglichen referenziellen Lesart festhält (Derrida 2006, vor allem 43; 2001, vor allem 41). Ein Beispiel für eine extreme Positionierung auf Seite der Verteidiger stellt Shoshana Felmans (1989) Auseinandersetzung mit de Mans ‚Schweigen‘ dar, in der sie sich u. a. mit „Excuses (Confessions)“ befasst. Das ‚Schweigen‘ versteht sie als seine kontinuierliche Beschäftigung mit seiner Vergangenheit; in de Man sieht sie nicht nur einen impliziten Zeugen des Holocaust, sondern ihre Argumentation gipfelt in einer Parallelisierung (der Schicksale) von Paul de Man und Walter Benjamin: „Although political positioned on two different sides, although de Man collaborates while Benjamin is persecuted as a Jew, both Benjamin and de Man experience the events of the Second World War essentially as a mistake, as an impossibility of reading (or witnessing), as a historical misreading that leads both men to a misguided action. The one dies as a consequence of his misreading of the war whereas the other survives in spite of it and constructs his later life as a relentless struggle with the powers of historical deception, including his own former historical misreading.“ (737; vgl. auch 735–744). Ein Extrem auf Kritikerseite lässt sich z. B. an David H. Hirschs Monografie Deconstruction of Literature. Criticism after Auschwitz (1991) festmachen. Eine Zusammenfassung der unterschiedlichen Positionen bzw. Reaktionen bietet z. B. Gregory Jones-Katz (2010, 254–263).
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I. D.]) freizusprechen“.27 Auch für Jacqueline Rose (2008) ist „[i]n theory“ die „de Man story“ ein perfekter Stoff für „fiction, not just because fiction and fictionality were his chosen terrain, but because fiction is able to contain the ‚generous scepticism‘ – the phrase is William Empson’s – which allows that someone might be both guilty and not guilty at the same time.“ Entsprechend fanden die ‚Enthüllungen‘ um Paul de Mans Vergangenheit sowie Aspekte seines dekonstruktiven Lektüreverfahrens und der Debatten Eingang in verschiedenen Romane. Wie in der Lektüre Derridas Le Parjure nicht nur eine literarische Fiktion ist, die Probleme in ihrer Beziehung zur sogenannten ‚realen‘ Vergangenheit de Mans aufzeigt (vgl. Derrida 2002a, 165; 2002b, 20), sondern auch Probleme in ihrem Verhältnis zu „fiction, to witnessing, in short to all the ‚unknowns‘ that today can be inscribed under the words truth and reality, but also sincerity, lying, invention, simulacrum, perjury, etc.“ (2002a, 165; 2002b, 20) aufwirft, diskutieren auch die weiteren literarischen Texte diese Aspekte. Im Jahr 1992 erschienen mit Gilbert Adairs The Death of the Author, einer Verbindung „aus campus novel bzw. Professorenroman auf der einen und einem vertrackten Kriminalroman bzw. seiner Subversion auf der anderen Seite“ (Sollte-Gresser 2016, 32–33), sowie Malcolm Bradburys „globale[m] Kongreß-Roman“ (Winter 1996) Doctor Criminale zwei satirische Romane; ein Jahr später publizierte Lars Gustafsson seinen philosophischen Roman Historien med hunden (Die Sache mit dem Hund), mit John Banvilles tragischem Roman Shroud28 erschien 2002 das Mittelstück seines „triptych
27 Ähnlich äußern sich Christine Garbe, Martin Groß und Lutz Engelke bereits 1988 in Die Tageszeitung, wenn sie das filmische Potenzial dieser Thematik erkennen: „Plötzlich erscheint de Man als (genialer?) Psychopath, der sein Leben lang Theorien entwarf, nur um einem dunklen Punkt seiner Geschichte auszuweichen. (Eine Vorlage für Hitchcock!)“ (Groß et al. 1988, 20) Martin McQuillan (2014) konstatiert, dass der ‚akademische Skandal‘ um de Man alles hat, was für einen solchen benötigt würde: „an elite university, suspiciously esoteric thought, a secret Nazi past and no shortage of prominent, wounded professors willing to say ‚I told you so‘“ inklusive der bigamistischen Ehe mit einer seiner Studentinnen; und er merkt entsprechend an: „The story of de Man’s life would seem to be the stuff of fiction, and it has, indeed, captured the imagination of several novelists.“ Der britische Literaturwissenschaftler Michael Greaney (2006, 75) schreibt, dass ‚Literarisierungen‘ des ‚de Man-Stoffes‘ folgende Fragen beantworten: „But what if de Man had been confronted with the damning evidence of his wartime journalism during his own lifetime? Would he have accepted that his youthful anti-Semitism had any bearing on his mature literary criticism? Would he have tried to disown or deconstruct the Le Soir articles?“ 28 John Banville nennt in den Acknowledgements seines Romans Shroud direkt die verwendeten Quellen und Bezugspunkte; dort heißt es u. a.: „Other themes in that book [die englische Übersetzung von Louis Althussers L’avenir dure longtemps, I. D.] have been alluded to and employed elsewhere in the text, as have themes in the life and various works of Paul de Man.“ (2002, 407) Zu Banvilles Kontakt mit Ortwin de Graef, der in Ancient Light unter dem Anagramm Fargo De-
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mirror“ (Adams 2012) um den Schauspieler Alex Cleave, der mit Eclipse (2000) beginnt und mit Ancient Light (2012) endet‚29 2006 griff Bernhard Schlink in Die Heimkehr die Thematik auf und zwei Jahre später erschien Wolfram Fleischhauers Campusroman Der gestohlene Abend (2008).30 Mit (kleinen) Teilen aus de Mans Biografie beschäftigte sich außerdem – bereits vor Henri Thomas – Mary McCarthy, die, wie Thomas, Paul de Man persönlich kannte‚31 in ihrer 1952 publizierten satirischen Abrechnung mit dem McCarthyism, dem Universitätsroman
Winter – „who claimed to have unmasked the old fraud“ (Banville 2012, 111) und ein „emeritus professor of Post-Punk Studies“ (111) ist – Erwähnung findet, vgl. D’hoker (2018). 29 Die drei Romane Banvilles sind miteinander verwoben; in Persona tritt die berühmte Wissenschaftlerfigur ‚Axel Vander‘ in Shroud auf, Bezugspunkte zu ihm gibt es jedoch auch in Eclipse sowie in Ancient Light. Die Handlungen in Eclipse und Shroud verlaufen parallel: In Eclipse reflektiert der nach einem (psychischen) Zusammenbruch auf der Bühne in die Einsamkeit geflohene Schauspieler Alexander (Alex) Cleave über sein Leben, berichtet dabei auch über die Krankheit und Kindheit seiner Tochter Catherine (Cass) und muss sich schließlich mit ihrem Tod auseinandersetzen. Die Ereignisse in Shroud finden ebenfalls in den Wochen um die in Eclipse geschilderte Sonnenfinsternis 1999 statt; im Mittelpunkt des Romans steht ‚Vander‘, geschildert werden dabei auch die letzten Lebenswochen von Cass, die sie mit dem Wissenschaftler in Italien verbringt – in einzelnen Szenen gibt es kleine Überschneidungen zwischen den Romanen, die, ebenso wie Aspekte der Erinnerungen an Cass’ Kindheit, aus unterschiedlichen Perspektiven erzählt werden. Zehn Jahre später kommt Alex Cleave in Ancient Light den Umständen des Todes seiner Tochter bzw. der Wochen, die sie in Italien verbrachte, auf verschiedene Weise immer näher – beispielsweise auch durch seine eigene Darstellung ‚Axel Vanders‘ im Film The Invention of the Past. Er verkörpert damit nicht nur – für ihn während der Dreharbeiten unwissenderweise – den Liebhaber seiner Tochter und Vater seines ungeborenen Enkelkindes, sondern spielt wohl zugleich auch Cass’ letzte Lebenswochen nach, die sich wiederum verzerrt in seiner eigenen Reise mit der jungen Schauspielerin Dawn Devonport nach Italien spiegeln. Beide Figuren, ‚Vander‘ und Cleave, verfügen über diverse Gemeinsamkeiten bzw. Spiegelungen, die bereits mit den Buchstaben ihrer Vornamen und ihrem Dasein als ‚Schauspieler‘ beginnen. 30 Der Titel deutet bereits an, dass die Handlung Bezüge zu Paul de Mans Biografie herstellen wird: Wie bereits erwähnt, hieß die belgische Tageszeitung Le Soir nach deren Übernahme durch die deutschen Besatzer im Volksmund ‚Le soir volé‘ – ‚Der gestohlene Abend‘. Dieser ist nicht nur eine inhaltliche Anspielung auf den ‚Fall de Man‘, sondern wird im Handlungsgeschehen aufgegriffen (vgl. Fleischhauer 2008, 160–175 sowie 234) und kann als Sinnbild des gestohlenen und verlorenen Lebensabends einer geistigen Elite (336) verstanden werden. Wolfram Fleischhauer gibt auf seiner Homepage an, sein Roman beschäftige sich mit seinen Erlebnissen während des Studienjahrs 1987–1988, das er als Gaststudent an der UC-Irvine verbrachte und in dessen Zeit die öffentliche Aufdeckung von de Mans journalistischer Vergangenheit fiel, die ihn „geschockt“ habe (vgl. Fleischhauer 2017), gleichzeitig „setzt“ er damit, so Sabine Doering in ihrer Rezension (2009), seiner ehemaligen Lehrerin Ruth Klüger „ein literarisches Denkmal“. 31 Dank ihrer Fürsprache übernahm er als Dozent 1949–1951 Artine Artinians Kurse am Bard College, als dieser als Fulbright Fellow in Frankreich weilte. Vgl. zu de Mans kurzem Aufenthalt in Annandale-on-Hudson Lehman 1992 und Barish 2014, 250–323.
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The Groves of Academe.32 Die Handlung des Romans ist am fiktiven liberalprogressiven Joycelyn College angesiedelt, an dem der Literaturwissenschaftler Henry Mulcahy, „the only Ph. D. in the Literature departement, contributor to the Nation and the Kenyon Review, Rhodes scholar, Guggenheim Fellow, father of four, fifteen years’ teaching experience, salary and rank of instructor“ (McCarthy 1992 [1952], 5), mittels eines gelogenen ‚Bekenntnisses‘ versucht, gegen seine bevorstehende Entlassung vorzugehen.33
2 ‚De Man’sche Erzählungen‘ Der Umgang mit dem ‚de-Man-Stoff‘ und de Mans theoretischem Konzept erfolgt in den „de Manian narrative[s]“ (McQuillan 2014) in unterschiedlicher Weise. Bernhard Schlink erfüllt in seinem Roman Die Heimkehr unsatirisch und uni-
32 Während Marc Redfield (2016, 195, Anm. 32) anmerkt, dass es seinen Kenntnissen nach vier Romane gibt, die von de Mans Leben inspiriert wurden: Le Parjure, The Death of the Author, Shroud sowie Die Heimkehr, nennt Martin McQuillan (2014) Banvilles Shroud, die Romane von Adair, McCarthy und Thomas sowie die 1995 gesendete BBC-Serie Signs and Wonders. Jürgen Thaler (2013, 33) gibt, neben Der Meineid, die Romane von Adair, Gustafsson, Fleischhauer, Schlink sowie Banvilles Caliban (Shroud) an und nennt zu Beginn seiner Rezension Teju Coles Open City, in dem de Man u. a. namentlich Erwähnung findet (Cole 2011, 127–128). Ekkehard Knörer (2014, 827–828) wiederum führt Der Meineid, Die Sache mit dem Hund, Caliban (Shroud), Im Lichte der Vergangenheit (Ancient Light) sowie Der gestohlene Abend, bei dem er die ‚de-Man-Figur‘ fälschlich „Alexis de Vander“ (828) benennt, an. Doctor Criminale wird, neben The Death of the Author und Shroud, in Michael Greaneys (2006, 73–82) Analysen angesprochen. 33 Dass in diesem Roman die Figur des Aristide Poncy auf Artinian basiert, ist unbestritten (vgl. dazu Lehman 1992); was die Bezüge zu Paul de Man angeht, scheint jedoch etwas Unklarheit zu herrschen. Für David Lehman (1992) wird de Man lediglich einmalig als „a Belgian“ (McCarthy 1992 [1952], 86) erwähnt, der zu den aus verschiedenen Nationen stammenden Assistenten und Kollegen gehörte, die für Poncy arbeiteten; aus der Perspektive Martin McQuillans (2014) verliert Mulcahy, „like de Man“, seinen Arbeitsvertrag am College. Evelyn Barish (2014, 286) legt sich nicht fest, sie schreibt, wenn McCarthy hinsichtlich ihres Protagonisten an Paul de Man gedacht habe, „it was only in the details“, sowohl de Man als auch Mulcahy seien doppelzüngig, Väter von drei Kindern [Mulcahy ist im Roman Vater von vier Kindern und de Man wird während seiner Zeit am Bard College zum vierten Mal Vater, I. D.], aber im Gegensatz zum jammernden Mulcahy, setzte de Man auf seinen Charme und hielt sich aus politischen Angelegenheiten heraus. Dagegen ist einzuwenden, dass Mulcahy zwar auf den ersten Blick weinerlich wirken mag, jedoch manipulativ, rücksichtslos und egoistisch vorgeht und sich weniger in politische Angelegenheiten einmischt als vielmehr versucht, diese für sich zu nutzen.
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ronisch sämtliche Merkmale einer „fictional DeManology“ (Greaney 2006, 75)34 und verleiht seinem Protagonisten, dem Juristen John de Baur, „Schüler von Leo Strauss und Paul de Man, Gründer der Legal Deconstructionist Theory“ (Schlink 2006, 259) und „zu revolutionär, als daß er an einer der berühmten Law Schools reüssiert hätte, aber hinreichend bedeutend, um an der Columbia-Universität zu landen, nicht an der Law School, aber im Political Science Departement“ (259), entsprechend eine negativ-dämonische Persönlichkeit, der in Form des Erzählers Peter Debauer eine (ambivalent-)positive Gegenfigur gegenübergestellt wird.35 Der in der Schweiz geborene John de Baur scheint seinen Gang durchs Leben von Gottfried Kellers Figur Wenzel Strapinski abzuleiten (vgl. 319–322). Er kann auf eine Vergangenheit mit „verschiedenen Namen und Rollen“ (372) zurückblicken und er erscheint als Konglomerat aus verschiedenen (realen) Biografien – 1944–1945 schreibt er, zum Beispiel, unter dem Namen Volker Vonlanden für das nationalsozialistische Deutschland Kriegsberichte für die Deutsche Allgemeine Zeitung und das Reich, unmittelbar nach Kriegsende nennt er sich Walter Scholler, gibt sich als Jude aus, der Auschwitz überlebt hat, und leitet das Feuilleton des Berliner NachtExpreß; als John de Baur geht er in die USA, leitet kurzzeitig eine Kommune im autoritären Stil und macht schließlich als Wissenschaftler unter diesem Namen
34 Richard Klein (1989) benennt in seiner ‚Antwort auf Paul de Mans Kriegszeitjournalismus‘ mit der (dekonstruktiven) Buchstabenspielerei ‚DeManology‘ eine zukünftige Wissenschaft, die sich mit dem ‚Diabolischen‘ (in der Personifikation de Mans) auseinandersetzt (vgl. 286). Die hermeneutisch arbeitende ‚DeManology‘, die in den theoretischen Texten nach Beweisen und Belegen vor allem für anhaltendes totalitäres bzw. faschistisches Denken sucht, sieht eine Kontinuität zwischen Leben und Theorie bzw. Werk (vgl. 285–286). Michael Greaney (2006, 75) attributiert diese ‚Zukunftswissenschaft‘ mit ‚fiktional‘ – diese „DeManological fiction“ (81) gäbe mögliche Antworten auf die Frage, wie de Man auf die öffentliche Bekanntmachung seiner journalistischen Arbeiten hätte reagieren können, wenn er Ende der 1980er Jahre noch am Leben gewesen wäre, und sie befriedige damit das Bedürfnis der Gegner de Mans nach einem dramatischeren Niedergang des Literaturtheoretikers (vgl. 75). Greaney (75) nennt als Beispiele für „fictional DeManology“ Adairs The Death of the Author und Banvilles Shroud, was etwas problematisch erscheint, da diese beiden Romane nicht den psychologisierenden Topos des dekonstruktiv-denkenden Wissenschaftler als Personifikation des Bösen bedienen, sondern ambivalenter vorgehen. Scott Brewster (2016, 314) bezeichnet es als „substantial misreading of his [Banvilles, I. D.] work“, Shroud in die „DeManological tradition“ einzuordnen. 35 Der Roman spielt anhand von Vater und Sohn die Binaritäten von Gut und Böse, Recht und Gerechtigkeit, Wahrheit und Lüge, Schuld und Unschuld, Lüge und Wahrheit durch. Aber auch Peter muss im Verlauf seines Lebens feststellen, dass die Unterscheidungen ambivalenter sind, als er es angenommen hat (vgl. Schlink 2006, u. a. 208–209; vgl. auch Börnchen 2008, 100–102).
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Karriere.36 Bereits zu Schulzeiten zeigt er eine Vorliebe für faschistische Ideen‚37 tritt vermutlich in die SS ein und hält an seinem nazistischen Denken sein Leben lang fest. Dieses manifestiert er in seiner Argumentation einer ‚Eisernen Regel‘, die sich durch seine verschiedenen Texte, unabhängig von der Textsorte, zieht: „Das Recht hat seinen Grund […] in einer eisernen Regel. Was du bereit bist, dir zuzumuten, das hast du auch anderen zuzufügen das Recht.“ (167) Er formuliert diese erstmals gegen Ende des Zweiten Weltkriegs und spricht damit Deutschland das „Recht zu töten“ (167) zu.38 Seinen juristisch-dekonstruktiven Zugang, der innerhalb des Romans als „böse“ (267, 269) bezeichnet wird, entwickelt er aus dieser Grundlage heraus – Dekonstruktion wird damit als faschistischer Theoriezugang präsentiert.39 Aus der Perspektive des Erzählers Peter stellt de Baurs Konzeption, die dieser auch praktisch an Studierende als seine Variante des MilgramExperiments vermittelt, eine Rechtfertigung von dessen Vergangenheit dar: „seine Theorie“ sprach de Baur von „jeder Verantwortung los“, „von der Verantwortung für das, was er geschrieben, und für das, was er getan hatte“, und seine Theorie war es, „die diesen Weg durchs Leben rechtfertige“ (273). Und dieses führt de Baur auch „meisterlich“ (373) vor, als er schließlich mit der Enthüllung seiner Vergangenheit in der New York Times konfrontiert wird, die keine folgenreichen negativen Auswirkungen für ihn, seinen Stellenwert oder die Wahrnehmung seines Zugangs hat.40 Kann John de Baur selbst noch Stellung zu seiner ‚enthüllten‘ Vergangenheit nehmen, so ist dieses dem belgisch-amerikanischen „Begründer einer
36 Eingebettet ist die Nachzeichnung der Lebensgeschichte John de Baurs in die autodiegetische Erzählung Peter Debauers; rückblickend berichtet er, wie er (schließlich) herausfand, dass es sich bei John de Baur um seinen totgeglaubten Vater handelt. 37 Gegenüber einem Schulfreund spricht er sich 1940 für ein „totale[s] Engagement“ (Schlink 2006, 251) aus und äußert sich begeistert über die Gedanken von Othmar Spann, Julius Schmidhauser und Carl Schmitt (vgl. 249–253). 38 Die „Eiserne Regel“ fungiert – ähnlich wie intertextuelle Bezüge zur Odyssee in sämtlichen seiner Schriften – auch als Merkmal, an dem Peter ihn schließlich als Verfasser der verschiedenen Schriften erkennt. Vgl. zur „Eisernen Regel“ u. a. auch Jacqueline Roses (2008) Rezension, die entsprechend „The Iron Rule“ betitelt ist. 39 Nicht nur bilden in diesem Roman Leben und Theorie eine Einheit, sondern es werden auch sämtliche pejorativen Klischees gegenüber Dekonstruktion erfüllt. Jacqueline Rose (2008) bemerkt zudem treffend: „It isn’t clear which is his greatest crime: having been a member of the SS, faking his identity, abandoning his son, or following the principles of deconstruction.“ 40 Nach Bekanntwerden seiner Vergangenheit geht de Baur damit so souverän und „so bescheiden, aufrichtig und freundlich“ (Schlink 2006, 372) um, dass „er danach nicht mehr einfach niedergemacht werden konnte“ (372). Bei einer aufgrund seiner verschwiegenen Vergangenheit stattfindenden Konferenz „trat de Baur selbst auf und dekonstruiert seine Kriegstexte so, daß man sie ihm nicht vorwerfen noch auch ihm vorwerfen konnte, er verweigerte für sie die Verantwortung“ (373).
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neuen Denkschule“ (Fleischhauer 2008, 9) Jacques De Vander41 in Fleischhauers Campusroman Der gestohlene Abend nicht möglich: dieser „[i]n den USA […] vermutlich […] einflussreichste Literaturwissenschaftler der Gegenwart“ (295) ist zum Zeitpunkt der geschilderten Handlung bereits drei Jahre tot. ‚Literarisiert‘ werden die Entdeckung von kollaborationistischen respektive pro-nationalsozialistischen und antisemitischen Zeitungsartikeln, die De Vander in den Jahren 1941 und 1942 für die pro-nazistische belgische Zeitung Le Soir geschrieben hat – „vor allem Rezensionen und Literaturkritiken“, die er „zum Anlass genommen [hat], seine politischen und geschichtsphilosophischen Ansichten zu verbreiten“ (286) –, sowie die Reaktionen darauf in der (akademischen) (Campus-)Öffentlichkeit.42 Informationen über den verstorbenen Literaturtheoretiker werden durch die handelnden Figuren vermittelt, sein theoretischer, ‚neu-ästhetischer‘43 Zugang wird in den dargestellten Seminardiskussionen oder in den Gesprächen der Studierenden referiert. Die dargestellte Lebensgeschichte und das entworfene (Charakter-)Bild des Literaturtheoretikers entsprechen dabei den Narrativen, die über Paul de Man seit Ende der 1980er Jahre im Umlauf waren: zunächst die „Erfolgs story“ von einem Emigranten, der sich vom „Buchverkäufer“ zum „einflussreichsten Literaturwissenschaftler“ in den USA hochgearbeitet hat (92), und schließlich die Geschichte eines „eiskalte[n] Opportunist[en]“ (296) in Belgien, der ein „intellektueller Mitläufer [war], der Naziparolen nachgebetet hat, während man die jüdische Bevölkerung Belgiens bereits waggonweise in die Vernichtungslager transportierte“ (296–297), der „einfach gewissenlos“ war, sich aus allem heraus-
41 Wie bereits der Titel des Romans eine Anspielung auf de Man ist, ist auch die Zusammensetzung des Namens aus Jacques Derrida, Paul de Man und Axel Vander offenkundig und zeigt zum einen den Bezug zur Realität und den damit verbundenen beiden Theoretikern auf als auch zum anderen einen intertextuellen Bezug zur Literarisierung John Banvilles und dessen Hauptprotagonisten ‚Axel Vander‘. Auch findet sich eine Anspielung auf Bradburys Roman, wenn die Studierenden in einer selbstreflexiven Szene über den akademischen Skandal diskutieren und der Idee nachgehen, diesen zu literarisieren, und an deren Ende die Idee eines Romans steht, die dem Inhalt und der Vorgehensweise von Der gestohlene Abend entspricht (vgl. Fleischhauer 2008, 326–327) und die Matthias später mit seiner Erzählung in die Tat umsetzt. Zu weiteren selbstreflexiven sowie metafiktionalen Momenten des Romans Klimek 2010. 42 In den Diskussionen in den Seminaren und untereinander über De Vanders theoretischen Zugang spiegeln die Studierenden und Dozenten die Gegenüberstellung von denjenigen, die hermeneutische Zugänge vertreten, und jenen, die stattdessen ‚poststrukturalistische‘ Konzepte bevorzugen, wider. In dieser Form werden im weiteren Verlauf auch die Polarisierungen zwischen Verteidigern und Kritikern De Vanders nach dem Bekanntwerden seiner Vergangenheit deutlich gemacht. 43 Das Wort ‚Dekonstruktion‘ wird im Roman in Bezug auf De Vanders Konzept, das eine Widerspiegelung von de Mans dekonstruktiven Lektüren ist, nicht verwendet.
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reden konnte, der nur „laut nachgedacht“ habe, „ob das Verschwinden der Juden ein großer Verlust wäre“ (297). Und auch die im Roman beschriebenen Zeitungsartikel – sowohl die De Vanders als auch die nach Bekanntwerden seiner Vergangenheit über ihn publizierten – sowie die Diskussionen um den ‚Fall‘ muten wie (sehr) leicht verfremdete Nacherzählungen der ‚Affäre de Man‘ an.44 Eingebettet ist dieses in eine Dreiecksliebes- sowie Kriminalgeschichte – der deutsche Austauschstudent Matthias Theiss schildert retrospektiv seine Erlebnisse im Studienjahr 1987–1988 auf dem Campus der fiktiven kalifornischen Universität Hillcrest, an dem das ‚Institut für neue Ästhetische Theorie‘ (INAT) ansässig ist, an dem der Zugang De Vanders gelehrt wird. Im Verlauf der Handlung folgt Matthias den Spuren des talentierten und schließlich beim selbst gelegten Brand im De-Vander-Archiv versehentlich ums Leben kommenden jüdischen INAT-Doktoranden David, der auf De Vanders journalistische Vergangenheit gestoßen ist. Fungieren in Schlinks Roman Vater und Sohn als binäre Oppositionen, sind es im Roman von Fleischhauer vor allem Matthias und Janine, seine Freundin in Hillcrest. Matthias ist von De Vanders ‚neu-ästhetischem‘ Zugang zunächst fasziniert, positioniert sich in den literaturwissenschaftlichen Diskussionen, anders als seine Kommilitonen, anfangs nicht, sondern wägt das Für und Wider verschiedener Denkrichtungen ab. Auf die antisemitischen Zeitungsartikel De Vanders reagiert er geschockt (vgl. 66) und nimmt Abstand vom letzten Schritt ‚neu-ästhetischen‘ Denkens, der darin liegt, „[d]ass allem nur eine anonyme, stumme Struktur zugrunde liegt, […] ohne Ursprung und ohne Ziel, weder gut, noch schlecht […] und gar nichts über die Welt“ sagt (228). Eine Sichtweise, die Matthias zu weit geht und über die er mit Janine zunehmend in Konflikt gerät, die sich im Handlungsverlauf als eine Anhängerin De Vanders und ‚Neu-Ästhetikerin‘ herausstellt. Janines Umgang mit ‚der‘ Theorie wird dahin gehend dargestellt, dass sich dieser zum einen nicht von ihrem Blick auf die Welt trennen lässt und Kontinuität zwischen beiden besteht und zum anderen dass sie De Vanders Konzept radikal (weiter-)denkt.45
44 Ralph Gerstenberg (2009) fragt in seiner Besprechung des Romans, warum der Autor das „komplizierte Konstrukt“ aus US-amerikanischer Eliteuniversität, Dreiecksbeziehung, Kriminalhandlung und „intellektuelle[r] Entwicklung seiner Hauptfigur“ entwirft und nicht einfach berichtet, „was ihn noch immer beschäftigt“. Sonja Klimek (2010, 62, Anm. 4) hält dagegen, dass nicht der „Stoff“ „nach einem Ausdruck“ suche, „sondern der Romancier Fleischhauer hat sich dafür entschieden, aus diesem Stoff einen Roman zu machen“. 45 Verdeutlicht werden ihre unterschiedlichen Haltungen noch einmal durch ein zufälliges Aufeinandertreffen in Belgien siebzehn Jahre später: Während Janine ihr relativierendes Denken auf Vergleiche zwischen Freiheit und Unterdrückung von Frauen in der ‚westlichen Welt‘ und von „Frauen im Islam“ (357) anwendet – was darin mündet, dass die Situation für ‚westliche Frauen‘ „die schlimmere sei“ (358), wird es zunächst einer anderen Figur überlassen, zu kommentieren,
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Die kurz dargestellten Romane von Bernhard Schlink und Wolfram Fleischhauer greifen Aspekte der Biografie und der dekonstruktiven Konzeption Paul de Mans hauptsächlich auf der Ebene der Diegese auf. Selbstreflexivere, performativere und ambivalentere Spielarten des Umgangs mit (de Mans) Theorie und Leben finden auf verschiedenen Ebenen in den Romanen von Gilbert Adair, Lars Gustafsson, John Banville, Malcolm Bradbury und Henri Thomas statt, was im Folgenden aufgrund der Textmenge lediglich angedeutet werden kann.
3 ‚Lebenslinie(n)‘, ‚Maskenspiele‘ und ‚Bekenntnisse‘ In seiner ersten öffentlich-schriftlichen Auseinandersetzung mit dem für ihn überraschenden Fund der Zeitungsartikel „Comme le bruit de la mer au fond d’un coquillage“46 weist Jacques Derrida darauf hin, dass es zum einen ein Fehler wäre, sowohl das Leben Paul de Mans als auch dessen Werk in zwei völlig heterogene Phasen – das Leben in Belgien und das Leben in den USA – einzuteilen (vgl. 2000 [1988], 88–89; 1988c, 211–212), und es zum anderen falsch wäre, in ein „Kontinuitätsdenken“ (90; 1988c, 212) zu fallen und beide Phasen komplett zu homogenisieren, zu analogisieren, zu verabsolutieren und zu reduzieren (vgl. 90; 1988c, 212). Derrida selbst würde „versuchen, sie [die Artikel, I. D.] mit dem zukünftigen Werk zu artikulieren“ (89, vgl. auch 97–99, 101–107; 1988c, 211, vgl. auch 217–219 f.–231) sowie de Mans Leben bzw. einen „Bruch“ (103 und öfter; 1988c, 226 und öfter) darin komplizierter und differenzierter zu betrachten (vgl. 103–104;
dass „diese Tussi […] ja wohl nicht mehr alle Tassen im Schrank“ hat (358) – Matthias’ Haltung wird durch eine symbolische Handlung gezeigt: Nach seiner Verabschiedung von Janine besucht er in Mechelen die Gedenkstätte des ehemaligen ‚SS-Sammellagers‘, sein letzter Blick in den Räumen fällt auf „Karikaturen von Juden aus den damaligen Tageszeitungen. Unter anderem aus dem Soir Volé.“ (364) 46 In dieser Verteidigung für de Man, die zugleich seine eigene Betroffenheit und Verletztheit ausdrückt, fügt der Franzose den (seiner Meinung nach) vereindeutigenden Kritiken hinsichtlich de Mans Vergangenheit die Ambivalenz von „einerseits… andererseits…“ hinzu, das die bestimmende Bewegungsfigur des Textes ist, wobei sich „einerseits“ jeweils auf „die massive, unmittelbare und beherrschende Wirkung“ der Artikel de Mans bezieht (2000, 34; 1988c, 169) und „andererseits“ „einen double tranchant: eine Zweischneidigkeit und einen double-bind“ (35; 1988c, 170) anzeigt, dem eine sorgfältigere Lektüre zugrunde liegen soll und der entsprechend ausführlicher von Derrida dargestellt wird (vgl. dazu auch Holub 1992, 158–159). Der 1988 in Critical Inquiry erschienene Essay löste wiederum eine ganze eigene Debatte aus – siehe dazu die Sommerausgabe 1989 von Critical Inquiry (764–811).
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1988c, 226–228). In Bezug auf den „Krieg in ihm [de Man, I. D.]“ (105; 1988c, 229) sagt der Franzose sich selbst, dieser müsse nach „zwei zugleich getrennten und unauflösbar verbundenen Zeitlichkeiten oder Geschichten gelebt worden sein“ (105; 1988c, 229). „Einerseits erscheinen“ de Mans Kindheit und Jugend in Belgien wie ein „vorgeschichtliches Präludium“ (105; 1988c, 229), „andererseits“ hatten jedoch „die ‚wahren‘ (öffentlichen und privaten) Ereignisse, […], die wirkliche und unauslöschliche Geschichte schon stattgefunden, dort, in jenen schrecklichen Jahren“ (105; 1988c, 229). Mit der Emigration in die USA vollzieht sich ein „Bruch, der auch eine zweite Geburt war“ (105; 1988c, 229), und es beginnt „die wirkliche und fruchtbare Geschichte“ (105; 1988c, 229), die mit mehr Leichtigkeit verbunden war, „jenseits des Beendeten, ohne Rechenschaft ablegen zu müssen“ (106; 1988c, 229), wobei die Vergangenheit aber noch nachwirkt und nicht vergessen ist. „Diese beiden Leben, diese beiden ‚Geschichten‘ (Vorgeschichte und Nachgeschichte) lassen sich nicht totalisieren.“ (106; 1988c, 229) In der „Oszillation […], ist eine so wahr oder illusorisch, so abwegig wie die andere“ (106; 1988c, 229), und de Mans gelebte Gegenwart sei die „Kreuzung“ aus beiden gewesen – in „seiner[r] Geschichte“, der „einzige[n]“, fügen sich die getrennten Zeitlichkeiten ineinander (106; 1988c, 230). Mit Leichtigkeit lässt Stéphane Chalier sein Leben in Europa – und damit vor allem seinen Vater(-Gott) –47 hinter sich und beginnt eine neue ‚Lebenslinie‘ in den USA. Am Beginn ihrer Bekanntschaft, rezitiert er Judith gegenüber lachend Verse von Hölderlin: „Die Linien des Lebens sind verschieden, / Wie Wege sind und wie der Berge Grenzen. / Was wir hier sind, kann dort ein Gott ergänzen“ (Thomas 2012, 30 und 31; 1964, 40 und 41)‚48 Verse, die Judith zunächst nicht versteht (31; 1964, 41–42) und die den weiteren Handlungsverlauf vorwegnehmen (vgl. auch Federmair 2008, 293).49 Seine zweite Ehe geht er ein, ohne über seine bereits bestehende nachzudenken. Als er Judiths Mutter von seiner Familie erzählt, attributiert er diese mit „untergegangen“ (Thomas 2012, 89; 1964, 121) – etwas, das er als beendet betrachtet und über das er keine Rechenschaft ablegen will. Als sich herausstellt, dass seine frühere ‚Lebenslinie‘ sich nicht von der neuen abtrennen lässt, sondern diese ineinanderfließen, entzieht er sich der (behördlichen) Konfrontation. Verärgert reagiert „Stéphane-Hölderlin-the perjurer“ (Derrida 2002a, 181; 2002b, 35), als ihm sein Erzählerfreund vorschlägt,
47 Vgl. auch Federmair 2008, 296. 48 Zur Verwendung der Verse im Roman vgl. auch Federmair 2008, 289–290, 293–294, der in diesem Zusammenhang auch von Chaliers „Lebenslinien“ (294 und öfter) spricht. 49 Bezeichnenderweise verzichtet Chalier bei seiner Rezitation auf die letzte Zeile des eigentlich vierzeiligen Gedichts: „Mit Harmonien und ewigem Lohn und Frieden“.
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„einen Bericht zu übermitteln, in welchem er von seinem irregulärem Verhalten seit der Einreise in die USA Rechenschaft ablegte“ (Thomas 2012, 95; 1964, 130), und es gelingt ihm, in seinem Gegenüber Schuldgefühle hervorzurufen, womit er seine eigene ‚Schuldigkeit‘ auf den Kollegen überträgt: Zweifellos wollte er mich spüren lassen, daß ich einen Fehler begangen hatte und daß ich
schuldig war. […]. Und jetzt mußte ich mir von ihm Vorwürfe anhören, obwohl ich viel eher Gründe gehabt hätte, ihm welche zu machen. Mag sein, daß ich mir etwas zuschulden kommen lassen habe, aber war er denn ohne Fehl und Tadel? (98; 1964, 133)
Er überträgt, um den Kollegen zu überzeugen, seine Rolle zu übernehmen, in seinem Namen zu sprechen: „‚Sie schreiben mein Geständnis, nicht wahr? Sie werden es besser machen, als ich es je könnte. Um die Wahrheit zu sagen, ich bin überhaupt nicht dazu imstande. Unmöglich! Das geht über meine Grenzen. Aber Sie schaffen das.‘“ (98; 1964, 134)50 Eine Aufgabe, der er sich selbst durch Flucht entzieht und die der Erzähler, der im Laufe der Geschehnisse von Judiths und Stéphanes Leben absorbiert wird, übernimmt: „[I]ch war tatsächlich der einzig mögliche Dolmetscher. […] – ich spreche für sie“ (178; 1964, 238). Als Berichterstatter für seinen Freund scheint sich auch Jacques Derrida (vor allem) in „Comme le bruit de la mer au fond d’un coquillage“ zu sehen (vgl. 2000 [1988], 22, 26, 76, 107; 1988c, 157, 161, 201, 231). Er schreibt, dass er nicht ahnte, dass er eines Tages […] für de Man zu antworten hätte: nicht, an seiner Stelle oder in seinem Namen zu antworten, das wird immer unmöglich bleiben und nicht zu rechtfertigen […]. Ebensowenig, zu urteilen und sicher nicht, alles gutzuheißen, was er getan hat, sondern immer noch von-ihm-für-ihn zu sprechen, wenn er, in Gefahr, in seiner Erinnerung oder in seinem Erbe angeklagt zu werden, nicht mehr da ist, um in seinem eigenen Namen zu sprechen. (20–21; 1988c, 156)
Davon ausgehend fragt er, inwiefern es möglich ist „in seinem eignen Namen [zu] sprechen“ (21; 1988c, 156) – dieses ist eine der vielen „Fragen, die ich offen lassen muß, wie die einer Verantwortung, die von der Erfahrung der Prosopopöie, so wie de Man sie zu denken scheint, nicht widerrufen, sondern im Gegenteil herausgefordert würde“ (21; 1988c, 156–157). Von einer offengelassenen Verantwortung, die, auf einer anderen Ebene, für ihn spricht und sich (auch) an ihn wendet, kann sich Stéphane Chalier herausgefordert sehen. Der Erzähler in Le Parjure gibt dem
50 In der französischen Fassung sind Chaliers Bemerkungen nach der einleitenden Frage Ausrufe und nicht lediglich das „Unmöglich!“. Jacques Derrida widmet in seiner Lektüre des Romans dieser Szene einige Seiten (vgl. 2002a, 187–193; 2002b, 42–48).
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Abwesenden bzw. Selbst-nicht-sprechen-Wollenden (s)eine Stimme und wendet sich am Ende seines Textes direkt an ihn (Thomas 2012, 156–157; 1964, 210), Judith (184; 1964, 245–246) bzw. an beide (183–184; 1964, 245–246)51 und lässt ihnen dadurch Präsenz zukommen: „[I]t is the figure of prosopopeia, the fiction of an apostrophe to an absent, deceased, or voiceless entity, which posits the possibility of the latter’s reply and confers upon it the power of speech“ (de Man 1984a, 75–76), die hier auf inhaltlicher Ebene zum Tragen kommt. Im Wissen darum, dass der ‚geforderte‘ „Geständnisbericht ein Ding der Unmöglichkeit war. Unmöglich, auf eine seltsame, ich würde sagen: auf einzigartige Weise“ (Thomas 2012, 107; 1964, 145), und in der im Verlauf gemachten Erfahrung, dass die Grenzen zwischen Schuld und Unschuld fließend sind, fixiert er schriftlich „eine annährende Erklärung, mehr nicht“ (109; 1964, 147). In „Chaliers Geschichte“ sieht er etwas vollkommen Klares […], oder sagen wir: etwas vollkommen Unmittelbares. Wäre dieses nicht der Fall, sähe ich keine Möglichkeit, ihn zu verteidigen. Zugleich liegt hier der Grund, daß mein ‚Plädoyer‘ nur eine Notlösung sein kann angesichts des Offensichtlichen, das gar keine Verteidigung nötig hat. Wie recht Chalier hatte, als er sagte, es sei an mir, den Bericht zu schreiben! […] Ich muss diesen Bericht nicht schreiben, weil ich selbst die Beziehung bin zwischen meinem Chalier – […] – und den anderen, angefangen bei den diversen Kommissionen. Ich bin der Bericht… (109; 1964, 147–148)52
Die Übertragung des Berichts auf sich als Person wirkt wie ein wörtlich genommenes „prosopon poien, to confer a mask or a face (prosopon)“ (de Man 1984a, 76), ein (erneutes) Wörtlich-Nehmen der Prosopopöie, „the trope of autobiography“ (76). Mit Blick auf die Apostrophe an Judith und Stéphane auf den letzten Seiten erscheint dieses wie der Versuch, mit den beiden, deren Leben auch sein Leben war, sowohl in Kontakt zu treten und ein Lebenszeichen (herauszu)fordern, zum anderen aber auch als Ersatzgespräch mit denjenigen, die er vermisst. Die Aussage des Erzählers, dass er der Bericht sei, macht zudem deutlich, dass der dem Text innewohnende „confessional mode“ (de Man 1979b, 278) sich weniger auf Chaliers Leben als vielmehr sein eigenes bezieht und es das ‚Bekenntnis‘ über seine eigenen Verstrickungen in Stéphanes Leben ist. Ein ‚Bekenntnis‘, das ihn
51 Im Großteil des Textes scheint sich der Erzähler in Le Parjure an einen geduzten Leser (Thomas 2012, 114; 1964, 154) zu wenden, der ähnlich zu denken scheint wie er in seinem Inneren (vgl. 114; 1964, 154–155), das Zwiegespräch wechselt in den geduzten Plural, als in ihm Zweifel gegenüber Chalier aufkommen: „(‚Ihr anderen‘, schreibe ich, weil ich es nicht ertragen kann, daß der Zweifel von mir gekommen ist […])“ (167 und vgl. 165–176; 1964, 224 und vgl. 221–235). 52 Der Ausspruch ‚Ich bin der Bericht‘ ist an dieser Stelle eine Ergänzung, in der französischen Ausgabe findet er sich einen Absatz später (Thomas 1964, 148); die Übersetzung wiederholt ihn an dieser Stelle entsprechend (2012, 109).
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von seiner eigenen ‚Schuld‘ – sei es seine Beteiligung an Chaliers Flucht oder seine Indiskretion diesem gegenüber, Teile seine Lebens zu verbreiten – befreien soll, „[t]o confess is to overcome guilt and shame in the name of the truth“ (279), aber letztlich nicht erfüllen kann: Since confession is not a reparation in the realm of practical justice but exists only as a verbal utterance, how then, are we to know that we are indeed dealing with a true confession, since the recognition of guilt implies its exoneration in the name of the same transcendental principle of truth that allowed for the certitude of guilt in the first place. (280)
Ähnlich wie Stéphane Chalier sieht sich der narzisstische, für seine Wutanfälle gefürchtete und trunksüchtige, in Antwerpen aufgewachsene und bis zu seinem Ruhestand im kalifornischen Arcady53 lehrende ‚Axel Vander‘ in John Banvilles Shroud, dessen Spezialgebiet „the kind of arcane and coded specialism – the word deconstruction crops up frequently“ (Banville 2012, 63) ist‚54 durch einen aus Antwerpen abgesendeten Brief mit seiner ‚ersten Lebenslinie‘ in Europa konfrontiert.55 Dieser stammt von der jungen Wissenschaftlerin Cass Cleave, die ‚Vander‘ mitteilt, sie habe Informationen über seine Vergangenheit, und die er nach Turin delegiert, um herauszufinden, was sie weiß, und mögliche ‚Enthüllungen‘ durch sie zu verhindern. Bisher hat ‚Vander‘ angenommen, „I had shaken off the pelt of my far past yet“ (Banville 2002, 10), zugleich aber fürchtend auf den Tag gewartet, an dem ihn eine solche Botschaft erreicht. Eine der Wendungen in Shroud liegt nun darin, dass ‚Axel Vander‘ sich nicht seiner ‚ersten Lebenslinie‘ mit der Emigration in die USA entledigt, sondern dieses bereits früher tut und ein Leben „jenseits des Beendeten, ohne Rechenschaft ablegen zu müssen“ (Derrida 2000 [1988], 106; 1988c,
53 Dass ausgerechnet schließlich Arcady sein Wohnsitz wurde, empfindet ‚Vander‘ selbst zwar als seltsam (Banville 2002, 89) – „by rights, I should have been borne the opposite way, like so many others, into the heart of the calamity, the toppling towers, the fire storms, the children shrieking in the burning lake“ (89–90) –, aber folgerichtig, da sein Werdegang ihn immer weiter gen Westen trieb (90). 54 „[D]econstruction“ ist eine Bezeichnung, die in Shroud nicht genannt wird. 55 In den drei Romanen The Groves of Academe, Le Parjure und Shroud fungieren Briefe zum einen als Auslöser der beschriebenen Geschehnisse sowie Handlungsmotivatoren für die Protagonisten und zum anderen als Beweggrund für (vermeintliche) ‚Bekenntnisse‘. Stéphane Chalier sieht sich postalisch mit den drohenden Konsequenzen des ‚Verschweigens‘ seiner ersten ‚Lebenslinie‘ konfrontiert (vgl. zur Rolle des Briefes in Le Parjure Derrida 2002a, 184–187; 2002b, 39–42); in Mary McCarthys Roman verkündet ein Brief Henry Mulcahy, dass sein Arbeitsvertrag am College nicht verlängert wird, und fungiert als Ausgangspunkt für sein Lügengespinst, in dem er sich zu einer ‚verborgenen‘ ‚Lebenslinie‘ – einer kommunistischen Parteimitgliedschaft – ‚bekennt‘, die er nicht hat.
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229) beginnt. Unter dem Namen Axel Vander sind zwar in Belgien während der Zeit der nationalsozialistischen Besetzung im Feuilleton der Zeitung Vlaamsche Gazet, einem „rag“ (Banville 2002, 212), dessen Redakteure „knuckle-duster nationalists“ (211) waren und dessen Chefredakteur Judenwitze erzählte und betonte, „the issue was not Race, but Culture, our Great European Heritage“ (212), antisemitische Artikel erschienen‚56 allerdings stammen diese nicht aus der Feder des Wissenschaftlers, der sich ‚Axel Vander‘ nennt und dessen richtiger Name sein Geheimnis bleibt, sondern von seinem Jugendfreund – dem ‚ursprünglichen‘ Axel Vander, der (selbst) ein Doppelleben geführt zu haben scheint, da er zwar die antisemitischen Artikel verfasst hat, zugleich aber im Widerstand aktiv war, und der während des Zweiten Weltkriegs unter nicht geklärten Umständen zu Tode kommt. Durch Cass befürchtet ‚Vander‘ zum einen als Betrüger entlarvt zu werden und zum anderen auf die „discarded version of myself“ (7), seine ursprüngliche Identität, die er Anfang der 1940er Jahre abgelegt hat und für die er sich Zeit seines Lebens schämt, zurückgeworfen zu werden. In dieser Herkunft liegt wiederum eine Wendung des Romans – ‚Vander‘ entstammt einer kleinbürgerlichen jüdischen Familie, während sein Freund Axel aus einer kultivierten ‚gut-bürgerlichen‘ Familie kommt und im Gegensatz zu ‚Vander‘ ein kluger, beliebter und charismatischer junger Mann ist, der es versteht, Menschen für sich einzunehmen. In Belgien ist ‚Vander‘ entsprechend mit Antisemitismus und Judenvernichtung konfrontiert, seine Familie wird deportiert, er selbst kann der Deportation dank eines anonymen Tipps entgehen. Einem Fremden, den er in der verlassenen elterlichen Wohnung vorfindet, antwortet er auf die Frage nach seinem Namen: „‚My name?‘ I said. ‚My name is Axel Vander.‘“ (255) Der Moment der Aussprache des Namens erfolgte erst einmal (wohl) – ähnlich wie bei Stéphane Chalier, der zuvor nicht darüber nachgedacht, in die USA zu gehen und ein anderes Leben zu beginnen, bevor er es seinem Vater und Ottilia verkündete – unbewusst, fühlte sich jedoch richtig an: „I had not known what I was about to say, yet it was no surprise to hear myself say it. On the contrary, it felt entirely natural, like putting on a new suit of clothes that had been tailored expressly for me, or, rather, for my identical twin, now dead.“ (255–256) Es scheint der erste Name zu sein, der ihm einfällt, als er gefragt wird, wie er heißt, und der ihm die Möglichkeit gibt „to escape my own individuality. The hereness of my self“ (285). „Because Rousseau desires Marion, she haunts his mind and her name is pronounced almost unconsciously, as if it were a slip, a segment of the dis-
56 Es handelt sich dabei um ein halbes Dutzend Artikel, die, aus der neidvollen Perspektive ‚Vanders‘, zu subtil für das ‚Pöbel‘-Publikum der Vlaamschen Gazete waren und die er hätte besser schreiben können; Axel versprühte sein antisemitisches Gift durch einen Stil mit einer „attitude of aristocratic weariness“ (214).
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course of the other“ (de Man 1979b, 288), schreibt Paul de Man in „Excuses (Confessions)“; es ist das Begehren nach Marion, das Rousseau dazu veranlasste, zum einen das Band zu stehlen sowie zum anderen den Namen des Hausmädchens als diejenige zu nennen, die das Band entwendet hat.57 Mit Blick auf diese Lektüre lässt sich annehmen, dass in ‚Vanders‘ Namensnennung bereits sein frühes Begehren, (wie) sein Freund Axel, den er sowohl bewunderte als auch verabscheute, sein zu wollen, Ausdruck findet. Da im Fall von Rousseau, so wiederum de Man, der Diebstahl selbst durch das Begehren nach Besitz ausgelöst wurde respektive aus Liebe geschehen sei, könnte dieser unter gewissen Zugeständnissen entschuldigt werden58 und in der Folge könne der Leser annehmen, Rousseau hätte nicht aus Bosheit gehandelt (284). In seiner Zeit in Europa rettet Axels Name ‚Vander‘ wohl das Leben und der Diebstahl erscheint dadurch als legitimiert. Allerdings ist dieses zum einen weder der erste noch der letzte Diebstahl ‚Vanders‘, sondern entspricht seiner betrügerischen Persönlichkeit.59 Er selbst fühlt sich mit diesem Namen in Europa ‚frei‘60 und lebt entsprechend: I was at last, I realised, a wholly free agent. Everything had been taken from me, therefore everything was to be permitted. I could do whatever I wished, follow my wildest whim. I could lie, cheat, steal, maim, murder, and justify it all. More: the necessity of justification would not arise, for the land I was entering now was a land without laws. […]; few care to understand, however, that victims too can be made free man. (Banville 2002, 259–260)
57 Das Band selbst zirkuliert „symbolically as a pure signifier and become[s] the articulating hinge in a chain of exchanges and possesions“ (de Man 1979b, 283), das de Man in Lacan’scher Manier versucht durchzuspielen (vgl. 283–285; vgl. gegen de Mans Lesart Derrida 2006, 85; 2001, 86–87). De Mans Aufsatz erschien zuerst unter dem Titel „The Purloined Ribbon“ (vgl. Anm. 1) und gibt damit (zumindest) im Titel einen Hinweis auf Lacans (1966) Lektüre zu Edgar Allan Poes The Purloined Letter – Le seminaire sur ‚La Lettre volée‘; der Name des französischen Psychoanalytikers wird in de Mans Aufsatz nicht genannt. 58 De Man schränkt dabei ein, dass dieses bzw. die „allegory of this metaphor“ nur funktioniert, „if we are willing to take the desire at face value. If it is granted that Marion is desirable, or Rousseau ardent to such an extent, then the motivation for the theft becomes understandable and easy to forgive. He did it all out of love for her, and who would be a dour enough literalist to let a little property stand in the way of young love?“ (1979b, 284; vgl. auch 284–285). 59 Wie den Namen, so behält er auch das wertvolle Pillendöschen von Axels Mutter, das er gestohlen hat, als er noch im Hause der ‚echten‘ Vanders in Antwerpen verkehren durfte. Gestohlen hat er es aus eher niederen Gründen, weil er Geld für Bücher brauchte, die er haben wollte; er tauscht das Döschen beim Pfandleiher schließlich wieder zurück, hütet es seitdem wie seinen Augapfel und es erscheint, da es im Text wiederholt erwähnt wird, wiederum wie eine Erinnerung an ein Leben in Belgien, von dem ihm nichts geblieben ist. 60 Dieses stellt sich als etwas widersprüchlich dar, da er es auch in Zusammenhang mit der Ermordung seiner Familie bringt, und so erscheint er (auch) in dieser Hinsicht als „guilty and not guilty at the same time“ (Rose 2008).
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Zum anderen erweist sich die (implizite) Darstellung des lebensrettenden Namens auf den zweiten Blick als ambivalent. Eine abermalige Wendung von Shroud liegt darin, dass sich am Ende des Romans herausstellt, dass ‚Vander‘ ein Punkt in Bezug auf die Familie Vander ‚entfallen‘ ist: Sie waren Juden. In seiner Turiner Gegenwart trifft er auf jemanden, der der Familie während ihrer Deportation begegnet ist: He had encountered the Vanders, he said, in a place in a forest, a sort of way station, while they and he were awaiting transportation elsewhere. They were a middle-aged couple, healthy still but in a state of great emotional distress. […] Already they had lost a son, destroyed, so they told him, by the actions of a treacherous friend (403–404).
‚Vander‘ stellt es so dar, als ob ihn diese Informationen überraschen, er unsicher ist, was er davon zu halten hat, oder es auch nicht glauben und an sich heranlassen will. Er bezeichnet das Gehörte als „curious story“, die Menschen im Wald als „the people calling themselves Vander“ und fragt sich: „What am I to think? I recall Axel’s father doing his Moses and Rahel routine, how persuasive a mimic he was. But if they …? If Axel …? What am I to think?“ (405) Die Erwähnung des „treacherous friend“ (404) wirft die Frage auf, ob nicht er dieser war und damit (Mit-)Schuld an Axels Tod trägt. Seine Missgunst, das Begehren, wie Axel sein zu wollen, die Scham und der Selbsthass, seine Brutalität sowie sein Egoismus scheinen ebenso dafür zu sprechen wie sein Dasein als Lügner und sein Begehren danach, ‚de-maskiert‘ zu werden, welches die Struktur ‚seiner‘ Erzählung prägt. Dazu passt, dass er den Namen beibehält, als er mithilfe von gestohlenem und erpresstem Geld, das ihm seine ‚Entstellung‘ in Form eines hinkenden Beines sowie eines blinden Auges eingebracht hat, in die USA geht und dieser für ihn zum Überleben nicht mehr notwendig ist. In den USA legt er sich das Narrativ eines „genuine survivor, who had come walking into their midst out of the fire and furnace smoke of the European catastrophe, like Frankenstein’s monster staggering out of the burning mill“ (59) zu. In seiner Zusammenfassung von ‚Vanders‘ Lebensgeschichte nach dem Lesen der Biografie „The Invention of the Past“‚61 die als Grundlage des Films dient, in dem Alex Cleave ‚Vander‘ verkörpert, gibt der Schauspieler in Bezug auf ‚Vanders‘ weiteres Leben an: The false Vander carried on the genuine one’s career as a journalist and critic, fled Europe for America, married, and settled in California, in the pleasant-sounding town of Arcady, and taught for many years at the university there; the wife dies – it appears she was prema-
61 Der Autor der Biografie wird als JB benannt; diese offensichtliche Selbstreferenz John Banvilles erhält ein zusätzliches Augenzwinkern dadurch, dass Cleave den Stil des Autors rügt (vgl. Banville 2012, 94–95).
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turely senile and Vander may in fact have murdered her – and shortly afterwards Vander abandoned his work and moved to Turin, where he was to die himself a year or two later. (Banville 2012, 95–96)62
Als Wissenschaftler macht er sich mit seinem ersten Buch ‚einen Namen‘: „the collection of essays hermetically entitled The Alias as a Salient Fact: The Nominative Case in the Quest for Identity, won him a large if contested reputation as an iconoclast and intellectual sceptic.“ (95–96; vgl. auch Banville 2002, 100–103) Auch wenn er Cass, die ihm als „my mysterious nemesis“ (Banville 2002, 35) erscheint‚63 gegenüber bemerkt, dass die Auseinandersetzungen mit „‚identity and authenticity, all that; the existential predicament, ha ha‘“ (102) zum Zeitpunkt der Publikation des Buches gerade in Mode waren (101–102), lädt sowohl der Titel dieses Buches als auch das im Roman erwähnte Kapitel „Effacement and Real Presence“64 seines Nietzsche-Buches After Words dazu ein, eine Thematik zu erkennen, die sein Leben begleitet bzw. auf eine Kontinuität zwischen seinem Leben und Werk zu schließen.65 Cass gegenüber gibt er an: „I cannot say when it was exactly that I became Axel Vander, I mean when I began to think myself as him and no longer myself.“ (283) Zugleich sagt er jedoch auch: „Adrift and homeless, without family or friend, I could at least become that most elusive thing, namely – namely! – myself. I sometimes surmise that this might be the real and only reason that I took on Axel’s identity. If you think this is a paradox you
62 Damit wird den Lesern auch mitgeteilt, dass ‚Vander‘ in Turin stirbt – die Handlungszeit von Shroud endet vorher. Alex Cleave gibt an, dass zu den Wissenschaftlern „with striking and often difficult names“, die sich mit Vanders Arbeiten zum Teil recht polemisch befassten, auch „for some reason“ sein „favourite, Paul de Man“ gehört (Banville 2012, 63). 63 ‚Vander‘ bezeichnet Cass nicht nur als Nemesis, sondern auch als „harpy“ (Banville 2002, 78) und „my Cassandra“ (223; vgl. auch 304). Seinen Jugendfreund Axel betitelt er als „Ariel“ (212), sich selbst als „Caliban“ (212; Caliban lautet der Titel der deutschen Übersetzung des Romans); in Eclipse benennt Alex Cleave Cass als „my Miranda“ (Banville 2000, 74) – er selbst (Alex) kann als Prospero gelesen werden. Cass benennt ‚Vander‘ wiederum, nach Dostojewski, Svidrigailov. 64 ‚Vanders‘ Kollegin Kristina Kovacs bringt dieses in Verbindung mit dem Turiner Grabtuch: „‚[…] the Shroud: effacement, you see‘. […] ‚They say it is the first self-portrait. I always think it was the Magdalene who held the cloth, not Veronica. But Magdalene was hair, is that not so?‘“ (Banville 2002, 156–157). Und wie beim Grabtuch bzw. den anderen Bedeutungen des Wortes ‚shroud‘ ziehen sich die Grenzverwischungen von Echtheit und Fälschung, Verschleierung oder Umhüllung durch den gesamten Roman, ebenso wie das Grabtuch selbst, das sich auch in Laken und Leichentüchern in Eclipse und Ancient Light widerspiegelt. 65 Ähnlich wie de Man beschäftigte sich ‚Vander‘ außerdem mit Autoren wie Rousseau, Kleist oder Wordsworth. Die Thematik seines Aufsatzes „Shelley Defaced“ zieht sich ebenso durch die Tiefenstruktur des Romans wie auch die Bezüge zur Commedia dell’Arte mit ihren Harlekinen und Masken.
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know nothing about the problematic of authenticity.“ (260) Er verschmilzt mit dieser Maske und der Name ist zudem der einzige Aspekt, auf dem er besteht: „The name, my name, is Axel Vander, on that much I insist.“ (7) Von Cass will er sich die Maske nicht herunterreißen lassen und da er sich nicht sicher ist, ob sie nicht Aufzeichnungen über ihre Funde hinterlassen hat, die nach ihrem Tod postum publiziert werden‚66 scheint er diesen mittels eines ‚Bekenntnisses‘ zuvorkommen zu wollen und kündigt an die tote Cass adressiert an: „I am going to explain myself, to myself, and to you, my dear, […]. Calmly, quietly, eschewing my accustomed gaudiness of tone and gesture, I shall speak only of what I know, of what I can vouch for.“ (5–6) Allerdings schränkt er dieses sofort Nietzsche zitierend ein: At once the polyp doubt rears its blunt and ugly head: what do I know? for what can I vouch? There exists neither ,spirit‘‚ nor reason, nor thinking, nor consciousness, nor soul, nor will, nor truth: all are fictions… […] Yet the notion haunts me that I am being given one last chance to redeem something of myself. I am not speaking of the soul, I am not that far gone in my dotage. But there may be some small precious thing that I can buy back (6).
Die Errettung eines Teils seiner selbst will er aber nicht durch Ehrlichkeit oder vollkommene Selbstentblößung erlangen, sondern er hält sich an die von ihm zitierte Aussage von Nietzsche und bekundet nach dem Lesen von Cass’ Brief: „I would lie to her, of course; mendacity is second, no, is first nature to me. All my life I have lied. I lied to escape, I lied to be loved, I lied for placement and power; I lied to lie. It was a way of living; lies are life’s almost-anagram.“ (12) Lügen und Leben gehen für ihn einher und machen entsprechend seinen Lebensweg aus, zugleich wird durch dieses Lügner-Paradoxon verdeutlicht, dass er nicht nur plant, die Briefeschreiberin zu belügen, sondern dass auch den folgenden Erzählungen nicht getraut werden kann und es die Verantwortlichkeit der Leser ist, wenn sie dem Gesagten (wahre) Bedeutung zuschreiben. Dem Erzählten wohnt dennoch (natürlich) ein „confessional mode“ (de Man 1979b, 278) inne. Rousseaus bereits angeführtes Begehren führt Paul de Man in „Excuses (Confessions)“ noch einen Schritt weiter, indem er schreibt, dessen eigentliches Begehren sei weder das Band an sich noch Marion gewesen, sondern das Begehren, bloßgestellt zu werden (vgl. 285):
66 Cass Cleave begeht wohl an der ligurischen Küste Selbstmord, indem sie von einer Kirche auf einer Klippe in den Abgrund springt (vgl. Banville 2000, 207–208; 2002, 385–387; 2012, 167–169, 182, 196), nachdem sie über Shelleys Tod in Ligurien gelesen hat (Banville 2002, 384).
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The more crime there is, the more theft, lie, slander, and stubborn persistence in each of them, the better. The more there is to expose, the more there is to be ashamed of; the more resistance to exposure, the more satisfying the scene, and, especially, the more satisfying and eloquent the belated revelation, in the later narrative, of the inability to reveal. (285)67
‚Vander‘ selbst gibt an: „Whatever I may say, all along I had been waiting for, hoping for, someone to spring out me like this with my secret held in her hands and threatening to show it for all the world to see. What is good of a secret, where is the power in it, if no one knows of its existence?“ (Banville 2002, 339) Daran lässt sich anschließen, dass, da die (dargestellte) Erfahrung sowohl als „fictional discourse“ als auch als „empirical event“ (de Man 1979b, 293) existiert, es möglich ist, „to excuse the bleakest of crimes, because, as a fiction, it escapes from constraints of guilt and innocence. On the other hand, it makes it equally possible to accuse fiction-making which, in Hölderlin’s words, is ‚the most innocent of all activities‘“ (293). ‚Vander‘ behält den Namen seines Jugendfreundes und publiziert unter diesem auch seine eigenen Schriften, obwohl er nicht nur um dessen antisemitische Artikel – für die er, wie er im Nachhinein angibt, einstehen wolle (vgl. Banville 2002, 236–237) – weiß, sondern auch um ein Pseudo-Interview zwischen den beiden, das inklusive eines Fotos von ihnen in der Vlaamschen Gazete abgedruckt wurde und das entsprechend ‚Vanders‘ Identitätsdiebstahl enthüllt.68 Das Interview ist Axels Fantasie entsprungen – ein solches Gespräch zwischen den beiden hat nie stattgefunden – und zeigt damit auch an, dass, bevor ‚Vander‘ in Axels Namen spricht, Axel in ‚Vanders‘ Namen gesprochen hat. Im Text streut ‚Vander‘ wiederholt Anspielungen darauf, dass er seine Ehefrau Magda sehr bewusst mithilfe von Tabletten getötet hat (vgl. 15, 93, 114–116). Wie Axel zu Tode kommt, bleibt offen, aber, wie bereits angesprochen, besteht die Möglichkeit, dass ‚Vander‘ ihn ermordet hat und den Namen, der ihm zu seiner Identität wird, eben im Wissen um die Möglichkeit der ,Demaskierung‘ aus einem paradoxen Gefühl der ‚Schuld‘ und der Genugtuung beibehalten hat. Auch der Tod von Cass erscheint nicht eindeutig als Selbstmord, da sie kurz vor ihrem Sturz eine Gestalt
67 Im Roman heißt es: „‚Professor Vander‚‘ he said […] ‚holds that every text conceals a shameful secret, the hidden understains left behind by the author in his necessarily bad faith, and which it is the critic’s task to nose out.‘“ (Banville 2002, 349) 68 Das Interview enthält zwar Axels Namen, aber wohl nicht seinen. Als Cass, die das Interview kennt, ‚Vander‘ darüber während ihrer gemeinsamen Zeit im Unklaren lässt, ihn aber nach diesem wohl fragt, ihn verlassen hat, schickt sie ihm jedoch einen Füller, in den sie dieses Zeitungsinterview versteckt eingewickelt hat. Als er es entdeckt, ist die für ihn erschütternde Erkenntnis nicht, dass Cass ihn durchschaut und ihm ein Schnippchen geschlagen hat, sondern, dass er realisiert, dass seine Ehefrau ebenfalls all die Jahre davon gewusst hat (vgl. 399–400).
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wahrnimmt, die sich ihr nähert (386) – es bleibt offen, ob dieses ‚tatsächlich‘ so ist oder aber eine ihrer halluzinatorischen Wahrnehmungen ist. Allerdings wollte ‚Vander‘ seit Erhalt ihres Briefes verhindern, dass sie ihn ,demaskiert‘ und durch den von ihr gesendeten Füller, in dem das Interview eingewickelt war, weiß er, dass sie die Wahrheit über ihn kannte. Dadurch dass ‚Vander‘ den Mord an seiner Frau mehr oder weniger gesteht, besteht die Möglichkeit, dass er dahinter die weiteren Verbrechen versteckt, zugleich aber hofft, entdeckt zu werden. Zudem schreibt er, dass er noch mehr zu sagen hat und kündigt mit wiederum einem selbstbezeichnenden Titel an: „Perhaps, if I am still alive when I have done with this confession, and have energy left over, I shall write a full account of that time: Katabasis, or, My Fight to Freedom“ (261–262). Shroud selbst scheint dem ‚bekenntnishaften‘ Modus nach hauptsächlich aus der autodiegetischen Haltung ‚Vanders‘ erzählt zu sein, rückblickend aus seiner Turiner Gegenwart nach Cass’ Tod, zugleich aber auch von seinen ‚gegenwärtigen‘ Geschehnissen erzählt. Passagenweise scheint die Erzählperspektive des Romans zum einen in eine heterodiegetische Haltung, die intern Cass fokalisiert, zu wechseln und zum anderen in sehr kurzen Abschnitten heterodiegetisch mit externer Fokalisierung erzählt zu sein.69 Erfolgt die Darstellung aus der internen Fokalisierung von Cass, sind auch diese Textabschnitte ebensowenig vertrauenswürdig wie die des lügenden ‚Vanders‘. Wie ihr Name ‚Cleave‘ bereits andeutet, ist Cass zwiegespalten:70 sie leidet an einer schizophrenieähnlichen Krankheit, hört Stimmen und kann zuweilen nicht zuordnen, was ‚Realität‘ und was Halluzination ist.71 Die Erzählhaltung erscheint wie ein Spiel mit dem ‚Geben‘ und ‚Nehmen‘ von Gesichtern, mit Figuration und Defiguration oder, wie es Paul de Man ausdrückt: „Our topic deals with the giving and taking away faces, with face and deface, figure, figuration and disfiguration.“ (de Man 1984a, 76) Außerdem wirkt es so, als ob der Roman aus verschiedenen Textsorten (auf der Ebene der Diegese) zusammengesetzt ist: ein Text ‚Vanders‘, der im Modus des ‚Bekenntnisses‘ an ein breiteres Lesepublikum adressiert ist, ein ebensolcher, der sich an die tote Cass wendet. Weiterhin ein Text, der Cass’ Perspektive zu schildern scheint und bei dem es sowohl möglich ist, dass ‚Vander‘
69 Sind es für Judith Ryan (2012, 48) viele Stimmen, die in diesem Roman sprechen, analysiert Elke D’hoker (2018, 5) ‚Vander‘ als einzige Erzählstimme, die die verschiedenen Perspektiven entsprechend konstruiert hat. 70 Diese Zwiegespaltenheit findet sich bei ‚Vander‘ (natürlich) auch hinsichtlich seiner Identitäten bzw. Selbstwahrnehmung. 71 Thematisierungen des ‚Wahnsinns‘ finden sich wiederholt im Roman – sei es in Gestalt von Cass oder ‚Vanders‘ Ehefrau Magda, sei es durch die vielen Anspielungen auf Nietzsche und dessen Tod in geistiger Umnachtung in Turin, seien es die Parallelisierungen des Protagonisten ‚Vander‘ mit Louis Althusser und sei es die Unklarheit über ‚Vanders‘ geistige Verfassung.
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ihn konstruiert hat, als auch, dass er Bestandteil von Cass’ Aufzeichnungen ist, über die ihr Vater in Ancient Light spricht und die bei ‚Vander‘ verblieben sind bzw. die er sich nach ihrem Tod wohlweißlich aneignete. Eine wiederholt kurz auftretende autodiegetische Erzählstimme (vgl. u. a. Banville 2002, 341) gehört entweder zu einem weiteren Text, kann aber auch – als unbestimmte Stimme – zu ‚Vanders‘ im Plural apostrophiertem Text gehören oder aus Passagen des von ihm angekündigten Projekts Katabasis, or, My Fight to Freedom sein. ‚Vander‘ selbst sieht sich, ähnlich wie Cass, mit Stimmen und Geistern konfrontiert. ‚„Who speaks?“ (3), lautet die Eingangsfrage in Shroud, die unmittelbar beantwortet wird: „It is her voice, in my head.“ (3), die Stimme der toten Cass. Den Geist seiner toten Ehefrau sieht er in seinem Haus in Arcady und in Turin fühlt er sich von verschiedenen Menschen verfolgt. Die „fiction of the voice-from-be yond-the-grave“ (de Man 1984a, 77) und Gespenster, die ‚Vander‘ heimzusuchen scheinen, sind die (toten) Schatten seiner Vergangenheit und vielleicht auch Ausdruck von ‚Schuld‘gefühlen. Es ist auch hier das Spiel mit der Prosopopöie: „Voice assumes mouth, eye, and finally face, a chain that is manifest in the etymology of the trope’s name“ (76), und als – im Sinne de Mans – Lese- und Schreibfigur (vgl. 71–72) ist es ein endloser Austausch von Stimmen, von ‚Geben‘ und ‚Nehmen‘ von Gesichtern, von ‚Illusionen von Referenz‘ (vgl. 69, 71–72, 76 sowie B. Menke 1993, 36–37). „The dead, though, have their voice“ (Banville 2002, 405), merkt ‚Vander‘ an, als er am Ende des Romans auf die ihm nahestehenden Toten im Verlauf seines Lebens zurückblickt – sämtliche ‚Lebenslinien‘ sind durch diese Stimmen (in ihm) präsent. Seine öffentliche ‚Demaskierung‘ erfolgt nach seinem Tod durch JBs Biografie: „These revelations were made too late to harm the egregious Vander, who by then was late himself, but they as good as destroyed his posthumous reputation.“ (Banville 2012, 111) Mit bisher Verborgenem wird auch der in Frankreich geborene „father of“ „The Theory!“ (Adair 1992, 112, 115, 24)72 oder auch „pope of the Theory“ (31) und in den USA im (fiktiven) New Harbor lehrende Léopold Sfax in Gilbert Adairs Roman The Death of the Author73 konfrontiert, als die junge Wissenschaftlerin Astrid Hunneker, „brillant and lazy“ (39) sowie erfasst vom „’flu of the Theory“ (40), ihm in einem Gespräch mitteilt, dass sie eine unautorisierte Biografie über
72 „Theory“ passt, wenn auch satirisch überspitzt, zu de Mans Umgang mit dem Begriff ‚(Literatur-)Theorie‘ in The Resistance to Theory. 73 Der Bezug zu Roland Barthes’ Konzept ist offensichtlich; das Spiel mit dem ‚toten Autor‘, der ‚Geburt des Lesers‘ sowie des Textes, der sich in Barthes’scher Manier selbst schreibt, und mit der damit einhergehenden Frage ‚Wer spricht?‘ durchzieht sämtliche Ebenen des Romans. Es wird damit ebenso satirisch-überzeichnet umgegangen wie mit dem ‚de Man-Stoff‘.
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ihn schreiben werde und auf seine Unterstützung hoffe, was Sfax zu (vermutlich mörderischem) Aktivismus schreiten lässt. Der aus Frankreich stammende Theoretiker hat während der Zeit des Zweiten Weltkriegs über 150 Zeitungsartikel unter dem „nom de guerre“ Hermes (53) für das französische antisemitische Hetzblatt Je suis partout74 geschrieben – „putrid Nazi hack work, sterile, bogus, repetitious, humiliating for me, here and now, to recall“ (57) – und fürchtet, so wird es dargestellt, um seine Reputation: „The Holocaust! For that – for that, on the campus of an American university – there could be no amnesy.“ (80) Sfax’ „European life“ (75) ist eine ‚Lebenslinie‘, die, so stellt es die Erzählinstanz dar, er mit seiner Emigration nach der Kriegszeit in die USA hinter sich lassen wollte: „I wanted a second chance, a good chance that would be commensurate with the evil chance“ (73). Und dieses (auch), weil er im Europa der Nachkriegszeit keine Zukunft für sich sah, wie rechtfertigend mitgeteilt wird: „Europe altogether was the scene of a crime to which in my mean and ignoble fashion I had been a party. If I were to have remained, I might have seen myself becoming what? – the wandering Nazi? This was outrageous. I was still young, I wanted to live.“ (69) Solche vermeintlichen ‚Schuldeingeständnisse‘, die, wie z. B. durch anschließende Selbstinszenierungen als ‚Opfer‘, unmittelbar wieder aufgehoben werden, sind ebensolche Spielarten mit Konstruieren einer Behauptung und Unterlaufen dieser wie u. a. auch die Stilisierungen der Bescheidenheit Sfax’, die sofort durch Herausstellung seines Erfolges, seiner Genialität und seines Dasein als Genie unterminiert werden.75 In den USA entwickelt er sich von einem Buchverkäufer schließlich – dank seiner Kontakte in New Yorker Intellektuellenkreisen um Mary McCarthy – zum berühmten Wissenschaftler. Theoretisch greift er in seinem ersten Essaybuch Either/Either, das unter der Prämisse „Who cares what Yeats meant? His poems mean“ (23) steht, die französischen ‚poststrukturalistischen‘ Konzepte auf und dieses mit Bedacht, da das Wiederholen der bereits vorhandenen Denkarten verhindern sollte, dass das Buch „‚back‘“ ins Französische übersetzt wird (78).
74 Der von Paul de Man 1946 in Belgien gegründete und bankrott gegangene Kunstbuchverlag trug den Namen Edition Hermès (vgl. dazu und zu de Mans Flucht – sowohl vor den gemachten Schulden als auch vor einer Gefängnisstrafe – in die USA Barish 2014, 183–192). Zudem erschien am 12. August 1941 in Le Soir eine Rezension de Mans zu Robert Brasillachs Erinnerungen Notre avant-guerre; Brasillach schrieb seit 1930 für die französische antisemitische Hetzzeitschrift Je suis partout, deren Chefredakteur er von 1937 bis 1943 war; er wurde 1945 hingerichtet. 75 Die Erzählstimme scheint diese auch rechtfertigend anzuwenden, wenn sie z. B. betont, selbstverständlich kein Antisemit gewesen zu sein, da sie sich von Metaphysik nie hat blenden lassen: „It would be as inconceivable for me to let myself be corrupted by the metaphysic of race as by any other grand, mindless metaphysical category, to begin with god.“ (Adair 1992, 59–60) In dieser dekonstruktiv-spielerischen Form ist die gesamte Struktur des Romans angelegt.
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Allerdings wird er mit der Publikation zu einer „celebrity“ (79) und hat, da er sich damit einen ‚Namen gemacht‘ hat, und auch durch einen anonymen und für ihn folgenlos bleibenden Brief an den Dekan, der ihn der Kollaboration beschuldigt, Angst vor ‚Enthüllungen‘. Sfax, so wird es erzählt, wird aktiv, um das zu tun, „what not even God can do: altering the past“ (88); um also bei einer möglichen ‚Demaskierung‘ ein Alibi hinsichtlich seiner Vergangenheit zu haben, schreibt er präventiv seinen zweiten Essayband, „entitled The Vicious Spiral, as no one will need to be reminded“ (24): An alibi that would persuade the world that, during those three years, thirty years ago, I had been somewhere else, intellectually if not in person (which would have been a hole-in-one beyond even my contrivance). An alibi that would say, ultimately: there can be no ‚because‘ for a crime I only appeared to commit. And why could there be no ‚because‘? Why, because there was no ‚why‘. (87)76
Es ist der Sammelband, der ihn endgültig zum „most celebrated critic in the United States“ (24) macht und in dem er seine Theorie darlegt. Diese ähnelt den Inhalten von Paul de Mans Allegories of Readings‚77 ist aber im Stil des Romans (satirisch-) pointiert formuliert. Er will Hermes beerdigen und treibt ein ziemlich subversives Spiel, das sich auf der Ebene des Erzählens ebenso spiegelt, wie es auch die Gesamtstruktur des Romans ausmacht. Er will den Autor, konkret Hermes, „truly kill“ (89): „I would argue that authorial presence had to be redefined as an absence“ (89), und weiterhin: „there existed no text that permitted interpretation of any level whatsoever“ (89); Texte beziehen sich nur auf sich selbst und jeder Text unterminiere und demaskiere die in ihm scheinbar vertretende Ideologie, Interpretation wäre nicht mehr möglich und würde sich in einem Stimmengewirr verlieren (89–90). Er selbst glaubt nicht an das Konzept vom ‚Tod des Autors‘ und legt seine subversive Vorgehensweise so an, dass er selbst, der Autor, die Fäden in der Hand behält und die Leserlenkung bestimmt: „It alone had to be read and interpreted as its author meant it to be read and interpreted and no other way“ (88). Er geht dabei zwar kalkuliert vor und bezieht in der Planung bereits die Reaktionen seiner Verteidiger – sowohl der „lumbering nonentities“ (92) als auch
76 Das Spiel zwischen „why“ und „because“ – bzw. mit der ‚Unentscheidbarkeit‘ hinsichtlich des italienischen „perché“ – zieht sich durch den gesamten Text (vgl. dazu kurz Sollte-Gresser 2016, 36). 77 Es geht um ‚misreading‘, darum, dass in „every text, there would fatally arrive what I called an aporia, a terminal impasse, a blank brick wall of impenetrability, an ultimatum of indetermination, when its self-contradictory meanings could no longer be permitted to coexist in harmony and its fundamental ‚undecidability‘ would undermine for ever the reader’s most fundamental presuppositions.“ (Adair 1992, 27–28)
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der „courtiers“ (93) – ein, hat allerdings nicht bedacht, dass er sich in diesem Buch einer Sprache bedient, die seiner Theorie seitens seiner Kritiker den Faschismusvorwurf einbringt‚78 und ihm ist bewusst, „that were the revelations of my past to surface on this crest of animosity I could not, nor could my work survive“ (102). Entsprechend will er handeln, als Astrid ihn mit ihrem Biografie-Plan konfrontiert: How was she to know that I had been waiting nearly seventeen years for someone to say to me what she had just said […]? And how could I tell her I had already made up my mind, possibly as late as at the very second she disclosed her project to me but already nevertheless, to forge ahead on my own? When things have to be said, they have to be said. Eventually they have to be said. (1–2, 42, 96–97)
Astrid hat, anders als Cass Cleave, noch keine Entdeckungen in Bezug auf die Vergangenheit des berühmten Wissenschaftlers gemacht, als sie ihm von ihrem Biografieprojekt erzählt und dieser scheint es auch dabei belassen zu wollen. Wie Cass wird sie ihre Begegnung mit dem berühmten Professor nicht überleben: Ihr wird mit einer von ihr angefertigten Terrakottabüste, die Sfax porträtiert, der Kopf eingeschlagen, nachdem sie Sfax mitgeteilt hat, sie wäre auf einen Hinweis bezüglich des Mordes an Herb Gillingwater, ihrem einstigen Doktorvater, gestoßen. Der unscheinbare Gillingwater wurde kurz zuvor mit einer Shakespeare-Büste erschlagen und kurz nach Astrids Tod wird wiederum Sfax selbst von Astrids Freund Ralph erschossen, der Sfax anhand dessen eigener Theorie meint als Mörder überführt zu haben, der zuerst Gillingwater ermordete, um vom Motiv des Mordes an Astrid abzulenken (vgl. 127–128): „‚And it suddenly hit me that maybe the abscence of a motive in murdering Gillingwater was in actual fact the presence of a motive.‘“ (126) Ob Sfax die Morde tatsächlich begangen hat, bleibt natürlich offen. Der Aspekt der ‚Unentscheidbarkeit‘ im Sinne Paul de Mans spiegelt sich auf spielerische Art auf sämtlichen Ebenen von The Death of the Author. Zu Beginn scheint der Roman aus der autodiegetischen Perspektive von Léopold Sfax erzählt und scheint, wie im Fall von ‚Axel Vander‘, einem ‚Bekenntnis‘ des berühmten Theoretikers nachzukommen, der sich angesichts drohender ‚Demaskierung‘ entsprechend selbst äußern möchte. Berichtet wird zu Beginn das Gespräch mit Astrid Hunneker und apostrophiert wird ein geduzter Leser – „the four pages that you have just been reading“ (4). Es schließt sich ein Über-
78 Im Hinblick darauf, dass „we“ uns „an entirely new past“ aneignen, „one which we might have preferred to be the product instead of that which we are in truth“ (Adair 1992, 45–46), sagte er bereits, dass dieses schwierig sei, da das Erschaffene schwächer sein wird, da der Urspung immer präsent ist – „the creator being always, of necessity, stronger than the created“ (46).
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blick über sein Leben (in Europa und den USA) an, wobei es sich dabei um einen Text im „confessional mode“ (de Man 1979b, 278) handelt, der Sfax in einem eher moderaten, entschuldigenden und guten Licht erscheinen lässt. Circa vierzig Seiten später (Adair 1992, 41–45) wird das Gespräch mit Astrid wiederum wiederholend geschildert, dieses Mal mit der Adressierung an den Leser endend, die nun „fourty-five pages“ geschrieben zu haben‚79 um dann kundzutun: „Reader, I tell a lie. English, indeed, has always been for me a language in which I have sought to dissolve or destroy the past“ (45). Zum einen negiert er mit dieser Aussage und der daran anschließenden Pseudo-Begründung (vgl. 45–46) das zuvor geschriebene ‚Bekenntnis‘ hinsichtlich seines Lebens, zum anderen zeigt, wie im Fall von ‚Axel Vander‘, das Lügner-Paradoxon an, dass dem gesamten Text nicht zu trauen ist. Die ‚Unentscheidbarkeit‘ wird dadurch verstärkt, dass nun eine zweite ‚Bekenntnisversion‘ geschildert wird, die eine ausführlichere und weniger wohlwollende und damit vermeintlich authentischere Darstellung zu sein scheint, in der Sfax’ betrügerische Persönlichkeit inhaltlich mehr thematisiert wird, zugleich wiederum aber auch durch Rechtfertigungen unterlaufen wird und letztlich verdeutlicht, dass ‚bekennen‘ als unmöglich erscheint. Ist es hier zudem ein Spiel mit Figuration und Defiguration der Figur von Sfax – der Kreislauf, dass jedes Bild, dass sich vom ‚bekennenden‘ Sfax gemacht wird, fortwährend wieder aufgehoben wird –‚80 weitet sich dieses auch auf die Erzählebene aus. Zum einen spricht die als autodiegetisch auftretende Sfax-Stimme nicht nur zum Zeitpunkt seiner Erschießung weiter, sondern auch nach dessen Tod und schildert das weitere Geschehen und kommentiert ‚Enthüllungen‘ ‚seiner‘ Vergangenheit‚81 ganz so wie es in Sfax’ Theorie angelegt ist:82
79 Eine dritte Wiederholung des Gesprächs findet kurz vor den Schilderungen der Morde statt, denen vorausgeht, dass Astrids Buchprojekt nun tatsächlich realisiert zu werden beginnt (96– 99); die Seitenzahl, die die Erzählstimme nun getippt hat, wie sie dem Leser verkündet, umfasst entsprechend nun „ninety-nine pages“. 80 „Autobiography, then, is […] a figure of reading or of understanding that occurs, to some degree, in all texts. The autobiographical moment happens as an alignment between the two subjects involved in the process of reading in which they determine each other by mutual reflexive substitution. The structure implies differentiation as well as similarity, since both depend on a substitutive exchange that constitutes the subject.“ (de Man 1984a, 70) 81 Diese verläuft so, zumindest nach der Erzählinstanz, wie Sfax es sich vorgestellt hat, seine Verteidiger kommen ihrer Rolle besser als erwartet nach (vgl. Adair 1992, 132–135), eine ironische Darstellung der Dekonstruktion der beiden ‚Bekenntnistexte‘, der sogenannten „‚Apple Mac texts‘“ (132). 82 Und damit auch mit de Mans Ansatz sowie, natürlich, mit Roland Barthes’ Konzept vom ‚Tod des Autors‘.
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So it was, with the advent of the Theory, that the Author was to find Himself declared well and truly dead. Since I had demonstrated that it was for language to do the thinking, for the text to ‚write‘ its author rather than vice versa, the presence of a human sensibility somehow embedded within that language, within that text, had at last been understood for what it truly was: an absence, a void. (Adair 1992, 27)
In Abwesenheit des zu Tode gekommenen ‚Autors‘, schreibt Paul de Man in Bezug auf Shelley, „the task of thus reinscribing the disfiguration now devolves entirely on the reader“ (de Man 1984b, 121), eine Rolle, die auf inhaltlicher Ebene in The Death of the Author einem Polizisten und Leser von Sfax’ Theorie zukommt, der Ralph des Mordes überführt, weil die „explanation of the whole squalid affair“ (Adair 1992, 131), die Ralph in Sfax’ Computer hinterlassen hat – um den verübten Mord als Selbstmord zu tarnen –, in der Lesart des Polizisten nicht dem Sfax’schen Stil entspreche. Mit den Texten, die nach seinem Tod auf seinem Computer gefunden werden, wobei ‚unentscheidbar‘ bleibt, ob es sich bei der von Ralph getippten Erklärung um die „Apple Mac Texts“ handelt, wird „the text as body“ (de Man 1979b, 298) zu einem „text as machine“ (Adair 1992, 296) und „in the process, it suffers the loss of the illusion of meaning“ (296) – „[i]n order to come into being as text, the referential function had to be radically suspended“ (296), ein Prozess, der sich auf sämtlichen Ebenen des Romans von Adair (ironisch) widerspiegelt. Eine satirische Überzeichnung des akademischen Lebens und von ‚(post-) postmodernem‘ Denken sowie auch ein Spiel mit Präsenz und Abwesenheit präsentiert Malcolm Bradburys Roman Doctor Criminale, der sich auf spielerische Weise mit dem Aspekt (verschwiegener) Vergangenheiten im 20. Jahrhundert auseinandersetzt und den Einzelfall eines Wissenschaftlers mit problematischer Vergangenheit im Allgemeinen verortet. Mit Bazlo Criminale wird in diesem Text sicherlich der größte ‚Star‘ unter den Wissenschaftlerprotagonisten dargestellt: „a great international figure, the man known as the philosopher for our times, the Lukacs of the Nineties“ (Bradbury 1992, 22)‚83 „the philosopher who survived at the end of the old thinking“ (34). Der Ruhm des aus Osteuropa stammenden omnipräsenten und zugleich schwer zu fassenden Kosmopoliten84 erstreckt sich
83 So die gängige öffentliche Meinung im Roman; Gertla, Criminales zweite Ex-Ehefrau, sieht es etwas anders: „‚The Lukacs of the Nineties, that is just what Bazlo is not. Lukacs was a real philosopher. He used reason to prevent chaos and create a meaning to history. Bazlo needs chaos nowadays, and he cannot afford to think of history. He thinks it will save him from the past, and the future. […] You know what Bazlo is now? The philosopher of Kentucky Fried Chicken. […].‘“ (Bradbury 1992, 276) 84 Dieses dekonstruktive Spiel mit Präsenz und Abwesenheit durchzieht den gesamten Roman.
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weltweit über die akademischen Kreise hinaus.85 Über Criminales (Privat-)Leben ist kaum etwas bekannt, sein ‚Ursprung‘ lässt sich genauso wenig fassen wie die genauen Umstände seines Werdeganges, was natürlich einen Teil der Faszination um ihn ausmacht und ihn zum Mysterium stilisiert. Der junge und naive britische Journalist Francis Jay, der autodiegetische Erzähler des Romans‚86 soll für die TV-Dokumentationsreihe „Great Thinkers of the Age of Glasnost“ Recherchen zu Criminales Biografie hinsichtlich „life, loves, family, sex, money, politics“ (28) anstellen. Im Studium ganz durch den dekonstruierenden Blick geschult‚87 interessiert ihn die Person hinter der Schrift (zunächst) nicht – in Barthes’scher Manier vertritt er folgende Ansicht: In short, Criminale was the text, and I was the decoder. He was an author, and I was a reader. Now I belong, as I’ve already said, to the age of the Death of the Author. According to the rules of my excellent education, writers don’t write; they are written, by language, by the world outside, but above all by us, the sharp-eyed readers. The word Criminale, the sign Criminale, the signature on the spine Criminale – that was more than enough for me. I had him there, a text, and had no wish to go further with him, no intention of doing so. (21–22)88
Die Recherchen zur Biografie ziehen Francis jedoch in den Bann, auch, weil Criminale für ihn auf verschiedenen Ebenen nicht ‚zu fassen‘ ist. Bei der Reise durch das sich im Umbruch befindende Europa zu Beginn der 1990er Jahre ist der Wissenschaftler dem Journalisten anfangs immer einen Schritt voraus und bereits wieder verschwunden, wenn Francis am jeweiligen Ort ankommt – schließlich treffen sie wiederholt aufeinander, aber auch dann ist Criminale ein Meister darin,
85 Criminale erscheint wie ein Phänomen der Superlative, der sich in verschiedensten Textsorten bzw. Kunstarten äußert und sich in sämtlichen Wissensbereichen auskennt (vgl. Bradbury 1992, 24–26): „Criminale didn’t simply write in every literary form; he seemed to appeal to every political culture.“ (25) 86 Ein allgemeines Lesepublikum direkt ansprechend, schildert er rückblickend chronologisch seine globale (Konferenz-)Spurensuche nach Criminale. Er erstattet dabei zugleich, nach Criminales ‚postmodernem‘ (Konferenz-)Tod (vgl. 332), Bericht über dessen Leben und erfüllt damit etwas, was der Wissenschaftler ihm gesagt hat: „He had said his story was, perhaps, not so very far away from being my own story, though, of course his story seemed to stop more or less where mine started; that was what I thought about.“ (331, vgl. auch 330) 87 „It was the Age of Deconstruction, and how, […] we deconstructed. Junior interrogators, literary commissars, we deconstructed everything: author, text, reader, language, discourse, life itself. No task was too small. No piece of writing below suspicion. We demythologized, we demystified. We dehegemonized, we decanonized. We dephallicized, we depatriarchalized; we decoded, we de-canted, we de-famed, we de-manned.“ (8–9) 88 Der Roman spielt wie Adairs The Death of the Author auf sämtlichen Ebenen mit diesem Konzept.
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sich wieder zu entziehen. Entsprechend fungiert er als das immer wieder nicht zu fassende ‚Zentrum‘, das die Handlung ausmacht und in Gang hält.89 Seine kritische Vergangenheit liegt, anders als bei den Protagonisten in den anderen Romanen, nicht in der Zeit des Nationalsozialismus, sondern im Ungarn-Aufstand und seinem diesbezüglichen „Devil’s pact with Stalinism in 1956“ (290), von dem ausgehend sich Aspekte von ‚Schuld‘ auf die persönliche, politische sowie finanzielle Ebenen auszudehnen scheinen (vgl. 290). So hat er sich von seiner Freundin Irini, die gegen den sowjetischen Einmarsch 1956 in Ungarn kämpfte und im Zuge dessen verhaftet wurde, getrennt, obwohl er die Möglichkeiten gehabt hätte, ihr zu helfen. Daraufhin hat er für „‚the Party‘“ in Ungarn gearbeitet und „‚reported on people abroad through Gertla‘“ (327), zugleich jedoch auch Informationen an ‚den Westen‘ weitergegeben und wiederum seine Schweizer Bankkonten, wohl im Tausch für Reisefreiheit, von „‚the Party, the KGB, the nomenklatura‘“ „‚for all kind of deals in the West‘“ (327) nutzen lassen. Sich öffentlich diesbezüglich geäußert hat er nie: „His silence had become a philosophical paradox, but he too had not ‚confessed‘, brought his contradiction into the open. If Criminale, a hero of thought, had betrayed, is there any way he would or should have ‚confessed‘?“ (290)90 Bei ihrem letzten Zusammentreffen äußert sich Criminale Francis gegenüber hinsichtlich seiner Vergangenheit (vgl. 324–331) bzw. der Journalist versucht, dem Wissenschaftler Erklärungen zu entlocken: Criminale hat ein gutes Gewissen, er spricht von den chaotischen Zeitumständen, davon, dass auch Philosophen nur Menschen sind – „[d]irty with history, a man after all“ (328) –, dass er jung war und die Geschichte falsch gelesen hat, von einem „double life“, in dem das öffentliche Leben ein anderes ist als das Privatleben und in einer Zeit, die von Lügen geprägt war, der Einzelne Verrat gegen sich selbst verübt und „betrayal“ den Menschen eigen ist: „‚Let me tell you this: we all betray each other. Sometimes from malice, or fear. Sometimes from indifference, sometimes love. Sometimes for an idea, sometimes from political need. Sometimes we cannot think of a good ethical reason why not to. Are you different?‘“ (329) Erfahrungen, die in Criminales Augen auch Francis im Laufe seines Lebens noch machen wird, da jede Epoche ihre „bad ethics“ habe (330). In Bezug auf sein Schaffen sagt er, dieses sei, auch wenn Francis es wahr-
89 Dieses zeigt sich auch daran, dass z. B. fast jedes Kapitel – mit Ausnahme des neunten sowie des letzten – mit dem Worten „Bazlo Criminale“ bzw. „Criminale“ endet (das merkt auch Greaney 2006, 69 an). 90 Das von Francis verwendete „too“ bezieht sich auf das Schweigen Martin Heideggers, mit dem sich Criminale (natürlich) auseinandergesetzt hat und zu dem er, zumindest gemäß Francis’ Lesart, eine Gegenposition vertritt (vgl. Bradbury 1992, 288–290).
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scheinlich annehme, weder falsch noch korrupt: „Maybe the experience of a bad world also makes us think.“ (329)91 Anders als John de Baur, Jacques De Vander, ‚Axel Vander‘, Léopold Sfax oder Gustafssons Jan van de Rouwers hat Bazlo Criminale keinen theoretischen Zugang bzw. kein einzelnes Spezialgebiet entwickelt, der bzw. das sich konkret ihm zuschreiben lässt – er selbst sieht sich auch nicht als Theoretiker: „‚My theory?‘ I heard him say, almost mystified, to someone who asked him, ‚What theory? I am a philosopher against theory. I am not a Karl Marx. For me the problem is not to change the world, it is to understand it. I try to help us understand it.‘“ (Bradbury 1992, 169) Als Philosoph fungiert er als (Welt-) Erklärer und Brückenbauer, als jemand, dessen analysierende Äußerungen Reaktionen und/oder Antworten auf etwas oder jemanden, wie Nietzsche, Marx, Adorno oder Heidegger, sind und Ordnung zu geben scheinen. Jemand, der ‚postmodernes‘ Chaos erklärt und benötigt, Philosophie als ‚„a form of irony“‘ (333) betrachtet und sich dieser bedient. Er ist jemand, der sich stets seiner Umgebung bzw. den Umständen anpasst, da er z. B. Walter Ulbricht zu Menschenrechten oder Nicolae Ceauşescu in Fragen der Architektur berät, mit François Mitterand in die Oper geht oder mit Ronald Reagan Golf spielt. Criminales zweite Ehefrau stellt es Francis gegenüber so dar, als ob sich Criminales Denken und Handeln jeweils nach seiner aktuellen Ehefrau richtet, so sei er zur Zeit des Nationalsozialismus wie seine erste Frau, eine Deutsche, „‚an anti-Nazi‘ […] ‚a good socialist, who believed that society must be changed‘“ (274) gewesen, während seiner zweiten Ehe mit der Marxistin Gertla entwickelt er sich zu einem „very important Marxist philosopher“ (274) und in der Zeit seiner dritten Ehe wird er zu dem, als der er in Francis’ Gegenwart wahrgenommen wird, „‚[t]he big celebrity‘“ (275). Von dem ‚schwer zu fassenden‘ Phänomen Bazlo Criminale scheint sich jeder, der ihm begegnet oder seine Texte oder Texte über ihn liest oder ihn hört, ein eigenes Bild zu machen bzw. allein die Gegenwart seines Namens führt zur „illusion of reference“ (de Man 1984a, 69), die in seinem Fall verschiedentlich ausgeprägt ist oder, wie Francis es ausgedrückt hat: Autoren werden (durch Leser) geschrieben, bekommen durch Leser eine Stimme und ein Gesicht verliehen und
91 Ein Jahr vor Erscheinen seines Romans schrieb Bradbury (1991) in einer Rezension zu David Lehmans Monografie über Dekonstruktion und Paul de Man Signs of the Times: „At several key moments when modern history has turned – Western Europe in 1945, Eastern Europe now – we have seen how moral crisis comes to those who have served a cause that history has, fortunately for humanity, repudiated.“ Entsprechend erscheint Criminale für Helmut Winter (1996) wie „eine Kreuzung aus Heidegger, Waldheim, Lukács und de Man“; Judith Ryan (2012), die den Roman nicht im Zusammenhang mit Shroud und The Death of the Author analysiert, sondern in der Einleitung (vgl. 3, 12) erwähnt, überlegt, dass Slavoj Žižek als Teil-Model für Criminale gedient habe (12). Michael Greaney (2006, 73) verknüpft ihn indirekt mit Paul de Man.
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jeder scheint Criminale ein anderes Gesicht zu verleihen, prosopon poiein, bzw. die jeweilige Lesart von ihm entpuppt sich als Aporie. Francis selbst gerät bei seiner Beschäftigung in den endlosen Strudel von Figuration und Defiguration (vgl. de Man 1984b), mit jeder Information und mit jedem Gespräch, hebt sich die für ihn bestehende Figuration von Criminale auf und es wird unentscheidbar, mit wem er es zu tun hat.92 Criminale, der Wissenschaftler ohne eigene formulierte Theorie, erscheint somit als ‚gelebte‘ Theorie. Dass er selbst mit dieser Theorie spielt, zeigt sich daran, dass er wohl letztlich weniger verschroben und sehr viel kalkulierter erscheint, als gemeinhin angenommen bzw. wahrgenommen wird. Eine konstante Frau an seiner Seite scheint seine, wie Francis schließlich erfährt, jahrelange Geliebte zu sein und sein Auftreten bei dem letzten Zusammentreffen mit Francis auf einer Konferenz in Deutschland erscheint bodenständiger und sehr viel durchdachter als die bisherigen Schilderungen – gegenüber der Öffentlichkeit scheint er sich verschiedene Masken selbst aufzusetzen und wieder abzunehmen, ganz so, wie es in den Kontext passt. Für Francis erfüllt sich das, was Criminale ihm in ihrem letzten Gespräch angedeutet hat: „‚[A]s Nietzsche said, when an epoch dies, betrayal is everywhere. To make ourselves heroes of the new, we must murder the past. He also told us each time we try to become authors of ourselves, we become only the more alone. So my story is not perhaps so far away from your story.‘“ (Bradbury 1992, 330) Fragmentarisch berichtet der texanische Konkursrichter Erwin Caldwell in Lars Gustafssons Roman Historien med hunden93 in seinen untertitelgebenden „Tagebüchern“ und „Briefen“ über das Bekanntwerden der unrühmlichen Vergangenheit seines jüngst verstorbenen einstigen Professors Jan van de Rouwers, dessen Seminare er zu Beginn der 1960er Jahre besucht hat und der später sein Nachbar in der gut situierten Villengegend in Austin gewesen ist. Biografische Informationen über diesen „alte[n] Mann“ (Gustafsson 1994, 31 und öfter), der „von seinem Steg gesprungen“ ist (34) und auf diese Weise Selbstmord begangen
92 Dieses Spiel, auch mit Maskierung und ,Demaskierung‘, zeigt sich auch im Hinblick auf die einzige Biografie über Criminale, deren Autorschaft im Laufe von Francis’ Spurensuche wechselt, sobald er glaubt, dieser auf die Schliche gekommen zu sein. Gegen Ende behauptet zwar Gertla, sie wäre die Autorin, aber auch dieses ist nicht sicher und der Text bleibt autorlos. Zudem sind die von Francis wiedergegebenen Informationen aus der Biografie mit Zweifel zu betrachten, zum einen, weil Gertla angibt, die Biografie diene dazu, Criminale in ein gutes Licht zu rücken und sei entsprechend angelegt (277), zum anderen, weil der Text auf Deutsch verfasst ist und somit für Francis, der kaum Deutsch kann, eigentlich als ‚unlesbar‘ erscheint (vgl. zum Begriff der Unlesbarkeit bei de Man Hamacher 1988b). 93 Im Folgenden wird aus der deutschen Übersetzung zitiert.
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hat‚94 werden in Caldwells reflektierenden Aufzeichnungen nach und nach preisgegeben. Der Konkursrichter gibt dabei wieder, was er aus Zeitungen und Gesprächen erfahren hat, und kommentiert diese Informationen. Der gebürtige Niederländer, „der feine Humanist“ (73), „ein weltberühmter Lehrer, der, wie es heißt, Schule gemacht hat“ (70), publizierte während der Zeit des Zweiten Weltkriegs „in einer der holländischen Abendzeitungen an die hundertfünfzig widerlich antisemitische und nazifreundliche Artikel […], die die Deutschen nach der Besatzung für ihre Propaganda einkauften“ (73).95 Um die Widerwärtigkeit zu verdeutlichen, fügt er u. a. hinzu: „ungefähr zur selben Zeit publiziert, als Anne Frank in Amsterdam in ihrem Hinterzimmer saß und auf Schritte im Treppenhaus lauschte. Artikel […], während gleichzeitig Tag und Nacht Züge von den holländischen Auffanglagern nach Auschwitz und Dachau rollten.“ (73)96 In wissenschaftlicher Hinsicht entwickelte „der große Philosoph und Semantiker“ (31) eine Sinntheorie, deren Grundaussage ist, „daß jeder Text seinen eigenen Gegentext, seine Negation enthält. Oder daß jeglicher Sinn gleitet, sich verändert und seinen eigenen Unterschied hervorbringt“ (78). Dass van de Rouwers Leichnam in der erzählten Gegenwart des Konkursrichters „im Pyjama“ (31) und nur durch einen Brand zufällig im Fluss gefunden wurde, veranlasst diesen, sich zu fragen, was passiert wäre, wenn van de Rouwers ‚einfach‘ verschwunden wäre: „Was hätte man vermutet? Daß er einem Verbrechen zum Opfer gefallen sei? Oder daß ihn vielleicht seine eigene Vergangenheit eingeholt hätte?“ (32) Seine Einordnung des ehemaligen Lehrers, der für viele Studierende ein moralisches Vorbild gewesen sei, scheint auf den ersten Blick eindeutig zu sein: dieser sei ein Nazi gewesen, der sich die „elegant angelegte Mimikry eines holländischen Widerstandskämpfers“ (74) zugelegt hat, dessen erfolgreiche „Flüchtlingskarriere“ „die Freveltat eines entlaufenen Kriegsverbrechers“ ist, der die ihm entgegengebrachten Sympathien ausgenutzt hat, „seine Spuren verwischt haben“ muss (75) und dessen Schweigen um die eigene
94 Jan van de Rouwers Tod im fließenden Wasser erscheint als ‚sinnvoll‘, da sein theoretischer Zugang darauf zielt, auf die sich im Fluss befindenden Sinnzuschreibungen aufmerksam zu machen. Zur Metaphorik des Wassers und des Fließens im Roman vgl. Schiedermair 2000, 200–205. 95 Aufgedeckt wird der Skandal im Roman durch einen holländischen Doktoranden, der „ausgerechnet Brandeis, die angesehene jüdische Universität“ (75–76) besucht und eine Gesamtbibliografie zu van de Rouwers erstellen will. 96 Als eine ähnliche Dramatisierung fungiert der Aspekt, dass van de Rouwers die Lehrgenehmigung entzogen wurde, nicht wegen seiner kollaborationistisch-journalistischen Vergangenheit – diese wird erst nach seinem Tod bekannt –, sondern weil er von seinen Studierenden schriftliche „Bekenntnisse“ verlangt hat: „Von dem Guten und dem Bösen, das sie getan hatten, von den moralischen Konflikten, die sie durchlebt, von den Situationen, in denen sie willentlich oder gegen ihren Willen schlecht gehandelt hatten.“ (118)
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Vergangenheit eine „abscheuliche Vieldeutigkeit“ (74) war, denn hätte er diese thematisiert, „[h]ätte er die Tiefe seiner ethischen Überzeugungen bewiesen“ (74), an den toten Philosophen adressiert er: „Hättest du geredet, wärst du Philosoph geblieben! Jedenfalls in diesem Fall!“ (75). Angesichts der dekonstruktiven Prägung von van de Rouwers Sinnlehre fragt der jüdische Caldwell, ob der Professor diese nicht nur „als eine Entschuldigung, als eine Selbstverteidigung“ (78) entwickelt hat. Eine Antwort auf diese mögliche Verbindung von Leben und Philosophie findet er (natürlich) nicht. Aber weniger die Biografie des toten Philosophen steht im Mittelpunkt des Romans, als vielmehr Caldwells Reflexionen über seine aus den Fugen geratene Welt, seine Suche nach Ordnung sowie die moralischen Fragen, die aufgeworfen97 und – wie viele Aspekte in diesem Text – offengelassen werden. Das, was er der Sinntheorie seines alten Dozenten vorwirft, trifft in gewisser Weise auch auf Caldwell selbst zu respektive spürt er zunehmend hinsichtlich seines eigenen Lebens: „Jeglicher Sinn fließt, rutscht einen Abhang hinab, ist in Talfahrt. Die Person, die gestern gesprochen hat, ist nicht dieselbe wie jene, die heute spricht.“ (77) In beruflicher Hinsicht ist es Caldwell als Richter gewohnt, konkrete „Beschlüsse zu fassen“ (62), wie er einmal seinem professoralen Nachbarn erklärt hat, der dieses nicht hat gelten lassen, und auch auf persönlicher Ebene be- bzw. verurteilt er deutlich Geschehnisse oder Personen in seinem Umfeld (vgl. u. a. 175; vgl. auch Schiedermair 2000, 194–196). Jedoch scheint ihm d(ies)er Sinn seines bisherigen Lebens zunehmend abhanden zu kommen. Seine gesamte Welt, seine Wertvorstellungen und seine bisherige ‚Lebenslinie‘ geraten aus den Fugen, seine Umwelt erscheint ihm zunehmend chaotischer, er hat Identitätsprobleme‚98 sein Leben fühlt sich nicht mehr nach seinem an. Er ist „ein bißchen zerstreut“ (Gustafsson 1994, 41) und seine Orientierung respektive Selbstwahrnehmung gerät durcheinander. Im „Prolog“ seiner fragmentarischen Aufzeichnungen bekennt er sich „schuldig an einem äußerst brutalen Mord“ (7), zu dem er an dieser Stelle keine genaueren Angaben macht. Im weiteren Verlauf stellt sich heraus, dass es sich dabei um einen streunenden „‚ganz widerwärtige[n]
97 Die Suche nach Ordnung sowie die Auseinandersetzungen mit moralischen Fragen stehen (auch) im Zusammenhang mit Reflexionen über göttliche Entität und umspannen den gesamten Roman; vgl. zu dieser Thematik Siebold und Muschick 1999 (etwas störend an diesem Aufsatz ist, dass von „Briefen“ Paul de Mans aus den Jahren 1940–1942 gesprochen wird, die nach seinem Tod öffentlich bekannt wurden, zugleich aber angegeben wird, Jacques Derrida dekonstruiere „Artikel“ de Mans). 98 Um sich selbst (wieder) zu finden, besinnt er sich zuweilen auf seinen ‚Ursprung‘ und schaut sich einen Film seiner Geburt im Jahr 1936 an, den sein Vater erstaunlicherweise gemacht hat und der ihn, trotz aller Fragen und Zweifel, die dieser in ihm hervorruft, beruhigt (vgl. Gustafsson 1994, 12–14).
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Hund‘“ (26) handelt, den er mit einem Seitenschneider brutal erschlagen hat, weil dieser täglich „‚den gesamten Inhalt aus meinem Mülleimer gezerrt“ (26) habe. Auch bereits im „Prolog“ werden zwei weitere, menschliche, Todesopfer angesprochen: zum einen eine „Mordsache“, in der aber bereits „[e]in bekannter Massenmörder aus dem Norden“ verhaftet wurde (7), und zum anderen der Tod Jan van de Rouwers, bei dem Caldwell sofort versichert, „nichts [damit] zu tun“ zu haben (7–8). Die Tötung des Hundes versucht er als eine ‚notwenige Tat‘ zu rechtfertigen und es kommt ihm „nicht im mindesten merkwürdig“ vor (83), dass „dieser Scheißköter [plötzlich] wie ein Lumpen in seinem Blut und seiner beschränkten Hirnsubstanz“ lag (83) und das „heimliche[…] Glück“ (84), das er dabei empfunden hat, versucht er damit (vor sich selbst) zu relativieren, dass ihn die Sache mit dem Hund „doch wohl kaum zu einem Caligula oder Torquemada“ (84) macht, „ganz zu schweigen von Stalin und der Ukraine […] oder Hitler und Auschwitz“ (84). Dennoch fragt er sich, wie so etwas passieren konnte, da er bisher nicht gedacht hätte, „zu so etwas imstande“ (83) zu sein. Und so spürt er nicht nur den ‚fließenden Sinn‘ von van de Rouwers Theorie in seinem eignen Leben, sondern auch den Aspekt von dessen Theorie, „in welcher der Mensch buchstäblich von einem Augenblick zum nächsten nicht mehr derselbe ist und sich sozusagen ständig selber wählen muß. Da er das ist, was er ist, aber zugleich auch seine Negation, ist er beides“ (83), und er fragt sich, ob der Professor diesbezüglich von sich selbst gesprochen habe, überträgt es jedoch nicht auf seine eigene Person. Erscheint die durch Caldwell wiedergegebene und entrüstendkommentierende, aber zugleich auch nostalgisch-erinnernde Darstellung Jan van de Rouwers offensichtlich als „something like the referent“ (Derrida 2002a, 175; 2002b, 30) Paul de Mans, so entpuppt sich der texanische Konkursrichter selbst auf einer zweiten Ebene als verzerrtes „Spiegelbild des Spiegelbildes“ (Schiedermair 2000, 195, vgl. auch 196, 210–211). In biografischer Hinsicht sind dieses Spiegelungen auf „einer niedrigeren Ebene“ (194): die Diskrepanz zwischen Nazi und Ethikprofessor zeigt sich in Caldwells Tötung des Hundes und seines eventuellen Mordes am „intelligenteste[n] Mann der Vereinigten Staaten“ (Gustafsson 1994, 184 und öfter), wie dieser sich selbst tituliert, Douglas Melvin Smith, sowie seinem Leben als anerkannter Richter, der ‚Gut‘ von ‚Böse‘ bzw. ‚Schuld‘ von ‚Unschuld‘ zu unterscheiden weiß; die ‚Schuld‘ im Hinblick auf Bigamie spiegelt sich in Caldwells Seitensprüngen (vgl. auch Schiedermair 2000, 194). Hinsichtlich der moralischen Fragen sind Caldwells Reflexionen über seine brutale Tötung des Hundes parallelisiert mit seinen Reflexionen um die Entdeckung der Zeitungsartikel und der ‚Schuld‘ von van de Rouwers respektive dem Nachdenken über die Ambivalenzen und das Ineinanderfließen von ‚Gut‘ und ‚Böse‘ und darüber, wozu Menschen in der Lage sind. Der Sinntheoretiker Jan van de Rouwers hat sich „sein ganzes Leben lang“ (Gustafsson 1994, 63) nebenbei mit „Anselm von Canterburys
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sogenannte[m] ontologische[m] Beweis für die Existenz Gottes“ (62) befasst, so sehr, dass es „etwas Manisches“ (62) an sich hatte; in „Fachzeitschriften dritten und vierten Ranges“ publizierte er zahlreiche Aufsätze, „um zu zeigen, daß der gesamte Beweis mißverstanden worden sei“ (63).99 Den Gottesbeweis liest van de Rouwers – zumindest gemäß Caldwell, der seine Lesart dessen formuliert – weniger ontologisch als vielmehr sprachlich (vgl. auch Schiedermair 2000, 198) und überträgt dieses schließlich auf den ermordeten „intelligenteste[n] Mann der Vereinigten Staaten“ (Gustafsson 1994, 230): „Der intelligenteste Mann der Vereinigten Staaten muß existieren. Denn der Intelligenteste ist so beschaffen, daß kein Intelligenterer als er existiert. […] Nun ist der intelligenteste Mann der Vereinigten Staaten ein denkbarer Begriff. Also existiert Der intelligenteste Mann.“ (230) Caldwell meint dieses wohl im Sinne eines, wenn auch unpassenden, Witzes, der ihn „auf sonderbare Weise glücklich“ macht (231), es lässt sich jedoch auch als etwas paradoxe Relativierung der brutalen Ermordung des Mannes lesen – trotz des Todes von Douglas Melvin Smith existiert der intelligenteste Mann weiterhin, der Tod enthält seine eigene Negation, der Intelligenteste Mann ist tot und existent zur gleichen Zeit. Nach ihrer ersten Begegnung, bei der Caldwell Smith vorgeführt hat (vgl. 178–191), ist Smith der Ansicht, Caldwell hätte sein Leben zerstört, und will sich an diesem in gleicher Weise rächen (190). Er verfolgt den Richter „mit […] blödsinnigen Drohbriefen wegen des Hundes“ (236)‚100 die Caldwell etwas panisch werden lassen: „Was weiß er eigentlich von mir? Wie weit würde er gehen, um mir zu schaden? Langsam beschleicht mich eine leichte Panik. Und im Gefolge dieser Panik vielleicht so etwas wie der Beginn einer Handlung.“ (226) Damit stellt sich die Frage, was genau diese Handlung ist, zu der sich Caldwell nicht weiter direkt äußert. Als Richter ist ihm bewusst, dass die Tötung des Hundes eine Straftat ist und er mit Konsequenzen zu rechnen hätte, sollte ihn Smith z. B. anzeigen. Eine ‚Demaskierung‘ möchte er, ähnlich wie wohl auch ‚Axel Vander‘ oder evtl. Léopold Sfax, verhindern; präventiv bekennt er sich nicht nur, wie angesprochen, in einem im „Prolog“ nacherzählten Telefonat mit seinem Freund Tony, dem Staatsanwalt, schuldig an der Tötung des Hundes, sondern scheint, wie ‚Vander‘, einen Text im „confessional mode“ (de Man 1979b, 278) zu arrangieren und zudem Smith zum Schweigen zu bringen. Der Text erscheint als ein Aneinanderreihen von Tagebucheinträgen und Briefen des Konkursrichters,
99 Die philosophischen oder theologischen Lehren vor allem von Anselm von Canterbury, Raimundus Lullus oder Kurt Gödel ziehen sich nicht nur inhaltlich durch den Text, sondern prägen auch die Tiefenstruktur des Romans; vgl. dazu sowie zum Verharren des Romans in Aporien Schiedermair 2000, 197–211, 215–266 sowie Siebold und Muschick 1999. 100 Woher Smith von Caldwells Tötung des Hundes weiß, bleibt für den Richter ein Rätsel (236).
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die dieser an jeweils verschiedene Personen und Dinge adressiert oder die ein Zwiegespräch mit sich selbst abbilden. Seinem abwesenden alten Lehrer, den er in seinen Aufzeichnungen wiederholt als ‚der alte Mann‘ bzw. ‚der alte Professor‘ bezeichnet, anstatt ihn beim Namen zu nennen, und ihn dadurch ent-persönlicht101 oder auf diese Weise ‚defiguriert‘, verleiht er durch die Apostrophierung ebenso ein ‚Gesicht‘ wie beispielsweise auch denjenigen, die sich in einer ähnlichen Phase wie Caldwell befinden und denen die ersten zehn Kapitel gewidmet sind, die mit dem Überthema „Brief an die Ertrinkenden“ überschrieben sind, oder seinem automatischen Poolreiniger, mit dem er eines nachts ein Zwiegespräch hält. Das ‚Geben‘ und Nehmen‘ von ‚Gesichtern‘ geschieht in diesem Text nicht durch verschiedene Stimmen, sondern durch die wechselnden Apostrophen ausgehend von Caldwells Stimme, wobei dadurch versucht wird, die eigentliche Kohärenz zu ‚maskieren‘. Es zeigt sich, dass der Text eben keine scheinbar lose Aneinanderreihung von Fragmenten ist, sondern eine, an ein wohl breites Lesepublikum gerichtete, Erzählung, worauf Caldwell als Erzähler auch selbstentlarvend wiederholt hinweist: („Manchmal frage ich mich sogar, ob ich es bin, von dem mein Leben handelt, und das hat, wie ihr wohl merken werdet, in meiner Erzählung seine Spuren hinterlassen; diese Sache mit dem Hund beispielsweise handelt eigentlich überhaupt nicht von mir. Und es gibt noch vieles andere in der Erzählung, die gleich folgt, das nicht das geringste mit mir zu tun hat.“) (Gustafsson 1994, 13; vgl. auch 171, 236)
Es sind Bemerkungen, die aufzeigen, dass den vorliegenden Textfragmenten eine Kohärenz gegeben wurde. In der zitierten Passage geht der Erzähler zudem auf Distanz zu den folgenden Schilderungen, zur Sache mit dem Hund, die (natürlich) von ihm handelt, aber in seiner Wahrnehmung von einem anderen Selbst in sich, das er noch nicht kannte: „Ich fühle mich verwirrt und voller Widersprüche. Aber ich muß chaotisch und widerspruchsvoll sein, um zu verstehen, was
101 Die ent-persönlichende Bezeichnung wird zudem wiederum in Verbindung mit dem Hund gebracht, „der alte Mann ist tot“ (Gustafsson 1994, 31 und öfter), heißt es wiederholt wie auch „‚der Hund ist tot‘“ (25 und öfter); auch vergleicht der Richter van de Rouwers direkt mit dem Hund: „Wie gierig muß er von Sympathie und Mitleid gezehrt haben, nur um jene zu betrügen, die es ihm schenkten! Mit dem selbstverständlichen Egoismus eines Raubtiers. (Oder vielleicht mit dem ekelhaften untertänigen Egoismus eines widerlichen schmutzgelben Hundes, der an einem frühen Wintermorgen aus einer Mülltonne an der Straße frißt?)“ (75, vgl. auch 107) Auch beschäftigt sich Caldwell damit, wie die Nationalsozialisten, von denen Juden wie Tiere „oder ‚schlimmer als Tiere‘“ (110) behandelt wurden, wiederum Tiere behandelt haben, und zieht das Fazit, „daß man sich um Scheißköter und andere Viecher eifrig gesorgt hat, während man zugleich dabei ist, den Massenmord zu legalisieren.“ (115)
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in diesem Winter mit mir geschieht. Irgendetwas ist dabei, mich zu invadieren. Oder bin ich es selbst, der an die Oberfläche kommt?“ (79). Dadurch, dass er die Tötung des Hundes und seine Reflexionen diesbezüglich schildert respektive ein ‚Bekenntnis‘ formuliert, existiert dieses wiederum ebenfalls sowohl als „fictional discourse“ als auch als „empirical event“ (de Man 1979b, 293) und verharrt nicht nur in Aporie, da unentscheidbar wird, welche von beiden Möglichkeiten die richtige ist (vgl. 293), sondern schafft damit wiederum auch die Möglichkeit, „to excuse the bleakest of crimes“ (293) und offenbart zudem Caldwells „desire to exposure“ (285), der Mörder von Smith zu sein. Smith wird mit einem Knebel im Mund gefunden, der zu seinem Tod geführt hat, „ob es aus Versehen geschehen war“ (Gustafsson 1994, 229) oder absichtsvoll, bleibt offen; während Caldwell den Hund erschlägt, als dieser sich „im Bootsanhänger des Nachbarn verheddert“ (104) hat, ist Smith mit „Stricken, wie man sie bei […] Booten findet“ (229), an einen Stuhl gefesselt mit dem er, inklusive Knebel im Mund, einen Abhang „hinuntergekippt“ (229) wird. Dass er von einem Moment auf den anderen zu einem anderen Menschen werden kann und zu brutalen Handlungen fähig ist, veranschaulicht Caldwell durchgängig an der Sache mit dem Hund, zudem scheint in ihm ein Verlangen nach einem Verbrechen jenseits von „normale[r] Kriminalität“ (85) zu schlummern, denn diese sei „etwas ungeheuer Triviales […] [i]hr fehlt jeder Charme, jede interessante Nuance. Ja, manchmal habe ich sogar gedacht, ihr fehlt jede Bösartigkeit“ (85), etwas, das sich von dem „sinnlosen und unheimlichen Mord“ (235) an Smith nicht sagen lässt. So etwas wie ‚Schuld‘ empfindet Caldwell wohl, als er die tote Schildkröte seines Stiefenkelkindes findet, die er nach dessen Abreise schlichtweg vergessen hat und die verhungert ist: „(Um diesen widerlichen Hund habe ich wirklich nicht getrauert. Dieses kleine Tier aber betrauere ich. Ja, zum erstenmal in dieser Erzählung empfinde ich etwas, das von fern einem Schuldgefühl gleicht. […].)“ (236) Sein Auffinden der toten Schildkröte verläuft parallel zu seiner Berichterstattung über die Verhaftung eines Massenmörders, dem der Mord an Smith zugeschrieben wird (vgl. 232–237), und so kann sein ‚Schuldgefühl‘ auch wiederum parallelisiert werden mit dem Mord an dem – ebenso wie die Schildkröte – harmlosen und unschuldigen Smith, die Trauer kann für beide stehen und wird verstärkt durch die Bemerkung, dass er gegenüber Smith „ein furchtbar schlechtes Gewissen“ (236) habe. Eine „moralische Befriedigung“ empfindet der Richter darüber, „daß der Mörder Des intelligentesten Mannes einem Gerichtsverfahren und Urteil entgegengeht“ (236); ob es sich dabei um den verhafteten Massenmörder oder ihn handelt, der mit seinem ‚bekenntnishaften‘ Text Hinweise auf sich als ‚Täter‘ streut, scheint unentscheidbar zu bleiben. Die Fiktion gibt darüber keine Auskunft, die Verantwortlichkeit einer möglichen Antwort liegt im Setzen von Bedeutung, in der ‚Illusion von Referenz‘. In seinem Essay „Shelley Disfigured“ konstatiert Paul de Man:
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And to read is to understand, to question, to know, to forget, to erase, to deface, to repeat – that is to say, the endless prosopopeia by which the dead are made to have a face and a voice which tells the allegory of their demise and allows us to apostrophize them in our turn. No degree of knowledge can ever stop this madness, for it is the madness of words. (de Man 1984b, 122)
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Hiltrud Arens
„So frech möchte ich auch sein“: Robert Cohens Exil der frechen Frauen Robert Cohens 622-seitiger historischer Roman Exil der frechen Frauen (2009) belegt sowohl das vermehrte Erscheinen von literarischen Werken zum Exil1 als auch den verstärkten Diskurs über das Exil aus einer heutigen Perspektive.2 Der Roman wird heimgesucht von dem Zeitraum 1928 bis 1942 und zugleich reflektiert er auf andere Weise die „Präsenz des historisch Erlebten im Gegenwärtigen, im Modus des Nach-Lebens“ (Bischoff und Hein 2013, 6). In meiner Analyse zielt der Autor3 auf ein differenziertes und gendersensibles Porträt von Exil(en) und Geschlechterbeziehungen. Durch eine mehrschichtige Erzählung (und nicht Verwirrung) beabsichtigt er eine kritische Auseinandersetzung mit der historischen Periode, indem er Macht- und persönliche Beziehungen in einer Perspektive auf Geschlechterverhältnisse darstellt und so unsere Vorstellung von den Leben und Kämpfen der weiblichen Figuren seines Romans erweitert (vgl. Bernstorff 2012, 310, 314). Während seiner Recherchen stieß Cohen auf die Biographien von drei Frauen, die in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts Zeitgenossinnen waren: Olga Benario (Prestes) (1908–1942), Maria (Greßhöner) Osten (1908–1942) und Ruth Rewald (Schaul) (1906–1942). Anders als ihre männlichen Pendants sind diese bemerkenswerten Frauen keine berühmten Figuren der Periode, obwohl in den letzten Jahre mehr Fakten über ihr Leben und Werk bekannt geworden
1 Vgl. den Newsletter exilograph der Walter A. Berendsohn Forschungsstelle für deutsche Exilliteratur an der Universität Hamburg mit dem passenden Titel seiner Einleitung „Die Gegenwart des Exils. Zur Konjunktur von Erzählungen in der neueren Literatur“, die knapp das erneute wachsende Interesse am Thema Exil darstellt: Dickow und Narloch 2013–2014, 1–2. Vgl. auch Bannasch und Rochus 2013, deren Buch ein breites Spektrum verschiedener Formen des Exils in der deutschsprachigen Welt des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts umfasst und auch neueste literarische Texte untersucht, die Geschichten vom Exil präsentieren. 2 Julia Schöll (2011, 239) bezieht sich auf „Exil im Plural“. In seinem berühmten Essay Reflections on Exile diskutierte Edward Said (2001, 174) das Phänomen des Exils und seine mannigfaltigen Darstellungen in der modernen westlichen Kultur als Symbolisierung eines „Zeitalters des Flüchtlings, der ‚displaced person‘“. 3 Cohen war bis 2012 Germanistik-Professor an der New York University. Als Spezialist für das zwanzigste Jahrhundert forschte er während seines ganzen Berufslebens zur Weimarer Republik und besonders breit zu deutschen exilierten Schriftstellern. Er wurde 1941 in der deutschsprachigen Schweiz geboren und der Roman ist sein erstes literarisches Werk. Vgl. den Schutzumschlag des Romans und Spoerri 2009. http://doi.org.de/10.1515/9783050093932-015
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sind.4 Doch gerade weil sie ziemlich unbekannt geblieben sind, sah sich Cohen veranlasst, sie als Hauptfiguren für seinen Roman zu wählen (Spoerri 2009). Olga Benario war eine politische Revolutionärin und kommunistische Aktivistin, die geheim für die – von 1919 bis 1943 von Moskau geleitete – Kommunistische Internationale arbeitete. Die beiden anderen Frauen waren Schriftstellerinnen, und Maria Osten war auch Journalistin und Zeitschriftenherausgeberin und -redakteurin. Das Exil, den Holocaust oder die Jahre des Stalinismus überlebten diese Frauen nicht. Benario wurde von Brasilien zurück nach Deutschland ausgeliefert, als ein politischer Umsturzversuch, an dem sie sich beteiligt hatte, gescheitert war. Nach der Geburt ihrer Tochter im Frauengefängnis Barnimstraße in Berlin wurde sie dann ins KZ Ravensbrück deportiert und in Bernburg, einem der Zentren der ‚Euthanasie‘, ermordet; ihre Tochter überlebte, denn sie wurde ihrer brasilianischen Großmutter väterlicherseits übergeben, die darum kämpfte, sie von den Nazis zu erhalten.5 Rewald und später ihre Tochter wurden aus dem französischen Exil nach Auschwitz deportiert und ermordet. Benario und Rewald waren Jüdinnen. Osten wurde in den stalinistischen ‚Säuberungen‘ in der Sowjetunion verhaftet, verhört und erschossen. Ermordet wurden alle drei 1942. Außer im ersten und im letzten Kapitel, die seine Erzählung rahmen, fokussiert Cohen in jedem Kapitel seines Romans abwechselnd eine der weiblichen Hauptfiguren und deren augenblickliche Situation. Das erste Kapitel fungiert als eine Einleitung und baut die Bühne für die drei Protagonistinnen auf, und das letzte Kapitel dient als ein Epilog. Der Autor gewährt jeder Protagonistin ihre eigene(n) Perspektive(n) im Rahmen der vielfältigen Aspekte eines von Geschlechterverhältnissen geprägten Exils. Die Gemeinsamkeit mit und Verbindung zu anderen Frauen im Exil scheint durch – trotz ihrer verschiedenen und besonderen Weisen, zu leben und sich ums Überleben zu bemühen. Durch die Fiktionalisierung ihrer Lebenserfahrung und der von vielen Zeitgenossen – häufig bekannten Schriftsteller_innen, Zeitschriftenherausgeber_innen, Verlegern, Künstler_innen, Architekten und Politikern –6 entwirft Cohen ein faszinierendes Panorama der Vor-Nazi-, Nazi- und Exiljahre, indem er fiktive Diskussionen und Reflexionen über die dringenden politischen, kulturellen und literarischen Fragen durch eine postmoderne, postkoloniale und gendersensible Linse darbietet.
4 Krüger 1990; Barck 2010; vgl. auch El-Akramy 1998. Zu Benario vgl. die biographische Information: https://en.wikipedia.org/wiki/Olga_Benario_Prestes (23. September 2015). 5 Vgl. Robert Cohens spätere Bücher Die Unbeugsamen. Briefwechsel aus Gefängnis und KZ. (2013) und Der Vorgang Benario. Die Gestapo-Akte 1936–1942 (2016). 6 Unter ihnen sind die Brüder Herzfelde Wieland und John Heartfield, Lion Feuchtwanger, Bertolt Brecht, Margarete Steffin, Klaus Mann, Anna Seghers, Ernst Busch, Claude Lévi-Strauss, Annemarie Schwarzenbach, Isaak Babel und Michail Kolzow.
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Die Biographien von Benario, Osten und Rewald sind deutlich die Grundlage dieses Romans, und für Literatur, die Exil darstellt, sind, wie Elisabeth Bronfen (1993, 171) begründet hat, drei Analyseebenen wichtig: biographische Referenzen, thematischer Inhalt und ästhetische Struktur. Für meine Untersuchung der Rolle der Geschlechterverhältnisse und ihrer (Wechsel-)Beziehungen zu anderen Elementen im Roman sind Inhalt und Struktur gleichermaßen entscheidend. In diesem Beitrag fokussiere ich primär die Verbindungen zwischen Geschlecht und Vorstellungen von Freundschaft und Liebe und den Zusammenhang zwischen Geschlecht und Bewegung, wie er sich in den Leben der Protagonisten darstellt. In wechselnder Reihenfolge produzieren diese beiden Kategorien Dialog, Erinnerungen und Reflexionen, und durch diese mentalen und kommunikativen Bemühungen wird Bedeutung geschaffen, die den Status quo in Frage stellt und manchmal sogar den der Charaktere selbst und ihrer Politik. Die Darstellung dieser Bewegung durch Reisen und Migration ins und im Exil ist entscheidend für Aspekte der Reflexion und Kommunikation und bedeutsam, um die Beziehung der filmisch beeinflussten Erzählweise des Autors zum thematischen Inhalt zu verstehen. Als einen dritten Fokus der auf Geschlechterverhältnisse bezogenen Untersuchung diskutiere ich Fragen von Schreiben und Autorschaft im Exil, wie sie in Rewald und Osten porträtiert werden. Zugleich berührt meine Diskussion von Geschlecht in Verbindung mit Freundschaft und Liebe, Bewegung und Autorschaft während des Exils kurz die Erzählstrategie des Autors, weil der Erzählstil des Autors der Reihe nach den Topos der transitorischen Exilleben, die präsentiert werden, anreichert. Während Cohen die Lebensgeschichten dieser drei Frauen fiktionalisiert, porträtiert er seine Protagonistinnen auf nuancierten Ebenen. Er konstruiert eine komplexe Erzählung mit vieldimensionalen Verschiebungen durch räumliche und zeitliche Wechsel der Perspektive und durch Brüche in den inneren mentalen Wahrnehmungen und denen der äußeren Umwelt, obwohl die Rahmengeschichte innerhalb der Chronologie des historischen Zeitraums seiner Figuren verbleibt, der 1928 beginnt. In der dichten Struktur von Exil der frechen Frauen ist die Kategorie Geschlecht deutlich eingebettet in andere (gesellschaftlich) konstruierte Kategorien wie Klasse, Religion, Ethnizität, Nation, Kultur und Politik.7
7 Judith Butler (1990, 3) interpretiert Geschlechtsidentität als flüssig und unstabil, als performativ und als tief verbunden mit politischen und kulturellen Netzwerken und Machtstrukturen, weil diese die Existenz von Geschlecht schaffen und mitstrukturieren. Vgl. auch Villa 2012, 56: „Geschlecht ist niemals die alleinige Zugehörigkeits- oder Strukturkategorie, sondern immer verwoben mit weiteren Kategorien“.
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Wenn die Lage der geschlechtlich bestimmten weiblichen Exilexistenz die von „Ausschluss, Unterlegenheit, doch auch Ungleichheit, Fernhaltung vom Privileg und, manchmal, von Rechten“ ist und eine Form von „Fremd-Sein“ bildet, wie Gesa Zinn und Maureen Tobin Stanley in Exile through a Gendered Lens (2012, 1) formulieren, dann haben Cohens drei Protagonistinnen diese Realitäten erfahren. Aber die Vorstellung und das Leitmotiv ‚frech sein‘ (mutig, dreist, unverwüstlich, freimütig sein) – wie im Titel und den ganzen Roman hindurch präsentiert – laufen dem Erfahrungswissen geschlechtlicher Marginalisierung zuwider und brechen mit der Akzeptanz von Passivität. Frech-Sein ist im Text deutlich beschrieben als eine geschlechtlich weibliche Strategie, sich auferlegten (gesellschaftlichen) Beschränkungen zu widersetzen, nicht nachzulassen im Kampf und den Status quo zu überwinden (vgl. Cohen 2009, 314).
1 Geschlecht und Vorstellungen von Freundschaft und Liebe Im Romananfang verknüpfen sich 1928 kurz die Leben von Ruth Rewald und Maria Osten, wenn sie Kaffee trinken im Café Josty am Potsdamer Platz und über die spektakuläre Befreiung von Otto Braun durch die furchtlose Olga Benario aus dem Gefängnis Moabit plaudern. Da geschieht es, dass Rewald Osten vorschlägt, einen ‚Verein frecher Frauen‘ zu gründen: „Was ich wissen möchte, sagt Ruth Rewald, wo hat Olga Benario ihre Frechheit her? So frech möchte ich auch sein. Ich auch, wo lernen wir das? Ruth Rewald schlägt die Gründung eines Vereins frecher Frauen vor, mit Olga Benario als Trainerin.“ (13) Zinn und Tobin Stanley (2012, 4) beschreiben den Prozess weiblicher ‚EntEntfremdung‘ als eine Methode individueller anstrengender Selbstdefinition und Entschlossenheit, dem weiblichen Selbst eine Stimme zu geben. Dieser Kampf oder Selbstbewusstwerdungsprozess ist symbolisiert in der Vorstellung von ‚frech sein‘, das den ganzen Roman hindurch für die Hauptfiguren unterschiedlich zu verschiedenen Zeiten ihrer Leben inszeniert wird. ‚Frech sein‘ verwandelt sich in und vereint sich mit verwandten Weisen, sich selbst auszudrücken und zu sein, solchen wie Mut, Widerständigkeit, Unabhängigkeit, Stärke, Ernsthaftigkeit im Gespräch, Infragestellung ihrer selbst und anderer. Es ist eine Eigenschaft, die sich in Abhängigkeit von der Situation, in der sich die weibliche Figur befindet, verändert und es bleibt ein entscheidender Teil der Identität jeder der Protagonistinnen. Als Benario im Herbst 1936, im siebenten Monat schwanger, nach Deutschland zurück deportiert wird, fragt ihre Freundin Sabo, fast sie provozierend, was sie jetzt tun werde, um sich zu befreien: „Wo bleibt deine Frechheit?“
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Benario jedoch antwortet überlegt und erklärt: „Ich war eine freche Frau. […] ich bin immer noch frech. Aber die Umstände haben sich geändert. Was gestern mutig war, kann heute töricht sein. Und was jetzt wie Feigheit aussieht, braucht auch Mut, aber einen anderen“ (Cohen 2009, 244–245).8 Schon früh im Roman erörtern Rewald und Osten Fragen der erzählerischen Konstruktion, von Ton, Atmosphäre, Wort- und Genrewahl und die, ob diese Elemente geschlechtlich bestimmt seien. Osten wirkt weniger zögerlich und energischer in ihrer Versicherung, ein Schriftsteller zu sein (und merkwürdigerweise ‚zu schreiben wie ein Mann‘) und ihren Stil zu wählen. Rewald, auf der anderen Seite, fragt sich, ob die Unterschiede zwischen Männern und Frauen in der Kunst zurückträten: Bei der Kunst, fragt Ruth Rewald, hören die Unterschiede zwischen Männern und Frauen auf? Welche Unterschiede, gut geschrieben, ist gut geschrieben. Mag sein, sagt Ruth Rewald, aber wer entscheidet, was gut geschrieben ist, du oder Herzfelde? Heute? Fragt Maria Greßhöner, oder in zehn Jahren? Sie lachen. Bei der Jugendliteratur, sagt Ruth Rewald, kann ich schreiben wie ich will, die Herren Kritiker interessiert das nicht. […] Ich sehe vor uns, zwei grosse literarische Karrieren, sagt Maria Greßhöner, wir schaffen das, wir werden berühmt. (14)
Jahre später erinnert sich Osten an ein Gespräch mit Margarete Steffin über ihr Schreiben, in dem diese behauptete: „Wir stehen im Schatten unserer Männer, wie kommen wir da heraus?”, und Osten von ihren eigenen „Gefühle[n] der Unzulänglichkeit“ (299) berichtete. Als sich Rewald und Osten auf dem Internationalen Kongress zur Verteidigung der Kultur 1935 in Paris treffen, fragt Rewald, ob Osten sich an den Plan von früher erinnere, einen Verein der frechen Frauen zu gründen. Zu dieser Zeit ist Osten noch optimistisch und versucht, ihrer Freundin ein Gefühl von Gewissheit über die Wichtigkeit ihrer Arbeit zu geben, während Rewald resigniert klingt: „Wozu die ganze Mühe? Die Großen werden diese Zeit überdauern, […]. Die Jugendbuchautorin Ruth Rewald? […] Die Emigration, sagte Ruth Rewald, hat mir die Frechheit ausgetrieben. Mir nicht, sagte Maria Osten.” (151) Ostens Umzug in die Sowjetunion war beim ersten Mal freiwillig, und ihre
8 Sabo ist die Abkürzung für Elisabeth Ewert, in Polen geboren als Elise Szaborowski, später Ehefrau von Arthur Ewert. Das Paar arbeitete für die Komintern, sie waren Benarios politische Genossen. Sabo war Benarios enge Freundin, die auch illegal in Brasilien gearbeitet hatte, aber früher gefangen genommen, inhaftiert und gefoltert wurde; sie wurde mit Benario nach Deutschland zurück geschickt. Ermordet wurde sie 1939 im KZ Ravensbrück. Vgl. https://en.wikipedia. org/wiki/Arthur_Ewert (23. September 2015). ‚Frech sein‘ wird als eine Eigenschaft angesehen, die sogar an die Kinder der nächsten Generation weitergegeben wird, in Benarios Fall an ihre Tochter, wie sie von Cohen in Kapitel 24 des Romans dargestellt wird, besonders 2009, 456.
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Identifikation mit dem Land ist offensichtlich in dem Schriftstellernamen, den sie wählt: Osten (45–47).9 Sie arbeitete als Mit-Herausgeberin und Journalistin für die staatlich finanzierte deutschsprachige Deutsche Zentral-Zeitung der Sowjetunion. Sie reiste viel, um Schriftsteller_innen zu treffen und über kulturelle und politische Ereignisse und Entwicklungen zu berichten, wie den Internationalen Schriftstellerkongress zur Verteidigung der Kultur in Paris 1935 und den Spanischen Bürgerkrieg (292–293, 307). Später um 1938 wurde sie Redakteurin der neu gegründeten Exilzeitschrift Das Wort, für die sie nach Paris umzog (301–303). Damals hoffte sie noch, Zeit zu finden, an ihrem eigenen Roman zu arbeiten, aber sie zweifelt auch, was von ihrer Arbeit bleiben und wie sie von anderen gesehen werden wird. Werden andere später behaupten, sie habe ihre journalistischen und redaktionellen Jobs nur sowohl dank Kolzow als auch wegen ihrer beruflichen Freundschaft mit Feuchtwanger und Brecht bekommen. Oder geschah das aufgrund ihrer eigenen Fähigkeiten und des Respekts, mit dem andere Schriftsteller sie behandelten? (306) Rewalds Kampf im Exil ist exemplarisch für den vieler Künstlerinnen: die Schwierigkeit, weiterhin zu schreiben, während das Überleben mit dem Ehemann von ihren Gelegenheitsarbeiten als Sekretärin, Übersetzerin oder Kleinhändlerin abhing (270). Rewalds Zweifel, ob sie eine gute Schriftstellerin sei und was das erfordere, und ihre Bedenken, ob Jugendliteratur ein wichtiger Zweig der Literatur bleibe, werden verstärkt durch ihr Exil in Frankreich und die schwindende Möglichkeit, einen Verleger zu finden und eine (deutsche) Leserschaft zu erreichen.10 Sie fragt sich, wie die männlichen Künstler, die sie kennt – ihren Ehemann eingeschlossen, den sie unterstützt –, ihrem künstlerischen Streben fortgesetzt folgen können, während die Frauen in der Aufrechterhaltung des Familienlebens und im finanziellen Überleben gefangen sind: „Sie fühlte sich zurückgeworfen auf ihre Erfolglosigkeit, auf die Aussichtslosigkeit einer Existenz als Emigrantin“ (273); Exil fühlte sich zunehmend als Sackgasse an (270). Die imaginierten Freundschaften zwischen den Frauen hegen und pflegen sie und halten sie aufrecht. Für Benario ist es ihre Freundschaft mit Sabo, mit der sie ihr illegales Leben versteckt in Brasilien teilt; für Osten ist es durch alle Jahre hindurch ihre schwesterliche Freundschaft mit Margarete Steffin bis zu deren Tod 1941 in Moskau; für Rewald sind es die Gespräche mit Osten und die Unter-
9 Osten war zuvor mit einem Russen verheiratet gewesen, und beim zweiten Mal folgte der Umzug aus ihrer Beziehung mit Michail Kolzow, einem einflussreichen russischen Kommunisten, Journalisten und Politiker, der auch während der stalinistischen ‚Säuberungen‘ getötet wurde. 10 Diese Herausforderung findet ein Echo im Dialog zwischen Steffin und Osten, Cohen 2009, 312–315.
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stützung – auch ihrer Tochter – durch französische Frauen im Exil. Teilweise gewinnen sie Stärke, Selbstvergewisserung und Lachen aus diesen fiktionalen Dialogen, Spaziergängen und Kaffeeunterhaltungen. Alle drei Frauen schließen nicht nur sehr wichtige Freundschaften mit anderen Frauen, sondern haben auch Liebes- und sexuelle Beziehungen (mit Männern und manchmal Frauen), die ihre Leben beeinflussen und kennzeichnen. Osten z. B. gibt ihr neues Leben in Paris für die Rückkehr in die UdSSR auf, nur um über Kolzows Verschwinden etwas herauszufinden. Sie bleibt in Moskau, wird zunehmend isoliert und von früheren Genossen marginalisiert, schließlich selbst verhaftet. In Brasilien schützt die Protagonistin Benario in der Nacht ihrer Gefangennahme Prestes mit ihrem eigenen Leben, wie es ihre politische Verpflichtung durch die Komintern als sein Leibwächter war. Anschließend wird sie inhaftiert und zurück nach Nazideutschland deportiert. Wie Benario entscheidet sich Rewald dazu, ein Kind zu haben, trotz der sehr schwierigen Umstände des Exils in Frankreich. Im Roman werden Osten und Rewald porträtiert, wie sie zwei Liebesbeziehungen zur selben Zeit haben. Beide Geliebte Rewalds akzeptieren ihre Situation und fühlen sich wie Väter für die Tochter, die sie tragischerweise niemals treffen (367–372). Beide Männer, Rewalds Ehemann Hans Schaul und ihr Liebhaber Heiner Rau, sind im Spanischen Bürgerkrieg aktiv, und sowohl Ruth Rewald als auch ihre Tochter Anja werden deportiert, während die Männer später in verschiedenen Ländern inhaftiert werden. In ihrem Umgang mit Beziehungen sind alle drei Frauen inspiriert von und beziehen sich auf Die Liebe der drei Generationen von der russischen Revolutionärin Alexandra Kollontai, die in den späten zwanziger Jahren in Berlin publiziert wurde und von freier Liebe und neuen Formen der Beziehungen zwischen Frauen und Männern handelte (21). Kollontais Ideen antizipieren eine sozialistische Gesellschaft als utopischen Raum, in dem Beziehungen insbesondere für Frauen anders wären, ohne besitzergreifende und eifersüchtige Vorstellungen von Machtkämpfen, weil auch die Gesellschaft revolutioniert und ebenso verändert wäre (21). Hinsichtlich der Geschlechterverhältnisse ist es vor allem Benarios Stimme, die die engstirnigen und „kleinbürgerliche[n] Moralvorstellungen“ (100–101) kritisiert, die auch unter ihren Genossen existierten. Das Porträt der Beziehungen, die die drei Frauenfiguren mit ihren Partnern und Liebhabern haben, bricht die Dichotomie zwischen Geschlechtern auf, und weil sie alle sowohl hochgradig politische als auch künstlerische Individuen sind, bricht die Darstellung auch die konventionelle binäre Opposition zwischen der politischen Sphäre, die den Männern, und der ästhetischen, die den Frauen gehöre (Bernstorff 2012, 10).
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2 Geschlecht und Bewegung Die bedeutsamsten Reflexionen und inneren Offenbarungen stellen sich entweder in der Kommunikation mit Freundinnen oder Liebhabern ein oder – entscheidend –, wenn die Frauenfiguren reisen. In der Unbewegtheit dieses Vergehens von Zeit und Verschwimmens von Grenzen und Orten werden zurückblickende Erinnerungen dargestellt in mentalen Rückblenden, die Zeit und Raum kreuz und quer verbinden – genau wie Bewegung und Denken im Film simultan dargestellt werden können. Und vor dem Leser und der Leserin entfaltet sich die Szene von verschobener Zeit und sichtbarem Ort und bewegt sich in die inneren Gedanken und Wahrnehmungen der Figur: Nach dem Start vom Berliner Flugfeld Tempelhof, die Welt lag noch im Dunkeln, hatte sie eine Weile geschlafen. […] Jenseits von Rechteck, Trapez und Kreis ein makelloser Raum, in dem Zeit und Gegenwart ineinanderflossen. Schläfrig überließ sie sich den Gedanken an ihr zukünftiges und vergangenes Leben in der Stadt Moskau. (Cohen 2009, 32–33)
In ihrer Studie Topographien des Transits betont Ulrike Zitzlsperger (2013, 4), dass „halböffentliche Räume“ wie Bahnhöfe und Cafés (und ich würde ergänzen: Züge und Flugzeuge) in literarischen Werken Indikatoren von (Dis)Kontinuitäten historischer und sozialer Kontexte seien und auf Momente von Krise, Veränderung und Neuheit verweisen. Diese in Literatur beschriebenen halb-öffentlichen Räume können auch exemplarische Räume des Gedenkens und des Erinnerns werden, stilisiert zu „Erinnerungs- und Konfrontationsräume[n]“, in denen das bewusst vermittelte Erfahrungswissen von Generationen wichtiger ist als Erinnerungen: „‚Erinnerung‘ ist […] hier also weniger am Gedächtnis als der bewussten Vermittlung der Erfahrungen von Generationen orientiert“ (9). Diese repräsentativen Räume haben oft einen transitorischen Charakter und besitzen doch die Fähigkeit, einen Komplex von vielen, auch widersprüchlichen, aber für eine Geschichte in ihrer Lokalisierung relevanten Elementen zu bündeln und zugleich ein Gefühl von Routine und Gleichmut in Momenten von Bewegung und Hast zu vermitteln (15–16). Dieses paradoxe Element ist dem Roman thematisch und formal eingeschrieben: thematisch durch die durchgängige Mobilität und das Reisen der Hauptfiguren, formal und ästhetisch durch die Erzählstrategie des Autors. Die meisten Kapitel sind durch irgendeine Art von Reise gerahmt, mit der sie beginnen und auch enden, mit der Ankunft an einem oder dem Verlassen eines Bahnhofs oder Hafens, oder schon an Bord (Cohen 2009, 454–455). Kapitel 23 endet mit Rewalds Ankunft im Zug aus Spanien zurück in Paris, während auf der nächsten Seite Kapitel 24 mit der Abfahrt von Dona Leocádia, Prestes’ Mutter, zusammen mit
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Benarios Tochter aus Berlin beginnt. Metaphorisch hat die Reisebewegung ein Echo in der Onomatopöie des Textes, der das Geräusch der Maschinen von Zügen und Schiffen in einem wiederkehrenden Leitmotiv präsentiert wie dem „tadägg, tadagg, tadägg, tadagg“ (17, 25, 63) für das Geräusch von Zügen in Bewegung. Die äußere Mobilität der Figuren spiegelt und symbolisiert die innere Bewegung ihrer reflexiven Abschweifungen/Irrwege. Diese Momente verstärken zugleich das Gefühl von Veränderung, Neuheit, Unruhe und Vertreibung, das die Protagonistinnen erfahren, während sie reisen. Unbewegt im Zug, Schiff oder Flugzeug zu sitzen gibt ihnen eine Möglichkeit, über ihre Leben zu reflektieren. Im Transit zu sein und Bewegung zu erfahren bezieht sich manchmal eng auf ihr Gefühl, ihr Leben noch unter Kontrolle zu haben, und auf Reisen als einen integralen Teil ihres Gefühls von Freiheit (62, 77, 367).11 Zunehmend aber symbolisiert die andauernde Mobilität im Roman selbst ihre Wahrnehmungen von Brüchen in ihren Leben und Verlust und Trennung, von Verwirrung und Unruhe im Umgang mit den neuen Bedingungen, die sie ertragen müssen: „Aber sie hatte sich auf die lange Eisenbahnfahrt gefreut, auf die endlosen Stunden, in denen alles zerfloss, bis sie sich selbst abhanden kam. Das Nomadische war die Lebensform dieser Zeit, für Menschen […], die Deutschland verlassen hatten oder irgendein anderes Land.“ (296)12 Der Leser und die Leserin werden sofort vom Zeitpunkt und Ort des Reisens in die Zeit und an den Ort der zurückgerufenen Erinnerung versetzt und der Reflexion, die die Rückblenden begleitet. Die physische Bewegung des Reisens in solchen halb-öffentlichen Räumen gibt den Protagonistinnen eine Möglichkeit von paradoxer Ruhe, vergangene Ereignisse und Entwicklungen zu überdenken und eigene Gedanken zu prüfen und, manchmal, mental die Zukunft vorwegzunehmen, wodurch dieser Moment die historischen Erfahrungen vermittelt, auf die sich Zitzlsperger bezieht.
11 Dies gilt besonders für Osten und Benario, aber auch für Rewald, wenn sie nach Spanien reist während des Spanischen Bürgerkriegs. 12 Johannes Evelein (2009, 13–16) diskutiert die Spannung, die aus der Verbindung der Tropen von Exil und Reise entsteht, als auf der einen Seite einer Erfahrung von Bruch und Verlust und auf der anderen Seite als Öffnung von Möglichkeiten und Blick von außen.
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3 Schreiben im Exil und Erzählstrategie des Autors Sowohl der thematisch komplexe und vielschichtige faktische und fiktionale Inhalt als auch die Erzählstrategie von Exil der frechen Frauen reichern einander an durch die verwobenen Wechsel von Zeit und Raum und die Metaphorik von Transit und Vertreibung. Cohen baut verschiedene Formen und Genres in den Roman ein, darunter Archivdokumente, Anekdoten, Reportagen, historische Fakten, Biographien, Zitate aus Briefen und aus anderen Romanen, und manchmal seine Interpretationen und Reflexionen über einen zeitlich verschiedenen Moment oder Fakt (17). Im Kapitel 2 z. B., das Benario fokussiert, enthüllt der Erzähler, indem er sich widersprechende historische Berichte über Einzelheiten ihres Lebens heranzieht und aus ihnen zitiert, die ideologisch gerahmte Politik der Benutzung biographischer Informationen, um selbstbezüglich zu schließen: „Aber ein Roman ist ja nicht verpflichtet, sich an die Fakten zu halten“ (17). Fragen der komplexen Konstruktionen von Geschlechteridentität, Politik und Erinnerung werden kritisch aufgeworfen und erzählerisch kontextualisiert. So wird die Gefahr des Missbrauchs von Identitätspolitik und politischer Erinnerung artikuliert, wenn sie ideologisch ge/missbraucht wird. Die Figur Ruth Rewald reflektiert über ihren eigenen Schreibprozess als eine Form des Experimentierens mit Worten, Gedanken und Komposition (376). In einer der vielen imaginierten Diskussionen zwischen den Schriftsteller_ innen Ernst Ottwalt und Maria Osten über literarische Genres kritisiert Ottwalt sie dafür, auf bestimmten Kategorien zu bestehen, und findet selbst am zwingendsten die Mischung von fiktionalen und dokumentarischen Formen, mit der er in seinem eigenen Werk experimentierte. Am interessantesten ist für ihn die „Grauzone, wo Tatsachen und Phantasie nicht mehr sauber zu trennen sind“ (43). Cohens Roman mischt sehr stark Fakt und Fiktion und macht den Leser und die Leserin seiner dynamischen Identität als ‚fiktionale Dokumentation‘ bewusst oder als Ausdruck einer sich engagierenden ‚Dokumentarliteratur‘. Als Cohen z. B. keine biographische Quellen oder nicht genug Informationen finden konnte, um bestimmte Wochen oder Monate von Rewalds Leben in Spanien während des Bürgerkriegs nachzuschaffen, wählt er als Credo: Über diese Zeit geben die Quellen wenig Auskunft. Sie sind ohnehin voller Lücken, die hier mit Phantasie gefüllt werden, mit sogenannter Tatsachenphantasie. Erzählt wird, wie es aufgrund der Quellen gewesen sein könnte oder müsste, Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten werden abgewogen, die Darstellung bleibt subjektiv, andere sähen es anders. (433)
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Auf der einen Seite scheint sogar noch der fiktionale Teil von Exil der frechen Frauen von der Aufmerksamkeit des Autors durchwirkt, bis zu einem gewissen Grad historische Genauigkeit zu sichern, was getan sein mag, um sowohl den Leben der Protogonist_innen als auch der Schreibmotivation des Autors Authentizität zuschreiben zu lassen. Auf der anderen Seite diskutiert der Autor diese Angelegenheiten in einem in viele Richtungen weisenden selbstreflexiven Stil, wie er heutige historische Romane kennzeichnet (vgl. Schöll und Bohley 2011, 16–17). Robert Cohen wollte über diese drei einzigartigen „frechen Frauen“ schreiben. Doch, wie wir gesehen haben, sind in den Diskussionen zwischen den verschieden Figuren als Freund_innen, Künstler_innen und Schriftsteller_innen Fragen allgegenwärtig, wie angemessen über Tod, Krieg und Holocaust zu schreiben sei.13 Diese Fragen von Sprache, ästhetischem, – auch geschlechtsspezifisch anderem – künstlerischem Ausdruck und entsetzlichen Ereignissen der Vergangenheit werden verbunden mit Geschlechterverhältnissen und Geschichte von Exil im umfassenden Sinn. Sie bestimmen auch die zugrunde liegende Frage, welcher Zugang zu einem solchen Projekt, Jahrzehnte später, mit dem Wissen, dass diese Frauen nicht überlebten, historische Erfahrung und historisches Wissen an jüngere Generationen weitergeben könne. In Cohens eigenem wissenschaftlichem Aufsatz über Anna Seghers’ Ausflug der toten Mädchen (1987) entsprechen mehrere Aspekte seiner Analyse und seines Zugangs zu Seghers’ Novelle formalen und thematischen Aspekten seines eigenen Romans.14 Eine deutliche Referenz ist die Aufgabe, ein freimütiger Zeuge zu sein. Am Ende der Novelle bekommt das junge Mädchen Netty die wichtige Hausaufgabe, einen Aufsatz über den Klassenausflug zu schreiben. Im Exil der frechen Frauen trägt das letzte Kapitel den Titel „Überfahrt“ – eine weitere Referenz auf eine von Seghers’ Erzählungen –, während keins der vorangegangenen 32 Kapitel oder ihrer Unterkapitel einen Titel hat, und die Erzählstimme imaginiert den Transit von Marseille mit dem Schiff nach New York im März 1941, der Anna Seghers, ihre Familie und andere Exilierte rettete. Auf dieser Reise reflektiert Seghers über die Frauen, die sie getroffen hat und die sie zurücklässt in dem vom Krieg erschütterten, faschistischen Europa: „Sie fragt, wie viele junge mutige Frauen in diesem Krieg zu Grunde gehen müssten, ohne ihre Gaben entfalten zu
13 Vgl. z. B. das Gespräch zwischen Osten und ihrem Partner Kolzow, Cohen 2009, 411–416, und ihre Reaktion auf die Frage nach dem Schreiben von Frauen über Krieg, 500. 14 Es gibt viele intertextuelle Referenzen auf Anna Seghers’ Ausflug sowohl hinsichtlich seines Stils, Zeit, Erinnerung und Wahrnehmung/Rückblick zu integrieren, als auch hinsichtlich der kurzen Synopse des Lebens einer Figur oder der Verbindung eines momentanen Ereignisses mit dem Tod der Figur oder einer Umwälzung, die den Verlauf ihres Lebens oder selbst der Geschichte ändert; z. B. Cohen 2009, 9, 14–15.
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können.“ (Cohen 2009, 618) An Bord spricht Seghers mit Claude Lévi-Strauss über Olga Benario und mit Alfred Kantorowicz über Ruth Rewald, denn er hatte sie in Paris und Spanien getroffen und wusste von ihrem aktuellen Schreibprojekt. Sie erinnert ihre Begegnungen in Paris und Madrid mit Maria Osten und hört Victor Serge, dem russischen Dissidenten, zu und seiner Kritik des stalinistischen Terrors. Auf der letzten Seite des Romans erscheint Seghers, in der Figur einer Schriftstellerin, die Verfolgung in verschiedenen Exilländern überlebt hat und gelobt, diese Frauen, Kolleginnen und Aktivistinnen zu erinnern, die von ihr so sehr verschieden sind. Diese Szene entspricht eng dem Schluss der (damals noch nicht geschriebenen) Novelle Ausflug der toten Mädchen, eine Zeugin zu sein und ihre Geschichten wiederzuerzählen: Umrankt von wuchernden Tropengewächsen, den betörenden Geruch der Blüten und faulenden Blätter einsaugend, […] würde sie sich an die jungen Frauen erinnern, die sie gekannt hatte, als sie selbst noch jung gewesen war, und denen nicht genug Zeit geblieben war, um zu sich selber zu kommen. Sie aber hatte überlebt, sie würde weiter Zeugnis ablegen für all die Toten, die in ihrer Erinnerung jung bleiben würden. (621)
Durch Seghers’ imaginierte Stimme erweist der Autor den weiblichen Hauptfiguren und ihrer Sache die Ehre und macht seine Intention und die Wichtigkeit von Erinnerung, Wiedererzählen und Wiedervorstellen sehr deutlich. Im Mittelpunkt des Romans, auf einer anderen „Überfahrt“ im Kapitel 16, die Benario unternehmen muss, als sie nach Deutschland zurück deportiert wird, korrespondieren Sabos Worte sowohl mit der Intention von Seghers’ Novelle als auch mit Cohens letztem Kapitel und Motiv: […] das leere Blatt weist auf etwas Fehlendes hin, auf Wörter, die es nicht gibt, auf eine Qual, für die die Sprache nicht ausreicht. Oder die Geschichte ist ein Bild für den Vorgang des Schreibens oder des Lesens. […] Ich selbst, sagte sie schließlich, glaube, dass die Geschichte all diese Bedeutungen hat. […] Erst jetzt, wo die Überfahrt beinahe zu Ende ist, verstehe ich, dass es nicht darum gehen kann, diese Geschichte immer neu auszulegen. Sie enthält einen Auftrag. Nämlich, unter allen Umständen Zeugnis abzulegen über das, was uns widerfahren ist. Wir brauchen die Erinnerung an unsere Kämpfe. Wer, wenn nicht wir, kann unsere Erfahrungen weitergeben […]? Ich will Zeugin bleiben, auch wenn es niemanden mehr geben wird, der mir mein Zeugnis abverlangt. (262–263)
Exil der frechen Frauen legt Zeugnis ab für die Frauen und gibt ihnen eine Stimme, die zum Schweigen und zu Tode gebracht wurden und die nun ihre unerzählten, traumatischen, von Geschlechterverhältnissen geprägten Geschichten als eine andere Geschichte erzählen können: als eine vielstimmige „Geschichte von unten“ (Harzig 2006, 7), die das Schweigen und das Vergessen aufhebt.
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IV Asymmetrische Verflechtung in der Abgrenzung
Bei dem ersten Treffen der Regierungschefs von Bundesrepublik und DDR in Erfurt legte Willy Brandt am 19. März 1970 einen Kranz in der 1958 eingeweihten Nationalen Mahn- und Gedenkstätte Buchenwald nieder. In seiner Regierungserklärung hatte der neue Bundeskanzler am 28. Oktober 1969 die Bereitschaft zu Verhandlungen erklärt, um „über ein geregeltes Nebeneinander zu einem Miteinander zu kommen“, und betont, dass die beiden Staaten „nicht Ausland füreinander“ seien. [bpk / Hanns Hubmann]
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Der Kalte Krieg der Literatur in Deutschland, 1950 1950 war ein Höhepunkt des Kalten Krieges, unter anderem wegen des KoreaKrieges, der Mitte des Jahres anfing und die USA in unmittelbare Konfrontation mit Nordkorea und mittelbare Konfrontation mit China und der Sowjetunion brachte. Kein Wunder, dass auch Deutschland, wie Korea ein geteiltes Land, von diesem Konflikt berührt wurde. „Korea ist gespalten – wie Deutschland“, fing eine diesbezügliche Erläuterung in der Zeitung Neues Deutschland am 27. Juni an. Hier wurde der Korea-Krieg als ein „Probefall für den geplanten amerikanischen Angriff auf die Deutsche Demokratische Republik“ bezeichnet. Auch in westdeutschen Zeitungen wurde berichtet, dass der Korea-Krieg besonders für das geteilte Deutschland Bedeutung habe.1 Dieser Höhepunkt des Kalten Krieges in Deutschland zeigte sich nicht nur auf der rein politischen Ebene, sondern auch in der deutschen Literatur und Literaturkritik in Ost und West. Am 5. Juli 1950 hielt Arnold Zweig eine Rede auf dem in Berlin stattfindenden Deutschen Schriftstellerkongress und merkte an: „Es tut uns furchtbar weh, daß in dem Augenblick, da wir hier sprechen und tagen, in Korea wieder Bomber über Städte fliegen und Menschen umbringen und daß sich amerikanische Piloten finden, die ihre Maschinengewehre auf flüchtende Massen von Zivilisten richten.“ („Aus der Friedensrede“ 1950) Das Wort „wieder“ in Zweigs Rede ist signifikant, denn vorher waren natürlich amerikanische Piloten über Deutschland selbst geflogen, und mit den flüchtenden Zivilisten waren wohl nicht nur Koreaner, sondern auch Deutsche gemeint. Der wiederentfachte Krieg, der Erinnerungen an den jüngst vergangenen Zweiten Weltkrieg und an zerstörte deutsche Städte nicht nur in der DDR wachrief, erlege Schriftstellern eine besondere Verantwortung für den Frieden auf, behauptete Zweig.
1 Vgl. auch Jack Raymond. „Germans Warned on Russian Move“. New York Times, 28. Juni 1950, 9. http://doi.org.de/10.1515/9783050093932-016
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1 Politische Entscheidung im ‚Literaturkampf‘: Krieg und Frieden in der Literatur Bezeichnend für den Kampf unter Literaturkritikern war es, dass sowohl die DDRLiteraturkritik als auch Stimmen des literarischen Westens zu Martin Luther und zum Neuen Testament griffen, um allen Zweiflern oder noch nicht Kampfbereiten die Notwendigkeit einer klaren Richtungsentscheidung zwischen Ost und West nahezulegen. Weder im Westen noch im Osten war ein unentschiedenes literaturkritisches Lavieren zwischen Ost und West gewollt. Hatte Thomas Mann noch im Juli 1949, kurz nach der Gründung der Bundesrepublik Deutschland und kurz vor der Gründung der Deutschen Demokratischen Republik, in seiner Weimarer „Ansprache im Goethejahr“ verkündet, dass die „Einheit Deutschlands“ durch „unabhängige Schriftsteller“ gewährleistet und dargestellt werde, deren „wahre Heimat […] die freie, von Besatzungen unberührte deutsche Sprache“ sei (1960, 488), und war Manns Rede damals wenigstens in der Sowjetzone positiv aufgenommen worden, so war des Schriftstellers Grundidee über die politische Unabhängigkeit von Schriftstellern ein Jahr später wenigstens von den kulturpolitischen Behörden auch in der DDR unerwünscht. In einem Artikel in der ostdeutschen Zeitschrift Die Weltbühne über den soeben in der DDR beendeten Schriftstellerkongress schrieb der DDR-Literaturkritiker Günther Cwojdrak im Juli 1950, der Kongress sei lobenswert frei gewesen von vagen literaturpolitischen Zwischenpositionen: Es wurde an Maxim Gorki erinnert, der einmal sagte, daß die beste Waffe des Schriftstellers sein Wort sei, das eingreifen muß, aufdecken, begeistern und mit Zuversicht erfüllen. Und es gab keinen, der versuchte, sich zwischen den Fronten herumzudrücken, sich in einem illusorischen Niemandsland einzugraben. In der Frage Krieg oder Frieden gab es nur ja, ja und nein, nein; die Antwort war deutlich und einstimmig. (1950d, 862)
So Cwojdraks Bericht über die Einstimmigkeit unter ostdeutschen Schriftstellern auf dem Deutschen Schriftstellerkongress in Bezug auf literaturpolitische Stellungnahmen. Im Westen war es nicht viel anders, nur mit umgekehrtem Vorzeichen, und zwar kam es auch in Westberlin Mitte des Jahres zu einem großen Treffen von literarischen Intellektuellen: zum sogenannten Kongress für Kulturelle Freiheit, der eine Woche vor dem Ostberliner Schriftstellerkongress Ende Juni stattfand, unter der Teilnahme von namhaften, vor allem antikommunistischen Intellektuellen aus der ganzen westlichen Welt. Zur gleichen Zeit rollten die Truppen und Panzer beider Seiten in Korea weiter, zunächst in eine von den USA unerwünschte Richtung. Die südkoreanische Hauptstadt Seoul wurde von den Nordkoreanern ein-
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genommen, als der Kongress für Kulturelle Freiheit anfing, während zur gleichen Zeit der US-General Douglas MacArthur nach Südkorea einflog, um die Situation für die USA und für die südkoreanische Regierung zu retten. Auf dem Kongress für Kulturelle Freiheit sprach sich der aus Deutschland emigrierte Arthur Koestler genauso wie Günther Cwojdrak in der DDR gegen eine dialektische Synthese oder Unentschiedenheit zwischen westlicher These und östlicher Antithese aus, und zwar mit der gleichen biblischen Rhetorik: „In einer unmittelbaren Krise, wenn das Schicksal an des Daseins Pforte klopft“, behauptete Koestler, „müssen wir uns nach der Maxime des Matthäus-Evangeliums richten, dann gibt es nur ein Ja oder ein Nein. Solche Krisen kann das bedrohte Individuum, die Gruppe oder die Zivilisation nur überleben, wenn sie mit der zauderfreien Sicherheit eines biologischen Reflexes reagiert.“ (1950, 356) Jede Hegel’sche oder Thomas Mann’sche Dialektik war hier unerwünscht. Wie Alexander Abusch am 4. Juli 1950 anlässlich des Ostberliner Schriftstellerkongresses ganz richtig bemerkte: „Auch die Literatur wird zu einem Kampfabschnitt im tagtäglichen Wettbewerb zwischen Sozialismus und Kapitalismus in der Welt.“ (1950b, 3) Weder im Osten noch im Westen äußerte man – wenigstens auf diesen prominenten Treffen – den Wunsch nach gänzlicher literarischer Freiheit, sondern auf beiden Seiten sollte die Literatur eingespannt werden im ideologischen Kampf des Kalten Krieges. Und zwar wurde die Vereinnahmung der Literatur durch den ideologischen Streit als zwingendes, naheliegendes Ergebnis aus der schrecklichen deutschen Vergangenheit erklärt, im Osten noch mehr als im Westen. In beiden Lagern funktionierte die Schlussfolgerung nach gleichem Muster, und zwar habe die eigene Seite die richtigen Konsequenzen aus den Erfahrungen des Nationalsozialismus und des Krieges gezogen, während die andere Seite die falschen Konsequenzen gezogen habe und deswegen die Bedrohung eines weiter wuchernden, verabscheuungswürdigen Nationalsozialismus darstelle. So wurde auch die Erinnerung an den Nazismus in den ideologischen Literaturkampf einbezogen. Wie das in der DDR funktionierte, illustriert trefflich ein Artikel des damals noch recht jungen DDR-Schriftstellers und Kritikers Stephan Hermlin in einer der September-Ausgaben der Zeitschrift Die Weltbühne. Hermlin griff in diesem als „Offener Brief an einen westdeutschen Schriftsteller“ betitelten Artikel den einflussreichen westdeutschen Literaturkritiker Hans Egon Holthusen an, der soeben in der in München erscheinenden Neuen Zeitung eine von Hermlin herausgegebene Anthologie von Schriften des sowjetischen Autors Wladimir Majakowski verrissen hatte. Hermlin warf dem westdeutschen Kritiker vor, Holthusen übersehe die deutliche Antikriegsbotschaft in Majakowskis Gedichten und stellte erzürnt fest: „in Ihrem Artikel erscheint der Begriff des Krieges überhaupt nicht“ (1950, 1130). Hermlin erinnerte seine Leser und auch Holthusen selbst daran, dass der Literaturkritiker Holthusen einmal mit den deutschen Angreifern vor Stalingrad gegen die Sow-
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jetunion gekämpft habe. Als wäre das nicht schon schlimm genug, behauptete Hermlin, kämpfe Holthusen nunmehr in der Literaturkritik auch weiterhin gegen die Sowjetunion, indem er Majakowskis Friedensbotschaft geflissentlich übersehe und angebliche Lügen über Majakowskis Selbstmord als Resultat von dessen angeblicher Unzufriedenheit mit der Stalin-Diktatur in Umlauf setze.2 Fazit, nach Hermlin an die Adresse Holthusens: „Ihre Sätze sind ein kleines, ein ganz kleines Stück Krieg. Krieg ist es, wenn man die Botschaft des Friedens verschweigt[…]. Krieg ist es auch, wenn ein ehemaliger Wehrmachtssoldat von Stalingrad vom bolschewistischen Alpdruck spricht.“ (1131) Schließlich behauptete Hermlin, dass Holthusens antisowjetische Rezension im Grunde genommen nichts anderes als ein neues, auf literaturpolitischem Gebiet und allzu bald vielleicht auch in der militärischen Wirklichkeit auszufechtendes Stalingrad darstelle: „Aber fragen Sie sich selbst, ob sich das alles gelohnt hat, das Grauen von Stalingrad, die lange böse Flucht nach Deutschland und alle guten Vorsätze, wenn man einen literarischen Aufsatz heute nur um den Preis eines Aufrufs zu einem neuen Stalingrad schreiben kann – wobei übrigens dieses Stalingrad irgendwo zwischen München und Köln liegen würde. Hat sich diese Karriere gelohnt?“ (1132) Literatur, behauptete Hermlin, sei Frieden, während Krieg der Gegensatz von Literatur sei. Und da die Sowjetunion und mit ihr die DDR den Frieden unterstützten, während die USA und mit ihnen die Bundesrepublik Deutschland den Krieg unterstützten, liege die Schlussfolgerung nahe: Wer die Sowjetunion auch literarisch unterstützt, schreibt wahrhafte Literatur, wer aber die USA literarisch unterstützt, schreibt das Gegenteil von wahrhafter Literatur. Natürlich war Hermlins Stalingrad-Argumentation auch paradox: Einerseits warf er Holthusen vor, dieser kämpfe auf literaturpolitischem Gebiet den verlorenen Stalingradkampf weiter; aber andererseits war es Hermlin selbst, und nicht Holthusen, der den Stalingradvergleich hervorgeholt und so die Literaturkritik mit der verhängnisvollen Schlacht gleichgesetzt hatte. Und auf wessen Seite sich Hermlin in einer literarischen Stalingradschlacht gestellt fühlte, war klar genug: auf die Seite der Sowjetunion. Dass es einen gültigen literarischen bzw. literaturkritischen Standpunkt geben könnte, der weder von der Sowjetunion noch von den USA vereinnahmt werden möchte, zog Hermlin wenigstens im Rahmen dieses Angriffs auf Holthusen nicht in Betracht. Der Aufruf an deutsche Schriftsteller, sich als Vorhut einer riesigen Friedensbewegung zu engagieren, wurde denn auch explizit gemacht in dem einstimmig beschlossenen „Appell des Deutschen Schriftstellerkongresses an alle deutschen
2 Wohlgemerkt hatte Holthusen hier Recht, wenigstens was Majakowskis Probleme mit Stalin anbelangte, aber das ist weniger wichtig in diesem Kontext als die Struktur von Hermlins Argumentation.
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Dichter und Publizisten“, der von Stephan Hermlin selbst vor der Versammlung öffentlich vorgetragen wurde. In diesem Appell wurde darauf hingewiesen, dass „[a]uf uns deutschen Schriftstellern […] eine besondere Verantwortung dafür [lastet], daß unser Volk nach den bitteren Erfahrungen und Leiden der Vergangenheit den einzig möglichen Weg des Friedens findet“ („Werdet zum Gewissen“ 1950). Auch westdeutschen Schriftstellern wurde in diesem Appell nahegelegt, der Friede sei „eure einzige Lebens- und Schaffensmöglichkeit“, die „von euch durch die hohe Kunst eures Wortes verteidigt werden“ müsse, und zwar auch „gegen die aus Amerika importierte Literatur des Nihilismus, der pessimistischen Verneinung menschlicher Würde und Werte“. Deutsche Schriftsteller überall im geteilten Vaterland sollten „zu geistigen Führern der großen Friedensbewegung“ werden, ja „zum Gewissen unserer Nation.“ Dass die Friedensrhetorik nicht immer ganz ungezwungen und aus freien Stücken kam, wurde ab und zu klar, z. B. als Johannes R. Becher in seiner Schlussansprache auf dem Schriftstellerkongress Stalin selbst in aller zu wünschenden Deutlichkeit als den Urheber dieser Rhetorik bezeichnete: „Es lebe die gleiche Sprache des Friedens, es lebe er, der, wenn wir diese wortgewaltige Sprache des Friedens reden, uns allen so nahe ist, es lebe der Meister, der geniale Autor dieser 800-Millionen-Sprache des Friedens: Stalin!“ („Edelste Aufgabe“ 1950) Hätten westliche Kritiker hier aufgepasst, hätten sie einen rhetorischen Beleg für die immer wieder von Antikommunisten gemachte Behauptung gehabt, der Frieden sei in dieser Rhetorik gleichbedeutend mit dem Sozialismus stalinistischer Prägung, die ‚Friedensbewegung‘ sei also im Grunde genommen nur eine Stalinbewegung. Die Rhetorik des Friedens war in der Tat mehr im Osten als im Westen beliebt, denn im Westen sprach man mehr von einem Kampf um die Freiheit, im Osten dagegen von einem Kampf um den Frieden. Beiderseits des Eisernen Vorhangs ging es aber um Kampf, ob nun des Friedens oder der Freiheit wegen, und auf beiden Seiten wurden Erinnerungen aus dem nicht weit zurückliegenden Zweiten Weltkrieg wachgerufen.
2 Nach dem deutschen Sonderweg: Orientierungen an ‚Abendland‘ und Sowjetunion Als Antwort auf die östliche Rhetorik des Friedens witzelte Sidney Hook, Philosophieprofessor an der New York University, am 26. Juni, dem Eröffnungstag des Kongresses für Kulturelle Freiheit in Westberlin: „I suppose they will explain
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the advance into Southern Korea as an attempt to bring about peace.“ („Cultural Parley“ 1950, 19) Die westliche Variante des Bezugs auf die nazistische Vergangenheit verwies nicht auf den Krieg, sondern auf den Totalitarismus, und zwar wurden sowohl die Nazi-Diktatur als auch die Sowjet-Diktatur und die SED-Diktatur als totalitäre Staaten angesehen, in denen die kulturelle Freiheit von Schriftstellern, Wissenschaftlern und Künstlern bedroht würde. Gegen diese Bedrohung gelte es einen deutlichen Standpunkt für die Freiheit und gegen den Totalitarismus einzunehmen. Auf dem Kongress für Kulturelle Freiheit begrüßte der Heidelberger Soziologe Alfred Weber, dessen Gedanken gerade im Nachkriegs-Westdeutschland großen Einfluss hatten, seine Zuhörer mit einer kulturgeschichtlichen Erklärung für Deutschlands Gang in die Hitler-Diktatur, die die mangelnde Freiheitsliebe deutscher Intellektueller anprangerte. Während der Westen und die Aufklärung die politische Freiheit mit der künstlerischen Freiheit stets zu verbinden gewusst hätten, seien deutsche Intellektuelle vor allem im verhängnisvollen neunzehnten Jahrhundert einen Sonderweg gegangen, der zur Trennung der Sphären der Politik einerseits und der Kultur andererseits geführt habe. Weber verkündete, die Hauptaufgabe der deutschen Intellektuellen in der Nachkriegszeit sei es, die Deutschen wieder zur Aufklärung und zum Westen zurückzuführen. War das achtzehnte Jahrhundert „ein Jahrhundert der Ganzheit und des Bewußtseins der selbstverständlichen geistigen Einheit zwischen dem Westen und Deutschland, ohne irgendeinen Gedanken an eine besondere deutsche Mentalität“, so habe das durch die Romantik so tief geprägte neunzehnte Jahrhundert leider die Idee der deutschen Besonderheit entwickelt, die schließlich in der geschichtlichen Katastrophe der Hitler-Diktatur kulminiert sei (1949–1950, 353). Nun müsse der verhängnisvoll antiwestliche deutsche Sonderweg aufhören, und Deutschland solle wieder gemeinsame Sache machen mit dem Westen, und zwar mit dem Westen vor allem als politisch-philosophischer Kategorie – aber natürlich schwang auch die Idee des Westens als politischen Gegners des Ostens, sprich der Sowjetunion, kräftig mit. Anderswo behauptete Weber, dass Deutschland als Europas ‚größtes östliches Grenzland‘ die Aufgabe habe, ein Bollwerk zu sein gegen das Aufkommen des sogenannten „Vierten Menschen“ (vgl. 352), also des reinen Funktionärs ohne Moral. In einer im März 1950 erschienenen Besprechung von Webers kultursoziologischen Ideen hatte Herbert von Borch in der westdeutschen Zeitschrift Merkur geschrieben, der Webersche „vierte Mensch“, der „nichts Abendländisches mehr an sich“ habe, sei zum Teil schon im Kommunismus zur Wirklichkeit geworden und drohe nun leider auch im Westen (1950, 271). Einen im Grunde ähnlichen Gedankengang entwickelte Ernst Robert Curtius in seinem 1948 erschienenen Werk Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, das auch noch im Jahre 1950 große Beachtung fand. Curtius’ Ziel in diesem Buch war es gewesen, die Einheit der europäischen – sprich westlichen – litera-
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rischen Tradition aufzuzeigen. Im Jahre 1950 wurde Curtius’ Buch von Christopher Dawson in der Zeitschrift Merkur besprochen, dessen Untertitel (Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken) im Grunde genommen schon Programm war. Laut Dawson werde die deutsche und europäische Nachkriegssituation von „einer Wandlung des Zeitgeistes“ weg vom diskontinuierlichen und hin zum kontinuierlichen Denken gekennzeichnet – „ein Zeichen dafür“, so Dawson, „daß die zentrifugale Bewegung des modernen Nationalismus an Kraft verliert, und daß die Strömung nun umgekehrt wieder nach Einheit geht“ (1950, 106). Auch Dawson sah die literarische Interpretation der europäischen Kulturtradition als hoch wichtig für die Gesellschaft selbst, denn, so seine Behauptung‚ die Katastrophen der letzten fünfzig Jahre, die die Kultur des Westens mit Zerstörung bedrohen, sind eine Folge davon, daß die Nationen sich gegen Europa aufgelehnt haben; diese Revolte aber war das Ergebnis der geistigen und seelischen Abkehr von der europäischen Tradition, einer Abkehr, die für die Kultur des 19. Jahrhunderts so überaus charakteristisch ist. (110)
Also kam das neunzehnte Jahrhundert auch hier nicht besonders gut weg. Nach Dawsons und auch Curtius’ Ansicht sei die richtige literaturkritische und kulturgeschichtliche Betrachtung Europas unerlässlich, und zwar aus ganz konkreten politisch-gesellschaftlichen Gründen, „denn letzten Endes hängt das Weiterleben der europäischen Kultur davon ab, in welchem Maße wir den Sinn für das Ganze bewahren – jenes Einssein mit der lebendigen Vergangenheit, die das einende Band innerhalb jeder Kultur ist“. Sollte diese Einheit verloren gehen und die Kontinuität des Abendlandes „abbrechen“, so würde die heraufkommende „neue Weltzivilisation geistig und seelisch derart verarmen, daß sie von Barbarentum kaum noch zu unterscheiden wäre“ (110). Schließlich habe „die gegenwärtige Generation […] zur Genüge erfahren, wie stark die Kräfte der Barbarei in Europa selber sind und wie labil das Gleichgewicht ist, auf dem unsere Kultur beruht.“ (110–111) Diese Argumentation erinnert an Walter Jens’ 1950 erschienenes Buch Nein. Die Welt der Angeklagten, in dem ein letzter lebender Schriftsteller die ganze noch verbliebene europäische Kulturtradition darstellt. Nach der Hinrichtung dieses einen Schriftstellers wird die Welt verarmt und ohne denkende Menschen – also homo sapiens – zurückgelassen. Am Ende von Jens’ Roman erfährt der Leser: „Sonne und Mond blickten auf einen nicht sehr großen Planeten. Gestalten lebten auf ihm. Früher nannte man sie: die Menschen.“ (1968, 295) Das Ende des abendländisch-europäischen Schriftstellers schien also gleichbedeutend mit dem Ende der Menschheit. Der Gebrauch des Begriffes ‚Abendland‘ hatte es in sich, denn der Begriff war gut geeignet, Deutschland sowohl als geistigen als auch als politisch-militärischen Teil des Westens in Anspruch zu nehmen und gegen ein der abendlän-
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dischen Freiheitsliebe entgegengesetztes Morgenland bzw. Osten bzw. Asien auszuspielen (vgl. Brockmann 2002). So antworteten prompt kritische Stimmen in der DDR und anderswo, wann immer die Rede im Westen auf das ‚Abendland‘ bzw. auf ‚abendländische‘ Ideen kam. Der in Wien lebende Bruno Frei etwa beschrieb in der Zeitschrift Die Weltbühne das sogenannte Abendland so: Mit dem Schuman-Trust als materielle Basis und mit dem Segen des Papstes kann das neue Abendland zu seiner historischen Rolle antreten: strategisches Vorfeld der amerikanischen Aggression gegen den Osten zu sein. Die Fronten sind klar: der amerikanische Stahltrust mit der Fahne des mittelalterlichen Gottesstaates – gegen die erste Verwirklichung des irdischen Reiches der Gerechtigkeit. (1950, 1214)
Mit dem ‚irdischen Reich der Gerechtigkeit‘ war wohl die Sowjetunion unter Stalin gemeint. Freis Kritik zeigt, dass beide Seiten bemüht waren, auch ganz alte geschichtliche Kategorien für sich in Anspruch zu nehmen – hier das ‚Abendland‘, dort ein ‚irdisches Reich der Gerechtigkeit‘. Nichtsdestoweniger behielt Frei auch im Großen und Ganzen Recht in seiner Analyse des Abendland-Begriffs. Der ‚Abendland‘-Stachel konnte denn auch umgedreht werden, z. B. als Alexander Abusch nach dem Ende des Kongresses für Kulturelle Freiheit in Westberlin die Verteidigung der wahrhaften Werte der europäischen Zivilisation ausgerechnet für die Sowjetunion in Anspruch nahm, und zwar wiederum mit dem schlagenden Stalingrad-Beleg: „Wie könnten auch wir je vergessen, daß die Kultur und Zivilisation Europas vor der Vernichtung durch die nazistischen Gewalthaber von Auschwitz, Maidanek, Buchenwald und Dachau gerettet wurde dank des unvergleichlich heroischen Kampfes der Roten Armee.“ (1950a, 4) In der Logik von Abusch war es gerade nicht die Sowjetunion, die die europäische Zivilisation bedrohte, sondern vielmehr der deutsche Nazismus.
3 Sozialistischer Realismus, Engagement für die westliche Freiheit oder autonome Kunst? Aufgaben der Literatur nach der Katastrophe des Weltkriegs In seinem eigenen Beitrag auf dem Kongress für Kulturelle Freiheit nannte der deutsche Emigrant Peter de Mendelssohn den Totalitarismus „die Versuchung des Intellektuellen“ schlechthin. Besonders in einer wirren, komplizierten Welt, in der Menschen den geistigen Zusammenhang verloren zu haben schienen, glaubte Mendelssohn, dass der Totalitarismus einen Ausweg und eine Erklärung für die-
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jenigen anbiete, die versuchten, „das Zusammenhängende und Vollständige zu schaffen“ – und das seien ja vor allem die Intellektuellen. So komme es, behauptete Mendelssohn, dass sich gerade „die Klügsten und Raffiniertesten plötzlich magisch hingezogen [fühlen] zu den Stumpfesten und den Dümmsten, und die klarsten Köpfe sind plötzlich gezwungen, die haarsträubendsten Absurditäten zu äußern. Das geschieht immer wieder.“ (1949–1950, 385) Im Westen wie im Osten also wurde der Kalte Krieg, auch auf literaturkritischem Gebiet, als Fortsetzung des heißen Krieges gegen die Nazi-Diktatur mit anderen Mitteln angesehen. Im Westen galt die Sowjetunion als die neue Variante einer Nazi-ähnlichen Diktatur – nach dem Muster des Totalitarismus und mit der Hilfe des Abendland-Begriffes –, während im Osten die USA als die neue Variante einer kriegslüsternen, von Kapitalisten geleiteten Nazi-Bedrohung angesehen wurden – und zwar auch mit Hilfe eines eigenen Kulturbegriffs, in dem die Sowjetunion und die DDR in der Rolle der wahrhaften Hüter der europäischen Kultur firmierten. In einem Weltbühne-Artikel vom Juli 1950 bezeichnete Bernhard Kempner westliche Politiker wie Dean Acheson oder Winston Churchill ausdrücklich als „Hitlers Nachfolger“ (1950, 880). Überall gestaltete sich der Kalte Krieg als ein sich im ideellen Raum fortsetzendes Nachspiel zum Zweiten Weltkrieg, das Bertolt Brecht in seinem Arbeitsjournal 1948 sehr zutreffend als „katalaunische Geisterschlacht“ bezeichnet hatte (1995, 286; vgl. dazu Brockmann 2015b). Trotz ähnlicher Argumentationsmuster in Bezug auf literaturpolitische Stellungnahmen aber wurde die Kultur selbst, und mit ihr die Literatur im Osten und Westen ganz anders gesehen. In der DDR galt der sozialistische Realismus als die anzustrebende literarische Methode und die Literatur wurde als Teil des gesellschaftlichen Ganzen angesehen. Das hieß, dass eine gänzliche Freiheit der Literatur als unmöglich und auch nicht wünschenswert angesehen wurde. Lenin wurde lobend zitiert: „Die Freiheit des bürgerlichen Schriftstellers, des Künstlers, der Schauspielerin ist nur die maskierte (oder sich heuchlerisch maskierende) Abhängigkeit vom Geldsack, von der Bestechung, vom Ausgehaltenwerden.“ (Cwojdrak 1950c, 478) Günther Cwojdrak zitierte die offizielle sowjetische Definition des sozialistischen Realismus: Der sozialistische Realismus ist die grundlegende Methode der sowjetischen schönen Literatur und Literaturkritik. Er verlangt vom Künstler eine lebenswahre und historisch konkrete Darstellung der Wirklichkeit in ihrer revolutionären Entwicklung. Dabei muß die lebenswahre und historisch konkrete künstlerische Darstellung der Wirklichkeit der Aufgabe angepaßt sein, die Werktätigen ideologisch umzuformen und im Geiste des Sozialismus zu erziehen. (480)
Das wiederum hieß, Literatur müsse zwar einerseits realistisch sein, aber sie müsse andererseits auch parteilich sein, also Partei ergreifen für den Sozialismus.
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Welches deutschsprachige Gegenwartswerk erfüllte für Die Weltbühne diese kritische Herausforderung am besten? Vor allem Anna Seghers’ 1949 erschienener Roman Die Toten bleiben jung, der, nach dem Literaturkritiker Cwojdrak (1950a, 282), „ein Gesamtbild“ der deutschen geschichtlichen Entwicklung im zwanzigsten Jahrhundert darbiete. Darüber hinaus schlage „[d]as Herz der Anna Seghers […] unüberhörbar für die Arbeiterklasse und ihren Befreiungskampf“; in diesem Sinne, und zwar „im Sinne Lenins“, merkte Cwojdrak an, sei Anna Seghers „durchaus parteiisch“ (282). Im Roman Die Toten bleiben jung, behauptete Cwojdrak, stelle Seghers „die Wirklichkeit realistisch dar[…] aus der Erkenntnis, daß das historische Recht, die Wahrheit und der Fortschritt in der Sache der Werktätigen verkörpert sind“ (282). Karl Grünbergs neues Theaterstück Golden fließt der Stahl wurde in der gleichen Zeitschrift als vorbildliche Darstellung des Produktionskampfes innerhalb einer Stahlfabrik gelobt; Peter Edel erklärte, dass das Stück „ein tatkräftiges Beispiel“ sozialistisch-realistischen Theaterschaffens sei, „das um seiner erzieherischen Wirkung willen nicht hoch genug angeschlagen werden kann“ (1950, 1431). Stephan Hermlins soeben veröffentlichte Novelle über den jüdischen Widerstand im Warschauer Ghetto, Die Zeit der Gemeinsamkeit, wurde als lobenswertes Beispiel für eine allzu seltene Auseinandersetzung mit der jüngsten deutschen Vergangenheit unter jüngeren Autoren besprochen. Richard Drews behauptete sogar, dass Hermlins Novellen „denen als Vorbild dienen könnten, die noch auf der Suche sind und in unsicher tastenden Versuchen sich erst langsam an unsere Zeit herantasten“ (1950b, 482). Dies sei besonders willkommen, da Anna Seghers und andere 1950 die fehlende Bereitschaft junger DDR-Autoren bemängelt hatten, sich mit der jüngsten deutschen Vergangenheit – geschweige denn mit der deutschen Gegenwart – auseinanderzusetzen (vgl. Drews 1950a, 251). Auf dem Berliner Schriftstellerkongress war der allgemeine Mangel an Büchern über die Gegenwart und die jüngste Vergangenheit besonders scharf von Bodo Uhse zum Gegenstand der Kritik gemacht worden. Uhse beklagte sich, dass „die Bücher“, in denen das eigene reale Leben der Gegenwart und die „Wiederbesinnung nach dem Zusammenbruch“ widergespiegelt und gestaltet würden, leider noch „nicht geschrieben worden“ seien: „Und sie fehlen uns.“ („Die Bücher“ 1950, 3) So schwer könne es nicht sein, das Ringen um den Aufbau eines neuen Deutschlands nach der Katastrophe des Nationalsozialismus darzustellen, behauptete Uhse, sei es doch selbst während der finstersten Zeit der Nazidiktatur Schriftstellern wie Anna Seghers gelungen, Werke wie Das siebte Kreuz zu schreiben. War das Schreiben damals etwa leichter? Und war es in jenen oft bedrückend schweren Tagen möglich, ja in einem tieferen als dem landläufigen Sinne des Wortes selbstverständlich, der Überzeugung von der Widerstandskraft, vom kommenden Sieg der Arbeiterklasse in Deutschland Gestalt zu geben, warum sollte es heute unter doch wohl günstigeren Umständen nicht denkbar sein? (3)
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Uhse, der auf dem Schriftstellerkongress zum Ersten Vorsitzenden des Vorstandes des neu gegründeten Deutschen Schriftstellerverbandes gewählt wurde, rief seine Kollegen dazu auf, sich „mit unserer Gegenwart, mit der von uns geschaffenen Wirklichkeit, mit unseren Problemen und unseren Menschen zu beschäftigen.“ (3) Aber beileibe nicht jedes Buch, das sich mit der jüngsten Vergangenheit auseinandersetzte, wurde in der neu gegründeten DDR gelobt. Verurteilt wurde z. B. Norman Mailers Kriegsroman Die Nackten und die Toten, da das Buch sich „[n]urmit dem Aufzeigen des Negativen“ beschäftige und da es die „progressiven Kräfte“, die den Faschismus in der geschichtlichen Wirklichkeit geschlagen hätten, nicht zeige (Loewy 1950, 1089).3 Während Mailers Roman Die Nackten und die Toten angeblich „dem reaktionären Lager ein Beweis [
sei] für die unüberwindliche Stärke des amerikanischen Systems“, zeige er dem progressiven Kritiker, „wie wichtig es ist, sich vor objektivistischen Abirrungen zu hüten und stattdessen den Weg eines großen, die ganze Wirklichkeit umspannenden Realismus zu beschreiten“ (1090). Alexander Abusch (1950b, 3) wetterte gegen eine ganz bestimmte literarische Richtung, die er als eine Gefährdung der geistigen Unabhängigkeit Deutschlands anprangerte: „Die Invasion der amerikanisch gelenkten Literatur in Westdeutschland […] bringt uns Werke des bürgerlichen Niedergangs, eine Literatur der ‚hoffnungslosen Geschlechter‘ und der Atomisierung aller positiven menschlichen Werte“, eine Atomisierung, die Abusch dann auch naheliegenderweise mit einer „Atomliteratur“ und der „Verherrlichung der Atombombe“ in Verbindung brachte, die am besten vom Renegaten Arthur Koestler dargestellt werde, dessen „Kosmopolitismus nur noch ein völlig zerschlissenes und zerfetztes Feigenblatt für die Geisteshaltung des Brandstifters“ sei. Die eigentliche deutsche Literatur werde „nicht die Literatur eines heimatlosen Kosmopolitismus werden, die sich die amerikanischen Kolonialherren wünschen, um unsere nationale Kultur und Literatur widerstandsunfähig zu machen“, sondern sie werde tief in den fortschrittlichsten Traditionen des deutschen Humanismus wurzeln und eine selbstverständliche Verbindung mit den vorwärtsweisenden Tendenzen der vorbildlichen Sowjetliteratur eingehen (3). Wie ein Schriftsteller vorzugehen habe, um die Regeln des sozialistischen Realismus einzuhalten, wurde wohl gänzlich ohne hintergründige Ironie in einem Gedicht von Karl Schnog anlässlich des 60. Geburtstags des kranken Erich Weinert am 4. August 1950 gezeigt:
3 Als Ort von Loewys Wirken wird Tel Aviv angegeben. Jedoch dürften die Ablehnung von Mailers Buch und deren Begründungen für die Literaturkritik in der DDR typisch sein.
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Hier ist ein Mann aus einem Guß. Hier ist der Schaffenden Poet. Kein Säuseler mit Musenkuß‚ Kein Lyriker verkitscht-diskret. Ihm ist Gedicht nicht Spiel noch Sport‚ Ihm ist es Waffe, Fahne, Pflug. Wort ward ihm Schwert und Schwert ward Wort. Und nie war es ihm scharf genug. (1950, 958)
Aber nicht nur lebendige Schriftsteller wurden gelobt oder getadelt. Auch die Toten kamen in Betracht. Am 12. März starb Heinrich Mann in Santa Monica, der vorher den Wunsch geäußert hatte, in die DDR zu ziehen, um dort die Präsidentschaft der neu gegründeten Deutschen Akademie der Künste zu übernehmen. Heinrich Manns Tod wurde in der DDR mit Trauer zur Kenntnis genommen, und Mann wurde als konsequenter Verfechter eines zeitnahen, kritischen Realismus gelobt. Mann habe, behauptete Cwojdrak (1950b, 332), seinen „kritischen deutschen Gesellschaftsroman“ Der Untertan „an den Anfang des neuen Jahrhunderts“ gestellt, und dieser Roman sei keine literarische oder historische Fußnote, sondern zeige sehr deutlich die Mentalität und das Gesellschaftssystem, die schließlich zur Entstehung des deutschen Faschismus und demzufolge auch zum Zweiten Weltkrieg geführt hätten. Die Hauptfigur des Romans Der Untertan, Diederich Heßling, wurde von Cwojdrak als Vorstufe für die Kommandanten der Nazi-Konzentrationslager bezeichnet: „kaum ein Menschenalter später war aus Diederich Hessling ein Rudolf Hoess geworden, die faschistische Prägung des Untertans, die KZ-Bestie, die auf Befehl mit pünktlicher Zuverlässigkeit täglich Tausende von Menschen mordete“ (332). Habe Friedrich Engels im Realismus die „Wiedergabe typischer Charaktere in typischen Situationen“ sehen wollen, so habe „die Geschichte bewiesen“, schrieb Cwojdrak, „daß Diederich Hessling ein typischer Charakter“ gewesen sei (1950b, 332). Dass Cwojdraks Einschätzung Heinrich Manns und seines Romans Der Untertan keineswegs singulär war, zeigte ein Jahr später Wolfgang Staudtes Film zum Buch, an dessen Ende das wilhelminische Gewitter, mit dem der Roman geendet hatte, die Trümmer einer im Zweiten Weltkrieg zerstörten deutschen Stadt hinterlässt. In der Zeitschrift Sinn und Form wurde Heinrich Mann von Herbert Jhering als einer der „großen Humanisten der Weltliteratur“ bezeichnet (1950, 116). Mann „warnte, er entlarvte, er versuchte den Jahren in den Arm zu fallen“, behauptete Jhering, aber „umsonst, die beiden Weltkriege kamen“ (123). Doch gerade in der Nachkriegszeit sei Manns Erbe besonders verpflichtend:
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In einer Zeit, wo viele wieder mit dem Kopf nach unten handeln, wollen wir mit dem Kopf nach oben denken und Maßstäbe setzen. Wir wollen die Vorbilder herausstellen und dem Genörgel und der Verzweiflung die wahren deutschen Leistungen entgegensetzen. Es bedarf der Deutlichkeit, des Bekenntnisses. Während Hans Grimm und Ernst Jünger bereits wieder propagiert und gelesen werden, während das trübe Mittelmaß schon wieder oben schwimmt, sind es erst wenige Bücher von Heinrich Mann, die in Deutschland nach 1945 erscheinen konnten. (122)
Es gab durchaus literaturkritische Kämpfe innerhalb der jüngst gegründeten DDR, und zwar wurde auch ein so überragender sozialistischer Literaturkritiker wie Georg Lukács z. B. von Alexander Abusch dafür kritisiert, dass er in seinem kritischen Ansatz der Literatur keine Möglichkeit für die Gestaltung der sozialistischen Zukunft einräume. Die Literatur setze sich aber nicht nur mit Gegenwart und Vergangenheit auseinander, betonte Abusch (1950b), sondern habe auch eine Verantwortung für „das Neue“, für die Zukunft. Es möge sein, dass noch nicht alle Probleme des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus gelöst worden seien, räumte Abusch ein, aber „[a]uch bei uns können, obwohl wir noch mitten im Kampf um die gesellschaftlichen Veränderungen in ganz Deutschland stehen […] Schriftsteller heute schon Werke des sozialistischen Realismus schaffen.“ Lukács irre sich, wenn er meine, zuerst müssten „alle gesellschaftlichen Veränderungen in der materiellen Basis vollzogen sein.“ Aber auch der Literaturkritiker Paul Rilla wurde von Abusch dafür gescholten, dass er in seiner Besprechung von Seghers’ Roman Die Toten bleiben jung die falsche Theorie aufgestellt habe, positive sozialistische Gestalten müssten zwangsläufig als literarische Figuren uninteressant wirken.4 Diese falsche Theorie komme zum Teil auch daher, dass Literaturkritiker eine falsche Angst davor hätten, auch ehrwürdige und renommierte Schriftsteller wegen ihrer Fehler zu kritisieren. Seghers’ Gestaltung von positiven Figuren als uninteressant gegenüber der Lebendigkeit von negativen Figuren sei kein literarisches Gesetz, behauptete Abusch, sondern einfach ein Fehler der Schriftstellerin selbst, so groß sie auch sein möge. Im Allgemeinen beschwerte sich Abusch darüber, dass noch relativ wenige DDR-Literaturkritiker der Aufgabe gewachsen seien, „dem Leser eine wissensreiche marxistisch-leninistische Orientierung zu geben“ (1950b, 3). Immer wieder betonten Literaturkritiker und Literaturpraktiker in der jungen DDR, dass der neue sozialistische deutsche Staat die bevorzugte Heimat der deutschen schöngeistigen Literatur sei. Der junge Philosoph und Kritiker Wolfgang Harich lobte die DDR als natürliche Heimat der deutschen Kulturnation im Gegensatz zur Bundesrepublik:
4 Zur Debatte um Seghers’ Roman Die Toten bleiben jung vgl. Brockmann 2015b, 139–153.
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Uns schlug der selbstverschuldete Krieg mit Armut und Not. Uns zwang die nationale Katastrophe, mit der das faschistische Verbrechen endete, enden mußte, zu entbehrungsreicher Mühsal. Aber wir denken nicht daran, unseren Anspruch, als Kulturnation wiederzuerstehen, auch nur für die vorübergehende Frist der ärgsten Notzeit zu dispensieren. (1950, 363)
Im Westen, behauptete Harich, sei alles ganz anders, denn dort würden die Kulturschaffenden einem „entwürdigende[n] Jammer“ ausgesetzt: „Junge Autoren können von Glück reden, wenn von ihren Büchern, so gut sie auch sein mögen, zehn Exemplare verkauft werden.“ (362) Aber der schlagende Beweis dafür, dass die DDR der bessere Staat für Kultur und für Künstler sei, lag für Harich in der Art, wie sich auch die politische Führung mit Kunst und Literatur auseinandersetze. Diese Regierung habe „mit der Geistlosigkeit und Geistfremdheit der traditionellen deutschen Politik so gründlich zu brechen [gewusst], daß sie sich nicht“ gescheut habe, „an einem arbeitsreichen Tag, angesichts schwerwiegender Beschlüsse die ausführliche Ehrung des toten Heinrich Mann zum ersten Punkt ihrer Tagesordnung zu machen“ (363). Die eigentliche Pointe lag aber in einer parenthetischen Bemerkung, die Harich gleich anschloss, nämlich, dass weder der wilhelminische Reichstag noch „die Schwatzbude der Weimarer Epoche“ sich mit Schriftstellern wie Theodor Fontane einerseits oder Rainer Maria Rilke andererseits auseinandergesetzt hätten. Monate später aktualisierte Günther Cwojdrak Harichs Gedanken, indem er darauf hinwies, dass der DDR-Ministerpräsident Otto Grotewohl „bei der Eröffnung des“ Deutschen Schriftstellerkongresses eine Rede gehalten habe. Diese Rede, behauptete Cwojdrak, sei „ein Bekenntnis unserer Regierung zu den Schriftstellern, die sich zu unserer Regierung bekennen. Man muß das durch einen Vergleich deutlich machen: kann sich jemand vorstellen, daß Herr Adenauer in Westdeutschland vor Schriftstellern spräche und sie seine Kampfgenossen und Freunde nennt?“, fragte er rhetorisch. Also: dass sich die DDR-Regierung für Schriftsteller und ihre Kunst interessiere, zeige, wie schön die DDR für Schriftsteller sei. Auf dem gleichen Kongress verkündete Johannes R. Becher: „Die Schriftsteller der Vergangenheit würden uns beneiden um all das, was uns gegeben ist, und es muß unser innigstes Bestreben sein, uns auf der Höhe unserer Zeit zu halten.“ („Ein neues Maß“ 1950, 4) Zugleich bekannte sich Becher zur familiären Verbindung zwischen Schriftstellern und Staat: „Wir sagen zur Deutschen Demokratischen Republik du, wie sie auch zu uns du sagt. Wir sagen zu ihr ‚du, unser Staat‘, wie sie auch uns ihre Schriftsteller nennt.“ (4)5 Dass
5 Diese Überlegungen Bechers finden sich auch in seinem Tagebuch, wenn auch in leicht abweichender Fassung: Becher 1951, 315–316. In der Zeitschrift Die Weltbühne lauteten Bechers Worte wiederum etwas anders: „wir nennen unsere Regierung Du, weil sie unsere Regierung ist, und sie nennt uns Du, weil wir zu ihr gehören“ (Cwojdrak 1950d, 863).
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diese Familiarität zwischen Staat und Schriftstellern auch ihre Nachteile haben könnte, schien nicht der Überlegung wert zu sein.6 Hinzugefügt werden sollte, dass die Literaturpolitiker der DDR 1950 noch von der Überlegung ausgingen, dass die Literatur der DDR ganz Deutschland repräsentiere. Dies betonte Johannes R. Becher auf dem Deutschen Schriftstellerkongress, und es ist eine logische Überlegung, wenn man, wie die DDR-Politiker damals, die DDR noch als fortschrittliches Kernstück eines zukünftigen ebenfalls fortschrittlichen Gesamtdeutschlands betrachtet. So betonte Harald Hauser zum Jahrestag der DDR-Staatsgründung im Oktober 1950: „Die Deutsche Demokratische Republik wird ganz Deutschland sein!“ Und zwar weil der Eiserne Vorhang nur ein dünner „Nebelvorhang“ sei und die Elbe „keine Grenze!“ Hauser behauptete: „Die Wahrheit ist allmächtig! Deutschland, das hier im Osten vor einem Jahr entstand – für alle Ewigkeit entstand – dieses erste echte Deutschland entsteht auch westlich der Elbe. Es wächst machtvoll in jedem deutschen Herz. Es ist unbezwingbar!“ (1950, 1243) Obwohl der sozialistische Realismus im Westen vor allem als Angriff auf die Freiheit der Kunst abgelehnt wurde, war man auch hier von einer tiefen Verbindung zwischen Kunst und Kultur einerseits und der Gesellschaft andererseits überzeugt. Die Redner auf dem Kongress für Kulturelle Freiheit wollten gerade nicht, dass die Kunst gänzlich von der Gesellschaft abgespalten und autonom sein solle, sondern sie prangerten die Kluft zwischen Kultur einerseits und Gesellschaft und Politik andererseits als ein Grundproblem der westlichen Kultur im zwanzigsten Jahrhundert an. Der englische Kritiker Herbert Read sprach von der Kultur und von der Freiheit als organischen Wesen, die nicht staatlich organisiert werden könnten, und er prangerte nicht nur den Osten, sondern auch den Westen, ja sogar den Kapitalismus an. Die „Unfähigkeit“, das organische Wesen der Kultur zu verstehen, finde man „auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs“, behauptete er. Der Niedergang der Kultur habe „mit der Entstehung des Kapitalismus seinen Anfang“ genommen, da der Kapitalismus zur Ausdifferenzierung der Sphären geführt habe, an deren Ende die Kunst und die Kultur allein für sich stünden, ohne Verbindung mit dem gesellschaftlichen Ganzen. Am Ende von Reads Rede kamen sogar Töne, die für ein deutsches Ohr wohl etwas zu sehr nach Blut und Boden klingen mussten: „Der Künstler muß wieder zu einem Glied des Ganzen werden. Nur so kann er sich vom Blut der Gemeinschaft nähren und ihrem Geist Ausdruck verleihen.“ (1949–1950, 375)
6 Dies war übrigens genau Frank Schirrmachers großer Vorwurf gegen Christa Wolf und die ganze DDR-Literatur am Anfang des so genannten Literaturstreits 1990. Er warf DDR-Schriftstellern eine quasi familiäre Nähe zum Staat vor, vgl. Schirrmacher 1990.
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Der in seiner Wortwahl viel vorsichtigere Dolf Sternberger sah ein ganz ähnliches Problem, und zwar fragte er, wie Max Frisch ein Jahr vorher in der von Melvin J. Lasky, dem Hauptorganisator des Kongresses für Kulturelle Freiheit, herausgegebenen Zeitschrift Der Monat gefragt hatte, wie es möglich sein konnte, dass die Nazi-Barbaren und Mörder zum Teil eine sehr hoch entwickelte Kultur besaßen (Frisch 1949). Genau wie Frisch sprach Sternberger den Fall Reinhard Heydrich an: „Von dem ehemaligen Chef des Sicherheitshauptamtes […] wurde berichtet, er sei ein leidenschaftlicher Musikfreund und eifriger Cellospieler.“ (1949–1950, 378) Für Sternberger war Heydrich das Paradebeispiel der „furchtbare[n] Zweideutigkeit der Kultur in unseren Tagen, daß sie, verirrt in ein gegenstandsloses Sonderdasein, verirrt in die Mußestunden, in den Feierabend, in eine seelische Reservation des einzelnen wie auch der organisierten Gesellschaft im Ganzen, sich selbst und uns der Kraft beraubt, dem ganzen Dasein diejenige Pflege zu widmen, nach der es dürstet, ja, daß sie womöglich ihren schönen Schein herleihen muß, die fach- und sachgerechten, zweckmäßigen und tüchtigen Brutalitäten des pfleglosen Alltags zu verschleiern und zu verhüllen.“ (378–379) Aber wie genau die tiefe Kluft zwischen der Kultur einerseits und der Gesellschaft andererseits überbrückt werden konnte, verrieten weder Read noch Sternberger. Der Westen unterschied sich vom Osten trotzdem darin, dass die veröffentlichte literaturkritische bzw. literaturpolitische Meinung größere Unterschiede aufwies, je nachdem, wer die literaturpolitische Situation betrachtete. Wollten die Redner auf dem Kongress für Kulturelle Freiheit die Kluft zwischen der Gesellschaft einerseits und der Kunst andererseits aufheben, so feierte der gerade damals hoch in Ehren stehende Dichter Gottfried Benn in seinen autobiographischen Notizen Doppelleben ausgerechnet diese Kluft. Für ihn bestehe die Einzigartigkeit der modernen europäischen Kunst darin, dass sie sowohl die Gesellschaft als auch die Natur verachte und allein ihren autonomen, von der Form bestimmten Entwicklungsweg gehe. Zwar sah auch Benn eine tiefe Verbindung zwischen den von ihm angesprochenen Problemen und der Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts. In seinen Überlegungen stecke, behauptete er, die ganze „Problematik des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts“ (1950, 49). Der eigentliche Künstler aber, betonte Benn, sei „zynisch und behauptet auch, gar nichts anderes zu sein“ (51). Die wahre moderne Kunst, bekräftigte Benn, sei überhaupt keine „Belehrung für irgendwen, es ist nur ein Gedanke an das Schmerzliche und Zarte […]. Es ist eine Erkenntnis, und es ergibt sich aus ihr, daß der Kunstträger in Person irgendwo hervortreten oder mitreden nicht solle“ (53). Und hier zitierte Benn Friedrich Nietzsche, dessen in Der Wille zur Macht entwickelte Überlegungen zum Nihilismus und zum Trost der autonomen Kunst in einer ansonsten bedeutungslosen Welt Benn als richtungsweisend ansah: „die Kunst als letzte metaphysische Tätigkeit innerhalb des europäischen Nihilismus“ (54). Mit offenbarem Genuss
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gab Benn zu, dass seine Vorstellung des Künstlers völlig asozial sei: „der größte Teil der Kunst des vergangenen Halbjahrhunderts ist Steigerungskunst von Psychopathen, von Alkoholikern, Abnormen, Vagabunden, Armenhäuslern, Neurotikern, Degenerierten, Henkelohren, Hustern –: das war ihr Leben, und in der Westminsterabtei und im Pantheon stehen ihre Büsten“ (52–53). Nichtsdestoweniger, fügte Benn hinzu, rechtfertigten die künstlerischen Werke dieser Psychopathen ihr abnormes asoziales Leben allemal: „über beidem stehen ihre Werke: makellos, ewig, Blüte und Schimmer der Welt“ (53).
4 Streit um Goethe: Kritik an der Kulturtradition Goethe war natürlich – und auch Benn gab das zu – das große Beispiel eines geistig und körperlich gesunden Künstlers, der sich nicht den Kräften der Krankheit hingegeben habe. Solche seltenen Beispiele gebe es immer wieder in der Kunst- und Literaturgeschichte, räumte Benn ein – „reich, stabil, nahezu rausch- und giftfrei, wenn man sich die Götter vorstellen wollte, hier sind sie“ –, aber, betonte er, „sie sind die Ausnahme“ (52). Gerade weil Goethe als der große, gesunde Deutsche nicht nur in beiden Teilen Deutschlands, sondern auch im Rest der Welt anerkannt wurde, wurde heftig um seine Person und sein Erbe in dieser Zeit gestritten. Der Osten und auch der Westen wollten ihn für sich vereinnahmen. In einem Brief an Ernst Jünger zitierte Carl Schmitt das Spottgedicht eines gewissen Joseph Plassmann anlässlich der Goethe-Preisverleihung an Thomas Mann, der 1949 sowohl in Frankfurt als auch in Weimar wegen Goethe geehrt worden war: Goethes ist der Orient. Goethes ist der Okzident. Darum sammle Goethe-Preise Auf die ein und andre Weise. (Jünger und Schmitt 1999, 339)
Der Streit um Goethe verlief zwar zum Teil zwischen West und Ost – denn beide Lager wollten Goethe für sich in Anspruch nehmen –, aber er fand auch innerhalb beider Lager statt, denn auf beiden Seiten wurde gefragt, was an der deutschen Kulturtradition fehlgegangen sein könnte, damit Hitler an die Macht gelangen konnte. Die einen antworteten – mit Ernst Robert Curtius im Westen und Victor Klemperer im Osten –, dass das Problem die mangelnde Goethe-Treue der Deutschen gewesen sei; die anderen aber – z. B. Karl Jaspers im Westen oder auch Stephan Hermlin im Osten – fragten, ob nicht gerade die deutsche Goethe-Seligkeit und der herkömmliche Kulturbetrieb zu einem gravierenden deutschen Kul-
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turproblem geworden seien. Diese Fragen wurden auch vom schweizerischen Schriftsteller Max Frisch und von Dolf Sternberger gestellt. Aber auch Wolfgang Harich stellte das herkömmliche deutsche Kulturverständnis in Frage (1950, 361– 365). Und Richard Drews spöttelte, dass die gängige Kulturtradition des „Innenlebens“ aus einer „gespenstischen Welt“ bestehe, „in der die entlaugten Abstrakta, die zu Tode gehetzten Wahrheiten und Talmiwahrheiten von gestern und vorgestern, die leeren Begriffshülsen, die Seelen abgeschiedener Geister ihr schattenhaftes Dasein führen“ (1950c, 1425). „Verwunderlich“ sei es nur, so Drews, „daß in Westdeutschland noch keine Innenlebenpartei gegründet wurde“ (1426). Kritiker der herkömmlichen Kulturtradition gab es also sowohl im Westen als auch im Osten. Einer der entschiedensten war der damals kürzlich remigrierte Theodor W. Adorno, der im Mai 1950 in der Zeitschrift Frankfurter Hefte seine grundlegenden Gedanken zur „Auferstehung der Kultur in Deutschland“ erläuterte. „Es hat sich noch nicht herumgesprochen, daß Kultur in traditionellem Sinn tot ist“, erklärte Adorno; nach der Katastrophe der Hitler-Diktatur und des Zweiten Weltkriegs gebiete „die deutsche Situation […] nun einmal unabweislich eine geistige NeuOrientierung“ (1971, 23 f.). Die gesamten herkömmlichen Kulturformen, schrieb Adorno unerbittlich, „werden Lügen gestraft von der Katastrophe jener Gesellschaft, aus der sie hervorgingen.“ Ein Beharren auf der tradierten Überlieferung, als wäre nichts geschehen, sei auch im moralischen Sinne nicht mehr zu dulden, denn die traditionelle „Bildung heute hat nicht zum geringsten die Funktion, das geschehene Grauen und die eigene Verantwortung vergessen zu machen und zu verdrängen“ (28). So Adorno. Seine Gedanken waren zwar strenger und unerbittlicher als diejenigen der meisten anderen Kulturkritiker in West und Ost; jedoch stand er gewiss nicht allein in seiner Infragestellung überlieferter Werte im Lichte der jüngsten deutschen Geschichte.
5 Einigkeit im Streit: Literatur und Politik damals, heute und morgen Zusammenfassend kann man festhalten, dass die Aufgabe der Literatur- und Kulturkritik 1950 sowohl im Westen als auch im Osten mit höchster Ernsthaftigkeit betrieben wurde, unter anderem weil auf beiden Seiten das literarische und kulturelle Leben als eng verbunden mit Politik und Gesellschaft angesehen wurde. Auf beiden Seiten wurde der Versuch gemacht, literatur- und kulturkritische Gründe und Erklärungsmuster für die deutsche Katastrophe ausfindig zu machen. Und auf beiden Seiten wurde die Arbeit von Schriftstellern und ihren Kritikern als
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unerlässlich für die ersehnte kulturelle und politische Genesung Deutschlands angesehen.7 Laut Johannes R. Becher waren Schriftsteller „Künder und Wegbereiter“ neuen Lebens, und „in der Persönlichkeit des Schriftstellers wird das Schicksal seines Volkes Person“ (1951, 315, 314). Laut Ernst Robert Curtius war „eine vollgültige Literatur […] ein einheitliches Lebenssystem, in dem alles auf alles Bezug nimmt“ (1950, 22). Und gerade die deutsche Literaturkritik trage dazu bei, so Curtius, ein richtiges literarisches Leben zu bilden. So sei nicht nur eine Literatur, sondern auch eine Literaturkritik von höchster Bedeutung für die deutsche Lebenswelt. In Elisabeth Langgässers 1950 postum erschienenem Roman Märkische Argonautenfahrt wird von einer Figur die Frage gestellt, ob „dieses Deutschland, dieses Europa noch immer der Ausbildung neuer Gestalten und Ordnungsprinzipien fähig sei – vergleichbar mit der Anwesenheit der ‚aperiodischen festen Körper‘, die den höchsten Grad von Assoziationen der Atome darstellen“ (265). In Langgässers Vorstellung war die kulturelle Überlieferung, unter anderem auch die Literatur, ein ‚aperiodischer fester Körper‘, auf Grund dessen das zerstörte Europa und vor allem das zerstörte Deutschland wieder aufgebaut werden könnte. Mehr als siebzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs fällt es gewiss schwer, die hohe Bedeutsamkeit, die 1950 auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs der Literatur wie auch der Literaturkritik zugeschrieben wurde, zu verstehen. Es wäre leicht zu spötteln und überheblich zu sein, gerade auch weil der Eiserne Vorhang längst nicht mehr existiert und die Vereinnahmung der Literaturkritik im Kalten Krieg jetzt nur noch als altmodisch angesehen werden kann. Wir Literaturkritiker und -historiker sehen uns heute als viel unabhängiger und souveräner. Jedoch können auch wir nicht wissen, was die Literaturkritiker in sechzig oder siebzig Jahren – sollte es denn solche geben – über uns und unsere Schwächen und Blindstellen schreiben werden. Man sollte sich also hüten, die Zeugnisse dieser jetzt scheinbar so vergangenen Welt – aus der aber die heutige europäische Welt sicherlich zum Teil hervorgegangen ist – nur noch mit Spott und Überheblichkeit zu betrachten. Die von mir zitierten Kritiker schrieben allesamt prägnant und mit großem Gefühl und sie setzten sich leidenschaftlich ein für das, woran sie glaubten. Sicherlich gab es auch Karrieristen und Opportunisten unter ihnen, wohl auf beiden Seiten. Aber die Worte dieser Kritiker wurden nicht nur aus Opportunität, sondern auch aus Sorge und Glauben geäußert. Für sie alle war die Literatur alles andere als nur Zerstreuung; sie war ein wesentlicher, vielleicht der wesentlichste Teil der europäischen Kulturwelt. Die Welt ist
7 Vgl. auch Brockmann 2015a. Zur konservativen Kulturkritik in Westdeutschland siehe Bühner 2014.
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heute gewiss eine ganz andere. Jedoch war die europäische Welt 1950 keineswegs heil, wie der kurze Zeit zuvor beendete Zweite Weltkrieg, der Holocaust, die deutsche Teilung und auch der Korea-Krieg im fernen Osten deutlich zeigten. In dieser Situation einer empfundenen Krise wurde auf beiden Seiten zur Literatur und zur Literaturkritik gegriffen, um sich bleibender Werte zu vergewissern. Wer vermag zu versichern, dass ähnliche Krisen oder Gefahren, in denen nach einer rettenden Verankerung in kulturellen Traditionen gegriffen wird, heute unmöglich sind? Um jedoch nach einer solchen rettenden Verankerung in kulturellen Traditionen zu greifen, müssen solche Traditionen noch einigermaßen lebendig sein, und dazu sind eben Kenntnisse und eine gewisse Hingabe, sogar Leidenschaft nötig. Hier liegt wohl die tiefste Kluft zwischen der damaligen Epoche und unserer Zeit. Damals konnten beide Seiten, trotz der Verheerungen des Zweiten Weltkriegs und der Millionen Toten, noch auf eine einigermaßen intakte kulturelle Überlieferung zurückgreifen, wenn auch gerade diese Überlieferung von Theodor W. Adorno und anderen Kritikern auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs in Frage gestellt wurde. Heute, fast siebzig Jahre später, ist es nicht mehr klar, dass kulturelle Traditionen und Überlieferungen in einer ähnlich prekären Situation noch als ‚aperiodischer fester Körper‘ zu agieren vermöchten. Und so sind die damaligen literarischen Diskussionen einerseits sehr weit weg von uns und kaum noch zu vermitteln oder zu verstehen, denn die heutige Welt, auch und gerade die jüngere Generation, hat, wenn überhaupt, ein ganz anderes Verhältnis zur Tradition. Gerade, dass heute nicht mehr so viel um diese Tradition gestritten wird, ist ein sicheres Indiz dafür, dass sie weniger ernst genommen wird. Denn wozu noch um etwas streiten – und seien es abendländische Werte einerseits oder eine Kultur des Friedens andererseits – das kaum noch Bedeutung hat? Nichtsdestoweniger ist die heutige Welt genauso gefährdet wie die damalige, und sogar die Zukunft des Menschen selbst, die Walter Jens schon 1950 in seinem Roman Nein. Die Welt der Angeklagten als ungewiss bezeichnet hatte, kann kaum als sicher vorausgesetzt werden.8 Christopher Dawson hatte 1950 in seiner Besprechung von Curtius’ magnum opus geschrieben: „die gegenwärtige Generation hat zur Genüge erfahren, […] wie labil das Gleichgewicht ist, auf dem unsere Kultur beruht.“ (1950, 110–111) Ob die heutige gegenwärtige Generation von dieser Labilität auch weiß?
8 Für eine heutige Analyse solcher Unsicherheiten in Bezug auf die Zukunft des Menschen siehe z. B. Harari 2017.
Der Kalte Krieg der Literatur in Deutschland, 1950
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Anne Boden
Ein osteuropäisches Pendant zu Anne Frank Das Tagebuch des Dawid Rubinowicz als Erinnerungsmedium in Polen, in der DDR und in der Bundesrepublik um 1960 In einer Rezension in Die Welt vom 23. Februar 1960 macht der Warschauer Korrespondent Ludwig Zimmerer westdeutsche Leser auf „das große literarische Ereignis“ des letzten Jahrzehnts in Polen aufmerksam und spricht von dem großen Andrang auf die Übersetzungsrechte für diese polnische Neuerscheinung. Die literarische Sensation, die hier besprochen wird, ist das Tagebuch eines polnischjüdischen Jungen namens Dawid Rubinowicz (geb. 1927), der 1942 in Treblinka ermordet wurde. Zwölf Jahre nach Kriegsende wurden seine Aufzeichnungen, die von März 1940 bis Juni 1942 reichen, von Helena Wołczyk in der polnischen Stadt Bodzentyn – Dawids letztem Aufenthaltsort vor der Deportation – gefunden. Sie und ihr Mann haben ein paar Monate später im Ortsrundfunk daraus vorgelesen. Im August 1959 schickten sie das Tagebuch an die Warschauer Publizistin Maria Jarochowska. Auszüge erschienen daraufhin in der Zeitschrift Twórość (1960, 13–46), und das Tagebuch wurde als Ganzes im Frühjahr 1960 veröffentlicht (Pamiętnik 1960). Noch im selben Jahr erschien die erste deutsche Übersetzung des Buches in der Bundesrepublik beim S. Fischer Verlag (Das Tagebuch 1960). Eine ostdeutsche Ausgabe folgte im April 1961 bei Volk und Welt (Das Tagebuch 1961). In Polen gefeiert, wurde das Tagebuch des Dawid Rubinowicz Anfang der 1960er Jahre in Ost- und West-Deutschland viel weniger wahrgenommen und blieb im Schatten des bekannteren Tagebuchs der Anne Frank.1 Im Folgenden beschreibe ich zunächst die Publikations- und Rezeptionsgeschichte von Dawids Tagebuch in Polen. Danach befasse ich mich mit der Publikation und Rezeption des Tagebuchs in beiden deutschen Staaten. Auch wenn das Tagebuch nicht annähernd soviel Aufmerksamkeit erhielt wie das Tagebuch der Anne Frank, ist seine begrenzte Rezeption aufschlussreich für einige Tendenzen der HolocaustErinnerung in Ost- und Westdeutschland Anfang der 1960er Jahre. Um dieses Buch entspann sich eine Diskussion über die Judenverfolgung im Nationalsozialismus, die viele grundsätzliche Fragen berührte: Was zeichnet ein ‚gutes‘ Zeugnis aus?
1 Die erste deutsche Ausgabe des Tagebuchs der Anne Frank erschien 1950 im Lambert Schneider Verlag, Heidelberg. Eine zweite Ausgabe folgte fünf Jahre später beim S. Fischer Verlag. In der DDR erschien das Tagebuch der Anne Frank erstmals 1957 im Union Verlag. http://doi.org.de/10.1515/9783050093932-017
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Welcher Opfer sollte man vorrangig gedenken? Wie geht man Anfang der 1960er Jahre mit der Schuldfrage um? Anhand von Paratexten und Rezensionen zum Tagebuch untersuche ich die Darstellungen und Deutungsmuster von Schuld, Opfer und Täterschaft, die in der Rezeption zum Ausdruck kommen. Abschließend versuche ich die geringe Wahrnehmung dieses Zeugnisses in beiden deutschen Staaten mit Blick auf das viel prominentere Tagebuch der Anne Frank zu erklären. Das Tagebuch des Dawid Rubinowicz ist zu einem Zeitpunkt erschienen, zu dem sich das Bild von Anne Frank als repräsentativem Holocaust-Opfer in der Bundesrepublik und in der DDR bereits verfestigt hatte. Die Deutungen um Anne Frank stellen somit zwangsläufig einen Bezugsrahmen für diese Neuerscheinung dar, auch wenn Rezensenten darauf erpicht waren, wesentliche Unterschiede in den Erfahrungen, der Herkunft und den Schreibstilen der beiden Opfer zu betonen. Aber gerade der Versuch, Dawids Tagebuch als ‚Gegenstück‘ zu dem von Anne Frank zu positionieren – als Zeugnis eines osteuropäischen Juden mit vor allem dokumentarischem Wert –, verhinderte eine breitere Rezeption.
1 Textanalyse Nachdem Dawid als jüdisches Kind aus der Dorfschule ausgeschlossen wird, fängt er an, Tagebuch zu schreiben. Noch im Jahre 1940 kann er aus dem Dorf Krajno im Generalgouvernement vom Radfahren-Lernen und im Wald mit Freunden Pilze-Sammeln berichten. Später aber verschwinden solche Freizeitbeschäftigungen aus seinem Kinderalltag. Dawid wird zunehmend zum Chronisten jüdischen Leidens in seinem Dorf und in der umgebenden Region. Immer mehr scheint er sich als Jude zu identifizieren und aus dieser Position heraus zu schreiben.2 Als Dawid erfährt, dass die Juden in der Kreisstadt Kielce nicht mehr das Ghetto verlassen dürfen, schreibt er: „Diese Nachricht hat mich sehr traurig gemacht, nicht nur mich, sondern jeden Israeliten, der das gehört hat.“ (Das Tagebuch 1961, 34)3 Der eben zitierte Satz ist typisch für Dawids einfachen Schreibstil.4 Das Tagebuch ist ein Bericht aus der Kindesperspektive, in dem Dawid alles aufschreibt, was er von den Erwachsenen hört und mit eigenen Augen beobachtet.
2 Er schreibt auch oft in der Wir-Form, und dieses „Wir“ bezieht sich zum einen auf seine Verwandtschaft, zum anderen auf eine breitere jüdische Gemeinschaft, der er sich zugehörig fühlt. 3 Alle weiteren nur mit Seitenangabe versehenen Zitate im Folgenden sind dieser ostdeutschen Ausgabe des Tagebuchs entnommen. 4 In der Rezeption des Tagebuchs wird häufig ein Kontrast zwischen Dawids einfacher Sprache und der Beredtheit von Anne Frank betont. Darauf werde ich unten eingehen.
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Er beschreibt die Geschehnisse in seiner Umgebung detailreich, reflektiert aber selten über ihren größeren Zusammenhang. Dawid ist sehr mitgenommen von den Ereignissen und drückt seine Gefühle in einfachen Worten aus, ohne größere Einblicke in sein Innenleben zu gewähren. Am 12. August 1940 ist er darüber traurig, dass er nicht mehr zur Schule gehen darf: „Wenn ich daran denke, wie ich zur Schule ging, dann möchte ich direkt weinen.“ (13) Auf die Nachricht von der Errichtung eines Ghettos in Kielce reagiert er am 1. April 1941 mit folgenden Worten: „Ich war über diese schlechte Nachricht so aufgeregt, daß ich den ganzen Tag nicht wußte, was mit mir geschah.“ (15) Und über die Erschießung einer ehemaligen Nachbarin schreibt er am 10. April 1942: Ein Mädchen wie eine Blume, wenn sie erschossen wird, dann wird wohl bald das Ende der Welt sein. […] Die Nerven sind ganz erschöpft, wenn ich von jemandes Unglück höre, gehen mir die Augen über, der Kopf fängt zu schmerzen an, und ich bin dann so erschöpft wie nach schwerster Arbeit. (75)
Auch wenn Dawid die Zusammenhänge oft nicht versteht, wurde sein Tagebuch zu Recht als eine aufschlussreiche Quelle über die Verfolgung der Juden im Generalgouvernement begriffen. Anhand seiner Notizen erfahren wir, wie das alltägliche Leben der Juden in diesem Gebiet immer stärker eingeschränkt wird. Mit zunehmender Häufigkeit berichtet Dawid von Verhaftungen und Erschießungen von Juden. Die Angst vor Hausdurchsuchungen und vor der geplanten ‚Aussiedlung‘ der Juden dominiert in den Einträgen des Jahres 1942. Im Tagebuch spiegelt sich außerdem das komplexe Beziehungsgeflecht zwischen Opfer- und Tätergruppen in diesem Verwaltungsgebiet während der deutschen Besatzung wider. Unter der Leitung des Gouverneurs Hans Frank wurde hier eine perfide Politik gegen Polen und polnische Juden betrieben. Sie wurden gegeneinander ausgespielt, und beide Opfergruppen haben zum Teil mit der deutschen Besatzungsmacht kollaboriert.5 Dawids Tagebuch gewährt einen Einblick in eine massive Verwaltungsmaschinerie im Generalgouvernement, in die nicht nur Deutsche, sondern auch Polen und Juden eingebunden waren. Eine Textstelle macht die Verwobenheit von Opfer-, Täter- und Zuschaueridentitäten6 im Generalgouvernement besonders deutlich: In der Wohnung hörte ich, daß die jüdische Polizei beim Onkel war, dann kam die Schwester und sagte, daß sie seinen Schrank wegholen wollten, weil er dem Rat die Steuer nicht bezahlt hatte. […] Alle haben sich widersetzt, aber es war nichts zu machen, sie haben den
5 Einen guten Überblick über die Verfolgung und Vernichtung der Juden in diesem Verwaltungsgebiet gibt Młynarczyk 2008. 6 Ich beziehe mich hier auf die Einteilung von Hilberg 1996.
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Schrank rausgeholt. Als der Schrank aufgeladen war, kam der Onkel raus, er war sehr aufgeregt und hielt das Fuhrwerk an. Gleich kam der Polizist und stieß den Onkel weg, der Onkel gab zurück, und sie fingen an, sich zu schlagen. Alle kamen ran und wollten sie auseinanderbringen, ein furchtbares Geschrei entstand, die [deutsche] Gendarmerie sah das, sie kam gleich und fing von weitem an zu schießen, und ich habe das alles gesehen. […] Nach einer halben Stunde vielleicht kam die polnische Polizei, und sie mussten 100 Złoty Strafe zahlen. […] Nachmittags fuhren die Deutschen ab, voraus im Auto, in der Mitte auf einem Auto waren Polen, gefesselt mit Handschellen, am Ende ein Auto mit Deutschen, auf diese Art und Weise wurden sie abgeführt. (105–106, meine Hervorhebungen, A. B.)
Hier beschreibt Dawid eine Hausdurchsuchung in der Wohnung seines Onkels, die von der jüdischen Polizei im Auftrag des Judenrats ausgeführt wurde. Nachdem es zu Schlägereien kommt, greifen die deutsche Gendarmerie und schließlich auch die polnische Polizei ein. Parallel zu diesem Ereignis – und von Dawid fast nebenbei erwähnt – findet der Abtransport polnischer Gefangener durch deutsches Militär statt. In diesem einen Eintrag lesen wir also über deutsche Täter und über Polen und Juden, die zugleich Opfer der Deutschen und Mithelfer waren.
2 Pamiętnik Dawida Rubinowicza Die erste polnische Ausgabe des Tagebuchs erschien 1960 im Warschauer Verlag Książka i Wiedza mit einem Vorwort vom damaligen Präsidenten des polnischen Schriftstellerverbandes Jarosław Iwaskiewicz, einem Nachwort von Maria Jarochowska und im Text eingebetteten Anmerkungen des Historikers Adam Rutkowski. Um die Authentizität des Tagebuchs zu unterstreichen, wurden der Umschlag und einige andere Seiten mit Faksimiles des Originalschulheftes bedruckt, in dem Dawid sein Tagebuch geführt hatte. Im hinteren Teil des Buches befinden sich auch Fotokopien von Dokumenten aus dem Archiv des Jüdischen Historischen Instituts in Warschau, u. a. von einem Fahrplan der Züge nach Treblinka und einem Foto von den Leichen jüdischer Menschen, die man dort gefunden hatte. Die Anmerkungen von Adam Rutkowski stellen Dawids Erlebnisse in ihren historischen Kontext und dokumentieren das Schicksal der Juden im Generalgouvernement. Jede einzelne Beschränkung ihrer Rechte, die genauen Zahlen der jüdischen Opfer und sogar die Abfahrtszeiten von den Zügen, die Juden nach Treblinka gebracht haben, werden hier festgehalten. Wenn Dawid am 20. Februar 1942 von Lebensmittelkürzungen für die jüdische Bevölkerung berichtet, führt Rutkowski diese auf „die am 20. Januar 1942 im Reichssicherheitshauptamt beschlossene Ausrottung der jüdischen Bevölkerung in allen besetzten europäischen Ländern“ zurück (58).
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Anfang der 1960er Jahre war Adam Rutkowski stellvertretender Direktor des Jüdischen Historischen Instituts in Warschau. Geboren wurde er 1912 als Abram Rozenberg7 in einer jüdischen Familie in Radom. Viele Familienmitglieder wurden, wie bei Dawid Rubinowicz, in Treblinka ermordet. Diesem Schicksal entkam Rutkowski nur, weil er die Zeit von 1941 bis 1946 in Kasachstan verbringen konnte. Nach seiner Rückkehr aus der Sowjetunion begann er am Jüdischen Historischen Institut zu arbeiten. Dort widmete er sich der Aufgabe, die Schicksale der jüdischen Opfer der Okkupation zu dokumentieren. Dawids Tagebuch kann im Zusammenhang mit einer Reihe von Veröffentlichungen des Jüdischen Historischen Instituts zur Judenverfolgung in Polen gesehen werden, an denen Rutkowski als Herausgeber mitgewirkt hat.8 Zu den Veröffentlichungen des Instituts in deutscher Sprache in den 1960er Jahren gehörten die wichtige Dokumentensammlung Faschismus, Getto, Massenmord‚9 Hilfsaktionen für Juden in Polen 1939–194510 und Briefe aus Litzmannstadt.11 Angesichts einer zunehmend von Antisemitismus geprägten Atmosphäre in Polen emigrierte Rutkowski 1968 nach Frankreich und führte seine Tätigkeit am Centre de Documentation Juive Contemporaine in Paris weiter. Dort starb er 1987. In seinen Anmerkungen zum Tagebuch erklärt Rutkowski auch das Beziehungsgeflecht zwischen Deutschen, Polen und Juden, das Dawid beschreibt, und spricht dabei die Schuldfrage an. An der Spitze der von ihm implizierten Täterhierarchie stehen die führenden ‚Nazi-Beamten“ im Generalgouvernement, die Verfügungen gegen die jüdische Bevölkerung erlassen haben. Benannt werden u. a. der Gouverneur Hans Frank, der Stadtkommandant von Kielce, Hans Drechsel, und der Polizeiführer Eberhard Schöngarth. Die deutschen Gendarmen und Soldaten, die deren Politik ausgeführt haben, bezeichnet Rutkowski in der Regel
7 Die Namensänderung erfolgte im Jahre 1950. Die folgenden biographischen Daten sind hauptsächlich aus Fuks 1991, 212–213, entnommen. 8 Dieses Institut hatte während des Kalten Krieges eine Vorreiterrolle in der Erforschung des Holocaust und wirkte mit seiner regen Publikationstätigkeit über nationale Grenzen hinaus – nicht nur im Ostblock. Viele Bücher wurden ins Jiddische, Englische, Deutsche, Spanische und Französische übersetzt, vgl. Stach, 2013. Zeitgleich mit der ersten polnischen Ausgabe erschien im Verlag Książka i Wiedza auch eine jiddische Version des Tagebuchs des Dawid Rubinowicz. 9 Erschienen bei Rütten und Loening in Ost-Berlin (1960, 2. Aufl. 1961) und im Röderberg Verlag, Frankfurt am Main (1961). Die Herausgeber waren Adam Rutkowski, Tatiana Berenstein, Artur Eisenbach und Bernard Mark. Anders als mir von vielen Seiten berichtet wurde, sind in diesem Buch keine Auszüge aus dem Tagebuch des Dawid Rubinowicz enthalten. 10 Veröffentlicht im Polonia-Verlag, Warschau (1963); die Autoren waren Tatiana Berenstein und Adam Rutkowski. 11 Erschienen bei Middelhauve, Köln (1967); die Herausgeber waren Janusz Gumkowski, Adam Rutkowski und Arnfried Astel.
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als ‚Hitlerfaschisten‘ oder ‚Nazis‘. Eine Mitschuld von Judenräten und der nichtjüdischen polnischen Bevölkerung wird dagegen nicht thematisiert. Rutkowski suggeriert, dass sie so handeln mussten, weil sie von den Besatzern manipuliert wurden. An einer Stelle erwähnt er die antisemitischen Plakate, die die deutschen Besatzer aufgehängt haben, um die polnische Bevölkerung gegen ihre jüdischen Nachbarn aufzubringen (57). Eigene, nicht von außen gesteuerte antisemitische Gefühle seitens der polnischen Bevölkerung werden nicht angesprochen. Im Gegenteil, Rutkowski bezeichnet die Polen als eine von den Besatzern verfolgte Gruppe und rüttelt so nicht an dem damals vorherrschenden Bild der Okkupationszeit (57).
3 „Wir leiden zusammen mit Dawidek“ – die polnische Rezeption des Tagebuchs In Polen stößt das Tagebuch gleich auf erhebliche Resonanz. Im Vorwort zur Erstausgabe sieht der Schriftsteller und damalige Präsident des polnischen Schriftstellerverbandes, Jaroslaw Iwaskiewicz, eine regelrechte Erinnerungsflut durch dieses Zeugnis ausgelöst: Mir scheint, daß wir die Erinnerungen an die damalige Zeit ein wenig verdrängt haben, daß wir vielleicht zu sehr vergessen wollten. […] Das Echo, daß Dawideks Tagebuch in der ganzen Welt geweckt hat, beweist, daß die faschistischen Verbrechen nicht vergessen sind. (6)
Die von Iwaskiewicz beschworene Erinnerungswelle ist jedoch, was die polnische Rezeption dieses Textes angeht, eine selektive. Sie bleibt gängigen Vorstellungen vom großen polnischen Nationalopfer verhaftet.12 Eine tiefer gehende Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, den eigenen Verstrickungen sowie dem besonderen Schicksal der jüdischen Opfer findet in der Diskussion über diesen Text in den polnischen Medien nicht statt. Maria Jarochowska, die Journalistin, die die Publikation des Tagebuchs in die Wege geleitet hatte, äußerte sich als Einzige besorgt über eine Berichterstattung, die Dawids Text komplett missdeutet: „Daten werden falsch angegeben und Fakten, über die selbst Dawid in seinen Notizen erzählt, werden einmal so und ein anderes Mal anders dargelegt.“ (Jarochow-
12 Zu den Phasen der öffentlichen Erinnerung an den Holocaust in Polen siehe Steinlauf 1997; Breysach 2003; Frei 2005.
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ska 1960)13 Sie bezieht sich hier ausdrücklich auf die Tendenz in der Rezeption des Buches, im Rückblick auf Dawids Geschichte eine Solidarität der polnischen Dorfbevölkerung mit ihren jüdischen Nachbarn zu behaupten, die es in dem Maße nicht gegeben habe. Das differenzierte Bild der Verhältnisse im Generalgouvernement, das sich in Dawids Aufzeichnungen widerspiegelt, verschwindet tatsächlich in den polnischen Besprechungen des Textes. Das Tagebuch wird fast durchgängig als Zeugnis polnischen Leidens oder Märtyrertums während der Okkupationszeit wahrgenommen. Das Spezifische an der Verfolgung und Ermordung der Juden, von denen der Text eigentlich zeugt, wird dabei außer Acht gelassen. Wenn überhaupt, erwähnen Kommentatoren die jüdische Identität der Familie Rubinowicz nur flüchtig. Im Vorspann zu einem Nachdruck von Iwaskiewicz’ Vorwort im Express Wieczórny gehört das Tagebuch zu den „Zeugnisse[n] des Leidens des polnischen Volkes“.14 In dem Vorwort selbst wird Dawids jüdische Identität völlig ausgeklammert zugunsten einer Stilisierung des Tagebuchschreibers als leidender polnischer Junge. So lobt Iwaskiewicz Dawids „schöne Sprache der polnischen Provinz“ (6) ohne ein Wort über sein Jüdisch-Sein zu verlieren. In einem anderen Artikel im Express Wieczórny werden Unterschiede zwischen Dawids Angehörigen und ihren polnischen Nachbarn nivelliert, um eine Leidensgemeinschaft von Polen und Juden im Nachhinein zu behaupten: „Dawidek“ war, so eine ehemalige Nachbarin, die hier zitiert wird, „einer der Unseren“.15 Dawids Mutter wird als „eine gute, saubere Hausfrau“ gepriesen, die mit ihrer Hausapotheke der Dorfbevölkerung medizinische Hilfe leistete. Über seinen Vater lesen wir, dass er „sich überhaupt nicht von seinen Nachbarn [unterschied]. Er zog sich an wie ein Bauer.“16 Die Rezensenten erwähnen den Transport der Familie Rubinowicz nach Treblinka zusammen mit anderen Juden im Herbst 1942. Im gleichen Atemzug
13 Ich zitiere aus einer deutschen Übersetzung des Artikels „Gorzkie Refleksje“ (Bittere Reflexionen) aus dem Privatarchiv von Konrad Weiß. Es handelt sich wahrscheinlich um eine Veröffentlichung in der polnischen Zeitschrift Polityka. 14 Zitiert aus der deutschen Übersetzung des Beitrags im Privatarchiv von Konrad Weiß. Das Erscheinungsdatum ist nicht vermerkt. 15 Iwona Guść zeigt, dass ein vergleichbarer Identifikationsprozess in der polnischen Rezeption des Tagebuchs von Anne Frank ab 1956 stattfand. Anne Franks jüdische Identität wurde zwar nicht verschwiegen, aber die Universalität ihrer Erfahrung und Ähnlichkeiten mit den Erlebnissen der Polen unter der Okkupation wurden betont. Siehe Iwona Guśćs noch unveröffentlichten Artikel: „Ania’s Diary: The Polish Translation of the Diary of Anne Frank. Its History, First Publication, and Reception in Post-Stalinist Poland“, 10–11. 16 Zitiert aus der deutschen Übersetzung eines Artikels von Anna Kornacka und Ludwika Woyciechowska „Die Geschichte von Dawidek“ im Express Wieczórny im Privatarchiv von Konrad Weiß. Das Erscheinungsdatum ist nicht vermerkt.
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erinnern sie ihre Leser an „eine neue Tragödie“, die die übriggebliebenen polnischen Dorfbewohner Monate später erleiden mussten. Als Rache für einen Anschlag auf einen Deutschen wurden fünfzig Menschen auf dem Marktplatz erschossen. Beide Ereignisse werden hier gleichgesetzt. Rassistisch begründete Differenzen, die das Tagebuch dokumentiert, werden nicht thematisiert. Die Vielschichtigkeit der Täter- und Opferidentitäten im Generalgouvernement, in die uns Dawids Tagebuch einführt, findet in der Behandlung des Textes in den polnischen Medien kein Echo. So wird ausschließlich von „den Nazis“ als Tätern und von „den Polen“, darunter auch Juden wie Dawid, als ihren Opfern gesprochen. Nirgendwo wird polnische bzw. jüdische Verstrickung in Schuld thematisiert. Und jenseits des Sammelbegriffs „Nazis“ gibt es keine differenzierte Beschreibung der deutschen Täter. Wenn es um die Verbrechen an der jüdischen Bevölkerung geht, neigen die Kommentatoren häufig zum Passiv und zum unpersönlichen Pronomen ‚man‘, um eine Benennung der Täter zu umgehen. In dem Nachwort von Maria Jarochowska zum Tagebuch werden die Täter verallgemeinert und bleiben hinter Passivformulierungen versteckt. Ihre Darstellung des Transports der Juden nach Treblinka lautet dort: Das Gebrüll der Eskorte, der Widerhall der Schläge, das Bellen der Hunde, diese alltägliche Musik der Vernichtung, begleitete die Juden, die auf den Bahnhof Suchedniow getrieben wurden. Dort wurden diese Menschen zusammengepfercht und auf den letzten Weg gebracht, den Weg, von dem es kein Zurück gibt. (126)
4 Die Veröffentlichungen des Tagebuchs in der DDR und der Bundesrepublik Die erste deutsche Ausgabe des Tagebuchs wurde 1960 vom S. Fischer Verlag veröffentlicht. Eine ostdeutsche Ausgabe folgte ein Jahr später beim Verlag Volk und Welt. Rein äußerlich unterschieden sich die zwei Ausgaben kaum voneinander. In beiden Fällen wurde der Umschlag mit einem Faksimile des Originalschulheftes, in dem Dawid sein Tagebuch geführt hatte, bedruckt. Es handelte sich allerdings um unterschiedliche Übersetzungen des polnischen Ursprungstexts17 mit zum Teil unterschiedlichen Paratexten. Für die Volk und Welt-Ausgabe
17 Die westdeutsche Ausgabe wurde von Wanda Brońska-Pampuch übersetzt, die ostdeutsche von Stanisław Żyliński. Beim S. Fischer Verlag hatte man sich entschieden, die deutsche Schreibweise von Dawids Vornamen zu benutzen, der Titel lautete demnach: Das Tagebuch des David Rubinowicz.
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wurden alle polnischen Paratexte – Vorwort, Nachwort, Anmerkungen und Dokumente – beibehalten. Die S. Fischer-Ausgabe wurde hingegen lediglich von einem Klappentext und den Anmerkungen von Adam Rutkowski18 umrahmt. Es fehlen außerdem einige Dokumente aus dem Archiv des Jüdischen Historischen Instituts in Warschau. Keines der vier Fotos, die das Schicksal der Juden in Treblinka dokumentieren, wurde hier veröffentlicht. Außerdem wurden zwei Dokumente, die mit einer Unterschrift versehen waren‚19 weggelassen. Diese Auslassungen zeugen von einer Zurückhaltung im Umgang mit der Schuldfrage. Wie auch unten gezeigt wird, hat der Verlag in diesem Fall eine allzu grausame Darstellung des Holocaust und konkrete Schuldzuweisungen vermieden. Der S. Fischer Verlag ist erst durch Ludwig Zimmerers Artikel in Die Welt vom 23. Februar 1960 auf das Tagebuch aufmerksam geworden.20 Das Interesse an dem Text dürfte groß gewesen sein, denn der Verlag bemühte sich sehr schnell um die Rechte. Schon am 25. Februar gewährt der polnische Verlag ZAiKS – der offizielle Rechtsinhaber des Tagebuchs – dem westdeutschen Verlag eine Option auf die Rechte.21 Die Verhandlungen mit ZAiKS verliefen danach jedoch alles andere als einfach. Am 7. März erklärt der S. Fischer-Mitarbeiter Christoph Schwerin der Übersetzerin Wanda Pampuch, dass es mit dem Projekt doch nichts werde, da ZAiKS plane, die Rechte gleichzeitig in die Schweiz und in die DDR zu verkaufen. Dies wäre für seinen Verlag „unannehmbar“.22 Eine Woche später schreibt er ihr, dass sich die Rechtslage nun doch „geklärt“ habe.23 Wie es zu dieser Wendung kam, lässt sich aus der Korrespondenz zwischen Schwerin und dem Verlag ZAIKS nachvollziehen. Ein Brief vom 7. März, in dem Schwerin droht, das Angebot seines Verlags zurückzunehmen, scheint die von ihm beabsichtigte Wirkung gehabt zu
18 Die Anmerkungen erschienen in diesem Fall als eine Art Nachwort am Ende des Buches. 19 Es fehlen ein Brief zur Fertigstellung des Vernichtungslagers Treblinka und ein Brief des Kommissars für den jüdischen Wohnbezirk in Warschau, Irmfried Eberl, sowie die letzte Seite der Fahrplanordnung Nr. 587 mit der Unterschrift von Reichsbahninspektor Glas. 20 Vgl. Brief von Hans-Geert Falkenberg an Prof. Dr. Roman Karst vom 25. Februar 1960. Deutsches Literaturarchiv Marbach (DLA), A: Fischer, Samuel Verlag, Briefe von SFV/Rubinowicz David, NZ. 85.3. 21 Vgl. Telegramm vom Verlag ZAiKS an den S. Fischer Verlag vom 25. Februar 1960. DLA, A: Fischer, Samuel Verlag, Briefe an SFV/Rubinowicz David, NZ. 85.3. 22 Vgl. Brief von Christoph Schwerin an Wanda Pampuch vom 7. März 1960. DLA, A: Fischer, Samuel Verlag, Briefe von SFV an/Rubinowicz David, NZ. 85.3. 23 Brief von Christoph Schwerin an Wanda Pampuch vom 15. März 1960. DLA, A: Fischer, Samuel Verlag, Briefe von SFV an/Rubinowicz David, NZ. 85.3.
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haben.24 Am 23. März bestätigt Schwerin jedenfalls, dass der S. Fischer Verlag die Rechte „für das deutschsprachige Gebiet, also auch für Österreich und die Schweiz, mit Ausnahme der DDR“, gesichert hat.25 Für die westdeutsche Ausgabe von Dawids Tagebuch war ursprünglich ein neues Vorwort von Eugen Kogon vorgesehen.26 Außerdem sollte Wanda Pampuch zusätzlich zu ihrer Übersetzung ein Nachwort und ein paar Begriffserklärungen liefern.27 Dies zeugt von dem Wunsch des Verlags – zumindest am Anfang des Buchprojekts –, Dawids Tagebuch und somit auch seine Erfahrung zu legitimieren und westdeutschen Lesern zugänglich zu machen. Was das Vorwort angeht, hat der Lektor Janko von Musulin in einem Brief an Kogon28 die Vorstellungen des Verlags kurz skizziert. Dort bittet er den Autor des Buches Der SS-Staat darum, Dawids Geschichte in ihren historischen Kontext einzubetten und dabei die Lage der Juden im Generalgouvernement zu beleuchten. In ihrem Nachwort sollte Übersetzerin Pampuch unter anderem für die Authentizität des Tagebuchs bürgen.29 Aus dem geplanten Vorwort wurde jedoch nichts. Fünf Tage nach dem vereinbarten Abgabetermin schreibt von Musulin einen Brief an Kogon, in dem er darauf drängt, das Vorwort bald einzureichen.30 Die Korrespondenz hört aber
24 Brief von Christoph Schwerin an ZAiKS Verlag vom 7. März 1960. DLA, A: Fischer, Samuel Verlag, Briefe von SFV an/Rubinowicz David, NZ. 85.3. ZAiKS-Mitarbeiterin Zofia Wisniewska erwähnt die Höhe des Angebots in einem späteren Brief an Schwerin: „8% du prix de vente pour le premier 6.000 exemplaires et 10% pour les tirages suivants, avec une avance de 4.800 zlotys“. DLA, A: Fischer, Samuel Verlag, Briefe an SFV/Rubinowicz David, NZ. 85.3. 25 Brief von Christoph Schwerin an Zofia Wisniewska vom 23. März 1960. DLA, A: Fischer, Samuel Verlag, Briefe von SFV/Rubinowicz David, NZ. 85.3. Ein ZAiKS-Mitarbeiter hatte Schwerin am 19. März 1960 erklärt, warum die Rechte sowohl nach Westdeutschland als auch in die DDR verkauft werden sollten: „Aus politischen Gründen war es unmöglich, Ihnen die Rechte für beide Teile Deutschlands zu verschaffen. Es wurde also beschlossen, mit Ihnen und mit einem DDR-Verlag zwei Verträge zu schliessen. Der Verlag ‚Volk und Welt‘ in Ost-Berlin kann das Buch nur in der DDR herausbringen und hat kein Recht, die Lizenz in der Bundesrepublik zu verkaufen.“ DLA, A: Fischer, Samuel Verlag, Briefe an SFV/Rubinowicz David, NZ. 85.3. 26 Vgl. Brief von Christoph Schwerin an Wanda Pampuch, 4. März 1960. DLA, A: Fischer, Samuel Verlag, Briefe von SFV/Rubinowicz David, NZ. 85.3. 27 Vgl. DLA, A: Fischer, Samuel Verlag, Briefe von SFV/Rubinowicz David, NZ. 85.3. Vgl. dort auch die Briefe von Christoph Schwerin an Wanda Pampuch vom 30. März 1960 und vom 4. Mai 1960. 28 Vgl. Brief von Janko von Musulin an Eugen Kogon vom 5. April 1960. DLA, A: Fischer, Samuel Verlag, Briefe von SFV/Rubinowicz David, NZ. 85.3. 29 Vgl. Brief von Christoph Schwerin an Wanda Pampuch vom 30. März 1960. DLA, A: Fischer, Samuel Verlag, Briefe von SFV/Rubinowicz David, NZ. 85.3. 30 Vgl. Brief von Janko von Musulin an Eugen Kogon vom 18. Juli 1960. DLA, A: Fischer, Samuel Verlag, Briefe von SFV/Rubinowicz David, NZ. 85.3.
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an dieser Stelle auf. Pampuch wiederum schickt ihr Nachwort Ende Juli an den Verlag31, doch der Text wird nicht veröffentlicht. Einen Monat bevor das Tagebuch erscheint, schreibt Lektor Schwerin der Übersetzerin, dass „wir uns jetzt doch dazu entschlossen [haben], das Tagebuch des David Rubinowicz ohne jedes Nachwort herauszubringen“.32 Die Gründe für diese Entscheidung werden in der Verlagskorrespondenz nirgendwo explizit angesprochen. Ein Vergleich von Pampuchs Nachwort mit dem Klappentext, der letztendlich gedruckt wurde, lässt jedoch erahnen, was an ihrem Text gestört hat. Er ist eine sehr persönliche und emotionale Reaktion auf ein Buch, mit dem Pampuch bestens vertraut war. Hier schreibt sie unter anderem von der Verschlechterung der Sprache in der zweiten Hälfte des Tagebuchs, die sie auf Dawids „ständige Nervenanspannung“ zurückführt; sie stellt auch klar, dass die Täter Deutsche waren, und kritisiert damit implizit eine Tendenz in der westdeutschen Öffentlichkeit, den Holocaust losgelöst von der Schuldfrage zu behandeln:33 Dem Jungen kommt dieses Unglück wie ein unabwendbares Naturereignis vor, dem sie wehrlos ausgeliefert sind. Der Leser muß sich […] immer wieder vergegenwärtigen, daß es ja nicht Naturkräfte, sondern Menschen, deutsche Menschen waren, die diesem Kind und seinen Angehörigen, wie Millionen Unschuldiger, dieses Schicksals beschert haben.34
In einer Mahnung am Ende ihres Nachworts unterstreicht Pampuch die besondere Verantwortung der Deutschen, die Erinnerung an dieses Ereignis wach zu halten, eine Verantwortung, die sich aus der Schuld herleite: „Dawid Rubinowicz lebte in Polen aber er wurde von Deutschen umgebracht. Es ist unsere Sache über ihn zu berichten und die Kunde von seinem Schicksal weiterzutragen.“35 Der Klappentext, für den sich der Verlag entschlossen hat, wirkt dagegen sehr blass und anonym. Er beginnt mit einem Zitat aus dem polnischen Nachwort, das Dawids fehlenden Hass gegenüber seinen Verfolgern in den Vordergrund stellt:
31 Vgl. Brief von Wanda Pampuch an Christoph Schwerin vom 27. Juli 1960. DLA, A: Fischer, Samuel Verlag, Briefe an SFV/Rubinowicz David, NZ. 85.3. 32 Brief von Christoph Schwerin an Wanda Pampuch vom 10. September 1960. DLA, A: Fischer, Samuel Verlag, Briefe von SFV/Rubinowicz David, NZ. 85.3. 33 Siehe hierzu Bach 2007. 34 Brief von Wanda Pampuch an Christoph Schwerin vom 27. Juli 1960. DLA Marbach, A: Fischer, Samuel Verlag, Briefe an SFV/Rubinowicz David, NZ. 85.3. 35 Brief von Wanda Pampuch an Christoph Schwerin vom 27. Juli 1960. DLA, A: Fischer, Samuel Verlag, Briefe an SFV/Rubinowicz David, NZ. 85.3.
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Nach den Gesetzen, auf die sich die Psychologie im allgemeinen stützt, müßte all das Furchtbare, das David erfuhr, in ihm alle menschlichen Gefühle töten, ihn gleichgültig gegenüber allem machen, was nicht seine eigene Sicherheit bedeutet. Aber gerade weil der kleine David keine Vergeltung will, nicht von Rache träumt, nicht einmal anklagt, ist sein Tagebuch eine der dramatischsten, ausdrucksvollen Anklagen.36
Hier wird implizit eine Verbindung zu Anne Frank hergestellt, deren Satz, „Ich glaube an das Gute im Menschen“, prominent auf den Umschlag der S. FischerAusgabe von 1955 gedruckt und in der westdeutschen Rezeption ihres Tagebuchs sehr stark aufgegriffen wurde.37 Leser des Tagebuchs des Dawid Rubinowicz sollten somit in eine ähnliche Gedankenrichtung gelenkt werden, jenseits einer Auseinandersetzung mit den Themen Täterschaft und Schuld. In einer früheren Fassung des Klappentextes werden immerhin „die Deutschen“ als Täter benannt.38 In der endgültigen Version werden jedoch „die Deutschen“ mit der „SS“ ausgetauscht und eine weitere Benennung der Täter streng vermieden: Im Frühjahr 1942 trieb die SS die Juden der Umgebung in der kleinen Stadt Bodzentyn zusammen […]. Die aus ihren Häusern Gejagten wurden zusammengepfercht […]. Wer die Sperrzone verließ […] wurde erschossen. Enge, Erniedrigung und Angst fanden ihr scheinbares Ende in jenem Trompetensignal auf dem Marktplatz, das den Befehl zum Abtransport ankündigte. In Viehwaggons zusammengepreßt fuhr man alle in unbekannte Richtung in den Tod.39
Die Beweggründe für die ostdeutsche Ausgabe lassen sich anhand des Druckgenehmigungsverfahrens rekonstruieren.40 Für die Druckgenehmigung wurden zwei Verlagsgutachten erstellt – ein kurzes von Hanna Krogmann und ein ausführliches von Jutta Janka. Für Krogmann liegt der Wert des Tagebuchs in „seiner Bedeutung als Dokument und als Warnung“; darin werde „eine Vergangenheit lebendig, die heute vielfach noch nicht in ihrer Abgründigkeit erkannt und bewältigt wurde und vor deren Wiederholung wir bangen“; deshalb plädiert sie für eine „möglichst große Verbreitung“ des Tagebuchs.41 Jutta Janka drängt darauf,
36 Klappentext zu Das Tagebuch des David Rubinowicz (1960). 37 Zur Rezeption des Tagebuchs der Anne Frank siehe u. a. Gilman 1993; Loewy 1999; Benz 2004. 38 DLA, A: Fischer, Samuel Verlag, Verschiedenes/Rubinowicz David, NZ. 85.3. 39 Klappentext zu Das Tagebuch des David Rubinowicz (1960). 40 Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde, Stiftung Archiv der Parteien- und Massenorganisationen der DDR (BArch), DR 1/5127, 1–12. 41 BArch, DR 1/5127, 5. Laut der Druckgenehmigung wurde für die Erstausgabe eine Druckauflage von 10.000 Exemplaren vereinbart.
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das Tagebuch „so schnell wie möglich“42 den deutschen Lesern zugänglich zu machen. Anders als die polnischen Rezensenten des Tagebuchs stellt Janka Dawids jüdische Identität in den Vordergrund und macht kein Hehl aus der Tatsache, dass es in seinen Aufzeichnungen ausschließlich um die Verfolgung der jüdischen Bevölkerung im Generalgouvernement geht. Ganz am Anfang ihres Gutachtens stellt sie fest, dass sich dieser Text „wesentlich“ vom Tagebuch der Anne Frank unterscheide. Die darauf folgende Diskussion über die unterschiedlichen Erfahrungen beider Opfer wird von der offiziellen Darstellung der Widerstandsthematik in der DDR überlagert. In Jankas Gutachten nimmt Dawids Erfahrung Züge von aktivem Widerstand an, während Anne Franks Leiden als passiv gedeutet wird. Es wird nahegelegt, dass Annes Schicksal weniger gravierend und von einer bürgerlichen Bequemlichkeit gekennzeichnet sei, während Dawid stellvertretend für ein eher kämpferisches Leiden der proletarischen ‚Ostjuden‘ stehe: Die Welt des Dawid Rubinowicz ist härter, bitterer, ärmer, unbarmherziger. Seine Aufzeichnungen entstehen nicht in einem engen Versteck, unter der relativ sicheren Obhut der Familie und Freunde. Er und seine Eltern sind ausgeliefert: dem Dorfschulzen, den Deutschen, den Gendarmen. […] Ihr Dasein ist ein Kampf ums nackte Leben und das bedeutet hier: um das tägliche Brot.43
Für Janka zeugt auch Dawids oft unbeholfene Ausdrucksweise von der vermeintlich schrecklicheren Erfahrung der polnischen Juden, die sie als „Kampf“ bezeichnet: „der tägliche Existenzkampf, die Furcht vor den Häschern, […] Dawids soziale Lage, das unmittelbare Ausgeliefertsein an die Unterdrücker [diktieren] den Aufzeichnungen Dawids eine andere Sprache als dem Tagebuch der Anne Frank.“44 Indem Janka Dawids Geschichte in Verbindung mit dem ostdeutschen Widerstandsbegriff bringt, impliziert sie, dass sein Leid wertvoller und sein Tagebuch das bessere Zeugnis sei. Eine solche Verquickung von jüdischem Leid mit Widerstand als Voraussetzung für die Erinnerung an jüdische Opfer war durchaus gängig in der DDR.45 Wie gleich gezeigt wird, haben auch andere ostdeutsche Kritiker das Tagebuch des Dawid Rubinowicz positiv beurteilt, allerdings ohne Rückgriff auf das Deutungsmuster Widerstand.
42 BArch, DR 1/5127, 9. 43 BArch, DR 1/5127, 6. 44 BArch, DR 1/5127, 6. 45 Hartewig (2001, 39–40) spricht von der „Unterordnung der Holocaust-Opfer unter einem übermächtig gewordenen Begriff des Widerstands“. Siehe hierzu auch Eke 2006; Taterka 2000; Bach 2007, 108–199.
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5 Rezeption in der DDR und der Bundesrepublik Im Gegensatz zur Erinnerungswelle, die Dawids Tagebuch in Polen ausgelöst hatte, beschränkte sich die Resonanz in der ost- und westdeutschen Presse auf einige wenige Besprechungen und drei Veröffentlichungen von Tagebuchauszügen. Für den Zeitraum der Untersuchung habe ich zwei Besprechungen des Tagebuchs in der westdeutschen Presse46 und drei in der ostdeutschen Presse47 gefunden. Auszüge erschienen außerdem in zwei westdeutschen Zeitschriften – Polen von Heute48 und Das Argument49 – sowie in der ostdeutschen Berliner Zeitung50. Im Folgenden gehe ich auf die Besprechungen näher ein und zeige, dass sie trotz ihrer begrenzten Zahl bestimmte Tendenzen der damaligen Holocaust-Erinnerung in der Bundesrepublik und in der DDR beleuchten. Die dominante polnische Lesart von Dawids Erlebnissen als Teil einer umfassenden polnischen Leidensgeschichte findet keinen Widerhall in der deutschdeutschen Rezeption des Tagebuchs. Im Osten wie im Westen wird das Tagebuch zum Anlass für eine Behandlung des Themas Judenverfolgung im Nationalsozialismus.51 Das Hauptaugenmerk vom Welt-Korrespondenten Ludwig Zimmerer gilt der Unterdrückung der Juden im Generalgouvernement, wie sie Dawid beschreibt. In seiner Besprechung des Tagebuchs versucht er, westdeutsche Leser über die Verbrechen an der jüdischen Bevölkerung in diesem Gebiet aufzuklären. Für Klaus Schlesinger in der ostdeutschen Berliner Zeitung steht Dawids Schicksal „für das von Millionen jüdischer Kinder, die in den faschistischen Konzentrationslagern den Tod fanden“ (1960, 12). Auch wenn sein Text nicht ganz frei ist von Begriffen aus dem offiziellen DDR-Diskurs zu diesem Thema, spürt man Schlesingers
46 Zimmerer 1960; Helbich 1962. 47 Schlesinger 1961, 12; meine Vermutung, dass es sich hier um eine Besprechung des Schriftstellers Klaus Schlesinger handelt, wurde von seiner Biografin Astrid Köhler und dem Literaturwissenschaftler Jan Kostka bestätigt. Schlesinger hatte sich zu dieser Zeit intensiv mit dem Holocaust beschäftigt; Drobisch 1962; Trautmann 1963. 48 Polen von Heute. Wirtschafts- und Kulturprobleme (April–Juni 1960): 15–20. 49 Das Argument 3.19 (1961): 64–68. Die Auszüge stehen am Ende des Heftes, das sich intensiv mit dem Thema Polen beschäftigt. Die in der Ausgabe versammelten Artikel sind u. a. folgenden Fragestellungen gewidmet: „Judenhetze und Vertriebenenpolitik“, „Berlin, die Oder-NeißeGrenze und der Westen“, „Die geistigen Strömungen in Polen“ und „Die neue katholische Intelligenz in Polen“. Vgl. hierzu den Beitrag von Jan Loheit. 50 Berliner Zeitung, 30. Juli 1961, 10. 51 In nur einem Fall wird kein Bezug auf Dawids jüdische Identität und das spezifische Leiden der Juden genommen. In der kurzen Einführung zu den Auszügen aus dem Tagebuch in der Zeitschrift Polen von Heute ist das Fehlen jeglichen Bezugs auf das Judentum auffällig. Hier scheint sich die offizielle polnische Deutung widerzuspiegeln.
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starke Empathie für das Opfer und seine Erschütterung über dessen Erlebnisse.52 In seiner Rezension in der ostdeutschen Zeitschrift für Geschichtswissenschaft bezieht sich der Historiker Klaus Drobisch auf Treblinka als Ort jüdischen Sterbens und spricht von „Völkermord“ und einem „ungeheuerliche[n] Verbrechen: de[m] millionenfache[n] Mord an der jüdischen Bevölkerung“ (1960, 16). Auch die Sammelrezensionen in Die Zeit und in Die Christenlehre befassen sich mit dem spezifisch jüdischen Schicksal im Nationalsozialismus. Eine Auseinandersetzung mit Täterschaft und Schuld findet jedoch nur in begrenztem Maße statt. In Die Welt erwähnt Ludwig Zimmerer – getreu dem Tagebuch –, dass außer der deutschen Besatzungsmacht auch Polen und Juden an Aktionen gegen die jüdische Bevölkerung beteiligt waren.53 Er geht aber sonst nicht näher auf die Schuldfrage ein. Bis auf einen einzigen Hinweis auf „faschistische Gesetze“ (1960, 16) umgeht Klaus Drobisch in der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft diese Frage gänzlich. Klaus Schlesinger hält sich einerseits an den typischen ostdeutschen Sprachgebrauch, wenn er erwähnt, dass Dawid von „deutschen Faschisten in Treblinka ermordet“ worden sei. Gegen Ende der Besprechung wird er aber konkreter. Die „Endlösung der Judenfrage“ sei „von Himmler, von Globke, von Eichmann organisiert und durch Tausende von Helfershelfern ausgeführt“ worden (1960, 12). Die Benennung von Globke erinnert zwar an die häufigen Schuldzuweisungen an Westdeutschland in der ostdeutschen Öffentlichkeit‚54 in diesem Fall aber formuliert Schlesinger eine viel allgemeinere Anklage unter dem Eindruck des Eichmann-Prozesses. Seine Besprechung endet mit der emotionalen Mahnung: „Vergessen wir das nicht! Vergessen wir das nie! Dann erst war der Tod dieses Jungen in den Gaskammern von Treblinka nicht umsonst, dann erst können wir unseren Kindern die Zukunft sichern, die ihm, Dawid Rubinowicz, nicht beschieden war.“ (1960, 12) Die Besprechung von Dawids Tagebuch in einer Sammelrezension in Die Christenlehre ist nicht viel mehr als eine Inhaltsangabe, aber in der Einführung zu diesem längeren Artikel spricht Renate Trautmann sowohl von der kriminellen Schuld der Täter als auch von der kollektiven Schuld von „uns, Angehörigen
52 An einer Stelle zitiert er aus dem Tagebuch und schreibt gleich im Anschluss: „Das ist die Sprache eines Kindes mit den Erfahrungen eines Fünfzigjährigen! Eine traurige und ergreifende Mischung. Das Ergebnis einer wahnsinnigen Politik von der ‚Endlösung der Judenfrage‘.“ 53 „Alle Unternehmungen der Besatzungsmacht, in deren Dienst auch eine polnische, ja sogar eine jüdische Polizei stehen, sind […] mit Schlägen und Fußtritten verbunden.“ 54 Eine Rezension von Im Feuer vergangen. Tagebücher aus dem Ghetto ist ein Musterbeispiel für solche gegen Westdeutschland gerichteten Vorwürfe: „So hausten die Oberländer. Tagebücher aus dem Getto als Zeugen der faschistischen Verbrechen. Zu dem Buch Im Feuer vergangen“ in Neues Deutschland, 17. November 1959, 2.
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dieses Volkes, in dem das alles geschah“ (1963, 226). Um diese Vergangenheit zu bewältigen, brauche es keine „allgemeine[n] Schuldbekenntnisse“, sondern eine individuelle Auseinandersetzung mit der Schuld: „Es gilt, uns dieser Vergangenheit wirklich zu stellen“; die Lektüre von Zeugnissen wie dem Tagebuch des Dawid Rubinowicz ermögliche ein „solches Sichstellen“ (227).55 Ein Vergleich mit dem Tagebuch der Anne Frank strukturiert die Diskussion über Dawids Zeugnis in Ost- und Westdeutschland.56 Es bot sich sicherlich an, die Neuerscheinung mit dem bekannteren Tagebuch in Verbindung zu bringen. Die Bezeichnungen von Dawids Tagebuch als „Gegenstück“ oder „Pendant“57 zu Anne Frank sind oftmals nicht mehr als Floskeln. Zwei westdeutsche Rezensenten vergleichen die Bücher jedoch ausführlicher miteinander. Dabei bleibt dieser Vergleich nicht auf der literarischen Ebene. Aus der Tatsache, dass Dawid weniger wortgewandt als Anne schreibe, werden Schlüsse über die unterschiedlichen historischen Erfahrungen von ‚Ostjuden‘ und assimilierten, bürgerlichen (‚West‘) Juden gezogen. Das geht auch mit einer Bewertung ihrer jeweiligen Tagebücher als Zeugnisse und ihrer jeweiligen Stellung als Holocaust-Opfer einher. In Die Welt hebt Ludwig Zimmerer zunächst die Ähnlichkeiten mit dem Tagebuch der Anne Frank hervor, bevor er zugibt, dass „von dem gleichen Alter und dem gleichen Schicksal abgesehen, […] Anne und Dawid nicht viel miteinander gemein [haben]“ (1960). Annes Beredtheit und ihre Einsicht in die Lage der Juden zeugten von einer „ungeheueren Widerstandskraft“. Sie sei „getötet [von einem verbrecherischen System], [kann] aber nicht gebrochen werden.“ Mit seinem „hilflosen und oft stammelnden Jammern“ verkörpere Dawid dagegen eine Gemeinschaft „armer Provinzjuden“, die „ganz und gar Objekt des Geschehens, einem Terror ausgeliefert [sind], den sie nicht begreifen.“ Sein Zeugnis sei deshalb „eine noch schwerere Anklage als das Tagebuch Annes“. Entgegengesetzt zu dem
55 Das vollständige Zitat lautet: „Solches Gedenken und solches Sichstellen geschieht, wenn wir bereit sind, uns zu informieren, die authentischen Berichte von dem, was jüdische Menschen Grauenvolles erlitten, zu hören, ohne uns voll Grauen abzuwenden, in die innere Problematik jüdischen Schicksals, wie sie literarisch und dramatisch gestaltet worden ist, mit hineinzugehen, und schließlich auch den wissenschaftlichen Versuchen zu folgen, die nach den inneren Ursachen des Judenhasses fragen.“ 56 Klaus Schlesingers Rezension ist die einzige, die keinen Bezug auf Anne Frank nimmt. 57 Zum Beispiel: „Ein Pendant zu dem bekannteren der Anne Frank“ (Die Zeit, 28. September 1962); „polnisches Gegenstück zu Anne Frank“ (Die Welt, 23. Februar 1960); „das Gegenstück zum Tagebuch der Anne Frank“ (Berliner Zeitung, 30. Juli 1961); dem Tagebuch der Anne Frank „wurde jetzt […] eine genauso ergreifende Aufzeichnung zur Seite gestellt“ (Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 10.7 (1962): 16); das Tagebuch sei „ein ebenso bewegendes Zeitdokument wie das Tagebuch der Anne Frank“ (Neue Zeit, 17. März 1961).
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Verlagsgutachten von Jutta Janka, ist es hier Anne, der Züge einer Widerstandskämpferin zugesprochen werden‚58 während Dawid als das viel passivere Opfer dargestellt wird. Bei aller Betroffenheit über Dawids vermeintlich härteres Schicksal bedient sich Zimmerer hier des negativen Stereotyps des als fremd und rückständig gezeichneten ‚Ostjuden‘, welches Anfang der 1960er Jahre noch präsent war und im neunzehnten Jahrhundert im deutschen Sprachraum entstandene Zerrbilder aktualisiert.59 In einer Rezension der Berichte von fünf jüdischen Opfern des Nationalsozialismus in Die Zeit60 schätzt der Historiker Wolfgang Helbich das Tagebuch des Dawid Rubinowicz höher ein als die Zeugnisse von Anne Frank, nicht nur wegen dessen Inhalt, sondern auch, weil das Buch besser geeignet sei, westdeutsche Leser zum Nachdenken über ihre Mitschuld zu veranlassen. Von allen Rezensenten ist Helbich der einzige, der Fragen der Rezeption und Wirkung in den Blick nimmt. Seine Besprechung von Dawids Tagebuch ist zugleich eine kritische Abrechnung mit „manche[n] Formen der Anne-Frank-Verehrung“ (Helbich 1962) in der Bundesrepublik.61 Am Anfang des Artikels fragt er im Bezug auf die Zeugnisse, die er rezensiert: „Welches sind die Kriterien für ihren Wert?“ Es wird im Weiteren deutlich, dass für ihn dieser Wert erstens in der Darstellung von historischen Fakten und zweitens in der Beförderung einer Auseinandersetzung mit der Schuld liegt. Die Identifikation und das oberflächliche Mitleid vieler westdeutscher Leser mit Anne Frank wirke einer „notwendige[n] wirkliche[n] Gewissensprüfung“ entgegen. Ihr Tagebuch sei zwar ein „eindringliches Dokument des Leidens“, aber die Geschichten und Ereignisse aus dem Hinterhaus hätten viel weniger dokumentarischen Inhalt und bergen deshalb noch mehr die Gefahr, dass „Rührseligkeit an die Stelle rationaler Prüfung tritt“. Für Helbich ist Dawids Tagebuch nicht nur als Dokument „reichhaltiger“, weil es die historischen Geschehnisse in einem bestimmten Gebiet anschaulich beschreibt, sondern auch geeigneter, weil es eine ähnliche Rezeption wie die von Anne Franks nicht zulässt. Dawid bleibe als Autor „viel weiter im Hintergrund als Anne Frank“ und besitze „nicht ihre Ausdruckskraft und ihre Phantasie“. Das Tagebuch des Dawid Rubino-
58 An anderer Stelle heißt es: „Anne verfolgt die politischen Ereignisse, jubelt über deutsche Niederlagen, schöpft Kraft aus ihnen.“ 59 Zur Geschichte des Begriffs ‚Ostjuden‘ siehe Saß 2013 in der Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur. 60 Im Artikel werden fünf verschiedene „Erinnerungsbücher“ besprochen und mit Bezug auf ihren dokumentarischen Wert beurteilt, u. a. Das Tagebuch des Dawid Rubinowicz, Geschichten und Ereignisse aus dem Hinterhaus von Anne Frank und Ist das ein Mensch? von Primo Levi. 61 In seinem Vortrag „Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit?“ von 1959 hatte auch Theodor W. Adorno die Anne-Frank-Rezeption in der Bundesrepublik kritisiert.
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wicz gebe so „kaum Anlaß zu sentimentaler Rührung“ und „es verführt weniger zu dem bei Anne Frank so gefährlich naheliegendem Schluß, dieser Mord sei deshalb so besonders verwerflich, weil das Opfer so begabt und sensibel, so sympathisch und rührend gewesen sei“.62
6 Fazit Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Rezeption des Tagebuchs von Dawid Rubinowicz in der Bundesrepublik und in der DDR um 1960 von Tendenzen gekennzeichnet ist, die den jeweils vorherrschenden Erinnerungsdiskursen entgegenlaufen. Jutta Jankas Gutachten bot eine Lesart des Tagebuchs an, die dem Widerstandsbegriff geschuldet war. Ihre Aufteilung von Dawid Rubinowicz und Anne Frank in aktive bzw. passive und proletarische bzw. bürgerliche HolocaustOpfer hat einen Bezugsrahmen geschaffen, der eine Priorisierung von Dawids Erfahrung und die Veröffentlichung seines Tagebuchs in der DDR bewirken sollte. Für die Rezeption ist jedoch auffallend, dass keine Besprechung seine Geschichte so vereinnahmt. Alle drei zitierten Rezensenten schreiben aus einem persönlichen Interesse an dem Thema, drücken ihre Empathie für das Opfer aus und erzählen verhältnismäßig offen von seinen Erfahrungen. Bei Drobisch und Schlesinger fehlt eine tiefgehende Auseinandersetzung mit der Schuldfrage, aber Trautmann spricht diese Frage auf eine für den öffentlichen Diskurs in der DDR ungewöhnlich differenzierte Weise an. Ebenso auffallend an der ostdeutschen Rezeption des Tagebuchs ist der Verzicht auf einen naheliegenden ausführlichen Vergleich mit dem Tagebuch der Anne Frank. Es spricht einiges dafür, dass dieser Verzicht von dem Wunsch motiviert war, ideologisch aufgeheizte Diskussionen zu vermeiden und das Besondere an Dawids Tagebuch und seinem Schicksal unabhängig von anderen Zeugnissen zu würdigen. Die ostdeutsche Rezeption des Tagebuchs des Dawid Rubinowicz zeigt, dass es Anfang der 1960er Jahre durchaus möglich war, sich persönlich und ohne ideologische Bezugnahmen zum Thema Judenverfolgung im ‚Dritten Reich‘ zu äußern, auch wenn parallel dazu der Holocaust in der historischen Meistererzählung der DDR politisch instrumentalisiert wurde.63
62 Für Helbich ist „das mit Abstand wertvollste“ Zeugnis Primo Levis Ist das ein Mensch?. 63 In der Sekundärliteratur wird oft darauf hingewiesen, dass das Thema Holocaust seit Ende der 1950er Jahre in der DDR-Öffentlichkeit zwar zunehmend thematisiert wurde, jedoch meistens mit dem Zweck, Westdeutschland als Nachfolgestaat von NS-Deutschland zu diffamieren. Siehe dazu Hartewig 2001 und Gröhler 1993.
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In beiden westdeutschen Rezensionen des Tagebuchs ist eine scharfe Kritik an Tendenzen der damaligen Holocaust-Erinnerung in der Bundesrepublik, vor allem an der Verengung der Perspektive auf ein Opfer – Anne Frank – zu spüren. Hier dient der detaillierte Vergleich Dawid Rubinowicz/Anne Frank dazu, westdeutsche Leser auf die bis dahin größtenteils vernachlässigten jüdischen Opfer aus Osteuropa und – speziell bei Helbich – auf andere Versäumnisse in der öffentlichen Holocaust-Erinnerung aufmerksam zu machen, die sich in der Rezeption von Anne Frank zuspitzten. Ost- und westdeutsche Rezensenten von Dawids Tagebuch sprechen seinem Zeugnis einen höheren Stellenwert als dem des Tagebuchs der Anne Frank zu. Für Klaus Drobisch ist Anne Franks Text durch die polnische Neuerscheinung „zur Seite gestellt“ (1960, 16). Ludwig Zimmerer behauptet, dass Dawids Tagebuch „eine noch schwerere Anklage als das Tagebuch Annes [darstellt].“ (1960) Dennoch bleiben für eine breite Leserschaft in beiden deutschen Staaten Anne Franks Stellung als die Symbolfigur jüdischen Leidens und der Wert ihres Tagebuchs als Zeugnis dieses Leidens auch nach der Veröffentlichung von Dawid Rubinowicz’ Aufzeichnungen unangefochten. Das Tagebuch des Dawid Rubinowicz ist in den 1960er Jahre kein annähernd vergleichbarer Publikumserfolg: Eine zweite Auflage erscheint erst 1985 in der DDR64 und 1988 in der Bundesrepublik65. Die sehr gut dokumentierte Rezeption des Tagebuchs der Anne Frank in der Bundesrepublik66 und der DDR67 zeigt, dass Anne Frank einem starken Identifikationsprozess bei deutschen Lesern unterworfen war. Aspekte der Publikations- und Rezeptionsgeschichte ihres Zeugnisses beförderten diesen Prozess. Ihre jüdische Identität wurde nicht verschwiegen, aber ihr Leiden wurde universalisiert und dies führte eher weg von konkreten Antworten auf die Frage: Wer ist schuld? Deutungen der Judenverfolgung, die in der ost- und westdeutschen Rezeption ihres Tagebuchs zum Ausdruck kommen, wollen auf eine Entlastung der Deutschen bzw. Ostdeutschen hinaus. Das Identifikationspotenzial für ost- und westdeutsche Leser ist bei dem Vertreter des weiterhin als fremd gezeichneten ‚Ostjuden‘ Dawid Rubinowicz nicht gegeben. Für die deutschen Fassungen von Dawids Tagebuch wurde zudem auf neue Paratexte verzichtet, die die Aufnahme des Textes in der DDR und der Bundesrepublik erleichtert hätten.
64 Das Tagebuch des Dawid Rubinowicz. Berlin: Kinderbuchverlag, 1985. 65 Das Tagebuch des Dawid Rubinowicz. Weinheim: Beltz und Gelberg, 1988. 66 Zur Rezeption des Tagebuchs der Anne Frank siehe u. a. Loewy 1999; Benz 2004; Gilman 1993; Rosenfeld 1991. 67 Vgl. Kirschnick 2009.
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Anne Boden
Das Tagebuch der Anne Frank ist ein Buch, in dem der Holocaust zwar präsent ist, aber partiell in den Hintergrund rückt. Es konnte als Literatur vermittelt und gelesen werden. Das wäre im Fall des Tagebuchs von Dawid Rubinowicz nicht möglich gewesen, einem Buch, das den Leser auf fast jeder Seite mit der Judenverfolgung in Polen konfrontiert. Weil die Kritiker auf dem dokumentarischen Wert des Zeugnisses und auf seiner Andersartigkeit im Vergleich zum Tagebuch der Anne Frank beharrten, forderten sie implizit oder explizit eine Auseinandersetzung mit der Schuld an der Ermordung der Juden in Osteuropa, die um 1960 weder in der Bundesrepublik noch in der DDR gewollt wurde.
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Ein osteuropäisches Pendant zu Anne Frank
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Silvia Schlenstedt
Die Kollektivkomposition Jüdische Chronik (1960–1961) Ein nahezu unbekanntes Werk von 1960–1961 soll vorgestellt werden, das einzigartig zu nennen ist: in Bezug auf sein Thema – Massenmord an den Juden und Antisemitismus in der Gegenwart – und auf das Zusammenwirken von Künstlern, die es gemeinschaftlich bearbeiten: eine Jüdische Chronik, die aktuell eingreifend sein sollte – was nicht gelang – und die Vergangenheit mahnend vergegenwärtigte. Dieses Werk „für Alt- und Baritonsolo, Kammerchor, zwei Sprecher und kleines Orchester“ wurde nicht zu Unrecht den Politischen Oratorien im zwanzigsten Jahrhundert zugeordnet, einer Art „musikalischer Dokumentarmusik“.1 Doch um die musikalischen Qualitäten (vgl. dazu die Analyse des Musikwissenschaftlers Hanns-Werner Heister 1995) kann es in meinem Beitrag nicht gehen, vielmehr werden 1. Entstehung und zeitgeschichtliches Umfeld der Chronik skizziert, 2. der Text des Werks nach den Mitteln und Wegen befragt, die sein Autor zur Darstellung des Genozids an den Juden fand, und 3. schließlich Fakten zur Realgeschichte der Jüdischen Chronik angeführt.
1 Entstehung und zeitgeschichtliches Umfeld Die Jüdische Chronik geht auf Initiative und Impulse vor allem zweier Menschen zurück: des Komponisten Paul Dessau und des Lyrikers Jens Gerlach. Was Generation und Erfahrung betrifft, waren sie höchst verschieden: Dessau, Jahrgang 1894, Jude, floh 1933 aus Nazideutschland, kehrte 1948, nachhaltig politisiert, in den östlichen Teil Deutschlands zurück, wo er, die Erfahrungen der Kunstavantgarde im Exil weiterführend, avanciertes Komponieren und politisch engagierte Kunst zu vereinen wusste. Gerlach, Jahrgang 1926, war ganz jung am faschistischen Vernichtungskrieg beteiligt, was erhebliche Wendungen auslöste (1943 Meldung des 17-jährigen zur Waffen-SS, 1944 Desertion, dann in eine Strafkompanie gesteckt); Antikrieg und Antifaschismus werden und blieben Antriebe für den jungen Autor aus Hamburg, der 1953 in die DDR übersiedelte.
1 Vgl. die CD Politische Oratorien – in der Dokumentation des Deutschen Musikrats Musik in Deutschland 1950–2000 –, die eine Aufnahme der Jüdischen Chronik enthält (Blacher et al. 2005); diese wird im Booklet von Gerhard Müller kommentiert und in die moderne Musikentwicklung eingeordnet. http://doi.org.de/10.1515/9783050093932-018
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Den Anstoß für eine gemeinsame Arbeit gab Paul Dessau. Unmittelbarer Anlass waren antisemitische nazistische Vorfälle an der Jahreswende 1959–1960, spektakulär besonders Hakenkreuze und judenfeindliche Parolen an der Kölner Synagoge an Heiligabend 1959, die in den folgenden Wochen hunderte von Nachfolgen zeitigten, Grabschändungen, Besudelung von Synagogen vor allem durch junge Leute.2 Dagegen öffentlich aufzutreten, nicht mit publizistischen Erklärungen, sondern als Künstler mit der Sprache der Kunst, das war Paul Dessaus Impuls. In Gesprächen zwischen ihm und Gerlach entstand der Plan (Selbstzeugnissen des Autors zufolge) vermutlich Januar/Februar 1960. Dessau habe ihm zur Zeit der neonazistischen Welle in der Bundesrepublik, die viele als Vorzeichen einer sich wiederholenden Barbarei ansahen, das Projekt vorgeschlagen, und er habe nach „einiger Überlegung“ zugestimmt und sich „für die Gestaltung des Warschauer Ghettoaufstands und damit für die Form einer Chronik“ entschieden.3 Die Beweggründe, ein solches Projekt zu beginnen, waren bei Dessau und Gerlach nicht gleich, indes passend für ein Zusammenspiel. Dessau habe, so ein spätes Notat des Lyrikers, seine „noch sehr ungenaue“ Vorstellung aufgenommen, „und in wenigen Stunden entstand eine Art Roh-Konzept, dessen hauptsächlicher Inhalt war, daß Komponisten bzw. Schriftsteller aus der DDR und der BRD paritätisch an diesem Projekt beteiligt sein müssten“. Dazu übernahm er „jetzt ganz die Initiative“, um Komponisten zu gewinnen, „die grundsätzlich bereit waren, sich zu beteiligen“.4 Dessau ging es offenbar darum, angesichts beunruhigender antisemitischer Manifestationen eine Gemeinsamkeit des Engagements von Künstlern aus beiden deutschen Staaten zu organisieren und Antifaschismus in einer modernen Kunstarbeit zu erhärten. Anderes bewegte den Autor Gerlach mit seiner deutschen Biografie. „Meine erste Aufgabe war das gründliche Durchdenken des Problems von Schuld und Sühne“, so hielt er für sich fest‚5 und dieses Akzentuieren von
2 Vgl. dazu Schoenberner 1960; Schönbach 1961; Kraushaar 1991, insbesondere 56–58, wo auch eine Äußerung von Max Horkheimer vom 6. Januar 1960 mitgeteilt wird, „daß dies das erste Mal seit 1945 sei, daß ‚eine völkische Kundgebung so umfangreicher Art‘ sich ereignet habe“ (57). 3 Jens Gerlach. Einige Bemerkungen zur „Jüdischen Chronik“. Typoskript, 3 Seiten, o. J. [vermutlich Anfang 1960er Jahre]. Nachlass Gerlach (betreut durch Henry-Martin Klemt, Frankfurt/O.). Im Folgenden nachgewiesen als Gerlach, Bemerkungen, mit Seitenzahl. 4 Jens Gerlach. Einige Notate zur Entstehung der „Jüdischen Chronik“. Typoskript, 1987. Nachlass Gerlach (betreut durch Henry-Martin Klemt, Frankfurt/O.). Im Folgenden nachgewiesen als Gerlach, Notate, mit Seitenzahl. 5 Gerlach, Bemerkungen (wie Anm. 3). In diesen Bemerkungen bewegen den Autor generell die „Fragen nach Schuld und Sühne“ und er erörtert zunächst allgemein, was angesichts der Verbrechen an den Juden in Europa Sühne und Wiedergutmachung sein könne und kommt dann auf die Verhältnisse im geteilten Deutschland und die als „Vorzeichen“ gewerteten nazistischen Vorfälle.
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„Schuld und Sühne“ zeigt an: für den Autor wurde mit dem Vorhaben, das gegen Antisemitismus in der Gegenwart gerichtet war, zugleich seine eigene Lebensgeschichte aktualisiert. Das wird offenbar durch Dokumente jenes Zeitraums. „Der Gedanke, daß es immer noch Unbelehrbare gibt“, die „nicht nur selbst unveränderter Gesinnung“ blieben, „sondern auch ihre Kinder wieder mit diesen braunen Pesterregern infiziert haben, dieser Gedanke ist für uns hier in der Tat tief erschreckend“ – so schreibt Gerlach am 9. Februar 1960 aus Berlin an seine Familie in Hamburg; bewegt berichtet er im Brief von einer Matinee gegen den Antisemitismus, an der er beteiligt war: Da stand ich nun mit Andre Asriel zusammen auf der Bühne, (wir haben gemeinsam ein Jüdisches Liebeslied geschrieben), er, der Jude und mein Freund, und ich, der ich einen ganz anderen Weg gegangen bin und nun trotzdem sein Freund wurde. Da war Lin Jaldati, die jüdische Volkssängerin, in deren Armen die kleine Anne Frank gestorben ist. Da war eine junge Schauspielerin, Ungarn-Deutsche, Jüdin, die ihre gesamte Familie in den Lagern verloren hat… Und ich stand mitten unter ihnen, war einer von ihnen, gehörte dazu – und plötzlich wurde mir fast schmerzlich bewusst, wie lang doch der Weg gewesen ist, den ich in den letzten fünfzehn Jahren habe gehen müssen.6
Wie sehr ihm die antirassistische Stellungnahme ein dringliches Bedürfnis war, spricht auch aus einem weiteren Brief an die Mutter vom 27. März 1960, worin von der bevorstehenden Premiere eines Fernsehspiels die Rede ist, das er geschrieben habe. Dessen Titel Der Schatten von gestern erläutert er: „das ist der Antisemitismus; ich mußte einfach etwas dazu sagen“. Außer dieser Sache, „die ja notwendig und vordringlich war“, sei „noch eine andere größere Sache in Arbeit“, die thematisch mit dem Fernsehspiel zusammenhängt: „Eine Jüdische Chronik. Es ist eine Art Ballade, die von vier oder fünf Komponisten komponiert werden wird“, und zwar prominenten aus der DDR und der Bundesrepublik.7 Bevor das Entstehen der Chronik weiterverfolgt wird, sei wenigstens kurz auf den Fernsehfilm eingegangen; er geht ihr zeitlich voraus und stellt einen anderen Modus, ein anderes Genre des Reagierens auf das Zeitgeschehen dar. Der Schatten von gestern ist gänzlich als Gegenwartsstück angelegt, das zur Diskussion gesellschaftspolitischer Sachverhalte beitragen soll. Mit der Chronik weist er insofern Berührungspunkte auf, als die antijüdischen Schmierereien an Gedenksteinen und Synagogen und die anonymen Bedrohungen überlebender Juden, auf die der
6 Jens Gerlach. Brief an die Mutter und die Brüder Jörgen und Peter, Berlin, 9. Februar 1960. Nachlass Gerlach (betreut durch Henry-Martin Klemt, Frankfurt/O.). 7 Jens Gerlach. Brief an die Mutter, Berlin 27. März 1960. Nachlass Gerlach (betreut durch HenryMartin Klemt, Frankfurt/O.).
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„Prolog“ des Chorwerks deutet, ebenso in die Vorgänge des Films hineinspielen.8 Die vorgeführte Handlung weist, wiewohl in fiktionalisierter Form, unmittelbar auf bestimmte Realitäten in der Gegenwart, die in der politischen Publizistik des Jahres 1959–1960 zur Sprache kamen und öffentlich debattiert wurden – die Weiter- oder Wiederbeschäftigung von Funktionsträgern aus der NS-Zeit in verschiedenen Institutionen und Ämtern der Bundesrepublik, insbesondere im juristischen Bereich.9 Die Handlung des Films ist unter Jurastudenten einer westdeutschen Universität angesiedelt und führt vor, weshalb und wie diese Studenten sich um Material bemühen, das die Vergangenheit von Juristen der älteren Generation aufhellt.10 Zum Zentrum hat er die Problematik einer konsequenten Abrechnung mit der Rechtsprechung während des Naziregimes. Das Weiterwirken von nazistisch belasteten Juristen und die Forderung, sie zur Rechenschaft zu ziehen, gerät für die Hauptakteure des Spiels (insbesondere eine jüdische Studentin und ihren Freund, Sohn eines altgedienten Amtsrichters) zur existenziellen Frage. Echte Eindringlichkeit wird in dem auf Enthüllung und politische Aufklärung orientierten (in demonstrativem Stil durchgeführten) Film dort erlangt, wo
8 Der Fernsehfilm Der Schatten von gestern ist in den Beständen des Deutschen Rundfunkarchivs (Potsdam) erhalten, sowohl der Film als auch das Drehbuch von Jens Gerlach. Seine Erstsendung war am 15. April 1960, Regie führte Joachim Kunert, Komponist war Andre Asriel. Die antisemitischen Schmierereien spielen darin mehrfach eine Rolle, und die Hauptfigur Ruth Sternberg, eine jüdische Studentin, erhält einen üblen Drohbrief, der mit „Deutschland erwache!“ endet – im Prolog der Jüdischen Chronik erscheinen ebenfalls anonyme Drohbriefe als Zeichen des aktiv werdenden Antisemitismus. 9 Im Handlungszeitraum des Fernsehfilms, 1959, war ein wichtiges öffentlich umstrittenes Thema die Haltung der Bundesrepublik zu den aktiv an der politischen, juristischen Praxis des NS-Regimes beteiligten Juristen; das Wirken solcher Funktionsträger als Staatsanwälte oder Richter wurde durch eine Ausstellung „Ungesühnte Nazijustiz“ im November 1959 offengelegt und in der Publizistik heftig und kontrovers erörtert. Vgl. dazu detailliert Belege im Beitrag von Dieter Schlenstedt. 10 Zur Spielhandlung von Der Schatten von gestern gehört, dass eine der Hauptakteure, Ruth Sternberg, im Auftrag der politisch engagierten Studentengruppe nach Berlin (Ost) fährt, um dort beim Ausschuß für Deutsche Einheit Materialien zu Juristen ihrer Universitätsstadt einzusehen; sie erhält Prozessakten, die ihren Vater betreffen und belegen: er wurde von einem Richter zum Tode verurteilt, der in der Gegenwart auch als Richter amtiert. Das Faktum, dass die von den Studenten öffentlich gemachten Dokumente aus der DDR stammen, wird im weiteren Verlauf der Handlung als belastendes Argument gegen sie benutzt. Der publizistischen Anlage des Fernsehfilms entspricht die Bezugnahme sowohl auf das Enthüllen der nazistischen Vergangenheit von leitenden Beamten durch Dokumentationen, die der Ausschuß für Deutsche Einheit veröffentlichte – so gerade 1959 mit einem Weißbuch Wir klagen an. 800 Nazi-Blutrichter – Stützen des Adenauerregimes –, als auch auf die Praxis in der Bundesrepublik jener Jahre, das Benutzen von Material, das aus der DDR oder Archiven in anderen osteuropäischen Staaten stammte, zu ignorieren oder gar zu kriminalisieren.
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ihm eine Mahnung gegen das Vergessen und gegen ein Hinnehmen von Ungerechtigkeit eingeschrieben ist. Aus den frühen Nachrichten Gerlachs über die Jüdische Chronik wie aus diversen anderen Korrespondenzen und Archivmaterialien lässt sich die Entstehungsgeschichte rekonstruieren. Erstens: Paul Dessau hat Gerlach ermutigt in dessen Hinwendung zum Thema Antisemitismus in Geschichte und Gegenwart, das belegt auch eine (nicht publizierte) Jüdische Ballade, deren Text in beider Nachlass liegt und als eine erste Reaktion auf die Neonazi-Vorfälle 1959/1960 anzusehen ist.11 Von dieser Jüdischen Ballade gibt es eine fragmentarische Vertonung durch Dessau, im Notenblatt von ihm datiert: 19. Januar 1960.12 Zweitens: Dessau hat den Plan für ein gemeinsames künstlerisches Votum zu diesen Vorgängen sehr früh, noch bevor ein Text zur Chronik geschrieben worden war, mit großer Energie vorangetrieben. Hans Werner Henze, der jüngste der beteiligten Komponisten (wie Gerlach Jahrgang 1926), wird als erster einbezogen, er stellt die Verbindung zu Karl Amadeus Hartmann her, dem er von Dessaus Plan berichtet, mit „mehreren Komponisten, aber zu einem Text (von einer Handlung) kurze Werke von mehreren Minuten gegen den Antisemitismus zu schreiben“, und diese noch vage Information mit der Frage verbindet, ob Hartmann mitmachen wolle.13 Ende April verschickte Dessau an seine Kollegen den „endgültigen Text, der bislang allen beteiligten zusagte“, zusammen mit Vorschlägen, wer von ihnen jeweils die Komposition welches Abschnitts übernehmen könnte.14 Noch
11 In Gerlachs Nachlass liegt die Jüdische Ballade in drei nahezu identischen Fassungen vor (einmal nur mit Ballade überschrieben und mit einer handschriftlichen Änderung); diese Ballade steht in einem Zusammenhang mit der Jüdischen Chronik wie auch mit dem Fernsehfilm Der Schatten von gestern: das Motiv der anonymen Drohbriefe, die Juden mit der Post zugeschickt werden, ist in der Ballade tragendes Motiv, in der Chronik eines der Zeichen erneuter Bedrohung der Juden. In der Ballade entwirft der lyrische Sprecher das Bild einer Wiederholung „längst vergangener“ Zeiten, indem er 1932 einsetzt, da sein Vater einen anonymen Drohbrief erhielt, und 1960 endet, da er selbst ebenfalls einen solchen Brief empfängt. 12 Im Nachlass von Paul Dessau befindet sich einmal in einer Mappe ein Durchschlag mit dem Text von Jens Gerlachs Jüdischer Ballade und zudem unter skizzierten Entwürfen der Beginn einer Vertonung der Jüdischen Ballade – ohne Vermerk des Titels – und zwar der ersten Strophe. Am Anfang der Vertonung ist von Dessau auf dem Notenblatt das Datum 19. I. 60 eingetragen. Vgl. Paul Dessau. [Skizze, Partitur(-Reinschr.)Entwurf f. p. 1] Die Stimme seiner Klasse für Gesang und Klavier, Text Jens Gerlach, o. O., 19. Januar 1960. Akademie der Künste, Berlin (AdK), PaulDessau-Archiv, 1.74.0761.1–2. 13 Brief von Hans Werner Henze an Karl Amadeus Hartmann, Neapel 13. März 1960 („Die Jüdische Chronik“ 1993, 329). 14 Paul Dessau an Rudolf Wagner-Régeny, Zeuthen 30. April 1960. AdK, Rudolf-Wagner-RégenyArchiv, 225. Vgl. dazu auch den Brief von Hans Werner Henze an Paul Dessau vom 3. Mai 1960, in
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vor seinem Treffen in München mit Hartmann und Henze zur Absprache über das Projekt, avisierte es Dessau seinem Komponistenfreund Luigi Nono; am 6. April 1960 schrieb er ihm: Es wird Dich interessieren, dass ich auf Anregung eines Freundes in Paris ein Kollektivwerk gegen den Antisemitismus vorhabe. Ein junger hiesiger Schriftsteller hat diese ‚Jüdische Chronik‘ gedichtet. Komponisten sind: Blacher, Dessau, Hartmann, Henze und WagnerRegeny.15
Der Brief zeigt: Dessau suchte nicht allein im deutsch-deutschen Kontext zu operieren, vielmehr vor einem internationalen Horizont, und gerade bei diesem Thema wollte er international wirksam werden. Bei dem erwähnten Freund in Paris handelt es sich um Jan (Senek) Korngold, der aus Polen stammte und mit dem Dessau seit den Pariser Emigrationsjahren eng verbunden war. Ein Konvolut mit Briefen Korngolds an Dessau lässt erkennen, wie früh16 und kontinuierlich er den Freund über dieses Projekt, seinen Fortgang und die späteren Rückschläge unterrichtete und wie Korngold seinerseits kameradschaftlich daran teilnahm und sich auch um die Voraussetzungen für eine Aufführung der Jüdischen Chronik in Frankreich bemühte, indem er einen Übersetzer des deutschen Textes vermittelte (eine französische Version, Chronique Juive, findet sich in Dessaus Nachlass).17 Ähnlich wie Korngold in Frankreich, suchte Dessau Freunde und Bekannte in Israel mit der entstehenden Arbeit bekannt zu machen, so den Dirigenten Chemjo Vinaver, der sich für die Uraufführung von Dessaus Oratorium Hagadah (1934/1936) in Jerusalem einsetzte, die im April 1962 auch zustande kam, und in
dem er sich auf den zugeschickten Text für die Jüdische Chronik bezieht: Hans Werner Henze an Paul Dessau, Hamburg, 3. Mai 1960. AdK, Paul-Dessau-Archiv, 2101, Nr. 3. 15 Dessau, Paul. [Brief] Paul Dessau an Luigi Nono, o. O., 6. April 1960. AdK, Paul-Dessau-Archiv, 1920. 16 Bereits am 9. April 1960 kommt Korngold in einem Brief an Paul Dessau auf die Jüdische Chronik zu sprechen, von der er u. a. meint, sie „kann und sollte ein Ereignis werden. In ganz grossem Masstab.“ (Korngold, Jean (Senek). [Brief] Jean (Senek) Korngold an Paul Dessau, Cagnes sur Mer, 9. April 1960. AdK, Paul-Dessau-Archiv, 3129, Nr. 31.) 17 In einem Brief an Paul Dessau vom 18. Mai 1961 berichtet Korngold u. a. von seiner Lektüre eines Buchs von Vercors und fügt in Parenthese ein: „Vercors est ce poète-écrivain, que je t’ai proposé comme traducteur de ‚Juedische Chronik‘“ [‚Vercors ist dieser Dichter-Schriftsteller, den ich dir als Übersetzer der ‚Jüdischen Chronik‘ vorgeschlagen habe.‘] (Korngold, Jean (Senek). [Brief] Jean (Senek) Korngold an Paul Dessau, Cagnes sur Mer, 18. Mai 1961. AdK, Paul-Dessau-Archiv, 3129, Nr. 35.); wann Korngold seinen Freund Vercors als Übersetzer für die Jüdische Chronik vorgeschlagen hat, geht aus der erhaltenen Korrespondenz mit Dessau nicht hervor. – Die im Nachlass erhaltene französische Übersetzung trägt keinen Vermerk über den Verfasser der Übertragung ins Französische und auch kein Datum.
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dessen Briefen mehrfach die Gemeinschaftskomposition erwähnt wird, deren Text Dessau im März 1961 auch nach Israel gesandt hat.18 Beim Entstehen der Jüdischen Chronik war Dessau die treibende Kraft – die komponierten Teile liefen Ende Juni 1960 bei ihm zusammen, und als Henze gehindert war, den übernommenen Part gänzlich zu realisieren, übernahm es Dessau, das fehlende Teilstück selbst zu komponieren; so kam es Ende Januar 1961 zum Abschluss des Ganzen. Auch danach drängte es Dessau zu einer schnellen Aufführung; in seinem Notizbuch hielt er Anfang Februar 1961 fest: „Das Stück muß spätestens im Mai heraus. Mit dem Eichmann-Prozess hat es alle Menschen zu treffen, die drohen, einzuschlummern in ihrem Saft.“ (Dessau 2000, 73)19 Entgegen einer Behauptung, das Thema des Massenmords an den Juden sei in der DDR erst im Gefolge des Eichmann-Prozesses öffentlich zur Sprache gebracht worden, machen die Entstehung der Jüdischen Chronik, wie übrigens auch Publikationen in Buchform und Film‚20 einen anderen Sachverhalt erkennbar. Der Bezug auf den Eichmann-Prozess im Notizbuch zeigt indes an, wie der Künstler als politisch wacher Zeitgenosse danach verlangte, das aktuell gezielte Kunstprodukt in gegenwärtige Bewusstseinsprozesse einzubringen. Dies allerdings war einer der Punkte, an dem es zwischen den Komponisten aus Ost und West auch einen Dissens gab.
2 Darstellung des Genozids an den Juden Die Jüdische Chronik verklammert Gegenwart und Vergangenheit, dies bestimmt ihre Struktur und die Sprache der Darstellung. Eine Art Rahmen wird gebildet durch den „Prolog“ und den – kürzeren, doch weitgehend textidentischen – „Epilog“. Der „Prolog“ setzt ein mit einem demonstrativen „Dies geschieht heute“‚21 führt so in eine Gegenwart, in der die Anwesenheit von Vergangenem wahrzunehmen
18 Vgl. Vinaver, Chemjo (Nehemia). [Briefe] Chemjo Vinaver an Paul Dessau, 12. August 1960 – 31. Mai 1962. AdK, Paul-Dessau-Archiv, 3422. 19 Insbesondere dem Notizbuch 1961–1977 sind eine Fülle an Details zur Entstehungsgeschichte der Jüdischen Chronik zu entnehmen. 20 Hingewiesen sei auf den Film von Joachim Hellwig Ein Tagebuch für Anne Frank – bei der DEFA 1959 – und auf das Buch von Hellwig und Deicke 1959 sowie auf die Filme von Konrad Wolf Sterne (1959) und Professor Mamlock (1961). 21 Zitiert wird der Erstdruck in der Neuen Deutschen Literatur (vgl. den Beitrag von Ulrike Schneider) Gerlach 1961, 59–66. Ein späterer Druck wurde vom Autor überarbeitet (insbesondere Verseinteilung, Kleinschreibung des ganzen Textes, Nummerierung der Teile); die Mitteilung am Schluss enthält zudem einen Fehler zur Datierung: „Der Text zur Jüdischen Chronik wurde von
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ist, in einen Nachkrieg, wo Neubauten „über den Resten des Krieges“ errichtet werden, überlebende Juden die „alten Drohungen“ erhalten, „Schmähungen von einst“ aufsteigen, auf den jüdischen Friedhöfen die „Grabmale der Verfolgten wieder umgestürzt“ werden. Nach diesem Gegenwartsbild ruft der „Prolog“ die aktuellen Vorgänge direkt auf, indem die im Winter 1959 an Synagogenwände gesudelten Naziparolen „Deutschland erwache!“ und „Juda verrecke“ zitiert werden; von deren Gebrauch wird eine vor allem funktionale Deutung gegeben, die sie als Instrumente der Ablenkung und der Vorbereitung geplanten Unheils kennzeichnen, aber es werden auch Erklärungen für die Wiederkehr der alten Zeichen entworfen, die in zeitgeschichtlichen rationalen Ableitungen nicht aufgehen und auf Vorgänge im Innern der Menschen weisen. Knapp losungshaft ist das Ende des „Prologs“: „Unlöschbar/ Ist die Vergangenheit./ Die Verantwortung ist den Heutigen auferlegt.“ Darauf folgt das Kernstück der Chronik, das aus zwei Teilen besteht: dem Part „Ghetto“, der den mörderischen Alltag, die Negation menschlichen Verhaltens im Ghetto vorstellt und den Vollzug einer unerbittlichen Mechanik, in der täglich fünftausend Juden abtransportiert werden zum Tod in Treblinka, und dem mehrgliedrigen Teil „Aufstand“, der das Entstehen von Widerstand gegen den Tod zeigt, der mit dem eigenen Überleben nicht rechnet, und von der Erhebung der vielen Bedrängten des Ghettos berichtet, von ihrem Zurückschlagen der anrückenden Mörder, das in völliger Vernichtung endet. Judenverfolgung und Judenmord werden in dieser Chronik also exemplifiziert an der Geschichte von Warschauer Ghetto und Ghettoaufstand – weshalb, so ist zu fragen, wählte Gerlach gerade diesen Gegenstand? Zuvörderst: Warschauer Ghetto und Ghettoaufstand sind einzigartig in der Geschichte, aus diesem größten von den Nazifaschisten errichteten Ghetto gingen 500.000 Juden in den Tod, und der Aufstand, der am 19. April 1943 begann und sechs Wochen die Mördertruppen abwehrte, war der erste seiner Art und für andere in Ghettos und Lagern ein Zeichen und Ansporn. Die besondere Aufmerksamkeit für den Warschauer Ghettoaufstand begründet vornehmlich ein Faktum: hier ließen sich die Juden nicht mehr widerstandslos zur Vernichtung treiben, sondern nahmen im Wissen um ihre Lage den Kampf „um einen menschenwürdigen Tod“ auf. Zitiert habe ich gerade einen Aufsatz Friedrich Wolfs über diesen Aufstand (erstmals gedruckt 1948)‚22 der eines von zahlreichen Zeugnissen dieser besonderen Aufmerksamkeit ist: vornehmlich für linke, für sozialistische Antifaschisten war der Aufstand das große Zeichen so
Boris Blacher, Paul Dessau, Karl Amadeus Hartmann, Hans Werner Henze und Rudolf WagnerRégeny vertont. Uraufführung 1960“ (Gerlach 1983, 51–59). 22 Wolf 1948, erschienen auch als Nachwort zu: Lubetkin 1949, 41–47; dann enthalten in: Wolf 1967, 198–204.
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sehr ersehnten Widerstands. Ein anderes aus der Frühzeit des Nachkriegs: Stephan Hermlins große Erzählung Die Zeit der Gemeinsamkeit (1949)‚23 der eine Reportage über die Begegnung mit dem Ort des Aufstands24 vorausgeht. Wenn Jens Gerlach in einem Text, der sich gegenwärtigem Antisemitismus entgegenstellt, gerade nach dem Warschauer Ghettoaufstand greift, so spricht daraus nicht allein ein individuell symptomatisches Interesse. Das machen Publikationen jenes Zeitraums evident; 1957 erschien das Buch des polnischen Historikers Bernard Mark Der Aufstand im Warschauer Ghetto (bei Dietz, Berlin), 1958 (bei Rütten und Loening Berlin) Im Feuer vergangen. Tagebücher aus dem Ghetto, mit einem Vorwort von Arnold Zweig (dazu 1959 eine höchst bemerkenswerte Besprechung Victor Klemperers in der Neuen Deutschen Literatur, auf die leider nur verwiesen werden kann), und 1960 (ebenfalls in der NDL) Klaus Schlesingers erster Erzähltext, David‚25 der von einem Kind während des Warschauer Ghettoaufstands handelt. Wie Gerlach mit Literatur zu seinem Gegenstand gearbeitet hat‚26 erweist sich am Text – hiermit wende ich mich Fragen der Darstellung, spezifischen Verfahren und Sprachformen der Chronik zu. Sie verwendet zum einen indirekt oder durch Zitat überlieferte Zeugnisse aus dem Ghetto – z. B. „Ein Ghettokind sagte‚/ Als man es frug nach seinem liebsten Wunsch:/ ‚Ich möchte ein Hund sein./ Die Posten haben Hunde gern‘“ – dies ist nahezu wörtliches Zitat aus dem Augenzeugenbericht eines Überlebenden (Hirszfeld 1955), in seiner grauenhaft-absurden Zuspitzung vom Textdichter zum Veranschaulichen der Lage eingesetzt. Auch in anderen Passagen benutzt er authentische Zeugnisse, so aus dem Aufruf einer Widerstandsgruppe im Ghetto den wie ein Kehrreim wiederholten Appell „Erwache Volk und kämpfe um dein Leben!“ (abgewandelt zu „Mein Volk, erhebe dich gegen den Tod!/ So wirst du siegen!“).27 Diesen Appell legt jedoch Gerlach einem Einzelkämpfer in
23 Im Jahr 1949 erschienen im Verlag Volk und Welt Berlin, danach im Aufbau-Verlag 1951, 1956, 1959 etc. 24 Hermlin 1983; zuerst gedruckt in: Start, Berlin, 15. Juli 1949; in Hermlin 1953 unter dem Titel Das Getto (160–167). 25 Wieder gedruckt in Schlesinger 2003. Dieser Band enthält auch ein längeres Gespräch mit Schlesinger aus dem Jahr 1999, in dem er sich über die Entstehung von David und seine Beschäftigung mit dem Warschauer Ghettoaufstand und Literatur dazu äußert; vgl. insbesondere die Seiten 332–333. 26 Im Nachlass enthalten sind u. a. handschriftliche Notizen „Warschauer Ghetto“, mit Stichworten, Zahlen, Zitaten u. a. zu Episoden, die auf das Studium mehrerer Bücher zum Thema schließen lassen. 27 Der Aufruf der Kampftruppe des jüdischen Widerstands ZZW wurde abgedruckt in Mark 1959, 171–172. Gerlach hat zunächst dieser Losung eine andere Fassung gegeben; in einer handschriftlich notierten, auch noch wesentlich kürzeren Version der Ballade, lautet sie: „Kämpfe, mein Volk, so wirst du siegen“.
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den Mund, der am Übermitteln seiner Botschaft brutal gehindert und am Ende als ‚Unbesiegbarer‘ totgeschlagen wird. Indem er Widerstand durch eine Ballade von einem Einzelnen darstellt, bewegt er sich in der Nachfolge früherer Muster, die vorbildliche Einzelne in ihrem Widerstand feierten28 und modelliert eigentlich nicht die spezifische Form des Widerstands der Ghettokämpfer. Allerdings findet der Autor eine dramatische Form mit Steigerungen, die dem Komponisten eine grandiose Vorlage bietet (in diesem Falle: Henze, der hierzu eine der stärksten Partien des Werks schuf). – Zum zweiten wird ein anderes Verfahren in der Chronik durchgreifend: der Autor operiert mit Allusionen oder Zitaten, die auf Bibelstellen des Alten und Neuen Testaments weisen, und zwar sowohl in „Ghetto“ und „Aufstand“ wie auch im „Prolog“. Das Zitat aus Hiob 16‚18: „Ach, Erde‚/ Bedecke mein Blut nicht!/ Und mein Geschrei/ Finde keine Ruhestatt!“, gesetzt an Beginn und Ende des Teils „Aufstand“, vermittelt Klage und Anklage einen hohen Ton und außerordentliche Kraft. Generell: die Bibelzitate oder -anklänge – seien sie bezogen auf Figuren wie den „streitbaren Helden“ Gideon, der den Kampf aufnahm gegen die Übermacht der Unterdrücker (vgl. Das Buch der Richter, 6–8), seien sie bezogen auf Vokabeln aus der jüdischen Geschichte wie die großen Plagen Heuschreckenschwarm, blutige Wasser, furchtbare Finsternis –‚29 verhelfen dem Dargestellten zu Zügen des Monumentalen wie des Überzeitlichen. Indes: Solche Überzeitlichkeit geht leicht mit Abgehobenheit vom gesellschaftspolitisch Konkreten Arm in Arm. Der literarische Versuch, dem aktuellen Antisemitismus mit Protest und mit Aufklärung zu begegnen, bewirkt einen Wechsel/ein Schwanken, einerseits eine rational erklärende Sprache (z. B. Judenhass wurde „erfunden […], um abzulenken“, „anzuheizen“) und andererseits eine poetisch verallgemeinernde Bildsprache (z. B. „ewige Sündenschlange Furcht“), Überhöhungen und andere Arten uneigentlichen Sprechens. Dieses Mit- und Nebeneinander in Stil und Sprach-
28 Gerhard Müller sieht einen Brecht-Bezug: die „Ballade über einen zu Tode gequälten Widerstandskämpfer [ist] nur textlich eine Paraphrase (und keine gute) über ein Gedicht von Brecht (Die unbesiegliche Inschrift)“ – so im Text zum Booklet der Edition des Deutschen Musikrats Blacher et al. 2005, 9. – Eine Steigerung der Repression, die im Falle der Brecht-Ballade den Verfolgten als überlegenen Sieger zeigt, führt Johannes R. Becher in seiner Ballade „Der Mann, der schwieg“ (um 1936) vor, worin beharrliches Schweigen unter Folter als Widerstandsleistung herausgestellt wird. 29 Im „Prolog“ wird in mehreren Passagen in den – nicht direkt mit Ortsnamen versehenen – antisemitischen Vorfällen eine Wiederkehr von Früherem gezeichnet, wozu diverse Bibel-Bezüge hergestellt werden, z. B. durch Anspielungen auf die göttliche Strafe für Ägypten in Gestalt der großen Plagen – vgl. 2. Mose 7–10, bzw. die kommenden (sieben) mageren Jahre – vgl. 1. Mose 41. Nationalsozialismus erscheint durch diese Vergleichsbilder als verhängte Strafe und über den Städten einbrechendes „Chaos“, dem „die gleichen Zeichen […] vorausgingen“.
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gestalt zeigt die Schwierigkeiten an‚30 denen sich der Autor – und ja keineswegs nur dieser – gegenübersah, da er seinen Zeitgenossen den Genozid an den Juden anschaulich vor Augen stellen wollte, in einem Warnbild. Ein nicht zu vernachlässigender Faktor: Gerlach hatte bei seiner Arbeit einen Text zu schaffen, der den fünf Komponisten Anregung wie Spielraum bot, und dies ist – womöglich dank der Überhöhungen, expressiven Bildsprache, Stilisierungen – offensichtlich gelungen.
3 Fakten zur Realgeschichte Die Jüdische Chronik endet mit der Mahnung „Bedenkt Geschehenes!“ und „Seid wachsam!“, was in Dessaus Vertonung wiederholt vom Chor gerufen, gesungen, geflüstert wird. Jedoch: 1961 gelangte diese Mahnung nicht, wie gedacht, öffentlich zu Gehör. Im April äußerte Boris Blacher Dessau gegenüber seinen Wunsch, „die Aufführung nicht während des ‚Eichmann-Prozesses‘ ansetzen zu lassen“‚31 man einigte sich auf eine doppelte Uraufführung am 24. Oktober 1961, gleichzeitige Konzerte in Köln und in Leipzig, beide direkt vom Rundfunk übertragen. Doch dann kam es am 13. August zum Bau der Mauer. Hartmann bat telegrafisch, auch im Namen von Blacher und Henze, von der Uraufführung „absehen zu wollen“, und Blacher erläuterte, sie seien überzeugt, für eine Aufführung sei „im Moment nicht die günstigste Zeit[…]. Warten wir doch eine ruhigere Zeit ab“.32 Dessau, den dieses Reagieren wegen mangelnder „Zivilcourage“ enttäuschte‚33 sucht dagegen zu argumentieren, betont die Gemeinsamkeiten der fünf Komponisten – ihr „Bekenntnis gegen den Antisemitismus“, das „kein Bekenntnis für den Kommunismus“ sei – und pointiert seinen Standpunkt: „Die ‚Chronik‘ wurde nicht
30 Das Suchen nach adäquaten Darstellungs- und Sprachformen ließe sich an früheren Fassungen der Chronik (die sich in Gerlachs Nachlass erhalten haben) darlegen; mehrere der Bezüge auf bzw. Zitierungen von Bibelstellen etwa sind in den überlieferten Entwurfsfassungen nicht enthalten. 31 In einem Brief Dessaus an Boris Blacher vom 30. September 1961 heißt es: „Als wir uns zuletzt über unsere Jüdische Chronik unterhielten, gab ich Ihrem Wunsch nach, die Aufführung nicht während des ‚Eichmann-Prozesses‘ ansetzen zu lassen.“ (Paul Dessau 1995, 111) – In seinem Notizbuch trägt er im April ein: „Jüdische Chronik korrigiert. Blacher scheisst sich jetzt schon in die Hosen. Armselige, westliche ‚democracy‘! Aber: die Kollektivarbeit bleibt eine Errungenschaft. Klugheit, Nachgeben ist jetzt erstes politisches Gebot.“ (Dessau 2000, 75.) 32 K. A. Hartmann: Telegramm an Paul Dessau, 28. August 1961 (in: Paul Dessau 1995, 110); aus dem Brief von Boris Blacher an Paul Dessau vom 11. September 1961 wird dort auf Seite 111, zitiert. 33 In seinem Notizbuch vermerkt Dessau am 28. August 1961 die Bitte Hartmanns, auch im Namen Blachers und Henzes, und kommentiert: „Geistes-Terror! Angst! Ein bisschen Zivilcourage + alles wär besser.“ (Dessau 2000, 77.)
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in ‚ruhigen Zeiten‘ geschrieben. Wir haben sie geschrieben, damit ruhigere Zeiten kommen sollen. Also müssen wir sie aufführen lassen.“34 Aber das Vorhaben misslang. Und auch im Folgejahr, als die Zustimmung der westdeutschen Kollegen vorlag, scheiterte Dessau mit dem Versuch, eine Uraufführung in Warszawa zustande zu bringen. Dazu kam es erst 1966, am 14. Januar in Köln, am 15. Februar in Leipzig. Ein später Erfolg für ein Gemeinschaftsprojekt, das mittels Kunst eine Intervention in Zeitgeschichte leisten wollte. – Die Jüdische Chronik ist historisch geworden, wenn auch nicht erledigt; sie liegt bereit, um ab und an aufgeführt zu werden, in den 1980er Jahren wurde sie etwa in Berlin-West zu Gehör gebracht, aber auch im Holocaust Memorial in Washington.35 Zwei späte Erklärungen seien zum Schluss zitiert: Gerlach überliefert, Dessau habe, als er ihn Mitte der 1970er Jahre deprimiert fragte, weshalb ihre Arbeit so ganz und gar vergessen sei, erwidert, „ich solle nicht so kurzsichtig sein: ‚Du kannst doch nicht erwarten, daß sich die Leute selbst in den Hintern treten! Außerdem: Die Zeit der ‚Chronik‘ kommt erst noch – leider…‘“.36 Und Henze sah 1981 ihren Protest gegen Rassismus nicht ohne Folgen: die Beteiligten seien sich einig gewesen, „daß auch die kleinen Warnrufe besser sind als das auf Unempfindlichkeit oder Gleichgültigkeit hindeutende Sich-Entziehen ins Unpolitische“, und gerade dies Verhalten habe bei jüngeren Künstlern Wirkung getan.37
Literaturverzeichnis Ausschuß für Deutsche Einheit (Hg.). Wir klagen an! 800 Nazi-Blutrichter – Stützen des milita ristischen Adenauer-Regimes. Berlin: Ausschuß für Deutsche Einheit, [1959]. Blacher, Boris, Paul Dessau, Karl Amadeus Hartmann, Hans Werner Henze, Rudolf Wagner-Régeny. „Jüdische Chronik. Für Alt- und Baritonsolo, Kammerchor, zwei Sprecher und kleines Orchester (1960)“. Politische Oratorien – Werke von Blacher, Dessau, Hartmann, Henze, Wagner-Régeny, Hufschmidt. Musik in Deutschland 1950–2000. Deutscher Musikrat. Box 10, CD 6. [München:] BMG Ariola Classics, RCA Red Seals, 2005.
34 Paul Dessau an Boris Blacher, 30. September 1961 (in: Paul Dessau 1995, 111). – Durchschläge von diesem Brief übermittelte Dessau an alle beteiligten Komponisten und an Jens Gerlach. 35 Die Information zu dieser Aufführung in Washington verdanke ich Henry-Martin Klemt, der sie aus der nachgelassenen Korrespondenz Gerlachs für mich ermittelte. 36 Gerlach, Notate (wie Anm. 4). Dieses Zitat findet sich auch im Auszug der Notate in „Die Jüdische Chronik“ 1993, 359. 37 Hans Werner Henze an Studenten der Hochschule der Künste zur Westberliner Erstaufführung 1981 (Auszug), im Programmheft zur Aufführung der Jüdischen Chronik, Berliner Festwochen 1987 („Die Jüdische Chronik“ 1993, 342).
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Dessau, Paul. „Let’s Hope for the Best“. Briefe und Notizbücher aus den Jahren 1948 bis 1978. Hg. Daniela Reinhold im Auftrag der Stiftung Archiv der Akademie der Künste. Hofheim: Wolke, 2000 (= Archive zur Musik des 20. Jahrhunderts. 5.). „Die Jüdische Chronik – eine Gemeinschaftskomposition als Politikum. Dokumente West, Dokumente Ost, Kommentare“. Neue Musik im geteilten Deutschland. Dokumente aus den fünfziger Jahren. Hg. Ulrich Dibelius, Frank Schneider. Berlin: Henschel, 1993 (= Ein Buch der Berliner Festspiele GmbH zur 14. Musik-Biennale.), 323–363. Gerlach, Jens. „Jüdische Chronik“. Neue Deutsche Literatur 9.11 (1961): 59–66. Gerlach, Jens. Spiegelbild. Gedichte. Berlin, Weimar: Aufbau, 1983. Heister, Hanns-Werner. „Aktuelle Vergangenheit. Zur Kollektivkomposition Jüdische Chronik (Blacher, Wagner-Régeny, Hartmann, Henze, Dessau)“. Paul Dessau: Von Geschichte gezeichnet. Symposion „Paul Dessau“ Hamburg 1994. Hg. Klaus Angermann. Hofheim: Wolke, 1995, 171–190. Hellwig, Joachim, Günther Deicke. Ein Tagebuch für Anne Frank. Berlin: Verlag der Nation, 1959. Hermlin, Stephan. Die Zeit der Gemeinsamkeit. Erzählungen. Berlin: Volk und Welt, 1949. Hermlin, Stephan. Die Sache des Friedens. Aufsätze und Briefe. Berlin: Volk und Welt, 1953. Hermlin, Stephan. „Hier liegen die Gesetzgeber“. Äußerungen 1944–1982. Hg. Ulrich Dietzel. Berlin, Weimar: Aufbau, 1983, 99–104. Hirszfeld, Ludwig. „Die Stadt des Todes. Im Warschauer Ghetto“. Léon Poliakov, Josef Wulf. Das Dritte Reich und die Juden. Dokumente und Aufsätze. Berlin-Grunewald: Arani, 1955, 273–277. Im Feuer vergangen. Tagebücher aus dem Ghetto. Üs. Viktor Mika. Vorw. Arnold Zweig. Berlin: Rütten und Loening, 1958. Klemperer, Victor. „Inferno und Nazihölle. Bemerkungen zu den Tagebüchern aus dem Ghetto“. Neue Deutsche Literatur 7.9–10 (1959): 245–252. Kraushaar, Wolfgang. „Die Wiederkehr der Traumata im Versuch sie zu bearbeiten. Die Remigration von Horkheimer und Adorno und ihr Verhältnis zur Studentenbewegung“. Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch 9: Exil und Remigration (1991): 46–67. Lubetkin, Ziviah. Die letzten Tage des Warschauer Gettos. Berlin, Potsdam: VVN, 1949. Mark, Bernard. Der Aufstand im Warschauer Ghetto. Entstehung und Verlauf. 3., neubearb. und erw. Auflage. Berlin: Dietz, 1959. Paul Dessau: 1894–1979. Dokumente zu Leben und Werk. Stiftung Archiv der Akademie der Künste. Bearb. Daniela Reinhold. Berlin: Henschel, 1995. Professor Mamlock. Reg. Konrad Wolf. DEFA-Studio für Spielfilme, 1961. Der Schatten von gestern. Reg. Joachim Kunert. Deutscher Fernsehfunk, 1960. Schlesinger, Klaus. „David“. Neue Deutsche Literatur 8.11 (1960): 105–113. Schlesinger, Klaus. Die Seele der Männer. Die Erzählungen. Berlin: Aufbau, 2003. Schönbach, Peter. Reaktionen auf die antisemitische Welle im Winter 1959–1960. Frankfurt/M.: Europäische Verlagsanstalt, 1961 (= Frankfurter Beiträge zur Soziologie. Sonderheft 3.). Schoenberner, Gerhard. „Das Menetekel von Köln. Die unbewältigte Gegenwart“. Das Argument 2.16: Die Überwindung des Antisemitismus (1960): 40–46. Sterne. Reg. Konrad Wolf. DEFA-Studio für Spielfilme (Potsdam-Babelsberg), Studio für Spielfilme (Sofia), 1959. Ein Tagebuch für Anne Frank. Reg. Joachim Hellwig. DEFA-Studio für Dokumentarfilme, 1959. Wolf, Friedrich. „Der Aufstand des Warschauer Ghettos“. Die Weltbühne N. F. 3.37 (1948): 1113–1117. Wolf, Friedrich. Gesammelte Werke in sechzehn Bänden. Bd. 16: Aufsätze 1945–1953. Hg. Else Wolf, Walther Pollatschek. Berlin, Weimar: Aufbau, 1967.
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Zur Rezeption von Nackt unter Wölfen in Westdeutschland Laut einer Hausmitteilung des Mitteldeutschen Verlags (MDV) – Nackt unter Wölfen von Bruno Apitz war 1958 erstmals dort erschienen – betrug die Weltauflage im Jahre 1976 rund 2‚4 Millionen Exemplare einschließlich der damaligen DDR-Gesamtauflage (38 Auflagen im MDV mit insgesamt 925.000 Exemplaren und 14 Auflagen bei Reclam von 585.000).1 Aufgrund dieses Erfolges war Apitz schon Mitte der 1960er Jahre ein relativ reicher Mann, und er lebte gut von den Tantiemen bis an sein Lebensende. Das zentrale Thema dieses bekannten Romans, der im KZ Buchenwald spielt, ist der kommunistische Widerstand gegen die Nazis. Symbolhaft für diesen Widerstand ist die mutige Rettung eines dreijährigen jüdischen Kindes vor der SS. Apitz greift in seinem Roman die Geschichte einer tatsächlichen Rettung auf: der polnische Jude Stefan Jerzy Zweig überlebte das Konzentrationslager Buchenwald dank seinem Vater und dank der Unterstützung hauptsächlich kommunistischer Häftlinge. Allerdings kommt in Nackt unter Wölfen der Vater nicht vor. Die Kommunisten sind das Patriarchat katexochen. Zweifellos aber gelang es Apitz, eine spannende Rettungs- und Widerstandsgeschichte zu schreiben, was wohl den Welterfolg seines Romans erklärt. Nur war der Erfolg in einem Land nicht so hoch, wie man sich das in der DDR gewünscht hätte: nämlich in der BRD. Dennoch ist die Rezeptionsgeschichte des Romans im Westen weitaus interessanter, als man vielleicht vermuten mag.
1 Zur Publikationsgeschichte von Nackt unter Wölfen Schon am 26. November 1958 – Nackt unter Wölfen war im Sommer 1958 in der DDR erschienen – wandte sich die westdeutsche Literaturagentin Ruth Liepmann an den Mitteldeutschen Verlag mit der Bitte um ein Leseexemplar des Romans. Sie wolle versuchen, schrieb sie, Verleger für den Roman in Westdeutschland, der Schweiz und Österreich zu finden. Zuerst sah es so aus, als würde der Desch-Verlag in München den Roman veröffentlichen. Desch lehnte aber schließlich mit der
1 Hausmitteilung an Kollegin Spanier 21. September 1983. Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt (LHASA), Bestand Mitteldeutscher Verlag Halle, VHSt 123, Apitz, Nackt unter Wölfen, Mappe 7. http://doi.org.de/10.1515/9783050093932-019
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Begründung ab, der Verlag sei gerade dabei, Die Unvergessenen von Ilse Stanley herauszubringen, ein Titel, so heißt es in einem Schreiben, „der […] das gleiche Thema behandelt“ – nämlich die Rettung von Juden vor den Nazis. Es gab auch andere Gründe, die der Desch-Verlag als „sekundär“ bezeichnete: „wir haben den Eindruck, dass das Buch nicht ganz frei ist von Klischees, und die Verhaltensweise des dreijährigen Kindes hat uns psychologisch auch nicht in jeder Phase zu überzeugen vermocht“.2 Liepmann versuchte es dann beim Rowohlt-Verlag, der lange überlegte. Zu einem persönlichen Treffen von Rowohlt und Apitz kam es anlässlich der Weimarer Schillertage im November 1959. In einem Brief an Fritz Bressau vom 18. November schrieb Apitz, Rowohlt habe ihm versichert, „daß er das Buch übernehmen würde, wenn kein anderer Verleger darauf reflektiert“.3 Rowohlt stand unter dem Eindruck, der Mitteldeutsche Verlag würde gleichzeitig mit dem Kindler-Verlag verhandeln, was der MDV in einem Brief an den RowohltVerlag bestritt.4 Am 4. Dezember 1959 teilte Willi Wolfradt vom Rowohlt-Verlag dem MDV mit, „der Roman Nackt unter Wölfen von Bruno Apitz [wird] zur Zeit in unserem Lektorat gelesen“.5 Der Gutachter war Peter Rühmkorf. Sein Gutachten fiel vernichtend aus. Das Thema bewertete Rühmkorf als wichtig: „wie gern sähe man einen KZ-Roman in der Bundesrepublik erscheinen, zu einer Zeit, wo das Innenministerium gerade die VVN6 zu schassen beginnt“. Aber die schwarz-weiße Charakterdarstellung – auf der einen Seite zutiefst primitive SS-Männer, auf der anderen edle Häftlinge – kritisierte er scharf. „Apitz bleibt im Klischee stecken […]. Er dopt seine Häftlinge zu einer Art von Thorakund Arno-Breker-Gestalten und stellt ihnen dann das Pickel-, papel-, pustelübersäte Untermenschengeschmeiß gegenüber“. Sprachlich fand er den Roman ebenfalls misslungen: „Wohin man greift ist die Sprache ledern, dürr, welk und strohig; das grätige Pateiwelsch [sic] bleibt einem im Halse stecken, und wenn
2 Ruth Liepmann [diktiert, unterschrieben von G. Schaefer] an Fritz Bressau, ohne Datum. LHASA, Bestand Mitteldeutscher Verlag Halle, VHSt 14, Apitz, Nackt unter Wölfen, Mappe 21. 3 Bruno Apitz an Fritz Bressau 18. November 1959. LHASA, Bestand Mitteldeutscher Verlag Halle, VHSt 14, Apitz, Nackt unter Wölfen, Mappe 4. 4 Brief von Fritz Bressau (MDV) an den Rowohlt-Verlag 20. November 1959. Der ehemalige ChefLektor des Rowohlt-Verlages, Hans Georg Heepe, stellte mir freundlicherweise die wenigen erhaltenen Rowohlt-Akten, die sich auf Apitz beziehen, zur Verfügung. Das Rowohlt-Archiv wurde bei einem großen Brand fast vollständig vernichtet (Brief von Hans Georg Heepe an Bill Niven 10. August 2004). 5 Brief von Willi Wolfradt (Rowohlt-Verlag, Lektorat) an den Mitteldeutschen Verlag (wie Anm. 4). 6 Gemeint ist die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes in Westdeutschland, die von der Bundesregierung als kommunistische Tarnorganisation angesehen wurde und deswegen verboten werden sollte.
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man die dürre Diskussions-Phraseologie noch übersteht, geht man bestimmt bei den Rühr-Passagen in den Clinch. Eine widerliche Süßlichkeit verkitscht die Häftlings-Helden“. Am interessantesten an Rühmkorfs Kritik jedoch ist seine Reaktion auf die Beschreibung der Vorbereitungen des Internationalen Lagerkomitees im Roman – also der Führungselite der kommunistischen Häftlinge – auf den geplanten Aufstand gegen die SS. Weil der Aufstand im Roman erst dann stattfindet, als die SS-Führer geflüchtet sind, wirkt der Schluss auf Rühmkorf eher enttäuschend: die Planungen der Widerstandsorganisation liefen damit eigentlich ins Leere. In dem Roman sieht er eine „Tragödie des planvollen Leerlaufs und des sinnlosen Opfers“. Rühmkorf ist sich dessen bewusst, dass Apitz eigentlich die Kommunisten loben wollte: am Ende aber sei irgendetwas anderes dabei herausgekommen. Am Schluss seines Gutachtens riet Rühmkorf von einer Veröffentlichung ab: „diesen Roman kann man einfach nicht guten Gewissens (guten ästhetischen Gewissens, versteht sich) empfehlen“.7 Dennoch entschied sich Rowohlt, den Roman zu verlegen. Es erschien im April 1961 in einer Auflage von 35.000 Exemplaren als rororo-Taschenbuch 416–417 und wurde nicht nachgedruckt.8 Allerdings erschien ein MDV-Mitdruck des Romans beim Frankfurter Röderberg-Verlag in der Höhe von 18.000 Exemplaren in den 1970er Jahren.9 Warum sich der Rowohlt-Verlag dafür entschied, ist aus den wenigen überlieferten Akten nicht ersichtlich. Möglicherweise spielte der Schriftsteller Ernst von Salomon dabei eine Rolle. Rowohlt, der mit von Salomon befreundet war, hatte veranlasst, dass von Salomon eine Kopie des Gutachtens von Rühmkorf erhielt.10 Ernst von Salomon hatte Apitz bei den Schillerfeierlichkeiten 1959 in Weimar angeblich zugesichert, er würde Nackt unter Wölfen lesen und Rowohlt seine Meinung darüber mitteilen.11 Ob er sich an diese Vereinbarung gehalten hat, ist nicht überliefert. Sollte er tatsächlich eine Veröffentlichung empfohlen haben, erscheint dies auf den ersten Blick merkwürdig: schließlich war von Salomon keineswegs dafür bekannt prokommunistische Sympathien zu hegen. Bedenkt man jedoch, dass nicht nur Rühmkorf, sondern auch Marcel Reich-Ranicki Nackt unter Wölfen als unbeabsichtigte Darstellung kommunistischer Schwächen oder überrigoroser kommunistischer Parteidisziplin rezipiert haben, muss es zumindest für möglich gehalten werden, dass von Salomon das Buch in ähnlicher Weise las.
7 Peter Rühmkorf. Bruno Apitz: „Nackt unter Wölfen“. Rowohlt-Akten (wie Anm. 4). 8 Laut eines Briefs von Hans Georg Heepe an den Verfasser (10. August 2004). 9 Hausmitteilung an Kollegin Spanier 21. September 1983. LHASA, Bestand Mitteldeutscher Verlag Halle, VHSt 123, Apitz, Nackt unter Wölfen, Mappe 7. 10 Sekretariat Ernst Rowohlt an Ernst von Salomon 9. Dezember 1959. Rowohlt-Akten (wie Anm. 4). 11 Bruno Apitz an Fritz Bressau 18. November 1959. LHASA, Bestand Mitteldeutscher Verlag Halle, VHSt 14, Apitz, Nackt unter Wölfen, Mappe 4.
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2 Rezeption des Romans in BRD und DDR In seiner Rezension in der Wochenzeitschrift Die Zeit vom 27. Oktober 1961 hatte Reich-Ranicki ebenfalls die „Schwarz-Weiß-Malerei“ im Roman kritisiert. Einiges an dem Roman hob er jedoch durchaus positiv hervor. Apitz habe „sich […] konsequent und nicht ohne Geschick literarischer Mittel“ bedient – allerdings der „des anspruchslosen Unterhaltungsromans“. Im Gegensatz zu Rühmkorf, welcher der Geschichte der Kindesrettung die „tragende Gewichtigkeit“ absprach, beurteilte Reich-Ranicki die Rettung des Kinds als gelungenes Zentralmotiv und „zweckvolle Konstruktionsachse“ (1991, 24). Gegen Ende seiner Rezension betonte ReichRanicki den Umstand, dass ein Genosse im Roman – Höfel ist gemeint – sich der Parteidisziplin widersetzt. Zur Erinnerung: Bochow, der Leiter des Internationalen Lagerkomitees, entscheidet, das Kind auf einen Transport aus dem Lager zu schicken, um seine Entdeckung durch die SS und dadurch die Entdeckung des ILK zu verhindern. Höfel weigert sich, das Kind herzugeben. Reich-Ranicki zufolge stecke in dem Buch eine Kritik an totalitären Systemen. Allerdings seien es eher Ostdeutsche, die diese kritischen Töne heraushören würden, „Töne […] die jedenfalls dieser Autor bestimmt nicht anschlagen wollte“. Reich-Ranicki schließt mit den Sätzen: „Dort, wo der Terror herrscht, sucht man“ – hier meint ReichRanicki den DDR-Leser – „im Bild der Vergangenheit mit besonderem Eifer und erstaunlichem Spürsinn die Parallelen zur Gegenwart. Romane, die zeigen, daß es nicht nur nötig, sondern auch möglich ist, dem Terror Widerstand zu leisten, werden dort, bewußt oder unbewußt, als Trost empfunden.“ (27) Rühmkorf und Reich-Ranicki suggerieren eine Rezeptionsebene, auf der ihrer Meinung nach genau das Gegenteil dessen eintritt, was Apitz intendiert hatte. Andere westdeutsche Rezensenten deuten ebenso auf diese Ebene hin. Ein Rezensent der MDV-Ausgabe des Romans schrieb 1960 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: daß der Gewissenskonflikt, schuldig gegenüber dem Kind oder der Partei werden zu müssen, zugunsten des hilflosen kleinen Menschen gelöst wird, geschieht zwar nur im Roman, aber es ist immerhin erfreulich, wenn es wenigstens dort geschieht (Maetzke 1960).
Indem also Apitz in Nackt unter Wölfen die Solidarität gegenüber dem Individuum angeblich höher stellt als die Treue gegenüber der Partei, entwerfe er das utopische Bild eines menschlichen Kommunismus, der durchaus auch als Kritik an einer zum Absolutismus tendierenden SED-Politik rezipiert werden könne. Man fragt sich, wie ein in der DDR als Hohelied des Kommunismus gefeierter Roman, der von den DDR-Funktionären – genauso wie der 1963 gedrehte DEFA-Film Nackt unter Wölfen – als ideal für den Einsatz in Westdeutschland
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gehalten wurde, im Westen von Kritikern als Schuss nach hinten interpretiert werden konnte. Allerdings ranken sich schon lange Gerüchte um die Entstehung des Romans. Martin Schmidt, besser bekannt als Martin Gregor-Dellin, war Apitz’ Lektor beim Mitteldeutschen Verlag. Schmidt galt der SED als ideologisch labil und wurde von der Stasi beobachtet. Apitz wurde kurzfristig von der Stasi als „DA Brendel“ eingesetzt und berichtete etwas zögernd über seinen Briefaustausch mit Schmidt. 1958 floh Schmidt in den Westen. In einem 1987 erschienenen Zeitungsartikel schrieb Gregor-Dellin, wie das Politbüro die Druckfahnen von Nackt unter Wölfen – gleich sieben Kopien – angefordert und die Veröffentlichung aufgehalten habe. Allerdings hätten die SED-Oberen keine Veränderungen verlangt. Laut Gregor-Dellin war es die Tatsache, dass die menschliche Handlung der Kindesrettung am Anfang nicht von der Parteileitung ausgeht, die das Politbüro hellhörig machte. Hier also zeichnet sich eine mögliche Übereinstimmung, mutatis mutandum, zwischen der west- und der ostdeutschen Rezeption ab. Zwar lässt sich Gregor-Dellins Version durch die Aktenlage nicht bestätigen, die Entstehungsgeschichte kann jedoch auch ohne Politbüro lückenlos rekonstruiert werden. Sie zeigt: die Veröffentlichung des Romans wurde keineswegs aufgehalten, sondern eher beschleunigt (vgl. Niven 2005). Zwischen 1958 und 1960 jedenfalls wurde Nackt unter Wölfen zu einem absoluten Verkaufserfolg in der DDR, und bald versuchten die Kulturfunktionäre der SED, den Roman zum größten Antifa-Roman aller Zeiten hochzustilisieren. Alexander Abusch zum Beispiel gratulierte Apitz zu seinem 60. Geburtstag in einem Schreiben, das in allen großen DDR-Zeitungen abgedruckt wurde. „Sie haben mit Ihrem Roman Nackt unter Wölfen ein literarisches Denkmal des antifaschistischen Widerstandes geschaffen“. (Abusch 1960) Für Erich Wendt war der Roman der erste „klassische sozialistische Bestseller“ (zitiert nach Kersten 1960). Dass Apitz in dem Roman zeigte, wie die Rettung eines Kindes nur durch einen Parteiverstoß möglich war, ging an den DDR-Kulturfunktionären und Rezensenten keineswegs vorbei. Es wurde aber immer wieder hervorgehoben, dass das Verstecken des Kindes eine enorme Gefahr für die illegale Widerstandsorganisation mit sich bringe, so dass dem Leiter dieser Organisation, Bochow, keine andere Wahl bleibe, als das Verschicken des Kindes anzuordnen. Seine Entscheidung war keineswegs ‚unmenschlich‘. Schließlich, so die Sichtweise des Romans, hängt das Schicksal des ganzen Lagers von dieser Organisation ab. Die Entscheidung ‚Kind oder Kollektiv‘ ist eine von den objektiv bestehenden Vorbedingungen für einen effektiven Widerstand im Lager aufgezwungene Entscheidung, und keine, die die Kommunisten allein aus egoistischen Gründen treffen würden. In DDR-Rezensionen war oft zu lesen, dass Höfel subjektiv und emotional handelt, Bochow dagegen objektiv und vernünftig. In seiner Rezension für die Zeitung Sonntag schrieb Günter Caspar:
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hat man zwischen zwei Pflichten zu wählen, so entscheidet die höhere, dringendere. Das ist der Gedanke Bochows […]. Da er [Höfel, B. N.] nur das Gefühl herrschen läßt, da er gegen die Disziplin des Illegalen verstößt, handelt er grundfalsch. Und er rettet ein Menschenleben. (Caspar 1958)
In anderen DDR-Rezensionen ist zu lesen, beide, Höfel und Bochow, hätten gleichzeitig Recht und Unrecht. Am Ende erübrige sich aber die Frage, wer eher recht hat. Es triumphierten Individuum und Kollektiv: der Widerstandsorganisation gelinge es, dialektisch überhöhend die Interessen beider aktiv zu vertreten. Die meisten DDR-Rezensionen richten das Hauptaugenmerk auf eben diesen Triumph und auf die verschiedenen Formen des kommunistischen Widerstands im Roman. Man erkennt hier vielleicht ein typisches Grundmuster der unterschiedlichen Rezeptionstendenzen der ost- und westdeutschen Literaturkritik. Beide sehen im Roman eine Lobpreisung des Antifaschismus: nur sind westdeutsche Kritiker der Meinung, diese Lobpreisung werde im Grunde ungewollt von einer Darstellung der Schwächen des Antifaschismus unterhöhlt, ja sogar negiert. Gleichzeitig wird vermutet, die ostdeutsche Leserschaft würde über diese Unterhöhlung nicht hinwegsehen können und das Buch, zum Teil jedenfalls, systemkritisch rezipieren. Man mag dies als subtilen Versuch interpretieren, die ostdeutsche Leserschaft zu genau einer solchen Lesart zu animieren. Von der DDR jedenfalls ging ein ganz unverhohlener Versuch aus, den Roman für antiwestliche Propaganda zu nutzen, ein Versuch, an dem sich Apitz munter beteiligte. DDR-Rezensenten und Kulturfunktionäre interessierten häufiger mehr die äußeren Konfliktlinien des Romans – also Kommunisten gegen SS – als die inneren. Dieser Konflikt wurde als Vorwegnahme des Konfliktes DDR-BRD interpretiert. Laut Alexander Abusch hatte Apitz mit seinem Roman „Hunderttausende von Menschen, vor allem der jungen Generation, tief bewegt und zum aktiven Kampf gegen den wiedererstehenden Faschismus und Militarismus in Westdeutschland begeistert“ (Abusch 1960). Im April 1960 druckte die Tageszeitung Neues Deutschland einen Briefwechsel ab, in dem ein gewisser Heinz Oehrlein aus Hoyerswerda Apitz fragte, was die SS-Figuren in seinem Roman heute so machen: „Wurden sie verurteilt oder leben sie auch in Westdeutschland“. Apitz’ Antwort fiel eindeutig aus: „Und die Mörder unserer Helden, die Mandrill und Komplicen, nach denen Sie fragen? Was aus ihnen geworden ist, können Ihnen Adenauer und Oberländer besser sagen als ich.“ (Apitz und Oehrlein 1960) Die Zeit zwischen 1958 und 1963, vor allem vor und nach dem Mauerbau, war ein Höhepunkt, wenn nicht der Höhepunkt des Kalten Krieges zwischen Ost- und Westdeutschland. Es war darüber hinaus eine Zeit, in der wichtige Prozesse gegen ehemalige Nationalsozialisten stattfanden – der Eichmann-Prozess 1961 in Israel oder die Frankfurter Auschwitz-Prozesse, die 1963 begannen. In diesen Jahren bemühte sich die DDR durch Kampagnen gegen Oberländer, Globke und andere
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Westdeutsche mit Nazi-Vergangenheit die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf die vermeintliche Unglaubwürdigkeit der westdeutschen Demokratie und die Halbherzigkeit westdeutscher Vergangenheitsbewältigung hinzuweisen. Buchenwald, 1958 als Mahn- und Gedenkstätte eröffnet, wurde zu einer scharfen Waffe im Arsenal der ostdeutschen Propagandamittel. Die Widerstandsfiguren von Fritz Cremer auf dem Ettersberg richten den Blick nach Westen. Die Botschaft ist eindeutig: der Kampf geht weiter. Nackt unter Wölfen entstand auch vor dem Hintergrund des sich hinschleppenden Prozesses gegen den Buchenwald-Mörder Martin Sommer in der Bundesrepublik. Nach seiner Veröffentlichung geriet der Roman aber erst recht in den Sog des Propagandakrieges: als Beweis für die antifaschistische Lauterkeit der Kommunisten und ihre moralische Überlegenheit, als Legitimation ihrer Herrschaft, als zeitversetzte Darstellung der vermeintlich faschistischen Bundesrepublik und als Anklage gegen die mangelnde Bereitschaft der Bundesrepublik gegen den mutmaßlichen Thälmann-Mörder Wolfgang Otto vorzugehen. Im Westen begegnete man dieser Interpretation mit einem Hinweis auf die inneren Konfliktlinien im Roman zwischen den kommunistischen Gefangenen und auf die fragwürdige Rigorosität der Parteileitung. Und Apitz selbst? Dass er zwischen die Fronten geriet, lässt sich nicht behaupten. Apitz war ein Parteigenosse, zeitweiliger SED-Bezirksverordneter und vertrat vor allem in den 1960er Jahren eine recht unversöhnliche Linie gegenüber der Bundesrepublik. Er verteidigte vehement das Recht der Grenzsoldaten, auf Flüchtlinge zu schießen‚12 griff Wolf Biermann nach seiner Ausbürgerung scharf an‚13 und meldete sich in DDR-Zeitungen prompt, wenn es darum ging, Kritik an der bundesrepublikanischen Justiz zu üben. In einem Artikel vom 21. August 1962 im Neuen Deutschland kritisierte Apitz den angekündigten Prozess in Oldenburg gegen den Kommunisten und ehemaligen Buchenwald-Häftling Ludwig Landwehr scharf; Landwehr hatte Otto massiv beschuldigt (Apitz 1962). Apitz unternahm zudem mehrere Lesereisen in die BRD, auf denen er aus Nackt unter Wölfen vorlas und immer wieder vor einer Wiederholung der Vergangenheit warnte.14
12 Zum Beispiel in einem (undatierten) Brief an den Heidelberger Studenten J. Langhein aus dem Jahre 1967, Akademie der Künste, Berlin (AdK), Apitz-Archiv, Mappe 136. 13 In einem (undatierten) Brief an den DDR-Schriftstellerverband aus dem Jahre 1976 schreibt Apitz: „Gewiß, wir haben unbequeme Dichter. Doch ist mir kein Fall bekannt, daß einer von ihnen ausgebürgert worden ist. Biermann aber ist alles andere als ein ‚unbequemer Dichter‘. Einem notorischen Staatsfeind die Staatsbürgerschaft abzuerkennen ist Recht und Pflicht meines Staates“, AdK, Archiv des Schriftstellerverbandes, Mappe 651, Ausbürgerung Biermann 1976–1977. 14 Z. B. in Frankfurt im März 1963. Vgl. „Buchenwald darf sich nicht wiederholen“. Thüringer Tageblatt, 19. März 1963.
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Meistens waren es linke, mitunter sozialistische Organisationen, die ihn einluden. Die Durchsuchung der Spiegel-Redaktionsräume am 26. Oktober 1962 löste eine Serie besonders heftiger Polizeieinsätze aus. Bei einem wurde Apitz, der in Dortmund auf Einladung der Deutschen Jugendgemeinschaft aus Nackt unter Wölfen vorlesen wollte, als SED-Funktionär verhaftet und schnellstens über die deutsch-deutsche Grenze abgeschoben. Er kehrte nach Berlin zurück, mit einer Grubenlampe – einem Geschenk der Dortmunder Bergarbeiter – und einer Wut im Bauch, der er bald Ausdruck verlieh:15 „ich wurde mit Gewalt an die Zeiten um 1933 erinnert“, sagte er in einem DDR-Interview. Die Bonner Polizeimethoden setzte er ohne weiteres mit Gestapo-Methoden gleich (vgl. Eckert 1962).
3 Der Roman im Kontext der Untersuchungen der SED zu Buchenwald Dennoch ist Nackt unter Wölfen als Roman weitaus mehr als ein einfaches Heldenepos. Der Roman entstand auch vor dem Hintergrund der internen SED-Buchenwald-Untersuchungen in den 1940er und 1950er Jahren. Apitz wusste vermutlich genau, dass Walter Bartel – Leiter der deutschen Kommunisten im Lager – 1953 von der Zentralen Parteikontrollkommission intensiv zur Zusammensetzung der Transportlisten befragt worden war (vgl. Niethammer 1994, 412–448). Dass die Kommunisten „den Nazis beim Morden“ geholfen hätten – so auch eine Schlagzeile der BILD-Zeitung im Februar 1994 – war ein Verdacht, der nicht erst nach der Wende aufkam. Natürlich kam er den Exil-Kommunisten unter der SED sehr gelegen: nicht zuletzt Ulbricht selber suchte nach Gründen, die oft öffentlich zur Schau gestellte moralische Überlegenheit der ‚Inlandkommunisten‘ als bloße Pose zu entlarven. Nackt unter Wölfen entstand auch als Rechtfertigungsroman. Apitz wollte unter anderem das Vorgehen der kommunistischen Leitung im Lager gegenüber der SED-internen Kritik verteidigen. Um das zu tun, musste er das Thema der Transportlisten aufgreifen. Er tut es paradigmatisch und äußerst geschickt: nur diejenigen Menschen sind von kommunistischen Häftlingen mit auf die Listen gesetzt worden, so die These des Romans, die eine absolute Gefahr für die Untergrundorganisation und damit das ganze Lager darstellten. Sogar ein Kind, Inbegriff der Unschuld, kann eine solche Gefahr bedeuten. Apitz idealisiert, ja verschweigt das eigentliche Problem: nämlich, dass die Kommunisten, um die eigenen Kader oder Favorisierten zu retten, andere in den Tod geschickt haben, die überhaupt keine
15 Siehe zum Beispiel B., K. „Wehrhaft gegen die Wölfe“. Neue Zeit, 3. November 1962.
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Gefahr darstellten. In Wirklichkeit wurde Stefan Jerzy Zweig, dessen Rettung Apitz zu dem Roman inspirierte, von einer Liste gestrichen, auf die dann ein anderer, durchaus genauso Unschuldiger gesetzt wurde: der Sinto-Junge Willi Blum. Trotz des großangelegten literarischen Rechtfertigungsversuchs war Walter Bartel über den Roman gar nicht erfreut. Die Partei, so monierte er, hätte in Nackt unter Wölfen die falsche Entscheidung getroffen. Um Bartels Einwänden teilweise entgegenzukommen, veränderte Apitz diejenigen Passagen, die den Bestimmungsort des Transports betrafen: statt nach Bergen-Belsen wird das Kind in der endgültigen Fassung des Romans „ins Ungewisse“ geschickt.16 Allerdings weigerte sich Apitz, weitere Änderungen zu machen, weil es ihm „darauf ankam, das Dschungelgesetz deutlich zu machen, unter dem wir ja schließlich alle standen und das uns zwang, Handlungen zu begehen, die wir unter normalen Umständen vermieden hätten“.17 Die teilweise divergierenden Interpretationen von Nackt unter Wölfen in Westund Ostdeutschland reflektieren natürlich einen unterschiedlichen Lese-, Erwartungs- und Wunschhorizont: im Osten suchten die Kritiker nach Bestätigung sozialistischer Herrlichkeit, im Westen hörte man die angeblich kritischen oder zumindest zwiespältigen Töne heraus. Andererseits konnten bestimmte Aspekte von Nackt unter Wölfen nur jeweils in der DDR bzw. in der BRD rezipiert werden, wenn auch mit entsprechender interpretatorischer Verzerrung. Die Defensiv- und Rechtfertigungshaltung des Apitz’schen Romans wurde durch westliche Filter als ungewollte Bloßlegung kommunistischer Schwächen rezipiert; die literarische Heroisierung der Buchenwalder Kommunisten wurde eher im Osten rezipiert und positiver bewertet als im Westen. Allerdings münzten die DDR-Kulturfunktionäre sehr schnell die Heroisierung einiger in die Heroisierung aller um: der Roman wurde zum literarischen Denkmal für den kommunistischen Widerstand als Ganzes.
Literaturverzeichnis Abusch, Alexander. „Bruno Apitz 60 Jahre: Glückwunsch des Ministers für Kultur“. Berliner Zeitung, 28. April 1960. Apitz, Bruno, Heinz Oehrlein. „Was aus den Helden von Nackt unter Wölfen wurde. Ein Briefwechsel mit Bruno Apitz“. Neues Deutschland, 2. April 1960, Beilage.
16 Genaueres zu den Änderungen in Niven 2009, 119–122. 17 Brief von Apitz an Schmidt 5. Februar 1958. LHASA, Bestand Mitteldeutscher Verlag, VHSt 140, Apitz, Nackt unter Wölfen.
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Apitz, Bruno. „Die Fränkel fürchten den Blutzeugen. Bruno Apitz fordert: Ludwig Landwehr muß gerettet werden“. Neues Deutschland, 24. August 1962. B., K. „Wehrhaft gegen die Wölfe“. Neue Zeit, 3. November 1962. Caspar, Günter. „Die Sieger von Buchenwald“. Sonntag, 17. August 1958. Eckert, Horst. „Die Wölfe fürchten sich. Bruno Apitz: Es erinnerte an 1933“. Berliner Zeitung, 2. November 1962, 6. Kersten, Heinz. „Sowjetzonaler Beststeller“. Die Bücher-Kommentare, 15. September 1960. Maetzke, Ernst-O. „Bruno Apitz: Nackt unter Wölfen“. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4. Juni 1960. Niethammer, Lutz (Hg.). Der „gesäuberte“ Antifaschismus. Die SED und die Roten Kapos von Buchenwald. Berlin: Akademie, 1994. Niven, Bill. „‚Der Not gehorchend, nicht dem eignen Triebe, ich tu’s der Werbung nur zuliebe!‘ The Genesis of Bruno Apitz’s Nackt unter Wölfen“. German Studies Review 28.2 (2005): 265–83. Niven, Bill. Das Buchenwaldkind. Wahrheit, Fiktion und Propaganda. Halle/S.: Mitteldeutscher Verlag, 2009. Reich-Ranicki, Marcel. „Ein ungewöhnlicher Publikumserfolg“. Ohne Rabatt. Über Literatur aus der DDR. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt, 1991, 24–27.
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Abweichende Geschichtsbilder Erich Kubys und Franz Fühmanns Entwürfe für einen Weiße Rose-Film Zum 50. Jahrestag der Flugblattaktion der Weißen Rose urteilte Gustav Seibt am 18. Februar 1993 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, das Gedenken an die Geschwister Scholl und die Weiße Rose sei „in die Lebensgrundlagen der zweiten deutschen Republik eingegangen“ und die Erinnerungsgeschichte der Weißen Rose „ein Spiegel der Geschichte der Bundesrepublik“. Die Ideenwelt des „christlich-abendländische[n] Idealismus“ der Weißen Rose habe sich „mit dem humanistisch gestimmten Zeitgeist der fünfziger Jahre“ in „Einklang“ befunden, bis der „Protest gegen den Geist der Nachkriegsrestauration“ 1968 auch die Weiße Rose getroffen habe: Gedenkveranstaltungen seien von Studierenden „militant gestört“ worden, Christian Petry habe in seinem Buch Studenten aufs Schafott „alle Schimpfvokabeln seiner Generation über die Toten“ gehäuft und „existenzielle[n] Widerstand und konkret definierte[n] Protest“ verwechselt. In den 1970er Jahren sei Antifaschismus zur „Allzweckwaffe“ geworden, was das „Andenken an die ‚Weiße Rose‘ vielleicht mehr entwertet“ habe „als das ritualisierte Gedenken der fünfziger Jahre“. Gegen „solchen Mißbrauch“ helfe nur „die Versenkung in die seit den achtziger Jahren vermehrt edierten originalen Zeugnisse und die Vergegenwärtigung der unvergleichbaren menschlichen und politischen Situation, in der die ‚Weiße Rose‘ ihre Stimme erhob“. Seibts Leitartikel zeigt, wie die Interpretation von Motiven und politischen Zielen von Gruppen des deutschen Widerstands im Zuge öffentlicher Erinnerung eine historische Bewertung ideengeschichtlicher Traditionen und eine aktuelle Stellungnahme zur Frage nach Traditionsbildung in der jeweiligen Gegenwart impliziert. Die Einschreibung der Ideenwelt der Weißen Rose in bundesrepublikanische Traditionen geht drei Jahre nach der Vereinigung von Bundesrepublik und DDR einher mit einer Delegitimierung von Antifaschismus. Die Gegenüberstellung von existenziellem Widerstand (gegen die Diktatur) und politischem Protest (in der Demokratie) beruht auf antitotalitären Prämissen. Seibt spitzt hierbei feuilletonistisch Annahmen zu, die auch die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Rezeption der Widerstandsgruppe an der Münchener Universität nach 1990 durchziehen: die Ausblendung ihres Gedenkens in der DDR und einseitige Zuordnung der Weißen Rose zur bundesrepublikanischen Erinnerung sowie die generationelle Erklärung einer auf ‚1968‘ datierten Kritik an dieser, die stets an den Publikationen Petrys festgemacht wird (vgl. http://doi.org.de/10.1515/9783050093932-020
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insbesondere Schüler 2000, Steinbach 2004, Tuchel 2004, nuancierter zuletzt Hikel 2013). Die Komplexität der öffentlichen Erinnerung in beiden deutschen Staaten sowie die Wechselwirkungen von Diskursen in Ost und West rücken dagegen in den Blick, wenn die Geschichte der Erinnerung auf einer breiten Quellenbasis beziehungsgeschichtlich untersucht und die Entwicklung von historischen Deutungsmustern kontextbezogen nachvollzogen wird, anstatt homogene (nationale) Gedächtnisgemeinschaften vorauszusetzen und deren Veränderung durch Generationenfolge anzunehmen. Die Geschichte öffentlicher Erinnerung wird dann materialbasiert durch die Geschichte von Veröffentlichungen rekonstruiert.1 Doch auch nicht veröffentlichte Texte – und damit nicht realisierte Filme – sind für die öffentliche Erinnerung relevant, denn sie zeigen, dass die Verbreitung bestimmter Deutungen von konkreten Bedingungen abhängt. Es erscheint in der Tat verwunderlich, dass vor 1982 kein Spielfilm zu der neben dem 20. Juli 1944 prominentesten Gruppe des deutschen Widerstands in die Kinos kam, obwohl sich bereits 1947 die Bavaria und 1948 die DEFA für einen Weiße RoseFilm interessierten (vgl. Hikel 2013, 77–84). Im Folgenden werden zwei Projekte untersucht, die mit den Namen von Nachkriegsautoren aus Bundesrepublik und DDR verbunden sind. Erich Kuby (1910–2005) und Franz Fühmann (1922–1985) sind hierbei insofern interessante Akteure, als ihr Verhältnis zur offiziellen Erinnerung im jeweiligen Staat Wandlungen durchlief. Ihre Exposés zu Filmen als potenziell breitenwirksamen Darstellungen der Geschichte der Weißen Rose Mitte der 1950er bzw. Mitte der 1960er Jahre stellen sich jeweils quer sowohl zu offiziellen Erinnerungsdiskursen ihrer Zeit als auch gängigen Phasierungen öffentlicher Erinnerung heute (vgl. Einleitung).
1 Weder ‚Antifa-Film‘ noch ‚nationaler Heldenfilm‘: Erich Kuby und die Wandlungen des Filmprojekts Die Geschwister Haller In ihrem Entwurf zu einem Film Die Geschwister Haller für die UFA nehmen Erich Kuby und Rolf Thiele Mitte 1958 auf „bisher unternommene[…] Versuche“
1 Die hier vorgestellten Untersuchungen beruhen auf der Dissertation des Verfassers, die 2018 unter dem Titel Die Weiße Rose – eine deutsche Geschichte? bei Vandenhoeck und Ruprecht unipress in Göttingen erscheint.
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Bezug, einen an den „historischen Vorgängen, die mit dem Namen Scholl und dem Symbol der Weissen Rose verbunden sind“, orientierten Film zu realisieren.2 Diese seien vor allem deshalb „gescheitert, weil der Stoff nicht mit vollkommener innerer Freiheit ergriffen worden ist“, was vor allem mit den positiven und negativen Vorurteilen gegenüber „dieser edelsten und sinnlosesten Episode des deutschen Widerstands“ zu begründen sei.3 Die hier gemeinten Projekte des Berliner Produzenten Artur Brauner und seiner Produktionsfirma CCC scheiterten jedoch vor allem daran, dass sich Inge Scholl (später: Aicher-Scholl) und andere Angehörige öffentlich gegen das Vorhaben zur Wehr setzten und erreichen konnten, dass Bürgschaften der Filmförderung an die Zustimmung der Angehörigen geknüpft wurden. Christine Hikel (2013, 83–85) verweist in diesem Zusammenhang auf Wechselwirkungen zwischen Familien- und öffentlicher Erinnerung. 1947–1948 dagegen hatte Scholl noch ein Filmprojekt der Bavaria Film aufgrund der „unerhörte[n] pädagogische[n] Macht“ des Spielfilms aktiv unterstützt und darin sogar eine Möglichkeit gesehen, „das Fortwirken dessen zu versuchen, was meine Geschwister und ihre Freunde erfüllte“.4 Nach der Absage von Carl Zuckmayer, den sie für das Drehbuch gewinnen wollte, verfasste sie gemeinsam mit ihrem Mann Otl Aicher ein eigenes Exposé, dem die Deutung zugrunde liegt, der Münchener Widerstandskreis könne nicht als Bewegung begriffen werden, verkörpere aber positive deutsche Traditionen, eine Sichtweise, die der am Projekt beteiligte Feuilleton-Redakteur des Münchener Merkurs, Herbert Hohenemser, in einer Gedenkrede pointiert formulierte: Es ist ein tiefer Irrtum, zu glauben, das Kriegsende, die Beseitigung der Tyrannis, sei das Ziel Hans Scholls und seiner Freunde gewesen. Das alles war der Weg. Und wir, die ganze überlebende Generation, haben diesen Weg weiter zu gehen. Deshalb kann auch der damalige Münchner Kreis nicht eine „Bewegung“ genannt werden. Sie waren nicht politisch im Sinne irgendeiner Parteipolitik, nicht confessionell im Sinne einer engen Orthodoxie, nicht bündisch, nicht organisiert, nicht revolutionär. Aber das ganze Deutschland war in ihnen. Das ewige Deutschland, an dem zwölf Jahre Mordversuch nichts ausrichten konnten. Das Deutschland des Abendlandes, der Welt. Deutschland, das sein wird, immer wieder und durch das Leiden geläutert.5
2 Erich Kuby und Rolf Thiele. Die Geschwister Haller (Arbeitstitel) frei nachgebildet den historischen Vorgängen, die mit Hans Scholl und dem Symbol der Weissen Rose verbunden sind. Entwurf zu einem Film. Typoskript, 7 Seiten, 1958. Institut für Zeitgeschichte, München (IfZ), ED 474, 405, 1. Im Folgenden nachgewiesen als Kuby und Thiele, Geschwister, mit Seitenzahl. 3 Kuby und Thiele, Geschwister (wie Anm. 2)‚1. 4 Inge Scholl. Brief an Thiery/Dr. Burru, Bavaria-Filmstudio, 29. April 1947. IfZ, ED 474, 402. 5 Herbert Hohenemser. Der Weg ist das Ziel. Typoskript, 3 Seiten, 1947. IfZ, ED 474, 402.
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Auch die von Artur Brauner vorangetriebenen Filmprojekte, für die er verschiedene Regisseure und Drehbuchautoren anfragte, würdigten den Idealismus der Weißen Rose. Werner Zimbaso etwa schwebte 1952 ein Film zur „menschlichen Grundhaltung“ und dem „Idealismus und der Begeisterungsfähigkeit“ der Geschwister Scholl vor, der kein „politisches Credo“, sondern eine „schicksalshafte Tragödie“ gestalte, die in ihrer „zeitlosen Gültigkeit jedem etwas sagt“.6 Gerhard Grindel, der mit Axel Eggebrecht zwei Versionen eines Drehbuchs unter dem Titel Die Geschwister Haller angefertigt hatte, verweist auf Grenzen bezüglich einer politischen Positionierung des Films; er wolle zwar den „Film nicht gerade mit dem Wind der deutschen Restauration segeln lassen, doch auch nicht gegen die Brise: ‚Die Leute in Westdeutschland stehen sonst auf und singen das HorstWessel-Lied‘“ („Geschwister Scholl“ 1953, 28). In diesem Zusammenhang erklärt Grindel auch, um das Thema der Judenverfolgung „‚rumgegangen‘“ zu sein (28). Im Zentrum des von Grindel und Eggebrecht konzipierten Films steht – ähnlich wie in Inge Scholls 1952 erstmals veröffentlichtem und bis heute verlegtem Buch Die weiße Rose – „vor allem die menschliche, oft übermenschliche Würde und Tapferkeit der Geschwister“ sowie „ihre Jugendneigung zum NS-Regime und die frühe, sittlich begründete Abkehr“ (28). Kubys und Thieles Filmprojekt von 1958 verfolgte einen gegensätzlichen Ansatz. Zwar wollten sie einen „deutschen Nationalfilm […] schaffen, […] der versuchen soll, eine zeitgenössisch umfassende künstlerische Formel für deutsches Schicksal zu finden“.7 Es ging ihnen dabei jedoch darum, eine mit dem „individuell Menschlichen“ konnotierte „Ehrfurcht“ vor dem Schicksal der Geschwister Scholl in eine am „Nationalen“ ansetzende Kritik an der „Verblasenheit einer idealistischen Tradition“ zu überführen.8 Einen ähnlichen Ansatz forderte bereits 1955 eine Stellungnahme der Filmaufbau GmbH zum Drehbuch, die aus dem Versuch Brauners hervorging, in Kooperation mit der von Hans Abich und Rolf Thiele gegründeten Göttinger Produktionsfirma das Projekt zur Weißen Rose neu zu beleben, nachdem er unter Beteiligung von Falk Harnack und Günther Weisenborn mit dem Film Der 20. Juli erfolgreich einen Film zur Widerstandsthematik realisiert hatte (vgl. Kannapin 2005, 96–98). Laut der vermutlich von Thiele, der Regie führen sollte, zumindest mitverfassten Einschätzung geht das von Grindel und Eggebrecht vorgelegte
6 Werner Zimbaso. Brief an Artur Brauner [ca. 20. September 1952]. Deutsches Filminstitut (DFI), Artur-Brauner-Archiv, Manuskripte (Sch). 7 Kuby und Thiele, Geschwister (wie Anm. 2), 1. 8 Kuby und Thiele, Geschwister (wie Anm. 2), 1.
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Drehbuch Die Geschwister Haller „an der Idee des Stoffes vorbei“.9 Dieser Befund beruht auf einer eigenen Deutung des Widerstands der Weißen Rose: Die Geschwister Scholl und ihre Freunde waren keine Widerstandskämpfer im eigentlichen Sinne, dafür war ihre Wirkmöglichkeit zu minimal. Nicht, weil es ihnen an Willenskraft oder Eifer gefehlt hätte, sondern weil ihnen der Apparat fehlte und jegliches nennenswerte Instrument einer erfolgversprechenden Gegenrevolution. Sie waren echte Idealisten, ihre Mittel waren Texte, deren Anwendung auf die bedrückende Lage und individuell gemeinte Ermahnungen. Schließlich konnten sie sich und ihr Schicksal nur zur Mahnung an alle erheben und bestenfalls bei jedem Unbesonnenen ein schlechtes Gewissen provozieren.10
Aus dieser Sichtweise wird gefolgert, dass, „wenn man den auch gleichviel modifizierten Figuren gerecht werden will, hier keine ‚Widerstandskämpfer‘ ‚in Szene‘ gesetzt werden dürfen“‚11 der „pure Aufstand: Hans gegen das übermächtige Regime“ gehe „in der Wirkung über das Ideologische nicht hinaus“.12 Die Inszenierung eines solchen Konflikts biete lediglich „eine Art von umgedrehten psychologischen Kriminalstoff“, in dem die „guten ‚Verbrecher‘ […] vom bösen Kriminalisten in die Enge getrieben und überführt“ werden.13 In diesem „Gegenspiel“ würden „die Helden dermaßen eingeengt werden, daß ihre Empörung zur revolutionären Untauglichkeit entartet“.14 Stattdessen müsste das „Hauptgewicht bei den Helden liegen“ und an der „edle[n] Maßlosigkeit“ von Hans’ „ideelle[r] Sehnsucht“ ansetzen, die ihn den „wirklichen, den nahen, greifbaren Menschen“ übersehen lasse und ihn so zu „einem tragischen Helden“ machen könne: „[S]einunschuldig-schuldiger Charakter würde erhoben, indem er vernichtet wird und würde ‚gleichberechtigt‘ gegenüber der anonymen Gewalt, gegen die er kämpft“.15 Die programmatische Entidealisierung der Figur Hans geht einher mit der Kritik des Idealismus, den dieser verkörpert. Interessant ist hierbei, dass der Schuldbegriff zwar auf die Figur angewendet wird, sich jedoch eigentlich auf Traditionen bezieht. In diesem Zusammenhang ist die Forderung zu sehen, der Film müsse auch ein „Drama zwischen Lehrer [gemeint ist das Pendant zu Kurt Huber, C. E.] und seinem Schüler“ sein, denn die „‚Schuld‘ der Generationen, die
9 Filmaufbau GmbH. Stellungnahme zu „Die Geschwister Haller“ (Stoff um die Geschw. Scholl). Typoskript, 7 Seiten, 11. Februar 1955. IfZ, ED 474, 404, 1. Im Folgenden nachgewiesen als Filmaufbau, Stellungnahme, mit Seitenzahl. 10 Filmaufbau, Stellungnahme (wie Anm. 9), 1. 11 Filmaufbau, Stellungnahme (wie Anm. 9), 1. 12 Filmaufbau, Stellungnahme (wie Anm. 9), 5. 13 Filmaufbau, Stellungnahme (wie Anm. 9), 4. 14 Filmaufbau, Stellungnahme (wie Anm. 9), 4. 15 Filmaufbau, Stellungnahme (wie Anm. 9), 4–6.
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im Sinne Kants, Fichtes, Schillers seit 150 Jahren edle und achtbare Lehren und Maximen verkündeten, interpretierten – und freilich auch lebten“, aber nicht lehrten, „überleben zu können, wenn die Dämonen zu rasen beginnen“, schwinge „in einem Stoff um die Geschwister Scholl mit“.16 Die „große Tragödie der Entzweiung von Sinn und Wirklichkeit“ als „konkrete[s] Stück deutscher Bildungstragik“ mache das Filmvorhaben zu einem „hochaktuelle[n], zwar schwierige[n], aber auch sehr notwendige[n] Projekt“.17 Die Überlegungen der Filmaufbau GmbH sind insofern brisant, als die oft ineinanderlaufenden Deutungen der Geschwister Scholl als Verkörperung der Traditionen des ‚anderen Deutschlands‘ und Identifikationsfiguren des Widerstands gegen eine totalitäre Gewaltherrschaft nunmehr selbst zum Problem erklärt werden. Die Zusammenarbeit zwischen der Filmaufbau GmbH und Artur Brauner wurde aus bisher nicht bekannten Gründen nicht weiter verfolgt, Rolf Thiele unternahm jedoch gemeinsam mit Erich Kuby, der gerade das Drehbuch zu dem von ihm inszenierten Film Das Mädchen Rosemarie geschrieben hatte, 1958 einen neuen Versuch, der die Linie der Idealismus-Kritik fortführte. Auf diese Zusammenarbeit hob Kuby ab, als er im Juni 1958 Inge Aicher-Scholl das bereits oben erwähnte Exposé schickte. Er sei sicher, dass „die Linie, die ich mit diesem Rosemarie-Film gegen unsere Wirtschaftswunder-Mentalität zu ziehen versuche“, auch Aicher-Scholls Zustimmung finde.18 Diese begrüßte zwar seine Position gegen eine „Nationalisierung à la Strauss“, teilte ihm aber zunächst mit, dass er „primär von eigenen Fronten“ ausgehe und daraus die Konsequenz ziehen sollte, „sich überhaupt von den historischen Fakten zu trennen“; er solle „statt des Geschwisterpaars ein Freundespaar“ und „eine andere Universität als München“ nehmen, so dass sein eigener „Vorwurf, der wirklich viel Gültigkeit hat (nur nicht gegenüber München)“ und „die wirklichen Ereignisse“ zu ihrem jeweils eigenen Recht kämen.19 Die „Wahl eines neutralen Schauplatzes“ befürwortete Kuby, zumal Freiburg als „eine deutsche Stadtlandschaft, die im eigentlichsten Sinne deutsch ist“, einen geeigneten Hintergrund liefere.20 Er versprach zudem, den Namen Scholl nicht zu verwenden und lediglich eine Widmung voranzuschalten: „Denen, die im Zeichen der Weissen Rose starben. Und allen, die gleich ihnen fuer ihre innere Wahrhaftigkeit die Freiheit des Todes auf sich nahmen.“21 Diese
16 Filmaufbau, Stellungnahme (wie Anm. 9), 6. 17 Filmaufbau, Stellungnahme (wie Anm. 9), 7. 18 Erich Kuby. Brief an Inge Aicher-Scholl, 5. Juni 1958. IfZ, ED 474, 405. 19 Inge Aicher-Scholl. Brief an Erich Kuby, 1. Juli 1958. IfZ, ED 474, 405. 20 Erich Kuby. Brief an Inge Aicher-Scholl, 13. Juli 1958. IfZ, ED 474, 405. 21 Erich Kuby. Brief an Inge Aicher-Scholl, 29. September 1958. IfZ, ED 474, 405; hier auch die folgenden drei Zitate.
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solle den „schmale[n] Grat“ verdeutlichen, auf dem er „wandern“ wolle, „um die zwei grossen Gefahren, die in dem Thema liegen, zu vermeiden: entweder einen Antifa-Film oder einen nationalen Heldenfilm zu machen“. Kuby versuchte Inge Aicher-Scholl mit der Vorhersage, ein Film zum Thema werde in absehbarer Zeit in jedem Fall gedreht, sowie politischen Argumenten zu einer Tolerierung des Projekts zu bewegen. Angesichts von Tendenzen einer „Re-Nationalisierung“ sei es zu befürchten, dass ein anderes Filmprojekt zur Weißen Rose „einen neuen Nationalismus auch mit diesem Symbol aufziehen will“. Aicher-Scholls Vorschlag der Ersetzung der Geschwister durch ein Freundespaar war für ihn jedoch „ganz ausgeschlossen“, da „die beiden […] in einer erotischliebenden Beziehung stehen“ müssten, was zu dem Vorwurf führen würde, „eine platte Nuance in etwas gebracht [zu] haben, das im innersten Kern nicht angeruehrt und veraendert werden darf“: Ich gehe aber noch weiter und sage, das wuerde beinahe so wirken, als schaemten wir uns dieser Vergangenheit. In dieser Richtung wuerde ja auch, je laenger desto mehr, wirken, wenn man nicht versuchen wuerde, diese reinste Geste des Widerstandes dem Volk wieder bewusst zu machen.
Diese Deutung der Weißen Rose stimmt nicht überein mit der eines früheren Textes von Kuby, den er zum Jahrestag am 22.–23. Februar 1953 in der Süddeutschen Zeitung veröffentlicht hatte. Hierin wird betont, dass die „Frage nach dem politischen Nutzen dieser geistig vollkommenen Protest-Handlung“ auf die „Frage nach dem Sinn“ umgelenkt werden müsse. Die Publizistik habe „ohne Berechtigung häufig diese Studenten und ihre Tat so dargestellt, als hätten sie sich für Gesinnungen geopfert, die unsere Gegenwart bestimmen“. Die idealisierte Wahrnehmung der Tat „als folgen- und wirkungsloser Streich, begangen aus jugendlich-romantischem Überschwang“, sei jedoch falsch und widerspreche den „geistigen Entwicklungslinien“ dieser „jungen Menschen“, deren „Ursprünge in der deutschen Jugendbewegung, der bündischen Jugend liegen, besonders dort, wo sie starke christliche Bindungen eingegangen ist“. Diesen Prägungen und dem Einfluss des liberalen Elternhauses wird die Abkehr von einer anfänglichen ‚Führerbegeisterung‘ zugeschrieben. Kuby wendet sich dagegen, die Weiße Rose nur mit dem Namen der Geschwister Scholl zu identifizieren, und betont, dass auch Carl Muth und Theodor Haecker als „geistige Führer“ zu dem Kreis gehörten. Als entscheidend für die Aktion wird der Russlandeinsatz der Studentenkompanie herausgestellt, dessen Erlebnis die Studenten „wie viele sensible Soldaten“ mit der Faszination Russlands und „den furchtbarsten Seiten“ des Regimes konfrontiert habe, denn „sie sahen, wie es mit den russischen ‚Untermenschen‘, die sie lieben und achten lernten, umging“. Diesen Gewalttaten seien sie entgegengetreten, wobei sie einen Übermut entwi-
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ckelten, mit dem sie zurück nach München kamen, „in verstärkte Kriegsnot […], die bald darauf ihre Steigerung durch die Katastrophe von Stalingrad erfahren sollte“ und sie zum Handeln motivierte. Inge Scholl wird zudem mit einer weiteren Begründung des Widerstands zitiert: Hans habe gegenüber seinen Schwestern Weihnachten 1942 erklärt, das Wagnis eines „ganz klaren und sichtbaren Protests“ sei notwendig, „damit nachher von christlicher Seite ein Gegengewicht zum kommunistischen Widerstand da ist“; nichts habe ihm dabei ferner gelegen, als „mit seinem Leben oder dem seiner Freunde zu spielen“. Im Fazit verbindet Kuby die Weiße Rose mit einer abendländischen, dem Nationalsozialismus entgegengesetzten Tradition deutscher Geschichte: Durch kein Kalkül vom Wesentlichen abgelenkt, die geistigen Kräfte des christlichen Abendlands in sich vereinigend, haben junge Menschen, von geistigen Führern in die Tradition gestellt, die Furcht überwunden, als Furcht das ganze Volk Verbrechern überantwortete. Die Tat ist nicht mehr aus unserer Geschichte auszulöschen. (Kuby 1953)
Diese Sichtweise ist jedoch der von Kuby und Thiele fünf Jahre später verfassten Konzeption eines Films zum Stoff der Weißen Rose fast diametral entgegengesetzt. Diese geht über die bereits in der Stellungnahme der Filmaufbau angelegte Deutung hinaus, die Geschwister Scholl seien „durchaus nicht nur die Opfer der Diktatur“, sondern „mindestens im gleichen Maße Opfer eines deutschen Idealismus“ gewesen.22 Die Idealismus-Kritik wird vielmehr auf das Verhältnis von Nationalsozialismus und deutscher Geschichte ausgeweitet. Der Film nehme den „Standpunkt des Rechts“ eben nicht durch eine „Schwarz-Weiss-Zeichnung in Bezug auf die Diktatur“ ein, sondern durch eine „erste Überwindung der verhängnisvollen Diskontinuität in deutscher Selbstdarstellung und Zeitgeschichte“.23 Der deutsche Idealismus sei durch den „Nationalsozialismus nicht einfach unterbrochen, sondern fortgesetzt“ worden‚24 entsprechend wird im Vergleich zu den dramaturgischen Ideen von 1955 der primäre Konflikt verlagert. Nicht das Verhältnis Mentor – Studenten und das zwischen den Geschwistern steht im Vordergrund, sondern die Versuche des SA-Führers Arnstein, den jungen Hans Haller „mit dem Argument ins eigene Lager herüberzuziehen, er, der Nationalsozialismus, sei ja die erste und einzige Synthese von Idealismus und Macht in der deutschen Geschichte“.25 Arnstein wird dabei angetrieben von dem Motiv, sich selbst zu beweisen, „dass die ‚Idee‘ auch einen reinen Menschen zu gewinnen ver-
22 Filmaufbau, Stellungnahme (wie Anm. 9), 2. 23 Kuby und Thiele, Geschwister (wie Anm. 2), 3. 24 Kuby und Thiele, Geschwister (wie Anm. 2), 3. 25 Kuby und Thiele, Geschwister (wie Anm. 2), 3.
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m[o]cht habe“.26 Er wird so zu einer Gegenidentifikationsfigur für eine kritische Perspektive auf den Nationalsozialismus aufgebaut: Dieser Mann hat in dem Film weder bei den jungen Menschen noch bei seinen politischen Vorgesetzten jemals eine Chance, und so wird eben seine Gestalt den Menschen von heute über das wahre (Un)-Wesen des Nationalsozialismus mehr sagen, als durch undifferenzierte Kritik zu erreichen wäre.27
Während für Kuby in seinem Artikel von 1953 die Weiße Rose noch die Kontinuität positiver deutscher Traditionen symbolisiert und gerade die Überwindung der ‚Führerbegeisterung‘ und das prägende Fronterlebnis Identifikationspotenzial boten, werden ebendiese Traditionen in seinem und Thieles Filmentwurf 1958 zur Folie einer Kontinuität negativer nationaler Traditionen, die Ursache und Nachwirkung des Nationalsozialismus betreffen. Damit positionieren sich Kuby und Thiele in Opposition zu damaligen offiziellen bundesrepublikanischen Erinnerungsdiskursen. Im Falle Kubys ergeben sich hierbei Parallelen zu Veränderungen in autobiografischen Darstellungen seiner Kriegserfahrung, die Helmut Peitsch herausgearbeitet hat. Anhand der Publizistik des 1910 geborenen Kubys zwischen 1961 und 1965 zeigt Peitsch, dass „sich die wesentlichen Merkmale dessen, was in der heutigen Forschung […] als kennzeichnend für die sogenannte 68er Generation behauptet wird, lange vor 1968 in der öffentlichen Erinnerung an den Faschismus herausgebildet haben“ (Peitsch 2001, 37–38). Auch Hikel sieht – ohne diese über das Stichwort Idealismus-Kritik hinaus näher zu analysieren – Parallelen zu Deutungen, die sich ihr zufolge „jedoch erst gut zehn Jahre später im Gefolge von ’68“ im Diskurs etablieren konnten (Hikel 2013, 153). Die Repositionierungen Kubys belegen aber beispielhaft, dass diese Veränderung des bundesrepublikanischen Erinnerungsdiskurses weder generationell erklärt noch auf 1968 datiert werden kann. Dass das Filmprojekt Die Geschwister Haller auch 1958 nicht zustande kam, lag diesmal zunächst nicht an einer Verhinderung durch Inge Scholl. Diese ließ sich von Kuby zu einer Tolerierung des Projekts bewegen und gab ihm eine von ihr und ihrem Vater gezeichnete Stellungnahme zur persönlichen Verwendung, um das Projekt bei der UFA voranzutreiben: Als Angehörige von Hans und Sophie Scholl haben wir uns gegen alle Pläne einer Verfilmung ihres Schicksals gewandt. Wir wissen aber, dass dieses Schicksal Bestandteil der politischen Geschichte ist und daher der öffentlichen Darstellung nicht entzogen werden kann.
26 Kuby und Thiele, Geschwister (wie Anm. 2), 6. 27 Kuby und Thiele, Geschwister (wie Anm. 2), 3.
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Wir sind davon unterrichtet worden, dass eine filmische Darstellung jetzt erfolgen soll. Wir haben darauf keinen Einfluss und wollen auch keinen Einfluss nehmen.28
Das Scheitern des Projekts lag vielmehr an wirtschaftlichen Schwierigkeiten der UFA.29 Als Kuby 1962 das Projekt erneut angehen wollte, hatte für Inge Scholl die Vereinbarung keinen Bestand mehr, wie sie Alexander Kluge gegenüber erläuterte: Damals war die Idee, daß ein großes deutsches Filmunternehmen, wie die UFA mit den besten Kräften einen großen deutschen Widerstandsfilm wagen sollte und zwar in einer spezifisch politisch besonders problematischen Zeitsituation. Das ist in jeder Hinsicht anders geworden und ich kann Kuby, so sehr ich ihn schätze, die damalige Verabredung nicht weiter zugestehen.30
Die von der Forschung maßgeblich an Christian Petrys Buch festgemachte und generationell mit der Chiffe 1968 verbundene Deutung, die Weiße Rose sei einer für das deutsche Bürgertum typischen „sehr idealistische[n] und sehr deutsche[n] Wunschvorstellung“ zum Opfer gefallen und könne daher – wie der bürgerliche Widerstand im Zeichen des ‚anderen Deutschlands‘ insgesamt – keinen „Ansatzpunkt einer Tradition politischen Denkens und Handelns“ mehr darstellen (Petry 1968, 119–120), war jedoch, wie die verschiedenen Entwürfe des nicht realisierten Filmprojekts Die Geschwister Haller zeigen, bereits Mitte der 1950er Jahre Gegenstand von Deutungskämpfen.
2 Franz Fühmanns Wandlungen einer ‚Absicht, ein Geschichtsbild zu geben‘ Ein DEFA-Film über die Weiße Rose war keineswegs per se ein brisantes Vorhaben. Bereits 1960 hatte das DDR-Fernsehen – ohne Rücksprache mit den Angehörigen – Gerd Fockes Fernsehspiel Der Henker richtet über die Weiße Rose ausgestrahlt, das sich mit einer auf faschistische Kontinuitäten in der westdeutschen Justiz abhebenden Rahmenhandlung und der Kontrastierung von Kurt Huber und den studentischen Mitgliedern der Weißen Rose auch in Hinblick auf eine Zusammenarbeit mit Kommunisten stark in antagonistisch gegen die
28 Robert Scholl und Inge Aicher-Scholl. Stellungnahme zu einem Filmprojekt über die Geschwister, 3. November 1958. IfZ, ED 474, 405. 29 Erich Kuby. Brief an Inge Aicher-Scholl, 8. Juli 1962. IfZ, ED 474, 405. 30 Inge Aicher-Scholl. Brief an Alexander Kluge, 12. Juli 1962. IfZ, ED 474, 405.
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Bundesrepublik ausgerichtete offizielle Erinnerungsdiskurse in der Hochphase des Kalten Kriegs einschrieb und zugleich Identifikationsangebote für ehemalige Wehrmachtssoldaten unterbreitete. Mitte der 1960er Jahre erfolgte durch den fünften Band der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung (GdA) in der offiziellen Widerstandsgeschichtsschreibung jedoch eine Veränderung der staatlichen Geschichtspolitik. Die GdA funktionierte Siegfried Lokatis (2003, 328–349) zufolge nicht nur für die geschichtswissenschaftliche Buchproduktion, sondern für die gesamte geisteswissenschaftliche wie belletristische Buchproduktion bis zum Ende der Ära Ulbricht als Zensurmaßstab, der gerade beim Thema Widerstand auch eine Differenzierung bewirkte. An Publikationen in den Verlagen der Blockparteien lässt sich eine Pluralisierung der öffentlichen Widerstandserinnerung belegen. Der bürgerliche und militärische Widerstand rückte in diesen Jahren in der DDR stärker in den Fokus – durch eine gesteuerte Pluralisierung der Widerstandserinnerung sollten bürgerlichen und christlichen Zielgruppen Identifikationsangebote unterbreitet werden. Parallel dazu sind Tendenzen zur Förderung einer ‚Wandlungsliteratur‘ im Verlag der Nation Ende der 1960er-Jahre zu sehen: Die Wandlung vom NS-Anhänger zum NS-Gegner diente als Vorbild einer Entwicklung zum überzeugten DDR-Bürger (vgl. Wienand 2015, 138). Diese Aspekte scheinen auch in der befürwortenden Stellungnahme von Karl-Heinz Jahnke zum Weiße Rose-Filmprojekt durch, dem damals führenden DDR-Historiker zum Jugendwiderstand: Es gibt zahlreiche Beispiele des Widerstandes junger Menschen, aber nur wenige Gruppen und Aktionen scheinen mir für die Gestaltung eines Filmes so geeignet wie das Beispiel der Münchner Studentengruppe. Es handelt sich hier fast ausschliesslich um junge Menschen, die in den ersten Jahren der faschistischen Diktatur der nationalsozialistischen Bewegung begeistert folgten und selbst teilweise leitende Funktionen in der HJ ausübten. […] Gute Möglichkeiten ergeben sich, um an humanistische Bildungsmomente genau so wie an bestimmte christliche Verhaltensweisen und Normen anzuknüpfen, die von den Faschisten geschickt für ihre Propaganda ausgenutzt wurden.31
Zugleich wurde im Zuge des 11. Plenums der SED 1965 eine Phase kulturpolitischer Liberalisierung beendet und die inhaltliche Kontrolle über die DEFA ausgeweitet. Der von der DEFA 1966 der Hauptverwaltung Film im Ministerium für Kultur vorgelegte „Thematische Produktionsplan“ führte mehrere in Vorbereitung befindliche Projekte zum Themenkomplex antifaschistischer
31 Karl-Heinz Jahnke. Stellungnahme zum Vorhaben der DEFA „Gruppe Berlin“ einen Film über die studentische Widerstandsgruppe „Weisse Rose“ zu gestalten. Maschinenschr., 3 Seiten, 16. Dezember 1965, Akademie der Künste, Berlin (AdK), Franz-Fühmann-Archiv, 202/17.
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Widerstand an, darunter auch einen Film zum 20. Juli 1944. Im Gegensatz zu Gegenwartsstoffen wurde nach dem Plenum das von der Künstlerischen Arbeitsgruppe „Berlin“ in den Plan aufgenommene Vorhaben zur Weißen Rose wohl als unproblematisches Projekt eingeschätzt. Als Regisseur war Joachim Kunert vorgesehen, als Drehbuchautor konnte Franz Fühmann gewonnen werden, der sich auch aus autobiografischer Motivation heraus nicht nur in Lyrik und Prosa mit dem Zweiten Weltkrieg und dem Faschismus auseinandergesetzt‚32 sondern seit Ende der 1950er Jahre für das DDR-Fernsehen und die DEFA Szenarien zu Filmen mit antifaschistischer und Kriegsthematik verfasst hatte.33 Gemeinsam mit der Dramaturgin Traudl Kühn stellte er umfangreiche und akribische Recherchen an und legte im Mai 1966 ein erstes Exposé vor, in dem das Projekt als „ein Spielfilm und ein Dokumentarfilm zugleich“ konzipiert wurde.34 Fakten und Fiktion seien notwendigerweise zu verbinden, denn es sei „unmöglich allein nur mit dem überlieferten Faktenmaterial auszukommen“.35 Angesichts mangelnder Kenntnisse des Publikums sei in der „Absicht, auch ein Geschichtsbild zu geben“, die Vermittlung historischen Kontexts notwendig, um zu zeigen, „wie bürgerliche junge Deutsche mitten im Krieg zu einem positiven, wenn auch nicht voll konsequenten Verhältnis zum kommunistischen Rußland kommen“.36 Schwierigkeiten bereite ihm hierbei vor allem die „Unkenntnis über die Verbindung der Weißen Rose zum Widerstand der Arbeiterklasse“, ohne die die „Abwendung von einer allgemeinen Antitotalitarismushaltung der ersten beiden Flugblätter und Hinwendung zu einem ganz klaren Antifaschismus“ nicht erklärbar sei. 37 Fühmann begründet damit die Notwendigkeit, „glaubwürdig erfinden [zu] müssen“ und eine „illegale[…] Organisation“ in die Handlung einzufügen.38 Auf jeden Fall seien aber die Arbeiter „auf die Leinwand“ zu bringen, denn das Ziel des Films, gewissermaßen sein „Arbeitstitel“ sei, „die Größe und die Grenze des Kleinbürgers“ zu zeigen:
32 Beispielsweise das Poem Die Fahrt nach Stalingrad (1953), die Novelle Kameraden (1955) und die Erzählung Das Judenauto (1962). 33 Dabei handelt es sich um folgende Fernsehspiele des Regisseurs Kurt Jung-Alsen: Betrogen bis zum jüngsten Tag nach der Novelle Kameraden (1957); Die heute über 40 sind (1960); Der Schwur des Soldaten Pooley (1962). Siehe umfassend zu Fühmanns filmischen Arbeiten: Prignitz 1987. 34 Franz Fühmann: Exposé: Jugend im Widerstand (Arb.titel „Weisse Rose“)‚Typoskript, 6 Seiten Vorbemerkungen, 46 Seiten Text, gebunden [1966]. AdK, Franz-Fühmann-Archiv, 202, 1. Im Folgenden nachgewiesen als Fühmann, Exposé, mit Seitenangabe. 35 Fühmann, Exposé (wie Anm. 34), 1–2. 36 Fühmann, Exposé (wie Anm. 34), 2. 37 Fühmann, Exposé (wie Anm. 34), 5. 38 Fühmann, Exposé (wie Anm. 34), 5.
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Wir wollen zeigen, wie es den besten Teilen des Kleinbürgertums unter den schwierigsten Verhältnissen möglich war, die geistige Leine loszuwerden, an der das Großkapital noch heute den westdeutschen Mittelstand herumführt; den Antikommunismus. Wir wollen zeigen, daß das Kleinbürgertum der Führung durch die Arbeiterklasse bedarf, um sich zu seiner vollen Größe entfalten zu können.39
Die Filmhandlung ist im Exposé in fünf Teilen konzipiert und setzt in den Tagen vor der Kapitulation der Wehrmacht bei Stalingrad ein. Gestapo, Studentengruppe und die illegale kommunistische Gruppe werden im ersten Teil im Wechsel gezeigt. Die drei Beamten der Gestapo verfolgen eine Spur zu der Studentenkompanie und beobachten die Studentenschaft während der Rede des Gauleiters, bei der es zu Tumulten kommt. Diese bringen die Studierenden der Weißen Rose zu der Einschätzung, „ein Volksaufstand gegen Hitler stehe nahe bevor und bedürfe nur noch eines kräftigen Anstoßes von außen und von innen“.40 Die Studierenden beraten sich mit Professor Huber, der diese Einschätzung teilt, geraten mit ihm jedoch in Streit in der Frage einer Fortsetzung des Krieges, da Huber einen Sieg des Kommunismus befürchtet. In Anbetracht der „Stalingraderschütterung“ beschließen sie: „Jetzt muß das Fanal gezündet werden“.41 Die kommunistische Gruppe diskutiert unterdessen, ob man an die Flugblattgruppe herantreten soll, um sie zu warnen. Bei der Gestapo trifft dann unvermittelt die Nachricht von der Verhaftung von Studenten in der Universität ein. An diese bis dahin linear erzählte Exposition, welche die Deutung eines Fanals nach Stalingrad vorgibt und Widerstand und Kriegsverlauf eng verbindet, knüpfen vier weitere Teile an, welche den Stationen Verhöre, Haft, Prozess und Hinrichtung folgen. In Rückblenden wird, ausgelöst durch Erinnerungen der Protagonisten, die Entstehungsgeschichte, Entwicklung und Ausweitung der Gruppe und ihrer Aktionen dargestellt. Hierbei ist in Hinblick auf den Vergleich mit der Treatment-Version weiter unten interessant, wie die Wandlung der Protagonisten von Anhängern des Nationalsozialismus zu aktiven Widerständlern motiviert und das Verhältnis zum kommunistischen Widerstand dargestellt wird: Für Alexander Schmorell gab „jenes berüchtigte viehische Pogrom der Kristallnacht“ den „erste[n] Anstoß tief über den Nationalsozialismus und Deutschlands Zukunft nachzudenken“.42 Huber gibt für seine Gegnerschaft die Missachtung und den Missbrauch der Wissenschaft an. Hans’ Wandlung vom „gläubigen Hitlerjungen zum glühenden Hasser des Nazismus“ wird analog zu den in Inge Scholls
39 Fühmann, Exposé (wie Anm. 34), 5. 40 Fühmann, Exposé (wie Anm. 34), 6–7. 41 Fühmann, Exposé (wie Anm. 34), 9. 42 Fühmann, Exposé (wie Anm. 34), 21.
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Buch überlieferten Episoden mit Erfahrungen in der HJ begründet; den letzten Anstoß gibt, wie sein Lieblingsbuch von Stefan Zweig von einem HJ-Führer als „Judendreck“ bezeichnet und auf einem „Scheiterhaufen“ verbrannt wird.43 Als Schlüsselerfahrung für den Einstellungswandel gegenüber der Sowjetunion und dem Kommunismus werden Erlebnisse und Einsichten während der Famulatur in Russland dargestellt. Zunächst wird die von Inge Scholl (1952, 48–49) überlieferte Episode nacherzählt, wie Hans einer jüdischen Zwangsarbeiterin Schokolade und eine Margerite zusteckt. Die Begegnung mit Russland und seiner Bevölkerung bringt Alex während eines gemeinsamen Ritts mit Hans zu dessen Bruder Werner zu der Aussage, „er habe sich immer als Weißer gefühlt, doch jetzt fange er an, die Roten zu verstehen“.44 Werner befürchtet, gegen Partisanen eingesetzt zu werden, und berichtet von unmenschlichen Verbrechen an der Zivilbevölkerung: „Käme es wirklich zu so einem Einsatz, wolle er den Tod suchen, es gebe ja sonst keine Alternative.“45 Eine russische Studentin aus Minsk, mit der es zu einer „tiefen Diskussion“ kommt, berichtet aus erster Hand „von furchtbaren Erlebnissen mit Okkupanten.46 Als Hans und Alex einwenden, „daß doch nicht alle Deutschen schlecht sein, daß sie die SS und Hitler auch haßten, daß sie niemand ein Leid angetan hätten“, fordert sie das Mädchen auf, sich zu entscheiden: Ja, ihr gebt uns Brot, sagt das Mädchen. Aber weiß ich, was ihr im Nachbardorf getan habt? Weiß ich, was ihr tun werdet, wenn man euch Verbrechen befiehlt? […] Ihr werdet gehorchen, wie alle anderen auch […]. Wenn ihr es ehrlich meint, dann kommt zu uns, zu den Partisanen. In unseren Reihen kämpfen auch Deutsche, die besten Deutschen!47
Hans entgegnet, es sei für ihn unmöglich, auf Kameraden zu schießen, aber, wenn er „wüsste, daß er nur gegen die SS schießen brauche – dann sofort“.48 An dieser Stelle, so vermerkt Fühmann, müsse der Schatten deutlich werden, über den die Drei nicht springen könnten, nämlich die mangelnde „Einsicht in den Klassenkampf“.49 Der Schlüssel zum inhaltlichen Wandel der Flugblätter liegt schließlich bei Alexander, der sich in seiner Zelle an ein Zusammentreffen mit einem unbekannten Russen erinnert:
43 Fühmann, Exposé (wie Anm. 34), 25. 44 Fühmann, Exposé (wie Anm. 34), 30. 45 Fühmann, Exposé (wie Anm. 34), 31. 46 Fühmann, Exposé (wie Anm. 34), 31. 47 Fühmann, Exposé (wie Anm. 34), 32. 48 Fühmann, Exposé (wie Anm. 34), 32. 49 Fühmann, Exposé (wie Anm. 34), 32.
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Der Russe sagt, er kenne ihn; woher sei gleichgültig. Er kenne auch die Flugblätter. „Ihr kommt um eine Frage nicht herum“, sagt der Russe, „und das ist die Sowjetunion. Sie ist jetzt die einzige Macht, die auf den verfluchten Nazismus schießt, die ihn bekämpft, die einzige, die ihn besiegen kann. Hitler versucht das Volk mit dem wahnsinnigen Antikommunismus zu schrecken. Ihr müßt darauf eingehen, auch wenn ihr alles andere als Kommunisten seid.“50
Auf diese Weise wird kurz vor Ende des Films die Frage nach der inhaltlichen Neuausrichtung der Flugblätter aufgelöst. Nach Beendigung des Exposés schrieb Fühmann, der den Film nicht ohne Verständnis der Angehörigen realisieren wollte‚ Robert Scholl, der in der DDR große Anerkennung genoss und Mitte der 1950er Jahre als Vertreter der Gesamtdeutschen Volkspartei (GVP) Kontakte zur DDR aufgebaut hatte. Bei einem Besuch Fühmanns und Kunerts am 17. Mai 1966 muss klar geworden sein, dass das im Exposé entworfene Projekt wahrscheinlich nicht auf die Zustimmung der Angehörigen stoßen würde, denn wie zuvor Erich Kuby wählte Fühmann den Weg, den Film nur lose an den historischen Fakten auszurichten. Fühmann arbeitete, obwohl eine Antwort Robert Scholls ausblieb, Ende 1966 an einem mit Fiktion arbeitenden Treatment. Dem darin konzipierten Film war nun ein Vorspann vorangestellt, der den Film in memoriam den Toten der Weißen Rose widmet: Unser Film erzählt in freier künstlerischer Darstellung die Geschichte einer Gruppe junger Menschen, denen die antifaschistische Widerstandsgruppe Weisse Rose einige, politisch allerdings wesentliche Züge verliehen hat. Er erhebt aber keineswegs den Anspruch, die Geschichte der Weissen Rose dokumentarisch getreu nachzuzeichnen oder eine Biographie ihrer gefallenen Helden zu geben. Die zitierten Flugblätterpassagen allerdings sind wortgetreu den Flugblättern der Weissen Rose übernommen.51
In dieser zweiten Version des Filmprojekts ist die Handlungsanlage verändert: Die Verfolgung durch die Gestapo und die Verhöre spielen kaum mehr eine Rolle, die Geschichte der Widerstandsgruppe wird nicht mehr in Rückblenden, sondern linear erzählt. Die im Exposé dargelegte Problemstellung der Wandlung in der Einstellung zum Kommunismus wird zwar beibehalten, aber die im Exposé zentrale Beeinflussung durch eine kommunistische Gruppe entfällt, der Einstellungswandel vollzieht sich innerhalb der Gruppe, die am Ende von sich aus überlegt,
50 Fühmann, Exposé (wie Anm. 34), 53. 51 Franz Fühmann. Jugend im Widerstreit. Treatment. Maschinenschr., 92 Seiten, [Dezember 1966]. AdK, Franz-Fühmann-Archiv, 202, 1. Im Folgenden nachgewiesen als Fühmann, Jugend, mit Seitenzahl.
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Kontakt zu den Kommunisten aufzunehmen. Die Figurenkonstellation der fiktionalisierten Gruppe ist darauf angelegt, diese Wandlungsprozesse vorzuführen. Die engere Gruppe besteht nun aus den Geschwistern Klaus und Agnes, die den Geschwistern Scholl entsprechen, Peter – weitgehend analog zu Alexander Schmorell – und Wolfgang, der kein historisches Pendant hat. Dies gilt auch für die neu eingeführte Figur des Malers Ecke, der der Gruppe sein Atelier zu Verfügung stellt, an den Aktionen beteiligt ist und gemeinsam mit den anderen hingerichtet wird. Neu eingeführt wird zudem die Figur des Mathias, der sich von seinem Vater, einem Innsbrucker Großindustriellen, lossagt und mit sozialistischen Ideen sympathisiert. Er kennt Wolfgang aus Jugendzeiten, begegnet ihm während des Russlandeinsatzes wieder und wird von diesem später in die Aktionen eingeweiht. Er ist es nun, der die Gruppe vor der weiterhin als Fanal angelegten Flugblattaktion an der Universität warnt. Kurt Huber entspricht die Figur Professor Muri, Carl Muth die Figur Professor Fuerth. Das Drehbuch lässt den Film mit Kriegsszenen beginnen sowie der Szene der Eröffnung einer fiktiven Ausstellung „‚Deutschland nach dem Endsieg‘“ durch Hitler im Stadion der „süddeutschen Stadt“, in der die Handlung spielt.52 Fuerth und Muri hören Hitlers Rede zur Ausstellungseröffnung im Radio, wobei sich Muri empört, es sei „Schmach und Schande, wie der Geist in den Kot getreten wird“, und „die widerlichste Doktrin“, der „Rassenwahn, dies Denken in zoologischen Begriffen“ sei „Staatsphilosophie“ geworden.53 Anders als im Exposé fungiert die antisemitische Rassenideologie nicht mehr lediglich als Beispiel für den Umgang der Nazis mit der Wissenschaft, sondern stellt den primären Grund der Ablehnung des Nationalsozialismus durch den Professor dar, der jedoch weiter an einen Putsch der Wehrmacht nach dem Endsieg glaubt, eine Überzeugung, an der er durch die Handlung hindurch festhalten wird. Die Frage nach dem Ausgang des Krieges prägt auch die Diskussion zwischen Klaus, Peter und Wolfgang in der folgenden Szene. Klaus meint, man müsse doch etwas tun, dürfe nicht zusehen, „wie die Barbarei das Abendland verschlingt“.54 Er vertritt die Position, dass dieser Krieg keinesfalls gewonnen werden dürfe. Wolfgang ist dezidiert anderer Meinung und befürchtet bei einem „Sieg der Bolschewisten“ die Vernichtung der christlichen Kultur, woraufhin Klaus seine Sichtweise – wie Alexander im Exposé, jedoch drastischer – mit seiner Erinnerung an die ‚Reichspogromnacht‘ begründet:
52 Fühmann, Jugend (wie Anm. 51), 1a. 53 Fühmann, Jugend (wie Anm. 51), 4. 54 Fühmann, Jugend (wie Anm. 51), 8.
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Und was tun wir? Ich höre es noch heute, wie es durch die Straßen der Stadt stampfte und klirrte und tobte und wie die Scheiben der jüdischen Geschäfte zersplitterten und wie die Synagoge in Flammen aufging und wie sie den alten Rabbiner am Bart aus dem Fenster gehangen haben, am Bart aus dem Fenster des zweiten Stocks und wie ihm das Blut über den Kaftan geronnen ist und unten die Menge gelacht hat, gelacht und gekreischt und sich die Seiten gehalten hat vor Lachen, Männer wie Frauen, und dann hat sich der Körper von den schütteren Haaren gelöst und ist aufs Pflaster geklatscht und der Pöbel hat gejohlt, und ich, mein Gott, ich bin gestanden wie erstarrt und habe sie nicht an der Gurgel gepackt, diese lachenden Tiere – und das, was sie in Deutschland gemacht haben, machen sie jetzt in Polen und Böhmen und Frankreich und Griechenland und Rußland, in den Wochenschauen kannst du’s sehen, wenn du Augen im Kopf hast, in den Illustrierten kannst du’s betrachten – und das darf einfach nicht die Welt beherrschen, der Teufel darf nicht allmächtig sein!55
Nachdem Klaus in einem Laden einen Vervielfältigungsapparat gesehen hat, beginnt er Flugblätter zu verfassen und leiht sich von Peter Geld, um das Gerät zu kaufen. Er verschickt die Schriften an Akademiker in der Stadt, auch an seine Freunde und Professor Muri. Peter erfasst schnell, wer der Verfasser ist, und schließt sich Klaus aus eigener Initiative an. Wolfgang und Agnes entdecken die Verfasserschaft zufällig. Während Agnes sofort auf Mitwirkung an der Aktion besteht („‚Sie werden die Schwester vom Bruder nicht trennen‘“)‚56 gerät Wolfgang in innere Konflikte („Aber vorn fallen die Kameraden“)57 und beteiligt sich zunächst nicht. Bei einer Zusammenkunft mit dem Maler Ecke berichtet dieser von Massenerschießungen, die er in Polen mit ansehen musste: Ich habe es mit eigenen Augen gesehen, auf einem Spaziergang im Wald draußen vor der Stadt – sie haben sie wie Vieh zusammengetrieben – SS, junge Burschen, sie stanken nach Schnaps und lachten und machten Witze – und dann mußten sie sich alle ausziehen, Männer, Frauen, Kinder, selbst den Säuglingen hat man das Fetzchen Leinwand vom Leib gerissen und dann hat man sie an den Rand einer Schlucht geführt und dort aufgestellt und –58
Dieser Bericht motiviert bei Klaus die programmatische Schlussfolgerung: „Alles andere ist eine Alternative! Und wenn es der Kommunismus wäre! Teuflischer kann nichts mehr sein!“59
55 Fühmann, Jugend (wie Anm. 51), 9–11. 56 Fühmann, Jugend (wie Anm. 51), 33. 57 Fühmann, Jugend (wie Anm. 51), 32. 58 Fühmann, Jugend (wie Anm. 51), 33–34. 59 Fühmann, Jugend (wie Anm. 51), 34.
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Klaus, Peter und Wolfgang werden zur Famulatur nach Russland abkommandiert und feiern im Atelier eine Abschiedsfeier, zu der sie Professor Muri einladen. Bei dieser Gelegenheit werden Eckes Erlebnisse erneut diskutiert. Muri verwahrt sich dagegen, „daß dieses Gesindel mit unserer Wehrmacht gleichgesetzt wird, die einen honorigen Krieg führt“, und verharrt auf seiner Position, „mit der Wehrmacht gegen die SS muß die Losung sein“, man sei sich doch einig, dass der „Bolschewismus der Hauptfeind ist“.60 Klaus, Peter und Agnes bekräftigen, der „Hauptfeind“ sei die „braune Pest“, Wolfgang gerät erstmals ins Zweifeln, zeigt sich weiter unentschlossen.61 Wie im Exposé katalysiert der Russlandeinsatz den weiteren Einstellungswandel. Bereits auf dem Weg an die Front hält der Zug zum Einsatzgebiet in der Nähe von Treblinka an und Klaus, Peter und Wolfgang sehen „Frauen und Mädchen mit geschorenen Haaren und dem Davidstern auf der Brust“ beim Gleisbau.62 Hiermit wird die auch hier anschließende Episode von Hans’ Geste gegenüber einer jüdischen Zwangsarbeiterin abgewandelt und in einen expliziten Bezug zur Judenverfolgung und -vernichtung gesetzt, indem die neu eingeführte Aufseherin sich der Blume und der Schokolade bemächtigt und Klaus gegenüber sagt: „Die bekommt auch, was sie verdient“.63 Auch weitere in der Grundstruktur aus dem Exposé beibehaltene Erzählstränge werden nun in Bezug zur Judenverfolgung gesetzt, insbesondere der Kontakt zu der jungen Partisanin aus Minsk, die Klaus und Peter zum Übertritt auffordert. Ihr auch im Exposé entworfener Bericht über Verbrechen der Besatzer ist in der Treatment-Version handschriftlich geändert: Und dann hing man die Männer an die Balkone und dann trieb man die Frauen in die Zwangsarbeit [im Folgenden handschriftlich überschrieben:] SS alle Juden zusammen: Männer, Frauen, Kinder, Greise – wo sind sie geblieben?64
Unter dem Eindruck der Erlebnisse in Russland meinen Peter und Klaus, Wolfgang nun einweihen und überzeugen zu können, dass „dieser Greuel von Krieg, dieses Völkerschlachten […] um jeden Preis ein Ende finden“ müsse, doch ist dieser nach einem Partisanenangriff auf die eigene Einheit „genau zum entgegengesetzten Resultat“ gekommen: „Ja, die Greuel müßten beendet werden, sagt Wolfgang hart, aber mit einem deutschen Sieg.“65 Kurz vor ihrer Abreise wird er Zeuge, wie
60 Fühmann, Jugend (wie Anm. 51), 38. 61 Fühmann, Jugend (wie Anm. 51), 39. 62 Fühmann, Jugend (wie Anm. 51), 44. 63 Fühmann, Jugend (wie Anm. 51), 45. 64 Fühmann, Jugend (wie Anm. 51), 54. 65 Fühmann, Jugend (wie Anm. 51), 62.
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die Minsker Studentin nach einem Partisanenangriff auf seine Einheit in einer Racheaktion erhängt wird. Auf der Rückfahrt fährt ihr Zug erneut an Treblinka vorbei, wo Wolfgang einen Fleischgeruch bemerkt: Sie sind an der Stelle, wo einst die Mädchen das Gleis bauten. Nun ist es längst fertig und strebt stracks den Rauchsäulen zu. Wolfgang, Peter und Klaus starren einander mit Entsetzen an. Wolfgang beginnt es zu würgen.66
Daraufhin werden Erinnerungsbilder Wolfgangs eingeblendet, wie er auf einer Wanderung in der Nähe eines Krematoriums von ‚Euthanasiemaßnahmen‘ erfuhr. Peter entsinnt sich der Erzählung Eckes und Klaus erinnert sich, wie in der Kirche ein Prediger die Frage gestellt hat, die Reichsregierung müsse klipp und klar sagen, ob es wirklich wahr sei, was man sich im Volk zuflüstere: Daß Alte und Kranke als minderwertiges Leben vernichtet würden [im Folgenden handschriftlich ersetzt:] [an] die Worte des Mädchens: „Und dann hat SS alle Juden zusammengetrieben […] – Wo sind sind sie geblieben? Kain, wo ist dein Bruder Abel?“67
Der Anblick der Rauchsäulen von Treblinka und der Geruch der Leichenverbrennungen führen zum Einstellungswandel Wolfgangs, der sich übergibt und zu Peter sagt: „Man muß diese Pest ausbrennen!“68 Bemerkenswert im Vergleich des Treatments mit dem Exposé ist, dass Antisemitismus sowie Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden nun den entscheidenden Auslöser der Wandlungsprozesse der Figuren darstellen und zwar sowohl in Bezug auf den Bruch mit dem Nationalsozialismus als auch auf die Einstellung zum Kommunismus. Dabei werden Konstruktionen von Zeugenschaft und Bilder aufgerufen, die in der Forschung meist einem sich nach 1979 in der Bundesrepublik ausbildenden ‚Auschwitz-Gedächtnis‘ zugeschrieben werden (vgl. aber dagegen Knoch 2001, 27, und den Beitrag von Magdalena Sar yusz-Wolska), wobei Fühmann 1966 auch die ‚Täterseite‘ einblendet und die Beteiligung der Wehrmacht an Kriegsverbrechen und Völkermord hervorhebt. Damit beginnt Fühmanns „Nachdenken über Auschwitz in der DDR“ nicht erst – wie bisher in der Forschung vertreten – in den 1970er Jahren (Wagener 2002, 216). Dass sich Fühmanns Filmentwurf des Treatments im Gegensatz zum Exposé in Spannungslinien zum offiziellen Geschichtsdiskurs begibt, ist jedoch nicht der Grund für den Abbruch des Projekts. Kurz vor Beendigung der Arbeit erhält
66 Fühmann, Jugend (wie Anm. 51), 65. 67 Fühmann, Jugend (wie Anm. 51), 66. 68 Fühmann, Jugend (wie Anm. 51), 66. Das Bild der Rauchsäule findet sich auch in Die heute über 40 sind, vgl. Prignitz 1987, 461–462.
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Fühmann ein Schreiben Robert Scholls, der ihm, wie allen anderen Filmprojekten zuvor, nach „Rücksprache mit den Hinterbliebenen der anderen Beteiligten“69 eine Absage erteilt. Fühmann sendete Scholls Brief mit dem kurz nach Silvester fertiggestellten „gegenüber dem Exposé vollkommen verändert[en]“ Treatment an den DEFA-Chefdramaturgen Werner Beck mit der Bitte um eine Aussprache, um „ein grundsätzliches Urteil“ zu bilden.70 Am 24. Januar vermerkte Fühmann in seinem Tagebuch: „WR abbrechen“.71 Vorherige Tagebucheintragungen deuten auch auf künstlerische Probleme und Unzufriedenheit mit dem Ergebnis des Treatments hin.
3 Ausblick 1982 erschienen in der Bundesrepublik schließlich mit Percy Adlons Fünf letzte Tage und Michael Verhoevens Die weiße Rose gleich zwei Spielfilme zur Weißen Rose. Verhoeven konnte Inge Aicher-Scholl in einem längeren Kontakt seit 1979 überzeugen, sich dem Vorhaben nicht zu widersetzen – trotz ihrer „Angst, dass Christian Petrys Thesen […] in Verhoevens Film fortgeschrieben würden“ (Hikel 2013, 223). Bei ihr verfing nicht zuletzt dessen Argumentation über die mögliche Wirkung des Mediums Film „im Zeitalter der visuellen Medien“ mit Verweis auf die im selben Jahr in der Bundesrepublik ausgestrahlte Fernsehserie Holocaust, die einen „Umschwung“ in der „Diskussion über das Dritte Reich“ bewirkt habe.72 In einem Interview zum Kinostart des Films gibt Verhoeven an, seit 1968 das Projekt eines Films zum Münchener Widerstandskreis zu verfolgen, betont jedoch selbst, dass er, Jahrgang 1938, „zu einer Generation von Studenten, die nicht aufmuckten“, gehörte, jedoch durch den Widerstand gegen den Vietnamkrieg „wach“ geworden sei; Verhoeven setzte sich intensiv mit Christian Petrys „hochinteressante[r], aber auch widersprüchliche[r] Doktorarbeit“ auseinander, kam aber zu der Einschätzung, die Weiße Rose habe „ein klares und genaues politisches Konzept, das keineswegs naiv war“, gehabt: Ihre enorme Entwicklung kann man den Texten der verschiedenen Flugblätter ablesen: es hatte weltanschaulich angefangen, auch religiös, wurde dann aber immer konkreter realistischer. Das fünfte Flugblatt nannten sie bereits „Flugblatt der Widerstandsbewegung in
69 Robert Scholl. Brief an Franz Fühmann, 8. Dezember 1966. IfZ, ED 474, 6. 70 Franz Fühmann. Brief an Werner Beck, Januar 1967. AdK, Franz-Fühmann-Archiv, 202. 71 Franz Fühmann. Tagebuch 1967. AdK, Franz-Fühmann-Archiv, 1326. 72 Michael Verhoeven. Brief an Inge Aicher-Scholl, 7. März 1979. IfZ, ED 474, Bd. 408.
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Deutschland“. Das heißt, sie haben sich als Teil einer größeren Bewegung gesehen, der bestimmte Aufgaben hat. Sie haben auch eine Zusammenarbeit mit den Kommunisten nicht ausgeschlossen, um die Nazis zu beseitigen. Darüber entstand ein ernsthafter Streit zwischen ihnen und ihrem Professor Huber, der sich ihnen angeschlossen hatte, aber als Konservativer eine Koalition mit den Kommunisten ablehnte. […] Huber selbst hatte die „Weiße Rose“ immer wieder darauf hingewiesen, daß nur die Wehrmacht einen Umsturz herbeiführen könne. Für Hans Scholl und seine Freunde konnte es 1943 keine „herrliche Wehrmacht“ mehr geben. Sie setzten nur auf Einzelne in der Wehrmacht: die oppositionellen Kräfte. 73
Diese Deutung zeigt Veränderungen im Kontext einer sich pluralisierenden bundesrepublikanischen Widerstandserinnerung an und ist im Rahmen eines sich seit den 1980er Jahren herausbildenden Konsenses über eine politischen Dimension des Widerstands der Weißen Rose zu sehen (vgl. Ernst 2018, Kapitel V–VI). Dennoch begab sich Verhoevens Film in Konflikt mit offiziellen Erinnerungsdiskursen und zwar durch seinen Nachspann, der auf die Nichtaufhebung der Urteile des Volksgerichtshofs aufmerksam machte und aufgrund dessen er zeitweise auf Anweisung des Auswärtigen Amts nicht in den Goethe-Instituten aufgeführt werden durfte (vgl. Hikel 2013, 228). Verhoevens Film war jedoch nicht nur deshalb mit der öffentlichen Widerstandserinnerung in der DDR kompatibel, die sich in den 1980er Jahren ebenfalls pluralisierte, womit neue Spielräume öffentlicher Erinnerung und Räume für deutsch-deutschen Austausch im Kontext der kirchlichen Öffentlichkeit einhergingen. Dies zeigt die Veröffentlichung von Inge Aicher-Scholls Buch 1986 und der von Inge Jens herausgegebenen Briefe und Aufzeichnungen von Hans und Sophie Scholl 1987 in der Evangelischen Verlagsanstalt. Laut Ankündigung des Verleihs erfolgte der Start des „antifaschistische[n] Films“, der „an Traditionen erinner[t], die in der BRD jahrzehntelang verschwiegen oder entstellt behandelt“ worden seien, am 18. Februar 1983 aus Anlass des 40. Jahrestages der Hinrichtung von Hans und Sophie Scholl am 22. Februar 1943. Verhoevens, übrigens von Artur Brauner produzierter Film wurde in den DDRKinos breit distribuiert: Er läuft in den Ur- und Erstaufführungstheatern an. Im weiteren Durchlauf sollen zuerst die städtischen Theater berücksichtigt werden. Auch in den Studiokinos hat der Film seinen Platz. Zu FDJ-Veranstaltungen kann er ebenfalls herangezogen werden. Außerdem bieten sich Sondervorführungen für Kollektive an, die den Namen der Geschwister Scholl tragen. Immer, wenn es um die Würdigung des antifaschistischen Widerstandskampfes geht, ist der Film gut platziert.74
73 Filmverlag der Autoren. Filmmappe zu „Die weisse Rose“. Ein Film von Michael Verhoeven. 1982. Bundesarchiv-Filmarchiv, FILMSG 1, 27466I. 74 Progress-Filmverleih. Werbekarte. Bundesarchiv–Filmarchiv, FILMSG1, 2766I.
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Später wurde er auch wiederholt im DDR-Fernsehen ausgestrahlt. Franz Fühmann erwähnte nicht, dass er selbst mehr als ein Jahr lang an einem Film zur Weißen Rose gearbeitet hatte, als er 1982 in München von Verhoevens Film erfuhr. Dort wurde er für Der Sturz des Engels. Erfahrungen mit Dichtung mit dem Geschwister-Scholl-Preis ausgezeichnet, der vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels und von der Stadt München seit 1980 vergeben wird und eine Institutionalisierung der Erinnerung an die Weiße Rose in der Bundesrepublik seit den 1980er Jahren anzeigt (Hikel 2013, 242). Das im Treatment von 1966 zentrale Motiv nahm Fühmann in seiner am 23. November 1982 in der Süddeutschen Zeitung abgedruckten Dankesrede jedoch wieder auf: „Ein Urlauberzug, eine Säule Qualm, und ein merkwürdig beißender Geruch“, nun auf Auschwitz bezogen; es bildet den Ausgangspunkt für eine autobiografische Reflexion, wie er selbst sich, damals im gleichen Alter wie die Geschwister Scholl, „vor diesen Flugblättern verhalten“ hätte: Ich weiß es nicht; ich sage das nicht als Ausflucht. Diese Frage ist nicht beantwortbar. Bei ähnlichen sind Kalküle möglich, und es ist nützlich, sie zu vollziehen. Ich habe, um aus meiner Vergangenheit zu finden, in einem Buch die Frage gestellt, wie ich mich verhalten hätte, wenn ich nach der Annexion des Sudetengebietes der Allgemeinen SS beigetreten, nach dem Abitur von der Waffen-SS übernommen und später nach Auschwitz kommandiert worden wäre, und ich bin zu der Antwort gekommen, daß ich kein Recht habe, mir das Privileg einer anderen Haltung zu konzedieren, als eben der Haltung von damals meinesgleichen, der verwilderten Nazijungen, und das heißt letztlich: auch jener vor den Gaskammern und Öfen.
Die Verleihung dieses „moralische[n] Preis[es]“ durch „erklärte Gegner des Sozialismus“ an ihn als zwar mit seinem Staat in Dissens stehenden, aber dennoch bekennenden Bürger der DDR „aus freiem Willen, in freier Entscheidung, auf Grund meines Nachdenkens über Auschwitz, und aus diesem Grund als Sozialist“, führt ihn zur Frage des Verbindenden im „Medium des Moralischen“: Hans Scholl ist zu seiner Flugblattaktion nicht zuletzt aus dem Bedürfnis gedrängt worden, unter den Stimmen des Widerstands, die bis dahin zumeist aus der Arbeiterklasse, aus dem sozialistischen und kommunistischen Lager sich erhoben, auch die von Christen vernehmbar zu machen […], nicht in aufsplitternder Gegnerschaft zu einem anderen Widerstandsbekenntnis, sondern im Bündnis und im Bund mit ihm.
Das „verbindende Vermächtnis“ der Weißen Rose besteht für Fühmann vor dem Hintergrund einer individuellen und kollektiven Verantwortung im Zeichen von Auschwitz in einer gegenseitigen Anerkennung des Willens, „nicht dem Bösen verpflichtet zu sein“, als Grundlage für Vertrauensbildung und Verständigung zwischen beiden deutschen Staaten.
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1988 erhielt Grete Weil den Geschwister-Scholl-Preis. Ihre Dankesrede betrachtet Erich Kuby 1989 in Mein ärgerliches Vaterland – einer Zusammenstellung eigener Texte mit dem Anspruch, eine „Chronik der Bundesrepublik 1946– 1989“ darzustellen – im Kontext von Philipp Jenningers Rede zum 50. Jahrestag der ‚Reichspogromnacht‘ vom 9. November 1938: Die Dankrede der Geehrten konnte die Süddeutsche Zeitung überschreiben: „Nicht das ganze deutsche Volk“, denn aus der Zeit ihrer Emigration erinnert sich Frau Weil: „… sagte ich mir immer wieder: Es kann nicht das ganze deutsche Volk sein, das an diesen Ungeheuerlichkeiten mitschuldig geworden ist und sie gut findet.“ Mit dem Tenor: Nein, so kann es nicht gewesen sein, oder eher: So durfte es nicht gewesen sein, stellte die Rednerin damals immer wieder die bohrende Frage: „Das ganze deutsche Volk? Das ganze deutsche Volk?“ Dann erfuhr sie von Tat und Tod der Scholls […], ja, Frau Weil erfuhr davon und: „Das war sie, die Antwort auf meine Frage: Nicht das ganze deutsche Volk!“ (Kuby 2010, 563)
Kuby bezeichnet es als „unerträglich“ und als „moralischen Romantizismus“ mit dieser Schlussfolgerung „auf die ermordeten Münchner Studenten abzuheben“, um die Kollektivschuldthese „mit dem Pathos einer deutschen Jüdin, die immer noch nichts anderes sein kann und will, als eine Deutsche zu sein“, zu verwerfen (563). Kuby setzt dem entgegen, es könne eine „konkret erfaßbare Mehrheit der erwachsenen Deutschen“ ausgemacht werden, die die Diktatur „trugen, nicht ertrugen“, und so könne man verstehen, welchem Volk man angehört, nämlich „wirklich dem ganzen deutschen Volk“, um zu folgern: „Schluß mit dem Weichzeichner Moral. Es handelt sich um Politik.“ (564) Die Frage nach dem Traditionspotenzial des Widerstands bleibt für Kuby also mit der Frage von Schuld verbunden, worin das Verbindende zwischen seiner und Fühmanns Auseinandersetzung mit der Weißen Rose von jeweils anderen Standpunkten und mit verschiedenen Schlussfolgerungen zu sehen ist – und der Unterschied zu Marc Rothemunds Film Sophie Scholl – Die letzten Tage von 2003, der für Katie Rickard (2010, 161) das Wiederaufleben konservativer Versuche nach der Vereinigung beider deutscher Staaten illustriert, die Vergangenheit zu bewältigen.
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Register
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Barish, Evelyn 287–288, 290–293, 295–296, 314 Bartel, Walter 414–415 Barthes, Roland 313, 317, 319 Bastian, Horst 151 Batt, Kurt 153–154 Bauer, Friedhold 158 Baumgart, Reinhard 199–200 Bebnowski, David 71, 73, 211 Becher, Johannes R. 121, 192, 355, 364–365, 369, 403 Becher, Lilly 239 Beck, Werner 436 Becker, Jurek 148, 151, 153 Beethoven, Ludwig van 57, 60, 128 Behrendt-Rosenfeld, Else 106 Benario, Olga (Prestes) 334, 336–340, 342–343, 345 Benjamin, Walter 4, 152, 213–214, 293 Benn, Gottfried 127, 131, 366–367 Benz, Wolfgang 384, 391 Berenstein, Tatiana 377 Bergmann, Werner 9 Bergson, Henri 6, 22–29, 32, 38, 45–47 Berlioz, Hector 37–38 Bermann Fischer, Gottfried 132 Bertram, Ernst 136 Beumelburg, Werner 107 Bichsel, Peter 199 Bieler, Manfred 151 Biermann, Wolf 413 Bierut, Bolesław 248 Blacher, Boris 16, 399–400, 404–405 Bloch, Ernst 213–214 Bloch, Marc 21 Blöcker, Günter 200–201 Błoński, Jan 251 Blum, Willi 415 Boccard, Enrico de 280 Bock, Hans Manfred 121, 134 Bock, Helmut 154 Boden, Anne 4, 212 Boehlich, Walter 4, 119–144 Böll, Heinrich 2 Börne, Ludwig 154
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Register
Bohnenkamp, Björn 66 Bonhoeffer, Dietrich 105 Borch, Herbert von 356 Boulainvilliers, Henri de 188 Bradbury, Malcolm 294, 299, 301, 318–322 Bräunig, Werner 151 Brandenburger, Günther 163–164 Brandt, Willy 115, 350 Brasillach, Robert 314 Braun, Otto 337 Braun, Volker 151 Brauner, Artur 419–420, 422, 437 Bravi, Francesca 267 Brecht, Bertolt 107, 132, 171, 173, 214, 216, 223, 335, 339, 359, 403 Bredel, Willi 105, 149 Breicha, Otto 200 Brentano, Margeritha von 210–213 Bressau, Fritz 408–409 Brewster, Scott 297 Breysach, Barbara 378 Brockmann, Stephen 358–359, 363, 369 Brod, Max 153–154 Brüdigam, Heinz 109–112, 115 Brüns, Elke 88 Bruyn, Günter de 148, 151 Buber-Neumann, Margarete 106 Buch, Esteban 31 Bühner, Björn 369 Bunin, Iwan 134 Burke, Peter 10 Busch, Ernst 335 Busse, Ernst 111 Butler, Judith 336 Canetti, Elias 207 Carls, Hans 102 Carossa, Hans 131 Caspar, Günter 411–412 Castillo, Abelardo 161–162 Celan, Paul 155, 235 Chamberlain, Houston Stewart 188 Chomskys, Marvin 247 Chruschtschow, Nikita S. 239 Churchill, Winston 359 Classen, Christoph 9 Cohen, Robert 334–345
Cole, Teju 296 Comte, Auguste 68 Conrady, Karl Otto 141 Corti, Maria 270 Cremer, Fritz 230, 413 Curtius, Ernst Robert 68, 121–124, 126–127, 130, 136, 138–140, 356–357, 367, 369–370 Cwojdrak, Günther 352–353, 359–360, 362, 364 Dahrendorf, Ralf 216 Dainat, Holger 150 Danehl, Günther 200 Danyel, Jürgen 104 Daub, Adrian 147 Dawson, Christopher 357, 370 Debussy, Claude 23 Degen, Andreas 2 de Graef, Ortwin 289, 293–294 Deicke, Günther 148, 400 de Man, Hendrik 292 de Man, Paul 10, 284–329 de Mendelssohn, Peter 358–359 de Montlibert, Christian 19 Derrida, Jacques 286–290, 292–294, 299, 301–303, 305, 307, 324–325 Dessau, Paul 16, 394–395, 398–400, 404–405 Dilthey, Wilhelm 69–70, 77–78 Dimitroff, Georgi 171–172, 182, 189, 192 Döblin, Alfred 107 Doering, Sabine 295 Domin, Hilde 152 Dornick, Sahra 3–4 Drechsel, Hans 377 Drews, Richard 360, 368 Drobisch, Klaus 386–387, 390–391 Dudek, Peter 8 Dühring, Eugen 189 Duhr, Peter 154–157, 161, 163 Durkheim, Émile 6, 18–19, 25, 32 Dwinger, Erich Edwin 107 Eagleton, Terry 290 Eberl, Irmfried 381 Eckart, Gabriele 153
Register
Edel, Peter 4, 153, 230, 360 Eggebrecht, Axel 8, 420 Egger, Stephan 18–19 Eggerath, Werner 100 Ehrenburg, Ilja 157, 231–234, 237–238, 240–242 Eichmann, Adolf 170, 176–177, 180, 182–183, 185–187, 387, 400, 404, 412 Einstein, Albert 237 Einstein, Siegfried 187 Eisenbach, Artur 377 Eitz, Thorsten 8 Eke, Norbert Otto 148, 385 Elsner, Gisela 4 Emmerich, Wolfgang 153, 165 Empson, William 294 Engelberg, Ernst 170, 182 Engelke, Lutz 294 Engels, Friedrich 75, 170, 189, 362 Enzensberger, Hans Magnus 8, 200 Eppelsheimer, Hanns W. 106 Ernst, Christian 3–4, 36, 437 Evelein, Johannes 342 Ewert, Arthur 338 Ewert, Elisabeth 338 Fabian, Walter 114 Febvre, Lucien 21 Federmair, Leopold 302 Fefer, Itzik 231, 238, 242 Fenoglio, Beppe 265 Fest, Joachim 213 Feuchtwanger, Lion 107, 335, 339 Fichte, Johann Gottlieb 220, 422 Filbinger, Hans 179 Finkelstein, Norman G. 97 Fischer, Torben 8 Fleischhauer, Wolfram 295–296, 299–301 Florin, Wilhelm 172 Fontane, Theodor 364 Ford, Aleksander 248, 251, 255–256 Fränkel, Jonas 139 Frank, Anne 153, 204, 323, 373–374, 379, 384–385, 388–392, 396, 400 Frank, Hans 375, 377 Frank, Leonhard 4, 107 Frankl, Viktor E. 100–101
447
Frei, Bruno 358 Frei, Norbert 8–9, 378 Frevert, Ute 97 Fried, Erich 207 Fries, Johann Friedrich 189 Frisch, Max 366, 368 Fühmann, Franz 418, 428–436, 438 Gadamer, Hans-Georg 218–219, 222 Galen, Clemens August Graf von 107 Garbe, Christine 294 Garbe, Detlef 9 Gehlen, Arnold 219–220 Geier, Andrea 66 Geissler, Christian 113–114 Geldsetzer, Lutz 26 George, Stefan 102 Gerlach, Jens 16, 153, 394–398, 400–405 Gersdorff, Ursula von 107–108 Gerstenberg, Ralph 300 Geschonneck, Erwin 230 Gideon (Jerubbaal) 403 Gilbert, Gustave M. 159 Gilman, Sander L. 384, 391 Globke, Hans 175, 187, 387, 412 Gobineau, Arthur de 188 Goebbels, Joseph 206 Gödel, Kurt 326 Goethe, Johann Wolfgang 120–121, 126, 131, 133–134, 138, 367–368, 437 Goguel, Rudi 101 Goldberg, Ben Zion 237 Goldschmidt, Dietrich 210–211 Gorki, Maxim 352 Gräbe, Hermann Friedrich 160 Gramsci, Antonio 217, 224 Grass, Günter 2 Greaney, Michael 294, 296–297, 320–321 Greens, Gerald 247 Gregor-Dellin, Martin (Martin Schmidt) 411 Greßmann, Uwe 151 Grimm, Hans 363 Grindel, Gerhard 420 Groehler, Olaf 185, 194 Gromyko, Andrej 238 Gross, Jan Tomasz 251
448
Register
Grossman, Wassili 100–101, 157, 231–234, 237–240, 242 Groß, Martin 294 Grotewohl, Otto 364 Grüber, Heinrich 105 Grünberg, Karl 360 Gründel, Ernst Günther 88–89 Günther, Hans 186 Günther, Hans Friedrich Karl 188 Günther, Joachim 107 Gumkowski, Janusz 377 Guść, Iwona 379 Gustafsson, Lars 294, 296, 301, 322–328 Haag, Lina 100 Hacks, Peter 151 Haecker, Theodor 423 Hähnel-Mesnard, Carola 148, 151, 165 Haffner, Sebastian (Raimund Pretzel) 65, 69, 83 Halbwachs, Maurice 6, 17–33, 36–64, 65 Halbwachs, Yvonne 21 Hanslick, Edward 60 Harari, Yuval Noah 370 Hardtwig, Wolfgang 8 Harich, Wolfgang 363–364, 368 Harnack, Falk 420 Hartewig, Karin 166, 185, 385, 390 Hartmann, Karl Amadeus 16, 398–399, 404 Hartmann, Nicolai 219 Hassell, Ulrich von 102, 109, 111 Haug, Frigga 212, 219 Haug, Wolfgang Fritz 143, 210–225 Hauptmann, Gerhart 133 Hauser, Harald 365 Haussmann, Georges-Eugène 18 Heartfield, John (Helmut Herzfelde) 335 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 220, 353 Heidegger, Martin 70, 131, 218–219, 320–321 Heine, Heinrich 152 Heinemann, Gustav 115 Heinrich, Klaus 213 Heise, Wolfgang 177, 179–184, 187–195 Heitzer, Heinz 170, 174, 177, 179, 182–183, 185 Helbich, Wolfgang 386, 389, 390–391 Heller, Erich 121
Heller, Otto 186 Henk, Emil 111 Henze, Hans Werner 16, 398–400, 403–405 Herman, Luc 291 Hermand, Jost 77, 82 Hermlin, Stephan (Rudolf Leder) 153, 230, 353–355, 360, 367, 402 Herrmann, Ulrich 73 Herz, Thomas 97 Herzfelde, Wieland 230, 335, 338 Hess, Sales 102 Hesse, Hermann 132 Heßling, Diederich 362 Heydorn, Heinz-Joachim 114 Heydrich, Reinhard 366 Heymann, Danièle 256–258 Heymann, Stefan 186, 195 Hikel, Christine 418–419, 425, 436–438 Hilberg, Raul 185, 237, 375 Hilsenrath, Edgar 155, 208 Himmler, Heinrich 204, 387 Hindenburg, Paul von 172 Hirsch, David H. 293 Hirsch, Rudolf 176, 183, 187 Hitler, Adolf 98, 104, 106, 109, 138, 140, 172, 177–178, 190, 200, 203, 206–207, 265, 325, 356, 359, 367–368, 429–432 Hochhuth, Rolf 113 Hochmuth, Ursel 109–112, 115 Hölderlin, Friedrich 101, 286–288, 302 Hörnigk, Therese 152 Hoffmann, Wilhelm 101, 103, 105, 107 Hoffrogge, Ralf 67 Hofmannsthal, Hugo von 129 Hofstein, David 242 Hohenemser, Herbert 419 Holland, Agnieszka 256 Holthusen, Hans Egon 122–124, 127–128, 130, 353–354 Holub, Robert C. 291, 301 Hook, Sidney 355–356 Horkheimer, Max 171, 395 Hubatsch, Walter 105 Huber, Clara 111 Huber, Kurt 421, 426, 429, 432, 437 Hübinger, Paul Egon 140, 142 Humbeeck, Kris 291
Register
Hume, David 68 Hundt-Radowsky, Hartwig von 189 Iwaskiewicz, Jarosław 376, 378–379 Jacobsthal, Paul 122 Jagow, Traugott von 20 Jahnke, Karl-Heinz 427 Jaisson, Marie 36 Jakubowska, Wanda 94, 246–252, 254–255 Jaldati, Lin 396 Janka, Jutta 384–385, 389 Jarochowska, Maria 373, 376, 378, 380 Jaspers, Karl 218, 367 Jaspersen, Ursula 120 Jaurès, Jean 19–21 Jens, Inge 437 Jens, Walter 357, 370 Jewtuschenko, Jewgeni 235 Jhering, Herbert 362 Joho, Wolfgang 148 Jones-Katz, Gregory 293 Joos, Josef 102 Jünger, Ernst 107, 131, 213, 363, 367 Jung, Thomas 2 Jung-Alsen, Kurt 428 Jureit, Ulrike 6–8, 66, 85–86, 88 Kästner, Erhart 107 Kafka, Franz 152–154 Kant, Hermann 148 Kant, Immanuel 79, 128, 213, 220, 422 Kanter, Ernst 175 Kantorowicz, Alfred 345 Kapp, Christoph 3, 138 Katzenelson, Yitzhak 112 Kaufmann, Walter 147, 151, 153 Kempner, Bernhard 359 Kempner, Robert M. W. 187 Kernmayr, Erich Knud 107 Kersten, Heinz 411 Kesten, Hermann 107, 203 Kiesel, Helmuth 97 Kirchner, Renate 148–149 Kirsch, Rainer 151 Kirschnick, Sylke 391 Kirst, Hans Hellmut 153
Kittner, Alfred 155 Klafki, Wolfgang 114 Klein, Eduard 148 Klein, Richard 297 Kleist, Heinrich von 309 Klemperer, Victor 4, 185, 367, 402 Kleßmann, Christoph 3, 11 Klier, Helmut 176 Klimek, Sonja 299–300 Klingenstein, Grete 8 Klinger, Gerwin 218–220 Kluge, Alexander 113, 426 Klüger, Ruth 295 Knoch, Habbo 435 Knörer, Ekkehard 292, 296 Köhler, Astrid 386 König, Helmut 9 Königsdorf, Helga 4 Koeppen, Wolfgang 2 Koestler, Arthur 353, 361 Kogon, Eugen 101, 105, 382 Kohlstruck, Michael 8–9, 175 Kolbenheyer, Erwin Guido 103 Kollontai, Alexandra 340 Kolzow, Michail 335, 339–340, 344 Koplowitz, Jan 153–154 Korczak, Janusz 246, 255–258 Kordt, Erich 109 Kornacka, Anna 379 Korngold, Jean (Senek) 399 Kortholt, Christian 54 Kostka, Jan 3–4, 386 Kotowski, Georg 216 Kracauer, Siegfried 214 Kraft, Andreas 66 Krauss, Werner 66, 80–82, 84, 89 Kremer, Hanno 186, 210 Krockow, Christian Graf von 192 Krogmann, Hanna 384 Kuby, Erich 418–426, 431, 439, Kuczynski, Jürgen 170, 177–180, 185 Kühn, Traudl 428 Kunert, Günter 148, 153 Kunert, Joachim 397, 428 Kutorgiene-Buivydaite, Elena 237 Kwitko, Lew (Lejb) 232, 242
449
450
Register
Labriola, Antonio 19 Lacan, Jacques 307 Lämmert, Eberhard 141 Landwehr, Ludwig 413 Lang, Hans-Joachim 120–122, 129 Lange, Marianne 166 Langenbeck, Curt 104 Langermann, Martina 150–151, 153 Langhoff, Wolfgang 101, 111 Lanzmann, Claude 246–247, 256–258 Lasky, Melvin J. 366 Laugstien, Thomas 217–219 Leaman, George 217–218 Lehmann, Hans-Thies 291 Leibniz, Gottfried Wilhelm 18, 54 Lenin, Wladimir Iljitsch (Uljanow) 173, 359 Lenz, Siegfried 2 Leo, Gerhard 94 Leonhard, Rudolf 153 Leonhardt, Rudolf Walter 138–140, 142 Lepenies, Robert 65 Lepenies, Wolf 20 Lepsius, M. Rainer 71, 80 Lernout, Greet 291 Lesiewicz, Witold 252–253 Lessing, Theodor 113 Levi, Carlo 266 Levi, Primo 390 Levin, Rahel 154 Lévi-Strauss, Claude 335, 345 Lewalter, Christian E. 127–129 Liebau, Eckart 66, 69, 86 Lieber, Hans-Joachim 213 Liepmann, Ruth 407–408 Lind, Jakov 153, 199–208 Loest, Erich 151 Loewy, Ernst 361 Loewy, Hanno 180, 247–250, 254, 384, 391 Loheit, Jan 113, 143, 214, 386 Lokatis, Siegfried 427 Lorenz, Alfred 78 Lorenz, Matthias N. 8 Losowski, Solomon A. 242 Lubetkin, Zivia 105, 401 Lukács, Georg 4, 186, 318, 321, 363 Lumumba, Patrice 174 Lustiger, Arno 243
Lustiger, Gila 4 Luther, Martin 352 Luxemburg, Rosa 3–4, 170 MacArthur, Douglas 353 McCarthy, Mary 295–296, 305, 314 McQuillan, Martin 288, 294, 296 Maetzke, Ernst Otto 410 Mailer, Norman 361 Maislinger, Andreas 8–9 Majakowski, Wladimir 353 Makkabäus, Judas 161, 207 Malinek, Hanan Edgar 208 Mampell, Klaus 134 Mann, Golo 119, 143 Mann, Heinrich 134, 362–364 Mann, Katia 119 Mann, Klaus 127, 335 Mann, Thomas 4, 119–144, 352, 367 Mann, Viktor 131 Mannheim, Karl 19, 66–80, 84–87 Mark, Bernard 232, 236, 377, 402 Markisch, Perez 242 Martini, Fritz 139 Marx, Karl 19, 75, 84, 128, 170, 213, 220, 223, 321 Melzer, Joseph 109–111 Menand, Louis 292 Menke, Bettine 285, 313 Menke, Christoph 291 Meyer, Robert 19 Meyer zu Uptrup, Wolfram 237 Michel, Karl 111 Michoels, Solomon 232, 237, 242 Minssen, Friedrich 114 Mitscherlich, Alexander 8–9 Mitscherlich, Margarete 8–9 Mittenzwei, Werner 214 Młynarczyk, Jacek A. 375 Moltke, Helmuth James Graf von 128 Mommsen, Hans 185 Moras, Joachim 121–124, 130–132, 135, 138 Moser, Hugo 140 Mozart, Wolfgang Amadeus 61, 79 Mühsam, Erich 113 Müller, Hans von 78–79 Müller, Oskar 114
Register
Münkler, Herfried 6 Munk, Andrzej 246, 251–255 Musulin, Janko von 382 Muth, Carl 423, 432 Nadler, Josef 103 Nägele, Friedrich 179 Namer, Gérard 18, 36 Nebel, Gerhard 107 Nell, Peter 153 Némedi, Dénes 32 Neun, Oliver 86 Neutsch, Erik 148 Niemöller, Martin 114 Nietzsche, Friedrich 75, 84, 133, 220–221, 309–310, 312, 321–322, 366 Nolte, Ernst 213 Nono, Luigi 399 Norden, Albert 172–173, 175 Nossack, Hans Erich 152 Novick, Peter 97 Obenauer, Karl Justus 138–142 Oberländer, Theodor 138, 175, 179, 186, 387, 412 O’Doherty, Paul 148 Oehrlein, Heinz 412 Oertel, Friedrich 137, 139 Ohlendorf, Otto 159–160 Opitz, Karlludwig 164 Oppenheimer, Max 114 Orozco, Teresa 217–218 Ortega y Gasset, José 66 Ossietzky, Carl von 113 Osten, Maria (Greßhöner) 334–345 Ottolenghi Minerbi, Marta 269 Ottwalt, Ernst 343 Overbeek, Jan Gerrit 206 Pabst, Helmut 108 Paeschke, Hans 121–124, 127–135 Pätzold, Kurt 185, 194–195 Pampuch, Wanda 380–383 Panzner, Jacob 153 Papp, Kornelia 4 Parnes, Ohad 66, 85–86, 88 Pavese, Cesare 264–265, 267, 269, 271, 273–276, 279
451
Pavone, Claudio 264, 276 Pechel, Rudolf 101, 106, 110–111 Peeters, Benoît 287, 292 Peitsch, Helmut 1–3, 6, 101, 106, 114, 131, 136, 152, 239, 425 Pesce, Giovanni 264, 267, 271, 276–279 Petersen, Julius 69, 77–78, 84 Petry, Christian 417, 426, 436 Petzinna, Berthold 2 Pickering, William Stuart Frederick 32 Piesche, Margarete 95 Pinder, Wilhelm 69–70, 78–79 Plassmann, Joseph 367 Plekhanov, Georgi V. 19 Pless, Philipp 114 Plessner, Helmuth 65–66, 73, 82–84, 86, 89 Pleyer, Wilhelm 107 Plievier, Theodor 107 Plunkert, David 293 Poller, Walter 100–101, 111 Pongs, Hermann 132 Posmysz, Zofia 251–252, 255 Prestes, Leocádia 341 Prestes, Luiz Carlos 340 Proust, Marcel 139 Raimundus Lullus 326 Raiser, Ludwig 216 Raphael 61 Rau, Heiner 340 Raymond, Jack 351 Read, Herbert 365–366 Reck-Malleczewen, Friedrich Percyval 102 Redfield, Marc 296 Reichel, Peter 8–9 Reichmann, Eva 183, 192 Reich-Ranicki, Marcel 199, 201, 409–410 Resnais, Alain 247, 250, 254, 258 Reulecke, Jürgen 66, 71 Rewald, Ruth (Schaul) 334–345 Rickard, Katie 439 Riedel, Manfred 66, 77 Rilke, Rainer Maria 364 Rilla, Paul 363 Rinser, Luise 101, 110 Roegele, Otto B. 216 Roscher, Achim 148
452
Register
Rose, Jacqueline 294, 298, 307 Rosenfeld, Alvin H. 391 Rossaint, Joseph C. 114 Rothacker, Erich 219, 221 Rothfels, Hans 106, 110–111, 216 Rousseau, Jean-Jacques 284–285, 306–307, 309–310 Rowohlt, Ernst 408–409 Rubinowicz, Dawid 373–392 Ruck, Michael 95 Rücker, Günther 158 Rühmkorf, Peter 408–410 Rühs, Friedrich 189 Rürup, Reinhard 97 Rüsen, Jörn 9 Rutkowski, Adam 376–378, 381 Ryan, Judith 312, 321 Rybicki, Marie-Hélène 36 Rychner, Max 120, 122–123, 136, 138 Ryklin, Michail 233, 236 Sabrow, Martin 6, 8 Sachs, Nelly 108 Said, Edward 334 Salin, Edgar 102 Salomon, Ernst von 409 Salomon, Horst 158 Saryusz-Wolska, Magdalena 11, 247, 435 Sayner, Joanne 4 Schade, Dieter 150 Schaul, Hans 340 Schdanow, Andrei 241 Scheidt, Walter 88 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 220 Schickele, René 107 Schiedermair, Joachim 323–326 Schildt, Axel 97 Schiller, Friedrich 128 Schilling, Klaus von 8 Schirrmacher, Frank 291, 365 Schlenstedt, Dieter 5, 113, 397 Schlenstedt, Silvia 5, 109, 154, 186, 236 Schlesinger, Klaus 5, 151, 153, 161, 386–388, 390, 402 Schlink, Bernhard 295–298, 300–301 Schmid, Carlo 103 Schmidhauser, Julius 298
Schmidt, Elli 148 Schmidt, Thomas 148 Schmidt-Hidding, Wolfgang 138 Schmitt, Carl 218, 298, 367 Schmorell, Alexander 429, 432 Schneider, Christian 8 Schneider, Karl Ludwig 124, 141 Schneider, Lambert 114, 373 Schneider, Rolf 154, 158–163 Schneider, Ulrike 3–4, 400 Schner-Neschamith, Sarah 112 Schnog, Karl 361–362 Schöll, Julia 334, 344 Schoenberner, Gerhard 113–114, 178, 186, 210, 395 Schöngarth, Eberhard 377 Schoeps, Hans-Joachim 102 Scholl, Hans 105, 107, 114, 417, 419–426, 429–432, 436–438 Scholl, Inge (Aicher-Scholl) 107, 419–426, 429–430, 436–438 Scholl, Robert 114, 419, 426, 431, 435–437 Scholl, Sophie 105, 107, 114, 417, 419–426, 429–432, 436–438 Schonauer, Franz 200 Schopenhauer, Arthur 54–55, 220 Schoß, Lisa 153 Schubert, Franz 60 Schubert, Katja 148, 151–152, 165 Schubert, Ludwig 121 Schüler, Barbara 418 Schumann, Robert 59–61 Schwab-Trapp, Michael 97 Schwachhofer, René 154 Schwarz, Peter Paul 3–4 Schwarzenbach, Annemarie 335 Schwerin, Christoph 381–383 Seemann, Horst 153 Seghers, Anna (Netty Reiling) 100, 107, 110–111, 149, 151, 335, 344–345, 360, 363 Seibt, Gustav 417 Seidel, Gerhard 152 Serge, Victor 345 Shakespeare, William 60, 316 Shelley, Percy Bysshe 286, 309–310, 318, 328
Register
Siebeck, Cornelia 6 Siegmund-Schultze, Friedrich 101–102, 105–106, 109–111 Simiand, François 18 Simon, Heinrich 60–61 Simonow, Konstantin 100, 239 Singer, Herbert 141 Sommer, Ernst 100 Sommer, Martin 413 Spann, Othmar 298 Speck, Ulrich 97 Spiel, Hilde 207 Spielberg, Steven 250, 258 Spranger, Eduard 79, 219 Stackmann, Karl 129 Stadthaus, Steffen 68, 80, 87, 89 Städtke, Klaus 240 Stalin, Josef Wissarionowitsch (Dschugaschwili) 106, 242, 248, 325, 354–355, 358 Stanley, Ilse 408 Staudte, Wolfgang 362 Stauffenberg, Claus Schenk von 102 Steffin, Margarete 335, 338–339 Stein, Heinrich Friedrich Karl vom und zum 128 Steinbach, Peter 418 Steinheimer, Ulrich 95–96 Stendhal 58 Stern, Desider 114–115 Stern, Jeanne 147 Stern, Kurt 147 Sternberger, Dolf 366, 368 Stoecker, Adolf 189 Stötzel, Georg 8 Storeide, Anette 4 Strauss, Leo 297 Strazzeri, Victor 65 Strecker, Gabriele 99 Strecker, Reinhard 175 Streicher, Julius 161 Strittmatter, Erwin 151 Süselbeck, Jan 66 Suhrkamp, Peter 119, 121, 130–132,135, 139 Szondi, Peter 142
453
Taine, Hippolyte 75, 84 Thiele, Rolf 418–420, 422, 424–425 Thomas, Henri 286–289, 293, 301–304 Thorez, Maurice 172 Timms, Edward 202 Tobin Stanley, Maureen 337 Toeplitz, Jerzy 248 Trautmann, Renate 386–387, 390 Treskow, Isabella von 11, 264–265, 271, 276, 279 Trumpeldor, Joseph 205, 207 Tuchel, Johannes 418 Uhland, Ludwig 128 Uhse, Bodo 360–361 Ulbricht, Walter 321, 414, 427 Valéry, Paul 127 Vansittart, Robert 99 Vercors 399 Verhoeven, Michael 436–438 Viganò, Renata 264, 267–273, 276–277 Villa, Paula-Irene 336 Vinaver, Chemjo (Nehemia) 399–400 Vittorini, Elio 265, 279 Voigt, Frank 4, 6, 25, 32, 36, 65 Volk, Sabine 4 Wagenbach, Klaus 199 Wagener, Irmgard 435 Wagner, Richard 50 Wagner-Régeny, Rudolf 16, 398–399, 401 Wais, Kurt 139 Wajda, Andrzej 246, 252, 255–258 Waldheim, Kurt 321 Walser, Martin 97, 153 Wander, Fred 4, 151 Wapnewski, Peter 129, 141 Warburg, Aby 65 Weber, Alfred 356 Weber, Hans 151 Weber, Thomas 217–219, 221 Weigel, Helene 230 Weil, Grete 439 Weinert, Erich 361–362 Weinkauff, Hermann 179 Weinke, Annette 9
454
Register
Weischedel, Wilhelm 213 Weisenborn, Günther 99, 107, 114, 420 Weisgerber, Leo 138 Weiß, Konrad 379 Weiss, Peter 161, 230 Weißglas, Immanuel 155 Weißhaupt, Mark 66 Weiß-Rüthel, Arnold 100–101, 110 Wendt, Erich 411 Wenzel, Mirjam 159 Werner, Klaus 155 Wessel, Horst 420 Wickert, Ulrich 142 Wiechert, Ernst 100–101, 110 Wiegand, Ronald 213 Wienand, Christiane 427 Wiese, Benno von 77 Wildt, Michael 66, 85, 88 Willer, Stefan 67, 78, 80, 84, 88–89 Wohl, Stanisław 248, 251 Wołczyk, Helena 373 Wolf, Christa 148, 151, 153, 365 Wolf, Frieder Otto 222
Wolf, Friedrich 157, 401–402 Wolfrum, Edgar 8 Woltmann, Ludwig 189 Wordsworth, William 309 Woroszylski, Wiktor 252–253 Woyciechowska, Ludwika 379 Young, James E. 9, 161, 163 Zapata Galindo, Martha 217, 221–222 Zarzycki, Jerzy 248 Zeigner, Erich 104 Zimbaso, Werner 420 Zimmerer, Ludwig 373, 381, 386–389, 391 Zinn, Gesa 337 Zinnecker, Jürgen 71, 86 Zitzlsperger, Ulrike 341–342 Žižek, Slavoj 321 Zuckmayer, Carl 107, 419 Zweig, Arnold 107, 112, 172–173, 351, 402 Zweig, Stefan 430 Zweig, Stefan Jerzy 407, 415 Żyliński, Stanisław 380