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German Pages 290 [294] Year 2012
Hans Drexler | Sebastian El khouli
NACHHALTIGE WOHNKONZEPTE Entwurfsmethoden und Prozesse
NACHHALTIGE WOHNKONZEPTE
HANS DREXLER | SEBASTIAN EL KHOULI
NACHHALTIGE WOHNKONZEPTE Entwurfsmethoden und Prozesse
Edition ∂
IMPRESSUM Das Buch wurde erarbeitet am Sustainable Building Design Studio der MSA Münster Vertretungsprofessur Dipl. Arch. ETH Hans Drexler M. Arch (Dist.) https://www.fh-muenster.de/fb5/departments/konstruktion/drexler/Prof-Hans-Drexler.php In Zusammenarbeit mit Bob Gysin + Partner BGP Architekten ETH SIA BSA, Zürich www.bgp.ch AUTOREN Hans Drexler Dipl. Arch. ETH M. Arch (Dist.) Sustainable Building Design Studio, MSA Münster Drexler Guinand Jauslin Architekten, Frankfurt am Main – Zürich – Rotterdam Sebastian El khouli Dipl.-Ing. Arch. TU, Energieberater TU Darmstadt Bob Gysin + Partner BGP Architekten ETH SIA BSA, Zürich ESSAYS Dominique Gauzin-Müller Bob Gysin REDAKTION UND LEKTORAT Steffi Lenzen (Projektleitung) Kirsten Rachowiak GRAFIK, LAYOUT UND ZEICHNUNGEN 3 Karat, Frankfurt am Main, Dipl. Des. Nora Wirth unter Mitarbeit von Dipl. Des. Katja Rudisch www.3Karat.de MITARBEIT ZEICHNUNGEN Simon Kiefer, Stephanie Monteiro Kisslinger STUDENTISCHE MITARBEITER Alexandra Cornelius, Santosh Debus, Marta Hristova, Christine Kutscheid, Anna Sumik HERSTELLUNG/DTP Roswitha Siegler REPRODUKTION ludwig:media, Zell am See DRUCK UND BINDUNG Kessler Druck + Medien, Bobingen Alle CO2-Emissionen, die aus für Recherche und Erarbeitung dieses Buchs unternommenen Flugreisen und Fahrten mit dem Pkw entstanden sind, wurden bei der Non-Profit-Stiftung myclimate (www.myclimate.org) kompensiert. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werks oder von Teilen dieses Werks ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts. Dieses Buch ist auch in englischer Sprache erschienen (ISBN 978-3-920034-78-2). © 2012 erste Auflage Ein Fachbuch aus der Redaktion ∂ Institut für internationale Architektur-Dokumentation GmbH & Co. KG Hackerbrücke 6, 80335 München www.detail.de Gedruckt auf 135 g BVS, holzfrei weiß matt gestrichen, FSC-zertifiziert.
ISBN 978-3-920034-77-5 Die Erarbeitung der Publikation war nur durch die Unterstützung des Sponsors möglich. Autoren und Verlag danken dem folgenden Unternehmen für die Förderung der Publikation: VELUX GROUP
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Housing should be seen as a process and not as a product. Balkrishna Doshi
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INHALT
1 VORWORT Vorwort
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Danksagung
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2 POSITIONEN 2.1 Kleine Geschichte der nachhaltigen Architektur: Dominique Gauzin-Müller
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2.2 Nachhaltig entwerfen. Ein Statement: Bob Gysin
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TEIL 1: NACHHALTIGE ARCHITEKTUR. GRUNDLAGEN UND STRATEGIEN 3 GRUNDLAGEN DES NACHHALTIGEN BAUENS 3.1 Sinn und Sinnlichkeit des nachhaltigen Bauens
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3.2 Systemischer Ansatz
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3.3 Nachhaltiges Bauen bedeutet kontextuelles Bauen und Prozessorientierung
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3.4 Aspekte des nachhaltigen Bauens
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Lokal versus global
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Die zeitliche Dimension der Architektur
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Identifizierung der grundlegenden Parameter (Ursachen und Hebel) statt Optimierung und Minimierung der negativen Auswirkungen (End of Pipe)
39
Lowtech versus Hightech
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Effizienz, Konsistenz, Suffizienz
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Die richtigen Dinge tun und Dinge richtig tun
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4 DAS GEBÄUDE UND SEIN KONTEXT 4.1 Impact: Beeinflussung des Kontextes durch das Gebäude
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Globale Folgen der menschlichen Bautätigkeit
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Die Stadt als Zukunftsmodell
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Wirkung des Gebäudes auf das Umfeld
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Belichtung und Verschattung
46
Stadtbelüftung
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Stadtbaustein: Das Gebäude schafft einen Mehrwert für sein Umfeld
47
Der Wasserkreislauf
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4.2 Building Performance: Wirkungen des Städtebaus und des Umfeldes auf das Gebäude
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Standortfaktoren und Stadtstruktur (Makroebene)
49
Einbindung des Gebäudes in die städtebauliche Struktur
50
Auswirkung der städtebaulichen Gebäudestruktur und Grundriss
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5 ARCHITEKTUR ALS PROZESS 5.1 Ganzheitlich planen
55
Integrativ planen
55
Die Aufgabe. Definition von Bedarf und Qualitäten
56
Von der Idee zum Entwurf
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Vom Entwurf zum Gebäude. Planungs- und Bauphase
60
Von der Fertigstellung zum Gebrauch. Gebäude in Betrieb nehmen
62
5.2 Das Gebäude im Lebenszyklus
64
Lebenszyklus des Gebäudes: ökonomische und ökologische Analysen
64
Lebenszykluskostenbetrachtung (ökonomisch)
65
Ökobilanzierungen
65
INHALT
Baukonstruktion im Lebenszyklus
66
Lebenszyklus der Bauteile
66
Lösbare Verbindungen und hierarchisierte Konstruktionen: rückbaubare Baukonstruktionen
66
Rückbau, Wiederverwertung, Weiterverwertung
67
Das Gebäude im Wandel der Zeit, zeitliche Maßstäbe
67
Kurzfristige Nutzungsflexibilität
68
Langfristige konstruktive Nutzungsflexibilität
68
Nutzungsneutralität
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6 NACHHALTIGKEIT BEWERTEN 6.1 Nutzen und Anwendungsmöglichkeiten der Nachhaltigkeitsbewertung Nachhaltigkeit bewerten versus nachhaltiges Entwerfen 6.2 Strategien und Methoden der Nachhaltigkeitsbewertung
70 72 73
Instrumente für Stadt- und Raumplanung
73
Bewertungssysteme für Investoren und Nutzer
73
Instrumente für Planer
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Beschreibende Bewertungssysteme
75
Quantitative Bewertungsmethoden
75
Qualitative Bewertungsmethoden
75
Umfang und Aufwand der Bewertung
76
6.3 Das Wohnwertbarometer – Aufbau und Methodik
77
Aufbau und Struktur der Kriterienmatrix
78
Übersicht der Kriterien
80
TEIL 2: NACHHALTIG ENTWERFEN. PROJEKTE 7 PROJEKTE 7.1 Weiterdenken – Das Dreieck
92
7.2 Forschung am Entwurf – Minimum Impact House
108
7.3 Solar vs. Polar – Sunlighthouse
120
7.4 The Do tank – Quinta Monroy
132
7.5 Wie gewachsen – Biohotel im Apfelgarten
144
7.6 Ephemere Architektur – Wall House
156
7.7 Outside the White Cube – Townhouse in Landskrona
168
7.8 Wiedergewonnen – Fehlmann-Areal
178
7.9 In a Forest – Lakeside House
190
7.10 Paläste statt Hütten – Isar Stadt Palais
200
7.11 Erde zu Erde – Haus Rauch
214
7.12 Design to Dissemble – Loblolly House
226
7.13 Holzbox – Jugend- und Freizeitcamps in der Steiermark
236
7.14 Architektur in Zeit und Raum – Black Box
248
7.15 Häuser für alle! – 20K Houses
260
7.16 Zusammenfassung der Analysen aus den Projekten
272
Bildnachweis
280
Übersicht Bewertungskriterien – Klappkarte
7
8
1 VORWORT
VORWORT
Wie entwirft man nachhaltige Gebäude? Diese Frage stand am Anfang diese Buchprojekts und hat uns in den Jahren unserer gemeinsamen Arbeit in verschiedenen Lehr- und Forschungsprojekten im Fachgebiet Entwerfen und Energieeffizientes Bauen der TU Darmstadt zunehmend beschäftigt. In den Entwurfskursen stellten wir fest, dass nachhaltige Architektur in den meisten Publikationen als technische Anforderung dargestellt wird, auf die mit einer Vielzahl von Einzelmaßnahmen reagiert wird. In der Fachliteratur wird der Fülle von einzelnen Kriterien oftmals eine Reihe von beispielhaften Projekten als Ergebnis nachhaltigen Planens gegenübergestellt. Selten jedoch wird ein konkreter Zusammenhang zwischen den jeweiligen Anforderungen und Rahmenbedingungen und den daraus folgenden Strategien und Entwurfsmethoden aufgezeigt, die im Verlauf des Planungsprozesses zur Anwendung gekommen sind. Mit dieser Publikation wollen wir deswegen zum einen eine ganzheitliche Sichtweise der für den Entwurfsund Planungsprozess relevanten Aspekte ermöglichen und sie in einen systemischen Zusammenhang bringen. Zum anderen wollen wir aufzeigen, wie diese Aspekte in die Produktion von Architektur methodisch eingebunden werden können. Nachhaltige Gebäude haben nicht nur weniger negative Auswirkungen auf ihre Umwelt, sondern können die Architektur erlebbar verbessern – dies ist die zentrale Idee, die uns durch das Projekt begleitet hat. In der öffentlichen Diskussion hat nachhaltiges Bauen oft das Image einer ökologischen Gegenkultur, die Verzicht predigt und sich der ästhetischen und kulturellen Dimension von Architektur verweigert. Wir wollen dem Leser Projekte vorstellen, die begeisternd, stimmig, dynamisch, inspirierend, atmosphärisch, lustvoll, beschützend, energieerzeugend, reinigend und bereichernd sind – und die vor allem auch Spaß machen. Und wir wollen erklären, wie diese Gebäude entstanden sind, und die Geschichten hinter den Projekten erzählen: welche Menschen, welche Ideen, welche Fragen, welche Schritte und welche Umwege für ihre Entstehung nötig waren. Darüber hinaus wollen wir zeigen, dass diese Gebäude nicht nur Qualitäten besitzen, bevor die Bewohner und andere Nutzer sie in Beschlag nehmen und diese leeren und vollkommenen Räume, die „Idee der Architektur“, mit ihrer Präsenz „verunreinigen“. Wir wollen deutlich machen, dass die cleanen Hochglanzfotos nur der Anfang einer größeren und oftmals spannenderen Geschichte sind, und herausfinden, wie die Menschen mit den Gebäuden leben.
Dieses Buch ist für uns gleichermaßen Lehrbuch wie Streitschrift. Ein Lehrbuch, weil es in den meisten Projekten nicht am Willen, sondern vor allem am Wissen darüber mangelt, was nachhaltiges Bauen ausmacht und wie es umsetzbar ist. In diesem Sinn diskutieren wir, wie Architektur nachhaltiger werden kann, und weniger, warum sie es muss. Gleichzeitig erhebt dieses Buch keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Für viele der Einzelthemen wie Energieeffizienz oder Lebenszyklusbetrachtungen gibt es ausführlichere Publikationen, die theoretisch und methodisch tiefer gehen, als wir es in diesem Rahmen tun können. Wir haben hingegen versucht, die Einzelthemen in einen ganzheitlichen Zusammenhang zu bringen und sie in Hinblick auf ihre Abhängigkeiten und Wechselwirkungen untereinander zu untersuchen. Eine Streitschrift ist das Buch insofern, als die von uns vertretene Haltung und die notwendigen Veränderungen nur auf den ersten Blick konsensfähig sind. Die inzwischen allgegenwärtigen Bekenntnisse zum Nachhaltigkeitsanspruch an die Gesellschaft im Allgemeinen und die Architektur im Speziellen sind zumeist sinnentleerte Worthülsen, die dazu dienen, die erlernten und anerzogenen Muster notdürftig zu tarnen. Die Bandbreite derer, die Nachhaltigkeit als Marketinginstrument entdeckt haben, reicht von den „Stararchitekten“ bis zu den Global Playern der Immobilienwirtschaft. Gemeinsam ist beiden Gruppen, dass sie das Thema wahlweise auf Fragen der technischen Gebäudeausstattung oder die Verwendung zertifizierter und geprüfter Materialien und Baustoffe reduzieren und ihm die gestalterische Kraft und damit die Relevanz im architektonisch-akademischen Diskurs absprechen. Unser Anliegen ist es, die Qualitäten von nachhaltigen Wohngebäuden zu vermitteln und sie als Teil der Lebenswirklichkeit ihrer Bewohner zu beschreiben. Deswegen war es für uns wichtig, die Gebäude, die wir analysiert und beschrieben haben, selbst vor Ort zu erfahren und mit den Menschen, die sie bewohnen und entwickelt haben, sprechen zu können. Keine noch so ausgefeilte Analyse kann das komplexe und vielschichtige Erleben eines realen Gebäudes ersetzen. Durch unsere persönlichen Erfahrungen und mithilfe zahlreicher Gespräche haben wir versucht, die Motive, Interessen und Wünsche der Beteiligten zu ergründen, um herauszufinden, warum und wie sie etwas geplant und umgesetzt haben. Unser Wunsch war es, einen Schritt weg von dem oftmals anzutreffenden Verständnis von Architektur als fertigem Produkt zu machen, sie vielmehr als Prozess und lebendiges, veränderliches System zu verstehen,
1 VORWORT
das in einem aktiven Dialog mit seiner Umgebung und den Nutzern steht, das altert und sich verändert. Diese Publikation soll in erster Linie als Hilfestellung für die Arbeit von Architekten und Planern dienen. Deswegen werden die verschiedenen Entwurfsstrategien des nachhaltigen Bauens anhand von 15 Beispielen erläutert, die aufgrund ihrer individuellen Ziele, Anforderungen und Kontexte teilweise sehr unterschiedliche Strategien und Ansätze verfolgen. Universelle Prinzipien oder einfache Rezepte für das Planen von nachhaltigen Gebäuden kann es nicht geben. Jedes Projekt stellt eine spezifische Antwort auf seinen Kontext, das lokale Klima und die Anforderungen der Nutzer dar. Deswegen war es unser Ziel, uns nicht auf die Ergebnisse der Planungen zu beschränken, sondern vor allem die Methoden und Prozesse zu beschreiben, mit denen diese erzielt wurden. Nachhaltige Architektur ist kein Architekturstil, sondern das Ergebnis einer Haltung – gegenüber der eigenen Arbeit, gegenüber den Menschen, für die wir bauen, und gegenüber der Welt, in der wir unsere Bauten realisieren. Sie verlangt nach einem ausgeprägten Bewusstsein für die Komplexität der Fragestellungen, mit denen uns das Bauen konfrontiert. Und sie benötigt viel positive Energie, um die vorhandenen Widerstände und Zweifel zu überwinden. Wir möchten allen an diesem Projekt beteiligten Personen danken für ihre umfangreiche und oftmals weit über das Übliche hinausgehende Unterstützung: Nora Wirth und ihrer Partnerin Katja Rudisch (www.3Karat.de), die für Layout und Grafik des Buchs verantwortlich zeichnen, für ihre tolle Arbeit und ihre beneidenswerte Geduld im Umgang mit uns und unseren oftmals widersprüchlichen Vorstellungen; Steffi Lenzen, Odine Oßwald, Robert Steiger und Roswitha Siegler für das uns gegenüber aufgebrachte Vertrauen und die fachliche Unterstützung sowie den jederzeit sachlichen und konstruktiven Dialog; Monica Buckland, Thomas Menzel und Kirsten Rachowiak für das ausdauernde sprachliche und inhaltliche Lektorieren unseres Manuskripts; Laura Bruce, Elisabeth Schwaiger, und Raymond Peat für die englische Übersetzung, Lone Feifer und Christoph Volkmann, ohne die die Realisierung der Publikation nicht möglich gewesen wäre, für die bedingungslose finanzielle Unterstützung unserer Idee; Bob Gysin + Partner BGP Architekten AG, die uns auf vielfache Art und Weise inhaltlich wie auch finanziell zur Seite gestanden und mit großer Gelassenheit die häufigen Absenzen hingenommen haben; Dominique Gauzin-Müller und Bob Gysin, die mit immensem Engagement und Aufwand zwei wundervolle Essays zur Vervollständigung unserer Idee beigesteuert haben; Anna Sumik, Lisa Katzenberger und Simon Kiefer, die bei der Analyse und der grafischen Ausarbeitung des Buchs mitgewirkt haben, und Christine Kutscheid, Alexandra Cornelius, Martha Hristova sowie Santosh Debus, die bei der Erarbeitung der Inhalte in den studentischen Seminaren mitgearbeitet haben; dem Fachbereich Entwerfen und Energieeffizi-
entes Bauen der TU Darmstadt und der Münster School of Architecture (MSA), die uns ein inspirierendes Arbeitsumfeld und darüber hinaus jede mögliche Unterstützung geboten haben – und nicht zuletzt unseren Partnerinnen und Freunden, die uns und unsere Launen und die zeitliche Mehrfachbelastung über einen Zeitraum von mehr als 24 Monaten ausgehalten haben. Wir möchten uns ferner bei allen beteiligten Architekten, Planern, Bewohnern, Bauherren und Förderern bedanken, die uns ihre Zeit geopfert haben, sowie bei allen Fotografen, die uns ihre Bilder für minimale Honorarsummen und teilweise sogar unentgeltlich zur Verfügung gestellt haben: 20K Houses: Danny Wicke, Gayle Etheridge, David Thornton, MacArthur Coach, Frank Harris; Biohotel: Sebastian Schels (Fotos), Deppisch Architekten (Fotos), Familie Hörger, Martha Hristova (Fotos und Zeichnungen) und Mira Hampel (Fotos: www.mirahampel. de); Black Box: Edward Weysen und Lore De Baere, Michelle Verbruggen (Fotos); Das Dreieck: Martin Albers, Kasper Fahrländer, Andreas Keller, Giorgio von Arb und Hannes Henz (Fotos), Santosh Debus (Fotos, Zeichnungen und Texte); Fehlmann-Areal: Marco Giuliani, Tanja Scholze, Marcel Knoblauch und Franz Aeschbach, Martin Kessler, Familie Latscha und Familie Bugmann, Roger Frei (Fotos: www.rogerfrei.com); Haus Rauch: Martin Rauch und Marta Rauch-Debevec, Roger Boltshauser, Anna Heringer, Beat Bühler (Fotos: www.beatbuehler.ch); Holzbox Tirol: Erich Strolz und Ferdinand Reiter, Gerald Gigler, Roland Kalss, Reinhard Dayer, Herrn Rettinger, Frau Vorraber, Johann Harrer, Peter Holzer, Günther Linzberger, Markus Fiedler, Birgit Koell (Fotos: www.birgitkoell.at) und Hertha Hurnaus (Fotos: www.hurnaus.com); Isar Stadt Palais: Joachim Leppert und Isabel Mayer, Sebastian Rickert, Thomas Fitzenreiter, Andi Albert (Fotos); Lakeside House: Tuomas Toivonen, Nene Tsuboi, Maija Luutonen; Loblolly House: Kieran Timberlake, Billy Faircloth, Carin Whitney und Christopher Kieran, Kevin Gingerich, Christine Cordazzo (Fotos: www.esto.com); Minimum Impact House: Esther Götz, Kristina Klenner, Marcella Lantelme, Susanne Sauter, Jörg Thöne und Eva Zellmann, Daniel Jauslin (Fotos), Sabine Djahanschah und der Deutschen Bundesstiftung Umwelt (DBU); Quinta Monroy: Victor Oddó und Alejandro Aravena, Praxedes Campos, Jana Revedin, Sara Maestrello (Fotos: www.saramaestrello.com) und Cristobal Palma (Fotos: www.cristobalpalma.com); Sunlighthouse: Juri Troy, Lone Feifer und Heinz Hackl, Dietmar Polczer, Peter Holzer, Adam Mørk (Fotos: www.adammork.dk); Townhouse: Jonas Elding und Johan Oscarson, Conny Ahlgren and Johnny Lökaas, Åke E:son Lindman (Fotos: www.lindmanphotography.com); Wall House: Mario Rojas Toledo und Marc Frohn, Paty und Juan Rojas Toledo, Cristobal Palma (Fotos: www.cristo balpalma.com) Wir danken darüber hinaus allen Kollegen und Unterstützenden, die uns ihr Wissen sowie ihre Bilder, Grafiken und Unterlagen kostenfrei zur Verfügung gestellt haben, unter anderem eeConcept, Jay Kimball, Matthias Hampe und Joost Hartwig.
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POSITIONEN
KLEINE GESCHICHTE DER NACHHALTIGEN ARCHITEKTUR DOMINIQUE GAUZIN-MÜLLER
Nachhaltigkeit! Kaum ein Magazin, eine Sendung oder ein Symposium kommt ohne dieses Wort aus, oft genug wird es sogar zum Hauptthema. Dabei unterliegt dessen Bedeutung großen Schwankungen. Was für manche Militante zum fundamentalen Wert ihres Lebens geworden ist, bleibt für andere ein Kommunikationsmittel zum green washing nicht bedenkenloser Produkte. Auch für die Akteure des Bauens enthält der Begriff „nachhaltige Architektur“ ganz unterschiedliche Bedeutungsfelder. Der Schwerpunkt kann auf Energie, natürliche Materialien oder soziale Zielsetzungen gelegt werden. Einige verbinden den Begriff mit Lowtech und Selbstbau aus Holz oder Lehm, andere mit Hightechinstallationen und Nanomaterialien. Wahrscheinlich kann nachhaltige Architektur am ehesten als Balance zwischen der Wiederentdeckung bioklimatischer Prinzipien, der aus dem Kontext erwachsenden Bautradition und ausgeklügelten ressourcenschonenden Innovationen verstanden werden. Dieses Ziel kann nur über multidisziplinäre und integrative Planung erreicht werden, die auf einer holistischen Herangehensweise basiert. Auf dem langen Weg zu einer nachhaltigen Gesellschaft könnte so bald eine wichtige Etappe erreicht werden. Obwohl es immer wieder unterstellt wird, ist das nachhaltige Denken auf keinen Fall eine „Mode“. Auch wenn der Begriff damals noch nicht erfunden war, ist das Konzept genauso alt wie die Industrialisierung, deren Folgen es zu kompensieren versucht. Bekannt wurde es erst 1987 durch den von Gro Harlem Brundtland verfassten UNO-Bericht Our Common Future (Unsere gemeinsame Zukunft). Seit dem Welt-Gipfel von Rio de Janeiro 1992 wurde dessen „Dreisäulenmodell“ international verbreitet. Zu voller Entwicklung gelangte es jedoch erst, nachdem Frankreich 2002 beim folgenden Gipfel in Johannesburg eine vierte Säule hinzufügte. Und tatsächlich gehört neben Ökologie, Ökonomie und Sozialem auch Kultur unbedingt zu den Kernpunkten nachhaltiger Entwicklung. Seit 150 Jahren haben neben Biologen, Soziologen, Philosophen, Politikern, Ökonomen usw. auch Künstler und Architekten an der Ausgestaltung dieses Konzepts teilgenommen.
NACHHALTIGES DENKEN ALS FOLGE DER INDUSTRIALISIERUNG Die westliche Kultur folgt seit der Aufklärung im 18. Jahrhundert einem Ansatz, der auf dem Denken von René Descartes und dessen Vorbildern in der Bibel1 basiert. Diese kartesianische Weltanschauung sieht den Menschen nicht nur „als Besitzer der Natur“2 und Herrscher über „Tiere-Maschinen“. Sie folgt auch einem Fortschrittsgedanken, der von der ständigen Entwicklung neuer Techniken ausgeht, um unsere Lebensqualität immer weiter zu verbessern. Dabei wird die Natur hauptsächlich zur Quelle von Ressourcen, deren Verarbeitung uns zu mehr materiellem Komfort verhelfen soll. Jenseits dieses Denkens gab es jedoch immer wieder Mahner, die sich für mehr Vernunft im Umgang mit der Natur und für Enthaltsamkeit aussprachen. Mitte des 19. Jahrhunderts wurde der Philosoph Henry David Thoreau zu einem der ersten Querdenker in den USA, die sich auf dem Wege zur größten Industrienation der Welt befanden. Seine lyrische Hymne an die Natur, Walden. Or Life in the Woods (Walden oder Leben in den Wäldern),3 wird oft als Ursprung der ökologischen Bewegung betrachtet. In dieses Gedankengut sind auch Ansätze von Jean-Jacques Rousseau und Autoren der europäischen Romantik eingeflossen. Um die Wende zum 20. Jahrhundert verbreitete Rudolf Steiner auf den Spuren Johann Wolfgang von Goethes eine anthroposophische Philosophie, die Mensch und Natur wieder in Einklang bringen wollte. Seine Lehre, die heute noch viele Anhänger findet, schlug sich sowohl in der Pädagogik als auch in der Medizin, der Landwirtschaft und sogar der Architektur nieder. Um diese Zeit entwickelten sich mehrere von Architekten, Handwerkern und Künstlern geführte Bewegungen, die sich gegen die Industrialisierung des Bauens und Wohnens richteten, wie etwa die Wiener Werkstätte um Josef Hoffmann oder die Arts & Crafts, die zuerst in Schottland von Charles Rennie Mackintosh, dann in Kalifornien von den Brüdern Greene angeführt wurde.
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Das von Walter Gropius 1919 gegründete Bauhaus verfolgte den gleichen Ansatz für die Integration von Architektur, Kunst und Handwerk, war jedoch viel stärker von der modernen Bewegung und ihrem internationalen Stil geprägt. Auch einige bedeutende Politiker haben die Gefahren früh erkannt und davor gewarnt. Schon vor über 100 Jahren, am 3. Dezember 1907, sagte Präsident Theodore Roosevelt vor dem US-Kongress: „Zuversicht ist eine gute Eigenschaft, aber wenn sie zum Exzess getrieben wird, wird sie zur Dummheit. Wir sind stolz darauf, dass die Ressourcen unseres Landes scheinbar unerschöpflich sind – aber dem ist nicht so. Der Reichtum an natürlichen Rohstoffen – Kohle, Eisen, Öl, Gas und alle anderen – reproduziert sich nicht von selber; deshalb wird er dereinst erschöpft sein. Je verschwenderischer wir heute damit umgehen, umso karger werden die nachfolgenden Generationen leben müssen.“4
FRANK LLOYD WRIGHT, ERFINDER DER ORGANISCHEN ARCHITEKTUR Ein wichtiger Ansatz kam aus den Vereinigten Staaten. Beeinflusst von dem Werk Thoreaus, glaubte der Architekt Frank Lloyd Wright (1867–1959), dass ein Haus aus der Begegnung zwischen dem Geist des Orts und den Bedürfnissen der Bewohner wie ein lebendiger Organismus geboren werde, und begründete damit das Konzept der „organischen“ Architektur. Wrights gebautes Werk wurde von wissenschaftlichen, künstlerischen und philosophischen Ansätzen inspiriert, unter anderem von Johann Wolfgang von Goethe. Ein überzeugendes Beispiel seiner organischen Architektur stellen die zwei von ihm geschaffenen Wohn- und Atelieranlagen dar: das erstmals 1911 in den grünen Hügeln von Wisconsin gebaute Taliesin und das später in der Wüste Arizonas errichtete Taliesin West. Aus den beiden Gebäuden lässt sich beispielhaft ablesen, wie Bauherr und Architekt ein und dasselbe Programm in sehr unterschiedlichen geografischen und klimatischen Kontexten realisiert haben. Vertreter dieses organischen Ansatzes in Europa waren unter anderen Hans Scharoun (1893–1972), Hugo Häring (1882–1958) und Alvar Aalto (1898–1976) sowie später der anthroposophisch orientierte ungarische Architekt Imre Makovecz (geb. 1935).
die negativen Seiten der Industriegesellschaft in seinem satirischen Film Modern Times (Moderne Zeiten) auf, und Fairfield Osborn warnte 1948 in Our Plundered Planet (Unsere ausgeplünderte Erde) vor der wahnwitzigen Idee, man könne sich dem Prozess der natürlichen Kräfte folgenlos widersetzen. Wo blieben neben diesen engagierten Künstlern die Architekten? In einer Zeit, die sich, der internationalen Bewegung folgend, an Archetypen der Moderne, der Nutzung von Beton und standardisierten Baumethoden orientierte, probierten einige Außenseiter, einen anderen Weg zu gehen. Diese Versuche waren von der Verwendung lokaler Baumaterialien, der Weiterentwicklung der örtlichen Tradition sowie handwerklicher Qualität geprägt. Bestes Beispiel für diese Bewegung in Entwicklungsländern ist die Arbeit des ägyptischen Architekten Hassan Fathy (1900–1989). Er betonte die Echtheit der ländlichen Kultur und stellte sie dem Identitätsverlust und auch der Korruption, die durch die Verwendung von Bautechniken und -materialien aus dem Westen entstehen, entgegen. Dadurch wurde er zum Vorbild vieler Vertreter einer alternativen Architektur, und sein Werk findet heute noch im Süden wie im Norden viele Bewunderer. Fathy errichtete mit Adobe-Ziegeln und wiedererweckten Bautraditionen aus Nubien, unter Beteiligung der Bewohner im Selbstbau, mehr als 150 Projekte für die arme Bevölkerung in Ägypten, Irak und Pakistan. Im Tal der Könige begann er auf diese Weise in den 1940er-Jahren, zwei neue Dörfer für die
SCHÖNE NEUE WELT? In den 1930er- und 1940er-Jahren des 20. Jahrhunderts traten in England und den USA weitere Kritiker der gesellschaftlichen Entwicklung in Erscheinung. Um die Welt wachzurütteln, beschrieb Aldous Huxley 1932 in Brave New World (Schöne neue Welt) eine Gesellschaft, in der die Menschen unterdrückt werden und der durch Konsum und Drogen das Bedürfnis nach kritischem Denken und Hinterfragen der Weltordnung abhanden gekommen ist. 1936 zeigte Charlie Chaplin
01 Taliesin, Wisconsin (USA), Frank Lloyd Wright, 1911
POSITIONEN
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POSITIONEN
Einwohner zu bauen, die jedoch nie fertiggestellt wurden, weil die zukünftigen Bewohner sie nur zögernd besiedelten. Ihre Entstehung hat Fathy in seinem Buch Gourna. A Tale of Two Villages5 ausführlich beschrieben. Er bekennt sich darin auch zu seinen Fehlern und legt die Gründe seines Scheiterns offen, unter anderem die soziokulturelle Situation: In dieser kolonialistischen Zeit sei jede Betonkiste eine Ikone der Modernität, klagte er. Heute ist es leider oft nicht anders ... Auch in Asien gab es damals ein Streben nach autochthonen Alternativen. Balkrishna Doshi (geb. 1927), der mit Le Corbusier in Ahmedabad arbeitete, versucht seit der Gründung seiner Vastu-Shilpa Foundation for Studies and Research in Environmental Design im Jahr 1955 moderne Konzepte für den indischen Kontext zu adaptieren. Er gehört zu den Ersten, die sich im Einklang mit der orientalischen Philosophie an einem holistischen Ansatz für die Gestaltung von Architektur und Städtebau orientierten.
DIE SKANDINAVISCHEN PIONIERE Auch am anderen Ende der Welt sehnte man sich nach Authentizität. Obwohl sich Alvar Aalto immer zur Moderne bekannte, vergaß er nie seine skandinavischen Wurzeln. Er appellierte stets an den Respekt gegenüber den „kleinen Leuten“ und warnte vor einer Standardisierung der Architektur, weil sie dadurch an Humanität verlieren würde. Seine 1939 gebaute Villa Mairea wird oft als erstes ökologisches Haus Europas betrachtet. Einige Archetypen der Moderne sind dort gekonnt mit typischen Merkmalen der Tradition vermischt: Steinmauern, Holzstützen und -verkleidung, begrünten Dächern usw. Den menschlichen Maßstab entdeckt man an vielen kleinen Details wie den handgeformten Kurven an der Seite des Kamins oder den geflochtenen Türklinken. Das Christentum gelangte erst im 12. Jahrhundert nach Skandinavien, vielleicht ein Grund dafür, dass die Menschen dort immer noch einen besonders starken Bezug zur Natur und deren spirituellen Kräften haben. Gemäß dieser kulturellen Nähe folgten viele skandinavische Architekten dem organischen Ansatz: der Schwede Ralph Erskine (1914–2005) und später der Norweger Sverre Fehn (1924–2009) sowie der Finne Reima Pietilä (1923–1993) und seine Frau Raili, bekannt unter anderem für ihr Studentenhaus Dipoli (1966) auf dem von Aalto entworfenen Campus in Otaniemi bei Helsinki. Alle waren von der Lehre des norwegischen Architekturkritikers Christian Norberg-Schulz (1926–2000) geprägt, der sowohl von Thoreau als auch von der Philosophie Martin Heideggers stark beeinflusst war. Eine Zusammenfassung seiner Erkenntnisse bietet sein 1980 erschienenes Werk Genius Loci. Towards a Phenomenology of Architecture (Genius Loci. Landschaft, Lebensraum). Darin geht es um den Kontext. Er analysiert die Psychologie der Einwohner eines Orts in Bezug auf dessen Besonderheiten: den Einfluss der langen, kalten Winter in den nordischen Ländern ebenso wie den von Sonne und Wärme in Italien, dessen traditionelle Architektur er lange studierte. Das Werk von Sverre Fehn spiegelt die Gedanken seines Freundes Norberg-Schulz und seines Meisters Frank Lloyd Wright wider. Der internationale Durchbruch gelang ihm 1962 nach der Errichtung des Nordischen Pavillons auf der Biennale in Venedig, dessen Betonstruktur von Bäumen durchsetzt ist. Neben seinem Engagement in der modernen Bewegung ab den 1950er-Jahren vertrat er immer eine „konstruktive Poesie“, die er in Frankreich von Jean Prouvé übernommen hatte. Das Museum in Hedmark kündigt eine Wende seines Stils an, der sich etwas von der Moderne löste und immer stärker von der traditionellen Architektur und deren Materialien beeinflusst war.
02 Nordischer Pavillon, Biennale in Venedig (Italien), Sverre Fehn, 1962
Der Australier Glenn Murcutt (geb. 1936) wurde sowohl von der „kritischen Moderne“ Aaltos und Fehns beeinflusst als auch von der Aborigene-Kultur seines Landes und den Archetypen der traditionellen Archi-
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tektur, die er während seiner zahlreichen Reisen entdeckte. Seit 1969 verfolgt er eine atypische Laufbahn und baut überwiegend Einfamilienhäuser, die von Zurückhaltung in der Formensprache und Materialwahl sowie von der Einbettung in die Landschaft geprägt sind. Murcutt, der immer allein gearbeitet hat und heute noch von Hand zeichnet, hat die Verschwendung von Energie und Rohstoffen stets stark kritisiert.
VERBREITUNG DES ÖKOLOGISCHEN DENKENS Das Fundament für das nachhaltige Denken, wie wir es heute verstehen, wurde nach dem Zweiten Weltkrieg mit der Schaffung mehrerer internationaler Institutionen gelegt. Die 1948 gegründete International Union for Conservation of Nature veröffentlichte 1951 den ersten Bericht über den Zustand der Umwelt auf der Erde, eine Pionierarbeit in ihrem Streben nach Versöhnung von Ökonomie und Ökologie. 1962 warnte Rachel Carson in ihrem bahnbrechenden Werk Silent Spring (Der stumme Frühling) vor der toxischen Wirkung der Pestizide und anderer Chemikalien, die damals ziemlich leichtsinnig massiv verwendet wurden, und beschrieb die Gefahren der Wasser- und Luftverschmutzung. Fast ebenso viel Aufsehen erregte 1968 der Bestseller The Population Bomb (Die Bevölkerungsbombe), in dem der Autor Paul Ehrlich eine Explosion der Weltbevölkerung prognostizierte, die um 2000 etwa sieben Milliarden Menschen zählen könnte – was auch fast erreicht wurde. Als in den 1960er-Jahren dem „Establishment“ gegenüber kritisch eingestellte Studenten in Amerika das Werk Thoreaus wiederentdeckten, wurden auch Unternehmer wachgerüttelt. 1968 gründeten ein paar Industrielle einen Thinktank, in dem Natur- und Wirtschaftswissenschaftler zusammen mit hohen internationalen Beamten über eine globale Umwelt-Governance beraten sollten. Als der erste Bericht des Club of Rome 1972 mit dem Titel The Limits of Growth (Die Grenzen des Wachstums) veröffentlicht wurde, brach eine kleine Revolution aus. Unter Leitung von Dennis Meadows machten in dem Werk Forscher des MIT6 auf den Raubbau an unseren natürlichen Ressourcen, die Energie- und Wasserverschwendung sowie die Umweltverschmutzung aufmerksam und riefen zu einem Null-Wachstum auf, um diese Vorgänge zu bremsen. Der Bericht erregte zwar Auf-sehen, wurde aber schnell als Katastrophenszenario abgetan. Ebenfalls 1972 formulierten Barbara Ward und der französische Mikrobiologe und Ökologe René Dubos in Only one Earth (Wie retten wir unsere Erde?), einem Bericht für die UNO Conference on the Human Environment, ein Konzept, das seither oft angewendet wurde: „Global denken, lokal handeln.“ Ernst Friedrich Schumacher gab dazu 1973 viele konkrete Beispiele in Small is Beautiful. Study of Economics as if People Mattered (Die Rückkehr zum menschlichen Maß. Alternativen für Wirtschaft und Technik).
POLITISCHE NACHHALTIGKEIT In den 1970er-Jahren beteiligten sich auch Ökonomen und Philosophen an der Diskussion darüber, was man damals noch nicht Nachhaltigkeit nannte. 1971 hatte es der rumänisch-amerikanische Mathematiker und Ökonom Nicholas Georgescu-Roegen in seiner Publikation The Entropy Law and the Economic Process zum ersten Mal gewagt, über eine Wachstumsrücknahme zu sprechen – eine Forderung, die im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts von dem französischen Ökonomen Serge Latouche wieder aufgenommen und vehement vertreten wurde.7 1973 wurde eine radikale Kritik des Kapitalismus von dem österreichisch-amerikanischen Philosophen, Theologen und Pädagogen Ivan Illich veröffentlicht. Die Hauptthese seines Buchs mit dem Titel Tools for Conviviality (Selbstbegrenzung. Eine politische Kritik der Technik) lautete: „Im fortgeschrittenen Stadium der Massenproduktion bewirkt eine Gesellschaft ihre eigene Zerstörung. Illich war es besonders wichtig, die Entwicklungsländer vor unseren Fehlern zu warnen: Vor allem liegt mir daran klarzumachen, dass zwei Drittel der Menschen noch die Chance haben, den Durchgang durch das industrielle Zeitalter zu vermeiden, wenn sie sich heute für eine auf ein postindustrielles Gleichgewicht begründete Produktionsweise entscheiden.“8 Das visionäre Manifest befasst sich mit Bildung, Politik und Verkehr auf der Suche nach einer Gesellschaft, die konvivial, also menschenfreundlich, sein soll. Der Mensch soll über die Maschine herrschen, nicht umgekehrt! Diese theoretisierte Fortsetzung von Huxleys Brave New World und Chaplins Modern Times unterstreicht die entscheidende Rolle von Kunst und Kultur in der Wende zu einer nachhaltigen Gesellschaft. 1979 veröffentlichte dann Hans Jonas, ein deutschamerikanischer Philosoph, sein Hauptwerk Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation. Darin unterstrich er den kartesianischen Anthropozentrismus sowie den daraus folgenden Materialismus und machte sich Gedanken über die willkürliche Macht, welche die Technikwissenschaft dem Menschen verleiht. Darüber hinaus analysierte er die Auswirkungen menschlichen Handelns auf Gesellschaft und Umwelt, die Störung eines jahrtausendealten Gleichgewichts durch die Industrialisierung und die sich hieraus ergebende Verantwortung. Alle diese Bücher trugen dazu bei, dass in den vergangenen 30 Jahren viele Menschen ihr Verhalten im täglichen wie im beruflichen Leben nachhaltiger gestalteten.
DIE PRÄMISSEN DES ÖKOLOGISCHEN BAUENS Ab den 1950er-Jahren beschäftigten sich immer mehr Architekten, besonders im Südwesten der Vereinigten Staaten, mit ökologischem Bauen. Paolo Soleri (geb. 1919), italienischer Besitzer einer Keramikfabrik, baute 1951 in der Wüste von Arizona das Earth House, das zur Kernzelle von Arcosanti, seiner „konkretisierten Utopie“,
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wurde. Bis 1991 entwickelte der Schüler von Frank Lloyd Wright diese „Stadt der Zukunft“ wie ein „menschliches Ökosystem“. Heute leben dort ungefähr ca. 80 Einwohner, die ihre Nahrung selber produzieren. Die Sea Ranch, eine Ferienanlage an der Pazifikküste, 150 Kilometer nördlich von San Francisco gelegen, wurde für viele europäische Architekten zum Beispiel des modernen Holzbaus. Charles Moore (1925–1993) baute dort 1965 das Condominium One, die erste von vielen Ferienanlagen, die der gleichen Philosophie folgten: Anpassung an die unberührte Landschaft, organische Formen, Verwendung von Roter Zeder für die Wandbeplankung und Dachschindelung. Kalifornien wurde um diese Zeit auch zum Mekka für Solararchitektur. Das von David Wright 1978 veröffentlichte Buch Natural 03 Condominium One, Sea Ranch, Kalifornien (USA), Solar Architecture. A Passive Primer über passives SolarCharles Moore, 1965 design, das in viele Sprachen übersetzt wurde, gilt immer noch als Klassiker. 04 Domaine de la Terre, Villefontaine (Frankreich), Françoise-Hélène Jourda und Gilles Perraudin, Lehmbau: Laboratoire CRATerre, 1985
Prägend für diese Entwicklung war die Arbeit des österreichisch-englischen Mathematikers und Architekten Christopher Alexander, der 1967 das Center for
Environmental Structure an der Universität Berkeley gegründet hatte. Wie die Wege von Illich, Jonas und Georgescu-Roegen führten auch die Alexanders von Europa nach Amerika, und er beherrschte wie diese mehrere Wissensgebiete als Voraussetzung für seinen holistischen Ansatz. Sein 1977 erschienenes und mit mehreren Koautoren verfasstes Meisterwerk A Pattern Language. Towns, Buildings, Construction (Eine Muster-Sprache. Städte, Gebäude, Konstruktion) ist der zweite Band einer mehrere Tausend Seiten umfassenden Trilogie, an der ein sechsköpfiges Forschungsteam acht Jahre lang gearbeitet hatte. Die Muster-Sprache ist zunächst eine Planungshilfe, wobei die 253 Grundmuster Ausdruck einer gemeinsamen Kultursprache darstellen. Zu jedem der untersuchten Muster – von unabhängige Regionen über Kinder in der Stadt bis zu effiziente Strukturen – legen die Verfasser eine Erörterung des Problems vor, die anschließend diskutiert und anhand von Beispielen erläutert wird. Obwohl das Werk und dessen Abbildungen heute etwas altmodisch wirken, lohnt sich die Auseinandersetzung mit Alexanders Pattern Language. Es könnte als erster Versuch gewertet werden, die Komplexität von nachhaltiger Architektur und nachhaltigem Städtebau sowie ihre ökologischen, ökonomischen und soziokulturellen Verstrickungen zu verstehen – und wenn möglich zu bewältigen.
EUROPÄISCHE EXPERIMENTE Europa wurde erstmals für das Thema sensibilisiert, als die zwei Ölkrisen von 1973 und 1979 der Bevölkerung plötzlich zeigten, dass Energie ein knappes und teures Gut ist. In der Folge entstand ein großes Interesse an solarem Bauen, bioklimatischen Häusern sowie an der Verwendung von Lehm und Holz. Dabei leistete Frankreich Pionierarbeit mit dem Bau von drei experimentellen Siedlungen, die Besucher aus den ganzen Welt anzogen: der Village solaire in Nandy, einem Pariser Vorort; der Villabois, einer Gruppe von 117 Doppel- oder Reihenhäusern, die anlässlich der ersten internationalen Holzbaumesse Batibois in Bordeaux 1984 eröffnet wurde, und der Domaine de la terre in Villefontaine bei Lyon, die ein Jahr später fertig wurde. In dieser Sozialwohnbausiedlung von 65 Einheiten in Einfamilienhäusern oder kleinen Mehrfamilienhäusern leben 300 Menschen behaglich zwischen Wänden aus Stampflehm, Adobe- oder gepressten Lehmziegeln. Betreut wurde dieser Bau von dem 1979 an der Architekturschule von Grenoble gegründeten Laboratoire CRATerre. Dessen engagiertes Team holte den Lehmbau aus seinem Schattendasein: durch konsequente und tief gehende Analyse traditioneller Bauten aus allen Kontinenten sowie durch wissenschaftliche Studien über die physischen Eigenschaften der „Körner“, die das Material bilden. CRATerre wurde zum UNESCO-Lehrstuhl für Lehmkonstruktion, und viele Architekten, die heute aus Erde und Sand auf der ganzen Welt bauen, haben dort das Alphabet des Lehmbaus gelernt. Die Entscheidung Frankreichs für die Kernenergie als Hauptstromquelle, die die Autonomie des Landes garantieren sollte, bedeutete nicht nur das Ende der
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Experimente mit erneuerbaren Energien, sondern auch der Bestrebungen um energieeffizientes Bauen sowie der Verwendung von Materialien, die wenig Graue Energie benötigen. Fast alle Forschungsgelder flossen in Richtung Atomenergie, und der – nur scheinbar und kurzfristig – preiswerte Strom führte zu vielen Fehlentscheidungen, die heute schwer wieder gutzumachen sind.
DEUTSCHE PIONIERE Die deutschen Pioniere findet man im Süden: Thomas Herzog (geb. 1941) in Bayern, Peter Hübner (geb. 1938), Joachim Epple sowie Günter Behnisch (1952–2010) und später seinen Sohn Stefan in Baden-Württemberg. Thomas Herzog, lange Zeit Professor an der TU München, gilt als einer der Begründer der bioklimatischen Architektur. Die Philosophie des 1972 eröffneten Büros ist die Weiterentwicklung und Kultivierung der Moderne: „So gilt es, gleichermaßen soziale Verantwortung wahrzunehmen und aktiv am wissenschaftlichen und technologischen Forschritt mitzuwirken wie umwelt-relevante Aspekte – speziell die Nutzungsmöglichkeiten von Solarenergie – auf vielfache Weise in die Arbeit zu integrieren.“9 Das im Schnitt dreieckige Einfamilienhaus mit vorgelagertem Glashaus, das er 1979 in Regensburg errichtete, war ein Prototyp, der Schule machte. Die Pfosten-Riegel-Konstruktion aus Brettschichtholz wurde mit dem Holzingenieur Julius Natterer konzipiert. Das gleiche Team hat das beeindruckende EXPO-Dach gebaut, eine Großdachkonstruktion mit Pavillons für die Weltausstellung 2000 in Hannover. Peter Hübner, der ebenfalls lehrende und praktische Tätigkeiten verband, hat das Bauen als sozialen Prozess gesehen.10 Ab 1982 hat er im Stuttgarter Raum, in Wangen, Herrenberg, Feuerbach, eine Reihe von Bauten für die Jugend mit Nutzerbeteiligung entworfen und errichtet. Das Jugendhaus in Stammheim hat die Form eines Dinosauriers, das in Möglingen erinnert an ein UFO. Das Hauptmaterial ist immer Holz, oft mit Backstein kombiniert. Mehrere Schulen entstanden auch in einem partizipativen Prozess, darunter einige für Steiner-Pädagogik, sowie ein Kindergarten aus vielen kleinen Holzhäuschen für die Stadt Stuttgart und eine Kirche, an deren Bau, wie oft, seine Studenten der Universität Stuttgart beteiligt waren. Anlässlich der Internationalen Bauausstellung Emscher Park konzipierten Peter Hübner und sein Büro plus+ relativ preiswerte Reihenhausanlagen, eine in Lünen, die andere in Gelsenkirchen. Das Baukastensystem aus Holzrahmen auf einer Betonplatte war zum Eigenbau durch die Bewohner gedacht. Das Stuttgarter Büro Behnisch & Partner entwickelt seit 1952 eine zeitgenössische Architektur, die immer frei von Moden, Strömungen und vorgefassten Ideen bleibt. Ihre farbenfrohen Bauten, die den Nutzern viel Verständnis entgegenbringen, strahlen Frische und Heiterkeit aus. Ob Schulen, Büros, Altenheime oder ein Prestigebau wie das Bonner Parlament: Die Werke sind in ihrer Gesamtheit von innen nach außen ent-
worfen, in Einklang mit der Umgebung. Die grundlegenden Prinzipien von Günter Behnisch spiegeln sich in seinen Bauten wider: Respekt gegenüber Mensch und Natur, Anpassung an die individuellen Bedürfnisse der Nutzer, Demokratisierung der Konzeption, Infragestellung des „Apparats“, Vielfältigkeit in der Einheit.11 Die sozialen Ziele seines Vaters ergänzte Stefan Behnisch ab den 1990er-Jahren mit ökologischen Maßnahmen, welche oft in enger Zusammenarbeit mit dem Ingenieurbüro Transsolar entwickelt wurden. Das 1998 fertiggestellte Forschungsinstitut in Wageningen war einer der erster Bauten in Europa, bei dem energetische Strategien und Materialwahl konsequent unter die Lupe genommen wurden. Damit gewann das Büro eine internationale Dimension. James Steele12 und Peter Blundell Jones13, zwei angelsächsische Architekturkritiker, die sich seit Langem mit ökologischer Architektur befassten, haben die wichtigen Impulse von Behnisch & Partner, jetzt Behnisch Architekten, unterstrichen.
ÖKONOMISCHE UND ÖKOLOGISCHE NACHHALTIGKEIT Nach der Gründung des Rocky Mountains Institute 1982 in Colorado erfuhren die alternativen Energiestrategien des Umweltaktivisten Amory B. Lovins und seiner Frau L. Hunter Lovins mehr Aufmerksamkeit. Berühmt wurden sie nach dem Erscheinen von Faktor vier, einem Buch, das sie 1995 zusammen mit dem deutschen Wissenschaftler und Politiker Ernst-Ulrich von Weizsäcker, dem Begründer des Wuppertaler Instituts für Klima, Umwelt, Energie, verfasst hatten. Was ist mit „Faktor vier“ gemeint? Es geht um die Vervierfachung der Ressourcenproduktivität, also um doppelten Wohlstand mit halbiertem Naturverbrauch. In diesem neuen Bericht an den Club of Rome gaben sich die Autoren nicht mit einem Lagebericht wie in Die Grenzen des Wachstums zufrieden. Sie boten 50 konkrete Lösungsvorschläge aus allen Wirtschaftssektoren, unter denen sich viele aus der Baubranche befanden: Das Passivhaus-Konzept von Wolfgang Feist zum Beispiel ist darin beschrieben. Kurz danach kam ein Buch heraus, das mithilfe des Begriffs Ökologischer Fußabdruck plötzlich den Ressourcenverbrauch – wenn auch nur approximativ – für jedermann konkret veranschaulichte. Die Verfasser waren zwei Ökonomen: der Schweizer Mathis Wackernagel und der Kanadier William Rees.14 Sie schätzten, dass 1,8 global hektar (gha) pro Weltbürger zur Verfügung stehen, und beschrieben, wie die Menschheit in den 1980er-Jahren die Biokapazitätsschwelle der Erde überschritten hat. Seitdem hat sich die Situation Jahr für Jahr verschlimmert. Dieses Konzept übernahm der WWF, der alle zwei Jahre die aktualisierten Daten je nach Standort in seinem Living Planet Report15 veröffentlicht. Im Bericht von 2008 lag der Ökologische Fußabdruck bei 9,5 gha (also mehr als fünf Mal so viel) in den Vereinigten Staaten, bei 4,8 gha in der Europäischen Union, bei 1,3 gha in Asien und Ozeanien und bei 1,1 gha in Afrika. Global gesehen, verwenden wir
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zurzeit jährlich 50 Prozent mehr erneuerbare Ressourcen, als sie der Planet nachhaltig zur Verfügung stellen kann.
DAS NACHHALTIGE MODELL VORARLBERGS Nachhaltige Architektur darf sich nicht allein an ökologischen und ökonomischen Aspekten orientieren, sondern muss ebenso soziale und auch kulturelle Faktoren berücksichtigen. Der Gewinn für die Gesellschaft kann am Beispiel Vorarlbergs16 beobachtet werden. Dieses kleine, lange Zeit arme und heute wirtschaftlich erfolgreiche österreichische Bundesland hat das größte Sozialkapital17 Europas und ist die nachhaltigste Region der Union. Vorarlberg produziert so viel Strom, wie das Land benötigt. Einige Kommunen sind dank der Verknüpfung von Wasserkraft, Sonnenkollektoren, Erdwärme und Biomasse energieautark. Das öffentliche Verkehrsnetz ist bis in die kleinsten Bergdörfer ausgebaut. Die Lebensmittelläden verkaufen „Ländleprodukte“ von den vielen lokalen Biobauern, und die Handwerker, welche die Barockkirchen und -klöster rund um den Bodensee errichtet haben, sind schon seit dem 18. Jahrhundert für die Qualität ihrer Arbeit berühmt. Die dort produzierten Baukomponenten wie Holzwerkstoffe, Lüftungsgeräte und Stahlbeschläge werden international geschätzt. Schrittmacher dieser konsequenten und deswegen erfolgreichen Wandlung des Landes in Richtung Nachhaltigkeit wurde dank der Bewegung der Vorarlberger Baukünstler in den 1980er-Jahren die Architektur. Die Region zieht Jahr für Jahr mehr als 10 000 Ak-
05 Olympiastadion München (Deutschland), Behnisch & Partner mit Frei Otto, 1972
06 Dienstleistungszentrum für die LBBW Am Bollwerk, Stuttgart (Deutschland), Behnisch & Partner, 1996
teure des Bauens aus der ganzen Welt an. Sie besuchen in Klaus die erste Passivhausschule Österreichs, geplant vom Büro Dietrich Untertrifaller Architekten. Sie staunen über die Faktor-10-Renovierungen von Helmut Kuess, der soziale Wohnbauten unter die Grenze von 15 kWh/m 2a beim Jahres-Heizwärmebedarf bringt. Oft bewundert wird auch das Gemeindezentrum von Ludesch, ein Meisterwerk von Hermann Kaufmann. Dieses energietechnisch ausgeklügelte, mit 350 m² Fotovoltaikmodulen fast stromautarke Haus wurde unter anderem mit 221 m³ einheimischer Weißtanne und 5,6 t Schafwolle gebaut und enthält nur die Hälfte der Grauen Energie eines vergleichbaren Gebäudes (weniger als 18 kWh/m 2). Worin liegt das Erfolgsrezept? Die Durchsetzung einer partizipativen Demokratie, große Transparenz im politischen Leben sowie der Mut der ansässigen Volksvertreter auf lokaler und regionaler Ebene gehören zu den wichtigsten Gründen. Doch neben historischen, ökonomischen und soziokulturellen Faktoren trägt auch die Einstellung der dortigen Architekten zum Erfolg bei. Obwohl ihre Bauten weltweit bekannt sind, pflegen sie keine Starallüren. Sie sehen sich vordergründig als Dienstleister und sind um die Bedürfnisse und Wünsche ihrer Bauherren besorgt. Sie praktizieren seit Langem eine integrale Planung, die Ingenieuren ab den ersten Zeichnungen einen Platz einräumt, und arbeiten Hand in Hand mit den Handwerkern. Zwischen ihnen herrscht kein Konkurrenzkampf, sondern ein Wetteifern, und sie lassen alle von ihren positiven wie auch negativen Erfahrungen wissen. Dieses Feedback, das unter anderem durch die Kommunikationsarbeit der dortigen Architektur- und Energieinstitute verbreitet wird, erklärt die
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schnellen, entschiedenen Schritte, die Vorarlberg seit ein paar Jahrzehnten in Richtung Nachhaltigkeit macht. Gemeinsam haben dort alle Akteure des Bauens die für ihren regionalen Kontext richtige Balance zwischen Lowtech und Hightech, Tradition und Innovation gefunden. Zwei der in dieser Publikation vorgestellten Bauten wurden in Vorarlberg bzw. von Vorarlberger Architekten errichtet: das Haus Rauch in Schlins und das Sunlighthouse bei Wien.
SMALL SCALE, BIG CHANGE Aufgrund der klimatischen Bedingungen und der hohen Komfortanforderungen seiner Einwohner im Sommer wie im Winter hat sich Europa überwiegend auf die Energie konzentriert: das Passivhaus in Deutschland und Österreich, MINERGIE® in der Schweiz. Andere wichtige Faktoren sind jedoch auch zu berücksichtigen. In einer globalisierten Welt, die sich, dem Druck internationaler Konzerne folgend, an der Nutzung von Beton, Stahl und Hochtechnologie orientiert, sollte insbesondere die Materialwahl kritisch betrachtet werden. Eine neue Generation von Architekten versucht, mit der Verwendung lokaler, erneuerbarer, recycelbarer Baustoffe und der Weiterentwicklung ansässiger Traditionen einen anderen Weg zu gehen. Diese jungen Kollegen, die ihr Ego beiseitelegen, finden ihre Verwirklichung unter dem Motto More with less. Sie betonen die Echtheit und die Schönheit der ländlichen Architektur und zeigen die negativen Seiten der Verwendung von Baumaterialien und -techniken aus Industrieländern auf: den hohen Anteil an Grauer Energie für Herstellung und Transport,
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die fehlende Eignung von Betonsteinen für warmes Klima, den Verlust an Identität. Die Vertreter dieser Nouvelle Vague werden seit ein paar Jahren durch Nominierungen für den Aga Khan Award oder den Global Award for Sustainable Architecture18 bekannt und durch die LOCUS-Foundation19 unterstützt. Sie finden ihren Platz in Ausstellungen bedeutender Architekturgalerien und -museen der Welt. Das Museum of Modern Art in New York präsentierte 2010 diese neue Architektur mit sozialem Engagement in der Ausstellung Small Scale, Big Change20.
LOWTECH ODER HIGHTECH? Zu diesen jungen Architekten, die mehr Nachhaltigkeit und Humanität in die gebaute Umwelt einbringen wollen, gehören die Deutsche Anna Heringer, die Chinesen Wang Shu und Li Xiaodong sowie Francis Kéré aus Burkina Faso. Sie sind in diesem Buch vertreten durch das 20K House des Amerikaners Andrew Frear (Rural Studio) und der Quinta Monroy des Chilenen Alejandro Aravena (ELEMENTAL). Die meisten von ihnen sind in zwei Kulturen zu Hause: Einige kommen aus südlichen Ländern und haben im Westen studiert; andere wurden in Europa oder Amerika geboren, haben jedoch lange Zeit im Süden gelebt. Wie die Vordenker der 1970er-Jahre verstehen sich alle als „Weltbürger“ – offen für das andere, seien es Menschen oder Kulturen.
07 Hauptschule Klaus, Vorarlberg (Österreich), Dietrich Untertrifaller Architekten, 2003
Ob mit Lehm, Holz, Beton oder recycelten Materialien gebaut, die Werke dieser verantwortungsvollen jungen Architekten erfüllen nicht nur ökologische und ökonomische Kriterien, sondern auch hohe soziale und
08 Gemeindezentrum Ludesch, Vorarlberg (Österreich), Hermann Kaufmann, 2005
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künstlerische Ansprüche. Sie bauen nicht nur für das, sondern ebenso oft mit dem Volk in einem Eigenbauprozess, der Tagelöhnern neue Kompetenzen verleiht und mitarbeitenden Frauen und Kindern Selbstwertgefühl schenkt. Architektonische Intelligenz, Bescheidenheit und Empathie sind dabei oft vereint. Die Schönheit dieser außergewöhnlichen Bauten liegt auch in der ihrem Kontext angemessenen Balance zwischen Lowtech und Hightech. Einheimische Materialien wie Lehm und Bambus werden häufig durch den gezielten Einsatz moderner Technologien aufgewertet, die zum Teil vorher in europäischen Labors getestet wurden. So entsteht ein sinnvoller Know-how-Transfer, der allen Beteiligten eine Win-Win-Situation bietet.
KARTESISCHES VERSUS HOLISTISCHES DENKEN Der kartesische Ansatz, der die westliche Kultur seit fast vier Jahrhunderten prägt, stützt sich auf eine rationale Analyse der Fakten und ein lineares, separierendes Denken. Um die Probleme unserer Zeit zu bewältigen, sind jedoch mehr Bescheidenheit, mehr Offenheit und auch mehr Empathie vonnöten! Eine holistische Weltanschauung ist der Natur stark verbunden und lässt dem intuitiven Denken freie Bahn – abgeleitet von dem Satz von Aristoteles: „Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile.“ Sie wurde auch von Johann Wolfgang von Goethe vertreten, der gleichzeitig ein großer
Dichter und Forscher war und sich wissenschaftlichen Phänomenen mit Leidenschaft widmete. Die Zukunft unserer Welt sehen immer mehr Menschen in dieser interdisziplinären, integrativen und offenen Handlungsweise, die in allen Bereichen zu finden ist, wo nachhaltiges Denken und Handeln erforderlich sind: in der Pädagogik, in der Medizin – wo Körper, Geist und Seele sich nicht trennen lassen – und in der Landwirtschaft, wo man ressourcen-, natur- und gesundheitsschonende Nahrungsmittel produzieren sollte. Diesen holistischen Ansatz haben sich auch Architekten und Stadtplaner angeeignet. Die „organische“ Architektur von Frank Lloyd Wright beruht auf einem Ideal, dessen Lehre für ihn so „notwendig ist, wenn wir das Leben als Ganzes sehen und ihm in seiner Gesamtheit dienen wollen“. 21 Die integrale Planung, die sich in der angelsächsischen Welt seit ein paar Jahren verbreitet, ist die methodische Übertragung einer zu Beginn eher philosophischen Vorgehensweise. Es geht um die Zusammenlegung von Wissen und die Vernetzung von immer zahlreicher werdenden Teilbereichen. Dabei werden von Architekten, Städte- und Landschaftsplanern sowie Ingenieuren aller Disziplinen nicht nur technische Kompetenzen verlangt. Sie sollten darüber hinaus auch die Bereitschaft zeigen, als Fachteam eng und konstruktiv zusammenzuarbeiten, Impulse von Soziologen oder Ökonomen einzubeziehen und natürlich auf Bedürfnisse und Wünsche von Bauherren und Nutzern einzugehen.
09 Sandgrubenweg, Bregenz (Österreich), Wolfgang Ritsch, 2007
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DER SCHLÜSSEL ZU EINEM PARADIGMENWECHSEL Der holistische Prozess bietet uns die Chance, komplexer werdende Aufgaben zu bewältigen. Dafür brauchen wir mehr denn je beide Hälften unseres Gehirns, um in einer neuen Welt anders zu denken. Die kreative und empathische rechte Hälfte soll dabei die analytische linke ergänzen. Albert Einstein hatte uns schon gewarnt: „Man kann ein Problem nicht mit den gleichen Denkstrukturen lösen, die zu seiner Entstehung beigetragen haben.“ Der nötige Paradigmenwechsel, der zu einer nachhaltigen Gesellschaft führen wird, erfordert eine enge Zusammenarbeit zwischen Individuen, Institutionen und Unternehmen. Angesichts der zahlreichen Probleme, die wir in kürzester Zeit zu bewältigen haben, müssen schlüssige
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Beispiele und Know-how verbreitet werden, sowohl innerhalb der Industrieländer, weil es dort noch große Unterschiede gibt, als auch in Richtung Süden. Dabei liegt es in unserer Verantwortung, zu vermeiden, dass die Entwicklungsländer unsere Fehler reproduzieren. Die Verantwortung fängt damit an, dass wir die Fehler eingestehen, dass wir versuchen, sie wiedergutzumachen – sofern dies überhaupt möglich ist –, und konsequent und vorbildlich einen anderen Weg gehen. Heute stehen nicht nur aus-geklügelte Technologien, sondern auch viele Kenntnisse über eine moderne Verwendung traditioneller, lokal beziehbarer, erneuerbarer Baustoffe zur Verfügung. Es fehlt nur der Wille, herkömmliche verschwenderische Praktiken infrage zu stellen und neue, nachhaltigere konsequent durchzusetzen. Das Wesentliche liegt im Menschlichen, nicht im Technischen.
FUSSNOTEN KAPITEL 2.1 1 Genesis 1 – 28: Füllt die Erde und macht sie euch untertan und herrscht über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über alles Getier, das auf Erden kriecht. 2 René Descartes: Discours de la méthode pour bien conduire sa raison et cherecher la verité dans le sciences, Leiden, 1637. 3 Henry David Thoreau: Walden; or, Life in the Woods, Boston, 1854. 4 Theodor Roosevelt: Seventh Annual Message to Congress; December 3, 1907, www.academicamerican.com/progressive/docs/TRonConserv.htm (Stand: 01.05.2011). 5 Hassan Fathy: Gourna; a tale of two villages, Kairo 1969. 6 Donella H. Meadwos, Dennis I. Meadows, Jorgen Randers, William W. Behrens III.: The Limits to Growth; A Report to the Club of Rome, www.clubofrome.org/?cat=45 (Zugriff: 01.05.2011). 7 Serge Latouche: Survivre au Développement. Paris, 2004, sowie Petit Traité de la décroissance sereine, Paris, 2008. 8 Ivan Illich: Selbstbegrenzung. Eine politische Kritik der Technik, Reinbek bei Hamburg 1974. 9 Thomas Herzog: Firmenphilosophie, www.herzog-und-partner.de (Stand: 01.05.2011). 10 Peter Blundell-Jones: Peter Hübner. Bauen als ein sozialer Prozess, Stuttgart/London, 2007. 11 Dominique Gauzin-Müller: Behnisch & Partner. 50 Jahre Architektur, New York, 1997, Berlin 2007. 12 James Steele: Ecological Architecture. A Critical History, London 2005. 13 Peter Blundell-Jones: Günter Behnisch, Basel/Boston/Berlin 2000. 14 Mathis Wackernagel und William Rees: Our Ecological Footprint. Reducing Human Impact on the Earth, Gabriola Island, BC, Philadelphia, PA 1996 (Unser ökologischer Fußabdruck. Wie der Mensch Einfluß auf die Umwelt nimmt, Basel 1997). 15 Chris Hails: Living Planet Report 2008, wwf.panda.org/about_our_earth/all_publications/living_planet_report/, (Stand: 01.05.2011). 16 Dominique Gauzin-Müller: Ökologische Architektur in Vorarlberg. Ein soziales, ökonomisches und kulturelles Modell, Berlin/Heidelberg 2011. 17 Edwin Berndt: Sozialkapital. Gesellschaft und Gemeinsinn in Vorarlberg, Kurzfassung einer Studie im Auftrag des Büros für Zukunftsfragen, Land Vorarlberg 2003. 18 LOCUS-Foundation, Paris, www.global-award.org (Stand: 01.05.2011). 19 LOCUS-Foundation, Paris, www.locus-foundation.org (Stand: 01.05.2011). 20 Andres Lepik: Small Scale, Big Change, New York, 2010. 21 Frank Lloyd Wright: An Organic Architecture. The Architecture of Democracy, Cambridge, MA, 1970.
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NACHHALTIG ENTWERFEN. EIN STATEMENT BOB GYSIN
ENTWERFEN „Entwerfen ist ein innovativer, kreativer und in der Regel heuristischer Gestaltungs- bzw. Suchvorgang, bei dem unter vorgegebenen Zielsetzungen, Randbedingungen und Kriterien eine bislang noch nicht bekannte Organisation von Objekten, Sachverhalten o.Ä. hergestellt wird.“ – so die Definition des Internetlexikons Wikipedia.1 Architektonisches Entwerfen ist folglich ein komplexer Prozess, der bestimmte Voraussetzungen erfordert: ein fundiertes architektonisch-konstruktives Grundwissen, analytisches Denken und gestalterische Fähigkeiten. Die wichtigsten Parameter stellen Ort und Landschaft dar, der städtebauliche Kontext, funktionale Vorgaben sowie die gegebenen konstruktiven Möglichkeiten. Es geht um das Erdenken und Erfinden von Formen und Inhalten in einem bestimmten Zusammenhang. Entwerfen ist nie Schöpfung aus dem Nichts. Entwerfen ist auch nicht der Bruch mit der Vergangenheit und nie ein absoluter Neuanfang.
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gen des Meeresspiegels um 2 m und mehr. Für die Erderwärmung ist CO2 der Hauptverursacher. Aber Treibhausgase kann man in der Regel weder sehen noch riechen, sie manifestieren sich nur langsam und sind für uns kaum direkt erkennbar. Die meisten Baufachleute, aber auch interessierte Laien wissen, dass 30 bis 40 Prozent aller CO2-Emissionen beim Bauen erzeugt werden. Bekannt ist auch, dass Bau und Betrieb von Gebäuden weltweit ca. 40 bis 50 Prozent des Gesamtenergieverbrauchs ausmachen und hier ein immenses Sparpotenzial besteht. Warum verändern sich unsere Handlungsweisen so zähflüssig? Ist das menschliche Bewusstsein doch nicht so hoch entwickelt, wie wir glauben oder hoffen? Bei aller Technikgläubigkeit unserer Zeit kann man doch nicht guten Gewissens behaupten, alles im Griff zu haben und zu behalten! Wäre es nicht opportun, unser individuelles, aber auch unser gesellschaftspolitisches Verhalten zu analysieren und entsprechend anzupassen – kombiniert mit der Implementierung neuester Forschung und Technik? Warum handeln wir also nicht bewusster und effizienter? Sehen die Menschen eher das, was sie verlieren, als das, was sie gewinnen können?2 Spielt uns der ungebrochene Glaube an das anhaltende (Wirtschafts-)Wachstum einen bösen Streich? Das alles sind einfache Fragen, die aber keine einfachen Antworten zulassen.
Ob die Menschheit eine lebenswerte Zukunft hat, wird sich an Themen wie Klimaerwärmung, demografischer Wandel, Globalisierung und den Möglichkeiten, Megastädte neu zu organisieren, entscheiden. Zu Beginn dieses Jahrtausends sind die Zusammenhänge zwischen unserem menschlichen Handeln und den be- NACHHALTIGES ENTWERFEN stehenden Umweltproblemen sichtbar geworden. Erstmals registrieren wir, dass hier Kausalität besteht. „Entwicklung zukunftsfähig zu machen heißt, dass die Mit dem Übergang vom fossilen ins postfossile Zeit- gegenwärtige Generation ihre Bedürfnisse befriedigt, alter werden aufgrund des Klimawandels Migrationen ohne die Fähigkeit der zukünftigen Generationen zu größeren Ausmaßes und damit soziale Unruhen mit gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse befriedigen zu können.“ – so heißt es im Brundtland-Bericht der UNO weitreichenden politischen Folgen entstehen. von 1987. 3 Wir verstehen Nachhaltigkeit heute im Sinn Die Komplexität des Klimawandels ist groß, die Folgen eines Dreisäulenmodells, das ökologische, ökonosind noch nicht in absoluten Zahlen zu beziffern, son- mische und soziale Anforderungen an ein Projekt ins dern nur abzuschätzen. Wissenschaftler sprechen von Gleichgewicht bringt. Architektur ist durchaus in der einer möglichen globalen Erderwärmung bis zum Jahr Lage, Konzepte zu entwickeln, die allen diesen Anfor2050 um weit über 2 °C und einem möglichen Anstei- derungen entsprechen.
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Doch Nachhaltigkeit zu messen und zu bewerten ist ein äußerst komplexer Vorgang, und Fachleute auf der ganzen Welt beschäftigen sich im Rahmen der Entwicklung von Nachhaltigkeitslabels für Gebäude mit dieser Materie. Nachhaltiges Entwerfen setzt als geistige und schöpferische Leistung ein kritisches Bewusstsein des Entwerfenden für die Gesellschaft und die drängenden Probleme des Klimawandels und der Umweltzerstörung voraus. Der Entwerfende wird dann sehr rasch zu der Erkenntnis gelangen, dass ein Umdenken in der Architektur und vor allem beim Umund Neubauen notwendig ist.
NACHHALTIGE GEBÄUDE – NACHHALTIGE ARCHITEKTUR Was unterscheidet nachhaltige Gebäude von „normalen“ Gebäuden? Es könnte folgendermaßen argumentiert werden: Wenn Architektur etwas anderes ist als „bloßes Bauen“, das heißt, wenn sie über besondere gestalterische Qualitäten verfügt, technisch auf dem Stand des Wissens und der Zeit und sozial verträglich ist, dann ist Architektur nachhaltig. Es genügt keinesfalls, ein technisch optimales Bauwerk zu erstellen, wenn es nicht den ästhetischen, gestalterischen und gesellschaftlichen Anforderungen genügt. Architektur hat immer auch mit der kulturellen Identität einer Gesellschaft zu tun, ist gewissermaßen deren Spiegelbild. Nachhaltige Bauten beinhalten Aspekte der Architektur, die mit der Ethik unseres Schaffens eng verbunden sind.
NACHHALTIGE STÄDTE – NACHHALTIGE PLANUNG Ein nachhaltiges Modell der Stadt zu erfinden, das für alle Stadtbewohner unserer Erde eine hohe Lebensqualität gewährleistet und nicht nur für einige privilegierte westliche Städte geeignet ist, stellt eine enorme Herausforderung dar. Um sie zu bewältigen, ist nicht nur eine kompromisslose Haltung der Architekten und Städtebauer erforderlich, sondern auch eine konsequente Politik. Vor allem die Megastädte werden uns in den kommenden Jahrzehnten vor große Probleme
1400 Oil Consumption (Quads)
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B 60 C 0 BC 20 0 B 20 C 0 AD 60 0 A 10 D 00 A 14 D 00 A 18 D 00 A 22 D 00 A 26 D 00 A 30 D 00 A 34 D 00 A 38 D 00 AD
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01 Peak Oil – Endlichkeit der fossilen Energieträger
stellen. Die Ressourcenknappheit wird ökonomische, ökologische und gesellschaftliche Spannungen erzeugen. Wir werden uns vermehrt und intensiv damit beschäftigen müssen, wie wir mit unseren (europäischen) Agglomerationen oder „Zwischenstädten“ umgehen wollen. Selbst in der kleinen Schweiz fand jahrzehntelang ein Kulturlandverschleiß von über 1 m² pro Sekunde statt – mit den Folgenständig abnehmen-der Biodiversität, weitreichender Zersiedlung der Landschaft und eines stetig wachsenden Mobilitätsbedarfs. In kleineren Städten wie zum Beispiel Zürich haben Studien gezeigt, dass durch maßvolle Verdichtung auf dem gleichen Stadtperimeter ohne Weiteres 100 000 Menschen mehr leben könnten – ohne Einbußen an Lebensqualität. Auf der gleichen Fläche könnten also rund 25 Prozent mehr Menschen leben und arbeiten als heute. Diese Zahlen sind zwar für Zürich errechnet worden. Die Vermutung liegt aber nahe, dass sich diese Erkenntnisse auf viele europäische Städte übertragen lassen. Das bedeutet, dass wir nachhaltiges Wachstum in den nächsten Jahrzehnten vor allem durch sorgfältige und qualitative Verdichtung unserer Städte erreichen können. Aber was ist das Wesen der Stadt? Die Stadt ist ein lebendiger Körper, kompakt und dicht, offen und weit, mit Nischen und Winkeln, mit verschiedenen Graden an Öffentlichkeit und Privatheit und einem Nutzungsmix, der über den reinen Kommerz hinausgeht. Auf der Grundlage eines leistungsfähigen Verkehrssystems und der spezifischen Geografie entwickelt sich ein umfassendes Kulturangebot aus sich selbst heraus und verwebt dabei alte und neue Strukturen miteinander. Stadt kann nicht mit effizienten Planungsinstrumenten allein erzeugt werden. Menschen müssen die Stadt zu dem machen, was sie ist – lebendig.
NACHHALTIGKEIT ALS CHANCE In den vergangenen Jahren wurde das Feld des nachhaltigen Bauens zu wenig bestellt und blieb lange ohne größeren Erfolg. Vergangene Visionen und Utopien zu green cities waren nicht mehrheitsfähig. Doch Visionen sind immer Optionen für die Zukunft – und im besten Fall Auslöser für einen grundlegenden Wandel. Aber erst mit steigenden Energiepreisen, knapper werdenden fossilen Rohstoffquellen und dem allmählich sicht- und spürbaren Klimawandel mit seinen möglicherweise verheerenden Begleiterscheinungen änderte sich auch in der breiten Masse langsam das Bewusstsein hinsichtlich der Chancen einer nachhaltigen Entwicklung. Ist dies nicht die Gelegenheit für die Architekten, in den letzten Jahrzehnten verlorenes Terrain wieder gutzumachen? Derzeit jammern einige Architekten über den vermeintlichen Verlust an Gestaltungsfreiheit, anstatt die Rolle als Generalist und Gestalter wahrzunehmen. Nachhaltigkeit muss von der Architektenschaft als Beitrag zu guter
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02 Fossile Energieträger – und ihre Auswirkungen
Architektur verstanden werden, nicht als Hindernis! Natürlich ist es eine Illusion zu glauben, dass ein schneller Bewusstseinswandel herbeigeführt werden kann. Trotzdem sollten wir uns auf den hoffnungsvollen Weg machen, durch geschärftes Bewusstsein und verbesserte Zusammenarbeit zwischen Architekten, Ingenieuren, Ökologen, Ökonomen und der Bauindustrie einen kleinen, aber vielleicht entscheidenden Beitrag zur Lösung der Umweltprobleme zu leisten. Wir haben gar keine andere Wahl. Es stellt sich jedoch die drängende Frage, ob die technischen Möglichkeiten allein genügen und uns auf lange Sicht tatsächlich weiterbringen. Die Veränderung unseres Lebensstils wird über den Erfolg entscheiden – letztendlich müssen wir als Gesellschaft gemeinsam Verantwortung übernehmen.
ÜBERBLICK BEHALTEN Kann heute ein Architekt allein dafür verantwortlich sein, dass das, was er baut, nachhaltig ist? Es wird vermehrt reklamiert, der Architekt büße allmählich seine Kompetenzen ein, am Bauprozess seien zu viele Spezialisten beteiligt und niemand habe mehr den Gesamtüberblick. Ist die Forderung nach mehr Nachhaltigkeit beim Bauen verantwortlich für den Verlust des Überblicks? Es sind nicht primär diese Forderungen, die das Bauen komplex machen. Ein mindestens ebenso großer Anteil an der Komplexität liegt in der Natur der Sache selbst. Zu den gesetzlichen Vorschriften und immer höheren technischen Anforderungen an das erstellte Gebäude kommen häufig noch maximale Renditevorgaben der Investoren. Oft sind zusätzlich komplexe Geometrien involviert, die ein Gebäude unverwechselbar machen sollen – Architektur als Branding. Die Gefahr besteht tatsächlich, dass bei der Fokussierung auf einzelne Teilbereiche niemand mehr die Übersicht hat. Wenn der soziale Anspruch ernst genommen werden soll, dann gehören auch andere Akteure zum Prozess des Bauens: die Politik, die Verwaltung, die Auftragge-
ber, die Nutzer und die mitplanenden Spezialisten und Kollegen. Es ist das Verhältnis von Gesellschaft, Politik und Planenden und deren komplexes Zusammenspiel, das den Grad der Nachhaltigkeit im Bauwesen bestimmt. Wenn Kritiker vor allem die Überheblichkeit der Architektenschaft seit der Moderne bemängeln, so mag daran stimmen, dass manche Architekten sich überschätzen, wenn sie meinen, sie könnten alle Sparten dieses weiten Felds allein abdecken. Verbesserte Formen der Zusammenarbeit werden sich etablieren müssen.
INTERDISZIPLINARITÄT Architekten können nicht mehr alles leisten und längst nicht mehr jede Disziplin des Planens und Bauens abdecken. Zu den üblichen Spezialisten, wie Bauingenieuren und Haustechnikplanern, sind unter anderem Bauphysiker, Energiespezialisten, Fassadenbauer, Verkehrsspezialisten, Soziologen und Juristen hinzugekommen. Angesichts der vielen Spezialisten vergessen wir gerne einen, der vieles beeinflusst, nämlich den Bauherrn und dessen „Vertreter“. Sie sind für vieles verantwortlich, was den Unterschied zwischen Architektur und Bauen ausmacht. Freilich dürfen die Architekten keineswegs aus der Verantwortung entlassen werden. Als Generalisten müssen sie die Architektur, die konzeptionelle Verantwortung der Planung für das gesamte Bauwerk übernehmen. Dazu gehört ein breites Grundwissen. Leider ist vielen Berufskollegen das Wort „Nachhaltigkeit“ eher ein Dorn im Auge als eine Offenbarung, nachhaltiges Bauen mehr eine Behinderung als eine Chance. Denn zu den bestehenden Vorschriften kommen neue hinzu. Sie definieren, wie viel Energie verbraucht werden darf und wie diese zu nutzen ist. Aber wichtiger ist: Die größten Energieeinsparpotenziale bestehen im Bauen, und zwar durch innovative Projekte und nicht nur durch den Einsatz von Technik. Verbesserte Modelle für den Planungsprozess
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und die Koordination sowie stufengerechter Einsatz der Beteiligten sind gefordert. Damit können in großem Umfang Ressourcen geschont und Umweltbelastungen reduziert werden.
ARCHITEKTURKRITIK
Watt
Was kann die Fachpresse zum Verhältnis von Architektur und Nachhaltigkeit beitragen? Während in vielen europäischen Ländern schon in den 1950er-Jahren die Aufarbeitung der Moderne und eine kritische Auseinandersetzung mit ihr begann, wurden die produktiven Kräfte in Deutschland fast ausschließlich durch die Rekonstruktion der bürgerlichen Gesellschaft gebunden. Gefangen in diesem Prozess, konnte auf die wiedererwachende europäische Architekturdiskussion nicht anders als mit Aversion reagiert werden: Man lief Sturm gegen alles vermeintlich Avantgardistische. Erst später öffneten sich die deutschen Architekturzeitschriften und beteiligten sich an einem in die Zukunft gerichteten Diskurs, ohne freilich selber Trends setzen zu können.4 Die Krise des Mediums Zeitschrift seit der Jahrtausendwende hat diesen Umstand noch verschärft: An die Stelle des theoretischen Diskurses und der Debatte ist das Hochglanzbild getreten. Die Redaktionen haben die aktuellen Themen von Architektur und Nachhaltigkeit weitgehend vernachlässigt. Vielfach werden „Stararchitekten“ bejubelt und „Umweltschützer“ belächelt, es wird der Spekulation, oberflächlicher Betrachtung von Architektur und wundersamer Technik das Wort geredet – eine Haltung, die einer differenzierter denkenden Architektenschaft nicht eben dient, neue Lösungsansätze im Bauen zu verbreiten. Im Unterschied zur Information zeichnet sich Kritik durch Fachkompetenz und Sprachvermögen aus und verbindet anhand nachvollziehbarer Kriterien Beschreibung, Analyse und Bewertung. Eine zeitgenössische kritische Theorie der Architektur müsste zudem nicht nur die gesellschaftliche Totalität, sondern auch die ökologische Gesamtheit mit in ihre Bewertung des Bestehenden und des Möglichen einbeziehen.5
Kritik sollte also weniger einen neutralen theoretischen Inhalt repräsentieren, sondern vielmehr eine ethischpolitische Haltung verkörpern. Ein ethischer Aspekt zeitgenössischer Architekturkritik muss der Blick auf den Zustand der Welt und den Beitrag des kritisierten Objekts dazu sein. Denn gebaute Umwelt formt die Gesellschaft. Oder um es mit den Worten von Rem Koolhaas zu sagen: „Es ist die Aufgabe der Architektur, ein plausibles Verhältnis zwischen dem Formalen und dem Sozialen herzustellen.“6
DER ARCHITEKTURWETTBEWERB Schon seit geraumer Zeit kennen wir den Architekturwettbewerb als Instrument zur Steigerung der Qualität. Er dient aber nicht nur der Findung von qualitativ hochstehender Architektur, sondern vermindert auch die Gefahr von Vetternwirtschaft bei der Vergabe von Aufträgen. Zumindest in unseren Breitengraden ist der Architekturwettbewerb kaum mehr wegzudenken – er hat in vielen europäischen Staaten und sogar weltweit zur Verbesserung von Architektur und Städtebau geführt. Das Thema Nachhaltigkeit ist ein Bestandteil des Wettbewerbs. Wenn in einem Wettbewerb nachhaltige Gebäude gefordert werden, so ist es unabdingbar, dass die Parameter klar und unmissverständlich benannt werden und dann auch beurteilt werden können. Hier wird ein großer Nachholbedarf geortet. Noch zu oft enthalten die Wettbewerbsprogramme nicht die Forderung nach Nachhaltigkeit oder die Anforderungen sind ungenau verfasst und zu schwammig definiert. Abverlangtes wird nicht stufengerecht beschrieben, manchmal steigt der Aufwand für die Verfasser ins Unermessliche. Besonders gravierend jedoch ist, dass bei der Beurteilung sowohl Vorprüfer als auch Fachjuroren oftmals maßlos überfordert sind. Wenn Nachhaltigkeitsaspekte vorwiegend einzeln von Spezialisten geprüft und beurteilt werden, geht ein wesentlicher Faktor verloren: Ob ein Projekt insgesamt nach-
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Quelle: Novatlantis, ETH Zürich
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Wohnen und Arbeiten
Güter und Nahrung
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03 Schweiz – großes Potenzial bei Gebäuden
Strom
Auto
Flugreisen
Öffentlicher Verkehr
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