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German Pages [517] Year 2018
Jonas Traudes
MUSIZIER ENDE »W UNDERK INDER« Adoration und Observation in der Öffentlichkeit um
böhlau verlag wien köln weimar
Veröffentlicht mit freundlicher Unterstützung der Gerda Henkel Stiftung, Düsseldorf und der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein
Überarbeitete Fassung der 2016 an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg eingereichten Dissertation
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek : Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2018 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Lindenstraße 14, D-50674 Köln Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung : Thomson/Ross: »The Infant Lyra«, Lithographie in: The European Magazine, and London Review 87 (Mai 1825) © The British Library Board (P.P.5459.z.) Korrektorat : Sara Zarzutzki, Düsseldorf Einbandgestaltung : Satz + Layout Werkstatt Kluth, Erftstadt Satz : Michael Rauscher, Wien
Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-412-51223-1
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Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
. Der Mozart-Mythos. Eine Dekonstruktion . . . Zum Narrativ einer Musikerkindheit . . . . Kulturelle Praxis einer Musikerfamilie . . . . Virtuosität im Glanz des Außernatürlichen
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. Master Crotch, ein musikalisches Phænomenon . . . . . . . . . . . . Zwischen königlicher Patronage und Showbusiness . . . . . . . . Ein Naturwunder und die metaphysische Würde der Harmonie . Die Zeugenschaft der Royal Society . . . . . . . . . . . . . . . . Die wirkungslose Entzauberung durch den Sensualismus . . . .
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. Le jeune Larsonneur und die Stimme der Natur . . . . . . . Das kuriose Debüt eines Vorzeigeschülers . . . . . . . . Konzertreisen in Zeiten der Restauration . . . . . . . . Die ästhetische Utopie der französischen Violinschule . Physiognomie der Natürlichkeit . . . . . . . . . . . .
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. The Infant Lyra : Ikone der Unschuld . . . . . . . . . . . Prominenz einer Namenlosen . . . . . . . . . . . . Von himmlischen Sphären und häuslichen Engeln . Kindheit im Lichte ossianischer Nostalgie . . . . . . Die Vermessung des musikalischen Genies . . . .
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. Das unvermeidliche Ende des Frühgereiften ? . . . . . . . . . . . . . Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abbildungsnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
DA N K S AGU NG
Ohne Hilfe von verschiedenen Seiten wäre dieses Buch nicht zustande gekommen. Von ganzem Herzen möchte ich Prof. Dr. Melanie Unseld meinen Dank für die engagierte Betreuung meiner Dissertation aussprechen. Sie hatte immer ein offenes Ohr für meine Forschungsinteressen, hakte an den entscheidenden Stellen nach und ließ die Sache laufen, wenn ich auf dem richtigen Wege war – Dinge, die ich im Eifer des Gefechts nicht immer so klar gesehen habe. Daneben habe ich ausdrücklich auch Prof. Dr. Annette Kreutziger-Herr für die anfängliche Bestärkung und das Vertrauen in meine Herangehensweise zu danken. Bei Univ.-Prof. Dr. Federico Celestini bedanke ich mich für die Begutachtung der Dissertation und die Bereitschaft, dafür sogar eine Reise über die Alpen auf sich zu nehmen. Theresa Fabian und Dr. Malik Sharif bin ich sehr dankbar für die wichtigen Impulse zu einem Zeitpunkt, als dieses Buch noch nicht viel mehr war als eine fixe Idee, indem sie mich auf Denkfehler ebenso wie auf spannende Fragen aufmerksam gemacht haben. Dr. Anna Langenbruch danke ich für ihre umfassende Hilfestellung bei den Übersetzungen aus dem Französischen. Schließlich gilt mein Dank Carmen Belaschk, die mit einem Blick, dem kein Detail entgeht, das Manuskript gegengelesen hat. Während der Arbeit an der Dissertation konnte ich in hohem Maße von den fruchtbaren Diskussionen in den Doktorandenkolloquien sowie im Unabhängigen Forschungskolloquium für musikwissenschaftliche Geschlechterforschung (UFO) profitieren, deren Teilnehmerinnen und Teilnehmern sowie Gästen beziehungsweise externen Beraterinnen und Beratern ich hiermit ebenfalls danken möchte. Für die großzügige Förderung während der Promotion bedanke ich mich bei der Gerda Henkel Stiftung, die darüber hinaus, neben der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften, einen entscheidenden Anteil an den Druckkosten für das vorliegende Buch übernommen hat.
1. E I N L E I T U NG
Einen »Stapelplatz von Wunderkindern«¹ nannte Eduard Hanslick rückblickend das Wien der Wende zum . Jahrhundert. Der Eindruck war dem renommierten Musikkritiker und Universitätsprofessor wahrscheinlich von Zeitzeugen vermittelt worden. Schon hatte sich der Organist und Gelehrte Johann Nikolaus Forkel darüber beschwert, dass nun schon »jeder Stümper, und sogar Kinder«² öffentlich Konzerte gäben. Aus London wiederum vermeldete etwas später der vielgereiste Naturforscher Georg Forster »die im vorigen Jahre verschiedentlich wiederholte Schaustellung von musicalischen Kindern«³. Und schließlich soll auch Johann Wolfgang von Goethe in seinem Weimarer Salon, in welchem dem Dichter selbst schon so manche Kindervirtuosen vorgestellt worden waren, einmal fallengelassen haben, dass diese überhaupt »heutzutage keine so große Seltenheit mehr«⁴ seien. Diese vier historischen Persönlichkeiten standen nicht alleine da. Ihnen schlossen sich die zahllosen, meist aber anonym gebliebenen Stimmen der Journale, Magazine und Gazetten an, die aus den großen europäischen Städten regelmäßig von neuen solchen Fällen berichteten und im gleichen Atemzug häufig noch eine ganze Reihe weiterer Kinder anzuführen wussten, die die Bühne der Öffentlichkeit irgendwann einmal betreten hatten. Ob die Angelegenheit jeweils nur beiläufig oder eingehender Erwähnung fand, mit Neugierde oder Skepsis, aus ehrlicher Begeisterung oder tiefer Abscheu heraus betrachtet wurde, waren sich doch alle in einem Punkt einig : Wir leben in Zeiten der Wunderkinder ! Man mag solche Bemerkungen von Zeitgenossen, die einen Blick auf ihre eigene Zeit werfen, für Übertreibungen halten oder nicht. Ohne ihnen das Wort zu reden, zu widersprechen oder sonst voreilige Schlüsse ziehen zu müs Eduard Hanslick, Geschichte des Concertwesens in Wien, Bd. , Wien , S. . Johann Nicolaus Forkel, Genauere Bestimmung einiger musikalischer Begriffe. Zur Ankündigung des akademischen Winter-Concerts von Michaelis bis Ostern , Göttingen , S. . [Georg Forster], »Geschichte der Kunst in England«, in : Johann Wilhelm von Archenholtz, Annalen der Brittischen Geschichte des Jahrs , Bd. , Wien , S. . Der Aufsatz erschien außerdem in : Georg Forster, Ansichten vom Niederrhein, von Brabant, Flandern, Holland, England und Frankreich, im April, Mai und Junius , Bd. , Berlin , S. – (Anhang). Johann Christian Lobe, »Ein Quartett bei Goethe. Erinnerung aus Weimars großer Zeit«, in : Die Gartenlaube. Illustrirtes Familienblatt o. Jg./Nr. (), S. .
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sen, sollten wir sie kulturgeschichtlich dennoch ernst nehmen, da sie auf eine Präsenz im Bewusstsein hindeuten, die uns manchmal sogar mehr mitteilt als die zugehörigen Fakten, Daten und Zahlen. Das tatsächliche quantitative Ausmaß professioneller Kindervirtuosen und ihrer Auftritte ließe sich heute ohnehin nur noch schwerlich ermitteln, von einer erschöpfenden Identifizierung der vielen hundert Namen ganz zu schweigen. Gleichwohl hat sich diese Präsenz musizierender ›Wunderkinder‹ seit ungefähr der Mitte des . Jahrhunderts in vielfältiger Weise kulturell materialisiert und ist so auch heute noch nachzuvollziehen. Unübersehbar fand das Phänomen vor allem in der Presse seinen Niederschlag. Fast schon eine Ausnahme war es, wenn Nachrichtenspalten oder Korrespondenzberichte über die musikalischen Ereignisse einer Metropole nicht irgendein Konzert mit Beteiligten rekapitulierten, auf deren besonders junges Alter nachdrücklich hingewiesen wurde. Zum Teil erreichten Musikerinnen und Musiker bereits in der Kindheit einen Grad der Berühmtheit, der rechtfertigte, dass man ihnen in Zeitungen und Zeitschriften seitenlange Artikel widmete. Kindervirtuosen wurden mithin zu beliebten Gesprächsthemen und zu Produkten erfolgreicher Vermarktung. Doch nicht nur in periodischer Berichterstattung haben diese ihre Spuren hinterlassen. Einige verehrte man als Widmungsträger musikalischer Kompositionen oder Adressaten von Lobgedichten. Sie fanden sich als Motive auf Gemälden und Drucken wieder und wurden als literarische Figuren neu erschaffen. Man diskutierte sie als Probleme einer vernünftigen Erziehung und stellte Untersuchungen über sie an, in denen sie mal als aufschlussreiche Exemplare philosophischer Fragen, mal eher als pathologische Fälle der Medizin in Erscheinung traten. Abstrakter formuliert : Sie bewegten sich im Spannungsfeld zwischen öffentlicher Adoration und Observation. Egal welche Fähigkeiten ein Kind besaß, erst diese Außenperspektive machte es zu einem ›Wunderkind‹. Dass sich Prozesse der Huldigung, Verklärung und Idolisierung sowie solche der Beobachtung und Prüfung damals nicht unvereinbar gegenüberstanden, sondern auf vielfältige und komplexe Weise ineinander verflochten waren, wird sich an einigen Stellen dieses Buchs zeigen. Die Thematik ist der Musikhistoriographie nicht grundsätzlich unbekannt. Nur wurde bis dato versäumt, dieses reiche Quellenmaterial angemessen zu berücksichtigen und interpretativ einzuordnen. Wie ein Blick in einschlägige Fachbibliographien deutlich macht, wird die bisherige wissenschaftliche Auseinandersetzung mit populären ›Wunderkindern‹ jener Zeit einseitig von der Figur Mozart dominiert, ist ansonsten aber als spärlich zu bezeichnen. Bereits die Suche nach verlässlichen Grundinformationen über die histori-
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schen Akteure gestaltet sich schwierig. So gilt es anscheinend als historiographische Faustregel, dass Personen, deren musikalische Fähigkeiten in ihrer Kindheit Interesse erregten, nur dann zum Gegenstand der Betrachtung werden können, wenn diese auch als Erwachsene in irgendeiner Hinsicht bemerkenswert hervorgetreten sind. Das aber trifft nur auf einen begrenzten Teil der Kindervirtuosen um zu. Erschwerend kommt hinzu, dass frühe Lebensphasen in entsprechenden biographischen Darstellungen – die Mozartliteratur bildet auch hier eine Ausnahme – meist in ziemlicher Kürze und mit einer gewissen Nachlässigkeit abgehandelt werden. Dabei lässt sich ein narratives Schema erkennen, das frühe Lebensjahre ausschließlich auf die individuelle Entwicklung bezieht und sich weitgehend auf die Kategorien Familie, Erziehung und Ausbildung beschränkt. Biographische Aspekte, die diese Zuordnung schwieriger erscheinen lassen, wie öffentliche Handlungen eines Kindes, bleiben dann zusammenhanglos im Bereich des Anekdotischen stecken. Dahinter scheint sich ein gewisser Automatismus zu verbergen, der mehr mit einem modernen Selbstverständnis als mit dem historischen Gegenstand zu tun hat : die Projektion eines »pädagogischen Moratoriums«⁵ auf die Kindheit, ohne Rücksicht darauf, ob es so etwas wirklich schon immer und überall gegeben haben muss. Sammlungen von Lebensbeschreibungen dieser Art begegnen einem auch in einer Handvoll Monographien, die augenscheinlich einen historischen Überblick über das Thema der ›Wunderkinder‹ zu vermitteln versuchen (teilweise ergänzt durch die Wiedergabe von Ergebnissen aus der psychologischen Forschung u. ä.), aber keinen methodologisch reflektierten Zugang erkennen lassen, vielfach auf Belege verzichten und eher populärwissenschaftlich ausgerichtet erscheinen.⁶ Historische Kontexte vermisst man hier jedenfalls. Fast enzyklopädisch geht demgegenüber der Musikwissenschaftler und Kirchenmusiker Gerd-Heinz Stevens in seiner Dissertationsschrift Das Wunderkind in der Musikgeschichte () vor.⁷ Jürgen Zinnecker, »Kindheit und Jugend als pädagogische Moratorien. Zur Zivilisationsgeschichte der jüngeren Generation im . Jahrhundert«, in : Zeitschrift für Pädagogik, Beiheft () (= Bildungsprozess und Erziehungsverhältnisse im . Jahrhundert. Praktische Entwicklungen und Formen der Reflexion im historischen Kontext), S. –. Siehe Mélisande Chaveau, Petits prodiges de la musique. Une centaine de souvenirs ou de récits d’enfances, Paris ; Renee B. Fisher, Musical Prodigies. Masters at an Early Age, New York ; Claude Kenneson, Musical Prodigies. Perilous Journeys, Remarkable Lives, Portland . Im Ansatz ähnlich, aber nicht auf den Bereich der Musik beschränkt : Toni Meissner, Wunderkinder. Schicksal und Chancen Hochbegabter, Frankfurt a. M. u. a. . Siehe Gerd-Heinz Stevens, Das Wunderkind in der Musikgeschichte, Diss., Münster . Eine ähnliche Herangehensweise wie Stevens, nur in Bezug auf etwa hundert komponierende Kin-
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Die Arbeit enthält einige hundert Beispiele mutmaßlich besonders musikalischer Kinder zwischen Antike und Gegenwart und ist in ihrem ambitionierten Umfang bisher alleinstehend. Auch sie reicht allerdings kaum über eine chronologische Aneinanderreihung biographischer Porträts hinaus, die vorwiegend Substrate älterer Lexika darstellen und zudem über weite Strecken ohne Quellennachweise auskommen. Die systematische Zusammenführung im Ergebnisteil bleibt folglich eher an der Oberfläche.⁸ Das eigentliche Erkenntnisproblem dieser sowie vieler anderer, kleinerer Beiträge zu dem Thema ist, dass sie stillschweigend davon ausgehen, dass Kindheit an und für sich geschichtlich eine Konstante darstellt. Die Konsequenz ist, dass implizit aus einer heutigen Sicht argumentiert wird, was den Blick auf bestimmte historische Zusammenhänge verstellt oder verzerrt. Aus der Voreingenommenheit resultieren dann nicht nur Fehleinschätzungen in der Sache, sondern auch manch unsachliches Werturteil. Der naheliegende Anschluss an die Geschichte der Kindheit, die sich längst als ein multidisziplinäres und universitär verankertes Forschungsgebiet etabliert hat, wird hier nicht gesucht. Kindheitsgeschichte, die sich mit Lebenswirklichkeiten von Kindern einerseits und Repräsentationen von Kindheit andererseits befasst, hat ihre entscheidenden Impulse von Philippe Ariès, einem Historiker der Schule der sogenannten »Annales« (benannt nach der von Marc Bloch und Lucien Febvre ab herausgegebenen Zeitschrift Annales d’histoire économique et sociale) erhalten.⁹ Mit seiner mentalitätsgeschichtlichen Studie L’enfant et la vie familiale sous l’ancien régime () versucht Ariès am Beispiel Frankreichs nachzuvollziehen, wie sich zwischen dem ausgehenden Mittelalter und dem . Jahrhundert ein neuartiges Bewusstsein des Lebensabschnittes Kindheit herausgebildet hat. Er verweist dazu auf das steigende Interesse der bildenden Kunst am Motiv des Kindes und die Herausbildung einer eigenen Ikonographie, auf die Entstehung spezieller Kinderspiele, Kinderfeste, Kinderkleidung und Kinderliteratur, den wachsenden Einfluss von Erziehungsinstitutionen sowie die gesellschaftliche Isolation der Kleinfamilie. Der gesamte Prozess wird von dem Historiker mit
der zwischen dem . und dem Anfang des . Jahrhunderts, verfolgt auch Barry Cooper, Child Composers and Their Works. A Historical Survey, Lanham u. a. . Siehe Gerd-Heinz Stevens, Das Wunderkind in der Musikgeschichte, S. –. Selbst sehr kritische Einschätzungen von Ariès sehen diesen als Ausgangspunkt der Forschungsgeschichte, etwa Paula S. Fass, »Is there a story in the history of childhood ?«, in : Paula S. Fass (Hg.), The Routledge History of Childhood in the Western World, Abingdon u. a. (The Routledge Histories), S. –.
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der vielzitierten Formel »Entdeckung der Kindheit«¹⁰ bezeichnet. Die Thesen seiner Längsschnittuntersuchung sind zweifellos zu »Fixpunkten für die gesamte nachfolgende Forschung«¹¹ geworden, wobei nach wie vor Missverständnisse aufwirft, dass Ariès nicht systematisch zwischen der Ideenebene einerseits und realer emotionaler Einstellungen gegenüber Kindern andererseits unterscheidet. So arbeiten sich Kindheitshistoriker bis heute an seinem Buch ab.¹² Es sollte dabei nicht weiter überraschen, wenn die eine oder andere Einschätzung mittlerweile als überholt gelten kann. Sein Beitrag ist insofern zu würdigen, als Ariès die Kategorie der Kindheit selbst erstmals einer konsequenten Historisierung unterzogen und insbesondere für kulturhistorische Fragen fruchtbar gemacht hat. Die historische Wandelbarkeit der Kindheit zu erkennen, ist auch eine notwendige Voraussetzung, um dem vorliegenden Thema sinnvoll zu begegnen. Das mittlerweile breite Forschungsfeld der Geschichte der Kindheit hält für das Phänomen der ›Wunderkinder‹ um wichtige Anknüpfungspunkte bereit und hilft beim Verständnis bestimmter Praktiken und Vorstellungen, bei denen die Interpretationsmuster unserer heutigen Sichtweise schnell an ihre Grenzen stoßen. Den Versuch, hier eine Brücke zur historischen Kindheitsforschung zu schlagen, hat wohl erstmals die Musikwissenschaftlerin und -pädagogin Freia Hoffmann im Rahmen ihrer sozialgeschichtlichen Untersuchung zur Rolle der Frau im bürgerlichen Musikleben unternommen.¹³ Das Interesse Hoffmanns ist auch in dem von ihr seit herausgegebenen Online-Lexikon Europäische Instrumentalistinnen des . und . Jahrhunderts des Sophie Drinker Instituts Philippe Ariès, Geschichte der Kindheit, Mit einem Vorwort von Hartmut von Hentig, . Aufl., München , S. . Hugh Cunningham, Die Geschichte des Kindes in der Neuzeit, Aus dem Englischen von Harald Ehrhardt, Düsseldorf , S. . Für eine umsichtige und differenzierte Diskussion der Rezeption von Ariès’ Ansätzen und Ergebnissen, siehe Colin Heywood, A History of Childhood. Children and Childhood in the West from Medieval to Modern Times, Cambridge , S. –. Insbesondere aus den Reihen der Mediävistik erhielt Ariès Einspruch gegen seine stark zugespitzten Aussagen und die an manchen Stellen suggerierte emotionale Gleichgültigkeit gegenüber Kindern während des Mittelalters. Siehe hierzu Albrecht Classen, »Philippe Ariès and the Consequences. History of the Childhood, Family Relations, and Personal Emotions. Where do we stand today ?«, in : Albrecht Classen (Hg.), Childhood in the Middle Ages and the Renaissance. The Results of a Paradigm Shift in the History of Mentality, Berlin , S. –. Siehe Freia Hoffmann, Instrument und Körper. Die musizierende Frau in der bürgerlichen Kultur, Frankfurt a. M. u. a , S. – ; dies., »Miniatur-Virtuosinnen, Amoretten und Engel. Weibliche Wunderkinder im frühen Bürgertum«, in : Neue Zeitschrift für Musik /Nr. (), S. –.
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spürbar, welches in vielen seiner Einträge detaillierte Einblicke in die frühe Rezeption von Musikerinnen bietet, über deren Kindheit in der Öffentlichkeit an anderen Stellen wenig bis gar keine Informationen zu finden sind.¹⁴ An der von der Autorin bereits Anfang der er Jahre konstatierten »Lücke in der musikalischen Forschung«¹⁵ hat sich seither aber prinzipiell nicht viel geändert. Zwar sind vereinzelte Artikel und Aufsätze erschienen ; solche aber, die tatsächlich neuartige Einsichten oder Argumente liefern und sich nicht weitgehend in der Wiederholung von Gemeinplätzen erschöpfen, stellen eine bescheidene Minderheit dar. Man gewinnt den Eindruck, dass das Phänomen in der Musikhistoriographie als Skurrilität zwar gerne mal genannt, aber doch für trivial gehalten wird und es fristet daher – im übertragenen wie häufig auch wörtlichen Sinne – ein Dasein als Fußnotenbemerkung. Ein eigentlicher Fachdiskurs, in dem sich durch gegenseitige Bezugnahme und kritische Rezeption Forschungspositionen und -richtungen herausbilden, existiert nicht. Symptomatisch für diesen Zustand ist auch, dass das Thema von führenden Musiklexika vernachlässigt wird. Das englischsprachige Nachschlagewerk The New Grove Dictionary of Music and Musicians verzichtet gänzlich auf entsprechende Lemmata, Die Musik in Geschichte und Gegenwart führte in der neuen Ausgabe einen Artikel »Wunderkinder« ein, der sich (vordergründig erklärlich durch das Forschungsgebiet des Autors) eher auf dem Gebiet der systematischen Musikwissenschaft, speziell der Begabungsforschung, profiliert.¹⁶ Ein kurzer kulturgeschichtlich ausgerichteter Eintrag findet sich dagegen im Lexikon Musik und Gender.¹⁷ Ein Anfang, das Thema auf breiter Quellenbasis historisch ernst zu nehmen, ist zumindest gemacht : Der Sammelband, der im Zusammenhang mit der Ausstellung Beethoven und andere Wunderkinder (. November bis . Februar im Ernst-Moritz-Arndt-Haus in Bonn) erschienen ist, bietet nicht nur Siehe Freia Hoffmann (Hg.), Lexikon Europäische Instrumentalistinnen des . und . Jahrhunderts, [Bremen o. J.]. Online : http://www.sophie-drinker-institut.de/lexikon [abgerufen am ..]. Freia Hoffmann, Instrument und Körper, S. . Siehe Hans G. Bastian, Art. »Wunderkinder«, in : Ludwig Finscher (Hg.), Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik. Sachteil : Sy–Z, zweite, neubearbeitete Ausgabe, Kassel u. a. , Sp. –. Von systematischen Grundfragen nach dem Begabungsphänomen dominiert, die auch bei Fallbeispielen vom historischen Kontext methodisch abstrahieren, ist auch der Sammelband : Gary E. McPherson (Hg.), Musical Prodigies. Interpretations from Psychology, Education, Musicology, and Ethnomusicology, Oxford u. a. . Siehe Melanie Unseld, Art. »Wunderkind«, in : Annette Kreutziger-Herr und Melanie Unseld (Hgg.), Lexikon Musik und Gender, Kassel , S. –.
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einen reichhaltigen und fundiert beschriebenen Ausstellungskatalog, sondern auch eine Reihe an einführenden Aufsätzen zu kultur- und sozialgeschichtlichen Aspekten. Zu Fragen der Rezeption von Kindervirtuosen im deutschsprachigen Raum, vorwiegend im Rekurs auf die Allgemeine musikalische Zeitung, hat sich hier die Musikhistorikerin Ingrid Fuchs geäußert.¹⁸ Ihre akribische Auflistung der über Namen, die allein in dieser Zeitschrift in der ersten Hälfte des . Jahrhunderts genannt werden, wurde zudem von dem Musikpsychologen Reinhard Kopiez statistisch ausgewertet, der dadurch heuristische Erkenntnisse über langfristige Zu- und Abnahme des öffentlichen Interesses sowie über den Zusammenhang von Instrumentenwahl und Geschlechtszuweisung gewonnen hat.¹⁹ Eine quantitative Analyse zu Geschlecht, gespielten Instrumenten, gemeinsamem Auftreten von Geschwistern, dem familiären Hintergrund sowie der musikalischen Ausbildung von ›Wunderkindern‹ in Europa zwischen und hat zudem die Musikwissenschaftlerin Yvonne Amthor in ihrer Dissertationsschrift von vorgenommen, allerdings ohne dabei zeitliche Veränderungen zu berücksichtigen.²⁰ Ihre Arbeit stellt eine wertvolle Übersicht bereit, für die Interpretation des Phänomens aber nur begrenzte Ausschnitte. Genauer untersucht werden hier, vor allem anhand der beiden Fallbeispiele Carl Filtsch und Camilla Urso, unterschiedliche Modelle der musikalischen Ausbildung.²¹ Zusätzlich wendet sich die Autorin der Frage zu, wie Mozart durch die zeitgenössische Inszenierung in England sowie die posthume Rezeption zum Inbegriff des child prodigy werden konnte und welche anderen Kindervirtuosen im . Jahrhundert als Maßstab immer wieder zum Vergleich herangezogen wurden.²² Siehe Ingrid Fuchs, »›Bewundrungswerthes Kind ! deß Fertigkeit man preißt …‹. Beispiele der Beurteilung musikalischer Wunderkinder vom . bis . Jahrhundert«, in : Ingrid Bodsch, Otto Biba und Ingrid Fuchs, (Hgg.), Beethoven und andere Wunderkinder, Wissenschaftliche Beiträge und Katalog zur Ausstellung, Bonn , S. –. Zur Rezeption von Kindervirtuosen in der englischen Musikpresse siehe Yvonne Amthor, »The perception of musical prodigies in London Concert Life between and «, in : Die Tonkunst (), S. –. Siehe Ingrid Fuchs, »Wunderkinder in der Leipziger ›Allgemeinen musikalischen Zeitung‹ –«, in : Ingrid Bodsch, Otto Biba und Ingrid Fuchs (Hgg.), Beethoven und andere Wunderkinder, S. – ; Reinhard Kopiez, »The musical child prodigy (wunderkind) in music history : a historiometric analysis«, in : Irène Deliège und Jane W. Davidson (Hgg.), Music and the Mind. Essays in honour of John Sloboda, Oxford , S. –. Siehe Yvonne Amthor, ›Wunderkinder‹ – Musical Prodigies in European Concert Life between and , Diss., Leeds , S. –. Siehe ebd., S. –. Siehe ebd., S. –.
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Das vorliegende Buch widmet dem Thema : musizierende ›Wunderkinder‹ um eine stärker kulturhistorisch orientierte Untersuchung. Dabei strebt es nicht den vielleicht naheliegenden Versuch an, ein weiteres Überblickswerk zu liefern. Stattdessen soll hier gewissermaßen der entgegengesetzte Weg eingeschlagen, sprich ein mikrohistorischer Ansatz verfolgt werden. Es ist nicht die Verlegenheit darüber, dass eine erschöpfende Gesamtdarstellung ohnehin kaum zu leisten wäre, die diese Entscheidung rechtfertigt, sondern eine epistemologische Überlegung. Denn die Mikroperspektive besitzt den entscheidenden Vorteil, dass mit ihr, um den Historiker Otto Ulbricht zu zitieren, gerade »Fragen von Bedeutung geklärt werden können, auf die man sonst keine Antwort finden kann oder deren Klärung umstritten ist.«²³ Initiiert wurde die Mikrogeschichte insbesondere durch die von Carlo Ginzburg veröffentlichte Untersuchung über einen aus dem Friaul stammenden Müller des ausgehenden . Jahrhunderts namens Menocchio, welche die eher schematische Historiographie der Ständegesellschaft deutlich in Frage stellte. Ginzburg, der in seiner Studie die Akten des Inquisitionsprozesses gegen Menocchio auswertet, befördert eine eigentümliche, mit Mündlichkeit wie Schriftlichkeit komplex verflochtene Kultur ans Tageslicht.²⁴ Mit Ginzburg hat sich die Mikrohistorie zunächst im italienischen, dann auch im französischen, amerikanischen und deutschen Wissenschaftsraum verbreitet, als Alternative beziehungsweise Korrektive sowohl zu traditioneller Ereignisgeschichte – mit ihrem Fokus auf ausgewählte ›geschichtsmächtige‹ Männer – als auch zu der jüngeren Strukturgeschichte und ihrer Grundorientierung an mathematischer Statistik. Dabei verspricht der Forschungsansatz nicht weniger historisches Problembewusstsein und ist keinesfalls bloß mit einem Positivismus des Details gleichzusetzen. Bei aller inhaltlichen wie methodischen Vielfalt verbindet ihn die Prämisse, dass sich im Kleinen des Einzelfalls immer auch – und manchmal sogar noch deutlicher oder kennzeichnender – das Große übergreifender historischer Zusammenhänge verbirgt.²⁵ Das überschaubare Feld, das sich durch den größeren Otto Ulbricht, Mikrogeschichte. Menschen und Konflikte in der Frühen Neuzeit, Frankfurt a. M. , S. . Siehe Carlo Ginzburg, Der Käse und die Würmer. Die Welt eines Müllers um , Aus dem Italienischen von Karl F. Hauber, . Aufl., Berlin (= Wagenbachs Taschenbuch ). Ulbricht gibt derzeit den vollständigsten Überblick der Strömungen und theoretischen Grundsätze der Mikrogeschichte, ihren Erkenntnispotentialen und -grenzen, insbesondere hinsichtlich der historisch problemorientierten Untersuchung von Individuen. Siehe Otto Ulbricht, Mikrogeschichte, S. –. Ein aktuellerer Einblick in die Methodik der Mikrogeschichte ist auch zu finden bei : Ewald Hiebl und Ernst Langthaler, »Einleitung : Im Kleinen
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Maßstab ergibt, eröffnet die Möglichkeit intensiver und konsequenter Kontextualisierung ; der historische Gegenstand wird mit einer Art ethnographischem Blick betrachtet.²⁶ Mit mikrohistorischer Zugangsweise kann die oben angesprochene Gefahr, von der heutigen Warte aus und mit vorgefertigten Kategorien anachronistische Missverständnisse zu produzieren, gering gehalten werden. Das ist die Grundlage für die in diesem Buch vorgenommenen Fallstudien, die sich der Karrieren dreier unterschiedlicher Kindervirtuosen in europäischen Metropolen und ihren Einzugsgebieten um annehmen. Dass William Crotch, Hippolyte Larsonneur und Isabella Rudkin (alias The Infant Lyra) mit Sicherheit zu den berühmteren ›Wunderkindern‹ ihrer Zeit zu zählen sind, bringt eine entsprechend günstige Quellenlage mit sich, die eine solche Untersuchung erst ermöglicht. An ihnen werden drei in der Öffentlichkeit präsente Bilder sichtbar gemacht, die sich ebenso durch ihre eigene innere Kohärenz auszeichnen wie durch ihre Unterschiedlichkeit, sofern man sie gegeneinanderhält. Entgegen der scheinbar punktuellen Begrenzung dieser Studien lassen sie sich jeweils zu Kulturgeschichten der Musik weiten, was offenbart, wie sehr überhaupt die Grenze zwischen Text und Kontext unter dem Mikroblick verschwimmt : William Crotch (Kapitel ) wurde in Norwich als scheinbarer Autodidakt an der Orgel im Kleinkindalter entdeckt. Sein Spiel aus dem Stegreif und seine angebliche Vorliebe für ältere Musik schienen die konservative Bewegung der sogenannten ancient music in ihrer Begründung auf metaphysische Harmonie zu bestärken. Als Naturwunder erweckte Crotch aber auch das investigative Interesse der Royal Society of London sowie Gelehrter auf dem europäischen Kontinent, die versuchten, dieses Phänomen mit der Erkenntnistheorie des das Große suchen. Mikrogeschichte in Theorie und Praxis«, in : Jahrbuch für Geschichte des ländlichen Raums () (= Im Kleinen das Große suchen. Mikrogeschichte in Theorie und Praxis, Hans Haas zum . Geburtstag), S. –. Auf die Gemeinsamkeiten zur Anthropologie beziehungsweise Ethnologie weisen Mikrohistoriker und -historikerinnen mehrfach hin. Eindringlich etwa zu finden bei Hans Medick, »Entlegene Geschichte ? Sozialgeschichte und Mikro-Historie im Blickfeld der Kulturanthropologie«, in : Joachim Matthes (Hg.), Zwischen den Kulturen ? Die Sozialwissenschaften vor dem Problem des Kulturvergleichs, Göttingen (= Soziale Welt, Sonderband ), S. –. Besonders deutliche methodische Parallelen gibt es zur »dichten Beschreibung« von Clifford Geertz, wie sie dieser exemplarisch am Ritual des balinesischen Hahnenkampfes angewandt hat. Allerdings setzt Mikrogeschichte nicht notwendigerweise denselben textualistischen und geschlossenen Kulturbegriff voraus, wie Geertz. Siehe Clifford Geertz, Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Übersetzt von Brigitte Luchesi und Rolf Bindemann, Frankfurt a. M. (= suhrkamp taschenbuch wissenschaft ), S. –.
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Sensualismus zu erklären. An der Laufbahn von Hippolyte Larsonneur (Kapitel ), der als Vorzeigeschüler seines Vaters ab von Paris aus Konzertreisen unternahm, wird hingegen der weitreichende Einfluss des Rousseauismus sichtbar. Gerade als Knabe vermochte Larsonneur das durch Rousseau inspirierte Natürlichkeitsprinzip der französischen Violinschule, wie es in den Lehrwerken des Pariser Konservatoriums propagiert wurde, auf ideale Weise zu erfüllen. Die irische Harfenistin Isabella Rudkin (Kapitel ) wiederum, die ab unter dem Künstlernamen Infant Lyra in England bekannt wurde, spielte vorwiegend ein Repertoire aus Volksliedbearbeitungen und geriet geradewegs zur Ikone einer sentimentalen Sehnsucht nach verlorener Unschuld, wobei auch die Tatsache, dass es sich bei ihr um ein Mädchen handelte, dazu nicht unwesentlich beitrug. Zeitgleich versprach die damals um Anerkennung ringende Phrenologie, das musikalische Talent dieses Kindes in der Größe bestimmter Hirnorgane nachweisen zu können. Es lässt sich an dieser Stelle die berechtigte Frage stellen, inwiefern solche Einzelbeispiele über sich hinausweisen, was sie historisch auszusagen imstande sind und ob man sich angesichts erforderlicher Repräsentativität nicht möglichst auf Durchschnittsfälle stützen müsse, von denen aus besser generalisiert werden könne. Um zu verstehen, warum die Mikrogeschichte dies bewusst nicht tut, ist ein ursprünglich von Edoardo Grendi in deren methodologische Diskussion eingeführtes Wortspiel hilfreich, das außergewöhnlich Normale (eccezionale normale). Dem Historiker Hans Medick zufolge verweist der Begriff »auf den besonderen Erkenntniswert des mikrohistorisch erschlossenen Einzelfalls, der im Lichte statistischer Repräsentativitätskriterien […] als bloßer Ausnahme- und Grenzfall erscheinen mag […].«²⁷ Er zeigt auf, dass die typische mikrohistorische Studie nur scheinbar marginal ist, was im Übrigen ebenso für die Ebene des Gegenstandes gelten kann wie für die der Quelle. Das außergewöhnlich Normale expliziert häufig erst das ansonsten Unausgesprochene, es wirbelt (etwas pathetisch gesprochen) den Staub der Geschichte in ihren verlassenen Ecken auf und lässt Neues zum Vorschein kommen. Die Mikrogeschichte geht insofern unkonventionell vor, als die von ihr untersuchten Fälle in einem statistischen Sinne überhaupt nicht stellvertretend für andere Beispiele eintreten können und sollen. Es würde daher auch wenig Sinn machen, die verschiedenen Fallstudien dieses Buchs einem systematischen Vergleich mit ein- und denselben strengen Kategorien zu unterziehen, da diese Hans Medick, »Mikro-Historie«, in : Winfried Schulze (Hg.), Sozialgeschichte, Alltagsgeschichte, Mikro-Historie. Eine Diskussion, Göttingen (= Kleine Vandenhoeck-Reihe ), S. .
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Methode kaum generalisierende Aussagen zuließe und sich bei der asymmetrischen Auswahl bezüglich Geographie, Zeit, Instrument, Geschlecht und weiterer Parameter von vornherein verbieten würde. Die drei Fälle bilden also nicht bestimmte Typen des Kindervirtuosen ab, statistische Repräsentativität stellt schlicht kein Kriterium für ihre Auswahl dar. Das Kriterium besteht vielmehr darin, wie gut sich die Geschichten ihrer Karrieren dazu eignen, bestimmte kulturhistorische Problemfelder zu erschließen. Dabei wurde versucht, drei durchaus heterogene Beispiele zu finden, damit eine gewisse thematische Breite und möglichst wenig Redundanzen entstehen. Ihre Zusammenstellung, Reihenfolge und Bearbeitungsmethode verfolgt also die Absicht einer schrittweisen gegenseitigen Kontrastierung und Verknüpfung solcher Problemfelder, die letztlich allesamt auf eine in Europa um besonders virulente Grundfrage ausgerichtet sind, nämlich der Frage nach dem Verhältnis zwischen Natur und Kultur. Eine derartig begrenzte Auswahl ist notwendigerweise Ergebnis eines Abwägens mehrerer theoretischer Kriterien und pragmatischer Erwägungen gegeneinander, hätte mit berechtigten Argumenten auch anders getroffen werden können und wird in mancher Hinsicht vielleicht nur ein Kompromiss sein. Von dem eingangs angesprochenen mangelhaften Forschungsstand ausgehend, muss dieses Buch an vielen Stellen explorativ vorgehen und seine Aussagekraft ist dort entsprechend begrenzt. Es gibt, und das gilt es hier noch einmal zu unterstreichen, lediglich Einblicke in ein in weiten Teilen noch immer unerschlossenes Gebiet. Die drei mikrohistorischen Fallstudien sind weniger an individuellen Lebensgeschichten, als an kultureller Bedeutung interessiert. Sie setzen ihre Beispiele in den Kontext des zeitgenössischen Wissenshorizontes und der sich aus ihm ergebenden Palette möglich und sinnvoll erscheinender Motive und Handlungen. Das unterscheidet dieses Buch im Wesentlichen von bisherigen Arbeiten zu dem Thema. In allen Kapiteln ergänzen sich dabei eine eher sozialhistorische Einordnung der Karrierewege der Kindervirtuosen und eine ideengeschichtliche Rekonstruktion der hierbei entstehenden Bilder (im Sinne öffentlicher Images oder Personae). Dabei kann Musikästhetik ebenso Beachtung finden wie Pädagogik, Naturphilosophie oder Medizin – der Mikroblick zwingt dabei gewissermaßen zur Überwindung disziplinärer Barrieren. Um den geistigen Nährboden zeitgenössischer Vorstellungen, Überzeugungen, Meinungen oder Einstellungen jeweils ausfindig machen zu können, muss häufig in der Historie etwas weiter zurückgegangen werden. Das hat den Grund, dass in der Regel eine bestimmte Latenz zwischen Genese und (breiterer) Wirkung von Ideen feststellbar ist. Die dadurch entstehenden Ungleichzeitigkeiten des
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Wissens sind Teil der historischen Realität selbst und stellen deswegen noch lange keinen Anachronismus dar. Das bedeutet, einfach ausgedrückt : Generationen schütteln einmal Gelerntes in der Regel nicht so schnell wieder ab, nur weil irgendwo etwas Neues geäußert wird. In welchem Maße Schriftsteller und Journalisten, Mäzene oder die Familien der Kindervirtuosen selbst an der Konstruktion jener Bilder in der Öffentlichkeit beteiligt gewesen sind, stellt sich, wenn überhaupt, nur mehr in undeutlichen Konturen dar. Zudem ist in der Regel nicht mehr entscheidbar, ob einzelne Quellen eine gezielte Inszenierung oder eher eine unreflektierte Wahrnehmung widerspiegeln, was ihre Funktion als Belege solcher Bilder aber in keiner Weise beeinträchtigt. Anders als in einer konventionellen Biographie werden hier die als verhältnismäßig unzuverlässig geltenden Rezeptionszeugnisse nicht nur ergänzend zu Ego-Dokumenten herangezogen, sondern aus ihnen die eigentlich relevanten Informationen gewonnen. Dementsprechend stützen sich die Fallstudien vorwiegend auf unterschiedliche Beiträge in Zeitungen und Zeitschriften als Primärquellen, wobei dieses Korpus nicht – wie sonst durchaus üblich in musikwissenschaftlicher Rezeptionsgeschichte – von vornherein auf musikalische Fachorgane beschränkt ist.²⁸ Daneben wird immer wieder auch auf andere Periodika wie Intelligenzblätter oder Almanache, auf alle möglichen Bücher, vereinzelt auf Notendrucke, Anschlag- oder Programmzettel sowie Gemälde und separat publizierte Bilddrucke verwiesen. In keiner der drei Mikrogeschichten wird eine Gesamtdarstellung des Lebens einer historischen Person gegeben, noch überhaupt versucht, das Subjekt selbst hinter seinem öffentlichen Bild auszumachen. Öffentlichkeit ist als theoretisches Konzept und als Beschreibungskategorie gerade für die Epoche des . und . Jahrhunderts alles andere als unbelastet, vor allem seit der Philosoph Jürgen Habermas seine einschlägige Habilitationsschrift zum Strukturwandel der Öffentlichkeit vorgelegt hat. Da das Buch auch in der historischen Forschung eine starke Wirkung nach sich zog, erscheint es notwendig, zu seinem Begriffsverständnis Stellung zu beziehen. Habermas stellt in seiner Abhandlung die sogenannte »bürgerliche Öffentlichkeit«, die sich in Deutschland, England und Frankreich im . Jahrhundert
Vor einer Überbewertung von Fachzeitschriften für die Öffentlichkeit dieser Zeit warnen unabhängig voneinander : Ulrich Tadday, Die Anfänge des Musikfeuilletons. Der kommunikative Gebrauchswert musikalischer Bildung in Deutschland um , Stuttgart u. a. , S. – ; Axel Beer, Musik zwischen Komponist, Verlag und Publikum. Die Rahmenbedingungen des Musikschaffens in Deutschland im ersten Drittel des . Jahrhunderts, Tutzing , S. –.
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zunächst in Kaffeehäusern, Salons und gelehrten Gesellschaften, und dann insbesondere mit der Presse herausgebildet hätte, als selbstbewussten politischen Akteur einer neuen Gesellschaftsordnung dar, welcher der alten »höfischen Öffentlichkeit« diametral entgegengesetzt gewesen sei.²⁹ Bevor man diese These auf die eigene Forschungsarbeit übertragen will, sollte man sich vor Augen halten, dass Habermas mit seinem Strukturwandel im Kern kein historiographisches Anliegen vorträgt, sondern eine politische Theorie. Die Historie ist hierin Mittel zum Zweck und dient einem Weckruf des zivilgesellschaftlichen Potentials der Öffentlichkeit in der Gegenwart der er Jahre, ein Weckruf, der unmittelbar mit einer grundlegenden Kapitalismuskritik verbunden ist (der Autor setzt die Anfänge des Kapitalismus und den gleichzeitigen Verfall kritischer Öffentlichkeit ins . Jahrhundert).³⁰ Mit der Idee einer ›Verbürgerlichung‹ bedient sich Habermas eines historiographischen (beziehungsweise geschichtsteleologischen) Topos, den er nicht einmal selbst entworfen hat, der durch die weitreichende Rezeption seines Buchs aber zweifellos neuerlichen Aufschwung erhielt. Dabei scheitern das Konstrukt homogener sozialer Klassen und die pauschale Gleichsetzung von bürgerlichem Selbstbewusstsein mit Modernisierung vielfach an der historischen Realität. So haben diverse Forschungsergebnisse mittlerweile hinreichend belegt, dass die im Rekurs auf Habermas immer wieder der ›Verbürgerlichung‹ zugeschriebenen Institutionen signifikant vom Adel unterstützt und mitgestaltet wurden.³¹ Der Historiker James Van Horn Melton weist in einer kritischen Würdigung und einem Resümee der von Seiten der Geschichtswissenschaft bei Habermas angefochtenen Punkte zu Recht noch einmal darauf hin, dass sein Modell »overlooks the resilience and adaptibility of Old Regime society and institutions, which were quite capable of recognizing the communicative potential of the public sphere […].«³² Um dem Dilemma einer Identifikation der Öffentlichkeit mit einer bestimmten sozialen Klasse zu entgehen, bietet es sich von vornherein an, diese Siehe Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Mit einem Vorwort zur Neuauflage , . Aufl., Frankfurt a. M. (= suhrkamp taschenbuch wissenschaft ), S. –. Siehe Andreas Gestrich, »The Public Sphere and the Habermas Debate«, in : German History /Nr. (), S. –. Siehe Ute Daniel, »How bourgeois was the public of the Eighteenth Century ? or : Why it is important to historicize ›Strukturwandel der Öffentlichkeit‹«, in : Das achtzehnte Jahrhundert /Nr. (), S. –. James Van Horn Melton, The Rise of the Public in Enlightenment Europe, . Aufl., Cambridge (= New approaches to european history ), S. –.
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»nicht als Akteur, sondern als Raum oder Sphäre«³³ zu begreifen und damit, wie der Historiker Jörg Requate, dem englischen beziehungsweise internationalen Sprachgebrauch zu folgen. Hierin können wiederum Akteure unterschiedlicher sozialer Gruppen auftreten und handeln, nicht nur im politischen Sinne. Wertneutral und dennoch nicht ahistorisch lässt sich Öffentlichkeit als die Sphäre des nichtpersönlichen Zugangs definieren, zu dem verschiedene Orte, Ereignisse, Institutionen und Medien gehören. Ein solcher Zugang unter Absehung der individuellen Person (im Gegensatz etwa zu privaten Einladungen oder vertraulichen Schriftstücken) bedeutet selbstverständlich nicht automatisch, dass hier nicht auch Restriktionen wirksam wurden und soziale Regeln der Partizipation existierten. Diese Definition, an die sich dieses Buch konzeptuell hält, stellt wie jede andere einen theoretischen Idealtyp dar und soll die Existenz von Misch- und Zwischenformen, deren eindeutige Zuordnung zum Privaten oder Öffentlichen schwieriger zu entscheiden wäre, nicht generell ausschließen. Grundsätzlich nicht anders stand es um die musikalische Öffentlichkeit jener Zeit, Bezirke des europäischen Musiklebens, die sich nicht länger nur um Hof und Kirche drehten. Inzwischen haben sich eine ganze Reihe Musikhistorikerinnen und Musikhistoriker gegen das vereinfachte Narrativ der ›Verbürgerlichung‹ und die Unterschätzung des Einflusses aristokratischer Akteure – sei es in mäzenatischer Funktion oder in den Reihen des zahlenden Publikums – gewandt und ihre stichhaltigen Argumente und erdrückenden Indizien brauchen hier nicht noch einmal alle angeführt zu werden.³⁴ Sie be Jörg Requate, »Öffentlichkeit und Medien als Gegenstände historischer Analyse«, in : Geschichte und Gesellschaft /Nr. () (= Bürgertum im ›langen . Jahrhundert‹), S. . Requate begrenzt den Begriff allerdings auf mediale Kommunikation. Siehe vor allem William Weber, Music and the Middle Class. The Social Structure of Concert Life in London, Paris and Vienna between and , Second Edition, Aldershot u. a. (Music in Nineteenth-Century Britain) ; ders., »Musical Culture and the Capital City : The Epoch of the ›beau monde‹ in London, –«, in : Susan Wollenberg und Simon McVeigh (Hgg.), Concert Life in Eighteenth-Century Britain, Aldershot u. a. , S. – ; Simon McVeigh, Concert life in London from Mozart to Haydn, Cambridge , insbes. S. – ; Tia DeNora, Beethoven and the Construction of Genius. Musical Politics in Vienna, –, Berkeley u. a. , S. – ; dies., »Networks and Nobles : Patronage in Beethoven’s Vienna, c. «, in : Hans E. Bödeker, Patrice Veit und Michael Werner (Hgg.), Organisateurs et formes d’organisation du concert en Europe –. Institutionnalisation et pratiques, Berlin (Musical Life in Europe –. Circulations, Institutions, Representation), S. – ; Andreas Ballstaedt und Tobias Widmaier, Salonmusik. Zur Geschichte und Funktion einer bürgerlichen Musikpraxis, Stuttgart (= Beihefte zum Archiv für Musikwissenschaft ), insbes. S. – ; Dana Gooley, The Virtuoso Liszt, Cambridge u. a. (New perspecti-
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rücksichtigen damit den mittlerweile kaum mehr bestrittenen Umstand, dass das Bürgertum in den verschiedenen Ländern höchstens durch »eine in sich vielfältig gegliederte, nach außen unscharf abgegrenzte und insofern prekäre Einheit«³⁵ geprägt war. Man kann davon ausgehen, dass Bürgerliche und Nobilitierte teilweise einen ähnlichen Habitus pflegten wie der gebürtige Adel beziehungsweise in bestimmten Beziehungen weniger eine Opposition als eine Annäherung bemerkbar war. Soziale Gruppenbildung leitete sich nicht ausschließlich von Stammbaum und Titel ab, sondern konnte auch durch gemeinsame Praktiken zustande kommen. So existierte in Europa um eine Elite, die dem Historiker Michael North zufolge geradewegs eine »Identitätsbildung durch Kulturkonsum«³⁶ betrieb. Dieses Ensemble an Aristokraten und Vertretern bestimmter bürgerlicher Schichten, so North, vollzog seine Positionierung und Abgrenzung gegenüber anderen Teilen der Gesellschaft nämlich nicht über Stand oder Nation, sondern über den Zugang zu luxuriösen, käuflichen Kulturgütern, darunter beispielsweise Kunst, Musik oder Modeartikel. Voraussetzung dafür waren selbstverständlich materieller Wohlstand und entsprechende Bildung.³⁷ In dem Bereich des Musiklebens, der in öffentlichen Medien repräsentiert und für Kindervirtuosen von Bedeutung war, gab diese Elite, die Aristokraten, Wirtschafts- und Bildungsbürger inkludierte, das Kleinbürgertum aber systematisch ausschloss, ebenfalls den Ton an. Man bezeichnete sie als elegante Welt (beau monde) oder fand zu ähnlichen Ausdrücken, die signalisieren, dass ihre Zusammengehörigkeit schon damals wahrgenommen wurde. Sie war im Übrigen selbst innerhalb der größten europäischen Metropolen wie
ves in music history and criticism), S. – ; Sven O. Müller, Das Publikum macht die Musik. Musikleben in Berlin, London und Wien im . Jahrhundert, Göttingen u. a. , insbes. S. , –. Jürgen Kocka, »Das europäische Muster und der deutsche Fall«, in : Jürgen Kocka (Hg.), Bürgertum im . Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich ; Eine Auswahl. Band : Einheit und Vielfalt Europas, Göttingen (= Kleine Vandenhoeck-Reihe ), S. . Michael North, »Kultur und Konsum – Luxus und Geschmack um «, in : Rolf Walter (Hg.), Geschichte des Konsums, Erträge der . Arbeitstagung der Gesellschaft für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte .–. April in Greifswald, Stuttgart (= Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Beihefte ), S. . Zum europäischen Zusammenhang, vgl. Michael North, Genuss und Glück des Lebens. Kulturkonsum im Zeitalter der Aufklärung, Köln , S. –. Die historische Konsumforschung hat sich insbesondere gebildet im Anschluss an Neil McKendrick, John Brewer und John H. Plumb, The Birth of a Consumer Society. The Commercialization of Eighteenth-Century England, Bloomington .
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London oder Paris noch so überschaubar, dass das Musikpublikum, das sich aus ihr bildete, alles andere war als eine anonyme Masse.³⁸ Öffentliche Auftritte von Kindervirtuosen sind also im Kontext des allgemeinen Kultur- und Unterhaltungsbetriebs zu betrachten, der vorwiegend die Bedürfnisse dieser Elite befriedigte. Sie fanden auf Theaterbühnen in Pausen zwischen den Stücken oder Akten, in separaten Räumen von Wirtshäusern, Gasthöfen und Hotels, in Rathäusern, Museen, Bibliotheken, Universitäten, Kirchen, Kurhäusern, Kasinos oder Geschäften, in Tanz- und Versammlungssälen, auf Promenaden, in Gärten und Parks statt. Im Zweifelsfall diente auch die eigene Wohnung als Veranstaltungsort. Es war allerdings noch ein Konsum ohne die Gesetze des freien Marktes. Diesen Umstand bringt ein einzelnes Artefakt besonders bezeichnend zum Ausdruck, das sich im Besitz des Archivs der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien befindet. Das bedruckte Seidentuch weist auf ein Konzert der Geschwister Klara, Ignaz und Friedrich Sigl am . August im kurfürstlichen Redoutensaal in Passau hin und besaß vermutlich einmal den Zweck, »als Einladung für einen vermögenden Gönner«³⁹ zu dienen. Abgesehen von seinem Material – Seide statt Papier – gleicht es einem gewöhnlichen Anschlagzettel. Dieser feine Unterschied spricht zum einen für einen gewissen exklusiven Luxus, der mit dieser Einladung schon im Voraus auf das Ereignis ausstrahlte und wohl dem Geschmack der eleganten Welt entsprechen sollte. Zum anderen belegt der Gegenstand den persönlichen Kontakt der Konzertgeber zu wenigstens einem Teil der Konzertbesucher. Mit anderen Worten : Das Private wirkte hier anscheinend als Trittbrett des Öffentlichen. Eine Karriere als Musiker oder Musikerin, ohne zunächst in dieser, vor den Augen der Presse weitgehend verborgenen, Welt der Empfehlungsbriefe und Salons bestanden zu haben, war bis weit ins . Jahrhundert undenkbar. Die musikalische Öffentlichkeit war durch mäzenatische Strukturen kontrolliert. Diesen Zusammenhang gilt es stets im Hinterkopf zu behalten, weil die beiden Sphären des Öffentlichen und Privaten in der Quellenüberlieferung
Siehe William Weber, »Musical Culture and the Capital City«, S. . Otto Biba, Kat. Nr. , in : Ingrid Bodsch, Otto Biba und Ingrid Fuchs (Hgg.), Beethoven und andere Wunderkinder, S. . Zur Musikerfamilie Sigl siehe Hanna Bergmann, Art. »Sigl, Klara«, in : Freia Hoffmann (Hg.), Lexikon Europäische Instrumentalistinnen des . und . Jahrhunderts, [Bremen o. J.]. Online : http://www.sophie-drinker-institut.de/cms/index. php/sigl-klara [abgerufen am ..] ; Robert Münster, »Um Mozarts Kinder-Violoncello. Die Passauer Musikerfamilie Sigl und eine unbekannte Episode aus Wolfgangs Knabenjahren«, in : Mozart-Studien (), S. –.
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insgesamt sehr ungleich repräsentiert sind. In den einzelnen Mikrostudien wird er nur gelegentlich zur Sprache kommen können. Professionelle Kindervirtuosen gehörten in aller Regel selbst nicht dieser Elite an, aus der sich Mäzene und Publikum speisten ; meist stammten sie aus Musikerfamilien. Das deutliche soziale Gefälle brachte wiederum mit sich, dass im Dasein eines Berufsmusikers oder einer Berufsmusikerin mit öffentlicher Aufmerksamkeit auch gesellschaftliches Ansehen einherging. Wenn nun aber Ruhm und Prestige auf diesem Wege erhöht wurden, blieb davon der im Verhältnis zu den sie fördernden Musikliebhaberinnen und -liebhabern untergeordnete Sozialstatus, der sich aus dem eigenen Berufsstand ergab, grundsätzlich unberührt. Das unterschied Virtuosen dieser Zeit einerseits von den ›Stars‹ und ›Celebrities‹ einer später erst entstehenden Massenkultur, deren Position viele ihrer Fans sofort gegen die ihre einzutauschen bereit wären. Andererseits waren sie bereits auf eine mediale Öffentlichkeit angewiesen, wie sie ihnen das seit dem . Jahrhundert expandierende und zunehmend ausdifferenzierte Pressewesen bereitstellte.⁴⁰ Für einen Teil der Leserschaft lieferten öffentliche Medien Deutungsmuster für eigene Erfahrungen bei musikalischen Auftritten, bei einem anderen Teil sorgten sie wenigstens ein Stück weit für virtuelle Teilnahme.⁴¹ Insbesondere Zeitungen strahlten auch in ganz andere Gesellschaftsteile jenseits der eleganten Welt aus. Über das damals weithin gängige kollektive Leseverhalten (in unterschiedlichen Formen von Lesegesellschaften, in Bibliotheken, in Kaffee- und Wirtshäusern usw.) erreichten sie mitunter selbst illiterate Schichten.⁴² Die drei ausgewählten und mikrohistorisch untersuchten Beispiele von Kindervirtuosen sind solche, bei denen die Lücken des kulturellen Gedächtnisses in besonders starkem Kontrast stehen zu den öffentlichen Sensationen, die sie zu ihrer Zeit darstellten. Wie eingangs angedeutet, ist das bei Wolfgang Mozart nicht der Fall. Die den drei Mikrostudien vorangestellte Diskussion Differenzierte Überlegungen, inwieweit die aktuelleren Celebrity Studies, die vorwiegend auf die moderne Mediengesellschaft seit dem . Jahrhundert fokussieren, auf das . und . Jahrhundert übertragbar sind, finden sich auch bei Simon Morgan, »Celebrity. Academic ›Pseudo-Event‹ or a Useful Concept for Historians ?«, in : Cultural and Social History /Nr. (), S. –. In Bezug auf Anekdoten über Paganini, vgl. Camilla Bork, »Zwischen Literarisierung und Reklame. Paganini im Spiegel der Anekdote«, in : Melanie Unseld und Christian von Zimmermann (Hgg.), Anekdote – Biographie – Kanon. Zur Geschichtsschreibung in den schönen Künsten, Köln u. a. (= biogr aphik. Geschichte – Kritik – Praxis ), S. –. Siehe Werner Faulstich, Die bürgerliche Mediengesellschaft (–), Göttingen (= Die Geschichte der Medien ), S. –.
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(Kapitel ) geht damit von grundsätzlich anderen historiographischen Bedingungen aus. Ziel ist es, eine differenzierte Betrachtung bestimmter gefestigter Vorstellungen rund um seinen Mythos als Inbegriff des ›Wunderkindes‹ anzuregen. Dazu wird auf die posthume Mozartbiographik ebenso eingegangen wie auf die tatsächliche kulturelle Praxis der Musikerfamilie zu Lebzeiten und die zeitgenössische Bedeutung der Wunderbegrifflichkeit, die in Bezug auf die Geschwister Mozart während ihrer Reisen bekanntlich in aller Munde war. Eine der Verbindungslinien, die sich – auch bei Mozart – zwischen allen musizierenden ›Wunderkindern‹ aufzeigen lässt, war die Erwartung einer körperlichen Erschöpfung und schlimmstenfalls eines Todes angesichts ihrer augenscheinlichen ›Frühreife‹, die als medizinischer Gemeinplatz der Zeit jede Karriere wie ein Schatten begleitet hat (Kapitel ). Da die Pathologisierung des Phänomens unmittelbar auch mit dem Eingang, oder besser gesagt : mit dem Ausschluss von Kindervirtuosen aus dem kulturellen Gedächtnis zu tun hat, bietet sich dieser Aspekt auch zu einer das Buch insgesamt abschließenden Reflexion an. An dieser Stelle noch einige formale Hinweise : Statt sich eine strikte Regel aufzuerlegen, um eine vermeintlich politisch korrekte Sprache einzulösen, wird in diesem Buch mit dem grammatischen Geschlecht je nach Kontext unterschiedlich verfahren. Allerdings wird versucht, mit den Vorstellungsbildern, die die entsprechenden Begriffe wahrscheinlich hervorrufen, sensibel umzugehen. Besonders problematische Begriffe werden grundsätzlich, insbesondere wenn sie heute noch wertende Konnotationen beinhalten oder Missverständnisse hervorrufen könnten, in einfache Anführungszeichen gesetzt. Alle Hervorhebungen in Zitaten sind dem Original entnommen. Aus Platzgründen werden im Quellenverzeichnis lediglich eigenständige Beiträge aus zeitgenössischen Zeitungen und Zeitschriften noch einmal angeführt, deren Autoren mit Namen, Kürzeln oder Pseudonymen identifiziert sind, und darunter auch nur Erstveröffentlichungen, das heißt keine identischen oder leicht bearbeiteten Nachdrucke in anderen Organen. Es werden aber alle verwendeten Periodika vollständig aufgelistet. Zu historischen monographischen Druckschriften finden sich im Quellenverzeichnis zusätzlich Verlagsangaben. Das Personenregister enthält nur historische Akteure und keine Namen aus der Sekundärliteratur.
2 . DE R MOZ A RTM Y T HO S . E I N E DE KON S T RU K T ION
. zum narr ativ einer musikerkindheit Das kollektive Gedächtnis ist bekanntermaßen nicht weniger selektiv als das individuelle. Während der überwiegende Teil der das Musikleben gestaltenden Personen früher oder später unweigerlich dem Vergessen preisgegeben ist, wird die Erinnerung an einige wenige durch wiederholte sprachliche, bildliche und klangliche Referenzen auch nach deren Tod noch am Leben erhalten, ein Prozess, der diese Individuen in historische Figuren mit entsprechender Bedeutung für das Selbstverständnis der sich an sie erinnernden Kultur verwandelt.¹ Eine solche Figur ist jene, die wir mit dem Namen Wolfgang Amadeus Mozart verbinden, in den Worten des Musikwissenschaftlers Mark Everist »one of the most powerful cultural icons of our times«². Interessanterweise lässt sich die symbolhafte Funktion Mozarts für die Gegenwart in besonderem Maße auf das Kind Mozart zurückführen. Gerade die ersten Lebensjahre des Komponisten scheinen eine ganz eigene Faszination auszuüben, was einmal mehr an Publikationen und Veranstaltungen zum Jubiläumsjahr deutlich wurde.³ Die Erzählung vom hochgradig musikalischen Knaben und seiner in reichhaltiger Anekdotik bezeugten unglaublichen Leistungen, die er während glanzvoller Reisen in ganz Europa zur Schau stellte – all das eignet sich offensichtlich auch heute noch hervorragend zur Sinnstiftung. Mozart gilt geradezu als Inbegriff des ›Wunderkindes‹ und wird als Superlativ gerne zum Vergleich mit Frühbegabungen aller Art und scheinbar mühelosen Höchstleistungen junger Menschen herangezogen. Seine Legende geht in Museumsausstellungen, Zeitungsartikeln, Fernsehproduktionen und auf Internetplattformen ebenso um
Zu kulturellem Gedächtnis und Identität vgl. grundlegend und stellvertretend für die große Menge an nachfolgenden Publikationen zur Thematik : Jan Assmann, »Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität«, in : Jan Assmann und Tonio Hölscher (Hgg.), Kultur und Gedächtnis, Frankfurt a. M. (= suhrkamp taschenbuch wissenschaft ), S. –. Mark Everist, Mozart’s Ghosts. Haunting the Halls of Musical Culture, New York , S. . Siehe Melanie Unseld, »Alle (Mozart-)Jahre wieder ? Gedanken über das Gedenken«, in : Annette Kreutziger-Herr (Hg.), Mozart im Blick. Inszenierungen, Bilder und Diskurse, Köln u. a. (= Musik – Kultur – Gender ), S. .
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wie in Romanen und Kinofilmen. In zahlreichen Medien soll Mozart gerade auch Kindern und Jugendlichen zur Identifikation dienen.⁴ Die wissenschaftliche Gemeinschaft leistet ihren unweigerlichen Beitrag zu diesem Erinnerungsprozess, ganz unabhängig davon, ob eine Distanz zur Mythisierung Mozarts, die man hier methodisch naturgemäß gewahrt wissen möchte, im Einzelfall nun tatsächlich immer so eingehalten wird. Zunächst ist einmal grundsätzlich festzustellen, welche außerordentliche Beachtung der Figur auch hier zukommt. Mozart findet sich unter den Forschungsschwerpunkten namhafter Professoren und Professorinnen, es widmen sich ihm regionale, nationale und internationale Forschungsgesellschaften, und die schier unendliche Publikationshistorie, die von verstreuten Einzelbeiträgen über spezialisierte Periodika bis zur eröffneten Großbaustelle der Neuen Mozart-Ausgabe reicht, erhält vor allem rund um Gedenkjahre jedes Mal erheblichen Zuwachs.⁵ Mehr als bezeichnend ist, dass selbst schon für Mozart-Bibliographien eine eigene Bibliographie existiert.⁶ Dabei hält die akademische Musikwissenschaft noch nicht einmal ein Monopol. Mozart ist als Thema ebenso beliebt unter Zur medialen Rezeption vgl. diverse Beiträge in : Peter Csobádi u. a. (Hgg.), Das Phänomen Mozart im . Jahrhundert. Wirkung, Verarbeitung und Vermarktung in Literatur, bildender Kunst und in den Medien, Gesammelte Vorträge des Salzburger Symposions , Anif (= Wort und Musik. Salzburger akademische Beiträge ) ; Lucjan Puchalski (Hg.), Mozarts literarische Spuren. Werk und Leben des Komponisten im literarischen Diskurs vom späten . Jahrhundert bis zur Gegenwart, Ergebnisse des Symposiums in Wrocław/Breslau, .–. November , Wien . Eine Filmographie und Quellenhinweise zu dem Thema geben Cliff Eisen und Simon P. Keefe (Hgg.), The Cambridge Mozart Encyclopedia, Cambridge u. a. , S. –. Zu Internet-Videos vgl. Freya M. de Mink, Musical Prodigies : Past, Present, and Future Perspectives on Exceptional Performance and Creativity, MA-Thesis, Utrecht . Zu Mozart in Kindermedien vgl. Melanie Unseld, »Alle (Mozart-)Jahre wieder ?«, S. – ; Christine Stöger, »Mozart kindgerecht ? Anmerkungen zur Mozartliteratur für Kinder im Umfeld des Jubiläumsjahres «, in : Annette Kreutziger-Herr (Hg.), Mozart im Blick, S. – ; Claudia Bullerjahn und Elisabeth Volkers, »Mozart-Biographien für Kinder«, in : Claudia Bullerjahn, Hans-Joachim Erwe und Rudolf Weber (Hgg.), Kinder – Kultur. Ästhetische Erfahrungen. Ästhetische Bedürfnisse, Opladen (= Reihe Kindheitsforschung ), S. –. Die internationale Mozart-Bibliographie der Stiftung Mozarteum Salzburg listet derzeit rund . Einträge. Online : http://www.mozarteum.at/wissenschaft/bibliothek/bibliotheca-mozartiana/mozart-bibliographie.html [abgerufen am ..]. Eine Liste von Mozart-Gesellschaften findet sich bei Cliff Eisen und Simon P. Keefe (Hgg.), The Cambridge Mozart Encyclopedia, S. –. Aktuelle Ausgabe der erstveröffentlichen Publikation : Karl F. Stock, Rudolf Heilinger und Marylène Stock, Mozart-Bibliographien. Selbständige und versteckte Bibliographien und Nachschlagewerke zu Leben und Werk Wolfgang Amadeus Mozarts und seiner Familie, . erweiterte Ausgabe, München .
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Geistes- oder Sozialwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern anderer Disziplinen, unter schriftstellernden Berufsmusikern, insbesondere aber auch unter Psychologen, Psychoanalytikern und Ärzten. Dass puristische Werkexegesen hierbei insgesamt eher die Ausnahme darstellen, trägt sein Übriges dazu bei, dass Mozart »zu den am meisten biographierten Personen überhaupt«⁷ zu zählen ist, wie die Musik- und Kulturwissenschaftlerin Melanie Unseld konstatiert. Diese Forschungsintensität ist in der Form nur deshalb überhaupt möglich, weil Mozart erstens bereits zu Lebzeiten von Personen umgeben war, die ein Nachleben des Musikers im Sinn und von daher ein Interesse daran hatten, biographisch relevantes Material aufzubewahren, und zweitens eine umfassende Erschließung von Leben und musikalischem Schaffen nach dem Tod Mozarts im Jahr früh genug einsetzte, um noch durch Dokumente und persönliche Erinnerungen diverser Zeitzeugen angereichert werden zu können.⁸ Der Umstand, dass die briefliche Korrespondenz der Familie Mozart somit zu einem großen Teil erhalten blieb, ist ein historiographischer Glücksfall. Dieses Korpus erlaubt relativ detaillierte Einsichten in Kindheit und Jugend eines Musikers, wie sie für das . Jahrhundert nur selten möglich sind. Vor dem Hintergrund der posthumen Deutung zu einem der größten Komponisten überhaupt, hat die günstige Quellenlage seit Beginn der Forschungsgeschichte die Neugierde nach den ersten Zeichen dieser ›Größe‹ im Lebensweg Mozarts nur noch befeuert. Die historische Spur führt Biographen bis heute insbesondere zu den Reisen, die Leopold Mozart in Begleitung seiner Frau Anna Maria mit seinen beiden Kindern zwischen und durch Österreich, das heutige Deutschland und Belgien, durch Frankreich, England, die Niederlande und die Schweiz sowie im Anschluss daran alleine mit seinem Sohn nach Italien unternahm. Der internationale Erfolg der Kindervirtuosen Maria Anna und Wolfgang Mozart bei den zahlreichen Auftritten in Gast- und Rathäusern, Kirchen und Theatern, ihren Vorstellungen an Fürstenhöfen und in aristokratischen Salons, nicht zuletzt die Gunstbezeigungen durch die gesellschaftliche Elite und wichtige Personen des europäischen Musiklebens, die sich in Einladungen, Empfehlungen, Ehrungen, Geschenken und der Erlaubnis zur Melanie Unseld, »Die tausend Leben des Wolfgang Amadé Mozart : Wandel und Wirkung biographischer Bilder«, in : Andreas Waczkat (Hg.), Wozu Biographik ? Zur Rolle biographischer Methoden in Vermittlungsprozessen und Musikanalyse, Bericht über die Tagung der Fachgruppe »Musikwissenschaft und Musikpädagogik« in der Gesellschaft für Musikforschung, Lüneburg, . November–. Dezember , Rostock , S. . Vgl. Gernot Gruber, »Mozart und die Nachwelt«, in : Claudia M. Knispel und Gernot Gruber (Hgg.), Mozarts Welt und Nachwelt, Laaber (= Das Mozart-Handbuch ), S. –.
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Widmung von Kompositionen ausdrückten, sind mittlerweile ausreichend dokumentiert und vielfach beschrieben worden.⁹ Dass die Quellenlage zur Kindheit Mozarts und die damit korrelierende Forschungsdichte die Gefahr einer Überbewertung mit sich bringt, liegt auf der Hand. Tatsächlich scheint der Mythos vom ›Wunderkind‹ Mozart allein schon durch die exklusive Aufmerksamkeit befördert zu werden, die dem Beispiel durch die Wissenschaft geschenkt wird. Wer die einschlägige Mozartliteratur hingegen in der Erwartung konsultiert, etwas über den Kontext des historischen Phänomens oder vergleichbare Fälle der Zeit zu erfahren, wird enttäuscht. Ein Interesse daran, die Auftrittsreisen der Familie sowie die öffentliche Inszenierung und Wahrnehmung der Kinder als kulturelle Praktiken zu begreifen und dadurch den vermeintlichen Einzel- oder Ausnahmefall Mozart wenigstens ansatzweise zu relativieren, ist hier weit und breit nicht auszumachen. Einige Beispiele aktuellerer Publikationen, die auf das Thema Bezug nehmen, mögen dies verdeutlichen. Das Kapitel »Vom Wunderkind zum Genie« in den erstmals erschienenen Annäherungen Georg Kneplers an Mozart etwa wird mit folgender Behauptung paradigmatisch eingeleitet : »Mozarts Musikalität als Kind war offensichtlich singulär.«¹⁰ Diese Singularität wird von Knepler mehr vorausgesetzt als begründet, denn irgendein Vergleich findet sich hier nicht. In der musikalischen Begabung Mozarts sieht der Autor »eine Frage von schaffenspsychologisch größtem Interesse«¹¹, aber anscheinend keine historisch relevante Frage, obwohl er mit dem Buch insgesamt gerade für eine Kontextualisierung Mozarts im Zeitgeschehen, insbesondere dem politischen, argumentiert. In dieser Hinsicht zunächst vielversprechender erscheint die Abhandlung W. A. Mozart und seine Zeit von Konrad Küster. Allerdings wird hierin gleich zu Anfang gerade der »Unterschied zwischen Mozart und Aus der jüngsten Forschungsliteratur, in besonders umfassender Weise, siehe etwa Robert W. Gutman, Mozart. A Cultural Biography, New York u. a. , S. – ; Stanley Sadie, Mozart. The Early Years, –, Oxford , S. – ; unter stärkerer Berücksichtigung des familiären Zusammenhangs, siehe Ruth Halliwell, The Mozart Family. Four Lives in a Social Context, Oxford u. a. , S. – ; mit besonderem Fokus auf Leopold Mozart als Akteur, siehe Josef Mančal, Leopold Mozart und seine Familie auf Europareise – von Salzburg über München, Augsburg, Ulm, Mainz nach Brüssel, Paris, London, Antwerpen, Den Haag, Amsterdam, Lyon, Genf und Zürich, Augsburg (= Augsbuch ) ; als achronologische, nach Orten sortierte Darstellung, siehe Rudolph Angermüller, Mozarts Reisen in Europa, –, Bad Honnef . Georg Knepler, Wolfgang Amadé Mozart. Annäherungen, . durchgesehene und neugestaltete Ausgabe, [Berlin] , S. . Ebd., S. .
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seiner Zeit«¹² unterstrichen, welcher in der Ausbildung während der frühen Reisen gelegen habe, wobei Küster vor allem am kompositionstechnischen Lernprozess des jungen Musikers interessiert ist. Der Behauptung liegt auch hier keine Gegenüberstellung mit Kindern anderer Musikerfamilien zugrunde. Martin Geck hingegen nennt in seiner Mozart-Biographie immerhin ein paar weitere Namen von ›Wunderkindern‹ des . Jahrhunderts, wie den Sohn des Wiener Pädagogen Joseph Mesmer aus dem Bekanntenkreis Leopold Mozarts, William Crotch (bezeichnenderweise mit falscher Orthographie als »Crotsch«), Ludwig van Beethoven oder das berühmte ›gelehrte Kind‹ Christian Heinrich Heineken.¹³ Nur ist Geck an dieser Stelle eher darum bemüht, sich dieser Fälle in einigen wenigen Zeilen wieder zu entledigen, indem er sie von der »einzigartigen Künstlerpersönlichkeit, die offenbar schon der kleine Mozart darstellt«¹⁴, abgrenzt. Die kulturellen Zusammenhänge dieser Gleichzeitigkeit bleiben außen vor. Leider sind solche Zusammenhänge auch in der umfänglichen Monographie Robert Gutmans gänzlich zu vermissen, obwohl diese ihren kulturgeschichtlichen Anspruch (A Cultural Biography) schon im Titel trägt. Stattdessen ist hierin eine relativ unkritische Wiedergabe von Kindheitsszenen Mozarts aus der Erinnerung des Salzburger Hoftrompeters Johann Andreas Schachtner zu finden, die Gutman für bare Münze nimmt (also objektive Tatsachenberichte), ohne ihre erzählerische Funktion als anekdotischer Beitrag einer posthumen Biographik zu problematisieren. Für Gutman bedeuten die hier geschilderten erstaunlichen Ereignisse schlichtweg »a historic demonstration of musical precocity«¹⁵. Ähnlich arglos geht auch Maynard Solomon mit diesen Quellen um.¹⁶ Er stellt außerdem die Behauptung auf, dass die Familie Mozart mit ihrer Europareise gleich »ein neues Kapitel der Musikgeschichte geschrieben«¹⁷ hätte. Stark verkürzt leitet Solomon aus der zeitgenössischen Resonanz auch die nachhaltige Rezeption Mozarts ab : »Das Bild des Kindes Mozart blieb für immer im Gedächtnis der westlichen Zivilisationen verankert.«¹⁸ Knepler, Konrad Küster, W. A. Mozart und seine Zeit, Laaber (Große Komponisten und ihre Zeit), S. . Siehe Martin Geck, Mozart. Eine Biographie, Mit Illustrationen von F. W. Berstein, Reinbek , S. –. Ebd., S. . Siehe zu Heineken und dem Typus ›gelehrtes Kind‹ Kap. ., S. –. Robert W. Gutman, Mozart, S. . Zur Problematisierung solcher Anekdoten siehe weiter unten, S. –. Maynard Solomon, Mozart. Ein Leben, Aus dem Amerikanischen von Max Wichtl, . Aufl., Kassel u. a. , S. –. Ebd., S. . Ebd., S. .
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Küster, Geck, Gutman und Solomon – weitere Beispiele ließen sich finden – setzen dem gängigen Mozart-Bild und damit der Erwartungshaltung der überwiegenden Mehrheit ihrer Leserinnen und Leser in diesem Punkt nichts entgegen. Den Mythos des alleinstehenden und unvergleichlichen ›Wunderkindes‹ schreiben sie damit fort. Dieser Mythos beschränkt sich keineswegs auf die Mozartliteratur im engeren Sinne. Selbst in Publikationen, die aufgrund größerer Materialfülle und eines weiteren Blicks eine Kontextualisierung leisten könnten, wird dies nur sehr bedingt eingelöst oder überhaupt angestrebt. Das erhärtet den Verdacht, dass hier weniger eine dezidierte Forschungsposition als vielmehr eine kulturell fest verankerte Vorstellung am Werke ist, von der sich auch Forscherinnen und Forscher offenbar nur schwer freimachen können. Selbst in dem einleitend erwähnten Band Beethoven und andere Wunderkinder (), einem vergleichsweise umfassenden und fundierten Beitrag zur Thematik, wird Mozart wie selbstverständlich als das »Wunderkind an sich«¹⁹ gehandelt, dessen öffentliche Erscheinung »gleichsam den Beginn der Jahre alten Geschichte des Phänomens Wunderkind«²⁰ eingeläutet habe. Und in einer französischsprachigen Publikation zur Kulturgeschichte von ›Wunderkindern‹ in verschiedenen Kunstund Wissensbereichen von trägt der einzige der einundzwanzig kurzen Aufsätze mit Bezug zur Musik den vielsagenden Titel »Etre Mozart : Wolfgang et ses émules«²¹ (Mozart sein : Wolfgang und seine Nacheiferer). Dieser Automatismus, Mozart zum Ursprung der historischen Erscheinung zu erklären, ohne dass ernsthafte Bemühungen angestrengt und Rechenschaft darüber abgelegt würde, ob tatsächlich nirgends Vergleichbares vorliegt, ist ein Gesetz des historiographischen Narrativs. So wird vielmehr allgemein als gegeben angenommen, denn im Einzelnen argumentiert und belegt, dass sich andere Kindervirtuosen zu Mozart verhalten müssten wie Kopien zum Original. Dass sich der Mozart-Mythos bis in die gegenwärtige musikwissenschaftliche Behandlung des Themas hinein fortsetzt, ist also teils der spezifischen Forschungslage, teils aber auch schlichtweg unhinterfragten Vorurteilen geschuldet. Jedenfalls Otto Biba, Ingrid Bodsch und Ingrid Fuchs, »Vorwort«, in : Ingrid Bodsch, Otto Biba und Ingrid Fuchs (Hgg.), Beethoven und andere Wunderkinder, Wissenschaftliche Beiträge und Katalog zur Ausstellung, Bonn , S. . Ingrid Fuchs, »›Bewundrungswerthes Kind ! deß Fertigkeit man preißt …‹. Beispiele der Beurteilung musikalischer Wunderkinder vom . bis . Jahrhundert«, in : Ingrid Bodsch, Otto Biba und Ingrid Fuchs (Hgg.), Beethoven und andere Wunderkinder, S. . Siehe Dominique Hausfater, »Etre Mozart : Wolfgang et ses émules«, in : Michèle Sacquin (Hg.), Le printemps des Génies. Les enfants prodiges, Paris , S. –.
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bedarf das Bild dringend einer Revision. Kurzum : Wolfgang Mozart war Mitte des . Jahrhunderts weder der erste und einzige Kindervirtuose, noch kann man dessen öffentlichen Erfolg für die Verbreitung des Phänomens ›Wunderkind‹ um verantwortlich machen und die vielen Nachfolger als eine Schar von Nachahmern bezeichnen. Mit diesem allzu bequemen Kausalschluss muss aufgeräumt werden, um den Weg für kulturhistorische Interpretationen zu ebnen. Die Dekonstruktion des Mozart-Mythos, wie sie in diesem Kapitel unternommen werden soll, verfolgt damit keine Schmälerung der musikalischen Leistungen des Musikers. Ihr geht es grundsätzlich um etwas anderes, nämlich um die Rolle der historischen Figur, die wir selbst geschaffen haben und die uns nun den Blick auf ein Stück Vergangenheit versperrt. Gerd-Heinz Stevens gehört mit seiner Dissertation Das Wunderkind in der Musikgeschichte ebenfalls zu den Autoren, die jenen Mythos reproduzieren : »Nach den Erfolgen der Geschwister Mozart, vor allem von Wolfgang Amadeus, versuchten ehrgeizige Eltern in ganz Europa, ihre Kinder als Wunderkinder vorzustellen, wobei sie sich nicht scheuten, diese mit dem jungen Mozart zu vergleichen. Eine wahre Flut von ›neuen Mozarts‹ setzte gegen Ende des . Jahrhunderts ein.«²²
Einer Überprüfung hält diese These nicht stand. Als Belege für die »Flut«, die sich als Reaktion auf Mozart im späten . Jahrhundert ergossen hätte (der tadelnde Unterton ist unüberhörbar), führt Stevens nach und nach drei Fälle an : William Crotch, George Frederick Pinto und Ludwig van Beethoven.²³ Die Einschätzung Johann Gottlob Neefes über seinen Schüler Beethoven, die Stevens für dieses Beispiel heranzieht, bezog sich jedoch streng genommen auf die Erfolge des erwachsenen Mozart und nicht auf dessen Kindheit. Wörtlich hieß es in dem Bericht für Carl Friedrich Cramers Magazin der Musik von : »Dieses junge Genie verdiente Unterstützung, daß er reifen könnte. Er würde gewiß ein zweyter Wolfgang Amadeus Mozart werden, wenn er so fortschritte, wie er angefangen.«²⁴ Die anderen beiden Beispiele wiederum spielen auf den Topos des ›englischen Mozarts‹ an. Grundlage in Bezug auf Pinto bildet die dem Londoner Konzertimpresario Johann Peter Salomon immer wieder nachgesagte, nirgends aber direkt nachgewiesene Einschätzung, dass sein Schüler Gerd-Heinz Stevens, Das Wunderkind in der Musikgeschichte, Diss., Münster , S. . Siehe ebd., S. , , . [Johann Gottlob Neefe], »Nachricht von der churfürstlich-cöllnischen Hofcapelle zu Bonn und andern Tonkünstlern daselbst«, in : Magazin der Musik /Nr. (März ), S. .
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wohl ein zweiter Mozart (»a second Mozart«) geworden, wenn er nur eben nicht so früh gestorben wäre. Das entsprechende Zitat lässt sich lediglich bis zu einem in der Musikzeitschrift The Harmonicon erschienenen, biographischen Porträt Pintos zurückverfolgen, wo es an rhetorisch entscheidender Stelle, zum Schluss des Aufsatzes, angeführt wurde.²⁵ Für das Beispiel William Crotch beruft sich Stevens auf Renee B. Fisher, die in ihrem Buch Musical Prodigies () die Behauptung aufstellt, dem jungen Musiker sei durch viele Zeitgenossen »the title of ›the second Mozart‹«²⁶ vorausgesagt worden. Weder bei Fisher noch bei Stevens wird diese Beurteilung mit Quellen dokumentiert, lässt sich vermutlich aber auf den Komponisten William Gardiner zurückführen. Gardiner allerdings hat dies ebenfalls erst relativ spät, in seinen publizierten Erinnerungen, formuliert : »Such early indications of talent gave high expectations of future greatness, and had he not gone into the schools to be saturated with the rigid harmonies of the ancients, which sealed up his genius, we might have boasted of a native Mozart.«²⁷
Solche Zuschreibungen klingen verdächtig nach einer trotzigen Erwiderung auf das Stereotyp von England als ein ›Land ohne Musik‹ und gehören somit wesentlich zu den typisch nationalistischen Diskursen des . Jahrhunderts.²⁸ Sie operieren bereits mit dem Nimbus der historischen Figur, nicht mit dem Zeitgenossen Mozart. Auf der anderen Seite ist zumindest ein ähnlicher Mo Siehe [Anon.], »Memoir of George Frederic Pinto«, in : The Harmonicon (), S. . Nicholas Temperley kennzeichnet diesen Aufsatz als veränderten Wiederabdruck einer separat erschienenen Biographie eines »M. Gordon« (die Quelle ist in einschlägigen bibliographischen Katalogen global allerdings nicht auffindbar). Siehe Nicholas Temperley, Art. »Pinto, George Frederick«, in : Stanley Sadie (Hg.), The New Grove Dictionary of Music and Musicians. Volume : Paliashvili to Pohle, London , S. –. Renee B. Fisher, Musical Prodigies. Masters at an Early Age, New York , S. . William Gardiner, Music and Friends ; or, Pleasant Recollections of A Dilettante, Bd. , London u. a. , S. . Die griffige Formel für das lange zuvor schon existierende Vorurteil prägte Oscar A. H. Schmitz, Das Land ohne Musik. Englische Gesellschaftsprobleme, München . In dieselbe Sparte wie die ›englischen Mozarts‹ Crotch und Pinto gehört im Übrigen auch der bereits in der Kindheit komponierende und noch vor Erreichen seines zwanzigsten Lebensjahres verstorbene Juan Crisóstomo de Arriaga, dessen Beiname »Mozart español« erst Jahrzehnte nach dessen Tod am Ende des . Jahrhunderts geprägt wurde und seitdem in biographischen Darstellungen immer wieder bereitwillig aufgegriffen wird. Siehe Barbara Rosen, Arriaga, the Forgotten Genius : The Short Life of a Basque Composer, Reno (= Basque Studies Program Occasional Papers Series ), S. .
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zart-Vergleich schon von Daines Barrington überliefert worden. Zum Vorbild könnten spätere Beschwörungen ›englischer Mozarts‹ also auch einen Ausspruch des Komponisten William Boyce genommen haben, der bei seinem Besuch der Familie Wesley in Bezug auf den achtjährigen Samuel gesagt haben soll : »›Sir, I hear you have got an English Mozart in your house […]‹«²⁹. Stevens’ Annahme verkennt grundsätzlich, dass es noch Ende des . Jahrhunderts schlichtweg keinen Anlass gab, dem ›Wunderkind‹ Mozart irgendeine Sonderstellung zuzusprechen. Der Fall war bekannt, aber eben nur einer unter vielen. Der Theologe und Flötist Carl Ludwig Junker wusste für seinen Aufsatz in Meusels Museum für Künstler und Kunstliebhaber von immerhin sechzehn zeitgenössische Beispiele für Mädchen und Jungen aufzuzählen, die vor ihrem zwölften Lebensjahr mit Musik öffentlich debütiert hatten. Wolfgang Mozart befand sich in der Auflistung, wurde aber nicht besonders hervorgehoben. Von William Crotch hingegen meinte Junker immerhin, er sei »so bekannt, daß man nur an seinen Namen zu erinnern braucht.«³⁰ Die in England gemachte Entdeckung des etwa dreijährigen Crotch war im Übrigen durchaus ein Anlass, neuerlich auch über die musikalische Begabung Mozarts zu diskutieren. Was die öffentliche Aufmerksamkeit betraf, schien dieser nun aber eine Zeit lang international tatsächlich eher im Schatten des in zweifacher Hinsicht jüngeren ›Wunderkindes‹ zu stehen. Johann Gottlieb Naumann, erfolgreicher Komponist und Dresdner Hofkapellmeister, der für die Berlinische Musikalische Zeitung einen Bericht »Ueber ein musikalisches Wunderkind« verfasste – namentlich den sechsjährigen Wilhelm Karl Rust aus Dessau – kam hierbei offenbar ebenfalls an erster Stelle Crotch in den Sinn. Seinen Aufsatz über Rust und dessen erstaunliche musikalische Fähigkeiten, die angeblich den verschiedensten Prüfungen standhielten, leitete er mit den Worten ein : »Sie erinnern sich wohl der Beschreibung des kleinen Engländers Crotsch [sic], des sogenannten Wunderkindes, welches in seinem ten Jahre schon auf einer kleinen Orgel spielte. Jetzt muss ich Sie mit einer ähnlichen Erscheinung bekannt machen, die sie nicht weniger Wunder nehmen wird.«³¹
Daines Barrington, Miscellanies, London , S. . [Carl Ludwig Junker], »Junge Ton-Künstler unserer Zeit«, in : Museum für Künstler und Kunstliebhaber /Drittes Stück (), S. . Johann Gottlieb Naumann, »Ueber ein musikalisches Wunderkind. (Aus einem Briefe des Hrn. Kapellmeister Naumann in Dresden)«, in : Berlinische Musikalische Zeitung /Nr. (. Dezember ), S. .
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Mozart hingegen musste hier, ähnlich wie bei Neefe, eher für eine Zukunftsprognose herhalten :»Wenn der Knabe so fortfährt, so kann aus ihm einmal in der Musik ein zweiter Mozart werden, zumal wenn er das Glück hat, den guten Unterricht seiner Eltern noch lange zu genießen […]«³². Die Familien der entsprechenden Kinder waren an den bisher zitierten Anspielungen auf Mozart unbeteiligt (das Gegenteil suggeriert Stevens). Einer der ersten Kindervirtuosen, bei dem es die Eltern selbst gezielt auf einen direkten und anhaltenden Vergleich mit ihm ankommen ließen, war dessen Sohn Franz Xaver. Bereits in einem Nachruf auf den Vater, der am . Dezember in der ungarischen Zeitung Hadi és Más Nevezetes Történetek erschien, wurde eine Verknüpfung mit der musikalischen ›Frühreife‹ des hinterlassenen Halbwaisen hergestellt : »Das eine von diesen Kinderchen, obwohl noch sehr klein, schlägt schon das Clavichord auf eine Art, dass es alle mit Staunen hören.«³³ Die Witwe Constanze Mozart versuchte daraufhin, durch eine entsprechende Ausbildung und öffentliche Inszenierung, den Sohn in die Fußstapfen des Vaters treten zu lassen.³⁴ Anzunehmen ist, dass man Franz Xaver bereits in den musikalischen Salons Constanzes hatte auftreten sehen, bevor er für das von ihr veranstaltete Konzert (»musikalische Akademie«) am . November im Prager Nationaltheater, bei dem ausschließlich Kompositionen des verstorbenen Gatten aufgeführt wurden, als Sänger auf dem Programmzettel präsentiert wurde : ». Wird auf gnädiges Verlangen der kleine eben jährige Wolfgang, der jüngere hinterlassene Sohn Mozarts, um dem verehrungswürdigsten Publikum Prags, für die hierorts seinem Vater so vielfältig bewiesene Zuneigung, einen kleinen Beweis seines ehrfurchtsvollen Dankes zu geben und zu zeigen, daß er Eifer zu fühlen anfängt dem großen Beispiele seines Vaters nachzustreben, die Arie aus der Zauberflöte : ›der Vogelfänger bin ich‹ bei Begleitung des Pianoforte singen. Man bittet um Nachsicht gegen die ersten Aeusserungen seines zarten Talents.«³⁵
Ebd., S. . Dt. Übersetzung zitiert nach Otto E. Deutsch (Hg.), Mozart. Die Dokumente seines Lebens, Kassel (Wolfgang Amadeus Mozart. Neue Ausgabe sämtlicher Werke X/), S. . Vgl. Gesa Finke, Die Komponistenwitwe Constanze Mozart. Musik bewahren und Erinnerung gestalten, Köln u. a. (= biogr aphik. Geschichte – Kritik – Praxis ), S. ; Gernot Gruber, »Mozart und die Nachwelt«, S. – ; Karsten Nottelmann, W. A. Mozart Sohn. Der Musiker und das Erbe des Vaters, Bd. , Kassel (= Schriftenreihe der Internationalen Stiftung Mozarteum ), S. –. Das Dokument befindet sich im Besitz der Deutschen Staatsbibliothek Berlin. Zitiert nach Otto E. Deutsch (Hg.), Mozart. Die Dokumente seines Lebens, S. .
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Den Vornamen des Vaters führte der Sohn statt des eigenen von nun an konsequent und lebenslang. So wies »Mozarts Wittwe« beispielsweise mit einem Anschlagzettel auf eine weitere musikalische Akademie für den . April im Theater an der Wien hin, in deren Zentrum der als dreizehnjährig ausgegebene »Wolfgang Gottlieb Mozart« und dessen anlässlich des Geburtstages von Joseph Haydn komponierte Festkantate stehen sollten.³⁶ Und der Wiener Hofkapellmeister Antonio Salieri stellte zwei Jahre später ein Zeugnis für »il giovine Signor Wolfgango Amadio Mozart« aus, der Franz Xaver als »un talento raro per la musica« (ein seltenes musikalisches Talent) auszeichnete.³⁷ Die von ihrem späteren Ehemann Georg Nikolaus Nissen verfasste und erschienene Mozart-Biographie erkannte Constanze als weitere Gelegenheit, den Namen ihres Sohnes bekannter zu machen. So wurden darin etwa Briefe Franz Xavers abgedruckt, oder auf die äußerliche Ähnlichkeit der Ohren von Vater und Sohn und damit implizit auf die Vererbung seines Genies hingewiesen und diese Behauptung mit einer entsprechenden Lithographie illustriert.³⁸ Es erklärt sich aus dem physiognomischen Denken der Zeit, dass man sich für einen Abdruck – ein solcher war immer aufwändig und teuer – gerade dieses Motivs entschieden hat : »Offenbar lebte der Geist seines Vaters in ihm […]. Die Gesichtszüge und Ohren des Sohnes Wolfgang sind denen des Vaters ähnlich. Was ausserordentlich merkwürdig zu seyn scheint, ist der Bau von Mozart’s Ohren, ganz verschieden von den gewöhnlichen, und die, im Vorbeygehen gesagt, nur sein jüngster Sohn von ihm geerbt hat. Aus dieser beyliegenden Abbildung ist es ersichtlich, worin der Unterschied besteht.«³⁹
Ein Kindervirtuose, bei dem eine solche Inszenierung mit Mozart-Analogien ähnlich systematisch betrieben wurde, war der Pianist und Komponist Pio Ci Siehe Ingrid Fuchs, Kat. Nr. , in : Ingrid Bodsch, Otto Biba und Ingrid Fuchs (Hgg.), Beethoven und andere Wunderkinder, S. . Vgl. Gesa Finke, Die Komponistenwitwe Constanze Mozart, S. –. Autograph im Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, Abdruck bei : Ingrid Fuchs, Kat. Nr. , in : Ingrid Bodsch, Otto Biba und Ingrid Fuchs (Hgg.), Beethoven und andere Wunderkinder, S. –. Vgl. Gesa Finke, Die Komponistenwitwe Constanze Mozart, S. ; Anja Morgenstern, »Neues zur Entstehungsgeschichte und Autorschaft der ›Biographie W. A. Mozart’s‹ von Georg Nikolaus Nissen (/)«, in : Mozart-Jahrbuch o. Jg. (), S. –. Zu Nissens Rolle grundsätzlich, vgl. Karsten Nottelmann, W. A. Mozart Sohn, S. –. Georg Nikolaus Nissen, Biographie W. A. Mozarts, hg. und mit Anmerkungen versehen von Rudolph Angermüller, Hildesheim , S. .
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anchettini. Dieser reiste zu Beginn des . Jahrhunderts mit seiner Mutter, der Musikerin Veronica Elizabeth Cianchettini (geborene Dussek), durch Europa und tat sich neben der Musik auch noch mit einer Reihe von Sprachen hervor, die er angeblich beherrschte. Sein erstes Opus, eine um veröffentlichte Klaviersonate trug im Titel den unmissverständlichen Hinweis »Composed at the Age of Six Years by Pio Cianchettini surnamed Mozart Britannicus« und beanspruchte im Widmungsschreiben an die englische Königin Charlotte ausdrücklich die Ähnlichkeit mit Mozart : »The little Cianchettini, in imitation of his Prototype Mozart, implores permission to Offer to his Souvereign this Primizia of his Talent in Composition […]«⁴⁰. In den Pariser Nachrichten des Journal Politique de Mannheim hieß es im Frühjahr über ihn : »Cet enfant rappelle le fameux Mozart, qui, au même âge, parcourut l’Europe et se fit admirer partout, par les preuves qu’il donnoit [sic] déjà de ce génie musical qu’il a déployé ensuite avec tant de supériorité et de succès.«⁴¹
Und als die Cianchettinis Ende des Jahres schließlich nach England zurückkehrten, gab man in der Londoner Presse bekannt : »He has already composed several charming fantasias and sonatas, in which he displays a wonderful fecundity of fine ideas, and that his musical genius is astonishingly precocious may be concluded from the opinion of many able professors who knew Mozart in his infant years, and declare that our little countryman is much more forward that his predecessor at the same age. We hope that in his musical career, commenced with so much eclat [sic], he will show himself worthy of the flattering surname of Mozart Brittanicus [sic] which was conferred upon him on the Continent.«⁴² Pio Cianchettini, Sonata for the Piano Forte, op. , London : Cianchettini & Sperati [~]. Widmung zitiert nach Otto Biba, Kat. Nr. , in : Ingrid Bodsch, Otto Biba und Ingrid Fuchs (Hgg.), Beethoven und andere Wunderkinder, S. . Auch Cianchettinis Two Fantasias for the Piano-Forte, op. d, London : Cianchettini & Sperati o. J. beinhalteten im ausführlichen Titel seinen Spitznamen. Journal Politique de Mannheim vom . März (Nr. ), o. S. »Dieses Kind erinnert an den berühmten Mozart, der im selben Alter Europa durchquerte und sich überall durch die Beweise bewundern ließ, die er bereits von seinem musikalischen Genie gab, das er danach mit so viel Überlegenheit und Erfolg gezeigt hat.« (Übers. d. Verf.) The Morning Chronicle vom . November (Nr. ), o. S. Eine deutsche Übersetzung der Nachricht erschien als : [Anon.], »Aus England«, in : Zeitung für die elegante Welt /Nr. (. Dezember ), Sp. –. Eine kurze Nachricht erschien außerdem in : Kaiserl.
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Ob es diese Musikgelehrten, die die Begabung Cianchettinis über diejenige Mozarts erhoben, wirklich gegeben hat oder nicht, muss wohl offenbleiben. Im Familienkreis griff man die Zuschreibung jedenfalls bereitwillig auf, wenn sie nicht ohnehin ursprünglich aus ihm stammte. Der berühmte Klaviervirtuose und Komponist Jan Ladislav Dussek widmete seinem Neffen »Pio Cianchettini of London years old, who in his recent tour in the continent was honoured by the first Professors & Connoisseurs with the surname of Mozart britannicus«⁴³ im selben Jahr eine vierhändige Klaviersonate. Und Dusseks Schwester Veronica Cianchettini, die Mutter Pios, nutzte den Beinamen ihres Sohnes und erfolgreichen Schülers zur Werbung für den von ihr in London fortan angebotenen Klavierunterricht.⁴⁴ Noch für ein im Haus von Mrs. Deris und Mrs. Massey am Gloucester Place in London stattfindendes Subskriptionskonzert wurde der achteinhalbjährige Knabe als »Our British Mozart«⁴⁵ angekündigt. In ihrer Dissertation weist Yvonne Amthor allerdings darauf hin, dass sich solche und ähnliche Vergleiche mit dem ›Wunderkind‹ Mozart in der Presse erst ab den er Jahren deutlich mehrten.⁴⁶ Mit einiger Verzögerung also wurde im . Jahrhundert aus einem Beispiel musikalischer Begabung unter vielen allmählich so etwas wie »the archetype of musical prodigies«⁴⁷. Ohne die Rezeptionsgeschichte bis in die Gegenwart an dieser Stelle im Einzelnen nachzeichnen zu können, lässt sich doch die plausible Behauptung aufstellen, dass der Grundstein für die nachhaltige Vorstellung einer Singularität der musikalischen Begabung Wolfgang Mozarts in der frühen Biographik des Musikers in den Jahren um die Wende zum . Jahrhundert gelegt wurde. So trivial die Feststellung klingen mag : Ihr Blick unterschied sich von der zeitgenössischen Wahrnehmung wesentlich dadurch, dass sie an eine Retrospektive gekoppelt war und damit die Funktion von Erinnerungsarbeit bekleidete. Dies brachte qualitative Änderungen im Mozart-Bild mit sich. Die von nun an immer wieder bekräftigte ›Unsterblichkeit‹ des Musikers trug Züge einer bis dato
östreichische und Königl. bairische privilegirte Allgemeine Zeitung vom . Januar (Nr. ), S. . Jan Ladislav Dussek, A New Sonata for two performers, on one piano forte, (Craw ), London : Cianchettini & Sperati []. (Titelblatt) Siehe The Morning Chronicle vom . November (Nr. ), o. S. Zur Figur des Vorzeigeschülers vgl. Kap. ., S. –. The Observer vom . Mai (Nr. ), o. S. Siehe Yvonne Amthor, ›Wunderkinder‹ – Musical Prodigies in European Concert Life between and , Diss., Leeds , S. –. Ebd., S. .
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unbekannten Heroisierung und war eng mit der Umwandlung seiner Kompositionen in Werke eines möglichst zeitlosen Kanons verbunden.⁴⁸ Schon den ersten Mozartbiographen, angefangen bei Friedrich Schlichtegroll, ging es in erster Linie um das kompositorische Schaffen Mozarts, obwohl dieses zu dessen Lebzeiten letztlich nur eine Facette seiner künstlerischen Existenz, neben dem Musizieren, Dirigieren, Unterrichten etc. ausgemacht hatte. Sie erst erfanden den ›Tonschöpfer‹ Wolfgang Amadeus Mozart.⁴⁹ Dabei spielten letztlich auch handfeste marktwirtschaftliche Interessen eine gewisse Rolle. In diesem Zusammenhang verdienen die Beiträge zu Mozart aus der Feder von Friedrich Rochlitz, des verantwortlichen Redakteurs der Allgemeinen musikalischen Zeitung, zwischen und Beachtung. Dessen Anekdoten, Aufsätze und Rezensionen sind, in ihren stark apologetischen Zügen, nicht ganz zufällig parallel zur Herausgabe eines Œuvres Complettes unter dem Dach desselben Leipziger Verlages Breitkopf & Härtel erschienen, welcher anfänglich wiederum zusätzlich den Plan einer ergänzenden Biographie verfolgt hat.⁵⁰ Eine solche erschien bei Breitkopf & Härtel aber erst , das bis dahin umfassendste Werk zu Mozarts Leben von Georg Nikolaus Nissen. Dem veröffentlichten Nekrolog des Gothaer Gelehrten Friedrich Schlichtegroll im Gedenken an den verstorbenen Mozart ist der Legitimationszwang deutlich anzumerken, in dem sich die Biographiewürdigkeit von Musikern im . Jahrhundert generell noch befand.⁵¹ Dabei finden sich in Schlichtegrolls Schrift zweierlei Begründungen. Einerseits rechtfertigt sich der Autor mit der geistigen ›Frühreife‹ Mozarts, die als Exemplar eines besonderen Naturphänomens schließlich wissenschaftliche Aufmerksamkeit verdiene : »Aber unbeschreiblich schätzbar und wichtig bleibt ungeachtet dessen dennoch das Andenken jener Menschen mit seltnen Kräften und Anlagen zu einzelnen Fähig Vgl. Gernot Gruber, »Mozart und die Nachwelt«, S. –, – ; Melanie Unseld, Biographie und Musikgeschichte. Wandlungen biographischer Konzepte in Musikkultur und Musikhistoriographie, Köln u. a. , S. –, –. Hierfür ist neben den im Folgenden betrachteten Biographien insbesondere erwähnenswert : [Ignaz Ferdinand Arnold], Mozarts Geist. Seine kurze Biografie und ästhetische Darstellung seiner Werke. Ein Bildungsbuch für junge Tonkünstler, Erfurt . Vgl. Ulrich Konrad, »Friedrich Rochlitz und die Entstehung des Mozart-Bildes um «, in : Hermann Jung (Hg.), Mozart. Aspekte des . Jahrhunderts, Mannheim (= Mannheimer Hochschulschriften ), S. –.; Marcus Erb-Szymanski, »Friedrich Rochlitz als Promoter Mozarts. Über die Anfänge musikalischer Kanonbildung«, in : Musiktheorie. Zeitschrift für Musikwissenschaft /Nr. (), S. –. Siehe dazu eingehend Melanie Unseld, Biographie und Musikgeschichte, S. –.
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keiten. Sie sind Phänomene, die man anstaunt, und deren treue Abbildungen der Forscher der Menschennatur als unschätzbare Kabinetsstücke ansieht, zu denen er oft zurückkehrt, um an ihnen den unbegrenzten Umfang des menschlichen Geistes zu bewundern. Zu ihnen gehört M o z a r t , ein Wunder von Anlagen und von früher Entwickelung derselben«.⁵²
Vor diesem Hintergrund besaß Schlichtegrolls Fokus auf die »Geschichte seiner Kindheit und Jugend«⁵³ durchaus ihre Berechtigung, vor allem, weil man im . Jahrhundert bereits eine Vielzahl ähnlicher Texte über sogenannte ›gelehrte Kinder‹ kannte.⁵⁴ Eine mögliche Vorlage existierte außerdem im berühmten »Wunderkind«⁵⁵ Georg Friedrich Händel, dessen Lebensweg als Knabe und Jüngling etwa Johann Friedrich Reichardt nacherzählt hat. Andererseits möchte Schlichtegroll Mozart eine Art Denkmal setzen, ihn für immer im »Tempel der Muse der Tonkunst«⁵⁶ vertreten sehen. Hier steht die Funktion der Erinnerung an das künstlerische Subjekt im Vordergrund und verweist bereits auf die Heroengeschichtsschreibung des . Jahrhunderts.⁵⁷ Mit gewisser Friedrich Schlichtegroll, Nekrolog auf das Jahr . Enthaltend Nachrichten von dem Leben merkwürdiger in diesem Jahre verstorbener Personen, Zweyter Jahrgang, Bd. , Gotha , S. . Ebd., S. . Für die Beschränkung auf die ersten zwanzig Lebensjahre gab es aber auch Sachzwänge. Schlichtegroll bezog seine Informationen vor allem, über den Mittelsmann Albert von Mölk, von der Schwester Maria Anna (nun verheiratet als von Berchtold zu Sonnenburg) sowie dem Salzburger Hofmusiker Johann Andreas Schachtner, die kaum etwas über die Zeit Wolfgangs in Wien nach dessen Abnabelung von der Familie berichten konnten. Vgl. zur Entstehungsgeschichte Bruce C. Clarke, »Albert von Mölk : Mozart Myth-Maker ? Study of an th Century Correspondence«, in : Mozart-Jahrbuch o. Jg. (), S. – ; Ruth Halliwell, The Mozart Family, S. –. Siehe Kap. ., S. –. Johann Friedrich Reichardt, George Friederich Händel’s Jugend, Berlin , S. . Im Mittelpunkt stand hier auch die Frage nach einem deutschen Nationalgenie. So lief Reichardts Narrativ auf die Enttäuschung Händels in Italien zu, dem angeblichen Land der Musik, wo er auf eine Tonkunst trifft, die »sein erhabenes Ideal, das ihm gewiß damals schon in himmlischen Chören dunkel vor der Seele schwebte und das zu erreichen er sich im Innersten der Seele fähig fühlte« unbefriedigt lässt. Ebd., S. –. Wie Reichardt bemühte sich zeitgleich auch Johann Joachim Eschenburg mit Nachforschungen um eine biographische Erhellung der frühen Lebensjahre Händels. Siehe den »Vorbericht des Uebersetzers« in : Charles Burney, Dr. Karl Burney’s Nachricht von Georg Friedrich Händel’s Lebensumständen und der ihm zu London im Mai und Jun. angestellten Gedächtnißfeyer, Aus dem Englischen übersetzt von Johann Joachim Eschenburg, Berlin u. a. , o. S. Friedrich Schlichtegroll, Nekrolog auf das Jahr , Bd. , S. . Vgl. Melanie Unseld, Biographie und Musikgeschichte, S. –.
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Analogie zu diesen beiden biographischen Begründungszusammenhängen, des wissenswerten naturkundlichen Phänomens einerseits und der erinnerungswürdigen Taten des Helden andererseits, schlug der Nekrolog auch eine Brücke zwischen zwei Geniebegriffen : dem Genie, das man hat, und dem Genie, das man ist. Der Gebrauch des Terminus zur Kennzeichnung einer Eigenschaft geistiger Exzellenz, der entsprechend seiner etymologischen Wurzeln (lat. ingenium) mit angeborener Begabung oder Talent weitgehend gleichgesetzt war, besaß eine in die römische Antike zurückreichende Geschichte. Dagegen war das Genie als künstlerisch-kreative Existenzform ein Novum der Neuzeit. Das Verständnis vom Genie als jenes seltene menschliche Individuum, das im emphatischen Sinne selbst schöpferisch wird, bildete sich erst im . Jahrhundert – zunächst vor allem auf die Dichtung bezogen – klar umrissen heraus, während bis dato der Grundsatz von Gott als creator omnium galt, dem der Mensch in den Künsten bestenfalls nacheifern konnte.⁵⁸ Mit der Komponistenbiographik, die sich um nicht zuletzt an der Figur Mozart entwickelte, war dieser jüngere Begriff und der mit ihm einhergehende Geniekult aber bereits untrennbar verwoben.⁵⁹ In Schlichtegrolls begrenztem Ausschnitt aus der »merkwürdigen Lebensgeschichte dieses früh entwickelten, großen und originellen Genies«⁶⁰ spielen Anekdoten zur Illustration der angeborenen Begabung und rasanten Entwicklung in der musikalischen Kunst eine wichtige Rolle. Solche Kindheitsanekdoten kannte man in ähnlicher Form, genauso wie den mit ihnen einhergehenden Geniebegriff, ebenfalls seit dem Altertum. Sie stilisierten den Künstler als von der Natur besonders begünstigtes Individuum und hatten seit jeher die narrative Funktion von »Vorzeichen«⁶¹ inne, an denen sich die spätere Meisterschaft Vgl. umfassend Darrin M. McMahon, Divine Fury. A History of Genius, New York . Die ersten Belege für eine sprachliche Verwendung des Begriffs als Existenzform (Genie sein) findet McMahon in Frankreich und England um . Siehe ebd., S. –. Siehe Melanie Unseld, Biographie und Musikgeschichte, S. – ; dies., »Genie und Geschlecht. Strategien der Musikgeschichtsschreibung und der Selbstinszenierung«, in : Susanne Kogler und Kordula Knaus (Hgg.), Autorschaft – Genie – Geschlecht. Musikalische Schaffensprozesse von der frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, Wien u. a. (= Musik – Kultur – Gender ), S. –. Friedrich Schlichtegroll, Nekrolog auf das Jahr , Bd. , S. . Ernst Kris und Otto Kurz, Die Legende vom Künstler. Ein geschichtlicher Versuch, Mit einem Vorwort von Ernst H. Gombrich, Frankfurt a. M. (= suhrkamp taschenbuch wissenschaft ), S. . Zu dieser Anekdotik im Einzelnen siehe ebd., S. –. Zur Übertragbarkeit der von Kris und Kurz aus dem Bereich der Bildenden Kunst extrahierten Motivik auf die Musikeranekdotik des . Jahrhunderts vgl. Melanie Unseld, Biographie und Musikgeschichte, S. –.
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bereits ablesen lassen sollte. Die erste der Anekdoten des Mozart-Nekrologs beginnt folgendermaßen : »Als sein Vater aus der Kirche mit einem Freunde nach Hause zurück kam, trafen sie den kleinen Wolfgang mit der Feder beschäfftigt an. Was machst du denn da ? fragte ihn sein Vater. Wo l f g . Ein Concert für das Clavier. Der erste Theil ist bald fertig. Va t e r. Lass sehen. Das muss was Sauberes seyn. Wo l f g . Nein, es ist noch nicht fertig. Der Vater nahm es ihm weg, und zeigte seinem Freunde ein Geschreibe von Noten, die man kaum lesen konnte, indem sie grössten Theils auf ausgewischte Tintenflecke hingeschrieben waren ; denn der Kleine hatte alle Mahl mit der Feder bis auf den Grund des Tintenfasses getaucht, und so musste denn der Feder immer ein Fleck entfallen, den er dann mit der flachen Hand auswischte, und immer wieder darauf fort schrieb. Beyde Freunde lachten anfangs über diesen Galimathias von Noten. Als aber der Vater die Composition selbst mit Aufmerksamkeit betrachtete, blieb sein Blick lange starr auf das Blatt geheftet, bis endlich helle Thränen, Thränen der Bewunderung und Freude, seinem Auge entfielen. ›Sehen Sie, Freund, sagte er mit Rührung und Lächeln, wie alles richtig und nach der Regel gesetzt ist ; nur kann man es nicht brauchen, weil es so ausserordentlich schwer ist, dass es kein Mensch zu spielen im Stande wäre.‹«⁶²
Auf diese Schilderung folgt die durchaus komische Pointe, dass Wolfgang gerade auf die ausgemachte Schwierigkeit des Stücks bestand, überzeugt davon, dass ein Konzert eben erst durch langes Üben zu meistern sein dürfe, und sich daraufhin selbst vergeblich daran versuchte. Was die wiedergegebene Szene aber im Kern transportiert, ist eine Anschauung des geborenen Genies Mozart. Für die Erzählweise ist es daher erstens entscheidend, dass die beiden Erwachsenen das Kind zufällig bei seiner Tätigkeit überraschen, welche damit erscheint, als sei sie allein aus eigener Motivation heraus initiiert, und dass sich zweitens die Fähigkeit zur Komposition augenscheinlich noch vor dem regelhaften Erwerb der dazu notwendigen Kulturtechnik des Schreibens offenbart, was unterstreicht, dass das kompositorische Vermögen des Kindes nicht aus einem äußerlichen Lernprozess resultierte. Die Überraschung angesichts bisher Friedrich Schlichtegroll, Nekrolog auf das Jahr , Bd. , S. –.
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nicht vermuteter musikalischer Fähigkeiten als Evidenz des natürlichen Genies ist das zentrale Motiv weiterer Anekdoten bei Schlichtegroll. Eines Tages etwa, so heißt es an einer anderen Stelle des Nekrologs, hätte Wolfgang in einem häuslichen Streichtrio ganz unverhofft die zweite Geige zu spielen gewusst.⁶³ Dass er sich danach auch an der ersten Stimme »wiewohl mit lauter unrechten und unregelmässigen Applicaturen«⁶⁴ versucht hätte, wie die Erzählung fortfährt, sollte eben als ein weiteres Zeichen seiner angeborenen und gerade nicht schulmäßig erlernten Musikalität verstanden werden. Ein andermal wiederum hätte er mit seinem »ausserordentlichen Tongefühl und Gedächtnis«⁶⁵ überrascht, als er sich nämlich noch Tage, nachdem er den Klang der Violine des mit der Familie befreundeten Musikers Johann Andreas Schachtner vernommen hatte, genau an deren Stimmungshöhe im Verhältnis zum eigenen Instrument erinnern konnte. Leopold Mozart wiederum wird von Schlichtegroll als empfindsamer Förderer im Hintergrund charakterisiert, der das musikalische Talent seines Sohnes rechtzeitig erkannte, ihm eine »treffliche Erziehung«⁶⁶ zukommen ließ, ihn in die richtigen Bahnen lenkte und ein moralisches Verderben durch den frühen Ruhm erfolgreich verhindern konnte. Es wird allerdings auch in diesem Zusammenhang unmissverständlich gemacht, dass letztlich die innere Natur, und nicht die musikalische Ausbildung verantwortlich gewesen seien für die künstlerischen Leistungen Mozarts : »Aber der Geist der Harmonien, der in seiner Seele wohnte, kam allen Erwartungen und allem Unterrichte bey weitem zuvor.«⁶⁷ Wolfgangs Fortschritt in der musikalischen Kunst wird außerdem als einziger Grund für die Reisen genannt (deren ruhmvoller Verlauf eingehend geschildert wird), da »es ein Unrecht von seinem Vater gewesen wäre, wenn er nicht auch andere Städte und Länder zu Zeugen dieses ausserordentlichen Talentes hätte machen wollen.«⁶⁸ Entscheidend für das von Schlichtegroll vermittelte biographische Gesamtbild ist letztlich, dass dieser ein ideales Modell künstlerischer Höherentwicklung auf den Lebensweg Mozarts übertrug : »Je ausserordentlicher das angeborne Talent und die schnelle Entwickelung dieses grossen Künstlers war, desto mehr werden die Leser die gewissenhafte Genauigkeit
Siehe ebd., S. –. Ebd., S. . Ebd., S. . Ebd., S. . Ebd., S. . Ebd., S. .
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rechtfertigen, mit welcher hier die stufenweise Ausbildung desselben erzählt ist. Von jetzt an dürfen wir kürzer seyn. – Nun hatte er den Gipfel seiner Kunst erreicht und nun war sein Ruhm durch alle Länder von Europa verbreitet.«⁶⁹
Das gesamte frühe Leben Mozarts läuft dieser Konstruktion nach teleologisch auf sein Wirken in Wien zu, wo er »in kaiserliche Dienste« getreten sei und fortan als » L i e b l i n g s c o m p o n i s t s e i n e s Z e i t a l t e r s « gegolten habe.⁷⁰ Schlichtegrolls Nekrolog stellte somit zeitlich auseinanderliegende Lebensabschnitte in einen gemeinsamen Sinnzusammenhang, indem er die frühe Begabung als Zeichen des Naturgenies geradezu schicksalhaft mit der späteren Erfüllung des ›Tonkünstlers‹ verknüpfte. Schlichtegrolls Mozartbild wurde vom Prager Universitätsgelehrten Franz Xaver Niemetschek (auch Niemtschek) aufgegriffen, der die erste monographische Arbeit über Mozart mit dem Titel Leben des K. K. Kapellmeisters Wolfgang Gottlieb Mozart verfasste. Niemetschek setzte mit einer Gesamtdarstellung des Lebens, die der späteren Wiener Zeit mehr Raum gab, sowie der Einfügung von Werkbesprechungen, nicht denselben Schwerpunkt wie sein Kollege aus Gotha. Mit der Eroberung Italiens durch den Knaben auf der einen Seite und der Legende von den Intrigen der in Wien ansässigen italienischen Musiker gegen Mozart, die ihm eine würdige Anerkennung zunichtegemacht und ihn womöglich gar durch einen Giftmord aus dem Weg geschafft hätten, auf der anderen verfolgte er zudem eine grundsätzlich andere Erzählstrategie.⁷¹ Mozart entsprach hier also im Gegensatz zu der von Schlichtegroll vermittelten Aufstiegsgeschichte vielmehr einem tragischen Helden. In der Darstellung der Kindheit Mozarts unterschieden sich die beiden Autoren aber kaum voneinander. Niemetschek unterstrich sogar explizit die Glaubhaftigkeit der von ihm aus dem Nekrolog bereitwillig übernommenen Anekdoten.⁷² Die Naturbegabung stand hier dadurch ebenso im Zentrum : »Aber der wunderbare Geist der Töne, der in ihn von dem Schöpfer gelegt ward, schritt alle gewöhnliche Schranken über, und gieng, da er einmal erwacht war, allem Ebd., S. –. Ebd., S. . Siehe Franz Niemtschek, Leben des K. K. Kapellmeisters Wolfgang Gottlieb Mozart, nach Originalquellen beschrieben, Prag , S. –, , , , , , . Das Gerücht um eine Vergiftung verbreitete sich bereits im Todesjahr . Siehe Gernot Gruber, »Mozart und die Nachwelt«, S. . Siehe Franz Niemtschek, Leben des K. K. Kapellmeisters Wolfgang Gottlieb Mozart, S. , , .
| Der Mozart-Mythos Unterrichte voran. Was man ihn lehren wollte, das war seinem Geiste schon wie bekannt, und er schien sich nur darann zu besinnen !«⁷³
Besonders betonte auch Niemetschek die ideale Umgebung für die Entwicklung von Mozarts Genie : »Die ersten Eindrücke, die sein Ohr auffaßte, waren Harmonien und Gesang ; Musik waren die ersten Worte und Ideen, die er begriff ! So mußte der himmlische Funke, den die Gottheit in den Busen dieses den Harmonien geweihten Knaben gelegt hatte, sehr früh aufwachen, und in helle Flammen schlagen. Die gründlichen Kenntniße seines sorgsamen Vaters kamen überall dem aufwachenden Genie entgegen ; so wuchs er auf, so reifte er schneller, als die bloße Natur zu reifen vermag.«⁷⁴
Die frühe Mozartbiographik erzeugte schließlich noch durch einen weiteren Aspekt eine Kohärenz zwischen den verschiedenen Lebensphasen, zwischen ›Wunderkind‹ und ›Tonschöpfer‹. So wurden auch dem erwachsenen Mozart Merkmale des Kindhaften zugeschrieben. Im Kontrast zum musikalischen Naturtalent, das sich höher und höher entwickelte, stand schon bei Schlichtegroll der Charakter Mozarts, der »fast in allen übrigen Verhältnissen beständig K i n d «⁷⁵ geblieben und dem alltäglicher Pragmatismus angeblich ebenso fremd gewesen sei wie Vernunft und Selbstbeherrschung. Bei Niemetschek hieß es entsprechend : »So groß war Mozart als Künstler ! Den Forscher der menschlichen Natur wird es nicht befremden, wenn er sieht, daß dieser als Künstler so seltne Mensch, nicht auch in den übrigen Verhältnißen des Lebens ein großer Mann war. Die Tonkunst machte die Haupt- und Lieblingsbeschäftigung seines ganzen Lebens aus – um diese bewegte sich sein ganzes Gedanken- und Empfindungsspiel ; alle Bildung seiner Kräfte, die das Genie des Künstlers ausmachen, gieng von da aus und bezog sich darauf. Ist es ein Wunder, wenn er den übrigen Dingen um sich weniger Aufmerksamkeit widmete ?«⁷⁶
Das zeitlebens unbekümmerte, kindliche Gemüt sollte sich fest in das Bild einfügen, das man sich fortan von dem Musiker machte. Mit dem Merkmal der
Ebd., S. . Ebd., S. . Friedrich Schlichtegroll, Nekrolog auf das Jahr , Bd. , S. . Franz Niemtschek, Leben des K. K. Kapellmeisters Wolfgang Gottlieb Mozart, S. –.
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Weltfremde und seiner spielerischen Selbstvergessenheit verkörperte das ›ewige Kind‹ Mozart eine spezifische Genievorstellung, die gerade mit der Musik im emphatischen Verständnis der Romantik verbunden war und eindringlich etwa von Arthur Schopenhauer in der Abhandlung Die Welt als Wille und Vorstellung () beschrieben wurde.⁷⁷ So kam es in der ersten Hälfte des . Jahrhunderts zu einer regelrechten Symbiose zwischen Biographik und Ästhetik. Mozart gab dabei scheinbar das beste Beispiel dafür ab, dass gerade die Verweigerung von Sozialisation eine geniale Intuition garantierte. An ihm konnte die ältere Idee des Naturgenies in die des romantischen Genies einfach überführt werden. Bei Schopenhauer tauchte der Name Mozart erst in dem umfänglichen Kapitel »Vom Genie« auf, welches jener unter die Ergänzungen der erschienenen Neuauflage seines philosophischen Hauptwerks einfügte, und zwar exemplarisch für den » k i n d l i c h e n Charakter des Genie’s«⁷⁸ beziehungsweise die von ihm hergestellte Analogie zwischen Kind und Genie. Schopenhauer bezog sich bei dem Beispiel Mozart, wie an einem entsprechenden Verweis erkennbar ist, auf die Mozart-Biographie des dänischen Diplomaten Georg Nikolaus Nissen. Dieses Buch war , und damit rund drei Jahre nach dessen Tod, von seiner Ehefrau, der Mozart-Witwe Constanze Nissen, in ihrem Namen als Herausgeberin publiziert worden. Nissen stützte sich auf das bis dato umfassendste Quellenkorpus. Insbesondere lag ihm ein großer Teil der Familienkorrespondenz vor, aus dem hier überhaupt erstmals Briefabschnitte publiziert wurden.⁷⁹
Vgl. umfassend Peter Kivy, The Possessor and the Possessed. Handel, Mozart, Beethoven, and the Idea of Musical Genius, New Haven u. a. (Yale Series in the Philosophy and Theory of Art), insbes. S. – ; ders., »Child Mozart as an Aesthetic Symbol«, in : Journal of the History of Ideas /Nr. (), S. – ; Gernot Gruber, »Mozart und die Nachwelt«, S. – ; George Starobinski, »Du Wunderkind à l’éternal enfant : Les premières biographies mozartiennes dans le contexte de l’esthétique romantique«, in : Revue de Musicologie / Nr. (), S. –. Zum Beispiel Beethoven vgl. Maynard Solomon, Beethoven Essays, Cambridge u. a. , S. . Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, Zweite, durchgängig verbesserte und sehr vermehrte Auflage, Bd. , Leipzig , S. . Siehe ebd., S. . Constanze Nissen hatte nach dem Tod ihres Ehemannes im März den Salzburger Chorregenten Anton Jähndl mit der Fertigstellung des Textmanuskripts sowie den Arzt Johann Heinrich Feuerstein mit Schlussredaktion und Drucklegung in Abstimmung mit dem Verlag Breitkopf & Härtel beauftragt. Zur Entstehungsgeschichte der Biographie vgl. Gesa Finke, Die Komponistenwitwe Constanze Mozart, S. – ; Ruth Halliwell, The Mozart Family, S. – ; Anja Morgenstern, »Neues zur Entstehungsgeschichte und Autorschaft der ›Biographie W. A. Mozart’s‹ von Georg Nikolaus Nissen (/)«, S. –. Zur vom Titelblatt der Biographie abweichenden Datierung siehe ebd., S. .
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Im ersten Kapitel stellte Nissen Mozart mit einem ausführlichen Zitat von Rochlitz aus der Allgemeinen musikalischen Zeitung vor, und zwar als »›[…] einen Mann, der so einzig in seiner Ideen- und Phantasieen-Welt lebte, einen Mann, dessen Geist, eben w e i l und d a m i t er das werden und seyn konnte, was er ward und war, nur in seiner Kunst weben, nur hier Befriedigung, nur hier wahres Interesse finden konnte, dagegen Alles, was im weitesten Sinne des Wortes Ve r h ä l t n i s s heisst, vernachlässigen, verachten m u s s t e […].‹«⁸⁰
Eingangs wurde außerdem unterstrichen, »dass der Götterfunke des Genie’s, in den Tiefen seiner kindlichen Seele verborgen, mit allem Fleisse einer planmässigen, sorgsamen Erziehung ausgebildet wurde«⁸¹. Der insgesamt kompilatorische Charakter der Schrift, für die ganze Passagen wörtlich von Schlichtegroll und Niemetschek übernommen wurden,⁸² äußerte sich auch in der Darstellung des Kindes Mozart. Mit Nissens Buch wurden deren biographische Narrative und Topoi also ins zweite Drittel des Jahrhunderts weitergetragen. Das mythisch aufgeladene und mit dem ästhetischen Geniediskurs untrennbar verbundene ›Wunderkind‹ Mozart, wie es zuerst in den Erzählungen Schlichtegrolls und Niemetscheks in Erscheinung trat, war ein Konstrukt, das über unterschiedliche Wege der Rezeption nachhaltig im kulturellen Gedächtnis Europas fortwirkte.⁸³ Melanie Unseld zufolge prägte die frühe Mozart-Bio Georg Nikolaus Nissen, Biographie W. A. Mozarts, S. . Ebd., S. . Vgl. Gesa Finke, Die Komponistenwitwe Constanze Mozart, S. , – ; Anja Morgenstern, »Neues zur Entstehungsgeschichte und Autorschaft der ›Biographie W. A. Mozart’s‹ von Georg Nikolaus Nissen (/)«, S. –, –. Zur Publikations- und Rezeptionshistorie der frühen Mozartbiographik vgl. Rudolph Angermüller, »›Das musikalische Kind Mozart‹. Ein Beitrag zur Biographie Mozarts im ausgehenden . Jahrhundert«, in : Wiener Figaro. Mitteilungsblatt der Mozartgemeinde Wien /o. Nr. (Mai ), S. , – ; Rachel E. Cowgill, Mozart’s Music in London, - : Aspects of Reception and Canonicity, Diss., London , S. – ; Marie-Pauline Martin, »Saint ou Génie ? Sur l’imaginaire des premières Vies et représentations françaises de Mozart«, in : Jean Gribenski und Patrick Taïeb (Hgg.), Mozart et la France : de l’enfant prodige au génie (–), Lyon (Histoire du concert), S. – ; Jean Mongrédien, »La France à la découverte de Mozart ou le véritable enjeu d’une mythification (–)«, in : Jean-Louis Jam (Hg.), Mozart. Origines et transformations d’un mythe, Actes du colloque international organisé dans le cadre du Bicentenaire de la mort de Mozart, Clermont-Ferrand, décembre , Bern u. a. , S. – ; Anja Morgenstern, »Neues zur Entstehungsgeschichte und Autorschaft der ›Biographie W. A. Mozart’s‹ von Georg Nikolaus Nissen (/)«, S. – ; Jan Smaczny, »Mozart and the twentieth century«, in : Simon P. Keefe (Hg.), The Cambridge
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Abb. 1 : Anton Ziegler, Mozarts erstes Auftreten in Paris, Lithographie, Wien : [Selbstverlag ? ~1842].
graphik eines der im . Jahrhundert attraktivsten »Lebenslaufmodelle«⁸⁴ überhaupt, ein Modell idealer Synthese von Naturgenie und Erziehung, an dem sich nicht nur die Autoren anderer Biographien orientierten, sondern welches auch auf Karriereentscheidungen und die öffentliche Selbstdarstellung von Musikerinnen und Musikern Einfluss nahm. Damit war der Mythos des größten ›Wunderkindes‹ aller Zeiten gesichert. Das Erscheinen ›zweiter Mozarts‹ schließlich, ob nun durch Eltern zu Lebzeiten oder durch Biographen im Nachhinein angedichtet, ist in eben diesem diskursiven Zusammenhang zu Companion to Mozart, Cambridge u. a. , S. – ; William Stafford, »The evolution of Mozartian biography«, in : Simon P. Keefe (Hg.), The Cambridge Companion to Mozart, S. – ; Henri Vanhulst, »La réputation posthume de Mozart dans le mensuel ›L’esprit des journaux, françois et étrangers‹«, in : Jean Gribenski und Patrick Taïeb (Hgg.), Mozart et la France, S. –. Melanie Unseld, Biographie und Musikgeschichte, S. . Zu diesem ›Wunderkind‹-Modell siehe ebd., S. –.
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begreifen, nicht aber als unmittelbare Reaktion auf den öffentlichen Erfolg der Musikerfamilie um die Mitte des . Jahrhunderts. Dabei muss man sich vor Augen halten, welche Formen und Ausmaße die Mozart-Rezeption im Laufe des . Jahrhunderts allmählich annahm. So wurde um den Komponisten in bestimmten Privatzirkeln ein regelrechter Personenkult betrieben – das ›Wunderkind‹ selbstverständlich inbegriffen.⁸⁵ Und man kann fast schon von einer eigenen ikonischen Tradition im Medium populärer Bilddrucke sprechen.⁸⁶ Einer dieser Drucke, eine Lithographie des Wiener Künstlers Anton Ziegler, wurde vermutlich im Zusammenhang mit der Finanzierung des enthüllten Salzburger Mozartdenkmals produziert.⁸⁷ Im Hauptbild lässt er den Knaben am Flügel eines aristokratischen Salons erkennen (Abbildung ). Die Denkmalerrichtung in Salzburg war ein erstes strahlendes Ereignis einer sich zunehmend institutionalisierenden Mozart-Pflege.⁸⁸ Auch bei der Bewerbung dieses Anliegens war jener Mythos augenscheinlich nicht wegzudenken. Auf dem Druck ist zu sehen, wie – offenbar von den Klängen angelockt – links durch eine Tür die neugierige Zuhörerschaft ins Bild strömt, während zur rechten Seite des musizierenden Kindes sein Vater damit beschäftigt ist, die im Empfangszimmer ausgestellten Gemälde zu betrachten, wie der unterhalb abgedruckte Begleittext erklärt. Die abgebildete Szene besitzt eine fiktionale Anlage mit geschichtsträchtigen Implikationen, denn immerhin spielt sie sich im Herzen der französischen Aufklärung ab. Der Enzyklopädist und als radikaler Materialist bekannte Paul-Henri Thiry d’Holbach (»Baron Holbach«) soll, dem angefügten Kommentar zufolge, angeblich als Gastgeber fungiert haben, und Denis Diderot hätte damals »der Nachwelt einen großen und unvergeßlichen Musiker« prophezeit. Das Bild führt außerdem eine symptomatische Abwesenheit zweier Personen vor Augen. Leopold Mozart ist zumindest mit seinen Gedanken anderswo : Er wendet den Blick ab, widmet seine Aufmerksamkeit einer anderen Sache und muss seinen Sohn offensichtlich überhaupt nicht zum Spielen nötigen. Daneben kann man sich fragen, wo sich Maria Anna Mozart, die als Kindervirtuosin auf der Europareise der Familie gewöhnlich gemeinsam Siehe am Beispiel John Ella in den er Jahren : Christina Bashford, »Varieties of childhood : John Ella and the construction of a Victorian Mozart«, in : Dorothea Link und Judith Nagley (Hgg.), Words About Mozart. Essays in Honour of Stanley Sadie, Woodbridge , S. –. Vgl. die Kat. Nr. –, in : Ingrid Bodsch, Otto Biba und Ingrid Fuchs (Hgg.), Beethoven und andere Wunderkinder, S. –. Siehe Otto Biba, Kat. Nr. , in : Ingrid Bodsch, Otto Biba und Ingrid Fuchs (Hgg.), Beethoven und andere Wunderkinder, S. –. Siehe Gernot Gruber, »Mozart und die Nachwelt«, S. –, .
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mit dem Bruder auftrat, in dem dargestellten Moment befindet. Der Druck gibt also kein historisch authentisches Zeugnis ab, sondern war Teil eines gestalteten Erinnerungsprozesses, an dem Wolfgangs Schwester keinen Anteil haben konnte. Er verfolgte im Wesentlichen die Bekräftigung des Mozart-Bildes vom genialen und autonomen Werkschöpfer und hatte hier – vorausgesetzt, es handelte sich dabei tatsächlich um ein Werbemittel für das Denkmal in Salzburg – dessen Monumentalisierung im wahrsten Sinne des Wortes zum Ziel.⁸⁹ Die dargestellte Pose des erhobenen Hauptes, welches im Lichtkegel als inspiriert in Szene gesetzt ist, sollte zum Ausdruck bringen, so der Begleittext mit Worten, die an Schopenhauer denken lassen, wie Mozart hier »mit träumerischer Sorglosigkeit seine harmonischen Gedanken durchführte.« Das Musizieren des Kindes wurde innerhalb des Gesamtmotivs außerdem als Vorbote der späteren ›Meisterwerke‹ gedeutet, als Fluchtpunkt des ›unsterblichen‹ Genies : Frühe Kompositionen sind auf den Schriftbannern wohl mitgemeint, die über der Salonszene in der Darstellung Zieglers das Porträt des erwachsenen Mozart umwehen, und bei denen unter anderem »Sonaten« oder »Tänze« gleichberechtigt und dadurch vollkommen ahistorisch neben »Opern«, »Simphonien« oder dem »Requiem« stehen. Die Verwandlung der Kompositionstätigkeit Mozarts in ein zeitloses Opus bedurfte um die Mitte des . Jahrhunderts keiner besonderen Rechtfertigung mehr. Gerahmt wird das Ganze von weiteren Elementen, die symmetrisch zueinander in Beziehung gesetzt sind und dadurch eine biographische Kohärenz unterstreichen : Neben dem Denkmal selbst sind es symbolträchtige Bühnenszenen aus Don Giovanni und der Zauberflöte, Pflanzenornamente und andere Vanitas-Motive sowie Geburts- und Sterbehaus des Musikers. Zwischen ihnen spannt sich der Sinnzusammenhang des Mozart’schen Wirkens in einer Geschlossenheit und Ordnung auf, den ein reales Leben niemals hat.
. kulturelle pr a xis einer musikerfamilie Autonome Kunstwerke und weltfremde ›Tonschöpfer‹ hatten mit dem zweckund situationsgebundenen Umgang mit Musik, der zu Lebzeiten des in Salzburg als Joannes Chrysostomus Wolfgangus Theophilus Mozart getauften Zu einem weiteren interessanten Beispiel einer monumentalen Verewigung des ›Wunderkind‹-Mythos siehe Gernot Gruber, »›Mozart, das Lieblingskind Österreichs‹. Musiksoziologisches zur Bildausstattung der Wiener Hofoper«, in : Österreichische Musikzeitschrift / Nr. (), S. , .
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Musikers vorherrschte, wenig zu tun. Dem Vater Leopold Mozart schwebte als berufliche Perspektive seines Stammhalters schon früh der höfische Kapellmeister vor, der sich neben dem Komponieren üblicherweise einer ganzen Reihe von Aufgaben widmen musste – am besten ein solcher »von dem die Nachwelt auch noch in Büchern lieset«⁹⁰. Anders gesagt, der Sohn sollte in die Fußstapfen des Vaters treten, was die Regel war in Musikerfamilien der Zeit. Komposition und Musizieren waren dem damaligen Berufsbild nach keine voneinander getrennten Bereiche. Und tatsächlich schienen die Stücke des jungen Wolfgang, zumindest bis zur Arbeit an den ersten Opern, zunächst vor allem dessen Virtuosenkarriere zu befördern.⁹¹ Inwiefern aber ist diese Karriere Wolfgang Mozarts überhaupt vereinbar mit der Vorstellung des sich – von den überraschenden Vorzeichen im Kindesalter bis zum vollendeten Meisterwerk – allein aus sich selbst entfaltenden Naturgenies, bei dem sich die Erziehung im Hintergrund hielt, allenfalls ergänzend wirkte ? Oder ist nicht diese Frage schon von Grund auf falsch gestellt ? Wie fremd dieses biographische Deutungsmuster den Mozarts selbst hätte erscheinen müssen, lässt eine Bemerkung des Vaters gegenüber Lorenz Hagenauer anklingen, dem befreundeten Hausherrn der Familie und der wichtigsten Kontaktperson in Salzburg während der großen Europareise. Leopold Mozart schrieb am . November von München aus, also bereits fast am Ende des Heimwegs, an ihn : »Gott | : der für mich bösen Menschen allzugütige Gott :| hat meinen Kindern solche Talente gegeben, die, ohne an die Schuldigkeit eines Vatters zu gedenken, mich reitzen würde, alles der guten Erziehung derselben aufzuopfern. jeder augenblick, den ich verliehre, ist auf ewig verloren. und wenn ich jemahls gewust habe, wie kostbar die Zeit für die Jugend ist, so weis ich es itzt. Sie wissen daß meine Kinder zur arbeit gewohnt sind : sollten sie aus Entschuldigung daß eines das andre verhindert sich an müssige Stunden gewöhnen, so würde mein ganzes gebäude über den
Brief von Leopold Mozart an Wolfgang A. Mozart, Salzburg, . Februar . Zitiert nach Wolfgang A. Mozart, Briefe und Aufzeichnungen. Gesamtausgabe, Herausgegeben von der Internationalen Stiftung Mozarteum Salzburg, Gesammelt und erläutert von Wilhelm A. Bauer und Otto Erich Deutsch, auf Grund deren Vorarbeiten erläutert von Joseph Heinz Eibl, Erweiterte Ausgabe mit einer Einführung und Ergänzungen hg. von Ulrich Konrad, Bd. : –, Kassel u. a. , S. . Vgl. Simon P. Keefe, »Wolfgang Amadeus Mozart the child performer-composer : New musical-biographical perspectives on the early years to «, in : Gary E. McPherson (Hg.), Musical Prodigies. Interpretations from Psychology, Education, Musicology, and Ethnomusicology, Oxford u. a. , S. –.
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Haufen fallen ; die gewohnheit ist eine eyserne Pfoad. und sie wissen auch selbst wie viel meine Kinder, sonderlich der Wolfgangerl zu lernen hat.«⁹²
Der Briefabschnitt ist in der Mozart-Forschung berüchtigt. Ein Problem, das die Quelle aufwirft, betrifft etwa die bis heute umstrittene Frage, ob sich aus der Bemerkung Leopolds sein übertriebener Ehrgeiz oder eine herrische Strenge ableiten lassen.⁹³ Auch kann darüber spekuliert werden, was sich an seiner Aussage über die strikte Lebensführung der eigenen Erziehung am Jesuitenkolleg St. Salvator in Augsburg verdankte.⁹⁴ Solche biographischen Aspekte müssen an dieser Stelle nicht kommentiert werden, da sie für die vorliegende Thematik irrelevant sind : jene Tiefenschicht gesellschaftlicher Normalität für Kinder aus Musikerfamilien des . Jahrhunderts nämlich, die nicht nur Leopold Mozart dazu veranlasste, eher beiläufig von der gewohnheitsmäßigen »arbeit« seiner Nachkommen zu sprechen. Bei der Freilegung dieser Tiefenschicht rückt notwendigerweise, um den Verhältnissen des historischen Kontextes gerecht zu werden, anstelle des Individuums die Familie als soziale Entität in den Mittelpunkt der Betrachtung. Zitiert nach Wolfgang A. Mozart, Briefe und Aufzeichnungen. Gesamtausgabe, Herausgegeben von der Internationalen Stiftung Mozarteum Salzburg, Gesammelt und erläutert von Wilhelm A. Bauer und Otto Erich Deutsch, auf Grund deren Vorarbeiten erläutert von Joseph Heinz Eibl, Erweiterte Ausgabe mit einer Einführung und Ergänzungen hg. von Ulrich Konrad, Bd. : –, Kassel u. a. , S. . Kritisiert wird dieses verbreitete Bild Leopolds etwa von Volkmar Braunbehrens, »Väterlicher Freund, ›gehorsamster Sohn‹. Leopold und Wolfgang A. Mozart«, in : Thomas Karlauf und Katharina Raabe (Hgg.), Väter und Söhne. Zwölf biographische Porträts, Berlin , S. –. Allerdings wird ihm von Braunbehrens nur dessen, wiederum entfernt an die frühe Mozart-Biographik erinnerndes, gegenteiliges Charakterprofil des umsichtigen und selbstlosen Förderers entgegengehalten, woran das ganze in der Einleitung beschriebene Dilemma der Sichtweise auf Kindheit in der Musikhistoriographie deutlich wird. Siehe ebd., S. –. Siehe ebenfalls ders., Mozart. Ein Lebensbild, Erweiterte Neuausgabe, München (= Serie Musik Piper-Schott ), S. –. Gecks ähnliche, wenn auch etwas verhaltenere Apologie bemüht dabei den gängigen Euphemismus : Wolfgang »lernt vielmehr spielend«. Siehe Martin Geck, Mozart, S. . Ebenso zu finden bei Georg Knepler, Wolfgang Amadé Mozart, S. und Ulrich Konrad, Wolfgang Amadé Mozart. Leben – Musik – Werkbestand, . Aufl., Kassel , S. . Selbst Halliwell, die sich für eine alltagsgeschichtliche Kontextualisierung der Familienbriefe und gegen die übliche Psychologisierung ausspricht, ist nicht gänzlich frei von dem Versuch, Leopold Mozart als liebevollen Vater zu rehabilitieren. Siehe Ruth Halliwell, The Mozart Family, S. xix–xxxv, – . Vgl. zur Problematik Matthias Schmidt, »Musiker – Erzieher – uomo politico. Leopold Mozart und die Botschaften der Aufklärung«, in : Laurenz Lütteken und Hans-Joachim Hinrichsen (Hgg.), Mozarts Lebenswelten. Eine Zürcher Ringvorlesung , Kassel , S. –. Siehe dazu Robert W. Gutman, Mozart, S. .
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Die historische Kindheitsforschung zeigt an unzähligen Beispielen auf, dass die Grenzen zwischen Kindheit und Erwachsensein in der Vergangenheit anders verliefen als heute. Bezogen auf die frühe Neuzeit verdeutlicht schon die demographische Situation, dass man Kindern nicht den besonderen Status und Schutzraum hätte zugestehen können, der ihnen gegenwärtig in den sogenannten westlichen Industrienationen gewährt wird. Denn aufgrund der hohen Kindersterblichkeit erreichte ungefähr die Hälfte der Bevölkerung, abhängig von Geographie und sozialer Schicht, das Erwachsenenalter erst gar nicht, eine Situation, die sich erst im späteren . Jahrhundert merklich änderte.⁹⁵ Das Resultat war eine Gesellschaft mit einer ausgeprägten jungen Bevölkerungsbasis, auf deren wirtschaftliche Kraft die meisten Familien nicht verzichten konnten. Die Arbeit von Kindern aber stellte keineswegs ein Phänomen dar, das sich auf die Masse der armen Bevölkerung begrenzte, sondern bedeutete lediglich eine Facette der sich durch alle gesellschaftlichen Schichten ziehenden Selbstverständlichkeit, dass man möglichst früh in die soziale Rolle eingeführt wurde. Das beinhaltete in aller Regel auch das Ergreifen des Berufs, den bereits die Eltern ausfüllten, selbstverständlich geschlechtsspezifisch ausdifferenziert. Wissensvermittlung an Kinder fand daher bis weit ins . Jahrhundert hinein vor allem als »Begleitprodukt von Sozialisations- bzw. beruflichen Lernprozessen«⁹⁶ statt, allen Bestrebungen nach schulischen Wissensordnungen, wie sie im Zuge der Aufklärung von Staaten, Kirchen, Gemeinden, Städten oder privaten Initiativen ausgingen, zum Trotz. Ein stigmatisierter Begriff von ›Kinderarbeit‹ als solcher existierte schlichtweg nicht. Dort, wo Kinder nicht im eigenen Haus mithalfen, war es üblich, dass sie zwischen dem zehnten und sechzehnten Lebensjahr, teilweise aber auch schon mit sechs oder sieben Jahren, zum familiären Einkommen beitrugen, ob eine Arbeit nun als bäuerliches Gesinde, als häusliches Dienstpersonal, als Lehrling oder in einer Lohnstelle in Bergbau, Werkstätten und anderen industriellen Betrieben verrichtet wur-
Vgl. Hugh Cunningham, Die Geschichte des Kindes in der Neuzeit, Aus dem Englischen von Harald Ehrhardt, Düsseldorf , S. – ; Andreas Gestrich, Jens-Uwe Krause und Michael Mitterauer, Geschichte der Familie, Stuttgart (= Europäische Kulturgeschichte ), S. –. Wolfgang Schmale, »Allgemeine Einleitung : Revolution des Wissens ? Versuch eines Problemaufrisses über Europa und seine Schulen im Zeitalter der Aufklärung«, in : Wolfgang Schmale und Nan L. Dodde (Hgg.), Revolution des Wissens ? Europa und seine Schulen im Zeitalter der Aufklärung (–). Ein Handbuch zur europäischen Schulgeschichte, Bochum , S. .
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de.⁹⁷ Trotzdem wurden Kinder in einer solchen Gesellschaftsform keineswegs als ›kleine Erwachsene‹ angesehen, wie regelmäßig behauptet wird. Dass man durchaus von verschiedenen Lebensphasen mit eigenen Charakteristika ausging, die allerdings stark abhängig waren von gesellschaftlichem Stand und Geschlecht, lässt sich beispielsweise gut an der ungleichen rechtlichen Stellung jüngerer Menschen erkennen.⁹⁸ Diese differenzierte Eingliederung in die soziale Hierarchie der Ständegesellschaft bedeutete wiederum nicht, dass man Kindheit und Erwachsensein bereits in einen absoluten Gegensatz zueinander gestellt, geschweige denn, dass man diesen Gegensatz an Arbeit festgemacht hätte. Die soziale Stellung von Berufsmusikern, die in städtischem Handwerkerstand, kirchlichem Kantorat, dem Hofstaat weltlicher oder geistlicher Fürsten, militärischen Regimentern oder der Unterschicht der Bettler und Tagelöhner angesiedelt war, erlaubte in diesem Zusammenhang keine Ausnahme. So waren auch unter Kindern von Musikern eine frühzeitige Einbindung in den gesellschaftlichen Alltag und entsprechende Weichenstellungen für spätere Berufskarrieren obligatorisch.⁹⁹ Entsprach das professionelle Musizieren von Kindern also gesellschaftlicher Normalität, so ist es naheliegend, dass sich auch im Virtuosentum von Anfang an Kinder befanden. Ohne gesonderte Forschungsbemühungen lassen sich mittels vorliegender Sekundärliteratur einzelne reisende Musikerfamilien bereits für das . Jahrhundert ausfindig machen. Ein verhältnismäßig gut dokumentiertes Beispiel stellt die Familie von Fortunatus Ridt dar, die ab im deutschsprachigen Raum und in Frankreich unterwegs war und an verschiedenen Orten Konzerte gab, und das offenbar durchaus mit Erfolg. Ridt, der für die Reisen seine Stelle am Württembergischen Hof in Stuttgart aufgegeben hatte, stand für ein ungewöhnlich hohes soziales und künstlerisches Niveau, da von Ort zu Ort ziehende Musiker bis dahin vor allem aus dem sogenannten
Vgl. Colin Heywood, A History of Childhood. Children and Childhood in the West from Medieval to Modern Times, Cambridge , S. –. Siehe Stefan Ruppert, »Lebensalter und Recht. Zur Segmentierung des menschlichen Lebenslaufs durch rechtliche Regelungen seit «, in : Stefan Ruppert (Hg.), Lebensalter und Recht. Zur Segmentierung des menschlichen Lebenslaufes durch rechtliche Regelungen seit , Frankfurt a. M. (= Studien zur europäischen Rechtsgeschichte ), S. XV–XXII. Aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang zum Beispiel Besoldungslisten von Hofkapellen. Siehe Christoph-Hellmut Mahling, »Herkunft und Sozialstatus des höfischen Orchestermusikers im . und frühen . Jahrhundert in Deutschland«, in : Walter Salmen (Hg.), Der Sozialstatus des Berufsmusikers vom . bis . Jahrhundert, Kassel (= Musikwissenschaftliche Arbeiten ), S. –.
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›fahrenden Volk‹ bekannt waren.¹⁰⁰ Das Aufsehen, das die Familie insbesondere durch ihre Töchter erregte, wurde sogar in einem zeitgenössischen Lexikon angesprochen : »Sonderlich ist sehr denckwürdig das wunderbahre vnd vnerhörte Exempel / Herrn Fortunati Riedts aus Oesterreich seiner vier Töchter / welche / ob wol zwey noch sehr jung / vnnd die eine kaum . Jahr alt / dennoch alle vier von ihrem Vater in der Musica so abgerichtet / daß sie auff allerley Musicalischen Instrumenten auffs lieblichste musiciren können / wie sie denn zu Wien / Prag / Leipzig / Wittenberg vnnd andern Orthen / neben ihren beyden Brüdern / herrliche Proben ihrer Kunst gethan / daß sich männiglich zum höchsten darüber verwundern / vnnd es mehr für eine Engelisch oder Himlische / als Menschliche Musica rühmen müssen.«¹⁰¹
Das Virtuosentum war gekennzeichnet durch das öffentliche Auftreten unabhängig von den Verpflichtungen einer festen Anstellung. In diesem Berufsfeld herrschten eigene, in mancher Hinsicht weniger strikte geschlechtsbezogene Einschränkungen als bei den offiziellen Posten, die der Repräsentation des Hofes, der Kirche oder der Stadt dienten. Wenigstens für die Zeit seit der Mitte des . Jahrhunderts ist der hohe Anteil an Mädchen unter den Kindervirtuosen von ungefähr einem Drittel belegt ; manche von ihnen musizierten sogar auf Instrumenten, die für erwachsene Frauen moralisch als unangebracht empfunden worden wären.¹⁰² Die Fortsetzung der öffentlichen Karriere im heiratsfähigen Alter blieb aber die Ausnahme (Maria Anna Mozart stellt hier nur ein Beispiel dar). Auch im . Jahrhundert reisten und konzertierten Musikerfa Siehe zu dem Beispiel Linda M. Koldau, Frauen – Musik – Kultur. Ein Handbuch zum deutschen Sprachgebiet der Frühen Neuzeit, Köln , S. –, –. Ein anderes Beispiel des . Jahrhunderts, Nicholas und Johann Daniel Rosenkron, nennt Heinrich W. Schwab, Konzert. Öffentliche Musikdarbietung vom . bis . Jahrhundert, . Aufl., Leipzig (= Musikgeschichte in Bildern /), S. –. Vorwort »An den Leser« im Lexikon von Johann Frauenlob [= Pseud.], Die Lobwürdige Gesellschafft Der Gelehrten Weiber […], o. O. , o. S. Siehe Freia Hoffmann, Instrument und Körper. Die musizierende Frau in der bürgerlichen Kultur, Frankfurt a. M. u. a. , S. – ; dies., »Miniatur-Virtuosinnen, Amoretten und Engel. Weibliche Wunderkinder im frühen Bürgertum«, in : Neue Zeitschrift für Musik / Nr. (), S. ; Peter Pieters, »Die Wunderkinder der Gitarre während der ersten Hälfte des . Jahrhunderts«, Teil , in : Gitarre & Laute (), S. ; Reinhard Kopiez, »The musical child prodigy (wunderkind) in music history : a historiometric analysis«, in : Irène Deliège und Jane W. Davidson (Hgg.), Music and the Mind. Essays in honour of John Sloboda, Oxford , S. – ; Yvonne Amthor, ›Wunderkinder‹, S. –.
Kulturelle Praxis einer Musikerfamilie | Abb. 2.: [Jean-Baptiste] Delafosse, Leopold Mozart, Pere de Marianne Mozart, Virtuose âgée de onze ans et de J. G. Wolfgang Mozart, Compositeur et Maitre de Musique agé de sept ans, Kupferstich nach einer aquarellierten Zeichnung von Louis Carrogis de Carmontelle, [Paris] : o. V. 1764.
milien noch gemeinsam.¹⁰³ Immer häufiger aber traten nun die Erwachsenen in der Öffentlichkeit in den Hintergrund. Dass die Mozarts als reisende Virtuosen nach wie vor in der Tradition der konventionellen Musikerfamilie standen, machte sich auch ikonographisch bemerkbar. Der angefertigte Druck, der auf den Reisen zum Verkauf oder als Geschenk an Mäzene angeboten werden sollte, bildete Leopold Mozart gemeinsam mit seinen beiden Kindern musizierend ab (Abbildung ).¹⁰⁴ Als Werbemittel spiegelt dieser Stich vielleicht ebenso wenig eine reale Auftrittssituation wider wie die im vorigen Unterkapitel diskutierte Lithographie. Im Gegensatz zu ihm aber enthält dieses Bild noch ein eindeutiges Bekenntnis zu einer Profession, die im familiären Zusammenhang an die nächste Generation weitervermittelt wurde. Vergleicht man die beiden Medien, werden die Vgl. Freia Hoffmann, Instrument und Körper, S. ; dies., »Miniatur-Virtuosinnen, Amoretten und Engel«, S. . Vgl. auch die Kat. Nr. –, in : Ingrid Bodsch, Otto Biba und Ingrid Fuchs (Hgg.), Beethoven und andere Wunderkinder, S. –. Siehe Ingrid Fuchs, Kat. Nr. , in : Ingrid Bodsch, Otto Biba und Ingrid Fuchs (Hgg.), Beethoven und andere Wunderkinder, S. ; Stephen A. Bergquist, »Ten Musical Portraits«, in : Music in Art /Nr. – (), S. –.
| Der Mozart-Mythos
Unterschiede zwischen beruflichem Selbstverständnis und posthumer Verklärung offenkundig. Während beide Darstellungen letztlich eine ähnliche Szene (das Musizieren im Salon) wiederzugeben scheinen, ist die oben aufgezeigte doppelte Abwesenheit Leopold und Maria Anna Mozarts hier aufgehoben. Vor diesem Hintergrund schmälert sich augenblicklich der unüberwindbare Graben, der sich in der Mozart-Biographik zwischen dem werdenden männlichen Tonkünstler und seiner vermeintlich unbedeutenden Schwester an der Wende zum . Jahrhundert auftat. Die Geschwister waren jahrelang öffentlich gemeinsam in Erscheinung getreten und Maria Anna hatte ihrem Vater immerhin als »eine der geschicktesten Spilerinnen in Europa«¹⁰⁵ gegolten. Die Einheit bildet in dem älteren Bild die Familie. Als autonomes Genie wird Wolfgang Mozart hier keineswegs stilisiert, sein Blick ist geradewegs auf die vor ihm liegenden Notenblätter und nicht mit inspiriertem Gestus gen Himmel gerichtet. Im . Jahrhundert mögen Kindervirtuosen auf öffentlichen Bühnen vielleicht noch ein seltener Anblick gewesen sein, die Situation änderte sich aber mit der Etablierung des städtischen Konzertlebens in den größeren Musikmetropolen, Orte, die nicht nur die Mozarts anvisierten. So enthielt etwa die englische Presse bereits seit dem Beginn des . Jahrhunderts immer wieder Hinweise auf entsprechende Auftritte in teilweise durchaus renommierten Konzertstätten der Hauptstadt.¹⁰⁶ Spätestens ab der Jahrhundertmitte gehörten Kindervirtuosen längst zu den regelmäßigen Erscheinungen des florierenden Londoner Musiklebens.¹⁰⁷ Im Gegensatz zur sich weitgehend frei entfaltenden Kommerzialisierung des Konzertbetriebs in England stand dieser Sektor in anderen europäischen Großstädten häufig noch im Schatten der von der Obrigkeit protegierten Theater. Die dennoch vorhandenen Möglichkeiten, sich öffentlich zu präsentieren, wurden aber auch hier von Kindervirtuosen Brief von Leopold Mozart an Lorenz Hagenauer aus London, . Juni . Zitiert nach Wolfgang A. Mozart, Briefe und Aufzeichnungen, Bd. , S. . Siehe Rachel Cowgill, »›Proofs of Genius‹ : Wolfgang Amadeus Mozart and the construction of musical prodigies in early Georgian London«, in : Gary E. McPherson (Hg.), Musical Prodigies, S. –. Vgl. Elizabeth Chevill, »Clergy, Music Societies and the Development of a Musical Tradition : A Study of Music Societies in Hereford, –«, in : Susan Wollenberg und Simon McVeigh (Hgg.), Concert Life in Eighteenth-Century Britain, Aldershot u. a. , S. –. Siehe Simon McVeigh, Concert life in London from Mozart to Haydn, Cambridge , S. ; Rachel E. Cowgill, Mozart’s Music in London, S. ; dies. »›Proofs of Genius‹«, S. – ; Rainer Kaiser, »Palschaus Bach-Spiel in London. Zur Bach-Pflege in England um «, in : Bach-Jahrbuch (), S. –.
Kulturelle Praxis einer Musikerfamilie |
rege genutzt. In Paris etwa betraf dies die ab in der Salle des Cent-Suisses des Palais des Tuileries veranstalten Concerts spirituels (sie wurden durch ein höfisches Privileg ermöglicht), deren Programme einige Beispiele von Solisten im Knabenalter anführten.¹⁰⁸ In Wien existierte zwar keine solche Konzertreihe, dafür fanden in den großen Theatern selbst, in den Lücken der Spielzeit, gelegentlich öffentliche Konzerte statt. Sogar das erste nachweisbare privat organisierte Konzert zugunsten eines Virtuosen (ein sogenanntes Benefizkonzert) war das eines Kindes, nämlich des damals als dreizehnjährig ausgegebenen Geigers Franz Lamotte, der sich im Winter im Burgtheater hören ließ.¹⁰⁹ Die Autobiographie der als Opernsängerin berühmt gewordenen Gertrud Elisabeth Mara, die posthum in der Allgemeinen musikalischen Zeitung erschien, enthält einen Hinweis auf den generellen Zuwachs an Kindervirtuosen unmittelbar nach der Jahrhundertmitte. In einer Erinnerung an ein Konzert, das die geborene und damals noch unter dem Namen Schmeling als Violinvirtuosin bekannte Musikerin in Frankfurt gegeben habe (angeblich in einem »Amazonen-Habit gekleidet, weil man fand, dass d i e s e r A n z u g am besten zur V i o l i n e passe«), hieß es : »In Frankfurt wurde ich durchgängig bewundert, vielleicht weil (zu d e r Zeit) ich das e r s t e Kind war, welches etwas leistete ; zehn Jahr später, so gab es schon mehrere, deren Talent weit grösser war, als das meine.«¹¹⁰
Schmeling unternahm mit ihrem Vater bereits in jener Zeit internationale Auftrittsreisen, besuchte Wien, einige Städte des heutigen Belgiens und der Nie Siehe Gerd-Heinz Stevens, Das Wunderkind in der Musikgeschichte, S. –. Das komplette Konzertprogramm, das viele Beispiele bietet, wurde erfasst von Constant Pierre, Histoire du Concert spirituel, –, Paris (= Publications de la Société Française de Musicologie. Troisième série ). Vgl. auch Adélaïde de Place, La vie musicale en France au temps de la révolution, Paris , S. . Zu den Schwierigkeiten, die die höfischen Privilegien den Mozarts in Paris bereiteten, vgl. David Hennebelle, »Les concerts de Mozart en France (–) : essai de décryptage des conditions du succès«, in : Jean Gribenski und Patrick Taïeb (Hgg.), Mozart et la France, S. –. Siehe Mary S. Morrow, Concert Life in Haydn’s Vienna : Aspects of a Developing Musical and Social Institution, New York (= Sociology of Music ), S. . Vgl. Norbert Tschulik, »Musikartikel aus dem Wienerischen Diarium von . Ein Beitrag zur Geschichte des musikalischen Journalismus im . Jahrhundert«, in : Studien zur Musikwissenschaft (), S. . Oscar von Riesemann, »Eine Selbstbiographie der Sängerin Gertrud Elisabeth Mara«, . Teil, in : Allgemeine musikalische Zeitung /Nr. (. August ), Sp. .
| Der Mozart-Mythos
derlande, kam nach London und steuerte anschließend diverse britische Kleinstädte an.¹¹¹ Die Mozarts bewegten sich somit innerhalb eines Trends, den sie nicht selbst verursacht hatten. Nicht einmal Mozart-Biographen, die sich ausschließlich für den Lebensweg ihres Protagonisten interessieren, könnten sich auf das Argument berufen, dass ihnen dieser Trend völlig entgangen sei. Denn es ist zumindest von drei Fällen bekannt, dass sie mit der Familie Mozart auf ihren Reisen direkt zusammentrafen. In Biberach begegneten die Mozarts im Herbst dem zwölfjährigen Sigismund Bachmann, mit dem sich Wolfgang – so zumindest ein am . November in der Musikalischen Korrespondenz der teutschen Filarmonischen Gesellschaft erschienener Artikel – in der Klosterkirche einen Orgelwettstreit lieferte.¹¹² In Florenz freundete er sich dann, der Darstellung des Vaters Leopold nach, mit dem etwa gleichaltrigen englischen Violinisten und Komponisten Thomas Linley an.¹¹³ Linley hatte seine Virtuosenkarriere wohl mit einem Auftritt am . Juli in einem Konzert des Vaters in Bristol begonnen (durch eine Anzeige des Boddely’s Bath Journal belegbar) und bildete nun in Italien sein Violinspiel bei Pietro Nardini weiter aus.¹¹⁴ Der Musikschriftsteller Charles Burney schätzte in seinen später veröffentlichten Reisetagebüchern die damalige öffentliche Resonanz von Linley in Italien zumindest gleich hoch ein, wie die Wolfgang Mozarts : »The Tommasino, as he is called, and the little Mozart, are talked of all over Italy, as the most promising geniusses of this age.«¹¹⁵ Mit der Familie Davies und deren musizierenden Töchtern Marianne und Cecilia kreuzten sich die Wege gleich zweimal, ein erstes Mal vermutlich beim Aufenthalt in London ab und ein zweites Mal nachweislich in Mailand.¹¹⁶ Siehe Freia Hoffmann, Art. »Schmeling, Gertrud«, in : Freia Hoffmann (Hg.), Lexikon Europäische Instrumentalistinnen des . und . Jahrhunderts, [Bremen o. J.]. Online : http://www. sophie-drinker-institut.de/cms/index.php/schmeling-gertrud [abgerufen am ..]. Siehe Otto E. Deutsch (Hg.), Mozart. Die Dokumente seines Lebens, S. , . Brief von Leopold Mozart an Anna Maria Mozart aus Rom, . April . Siehe Wolfgang A. Mozart, Briefe und Aufzeichnungen, Bd. , S. . Zu Linley siehe Gwilym Beechey, »Thomas Linley, Junior. –«, in : The Musical Quarterly /Nr. (), S. – ; Christopher Smith, »Linley and Mozart«, in : Sabine Coelsch-Foisner, Dorothea Flothow und Wolfgang Görtschacher (Hgg.), Mozart in Anglophone Cultures, Frankfurt a. M. (= Salzburg Studies in English Literature and Culture ), S. –. Charles Burney, The Present State of Music in France and Italy : or, The Journal of a Tour through those Countries, undertaken to collect Materials for a General History of Music, London , S. . Siehe den Brief von Leopold Mozart an Anna Maria Mozart aus Mailand vom . September
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Die Reise, sprich der gezielte Ortswechsel von Musikern und Musikerinnen, diente im . Jahrhundert meist noch verschiedenen Zwecken gleichzeitig. Diese konnten etwa die Aus- beziehungsweise Fortbildung, eine Stellenbewerbung, allgemeine Eigenreklame, geschäftliche Angelegenheiten, Forschung oder Einkünfte aus Auftritten betreffen. Die Praxis der Konzerttournee im moderneren Sinne bildete sich aus dieser funktionalen Überlagerung erst allmählich heraus.¹¹⁷ Zwar liegen für das Virtuosentum kaum administrative Zeugnisse oder Ego-Dokumente vor, mit dem expandierenden Pressewesen lassen sich Reiserouten von Musikerfamilien aber immer genauer rekonstruieren, zumindest dort, wo öffentliche Veranstaltungen beworben beziehungsweise über diese berichtet wurde.¹¹⁸ Nicht alle der vielen Tätigkeiten, die eine Reise bezwecken konnte, hinterließen gleichermaßen Spuren in der Öffentlichkeit. In Städten wie London, Paris und Wien spielte sich ein erheblicher Teil des Musiklebens der gesellschaftlichen Elite in den geschlossenen Räumlichkeiten ihrer Salons ab, nicht auf Konzertbühnen. Für die Erschließung dieser Sphäre ist man allerdings mehr oder weniger vollständig auf Zufallsfunde in Quellen angewiesen. So ist das Musizieren der Geschwister Mozart in Wiener Salons im Herbst lediglich durch Tagebucheinträge Karl von Zinzendorfs bekannt.¹¹⁹ Die Quellenlage erklärt, warum über die Auftritte professioneller Kindervirtuosen in der Salonkultur jener Zeit heute so gut wie nichts mehr bekannt ist, obwohl sie mit Sicherheit in größerer Zahl stattgefunden haben. Lange vor den Mozarts war es üblich, dass man Vorstellungen der Kinder beim Hochadel beziehungsweise an Fürstenhöfen zu erreichen versuchte, von de : Wolfgang A. Mozart, Briefe und Aufzeichnungen, Bd. , S. . Zur Familie Davies siehe Rüdiger Thomsen-Fürst, »›This will be delivered to you by Mr. & Mrs. Davies and charming Daughters‹. Die Konzertreise der Familie Davies /–«, in : Christian Meyer (Hg.), Le musicien et ses voyages. Pratiques, réseaux et représentations, Berlin (Musical Life in Europe –. Circulations, Institutions, Representation), S. –. Zur Unterscheidung dieser Funktionen vgl. Ulrich Konrad, »Der Musiker und seine Reisen«, in : Christoph-Hellmut Mahling (Hg.), Musiker auf Reisen. Beiträge zum Kulturtransfer im . und . Jahrhundert, Augsburg , S. –. Vgl. zudem Hans E. Bödecker, »›Kaum hat ein Virtuos die Stadt verlassen, so erscheint schon ein anderer.‹ Reisende Musiker im . Jahrhundert«, in : Laurenz Lütteken und Hans-Joachim Hinrichsen (Hgg.), Mozarts Lebenswelten, S. –. Eine übersichtliche Diskussion zur Thematik liefert Norbert Dubowy, »Musical Travels. Sources of Musicians’ Tours and Migrations in the Seventeenth and Eighteenth Century«, in : Gesa zur Nieden und Berthold Over (Hgg.), Musicians’ Mobilities and Music Migrations in Early Modern Europe. Biographical Patterns and Cultural Exchanges, Bielefeld (= Mainz Historical Cultural Sciences ), S. –. Siehe Otto E. Deutsch (Hg.), Mozart. Die Dokumente seines Lebens, S. –.
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nen man sich materielle Unterstützung sowie die Beförderung von Karrieren innerhalb der Familie erhoffte. So begleitete der geborene Johann Wilhelm Hertel laut dessen autobiographischen Darstellungen den Vater im Jahr auf einer Reise, »bey der er ihn verschiedenen erhabenen Personen und Liebhabern der Musick als Clavier-Spieler präsentirte ;«¹²⁰ wobei er angeblich auch vor der Prinzessin Anne von Oranien und der Prinzessin Caroline von Nassau-Weilburg spielte. Doch wurde etwa auch schon der geborene Organist Werner Fabricius, wie einer Leichenpredigt von zu entnehmen ist, bereits als Kind in einer der dänischen Residenzen König Christian IV. vorgestellt, nachdem ihn sein Vater früh musikalisch ausgebildet hatte.¹²¹ Mit ihren internationalen Reisen und dem öffentlichen Auftreten der Kinder Wolfgang und Maria Anna knüpfte die Familie Mozart an gängige Praktiken ihrer Zeit an. Dass der Unternehmung, gemessen an ihrer Dauer, den zurückgelegten Wegstrecken oder dem Prestige der ihr zugänglich gemachten Bühnen, ein besonderer Erfolg beschieden war, hatte auch mit Faktoren jenseits musikalischer Begabung zu tun. Eine Schlüsselrolle kam dabei Leopold Mozart zu, der wie Väter reisender Musikerfamilien vor und nach ihm, für die gesamte Planung und Organisation sowie die Ausbildung seiner Kinder verantwortlich war.¹²² Alles hing von einer komplexen Logistik ab, die Voraussicht ebenso erforderlich machte wie Flexibilität. Das begann bei der Festlegung auf die Reiseroute und hörte bei der Konzertveranstaltung (vollständig auf eigenem Risiko) noch lange nicht auf, wie Leopold Mozart in einem Brief aus Paris vom . Februar gegenüber Lorenz Hagenauer betonte :
Johann Wilhelm Hertel, Autobiographie, Herausgegeben und kommentiert von Erich Schenk, Graz (= Wiener Musikwissenschaftliche Beiträge ), S. . Siehe Konrad Küster, »Leipzig und die norddeutsche Orgelkultur des . Jahrhunderts. Zu Werner Fabricius, Jacob Weckmann und ihrem Umkreis«, in : Ständige Konferenz Mitteldeutsche Barockmusik. Jahrbuch o. Jg. (), S. –. In einem Nachruf des Rektors der Leipziger Universität auf Fabricius wurde dieser Auftritt auf das Jahr datiert. Siehe Konrad Küster, »Die Leipziger Organistenkultur des . Jahrhunderts. Beobachtungen am Fabricius-Konvolut der Universitätsbibliothek Freiburg im Breisgau«, in : Schütz-Jahrbuch (), S. . Vgl. Otto Biba, »Wunderkinder und Wunderkinder-Väter«, in : Ingrid Bodsch, Otto Biba und Ingrid Fuchs (Hgg.), Beethoven und andere Wunderkinder, S. –. Dass diese Aufgabe in der Regel von Vätern oder manchmal Lehrern wahrgenommen wurde, lag wohl auch an den verschärften Reisebedingungen für Frauen ohne männliche Begleitung. Siehe dazu Beatrix Borchard, »Die Regel und die Ausnahmen. Reisende Musikerinnen im . Jahrhundert«, in : Christian Meyer (Hg.), Le musicien et ses voyages, S. –.
Kulturelle Praxis einer Musikerfamilie |
»Wer diese Reisen nicht gemacht hat, der kann es sich nicht vorstellen, was alles dazu erforderet wird. Man muß die Hände beständig im Geldbeutl, und seine . Sünnen immer wohl beysammen, und ohnaufhörlich einen Plan auf viele Monate hinein vor Augen haben ; einen Plan aber, den man nach Veränderung der Umstände, auch gleich veränderen kann.«¹²³
Solche Reisen waren aufgrund hoher Kosten für Lebenshaltung (darin inbegriffen waren auch Fortbewegungsmittel, Unterkünfte, eigene Bedienstete oder ein gehobener Kleidungsstil, mit dem man sich in höheren Kreisen sehen lassen konnte) bei gleichzeitiger Unwägbarkeit materieller Entlohnung mit einem enormen finanziellen Risiko behaftet und hätten ohne Kreditgeber so nie zustande kommen können.¹²⁴ Die Freundschaft zu den Hagenauers und der Kontakt zu anderen Salzburger Handelsfamilien waren dabei besonders hilfreich. Lorenz Hagenauer erwies sich als verlässlicher Partner im unternehmerischen Handeln Leopolds und die bürgerliche Wirtschaftselite der Bankiers und Kaufleute mit ihrem internationalen Netz an Handelsbeziehungen garantierte dabei so manchen Vorteil auf den Reisen durch Europa, wie etwa sichere bargeldlose Finanztransfers mithilfe sogenannter Kreditbriefe.¹²⁵ Grundlegend unabdingbar waren ein Zugang zur Aristokratie und das Beherrschen eines angemessenen Umgangs mit der Elite der Gesellschaft.¹²⁶ Erst Zitiert nach Wolfgang A. Mozart, Briefe und Aufzeichnungen, Bd. , S. . Siehe hierzu Josef Mančal, Leopold Mozart und seine Familie auf Europareise, S. – ; ders., »Zum Reiseund Konzertmanagement Leopold Mozarts für Wolfgang Mozart«, in : Christian Meyer (Hg.), Le musicien et ses voyages, S. –. Siehe Josef Mančal, Leopold Mozart und seine Familie auf Europareise, S. –, – ; ders., »Zum Reise- und Konzertmanagement Leopold Mozarts für Wolfgang Mozart«, S. –. Siehe Gunda Barth-Scalmani, »Vater und Sohn Mozart und das (Salzburger) Bürgertum oder ›Sobald ich den Credit verliere, ist auch meine Ehre hin‹«, in : Gunda Barth-Scalmani, Brigitte Mazohl-Wallnig und Ernst Wangermann (Hgg.), Genie und Alltag. Bürgerliche Stadtkultur zur Mozartzeit, Salzburg u. a. , S. – ; Josef Mančal, Leopold Mozart und seine Familie auf Europareise, S. –. Siehe Josef Mančal, Leopold Mozart und seine Familie auf Europareise, S. –, – ; ders., »Zum Reise- und Konzertmanagement Leopold Mozarts für Wolfgang Mozart«, S. – ; Hans E. Bödecker, »›Kaum hat ein Virtuos die Stadt verlassen, so erscheint schon ein anderer.‹«, S. –. Zur Bedeutung des Adels für die Karriere von Kindervirtuosen an anderen Beispielen, vgl. Josephine R. B. Wright, »George Polgreen Bridgetower : An African Prodigy in England (–)«, in : The Musical Quarterly /Nr. (), S. ; Michael Ladenburger, »Ludwig van Beethoven – ein typisches Wunderkind ?«, in : Ingrid Bodsch, Otto Biba und Ingrid Fuchs (Hgg.), Beethoven und andere Wunderkinder, S. –.
| Der Mozart-Mythos
persönliche Bekanntschaften und Empfehlungsschreiben, insbesondere aus Adelskreisen, öffneten einem an fremden Orten wichtige Türen, die ansonsten verschlossen geblieben wären, musizierten die eigenen Kinder noch so gut. Daher war neben Fremdsprachenkenntnis auch der gesellschaftliche Ruf einer Musikerfamilie von entscheidender Bedeutung für den Aufbau und die Pflege entsprechender Netzwerke. Als Autor seiner weithin bekannten pädagogischen Schrift Versuch einer gründlichen Violinschule () konnte sich Leopold Mozart des Respekts vieler einflussreicher Personen des Musiklebens sicher sein ; durch seinen Titel des Vizekapellmeisters der Salzburger Hofkapelle war ihm wiederum ein gewisser sozialer Status garantiert. Dabei war es keineswegs selbstverständlich, dass sein Dienstherr, der Graf von Schrattenbach und Erzbischof zu Salzburg, die längere Abwesenheit überhaupt unterstützte oder zumindest tolerierte.¹²⁷ Schließlich darf der historische Zeitpunkt der Mozart’schen Reisen nicht übersehen werden. Überhaupt erst möglich wurden sie zum einen durch eine allgemeine Beschleunigung der Reisegeschwindigkeit, wie sie bereits vor dem Eisenbahnzeitalter durch den Ausbau des Postkutschenwesens und andere Entwicklungen in der Verkehrstechnik einsetzte.¹²⁸ Zum anderen hätte der bis andauernde siebenjährige Krieg ähnlich große Pläne noch leicht vereiteln können – nicht allein aufgrund der instabilen Lage rund um die eigentlichen Kriegsschauplätze, als vielmehr noch wegen diplomatischer Hindernisse auf internationaler Ebene und der geringeren Freigiebigkeit des Adels zu Kriegszeiten.
. virtuosität im glanz des außernatürlichen Am entschiedensten hat es wohl Maynard Solomon formuliert : In seinen schlaglichtartigen Überlegungen, die er erstmals als Vortrag an der New York University und als Aufsatz veröffentlicht hat, behauptet der Mozartforscher, der junge Wolfgang sei bereits als Kind, ganz im Interesse seines Vaters, von den Zeitgenossen als »the embodiment of a miracle«¹²⁹ erschienen Bis März erhielt Leopold sogar weiterhin seine reguläre Besoldung. Siehe Josef Mančal, Leopold Mozart und seine Familie auf Europareise, S. –. Siehe Brigitte Mazohl-Wallnig und Josef Wallnig, »Reisen zur Mozart-Zeit – Die Mozarts auf Reisen«, in : Gunda Barth-Scalmani, Brigitte Mazohl-Wallnig und Ernst Wangermann (Hgg.), Genie und Alltag, S. – ; Hans E. Bödecker, »›Kaum hat ein Virtuos die Stadt verlassen, so erscheint schon ein anderer.‹«, S. –. Maynard Solomon, »The Myth of the Eternal Child«, in : th-Century Music /Nr.
Virtuosität im Glanz des Außernatürlichen |
und in die direkte Nähe von antiken kindlichen Helden oder Göttern sowie dem Christuskind gerückt worden. Leopold Mozart wird in Solomons Lesart zu einer Art Prophet stilisiert, der die Öffentlichkeit von dem einzigartigen und geradezu auserkorenen Wesen seines Sohnes – einem wahrhaftigen ›Wunderkind‹ also – erfolgreich überzeugt hätte. Zwar gehen andere Autoren nicht so weit, die Rezeption als »kodifizierte Ideologie seiner Familie«¹³⁰ monokausal aus einem psychologischen Komplex abzuleiten, die Grundthese aber, der Vater hätte den Sohn aus religiöser Überzeugung heraus der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, zumindest unter diesem Vorwand dem Publikum als ein göttliches Wunder präsentiert, ist bisher unwidersprochen und wird in neueren Publikationen weithin geteilt.¹³¹ Die aktuelle Mozartbiographik bekräftigt mit diesem Deutungsmuster das Bild des singulären Kindes. Der Begriff des Wunders wiederum wird dabei automatisch in einen theologischen Kontext gesetzt. Es ist unstrittig, dass eine Rhetorik des Staunenswerten und Wundersamen in der öffentlichen Inszenierung der Mozarts allgegenwärtig war, was auch auf eine gezielte Pressearbeit durch Leopold Mozart schließen lässt.¹³² Eine Schieflage der Argumentation vom göttlich auserwählten Knaben ergibt sich jedoch schon deswegen, weil Leopold ebendiese Rhetorik auch in Bezug auf seine Tochter angewandt hat. Den begriffs-, ideen- und diskursgeschichtlichen Zusammenhang des Wunderbaren hat die Mozart-Forschung dabei bisher vollkommen außer Acht gelassen. So hat der katholische Glaube Leopold Mozarts, wie er aus den Briefen eindeutig genug hervorgeht, grundsätzlich auf eine falsche Fährte gelockt, was das zeitgenössische öffentliche Bild der Geschwister Mozart angeht. Das Missverständnis resultiert aus dem Umstand, dass uns der ursprüngliche Bedeutungshorizont der Sphäre des Wunderbaren heute abhandengekommen ist. Das Wunder, das die beiden Kindervirtuosen in der Mitte des . Jahrhunderts repräsentierten, hatte wenig mit Berufung und
(), S. . In überarbeiteter Fassung erschien der Aufsatz erneut in dessen erstmals erschienener Monographie : Maynard Solomon, Mozart, S. –. Vgl. ebd., S. . Ebd., S. . Im Rekurs auf Solomon etwa zu finden bei Rachel E. Cowgill, Mozart’s Music in London, S. –. Ähnlich, aber weniger prononciert, auch bei Volkmar Braunbehrens, Mozart, S. ; Robert W. Gutman, Mozart, S. – ; Ruth Halliwell, The Mozart Family, S. ; Stanley Sadie, Mozart, S. – ; Ulrich Konrad, Wolfgang Amadé Mozart, S. . Siehe Josef Mančal, Leopold Mozart und seine Familie auf Europareise, S. – ; ders., »Zum Reise- und Konzertmanagement Leopold Mozarts für Wolfgang Mozart«, S. –, ; Matthias Schmidt, »Musiker – Erzieher – uomo politico«, S. –.
| Der Mozart-Mythos
Prophezeiung zu tun. Es brauchte lediglich jemanden, der es einem Publikum zur Schau stellte. Im Anschluss an den Dominikanermönch Thomas von Aquin und andere scholastische Gelehrte des Spätmittelalters unterschied man in der literarisierten Elite Europas bis in die frühe Neuzeit zwischen zwei Arten von Wundern, wie die Wissenschaftshistorikerinnen Lorraine Daston und Katharine Park in ihrer grundlegenden Studie Wonders and the Order of Nature, – () darlegen. Selbst wenn die Begriffsverwendung dabei nicht ganz einheitlich gewesen ist und die Unterscheidung nicht immer systematisch und widerspruchsfrei aufrechterhalten wurde, standen sich prinzipiell das Übernatürliche (Mirakel) und das sogenannte Außernatürliche (Naturwunder) gegenüber.¹³³ Beide Wunder waren fest im christlichen Weltbild verankert, unterschieden sich jedoch darin, ob sie durch Gott unmittelbar oder lediglich mittelbar gewirkt waren ; man begegnete ihnen daher jeweils auch mit einer anderen Haltung. Sogenannte Mirakel, wie sie abgesehen von der Bibel seit der Spätantike immer wieder schriftlich bezeugt wurden, fanden in Verbindung mit der christlichen Heiligenverehrung statt und bestanden vorwiegend aus Heilungswundern, seltener auch Rettungs- oder Strafwundern.¹³⁴ In ihnen äußerten sich das akute Eingreifen der göttlichen Hand und eine Überschreitung des Irdischen. Sie entzogen sich der rationalen Erkenntnis vollends und konnten allenfalls theologisch gedeutet werden. Außernatürliche Wunder (lat. praeter naturam) hingegen waren Teil der Schöpfung und wurden als Launen der Natur angesehen, als Dinge, Lebewesen oder Erscheinungen also, die lediglich von deren gewöhnlichem Gang abwichen. Dementsprechend galten sie als selten, oftmals auch als wertvoll. Ihre Ursachen lagen im Verborgenen und blieben vom Lehrkanon der Naturphilosophie in scholastischer Tradition, die stets auf Universalien zielte, weitgehend ausgeschlossen. Das bedeutete allerdings nicht, dass deren Siehe Lorraine Daston und Katharine Park, Wunder und die Ordnung der Natur, –, Aus dem Englischen von Sebastian Wohlfeil sowie Christa Krüger, Frankfurt a. M. , S. –, . Abgesehen davon kannte man von Menschen hergestellte Kunstwunder (als Nachahmung der Naturwunder) sowie Wunderillusionen dämonischen Einflusses. Siehe dazu ebd., S. –, –, –. Die Forschungsliteratur zu Naturwundern, Prodigien, Monstren und Kuriosa ist mittlerweile recht umfangreich. Einen etwas aktuelleren Überblick liefert Alexander Marr, »Introduction«, in : Robert J. W. Evans und Alexander Marr (Hgg.), Curiosity and Wonder from the Renaissance to the Enlightenment, Aldershot u. a. , S. –. Siehe grundlegend Gabriela Signori, Wunder. Eine historische Einführung, Frankfurt a. M. (= Historische Einführungen ). Zum Überwiegen der Heilungswunder siehe ebd., S. , .
Virtuosität im Glanz des Außernatürlichen |
kausale Ergründung nicht zumindest potentiell möglich war.¹³⁵ Zu den Wundern, in denen sich göttlicher Wille auf ähnlich direkte Weise offenbarte, wie bei den Mirakeln, gehörten seit der Antike auch die sogenannten Prodigien : typischerweise Geburten von ›Monstren‹ (Menschen und Tiere mit anatomischen Missbildungen oder Mischwesen) sowie seltene Himmelserscheinungen und Wetterphänomene. Die allermeisten solcher Ereignisse waren in der frühen Neuzeit zwar dem Außernatürlichen zugeordnet, insofern sie innerhalb des Irdischen passierten ; anders als die harmlosen und kostbaren Mirabilien der Natur aber wurden sie als unheilvolle Vorzeichen einer bald erfolgenden göttlichen Strafe für menschliche Sünden gelesen.¹³⁶ Religiöse Glaubenspraktiken im Zusammenhang mit dem Wunderbaren verebbten also keineswegs mit dem Ende des Mittelalters. Prodigien etwa erhielten im Kontext der religiösen und politischen Auseinandersetzungen nach der Reformation enormen Auftrieb. Mithilfe neuer Drucktechniken setzte in Form von Abhandlungen, Kompendien, Flugblättern und Flugschriften seit dem späten . Jahrhundert eine regelrechte Flut solcher Vorzeichenwunder ein, die vorwiegend von protestantischen Autoren ausging und häufig propagandistische Zwecke verfolgte.¹³⁷ Während die Lehre des Protestantismus eine gewisse Distanz gegenüber den Mirakeln wahrte, da sie davon ausging, dass diese seit der biblischen Offenbarung nicht mehr nötig wären, wurde das Übernatürliche umgekehrt zu einem wichtigen Werkzeug der Gegenreformation, im Zuge derer eine Konjunktur von Wallfahrten, Reliquienwesen und religiösem Wunderglauben einsetzte, die sich trotz Aufklärung auch in der ersten Hälfte des . Jahrhunderts nochmals erneuern konnte.¹³⁸ Ein musikalisches Kind ließ sich nur schwerlich in der Kategorie des Mirakulösen und auch kaum als schreckenerregendes Prodigium vorstellen. Anders hingegen verhielt es sich mit dem Naturwunder. Besonders erhellend ist in diesem Zusammenhang das Sinngedicht, zur Ehre, des Herrn Wolfgang Mozarts, das Siehe dazu Lorraine Daston und Katharine Park, Wunder und die Ordnung der Natur, S. –. Siehe ebd., S. –, ; Michaela Schwegler, ›Erschröckliches Wunderzeichen‹ oder ›natürliches Phänomen‹ ? Frühneuzeitliche Wunderzeichenberichte aus der Sicht der Wissenschaft, München (= Bayerische Schriften zur Volkskunde ), S. , . Siehe Lorraine Daston und Katharine Park, Wunder und die Ordnung der Natur, S. – ; Michaela Schwegler, ›Erschröckliches Wunderzeichen‹ oder ›natürliches Phänomen‹ ?, S. –, –. Siehe Gabriela Signori, Wunder, S. –, . Zu Prodigien und Mirakeln im Streit der Konfessionen, vgl. Michaela Schwegler, ›Erschröckliches Wunderzeichen‹ oder ›natürliches Phänomen‹ ?, S. –.
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der Augsburger Kaufmann und Schriftsteller Johann Christoph von Zabuesnig bei seinem Besuch in Salzburg am . März verfasst hat. Die zweite Strophe des Gedichts hebt folgendermaßen an : »Da, wo der Salzastrohm aus finstern Klippen eilet, / Wo er das flache Land mit reiner Fluth begeußt, / Und den beglückten Ort, die schöne Stadt vertheilet, / Die sich itzt eine Burg von dessen Namen heißt, / Ließ die Natur ein Kind das Tageslicht betreten, / Ein Kunststück ihrer Hand, ein wundervolles Kind, / Durch dessen Fähigkeit die Fabeln der Poeten, / Die man mit Recht verlacht, Geschichten worden sind.«¹³⁹
Die erste Strophe lehrt außerdem, dass sich die Natur gegen all die phantastischen Auswüchse des Menschen (»Gedichte, Fabelwerk, ein Chaos seltner Sachen«) durch dieses Wunder wieder in ihr Recht als größte Künstlerin gesetzt habe : »So überstieg der Mensch, durch frevelndes Erfrechen, / Die Ordnung der Natur ; die dieser Schimpf verdroß, / Und um den kühnen Stolz mit gleicher Art zu rächen, / Ein neues Wunderwerk zu schaffen sich entschlosß.«¹⁴⁰
So sei ein Kind geboren worden, mit dem »die Natur die Gränzen überschritten«¹⁴¹ hätte. Als Schöpferin dieses ›Wunderkindes‹ erscheint hier also eine personifizierte Natur (die gängige Allegorie der natura artifex); von Gott hingegen ist keine Rede, was seinen Grund in dem ausdifferenzierten Wunderbegriff der frühen Neuzeit hatte. Kompliziert ist die Sache dadurch, dass dieses Lobgedicht ausgerechnet zu einem historischen Zeitpunkt geschrieben wurde, an dem Daston und Park das »Ende der langen Geschichte der Verwunderung und der Wunder als geschätzter Ingredienzen der europäischen Elitekultur«¹⁴² veranschlagt haben. Wie die beiden Autorinnen in ihrem Buch umfassend beleuchten, hatte sich das Interesse an Wunderphänomenen aus dem Reich der Natur seit dem Hochmittelalter jahrhundertelang auf das Umfeld von Fürsten Johann Christoph von Zabuesnig, Sinngedicht, zur Ehre, des Herrn Wolfgang Mozarts, Manuskript in Abschrift St. Gilgen, . November , (Stiftung Mozarteum Salzburg, Bibliotheca Mozartiana, Sign.: A–Sm, Doc /). Zitiert nach Digitale Mozart-Edition. Online : http://dme.mozarteum.at/DME/briefe/letter.php?mid=&cat= [abgerufen am ..]. Ebd. Ebd. Lorraine Daston und Katharine Park, Wunder und die Ordnung der Natur, S. .
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höfen, Kirchen, Klöstern, Universitäten und Akademien konzentriert, womit es immer auch weltlichen Reichtum, göttliche Macht und exklusives Wissen repräsentierte. Dieser »Kanon der Naturwunder«¹⁴³ nun war im . Jahrhundert längst in Auflösung begriffen. Der Statusverlust des Wunderbaren ging insbesondere mit der Aufklärungsbewegung einher, auch wenn sich deren Angriff in erster Linie gegen religiösen Wunderglauben richtete. So stellten seit dem späten . Jahrhundert Philosophen, Ärzte wie Geistliche das Wunder immer mehr in den Zusammenhang von Schwärmerei und Aberglauben, diffamierten es als Wahn und krankhafte Einbildung und stellten Verwunderung und Staunen allgemein eher als Verirrung des ungebildeten und gefährlich manipulierbaren Volkes dar.¹⁴⁴ Diese Stimmen »höhlten den kulturellen Kredit des Wunderbaren auf vielfältige und komplexe Art und Weise aus«¹⁴⁵ und blieben dabei auch nicht ohne Wirkung auf das Naturwunder, das sich mit dem Mirakel immerhin ein und denselben Affekt teilte. Allerdings hatte sich die Krise des Außernatürlichen bereits in medizinischen, naturphilosophischen und theologischen Schriften des . Jahrhunderts angedeutet und korrelierte im Bereich der Wissenschaften mit dem Entstehen einer neuen Metaphysik abstrakter, universaler und gleichförmiger Gesetzmäßigkeiten, die die Idee einer gleichsam spielerischen Laune der personifizierten Natur endgültig eliminierte.¹⁴⁶ Zabuesnigs Zeilen über das Kind Wolfgang Mozart machen aber deutlich, dass die alte Idee des Naturwunders im Sprachschatz bis in die zweite Hälfte des . Jahrhunderts überlebt hat und hier zumindest noch einmal poetisch eingefangen werden konnte. Dass das Außernatürliche seine metaphysische Bedeutung wie seine elitäre Ausstrahlung verlor, war möglicherweise die Voraussetzung einer Diffusion der Begrifflichkeit, die nun auch für Phänomene außerhalb ihres traditionellen Kanons verfügbar wurde und allmählich in eine übertragene Verwendung abgleiten konnte. Mit dem tiefgreifenden Wandel des Wissens von der Natur ging um zwangsläufig auch eine gewisse »Veralltäglichung des Außerordentlichen«¹⁴⁷ einher, wie der Sozial- und Wissenschaftshistoriker Wolf Lepenies heraushebt.
Ebd., S. . Siehe ebd., S. –. Ebd., S. . Siehe ebd., S. –, –, –. Wolf Lepenies, Das Ende der Naturgeschichte. Wandel kultureller Selbstverständlichkeiten in den Wissenschaften des . und . Jahrhunderts, Frankfurt a. M. (= suhrkamp taschenbuch wissenschaft ), S. .
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In einigen europäischen Sprachen waren Lehnwörter des lateinischen prodigium geläufig (beispielsweise prodigy im Englischen oder prodige im Französischen). Die Etymologie hilft hier aber nur bedingt weiter, da solche Begriffe im Sprachgebrauch einen wesentlich größeren Bereich umfassten als das Original, das wie erwähnt einem Omen gleichzusetzen war. Solche modernen Entlehnungen wurden häufig synonym mit dem Außernatürlichen beziehungsweise Naturwunder verwendet (ähnlich den Termini marvel beziehungsweise merveille), während man im Deutschen lediglich das mehrdeutige »Wunder« kannte, das ebenso auf das Übernatürliche verweisen konnte.¹⁴⁸ In der Lexikographie verlor sich die mit diesen Lehnwörtern verbundene Bedeutung des religiösen Vorzeichens bereits an der Wende zum . Jahrhundert weitgehend, auch wenn sie gelegentlich etwa noch in literarischen Zusammenhängen auftauchen konnte.¹⁴⁹ Dies war womöglich ein Effekt der zunehmenden Aneignung von Phänomenen wie Monstren und Himmelskörper durch die Wissenschaft.¹⁵⁰ Der entsprechende Eintrag von John Kerseys englischsprachigem Wörterbuch zu Beginn des Jahrhunderts definierte schlicht »an effect beyond Nature, a monstrous or preternatural Thing.«¹⁵¹ In dem in der Erstaus Siehe Art. »Wunder, n., m.«, in : Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. , Leipzig , Sp. –. Retrodigitalisierte Ausgabe, Trier . Online : http://woerterbuchnetz.de/DWB/ [abgerufen am ..]. Dasselbe gilt für das Kompositum »Wunderkind«, mit dem zum Beispiel auch Jesus Christus gemeint sein konnte. Siehe Art. »Wunderkind, n., seit dem späten . jh.«, in : ebd., Sp. –. Siehe die Einträge zum Suchbegriff »prodigy« in : Ian Lancashire (Hg.), Lexicons of Early Modern English, Toronto . Online : http://leme.library.utoronto.ca/ [abgerufen am .. ], beziehungsweise zum Suchbegriff »prodige« in den »Dictionnaires d’autrefois« des Project for American and French Research on the Treasury of the French Language, Chicago o. J. Online : http://artfl-project.uchicago.edu/content/dictionnaires-dautrefois [abgerufen am ..]. Vgl. Art. »prodigy, n.«, in : Michael Proffitt u. a. (Hgg.), Oxford English Dictionary Online, Oxford . Online : http://www.oed.com [abgerufen am ..] ; Art. »Prodige, subst. masc.« in : Jacques Dendien (Hg.), Le Trésor de la Langue Française informatisé, Nancy o. J. Online : http://atilf.atilf.fr [abgerufen am ..]. Vgl. unter anderem Lorraine Daston und Katharine Park, Wunder und die Ordnung der Natur, S. – ; Michaela Schwegler, ›Erschröckliches Wunderzeichen‹ oder ›natürliches Phänomen‹ ?, S. – ; Maren Lorenz, »Von Monstren und Menschen. Der Umgang mit sogenannten ›Missgeburten‹ im . Jahrhundert«, in : Martin Rheinheimer (Hg.), Subjektive Welten. Wahrnehmung und Identität in der Neuzeit, Neumünster (Studien zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte Schleswig-Holsteins ), S. ; Urs Zürcher, Monster oder Laune der Natur. Medizin und die Lehre von den Missbildungen –, Frankfurt a. M. (= Campus Historische Studien ), S. . Art. »Prodigy«, in : John Kersey, Dictionarium Anglo-Britannicum : Or, A General English Dictionary […], London , o. S.
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gabe veröffentlichten Lexikon der Académie française lautete die Denotation ähnlich : »Effet surprenant qui arrive contre le cours ordinaire de la nature.«¹⁵² Die Funktion als Vorzeichen war semantisch nicht notwendig, sondern fand sich lediglich als Zusatz unter den sprachlichen Anwendungsbeispielen (»les grands évenements sont quelquefois precedez par des prodiges«¹⁵³). Außerdem kannte man hier bereits seine übertragene Bedeutung in Bezug auf Personen und deren außergewöhnliche Leistungen, bei denen es nicht mehr so sehr darauf ankam, ob sie nun tatsächlich Produkte der Natur waren : »Il se dit souvent par exaggeration en parlant des personnes, & des choses qui excellent dans leur genre.«¹⁵⁴ Yvonne Amthor behauptet in ihrer Dissertation, die Verwendung des englischen Terminus prodigy und die damit einhergehende spezifische Wahrnehmung virtuos musizierender Kinder seit dem . Jahrhundert sei ausschließlich auf die Werbestrategie Leopolds zurückzuführen (und spricht in diesem Zusammenhang von einem »direct result of Leopold’s moves to promote his children in London«¹⁵⁵). Historische Terminologie und Begriffsgeschichte sind unbedingt zu konsultieren, um sich in dieser Hinsicht nicht von der Quellenlage blenden zu lassen und die Handlungsmacht Leopold Mozarts derart zu überschätzen.¹⁵⁶ Ein Gegenbeispiel zu ihrer These führt Amthor im Übrigen unfreiwillig selbst an, eine Bemerkung über Gertrud Schmeling in einer Nachricht aus Exeter, in der die junge Virtuosin als »another instance of early maturity, reckoned in its kind next to a prodigy«¹⁵⁷ bezeichnet wurde. Art. »Prodige«, in : Académie française (Hg.), Le Dictionnaire de l’Académie Françoise, Tome Second : M–Z, Paris , S. . »Erstaunlicher Effekt, der gegen den üblichen Lauf der Natur passiert.« (Übers. d. Verf.) Ebd. »den großen Ereignisse gehen manchmal Wunder voran.« (Übers. d. Verf.) Ebd. »Es wird häufig mit Übertreibung bei der Rede von Personen und Dingen, die sich in ihrem Bereich auszeichnen, verwendet.« (Übers. d. Verf.) Yvonne Amthor, ›Wunderkinder‹, S. . Siehe ebd., S. –. Auch Anselm Gerhard sieht den Begriff des musikalischen Wunderkindes allein als eine »publizistische Leistung« Leopold Mozarts an. Siehe Anselm Gerhard, »Leopold Mozart und die Erfindung des musikalischen Wunderkindes«, in : Partituren. Das Magazin für klassische Musik /Nr. (), S. . Des Weiteren ist ihre Behauptung, dass es bis zu den Mozarts in Anzeigen keine Altersangaben gab, nachweislich falsch, und auch ihre These, dass Leopold Mozart der Erste gewesen wäre, der seine Kinder jünger ausgab, als sie wirklich waren, muss bezweifelt werden. Siehe Yvonne Amthor, ›Wunderkinder‹, S. –, . The London Magazine : Or, Gentleman’s Monthly Intelligencer /o. Nr. (September ), S. . Der Bericht erschien zudem in : The Annual Register (), S. , sowie gekürzt und leicht variiert in : The London Chronicle vom .–. September (Nr. ), S. . Amthor, die aus diesem gekürzten Bericht zitiert, versteht anscheinend den dortigen Ortsbe-
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Einen weiteren Beleg dafür, dass das Naturwunder im Bereich der Musik um die Mitte des . Jahrhunderts nicht exklusiv mit den Geschwistern Mozart in Verbindung stand, ist eine gemeinsame Erwähnung mit dem Violinisten Franz Lamotte in einer von Johann Adam Hiller in Leipzig herausgegebenen Musikzeitschrift : »Es hat in den Wissenschaften frühzeitige Gelehrte gegeben, die man mit Recht als Wunder der Natur angesehen. Die Musik hat sich ebenfalls dergleichen frühzeitigen Gelehrten, oder v irtuosen, wie man sie in der musikalischen Sprache nennen muß, zu rühmen.«¹⁵⁸
Sogar bevor man von den Erfolgen der Kinder des Salzburger Vizekapellmeisters irgendetwas hätte hören können, wusste der zehnte Band des in Nürnberg verlegten Neu-eröffneten Historischen Bilder-Saals folgende Begebenheit aus Holland zu berichten : »Noch einer Merckwürdigkeit müssen wir hier Erwehnung thun, dann wann ein Kind von . Jahren . Sprachen fertig reden kan, wann es die Singe-Kunst trefflich verstehet, wann es zugleich als der allergeschickteste Meister die schwersten Stücke auf dem Clavier wegzuspielen weis, so verdient dergleichen Wunder-Kind billig unter die denckwürdige und seltene Dinge gezehlt zu werden. Dergleichen jähriges Kind hat sich in diesem Jahr [] im December in Leyden in einer Versammlung verschiedener Herren und Damen hören lassen. In dieser Versammlung, die aus großen Kennern der Musique bestunde, sange diese jährige Jungfer verschiedene von Händel, Hasse und Kellerie componirte Englisch und Italiänische Arien mit erstaunender Fertigkeit der Stimme und sehr künstlich, dabey sie zugleich auf dem Clavier sehr schön und zwar die schwersten Stücke von Scarlatti, Händel und Kellerie, so fertig spielte, daß jedermann in Verwunderung geriethe. Sie redet . Sprachen, als Englisch, Italiänisch, Französisch und Teutsch, spielte alle sonst nie gesehene Arien und Stücke, sobald sie ihr vorgelegt wurden, und ist für ihr Alter so weit in der Music gekommen, daß man sie ein Wunder unsrer Zeit nennen kan.«¹⁵⁹ zug »in this city« falsch, der unmissverständlich macht, dass Schmeling explizit gemeint ist. Siehe Yvonne Amthor, ›Wunderkinder‹, S. –. [Anon.], »Wien«, in : Wöchentliche Nachrichten und Anmerkungen die Musik betreffend / Nr. (. November ), S. . [Anon.], Neu-eröffneter Historischer Bilder-Saal. Das ist : Kurtze/deutliche und unpartheyische Beschreibung der Historiae Universalis, Bd. /, Nürnberg , S. . Wahrscheinlich handelte es sich um die Tochter eines gewissen Lanza, der mit François-André Danican Phi-
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Ebenfalls völlig unabhängig von den Mozarts bemerkte der französische Geistliche Jérôme Richard, nachdem er Zeuge der herausragenden musikalischen Leistungen mancher Mädchen am Ospedale di San Lazzaro dei Mendicanti geworden war, in einem publizierten Reiseführer : »Ce n’est qu’à Venise où l’on voit ces prodiges en musique.«¹⁶⁰ Als Paradebeispiel des sich frühzeitig äußernden musikalischen Naturgenies wurde um die Mitte des . Jahrhunderts bereits Georg Friedrich Händel betrachtet. So setzte John Mainwarings anonym veröffentlichtes Buch über den in London verstorbenen Komponisten, das als erste biographische Monographie über einen Musiker überhaupt gelten kann, den Topos des »rising Genius«¹⁶¹, das sich schon früh aus sich selbst heraus gegen alle äußeren Umstände – in diesem Fall vor allem gegen den erbitterten Widerstand des Vaters – durchsetzt, mit anschaulichen Episoden aus dessen Kindheit in Szene. Somit war für Händel die Bezeichnung eines »down-right prodigy«¹⁶² naheliegend, wie der Musiker in der zu Mainwarings Lebensbeschreibung angehängten Werkbetrachtung an einer Stelle genannt wurde. Mainwaring beziehungsweise sein Koautor griff hier eine Vorstellung auf, die der Schriftsteller Joseph Addison bereits in einem Aufsatz für die von ihm gemeinsam mit Richard Steele herausgegebene moralische Zeitung The Spectator in Worte gefasst hatte. Als »Prodigies of Mankind« pries Addison jene Genies, »[…] who by the meer strength of natural parts, and without any assistance of art or learning, have produced works that were the delight of their own times, and the wonder of posterity.«¹⁶³ Die Anwendung von Wunderbe-
lidor und Francesco Geminiani in Holland zusammentraf. Siehe dazu die Biographie Philidors in [Richard Twiss], Chess, London , S. . Jérôme Richard, Description Historique et Critique de l’Italie, ou Nouveaux Mémoires Sur l’État actuel de son Gouvernement, des Sciences, des Arts, du Commerce, de la Population & de l’Histoire Naturelle, Bd. , Dijon u. a. , S. . »Nur in Venedig kann man diese Wunder der Musik sehen.« (Übers. d. Verf.) [John Mainwaring], Memoirs of the Life of the Late George Frederic Handel. To which is added, A Catalogue of his Works, and Observations upon them, London , S. . Eine Übersetzung Johann Matthesons ins Deutsche erschien bereits im Jahr darauf. Siehe [John Mainwaring], Georg Friderich Händels Lebensbeschreibung, nebst einem Verzeichnisse seiner Ausübungswerke und deren Beurtheilung, übersetzet, auch mit einigen Anmerkungen, absonderlich über den Hamburgischen Artikel, versehen vom Legations-Rath Mattheson, Hamburg . [John Mainwaring], Memoirs of the Life of the Late George Frederic Handel, S. . Die »Observations on the Works of George Frederic Handel« sind Otto Erich Deutsch zufolge von Robert Price verfasst worden. Siehe Otto E. Deutsch, Handel. A Documentary Biography, London , S. . The Spectator vom . September (Nr. ), zitiert nach Joseph Addison, The Works, Bd. , London , S. .
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griffen auf musikalisches Genie reicht historisch aber noch wesentlich weiter zurück. So rühmte beispielsweise schon der italienische Literat Cosimo Bartoli in einer kunsttheoretischen Abhandlung von den Renaissance-Musiker Josquin Desprez als »monstro della natura«¹⁶⁴ (Monstrum der Natur). Und im Dezember stellte der Mercure Galant Élisabeth Jacquet de La Guerre das Zeugnis aus, »La merveille de notre siècle« (das Wunder unseres Jahrhunderts) zu sein und vermerkte auch noch in der Ausgabe vom März des Jahres zur Ankündigung eines ersten Bandes von Cembalosuiten der Musikerin : »[…] on l’a toujours regardée comme un prodige.«¹⁶⁵ Dass Jacquet de La Guerre bereits im Alter von fünf Jahren am französischen Hof wirkte, wird durch ein vor einigen Jahren aufgespürtes Exemplar dieses Bandes mit einer diesbezüglich aufschlussreichen Widmung an Louis XIV. bestätigt.¹⁶⁶ Im Umfeld von Versailles und der Pariser Salons hegte man im . Jahrhundert ansonsten eine besondere Vorliebe für junge Naturgenies der Dichtung wie Jacqueline Pascal, Louis Auguste I. de Bourbon oder François de Beauchâteau, deren poetische Werke von ihnen selbst rezitiert, aber auch in Manuskripten und Einblattdrucken weitergereicht sowie über Gedichtsammlungen oder Literaturzeitschriften einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden.¹⁶⁷ Wissenschaften und literarische Bildung genossen damals noch einen ungleich höheren gesellschaftlichen Stellenwert als die Musik. Somit ist nachvollziehbar, dass besonders sogenannte ›gelehrte Kinder‹ im Kontext der république des lettres bereits hofiert und öffentlich glorifiziert wurden, während außergewöhnliche Leistungen musizierender Kinder noch kaum eine vergleichbare Aufmerksamkeit erregen konnten.¹⁶⁸ Das wichtigste Referenzwerk des Phänomens war und blieb die erschienene und intensiv rezipierte biographische Sammlung Des Enfans devenus célèbres par leurs études et par leurs Cosimo Bartoli, Ragionamenti accademici, Venedig , S. . Zitiert nach Mary Cyr, »Elisabeth Jacquet de La Guerre : Myth or Marvel ? Seeking the Composer’s Individuality«, in : The Musical Times /Nr. (), S. –. »[…] man hat sie immer als ein Wunder angesehen.« (Übers. d. Verf.) Zu Jacquet de La Guerre vgl. auch Claudia Schweitzer, Art. »Élisabeth-Claude Jacquet de la Guerre«, in : Beatrix Borchard (Hg.), Musik und Gender im Internet (MUGI). Musikerinnen-Lexikon, Hamburg . Online : http://mugi.hfmt-hamburg.de/Artikel/Clisabeth-Claude_Jacquet_de_ la_Guerre [abgerufen am ..]. Siehe Mary Cyr, »Elisabeth Jacquet de La Guerre : Myth or Marvel ?«, S. –. Siehe Corinne Touchelay, »Impressions d’enfance«, in : Michèle Sacquin (Hg.), Le printemps des Génies, S. –. Vgl. Anselm Gerhard, »Leopold Mozart und die Erfindung des musikalischen Wunderkindes«, S. –.
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écrits des Theologen und Bibliothekars Adrien Baillet, einem Autor, welcher der Geschichtsschreibung vor allem als erster Biograph des Philosophen René Descartes im Gedächtnis geblieben ist. Baillet führte an die hundert berühmte »doctes Enfans«¹⁶⁹ (gelehrte Kinder) aus Geschichte und Gegenwart an, die sich durch frühe Gelehrsamkeit in ihren ersten beiden Lebensjahrzehnten auszeichneten. Gewidmet war das Werk Baillets eigenem Schüler, dem jungen Edelmann Chrétien de Lamoignon, was seinen Inhalt auch als Leitbild von Erziehung nahelegte, auch wenn die enthaltenen Beispiele nicht unbedingt direkt nachzuahmen waren. Baillet jedenfalls schuf ein literarisches Modell, das noch bis ins . Jahrhundert hinein in ähnlichen Buchpublikationen aufgegriffen wurde.¹⁷⁰ Berichte über solche Kinder erschienen aber auch in Literatur- und Gelehrtenzeitschriften, beziehungsweise wurden deren literarische Erzeugnisse dort abgedruckt.¹⁷¹ In ihrer Auseinandersetzung mit dem ›gelehrten Kind‹ konnte die Frühaufklärung auf ältere Deutungsmuster zurückgreifen. So war der Topos des sich durch reifen Verstand oder Weisheit auszeichnenden puer senilis beziehungsweise puer senex (Greis-Kind) insbesondere in Schriften der römischen Spätantike bereits weit verbreitet gewesen und blieb als rhetorisches Mittel der Huldigung einer Person bis in die frühe Neuzeit präsent.¹⁷² Solche Figuren schienen im Übrigen kulturell sehr weit verbreitet zu sein, sodass sie sich in diversen religiösen Mythen auch im außereuropäischen Raum nachweisen lassen.¹⁷³ Adrien Baillet, Des Enfans devenus célèbres par leurs études et par leurs écrits. Traité historique, Paris , S. . Siehe Ingrid Bodsch, »›Merckwürdige Nachricht von einem sehr frühzeitig gelehrten Kinde …‹. Von unvergleichlichen Begabungen und ihrer Rezeption in Literatur, Medien und Fachwelt«, in : Ingrid Bodsch, Otto Biba und Ingrid Fuchs (Hgg.), Beethoven und andere Wunderkinder, S. ; dies., Kat. Nr. , in : ebd., S. ; Françoise Waquet, »›Puer doctus‹, les enfants savants de la république des lettres«, in : Michèle Sacquin (Hg.), Le printemps des Génies. Les enfants prodiges, S. . Siehe Françoise Waquet, »›Puer doctus‹, les enfants savants de la république des lettres«, S. . Siehe Ernst R. Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, . Aufl., Tübingen u. a. , S. –. Curtius erklärt diesen Umstand mit einem kollektiv unterbewussten Archetypus nach Carl Gustav Jung, ebenso könnte man aber mit Kulturtransfer argumentieren. Siehe ebd., S. – . Zur jüdischen Religion und Kultur vgl. etwa auch David Ruderman, »Three Contemporary Perceptions of a Polish Wunderkind of the Seventeenth Century«, in : Association for Jewish Studies Review (), S. –. Zur Mythologie und biographischen Geschichtsschreibung der chinesischen Antike vgl. Anne B. Kinney, »The Theme of the Precocious Child in Early Chinese Literature«, in : T’oung Pao (Second Series)/Nr. (), S. –.
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Im . Jahrhundert sorgten dann insbesondere Jean-Philippe Baratier und Christian Heinrich Heineken – beide zufälligerweise im gleichen Jahr geboren – europaweit für Aufsehen.¹⁷⁴ Ein Schreiber des Hamburger Patrioten erwähnte in der Ausgabe vom . Januar , hinsichtlich einer Nachricht über Heineken, die bis dato bereits vorliegende Menge an schriftlichen Belegen zu vergleichbaren Fällen : »Verlanget man Exempel von Kindern, mit denen sehr frühe angefangen, und was rechtes ausgerichtet worden, so könte ich euch zwar auf verschiedene berühmte Männer verweisen, die von frühgelehrten Leuten beyderley Geschlechts grosse Sammlungen gemacht, vornehmlich von vielen, bey denen nicht weniger der Fleiß und der Hand-Griff, als die Natur selbst, Wunder gethan. Ich könte mich auf auswärtige Beyspiele beruffen, die von Königen und Fürsten, als eine rechte Seltenheit, in hohen Augenschein genommen worden.«¹⁷⁵
Im selben Jahr wurde in Augsburg ein Kupferstich eines von Allegorien umgebenen Porträts des Kindes gedruckt (Abbildung ), dessen gedichtete Bildlegende aus der Feder des Rektors des Lübecker Katharineums Johann Heinrich von Seelen ebenfalls den Topos vom Außernatürlichen rhetorisch bemühte : die Natur zeige sich an dem Kind selten schwelgerisch (»Natura in raris luxuriante«). Heineken, der aus einer Lübecker Künstlerfamilie stammte, starb im Alter von vier Jahren. Innerhalb seines kurzen Lebens aber, so erinnert das Merkwürdige Ehren-Gedächtniß, das ihm sein Hauslehrer Christian von Schöneich nach seinem Tod widmete, hatte sich das Kind ein umfassendes Wissen in Religion, Geschichte, Genealogie, Geographie, Anatomie, Rechtskunde und Astronomie erworben, sich neben der deutschen Muttersprache das Lateinische und Französische angeeignet, dutzende geistliche Lieder und Psalmen erlernt, und war bei seiner Reise nach Kopenhagen sogar dem dänischen König Zu den folgenden biographischen Angaben siehe Ingrid Bodsch, »›Merckwürdige Nachricht von einem sehr frühzeitig gelehrten Kinde …‹«, S. – ; Guido Guerzoni, Il bambino prodigio di Lubecca. La vita straordinaria di Cristiano Enrico Heinecken, Turin ; Christoph Rückert, Jean Philippe Baratier. Das ›Schwabacher Wunderkind‹. Ein Beitrag zur Schwabacher Stadtgeschichte, hg. vom Geschichts- und Heimatverein Schwabach und Umgebung e. V., Schwabach ; Françoise Waquet, »›L’histoire merveilleuse d’un enfant précocement savant‹ : Jean-Philippe Baratier«, in : Revue de la bibliothèque nationale (), S. –. Zitiert nach Wolfgang Martens (Hg.), Der Patriot, nach der Originalausgabe Hamburg – in drei Textbänden und einem Kommentarband, Bd. : Jahrgang , Stück –, Berlin (Ausgaben Deutscher Literatur des XV. bis XVIII. Jahrhunderts), S. .
Virtuosität im Glanz des Außernatürlichen | Abb. 3 : Johann Balthasar Probst, Christianus Henricus Heineken. Nat : Lub : d : 6. Febr : 1721, Kupferstich nach einem Gemälde von Johann Harper, Augsburg : Jeremias Wolff 1724.
Friedrich IV. vorgeführt worden.¹⁷⁶ Dem Werk war eine Kopie des Augsburger Druckporträts, hier mit einem Lobgedicht Georg Philipp Telemanns ausgestattet, beigefügt. Mit der Lebensgeschichte des wundersamen und zeitlebens kränklichen Kindes, das sein Schicksal stets fromm erduldet hat, schrieb Schöneich nebenbei auch ein Stück religiöser Erbauungsliteratur.¹⁷⁷ Die Schrift war anfangs wohl weniger als pädagogisches Instrument intendiert, auch wenn noch eine zweite, sprachlich modernisierte und sich nun explizit an Kinder als Lesepublikum richtende Ausgabe erschien.¹⁷⁸ Die Geschichte Siehe Christian von Schöneich, Merkwürdiges Ehren-Gedächtniß von dem Christlöblichen Leben und Tode des weyland klugen und gelehrten Lübeckischen Kindes, Christian Henrich Heineken […], Hamburg . Guerzoni weist, leider ohne genauere Quellenhinweise, auf den Bezug der norddeutschen Gelehrten rund um Heineken zur Pansophie des Johann Amos Comenius mit ihrer Erwartung eines kindlich-weisen Messias hin, was die Nähe zur Heiligenlegende erklären würde. Siehe Guido Guerzoni, Il bambino prodigio di Lubecca, S. –. Siehe Christian von Schöneich, Leben, Thaten, Reisen und Tod eines sehr klugen und artigen jährigen Kindes Christian Henrich Heineken aus Lübeck, Zwote veränderte Auflage, Göttingen .
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des ›Wunderkindes aus Lübeck‹ jedenfalls blieb noch bis weit ins . Jahrhundert hinein allgemein bekannt, sein Schicksal diente aber auch als nachhaltiger Warnhinweis für das medizinische Problem geistiger ›Frühreife‹.¹⁷⁹ In ähnlicher Weise erinnerte man sich noch lange an den Fall Jean-Philippe Baratiers, der immerhin ein Alter von Jahren erreichte. Sein Vater, ein hugenottischer Pastor aus Schwabach legte mit seinem Erziehungsbericht, der erstmals aus dem Französischen übersetzt und publiziert wurde, dafür den Grundstein. Der Schilderung François Baratiers nach hatte sich der Sohn mit seiner Hilfe innerhalb der ersten Lebensjahre, neben einem gewissen Grundwissen in biblischer Geschichte und Geographie, die Sprachen Französisch, Deutsch, Latein, Griechisch und Hebräisch angeeignet.¹⁸⁰ Die Veröffentlichung, die einen völlig anderen Stil als die Schöneichs besaß, wurde von ihrem Übersetzer und Herausgeber ausgegeben als »Weg-Weiser […] von welchem man zu lernen, wie man die Natur zwar treiben, aber nicht zwingen solle.«¹⁸¹ Das praktisch erprobte Modell eines Lernens aus eigenem Antrieb, das von außen nur in die richtigen Bahnen gelenkt zu werden braucht, entsprach ganz dem Prinzip einer aufklärerischen Pädagogik. Nachher arbeitete sich der junge Baratier außerdem in weitere antike Sprachen sowie in Geschichte, Philosophie, Mathematik, Philologie, Theologie, Astronomie, Jura, Politik, Militärwissenschaft und Dichtung ein, veröffentlichte eine Reihe an Abhandlungen und wurde in die Königlich Preußische Sozietät der Wissenschaften aufgenommen. Wie Heineken wurde auch er nach dem Tode sogleich biographisch verewigt.¹⁸² Selbstver Vgl. Ingrid Bodsch, »›Merckwürdige Nachricht von einem sehr frühzeitig gelehrten Kinde …‹«, S. – ; Sally Shuttleworth, The Mind of the Child. Child Development in Literature, Science, and Medicine, –, Oxford u. a. , S. –. Neben den von Bodsch genannten Literaten Jean Paul und Theodor Storm griff auch Clemens Brentano die Figur des gelehrten Lübecker ›Wunderkindes‹ im Prolog zu einem seiner Märchen auf. Siehe Clemens Brentano, Gockel, Hinkel, Gakeleja. Mährchen, wieder erzählt von Clemens Brentano, Frankfurt a. M. , S. VII. Siehe zur Thematik auch Kap. des vorliegenden Buches. Siehe [François Baratier], Merckwürdige Nachricht, Von einem sehr frühzeitig Gelehrten Kinde, Nebst vielen zur Kinder-Zucht gehörig-nützlichen Anmerckungen, und einer Vorrede von gelehrten Kindern, Stettin u. a. . Ebd., o. S. In der Vorrede unterzeichnete dieser mit »P. Æ. v. M«. Siehe Jean Henri Samuel Formey, La Vie de Mr. Jean-Philippe Baratier. Maître ès Arts, & Membre de la Societé Royale des Sciences de Berlin, Utrecht ; [Samuel Johnson], An Account of the Life of John Philip Barretier : Who was Master of Five Languages at the Age of Nine Years. Compiled from his Father’s Letters, &c, London . Vorabdruck als [ders.], »Some Account of the Life of John Philip Barretier«, in : The Gentleman’s Magazine /o. Nr. (Dezember ), S. ; [ders.], »Conclusion of the Life of Barretier«, in : The Gentleman’s Magazine /o. Nr. (Februar ), S. –.
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ständlich lagen Skepsis und Misstrauen angesichts staunenswerter, vielfach nur über Zeitungen verbreiteter Gerüchte über solche ›Wunderkinder‹ immer nahe. Die möglichen Vorwürfe reichten hier von Magie und Teufelswerk bis hin zu Trickserei und blankem Betrug. Heineken etwa wurde in Lübeck deswegen rechtzeitig einer Prüfung durch eine Reihe anerkannter Theologen und Gelehrter unterzogen, von denen ihm am Ende der Rektor von Seelen ein offizielles Zeugnis ausstellte.¹⁸³ Wie groß das wissenschaftliche Interesse an dem Phänomen des ›gelehrten Kindes‹ gerade im norddeutschen Raum gewesen sein muss, ermisst sich auch an einer ganzen Reihe lateinischer Abhandlungen, die hier bereits seit dem ausgehenden . Jahrhundert und vielfach als Kommentar zu Baillets Lexikon erschienen sind.¹⁸⁴ Doch auch dann, wenn solche Kinder an Fürstenhöfen vorgestellt und vom Hochadel protegiert wurden, kam das einer wirksamen Beglaubigung ihrer Fähigkeiten gleich.¹⁸⁵ So befand der Herausgeber des Berichts über Baratier »Fürstliche und gelehrte Personen« als »hohe und unwidersprechliche Zeugen«, die er an dieser Stelle auch namentlich anführte.¹⁸⁶ Der Diskurs frühzeitiger Gelehrsamkeit spielte als Bezugsrahmen auch für musikalische ›Wunderkinder‹ im . Jahrhundert eine nicht zu vernachlässigende Rolle. Nicht ohne Grund wurde Händel von seinem Biographen Mainwaring hinsichtlich seines angeblich naturgegebenen Genies eingangs mit den berühmten Gelehrten Blaise Pascal und Tycho Brahe verglichen.¹⁸⁷ Leopold Mozart schwebten möglicherweise ebenfalls entsprechende Schriften vor, als er den Entschluss fasste, eine »Lebensgeschichte unseres kleinen [Wolfgang]«¹⁸⁸ zu verfassen und drucken zu lassen. Dieses Vorhaben setzte Leopold
Siehe Guido Guerzoni, Il bambino prodigio di Lubecca, S. –. Vgl. Anselm Gerhard, »Leopold Mozart und die Erfindung des musikalischen Wunderkindes«, S. –.; Guido Guerzoni, Il bambino prodigio di Lubecca, S. . Eine lateinische Abhandlung über Heineken selbst veröffentlichte neben von Seelen auch Ernst Leopold Friedrich Behm. Siehe ebd., S. . Siehe Françoise Waquet, »›Puer doctus‹, les enfants savants de la république des lettres«, S. –. Siehe [François Baratier], Merckwürdige Nachricht, o. S. (Vorrede). [John Mainwaring], Memoirs of the Life of the Late George Frederic Handel, S. . Brief von Leopold Mozart an Lorenz Hagenauer aus Ollmütz, . November . Zitiert nach Wolfgang A. Mozart, Briefe und Aufzeichnungen, Bd. , S. . Vgl. Anselm Gerhard, »Leopold Mozart und die Erfindung des musikalischen Wunderkindes«, S. ; Melanie Unseld, Biographie und Musikgeschichte, S. ; dies., »›… ein berühmter Capellmeister, von dem die Nachwelt auch noch in Büchern lieset‹. Mozart und die Idee der Musikerbiographie«, in : Herbert Lachmayer (Hg.), Mozart. Experiment Aufklärung im Wien des ausgehenden . Jahrhunderts, Essayband zur Mozart-Ausstellung, Wien u. a. , S. –.
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bekanntlich zeitlebens nicht um, obwohl er es noch einmal im Vorwort zur zweiten Auflage seiner Violinschule ansprach und inhaltlich umriss : »Ich könnte hier die Gelegenheit ergreifen das Publicum mit einer Geschichte zu unterhalten, die vielleicht nur alle Jahrhundert erscheinet, und die im Reiche der Musik in solchem gr ade des w under bar en vielleicht gar noch niemal erschienen ist ; ich könnte das wunderbare Genie meines Sohnes beschreiben ; dessen unbegreiflich schnellen Fortgang in dem ganzen Umfang der musikalischen Wissenschaft von dem fünften bis in das dreyzehende Jahre seines Alters umständlich erzehlen ; und ich könnte mich bey einer so unglaubigen Sache auf das unwidersprechliche Zeugniß vieler der größten Europäischen Höfe, auf das Zeugniß der größten Musikmeister, ja so gar auf das Zeugniß des Neides selbst beruffen.«¹⁸⁹
Es sind aus dem Kontext ›gelehrter Kinder‹ bekannte Elemente, die hier zusammengefügt sind : das frühzeitige Genie, dessen besonderer Wert durch Seltenheit und die Lobpreisung als Wunder, schließlich die Zeugenschaft durch Hochadel und ausgezeichnete Kenner der »musikalischen Wissenschaft«. Zu welchen Anteilen öffentliche Zuschreibungen des Wunderbaren an Wolfgang und Maria Anna Mozart letztlich der Feder des Vaters entflossen oder auf seinen Einfluss zurückzuführen sind, lässt sich heute nicht mehr mit Sicherheit feststellen. In einem Brief aus Paris vom . Februar , in welchem dieser seinem Adressaten Hagenauer die Meinung zur grassierenden Pockenepidemie und den damaligen Heilversuchen durch Inokulation des Virus darlegte, lässt sich zumindest eine weitere persönlich zuordenbare Quelle finden : »Ich meinestheils lasse es der Gnade Gottes über. Es hänget von S :r göttlichen Gnade ab, ob er dieß Wunder der Natur, so er in die Welt gesetzet hat, auch darinnen erhalten, oder zu sich nehmen will.«¹⁹⁰ Zweifellos brachte Leopold Mozart diese Wunderrhetorik bei der Bewerbung der Auftritte seiner Kinder in Umlauf. Allerdings bewegte er sich damit innerhalb des Erwartungshorizontes des potentiellen Publikums und konfrontierte es keineswegs mit einer völlig neuen Deutung. Da Außernatürliches und Übernatürliches im deutschen Wunder-Terminus doppeldeutig zusammengefasst sind, ist man hierbei besonders auf den Kontext der Begriffsverwendung angewiesen. Hinweise zu Auftrittssituationen gilt es daher besonders ernst zu nehmen. Ein Ereignis mit einem Leopold Mozart, Gründliche Violinschule, mit vier Kupfertafeln und einer Tabelle, Zweyte vermehrte Auflage, Augsburg , o. S. Zitiert nach Wolfgang A. Mozart, Briefe und Aufzeichnungen, Bd. , S. .
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Mirakel zu präsentieren, wäre doch grundsätzlich etwas anderes gewesen als die öffentliche Zurschaustellung eines Naturwunders. Einige der überlieferten Hinweise zu den musikalischen Auftritten der Mozarts lassen an wissenschaftliche Experimente denken ; die Fähigkeiten der Kinder wurden hier offenbar vielfältig ad hoc auf die Probe gestellt und das Publikum bei der Gestaltung der Untersuchungen einbezogen. Unter der Rubrik »Merkwürdigkeiten« im Augsburgischen Intelligenz-Zettel vom . Mai lancierte Leopold Mozart (als Brief »von Wien an einen hiesigen guten Freund« ausgegeben) eine umfängliche Werbeanzeige, die das Programm eines solchen Unterhaltungsangebots in der österreichischen Hauptstadt detailliert rekapitulierte und mit der Zeugenschaft von Kaiserhaus und Habsburger Adel beglaubigte : »Ich bin vielleicht der erste, der ihnen von einer Neuigkeit Nachricht zu geben die Ehre hat, die bald in ganz Deutschland und vielleicht auch in entfernten Ländern ein Gegenstand der grösten Bewunderung seyn wird ? Es sind die Kinder des berühmten Mozart, Vice-Capellmeister in Salzburg. Stellen Sie sich einmal ein Mädgen von Jahren vor, das die schweresten Sonaten und Concert der grösten Meister auf dem Clavessin oder Flügel auf das Deutlichste, mit einer kaum glaublichen Leichtigkeit fertiget und nach dem besten Geschmack wegspielt. Das muß schon viele in eine Verwunderung sezen. – Nun wird man aber in ein gänzliches Erstaunen gebracht, wenn man einen Knaben von Jahren bey einem Flügel sizen sieht und nicht nur selben Sonaten, Trio, Concerten nicht etwa tändlen, sondern mannhaft wegspielen höret, sondern wenn man ihn höret bald Cantabile, bald mit Accorden ganze Stunden aus seinem Kopfe phantasieren und die besten Gedanken nach dem heutigen Geschmake hervor bringen, ja Sinfonien, Arien und Recitativen bey grossen Accademien vom Blat weg accompagnieren. – Sagen sie mir, übersteigt dies nicht alle Einbildungs-Kraft ? – Und dennoch ist es die pure Wahrheit ! Ich habe überdas gesehen und gehört, wie man ihm, da er in einem andern Zimmer zuhören muste, einzelne Töne nicht nur bald unten, bald oben auf dem Clavier, sondern auch auf allen nur erdenklichen Instrumenten angegeben, er aber in demselben Augenblike den Buchstaben oder Nahmen des angegebenen Tones benennet hat. Ja, wenn er eine Glocke läuten und eine Uhr, ja sogar eine Sakuhr schlagen hörte, war er im selben Augenblike im Stande, den Ton der Gloke [sic] oder Uhr zu benennen. Ich war ferner selbst gegenwärtig, wie ihm ein Clavierist zu verschiedenmahlen einige Tacte einer Oberstimme vorspielte, die er nachspielte und den Bass selbst dazu spielen muste, welches er auch jedesmahl so schön, genau und gut machte, dass alles in Erstaunen gerieth. Diese zwey ausserordentlichen Kinder musten sich zwey mahl bey Sr. Majestät dem Kayser und bey Ihro Mayestät der Kayserin Königin, dann wieder besonders
| Der Mozart-Mythos bey den Jungen Kayserl. Königl. Herrschaften hören lassen ; sie wurden mit grossen Geschenken begnadigt und dann von der grösten Noblesse des Wienerischen Hofes zu den Accademien eingeladen und aller Orten ansehnlichst beschenket. […]«¹⁹¹
Der Bericht diente gleichzeitig als Ankündigung. Der Augsburgische Intelligenz-Zettel war nämlich keineswegs ein reines Lokalblatt, sondern ein aufklärerisches Medium mit Lesern in weiten Teilen Westeuropas, ideal, um zum Auftakt der langen Reise wirksam eine erste Werbung zu platzieren.¹⁹² Auf ähnliche Weise wurden die Geschwister Mozart kurze Zeit später auch in den Franckfurter Frag- und Anzeigungsnachrichten allen »Liebhabern der Music sowohl als allen denjenigen, die an ausserordentlichen Dingen einiges Vergnügen finden«¹⁹³, versprochen, wobei man auch hier nicht vergaß, auf deren Vorführung an diversen Fürstenhöfen hinzuweisen. Für das letzte der Konzerte in Frankfurt am . August stellte man außerdem die erneute Prüfung des siebenjährigen Knaben im Benennen von Tönen und Intervallen in Aussicht, neben freiem Fantasieren an der Orgel zu vorgegebenen Tonarten sowie dem Spiel auf einem Klavier, dessen Tasten man durch ein Tuch verdecken wollte.¹⁹⁴ Aus Genf wiederum berichtete am . September die Schweizer Zeitung Merkwürdigkeiten der neuesten Welt-Geschichten von den Kindern als »zwey wahre[n] Wunder[n] in Absicht auf die Gaben zur Tonkunst«¹⁹⁵. Ein Bericht, der am . März im französischen Blatt L’Avantcoureur erschien, stellte vor allem den jüngeren Wolfgang mit dessen virtuosem Spiel, Improvisationskünsten, Meisterung aller musikalischen Prüfungen sowie seinen ersten Kompositionen ins Zentrum und bezeichnete ihn geradewegs als »vrai prodige«¹⁹⁶ (wahres Wunder). Das Interesse seiner Leserschaft erweckte der ano Zitiert nach Otto E. Deutsch (Hg.), Mozart. Die Dokumente seines Lebens, S. –. Zu dem Organ, siehe Josef Mančal, Art. »Augsburgischer Intelligenz-Zettel / Amtsblatt der Stadt Augsburg«, in : Matthias Bader u. a. (Hgg.), Historisches Lexikon Bayerns, München o. J. Online : https://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Augsburgischer_Intelligenz-Zettel_/_Amtsblatt_der_Stadt_Augsburg [abgerufen am ..]. Franckfurter Frag- und Anzeigungsnachrichten vom . August (Nr. ), o. S. Siehe Franckfurter Frag- und Anzeigungsnachrichten vom . August (Nr. ), o. S. Zitiert nach Cliff Eisen (Hg.), Mozart. Die Dokumente seines Lebens. Addenda. Neue Folge, Kassel (= Wolfgang Amadeus Mozart. Neue Ausgabe sämtlicher Werke X/, ), S. . L’Avantcoureur vom . März (Nr. ), S. . Deutsche Übersetzungen des Berichts erschienen, zum Teil mit Ergänzungen, in : Hochfürstlich-Bambergische wochentliche Frag- und Anzeigenachrichten vom . März , Wienerisches Diarium vom . April ; Kurtz-gefasste historische Nachrichten zum Behuf der neuern europäischen Begebenheiten . Siehe dazu Otto E. Deutsch (Hg.), Mozart. Die Dokumente seines Lebens, S. –.
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nyme Autor dabei mit dem einleitenden Satz : »Il est du ressort du notre Journal de consacrer les phénomenes extraordinaires.«¹⁹⁷ In der französischen und englischen Presse war mit den entsprechend differenzierten Begriffen sprachlich klarer markiert als in den deutschsprachigen Periodika, dass man die Kinder Mozart mit Naturwundern und weniger mit übernatürlichen Wundern in Verbindung brachte. Für ein am . Mai geplantes Konzert im Londoner Hickford’s Great Room wurde Wolfgang, der hier mit einem Cembalokonzert auftreten sollte, im Public Advertiser als »a real Prodigy of Nature«¹⁹⁸ bezeichnet. Das erste eigene Konzert der Mozarts in der englischen Metropole, das im Great Room in den Spring Gardens am . Juni stattfand, wurde ähnlich beworben : »For the benefit of Miss mozart of Eleven and Master mozart of Seven Years of Age, Prodigies of Nature ; taking the Opportunity of representing to the Public the greatest prodigy that Europe or that Human Nature has to boast of. Every Body will be astonished to hear a Child of such a tender Age playing the Harpsichord in such a Perfection – It surmounts all Fantastic Imagination, and it is hard to express which is more astonishing, his Execution upon the Harpsichord playing at Sight, or his own Composition.«¹⁹⁹
Die beiden »Prodigies of Nature«²⁰⁰ wurden im darauf folgenden Jahr in London für zwei weitere Benefizkonzerte angekündigt (das erste fand letztlich am . Februar im Theatre Royal am Haymarket statt, das zweite am . Mai im Hickford’s Great Room). Der Terminus miracle fiel in der Londoner Zeitungswerbung der Mozarts nur ein einziges Mal, und zwar in einer Anzeige des Public Advertiser für die täglichen Auftritte im Gasthaus »at the Swan and Hoop« im Sommer .²⁰¹ Offensichtlich suchte der Schreiber hier aber le L’Avantcoureur vom . März (Nr. ), S. . »Es fällt in den Zuständigkeitsbereich unserer Zeitung, sich außerordentlichen Phänomenen zu widmen.« (Übers. d. Verf.) The Public Advertiser vom . Mai (Nr. ), o. S. Dieses Konzert wurde allerdings auf den . Mai verschoben und fand letztlich, wohl aufgrund von Krankheit, ohne Mozart statt. Siehe Rachel E. Cowgill, Mozart’s Music in London, S. . The Public Advertiser vom . Mai (Nr. ), o. S. sowie vom . Juni (Nr. ), o. S. The Public Advertiser vom . Februar (Nr. ), o. S., . März (Nr. ), o. S., . Mai (Nr. ), o. S. und vom . Mai (Nr. ), o. S.; etwa auch The Gazetteer and New Daily Advertiser vom . Februar (Nr. ), o. S. Siehe The Public Advertiser vom . Juli (Nr. ), o. S. sowie vom . Juli (Nr. ), o. S. Im Jahr zuvor waren an demselben Ort bereits die Schwestern Davies aufgetreten. Siehe Rachel E. Cowgill, Mozart’s Music in London, S. .
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diglich nach einem Synonym des ubiquitären Begriff des prodigy. Eine religiöse Komponente jedenfalls deutete sich für diese Vorführungen, die vom vierhändigen Klavierspiel mit verdeckten Tasten sowie dem Test des Knaben in Blattlesen und Improvisation lebten, nicht an. Sie stellten im Übrigen keine Konzerte im engeren Sinne dar, sondern reihten sich dem Charakter nach vielmehr in wissenschaftliche Ausstellungen ein, wie sie in der öffentlichen Unterhaltungskultur der Zeit üblich waren.²⁰² Dementsprechend richtete sich die Anzeige dezidiert an »all Lovers of Sciences«. Derselbe Hintergrund erklärt auch die ungewöhnlich erscheinende Schenkung von Musikalien Wolfgang Mozarts an das naturkundlich ausgerichtete British Museum nach dem dortigen Besuch der Familie im Sommer .²⁰³ Auch noch während der späteren Italienreise von Leopold und Wolfgang Mozart war von Wundern die Rede. In einem Protokoll der Accademia Filarmonica in Verona vom . Januar zur Ernennung Wolfgangs zum Ehrenmitglied der Musikgesellschaft, nannte man diesen »un prodigio de piu amirevoli nella profession della Musica.«²⁰⁴ Drei Tage nach dem am . Januar stattgefundenen Vorspiel des dreizehnjährigen Knaben in der Accademia Nazionale Virgiliana von Mantua, wurde das Ereignis in der Gazzetta di Mantova ausführlich besprochen. Dem musikalischen Kind sagte man nach, es sei »[…] il miracolo della musica, ed uno di quegli scherzi, onde la Natura fa nascere i Ferracina ad umiliare i Matematici, e le Corille ad avvilire i Poeti.«²⁰⁵
Wolfgang hatte hier, so der Bericht, eigene Kompositionen vorgetragen, fremde Stücke spontan vom Blatt gesungen, eine Fuge über ein vorgegebenes Thema improvisiert und den Auftritt zum Schluss noch mit virtuosem Spiel auf der Violine gekrönt. Das italienische Beispiel zeigt, ebenso wie das vorige engli Siehe auch Kap. ., S. – Auf den Zusammenhang zu Kuriosa weist auch hin : Rachel Cowgill, »›Proofs of Genius‹«, S. –. Siehe Alec H. King, »The Mozarts at the British Museum«, in : Rudolf Elvers (Hg.), Festschrift Albi Rosenthal, Tutzing , S. . Zitiert nach Otto E. Deutsch (Hg.), Mozart. Die Dokumente seines Lebens, S. . »ein höchst bewundernswertes Wunder im Bereich der Musik« (Übers. d. Verf.). Zitiert nach ebd, S. . »[…] das Wunder der Musik und eines jener Scherze, durch die die Natur die Ferracinas entstehen lässt, um die Mathematiker zu demütigen, und die Corillen, um die Dichter zu erniedrigen.« (Übers. d. Verf.) Angespielt wurde hier auf den Ingenieur Bartolomeo Ferracina und die Dichterin Maria Maddalena Morelli Fernandez, genannt »Corilla Olimpica«. Der Bericht erschien außerdem, in freier Übersetzung, in der Salzburger Europäischen Zeitung. Siehe zu alledem ebd.
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sche, dass man mit der Wahl verschiedener Wunderbegriffe teilweise relativ frei umging, dabei aber zumindest sicherstellte, dass das »Mirakel« nur im übertragenen Sinne verstanden werden konnte. Hier etwa wird es dicht von einem Scherz der Natur (»scherzi, onde la Natura …«) gefolgt, um den entsprechenden Kontext herzustellen. In wissenschaftlichen Publikationen über Mozart sind unnötigerweise immer wieder abschätzige Bemerkungen zu den beschriebenen Auftrittspraktiken anzutreffen, die bei manchen Autoren eher eine Vereinnahmung ihres biographischen Helden für die eigenen ästhetischen Wertvorstellungen, als genuin historiographisches Erkenntnisinteresse, zu verraten scheinen. Volkmar Braunbehrens beispielsweise nennt die Vorführungen eine »Schaustellung von Kunststückchen« oder »Effekthascherei« und interpretiert sie als von Leopold Mozart notwendig in Kauf genommenes Übel, um finanzielle Einnahmen zu erzielen.²⁰⁶ Robert Gutman spricht davon, dass der Vater seine Kinder wie Tanzbären ausgestellt hätte (»exhibited like a dancing bear«²⁰⁷). Der eigentliche kulturelle Kontext der Auftritte wird dabei vollkommen ausgeblendet, denn mit billigen Zirkusnummern – so der vermittelte Eindruck – hatte das Ganze wenig gemeinsam und es gibt keinerlei Hinweise darauf, dass die Mozarts solche Auftritte als entwürdigend empfunden hätten. Sogar das Gegenteil lässt sich behaupten : Die musikalischen Fähigkeiten der Geschwister Mozart wurden nicht unter Wert verkauft, sondern dieser wurde dadurch erhöht, dass die ästhetische Aufmerksamkeit des Publikums vom einfachen Musizieren auf den Glanz des Wunderbaren gelenkt wurde (selbst wenn dieser Glanz im . Jahrhundert bereits im Schwinden begriffen war). Die Gefahr einer sozialen Herabsetzung durch Auftrittsreisen ging von einer anderen Quelle aus, die mit der Reisetätigkeit selbst und weniger mit der Art und Weise der Auftritte zu tun hatte. Für eine Musikerfamilie aus dem Umfeld eines Fürstenhofes und mit dementsprechenden Ambitionen, sich weiterhin in diesem Umfeld zu bewegen, war eine solche Unternehmung zumindest ambivalent. Hohe Einkünfte konnten einen luxuriösen Lebensstandard ermöglichen, der teilweise auch notwendig war, um vor der aristokratischen Elite eine angemessene Erscheinung abzugeben. Gleichzeitig hing dem Reisen zum Zweck des Broterwerbs ein zweifelhafter Ruf an und erinnerte schnell an umherziehende Musiker, Artisten und Theatertruppen, wie sie damals vielerorts vor dem ›einfachen Volk‹ auf Straßen, Messen und Volkmar Braunbehrens, Mozart, S. . Robert W. Gutman, Mozart, S. . Ähnlich abwertend äußert sich auch Maynard Solomon, Mozart, S. .
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Jahrmärkten zum Zweck der Unterhaltung auftraten und die eher am unteren Rand der Gesellschaft verortet waren. So spekulierte der Salzburger Stiftsbibliothekar Beda Hübner in einem Tagebucheintrag vom . November über Leopold Mozarts Einkünfte, und zwar angesichts der wenig rühmlichen Tatsache, dass dieser sich überall »produciret mit seinen Kindern auf offentlichen Bühnen, und Theatris, gleichwie die fremde Komedianten sich produciren«²⁰⁸. Mit einer ähnlichen Begründung riet die österreichische Regentin Maria Theresia in einem Brief vom . Dezember an Erzherzog Ferdinand diesem von einer Anstellung Mozarts am Mailander Hof ab : »[…] ce que je dis est pour ne vous charger de gens inutils et jamais de titres a ces sortes des gens [.] comme a votre service cela avilit le service quand ces gens courent le monde comme de gueux [.] il a(t) outre cela une grand famille.«²⁰⁹
Zur Frage nach Leopold Mozarts Haltung zu Wundern und wie ihm Gott in diesem Zusammenhang zur Rechtfertigung des eigenen Handelns diente, ist die Kommunikation nach Salzburg aufschlussreich. In der Heimatstadt konnte man die Reisen der Familie während ihrer Abwesenheit aufgrund seiner Bemühungen bestens verfolgen. So meinte der Pater Hübner in einem Eintrag seines Diariums vom . April , dass man über diese »allaugenblick in denen offentlich gedruckten Zeitungen«²¹⁰ informiert würde. Am Tag der Rückkehr der Mozarts nach Salzburg, dem . November , notierte er mit sichtlicher Bewunderung sogar, dass »die letztverflossene zwey, oder drey Jahre nichts oefters in denen Zeitungen geschrieben worden, als die wundervole Kunst der Mozartischen Kinder«²¹¹. Hübners übertrieben erscheinende Einschätzung ist vermutlich auch darauf zurückzuführen, dass Leopold die Salzburger Presse während der Europareisen gezielt und konstant informierte, um die dortigen Mäzene auf dem Laufenden zu halten und sich deren Unterstützung weiterhin zu sichern. So wurde Lorenz Hagenauer etwa auch brieflich dazu beauftragt, in Salzburg eine Zeitungsanzeige für die veröffentlichten Sonaten Wolfgangs zu Zitiert nach Otto E. Deutsch (Hg.), Mozart. Die Dokumente seines Lebens, S. . Zitiert nach ebd., S. . »Was ich sage, ist, daß Sie sich nicht mit unnützen Leuten beschweren, und niemals Titel an solche Leute, als ständen sie in Ihren Diensten. Das macht den Dienst verächtlich, wenn diese Leute dann wie Bettler in der Welt herumziehen, übrigens hat er eine große Familie.« Übers. v. Egon Komorzynski, zitiert nach : Otto E. Deutsch und Joseph H. Eibl (Hgg.), Mozart. Dokumente seines Lebens, . Aufl., München u. a. , S. . Zitiert nach Otto E. Deutsch (Hg.), Mozart. Die Dokumente seines Lebens, S. . Zitiert nach ebd., S. .
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schalten.²¹² Außerdem scheint Leopold (nachweislich wenigstens bei den Italienreisen) ihm günstig erscheinende Zeitungsmeldungen gesammelt und nach Salzburg weitergeleitet zu haben.²¹³ Umgekehrt herrschte in Salzburg wahrscheinlich auch bei einem breiteren Lesepublikum ein gesteigertes Interesse an der zu internationalem Ruhm geratenen Familie ihrer Nachbarschaft. Das bedeutet schließlich, dass die öffentliche Präsenz in Salzburg nicht repräsentativ war für andere Städte, wo man von den Mozarts möglicherweise nie ein Wort hörte, wenn sie nicht zufällig persönlich dort oder an einem näher gelegenen Ort Station machten. In der Salzburger Presse war eine Rechtfertigung des Reiseunternehmens und der Rolle Leopold Mozarts insgesamt wesentlich stärker gewichtet, als es etwa in Werbeanzeigen und Berichten an den Auftrittsorten der Fall war. Das Medium erfüllte hier eben eine grundsätzlich andere Funktion für die Karrieren seiner Kinder. Es ist wohl kein Zufall, dass allein in Salzburg, nicht aber in ausländischen Zeitungen, das Argument einer religiösen Verpflichtung ausgesprochen wurde, das vom Vizekapellmeister offensichtlich direkt an seinen Dienstherrn, den Erzbischof zu Schrattenbach gerichtet war. An das in Salzburg erscheinende Organ Extract-Schreiben Oder Europaeische Zeitung erging zu Beginn der Europareise der folgende, auf den . Juli datierte Bericht aus Augsburg, der zehn Tage später veröffentlicht wurde : »Vorgestern Morgens ist der Hochfürstl. Saltzburgische Vice-Capellmeister, Herr Leopold Mozart, mit seinen . Bewundernswerthen Kindern von hier nach Stuttgard abgereiset, um seine Reise über die grösten Höfe Deutschlands nach Frankreich und England fortzusetzen. Er hat den Inwohnern seiner Vatterstadt das Vergnügen gemacht, die Würkung der ganz ausserordentlichen Gaben mit anzuhören, die der Grosse GOtt diesen zwey lieben Kleinen in so grosser Masse mitgetheilet, und deren Herr Capellmeister sich mit so unermüdetem Fleisse als ein wahrer Vatter bedienet hat, um ein Mägdlein von . und, was unglaublich ist, ein Knabe von . Jahren als ein Wunder unserer und voriger Zeiten auf dem Claveßin der Musikalischen Welt darzustellen. Alle Kenner haben dasjenige, was ein Freund von Wien ehedem von diesen berühmten Kindern geschrieben und in den allhiesigen Intelligenz-Zettel ist eingerücket worden, so unglaublich es schien, nicht nur wahr, sondern noch weit Bewundernswerther gefunden.«²¹⁴
Brief von Leopold Mozart an Lorenz Hagenauer aus London, . Dezember . Siehe Wolfgang A. Mozart, Briefe und Aufzeichnungen, Bd. , S. . Siehe Josef Mančal, Leopold Mozart und seine Familie auf Europareise, S. . Zitiert nach Otto E. Deutsch (Hg.), Mozart. Die Dokumente seines Lebens, S. .
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Erneut berichtete die Zeitung etwa in der Ausgabe vom . August aus London von dem »neunjährigen Musikmeister Wolfg. Mozart, bewunderungswürdigen Sohn des Salzb. Herrn Kapellmeisters Mozart« und seiner vierzehnjährigen Schwester, die beiderseits »Wunder« am Klavier taten.²¹⁵ Ähnlich wie das Salzburger Extract-Schreiben formulierte es Leopold Mozart persönlich noch einmal im Vorbericht zur zweiten Auflage seiner Violinschule, einem Werk, das – nicht zu vergessen – die Widmung des Erzbischofs trug. Ihr Autor entschuldigte das verzögerte Erscheinen mit der übergeordneten Notwendigkeit, die ihn zu den Auftrittsreisen veranlasst hätte : »Das ausserordentliche musikalische Talent, mit welchem der gütige Gott meine zwey Kinder in voller Maase gesegnet, war die Ursache meiner Reise durch einen grossen Theil deutschl andes, und meines sehr langen Aufenthalts in fr ankr eich, holl and und engell and etc. etc.«²¹⁶
Darüber hinaus ist zu beachten, dass auch die Briefe an Lorenz Hagenauer Bestandteil der Öffentlichkeitsarbeit waren. Sie fungierten, mit Ausnahme jener Abschnitte, bei denen der Schreiber dezidiert auf einen privaten Inhalt hinwies, »als halböffentlich konzipiertes, etwa auch für den Salzburger Erzbischof gedachtes Mitteilungsmedium«²¹⁷, so der Mozart-Forscher Josef Mančal. Auch in diesem Medium stellte sich Leopold Mozart selbst als einen gottesfürchtigen Diener dar, dessen Handeln letztlich auch im Interesse seines geistlichen Dienstherrn sein müsste. Der Brief an Hagenauer aus Wien vom . Juli beispielsweise enthielt eine Passage, die mehr oder weniger direkt an Schrattenbach gerichtet gewesen zu sein scheint. Sie stand im Kontext angeblicher Intrigen gegen eine Aufführung der Oper La finta semplice und war sichtlich um eine Rechtfertigung des Misserfolgs während der Abwesenheit am eigentlichen Dienstort bemüht : »S :e Hochfürstlichen Gnaden haben keine Lügner, keine Charlatans, keine Leutbetrieger in ihren Diensten, die mit Vorwissen und gnädigster höchstderselben Erlaubnis an fremde Orte gehen, um den Leuten gleich den Taschenspielern, einen blauen Dunst vor die Augen zu machen ; Nein : sondern ehrliche Männer, die zur Ehre ihres Fürsten und ihres Vatterlandes der Welt ein Wunder verkündigen, welches Gott in
Zitiert nach ebd., S. . Leopold Mozart, Gründliche Violinschule, o. S. Josef Mančal, »Zum Reise- und Konzertmanagement Leopold Mozarts für Wolfgang Mozart«, S. . Siehe auch ders., Leopold Mozart und seine Familie auf Europareise, S. .
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Salzburg hat lassen gebohren werden. Ich bin diese Handlung dem allmächtigen Gott schuldig, sonst wäre ich die undanckbarste Creatur : und wenn ich iemals schuldig bin die Welt dieses wundershalben zu überzeugen, so ist es eben ietzt, da man alles, was nur ein Wunder heist lächerlich machet und alle Wunder widerspricht. Man muß sie demnach überzeugen : und war es nicht eine grosse freude und ein grosser Sieg für mich, da ich einen voltairianer mit einem Erstaunen zu mir sagen hörte : Nun habe ich einmahl in meinem Leben ein Wunder gesehen ; daß ist das erste ! Weil nun aber dieses Wunder zu sichtbahrlich, und folglich nicht zu widersprechen ist ; so will man es unterdrucken : Man will Gott die Ehre nicht lassen ; man denckt : es kommt nur noch auf einige Jahre an, alsdann verfällt es ins natürliche und hört auf ein Wunder Gottes zu seyn. Man will es demnach den Augen der Welt entziehen : und wie würde es sichtbahrer, als in einer grossen volckreichen Statt durch ein öffentliches Specktakl ?«²¹⁸
Der Rechtfertigungszwang, in dem sich Leopold Mozart als Untergebener generell befand, insbesondere aber die Defensive in dieser speziellen Situation der Niederlage, erklärt möglicherweise seine drastische Argumentationslinie, mit der er die Wiener im gleichen Atemzug eines mangelnden Glaubens bezichtigte und die gegenüber einem Kirchenmann im Übrigen nicht ganz risikofrei gewesen sein kann. Religion und Naturwunder werden an dieser Stelle miteinander vermischt, was nicht zugleich bedeuten muss, dass Leopold ein religiöses Mirakel im engeren Sinne meinte. Explizit wies er auf die »Ehre« Gottes, des Fürsten und des Vaterlandes hin, nicht etwa auf einen befolgten göttlichen Willen. Er sprach die eigene »Schuld« gegenüber diesem Gott an, nicht aber einen ihm persönlich erteilten Auftrag. Er berief er sich hier also eher auf den sozialen Status des Wunderbaren, den er auf die öffentliche Präsentation seines Sohnes zu übertragen versuchte. Implizit ging es hier argumentativ also eher um die Verherrlichung der göttlichen Schöpferkraft, wie sie sich angeblich in Wolfgangs musikalischer Begabung äußerte, als um eine göttliche Offenbarung. In diese Richtung hin zu interpretieren wäre dann auch die brieflich übermittelte Erklärung Leopolds, warum man in Amsterdam im Frühjahr trotz Fastenzeit ausnahmsweise doch zwei Konzerte veranstalten konnte : »und zwar, wie die fromme und besonnene Resolution lautete, weil die Verbreitung der Wundergaben zu Gottes Preis diente.«²¹⁹ Nach dem Anblick der Wunderkam Zitiert nach Wolfgang A. Mozart, Briefe und Aufzeichnungen, Bd. , S. –. Zitiert nach ebd., S. . Das Brief-Fragment findet sich als Abschrift unter den Nissen-Kollektaneen (im Besitz der Stiftung Mozarteum Salzburg). Mit textlichen Eingriffen wurde das Versatzstück in der Druckversion der Biographie fälschlicherweise dem Brief vom . Dezem-
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mer des Prinzen Alexander von Lothringen in Brüssel ließ Leopold Mozart gegenüber Hagenauer fallen, er habe schon »viel dergleichen Naturalien Cabinetter gesehen«²²⁰, auch wenn ihn diese, wie er vorgab, besonders beeindruckte. Dem weit gereisten und gebildeten Musiker, der immerhin das Lyceum des Augsburger Jesuitenkollegs besucht sowie ein abgebrochenes Universitätsstudium hinter sich hatte, musste der elitäre Kontext des Außernatürlichen also engstens vertraut gewesen sein. Ebenso war sich Leopold Mozart der allgemein um sich greifenden Wunderkritik seiner Zeit bewusst (»ietzt, da man alles, was nur ein Wunder heist lächerlich machet und alle Wunder widerspricht«). In seiner Argumentation gegenüber dem Erzbischof changierte er allerdings zwischen den beiden Wunderarten – ob nun aus Kalkül oder Unbedarftheit – an der Stelle, wo er den Namen Voltaires ins Spiel brachte. Voltaire (eigentlich François-Marie Arouet) gilt als einer der wortgewandtesten Religionskritiker der französischen Aufklärung. Er war, ebenso wie die allermeisten aufklärerischen Philosophen und Literaten, weder Agnostiker noch Atheist, sondern ein sogenannter Deist. Dahinter steckte eine Überzeugung, die zwar religiöse Offenbarungen ausschloss, aber dennoch von einem durch einen Gott rational eingerichteten Weltganzen ausging.²²¹ Ausgehend von dieser Prämisse musste Voltaire, der hierbei an die Argumentation des schottischen Philosophen David Hume anknüpfte, im göttlichen Wunder einen Widerspruch in sich erkennen : »Un miracle est la violation des loix mathématiques, divines, immuables, éternelles.«²²² Das Außernatürliche wiederum existierte für Deisten schlichtweg nicht, da es ebenso wie das ihm vermeintlich entgegengesetzte Natürliche denselben unverrückbaren mathematischen Naturgesetzen unterworfen war. Mit dem namentlich nicht genannten Anhänger Voltaires, den er angeblich bekehrt habe, spielte Leopold Mozart vermutlich auf den Schriftsteller und zeitweiligen ber aus Den Haag beigefügt. Siehe Georg Nikolaus Nissen, Biographie W. A. Mozarts, S. ; Wolfgang A. Mozart, Briefe und Aufzeichnungen. Gesamtausgabe, Herausgegeben von der Internationalen Stiftung Mozarteum Salzburg, Gesammelt und erläutert von Wilhelm A. Bauer und Otto Erich Deutsch, auf Grund deren Vorarbeiten erläutert von Joseph Heinz Eibl, Erweiterte Ausgabe mit einer Einführung und Ergänzungen hg. von Ulrich Konrad, Bd. : Kommentar I/II, –, Kassel u. a. , S. . Brief an Lorenz Hagenauer aus Brüssel, . Oktober . Zitiert nach Wolfgang A. Mozart, Briefe und Aufzeichnungen, Bd. , S. . Zu einer differenzierten Darstellung des aufklärerischen Deismus siehe etwa Ulrich Barth, Gott als Projekt der Vernunft, Tübingen , S. –. [Voltaire], Dictionnaire philosophique, portatif, [Genf : Gabriel Grasset] , S. . »Ein Wunder ist die Übertretung mathematischer, göttlicher, unverrückbarer, ewiger Gesetze.« (Übers. d. Verf.).
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Diplomaten des französischen Hofs Friedrich Melchior von Grimm an, der in Paris erste Kontaktperson und wichtigster Unterstützer der Familie gewesen ist. Grimm gehörte zum inneren Kreis der französischen Enzyklopädisten, bewegte sich also direkt am Puls der Aufklärung. In seiner Correspondence littéraire, einem handschriftlichen Blatt, das an einen ausgewählten Kreis von Abonnenten aus dem europäischen Hochadel versandt wurde, berichtete er zweimal über die Auftritte der Mozarts. Die Ausgabe vom . Dezember leitete Grimm mit den Worten ein : »Les vrais prodiges sont assez rares pour qu’on en parle quand on a occasion d’en voir un.«²²³ Nach einer ausführlichen Rekapitulation der erstaunlichen musikalischen Leistungen Wolfgangs, die man in den Pariser Salons offensichtlich ähnlichen Tests unterzog wie bei den öffentlichen Auftritten, beschloss Grimm : »Je ne désespère pas que cet enfant ne me fasse tourner la tête, si je l’entends encore souvent ; il me fait concevoir qu’il est difficile de se garantir de la folie en voyant des prodiges. Je ne suis plus étonné que saint Paul ait eu la tête perdue après son étrange vision.«²²⁴
Hierbei entging Leopold, vorausgesetzt er berief sich in seinem Brief tatsächlich auf Grimm, augenscheinlich der latent ironische Esprit des Schriftstellers, beziehungsweise nahm er dessen Bericht an dieser Stelle allzu wörtlich.²²⁵ Im Hinter Zitiert nach Friedrich M. Grimm u. a., Correspondance littéraire, philosophique et critique, Bd. , hg. von Maurice Tourneux, Paris , S. . »Die wahren Wunder sind selten genug, um davon zu reden, wenn man Gelegenheit hat, eines zu sehen.« Übers. v. Kurt Pahlen, zitiert nach : Otto E. Deutsch und Joseph H. Eibl (Hgg.), Mozart. Dokumente seines Lebens, S. . Grimm schrieb erneut in der Ausgabe vom . Juli über die Mozarts. Siehe Friedrich M. Grimm u. a., Correspondance littéraire, philosophique et critique, Bd. , hg. von Maurice Tourneux, Paris , S. –. Möglich ist übrigens, dass es sich bei dem Autor des Berichts im L’Avantcoureur um Grimm handelte. Siehe Josef Mančal, Leopold Mozart und seine Familie auf Europareise, S. –. Zitiert nach Friedrich M. Grimm u. a., Correspondance littéraire, philosophique et critique, Bd. , S. . »Ich sehe es wahrlich noch kommen, daß dieses Kind mir den Kopf verdreht, wenn ich es noch oft höre ; es macht mich begreifen, daß es schwierig ist, sich gegen den Wahnsinn zu schützen, wenn man Wunder sieht. Ich wundere mich nicht mehr, dass der heilige Paulus den Kopf verloren gehabt hatte nach seiner seltsamen Vision.« Übers. v. Kurt Pahlen (ergänzt durch Verf.), zitiert nach : Otto E. Deutsch und Joseph H. Eibl (Hgg), Mozart. Dokumente seines Lebens, S. . Möglicherweise war Leopold Mozart auch die sprachliche Differenz zwischen miracle und prodige nicht ganz so geläufig. Siehe Jean-Louis Jam, »Wolfgang est grand, et Léopold est son prophète«, in : Jean-Louis Jam (Hg.), Mozart, S. .
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grund von Grimms Äußerungen stand im Übrigen eine Debatte, die in Paris um die Mitte des . Jahrhunderts unter Kirchenmännern und Intellektuellen geführt wurde und besonders durch die öffentliche Affäre um die Heilungswunder angeheizt worden war, die nach dem Tod des Jansenisten François de Paris angeblich an dessen Grab auf dem Friedhof von Saint-Médard stattfanden.²²⁶ Diese Ereignisse hatten eine eigene religiöse Bewegung, die sogenannten Konvulsionäre von Saint-Médard, hervorgebracht. Ein ironischer Umgang mit dem Mirakelbegriff in Bezug auf Mozart ist auch aus einem Brief des Abbé Ferdinando Galiani aus Neapel vom . Juli an Madame d’Epinay herauszulesen. Hieran macht sich deutlich bemerkbar, dass sich der Ökonom Galiani eine Zeit lang im Umkreis der Enzyklopädisten in Paris aufgehalten hatte : »Je crois vous avoir écrit que le petit Mosar est ici, et qu’il est moins miracle, quoiqu’il soit toujours le même miracle ; mais il ne sera jamais qu’un miracle, et puis voilà tout.«²²⁷
Sogar der Atheist Claude Adrien Helvétius, dessen Schrift De l’esprit () damals auf dem Index stand, hat den Knaben Mozart in einem Brief an Francis Hastings, Earl of Huntingdon in London Ende April als »petit prodige allemand«²²⁸ (kleines deutsches Wunder) empfohlen. Diese Beispiele belegen aber keine spontanen Erweckungserlebnisse unter radikalen Aufklärern, wie es Leopold Mozart gerne gesehen hätte, als vielmehr den Umstand, wie weit man sich in solchen Kreisen bereits von der Welt des Wunderbaren entfremdet hatte. Das Stilmittel der Ironie bietet sich schließlich erst unter der Voraussetzung einer gewissen Distanzierung an. Dass Leopold Mozart selbst fähig und willens sein konnte, religiösen Wunderglauben mit Humor zu nehmen, bewies er in einem Brief aus Paris an Maria Theresia Hagenauer vom . Februar . Darin ging er zu Beginn auf die Eigenheiten des »schönen und andächtigen Geschlechtes« in Paris ein, einem Ort, wo er überhaupt eine gewisse Dekadenz walten sah : »Was die Andacht anbelanget, so kann ich versichern, daß man gar keine Mühe haben wird die Wunderwerke der Französischen Heiliginen zu untersuchen ; die Vgl. ebd., S. . Zitiert nach Otto E. Deutsch (Hg.), Mozart. Die Dokumente seines Lebens, S. . »Ich glaube Sie haben geschrieben, dass der kleine Mosar hier ist, und dass er weniger Wunder ist, obwohl er immer dasselbe Wunder sei ; aber er wird nur ein Wunder sein, und nichts weiter.« (Übers. d. Verf.). Zitiert nach ebd., S. .
Virtuosität im Glanz des Außernatürlichen |
grössten Wunder wirken diejenigen die weder Jungfern, weder Frauen noch Wittwen sind ; und diese Wunder geschehen alle bey lebendigem Leibe. wir wollen seiner Zeit klärer aus dieser Sache sprechen.«²²⁹
Mit diesen »Wunderwerken«, einem zeitgenössischen Synonym für Mirakel,²³⁰ spielte der Schreiber wohl auf die in der französischen Metropole grassierende Prostitution an.²³¹ Zwei Monate später wiederum sprach er herablassend über den »pöbelhafte[n] Aberglauben«²³² des Pariser Volks, welches in der Sonnenfinsternis vom . April – ein klassischer Fall für ein Prodigium – die Einleitung eines drohenden Unheils erwartete. In solchen Polemiken äußerten sich die Berührungspunkte Leopold Mozarts mit dem Diskurs der Aufklärung, insgesamt aber besaß der reisende Vizekapellmeister wohl eher ein gespaltenes Verhältnis zu ihr. Einem Deismus hing dieser, als gläubiger Katholik, der das persönliche Schicksal der Familie unmittelbar mit der Gnade Gottes verknüpfte und zu dessen religiöser Praxis regelmäßige Gebete und das Messen lesen lassen ebenso gehörte wie die Beichte, mit Sicherheit nicht an. In dieser Hinsicht kann Leopold Mozart gerade nicht als »typischer Vertreter der rationalen Aufklärung«²³³ gelten, trotz verhältnismäßig umfassender Bildung für einen Musiker seiner Zeit. Der von ihm erdichteten Legende von der Bekehrung der Aufklärer durch das Wunder seines Sohnes hat man sich im . Jahrhundert gerne angenommen, wie die bildliche Darstellung Anton Zieglers zu Mozarts angeblich erstem Auftritt in Paris deutlich macht (Abbildung ). Sie ging im Mozart-Mythos auf, war nunmehr allerdings säkular umgedeutet und auf eine neuartige Geniereligion verpflichtet. Zitiert nach Wolfgang A. Mozart, Briefe und Aufzeichnungen, Bd. , S. . Siehe Art. »Wunder, Wunderwercke, Lat, Miracula«, in : Johann Heinrich Zedler (Hg.), Grosses vollständiges Universal-Lexicon Aller Wissenschaften und Künste, Welche bishero durch menschlichen Verstand und Witz erfunden und verbessert worden, Bd. : Wor–Wuq, Leipzig u. a. , Sp. –. Siehe Werner Pieck, Die Mozarts. Porträt einer Familie, Hamburg , S. . Im Kontrast dazu wird einige Zeilen darauf versichert, »daß Gott täglich neue Wunder an diesem Kinde [Wolfgang] wirket.« Zitiert nach Wolfgang A. Mozart, Briefe und Aufzeichnungen, Bd. , S. . Brief an Lorenz Hagenauer aus Paris, . April . Zitiert nach ebd., S. . Volkmar Braunbehrens, »Väterlicher Freund, ›gehorsamster Sohn‹«, S. . Differenzierter wird Leopold Mozarts zwiespältige Haltung zwischen Wissenschaftsgeist, Aufklärung und katholischer Offenbarungsreligion dargestellt von Robert W. Gutman, Mozart, S. –. Vgl. auch Ruth Halliwell, The Mozart Family, S. – ; Matthias Schmidt, »Musiker – Erzieher – uomo politico«, S. –.
3. M A S T E R C R OTC H, E I N M US I K A L I S C H E S PH Æ NOM E NON
. zwischen königlicher patronage und showbusiness Wer aus der gehobenen Londoner Gesellschaft mit einer gewissen Neigung zu den Wissenschaften und Künsten am Montag, den . Januar des Jahres auf der Suche nach Zerstreuung in einem der Kaffeehäuser oder Gaststätten der Metropole einen Blick in die dort ausliegenden Zeitungen warf, der konnte über ein bestimmtes Kind aus Norwich gleich zwei interessante Neuigkeiten erfahren. Zum einen befand sich in der aktuellen Ausgabe des Morning Chronicle eine Nachricht folgenden Ereignisses am englischen Hof : »On Thursday night there was a private concert of musick at the Queen’s palace, when Master Crouch [sic], of Norwich, who is no more than three years and a half old, was introduced, and played several pieces on the organ with such exactness as gave general satisfaction, and afterwards he performed in concert with the rest of the musicians.«¹
Zum anderen war einer Anzeige in der Morning Post zu entnehmen, wann und wo man dieser musikalischen Attraktion von nun an auch selbst würde beiwohnen können : »MRS. CROTCH, from Norwich, most respectfully begs leave to acquaint the Nobility and Gentry, that the future time for her child’s performing on the organ will be from one to three o’clock ; fearing that the fatigue of too long playing may render him unable to give equal satisfaction to all the different companies who honour him with their presence in the course of the day. Direct to Mrs. Hart’s, milliner, near the top of St. James’s-street, Piccadilly.«² The Morning Chronicle, and London Advertiser vom . Januar (Nr. ), o. S. Die Nachricht erschien bereits im Postskript des The St. James’s Chronicle ; Or, British Evening-Post vom .–. Januar (Nr. ), o. S. sowie erneut in : The Ipswich Journal vom . Januar (Nr. ), o. S. Die hier und an anderen Stellen verwendete Anrede Master war für heranwachsende männliche Personen üblich und ist ungefähr mit dem weiblichen Miss vergleichbar. The Morning Post, and Daily Advertiser vom . Januar (Nr. ), o. S.
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Bei dem Kind, das in jenem Winter in der Hauptstadt für Aufsehen sorgte, handelte es sich um William Crotch (–).³ Der seltsame Fall dürfte in London allerdings schon vor der Ankunft Crotchs bekannt gewesen sein, da die hiesige Presse bereits im April eine Anekdote über die Entdeckung seiner Begabung verbreitet hatte.⁴ Womöglich war er längst zu einem beliebten Gesprächsthema geworden und man wartete nur darauf, ihn selbst begutachten und dem Wahrheitsgehalt dessen, was man ihm an Fähigkeiten nachsagte, auf den Grund gehen zu können. Dabei war es nicht der Umstand an sich, dass ein Kind öffentlich mit Musik auftrat, der hierbei das eigentlich Interessante war. Schließlich konnte man Kindervirtuosen, wie im vorigen Kapitel erläutert, schon seit der Jahrhundertmitte im kommerziell florierenden Londoner Musikleben immer wieder antreffen. In einem Punkt aber schien sich Crotch von all seinen Vorgängern zu unterscheiden, zumindest dem Ruf nach, der ihn umgab. Was entsprechende Anekdoten über das Kind vermittelt hatten und was bald schon durch wissenschaftliche Untersuchungen aus dem Umfeld der Royal Society of London zusätzlich an Glaubhaftigkeit gewinnen sollte, war nämlich, dass sich an ihm eine außergewöhnliche Musikalität buchstäblich in natura beobachten lasse, eine Begabung also, die bisher durch keine musikalische Ausbildung irgendeiner Art verfälscht worden wäre.⁵ Davon konnte sich ein Publikum in London und bald darauf in vielen weiteren Städten der britischen Insel selbst überzeugen. Es ist nicht sicher, ob das eingangs genannte Datum tatsächlich den Beginn der Vorführungen im noblen Westminster einläutete, wo Isabella Crotch mit ihrem Sohn eine Wohnung bei der Hutmacherin Mrs. Hart bezogen hatte. Zwar ist dies aus einem späteren Bericht des London Magazine herauszulesen, in dem behauptet wurde, dass die beiden bereits Mitte Dezember in London eingetroffen wären, dass man aber solange auf den Schritt in die Öffentlichkeit verzichtet, bis einem das Königshaus sein Ohr geliehen hätte (»no publick exhibition was made of his performances, till they had been heard Neben diversen Lexika-Einträgen und Aufsätzen über Crotch liegt als einzige biographische Monographie vor : Jonathan Rennert, William Crotch (–). Composer, Artist, Teacher, Lavenham . Als wichtige Primärquelle sind Crotchs Erinnerungen erhalten : William Crotch, Memoirs of William Crotch extracted by himself and for himself from old letters etc., handschriftl. Manuskript (Norfolk Record Office, Sign.: MS ). Siehe Kap. ., S. –. Siehe Kap. . bis .. Vgl. zu diesem Aspekt auch Janet Snowman, »The left and right hands of the eighteenth-century British musical prodigies, William Crotch and Samuel Wesley«, in : Laterality /Nr. – (), S. .
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by their majesties«⁶). Aus der Formulierung der oben zitierten Anzeige der Morning Post, die ausdrücklich zukünftige Öffnungszeiten bekanntgibt, lässt sich hingegen schließen, dass man Ende Januar vielmehr versuchte, einen bereits bestehenden Publikumsandrang zu regeln. Ähnlich war die Familie mit dem Besucherstrom auf ihr Haus in Norwich im Jahr zuvor umgegangen.⁷ So hatte die dortige Lokalzeitung im April einen Hinweis auf mögliche Besuche – die man für die Zeiten um etwa elf Uhr vormittags sowie zwischen fünf und sechs Uhr nachmittags empfahl – abgedruckt. Gerechtfertigt wurde dies damit, dass das Kind aufgrund seines geringen Alters (»tender years«) noch ausreichend Zeit zum Schlafen und Essen benötige.⁸ Aus der Zeile des London Magazine lässt sich dennoch erkennen, dass man mit dem Faktor Öffentlichkeit damals vorsichtig verfahren musste, bevor ein Phänomen nicht gesellschaftlich durch entsprechend angesehene Zuhörer und Zeugen legitimiert war. Zumindest auf Reklame durch Zeitungsanzeigen hat die Familie Crotch in London bis zu einer königlichen Audienz allem Anschein nach verzichtet (was möglicherweise existierende Anschlag- oder Handzettel aber nicht ausschließt). In dieser Hinsicht kann die zeitliche Koinzidenz der beiden zitierten Zeitungsbeiträge zur Vorstellung im Buckingham Palace und den öffentlichen Auftritten in der Piccadilly kein reiner Zufall gewesen sein. Bei den Vorführungen an der Adresse von »Mrs. Hart’s« Ladengeschäft gab es keine festgesetzten Eintrittspreise und sie fanden in den gemieteten Wohnräumen der Familie statt, wie im London Magazine ebenfalls zu lesen ist. Der anonyme Verfasser des Berichts, der am . April einer dieser Vorführungen beigewohnt hatte, würdigte in auffälliger Weise auch den sozialen Charakter des Ereignisses. Er bemerkte, dass einem dort mit besonderer Zuvorkommenheit begegnet würde und er sich inmitten vorzüglicher Gesellschaft befunden hätte : »The Archbishop of Canterbury and great numbers of persons of the highest rank, who might have commanded his attendance at their own houses have kindly condescended to come to hear him, and no day passes without a genteel company of from thirty to fifty, or more. The polite mode of conducting this wonderful entertainment
M., »Account of the Musical Phænomenon«, in : The London Magazine : Or, Gentleman’s Monthly Intelligencer /o. Nr. (April ), S. . Siehe auch William Crotch, Memoirs of William Crotch, S. . Zusammen mit der »Musical Anecdote« der Londoner Presse, in : The Norfolk Chronicle : or, the Norwich Gazette vom . April (Nr. ), o. S.
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deserves great commendation : no money is demanded ; a female assistant waits on the outside of the chamber door, and receives what you think proper to give, half a crown is the least donation, the apartments being spacious, and expensive ; but the liberality of persons of rank and fortune has been manifested by presents of valuable drawing books, and other things suited to the genius of the child ; and the polite attention of Mrs. Hart to the visitants, as they pass to the apartments of Mrs. Crotch renders it still more agreeable.«⁹
Mehr noch als die angebliche Anzahl der Gäste von Rang und Namen – unter ihnen immerhin das Oberhaupt der englischen Staatskirche – geben die hier beschriebenen Praktiken Aufschluss über diese Form von Öffentlichkeit, die eine enge Nähe zum Mäzenatentum erkennen lässt. Sie schien zwar unabhängig von der Person prinzipiell jedem zugänglich zu sein, blieb faktisch aber auf eine bestimmte Gruppe begrenzt. Die vermeintliche Offenheit des Zutritts, die mit dem Vertrauen auf die Freigiebigkeit der Besucher und Besucherinnen (»what you think proper to give«) und einem mindestens impliziten Appell verbunden war, sowie der eingangs gemachte Hinweis auf mögliche Einladungen des Kindes in deren Salons (»their own houses«) sprechen für die vornehme Atmosphäre, die den Auftritten offensichtlich verliehen werden sollte. Soweit die Schilderung zutreffend war, kann man davon ausgehen, dass die Gastgeberin Mrs. Hart mit ihrer höflichen Aufmerksamkeit (»polite attention«) auch ungern gesehene Gäste bedachte, etwa solche, die den beim Eintritt üblichen und nicht geringen Betrag nicht aufwenden konnten oder sonst wie nicht ins Bild passten. Die Crotchs hofften, wie Familien von Kindervirtuosen vor und nach ihnen, auf eine Protektion der traditionellen, durch Geburtsrecht verbürgten Elite des Hochadels.¹⁰ Insbesondere die Patronage des Königs war häufig der Schlüssel für die Karrieren junger Musiker und Musikerinnen in dieser kulturellen Umgebung, in der künstlerischer Erfolg und gesellschaftliche Reputation noch viel unmittelbarer miteinander verbunden waren. Vorkommnisse im Umfeld des Hofes, wie die angesprochene Einladung Crotchs zu einem Auftritt im Queen’s House (Buckingham Palace) am . Januar oder das in der Chapel Royal des St. James’s Palace nach dem Gottesdienst am . Januar veranstaltete Vorspiel, bei M., »Account of the Musical Phænomenon«, S. –. Der Erzbischof war bereits im Sommer von King’s Lynn aus über Crotch informiert worden, so William Crotch, Memoirs of William Crotch, S. . Zu den verschiedenen Ebenen und Formen des Mäzenatentums in Großbritannien vgl. Deborah Rohr, The Careers of British Musicians, –. A Profession of Artisans, Cambridge , S. –.
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dem sich das Kind mit »several Psalm Tunes and Hymns«¹¹ vor dem versammelten Königshaus auf der Orgel hören ließ, wurden daher auch von der Presse nicht übersehen. Besonders detailliert widmete sich der Brief eines sich nicht zu erkennen gebenden Londoner Gentleman an einen Freund in Norwich der Vorführung im Privatpalais der Königin, den diverse Zeitungen wörtlich wiedergaben : »Yesterday morning Mrs. Crotch and her son, had orders to wait upon their Majesties at seven o’clock in the evening of the same day, where they were conveyed in Mr. C–’s coach, attended thither and back by Mr. Pinchbeck, the coach waiting till ten o’clock, the time of their return. They were introduced by Lady Hertford, and upon their entrance were received with the greatest freedom and affability, all bowing to Mrs. Crotch. – The King asked the child which he would chuse to play upon, the organ or harpsichord ? he said immediately, the organ ; accordingly Mrs. Crotch seated herself at the organ, with Billy on her lap. You may suppose her much agitated in her mind all the day, and at this juncture ; but she soon recovered herself by the affable and polite behaviour of the whole family, all present from the eldest to the youngest. The boy played God save the King, and sundry other pieces : You will observe it was concert night, and all the Queen’s band attended ; Billy played before and at several intervals of the concert. The King had not attended long, before he broke out into a variety of exclamations, sometimes leaning against the chairs, then starting back in the greatest amazement, crying out, Wonderful boy ! wonderful thing ! astonishing ! &c. asked Mrs. Crotch the rise and progress of it, called the boy Apollo, and told Mrs. Crotch she would ride in her coach. – Mrs. Crotch had hinted to Lady Hertford, that her boy was not fond of little children ; this was in order that they might bear with his treatment of the Princes, in case he should not be courteous to them. The behaviour of the Royal infantry was very condescending and pretty, one of them kneeled down to him, and shewed him his star, which he played with, and the Prince of Wales gave him his sword to look at. The account is too long to mention particulars. The boy was properly prepared to attend them, having suffered no company to hear him that day, that he might have the more longing desire to play in the evening. – The King cried out several times, he was sure the boy could not be more than four years old ; this he uttered in his astonishment. On their return, the Queen’s Pursebearer was sent with a present as a small acknowledgement, and
The St. James’s Chronicle ; Or, British Evening-Post vom . Januar–. Februar (Nr. ), o. S.; The Ipswich Journal vom . Februar (Nr. ), o. S.; The Westminster Magazine /o. Nr. (Februar ), S. . Der Bericht des London Magazine datierte dieses Ereignis unzutreffend auf den . Februar, siehe M., »Account of the Musical Phænomenon«, S. –.
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assured Mrs. Crotch, she would hear from them very soon. – I suppose they will make a fortune, even by the company that resort thither every day.«¹²
Die von George III. unter den Augen des Hofstaats zum Ausdruck gebrachte Begeisterung, die wortwörtliche Herablassung des Nachwuchses der königlichen Familie, ein vermutlich kostbares Geschenk : All das wertete das musizierende Kind und seine Fähigkeiten auch für die Öffentlichkeit auf. Den eigenen Namen in den Hofnachrichten wiederzufinden, war für einen Musiker oder eine Musikerin mit wesentlich mehr verbunden, als der bloßen Steigerung des Bekanntheitsgrades. Die Aufmerksamkeit des Monarchen sowie des Westminster Hochadels, im Prinzip schon deren körperliche Anwesenheit an sich, war ein offiziöses, verbindliches Signal sozialen Aufstiegs und eine verbürgte künstlerische Auszeichnung zugleich. So manche bis dato eher zweifelhaften Gerüchte erhielten nun eine wirksame Beglaubigung. Notwendigerweise ging einer solchen Ehrung eine Reihe an privaten Empfehlungen, unter Umständen in mehreren Schritten, voraus.¹³ Die königliche Protektion wiederum zog dann weitere Engagements in aristokratischen Salons nach sich und wirkte sich nachhaltig auf das eigene Netzwerk aus.¹⁴ Es erklärt
The Norfolk Chronicle : or, Norwich Gazette vom . Februar (Nr. ), o. S.; außerdem in : The Newcastle Chronicle. Or, Weekly Advertiser, and Register of News, Commerce & Entertainment vom . Februar (Nr. ), o. S. Zu den musikalischen Beiträgen Crotchs zum Hofkonzert siehe William Crotch, Memoirs of William Crotch, S. . Der Auftritt, den der Bericht aus dem London Magazine fälschlicherweise auf den . Februar datierte, sei diesem zufolge durch Lady Hertford vermittelt worden, die immerhin auch in dem zitierten Briefbericht erwähnt wird. Siehe M., »Account of the Musical Phænomenon«, S. . Abweichend dazu geht aus dem Brief eines »Mr. King« hervor, dass Crotch durch Lady Dartmouth und Johann Christian Bach empfohlen wurde und Bach den Besuch im Queen’s House in die Wege geleitet hätte. Siehe Jonathan Rennert, William Crotch (–), S. – ; William Crotch, Memoirs of William Crotch, S. –. Philip Olleson, der meint, dass Crotch bereits im Oktober London erreicht hätte, legt diesen Auftritt vor dem Königshaus auf den . Januar . Siehe Philip Olleson, Art. »Crotch, William«, in : Henry C. G. Matthew und Brian Harrison (Hgg.), Oxford Dictionary of National Biography. From the earliest times to the year . Volume : Cranfield – Dalwood, Oxford , S. –. Der Bericht des London Magazine nennt etwa Herzog und Herzogin von Gloucester. Siehe M., »Account of the Musical Phænomenon«, S. . Highfill et al. erwähnen zudem einen Auftritt vor den Prinzessinnen am . Juni (laut Crotch selbst am . Juni) im St. James’s Palace. Siehe Art. »Crotch, William«, in : Philip H. Highfill, Kalman A. Burnim und Edward A. Langhans, A Biographical Dictionary of Actors, Actresses, Musicians, Dancers, Managers & Other Stage Personnel in London, –. Volume : Corye to Dynion, Carbondale u. a. , S. ; William Crotch, Memoirs of William Crotch, S. .
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sich damit, warum Isabella Crotch mit ihrem Sohn nach diversen Auftritten in Kleinstädten und Ortschaften in der Nähe von Norwich den Weg nach London auf sich nahm.¹⁵ Zwar entwickelte sich im . Jahrhundert auch in den britischen Provinzen ein öffentliches Konzertleben,¹⁶ die Hauptstadt aber besaß für die Karriere von Musikern und Musikerinnen eine besondere Funktion, und zwar nicht allein aufgrund ihrer Größe. Vielmehr war es nach wie vor der nahe gelegene fürstliche Hof, der eine Wirkungskraft entfaltete, die in anderen Städten fehlte. Das war in London mit Westminster prinzipiell nicht anders als in anderen europäischen Hauptstädten von Wien bis Stockholm, Madrid bis St. Petersburg, mit ihren mehr oder weniger benachbarten Residenzen. Diese Wirkungskraft bestand zum einen in dem symbolischen Wert, den ein Auftritt vor dem Herrscherhaus in Hofkonzerten, in königlichen Theatern oder in den vom Hofstaat besuchten Kirchen besaß. Noch bis weit ins . Jahrhundert war es obligatorisch, dass man die Karrieren von Kindervirtuosen, wenn sich die Möglichkeit eröffnen sollte, auf diese Weise durch die Autorität der Monarchie zu sanktionieren suchte. Hauptstädte europäischer kolonialer Großreiche waren außerdem politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Zentren, die eine Vielzahl potentieller Mäzene aus dem höfischen Umfeld der Herrscherhäuser selbst, aus Diplomatie, dem Beamtentum, aber auch aus Handel, Industrie und Bankenwesen an einem Ort versammelten. Zweifellos war die Konkurrenz unter Künstlern und Künstlerinnen in solchen Metropolen besonders groß. Umgekehrt aber erwartete man jemanden, der es hier zu Ruhm gebracht hatte, in der Regel auch an der Peripherie mit offenen Armen. Spätestens ab Januar konnte Master Crotch jeden Nachmittag bei Mrs. Hart vom Publikum bestaunt werden. Diese Regelmäßigkeit wurde zwar schon bald durch eine Erkrankung des Kindes unterbrochen, dann aber unverzüglich fortgesetzt.¹⁷ Im Mai ließ Isabella Crotch einen Kupferstich (Abbildung ) herstellen, der für Shilling das Stück erworben werden konnte und fortan auch Siehe The Ipswich Journal vom . August (Nr. ), o. S. und vom . Oktober (Nr. ), o. S. Vgl. Jonathan Rennert, William Crotch (–), S. ; William Crotch, Memoirs of William Crotch, S. –. Vgl. Rachel Cowgill und Peter Holman, »Introduction : Centres and Peripheries«, in : Rachel Cowgill und Peter Holman (Hgg.), Music in the British Provinces, –, Aldershot u. a. , S. ; Peter Borsay, »Concert Topography and Provincial Towns in Eighteenth-Century England«, in : Susan Wollenberg und Simon McVeigh (Hgg.), Concert Life in Eighteenth-Century Britain, Aldershot u. a. , S. –. Mrs. Crotch verkündete in einer Anzeige die Genesung ihres Sohnes und den Wiederbeginn der Vorführungen : The Morning Post, and Daily Advertiser vom . März (Nr. ), o. S.
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als Werbematerial für die Auftritte ihres Sohnes dienen sollte.¹⁸ Gewidmet war das Bildnis Sir Harbord Harbord, Baron von Suffield und Mitglied des Parlaments, einem einflussreichen Förderer aus dem englischen Hochadel also, den die Familie wohl bereits auf ihren ersten Reisen im Vorjahr angetroffen und der sie unmittelbar nach der Ankunft in London einige Zeit beherbergt hatte.¹⁹ Die Sommermonate, in denen sich die Aristokratie üblicherweise auf ihre Landsitze zurückzog, nutzte die Familie für den Besuch weiterer Städte, bevor sie im Oktober nach London zurückkehrte.²⁰ So warb am . Juli beispielsweise eine Anzeige für eine Vorführung im Musick Room in Oxford.²¹ Für die im Herbst fortgesetzte Londoner Auftrittsserie wurde der tägliche Turnus beibehalten, die anberaumten Öffnungszeiten aber länger und länger. Mit dem Winterbeginn wurde Crotch von zwölf bis drei Uhr nachmittags in einem ebenfalls mit einer Orgel ausgestatteten Raum des Uhrmachers Mr. Martin in der Cornhill gegenüber der Londoner Börse präsentiert, und abends von sechs bis sieben Uhr – wie gehabt – in der Piccadilly, wobei die Vorführungen bei Mrs. Hart im neuen Jahr dann bis weit in die Abendstunden, meist bis acht Uhr oder später, ausgedehnt wurden.²² Die Auftrittsdichte sagt etwas über die generelle Nachfrage aus ; gleichzeitig verraten die Vorstellungen in Cornhill, also in der bürgerlichen City of London im Osten der Stadt, eine Erweiterung des Publikums auf andere soziale Schichten. Nicht unwesentlich wurde dieser Erfolg auch durch eine bisher unerwähnte Person befördert : Der prominente Musikschriftsteller Dr. Charles Burney, der in London auf William Crotch rasch aufmerksam geworden war, veröffentlichte als Mitglied der Royal Society of London in dem Siehe etwa die Anzeige in : The General Advertiser, and Morning Intelligencer vom . Mai (Nr. ), o. S. Vgl. zu dem Druck auch Ingrid Fuchs, Kat. Nr. , in : Ingrid Bodsch, Otto Biba und Ingrid Fuchs (Hgg.), Beethoven und andere Wunderkinder, Wissenschaftliche Beiträge und Katalog zur Ausstellung, Bonn , S. . Siehe William Crotch, Memoirs of William Crotch, S. . Die Abreise am . Juni wurde verkündet in : The General Advertiser, and Morning Intelligencer vom . Juni (Nr. ), o. S.; The Morning Post, and Daily Advertiser vom . Juni (Nr. ), o. S. Laut Rennert allerdings sei die Abwesenheit durch eine weitere Krankheit bedingt gewesen. Siehe Jonathan Rennert, William Crotch (–), S. . Zur Rückkehr siehe The Morning Post, and Daily Advertiser, . Oktober (Nr. ), o. S. Vgl. zur Reise auch William Crotch, Memoirs of William Crotch, S. . Siehe Jackson’s Oxford Journal vom . Juli (Nr. ), o. S. Den Porträtdruck konnte man hier, wie die Anzeige ebenfalls verrät, gegen eine Summe von Shilling erwerben. Zumindest bis Februar, wo die Auftrittszeiten wieder etwas eingeschränkt wurden. Siehe dazu : The London Courant, and Westminster Chronicle, . Dezember (o. Nr.), o. S, sowie weitere bis April folgende Anzeigen in dieser Zeitung. Siehe außerdem die Zeitungsausgaben dieses Zeitraums von The Morning Post, and Daily Advertiser.
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Publikationsorgan der ehrenwerten Wissenschaftsgesellschaft in eben diesem Winter nämlich einen Aufsatz über die musikalische Begabung des Kindes, der vermutlich weitere Neugierige in dessen Vorführungen lockte.²³ Solistisch bestrittene und regelmäßig stattfindende Musikdarbietungen der Art, wie sie Isabella Crotch mit ihrem Sohn veranstaltete, waren in London bereits in den er Jahren verbreitet gewesen. Neben ›Wunderkindern‹ hatte sich hier etwa das Spiel auf den damals neuartigen Glasharfen und Glasharmonikas großer Popularität erfreut.²⁴ Dass man solche Ereignisse als Ausstellungen (exhibitions) und nicht offiziell als Konzerte deklarierte, mag zum einen den ganz pragmatischen Grund gehabt haben, dass man für Konzerte zur Tageszeit eine spezielle Genehmigung des Lord Chamberlain benötigt hätte.²⁵ Zum anderen reihte man die Auftritte damit in ein abseits des Konzertlebens fest etabliertes Unterhaltungsformat ein, in dem die Zurschaustellung von außergewöhnlichen, fremdartigen und wundersamen Gegenständen und Lebewesen das Interesse eines zahlenden Publikums wecken sollte, und in denen sich (zumindest dem Anspruch nach) ästhetische Faszination mit wissenschaftlicher Bildung verbinden sollte. Denn Naturphilosophie traf im . Jahrhundert auch jenseits akademischer Institutionen auf eine verhältnismäßig breite Nachfrage, die vom Fürstenhof bis zum Marktplatz reichte. Durch den wissenschaftlichen Empirismus befördert, praktisch demonstriert und unmittelbar sinnlich erfahrbar, war sie europaweit fester Bestandteil der öffentlichen Konsum- und Unterhaltungskultur, was erschwingliche Druckschriften oder Apparate ebenso wie eine schiere Flut an Vorträgen und Ausstellungen umfasste – allesamt »founded on the principle of educating while entertaining«²⁶, Siehe Kap. ., S. –. Siehe Simon McVeigh, Concert life in London from Mozart to Haydn, Cambridge , S. – . McVeighs Einschätzung, dass zu solchen Auftritten »audiences of all classes« Zugang gehabt hätten, übersieht den Umstand, dass (unabhängig von der Höhe der Eintrittspreise) nur ein bestimmter Teil der Gesellschaft die beruflichen und sozialen Voraussetzungen erfüllte, um sich tagsüber Freizeitangeboten hingeben zu können. Auch die Behauptung, dass solche Auftritte nach den er Jahren abgenommen haben sollen, kann in Bezug auf Kindervirtuosen nicht bestätigt werden. Siehe ebd., S. . Barbara M. Stafford, Artful Science. Enlightenment Entertainment and the Eclipse of Visual Education, Cambridge (Massachusetts) u. a. , S. . Zum europäischen Zusammenhang, auch mit weiteren Quellenhinweisen, vgl. einführend Bernadette Bensaude-Vincent und Christine Blondel, »Introduction. A Science Full of Shocks, Sparks and Smells«, in : Bernadette Bensaude-Vincent und Christine Blondel (Hgg.), Science and Spectacle in the European Enlightenment, Aldershot u. a. (Science, Technology and Culture, –), S. –.
Zwischen königlicher Patronage und Showbusiness | Abb. 4 : James Fittler, William Crotch, Kupferstich, London : Isabella Crotch 1779.
wie die Kunsthistorikerin Barbara Maria Stafford das gemeinsame Merkmal der medialen und performativen Angebote benennt. Anfänglich besonders vorangetrieben wurde die Popularisierung und Kommerzialisierung der empirischen Naturphilosophie in England in der Londoner Kaffeehauskultur. Schon seit dem späten . Jahrhundert nämlich fanden in Kaffeehäusern Ausstellungen und Auktionen von Stücken aus privaten Raritäten- und Wundersammlungen oder auch Vorträge statt, in denen zum Teil angesehene Naturforscher aus dem Umkreis der Royal Society Experimente vorführten, was bedeutete, dass sich Wissenschaft hier aus dem Habitus eines Gentleman (dem sogenannten virtuoso) und seiner Freizeitbeschäftigung heraus allmählich in ein öffentlich verfügbares Konsumgut verwandelte.²⁷ London war, als Hafenzentrum eines Kolonialreiches, von jeher ein besonders reichhaltiges Sammelbecken für Kuriosa aller Art. Im Verlauf des . Jahrhunderts traf man diese über die Kaffeehäuser hinaus auch auf Jahrmärkten und Messen, in Gasthäusern, Tavernen Vgl. Brian Cowan, The Social Life of Coffee. The Emergence of the British Coffeehouse, New Haven u. a. , S. – ; Larry Stewart, The Rise of Public Science. Rhetoric, Technology, and Natural Philosophy in Newtonian Britain, –, Cambridge u. a. , S. –.
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und Geschäften, in Vergnügungsgärten, Versammlungsräumen und Theatern, oder in eigens dafür eingerichteten Gebäuden an. Als der Öffentlichkeit das außergewöhnlich musikalische Kind aus Norwich präsentiert wurde, hatte es bereits diverse seltene Naturalien, Antiquitäten, Reliquien und Kunstwerke (all diese meist angeblich mythischen oder fremdländischen Ursprungs oder besonderer historischer Bedeutung) betrachten können, aber auch lebende, entweder dressierte, exotische oder missgebildete Tiere, ebenso wie ›edle Wilde‹ fremder Völker und menschliche ›Monstrositäten‹, also Personen mit anatomischen Mutationen oder von außergewöhnlich kleinem oder großem Körpermaß. Ferner hatte man berühmte Persönlichkeiten und Nachbildungen von Körperteilen in Wachsfigurenkabinetten begutachtet, andernorts durch Uhrwerke bewegte Szenerien, musikalische Automaten, schreibende, musizierende, Schach spielende und orakelnde Androiden bestaunt und war Zeuge geworden von Vorführungen mechanischer Planetenmodelle (Orreries), hydraulisch betriebener Wasserspiele, von Feuerwerken, elektrischen und chemischen Experimenten sowie allen möglichen neuesten Erfindungen. Es sollte außerdem nicht mehr lange dauern, bis – simultan zu William Crotchs Auftrittsreisen der nächsten Jahre – am Himmel bemannte Ballons aufsteigen zu sehen waren oder auch die illusionistischen Effekte riesiger Panoramen und beweglicher illuminierter Schaubilder.²⁸ Crotchs musikalische Vorführungen hatten sich als öffentliches Unterhaltungsangebot also gegen eine vielfältige Konkurrenz der Kuriositäten zu behaupten. Einen besonderen Effekt bescheinigte ihnen der oben bereits zitierte Besucher, dessen Bericht das London Magazine veröffentlicht hat. Denn dem äußeren Anschein nach konnte dieser an dem Kind, als er es in der Piccadilly erstmals zu Gesicht bekam, nichts Ungewöhnliches ausmachen. Er beobachtete an ihm zunächst eine rundum gesunde Verfassung und schloss von seinem Verhalten auf ein (für dieses Alter wohl nicht seltenes) ausgeprägt leb- und schalkhaftes Gemüt : »Master William Crotch is now three years and eight months old, he is a lively, active child, has a pleasing countenance, rather handsome, having fine blue eyes and flaxen hair. A large organ is placed about the centre of the room, against the wainscot : it is raised upon a stage about two feet from the floor, and a semicircular iron rod is fixed so as to secure him in his seat and separates him from the company. Vgl. hierzu insgesamt, nach wie vor am umfassendsten, Richard D. Altick, The shows of London, Cambridge u. a. , S. –, –.
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An arm chair is placed upon this stage, and in it a common very small matted chair which his mother fastens behind with a handkerchief to the other, that he may not fall out, for he is wanton, and full of antick tricks in the short intervals from playing. A book is placed before him, as if it was a musick book, and strangers in a distant part of the room may mistake it for such ; but it is no more than a magazine or some other pamphlet with an engraved frontispiece ; this he looks at and amuses himself with the figures in the plate, while he is playing any tune, or striking into his own harmony. In short, he laughs, prattles, and looks about at the company, at the same time keeping his little hands employed on the keys, and playing with so much unconcern that you would be tempted to think he did not know what he was doing.«²⁹
Crotch spielte also, diesem Bericht nach zu urteilen, nicht nach Noten, sondern einzig und allein aus dem Gedächtnis, beziehungsweise durch spontane Eingebung. Dabei legte er angeblich selbst während des Musizierens noch einen durchweg kindischen Mutwillen an den Tag und gab mit erstaunlicher Unbeschwertheit kleine Stücke oder seine eigenen musikalischen Einfälle zum Besten. Seine geringe Körpergröße bildete an dem Instrument kein wirkliches Hindernis, besaßen englische Orgeln des . Jahrhunderts üblicherweise ohnehin keine Pedale.³⁰ Die notwendige Sitzhöhe erreichte man durch eine Konstruktion zweier ineinandergestellter Stühle, so die Schilderung des Autors. Seine Charakterisierung des typischen Kleinkindes hatte hierbei auch rhetorische Funktion. Denn für seine Leserschaft legte er damit den Schluss nahe, es bei den Fähigkeiten des Kindes vollständig mit einem angeborenen Vermögen, mit Genie zu tun zu haben und nicht mit dem äußerlichen Resultat einer bloßen Dressur. Seine Perspektive hebt das Einzigartige hervor : die vermeintliche Abwesenheit kultureller Prägung und das dadurch ermöglichte Erlebnis eines Naturwunders der Musik in Reinform. Erleben bedeutete in den Vorführungen nicht nur passive Rezeption, wie der Bericht ebenfalls erkennen lässt. Man zog hier vielmehr alle Register der wissenschaftlichen Unterhaltung, indem man Zuschauerinnen und Zuschauern eine Art interaktives Experiment bot, in dessen Zentrum Crotch als Untersuchungsobjekt stand. So war es etwa allen Beteiligten freigestellt, das Kind mit Früchten und süßem Gebäck oder durch anstachelndes Zureden zu animieren :
M., »Account of the Musical Phænomenon«, S. . Siehe John Caldwell, English Keyboard Music before the Nineteenth Century, Oxford (Blackwell’s Music Series), S. –.
| Master Crotch, ein musikalisches Phænomenon »As soon as he has finished a regular tune, or part of a tune, or played some little fancy notes of his own, he stops, and has the pranks of a wanton boy ; some, of the company then generally give him a cake, an apple, or an orange, to induce him to play again, but it is nine to one if he plays the tune you desire, unless you touch the pride of his little heart, by telling him he has forgot such a tune, or he cannot play it, this seldom fails of producing the effect, and he is sure to play it with additional spirit.«³¹
Der starke Eingriff des Publikums war ein weiteres Merkmal, das musikalische Ausstellungen von Konzerten im engeren Sinne abgrenzte. Ein Resultat dieser interaktiven Konstellation war der unvorhersehbare Verlauf des Ereignisses. Eine Garantie, dieses oder jenes Stück zu hören, gab es daher nicht. Im Übrigen konnte es einem als Gast auch passieren, dass just an diesem Tag überhaupt nicht musiziert wurde, da sich Crotch gerade einem anderen Talent widmete, seinen Zeichenkünsten nämlich.³² Die Launenhaftigkeit wiederum war Bestandteil seiner Inszenierung. Man könne eben nicht erwarten, so der Berichterstatter, ein sich in seinem Spiel selbst überlassenes Kleinkind zu etwas Bestimmtem mit Vernunft zu überzeugen oder gar zu zwingen : »Some have reported that he is humoursome, it is true he will not always continue playing on in a regular manner during the time allotted for company to see him, nor can it be expected, he is not of an age to be reasoned with, and humanity forbids compulsion : it is in fact, rather surprising that he can be brought to play every day, without growing tired, and disappointing company.«³³
Eine strikte Grenze zwischen Bühne und Publikumsraum gab es in den von Mrs. Hart zur Verfügung gestellten Räumlichkeiten also nicht. Über die Versuche der Beeinflussung des Kindes hinaus bestand dabei auch die Möglichkeit, dessen musikalischen Fähigkeiten auf verschiedene Weise selbst nachzuforschen. In dem Bericht wurde beispielsweise angedeutet, wie anwesende Personen die Genauigkeit seines Gehörs überprüften oder es aus dem Stegreif die Bassbegleitung zu den Melodiestimmen diverser ihm unbekannter Stücke ergänzen ließen :
M., »Account of the Musical Phænomenon«, S. . Siehe ebd. Ebd.
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»We forgot to observe, that if any person plays a tune he never heard with the right hand on his organ, he will put a bass to it with his left hand ; that he will name every note you strike on an organ, or any other instrument ; and that he always knows if any person plays out of tune.«³⁴
Die Auftritte beim Uhrmacher Mr. Martin in der City of London sahen vermutlich nicht viel anders aus. Und wahrscheinlich ist Crotch auch bereits in Norwich, als man ihn noch im Haus der Familie den ersten andrängenden Besucherinnen und Besuchern vorgestellt hatte, solchen Tests unterzogen worden. Darauf zumindest deutet die erste biographische Anekdote vom April hin. Hierin wurden ähnliche Methoden angesprochen, die man damals ausprobiert hatte, um das offenkundig unfehlbare musikalische Gehör des Kindes zu ergründen : »His ear is so exquisite, that, if any person strikes a note behind the organ, he repeats it instantly upon the key ; if any one strikes a note while he is playing in discord, he drives away the hand, and corrects it instantly. A very good judge of music was present the last time I heard him, and whispered at a distance from him, that one of the pipes was out of tune ; very soon after, upon striking the key belonging to it, he left off, saying the organ sounds double.«³⁵
Die Gelegenheit, das Kind eigenhändig prüfen zu können, rief möglicherweise gerade auch diejenigen auf den Plan, die den Nachrichten über Master Crotch skeptisch gegenüberstanden.³⁶ Über eine solche Motivation ließe sich etwa bei Peregrine Phillips spekulieren. Der Jurist und Beamte begab sich gemeinsam mit einer Verwandten in die Piccadilly, einer seiner Angabe nach musikalisch gebildeten Dilettantin, die das Manuskript einer erst kürzlich verfassten anspruchsvollen Komposition mit sich führte, um das Kind damit auf die Probe zu stellen. Von dieser Begebenheit, vielleicht auch von Dingen, die Phillips darüber hinaus durch Hörensagen zugekommen waren und ihm nach seinem eigenen Besuch hinreichend plausibel erschienen, legte er in seinen publizierten Tagebüchern folgendes Zeugnis ab :
Ebd. [Anon.], »Musical Anecdote«, in : The Morning Post, and Daily Advertiser vom . April (Nr. ), o. S. Vgl. die Äußerung Alexander Goucher Schombergs über die Auftritte in Oxford bei Mr. Underhill, zitiert nach William Crotch, Memoirs of William Crotch, S. .
| Master Crotch, ein musikalisches Phænomenon »Billy Crotch, the musical child from Norwich, born July , , at any discordant sound expresses much uneasiness. His ear must be most exquisitely organized, and his memory singularly strong. As a proof of the former, the Diarist lately went to Mrs. Hart’s, Millener [sic], in Piccadilly, with a musical lady, a near relation, who produced a difficult piece of music, lately composed, never out of her possession, nor even copied. The treble being played to him for the first time, at the same instant the infant added an agreeable bass. He played several tunes which he seemed particularly pleased with, as she sung them, closely observing her mouth, as if to catch the issuing voice. He expresses the notes of any tune he may have heard on a small violin intelligibly, playing left handed ; on a large violin he does the same, holding it downwards like a violoncello. Without seeing the keys, he names any note sounded, and never misses. – He plays several tunes on the sticcado pastorali [= eine Art Glasxylophon, J. T.], and likewise names the note struck by any other person on wineglasses, tumblers, or decanters, or which may be sounded by any clock, church, or other bells – As to the latter excellence, he recollects and performs any air he seems pleased with, several days after, if played to him two or three times over : in most cases he is not able to do it immediately.«³⁷
In dem Erklärungsversuch (»His ear must be most exquisitely organized, and his memory singularly strong«), der den Ausführungen vorangestellt war, äußert sich das Bemühen einer wissenschaftlichen Einordnung. Insbesondere die beiden typographisch hervorgehobenen Schlüsselbegriffe legen nahe, dass sich Phillips auch mit Burneys Aufsatz zum Phänomen Crotch in den Philosophical Transactions auseinandergesetzt haben könnte.³⁸ Kuriose Unterhaltungsshows wurden stets auch mit Argwohn betrachtet und waren Vorwürfen der Scharlatanerie ausgesetzt, hinter denen sich auch ein grundlegendes Misstrauen gegenüber der Sinneswahrnehmung mit ihrer trügerischen Suggestivkraft verbarg, wie es für die Aufklärung kennzeichnend Peregrine Phillips, A diary kept in an excursion to Little Hampton, Near Arundel, and Brighthelmston, In Sussex, in ; And also to the latter Place in , Bd. , London , S. –. Der Anlass, in diesem Tagebucheintrag vom . August Crotch überhaupt zu erwähnen, ist die dissonante Geräuschkulisse schreiender Kinder zusammen mit den frommen Gesängen von Frauen in der Nachbarschaft, die Phillips in seiner Unterbringung in »a poor man’s house« vom Schlafen abhielt. In der ersten Ausgabe dieses Bandes wurde Crotch in dem Eintrag im Übrigen noch nicht erwähnt, siehe Peregrine Phillips, A Sentimental Diary, Kept in an Excursion to Little Hamtpon, near Arundel, and to Brighthelmstone, in Sussex, London , S. –. Das bedeutet, dass Phillips wohl nach dem . August , vermutlich also irgendwann im Jahr den Laden von Mrs. Hart aufsuchte. Siehe hierzu Kap. ., S. –.
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war.³⁹ Der Neugierde und Schaulust der Londoner Gesellschaft hat sich in schonungsloser Weise etwa der irische Schriftsteller Oliver Goldsmith angenommen, sie satirisch gebrochen und die Kritik daher umso mehr auf den Punkt gebracht. Der Topos der vermeintlichen Leichtgläubigkeit des Publikums sowie der damit einhergehenden Anfälligkeit für Hochstapelei und Täuschung erscheint bei Goldsmith durch den Blick seines Alter Ego, nämlich in den fiktiven Briefen eines chinesischen Reisenden namens Lien Chi Altangi. Als außenstehender Beobachter äußert sich der gelehrte Altangi in diesen Schriftstücken auch zu folgender Gepflogenheit der Engländer : »From the highest to the lowest, this people seem fond of sights and monsters. I am told of a person here who gets a very comfortable livelihood by making wonders, and then selling or shewing them to the people for money, no matter how insignificant they were in the beginning ; by locking them up close, and shewing for money, they soon became prodigies !«⁴⁰
Nachfolgend berichtet Altangi ausführlich über diesen Betrüger, der sich zunächst selbst als Wachsfigur zur Schau gestellt habe, dann als Indianerhäuptling (»Indian King«) aufgetreten sei, später Mumien und Fossilien fälschte und damit einen regen Handel betrieben hätte. Zuletzt habe er gar einen Seidenstrick präsentiert, mit dem angeblich in Kürze ein bekannter adliger Krimineller erhängt werden sollte, was sich daraufhin als blanke Lüge herausgestellt habe.⁴¹ Wenn sich ein Geschäft wittern lässt, so die vermittelte Kernaussage des erfundenen Briefes, werden gewöhnliche Dinge in London kurzerhand zu Wundern erklärt und allein der Umstand der öffentlichen Ausstellung lässt sie in den Augen der ahnungslosen Menge als solche erscheinen. Die moralische Kritik von Goldsmiths Satire zielte somit nicht nur auf besonders skrupellose Unternehmer der Unterhaltungsindustrie, sondern auch auf das Publikum. Dieses blieb ob mangelnder Kompetenz und Besonnenheit als Augenzeuge zumindest in höchstem Maße unzuverlässig. Gerade bei der Einmischung solcher öffent Bezogen auf den visuellen Sinn, vgl. Barbara M. Stafford, Artful Science, insbes. S. –. [Oliver Goldsmith], The Citizen of the World ; or Letters from a Chinese Philosopher, Residing in London, to his Friends in the East, Bd. , London , S. . Die Briefe sind zuvor in der Zeitung The Public Ledger veröffentlicht worden. Siehe ebd., S. –. Goldsmith wurde hier vielleicht von den drei ausgestellten Cherokee-Häuptlingen inspiriert, mit denen die Glasharmonikaspielerin Marianne Davies einmal gemeinsam aufgetreten ist. Vgl. Simon McVeigh, Concert life in London from Mozart to Haydn, S. .
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lichen Veranstaltungen in Bereiche, in denen es letztlich um naturphilosophische Wahrheitsansprüche und entsprechende Deutungshoheiten ging, waren Konflikte also gewissermaßen vorprogrammiert. Zur Zielscheibe von Karikatur und Polemik wurden damals aber auch reale Veranstalter wissenschaftlicher Ausstellungen und Vorführungen. Einer davon war jener aus Deutschland stammende ›Quacksalber‹, Vortrags- und Zauberkünstler, der in Großbritannien als Dr. Katterfelto bekannt geworden ist.⁴² So erschien beispielsweise im General Advertiser eine mit »Katterfelto« unterzeichnete Glosse, die sich als Anzeige für einen außerordentlich befähigten Truthahn ausgab und offensichtlich die berüchtigten großtönenden Werbemethoden Katterfeltos parodieren sollte.⁴³ Das wundersame Tier, welches unter anderem Griechisch und Latein beherrsche, komponieren, singen sowie Parlamentsdebatten perfekt wiedergeben könne, sollte in einen fiktiven Wettstreit mit anderen Kuriositäten treten, unter denen auch Master Crotch nicht fehlen durfte : »He shall engage, and the challenge is hereby thrown out, with Hughes’s Grey Horse, the Learned Pig, the Sadlers Wells Hare, Master Crotch, and the new Irish Giant, in any of their feats, and shall afterwards compose and sing a song on the occasion«⁴⁴.
Crotch wird an dieser Stelle in eine Reihe mit einigen der größten kuriosen Attraktionen der Stadt, wie dem gelehrten Schwein oder dem irischen Riesen (hier war wohl entweder Charles Byrne oder Patrick Cotter gemeint) gestellt.⁴⁵ Dieses Beispiel zeigt, dass auch die Auftritte Crotchs von Vorbehalten vermeintlicher Hochstapelei und ähnlicher Kritik kaum verschont bleiben konnten, was die Anerkennung durch höhere gesellschaftliche Kreise umso wichtiger machte. Die kuriose Unterhaltung blieb nicht das einzige öffentliche Forum für den jungen William Crotch. So war dieser recht bald auch in Konzertveranstaltungen als Musiker involviert, und zwar in direkter Verbindung zur Spitze der Londoner Musikkultur. Ein erstes eigenes Konzert (»For the benefit of master crotch, the Musical Child«) fand am . Mai im prunkvollen Saal des acht Jahre zuvor eröffneten Pantheon statt. Es wurde als »public break Vgl. David Paton-Williams, Katterfelto. Prince of Puff, Leicester . Es war auch deswegen klar, dass es sich um eine Parodie handelte, weil Katterfelto London bereits im Sommer verlassen hatte. Siehe ebd., S. . Katterfelto [= Pseud.], »oyez, oyez, oyez ! ! ! To all Lovers of natural Curiosity. the wonder ful turk ey-cock«, in : The General Advertiser vom . Mai (Nr. ), o. S. Vgl. Richard D. Altick, The shows of London, S. –.
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fast, with a gr and concert of vocal and instrumental music« rund zwei Wochen vorher erstmals in mehreren Londoner Zeitungen angekündigt.⁴⁶ Unterstützt wurde Crotch darin durch die Auftritte einer Reihe renommierter Virtuosen und Virtuosinnen, unter denen sich der Violinist Wilhelm Cramer (der als Konzertmeister zudem das Orchester anführte), der Kastrat Angelo Monanni alias Manzoletto, die Sopranistin Anna Pozzi, der Oboist Ludwig August Lebrun, der Cellist James Cervetto und der Pianist Muzio Clementi befanden. Dieses Aufgebot an musikalischer Prominenz sowie der Eintrittspreis von einem halben Guinee reihten die Veranstaltung in die teuersten und prestigeträchtigsten Konzerte der Stadt ein.⁴⁷ Sogenannte Benefizkonzerte wie dieses bestanden in der Regel aus einem zwischen Vokal- und Instrumentalmusik abwechselnden Programm unter Mitwirkung eines Orchesters und mehrerer Solisten.⁴⁸ In bestimmten Fällen, sprich wenn ein Virtuose oder eine Virtuosin im Mittelpunkt des Konzertprogramms stand, erhielt dieser oder diese den Profit, hatte dann normalerweise aber zugleich Organisation und finanzielles Risiko eigenverantwortlich zu tragen.⁴⁹ In anderen Fällen kamen die Einnahmen wohltätigen Zwecken, etwa Hospitälern, Waisenhäusern oder auch einzelnen vom Schicksal getroffenen Familien zugute, wie unzählige Konzertanzeigen der Zeit verraten. Im Gegensatz zu täglich stattfindenden Ausstellungen in den Nebenzimmern von Geschäften oder selbst im Verhältnis zum Auftreten in Salons waren Benefizkonzerte keine konstante und sichere Einnahmequelle. Allerdings waren sie unerlässlich, wollte man sich als Solist oder Solistin einen Namen machen. Grundsätzlich ist anzunehmen, dass Musiker und Musikerinnen bei der Teilnahme an, und vor allem bei der Veranstaltung eigener öffentlicher Konzerte, nicht unmittelbare finanzielle Einkünfte im Blick hatten, sondern vielmehr die The Gazetteer and New Daily Advertiser vom . Mai (Nr. ), o. S. Anzeigen wurden außerdem in den Zeitungen The Morning Chronicle, and London Advertiser ; The Morning Post, and Daily Advertiser und The Public Advertiser geschaltet. Das komplette Programm wurde erstmals bekannt gegeben in : The Morning Chronicle, and London Advertiser vom . Mai (Nr. ), o. S., The Public Advertiser vom . Mai (Nr. ), o. S.; The Morning Post, and Daily Advertiser vom . Mai (Nr. ), o. S. Zu den üblichen Eintrittspreisen von Benefizkonzerten und ihrem Publikum vgl. Simon McVeigh, Concert life in London from Mozart to Haydn, S. –. Zu dieser bis Mitte des . Jahrhunderts üblichen Programmform, vgl. William Weber, The Great Transformation of Musical Taste. Concert Programming from Haydn to Brahms, Cambridge u. a. , S. –, –. Rein solistische sogenannte Recitals kamen vor nur vereinzelt vor. Siehe ebd., S. . Zu Konzertorganisation und -finanzierung, vgl. Simon McVeigh, Concert life in London from Mozart to Haydn, S. –.
| Master Crotch, ein musikalisches Phænomenon
Steigerung von Bekanntheit und Renommee.⁵⁰ Dies konnte sich mittelbar wiederum ökonomisch auszahlen. Man erhoffte sich von Konzertauftritten also eher, danach vermehrt private Einladungen zu möglichst angesehenen Salons zu erhalten, wohlhabende Schülerinnen und Schüler für Unterrichtstätigkeiten zu gewinnen, beziehungsweise höhere Honorare von diesen verlangen zu können, Musikalien zu verkaufen, Aufträge für Kompositionen zu bekommen oder sonst jemandes Gunst zu erlangen, von dem man irgendwie profitieren konnte (all diese Aspekte standen ohnehin in wechselseitiger Abhängigkeit zueinander). Bezogen auf das Publikum hieß das wiederum, dass der Besuch eines Konzertes nicht mit dem anonymen Erwerb einer Ware zu vergleichen war, deren Gegenwert man genau prüfte. Es stellte eher ein öffentliches Zeichen der Unterstützung einer Musikerin oder eines Musikers dar. All dies galt grundsätzlich auch für Crotchs Konzert, wenn es auch in einer Hinsicht eine gewisse Uneindeutigkeit aufwies. Denn für das Benefizkonzert eines erwachsenen Virtuosen wäre es undenkbar gewesen, nur zwischen den beiden Konzertteilen aufzutreten und den Abschluss nicht selbst zu bestreiten. Da Crotch damit auf der einen Seite als virtuoser Konzertgeber nur im Hintergrund präsent war, auf der anderen Seite aber als Profiteur im Mittelpunkt stand, tendierte die Veranstaltung automatisch zu jenen durch Zwecke der Mildtätigkeit motivierten Konzerten. Sie legte somit ein nochmals verschärftes soziales Gefälle zwischen Förderern und der Familie Crotch nahe. Für diese Annahme spricht auch, dass ein paar Tage nach dem Konzert eine Anzeige erschien, in der Isabella Crotch nicht nur obligatorisch dem Adel ihren Dank aussprach, sondern auch den Musikern, von denen einige offenbar auf ein Honorar verzichtet hatten : »Mr. Cramer and the rest of the band […] kindly refused the smallest acknowledgement for their attendance and trouble«⁵¹. Für eine zentrale Botschaft aber, die mit dem Konzert übermittelt werden sollte, war all dies unerheblich. Unabhängig von der genauen Konnotation des hier erteilten Benefiz signalisierte dieses in jedem Fall, dass William Crotch in London die Unterstützung der gesellschaftlichen Elite ebenso wie die der musikalischen Kenner genoss, was zugleich bedeutete, dass der junge Musiker auch an jedem anderen Ort entsprechender Hilfe würdig sei. Somit war das Konzert ein entscheidender Schritt, bevor man ausgedehntere Reisen in die Provinz wagen konnte. Vgl. Simon McVeigh, »The musician as concert-promoter in London, –«, in : Hans E. Bödeker, Patrice Veit und Michael Werner (Hgg.), Le concert et son public. Mutations de la vie musicale en Europe de à (France, Allemagne, Angleterre), Paris , S. –. The London Courant, and Westminster Chronicle vom . Mai (o. Nr.), o. S.
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In Begleitung der Mutter führten Crotch die Reisen im Anschluss an das Londoner Benefizkonzert von erstmals auch in den Westen und Norden der britischen Insel, und über die Grenzen Englands hinaus bis nach Schottland. In die englische Metropole kehrte er erst wieder zwischen Herbst und Frühjahr zurück.⁵² Ähnlich wie in London veranstaltete man auch in kleineren Städten regelmäßige Auftritte in Gasthäusern, Geschäften und Privathäusern, für die man allerorts einen Eintrittspreis von Shilling verlangte, wie zugehörige Zeitungsanzeigen belegen. In Manchester trat Crotch ab dem . Juli täglich zwischen elf und dreizehn Uhr bei »Mr. H. Whitaker’s«, dem Laden eines Schreibmeisters, auf.⁵³ In Chester wiederum, wo sich die Crotchs im September aufhielten, nutzte man das von einer gewissen Mrs. Adams geführte »Feathers Inn« als Bühne.⁵⁴ Im Oktober ging es über Wakefield weiter nach Leeds, wo man Crotch im »Talbot Inn« vorführte.⁵⁵ Dass diese Vorführungen grundsätzlich nach demselben experimentellen Schema organisiert waren, wie die Londoner Shows und dort dieselben musikalischen Fähigkeiten des Kindes präsentiert wurden, davon gibt ein dortiger Zeitungsbericht einen Eindruck. Crotch spielte auch hier offenbar Stücke aus dem Gedächtnis, fantasierte über vorgegebene Melodien, improvisierte völlig frei beziehungsweise gab seine eigenen Kompositionen wieder, ergänzte Bassstimmen zu angespielten Melodien und benannte schließlich fehlerfrei Töne in allen möglichen Varianten : »We hope the following particulars respecting that astonishing phenomenon, the Musical Infant, will not prove unentertaining to our readers : – Dr. Crotch, the musical infant, is certainly a most surprizing being ; – sound seems to him the same as numbers were to the noted Jedediah Buxton ; a remarkable gift of divine providence. He is now a little turned of five years old, and rather small of his age, a very pretty Zu den Reisestationen, vgl. auch Jonathan Rennert, William Crotch (–), S. ; William Crotch, Memoirs of William Crotch, S. –. Siehe The Manchester Mercury ; and Harrop’s General Advertizer vom . Juli (Nr. ), o. S. und vom . August (Nr. ), o. S. Siehe Adams’s Weekly Courant vom . August (Nr. ), o. S.; [Anon.], »The Astonishing musical infant«, in : Adams’s Weekly Courant vom . September (Nr. ), o. S.; erneut erschienen in der Ausgabe vom . September (Nr. ), o. S. Dass Crotch in den nächsten Tagen auch in Warrington, Knutsford und Macclesfield auftreten würde, kündigte an : The Chester Chronicle ; And General Advertiser vom . September (Nr. ), o. S. Siehe The Leeds Intelligencer vom . Oktober (Nr. ), o. S. sowie vom . Oktober (Nr. ), o. S.
| Master Crotch, ein musikalisches Phænomenon boy, with a sweetness of disposition superior to most of his fellow creatures. – He has a gravity in his countenance, though very chearful in his play, and smart in expressions. – His talent is not in masterly exactness in playing, as he has never been under a tutor to have any instructions ; what he does is by the force of his own natural genius. – He plays intirely by the ear, as he cannot read a single bar of music ; and if he plays any tune he has learnt by hearing others, he flies off into the most wild and extravagant variations, without ever losing the key of the tune, so as not to come to it again, or making the least discord ; but he is the most pleasing in voluntaries of his own. – His accompanying any tune with an harmonious bass, and distinguishing the notes composing any chord, much exceeds what is set forth in the Advertisement. – If he hears the sound of a bell, in the ring of a glass, or any other sound, he will call the note without any mistaking ; discord seems to give him great uneasiness. – He received his degree from the University of Cambridge soon after he was three years old, and in a little time after performed before their Majesties and the Royal Family at the Queen’s Palace, who testified their satisfaction by genteel presents to this young son of Apollo ; each of the Royal children giving him a piece or pieces of plate, and the youngest a prayer-book.«⁵⁶
Dieser Bericht fasst außerdem gut zusammen, aus welchen Komponenten sich der öffentliche Erfolg auch jenseits von London zusammensetzte. Hier wird ebenso das Naturtalent (»his own natural genius« bzw. »remarkable gift of divine providence«) des vermeintlichen Autodidakten unterstrichen. Glaubwürdig wird dieses grundsätzlich eher unglaubwürdige Phänomen (»astonishing phenomenon« bzw. »most surprizing being«) durch die Zuwendung und Bestätigung der Königsfamilie und des Gelehrtenstandes, auch wenn der Autor mit der Behauptung, man habe Crotch in Cambridge einen Doktortitel verliehen, wohl nur ein Gerücht wiedergab.⁵⁷ Im Übrigen lässt sich angesichts der Formulierungen und Erklärungsansätze auch bei diesem Bericht eine Kenntnis von Burneys Report vermuten. Der eingangs vollzogene Vergleich mit Jedediah Buxton, der Anfang der er Jahre mit erstaunlichen Fähigkeiten im Kopfrechnen bekannt geworden war, schien hierbei insofern besonders passend, als auch Buxton als gänzlich ungebildet gegolten und seinerzeit ebenfalls das Interesse der Royal Society of London auf sich gezogen hatte.⁵⁸ The Leeds Intelligencer vom . Oktober (Nr. ), o. S. Siehe dazu Kap. ., S. . Zum Interesse akademischer Eliten an Crotch vgl. Kap. ., S. –. Siehe Henry Bradley und Gary Woodhouse, Art. »Buxton, Jedidiah«, in : Henry C. G. Mat-
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Die Familie brach schließlich nach Newcastle auf, wo man tägliche Auftritte im Haus des Organisten Matthias Hawdon organisierte, bei denen Crotch auf unterschiedlichen Tasteninstrumenten spielen sollte.⁵⁹ Aus dieser Auftrittsreihe ist ein auf den . November datierter Handzettel erhalten, der wohl Werbezwecken diente, auch wenn das praktische Vorgehen mit diesem Medium im Detail unbekannt bleibt.⁶⁰ Er gibt jedenfalls ausführlicher als die Zeitungsanzeigen das gesamte Spektrum der als werbewirksam erachteten Informationen wieder und deckt sich darin weitgehend mit dem Bericht aus Leeds und anderen Quellen, etwa im Verweis auf das Spiel vor dem König und an den Universitäten Cambridge und Oxford oder der Beglaubigung durch die Royal Society. Das Publikum wurde mit diesem Zettel direkt angesprochen und dazu aufgerufen, das berühmte Kind selbst einiger Prüfungen zu unterziehen (eine einmalige Gelegenheit, die sich so bald wohl nicht mehr wieder bieten würde) : »He now plays a great Variety of Tunes, in every Air, and in every Key, in full Harmony, and with equal Facility. He seems to have Powers, given him by his Maker, beyond those of almost any other Human Being. By a Faculty, which appears little less than miraculous, he plays an harmonious Bass to any Tune whatever, which any other Person shall play, and accompanies it, at the Moment, as if he had a Presentiment of every Note which would follow. And this he does, in every possible Variety and Change of the Key and Air. He tells the Name of every Note you found though he is at a Distance from you and busy about his Sport ; nor does he ever miss in a single Instance. Nay, he will tell the several Notes, which compose any Chord, consisting of two, three, or four Notes at once, and with perfect Exactness. He plays sometimes the Music he has heard from others, and sometimes Voluntaries of his own, which, to Judges of Music, discover amazing Variety, Taste, Invention and Musical Intelligence. His Appearance and Manners are those of a mere Child. But his Mind is in general intelligent, and quick beyond his Years. He has lately taken up a Taste for Drawing, and sketches Outlines of Ships, Houses, &c. with great Rapidity and Resemblance.«⁶¹
Die Stadt am River Tyne im Norden des Landes war Durchgangsstation der Route gen Schottland. Und bald schon war in der Edinburgher Presse von thew und Brian Harrison (Hgg.), Oxford Dictionary of National Biography. From the earliest times to the year . Volume : Burt – Capon, Oxford , S. . Siehe The Newcastle Courant vom . November (Nr. ), o. S. [Anon.], The Astonishing Musical Infant, Handzettel, Newcastle (Archiv der Royal Academy of Music, Sign.: .). Ebd.
| Master Crotch, ein musikalisches Phænomenon
den Vorführungen Master Crotchs zu lesen. Sie sollten ab dem . Dezember zunächst in der St. Mary’s Chapel, ab Mitte Januar dann beim Klavierfabrikanten Mr. Lind stattfinden.⁶² Die Crotchs mussten in Schottland gute Verbindungen zur Künstler- und Musikerfamilie der Reinagles gehabt haben. So wurde es ihnen ermöglicht, dass William in Edinburgh innerhalb des »Mr. Reinagle’s Morning Concert« am . März in der St. Cecilia’s Hall an der neuen Orgel des Konzertsaals auftreten konnte.⁶³ Es handelte sich hierbei um ein Konzert Joseph Reinagles, eines von der Edinburgh Musical Society angestellten Musikers, seines Zeichens Hoftrompeter von König George III. Wie der Vater Joseph in Edinburgh, so gehörte sein Sohn Alexander in Glasgow zu den zentralen Figuren des öffentlichen Musiklebens (dieser veranstaltete hier unter anderem regelmäßig Subskriptionskonzerte). Mit dem Rückhalt der Reinagles konnte Crotch am . März erstmals im Glasgower Assembly Room spielen, unterstützte Alexander dort am . des Monats bei dessen Benefizkonzert und ließ sich den Ankündigungen im Glasgow Mercury zufolge im April noch in zwei weiteren Konzerten hören.⁶⁴ Die Nordseeküste weiter entlang über Dundee und Montrose führte ein sommerlicher Abstecher schließlich bis nach Aberdeen. Hier wurden morgens das Friseurgeschäft eines Mr. Spalding und abends die Concert Hall für Crotchs musikalische Darbietungen angemietet, die Eintrittspreise aber auf Shilling, Pence den lokalen Verhältnissen angepasst.⁶⁵ Im September bereits präsentierte Isabella Siehe The Caledonian Mercury vom . Dezember (Nr. ), o. S. sowie vom . Januar (Nr. ), o. S. Siehe die Anzeigen in : The Caledonian Mercury vom . März (Nr. ), o. S. und vom . März (Nr. ), o. S. Siehe Anne McClenny Krauss, »Alexander Reinagle, His Family Background and Early Professional Career«, in : American Music /Nr. (), S. . (In Krauss’ Quellennachweis ist der Jahrgang des Glasgow Mercury angegeben, vermutlich ein Versehen, da sich Crotch in diesem Jahr nicht in Schottland befand.) Eine weitere mögliche Verbindungslinie der Familie führt zu Philip Reinagle. So hat Laurence Libin die ungesicherte These aufgestellt, dass es sich bei einem Ölgemälde Extraordinary Musical Dog des Künstlers, das ungefähr zwischen und entstanden sei, um eine satirische Anspielung auf William Crotch handeln könnte. Zumindest hätten, so Libin, zeitgenössische Beobachter eine solche Verbindung herstellen können, da das vor dem Klavier spielenden Tier aufgeschlagene Konvolut das Notenbild von God Save the King erkennen lässt (das der zeitgenössischen Anekdotik zufolge zu den allerersten Stücken Crotchs gehört hat). Siehe Laurence Libin, »Philip Reinagle’s ›Extraordinary Musical Dog‹«, in : Music in Art /Nr. – (), S. . Siehe The Aberdeen Journal ; and North-British Magazine vom . Juli (Nr. ), o. S. Zur Reiseroute, wobei auch eine kurze Rückkehr nach Nordengland im Dezember erwähnt wird, siehe William Crotch, Memoirs of William Crotch, S. .
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Crotch ihren Sohn wieder in Edinburgh, wo dieser am Shakespeare Square neben Tasteninstrumenten und der Violine auch auf einem Flageolett spielte.⁶⁶ Als Organist wiederum wirkte William Crotch bei einem Konzert des Cellisten Johann Georg Christoph Schetky in der St. Cecilia’s Hall am . März mit,⁶⁷ bevor am Nachmittag des . März ein erstes eigenes Benefizkonzert in der schottischen Hauptstadt veranstaltet wurde, und zwar in »madam mercucci’s Elegant Room« am James’s Court, wo das Kind als Pianist in Erscheinung treten sollte.⁶⁸ Im Mai kehrte die Familie Crotch Schottland endgültig den Rücken und wandte sich wieder England zu.⁶⁹ Mit einer Ausgabe des Norfolk Chronicle erhielt die Leserschaft Mitte Juni Auskunft über eine private Vorstellung, die William Crotch während des Aufenthalts in dem nordenglischen Städtchen Alnwick gegeben hatte. Die Schilderung deutet auf ein, einem Salon durchaus angemessenes, virtuoseres Programm zeitgenössischer Komponisten, das sich der junge Musiker an der Violine mittlerweile anscheinend angeeignet hatte : »A correspondent, and an admirer of genius, who has very lately been at Alnwick, in Northumberland, informs us, that at a private party there he had the pleasure of falling in with the celebrated Master Crotch, who, tho’ only turned of five years old, astonished the company with his performance on the piano forte ; nor was he less excellent on the violin, on which he played a rondeau of [Luigi ?] Borghi’s, another of [Thomas Hanley ?] Butler’s, the overture La Buona Figluiola [sic] [= von Niccolò Piccini, J. T.], with medleys and minuets without number : he afterwards read to the company in a very pleasing manner, and some of his drawings which were exhibited were not deficient of merit.«⁷⁰
Übereinstimmend berichtete in derselben Zeitung einige Monate später ein Korrespondent aus Lincoln, dass das Kind auch dort »not only by his extraordinary Siehe The Caledonian Mercury vom . September (Nr. ), o. S. Siehe The Caledonian Mercury vom . Februar (Nr. ), o. S. Das Konzert war zunächst für den . Februar angesetzt worden. Siehe The Caledonian Mercury vom . Februar (Nr. ), o. S. sowie vom . Februar (Nr. ), o. S. Hier verlangte man einen Eintrittspreis von Shilling. Siehe die Anzeige in : The Caledonian Mercury vom . März (Nr. ), o. S. Der zunächst bekannt gegebene Termin des geplanten Konzerts für den . März musste offenbar verschoben werden, siehe dazu die Nachricht in : The Caledonian Mercury vom . März (Nr. ), o. S. Siehe The Newcastle Courant vom . Mai (Nr. ), o. S. The Norfolk Chronicle : or, Norwich Gazette vom . Juni (Nr. ), o. S.
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musical performances, but by his literary accomplishments«⁷¹ Interesse erwecke. Bei ihrer Reise kam die Familie im Frühjahr auch durch Leicester. Viele Jahre später gedachte der Komponist William Gardiner dieses Besuchs. Immerhin war Crotch zunächst im Hause seines Vaters, dem Strumpfwarenfabrikanten und Chorleiter an der nonkonformistischen Great Meeting Chapel Thomas Gardiner, vorgestellt worden.⁷² Der damals etwa zwölfjährige Sprössling, so die Darstellung in seinen publizierten Recollections, ließ es sich dabei nicht nehmen, das Talent des jüngeren Kindes eigenhändig zu prüfen, bevor sich die örtlichen Dilettanten zu einem Benefizkonzert in der Börse versammelten : »About the year , young Crotch was brought to Leicester, as a musical prodigy, being then not more than five years old. He was brought first to our house, and played upon the piano-forte as he sat upon his mother’s knee. At that time there were not more than two or three piano-fortes in the town or neighbourhood ; mine was esteemed a good one, made by John Pholman, I suppose in Germany, and before any were made in England. Upon this instrument Crotch first exhibited his extraordinary talent in Leicester. I laid before him Handel’s organ concertos, which, without difficulty, he played at sight. He was a delicate, lively boy, and, next to music, was most fond of chalking upon the floor. I was much surprised to see how readily he sketched a ship in full sail, during which I struck some notes on the piano, forming a confused sound, and requested he would tell me the notes of which it was composed. This he did instantly, while so employed.«⁷³
Crotch beherrschte inzwischen eine ganze Reihe an Instrumenten, auch Niveau und Vielfalt seines musikalischen Repertoires entwickelten sich anscheinend weiter. Die Notenschrift war ihm so vertraut, dass er angeblich sogar ein Händel’sches Konzert vom Blatt spielen konnte. Auf die Anlehnung an die Sphäre der kuriosen Unterhaltung und die regelmäßigen Vorführungen nach gewohnter Manier verzichtete man deswegen nicht. Für vier Nachmittage im Mai wurde »Master crotch, the Musical Child« mit Violine und Cembalo etwa im großen Saal des »Angel Inn« in Northampton angekündigt.⁷⁴ The Norfolk Chronicle : or, Norwich Gazette vom . November (Nr. ), o. S. Vgl. Jonathan Wilshere, William Gardiner of Leicester (–). Hosiery Manufacturer, Musician and Dilettante, Leicester , S. –. William Gardiner, Music and Friends ; or, Pleasant Recollections of A Dilettante, Bd. , London u. a.: Longman, Orme, Brown, and Longman u. a. , S. –. Laut William Crotch, Memoirs of William Crotch, S. fand am . April in Leicester ein (dieses ?) Konzert statt. Siehe The Northampton Mercury vom . Mai (Nr. ), o. S.
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Ende des Monats begannen dann in Oxford ähnlich gestaltete Auftritte bei »Mr. Underhill’s« in der High Street (vermutlich ein Lebensmittelgeschäft), zu denen zusätzlich am . und . Juli Konzerte im Music Room stattfanden.⁷⁵ Danach zog die Familie weiter nach Reading.⁷⁶ Ende des Jahres war außerdem aus Bath zu erfahren, dass sich William Crotch hier als Organist an einem Gottesdienst beteiligt hatte, der dem wohltätigen Zweck der Unterstützung des örtlichen Hospitals gewidmet war.⁷⁷ In dem Kurort wurde dem Publikum »the Self-Taught musical child« ⁷⁸ beziehungsweise sein Violin- und Klavierspiel ab Mitte November überdies täglich in der Saville Row präsentiert. Ein Benefizkonzert (»public breakfast«) fand unter Mitwirkung der Sängerin Anne Cantelo am Nachmittag des . Januar in den Assembly Rooms statt, wobei Crotch wieder mit Geige und Cembalo zu hören sein sollte.⁷⁹ Beispiele wie diese zeigen, dass sich an der öffentlichen Inszenierung des Kindes in dieser Zeit nicht wesentlich etwas änderte. Besonders aus einer Anzeige für die täglichen Auftritte in der Töpferei »Mr. Charles Fisher’s« auf dem Quay von Bristol schlug einem genau derselbe Ton entgegen, den man bereits in der Londoner Presse fünf Jahre zuvor hatte vernehmen können : »amongst the many Curiosities which Nature ever busy is from Time to Time producing, none at present attracts the Attention of those who love to be entertain’d with that delightful Science, call’d Music, more than the Performances of master crotch. This little self-taught pleasing Prodigy, at a very little more than two Years of Age, caught hold of that most noble of all Instruments, the Organ, and has since given Proofs (tho’ but a Child) of such astonishing Abilities, as have been wondered at and applauded by the best Masters.«⁸⁰
Siehe die Anzeigen in Jackson’s Oxford Journal vom . Mai (Nr. ), o. S. bis zur Ausgabe vom . Juli (Nr. ), o. S. Zumindest der zweite dieser Termine wurde explizit als Benefizkonzert angekündigt. William Crotch, Memoirs of William Crotch, S. – gibt Alexander Goucher Schombergs Erinnerung an einen Besuch bei Underhill am . Juni wieder, der den interaktiven Charakter der Vorführungen bestätigt. Siehe The Reading Mercury and Oxford Gazette vom . Juli (Nr. ), o. S. [Anon.], »Extract of a letter from Bath, Dec. «, in : The Morning Chronicle, and London Advertiser vom . Dezember (Nr. ), o. S. Siehe die Anzeige in : The Bath Chronicle vom . November (Nr. ), o. S bis zur Ausgabe vom . Januar (Nr. ), o. S. Der Eintritt betrug Shilling, Pence. Siehe die Anzeige in : The Bath Chronicle vom . Januar (Nr. ), o. S. Felix Farley’s Bristol Journal vom . Februar (Nr. ), o. S.
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Aus den Annoncen für das Benefizkonzert im Assembly Room in der Prince Street am . April gehen hingegen Informationen über das Repertoire Crotchs hervor : Im Gegensatz zum Image des musikalischen Autodidakten, der die Notenschrift nicht beherrsche, Stücke allein nach dem Gehör nachahmen könne und spontane harmonische, aber regellose Erfindungen zum Besten gebe, entsprach das Konzertprogramm schlichtweg dem eines professionellen Kindervirtuosen mit entsprechend solider Ausbildung. Der junge Musiker spielte hierin unter anderem eine Doppelsonate für Violine und Pianoforte (zusammen mit einer Pianistin namens Miss Boyton), einige von Crotch für das Cembalo arrangierte Bearbeitungen Händel’scher Vokalwerke sowie eine selbst komponierte Klaviersonate.⁸¹ Obgleich die genauen Hintergründe im Dunklen bleiben, wurde im Frühjahr öffentlich, dass Isabella Crotch in Bath aufgrund angehäufter Schulden von Haft bedroht und momentan lediglich dank zweier Bürgen noch auf freiem Fuß war.⁸² Aufgrund hoher Lebenshaltungskosten und finanzieller Risiken garantierten selbst äußerlich erfolgreich erscheinende Konzert- und Auftrittsreisen keine schwarzen Zahlen. Vielleicht war aber auch ein bereits nachlassendes Publikumsinteresse an dem allmählich zum Knaben heranwachsenden Wunderkind für die Misere verantwortlich. Die Familie hatte sich augenscheinlich verkalkuliert. Ein Vormittagskonzert jedenfalls sollte den gesellschaftlichen Rückhalt erneuern und dem Zweck dienen, die Schulden zu begleichen, so eine Ankündigung im Nachrichtenteil des Bath Chronicle : »It is with pleasure we can inform the Public, especially those who, from generous motives and liberal minds, wish to forward Genius and assist the Distress’d that master crotch’s br eakfast concert Is fixed to be at Spring-Gardens, on Saturday Morning next, at Ten o’Clock.«⁸³
Während eines Frühstücks sollte zunächst ein Holzblasorchester, danach unentgeltlich die Pump-Room Band spielen. Auch einige Sängerinnen und Sänger wurden versprochen. Mit der Anzeige gaben die Veranstalter außerdem bekannt, mit dem Auftreten von Crotch selbst auf die Ankunft erwarteter adliger
Siehe Felix Farley’s Bristol Journal vom . März (Nr. ), o. S. Siehe auch die Ausgabe vom . April (Nr. ), o. S. und vom . April (Nr. ), o. S. Siehe The Bath Chronicle vom . April (Nr. ), o. S. Auch Jonathan Rennert, William Crotch (–), S. erwähnt finanzielle Probleme bei den Konzertreisen. The Bath Chronicle vom . Mai (Nr. ), o. S.
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Gäste (»Nobility and Gentry in person«) zu warten, auf deren Hilfe man wohl besonders hoffte. Dabei war es nicht unüblich, dass Teile des Publikums erst im Verlauf von Konzerten eintrafen.⁸⁴ Ein zweites und letztes Konzert sollte in Bath am . Mai stattfinden.⁸⁵ Nachweisen lässt sich die Anwesenheit William Crotchs in London erst wieder für das Jahr . Die Familie nahm hier Kontakt zum Musikalienhändler Henry Holland auf und nutzte dessen Geschäft ab Mitte April für die obligatorischen Vorführungen (nun wurde auch das Blattlesen angekündigt) : »master crotch, the self-taught Infant Musician, who performed in London five years ago to the Royal Family, and the Public, will perform on the Organ, Organized Piano Forte, and Violin, from One o’Clock till Four every day, Sundays excepted, at Mr. Holland’s, Bedford-Row. He now plays the most difficult Music at first sight, in a correct and masterly manner. Any Lady or Gentleman who pleases to bring scarce Compositions with them, or will give him a subject either simple or fugue, will be convinced of his knowledge of Music, and his facility of execution. Admittance s. d. Fire in the Room.«⁸⁶
Am . Mai wurde dann in der Freemasons’ Hall ein großes Vokal- und Instrumentalkonzert »For the Benefit of Master Crotch, The Celebrated Musical Child« veranstaltet, das nicht zuletzt am Eintrittspreis deutlich machte, dass man hiermit noch immer die Londoner Gesellschaftselite ansprechen wollte.⁸⁷ Im Verlauf des Abends spielte Crotch Händels viertes Orgelkonzert auf einem (wie Anzeigen und Konzertzetteln zu entnehmen war) von Holland konstruierten mobilen Instrument sowie ein Orgelkonzert aus eigener Feder und trat in einem Violinduo mit Johann Peter Salomon auf.⁸⁸ Wenig später ließ Holland auch die erste Komposition des Knaben drucken, ein Concerto for the Siehe Simon McVeigh, Concert life in London from Mozart to Haydn, S. . Siehe The Bath Chronicle vom . Mai (Nr. ), o. S. The Morning Post, and Daily Advertiser vom . April (Nr. ), o. S. Siehe The Morning Herald, and Daily Advertiser vom . Mai (Nr. ), o. S. sowie folgende Ausgaben. Außerdem erscheinen Anzeigen in den Zeitungen The Morning Post, and Daily Advertiser und The Public Advertiser. Siehe The Morning Herald, and Daily Advertiser vom . Mai (Nr. ), o. S. Der Konzertzettel ist abgedruckt bei Janet Snowman, »The left and right hands of the eighteenth-century British musical prodigies«, S. .
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Harpsichord or Piano Forte mit Begleitung zweier Violinen und Bass in C-Dur, ein Stück, das Charles Burney gewidmet war und als Autor auf dem Titelblatt »Master Crotch, the self-taught musical child, aged years« anführte. Entgegen ihrem Titel aber war diese Veröffentlichung in Quartettbesetzung, mit ihrem dreisätzigen Aufbau einer einfachen Sonate beziehungsweise Sonatine (»Allegro spiritoso« – Menuett – Variationen über die Volksmelodie »Le Malbrouk«), wohl primär für den Hausgebrauch bestimmt.⁸⁹ Es könnte sich zugleich aber um die auf einen breiteren Absatzmarkt zielende Bearbeitung einer ursprünglichen Orchesterfassung gehandelt haben.⁹⁰ Trotz dieser Spuren in der Öffentlichkeit blieb eine Aufregung um das Kind, wie man sie vor der Abreise aus der Metropole fünf Jahre zuvor erlebt hatte, nun aus und wiederholte sich auch nicht mehr an einem anderen Ort. Für den . Oktober kündigte man in Norwich, der Heimatstadt der Familie, das vielleicht letzte Benefizkonzert im Namen von »Master crotch, The selftaught Musical Child«⁹¹ an, und dieses Datum ist, wenn nicht als Endpunkt der öffentlichen Karriere, so doch wenigstens als deutliche Zäsur zu betrachten. William Crotch war nun zehn Jahre alt. Die Behauptung, dass er als Autodidakt nie eine Unterweisung durch andere Musiker erfahren hätte, mit welchen er während der Reisen schließlich dauernd in Kontakt geriet, erschien zwangsläufig immer unglaubwürdiger. Zwar registrierte der Norfolk Chronicle noch, dass er zwischen September und Februar als Cembalist für eine Reihe von Konzerten im Assembly Room des Chapel Field House engagiert wurde,⁹² ähnlich wie es Zeitungen in Bezug auf das Musikleben in Cambridge taten, in dem Crotch als Assistent des Musikprofessoren der Universität
William Crotch, A Concerto for the Harpsichord or Piano Forte. With an Accompaniment for Two Violins and Bass. Humbly Dedicated to Dr. Burney, F. R. S., London : Henry Holland []. Von dem Druck liegt heute nur noch die Klavierstimme samt Subskribentenliste vor (Christ Church Library, Sign.: Mus. ). Ich danke der Christ Church Library für die freundliche Übermittlung einer Kopie. Siehe auch Jonathan Rennert, William Crotch (–), S. –. Vgl. die Anzeige zur Veröffentlichung des Quartetts, in : The Morning Herald, and Daily Advertiser vom . Juni (Nr. ), o. S. Vgl. zu diesem durchaus üblichen Verfahren, Nancy A. Mace, »The Market for Music in the Late Eighteenth Century and the Entry Books of the Stationers’ Company«, in : The Library /Nr. (), S. –. The Norfolk Chronicle : or, Norwich Gazette vom . Oktober (Nr. ), o. S. Siehe The Norfolk Chronicle : or, Norwich Gazette vom . September (Nr. ), o. S., vom . Oktober (Nr. ), o. S., vom . Dezember (Nr. ), o. S. und vom . Februar (Nr. ), o. S.
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John Randall entsprechend aktiv war.⁹³ Die Hinweise über diese Jahre in der Presse aber sind vergleichsweise spärlich. Zudem wurden in London schon bald neue musikalische Kuriosa entdeckt. So spielten im Oktober im Windsor Castle zwei Kinder vor, von denen das eine angeblich erst zwei Jahre, das andere gerade einmal vier Jahre alt wäre und bereits als »a second Crotch in the science«⁹⁴ gehandelt wurde. Im Januar veröffentlichte das Gentleman’s Magazine einen Leserbrief über die junge Sophia Hoffman, der auffallende Parallelen zu den entsprechenden Anekdoten über Crotch aufwies und ebenso rasche Verbreitung fand.⁹⁵ Ein Londoner Korrespondent des Bath Chronicle vom . Mai verlautbarte : »A musical phænomenon is now astonishing the ears of the cognescenti [= Kenner, J. T.] in London : – A Miss Hoffman, an infant not three years old, and who can scarcely speak, plays the organ, harpsichord, and piano-forte, with wonderful facility and truth. – Those who have heard Master Crotch, say, that she is much superior.«⁹⁶
Über William Crotch hingegen erfuhr man in der Öffentlichkeit kaum noch etwas. Lediglich besondere Ereignisse seines weiteren Werdegangs wurden zur Siehe The Newcastle Courant vom . März (Nr. ), o. S.; The Ipswich Journal vom . März (Nr. ), o. S. Vgl. Jonathan Rennert, William Crotch (–), S. – ; William Crotch, Memoirs of William Crotch, S. –. [Anon.], »Extract of a Letter from Windsor, Oct. «, in : The Public Advertiser vom . Oktober (Nr. ), o. S. sowie in : The London Chronicle vom .–. Oktober (Nr. ), S. ; The World, Fashionable Advertiser vom . Oktober (Nr. ), o. S. Vgl. auch die Nachrichten in : The Ipswich Journal vom . Oktober (Nr. ), o. S.; The British Chronicle. Or, Pugh’s Hereford Journal vom . Oktober (Nr. ), o. S.; Finn’s Leinster Journal vom .–. Oktober (Nr. ), o. S. Siehe B. A., [Ohne Titel], in : The Gentleman’s Magazine : and Historical Chronicle /o. Nr. (Januar ), S. –. Mit Hinweis auf das Gentleman’s Magazine erneut veröffentlicht in : The Scots Magazine /o. Nr. (Januar ), S. –, in : The Edinburgh Magazine, or Literary Miscellany /Nr. (Februar ), S. –, in : Walker’s Hibernian Magazine, Or, Compendium of Entertaining Knowledge o. Jg./o. Nr. (April ), S. – ; in : The American Magazine /o. Nr. (April ), S. –. Jahre später erscheint der Aufsatz noch einmal, minimal gekürzt, als »A Musical Phenomenon«, in : The New Wonderful Magazine and Marvellous Chronicle /Nr. (. Juli ), S. –. Zu Sophia Hoffman, vgl. Art. »Hoffman, Sophia«, in : Philip H. Highfill, Kalman A. Burnim und Edward A. Langhans, A Biographical Dictionary of Actors, Actresses, Musicians, Dancers, Managers & Other Stage Personnel in London, -. Volume : Habgood to Houbert, Carbondale u. a. , S. ; Thomas B. Milligan, The Concerto and London’s Musical Culture in the Late Eighteenth Century, Ann Arbor (= Studies in Musicology ), S. , . The Bath Chronicle vom . Mai (Nr. ), o. S.
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Kenntnis genommen, etwa, als er von Cambridge nach Oxford umzog,⁹⁷ mit der Unterstützung großzügiger Förderer dort private Studien begann und die Fertigstellung eines Oratoriums in Aussicht stand,⁹⁸ oder, als er in der Universitätsstadt als Organist der Christ Church die Nachfolge von Thomas Norris antrat.⁹⁹ Als sich Crotch in Oxford aber beispielsweise mit der Vorführung eines Orgelkonzertes an einem Benefizkonzert zur Erhaltung des Musick Room am . Februar beteiligte,¹⁰⁰ war er dem Bild des Naturwunders, dem er seine frühen öffentlichen Erfolge zu verdanken hatte, endgültig entwachsen.
. ein naturwunder und die metaphysische würde der harmonie Mit Stolz wurden William Crotch und seine Mutter Isabella im Jahr in Norwich empfangen. In der Geburtsstadt des Knaben hatte man dessen Talent immerhin zuerst entdeckt und von hier aus hatte sein Aufstieg vor rund acht Jahren seinen Ausgang genommen. Am . März kam es im städtischen Theatre Royal unter Direktor Giles Linnett Barrett schließlich zur Uraufführung einer musikalischen Farce von Charles Shillito, die den Titel Transformation, or Spanish Philosophy trug und zu deren musikalischer Ausgestaltung man Crotch heranzog.¹⁰¹ Mit diesem Zug wollte sich die Stadt Norwich ganz offensichtlich auch selbst eine Ehre erweisen. In einer Nachricht des Morning Herald zu den Proben der Erstaufführung zollte man dem Veranstalter Barrett – angeblich ein Förderer der ersten Stunde – dabei ganz besonderen Respekt : »Great praise is due to Mr. Barret [sic], the manager of the Norwich Theatre who was one of the first to cherish the budding genius of this surprising strippling, and who will have the honor of introducing him to the world as a composer.«¹⁰² Siehe The Ipswich Journal vom . Juni (Nr. ), o. S. Siehe The Morning Herald vom . Januar (Nr. ), o. S. Bei dem Oratorium handelt es sich um The Captivity of Judah (UA ). Siehe etwa The Times vom . Oktober (Nr. ), S. . Siehe Jackson’s Oxford Journal vom . Februar (Nr. ), o. S. Siehe The Norfolk Chronicle : or, the Norwich Gazette vom . März (Nr. ), o. S. sowie vom . März (Nr. ), o. S. Wieder aufgeführt wurde das Stück am . September im Theater in Colchester. Siehe The Chelmsford Chronicle vom . August (Nr. ), o. S.; The Ipswich Journal vom . August (Nr. ), o. S. Der Text, der sich wohl an Le mariage forcé von Molière anlehnte, und die dazugehörige Musik sind verschollen. The Morning Herald vom . Februar (Nr. ), o. S.
Ein Naturwunder und die metaphysische Würde der Harmonie |
Auch im Prolog des Stücks, der von einem gewissen Mr. Harley deklamiert worden war und wenig später auch in der Londoner Times abgedruckt wurde, bekannte man sich selbstbewusst zur Herkunft Crotchs, den man hier ganz in den Mittelpunkt rückte und mit Lob überschüttete : »To music’s pow’rful charms she [= the Farce] dares aspire, / A Child, whose soul is music, strikes the lyre ! / A Child already known in hist’ry’s page, / A lyric wonder in a lyric age ! / At Discord’s touch his infant frame grew wild – / He heard the note of Harmony – and smil’d ! / Still, ere his tongue could lisp, his meaning broke / In Music’s voice – th’ enchanting numbers spoke ! / Proud Science listen’d, in amaze to hear ! / And happy Nature dropp’d a mother’s tear.«¹⁰³
Die Strophe evozierte dabei mehr ein bestimmtes Bild des Kindes, als die Person meinen zu können, die der heranwachsende Musiker William Crotch zu diesem Zeitpunkt tatsächlich war. Die Darstellung als Wunder der Natur, das rein intuitiv auf disharmonische und harmonische Zusammenklänge reagiert und die Kulturtechnik der Sprache noch nicht erlernt hat, stellte nun längst schon eine Retrospektive dar. Die antike Lyra, die von Musik erfüllte Seele, die Kunst, die sich in Zahlen ausdrücken lässt, deren stolze Wissenschaft, die Harmonie und Mutter Natur : All das aber sind – in Versform entsprechend verdichtet – Topoi eines Assoziationsfeldes, in dem sich das Phänomen Master Crotch in der öffentlichen Wahrnehmung von Anfang an bewegt und mit dem er sich bereits beharrlich im Bewusstsein der Zeitgenossen festgesetzt hatte. Dieses musikalische ›Wunderkind‹, so will die Lobrede glauben machen, passe ausgezeichnet in die dem Poetischen und den Künsten besonders zugewandte Gegenwart (»a lyric age«).¹⁰⁴ Eingeführt wurde die Idee des Naturwunders Crotch in Erzählform, und zwar mit der »Musical Anecdote«¹⁰⁵, die im April in der englischen Presse [Charles Shillito], »prologue to a new Musical Farce, called tr ansfor m ation«, in : The Times vom . April (Nr. ), S. . Der Begriff lyric age war in der zweiten Hälfte des . Jahrhunderts zur affirmativen Selbstbeschreibung gängig. Vgl. Douglas L. Patey, »›Aesthetics‹ and the Rise of Lyric in the Eighteenth Century«, in : Studies in English Literature /Nr. (), S. –. [Anon.], »Musical Anecdote«, in : The Morning Post, and Daily Advertiser vom . April (Nr. ), o. S.; außerdem in : St. James’s Chronicle ; Or, British Evening-Post vom .– . April (Nr. ), o. S.; Morning Chronicle and London Advertiser vom . April (Nr. ), o. S.; The Ipswich Journal vom . April (Nr. ), o. S.; The Norfolk Chronicle : or, the Norwich Gazette vom . April (Nr. ), o. S.; The Universal Magazine of Knowledge and Pleasure /Nr. (April ), S. . Im Folgenden wird zitiert
| Master Crotch, ein musikalisches Phænomenon
erschienen ist. Diesen Beitrag hatte man aus dem Kreis der Familie und Förderer möglicherweise gezielt zur Begleitung der Vorführungen in Norwich sowie zur Vorbereitung der Londoner Öffentlichkeit platziert. Von England aus gelangte er bis nach Irland und sickerte (zum Teil anscheinend mit Übersetzungsfehlern, wie ein Kritiker der bayrischen Real-Zeitung anmerkte) bald darauf auch in die französische und deutsche Presse ein.¹⁰⁶ Die Bekanntmachung des Kindes mit der Betitelung einer Anekdote ist typisch für die Form von Aufmerksamkeit, die hier erregt werden sollte und die sich auf Crotch dann auch tatsächlich richtete. Unter der Bezeichnung verstand man in England in der zweiten Hälfte des . Jahrhunderts, wo sie ausgehend von Frankreich weite Verbreitung fand, ganz unterschiedliche Texte, deren Gemeinsamkeit weniger auf formaler Ebene als in einem bestimmten Interesse bestand, wie es der Anglist Rainer Schöwerling in seiner Dissertationsschrift zu der Gattung zusammenfasst.¹⁰⁷ Eine Anekdote konnte daher einen eher literarischen oder dokumentarischen Anspruch verfolgen, eine kurze Nachricht oder eine längere Erzählung sein : »Das Wort Anekdote bezeichnet vornehmlich nicht eine Form, sondern einen Inhalt, der geringfügig, knapp und punktförmig, immer aber interessant ist. Es handelt sich stets um Nebensächlichkeiten, trifles, die das Objekt einer bestimmten psychischen Eigenschaft des Menschen, einer Geisteshaltung sind : der curiosity. […] Diese ›Neugier-Wissbegier‹ richtet sich auf Kuriosa der verschiedensten Art : auf merkwürdige Lebensumstände oder auf seltene Wissensobjekte, den Menschen sonderbar berührende Erscheinungen (etwa aus Natur und Technik), auf das Einmalig-Seltene oder Merkwürdige an Menschen, Dingen. Besonders häufig gilt die Neugier seltsamen Menschen oder ihren wunderlichen Charaktereigenschaften, Handlungsweisen und Aussprüchen.«¹⁰⁸
Bereits mit der textlichen Repräsentation durch diesen ersten Zeitungsbeitrag wurde William Crotch also in den Bereich des Kuriosen verwiesen, der dann auch den Rezeptionsmodus seiner Auftritte bestimmen sollte. nach der Morning Post. Siehe unter der Rubrik »Vermischte Nachrichten« in : Real-Zeitung o. Jg./Nr. (), S. . In Dublin erschien die Anekdote in : The Public Register : Or, Freeman’s Journal vom .–. Mai (Nr. ), S. . Siehe Rainer Schöwerling, Die Anekdote im England des . Jahrhunderts, Diss., Göttingen , S. –. Ebd., S. –.
Ein Naturwunder und die metaphysische Würde der Harmonie |
Die Anekdote beginnt damit, wie die Begabung Crotchs in früher Kindheit ans Tageslicht geriet : »Michael Crotch, a house-carpenter in Norwich, some time ago built a small chamber-organ for his own amusement, which is reckoned pretty well tuned. – He has three children, the youngest of whom, but two years and three quarters old, is still sucking, and who, from being first able to distinguish sounds, discovered a fondness for music. About six months ago, while his father was at work above stairs, he heard somebody playing the tune of God Save the King, with tolerable exactness. Running down stairs, to see who it was, he found his youngest son playing the organ, and his brother, eight years of age, blowing. By the end of the week, he could play the whole tune, bass and tenor, using both hands.«¹⁰⁹
Bei einer Anekdote kann man nicht davon ausgehen, eine in allen Einzelheiten realitätsgetreue Tatsachenschilderung aus erster Hand zu erhalten. Die Anreicherung mit Details, die zwar einen solchen Eindruck erwecken mag, gehört grundsätzlich zu ihren literarischen Strategien. Dies trifft auch für das vorliegende Beispiel zu, das sogar explizit mit der Versicherung beschlossen wird : »This Anecdote may be depended on.«¹¹⁰ Vor dem Hintergrund ihrer Literarizität überrascht es nicht, dass auch diese Anekdote narrative Motive aufweist, wie sie die Künstlerbiographik in ähnlicher Form schon seit der Antike kannte. Dazu zählen etwa die Charakterisierung eines inneren künstlerischen Dranges, die plötzliche und unerwartete Entdeckung des Talents oder das Merkmal der Autodidaktik.¹¹¹ Dass es letztlich irrelevant war, ob sich die hier erzählten Ereignisse genauso zugetragen haben oder nicht, solange sie das im Zentrum stehende Kuriosum nicht trotz, sondern gerade durch das Mittel der Erzählung authentisch erscheinen ließen, wird nicht zuletzt dadurch unter Beweis gestellt, dass Varianten derselben Geschichte existierten. Im April nämlich, somit [Anon.], »Musical Anecdote«, o. S. Ebd. Unglücklicherweise sind die Anekdoten zur Kindheit von William Crotch auf genau diese Weise, nämlich als Augenzeugenberichte, missverstanden worden und fließen, angefangen vom Eintrag im Musiklexikon von John Sainsbury bis zur einzig vorliegenden Monographie über Crotch von Jonathan Rennert, in dessen Biographik ein. Siehe [John Sainsbury], A Dictionary of Musicians, from the Earliest Ages to the Present Time, Bd. , London , S. – ; Jonathan Rennert, William Crotch (–), S. –. Siehe Ernst Kris und Otto Kurz, Die Legende vom Künstler. Ein geschichtlicher Versuch, Mit einem Vorwort von Ernst H. Gombrich, Frankfurt a. M. (= suhrkamp taschenbuch wissenschaft ), S. –.
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einige Wochen nach der Ankunft in London, erschien im renommierten London Magazine, und in Folge davon in einer Reihe weiterer Zeitschriften, der umfangreiche und mit einem Kupferstich¹¹² (Abbildung ) ausgestattete Bericht mit dem Titel »Account of the Musical Phænomenon«¹¹³, welcher im vorigen Unterkapitel bereits mehrfach zitiert wurde. Dieser Bericht rekapitulierte dieselben Geschehnisse aus der Kindheit Crotchs nicht nur ausführlicher als die zuvor erschienene »Musical Anecdote«, sondern zudem mit einer durchaus signifikanten Abweichung, was Anwesenheit und Beteiligung des Vaters sowie einer Musiklehrerin namens Lullman bei den ersten musikalischen Erfolgen des Kindes betraf. Diese Variante wiederum erhielt vor allem durch die mehrsprachigen Versionen des herausgegebenen Göttinger Taschenkalenders bald schon europaweit Verbreitung. Denn der Aufsatz über Crotch, der im Taschenbuch zum Nutzen und Vergnügen fürs Jahr (einem Bestandteil des Kalenders) erschien, bestand zu weiten Teilen aus nichts anderem, als aus einer leicht gekürzten Übersetzung des Textes aus dem London Magazine.¹¹⁴ Eine Laut den Anzeigen in diversen Londoner Zeitungen von Anfang April wurde der Druck durch Harrington auch separat verkauft. Zudem existierte ein motivisch ähnlicher Druck (als Schattenriss) von Harrington, abgebildet bei Art. »Crotch, William«, in : Philip H. Highfill, Kalman A. Burnim und Edward A. Langhans, A Biographical Dictionary, S. . Vgl. ebd., S. . Diese Version ist jene, die dann erneut im Göttinger Taschenkalender erschienen ist. Vgl. hierzu auch Janet Snowman, »The left and right hands of the eighteenth-century British musical prodigies«, S. –. M., »Account of the Musical Phænomenon«, in : The London Magazine : Or, Gentleman’s Monthly Intelligencer /o. Nr. (April ), S. –. Der Bericht erschien erneut in : The Hibernian Magazine, Or, Companion of Entertaining Knowledge /o. Nr. (Mai ), S. – , gekürzt und mit Verweis auf das London Magazine als »Account of Master Crotch, the Musical Phænomenon«, in : The Weekly Magazine, or, Edinburgh Amusement /o. Nr. (. Mai ), S. –, sowie gekürzt als »Account of Master William Crotch, the Musical Phænomenon«, in : The Weekly Miscellany : or, Instructive Entertainer /Nr. (. Mai ), S. – ; unter diesem Titel auch in : The Moral and Entertaining Magazine ; Or, Literary Miscellany of Instruction and Amusement /o. Nr. (Juni ), S. –. Teile erschienen zusammengesetzt mit Abschnitten aus Charles Burneys »Account of an Infant Musician« auch als : [Anon.], »The Astonishing musical infant«, in : Adams’s Weekly Courant vom . September (Nr. ), o. S.; erneut in der Ausgabe vom . September (Nr. ), o. S. In der deutschsprachigen Ausgabe samt Abdruck eines Schattenrisses von Crotch : [Georg Christoph Lichtenberg], »William Crotch, das musikalische Wunderkind«, in : Taschenbuch zum Nutzen und Vergnügen o. Jg. (), S. –. Mit vorgenommenen Kürzungen und leichten Veränderungen erschienen in : Real-Zeitung o. Jg./Nr. (), S. – und Nr. (), S. – ; als Begleittext zu entsprechenden Kupfertafeln : »William Crotch, das musikalische Wunderkind in England« in : Johann Sigmund Stoy, Bilder-Akademie für die Jugend, Bd. , Nürnberg : o. V. , S. – ; in : Musikalische Real-Zeitung /Nr.
Ein Naturwunder und die metaphysische Würde der Harmonie | Abb. 5 : [Mrs. Harrington], The Musical Phænomenon, Kupferstich, London [1779], in : The London Magazine : Or, Gentleman’s Monthly Intelligencer 48/o. Nr. (April 1779), o. S.
dritte Darstellung schließlich, die in Norwich den Herausgebern einer Regionalgeschichte zugespielt wurde, schien keine der beiden Varianten zu bestätigen. Nach dieser Quelle »from undoubted authority«¹¹⁵ hätte sich Crotch an seine ersten Orgelstücke (zuvorderst God save the King) vielmehr im Laufe der Zeit buchstäblich Ton für Ton herangetastet. Abgesehen von den Differenzen in inhaltlichen Details fokussieren beide anekdotischen Varianten – die der »Musical Anecdote« und die des »Account« – (. Juli ), Sp. ; bei Johann Gottfried Essich, Lesebuch für Deutschlands Jugend, zur vorläufigen Kenntniß von der Bestimmung des Menschen, und seinen zerschiedenen Berufsgeschäften, Frankfurt u. a. , S. –. Eine andere, stark gekürzte Übersetzung erschien als »Ein musikalisches Wunderkind«, in : Musicalisches Handbuch o. Jg. (), S. – (als Teil von Carl Ludwig Junkers Musikalischer Almanach), sowie eine weitere Übersetzung von Johann Friedrich Reichardt, die als ergänzender Eintrag für das Historisch-Biographisches Lexicon der Tonkünstler () von Ernst Ludwig Gerber vorgesehen war, in : Musikalische Monatsschrift o. Jg./Nr. (August ) (= Studien für Tonkünstler und Musikfreunde. Eine historisch-kritische Zeitschrift für das Jahr , zweiter Teil) S. –. [Anon.], History and Antiquities of the County of Norfolk. Volume X. Containing The City and County of Norwich, Norwich , S. . Die erste Variante (nach dem Norfolk Chronicle) wurde hier ebenfalls abgedruckt.
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gleichermaßen auf Crotchs außergewöhnliche, naturgegebene Veranlagung zur Musik. Dazu war zunächst die Betonung seines äußerst jungen Alters wichtig, das zum Zeitpunkt der Offenbarung seiner musikalischen Begabung angeblich nur wenig mehr als zwei Jahre betragen hätte. Er befand sich also einen Großteil der öffentlichen Karriere im Stadium des Kleinkindes (infant), in dem ihm – der zeitgenössischen Begrifflichkeit nach – noch keine Vernunft zu eigen sein konnte, was eine Instruktion in irgendeiner Weise von vornherein ausschloss. Die von Mädchen wie Jungen in diesem Lebensabschnitt angelegten Kleidchen waren hinsichtlich einer geschlechtlichen Identität unspezifisch und deuteten überhaupt darauf hin, dass man noch nicht in der Einübung der gesellschaftlichen Rolle unterwiesen wurde. Jungen befanden sich dabei normalerweise ebenso in einer durch weibliche Personen, Mütter oder Ammen, geprägten Aufzucht, während sie nach dem meist mit circa drei bis vier Jahren feierlich begangenen breeching (dem Anlegen der ersten Hosen) durch männliche Personen wie Hauslehrer oder Handwerksmeister erzogen beziehungsweise zum Beruf ausgebildet wurden.¹¹⁶ Womöglich aus dem Grund, dass man möglichst lange den Anschein des nur der eigenen Natur überlassenen Wesens erwecken wollte, legte Crotch das Kleid erst relativ spät ab, nämlich im Juli .¹¹⁷ Seine äußere Erscheinung wurde als Bild wortwörtlich durch die diversen Drucke verfestigt, die entweder Zeitschriftenartikeln beigefügt oder einzeln von Buch- und Kunsthändlern verkauft wurden. Die Präsenz der Mutter war für die Wahrnehmung des Kindes ebenfalls nicht unbedeutend und es waren vielleicht nicht allein praktische Umstände, die dazu führten, dass bei den Reisen ausschließlich Isabella Crotch als Begleiterin und Organisatorin öffentlich in Erscheinung trat, obwohl letztlich nicht ganz klar ist, wann und wo die beiden von einem der älteren Brüder oder ob sie stellenweise nicht sogar vom Vater begleitet wurden. Besonders sinnbildlich kommt die Rolle der Mutter in der »Musical Anecdote« zum Ausdruck. Darin fährt der Autor, nachdem er die frühesten Ereignisse der Kindheit rekapituliert hat, grammatikalisch in der ersten Person fort und verknüpft an genau dieser Stelle in einer symbolisch anmutenden Szene die körperliche Nähe unmittelbar mit der musikalischen Begabung :
Vgl. Anne Buck, Clothes and the Child. A Handbook of Children’s Dress in England –, Carlton , S. – ; Ingeborg Weber-Kellermann, Die Kindheit. Eine Kulturgeschichte, Frankfurt a. M. u. a. , S. –, – ; Lawrence Stone, The Family, Sex and Marriage in England –, Abridged Edition, London u. a. , S. . Siehe Jonathan Rennert, William Crotch (–), S. .
Ein Naturwunder und die metaphysische Würde der Harmonie |
»I have seen him suck, and play in this manner with one hand, and am told he sometimes uses two, in the same posture, and with the like effect, keeping his eye upon the breast.«¹¹⁸
Für das vermeintliche Naturwunder war darüber hinaus die gesellschaftliche Situation der Familie ein entscheidender Faktor, über den Leserinnen und Leser zu Beginn beider Varianten der Anekdote weitgehend übereinstimmend aufgeklärt wurden. Im Bericht des London Magazine hieß es : »This very extraordinary child who now daily attracts the notice and attention not only of persons of the first distinction, but of all lovers of native genius, is the son of Michael and Isabella Crotch : he was born at Norwich on the th of July, . His father being an ingenious carpenter built an organ for his own amusement ; and it was owing to this incidental circumstance that the musical talents of his little son William were discovered so early […].«¹¹⁹
Im Wissen um den väterlichen Beruf des Tischlers beziehungsweise Zimmermanns (»carpenter« oder »house-carpenter«) konnte man die Familie Crotch sozial in dem als eher ungebildet, aber rechtschaffen und bescheiden geltenden Stand des Handwerks verorten. Das vermochte Mutmaßungen auszuräumen, die man bei dem Sprössling einer Musikerfamilie viel eher angestellt hätte, wie auf schnellen Gewinn ausgerichtete banale Dressurstückchen oder gar eine Täuschung des Publikums. Denn der Musikerberuf hatte im . Jahrhundert im Zuge der sich in England vollziehenden Säkularisierung und Kommerzialisierung des Standes entscheidend an Ansehen verloren, ihm wurde ein entschiedener Mangel an Erziehung und Moral vorgeworfen, was die häufige Diffamierung mit dem pejorativen Ausdruck fiddler (Geiger, aber auch Schwindler) prägnant zum Ausdruck brachte.¹²⁰ Kurzum, einer Musikerfamilie hätte man den Autodidakten ebenso wenig abgenommen, wie den Vorsatz, dass allein die eigene Neigung des Kindes Anlass zu seinem Tastenspiel sein solle, wie man es Isabella Crotch angeblich von Seiten ihrer Freunde empfohlen hatte.¹²¹ Es steckt mehr hinter solchen anekdotischen Informationen als die Entlastung der Eltern von möglichen moralischen Vorwürfen. Wovon die Leserschaft
[Anon.], »Musical Anecdote«, o. S. M., »Account of the Musical Phænomenon«, S. . Siehe Deborah Rohr, The Careers of British Musicians, S. –. Siehe M., »Account of the Musical Phænomenon«, S. .
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hier überzeugt werden sollte, betraf vielmehr den Ursprung der evidenten musikalischen Fähigkeiten des Kindes, der hier anschaulich als eine Art innerer Trieb beschrieben wird. Der zweiten anekdotischen Variante des London Magazine zufolge äußerte sich diese Anlage schon sehr früh etwa in unmittelbaren körperlichen Reaktionen wie Unruhe, Schmerz und Freude sowie im intuitiven Greifen nach den Tasten der Orgel : »One evening in particular, about the beginning of August, , he sat in his mother’s lap while Mrs. Lullman played and sung a considerable time ; after that lady was gone, the child cried and was remarkably fractious ; his mother attributed it to a pin, or some inward pain ; she undressed him and endeavoured to find out the cause, but in vain : however, as she was carrying him to bed, she passed near the organ, and he stretched out his little hands towards it, upon which Mrs. Crotch set him down to the keys, and he instantly struck them seemingly in great extasy ; he played a few minutes, but imagining it to be only the humour of an infant, she paid no regard to his manner of touching the instrument, and he was soon put to bed to all appearance perfectly satisfied.«¹²²
Die Bildsprache des beigefügten Kupferstichs (Abbildung ) unterstreicht die Autonomie eines Kindes, das allein der eigenen Natur überlassen ist : Der Standpunkt des Betrachters befindet sich im Schatten, ihn trennt eine gewisse räumliche Distanz und ein Vorhang von dem Musizierenden, der den Blick des Beobachters nicht erwidert, ins Orgelspiel vertieft ist und sich dabei anscheinend nicht stören lässt. Uneindeutig bleibt, ob der gelüftete Vorhang eine Bühnensituation andeuten oder eher die durch die Anekdote erzählte Situation eines Eindringlings, der gerade die überraschende Entdeckung des Wunders macht, auch visuell erfahrbar machen sollte. Die Idee der Naturbegabung liegt beiden Varianten der Anekdote zugrunde, auch wenn sie jeweils unterschiedliches Gewicht auf die Gaben des Kindes zur Nachahmung von Musik einerseits und Erfindung andererseits legen. In beiden Texten werden zwar dieselben Stücke genannt, die Crotch als Erstes autodidaktisch erlernt hätte, nämlich der Anthem God Save the King und die Arie Let ambition fire thy mind.¹²³ Nur in einer der beiden Fassungen aber, in jener Ebd. Gemeint war bei dem zweiten Stück wohl die im . Jahrhundert durchgehend bekannte und vielfach bearbeitete Melodie des Purcell-Schülers John Weldon zu einer Arie der Juno in der Masque The Judgement of Paris. Die Vertonung des Librettos von William Congreve
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des London Magazine, wird aufgedeckt, dass Crotch die Stücke einst durch das Orgelspiel und den Gesang von Mrs. Lullman, beziehungsweise durch das Üben des Vaters kennenlernte : »The next morning after breakfast, while Mrs. Crotch was gone to market, his father, willing to indulge his own curiosity, put the child to the organ, and was astonished to hear him play great part of the tunes of God save the King, and Let ambition fire thy mind. The first Mr. Crotch had attempted several times in the child’s hearing, but was not perfect in it. The last, Mrs. Lullman had performed in his presence.«¹²⁴
In der »Musical Anecdote« wiederum wird von der Eigenart des Kindes berichtet, nahtlos aus einem Stück in ein anderes zu wechseln oder sogar vollkommen frei zu improvisieren : »Sometimes he runs out of one tune into another, but is always in harmony, and plays music. The first time I heard him he played Let Ambition fire thy Mind ! After he had played it over several times, his father endeavoured to entice him off, by singing another ; he played a few notes, as if to please his father, but still returned to his favourite. Sometimes he plays wild, or rather, as it were, composes extempore. It cannot be referred to any known music, yet it is ravishing harmony.«¹²⁵
Doch auch im Bericht des London Magazine werden unterhalb des eigentlich anekdotischen Abschnittes spontane Eigenkompositionen erwähnt, die Crotch ganz nach den harmonischen Regeln der Musik (»in harmony«) zu spielen vermöge und die offensichtlich bereits in Norwich Bestandteil der Auftritte im Haus der Familie gewesen waren :
wurde im Jahr zu einem Wettbewerb ausgeschrieben, daher existieren neben der Version des Gewinners Weldon auch noch diejenigen der anderen Finalisten John Eccles, Daniel Purcell und Gottfried Finger. Vgl. John Weldon, The Judgement of Paris, Partitur, hg. von David W. Music, Madison (= Recent researches in the music of the Baroque era ), S. xi–xii. Charles Burney meinte, die Melodie sei viel eher durch »Hope thou Nurse of young Desire« aus der Oper Love in a Village (Thomas Arne, UA ) bekannt, was die geäußerte Annahme bestätigt, da es sich dabei eben um eine Adaption der Melodie von Weldon handelte. Siehe Charles Burney, »Account of an Infant Musician«, in : Philosophical Transactions (), S. . M., »Account of the Musical Phænomenon«, S. . [Anon.], »Musical Anecdote«, o. S.
| Master Crotch, ein musikalisches Phænomenon »[…] he played almost every day, acquired more tunes ; and in the midst of performing them would strike out little airs of his own in harmony ; for it is remarkable, that he never plays discord, neither will he bear it in others without expressing disgust.«¹²⁶
Um diesen Aspekt, der nicht nur in den beiden Anekdoten, sondern etwa auch in Berichten über die Auftritte immer wieder erwähnt und betont wurde, einordnen zu können, ist es notwendig, den thematischen Bogen etwas weiter zu spannen. Denn es lässt sich heute leicht übersehen, welcher Überbau bei der Rede von musikalischer Harmonie an solchen Stellen unweigerlich mit evoziert wurde und dass die William Crotch damals nachgesagte Begabung regelrecht ins Metaphysische ausstrahlte, mit anderen Worten : wie die ihm eigene Natur in den Augen der Öffentlichkeit mit einer idealen Natur, einer übergeordneten natura naturans, zu verschwimmen begann. Nicht nur der Schriftsteller John Gilbert Cooper sinnierte im . Jahrhundert über die ewige Ordnung der Welt, »this fair Creation, where, impell’d By that great Author, every atom tends To Universal Harmony«¹²⁷ und zog in der Hymne, der diese Zeile entnommen ist, gängige Topoi wie die Sphärenharmonie, die Schöpfung als Harmonisierung des Chaos, die Linderung von Kummer und Leid beziehungsweise Besänftigung der aufgewühlten Seele durch Harmonie und ihre heilende Wirkung auf den Körper heran. Harmonie war also Bestandteil eines noch immer aktuellen Weltbildes und nicht allein ein musiktheoretischer Terminus technicus. Dies bedeutete im Umkehrschluss, dass auch die Regeln der Zusammenstellung von Tönen, an die sich der Musiker in Komposition und Vortrag zu halten hatte, gemeinhin nicht als arbiträr angesehen wurden, als Geschmacksfrage also, sondern als durch natürliche Ordnung bestimmt. Musikalische Harmonie war damit etwas Universales. Diese Idee, dass sich in den Zahlenverhältnissen akustischer Intervalle die Harmonie des Kosmos ausdrücke, reicht historisch weit zurück. Sie fand sich bereits bei der Sekte der Pythagoräer des . bis . vorchristlichen Jahrhunderts und wurde über griechische Antike und christliches Mittelalter bis in die
M., »Account of the Musical Phænomenon«, S. . John Gilbert Cooper, The Power of Harmony : A Poem. In Two Books, London , S. . Zu weiteren Beispielen solcher Hymnen siehe Jonas Traudes, »Delights of Harmony ? Das Scheitern der ›feinen Gesellschaft‹ am Anspruch musikalischer Geselligkeit«, in : Melanie Unseld (Hg.), Delights of Harmony. James Gillray als Karikaturist der englischen Musikkultur um , Wien u. a. , S. –.
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Neuzeit tradiert.¹²⁸ Nun erst trat die Harmonie aus dem rein spekulativen Feld der Musica (im akademischen System der Sieben Freien Künste eine unter vier mathematischen Wissenschaften) auch in den Bereich der Praxis, das heißt, dass aus der uralten Vorstellung einer harmonisch geordneten Natur jetzt auch konkrete Kompositionsregeln abgeleitet oder zumindest mit ihr gerechtfertigt wurden.¹²⁹ Besonders einflussreich für das . Jahrhundert war in dieser Hinsicht Jean-Philippe Rameau und sein Traité de l’harmonie reduite à ses principes naturels (), mit dem der französische Musiktheoretiker die mystische Zahlensymbolik pythagoreischer Prägung zugunsten des mathematischen Rationalismus und Empirismus seiner Zeit aufgab, indem er die Zusammensetzung von Dreiklang und Tonarten sowie letztlich auch die dem angewandten Generalbass zugrundeliegenden Prinzipien (basse fondamentale) aus dem physikalischen Phänomen der Obertonreihe (corps sonore) ableitete.¹³⁰ Rameaus Erklärungen bieten keinerlei Anzeichen dafür, dass man nun den metaphysischen Überbau der Idee in Zeiten der Aufklärung aufgegeben hätte. Ganz im Gegenteil konnte man darin erneut die Annahme einer den Dingen von Natur aus innewohnenden Rationalität bestätigt sehen. Die musikalische Harmonie als Sinnbild göttlicher Ordnung schien selbst dem Gegenwind standzuhalten, der ihr aus den Reihen der französischen Enzyklopädisten, allen voran vom Genfer Schriftsteller Jean-Jacques Rousseau, entgegenwehte.¹³¹ Und auch die damalige Eingliederung der Musik in die Schönen Künste und damit das Hervorheben ihrer Verwandtschaft zu Literatur, Theater und bildender Kunst vermochte den Gedanken nicht auszutreiben. In England war folglich nach wie vor die Rede von Musik als einer Wissenschaft (science) gängig.
Vgl. einführend etwa Joscelyn Godwin, Musik und Spiritualität. Quellen der Inspiration in der Musik von der Frühzeit bis in die Moderne, aus dem Englischen übers. von Jürgen Saupe, Bern u. a. ; ders. (Hg.), The Harmony of the Spheres. A Sourcebook of the Pythagorean Tradition in Music, Rochester (Vermont) ; Jamie James, The Music of the Spheres. Music, Science and the Natural Order of the Universe, London ; Hans Schavernoch, Die Harmonie der Sphären. Die Geschichte der Idee des Welteneinklangs und der Seeleneinstimmung, Freiburg u. a. (= Orbis Academicus, Sonderband ). Eine Schlüsselfigur war hierbei Gioseffo Zarlino mit seiner Abhandlung Le istitutioni harmoniche (). Siehe etwa Robert W. Wason, »›Musica practica‹ : music theory as pedagogy«, in : Thomas Christensen (Hg.), The Cambridge History of Western Music Theory, . Aufl., Cambridge (The Cambridge History of Music), S. –. Vgl. Thomas Christensen, Rameau and Musical Thought in the Enlightenment, Cambridge (= Cambridge Studies in Music Theory and Analysis ), insbes. S. –. Siehe zu Rousseau Kapitel ., S. –, sowie Kapitel ., S. –.
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Das beste Indiz für die Verbindung mit diesem geistigen Erbe liefert das Instrument, welches mit Crotch in erster Linie verbunden wurde, obwohl er auch das Spiel auf anderen Instrumenten beherrschte und öffentlich praktizierte – diversen Quellen zufolge wenigstens auf dem Cembalo, dem Pianoforte, verschieden großen Violinen, Flöteninstrumenten wie dem Flageolett sowie dem Sticcado pastorale, einer Art Glasxylophon.¹³² Dazu trugen die anekdotischen und visuellen Repräsentationen des Kindes ihren entscheidenden Anteil bei. Die Orgel wurde nicht nur allgemein mit Ehrwürdigkeit und Sakralität assoziiert, sondern war – neben dem Uhrwerk – eine der verbreitetsten Allegorien des harmonischen Weltbildes in der frühen Neuzeit, welches die Natur damit bildhaft als Maschine und ihren Erschaffer als genialen Konstrukteur imaginierte. Unter den seit dem . Jahrhundert immer wieder getroffenen Vergleichen zwischen dem Instrument und der Harmonie des Kosmos stellte Athanasius Kirchers Musurgia Universalis () dabei nur das bekannteste Beispiel dar.¹³³ Kosmische Metaphorik schlug sich denn auch im barocken Orgelbau nieder. So lassen sich Himmelskörper – teilweise kreisend oder klingend (Zimbelsterne) – in der Ausstattung des sogenannten Prospekts, der Schauseite vieler Instrumente der Zeit, ausmachen.¹³⁴ In Großbritannien stand die Orgel überdies in besonders engem Zusammenhang zu Staatskirche und Krone. Die Rehabilitierung des Instruments im Zuge der Restauration nach dem puritanischen Bildersturm Mitte des . Jahrhunderts (bei dem viele Instrumente systematisch zerstört worden waren) ging vor allem von diesem Machtzentrum aus, das die Orgel fortan im Bereich der Kirchenmusik intensiv zur glorifizierenden Eigenrepräsentation nutzte.¹³⁵ Die himmlische Harmonie des Master Crotch (»heav’n-taught harmony of Master Crotch«¹³⁶) wurde bald zum feststehenden Topos, wie ein im schottischen Kelso herausgegebener Gedichtband belegt, der mit einem seiner poetischen Werke satirisch auf die Edinburgher Unterhaltungskultur im Winter Bezug nahm. Ein Lobgedicht unter dem Titel »On the musical child. Neben den bisher zitierten Quellen, siehe Daines Barrington, Miscellanies, London , S. . Vgl. Hans Davidsson, »The Organ in Seventeenth-Century Cosmology«, in : Kerala J. Snyder (Hg.), The Organ as a Mirror of Its Time. North European Reflections, -, New York , S. –. Siehe Friedrich Jakob, Die Orgel und die Gestirne, Männedorf (Neujahrsblätter der Orgelbau Th. Kuhn AG). Vgl. Nicholas Temperley, The Music of the English Parish Church, Bd. ., Cambridge u. a. (Cambridge Studies in Music), S. –, –. [John Marjoribanks], Trifles in Verse. By a Young Soldier, Bd. , Kelso , S. .
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multum in parvo«, das im Januar in einer wissenschaftlichen Unterhaltungszeitschrift erschien, führte die Idee weiter aus : »A mother long’d for, nor in vain, / Some new birth to reward her pain ; / Something uncommon to be shown, / Which her fond heart might call its own. / Her pray’r of longing reach’d the skies, / And gracious Heav’n with it complies. / A cherub, flesh and bone in make, / On earth its residence did take. / Was crotch first by the parson nam’d / Then the child musical proclaim’d. / Who taught this child (child but in stature) / Stanley ? Giardini ? No, no ! – natur e. / Touch’d, glowing with seraphic fire, / His fingers sweep the living lyre. / Fixt like a statue, Admiration / O’erlooks this wonder of creation. / Sev’n wonders long mankind admir’d, Behold ! a child (but he inspir’d) / Tho’ born on earth, begot in Heav’n, / A greater wonder than the seven. / Ere such again shall earth adorn, / Earth shall behold her last child born.«¹³⁷
Anstelle menschlicher Einwirkung – John Stanley und Felice Giardini zählten mit Sicherheit zu den gesuchtesten musikalischen Mentoren in London – wird allein die Natur für das Können des Kindes verantwortlich gemacht. Poetisch dargestellt als Engelsfigur (»cherub«), als transzendentes Wesen also, das zwischen Himmel und Erde vermittelt, stand es für eine sinnliche Offenbarung des Metaphysischen ein. Das Gedicht beginnt mit der, auch hier durchaus symbolisch aufgeladenen, Figur der Mutter und schließt mit der Stilisierung als Naturwunder (»wonder of creation«). Vor diesem Hintergrund erhielt der immer wieder auftauchende Vergleich von William Crotch mit Apollo, der auch dem englischen König George III. in den Mund gelegt wurde, oder anderen antiken Sagenfiguren der Musik erst seine tiefere Bedeutung. In einem Lobgedicht, das im Juli in Reading nach einem der dortigen Auftritte des Kindes verfasst wurde, mussten beispielsweise Orpheus und Amphion herhalten : »m-ake haste, ye Gods, come forth and hear, / A young Orpheus is risen here ; / S-ent down on earth with his sole view ; / T-o take command : for he p[u’]er knew / E-’en what the art of teaching was, / Receiving his from Nature’s laws. C-ould we believe what ancients say, / R-especting Amph’ons charming lay ; / O-r that Orpheus with his lute, / T-am’d savage beasts : e’en ev’ry brute : / C-ertainly then without a blotch, / H-eap’d up they are in Master Crotch.«¹³⁸ Dr. S., »On the musical child. multum in parvo«, in : Lady’s and Gentleman’s Scientifical Repository /Nr. (Januar ), S. –. H. J., »On Hearing the Performance of Master Crotch«, in : The Reading Mercury and Oxford
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Der Bezug zum Jenseits ist auch von dem Künstler John Sanders auf einem der Porträts, die er von Crotch herstellte, festgehalten worden (Abbildung ). Hier deuten nicht nur Wolken und Sonnenstrahlen eine sichtlich erhabene Sphäre an, sondern das musizierende Kind ist zusätzlich von weiteren Elemente umgeben, die dahingehend eine eindeutige Sprache sprechen : Hinter der Musenfigur im Zentrum drängt Pegasus heran, am Boden finden sich als Attribute des Hermes oder Apolls die Lyra, der Lorbeer und der Caduceus. Griechischen Säulen nachempfundene kannelierte Stuhlbeine und das weiße Musselinkleid des musizierenden Kindes unterstreichen die antikisierte Szene.¹³⁹ Dessen Blick streift dabei eine Schriftrolle in der Hand der weiblichen Gestalt, die mit der anderen den zugehörigen Federkiel führt. Niedergeschrieben ist eine Partitur Händels. Die Beziehung zwischen Crotch und dem Komponisten ist durch die Zuwendung dieser Figur als Vermittlerin überdeutlich. Die Zeile aus Joseph Wartons Ode to Fancy (), die als Bildunterschrift dient, hebt das Motiv der musischen Inspiration noch einmal hervor. Vergleiche mit Händel, der in England als das Musterbild des musikalischen Naturgenies galt und nach seinem Tod hier in beispielloser Weise verehrt wurde, sind mehrfach zu finden.¹⁴⁰ Sie bedienten, ähnlich wie die himmlische Harmonie, ein Klischee, das humoristische Dichter bereitwillig aufgriffen : »The Genius of Handel is driven from hence, / And no more shall his powers enrapture the sense, / While the great Dr. Crotch, in his stiff formal wig, / Rais’d high ’bove the rest[,] look’d so pompous and big.«¹⁴¹
Diese Zeilen entstammen einer Serie satirischer Berichte aus Cambridge, die in Form gereimter Briefe von und an die fiktive Figur des »Timmy StraightGazette vom . Juli (Nr. ), o. S. Als »infant Apollo« wurde Crotch etwa auch im Zusammenhang seiner Beteiligung an einem Gottesdienst in Bath bezeichnet. Siehe [Anon.], »Extract of a letter from Bath, Dec. «, in : The Morning Chronicle, and London Advertiser vom . Dezember (Nr. ), o. S. Vgl. zu dem Druck auch Janet Snowman, »The left and right hands of the eighteenth-century British musical prodigies«, S. –. Schon Leopold Mozart forderte daher mit einer entsprechenden Inszenierung seines Sohnes in London einen Vergleich mit Händel heraus. Siehe Rachel E. Cowgill, Mozart’s Music in London, – : Aspects of Reception and Canonicity, Diss., London , S. – ; dies., »›Proofs of Genius‹ : Wolfgang Amadeus Mozart and the construction of musical prodigies in early Georgian London«, in : Gary E. McPherson (Hg.), Musical Prodigies. Interpretations from Psychology, Education, Musicology, and Ethnomusicology, Oxford u. a. , S. –. [Anon.], An Address to Timmy Straightforward. By a Friend, London , S. –.
Ein Naturwunder und die metaphysische Würde der Harmonie | Abb. 6 : John Sanders, Willm. Crotch, Aquatinta handkoloriert, [Norwich ?] : o. V. 1782.
forward« in einer mehrbändigen Reihe um erschienenen sind. An dieser Stelle wurde anscheinend auf ein Wohltätigkeitskonzert in Cambridge in eben diesem Jahr Bezug genommen, bei dem Crotch mitgewirkt hatte.¹⁴² Dabei wird von dem Kind ein Zerrbild gezeichnet, bei dem die Augmentation die ironische Pointe herstellt. Denn der Autor stattete es kurzerhand mit Doktortitel und steifer Perücke aus und meinte, dass es – erfüllt vom Geiste Händels – für Publikum und anwesende Musiker eine geradewegs pompöse (beziehungsweise aufgeblasene) Erscheinung abgegeben hätte.¹⁴³ Hinter vermeintlicher Erha Siehe ebd., S. . Barrington berichtete, dass John Randall ihm diesen Titel auf Wunsch des Kindes (also wohl eher scherzhaft) verliehen hätte. Siehe Daines Barrington, Miscellanies, S. . Auch Lichtenberg hatte erfahren, dass Crotch angeblich »jetzt zum Doctor Musices creirt worden« wäre. Siehe [Georg Christoph Lichtenberg], »William Crotch, das musikalische Wunderkind«, S. . Im The Leeds Intelligencer vom . Oktober (Nr. ), o. S. nahm man den Titel für bare Münze. Der in [Anon.], History and Antiquities of the County of Norfolk. Volume X, S. wiedergegebene Bericht sprach dagegen vom »degree of batchelor of arts«, der mit einem kleinen Stipendium verbunden gewesen sei. Tatsächlich promovierte Crotch übrigens . Siehe Jonathan Rennert, William Crotch (–), S. .
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benheit steckt hier bloß eine Anhäufung verstaubter Accessoires und affizierter Gesten. Ganz ohne Ironie vermeinte ein anderer Dichter bei Crotch, wie er ihm vor einem Porträt William Beecheys, das in der Royal Academy ausgestellt wurde, im Angesicht gegenüberstand, »nor Handel’s fire, nor Purcell’s glowing strain«¹⁴⁴ vermissen zu müssen. Und über den ebenfalls längst verstorbenen Giovanni Battista Pergolesi erfuhr man anlässlich eines Musikfestivals in Winchester (man hätte es ebenso gut über Händel behaupten können) : »He was in his day as extraordinary an instance of early musical genius, as Master William Crotch is in our time, and like him also is said to have possessed in other matters a quickness of apprehension and a taste far beyond his years.«¹⁴⁵
Solche Andeutungen gehen über die Parallelen in Sachen musikalischer Begabung, eine Betonung, wie reich also Crotch von der Natur beschenkt worden sei, hinaus. Immerhin waren alle drei Komponisten, Purcell, Pergolesi und Händel, seit geraumer Zeit nicht mehr am Leben, galten nunmehr als Meister einer glänzenden, aber vergangenen Epoche der Musik (dem Zeitalter der Kontrapunktik und des regelbasierten Generalbasses). Interessant für den vorliegenden Zusammenhang ist dabei, dass von einflussreichen Akteuren Ende des . Jahrhunderts gerade dieser Epoche – anstatt sie als nicht mehr zeitgemäß zu verabschieden – vehement ein erhöhter, wenn nicht der alleinige Anspruch auf wahre Harmonie zugeschrieben wurde. Folglich wurden damals auch diverse Anstrengungen unternommen, um diese Musik wiederzubeleben. Zeitgenössisch verwendete man den Begriff der ancient music. Das damit bezeichnete musikalische Korpus fand zunächst in der auf Initiative von John Montagu, Earl of Sandwich, hin aus dem Umkreis des Londoner Hochadels gegründeten Gesellschaft der Concerts of Antient Music eine noble Fürsprecherin. Mit den pompösen Festlichkeiten der »Handel Commemoration« von erhielt die Bewegung dann ein Ritual von geradezu nationaler Tragweite, ein Ereignis, von dem an sich nun selbst George III. als ihr Schutzpatron klar positionierte. Der Historiker William Weber, der diese Entwick [Anon], »On seeing the Picture of Master crotch, At Mr Beechey’s, an eminent Painter, in Norwich«, in : Bury and Norwich Post : Or, Suffolk, Norfolk, and Essex Advertiser vom . August (Nr. ), o. S. In dem Porträt sind, im dunklen Hintergrund fast verborgen, ebenfalls die obligatorischen Orgelpfeifen zu erkennen. Vgl. zu dem Gemälde Janet Snowman, »The left and right hands of the eighteenth-century British musical prodigies«, S. –. The Reading Mercury and Oxford Gazette vom . Oktober (Nr. ), o. S.
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lung in dem Buch The Rise of Musical Classics in Eighteenth-Century England () rekonstruiert, zeigt auf, wie der ancient music nachhaltig eine neuartige gesellschaftliche Autorität und politische Bedeutung verliehen wurde.¹⁴⁶ Die von der Gesellschaft der Concerts of Antient Music organisierte Konzertreihe hatte sich zum Ziel gesetzt, Musik aufzuführen, die älter war als zwanzig Jahre und verwandelte somit ein heterogenes Repertoire – das bis dahin nur isoliert und verstreut an den Kathedralen und der Chapel Royal, durch die in ihrem Anspruch auf Gelehrsamkeit verhältnismäßig abgeschottete Academy of Ancient Music, an Theatern, durch lokale Musikgesellschaften und in jährlichen Oratorienfestivals gepflegt wurde – in einen normativen Kanon des öffentlichen Konzertlebens.¹⁴⁷ Dabei waren die exklusiven Antient Concerts (deren ausschließlich männlich besetztes Direktorium sich vor allem aus politisch einflussreichen Musikmäzenen aus dem Londoner Hochadel zusammensetzte und auf deren Subskriptionsliste man nur durch die Zustimmung einer dieser Personen kam) für das aristokratische Establishment auch ein Mittel, um sich öffentlich in der Rolle der moralischen Instanz eines von den diversen innenpolitischen Krisen der vorangegangenen Jahrzehnte destabilisierten Königreiches zu präsentieren.¹⁴⁸ Eine wichtige Stimme der Bewegung war John Hawkins, Jurist, Autor der renommierten Musikgeschichte A General History of the Science and Practice of Music () und selbstverständlich Mitglied der Academy of Ancient Music. Im Vorwort seiner historischen Abhandlung bekannte sich Hawkins zu seiner Überzeugung, dass Musik als Wissenschaft zu verstehen sei und somit nicht allein zur fröhlichen Unterhaltung diene. Als sein oberstes Ziel proklamierte er daher,
Siehe William Weber, The Rise of Musical Classics in Eighteenth-Century England. A Study in Canon, Ritual, and Ideology, Oxford , S. –, –. Siehe ebd., S. –. Unter den aufgeführten Kompositionen fanden sich vor allem Händel’sche Vokalmusik, daneben Konzerte und Ouvertüren italienischer Komponisten wie Arcangelo Corelli, Francesco Geminiani und Giuseppe Sammartini, Arien der opera seria von Giovanni Battista Pergolesi, Leonardo Vinci oder Johann Adolph Hasse, Songs aus den Opern von Henry Purcell, Instrumentalmusik, geistliche Werke und Glees anderer englischer Komponisten wie James Kent, John Travers, Charles Avison oder William Boyce, Kirchenmusik, schließlich Madrigale aus dem . und frühen . Jahrhundert. Siehe ebd. Zugleich beeinflusste etwa die Wiederbelebung des kontrapunktischen Stils in den er Jahren, den man als learned style oder scientific style bezeichnete, auch zeitgenössische Kompositionen. Siehe Simon McVeigh, Concert life in London from Mozart to Haydn, S. –. Siehe William Weber, The Rise of Musical Classics in Eighteenth-Century England, S. –.
| Master Crotch, ein musikalisches Phænomenon »to demonstrate that its principles are founded in certain general and universal laws, into which all that we discover in the material world, of harmony, symmetry, proportion and order, seems to be resolvable.«¹⁴⁹
Mit dieser Auffassung war Hawkins repräsentativ für die Academy of Ancient Music und wohl auch für einen Großteil weniger gelehrter Verfechter der alten Musik. Der Rekurs auf das Prinzip universaler Harmonie (unter zahlreichen Verweisen auf philosophische Autoritäten von der griechischen Antike bis Newton) ist zumindest bei einer ganzen Reihe an Autoren aus dem Umkreis der Gesellschaft nachweisbar.¹⁵⁰ Die normative Musikästhetik, die sie vertraten, war in der Regel mit einer ablehnenden Haltung gegenüber der Gegenwart verbunden, die ihrer Ansicht nach nur blind der Mode der Zeit hinterherrannte. Auch Hawkins beteiligte sich an dieser Kulturkritik und warf der modernen Musik die Vernachlässigung der universalen harmonischen Prinzipien vor : »Of the instrumental music of the present day, notwithstanding the learning and abilities of many composers, the characteristics of it are noise without harmony, exemplified in the frittering of passages into notes, requiring such an instantaneous utterance, that thirty-two of them are frequently heard in the time which it would take moderately to count four ; and of this cast are the Symphonies, Periodical Overtures, Quartettos, Quintettos, and the rest of the trash daily obtruded on the world.«¹⁵¹
Das Für und Wider des Virtuosentums, wie es in Konzertsälen und Opernhäusern Einzug hielt, und seiner Merkmale wie Passagenwerk, Ausreizung der Register, eindrucksvolle Kadenzen und Koloraturen, war in England zu jener Zeit ein gängiges und selten ohne moralisierenden Unterton diskutiertes Thema.¹⁵² Mit besonderem Nachdruck wurde die moralische Erhabenheit der alten gegenüber der neuen Musik dabei auch von Klerikern propagiert.¹⁵³ Ein typisches Beispiel stellt das anonyme Pamphlet Euterpe ; or, Remarks on the Use and Abuse of Music, As a Part of Modern Education dar. Dessen Autor, möglicher John Hawkins, A General History of the Science and Practice of Music, Bd. , London , o. S. (Preface) Siehe Tim Eggington, The Advancement of Music in Enlightenment England. Benjamin Cooke and the Academy of Ancient Music, Woodbridge (Music in Britain, –), S. – . John Hawkins, A General History of the Science and Practice of Music, Bd. , S. lxxx. Vgl. Simon McVeigh, Concert life in London from Mozart to Haydn, S. –. Vgl. William Weber, The Rise of Musical Classics in Eighteenth-Century England, S. –.
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weise ein Geistlicher aus Bath,¹⁵⁴ war sich über das wahre Wesen der Musik als einer auf zeitlosen Gesetzen basierenden Wissenschaft mit Hawkins einig : »Music is a science established on the most sublime parts of mathematical truth ; its theory founded on the doctrine of Proportion ; on the most wonderful, though the most simple and few Principles«¹⁵⁵.
Harmonie als Ausdruck göttlicher Weisheit wurde in dieser kurzen Streitschrift gegen die Auswüchse des modernen Musikgeschmacks ins Felde geführt, wobei das Angriffsziel vor allem die italienische Oper und virtuose Instrumentalmusik darstellten, welche dem Autor zufolge aufgrund ihrer Künstlichkeit und Oberflächlichkeit verderblich für die Musikerziehung junger Damen der besseren Gesellschaft seien. Für deren dilettantische Musikpraxis sah jener vielmehr Airs von Komponisten wie Georg Friedrich Händel, Henry Purcell, William (?) Jackson, William Boyce und Thomas Arne als geeignet an.¹⁵⁶ Die gleiche Empfehlung, Abstand von moderner Virtuosenmusik zu nehmen, wird hier für den Gentleman gegeben, der sich anstelle dessen besser einem gründlichen Studium des Generalbasses widmen solle.¹⁵⁷ Der anglikanische Pastor William Jones nahm ebenfalls eine in zwei unvereinbare Lager gespaltene Musikkultur wahr : »We are now divided into parties for the old and new Music […]«¹⁵⁸. Auf welche Seite er sich selbst schlug, wird bereits dadurch unmissverständlich, dass er sein Lehrwerk über die musiktheoretischen Grundlagen, das sich besonders an Dilettanten beziehungsweise Musikliebhaber richtete, den Direktoren der Concerts of Antient Music widmete. Als klassische Vorbilder, die es besonders verstanden hätten, die in der Natur begründeten harmonischen Regeln (»Sacred Harmony«¹⁵⁹) in Musik umzusetzen, galten ihm vor allem Corelli, Purcell, Geminiani und Händel. Für zeitgenössische Musiker hatte er dagegen nicht viel übrig : Siehe Jamie C. Kassler, The Science of Music in Britain, –. A Catalogue of Writings, Lectures and Inventions, Bd. , New York u. a. (Garland Reference Library of the Humanities ), S. –. [Anon.], Euterpe ; or, Remarks on the Use and Abuse of Music, As a Part of Modern Education, London [ ?], S. . Siehe ebd., S. . Siehe ebd., S. . William Jones, A Treatise on the Art of Music ; in which The Elements of Harmony and Air are practically considered […], Colchester , S. iii. Ebd., S. ii.
| Master Crotch, ein musikalisches Phænomenon »Modern Composers have introduced many improvements into melody, and some into Harmony ; but by no means such as will compensate for their corruptions. Novelty and custom, two overbearing Tyrants, have given a Sanction to degenerate Harmony, wildness of Air, effeminacy, tautology and affected difficulties, inconsistent with the powers and beauties of Expression. […] If I may venture without offence to declare my own private Sentiment, I think the Golden Age of Music is past.«¹⁶⁰
Bezeichnenderweise fügte Jones, bezogen auf den modernen Stil, an, »that if you try its effect upon an Organ, you discover its emptiness and insignificance.«¹⁶¹ Für Harmonie war das Instrument das Maß der Dinge. Den frühen Lebensweg von William Crotch haben wichtige Vertreter der Institutionen der ancient music und vermutlich viele weitere Personen, die mit der Bewegung und ihrer Ideologie sympathisierten, mehrfach gekreuzt. Der berühmte Geiger Wilhelm Cramer etwa, der mit Crotch gemeinsam bei Hofe und in dessen Benefizkonzert aufgetreten ist, wirkte auch als Konzertmeister der Antient Concerts. In Cambridge traf die Familie erstmals auf Joah Bates, den ersten Dirigenten der Konzertreihe und in Carlisle auf Thomas Greatorex, dessen Nachfolger.¹⁶² Über deren Einflussnahme lässt sich weitgehend nur spekulieren. Die Memoiren Alexander Goucher Schombergs enthalten Hinweise darauf, dass man unter den Direktoren der Antient Concerts um das Jahr eine Förderung Crotchs diskutierte und dass der englische Hofkapellmeister John Stanley den Wunsch geäußert habe, dass der junge Musiker bei einer nächsten Gedächtnisfeier zu Ehren Händels den Posten des Dirigenten einnehmen solle.¹⁶³ Auch bei John Randall, dessen Assistent Crotch wurde, handelte es sich – typisch für das kirchlich-akademische Umfeld in Cambridge – um einen Händel-Anhänger. Das frühere Repertoire Crotchs ist in diesem Zusammenhang aufschlussreich, da es zwar nicht ausschließlich, doch vorwiegend die konservative Einstellung der ancient music zu bedienen schien. So fielen nicht nur die in den anekdotischen Texten erwähnten älteren englischen Klassiker wie God Save the King und Let ambition fire thy mind, sondern auch die an anderen Stellen erwähnten Stücke seines Repertoires, darunter Kirchenmusik wie der methodistische Osterhymnus Christ the Lord is Risen
Ebd., S. iv. Ebd. Siehe William Crotch, Memoirs of William Crotch, S. , . Zitiert nach ebd., S. –. Über den Versuch einer Vereinnahmung des ›Wunderkindes‹ Samuel Wesley durch die Bewegung berichtete Daines Barrington, Miscellanies, S. .
Ein Naturwunder und die metaphysische Würde der Harmonie | Abb. 7 : John Sanders, William Crotch of Norwich, Radierung, Norwich : [Selbstverlag ?] 1778.
Today von Charles Wesley senior¹⁶⁴ oder die später genannten Händel’schen Orgelkonzerte allesamt mehr oder weniger unter diesen Sammelbegriff. Zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung ergänzten sich Crotchs vermeintlich unmittelbarer Zugang zur Harmonie als Naturgenie mit der Präferenz älterer Musik auf ideale Weise, auch wenn sich sein Repertoire später tatsächlich auch auf zeitgenössische Komponisten und Stile erweiterte. Das Kind lieferte der ancient music damit ein gutes Argument ihrer metaphysischen Begründung. Es gab also durchaus einen Zusammenhang zwischen ihrem Revival und dem öffentlichen Interesse an dem musikalischen Phänomen des Master Crotch. Zur Personifikation einer aus der Natur gehobenen Renaissance ließ sich keine bessere Figur finden als eben ein Kind. Ein weiteres Porträt William Crotchs von John Sanders aus dem Jahr , das auch als Druck vervielfältigt wurde, kann so verstanden werden, dass es genau dies zum Ausdruck bringen wollte (Abbildung ).¹⁶⁵ Siehe Charles Burney, »Account of an Infant Musician«, S. . Grundlage war auch hier ein Ölgemälde von Sanders von , das in der Royal Academy of Arts ausgestellt wurde. Siehe The Morning Chronicle, and London Advertiser vom
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Sanders Porträts, ebenso wie das erwähnte von William Beechey, sind im generellen Kontext der englischen Porträt- und Genremalerei im Umfeld der gegründeten Royal Academy of Arts zu betrachten. Mit ihrem besonderen Interesse am Motiv des Kindes als solchem, dem Fokus auf Kindlichkeit als Ideal von Unschuld und Natürlichkeit (erzielt werden sollte vor allem eine anrührende Wirkung) unterschied sich deren Darstellungsweise von traditionellen Familienporträts oder der christlichen Ikonenmalerei.¹⁶⁶ Die Royal Academy bildete in dieser Hinsicht eine gewisse Avantgarde aus, der kunsthistorische Trend aber war gesamteuropäisch und Teil des neuen, weiter greifenden Kindheitskults.¹⁶⁷ Bei Sanders erschien das ideale Kindliche (davon verlieren die farblosen Drucke gegenüber dem Gemalten ein Stück weit) visuell als Anmut, als natürliche Schönheit, und entsprach dabei auch Beschreibungen, wie sie das London Magazine (»he is a lively, active child, has a pleasing countenance, rather handsome, having fine blue eyes and flaxen hair«) oder der Leeds Intelligencer (»a very pretty boy, with a sweetness of disposition superior to most of his fellow creatures«) von dem Kind etwas später gaben. Anstatt einer Landschaft oder eines Parks, die als typische Umgebung vielleicht zu erwarten gewesen wären, gibt das gotische Fenster im Hintergrund – das die Verbindung zur Außenwelt symbolisch herstellt – einen deutlichen Hinweis auf den Raum einer altehrwürdigen Tradition, in dem sich jene Neugeburt im Geiste der Natur vollziehen sollte.
. Mai (Nr. ), o. S. Vgl. zu dem Druck auch Stephen A. Bergquist, »Ten Musical Portraits«, in : Music in Art /Nr. – (), S. –. Er wurde zunächst exklusiv durch Michael Crotch sowie Benjamin Jagger in Norwich, später auch im Buchgeschäft von Booth and Son in Norwich und bei Mr. Richardson’s Print Warehouse in London verkauft. Siehe The Norfolk Chronicle : or, the Norwich Gazette vom . Dezember (Nr. ), o. S.; [Anon.], A Catalogue of Books […] By BOOTH and SON, [Norwich] : o. V. [], S. ; [Anon.], Richardson’s Catalogue, London : o. V. , S. . Siehe Martin Postle, »›The Age of Innocence‹. Child Portraiture in Georgian Art and Society«, in : o. Hg., Pictures of Innocence. Portraits of Children from Hogarth to Lawrence, An Exhibition at the Holborne Museum of Art, Bath, March to June and Abbot Hall Art Gallery, Kendal, July to October , Bath u. a. , S. – ; James C. Steward, The New Child. British Art and the Origins of Modern Childhood, –, Berkeley , S. –. Vgl. einführend etwa Dorothy Johnson, »Engaging Identity. Portraits of Children in Late Eighteenth-Century European Art«, in : Anja Müller (Hg.), Fashioning Childhood in the Eighteenth Century. Age and Identity, Aldershot u. a. (Ashgate Studies in Childhood, to the Present), S. –.
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. die zeugenschaft der royal society Einen entscheidenden Anteil an der Glaubwürdigkeit angeblicher Fähigkeiten und damit am gesellschaftlichen Ruf William Crotchs machte aus, dass er die Aufmerksamkeit von Gelehrten erhielt, an Universitäten vorgeführt wurde und schon zu Beginn seiner Karriere das Interesse der Royal Society of London auf sich gezogen hatte. Eine besondere Rolle kam in diesem Zusammenhang Charles Burney zu, dem hoch geschätzten Musikschriftsteller und ehrenwerten Mitglied der traditionsreichen Londoner Wissenschaftsgesellschaft. Auf dessen Report für das Organ der Royal Society, die Philosophical Transactions, wies man das Publikum in Werbemedien wie Zeitungsanzeigen oder Handzettel für die Auftritte des Kindes immer wieder gerne hin. Burneys Name (und mit diesem eine Fußnote zu dem Aufsatz) findet sich aber beispielsweise auch in einem Lobgedicht, das während des Aufenthaltes von Crotch in der Universitätsstadt Oxford, unter dem passenden Pseudonym »Academicus«, erschienen ist und ein vertrautes Bild beschwor : »the ancient Power of Sound survives / Ev’n now an infant Orpheus lives ! / See how each slender Finger strays, / And strikes at Will the distant Keys ! / But why should I in Numbers faint / What Burney’s Pen alone can paint, / Attempt to tell ? as well might I / To wake thy sportive Warblings try, / Unrivall’d Boy ! With Laurels crown’d, / The living Chatterton of Sound !«¹⁶⁸
Ohne ihre Absicht hat die Royal Society mit ihrer Zeugenschaft, so scheint es, den Nimbus des Naturgenies als Mittler zum Übersinnlichen verstärkt, obwohl sich die beiden Mitglieder, die sich zu dem Phänomen geäußert haben, stets bemühten, es mit vergleichsweise eher bodenständiger Nüchternheit zu betrachten. Gegen eine Vereinnahmung für die Vorstellung einer universalen Harmonie, wie sie in der Musik des Kindes angeblich offenbar wurde, hätte sich zumindest Burney entschieden verwahrt.¹⁶⁹ Academicus [= Pseud.], »verses on hearing the celebrated Master crotch playing to Notes«, in : Jackson’s Oxford Journal vom . Juni (Nr. ), o. S. Außerdem erschienen in : The Norfolk Chronicle : or, the Norwich Gazette vom . Juli (Nr. ), o. S. Verglichen wurde Crotch hier mit dem dichtenden Wunderkind Thomas Chatterton, welcher durch einen (von der Forschung inzwischen angezweifelten) Suizid ums Leben kam. Zur zeitgenössischen Chatterton-Rezeption siehe umfassend Daniel Cook, Thomas Chatterton and Neglected Genius, –, Basingstoke u. a. . Siehe Kap. ., S. –.
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Der Erfolg des Master Crotch hatte in London gerade seinen Anfang genommen, da hielt Burney bei einer Sitzung der Royal Society am . Februar einen Vortrag über den außergewöhnlichen Fall. Gegen Ende des Jahres wurde der Vortrag dann in den Philosophical Transactions veröffentlicht, beigelegt ein auf den . Februar datiertes Begleitschreiben an William Hunter (gleichfalls Mitglied der Royal Society sowie Anatomieprofessor an der Royal Academy), mit dem der Musikexperte der Gesellschaft seine Untersuchungen gemeldet hatte.¹⁷⁰ Das Kind hatte er zwei Tage zuvor in seinem Haus in der St. Martin’s Street persönlich empfangen.¹⁷¹ Charles Burney war über die Grenzen Englands hinaus eine bekannte, für seine musikalische Fachkenntnis ebenso wie für seine Kultiviertheit geachtete Persönlichkeit, sodass durch ihn die Bekanntheit Crotchs weitere Kreise zog, zumal sein Untersuchungsbericht vielfach als Wiederabdruck erschien und die Philosophical Transactions europaweit in Literatur- und Gelehrtenzeitschriften rezensiert und zusammengefasst wurden.¹⁷² Siehe Charles Burney, »Account of an Infant Musician«, in : Philosophical Transactions (), S. –. Der Bericht wurde außerdem separat veröffentlicht als : Charles Burney, Account of an Infant Musician, London []. Siehe Roger Lonsdale, Dr. Charles Burney. A Literary Biography, Neuauflage, Oxford , S. ; Charles Burney, The Letters of Dr Charles Burney. Volume : –, hg. von Alvaro Ribiero, Oxford u. a. , S. . Kompletter Neuabdruck in Edmund Burkes The Annual Register (), S. –. Unterschiedlich gekürzt oder zusammengefasst, teilweise ohne Hinweis auf die Quelle, in : The Hibernian Magazine, Or, Companion of Entertaining Knowledge /o. Nr. (Dezember ), S. – ; in : The Gentleman’s Magazine /o. Nr. (Dezember ), S. – ; in : The Monthly Review ; or, Literary Journal /o. Nr. (März ), S. – ; in : The Town and Country Magazine, or, Universal Repository of Knowledge, Instruction and Entertainment /o. Nr. (Dezember ), S. – ; in : The Universal Magazine of Knowledge and Pleasure /Nr. (Dezember ), S. – ; in : The Scots Magazine /o. Nr. (Januar ), S. – ; in : The Westminster Magazine /o. Nr. (Januar ), S. – ; in : The Whitehall Evening Post vom .–. Januar (Nr. ), o. S.; in : The Ipswich Journal vom . Januar (Nr. ), o. S.; in : The Edinburgh Magazine, or, Literary Amusement /o. Nr. (. Februar ), S. –. Zusammengefasste Ausschnitte erschienen als Leserbrief eines »Admirer of Genius« im Zusammenhang eines Konzertes in : The Public Advertiser vom . Mai (Nr. ), o. S., abschnittsweise auch, zusammengefügt mit Teilen aus dem »Account of the Musical Phænomenon« des London Magazine, in : [Anon.], »The Astonishing musical infant«, in : Adams’s Weekly Courant vom . September (Nr. ), o. S.; erneut erschienen in der Ausgabe vom . September (Nr. ), o. S. Abschnitte wurden zum Beispiel in der Rezension des entsprechenden Jahrgangs der Philosophical Transactions zitiert, in : The Critical Review : or, Annals of Literature /o. Nr. (Januar ), S. –. Auf Deutsch wurde der Aufsatz kurz rekapituliert in : Sammlungen zur Physik und Naturgeschichte von einigen Liebhabern dieser Wissenschaften , viertes Stück, (), S. . Gekürzt und auf Französisch zusammengefasst auch in : Journal de Littérature,
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Gleichwohl war der Fall nicht seine alleinige Entdeckung und dürfte bereits zuvor in mancher brieflichen Korrespondenz von Akademikern und wissenschaftlichen Amateuren erwähnt worden sein. Sir George Savile etwa, einem der aristokratischen Mitglieder der Royal Society, war das Kind in Bury St Edmunds wohl schon im Sommer vorgestellt worden, und im November wurde Burney über dieses nachweislich mit einem Schreiben des aus Norfolk stammenden Arztes William Bewley informiert.¹⁷³ Auch ist es kaum vorstellbar, dass die Professoren aus Cambridge, wo Crotch auf dem Weg in die Hauptstadt genau zu dieser Zeit in Kirchen und der Universität auftrat,¹⁷⁴ nicht das Bedürfnis hatten, diese Angelegenheit mit Kollegen zu diskutieren. Im Übrigen schien man sich, zumindest nach der Veröffentlichung von Burneys Essay, auch auf dem europäischen Kontinent, etwa in Deutschland, unter Gelehrten für das Phänomen zu interessieren und per brieflicher Korrespondenz nach England auszutauschen.¹⁷⁵ Zweifellos war das auch der internationalen Ausstrahlung der Institution der Royal Society zu verdanken. Das Interesse war im deutschsprachigen Raum so groß, dass sich der Naturforscher und Göttinger Universitätsprofessor Georg Christoph Lichtenberg veranlasst sah, nicht nur den übersetzten Bericht aus dem London Magazine samt einiger Ergänzungen in dem populären Medium des Taschenkalenders, sondern daraufhin auch eine kommentierte Übersetzung des Protokolls der Royal Society über den Vortrag Burneys im Göttingischen Magazin der Wissenschaften und Litteratur von für ein fachlich spezifischer orientiertes Publikum zu veröffentlichen.¹⁷⁶ Die des Sciences et des Arts /Nr. (), S. – ; ebenso wie in : L’Esprit des Journaux, François et Étrangers /o. Nr. (April ), S. –. Ins Holländische übersetzte Version in : Algemene Vaderlandsche Letter-Oefeningen (), S. –. Siehe William Crotch, Memoirs of William Crotch, S. und Roger Lonsdale, Dr. Charles Burney, S. –. Siehe M., »Account of the Musical Phænomenon«, S. . Vgl. William Crotch, Memoirs of William Crotch, S. – ; [Anon.], History and Antiquities of the County of Norfolk. Volume X, S. . Vgl. Linde Katritzky, »William Crotch oder der Traum von der Perfektibilität«, in : Lichtenberg-Jahrbuch (), S. . Siehe Georg Christoph Lichtenberg, »Protocoll des Sekretärs der Königl. Societät der Wissenschaften zu London, über Dr. Burneys Bericht von William Crotch dem musikalischen Kinde«, in : Göttingisches Magazin der Wissenschaften und Litteratur /Nr. (), S. – . Zu dem Bericht im Göttinger Taschenkalender, der sich aus dem London Magazine speiste, siehe weiter unten. Katrizky, die fälschlicherweise annimmt, auch dieser Bericht basiere auf Burneys Vortrag, vermutet aufgrund eines vagen Hinweises aus der Briefkorrespondenz Lichtenbergs, es sei Georg August Best gewesen, der Crotch am . April gesehen habe. Siehe Anm. in : Georg Christoph Lichtenberg, »William Crotch, das musikalische Wunder-
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persönlichen Kontakte Lichtenbergs nach London – er ist auf seinen Reisen selbst zweimal dort gewesen – konnten ihm den Fall möglicherweise aus erster Hand bestätigen. Daraufhin meldete sich ein weiteres Mitglied der Royal Society öffentlich zu Wort, welches im Übrigen das Manuskript Burneys bei einem gemeinsamen Besuch mit Hunter schon vorab am . Februar zu lesen bekommen hatte.¹⁷⁷ publizierte Daines Barrington, ein dem englischen Adel entstammender Richter, seine Miscellanies, in denen er unter anderem eigene Aufzeichnungen unter dem Titel »Some Account of little Crotch«¹⁷⁸ abdrucken ließ, eine Burney sichtlich wohlgesonnene Ergänzung zu dessen Beitrag. In dem Band wurden neben William Crotch aber auch noch andere Fälle besonders musikalischer Kinder, nämlich Wolfgang Mozart, die Brüder Charles und Samuel Wesley sowie der Earl of Mornington Garret Wesley (auch Wellesley), besprochen.¹⁷⁹ Der Bericht über Mozart, der am . Februar in der Gesellschaft verlesen worden und später in den Philosophical Transactions erschienen war, belegt außerdem, dass sich die Royal Society dem Thema musikalischer Begabung schon früher zugewandt hat.¹⁸⁰ Am . Juli kündigte Burney Hunter brieflich das baldige gemeinsame Zusammentreffen mit einer
kind«, in : Lichtenberg-Jahrbuch (), S. . Der Autor im London Magazine aber unterschrieb mit dem Kürzel »M.«. Best hatte offenbar in einem Brief an seinen Schwager Johann Georg Heinrich Feder über Crotch berichtet, der diese Informationen wiederum schriftlich an Lichtenberg weiterleitete. Siehe letzteren Brief aus Göttingen im Sommer , Nr. in : Georg Christoph Lichtenberg, Briefwechsel. Band I : –, hg. von Ulricht Joost und Albrecht Schöne, München , S. –. Siehe Charles Burney, The Letters of Dr Charles Burney. Volume : –, S. . Daines Barrington, Miscellanies, London , S. –. Auch dessen Inhalte wurden vor allem über Rezensionen weiterverbreitet. Zusammengefasst erschienen die ›Wunderkinder‹-Berichte dadurch etwa auch in : The Gentleman’s Magazine, and Historical Chronicle (), S. –. Garret Wesley ( geboren) und die Brüder Wesley, die Neffen des bekannten Methodistenpredigers John Wesley, waren nicht miteinander verwandt, wie man anhand des Namens vermuten könnte. Siehe Daines Barrington, »Account of a very remarkable young Musician«, in : Philosophical Transactions (), S. –. Vgl. dazu Ulrike Steinhäusl und Herminio Domingo, »Daines Barrington Meets Little Mozart : An Account of a Very Remarkable Young Musician«, in : Sabine Coelsch-Foisner, Dorothea Flothow und Wolfgang Görtschacher (Hgg.), Mozart in Anglophone Cultures, Frankfurt a. M. (= Salzburg Studies in English Literature and Culture ), S. – ; Rachel E. Cowgill, Mozart’s Music in London, S. – ; dies., »›Proofs of Genius‹«, S. –. Der Grund dafür, dass Barrington diesen Bericht erst fünf Jahre nach seinen Untersuchungen an Mozart in London an die Royal Society schickte, könnte damit zusammenhängen, dass er selbst erst zum Mitglied ernannt wurde.
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nicht weiter spezifizierten »Young Person«¹⁸¹ an, vielleicht ein weiteres talentiertes Kind. Barrington nutzte die aktuelle Popularität von Crotch in London also nicht nur dazu, die Ergebnisse eigener Versuche mit diesem Kind zu veröffentlichen, das er nach eigenen Angaben am . Dezember das erste Mal spielen gehört hatte, wovon er durch die Wiedergabe stichpunktartiger Notizen in seinem Bericht Zeugnis ablegte,¹⁸² sondern auch über Untersuchungen zu referieren, die er zu früheren Zeitpunkten in ähnlicher Weise an Samuel Wesley und Mozart unternommen hatte. Neben den Berichten über musikalische Kinder beinhalteten die Miscellanies außerdem noch eine umfassende Abhandlung über die Möglichkeit, den Nordpol zu erreichen, einige Aufsätze über Phänomene aus der Tier- und Pflanzenwelt, einen Kommentar zum Klassifikationssystem von Carl von Linné, eine historische Diskussion der biblisch überlieferten Sintflut, einen Wiederabdruck der History of the Gwedir Family () von John Wynne, eine in Dialogform verfasste Betrachtung der antiken Tragödien, eine geschichtliche Arbeit über die Geographie im Kontext der Reisen des Vikingers Ohthere im . Jahrhundert sowie die Erstveröffentlichung eines Reisetagebuches des spanischen Marineoffiziers Francisco Antonio Maurelles von dessen unternommener Entdeckungsreise nach Amerika. Diese Themenvielfalt spiegelt beispielhaft das breite Interessenfeld eines wissenschaftlichen Amateurs wider, wie es ähnlich wohl auch bei anderen Herren aus den Reihen der gegründeten Royal Society of London for Improving of Natural Knowledge der Fall gewesen sein dürfte. Im . Jahrhundert lässt sich in ihr eine Form männlicher Geselligkeit und institutionalisierter Egalität erkennen, wie sie auch in anderen Gesellschaften, Vereinen und Clubs der Zeit bestand. Unter ihren Mitgliedern, über deren Aufnahme man normalerweise demokratisch abstimmte und die innerhalb der Gesellschaft die gleichen Rechte besaßen, befanden sich Personen mit beruflichem und solche mit privatem Interesse an der Wissenschaft, aktiv Forschende ebenso wie passive Förderer, Adlige neben Vertretern bürgerlicher Schichten.¹⁸³ Den Veröffentlichungen der Philosophical Transactions nach zu urteilen, beschäftigte sie sich vorwiegend mit Naturkunde, Mechanik, Optik, Astronomie und Geographie, Zitiert nach Charles Burney, The Letters of Dr Charles Burney. Volume : –, S. . Siehe Daines Barrington, Miscellanies, S. . Siehe Richard Sorrenson, »Towards a History of the Royal Society in the Eighteenth Century«, in : Notes and Records of the Royal Society of London /Nr. (), S. –. Zu den Ausnahmen demokratisch entschiedenen Zugangs zählten Adlige, Mitglieder des Kronrates und ausländische Diplomaten, die allesamt umstandslos aufgenommen wurden. Siehe ebd., S. .
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Medizin, experimenteller Chemie und Elektrizität sowie Anatomie, wobei man sich hier kaum für theoretische Spekulationen, dagegen mehr für empirische Ergebnisse und zudem die nützliche Anwendung der Wissenschaften interessierte.¹⁸⁴ Musik spielte dabei keine besonders hervorgehobene Rolle, wenngleich akustische Experimente, Musiktheorie, physiologische und anatomische Untersuchungen des Gehörs bei Mensch und Tier, die heilende Wirkung von Musik, Instrumentenkunde oder die Musik der griechischen Antike von Anfang an ebenso zu dem weiten Betätigungsfeld der Royal Society gehört haben.¹⁸⁵ Sowohl ihre soziale Zusammensetzung als auch ihre wissenschaftliche Praxis hatte die Londoner Gesellschaft auch im späten . Jahrhundert noch zweifellos ihrer Tradition zu verdanken.¹⁸⁶ Anders als Domschulen und Universitäten, an denen seit dem Hochmittelalter ein durch antike Autoritäten vorgegebener Lehrkanon vermittelt und Fragen über die Natur mittels der auf Aristoteles zurückgehenden scholastischen Methode, sprich allein durch logische Argumentation gelöst wurden, produzierten wissenschaftliche Sozietäten, wie sie nach dem Vorbild der Royal Society und der gegründeten Pariser Académie Royale des Sciences nach und nach in ganz Europa entstanden,¹⁸⁷ durch Beobachtungen und Experimente auch selbst Erfahrungswissen. Dieser Fokus auf praktischer Forschung ließ sich nicht allein theoretisch legitimieren, sondern war als neuartige Methodik ihrerseits auf den gesellschaftlichen Nachdruck, den Rang und Namen elitärer Mitglieder garantierten, angewiesen.¹⁸⁸ Die Royal Society im Speziellen war eine eigenständige, im Gegensatz etwa zur französischen Académie Royale nicht staatlich, sondern vorwiegend über Mitgliedsbeiträge finanzierte Einrichtung und unterschied sich in ihrer öffentlichen Wirkung wiederum von früheren humanistischen Akademien (den noblen Namenszusatz verdankte sie einer durch König Charles II. erlassenen Royal Charter).¹⁸⁹ Ihr Forschungsprogramm begründete sich auf die bereits zu Anfang des . Jahrhunderts von dem englischen Staatspolitiker Siehe ebd., S. –. Vgl. Leta E. Miller und Albert Cohen, Music in the Royal Society of London, –, Detroit (= Detroit Studies in Music Bibliography ). Siehe Marie Boas Hall, All Scientists Now. The Royal Society in the nineteenth century, Cambridge u. a. , S. –. Zum Vergleich der sozialen Zusammensetzung siehe Michael Hunter, The Royal Society and its Fellows, –. The Morphology of an Early Scientific Institution, Second Edition, Oxford (= BSHS Monographs ), S. –. Siehe James McClellan, Science Reorganized. Scientific Societies in the Eighteenth Century, New York . Vgl. Michael Hunter, The Royal Society and its Fellows, S. –. Siehe ebd., S. –.
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und Gelehrten Francis Bacon formulierte Forderung, die Naturphilosophie auf das Fundament der sogenannten Naturgeschichte zu stellen, der empirischen Naturkunde, die damals reguläre und irreguläre Natur im engeren Sinne, aber auch menschliche Erzeugnisse (arts) beinhaltete : »history of natvre is of three sorts : of nat vre in covrse ; of nat vre erring, or varying ; and of nat vre altered or wroght […]«¹⁹⁰. In Bacons Entwurf von Wissenschaft, den er methodisch ausführlich im Novum Organum Scientiarium () ausgearbeitet hat, kam der Untersuchung von zunächst unerklärlich erscheinenden Anomalien außerhalb der bekannten Gesetzmäßigkeiten eine besondere Bedeutung zu. Gerade das Außernatürliche der Mirabilien und Prodigien sollte in seiner Epistemologie, sobald es vollständig zusammengetragen und seine Kausalitäten einmal ergründet waren, letztlich als Korrektiv bei der Formulierung der übergeordneten Naturgesetze wirken.¹⁹¹ Die Forderung des Philosophen lautete also : »For we must put together an accumulation or particular natural history of all the monsters and prodigious births of nature ; and then of everything in nature that is novel, rare or unusual. But to create confidence this must be done with the most rigorous discrimination, and we must regard with the utmost suspicion things wich at all depend on religion as, for instance, Livy’s prodigies, and no less what we find in writers on natural magic or alchemy, and men of that stripe who are infatuated with fables. But our instances must be derived from serious and honest history and from reliable reports.«¹⁹²
Ungewöhnliche Himmelserscheinungen und Naturereignisse, seltsame Naturalien, monströse Lebewesen und rare Artefakte – solche Phänomene wurden durch Wissenschaftsgesellschaften zwar beflissen beobachtet, gesammelt, dokumentiert und ausgestellt. Mit ihrer Distanz zur Theoriebildung lösten sol Francis Bacon, The Advancement of Learning, Edited with Introduction, Notes and Commentary by Michael Kiernan, Oxford (= The Oxford Francis Bacon ), S. . Siehe Lorraine Daston und Katharine Park, Wunder und die Ordnung der Natur, –, Aus dem Englischen von Sebastian Wohlfeil sowie Christa Krüger, Frankfurt a. M. , S. –. Das Naturwunder hatte, ausgehend von den Schriften einiger Mediziner der Renaissance aus dem Dunstkreis italienischer Fürsten, erst allmählich und gegen die Tradition der Scholastik Eingang in die Naturphilosophie gefunden. Siehe ebd., S. –. Francis Bacon, The ›Instauratio magna‹. Part II : ›Novum organum‹ and Associated Texts, Edited with Introduction, Notes, Commentaries, and Facing-Page Translations by Graham Rees with Maria Wakely, Oxford (= The Oxford Francis Bacon ), S. .
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che Akademien die Bacon’sche Agenda aber nur sehr bedingt ein. Bereits in der Reformdebatte der Royal Society im späten . Jahrhundert offenbarte sich, dass mit der Berufung auf den hochgeschätzten Bacon sowohl eine von Hypothesen geleitete Induktion als auch das weitgehend unsystematische Zusammentragen von Tatsachenwissen legitimiert werden konnten, je nachdem, welchen Teil seiner Schriften man eben heranzog.¹⁹³ Es war letztlich der von vornherein kollaborativ angelegten und dabei weitgehend von Laien im Selbstbewusstsein des Virtuoso betriebenen Unternehmung an sich geschuldet, dass mit den archivierten Sitzungsprotokollen der Gesellschaft, den Aufsätzen der Philosophical Transactions und der Objektsammlung ihres Repositoriums zwar eine beachtliche Menge wissenschaftlich relevanter Texte und Dinge angehäuft, diese aber kaum strukturiert und miteinander in Beziehung gesetzt wurden.¹⁹⁴ Das genaue Verhältnis der Royal Society zu einem Phänomen wie dem eines musikalischen ›Wunderkindes‹ ist für das spätere . Jahrhundert nicht leicht zu bestimmen. Zwar beanspruchte das Bacon’sche Forschungsprogramm noch immer Gültigkeit – sich des Außernatürlichen (»everything in nature that is novel, rare or unusual«) anzunehmen bedurfte daher grundsätzlich keiner Rechtfertigung. Wenigstens bis ungefähr zur Mitte des Jahrhunderts verband die Gesellschaft noch mit großer Selbstverständlichkeit wissenschaftliche Fortbildung gleichfalls mit dem Zweck der Unterhaltung, wenn auch Vorführungen von Kuriosa in ihren Sitzungen danach zurückgingen und die Sammeltätigkeit mit der abgewickelten Auflösung und Übergabe des Repositoriums an das British Museum weitgehend eingestellt wurde.¹⁹⁵ Die Abgrenzung zu kommerziellen und mitunter als dubios angesehenen Shows und Ausstellungen war zu diesem Zeitpunkt wohl noch immer schwierig, schien aber umso notwendiger, um die eigene wissenschaftliche Deutungsgewalt behaupten und sichern zu können. Deutlich abheben konnte man sich allenfalls über eine Beherrschung der eigenen unmittelbaren Reaktionen : Das Ethos der europäischen ›Gelehrtenrepublik‹ nämlich hatte sich damals des Staunens und der Verwunderung bereits entledigt, Affekten, die zu Beginn der Aufklärung im . Jahrhundert unter Philosophen und Naturforschern zumindest noch als erster Impuls hin zu Siehe Michael Hunter, Establishing the New Science. The Experience of the Early Royal Society, Woodbridge , S. –. Siehe ebd., S. –. Vgl. Lorraine Daston und Katharine Park, Wunder und die Ordnung der Natur, S. –. Siehe Palmira Fontes da Costa, »The Culture of Curiosity at The Royal Society in the First Half of the Eighteenth Century«, in : Notes and Records of the Royal Society of London /Nr. (), S. –, .
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wissenschaftlicher Erkenntnis gelten konnten.¹⁹⁶ In der Auseinandersetzung der Royal Society mit Fällen musikalischer Begabung sind die Berührungspunkte mit der Sphäre des Wundersamen spürbar. Burney räumte bei Crotch »a premature disposition to either usually excites the same kind of wonder as a phenomenon or prodigy«¹⁹⁷ ein, sagte damit freilich noch nicht, dass er das Kind für etwas hielt, das man nicht erklären könne. Eine Sprache, wie sie die Reklame kurioser Ausstellungen damals auszeichnete, wurde vermieden. Nüchtern und etwas umständlich definierte Burney in dem Schreiben an Hunter das behandelte Phänomen als »the uncommon exertions of the human faculties at a more early period of life than they usually develope.«¹⁹⁸ Förmlich um Nachsicht wiederum hat Barrington gebeten, als er der Royal Society seinen Bericht über Mozart brieflich zukommen ließ : »I send you the following account, amazing and incredible almost as it may appear.«¹⁹⁹ Angesichts so mancher unerklärlicher Fähigkeit Crotchs musste er außerdem zugeben, dass sie ihn »in great astonishment«²⁰⁰ hinterließ. Und Burney rühmte musikalisches Gedächtnis und Gehör des Kindes sichtlich beeindruckt und ohne Ironie als »truly wonderful«²⁰¹. Die ambivalente Haltung zum Wunder lässt durchblicken, dass diese Autoren sich nicht innerhalb einer akademischen Elite vollkommen abschotteten. Für die Durchlässigkeit zu populäreren Medien spricht dabei auch die relativ unbefangene Wiedergabe von Anekdoten in ihren Aufsätzen. Burney beispielsweise verfolgte als Literat ausdrücklich den Anspruch auf Allgemeinverständlichkeit und Unterhaltsamkeit, wie insbesondere in Absichtserklärungen zu seiner Musikgeschichte deutlich wird.²⁰² Unmissverständlich legte der Autor in der Einleitung des ersten Bandes offen : »[…] I would rather be pronounced trivial than tiresome«²⁰³. Unter derselben Begründung verzichtete er in seinem Bericht über Crotch auf umfängliche Erläuterungen seiner Prüfungsmethoden des Kindes (bezüglich seiner Fähigkeiten im kontrapunktischen Spiel), da diese schließlich, so der Autor, nur für musikalische Fachleute nachvollziehbar sein Im Zusammenhang mit der neuzeitlichen Neubewertung des Affekts der Neugierde, siehe Lorraine Daston und Katharine Park, Wunder und die Ordnung der Natur, S. –. Charles Burney, »Account of an Infant Musician«, S. . Ebd., S. . Daines Barrington, »Account of a very remarkable young Musician«, S. . Daines Barrington, Miscellanies, S. . Charles Burney, »Account of an Infant Musician«, S. . Vgl. Roger Lonsdale, Dr. Charles Burney, S. – ; Kerry S. Grant, Dr. Burney as Critic and Historian of Music, Ann Arbor (= Studies in Musicology ), S. –. Charles Burney, A General History of Music, From the Earliest Ages to the Present Period, Bd. , London , S. xviii.
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würden.²⁰⁴ Dass Burney diesen Anspruch auch einzulösen vermochte, dafür spricht unter anderem, dass der Pfarrer und Altphilologe Thomas Twining, mit welchem jener in engem Briefkontakt stand, das ihm vor der Veröffentlichung zugesandte Manuskript des Berichts als »satisfactory, well drawn up, & very entertaining«²⁰⁵ gelobt hat. Aber auch Mitglieder der Royal Society waren vom Vorwurf der Trivialität nicht gefeit, der somit provoziert werden konnte. So verurteilte etwa ein Autor unter dem Pseudonym »Euphronius« in einem Leserbrief an den Public Advertiser die Veröffentlichung von Barringtons Miscellanies mit folgenden Worten : »I do not mean to trouble the reader with an uninteresting account of the many modern publications, which, being considered as useless lumber, hardly find a place in the shops of booksellers. The public hath been favoured with an handsome volume of Miscellanies, the productions of an honourable and grave writer, who is highly respected by the Royal Society. This book contains various matters of not very deep or difficult disquisition. The account given of birds, and of Mozart, a very remarkable young musician, of Mr. Charles Wesley, of Master Samuel Wesley, of little Crotch, and of Lord Mornington ; the musical prodigies hath made its way into nurseries, being stories very pleasing to children.«²⁰⁶
Eindeutig fasste auch der Naturphilosoph Lichtenberg ein breites Lesepublikum ins Auge, das über den Kreis der Gelehrten hinausgehen sollte. Im einleitenden Kommentar zu dem im Göttinger Taschenkalender übersetzten Bericht aus dem London Magazine meinte dieser : »Beyspiele von äusserster Perfecktibilität und Corruptibilität der menschlichen Natur sowohl, als großer scharf bestimmter Anlagen im Menschen, sind, so wie sie die vorzüglichste Aufmerksamkeit des Philosophen verdienen, auch zum Glück das, was auch die gemeinsten Seelen aufmerksam macht.«²⁰⁷
Siehe Charles Burney, »Account of an Infant Musician«, S. . Zitiert nach Roger Lonsdale, Dr. Charles Burney, S. . Euphronius [= Pseud.?], »To the Printer of the ›Public Advertiser‹«, in : The Public Advertiser vom . Februar (Nr. ), o. S. [Georg Christoph Lichtenberg], »William Crotch, das musikalische Wunderkind«, S. . Vgl. Linde Katritzky, »William Crotch oder der Traum von der Perfektibilität«, S. –. Den für die Aufklärung zentralen Begriff der »Perfektibilität« des Menschen, der seine Fähigkeit zu Vervollkommnung bezeichnet, übernahmen deutsche Autoren in der zweiten Hälfte des . Jahrhunderts aus dem Französischen (perfectibilité) von Jean-Jacques Rousseau. Hierzu,
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Das populäre Medium der kleinformatigen Taschenbücher hatte im Gegensatz zu Zeitungen und den meisten Zeitschriften gerade auch Frauen als Zielgruppe im Blick.²⁰⁸ Die Einstellung, auf keinen Fall als pedantische Stubengelehrte gelten zu wollen, sowie die Hinwendung zur Öffentlichkeit waren Merkmale, die viele aufklärerische Intellektuelle und Forscher verbanden. Die Qualität der Aufmerksamkeit von Burney, Barrington und Lichtenberg auf das Phänomen musikalischer Begabung unterschied sich daher in vielen Punkten nicht wesentlich von der des restlichen Publikums. Und doch war es eben diese Aufmerksamkeit, die dem Kuriosum Master Crotch ein zusätzliches Maß an Authentizität verlieh. Hierbei war es nicht allein seine Fachkenntnis, sondern insbesondere auch der gesellschaftliche Ruf, der den verlässlichen Augenzeugen der Wissenschaft auszeichnete. Der im . Jahrhundert aufkommende Bacon’sche Empirismus ließ die Autorität antiker Autoren in Fragen der Naturphilosophie nicht mehr unhinterfragt gelten und formulierte die Forderung, durch Experimente und Beobachtungen zu eigener Erkenntnis zu gelangen. Er stellte damit statt der Schrift das beobachtende Subjekt in den Mittelpunkt, eine Einstellung, die sich auch im Motto der Royal Society kristallisierte : »Nullius in verba« (lat. = nach niemandes Wort). Wie der Wissenschaftshistoriker Steven Shapin mit seiner Studie A Social History of Truth. Civility and Science in Seventeenth-Century England () unterstreicht, sah sich der Empirismus zu Anfang mit dem pragmatischen Problem konfrontiert, welchen Augenzeugen Glauben geschenkt werden sollte und welchen nicht, und dass dieses Problem nur mit sozialen Regeln gelöst werden konnte.²⁰⁹ Die Lösung war, so Shapins These, ein Transfer der moralischen Ideale des Gentleman, wie sie in der Anstands- und Höflichkeitsliteratur seit dem . Jahrhundert zu finden waren, in die Wissenschaftskultur der Royal Society. Eine Schlüsselfigur dieses Prozesses war der Naturforscher Robert Boyle (der heute vor allem als Begründer der modernen Chemie bekannt ist). Ökonomisch bedingte Unabhängigkeit und moralische Integrität sowie zur Verwendung des Begriffs und seines korrelierenden Begriffs der »Korruptibilität« bei Lichtenberg, siehe Gottfried Hornig, »Perfektibilität. Eine Untersuchung zur Geschichte und Bedeutung dieses Begriffs in der deutschsprachigen Literatur«, in : Archiv für Begriffsgeschichte (), S. –. Siehe Wolfgang Bunzel, »Almanache und Taschenbücher«, in : Ernst Fischer, Wilhelm Haefs und York-Gothart Mix (Hgg.), Von Almanach bis Zeitung. Ein Handbuch der Medien in Deutschland –, München , S. –. Siehe Steven Shapin, A Social History of Truth. Civility and Science in Seventeenth-Century England, Chicago u. a. (Science and Its Conceptual Foundations), insbes. S. –.
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des Gentleman als Voraussetzung eines neutralen Beobachters und Berichterstatters wurden von Boyle mit großer Wirkung propagiert und – da er selbst aus einer äußerst wohlhabenden und angesehenen Familie stammte – für seine Zeitgenossen zugleich vorbildhaft verkörpert.²¹⁰ Für die Royal Society war die ideale Forscherperson zunächst also der wissenschaftlich informierte Amateur und weniger der Experte, also etwa der akademische Gelehrte, der Chirurg, Apotheker oder sonst irgendein professioneller Handwerker der sogenannten mechanischen Künste, bei dem man ein Eigeninteresse an Übertreibung oder Fälschung hätte vermuten können. Gerade bei seltenen, merkwürdigen und unwahrscheinlichen Phänomenen, die den bekannten Regeln der Natur widersprachen, war die Verlässlichkeit von Berichten aus erster Hand selbstredend von besonderem Gewicht.²¹¹ Schon Bacon selbst war sich (wie das obige Zitat zeigt) der praktischen Schwierigkeiten bewusst, die einer wissenschaftlichen Ergründung des Außernatürlichen im Wege standen und vor allem das Problem betrafen, dass nicht immer vertrauenswürdige Quellen zur Verfügung standen. Im . Jahrhundert blieb die Glaubwürdigkeit eines Wissenschaftlers an seinen gesellschaftlichen Status geknüpft.²¹² Gleichwohl zwang der enorme Wissenszuwachs immer mehr zu Spezialisierung und Professionalisierung und konnte von Amateuren nicht mehr länger bewältigt werden. Diese Verschiebung wird beispielsweise an der Beschäftigung mit ›Monstren‹ (Menschen und Tieren mit angeborenen Mutationen) innerhalb der Royal Society deutlich, da die in den Sitzungen diskutierten oder in den Philosophical Transcations publizierten Untersuchungen, Messungen und Sezierungen zunehmend von Medizinern und gewöhnlichen Chirurgen vorgenommen wurden.²¹³ Überhaupt stellte die Profession der Ärzte damals den weitaus größten Teil unter den Fachleuten der Gesellschaft.²¹⁴ Nicht zufällig also warb Barrington bei Matthew Maty, ihrem Sekretär, mit einem Vergleich zu solchen ›Monstrositäten‹ um das Interesse für den Fall Mozart : Siehe ebd., S. –. Vgl. Lorraine Daston und Katharine Park, Wunder und die Ordnung der Natur, S. –. Siehe Javier Moscoso, »Vollkommene Monstren und unheilvolle Gestalten. Zur Naturalisierung der Monstrosität im . Jahrhundert«, in : Michael Hagner (Hg.), Der falsche Körper. Beiträge zu einer Geschichte der Monstrositäten, Göttingen , S. . Siehe Palmira Fontes da Costa, »The making of extraordinary facts : authentication of singularities of nature at the Royal Society of London in the first half of the eighteenth century«, in : Studies in History and Philosophy of Science (), S. –. Siehe Richard Sorrenson, »Towards a History of the Royal Society in the Eighteenth Century«, S. –.
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»if I was to send you a well attested account of a boy who measured seven feet in height, when he was not more than eight years of age, it might be considered as not undeserving the notice of the Royal Society. The instance which I now desire you will communicate to that learned body, of as early an exertion of most extraordinary musical talents, seems perhaps equally to claim their attention.«²¹⁵
Mit Anatomie aber war den zeitgenössischen Fällen wie Mozart, den Brüdern Wesley oder Crotch nicht beizukommen, eine körperliche Auffälligkeit an ihnen von außen nicht zu entdecken.²¹⁶ Interessanterweise spekulierte Lichtenberg, der ein paar Jahre nach seinen Schriften über Crotch durch den Arzt und Anthropologen Samuel Thomas Soemmering ein anatomisches Modell des Hörorgans erhielt, in seinen handschriftlichen Notizen (den sogenannten Sudelbüchern) tatsächlich über Obduktionen an musikalischen Genies wie Mozart sowie an Gehörlosen.²¹⁷ Eine Sezierung hätte auch bei Crotch möglicherweise weiteren Aufschluss geben können, war aber eben nur an Leichen denkbar. Unterm Strich hätte man sich für das Phänomen musikalischer Begabung also keinen geeigneteren Augenzeugen denken können, als Charles Burney, der in die Royal Society aufgenommen worden war. In ihm verband sich philosophische Bildung und musikalische Fachkenntnis mit einem – für einen Berufsmusiker seiner Zeit einmaligen – hohen Sozialstatus. Burneys Lebensweg lässt sich nachzeichnen als der Aufstieg vom Musiker zum Intellektuellen, wobei ihm der große Erfolg des ersten Bandes seiner Musikgeschichte A General History of Music from the Earliest Ages to the Present Period () endgültig einen Namen als souveräner Schriftsteller und Autorität auf dem Daines Barrington, »Account of a very remarkable young Musician«, S. . Zu diesem Interessenfeld der Royal Society vgl. auch John H. Appleby, »Human Curiosities and the Royal Society, –«, in : Notes and Records of the Royal Society of London /Nr. (), S. –. Auch Lichtenberg, der sich im Göttinger Taschenbuch auf fremde Berichte aus London stützte, wurde dies zu Crotch bestätigt : »Was seine Fähigkeiten dem Beobachter so auffallend macht, mehr als sich ausdrücken läßt, ist, daß er, sobald keine Music ins Spiel kommt, so völlig ein Kind in allem Übrigen ist, als irgend eins aus einer gemeinen Kinderstube.« [Georg Christoph Lichtenberg], »William Crotch, das musikalische Wunderkind«, S. . Der anschließende Hinweis, dass neben Orgel und Klavier eine Katze die »größte Unterhaltung« des Kindes sei, tauchte als Topos im Übrigen schon im Bericht von Daines Barrington über Mozart auf. Siehe Daines Barrington, »Account of a very remarkable young Musician«, S. . Siehe Ulrike Freiling, ›Ist denn Vergnügen der Sinne gar nichts ?‹ Sinnlichkeit in den Schriften Georg Christoph Lichtenbergs, Norderstedt , S. .
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Wissensgebiet der Musik sicherte.²¹⁸ Mit dem nun erreichten Rang eines »man of letters«²¹⁹ war auch der Eintritt in erlesene Gesellschaftszirkel verbunden. So wurde Burney zunächst als Musiklehrer in das Haus des Brauereibesitzers Henry Thrale eingeführt, dort zum regelmäßigen (und mit der stattlichen Jahressumme von Pfund protegierten) Gast, wodurch er auch Kontakte in den literarischen Kreis der Salonière und Schriftstellerin Hester Thrale gewann.²²⁰ Interessanterweise begriff Burney seine Untersuchung an William Crotch weniger als Teil seiner Berufstätigkeit als Musiker denn vielmehr als eine Art von Freizeitbeschäftigung in der Tradition des Virtuoso, wie an folgender einleitender Floskel seines Essays zu erkennen ist : »[A]fter making all the inquiries my leisure and opportunities would allow, and repeatedly hearing and studying him, I have drawn up the following account, […]«²²¹
Er verwies hier auf seinen gesellschaftlichen Status eines Gentleman, damit implizit auch auf seine Unbefangenheit. Die Problematik der Augenzeugenschaft ist im Kontrast dazu auch in der Haltung zu erkennen, die Burney wie Barrington gegenüber den Eltern der von ihnen untersuchten Kinder an den Tag legten. Ersterer verließ sich für den Wahrheitsgehalt seines Berichtes in letzter Instanz nämlich lieber auf das Wort des besser gestellten Robert Partridge (seine Stellung wird hier expliziert), der die Ereignisse um Crotch zwar zum Teil nur aus zweiter Hand erfahren, aber wiederum interesselos für die Aufrichtigkeit des Vaters und der Mutter bürgen konnte : »I have been favoured with several particulars concerning his son’s first attention to music from Robert Partridge, esquire, a gentleman of rank in the Corporation of Norwich, who, at my request, has been so obliging as to ascertain many curious facts, the truth of which, had they rested merely on the authority of the child’s father or mother, might have been suspected ; and transactions out of the common course of nature cannot be too scrupulously or minutely proved.«²²²
Siehe Roger Lonsdale, Dr. Charles Burney, S. –. Ebd., S. , . Siehe ebd., S. –. Charles Burney, »Account of an Infant Musician«, S. . Ebd., S. . Barrington, der in Bezug auf den Bericht der Mutter das Problem des grundsätzlich unverlässlichen Gedächtnisses nannte, weitete diesen Einwand interessanterweise nicht auf andere Personen aus, was auch die Abhängigkeit der Glaubwürdigkeit vom Geschlecht signalisiert. Siehe Daines Barrington, Miscellanies, S. .
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Insbesondere, was das mutmaßliche Alter solcher Kinder betraf, traute man Aussagen aus dem näheren Verwandtenkreis nicht. Burney überprüfte die entsprechende Angabe zu Crotch daher durch die Sichtung des Eintrages im Kirchenregister der St. George Colgate, ein Mittel, das schon Barrington eingesetzt hatte, als er sich von dem Grafen Haslang den entsprechenden Auszug über Mozart aus Salzburg hatte zusenden lassen.²²³ Einem anderen Gentleman gegenüber wäre ein solches Misstrauen übrigens einem unverzeihlichen Affront gleichgekommen. Trotz solcher Vorsichtsmaßnahmen weichen die biographischen Abschnitte über William Crotch bei Burney wie Barrington von den Anekdoten, wie man sie damals bereits aus der Presse kannte, nicht signifikant ab. Burneys Nacherzählung der kindlichen Entwicklung etwa widerspricht dem London Magazine eigentlich nur darin, dass bei den ersten musikalischen Versuchen des Kindes mit dem Anthem God Save the King der Vater zunächst nicht anwesend, sondern in seiner Werkstatt gewesen sei und der etwa vierzehnjährige Bruder den Blasebalg der Orgel betätigt hätte.²²⁴ Ergänzt wurde diese Anekdote über die plötzliche Offenbarung der musikalischen Begabung von Burney außerdem durch eine zweite narrative Episode, die den Eintritt des Kindes in die außerfamiliäre Sphäre der Öffentlichkeit charakterisiert und von der zufälligen Entdeckung des Orgel spielenden Kindes durch Mr. Paul handelt, einem Weber, der eigentlich den Vater wegen eines Arbeitsauftrages in dessen Haus besuchen wollte.²²⁵ Burney und Barrington reproduzierten die zunächst anonym in Zeitungen erschienene Anekdotik also, verwandelten sie aber in eine durch zwei unterschiedliche und vermeintlich unparteiische Zeugen untersuchte biographische ›Wahrheit‹. Die beiden Forscher präsentierten in ihren Publikationen über Crotch nicht einfach nur die Ergebnisse ihrer Versuche, sondern rekapitulierten auch die Methoden, mit denen sie zu ihnen gelangt waren. In ähnlicher Form hatten sie diese zuvor bereits bei Wolfgang Mozart und womöglich auch bei weiteren Kindern erprobt. Die mit erzählerischen Mitteln unterstützte Wiedergabe bestimmter Szenen der Untersuchung eröffnete Lesern und Leserinnen die Möglichkeit, sich unmittelbar in die Versuchssituation hineinzuversetzen, eine
Siehe Charles Burney, »Account of an Infant Musician«, S. ; Daines Barrington, »Account of a very remarkable young Musician«, S. . Letzterer gab im Übrigen mit dem .[ !] Januar dennoch ein falsches Geburtsdatum Mozarts an. Siehe ebd., S. . Siehe Charles Burney, »Account of an Infant Musician«, S. –. Siehe ebd., S. .
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typische literarische Technik des frühen Empirismus, die Shapin als »virtual witnessing«²²⁶ bezeichnet : Die Leserschaft wurde scheinbar als Mitzeuge in das Experiment eingebunden und konnte das wahrgenommene Phänomen als unwiderlegbare wissenschaftliche Tatsache selbst verifizieren. Ein um das Jahr von Burney nach der Lektüre von Barringtons Bericht aus den Philosophical Transactions in sein Notizbuch geschriebener Eintrag weist darauf hin, dass auch er während des Aufenthaltes der Familie Mozart in London bei privaten Auftritten der Kinder Beobachtungen und Versuche zu den musikalischen Fähigkeiten Wolfgangs angestellt hatte, auch wenn er seine Ergebnisse später nicht wie Barrington publizierte.²²⁷ Die Methodik unterschied sich faktisch kaum von dem, was dem Publikum in öffentlichen Auftritten geboten wurde. So berichtete Burney im Aufsatz über Crotch gleichfalls über dessen blind vorgenommene Benennung von Tönen, die ihm aus einer gewissen Entfernung vorgespielt wurden.²²⁸ Er stellte außerdem die Fähigkeiten des Kindes zu harmonischer Transposition und Modulation fest, die dieses auf besonders erstaunliche Weise in seinen improvisierten Stücken unter Beweis zu stellen schien, und testete es verschiedentlich darin, an den Tasten den fehlenden Bass oder Diskant einer Passage zu ergänzen.²²⁹ Eines der Ergebnisse davon (eine schwierige Stelle mit chromatischer Ausweichung) hatte er zudem in Noten transkribiert und als Beispiel mit abdrucken lassen. Die Proben an dem musikalischen Gehör des Kindes wiederholte Barrington in ähnlicher Weise, teilweise mit der Assistenz des Knaben Samuel Wesley, der sich dabei vom Objekt zum Subjekt derselben Untersuchungen verwandelte.²³⁰ Detailliert schilderte Barrington dabei unter anderem, wie er der Tatsache gewahr wurde, dass Crotch einwandfrei im Dur-Bereich transponieren könne und wie er darauf-
Steven Shapin, Never Pure. Historical Studies of Science as if It Was Produced by People with Bodies, Situated in Time, Space, Culture, and Society, and Struggling for Credibility and Authority, Baltimore , S. . Den Begriff entwickelte Shapin in Bezug auf Robert Boyles Schriften in einem Artikel von , der hierin ergänzt neu abgedruckt wurde. Siehe Cliff Eisen (Hg.), Mozart. Die Dokumente seines Lebens. Addenda. Neue Folge, Kassel (= Wolfgang Amadeus Mozart. Neue Ausgabe sämtlicher Werke X/, ), S. . Die spätere Formulierung in einem Brief an seine Tochter Fanny Burney vom . Dezember verrät seine aktive Rolle : »[…] Master Mozart had been recommended to me, played on my knee, on subjects I gave him«. Zitiert nach ebd., S. . Vgl. dazu Rachel E. Cowgill, Mozart’s Music in London, S. –. Siehe Charles Burney, »Account of an Infant Musician«, S. . Siehe ebd., S. –. Siehe Daines Barrington, Miscellanies, S. –.
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hin einen neuen Test plante, wozu ihm Wesley eine kleine Komposition in Moll liefern sollte : »I need scarcely say, that I left the room after this in great astonishment ; and it then occurred, that it might be right to make an experiment, whether he would be equally ready to transpose in the minor third, in which probably the child had never heard any composition whatsoever, it being so seldom used in the present times.«²³¹
Burney und Barrington versetzten das Phänomen musikalischer Begabung erstmals in eine Experimentalsituation unter dem Dach angesehener Wissenschaft. In der Übernahme ihrer Untersuchungsmethoden aus der Sphäre der kuriosen Unterhaltung und bezeichnend für das Wissenschaftsverständnis dieser Gentlemen fehlte von einem systematischen Versuchsaufbau oder einem klar formulierten Erkenntnisziel jede Spur. Ihre Aufsätze schildern eine in hohem Maße arbiträre und improvisierte, nicht zuletzt auch unterhaltsam erscheinende Praxis, zu der zum Beispiel findige Einfälle gehörten, um das Kleinkind gegen seinen Willen doch noch zu weiteren musikalischen Handlungen zu bewegen. Burney bemerkte, dass man Crotch, wenn er des Musizierens eigentlich bereits überdrüssig sei, zumindest immer noch damit reizen könne, ihm bekannte Stücke bewusst fehlerhaft vorzuspielen und zur Korrektur der falschen Töne zu animieren.²³² Barrington wiederum hatte rasch herausgefunden, beziehungsweise sich von einem der öffentlichen Vorführungen des Kindes inspirieren lassen, dass es leicht durch geschickt gewählte Worte angestiftet werden konnte : »I was in great hopes that the child would catch this little air, after Master Wesley had repeated it five or six times ; but in this I was disappointed ; for little Crotch happened not to be in humour, though we endeavoured much to coax him to the organ. Having observed however that he would sometimes play from pique, when intreaties had no effect, I desired Master Wesley to give the treble only, and told Crotch that he could not add the base to it.«²³³
Der Unterschied zwischen wissenschaftlichem Experiment und Showprogramm kurioser Ausstellung lag also weniger darin, was oder wie hier beobachtet wurde, als vielmehr in der Frage, wer dies tat. Ebd., S. . Siehe Charles Burney, »Account of an Infant Musician«, S. . Daines Barrington, Miscellanies, S. .
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. die wirkungslose entzauberung durch den sensualismus Die Zeugenschaft der Royal Society führte zu einem Missverständnis. Nicht nur, dass Charles Burneys Bericht für die Philosophical Transactions überhaupt gegen seine Absicht für die Werbung des Naturwunders Master Crotch instrumentalisiert wurde, auch philosophische Grundüberzeugungen des Schriftstellers wurden dabei teilweise völlig auf den Kopf gestellt. Der vierte und letzte Band seiner General History of Music, der bis an die Gegenwart heranführen sollte, war soeben erschienen, da publizierte das Gentleman’s Magazine einen auf den . Juni datierten Leserbrief aus Cambridge, der eine solche Fehldeutung durchblicken lässt. Sein unbekannter Autor (mit dem Kürzel »R. N.«) bekundete darin sein Unverständnis darüber, dass der junge Musiker Crotch, der nun doch alle Hoffnungen erfülle, die man in ihn gesteckt hätte, in Burneys Musikgeschichte nicht einmal erwähnt würde : »[…] why has he omitted to mention one, whose uncommon talents justly entitle him to a very distinguished place in such a work ? I allude to William Crotch. It appears the more unaccountable, because Dr. Burney is a patron and friend of Crotch, was the first who brought his superior genius forth to public notice, and, in the Philosophical Transactions, has given a long detail of his infant powers. But the Historian of Music ought to have recorded the process of those early powers ; he should have informed the world, that he, who at five years old was capable of all described by him, is now, at fourteen, a still greater prodigy of genius ; that he is the composer of a sacred oratorio, the performance of which has lately excited the astonishment of some of the ablest judges, who acknowledge that, in the contrivance of his harmonies, he has shewn himself a complete master of the science, and has equalled the greatest composers in solemn and sublime effect ; that, as a performer on the organ, and a conductor, there are few, if any, who excel him, or who seem so thoroughly acquainted with the genius of that instrument.«²³⁴
Hinter Burneys Auslassung steckte weder ein unachtsames Versäumnis noch böse Absicht, sondern eher seine Distanz zur Idee des Naturgenies und ein eigentümliches Verständnis von Musikhistoriographie. Das musikalische Phänomen des Master Crotch hatte er ohnehin von Anfang an eher relativiert, R. N., »Adress to Dr. Burney, on the Merits of young Crotch«, in : The Gentleman’s Magazine : and Historical Chronicle /o. Nr. (Juli ), S. . Cowgill identifiziert den Autor ohne nähere Angaben als Robert Nares. Siehe Rachel E. Cowgill, Mozart’s Music in London, S. .
Die wirkungslose Entzauberung durch den Sensualismus |
anstatt es wie andere Zuschauer in den sprichwörtlichen Himmel zu heben. Dazu diente ihm ein sensualistisches Erklärungsmodell. Der Sensualismus ist als etabliertes erkenntnistheoretisches Paradigma des . Jahrhunderts bei Burney eindeutig erkennbar, bei Barrington zumindest zwischen den Zeilen. Das bedeutet nicht mehr, als dass beide Autoren bei Nennungen oder Andeutungen von Ursachen musikalischer Fähigkeiten der Sinneserfahrung gegenüber angeborenem Vermögen einen gewissen Vorzug gegeben haben. Der Sensualismus bildete eine Voraussetzung ihrer Überlegungen, bleibt in ihren Aufsätzen von epistemologischer Auseinandersetzung aber unberührt, seine Anwendbarkeit wird also nicht begründet. Barrington etwa dachte in seinem Aufsatz ausführlich über die »impressions made upon us by musical notes […] during our infancy«²³⁵ (insbesondere im Vergleich zur Wortsprache) nach. Mit gleicher Selbstverständlichkeit werden insbesondere im Bericht Burneys den Sensualismus eindeutig kennzeichnende Phrasen wie : »the senses, by which intelligence is communicated to the mind« oder »The eye and the ear […], which seem to afford reason its principal supplies« fallengelassen.²³⁶ Burney war ein erklärter Bewunderer John Lockes,²³⁷ der als wichtigster und einflussreichster Initiator der Denkrichtung zu nennen ist. Mit dem Essay Concerning Humane Understanding () hatte sich der wohlhabende Gelehrte Locke gegen Ende des Lebens vor allem gegen den Innatismus, also die ältere platonische Theorie eingeborener Ideen, gewandt. Für den Geist eines neugeborenen Kindes fand er zur Metapher einer Tabula rasa (»ein unbeschriebenes Blatt, ohne alle Schriftzeichen«²³⁸), in die sich die Eindrücke der Außenwelt einprägen. In seinen Überlegungen zum Erziehungsprogramm der männlichen Elite, die als Some Thoughts Concerning Education erstmals veröffentlicht wurden, schrieb Locke daher, dass er »den Sohn eines Gentleman, […] als er damals sehr klein war, nur als weißes Papier oder Wachs ansah, das man bilden und formen kann, wie man will«²³⁹. Seine zuvor ausgearbeitete Daines Barrington, Miscellanies, S. . Charles Burney, »Account of an Infant Musician«, S. . Siehe Roger Lonsdale, Dr. Charles Burney, S. . John Locke, Versuch über den menschlichen Verstand, Bd. : Buch I und II, Hamburg (= Philosophische Bibliothek ), S. . Heute ist auch die Bezeichnung Empirismus in Bezug auf Locke gängig. Um Verwirrungen zwischen erkenntnistheoretischem Paradigma und dem Bacon’schen Forschungsprogramm zu vermeiden (beide standen natürlich in Beziehung zueinander), wird im Folgenden der Begriff des Sensualismus verwendet. John Locke, Gedanken über Erziehung, Übersetzung, Anmerkungen und Nachwort von Heinz Wohlers, Stuttgart , S. .
| Master Crotch, ein musikalisches Phænomenon
erkenntnistheoretische Position war dabei die Voraussetzung für die großen Hoffnungen, die Locke in die Pädagogik setzte : »Die kleinen oder nahezu unmerklichen Eindrücke auf unsere zarte Kindheit haben sehr bedeutende und dauernde Folgen : es ist wie mit den Quellen mancher Flüsse, wo ein behutsames Anlegen der Hand die lenksamen Wasser in Kanäle leitet, die ihnen einen ganz andersgerichteten Lauf geben ; durch diese Leitung, die ihnen gleich zu Anfang an der Quelle gegeben wird, streben sie in verschiedene Richtungen und gelangen endlich zu sehr entfernten und auseinanderliegenden Orten.«²⁴⁰
Sensualisten hatten begreiflicherweise ihre Schwierigkeiten mit der weit verbreiteten Idee des geborenen Genies. Locke (radikaler noch Nachfolger wie William Sharpe oder Claude Adrien Helvétius) wies den Gedanken daher zurück und hielt ihm den Einfluss von Erziehung entgegen.²⁴¹ Andererseits erkannte auch er unterschiedliche Veranlagungen unter den Menschen und ließ hierbei sogar Ausnahmen zu seinem Erziehungsgrundsatz zu : »Zugegeben, es gibt Menschen mit von Natur aus wohlausgestatteter kräftiger Körper- und Geistesverfassung, die keiner großen Hilfe durch andere Menschen bedürfen ; die Stärke ihrer natürlichen Anlagen führt sie von der Wiege an zur Vollkommenheit, und der Vorzug ihrer glücklichen Körperbeschaffenheit läßt sie Wunder vollbringen. Beispiele dieser Art sind jedoch selten«²⁴².
Historisch parallel zur Entwicklung und Verbreitung sensualistischer Erkenntnistheorie lief die mit Thomas Willis (übrigens ein Gründungsmitglied der Royal Society) und seiner Abhandlung Cerebri Anatome () begonnene Entdeckung der Funktionen des Nervensystems. Beide Wissensbereiche, Philosophie und Medizin, ergänzten sich dabei auf ideale Weise und bereiteten die wissenschaftliche Basis für einen in sich kohärenten Entwurf des empfindsamen Menschen, der sich im . Jahrhundert europaweit als feste Vorstellung durchsetzen sollte.²⁴³ Was physiologische Überlegungen zu Gehör und sinnli Ebd., S. . Siehe Darrin M. McMahon, Divine Fury. A History of Genius, New York , S. –. John Locke, Gedanken über Erziehung, S. . Zur natürlichen Veranlagung siehe außerdem ebd., S. –, –, . Vgl. George S. Rousseau, Nervous Acts. Essays on Literature, Culture and Sensibility, Basingstoke u. a. , insbes. S. –. Siehe zur Empfindsamkeit insbesondere auch Kapitel ., S. –.
Die wirkungslose Entzauberung durch den Sensualismus |
cher Empfindung betraf, äußerte sich Burney ebenfalls expliziter als Barrington, doch gibt es keinen Grund zur Annahme, dass Barrington in dieser Sache, die eher dem Allgemeinwissen der Zeit entsprach, entscheidend abwich.²⁴⁴ Auch von Burney aber wurden Nerven nur beiläufig in einer Fußnote erwähnt, mit welcher er eine sich angeblich einst in der St.-Pauls-Kathedrale ereignete Episode, die ihm von Michael Crotch übermittelt worden war, an seine Leserschaft weiterreichte : »His father […] told me, that when he first carried the child to the cathedral he used to cry the instant he heard the loud organ, which, being so much more powerful than that to which he had been accustomed at home, he was some time before he could bear without discovering pain, occasioned, perhaps, by the extreme delicacy of his ears, and irritability of his nerves.«²⁴⁵
Barrington war der Ansicht, dass mangelnde Musikalität neben fehlender Ermunterung in der Kindheit bei vielen Menschen durch »a defect in their organs of hearing«²⁴⁶ verursacht würde. In gewisser Hinsicht konsequenter und verbindlicher noch als Burney und Barrington aber dachte Lichtenberg Sensualismus und Nervenmedizin weiter. Er führte die Begabung von Crotch auf eine bereits im Mutterleib erfolgte Prägung zurück. Der Bau der Orgel, so Lichtenberg, hätte »ein unendlich häufiges Stimmen«²⁴⁷ der Pfeifen notwendig gemacht, was aufgrund der begrenzten Freizeit des Vaters vor allem am späten Abend und frühen Morgen stattgefunden hätte. Gerade zu dieser Zeit aber sei »der Mensch überhaupt, und vorzüglich das Frauenzimmer« für solche sinnlichen »Eindrücke« empfänglich, was wiederum (über die körperliche Verbindung zur Mutter) zu einer entsprechenden Sensibilisierung der Nerven des Fötus geführt hätte : Auch der Schweizer Arzt Samuel Auguste Tissot bewegte sich bei seinen Beobachtungen über Mozart innerhalb des Sensualismus und sah die Grundbedingung von dessen Begabung in der Sensitivität des Hörorgans. Siehe [Samuel Auguste Tissot], »XVI. Discours«, in : Aristide ou le Citoyen (), S. –. Vgl. zu dem Aufsatz Alain Cernuschi, »Tissot déchiffre Mozart ou d’un sillage de l’enfant prodige dans la pensée des Lumières«, in : Adriano Giardina und Béatrice Lovis (Hgg.), Mozart, … En passant par Lausanne. Evocation de la vie musicale, lyrique et théâtrale à Lausanne et dans ses environs entre et la Révolution française, Lausanne u. a. , S. –. Charles Burney, »Account of an Infant Musician«, S. . Daines Barrington, Miscellanies, S. . Georg Christoph Lichtenberg, »Protocoll des Sekretärs der Königl. Societät der Wissenschaften zu London«, S. .
| Master Crotch, ein musikalisches Phænomenon »Durch diese Verbindung von Umständen mußte schon selbst dem ersten Keim des Kindes eine Bildung und hernach den mehr entwickelten Fibern desselben eine Spannung gegeben werden, die, als endlich das Vehiculum der Töne sein Ohr unmittelbar berührte, die Schwingungen desselben nicht allein leichter annahm, sondern auch ihn selbst früher zur Thätigkeit reizte, dieselbe Empfindung zu erhalten. Was in den Organen der Mutter schnell vorübergehende Erschütterung war, das konnte bey dem Embryo Bildung bewürcken […]. Er war bekannt mit dieser Music, ehe er sie noch eigentlich gehört hatte ; etwa so, wie sich die ganze Erinnerung an einen Traum oft blos in einem schwachen und durch die geübteste Selbstbeobachtung kaum zu haschenden Gefühl äussert, als erlebte man eine Begebenheit zum zweytenmal, von welcher uns unsere Vernunft deutlich sagt, daß wir sie jetzt zum erstenmal erleben.«²⁴⁸
Sensualisten führten Musikalität – im philosophischen Sprachgebrauch der Zeit : musikalische Ideen des Geistes – auf die Prägung durch die akustische Umwelt zurück, ein Erklärungsmuster, das bei Master Crotch auch an seine Grenzen geriet. Gerade diese Momente, in denen Burney und Barrington um Erklärungen rangen und ihnen manchmal die Worte dafür zu fehlen schienen, sind zum Verständnis ihres Ansatzes besonders aufschlussreich. Das Problem betraf etwa jene musikalischen Fähigkeiten, die man heute einem absoluten Gehör zuschreiben würde : »And this is one of the astonishing properties of his ear, that he can distinguish at a great distance from any instrument, and out of sight of the keys, any note that is struck, whether a, b, c, &c. In this I have repeatedly tried him, and never found him mistaken even in the half notes ; a circumstance the more extraordinary, as many practitioners and good performers are unable to distinguish by the ear at the opera or elsewhere in what key any air or piece of music is executed.«²⁴⁹
Der Begriff, den Burney für das Vermögen einer fehlerfreien Benennung angeschlagener Noten wählte, ist durchaus bezeichnend. Zwar kann der Termi Ebd., S. –. Zu Lichtenbergs Auseinandersetzung mit entsprechenden Theorien der Zeit, vgl. Linde Katritzky, »William Crotch oder der Traum von der Perfektibilität«, S. –. Zu zeitgenössischen Vorstellungen angeborener Musikalität und frühkindlicher Prägung durch die akustische Umwelt vgl. auch die diversen Hinweise bei Katharina Schilling-Sandvoß, Kindgemäßer Musikunterricht in den musikpädagogischen Auffassungen des . und . Jahrhunderts, Frankfurt a. M. u. a. (= Beiträge zur Geschichte der Musikpädagogik ), S. –. Charles Burney, »Account of an Infant Musician«, S. .
Die wirkungslose Entzauberung durch den Sensualismus |
nus »distinguish« auch als Synonym für discern (erkennen) verstanden werden, meint hier vermutlich aber tatsächlich ein Vermögen zur Unterscheidung von Tönen. Wenn man so will, ging Burney also von einem perfekten ›relativen Gehör‹ aus. Ein angeborener innerer Referenzton beispielsweise wäre für ihn gemäß dem epistemischen Rahmen, in dem er sich bewegte, nicht vorstellbar gewesen. Der angestellte Vergleich mit der Routine professioneller Musiker verdeutlicht, dass der Autor hier grundsätzlich versuchte, auch dieses Merkmal in den Erfahrungen des Kindes zu begründen. Aus demselben Grund zeigte sich Barrington erstaunt darüber, dass Crotch selbst jene besonders tiefen und hohen Töne auf einem Pianoforte Burneys identifizieren konnte, die allein die erweiterte Klaviatur dieses bestimmten Instruments zu bieten hatte (andere Instrumente üblicherweise nicht).²⁵⁰ Ebenso überraschend war es für ihn, dass das Kind seine Transpositionen des Minuet de la Cour selbst in das ungebräuchliche Fis-Dur (»which is never used by English composers«²⁵¹) souverän zu führen wusste. Das Ergebnis eines Versuchs, den Samuel Wesley mit Crotch unternommen und von dem er Barrington Bericht erstattet hatte, war noch schwieriger zu erklären. Crotch hätte nämlich, obwohl bisher nur mit dem chromatischen und temperierten Tonvorrat der Orgel maßgeblich vertraut gewesen, sogar die von Wesley auf der Violine angespielten Vierteltöne richtig bestimmt : »He likewise judges most accurately of what are called extremes on the violin, which seems to be still more astonishing, as the child hath scarcely ever heard any other instrument but the organ, which is defective in these quarter-tones. In other words, it seems to prove, that Crotch’s ear is so very exquisite as to distinguish quarter tones, whilst the notes of the organ are only subdivided into half-tones ; all of which are to a certain degree imperfect, and the ability of the tuner is shewn by distributing this defect, as equally as possible, amongst them all. Surely therefore this great refinement may be pronounced to have been almost innate in the child ; for though perhaps he might have heard a Norwich fiddler, yet it is highly improbable that such performer should have stopped with this great precision.«²⁵²
Vorsichtig deutet Barrington zuletzt dann doch an, dass hier die Schlussfolgerung auf ein angeborenes Vermögen (»innate in the child«) viel näher liege. Siehe Daines Barrington, Miscellanies, S. . Ebd., S. . Ebd., S. –.
| Master Crotch, ein musikalisches Phænomenon
Burney, der sich in seinem Aufsatz auch theoretisch mit dem Phänomen künstlerischer Begabung befasst hat, erklärte die außerordentliche Ausprägung der jeweiligen Sinne, Auge oder Ohr, zu den entsprechenden Schlüsselqualitäten : »[…] it is only by extraordinary proofs of quickness and discrimination in the use of theses senses, that an early tendency to the art of painting or music is discovered.«²⁵³ Die basale Anlage war für diesen aber bei weitem nicht mit wirklichem Können oder Meisterschaft gleichzusetzen und befähigte ein derart begabtes Kind zunächst nur zur Nachahmung : »All therefore that is really admirable in early attempts at music is the power of imitation ; for elegant melody and good harmony can only be such as far as they correspond with or surpass their models […]. [W]ithout the aid of reason and perseverance he [= an infant] can only depend on memory and a premature delicacy and acuteness of ear for his guides ; and in these particulars the child of whom I am going to speak is truly wonderful.«²⁵⁴
Dabei sollte man sich nicht von der Hochschätzung in die Irre führen lassen, welcher der musikalische Gentleman an dieser Stelle scheinbar Ausdruck verliehen hat, und sie im gesamten argumentativen Zusammenhang seines Aufsatzes interpretieren. Tatsächlich entwertete Burney das Phänomen Master Crotch im Verhältnis zum etablierten öffentlichen Bild des Naturwunders doch beträchtlich, indem er es auf eine ungewöhnliche Abweichung in der Entwicklung von Hörorgan und Erinnerungsvermögen reduzierte. Treu dem Paradigma des Sensualismus führte Burney beispielsweise die Tatsache, dass sich das Kind innerhalb weniger Tage den Anthem God save the King vollständig aneignen konnte, allein darauf zurück, dass es dieses Stück nicht nur oft durch das Orgelspiel des Vaters und am Tage zuvor noch besonders eindrücklich von Mrs. Lullman (»Lulman«) gehört, sondern häufig auch als Schlaflied von der Mutter vorgesungen bekommen hätte.²⁵⁵ Durch diese rationale Beweisführung wurde das eigentlich Wunderbare an dem Kuriosum eliminiert, von einer Offenbarung des Metaphysischen der Harmonie ganz zu schweigen. Mit einem Brief aus Norwich, den Burney zitierte, drang zwar auch in seinen Bericht etwas von dieser Idee (»›his whole soul is absorbed in music‹«) ein, allerdings kommentierte er diese Auffassung unversehens mit einer kritischen Fußnote und warf Charles Burney, »Account of an Infant Musician«, S. . Ebd., S. –. Siehe ebd., S. –.
Die wirkungslose Entzauberung durch den Sensualismus |
zu ihrer Entkräftung das Argument ein, dass sich eine gewisse Veranlagung bei dem Kind schließlich auch im Sehsinn äußere : »[…] for whenever he is not at an instrument, he usually employs himself in sketching, with his left-hand, houses, churches, ships, or animals, in his rude and wild manner, with chalk on the floor, or upon whatever other plain surface he is allowed to scrawl.«²⁵⁶
Das Anfertigen naturalistischer Zeichnungen war integraler Bestandteil auch der öffentlichen Inszenierung des Master Crotch, was nicht zuletzt in dem von der Mutter Isabella in Auftrag gegebenen Werbedruck (Abbildung ) sichtbar wird. Hier sind den musikalischen Emblemen der rechten Bildhälfte auf der linken Seite Blätter mit den von Crotch gezeichneten Motiven wie Schiff, Windmühle oder Violine gegenübergestellt, von denen zwei sich eingeprägt auch auf dem Einband einer Mappe befinden, die Sanders in einem seiner Porträts (Abbildung ) mit ins Bild setzte.²⁵⁷ Der anonyme Besucher der Vorführungen, der seinen Bericht vom London Magazine abdrucken ließ, führte das Zeichentalent des Kindes auf dessen »strong imitative powers«²⁵⁸ zurück, eine Formulierung, die von Burney hätte stammen können. Diesem wiederum dienten die Skizzen – evidente Beispiele ästhetischer Nachahmung – auch als Argument dafür, dass hinter den musikalischen Äußerungen des Kindes ebenso bloß die Funktion seines Sensoriums und Gedächtnisses steckte. So versuchte Burney, selbst die freien Fantasien Crotchs mit Imitation zu erklären. Deren Anfänge führte der Forscher auf den Moment zurück, als das Kind angefangen hätte, das Orgelsolo des Musikers Mr. Mully nachzuahmen, der Mitte November als Gast der Familie in deren Haus zugegen gewesen wäre.²⁵⁹ Burney zufolge improvisierte Crotch auch niemals in ungeraden Metren und zeigte vor allem eine Vorliebe für den Dactylus, mit dem das Kind, so seine Vermutung, wohl durch den ersten Teil des populären Bellisle March besonders vertraut sein müsste.²⁶⁰ Die Qualität dieser Stücke schätzte er nicht allzu hoch ein :
Ebd., S. . Als Lieblingsmotive Crotchs nannte auch Daines Barrington, Miscellanies, S. Schiff und Geige. M., »Account of the Musical Phænomenon«, S. . Siehe Charles Burney, »Account of an Infant Musician«, S. . Siehe ebd., S. .
| Master Crotch, ein musikalisches Phænomenon »His chief delight at present is in playing voluntaries, which certainly would not be called music if performed by one of riper years, being deficient in harmony and measure ; but they manifest such a discernment and selection of notes as is truly wonderful, and which, if spontaneous, would surprize at any age.«²⁶¹
Ebenso seien die von Crotch zu einer gegebenen Melodiestimme gespielten Bassbegleitungen keineswegs fehlerfrei : »But these bases must not be imagined correct, according to the rules of counter-point, any more than his voluntaries.«²⁶² Ein mangelndes Verständnis für die Regeln des Kontrapunktes unterstellte auch Barrington dem Kind und wies ihm mit der Transkription eines kürzeren musikalischen Einfalls, die er in seinem Bericht beigab, nebenbei einen satztechnischen Fehler in einer parallelen Stimmführung nach.²⁶³ Folgerichtig sah Burney den Grund für solche Makel nicht in den natürlichen Anlagen Crotchs (er hielt sie schließlich für ausgezeichnet), sondern in mangelnden beziehungsweise schlechten Vorbildern : »And his ear, though exquisitely formed for discriminating sounds, is as yet only captivated by vulgar and common melody, and is satisfied with very imperfect harmony.«²⁶⁴
Unschwer lassen sich hier die Parallelen zu Rousseau erkennen, der sich um die Mitte des . Jahrhunderts mit einer gehörigen Portion Polemik gegen den befeindeten Hofkomponisten Jean-Philippe Rameau und dessen Traktate gewandt hatte. Harmonische Regeln verstand Rousseau nämlich, im Gegensatz zum universellen Anspruch Rameaus, lediglich als eine gesellschaftliche Konvention : »In der Natur gibt es keine andere Harmonie als den Einklang.«²⁶⁵ Inwiefern sich Burney oder Barrington in ihren Untersuchungen an Master Crotch durch den bekannten Philosophen bestärkt fühlten, wenn sie die damalige brandaktuelle englische Ausgabe seines Musikwörterbuchs konsultierten (dass sie es taten, ist denkbar) und bis zum Eintrag »Harmony« blätterten, geht aus ihren Aufsätzen aber leider nicht hervor :
Ebd. Ebd., S. . Siehe Daines Barrington, Miscellanies, S. . Charles Burney, »Account of an Infant Musician«, S. –. Jean-Jacques Rousseau, Musik und Sprache. Ausgewählte Schriften, Übersetzt von Dorothea Gülke und Peter Gülke, . Aufl., Wilhelmshaven (= Taschenbücher zur Musikwissenschaft ), S. .
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»Mons. Rameau pretends, that trebles of a certain simplicity naturally suggest their bass, and that a man, who has an ear true, and not exercised, will naturally suggest it. This is a prepossession of a musician, proved erroneous by the whole of experience. Not only he, who shall never heard bass or harmony, will not find this harmony or bass of himself, but they will displease him as soon as he hears them, and he will prefer greatly the simple unison.«²⁶⁶
Sowohl hinsichtlich seines jungen Alters als auch seiner vermeintlich ungebildeten Verfassung unterscheide sich Crotch, meinte Burney, von anderen bekannten Fällen früher Begabung, wie sie beispielsweise in dem Buch Des Enfans devenus célèbres par leurs études et par leurs écrits () von Adrien Baillet zu finden seien, das vor allem von Heranwachsenden (»adolescents«) berichte und dessen jüngstes Beispiel bereits sieben Jahre alt sei.²⁶⁷ Auch musikalische Kindervirtuosen, an die sich der Musikschriftsteller noch persönlich erinnern konnte, wie den neun- bis zehnjährigen Johann Gottfried Wilhelm Palschau, den er vor vielen Jahren in London schwierige Cembalostücke spielen gehört hätte, oder die kurz darauf zu Bekanntheit gelangte sechsjährige Elisabetta Wynne wären ohne Unterricht und Übung (»without instructions and laborious practice«) niemals so weit gekommen.²⁶⁸ Selbst zu den zunächst ähnlich erscheinenden Fällen der Brüder Wesley und Mozarts sah er einen entscheidenden Unterschied : »Here the difference of education appears : little Crotch, left to nature, has not only been without instructions but good models of imitation ; while Mozart and Samuel Westley [sic], on the contrary, may be said to have been nursed in good music : for as the latter had his brother’s excellent performance to stimulate attention, and feed Jean-Jacques Rousseau, A Complete Dictionary of Music. Consisting of A copious Explanation of all Words necessary to a true Knowledge and Understanding of Music, Translated from the Original French by William Warring, Second Edition, London u. a. , S. . Siehe zu Rousseau auch Kapitel ., S. –. Burney schätzte die musikalischen Schriften Rousseaus, arbeitete an Übersetzungen derselben, beziehungsweise stand zeitweise auch mit ihm in Briefkontakt. Siehe Roger Lonsdale, Dr. Charles Burney, S. , , –, –, –, , –. Weniger teilte er aber Rousseaus polemische Abwertung der Harmonie gegenüber der Melodie. Siehe Kerry S. Grant, Dr. Burney as Critic and Historian of Music, S. –. Siehe Charles Burney, »Account of an Infant Musician«, S. . Siehe zu Baillet auch Kap. ., S. –. Siehe Charles Burney, »Account of an Infant Musician«, S. –. Burney nennt hier unerklärlicherweise »Miss Frederica« als Mädchenname Wynnes.
| Master Crotch, ein musikalisches Phænomenon his ear with harmony ; the German infant, living in the house of his father, an eminent professor, and an elder sister, a near player on the harpsichord, and constantly practising compositions of the first class for that instrument, had every advantage of situation and culture joined to the profusion of natural endowments.«²⁶⁹
Burney hielt Crotch also für denselben Autodidakten, den auch die Zeitungsanzeigen anpriesen. Er bezweifelte nicht, dass es sich bei dessen staunenswerten Fähigkeiten um ein Phänomen handelte, das im Grunde auf ungelenkte Natur und gerade nicht auf Unterweisung und Erziehung zurückzuführen sei : »[…] he has not only all the appearance, but the manners, of an infant, and can no more be prevailed on to play by persuasion than a bird to sing.«²⁷⁰
Vielleicht war es dem Londoner Gentleman aus diesem Grund wichtig gewesen, dieses Phänomen möglichst bald nach der Ankunft der Familie in der Metropole zu untersuchen, bevor Crotch von jemand anderem unter seine Fittiche genommen werden konnte, dessen Einfluss sich hätte dahingehend verfälschend auswirken können. Aus dem Naturzustand heraus entsteht keine Musik : Das war die unerschütterliche philosophische Überzeugung, die im Hintergrund der musikalischen Experimente stand. Das ließ sich, wie Burney in den theoretischen Erörterungen anführte, die seinem Bericht über Crotch vorangestellt waren, zum einen am Verhalten von Säuglingen und Kleinkindern bis ins zweite Lebensjahr festmachen : »However, spontaneous efforts at forming a tune, or producing harmony upon an instrument so early, have never come to my knowledge.«²⁷¹ Zum anderen war der Gegensatz von Natur und Kultur bei dem Autor Bestandteil einer übergreifenden Theorie zur Menschheitsgeschichte : »The arts being governed by laws built on such productions and effects as the most polished part of mankind have long agreed to call excellent, can make but small approaches towards perfection in a state of nature, however favourable may be the Ebd., S. –. In Bezug auf Mozart berief sich Burney hier wiederum auf den Bericht Barringtons aus den Philosophical Transactions. Ebd., S. . Barrington erwähnte in einem Aufsatz (der ursprünglich ebenfalls zuerst in den Philosophical Transactions erschienen war) interessanterweise auch die Transkription von Vogelgesang als eines der von ihm selbst durchgeführten ornithologischen Experimente. Siehe Daines Barrington, Miscellanies, S. . Charles Burney, »Account of an Infant Musician«, S. .
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disposition of those who are supposed to be gifted with an uncommon tendency towards their cultivation. Nature never built a palace, painted a picture, or made a tune : these are all works of art. And with respect to architecture and music, there are no models in nature which can encourage imitation : and though there is a wild kind of music among savages, where passion vents itself in lengthened tones different from those of speech, yet these rude effusions can afford no pleasure to a cultivated ear, nor would be honoured in Europe with any better title than the howlings of animals of an inferior order to mankind.«²⁷²
Unter Natur verstand Burney hier also keineswegs ein Ideal, dem nachzueifern war, nicht die metaphysische Ordnung der Welt, sondern einen Zustand, der möglichst überwunden werden sollte. Er verband mit ihr vor allem das Primitive und Wilde ; Kunst und Kultur hingegen ordnete er ihrem Gegenteil zu : der Zivilisation. Diese gängige Dichotomie wurde im Zeitalter des globalen Kolonialismus in Europa insbesondere mit der zahlreich gedruckten Reiseliteratur immer wieder reproduziert, zu deren Lesern auch Burney zählte (sie gehörte zumindest nachweislich zu seinem Bibliotheksbestand).²⁷³ Das Unzivilisierte und Rohe erkannten auch andere Personen im Musizieren und generellen Verhalten von Crotch, die Merkmale gehörten zu den mehrfach wiederkehrenden Beschreibungskategorien. Barrington etwa machte sich, als er am . Dezember den kleinen Organisten zum ersten Mal beobachtete, folgende Notiz zu dessen unorthodoxer Spielpraxis : »many of his passages hazarded and singular, some of which he executes by his knuckles, tumbling his hands over the keys.«²⁷⁴ Die Formulierung : »sometimes he plays wild«²⁷⁵, die der anonyme Autor der »Musical Anecdote« für die gelegentlichen Improvisationen Crotchs wählte, ist in ähnlicher Weise zu verstehen. Und in Schombergs Manuskript findet sich die Beschreibung : »There is something so artless and wild both in his manners and his music, that it is impossible not to be captivated.«²⁷⁶ Burneys Konzept von Natur und Kultur war auch die Grundlage seines umfänglichen musikhistorischen Werks, dessen erster Band zu diesem Zeitpunkt bereits erschienen war. Seine Idee von Musikgeschichte wird zugleich aber auch in seinem Aufsatz für die Philosophical Transactions aufgedeckt, in dem er
Ebd. Siehe Kerry S. Grant, Dr. Burney as Critic and Historian of Music, S. –. Daines Barrington, Miscellanies, S. . [Anon.], »Musical Anecdote«, o. S. Zitiert nach William Crotch, Memoirs of William Crotch, S. .
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dafür die Analogie des rohen Marmors bemüht, der erst durch gemeinschaftliche Anstrengung der gesamten Künstlerwerkstatt zu einer Skulptur werde.²⁷⁷ Für den Musikhistoriker war sein Gegenstand, die Musikgeschichte, eine Reihe aufeinander aufbauender Errungenschaften, ein kollektiver Fortschrittsprozess also, und er unterschied sich damit radikal von der antiquarischen Einstellung seines Konkurrenten John Hawkins.²⁷⁸ Burney war kein Traditionalist und ergriff auch für den zeitgenössischen Geschmack an moderner Musik Partei, lehnte deswegen die ältere Musik aber nicht dogmatisch ab. In einem Konflikt mit dem Fortschrittsdenken seines Werks steht etwa eine Passage, in der er Purcell ausgiebig als nationales Genie würdigt.²⁷⁹ Seine unbestreitbare Verehrung Händels fand in der offiziellen Gedenkschrift zu den Feierlichkeiten von ihren Höhepunkt, in der er zur Bewahrung des Alten gemahnt und sogar – vielleicht aus einem gewissen Opportunismus heraus – eine für die ancient music typische, für ihn selbst aber eher untypische Gegenwartskritik (»rage for novelty, and tide of fashion«²⁸⁰) anklingen lässt. Im Rahmen seiner Bewertung des Naturphänomens Master Crotch aber wurde Burney sicher vom aufklärerischen Fortschrittsdiskurs geleitet. Die Idee des geborenen Naturgenies, das ohne äußere Einflüsse alle über Jahrhunderte hinweg erarbeiteten Regeln und Standards aus sich heraus übertreffen sollte, erschien für den Londoner Musikkenner mehr als absurd : »It is the wish of some, that the uncommon faculties with which this child is endowed might be suffered to expand by their own efforts, neither restrained by rules, nor guided by examples ; that, at length, the world might be furnished with a species of natural music, superior to all the surprizing productions of art to which pedantry, affectation, or a powerful hand, have given birth. But alas ! Such a wish must have been formed without reflexion ; for music having its classics as well as poetry and other arts, what could he compose or play upon different principles that would not offend the ears of those who have regarded those classics as legislators, and whose souls have been wrapped in elysium by their strains ? He might as well, if secluded Siehe Charles Burney, »Account of an Infant Musician«, S. . Vgl. Maria Semi, Music as a Science of Mankind in Eighteenth-Century Britain, Translated by Timothy Keates, Farnham u. a. , S. –. Siehe ebd., S. –. Charles Burney, An Account of the Musical Performances in Westminster-Abbey, and the Pantheon, May th, th, th ; and June the d, and th, . In Commemoration of Handel, London , S. xv. Zu den Widersprüchen in Burneys Fortschrittsglauben, vgl. auch Kerry S. Grant, Dr. Burney as Critic and Historian of Music, S. –.
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from all intercourse with men, be expected to invent a better language than the present English, the work of millions, during many centuries, as a new music more grateful to the ears of civilized people than that with which all Europe is now delighted. An individual may doubtless advance nearer perfection in every art by the assistance of thousands, than by the mere efforts of his own labour and genius.«²⁸¹
Barrington kommentierte dieses Gedankenexperiment, nachdem er noch kurz auf zwei ähnliche, in Edmund Burkes Dodsley’s Annual Register von angeführte Fälle eingegangen war : »Many have wished that these early geniuses might be left to themselves, in order perhaps to produce a better stile of music than we are possessed of at present ; a conceit which Dr. Burney hath most ably refuted. I could almost wish however, that little Crotch, who hath not only heard, but can execute, several tunes, should be brought up in a village, where there was neither musician nor ring of bells. For though probably his music would not be absolutely wild ; he might perhaps hazard some most singular passages, which might have an amazing effect, when properly introduced by an able composer.«²⁸²
Barrington war hierbei also weniger kategorisch und auch weniger polemisch als Burney. Er malte sich ein ländliches Szenario aus, in dem man Crotch zumindest musikalischen Einflüssen entzöge und versprach sich davon interessante kompositorische Ergebnisse. Die kulturelle Isolation und ihre möglichen Auswirkungen auf den Menschen war eine Utopie, die in der Aufklärung große Faszination auslöste und mit John Locke einen ersten prominenten Vertreter erhielt. Dessen Gedankenexperiment sah »eine Schar kleinerer Kinder«²⁸³ auf einer einsamen Insel vor, die sich, ohne entsprechende Anschauung, ebenso wenig einen Begriff vom Phänomen des Feuers wie von der Gottesidee machen würden, so Locke getreu seiner Argumentationslinie gegen den Innatismus. Meist verblieb die Isolation des Kindes wie hier im Bereich des Fiktiven. Doch konnte man sich zumindest durch die zahlreichen Zeitungsmeldungen oder wissenschaftlichen Abhandlungen, mit denen damals immer wieder von plötzlich auftauchenden absonderlichen jungen Menschen berichtet wurde, Charles Burney, »Account of an Infant Musician«, S. –. Daines Barrington, Miscellanies, S. –. John Locke, Versuch über den menschlichen Verstand, Bd. , S. .
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von denen man annahm, sie seien alleine in der Wildnis aufgewachsen, einigen Aufschluss über die Eigenschaften des Naturmenschen erhoffen.²⁸⁴ Die gegründete Pariser Société des observateurs de l’homme zog sogar ernsthaft ein Experiment in Betracht, bei dem Kinder von der Außenwelt abgeschlossen aufwachsen sollten und versuchte (allerdings vergeblich) die Regierung zur Finanzierung des Projekts zu bewegen.²⁸⁵ Burney, der sich nichts Gutes davon versprach, Crotch auf lange Sicht einfach nur seinen eigenen Instinkten und Launen zu überlassen, appellierte damit auch an die Verantwortung der Eltern und Förderer. So sollte man ihm, sobald er dem Kleinkind entwachsen sein würde, einen entsprechenden Unterricht zukommen lassen : »At present, all his own melodies are imitations of common and easy passages, and he seems insensible to others ; however, the only method by which such an infant can as yet be taught any thing better seems by example. If he were to hear only good melody and harmony, he would doubtless try to produce something similar ; but, at present, he plays nothing correctly, and his voluntaries are little less wild than the native notes of a lark or a black-bird. Nor does he, as yet, seem a subject for instruction : for till his reason is sufficiently matured to comprehend and retain the precepts of a master, and something like a wish for information appears, by a ready and willing obedience to his injunctions, the trammels of rule would but disgust, and, if forced upon him, destroy the miraculous parts of his selftaught performance.«²⁸⁶
Im geringen Alter des Jungen (»till his reason is sufficiently matured«) wäre eine Unterweisung verfrüht, mit der man seiner Ansicht nach generell erst mit fünf oder sechs Jahren sinnvoll beginnen könne.²⁸⁷ Zum jetzigen Zeitpunkt sei nicht viel zu unternehmen, außer ihm gute Vorbilder zur Nachahmung vorzusetzen, so Burney. Der erfahrene Musiklehrer wusste insofern, wovon er sprach, Für das . Jahrhundert relativ umfassend dargestellt von Hansjörg Bruland, Wilde Kinder in der Frühen Neuzeit. Geschichten von der Natur des Menschen, Stuttgart . Siehe Sergio Moravia, Beobachtende Vernunft. Philosophie und Anthropologie in der Aufklärung, Aus dem Italienischen von Elisabeth Piras, Frankfurt a. M. , S. –. Vgl. hierzu auch Nicolas Pethes, Zöglinge der Natur. Der literarische Menschenversuch des . Jahrhunderts, Göttingen , S. –. Zum Verhältnis von Barringtons und Burneys Aussagen zum Primitivismus im . Jahrhundert, vgl. zudem Rachel E. Cowgill, Mozart’s Music in London, S. – ; dies., »›Proofs of Genius‹«, S. . Charles Burney, »Account of an Infant Musician«, S. –. Siehe ebd., S. .
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als er eine seiner Töchter (Esther) erfolgreich früh zur Musikerin ausgebildet und sich auch im Rahmen seiner letztlich gescheiterten Pläne zu einer ersten Musikschule in London nach dem Vorbild der italienischen Konservatorien mit Musikpädagogik beschäftigt hatte.²⁸⁸ In seinem Aufsatz über Crotch gab er dennoch keine Erziehungsratschläge.²⁸⁹ Tatsächlich erst einige Jahre später schien er sich persönlich für eine angemessene Bildung Crotchs einzusetzen.²⁹⁰ Aus London schrieb Burney am . Mai an Sir James Lake, den Governor der Hudson’s Bay Company und einen antiquarisch interessierten Gentleman : »I have always lamented his situation, without seeing the least Possibility of amending it : as this is not an age for the solid Patronage of uncultivated Genius, any further than by transient admiration, & the immediate gratification of curiosity. The Persons who have had the managemt & Guidance of this wonderful Child must inevitably have checked & impeded the progress of his reasoning as well as Musical faculties. But, who, in a free Country, has a right to take a Child from his Parents without consent or ample indemnification ?«²⁹¹
Burney drückte in dem Brief seine Sorge um das moralische und gesundheitliche Wohl des Knaben aus, war sich aber darüber im Klaren, dass man die Familie (»his vulgar & foolish family«²⁹²), die aus ihrem Sohn ja noch gegenwärtig Kapital schlug, finanziell entsprechend entschädigen müsste. Es war damals augenscheinlich möglich, die Relativierung der Begabung William Crotchs durch den Sensualismus nach eigenem Gutdünken umzudeuten und wohl auch die geradezu feindliche Haltung Burneys der Familie gegenüber auszublenden. Die Folge war, dass der berühmte Musikschriftsteller Zweifel an der Wahrheit der Gerüchte um das musizierende Kind aus dem Wege räumte, diesem sogar noch zu größerer Bekanntheit und Strahlkraft verhalf, seine wissenschaftliche Entzauberung aber weitgehend wirkungslos blieb. In Siehe Roger Lonsdale, Dr. Charles Burney, S. –. Vgl. überdies Jamie C. Kassler, »Burney’s ›Sketch of a Plan for a Public Music-School‹«, in : The Musical Quarterly /Nr. (), S. –. Sowohl Katritzky als auch Cowgill verfehlen also den eigentlichen Kern des Aufsatzes, wenn sie behaupten oder zumindest nahelegen, dass es Burney hier darum gehe, Fragen der Musikpädagogik zu erörtern. Siehe Linde Katritzky, »William Crotch oder der Traum von der Perfektibilität«, S. ; Rachel E. Cowgill, Mozart’s Music in London, S. . Siehe auch Rachel E. Cowgill, Mozart’s Music in London, S. –. Zitiert nach Charles Burney, The Letters of Dr Charles Burney. Volume : –, S. – . Zitiert nach ebd., S. .
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einer Rezension seines Aufsatzes beispielsweise, die im März im Monthly Review erschien, wurden zwar dessen Experimente hinreichend zusammengefasst und selbst das entsprechende Notenbeispiel noch einmal abgedruckt, aus all dem aber ein völlig anderer Schluss gezogen, als ihn Burney selbst vorgenommen hatte : »Some have considered harmony as a mere creature of art ; but this infant’s ready and spontaneous adoption of it furnishes a proof that its principles are innate in man : though art has greatly improved and refined upon them, so as to render modern harmony a very complicated and difficult science, full of conventional, as well as natural, beauties. The specimens that have been exhibited by this young, untutored, and unprejudiced mind are such, as cannot be ascribed to a servile imitation of what he had heard and remembered ; but must owe their origin to certain pleasurable sensations, excited in him by particular combinations of sounds ; and instinctively prompting and directing him to the natural accompaniment to a given melody. Instruction is here out of the question. He had never had any, nor was capable of submitting or giving attention to any.«²⁹³
Diese alternative Induktion aus denselben Befunden stand konträr zur Argumentation des Autors, welcher der Musik die Bindung an übergeordnete Natur keineswegs zuerkannte. Im Vorwort seiner Musikgeschichte beispielsweise hatte Burney sie, rhetorisch zugespitzt, mit gezielter Provokation als »innocent luxury«²⁹⁴ tituliert und mockierte sich ein paar Jahre später im dritten Band über die vermutete Verwandtschaft zwischen Musik und Mathematik : Es genüge jenseits von Wissenschaft (als Suche nach wahrer Natur und dem Studium ihrer Regeln) »the mere assistance of experience, and the gift of good ears and powerful nerves«²⁹⁵, um ein guter Komponist zu werden. Burney stand mit seinem radikalen Sensualismus und der Abfuhr, die er der Metaphysik erteilte, damals aber selbst innerhalb gelehrter Kreise eher im Abseits.²⁹⁶ Ausgerechnet ein Mitglied der Royal Society, Johann Christoph Pepusch, der zugleich zu den Gründern der Academy of Ancient Music gehörte, hatte sich schon in einem Beitrag über antike Tonsysteme für die Philosophical Transactions de The Monthly Review ; or, Literary Journal /o. Nr. (März ), S. . Charles Burney, A General History of Music, Bd. , S. xiii. Charles Burney, A General History of Music, From the Earliest Ages to the Present Period, Bd. , London , S. . Vgl. zu Burneys Ansichten : Tim Eggington, The Advancement of Music in Enlightenment England, S. –. Siehe ebd., S. .
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zidiert auf universale mathematische Gesetze berufen und damit auch bereits ein wichtiges theoretisches Fundament für die Musikästhetik der ancient music geliefert.²⁹⁷ tauchte der Name Crotchs noch einmal in der Zeitschrift der sieben Jahre zuvor gegründeten Royal Society of Edinburgh auf. Hier nahm man auf seine angebliche Affinität zu einfachen und geraden Metren Bezug, die Burney zuvor ebenfalls mit entsprechenden Umwelteindrücken erklärt hatte : »It would appear, then, that something of the nature of the march or gavot measure above described, gives the most simple and easy rythm, and is that which would probably first of all strike and please the human mind. Dr. Burney, in his account of Crotch, the musical child, published in the Philosophical Transactions, remarks of him, that, when he plays from his own fancy, what rythm he observes is generally of the march kind, proceeding chiefly by the dactylus and spondæus. The first verses of the ancients were probably formed of the same measures.«²⁹⁸
Die Ordnung der Natur bestimmte demnach nicht nur die Kombination von Tonhöhen, sondern auch die zeitliche Gestaltung der Musik. Das Prinzip der einfachen Zahlenverhältnisse vermochte dabei einen Rhythmus (»regular and perfect rythm«²⁹⁹) näher an den anthropologischen Naturzustand heranzurücken, wie der am Schluss angedeutete Analogieschluss zwischen Antike und Kindheit unterstreicht. Burneys Bericht wurde einmal mehr gegen seine Absichten für Vorstellungen von Natur und universaler Harmonie in Beschlag genommen, die selbst in der Auseinandersetzung mit musikalischer Begabung in Wissenschaftsgesellschaften ungehindert fortwirken konnten. Sensualismus und universale Harmonie lagen im . Jahrhundert generell viel näher, als es die rigorose Auffassung eines Charles Burney jemals zugelassen hätte. Die Berührungspunkte traten insbesondere in dem neu erwachten Interesse an den Schönen Künsten sowie dem Schönen als ästhetische Kategorie Siehe John Christoph Pepusch, »Of the Various Genera and Species of Music among the Ancients, with Some Observations concerning Their Scale«, in : Philosophical Transactions (), S. –. Siehe zum Kontext der alten Musik-Bewegung Tim Eggington, The Advancement of Music in Enlightenment England, S. –. Walter Young, »An Essay on Rythmical Measures«, in : Transactions of the Royal Society of Edinburgh /. Teil, II (), S. . Ebd., S. . Zu den damals gängigen Vergleichen zwischen Menschheitsgeschichte und Lebensalter, vgl. Meike S. Baader, Die romantische Idee des Kindes und der Kindheit. Auf der Suche nach der verlorenen Unschuld, Neuwied u. a. (Geschichte der Pädagogik), S. , .
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hervor, das sich aus der Erkenntnis- beziehungsweise Moraltheorie erst allmählich als eigenständige philosophische Disziplin herauslöste. Hier wurden Sinnesorgane und Metaphysik einander angenähert, eine Tendenz, die vielleicht überhaupt mehr dem Geist der Zeit entsprach als Lockes radikale Tabula rasa. Dabei ist es auch hier notwendig, die Diskussion nicht als eine auf die Musik begrenzte, sondern in einem größeren Kontext zu begreifen. Der oben zitierte Rezensent lässt in seinen Formulierungen über das angeborene Gespür für Harmonie (»its principles […] innate in man«) etwa auch an die Schriften von Anthony Ashley Cooper, des dritten Earl of Shaftesbury, und Francis Hutcheson denken, Werke, die in England zu jenem Zeitpunkt bereits mehrfach neu aufgelegt worden waren und folglich stetig rezipiert wurden. Shaftesbury hatte bereits in einem seiner publizierten Essays die Existenz eines menschlichen Gemeinsinns für das Schöne beziehungsweise die Harmonie (»common and natural sense of a sublime and beautiful in things«³⁰⁰) behauptet, und Hutcheson erklärte in seiner ersten und umfassendsten Abhandlung Inquiry into the Original of our Ideas of Beauty and Virtue (), unter Berufung auf seinen Vorgänger, die Empfänglichkeit des Menschen für das Schöne (»Power of perceiving the Beauty of Regularity, Order, Harmony«) zu einem angeborenen Sinn (»Internal Sense«).³⁰¹ Wie schon Shaftesbury unterschied auch der presbyterianische Prediger und spätere Glasgower Philosophieprofessor Hutcheson zwischen äußeren und inneren Sinnen. In ihrer Hypothese vom Schönheitssinn machte sich der Einfluss John Lockes bemerkbar, um den man in einer entsprechenden philosophischen Abhandlung damals wohl keinen Bogen hätte machen können. Insbesondere Hutcheson aber war es, der das eher im Platonismus fundierte Denken Shaftesburys mit Lockes Sensualismus konsequent zusammenführte.³⁰² Hutcheson zufolge war auf das Wirken des inneren Anthony Ashley Cooper, third Earl of Shaftesbury, Characteristicks of Men, Manners, Opinions, Times, hg. von Lawrence E. Klein, Cambridge u. a. (Cambridge Texts in the History of Philosophy), S. . Siehe Francis Hutcheson, An Inquiry into the Original of our Ideas of Beauty and Virtue in Two Treatises, Revised Edition, edited and with an introduction by Wolfgang Leidhold, Indianapolis (Natural Law and Enlightenment Classics) S. . (Der Ausgabe liegt die zweite verbesserte Auflage von zugrunde.) Siehe Peter Kivy, The Seventh Sense. Francis Hutcheson and Eighteenth-Century British Aesthetics, nd edition, revised and enlarged, Oxford , S. –. Zu Shaftesburys eher kritischer Auseinandersetzung mit Locke siehe ebd., S. . Kivy hat sich bisher am umfassendsten zur Ästhetik Hutchesons, auch zu deren Vorgeschichte und Rezeption geäußert. Zur ästhetischen Theorie des Schönheitssinns bei Shaftesbury und Hutcheson vgl. zudem Timothy M. Costelloe, The British Aesthetic Tradition. From Shaftesbury to Wittgenstein, Cambridge u. a. , S. –.
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Schönheitssinns willentlich ebenso wenig Einfluss zu nehmen, wie auf die äußeren Sinnesorgane. Er sei dem Menschen in gleicher Weise von Geburt zu eigen, auch wenn er sich bei Kindern nicht sofort bemerkbar machen würde und man ihn deshalb leicht fälschlicherweise Unterweisung und Erziehung anstelle der Natur zuschriebe.³⁰³ Sowohl Shaftesbury als auch Hutcheson spekulierten über den Sinn für Schönheit, Ordnung und Harmonie vor allem aus einem Grund : Sie hielten ihn für etwas, das jeden Menschen über die Empfindungen, die er in ihm hervorrief, in seinem täglichen Handeln leiten konnte und – da er ein Geschenk der Natur war, also letztlich von Gott selbst kam – auch leiten sollte : »The Author of Nature has much better furnish’d us for a virtuous Conduct, than our Moralists seem to imagine […]. He has made Virtue a lovely Form, to excite our pursuit of it ; and has given us strong Affections to be the spring of each virtuous Action.«³⁰⁴
Die Philosophen sprachen daher auch von einem Moralsinn (moral sense), ein Konzept, das auf einer Gleichsetzung des Schönen, Guten und Wahren basierte, wie sie auf Platon zurückging, aber im . Jahrhundert nun zu neuer Aktualität gelangte. Dabei wurde der Ästhetik des Schönen als Schlüssel der Moral zunächst von Shaftesbury und Hutcheson, in ähnlicher Weise später etwa auch von David Hume oder Adam Smith, ein Platz eingeräumt, den die durch die Aufklärung angekratzten kirchlichen Dogmen mehr und mehr preisgeben mussten.³⁰⁵ Sensualistische Philosophen wandten sich von der Harmonie also nicht geschlossen ab, sondern überführten sie aus der abstrakten Metaphysik auch in den Bereich subjektiver Wahrnehmung und Gefühle. Dem Stellenwert der Künste kam diese Entwicklung zweifellos zugute, verlieh sie ihnen nicht zuletzt auch einen erhöhten moralischen Impetus. Insbesondere die Musik, die unter der Maßgabe künstlerischer Naturnachahmung wenig zu bieten hatte und dem Paradigma nur unter erheblichen Einschränkungen subsumiert werden konnte, hat hierbei tatsächlich schon im . Jahrhundert einen herausgeho-
Siehe Francis Hutcheson, An Inquiry into the Original of our Ideas of Beauty and Virtue in Two Treatises, S. . Ebd., S. . Siehe Robert E. Norton, The Beautiful Soul. Aesthetic Morality in the Eighteenth Century, Ithaka , S. –.
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benen Status für sich beanspruchen dürfen. Hutcheson widmete sich ihr im Kapitel »Original or Absolute Beauty« seines Hauptwerks, dessen Thema jene Art der Schönheit darstellt, deren Ursache dem Autor nach allein durch ihre formale Einheit von Mannigfaltigkeit (»Uniformity amidst Variety«) zustande komme, also in sich objektiv begründet sei. Dieses Kriterium erfüllte für Hutcheson innerhalb der Kunst allein die musikalische Harmonie und neben dieser nur noch Naturphänomene wie die Regelmäßigkeit der Planetenbahnen und Gezeiten, Erscheinungen der Tier- und Pflanzenwelt sowie mathematische Theoreme.³⁰⁶ Im Gegensatz zur Mimesis der anderen Künste war die Musik also viel unmittelbarer an den Kosmos und seine ewigen Gesetze angebunden, die über den inneren Sinn des Menschen für das Harmonische prinzipiell nicht länger unerreichbar erschienen. Dabei leugnete Hutcheson nicht, dass man zu diesem Sinn wie zu jedem anderen auch unterschiedlich veranlagt sein könne : »This greater Capacity of receiving such pleasant Ideas [of Beauty and Harmony] we commonly call a fine Genius or Taste : In Musick we seem universally to acknowledge something like a distinct Sense from the External one of Hearing, and call it a good Ear ;«³⁰⁷
Die Abgrenzung innerer Sinne von den eingeborenen Ideen des überholten Innatismus war nicht immer einfach.³⁰⁸ Angesichts dieses Problems griff William Jameson in seinem Essay on Virtue and Harmony (), worin er Hutchesons Gedanken des inneren Harmonie- beziehungsweise Moralsinns zur Orientierung des Menschen am Universalen grundsätzlich teilte, zu einem interessanten Vergleich, der sich ebenfalls auf das musikalische Gehör bezog : »With respect to these Determinations of our Mind, or internal Senses, let it be observed that they no more prove innate Ideas, than a natural good Ear can prove an innate Gamut ; that Doctrine being indeed no way affected by any thing here advanced.«³⁰⁹ Siehe Francis Hutcheson, An Inquiry into the Original of our Ideas of Beauty and Virtue in Two Treatises, S. –. Zur Bedeutung Hutchesons für die englische Musikästhetik, vgl. auch Maria Semi, Music as a Science of Mankind in Eighteenth-Century Britain, S. –. Francis Hutcheson, An Inquiry into the Original of our Ideas of Beauty and Virtue in Two Treatises, S. . Vgl. ebd., S. . William Jameson, An Essay on Virtue and Harmony, Wherein A Reconciliation of the various Accounts of moral Obligation is attempted, Edinburgh , S. .
Die wirkungslose Entzauberung durch den Sensualismus |
Leider steht die kurze Bemerkung relativ zusammenhanglos in der moralphilosophischen Arbeit des Geistlichen Jameson. Trotzdem spricht sie ein Detail unmissverständlich aus : Für Sensualisten war ein Sinn für Musik ein naturgegebenes Vermögen, aber kein spezifisches Konzept wie das einer bestimmten Tonleiter, was bedeutete, dass das Phänomen des Master Crotch auch mit einem um innere Sinne erweiterten Sensualismus nicht restlos erklärbar gewesen wäre. Der Schönheitssinn war überdies keine englische Eigenheit. Von einem »Maître de Musique intérieur«³¹⁰ (innerem Musikmeister) für die regelhafte Schönheit der Musik als Teil übergeordneter göttlicher Harmonie sprach in ähnlicher Hinsicht beispielsweise auch der französische Jesuit und Mathematiker Yves Marie André und wandte sich ähnlich wie Hutcheson entschieden gegen die Auffassung, sie sei allein von Meinung und Gewohnheit abhängig. André hob die Musik sogar ausdrücklich über die anderen Künste aufgrund ihrer »prééminence que la nature lui a donné sur tous les autres genres de Beau sensible«³¹¹ (Vorzug, den die Natur ihr über alle anderen Gattungen des empfindsamen Schönen gibt). In diesem weiteren Kontext ist schließlich auch Rameau zu sehen, der gleichfalls von einem naturgegebenen unwillkürlichen Sinn für jene musikalischen Regeln ausging, die er mit den Mitteln des Verstandes lediglich noch nachzuweisen versuchte und die auch für ihn Teil einer göttlichen Ordnung waren.³¹² Als direkte Reaktion auf Rousseaus Angriffe und gegen den Vorwurf des oberflächlichen Rationalismus verlieh er dieser Auffassung insbesondere in seinen Observations sur notre instinct pour la musique () noch einmal Nachdruck und kleidete sie in eine Sprache, die die Philosophen der neuen Empfindsamkeit verstanden : »Pour joüir pleinement des effets de la Musique, il faut être dans un pur abandon de soi-même, & pour en juger, c’est au Principe par lequel on est affecté qu’il faut s’en rapporter. Ce Principe est la Nature même, c’est d’elle que nous tenons ce sentiment qui nous meut dans toutes nos Opérations musicales, elle nous en a fait un don qu’on peut appeller Instinct […]«³¹³ Yves Marie André, Essai sur le beau, Paris , S. . Ebd., S. . Zu André, vgl. Mark E. Bonds, Absolute Music. The History of an Idea, Oxford u. a. , S. –. Siehe David E. Cohen, »The ›gift of nature‹ : musical ›instinct‹ and musical cognition in Rameau«, in : Suzannah Clark und Alexander Rehding (Hgg.), Music Theory and Natural Order from the Renaissance to the Early Twentieth Century, Cambridge , S. –. Jean-Philippe Rameau, Observations sur notre instinct pour la musique, et sur son principe, Paris , S. [iii]. »Um die Wirkungen der Musik voll und ganz genießen zu können, muss
| Master Crotch, ein musikalisches Phænomenon
Christoph Nichelmann, ein Musiker der preußischen Hofkapelle, der Rameaus Spekulationen über den Fundamentalbass in seiner Abhandlung über Die Melodie nach ihrem Wesen sowohl, als nach ihren Eigenschaften () aufgriff, war ebenfalls der Überzeugung, dass »uns die Lust, und das Ergetzen, so da aus der Empfindung der Harmonie fließet, natürlich ist, und mit uns geboren wird.«³¹⁴ Es ist allerdings nicht einmal Philosophie und Musiktheorie allein zuzuschreiben, dass musikalische Harmonie im . Jahrhundert in eine direkte Beziehung zur Natur des Menschen gestellt wurde. Die Medizin war der Idee universaler Harmonie zu jener Zeit nämlich nicht weniger verpflichtet : Sie verwies nach wie vor auf die seit der Antike bekannte heilende Wirkung der Musik, und ihre Abhandlungen waren durchdrungen von einer entsprechenden Metaphorik, die man auch in der populären Rezeption ihrer Erkenntnisse bereitwillig aufgriff.³¹⁵ Das schwingende Saiteninstrument als Analogie des Menschen, um das rätselhafte Zusammenwirken von Körper und Seele über die Nerven begreiflich zu machen, war dabei wohl das gängigste Bild.³¹⁶ George Cheyne hingegen, ein schottischer Arzt und Naturgelehrter, der aufgrund seiner wissenschaftlichen Verdienste in die Royal Society aufgenommen wurde, lieferte in seiner Abhandlung The English Malady (), die zu einer der bekanntesten medizinischen Schriften des . Jahrhunderts überhaupt werden sollte, eine andere Metapher. Er beschrieb das Nervensystem ausgerechnet als Orgel : »That the Intelligent Principle, or Soul, resides somewhere in the Brain, where all the Nerves, or Instruments of Sensation terminate, like a Musician in a finely fram’d and man sich völliger Selbstaufgabe hingeben, und um über sie zu urteilen, muss man sich auf das Prinzip verlassen, durch das man affiziert wurde. Dieses Prinzip ist die Natur selbst, von ihr erhalten wir dieses Gefühl, das uns in allen unseren musikalischen Handlungen bewegt, sie hat uns ein Geschenk gegeben, das man Instinkt nennen kann […]« (Übers. d. Verf.). Christoph Nichelmann, Die Melodie nach ihrem Wesen sowohl, als nach ihren Eigenschaften, Danzig , S. . Siehe Penelope Gouk, »Music and the Nervous System in Eighteenth-Century British Medical Thought«, in : James Kennaway (Hg.), Music and the Nerves, –, Basingstoke u. a. , S. – ; dies., »The role of harmonics in the scientific revolution«, in : Thomas Christensen (Hg.), The Cambridge History of Western Music Theory, . Aufl., Cambridge (The Cambridge History of Music), S. – ; Graham J. Barker-Benfield, The Culture of Sensibility. Sex and Society in Eighteenth-Century Britain, Chicago u. a. , S. –. Diese Metapher verwendete auch Tissot in seinem Aufsatz über Wolfgang Mozart. Siehe [Samuel Auguste Tissot], »XVI. Discours«, S. .
Die wirkungslose Entzauberung durch den Sensualismus |
well-tun’d Organ-Case ; that these Nerves are like Keys, which, being struck on or touch’d, convey the Sound and Harmony to this sentient Principle, or Musician.«³¹⁷
Seltsamerweise erschien der Musiker (»Musician«) als metaphorischer Stellvertreter des Geistes dabei als passiver Empfänger und nicht als Erzeuger der Orgeltöne, also sinnlicher Eindrücke. Cheyne bekannte sich an dieser Stelle zu der Unzulänglichkeit solcher Umschreibungen, die er dem philosophisch weniger vorgebildeten Teil seiner Leserschaft, der das Werk lediglich als praktisches Handbuch nutzen würde, aber dennoch nicht vorenthalten wollte. Es ist darüber hinaus kaum vorstellbar, dass ihm die metaphysische Implikation seines Sprachbildes nicht bewusst gewesen ist : eine harmonische Übereinkunft von Mikro- und Makrokosmos – der Mensch und die Natur als göttliches Instrument gleichermaßen.
George Cheyne, The English Malady : or, a Treatise of Nervous Diseases of all Kinds, as Spleen, Vapours, Lowness of Spirits, Hypochondriacal, and Hysterical Distempers, &c., London , S. –.
4. L E J E U N E L A R S O N N E U R U N D DI E S T I M M E DE R N AT U R
. das kuriose debüt eines vorzeigeschülers Zu Beginn des Jahres wartete Paris gespannt darauf, was Louis Comte in naher Zukunft bieten würde. Der berühmte Zauberkünstler, welcher sich unter Erlaubnis des französischen Königs Louis XVIII. mit dem schmeichelhaften Titel Physicien du Roi schmückte, war zwar eben erst von einer Reise in die französische Metropole zurückgekehrt, dennoch ließ er sein Publikum nicht lange warten und schon bald konnte dieses aus den Zeitungen von neuen »Expériences de Physique amusante, Tours d’adresse, etc.«¹ (Experimenten unterhaltsamer Physik, Kunststücken etc.) erfahren, die ab dem . Februar täglich im Saal des Hôtel des Fermes in der Rue de Grenelle Saint-Honoré stattfinden sollten. Comte war in Frankreich als herausragender Vertreter der physique amusante bekannt, eines Unterhaltungsgenres, dessen erstaunliche und illusionistische Wirkungen vor allem auf Entdeckungen und Erfindungen auf Gebieten wie Magnetismus, Elektrizität oder mechanische Automaten beruhten.² Er verstand sich jedoch ebenso darauf, sein Programm durch weitere weniger wissenschaftliche Attraktionen zu bereichern, etwa seine eigenen Fähigkeiten als Bauchredner oder Gastauftritte anderer Artisten. Ein solcher Gastauftritt wurde nun einem siebenjährigen Knaben gewährt, den die Presse als »M. Hippolyte« ankündigte.³ Für den Violinisten Hippolyte Larsonneur (vermutlich – ?) war das Hôtel des Fermes der Ort seines öffentlichen Debüts.⁴ Larsonneur war aber Etwa Journal du commerce, de politique et de littérature vom . Februar (Nr. ), S. . Vgl. Paul Metzner, Crescendo of the Virtuoso. Spectacle, Skill, and Self-Promotion in Paris during the Age of Revolution, Berkeley u. a. (= Studies on the History of Society and Culture ), S. –. Zur Rolle von Zauberkünstlern bei der Popularisierung von Wissenschaft in Paris vgl. Sofie Lachapelle, »Science on Stage : Amusing Physics and Scientific Wonder at the Nineteenth-Century French Theatre«, in : History of Science /Nr. (), S. –. Vgl. das Bühnenprogramm in : Journal du commerce, de politique et de littérature vom . Februar (Nr. ), S. bis zur Ausgabe vom . April (Nr. ), S. ; in : Journal de Paris, politique, commercial et littéraire vom . Februar (Nr. ), S. bis zur Ausgabe vom . April (Nr. ), S. ; sowie in : Journal des débats politiques et littéraires vom . Februar (o. Nr.), S. bis zur Ausgabe vom . März (o. Nr.), S. . Hippolyte Larsonneur ist der Musikhistoriographie nahezu unbekannt. Erwähnt wird er bei
Das kuriose Debüt eines Vorzeigeschülers |
nicht das einzige ›Wunderkind‹, das die Bühne Comtes betrat. Zwei Jahre zuvor beispielsweise hatte der Magier damit geworben, dass zwischen den beiden Programmteilen »Mlle Ronzi, âgée de ans, surnommée la petite Merveille«⁵ (Mademoiselle Ronzi, fünf Jahre alt, auch genannt das kleine Wunder) mit Harfenspiel und Gesang auftreten würde. Solche von Kindern aufgeführte Zwischenmusiken waren immerhin so erfolgreich, dass Comte sie noch einige Zeit beibehielt, wie Anzeigen für die Auftritte einer Pianistin (»jeune pianiste«) namens Laure Michelot im März belegen.⁶ Und seine Konkurrenten in Paris taten es ihm gleich. So konnte ein gewisser Monsieur Pierre für sein »Théâtre pittoresque et mécanique« in der Galerie Montesquieu ebenfalls ein Harfe spielendes Kind für die Intermezzi auftreiben, das für seine neun Jahre ein angeblich frühreifes Talent (»talent précoce«) aufwies.⁷ Comte wiederum hielt nicht nur im Bereich der Musik nach jungen Talenten Ausschau, um sie seinem Publikum zu präsentieren. Zur Ergänzung seiner magisch-physikalischen Unterhaltungsshows ließ er in der Passage des Panoramas ab eine Schauspieltruppe auftreten, deren Durchschnittsalter gerade einmal zwischen sechs und zwölf Jahren lag, und konnte mit seinem Kindertheater fünf Jahre später sogar noch in einen größeren Saal in der neuen Passage Choiseul umziehen.⁸
Alan Walker, Franz Liszt, Volume : The Virtuoso Years, –, Revised Edition, Ithaca , S. und Ingrid Fuchs, »›Bewundrungswerthes Kind ! deß Fertigkeit man preißt …‹. Beispiele der Beurteilung musikalischer Wunderkinder vom . bis . Jahrhundert«, in : Ingrid Bodsch, Otto Biba und Ingrid Fuchs (Hgg.), Beethoven und andere Wunderkinder, Wissenschaftliche Beiträge und Katalog zur Ausstellung, Bonn , S. . Journal de Paris, politique, commercial et littéraire vom . Januar (Nr. ), S. . Vgl. die Anzeigen bis zur Ausgabe vom . April (Nr. ), S. . Es handelte sich hierbei wohl um Josephine Ronzi, über deren Auftreten in London die Allgemeine musikalische Zeitung Anfang Mai berichtete. Siehe [Anon.], »Aus öffentlichen Blättern«, in : Allgemeine musikalische Zeitung /Nr. (. Mai ), Sp. –. Vgl. Ingrid Fuchs, »›Bewundrungswerthes Kind ! deß Fertigkeit man preißt …‹«, S. . Siehe das Bühnenprogramm in : Journal de Paris et des départemens, politique, commercial et littéraire vom . März (Nr. ), S. , bis zur Ausgabe vom . März (Nr. ), S. . Siehe das Bühnenprogramm in : Le Constitutionnel, journal politique et littéraire vom . Juli (Nr. ), S. . Siehe Frederick W. J. Hemmings, »Child Actors on the Paris Stage in the Eighteenth and Nineteenth Centuries«, in : Theatre Research International /Nr. (), S. –. Darius Spieth zufolge betrieb Comte bereits ab im Hôtel des Fermes und ab in der Salle du Mont-Thabor ein Kindertheater. Siehe Darius A. Spieth, Napoleon’s Sorcerers. The Sophisians, Cranbury , S. , . Im April sollte außerdem ein Kind, das als »l’orpheline de Wilna« bekannt war, in Comtes Theater eine Tanz- und Schauspielvorführung geben. Siehe Le Constitutionnel, journal du commerce, politique et littéraire vom . April (Nr. ), S. .
| Le jeune Larsonneur und die Stimme der Natur
Den Auftakt zu seiner neuen Veranstaltungsreihe machte Louis Comte am . Januar mit einer Vorstellung zu wohltätigen Zwecken – die Einnahmen sollten den Armen des dritten Arrondissements zukommen. Bereits für diesen Tag war der junge Geiger Larsonneur engagiert worden, die Zwischenspiele für die einzelnen Nummern beizusteuern.⁹ Ein Bericht der Zeitschrift La Minerve française gewährt einen Einblick in das bunt gemischte Programm der Veranstaltung, in der sich naturwissenschaftliche Experimente, Zauberkunst, Bauchrednerei, Kuriositätenschau und Musik abwechselten oder stellenweise nahtlos ineinander übergingen : »Qu’on ne s’étonne pas de voir figurer dans cette revue le spectacle de M. Comte, physicien du roi. Pour être équitable, il eût fallu le placer en tête. M. Comte a signalé son retour en donnant, au bénéfice des pauvres du troisième arrondissement, une représentation qui a produit fr. Voilà de ces bonnes œuvres que les favoris de la fortune ne devraient pas se laisser escamoter. – Les expériences de physique, les tours de magie, les scènes de ventriloque, les solos de violon du jeune Hippolyte, et les exercices des deux Hercules du Nord donnent une grande variété à ce spectacle, et le rendent fort divertissement.«¹⁰
Es war gerade die Vielfalt der Unterhaltung, wie dieser Journalist hervorhob, die den Vorzug dieses Spektakels ausmachte. Welches Publikum Comte damit anzog, ist an den gehobenen Eintrittspreisen ersichtlich, die den von ihm angemieteten noblen Etablissements am nördlichen Seineufer durchaus angemessen erschienen.¹¹ Als Unternehmer der Pariser Unterhaltungsbranche muss Siehe Journal de Paris, politique, commercial et littéraire vom . Februar (Nr. ), S. . DL ., »annales dr a m atiques«, in : La Minerve française /o. Nr. (Februar ), S. . »Man wundere sich nicht, in dieser Zeitschrift das Spektakel von Monsieur Comte, dem königlichen Physiker, angeführt zu sehen. Gerechterweise hätte man es an den Anfang stellen müssen. Monsieur Comte hat seine Rückkehr dadurch bekannt gemacht, dass er eine Aufführung zu Gunsten der Armen des dritten Arrondissements gab, die Francs eingebracht hat. Hier nun von den guten Werken, die sich die vom Glück Begünstigten nicht entgehen [escamoter = wörtlich etwa : trickreich entwenden] lassen sollten. – Die physikalischen Experimente, die Zauberkunststücke, die Szenen der Bauchrednerei, die Violinsoli des jungen Hippolyte und die Übungen der beiden Herkulesse des Nordens verleihen dem Spektakel eine große Vielfalt und machen es sehr unterhaltsam.« (Übersetz. d. Verf.). Ein Reiseführer von beinhaltete eine Liste der Eintrittspreise zu den mittlerweile in der Passage Choiseul stattfindenden Veranstaltungen Comtes, die zwischen Franc (Parkett) und Francs (Logen) lagen. Siehe M. Lebrun, Manuel complet du voyageur dans Paris, ou nouveau guide de l’étranger dans cette capitale, soit pour la visiter, ou s’y établir, Paris , S. . Zur
Das kuriose Debüt eines Vorzeigeschülers |
er über exzellente Kontakte verfügt haben, gehörte er selbst doch dem Ordre Sacré des Sophisiens an, einer ägyptophilen Freimaurergesellschaft, die in der Restaurationszeit mit der Theaterwelt der Metropole ebenso verflochten war wie mit ihrer gesellschaftlichen Elite.¹² Mit dem Amüsement des ›einfachen Volks‹ auf den Messen und Jahrmärkten der Stadt hatten seine Veranstaltungen in dieser Hinsicht nicht viel gemeinsam. Das den vielgestaltigen Nummern bei Louis Comte zugrundeliegende Prinzip war das Brechen von Erwartung. Musiker traten bei ihm nicht einfach nur auf, weil sie gut spielen konnten, sondern mussten genau diese Bedingung auf die eine oder andere Weise erfüllen. So ließ sich musikalische Virtuosität etwa auch mit Illusionismus und Akrobatik verknüpfen. Im Herbst beispielsweise demonstrierten die Brüder Bresciani, wie sie trotz gefesselter Hände und anderer Erschwernisse angeblich ganze Violinkonzerte meisterhaft zu spielen wussten : »Deux nouveaux hommes-prodiges attirent la foule au théâtre de M. Comte ; ce sont deux musiciens italiens, les frères Bresciani, qui, les mains enveloppées dans des mouchoir [sic], ou entravées par d’autres obstacles, exécutent des concertos de violon avec un talent que l’on trouve rarement chez des artistes entièrement libres dans leurs movemens.«¹³
Was Kindervirtuosen wiederum für einen Platz im Programm des Zauberkünstlers qualifizierte, war die nicht minder verwunderliche Erscheinung, die aus dem scheinbaren Missverhältnis zwischen Körper und Können resultierte. Auf diese ästhetische Verwirrung hat Comte wohl auch bei Larsonneur spekuliert und diese als Erster entsprechend in Szene gesetzt, auch wenn sie sich während der gesamten Konzertkarriere des Violinisten als Topos hartnäckig halten sollte. Erinnert hat sich das Publikum an einen seiner Auftritte im Hôtel des Fermes Zielgruppe solcher Unterhaltungsangebote vgl. Sofie Lachapelle, »Science on Stage«, S. , . Siehe Darius A. Spieth, Napoleon’s Sorcerers, S. , . Journal de Paris et des départemens, politique, commercial et littéraire vom . Oktober (Nr. ), S. . »Zwei neue Wundermänner locken die Menge ins Theater von Monsieur Comte ; es sind zwei italienische Musiker, die Brüder Bresciani, welche, die Hände in Taschentücher eingewickelt oder durch andere Hindernisse behindert, Violinkonzerte mit einem Talent ausführen, das man selten bei Künstlern findet, die in ihren Bewegungen gänzlich frei sind.« (Übers. d. Verf.) Vgl. hierzu auch die Ankündigungen in Journal de Paris et des départemens, politique, commercial et littéraire vom . November (Nr. ), S. ; Journal des débats politiques et littéraires vom . November (o. Nr.), S. .
| Le jeune Larsonneur und die Stimme der Natur
vielleicht, als wenige Monate nach seinem Debüt das Journal de Paris bereits ein erstes Benefizkonzert in Aussicht stellte : »Le d[é]sir de voir cet artiste en miniature, dont le talent sur le violon n’est point la même proportion, attirera sans doute beaucoup de curieux à cette soirée musicale […].«¹⁴ Über das Alter des Knaben herrschte offenbar zunächst noch Uneinigkeit. Das Journal des débats ging erst von zehn Lebensjahren aus, stellte den Fehler später aber mit folgender Bemerkung richtig : »[N]ous ne nous sommes trompés sur son age, que parce que nous connoissions son talent.«¹⁵ Der Eindruck, dass das Kind seinem Alter ungewöhnlich weit voraus wäre, wurde durch sein Konzert noch einmal bestätigt : »[I]l a exécuté plusieurs morceaux avec un goût et une précision qu’on auroit admirés dans un artiste consommé.«¹⁶ Ein Schreiber der Zeitung Le Constitutionnel, der ihn im Frühjahr in einem der Pariser Vauxhalls spielen gehört hatte, meinte : »Beaucoup d’amateurs s’y étaient réunis, et tous ont trouvé que le virtuose imberbe pourrait lutter avec avantage contre nombre de virtuoses à barbe grise.«¹⁷ In Luxemburg pflichtete man dem Pariser Blatt bei und griff das Oxymoron (»dieser unbärtige Virtuose«) erneut auf.¹⁸ Im Constitutionnel wurde die rhetorische Figur auch nach den Auftritten des Kindes im Théâtre du Vaudeville im folgenden Jahr noch einmal angewandt : »Le jeune Larsonneur, qu’on a déjà entendu plusieurs fois au Vaudeville, n’est encore qu’un enfant ; mais il a fait de tels progrès sur le violon, que son talent ferait honneur à plus d’un artiste dans la force de l’âge. On l’écoute avec beaucoup de plaisir dans la rue de Chartres ; c’est un Baillot imberbe.«¹⁹ Journal de Paris, politique, commercial et littéraire vom . Juli (Nr. ), S. . »Das Verlangen, diesen Miniaturkünstler zu sehen, dessen Talent auf der Violine sich nach ganz anderem Maßstab bemisst, wird zweifellos viele Neugierige zu dieser musikalischen Soiree locken […].« (Übers. d. Verf.). Journal des débats politiques et littéraires vom . Juli (o. Nr.), S. . »Wir haben uns nur über sein Alter getäuscht, weil wir sein Talent kannten.« (Übers. d. Verf.). Journal des débats politiques et littéraires vom . August (o. Nr.), S. . »Er hat mehrere Stücke mit einem Geschmack und einer Genauigkeit gespielt, die man bei einem vollendeten Künstler bewundert hätte.« (Übers. d. Verf.). Le Constitutionnel, journal du commerce, politique et littéraire vom . März (Nr. ), S. . »Viele Musikliebhaber hatten sich dort versammelt und alle fanden, dass der bartlose Virtuose sich problemlos gegen viele graubärtige Virtuosen behaupten könne.« (Übers. d. Verf.). Siehe Luxemburger Wochenblatt vom . Oktober (Nr. ), S. . Le Constitutionnel, journal du commerce, politique et littéraire vom . Juni (Nr. ), S. . »Der junge Larsonneur, den man schon mehrere Male im Vaudeville gehört hat, ist immer noch nur ein Kind ; aber er hat derartige Fortschritt auf der Violine gemacht, dass sein
Das kuriose Debüt eines Vorzeigeschülers | Abb. 8 : C[harles] Motte, Hippolyte Larsonneur, âgé de 7 ans, déjà habile virtuose sur le violon, élève de son père, Lithographie, [Paris : Selbstverlag ?] 1818.
Hippolyte Larsonneur, wie er in der Show des Louis Comte in Erscheinung trat, war eine kuriose Attraktion, aber eben nicht die des reinen Naturwunders. Erstens befand sich Larsonneur schon unbestreitbar im Knabenalter und wurde zweitens in den Werbemedien seiner Laufbahn von Beginn an gemeinhin ausdrücklich als Schüler seines Vaters ausgegeben. Zu diesen Medien zählt neben Konzertankündigungen auch ein Porträtdruck (Abbildung ), der den entsprechenden Hinweis ebenfalls gibt, und zwar nicht ohne Grund. Bei den Larsonneurs handelte es sich um eine Musikerfamilie. Sie stammten aus Lyon und ließen sich um diese Zeit offensichtlich in Paris nieder.²⁰ Bei dem Talent mehr als einem Künstler im besten Alter Ehre machen würde. Man hört ihn mit viel Vergnügen in der Rue de Chartres ; er ist ein bartloser Baillot.« (Übers. d. Verf.). Dass es sich bei Lyon um die Geburtsstadt von Hippolyte Larsonneur handelte, wurde bei dessen Ankunft in der Stadt Ende August angemerkt. Siehe Journal de Lyon et du département du Rhône vom . September (Nr. ), S. . Für den Geburtsort des jüngeren Bruders Charles gab Hippolyte Verly in seinem biographischen Lexikon ebenfalls Lyon an. Siehe Hippolyte Verly, Essai de biographie lilloise contemporaine. –, Lille , S. . Zu Charles Larsonneur, der ab in Lille vor allem als Chordirigent und -komponist sowie als Gesangslehrer an der Académie de Musique wirkte, siehe zudem den Personeneintrag im
| Le jeune Larsonneur und die Stimme der Natur
Versuch, Hippolyte hier als Kindervirtuose bekannt zu machen, kann es nicht in ihrem Interesse gewesen sein, von dem Sohn den Eindruck eines Autodidakten zu erwecken, im Gegenteil. Während dieser an Comte vermittelt wurde, versuchte der Vater nämlich, sich in der Stadt als Musiklehrer für Violine, Gesang und Gitarre zu etablieren. Neben den gängigen Hausbesuchen (sie waren für einen Großteil der Berufsmusiker bis ins . Jahrhundert hinein zumindest als Nebenbeschäftigung üblich) bot Monsieur Larsonneur ab Mai auch feste Unterrichtsstunden in der Rue des Jeûneurs gegen eine monatliche Gebühr von Francs an, wie sich dem Adressbuch des zeitgenössischen Almanach musicale entnehmen lässt, in dem sich eine Anzeige seiner kleinen Musikschule nebst Personeneintrag seines Sohnes befindet.²¹ Sein Unternehmen stellt ein typisches Beispiel für private Musikschulen dar, wie sie im . Jahrhundert in zunehmender Zahl gegründet wurden, nachdem seit in Frankreich alle entsprechenden Privilegien von der Obrigkeit aufgehoben waren.²² Der mit den festen Einrichtungen einhergehende Ortswechsel des Unterrichts, also der Umstand, dass sich der Schüler oder die Schülerin nun zum Lehrer begeben musste und nicht umgekehrt, war Ausdruck eines signifikanten sozialen Wandels, sprich der Loslösung aus mäzenatischen Verhältnissen und einer Professionalisierung der Musikpädagogik.²³ Bestandteil dieses Wandels war auch die Hinwendung zur Öffentlichkeit. So wurde es für private Musikschulen nun beispielsweise üblich, Anzeigen in lokalen Zeitungen zu schalten oder Prüfungen beziehungsweise Schülerkonzerte einem (zahlenden) Publikum zugänglich zu machen.²⁴ Auch die benannte Anzeige für die Schule von Monsieur Larsonneur verkündete, dass er hier den Winter über musikalische Soireen veranstalten wollte, bei denen er seine besten Gesangs- und Violinschüler präsentieren würde.
Anhang zu : Guy Gosselin, La symphonie dans la cité. Lille au XIXe siècle, Paris (MusicologieS), S. . Siehe Annales de la musique, ou Almanach musicale (), S. , –. Vgl. Philippe Lescat, L’enseignement musical en France de à , Courlay (Mnemosis. Mémoire de la musique), S. –. Siehe Michael Roske, Sozialgeschichte des privaten Musiklehrers vom . zum . Jahrhundert, Mit Dokumentation, Mainz (= Musikpädagogik ), S. –. Siehe Philippe Lescat, L’enseignement musical en France de à , S. . Zum deutschsprachigen Raum vgl. Georg Sowa, Anfänge institutioneller Musikerziehung in Deutschland (–). Pläne, Realisierung und zeitgenössische Kritik. Mit Darstellung der Bedingungen und Beurteilung der Auswirkungen, Regensburg (= Studien zur Musikgeschichte des . Jahrhunderts ), S. –.
Das kuriose Debüt eines Vorzeigeschülers |
Es ist eindeutig zu erkennen, wie der Vater den öffentlichen Erfolg seines Sohnes Hippolyte gezielt dazu nutzte, um für seine pädagogische Methode und seine Einrichtung zu werben. Besonders klar stellt sich dies in einer vorgeblich gewöhnlichen Nachricht im Journal du commerce (dem späteren Constitutionnel) heraus, die vermutlich aber eher eine, von ihm selbst oder einem besonders wohlgesonnenen Schreiber formulierte, getarnte Reklame darstellte : »M. Larsonneur, dont le fils, âgé de sept ans, entendu cet hiver dans les soirées de M. Comte, étonne déjà les amateurs et les maîtres par ses talens précoces sur le violon, se propose d’avoir une classe de violon à Paris ; il y suivra avec les élèves qui s’adresseront à lui les principes qu’il a employés avec son fils, et dont les résultats, attestés par les succès de ce jeune enfant, ne laissent pas lieu de douter des avantages de la méthode de ce professeur. M. Larsonneur annoncera bientôt l’ouverture de son établissement par un prospectus.«²⁵
Umgekehrt nahm man auch im Zusammenhang der Auftritte des Knaben im Hôtel des Fermes dessen Stellung als Schüler seines Vaters zur Kenntnis, wie aus einem Bericht des Journal des dames et des modes über eine zweite Wohltätigkeitsveranstaltung des Zauberkünstlers am . März hervorgeht : »Dans la soirée du mars, qui avoit été généreusement consacrée par M. Comte, aux indigens du me. arrondissement, on a beaucoup applaudi le jeune Hyppolite Larsoneur [sic]. Ce virtuose n’a que sept ans ; et les sons qu’il tire du violon sont si harmonieux, si purs ; son archet a tant de nerf ; et il parcourt le manche de son instrument avec une assurance et une prestesse si rares, que les grands maîtres en conçoivent les plus belles espérances. Son père a été son unique instituteur.«²⁶ Journal du commerce, de politique et de littérature vom . April (Nr. ), S. . »Monsieur Larsonneur, dessen siebenjähriger Sohn, der diesen Winter in den Soireen von Monsieur Comte zu hören gewesen ist, bereits die Liebhaber und Kenner mit seinen frühreifen Talenten auf der Violine erstaunt, hat die Absicht, eine Violinklasse in Paris einzurichten ; er wird dort mit den Schülern, die ihn aufsuchen, denselben Grundsätzen folgen, die er bei seinem Sohn angewandt hat und deren Ergebnisse, belegt durch die Erfolge des kleinen Kindes, keinen Zweifel an den Vorteilen der Methode dieses Lehrers lassen. / Monsieur Larsonneur wird bald die Eröffnung seiner Einrichtung per Handzettel bekannt geben.« (Übers. d. Verf.). Journal de dames et des modes /Nr. (. März ), S. . »Bei der Soiree vom . März, die von Monsieur Comte großzügig den Einwohnern des . Arrondissements gewidmet gewesen war, hat man dem jungen Hyppolite Larsoneur [sic] viel Beifall gespendet. Dieser Virtuose ist nur sieben Jahre alt ; und die Töne, die er der Violine entlockt, sind so harmonisch,
| Le jeune Larsonneur und die Stimme der Natur
Das Kalkül, den Sohn gleichzeitig in Comtes kuriosem Theater auftreten zu lassen, lässt sich hier leicht erraten : Monsieur Larsonneur zeigte, dass allein er den Schlüssel für eine solch unglaubliche Entwicklung und das Erlernen entsprechender musikalischer Fähigkeiten in den Händen halte. Über seine tatsächliche Unterrichtsmethode ist weiter nichts überliefert. Auch bleibt offen, wann die Soireen seiner Musikschule genau stattgefunden haben und ob sein Sohn – was naheliegend wäre – zu ihnen ebenfalls seinen Beitrag leistete.²⁷ Am wirkungsvollsten konnte Hippolyte Larsonneur die Rolle des Vorzeigeschülers aber ohnehin mit anderen öffentlichen Auftritten ausfüllen, sei es eben bei Comte oder schließlich sogar mit eigenen Benefizkonzerten, die eine noch größere Strahlkraft besaßen und genau die wohlhabende Elite aus Adel und höherem Bürgertum erreichten, aus der die Dilettanten und Dilettantinnen stammten, die sich und ihren Kindern eine Musikerziehung leisteten. Die Rolle des musikalischen Adepten blieb jedenfalls ein grundlegendes Moment in der Inszenierung des jungen Larsonneur. Anfänglich zweifellos auf Betreiben des Vaters in Umlauf gebracht, hat es sich irgendwann möglicherweise sogar verselbstständigt. So unterstrich der Constitutionnel beispielsweise nach den ersten Erfolgen in der Hauptstadt und anlässlich des unmittelbar bevorstehenden Aufbruchs zur Konzertreise durch Frankreich im Sommer noch einmal : »Le jeune Hippolyte est élève de son p[è]re, dont il a suivi les leçons pendant trois ans.«²⁸ Und in der Rezension über ein Konzert in Orléans im Dezember war zu lesen : »Le talent supérieur qu’il possède est dû aux leçons de son père […]«²⁹. Ein ganz ähnliches, heute aber ungleich bekannteres Beispiel findet sich übrigens rund zehn Jahre danach bei Clara Wieck (später Schumann). Von ihrem internationalen Erfolg als Kindervirtuosin konnte der Vater Friedrich, der selbst keineswegs als ausgezeichneter Pianist galt, in seiner so rein ; sein Bogen ist dermaßen kraftvoll ; und er durchläuft den Hals seines Instruments mit einer so seltenen Sicherheit und Behändigkeit, dass die großen Meister darin die schönsten Hoffnungen erkennen. Sein Vater ist sein einziger Lehrer gewesen.« (Übers. d. Verf.). Zum Beispiel trat in London auch der erfolgreiche Kindervirtuose John Louis Hummell regelmäßig mit Horn und Klavier in der Musikschule des Vaters Charles Hummell auf. Siehe Joyce Simlett-Moss, »The Two Master Hummel(l)s«, in : The Musical Times /Nr. (), S. –. Le Constitutionnel, journal du commerce, politique et littéraire vom . Juni (Nr. ), S. . »Der junge Hippolyte ist Schüler seines Vaters, von dem er drei Jahre lang Unterricht erhalten hat.« (Übers. d. Verf.). [Anon.], »Théâtre d’Orléans«, in : Journal général du département du Loiret vom . Dezember (Nr. ), S. . »Das überragende Talent, das er besitzt, verdankt er dem Unterricht seines Vaters […]« (Übers. d. Verf.).
Das kuriose Debüt eines Vorzeigeschülers |
Tätigkeit als Musikpädagoge und Musikalienhändler, durchaus vergleichbar mit Monsieur Larsonneur, in hohem Maße profitieren.³⁰ Die in den von Friedrich Wieck angelegten (und wenigstens anfänglich von ihm noch selbst verfassten) Jugendtagebüchern protokollierten Lernerfolge des Kindes waren möglicherweise von der Absicht des Pädagogen begleitet, sie einmal »als begleitendes Dokument des gelungenen Lebendversuchs seiner geplanten neuen Klaviermethodik«³¹ zu publizieren. Letztlich kommen hier aber lediglich reguläre soziale Verhältnisse von Musikerfamilien der Zeit zum Ausdruck, in denen die eigenen Kinder selbstverständlich in berufliche Strategien, durchaus auch gezielt gewinnbringend, eingebunden wurden. Ungeachtet der pragmatischen Interessen des Vaters an einer solchen Inszenierung seines Sohnes, beförderte und bediente der wiederholte Hinweis auf seine Unterweisung auch eine ganz bestimmte Perspektive der öffentlichen Wahrnehmung des Knaben. Er eröffnete einen pädagogischen Blick, der die Fähigkeiten nicht für sich nimmt, sondern immer zugleich einerseits mit den Erziehungsmethoden und andererseits mit einem bestimmten Entwicklungsstand abgleicht. An »le jeune Larsonneur«, wie man den Musiker in der Öffentlichkeit meist bezeichnet hat, wurde damit – im Gegensatz zum statischen Zustand eines vermeintlichen Naturgenies – der Eingriff von Kultur markiert. Dass sich diese Perspektive möglicherweise auch auf den Rezeptionsmodus des Publikums übertragen haben mag, lässt sich etwa aus den hoffnungsvollen Zukunftsprognosen schlussfolgern, mit der einige der Nachrichten und Rezensionen enden. Eine entsprechende Erwartungshaltung wurde schließlich auch in Konzertankündigungen bedient : »On assure d’ailleurs que le talent de cet intéressant virtuose a acquis depuis deux ans un degré d’accroissement tout-à-fait extraordinaire.«³² Der pädagogischen Perspektive mit dem ihr inhärenten Entwicklungsdenken blieb der Musiker gerade so lang unterworfen, wie seine Karriere als Violinvirtuose währte und der Erfolg anhielt. Sie war von seinem öffentlichen Bild nicht zu trennen. Dabei wurde er keineswegs nur als Zögling seines Vaters wahrgenommen, sondern zusätzlich auch als eine Art ideale Schülerfigur einer ande Siehe Cathleen Köckritz, Friedrich Wieck. Studien zur Biographie und zur Klavierpädagogik, Hildesheim (= Studien und Materialien zur Musikwissenschaft ), S. –, – . Janina Klassen, Clara Schumann. Musik und Öffentlichkeit, Köln u. a. (= Europäische Komponistinnen ), S. . Journal de Rouen et du département de la Seine-Inférieure vom . Oktober (Nr. ), S. . »Man versichert übrigens, dass das Talent dieses interessanten Virtuosen seit zwei Jahren ganz außerordentlich zugenommen hat.« (Übers. d. Verf.).
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ren Violinschule : der sogenannten französischen nämlich, deren reale Ausbildungsstätte, das Pariser Konservatorium, er allerdings nie besucht hat.³³ Die Familie Larsonneur bewegte sich inmitten einer Welt der Unterhaltung, in der vielfältige Übergänge zwischen musikalischem Virtuosentum und pädagogischem Experimentiergeist geschaffen wurden. Ein weiteres Beispiel dafür ist der Auftritt Hippolytes für einen gewissen Monsieur Dejernon, der mutmaßlich am . Juli in der Salle des Redoutes in der Rue de Grenelle Saint-Honoré stattfand – also nur wenige Häuser von Comtes Theater entfernt. Dejernon warb mit dieser Veranstaltung für eine von ihm entwickelte Schreibmethode, die er hier mithilfe einiger seiner Schüler zu demonstrieren versuchte. Musizierende Kindervirtuosen sorgten (neben Eugène de Pradel mit seinen improvisierten Gedichten) dabei zum einen für Abwechslung zu den, dem Publikum anscheinend nicht immer ganz durchsichtigen, Versuchen, unterstrichen möglicherweise zum anderen auch das Versprechen einfacher Erlernbarkeit auf suggestive Weise : »Les promesses du programme étaient de nature à piquer vivement la curiosité. Les principales avaient pour objet de prouver que l’âge ni le sexe n’empêchent point d’écrire vîte, et que des enfans, de six à huit ans, peuvent dicter une orthographe raisonnée ; d’enseigner le secret de bien écrire la nuit sans lumière ; de faire connaître un procédé nouveau par lequel on écrit six lettres à la fois […]. L’assemblée, qui était assez nombreuse, n’a pas toujours bien compris les exercices d’écriture ; mais elle a pu juger de la bonté des méthodes de M. Dejernon et de M. Pompée, professeur de grammaire, par les progrès de leurs élèves. Trois enfans, Mlle Alcan [sic], âgée de dix ans, son frère qui n’a que neuf ans, et le jeune Larsonneur, ont causé une satisfaction générale par le talent bien au-dessus de leur âge qu’ils ont développé sur le piano, le violon et la guitare. […]«³⁴ Siehe Kap. . und .. Journal de Paris et des départemens, politique, commercial et littéraire vom . Juli (Nr. ), S. . »Die Versprechungen des Programms waren derart, dass sie lebhafte Neugier weckten. Die wichtigsten hatten zum Ziel, zu beweisen, dass weder Alter noch Geschlecht daran hindern, schnell zu schreiben, und dass Kinder im Alter zwischen sechs und acht Jahren eine richtige Orthographie diktieren können ; das Geheimnis des Schönschreibens bei Nacht ohne Licht zu lehren ; ein neues Verfahren bekannt zu machen, mit welchem man sechs Buchstaben auf einmal schreibt […]. / Die Versammlung, die ziemlich zahlreich war, hat die Schreibübungen nicht immer recht verstanden ; aber sie konnte die Güte der Methoden von Monsieur Dejernon und von Monsieur Pompée, einem Grammatiklehrer, durch die Fortschritte ihrer Schüler beurteilen. / Drei Kinder, die zehnjährige Mademoiselle Alcan [sic], ihr nur neun Jahre alte Bruder und der junge Larsonneur, erregten ein allgemeines Wohlgefallen
Das kuriose Debüt eines Vorzeigeschülers |
Mit Charles Larsonneur, einem jüngeren Bruder Hippolytes, hat die Familie ebenfalls zeitweilig Pläne einer Virtuosenkarriere verfolgt. Dessen Erfolg als Solist war aber eher mäßig und ein möglicher Grund, warum er nach Versuchen gemeinsamer Konzertreisen der Geschwister an den Musiklehrer und Komponisten Jean François Sudre vermittelt wurde. Zusammen mit dem etwa drei Jahre älteren Édouard Deldevez begleitete er Sudre also ab bei einer Reise durch Frankreich. Sie hatte den Zweck, dessen Erfindung bekannt zu machen : eine auf musikalischen Motiven basierende Plansprache, die Sudre »langue musicale« taufte.³⁵ Eine der Veranstaltungen, mit der nebenbei noch der eigene Musikalienhandel angekurbelt werden konnte, fand am . September im Rathaussaal von Le Mans statt : »M. Sudre, professeur de chant et inventeur de la langue musicale par laquelle on peut converser sur tous les instrumens, aura l’honneur de donner, aujourd’hui , à heures du soir, dans la salle de la mairie, une soirée de musique, dans laquelle le jeune Charles Larsonneur, à peine âgé de ans, exécutera sur le violon des variations de M. Lafont et d’autres composées par M. Sudre. A la fin de la séance, il fera entendre les résultats de sa découverte en faisant exécuter par ses deux jeunes élèves tous le mots ou phrases que le public voudra bien lui donner. M. Sudre chantera aussi plusieurs nouvelles romances de sa composition, et les personnes qui désireraient se les procurer, les trouveront chez lui, à la Boule-d’Or, place des halles, ainsi que beaucoup d’autre musique pour différens instrumens.«³⁶ durch das weit über ihrem Alter stehende Talent, das sie auf dem Klavier, der Violine und der Gitarre entwickelt haben. […]« (Übers. d. Verf.). Siehe hierzu David Whitwell, La Téléphonie and the Universal Musical Language, Second Edition, Austin , S. . Zu Sudre im Kontext anderer Versuche von Plansprachen seit der Aufklärung vgl. auch Freeman G. Henry, Language, Culture, and Hegemony in Modern France ( to the Millenium), Birmingham (Alabama) , S. –. Affiches, annonces et avis divers de la ville du Mans vom . September (Nr. ), S. – . »Monsieur Sudre, Gesangslehrer und Erfinder der musikalischen Sprache, durch die man sich auf allen Instrumenten unterhalten kann, wird die Ehre haben, am heutigen . um sieben Uhr abends, im Rathaussaal, eine musikalische Soiree zu geben, bei der der junge, kaum sieben Jahre alte Charles Larsonneur auf der Violine Variationen von Monsieur Lafont und Weiteres von Monsieur Sudre Komponiertes spielen wird. / Zum Ende der Vorstellung wird er die Ergebnisse seiner Entdeckung vorstellen, indem er durch seine zwei jungen Schüler alle Wörter und Sätze ausführen lässt, die das Publikum ihm vorgeben möge. / Monsieur Sudre wird außerdem einige seiner neu komponierten Romanzen singen, und die Personen, die sie sich zu beschaffen wünschen, werden sie und viele andere Musik für verschiedene Instrumente bei ihm, in der Boule-d’Or, Place des Halles, finden.« (Übers. d. Verf.).
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Sudre trat mit diesen beiden Kindervirtuosen nachweislich beispielsweise noch einmal im Frühjahr in Toulouse öffentlich auf.³⁷ Aber ebenso in Bezug auf eine private Vorführung bei Henri Montan Berton, dem damaligen Professor für Komposition am Pariser Konservatorium, wurde über experimentelle Anordnungen unter Einbeziehung des Publikums berichtet,³⁸ die natürlich immer auch dazu dienten, Täuschungsvorwürfe auszuschließen. Um von der Theorie zu Gewissheit zu gelangen, war das Experiment und damit die Rekrutierung von Kindern notwendig, wie ein erschienener Aufsatz die Vorgehensweise Sudres erläuterte : »Il écrivit son ouvrage, mais pour se rendre compte de ses résultats, il désirait rencontrer quelque jeune intelligence qu’il put appliquer à éprouver les moyens d’exécution, que jusqu’à ce jour il n’avait combinés que pour lui seul.«³⁹
Mit der »langue musicale« intendierte Sudre nichts weniger als ein Mittel universaler Kommunikation. Seine humanitären Absichten formulierte er nochmals mit besonderem Nachdruck, als er in den er Jahren seine Grundidee als »langue musicale universale« weiterentwickelte und erneut in der Öffentlichkeit und mit der Assistenz von Schülern präsentierte.⁴⁰ Allerdings erzeugte Sudre mit seiner Erfindung weniger unter Pädagogen Resonanz und seine Sprache sollte letztendlich auch nicht der Völkerverständigung dienen. Die Kommission, die sich im Februar aus Mitgliedern des Institut de France zur Untersuchung seines ersten Entwurfs gegründet hatte, erkannte darin nämlich in erster Linie einen militärischen Nutzen, und zwar ihren möglichen Einsatz zur Nachrichten- und Befehlsübermittlung bei schlechten Sichtverhältnissen als Ergänzung der visuellen Telegraphie. Dem Interesse von Heer und Ma Siehe Journal politique et littéraire de Toulouse et de la Haute-Garonne vom . März (Nr. ), S. . Siehe David Whitwell, La Téléphonie and the Universal Musical Language, S. . [Anon.], »Langue musicale. Inventée par F. Sudre«, in : Le voleur, Gazette des Journaux français et étrangers /Nr. (. Juli ), S. . »Er setzte sein Werk auf, wünschte aber, um über dessen Resultate ins Klare zu kommen, auf irgend ein jugendliches Genie zu stossen, das er zur Prüfung der Ausführungsmittel gebrauchen könnte, die bis dahin ganz allein von ihm combinirt worden waren.« Übers.: [Anon.], »Die musikalische Sprache, erfunden von dem Herrn F. Sudre«, in : Berliner Musikalische Zeitung /Nr. (. September ), S. . Siehe David Whitwell, La Téléphonie and the Universal Musical Language, S. , –. Anders als ihr Vorgänger basierte diese Plansprache auf einem semantischen Prinzip, d. h., dass Töne beziehungsweise Tonfolgen nunmehr Bedeutungsinhalten und nicht mehr Buchstaben entsprachen, was das System prinzipiell sprachunabhängig machte.
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rine nachgebend, passte Sudre seine Sprache unter dem Namen »téléphonie« schließlich an den Tonvorrat des Clairon an, mit dem man in der französischen Armee die Signale blies.⁴¹ Sudre hatte einen alten Menschheitstraum verfolgt : die Rückkehr zu einem Zustand quasi vor der babylonischen Sprachverwirrung, ein utopischer Zustand, in dem die Völker in Eintracht lebten. Dabei blieb er, mit seiner logischen Systematik, die auf die Tonstufen des Solfège aufbaute, im Grunde genommen ein Vertreter des aufklärerischen Rationalismus. Wesentlich erfolgreicher aber als diese und ähnliche Entwürfe semiotischer Systeme sollte sich um die Idee einer ganz anders gearteten Universalsprache durchsetzen, einer Sprache, die auf menschliche Empfindung, nicht auf den Geist setzte, und die nicht erst erfunden werden musste, sondern sozusagen immer schon da war. Man nannte sie eine ›Sprache der Herzen‹ und erkannte ihre enge Verwandtschaft mit der Musik, wenn man sie ihr nicht sogar gänzlich gleichsetzte. Ohne diese Idee im Übrigen wäre – neben der pädagogischen Perspektive – der öffentliche Erfolg des älteren Bruders Hippolyte in seiner Form wohl nicht denkbar gewesen.⁴²
. konzertreisen in zeiten der restaur ation Um sich in Paris einen wirklichen Namen als Violinvirtuose zu machen, bedurfte es allerdings eines anderen Rahmens als den Zwischenpausen eines magischen Spektakels, sei es auch die Show des berühmten Louis Comte, dem Hippolyte Larsonneur den Grundstein seiner Karriere verdankte.⁴³ Eine Konzertbühne betrat er allerdings zuerst in Rouen und nicht in der französischen Hauptstadt. Am Abend des . Mai öffnete hier, im Herzen der Normandie, der Saal des Monsieur Dumesnil die Türen, wonach bald schon – »D’après l’invitation d’un grand nombre d’amateurs distingués, encouragé par les éloges que l’on a daigné accorder à son fils«⁴⁴ – von Monsieur Larsonneur eine Siehe hierzu ebd., S. –. Größere Auszeichnungen für seine Erfindungen durch Regierung sowie Wissenschaftsakademien kamen Sudre erst gegen Ende seines Lebens, um die Mitte des . Jahrhunderts, zu. Siehe ebd., S. – ; Freeman G. Henry, Language, Culture, and Hegemony in Modern France, S. –. Siehe hierzu Kap. ., S. –. Larsonneur trat später, vielleicht auch weil die Konzerterfolge nachließen, wenigstens noch einmal am . November bei Comte in der Passage des Panoramas auf. Siehe Journal de Paris et des départemens, politique, commercial et littéraire vom . Oktober (Nr. ), S. . Journal de Rouen et du département de la Seine-Inferieure vom . Juni (Nr. ), S. . »Der
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zweite solche Soiree mit Orchester und diversen Solisten angekündigt wurde, die schließlich am . Juni in der Rue des Murs-Saint-Ouen stattfinden sollte. Hier trat der Vater, so wie gelegentlich in anderen Konzerten seines Sohnes, als Sänger auch selbst in Erscheinung.⁴⁵ Den Zugang zu den zwei Veranstaltungen erwarben sich Interessierte beide Male ausschließlich per Subskription, die persönlich bei den Larsonneurs im Hôtel-du-Midi, in lokalen Musikgeschäften, der königlichen Druckerei oder dem Redaktionsbüro des Journal de Rouen vorgenommen werden konnte. Der Veranstalter, höchstwahrscheinlich die Familie selbst, stellte so im Vorhinein eine ausreichende Finanzierung sicher und konnte zugleich eine gewisse Kontrolle über die Zusammensetzung des Publikums ausüben, über welches in einem Bericht später verlautet wurde : »La deuxième concert du jeune Hypolite [sic] Larsonneur n’avait pas attiré moins de monde que le premier. Même talent dans l’exécution, mêmes applaudissemes de la part des auditeurs. Le petit Hypolite [sic] a recu [sic] des dames une marque de satifaction [sic] toute particulière ; elles l’ont presque toutes embrassé après l’avoir généralement applaudi.«⁴⁶
Es spricht einiges dafür, dass über Mechanismen wie Vorverkauf, die Wahl des Ortes oder auch die Höhe des Eintrittsgeldes tatsächlich eine weitreichende soziale Begrenzung der Zuhörerschaft erreicht wurde, die an dieser Stelle beiläufig mit »le monde« angesprochen wurde, ein Begriff, der noch nicht dasselbe bedeutete wie les gens (die Leute) und sich als Kurzform hier auf die Elite der sogenannten eleganten Welt (le beau monde) bezog.⁴⁷ In dieser Hinsicht ist auEinladung einer großen Zahl vornehmer Amateure folgend, ermuntert durch das Lob, das man die Güte hatte seinem Sohn zu erteilen« (Übers. d. Verf.). Siehe zu den beiden Konzerten Journal de Rouen et du département de la Seine-Inferieure vom . Mai (Nr. ), S. , vom . Juni (Nr. ), S. sowie vom . Juni (Nr. ), S. . Zur Konzertbeteiligung des Vaters siehe etwa auch Nederlandsche Staatscourant vom . Februar (Nr. ), o. S. in Bezug auf Den Haag. Journal de Rouen et du département de la Seine-Inferieure vom . Juni (Nr. ), S. . »Das zweite Konzert des jungen Hypolite [sic] Larsonneur hatte nicht weniger Leute angelockt als das erste. / Dasselbe Talent im Spiel, derselbe Beifall vonseiten der Zuhörer. Der kleine Hypolite [sic] hat von den Damen einen ganz besonderen Beweis der Zufriedenheit erhalten ; sie haben ihn fast alle geküsst, nachdem sie ihm allgemein applaudiert haben.« (Übers. d. Verf.). Ein treffendes Beispiel für diese sprachliche Differenzierung ist die entrüstete Nachricht über »des billets de promenade, qui, vendus à tout prix, sont tombés entre les mains de gens peu façonnés aux usages du monde« (Promenadentickets, die, um jeden Preis verkauft, in die
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ßerdem der Hinweis auf die überschwängliche Reaktion der anwesenden Damen aufschlussreich, den man in der Presse in Bezug auf Konzerte Larsonneurs oder anderer Kindervirtuosen in ähnlicher Form häufiger finden kann. So widmete sich etwa dem Konzert am . Februar im Hotel Vieux Doelen in Den Haag eine hiesige französischsprachige Zeitung und berichtete dabei ebenso über das Verhalten des weiblichen Publikums, unter das sich sogar die Prinzessinnen Wilhelmina von Oranien-Nassau (geborene von Preußen) und ihre Tochter Frederika Louise gemischt hatten : »Les applaudissemens unanimes qui ont souvent interrompu les beaux mais difficiles morceaux qu’il a exécuté avec autant de grace que de précision, ont été inspirés, non par la complaisance, mais par le sentiment d’un juste enthousiasme, qui eut surtout lieu parmi les Dames, que dans l’intervalle des deux parties du Concert, le jeune Hyppolite [sic] a été l’objet constant des caresses les plus affectueuses que le beau-sexe s’empressait à lui prodiguer ; mais ce qui était le plus flatteur pour lui et ses parens, c’est que le concert a été honoré de la présence de Leurs Altesses Royales les Princesses Douairières d’Orange et de Brunswich, qui ont temoigné à cet enfant admirable le contentement qu’Elles avaient eu du developpement de ses talens précoces.«⁴⁸
Es lässt sich höchstens spekulieren, wie sich solche Szenen im Einzelfall abgespielt haben. Der Umstand an sich, dass Zeitungen solche Hinweise gaben, genügt aber schon, um Rückschlüsse sowohl auf gesellschaftlichen Status und Funktion der Konzertereignisse als auch auf die Rolle zu ziehen, die den Besucherinnen hierbei zugesprochen wurde. Dabei ist eine gewisse Nähe zum Salon mit seinen mäzenatischen Strukturen auch hier zu erkennen. Die Bühne war Hände von Leuten gefallen sind, die mit den Sitten der Welt kaum vertraut sind), bei einem Konzert der Sängerin Jenny Lind in Boston . [Anon.], »Chronique étrangère«, in : Revue et Gazette musicale de Paris /Nr. (. November ), S. . s’ Gravenhaagsche Courant vom . Februar (Nr. ), o. S. »Der einstimmige Beifall, der die schönen, aber schwierigen Stücke häufig unterbrach, die er mit ebenso viel Anmut wie Genauigkeit spielte, ist nicht durch Gefälligkeit, sondern durch das Gefühl wahrer Begeisterung angeregt worden, das vor allem bei den Damen auftrat, sodass in der Pause zwischen den beiden Teilen des Konzerts der junge Hyppolite [sic] zum ständigen Objekt der zärtlichsten Liebkosungen wurde, die das schöne Geschlecht bemüht war, ihm entgegenzubringen ; aber was für ihn und seine Eltern am schmeichelhaftesten war, ist, dass das Konzert durch die Anwesenheit Ihrer Königlichen Hoheiten der Prinzessinnenwitwen von Oranien und Braunschweig beehrt wurde, die diesem bewundernswerten Kind die Zufriedenheit, die sie über die Entwicklung seiner frühzeitigen Talente hatten, bewiesen haben.« (Übers. d. Verf.).
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nämlich augenscheinlich ebenfalls nicht – architektonisch oder durch übliche Gepflogenheiten – strikt vom Zuschauerraum abgegrenzt, was eine körperliche Berührung überhaupt erst möglich machte. Gegenüber dem kollektiv aus der Distanz heraus gespendeten Applaus des Publikums beziehen sich individuelle Umarmungen, Küsse oder andere Liebkosungen als bedeutungstragende Gesten, die auf sozialen Konventionen beruhen, viel eindeutiger auf den Musizierenden selbst als auf sein Produkt, den musikalischen Vortrag. Sie äußern also eher eine Form der persönlichen Protektion nach aristokratischen und damit letztlich höfischen Vorbildern.⁴⁹ Die Nachricht des Journal du commerce, dass Monsieur Larsonneur seinen Sohn am . März im Hause des Herzog von Aumont einer äußerst vornehmen Gesellschaft – darunter Louise Marie Adélaïde de Bourbon, Herzogin von Orléans – vorgestellt hätte, unterstreicht diesen Zusammenhang : »Toutes les dames ont prodigué les applaudissemens et les caresses à cet enfant étonnant, et tout le monde a admiré la pureté et la vigueur de son exécution. Cet enfant confirme tous les jours les brillantes espérances que nous avons conçues de lui.«⁵⁰
Frauen der Oberschicht erfüllten, insbesondere als Salonièren, von jeher eine besondere Rolle als Förderinnen von Kunst und Musik. Diese traditionelle Rolle wurde an dieser Stelle mit einer empfindsamen Idealvorstellung der Unbestechlichkeit des Herzens verbunden. Dabei ging es weniger um Augenzeugenschaft oder rational begründete Urteilskraft als vielmehr um die vermeintlich natürlich gegebene Verwandtschaft zwischen ›Schönem Geschlecht‹ und Schönen Künsten (bei allen intellektuellen Nachteilen, die dieses Klischee für Leopold Mozart erwähnte in Briefen an die Hagenauers etwa Küsse der Amalie von Preußen in Aachen an seine beiden Kinder ebenso wie die der französischen Prinzessinnen. Siehe Wolfgang A. Mozart, Briefe und Aufzeichnungen. Gesamtausgabe, Herausgegeben von der Internationalen Stiftung Mozarteum Salzburg, Gesammelt und erläutert von Wilhelm A. Bauer und Otto Erich Deutsch, auf Grund deren Vorarbeiten erläutert von Joseph Heinz Eibl, Erweiterte Ausgabe mit einer Einführung und Ergänzungen hg. von Ulrich Konrad, Bd. : –, Kassel u. a. , S. , . Adam Liszt beschrieb in einem Brief an Carl Czerny vom . November eine ähnliche Reaktion Maximilian I. Joseph von Bayern bei seinem Sohn Franz. Siehe Ernst Burger, Franz Liszt. Eine Lebenschronik in Bildern und Dokumenten, München , S. . Journal du commerce, de politique et de littérature vom . März (Nr. ), S. . »Alle Damen haben dieses erstaunliche Kind mit Beifall und Liebkosungen überschüttet und jeder bewunderte die Reinheit und die Kraft seines Spiels. Dieses Kind bestätigt jeden Tag die glänzenden Hoffnungen, welche wir in es gesetzt haben.« (Übers. d. Verf.).
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Frauen vorsah). Auch in Frankreich waren solche Ansichten zugleich gestützt durch den medizinischen Diskurs : Frauen wurde, ähnlich wie Kindern, eine ausgeprägte beziehungsweise ungefilterte Empfindlichkeit für Sinneseindrücke – gleichbedeutend mit Naturnähe – zugeschrieben, deren Ursache in der Beschaffenheit des Nervensystems zu suchen wäre.⁵¹ Nicht ohne Grund zählte ein anonymer Journalist aus Marseille bei der Ankunft des Knaben im Sommer an einer Stelle, an der es ihm um die gesellschaftliche Zustimmung ging, die Larsonneur erhielt, neben den anerkannten Größen der Pariser Musikwelt, königlichen Herrschern und den Musikliebhabern im Allgemeinen eben auch »les caresses des belles dames des principales villes de France et de la Belgique«⁵² (die Liebkosungen der schönen Damen der wichtigsten Städte Frankreichs und Belgiens) auf. Diese unausgesprochene weibliche Autorität in Kunstdingen war manchen aber auch ein Dorn im Auge, was sich, wie bei dem eben zitierten Schreiber, gelegentlich durch den polemischen Ton der Berichterstattung verriet : »[…] nos dames pourront le caresser sans scrupule. Heureux l’âge où les faveurs de la beauté sont sans conséquence !«⁵³ Oder die Kritiker suchten nach passenden Analogien. So gab nach einem Konzert Larsonneurs in Lille im September das auf eine Lokalzeitung rekurrierende Journal de Paris zu bedenken : »[…] dans leur enthousiasme, les belles Lilloises lui ont prodigué, dit le journal, les caresses les plus affectueuses. Prenez garde, mesdames, Ververt mourut sur un tas de dragées ; n’allez pas nous tuer un Baillot futur peut-être avec d’autres douceurs.«⁵⁴
Angespielt wurde hier auf das Schicksal des Papageien »Vert-Vert« aus dem gleichnamigen Gedicht Jean-Baptiste Gressets von , der sich in einem Kloster die Zuneigung der Nonnen erwirbt. Es war eine gängige Parabel, die Vgl. Anne C. Vila, »Sex and Sensibility : Pierre Roussel’s Système physique et moral de la femme«, in : Representations (), S. –. Zur weiblichen Konnotation der Empfindsamkeit vgl. auch Kapitel ., S. –. [Anon.], »Spectacle«, in : Journal de Marseille et des Bouches-du-Rhône vom . Juni (Nr. ), S. . Ebd. »[…] unsere Damen werden ihn gewissenlos liebkosen. Glücklich das Alter, in dem die Gunst der Schönheit keine Folgen hat !« (Übers. d. Verf.). Journal de Paris, politique, commercial et littéraire vom . September (Nr. ), S. . »[…] in ihrer Begeisterung haben ihn die schönen Lillerinnen, wie die Zeitung äußert, mit den zärtlichsten Liebkosungen überschüttet. Nehmt euch in Acht, meine Damen, Ververt starb an einem Haufen Dragees ; tötet uns nicht einen möglichen zukünftigen Baillot mit anderen Leckereien.« (Übers. d. Verf.).
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später zum Beispiel auch auf das Verhältnis des sechsjährigen spanischen Violinisten Jesús de Monasterio zu den Damen von Madrid Anwendung fand : »[C]’était à qui d’entre elles l’aurait sur ses genoux, pour le traiter comme le Vert-Vert de Gresset.«⁵⁵ Trotz humoristischer Note verbarg sich hinter dem Gleichnis aber die durchaus ernst gemeinte moralische Warnung vor einer verderblichen Verwöhnung, die hier auf Einflüsse eines frühen Ruhms übertragen wurde. Als Virtuose erstmals im Zentrum eines eigenen Benefizkonzertes stehen zu können, war nicht nur das Resultat musikalischer Fähigkeiten, sondern auch der Ertrag umfangreicher und langfristiger Vorbereitung. Es war unverzichtbar, Empfehlungsschreiben einzuholen, an entsprechende Personen weiterzuleiten, sich in diversen Häusern vorzustellen, in ihren Salons zu präsentieren, kurz : die entscheidenden gesellschaftlichen Kontakte zu knüpfen. Die aristokratische Pariser Salonkultur war anpassungsfähig genug gewesen, Französische Revolution wie Napoleonische Herrschaft zu überstehen, um dann in der Restauration einen frischen Aufschwung zu erleben.⁵⁶ Hier fand also nach wie vor die Selektion für die musikalische Öffentlichkeit statt. Ohne Umschweife schilderte diesen Umstand eine Episode aus der Autobiographie des Komponisten Friedrich von Flotow. Dieser erinnerte sich hierin an die Situation eines deutschen Cellisten in der Metropole, die wohl auf die er Jahre zu datieren ist : »Auf meine Frage, ob er denn nicht versuchen wolle, gleich so vielen anderen Künstlern, ein Konzert zu geben, erwiderte er, daß er dazu nicht bekannt genug sei, und nur, wie es in unserer Künstlersprache hieß, einen oder zwei Salons habe. Für junge Künstler, welche in Paris Ruf und Lebensunterhalt erringen wollen, ist es ein gewöhnliches Auskunftsmittel, zu versuchen, zu den musikalischen Soireen, die fast in jeder reichen, ja selbst nur bemittelten Familie stattfinden, Zutritt zu erlangen. Man produzirt sich daselbst einige Male im Laufe des Winters, giebt beim Beginne der Fasten ein Konzert und sendet jeder Familie, in deren Salon man sich [Anon.], »Chronique étrangère«, in : Revue et Gazette musicale de Paris, Journal des Artistes, des Amateurs et des Théâtres /Nr. (. April ), S. . » Ihn nahmen sie auf den Schoß, um ihn wie Gressets Vert-Vert zu behandeln.« (Übers. d. Verf.). Siehe Steven Kale, French Salons. High Society and Political Sociability from the Old Regime to the Revolution of , Baltimore , S. –. Zur wichtigen Bedeutung der Pariser Musiksalons noch während der Julimonarchie, vgl. Andreas Ballstaedt und Tobias Widmaier, Salonmusik. Zur Geschichte und Funktion einer bürgerlichen Musikpraxis, Stuttgart (= Beihefte zum Archiv für Musikwissenschaft ), S. –.
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hören ließ, ein Dutzend Billete zu hohem Preise ›gewöhnlich Franken‹, so ist es Gebrauch und fast niemals werden dieselben ganz, oder auch nur theilweise zurückgewiesen.«⁵⁷
Es ist davon auszugehen, dass die Lage auch in den vorigen Jahrzehnten keine grundsätzlich andere war, dass also auch die Larsonneurs zunächst diesen privaten Weg beschreiten mussten, um ein entsprechendes Netzwerk aufzubauen und dem Sohn das für einen Konzertgeber nötige Renommee zu verschaffen. Auf das Qualitätssiegel der Pariser Salons wurde nebenbei auch im Journal de Rouen unmittelbar vor dem anstehenden ersten Benefizkonzert verwiesen : »On nous donne l’espoir d’entendre incessamment le jeune Hippolyte Larsonneur, âgé de sept ans et demi, qui a acquis déjà sur le violon un talent surprenant. Il a été entendu plusieurs fois dans la capitale, tant en public que dans des réunions brillantes ; son talent a excité l’étonnement général et l’admiration des grands-maîtres, tels que MM. Kreutzer, Lafont, Boucher, Libon, F. Duvernois, Nadermann, etc.«⁵⁸
Nach den ersten Konzerterfolgen in Rouen reiste Monsieur Larsonneur mit dem Sohn unverzüglich zurück nach Paris, musste aber angeblich gelegentlich eine Zwischenstation einlegen, um den vielen Einladungen nachzukommen, die ihn bereits erreichten.⁵⁹ Schon Ende Juli wurde in der Presse dann das Benefizkonzert Larsonneurs in der Hauptstadt angekündigt, das letztlich
Friedrich von Flotow, »Erinnerungen aus meinem Leben«, in : Deutsche Revue über das gesammte nationale Leben der Gegenwart /Nr. (Januar ), S. . In der Biographie der Witwe Flotows, Rosa Svoboda, werden die »Erinnerungen« aus der Deutschen Revue zitiert und es wird als Name des Cellisten »Jakob Eberscht« angegeben, also Jacques Offenbach. Siehe [Rosa Svoboda], Friedrich von Flotow’s Leben, Leipzig , S. . Ähnliche Praktiken werden für London beschrieben von William T. Parke, Musical Memoirs ; Comprising an Account of the General State of Music in England, From the First Commemoration of Handel, in , To the Year , Bd. , London , S. –. Journal de Rouen et du département de la Seine-Inferieure vom . Mai (Nr. ), S. . » Man lässt uns hoffen, in Kürze den jungen, siebeneinhalb Jahre alten Hippolyte Larsonneur zu hören, der auf der Violine bereits ein überraschendes Talent erworben hat. Man hat ihn mehrmals in der Hauptstadt gehört, in der Öffentlichkeit ebenso wie in glanzvollen Versammlungen ; sein Talent hat das allgemeine Erstaunen und die Bewunderung großer Meister erweckt, wie etwa der Herren Kreutzer, Lafont, Boucher, Libon, F. Duvernois, Nadermann etc.« (Übers. d. Verf.). Siehe Journal de Rouen et du département de la Seine-Inférieure vom . Juni (Nr. ), S. .
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am . August im Saal des Tivoli d’Hiver stattfinden sollte.⁶⁰ Tatsächlich hatten viele Pariser Benefizkonzerte damals die Funktion, Virtuosenkarrieren überhaupt erst ins Rollen zu bringen, wie das verhältnismäßig junge Alter der meisten Konzertgeber nahelegt.⁶¹ Erwartet wurde – und dies kann als generelles Merkmal der Konzertform gelten – nicht unbedingt ein direkter pekuniärer Gewinn, wohl aber die Steigerung von Bekanntheit und Ansehen, was man auch durch möglichst berühmte Mitwirkende sicherzustellen versuchte.⁶² Als Unterstützung für das Konzert Larsonneurs konnten der Presse einige berühmte Namen der Pariser Musikszene entnommen werden, darunter die junge Opernsopranistin Laure Cinti, Henri Montan Berton (oben bereits im Kontext von Sudre erwähnt), der anscheinend auch ein talentierter Sänger war, sowie zwei Musiker der königlichen Oper (Académie Royale de Musique beziehungsweise Opéra) : der Pianist Louis Alexandre Piccini und der Hornist Jean-Baptiste Mengal. Das Orchester sollte sich, so die Ankündigungen, aus Mitgliedern der Opéra, des Konservatoriums und der Opéra-Comique zusammensetzen und von niemand Geringerem als dem Konzertmeister der Opéra, François-Antoine Habeneck, geleitet werden. Aus denselben Quellen konnte die Leserschaft im Vorfeld außerdem nicht nur von den Konzerten in Rouen erfahren, sondern auch von einer weiteren wichtigen Tatsache : So war der junge Musiker am . August von seinem Vater in einer der monatlichen Sitzungen der altehrwürdigen, gegründeten Société Académique des Enfans d’Apollon vorgeführt und mit einer silbernen Medaille geehrt worden.⁶³ Siehe Journal de Paris, politique, commercial et littéraire vom . Juli (Nr. ), S. ; Journal des débats politiques et littéraires vom . Juli (o. Nr.), S. , und vom . August (o. Nr.), S. ; Journal du commerce, de politique et de littérature vom . Juli (Nr. ), S. , und vom . August (Nr. ), S. ; Le moniteur universel vom . Juli (Nr. ), S. , und vom . August (Nr. ), S. . Das Benefizkonzert Larsonneurs war zunächst für den . Juli angesetzt, wurde aber, angeblich wegen der extremen Hitze und auf Wunsch einiger Subskribenten, verschoben. Siehe Journal de Paris, politique, commercial et littéraire vom . Juli (Nr. ), S. ; Le moniteur universel vom . Juli (Nr. ), S. . Das geht aus den Archivunterlagen des sogenannten droit des pauvres, der Steuer auf öffentliche Unterhaltungsveranstaltungen, hervor. Siehe Étienne Jardin, »Les violinistes en concert à Paris (–)«, in : Ad Parnassum. A Journal of Eighteenth- and Nineteenth-Century Instrumental Music /Nr. (), S. . Vgl. Élisabeth Bernard, »Musique et communication. Les formes du concert«, in : o. Hg., La musique en France à l’époque romantique (–), Paris (Harmoniques. La Musique en France), S. –. Die Unterlagen der Gesellschaft verzeichnen ein Violinsolo Larsonneurs neben einem Opernduett von Monsieurs Orfila und Cloiseau. Siehe Maurice Decourcelle, La Société Académique
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Das Schmuckstück führte die Auszeichnung durch die musikalischen Autoritäten Frankreichs auch fortan evident vor Augen, wenn Larsonneur es für seine Auftritte, für die Allgemeinheit sichtbar, anlegte.⁶⁴ Der Grundstein einer vielversprechenden Virtuosenlaufbahn war gelegt, so das Resümee des Journal du commerce nach dem Benefizkonzert : »Le désir d’entendre le jeune Larsonneur, âgé de sept ans et demi, avait attiré hier au soir, dans la salle du Tivoli d’hiver, une société assez nombreuse ; le jeune virtuose a justifié cet empressement : il a joué avec beaucoup d’aplomb et de justesse un concerto de Kreutzer et un air varié de Lafont. Déjà familier avec la difficulté, cet enfant promet de devenir un jour un violon du premier ordre. Il a étonné et enchanté tout le monde.«⁶⁵
Als Nächstes trat Larsonneur in einem Konzert am . August in der Stadt Versailles auf.⁶⁶ Man empfing ihn wenig später in der Grenzstadt Lille, dann wahrscheinlich auch in Brüssel.⁶⁷ Die Eile, mit der die Familie Frankreich augenscheinlich verließ, erklärt sich durch das neue Ziel, das sie vor Augen hatte : den großen Herrscherkongress in Aachen, der seit September bereits im Gange war. Die Bindung an die Aristokratie machte sich nun doppelt bezahlt. Ein Schützling des Hochadels zu sein, war nämlich mehr als förderlich, um in jenem Herbst überhaupt eine Gelegenheit zu erhaschen, in der beschaulichen und von Besuchern jetzt geradezu überlaufenen Kurstadt ein Konzert geben zu des Enfants d’Apollon (–). Programmes des concerts annuels. Liste des sociétaires, des anciens présidents et des cantatrices qui se sont fait entendre aux concerts annuels. Résumé des séances mensuelles, Paris , S. . Larsonneur trat erneut in der Sitzung vom Februar mit einem Konzert Viottis auf. Siehe ebd., S. . Letzteren Hinweis gibt der Arnhemsche Courant vom . Februar (Nr. ), o. S. Journal du commerce, de politique et de littérature vom . August (Nr. ), S. . »Der Wunsch, den jungen, siebeneinhalb Jahre alten Larsonneur zu hören, hatte gestern Abend in den Saal des Tivoli d’hiver eine ziemlich zahlreiche Gesellschaft angelockt ; der junge Virtuose hat diesen Andrang gerechtfertigt : Er spielte mit viel Sicherheit und Genauigkeit ein Konzert von Kreutzer und eine Air varié von Lafont. Bereits vertraut mit der Schwierigkeit, verspricht dieses Kind eines Tages ein Violinist ersten Ranges zu werden. Er hat alle erstaunt und verzaubert.« (Übers. d. Verf.). Siehe Journal de Paris, politique, commercial et littéraire vom . August (Nr. ), S. ; Journal du commerce, de politique et de littérature vom . August (Nr. ), S. . Siehe Journal de Paris, politique, commercial et littéraire vom . September (Nr. ), S. , sowie vom . September (Nr. ), S. – ; Le moniteur universel vom . September (Nr. ), S. .
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dürfen. Aachen, zu jener Zeit vor allem noch unter dem französischen Namen Aix-la-Chapelle bekannt (die Stadt war erst nach der Niederlage Napoleons Preußen einverleibt worden), wurde zu einem Schauplatz, auf den sich europaweit die Blicke hefteten. Vier Jahre waren vergangen seit dem großen Kongress in Wien ; nun sollte sich erneut die Führung der Großmächte Russland, Österreich, Preußen, Großbritannien und Frankreich zusammenfinden, um über die Zukunft des Kontinents zu beraten.⁶⁸ Für den Zeitraum von circa zwei Monaten versammelten sich in Aachen Monarchen und fürstliche Repräsentanten samt Beraterstab, diverse politische Interessenvertreter, Bankiers, Zeitungskorrespondenten sowie eine große Zahl an Künstlern, Handwerkern und Unternehmern, welche sich von der temporären Konzentration an Wohlstand und Einfluss ihren jeweils eigenen Gewinn versprachen. Am . September berichtete demnach ein Korrespondent des Journal de Paris : »Les étrangers sont maintenant ici en foule. On voit arriver chaque jour des artistes étrangers, des comédiens, des musiciens, des chanteurs et jusqu’à des restaurateurs et des tailleurs de Paris […]«⁶⁹.
Selbstverständlich übte der Kongress auch eine enorme Anziehungskraft auf Musiker und Musikerinnen aus, die aus einigen europäischen Ländern geradezu in Strömen anreisten, wie dieselbe Zeitung aus Aachen meldete : »Le congrès musical d’Aix-la-Chapelle, dont les principaux membres seront, sans contredit, madame Catalani et M. Lafont, réunira, à ce qu’il paraît, un grand nombre de virtuoses. On dit que MM. Désargus, Meifred et quelques autres sont partis de Paris dans ce dessein ; Bruxelles doit aussi y envoyer un détachement d’artistes. Les Anglais y ont, dit on, loué toute la rue Saint Pierre : on aurait pu en réserver aussi une toute entière pour les musiciens.«⁷⁰ Nachdem die Alliierten dem Adelsgeschlecht der Bourbonen mit Louis XVIII. auf den Thron einer konstitutionellen Monarchie verholfen hatten, war das wichtigste Ergebnis der Verhandlungen des Aachener Kongresses die Anerkennung Frankreichs als Partner in der Bündnispolitik der europäischen Großmächte. Vgl. Mark Jarrett, The Congress of Vienna and its Legacy. War and Great Power Diplomacy after Napoleon, London u. a. , S. –. Im Gegensatz zum Wiener Kongress waren die kleineren Staaten von vornherein nicht eingeladen. Siehe ebd., S. –. Journal de Paris, politique, commercial et littéraire vom . Oktober (Nr. ), S. . »Eine Menge Ausländer sind jetzt hier. Man sieht jeden Tag fremde Künstler ankommen, Schauspieler, Musiker, Sänger bis hin zu Gastwirten und Schneidern aus Paris […]« (Übers. d. Verf.). Journal de Paris, politique, commercial et littéraire vom . September (Nr. ), S. .
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Der Wiener Kongress hatte zweifellos einen hohen Maßstab gesetzt, was die Rituale betraf, die die alte monarchische Ordnung beschwören und damit zugleich das Gespenst Napoleon und alle Revolutionsgedanken aus den Köpfen ein für alle Mal austreiben sollten.⁷¹ Im Gegensatz dazu war man in Aachen bescheiden. Doch auch hier wurden die Beratungen und Sitzungen durch ein Rahmenprogramm begleitet, das dem europäischen Hochadel dazu diente, seine Rolle als Exponent kultivierter Gesellschaft und Patron der Künste und Wissenschaften voll und ganz ausfüllen zu können. Man veranstaltete also Diners und Bälle, Salons, Paraden, Konzerte, Ballonflüge und Ausflüge in die Thermalbäder der Stadt und besuchte als Höhepunkt eine große Truppenschau des in Valenciennes stationierten alliierten Heers.⁷² In Wien hatte sich ebenfalls bereits gezeigt, dass zum Gesamtspektakel eines diplomatischen Großereignisses nicht nur die offiziellen, in diesem Fall vom österreichischen Kaiserhof organisierten und finanzierten, prunkvollen Zeremonien und Feste beitrugen, sondern dass das Unterhaltungsangebot insgesamt durch die Nachfrage der reichen und sich ihrer repräsentativen Pflicht bewussten Besucher und Besucherinnen enorm gesteigert wurde. Das galt vielleicht sogar in besonderem Maße für die Musik.⁷³ Aachen erlebte wie Wien eine ungewöhnliche Konzertdichte während des Kongresses : »C’est toujours
»Der Aachener musikalische Kongress, dessen wichtigste Teilnehmer zweifelsohne Madame Catalani und Monsieur Lafont sein werden, wird, wie es scheint, eine große Zahl an Virtuosen versammeln. Man sagt, dass die Herren Désargus, Meifred und einige andere Paris mit dieser Absicht verlassen haben ; Brüssel soll auch eine Abordnung Künstler dorthin entsenden. Die Engländer haben dort, sagt man, die ganze Rue Saint Pierre [= Peterstraße, J. T.] gemietet : Man hätte ebenso eine ganze [Straße] für die Musiker reservieren können.« (Übers. d. Verf.). Dazu zählten Redouten und Bälle, Bankette und Diners, kirchliche Messen, Militärparaden, Jagden im Tiergarten, Feuerwerke, ein prachtvoller Schlittenumzug, Reiterspiele – das sogenannte Carrousel – in mittelalterlicher Verkleidung, Aufführungen von Oratorien, Hofkonzerte und die sogenannten tableaux vivants (körperlich nachgestellte Gemälde). Zu solchen Ritualen diente auch die Inszenierung von Kindern. Man berichtete etwa von einem »kleinen Ballet […], welches von maskirten Kindern ausgeführt wurde«, und zwar vor den Augen der europäischen Monarchie und angeblich über . Besuchern im Rahmen der ersten großen Hof-Redoute in der Spanischen Hofreitschule am . Oktober . Siehe [Anon.], »Ueber öffentliche Vergnügungen und Feste während des Congresses zu Wien. (Fragment aus einem Briefe.)«, in : Journal für Literatur, Kunst, Luxus und Mode /o. Nr. (Dezember ), S. . Vgl. Mark Jarrett, The Congress of Vienna and its Legacy, S. . Zu Auftragskompositionen und zur erhöhten Zahl an Benefizkonzerten am Wiener Kongress vgl. Michel Ladenburger, »Der Wiener Kongreß im Spiegel der Musik«, in : Helga Lühning und Sieghard Brandenburg (Hgg.), Beethoven. Zwischen Revolution und Restauration, Bonn , S. –. Unter den in Wien auftretenden Musikern befanden sich selbstverständlich auch Kindervirtuosen wie beispielsweise der zwölfjährige Pianist Franz Stauffer. Siehe ebd., S. .
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concert sur concert à Aix-la-Chapelle ; les expressions manquent pour célébrer chacun à part, […]«⁷⁴ berichtete etwa das Pariser Journal du commerce. Diese Dichte wurde dadurch ermöglicht, dass eine königliche Verfügung das generelle Verbot von Konzerten an Theaterabenden übergangsweise aufgehoben hatte.⁷⁵ Neben Schauspielern und Tänzerinnen beispielsweise, drei englischen Showboxern, zwei Ballonfahrerinnen und einer renommierten Wahrsagerin traten hier nun also eine Reihe musikalischer Berühmtheiten wie die Opernsängerinnen Angelica Catalani und Sophie Gail auf, der Geigenvirtuose Charles Philippe Lafont, das Streicherduo der Brüder Anton und Maximilian Bohrer, Vater Kaspar und Sohn Anton Bernhard der Flötistenfamilie Fürstenau sowie der Romanzensänger Joseph Dominique Fabry Garat. Für Kindervirtuosen war der Kongress eine besondere Chance, und neben Hippolyte Larsonneur kamen gleich zwei weitere junge Violinisten aus Paris : der dreizehnjährige Léon de Saint-Lubin und der vierzehnjährige John Martin Lazare Hatzfeld (ein Schüler Rodolphe Kreutzers am Conservatoire). Etwas verspätet reisten zudem noch die Passauer Geschwister Sigl an.⁷⁶ Zu dem Konzert Larsonneurs ist von einem deutschen Korrespondenten die folgende kurze Beschreibung abgegeben worden : »Der junge Hippolite [sic] Larsonneur hat in einem Conzert am . d. M. durch seinen ausgezeichneten, eben so künstlichen als geschmackvollen Vortrag auf der Violine allgemeinen Beyfall eingeerntet.«⁷⁷
Die Weichen für diesen öffentlichen Auftritt sind lange vorher gestellt worden. Unter anderem die Fürsprache von Ange-Étienne-Xavier Poisson de La Chabeaussière, in dessen Salon in der Rue de Marais im aristokratischen Pa Journal du commerce, de politique et de littérature vom . Oktober (Nr. ), S. . »Es ist immer Konzert auf Konzert in Aachen ; es fehlen die Worte, um jedes gesondert zu rühmen […]« (Übers. d. Verf.). Siehe Nieder-Rheinischer Beobachter vom . Oktober (Nr. ), o. S. Vgl. [Anon.], L’Observateur au Congrès, ou relation historique et anecdotique du congrès d’Aix-laChapelle, en […], Paris : A. Eymery , S. ; Journal de Paris, politique, commercial et littéraire vom . September (Nr. ), S. ; Journal du commerce, de politique et de littérature vom . Oktober (Nr. ), S. ; Nieder-Rheinischer Beobachter vom . November (Nr. ), o. S. Auch »l’orpheline de Wilna«, die später bei Comte auftrat, wurde über den Kongress bekannt. Siehe Journal du commerce, de politique et de littérature vom . März (Nr. ), S. . Nieder-Rheinischer Beobachter vom . Oktober (Nr. ), o. S. Das Konzert wurde etwa auch erwähnt in der Münchener Politische Zeitung vom . Oktober (Nr. ), S. und vom . Oktober (Nr. ), S. sowie der Lemberger Zeitung vom . November (Nr. ), S. .
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riser Bezirk Faubourg Saint-Germain der junge Musiker einmal aufgetreten war,⁷⁸ hatten die Larsonneurs für sich gewinnen können. Am . September schrieb Poisson de La Chabeaussière an die Schriftstellerin und Salonière Fürstin Constance de Salm : »C’est à ce titre que je lui recommande les deux artistes recommandables Larsonneur. La renommée du jeune Violon lui sera sans doute parvenue, et je ne saurais mieux les adresser qu’à la protectrice éclairée des arts qui les cultive elle-même avec tant de succès, et qui obligera en procurant à Mrs Larsonneur tous les moyens de faire valoir leurs véritables talents, ma sincère amitié. Je la prie d’interesser monsieur le Prince de Salm à ces estimables artistes et de croire à ma respectueuse et toujours souvenante tendresse.«⁷⁹
Constance de Salm ließ sich offensichtlich überzeugen und gestattete dem jungen Musiker, gemeinsam mit Lafont und Garat, den Zutritt zum Salon ihres Aachener Stadtpalais am . Oktober,⁸⁰ was wahrscheinlich die Bewährungsprobe für das Konzert zwei Tage später war. Bei dem Kongress gerieten Musikerinnen und Musiker nicht nur unmittelbar in Kontakt zu potentiellen Förderern aus den Kreisen der europäischen Aristokratie, sondern konnten gleichzeitig auch noch die Aufmerksamkeit der internationalen Presse in besonderem Maße auf sich ziehen. Dass bei der ausführlichen Berichterstattung über die Ankunft und Abreise von Fürsten und anderen wichtigen Kongressgästen sowie über die diversen Festveranstaltungen und Sensationen die politische Bedeutung des Ereignisses zuweilen zu kurz Das geht aus einem Brief von Pierre Raboteau an Constance de Salm vom . Oktober hervor, der bei jenem Salon anwesend war. Siehe Briefabschrift C/S/–, in : Die Korrespondenz der Constance de Salm (–), Inventar des Fonds Salm der Société des Amis du Vieux Toulon et de sa Région (sav tr), Elektronische Edition des dhi, Paris . Online : http://www.constance-de-salm.de [abgerufen am ..]. Briefabschrift C/S/, in : ebd. »Als solcher empfehle ich ihr die beiden empfehlenswerten Künstler Larsonneur. / Der Ruf des jungen Violinspielers wird ihr zweifellos zugekommen sein und ich wüsste niemand Besseren, zu dem ich sie schicken könnte, als zu der aufgeklärten Förderin der Künste, die diese selbst mit so viel Erfolg pflegt, und die sich meiner aufrichtigen Freundschaft versichern wird, indem sie den Herren Larsonneur alle Mittel verschafft, ihr wahrhaftes Talent zur Geltung zu bringen. / Ich bitte sie, den Herrn Fürsten von Salm für die achtenswerten Künstler zu interessieren und an meine hochachtungsvolle und treue Freundschaft zu glauben.« (Übers. d. Verf.). Siehe Journal de Paris, politique, commercial et littéraire vom . Oktober (Nr. ), S. ; Le moniteur universel vom . Oktober (Nr. ), S. .
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kam, wie eine damals kursierende Anekdote bissig widerspiegelte, dürfte ihren Interessen dabei durchaus entgegengekommen sein : »Un bon bourgeois d’une des petites villes de France, ayant pris ces jours derniers un abonnement au Nouvelliste d’Aix-la-Chapelle, journal qui devait lui révéler tous les secrets de l’auguste réunion, en avait fait fête d’avance à ses amis et à ses connaissances. Un petit congrès de curieux s’était formé chez l’abonné le jour où devait arriver le précieux numéro. On le reçoit enfin ; l’Amphitryon, qui doit régaler le cercle politique, prend ses lunettes, cherche l’article d’Aix-la-Chapelle, et commence, après avoir, en guise de préface, dit à ses auditeurs : ›Nous allons donc voir ce que font ces monarques, ces grands personnages qui fixent l’attention de l’univers … (Il lit) Mademoiselle Elisa Garnerin … [= eine professionelle Ballonfahrerin] passons … Le jeune Hippolyte Larsonneur … Diable ! ce n’est pas encore cela … Le concert de M. Fabry Garat … qu’est ce que cela veut dire ? … Le petit virtuose Léon de Saint-Lubin …‹ Notre homme ne trouve plus rien, et les bras lui tombent. – Eh bien ! commencez-vous, s’écrie le cercle impatienté ? – Eh ! mes amis, j’ai fini : qui pouvait aussi s’attendre à recevoir un Nouvelliste sans nouvelles ?«⁸¹
Die Situation vor Ort, die der Presse eine Berichterstattung erschwerte, schilderte ein bayerischer Journalist wie folgt : »Politik über den Aachner Kongreß zu sagen, wäre gefährlich, denn die hiesige eifersüchtige Polizey erlaubt nicht nur den hiesigen nicht, etwas über den Kongreß Journal de Paris, politique, commercial et littéraire vom . Oktober (Nr. ), S. . »Ein guter Bürger eines kleinen französischen Städtchens, der kürzlich den Nouvelliste d’Aix-laChapelle abonniert hat, eine Zeitung, die ihm alle Geheimnisse der erlauchten Konferenz enthüllen sollte, hatte dies im Vorfeld seinen Freunden und Bekannten freudig mitgeteilt. An dem Tag, an dem die wertvolle Ausgabe ankommen sollte, hatte sich bei dem Abonnenten ein kleiner Kongress der Neugierigen gebildet. Schließlich erhält man sie ; der Gastgeber, der den politischen Zirkel erfreuen soll, nimmt seine Brille, sucht den Artikel über Aachen und beginnt, nachdem er einleitend zu seinen Zuhörern gesagt hat : ›Wir werden also sehen, was die Monarchen tun, die großen Persönlichkeiten, die die Aufmerksamkeit der ganzen Welt auf sich ziehen … (Er liest) Mademoiselle Elisa Garnerin … übergehen wir … Der kleine Hippolyte Larsonneur … Verdammt ! Das ist es noch nicht … Das Konzert von Monsieur Fabry Garat … was soll das bedeuten ? … Der kleine Virtuose Léon de Saint-Lubin …‹ Unser Mann findet nichts mehr und lässt die Arme sinken. – Also gut ! Fangen Sie an, rief der ungeduldig gewordene Kreis ? – Tja ! meine Freunde, ich bin schon fertig : Wer konnte auch damit rechnen, ein Nachrichtenblatt ohne Nachrichten zu erhalten ?« (Übers. d. Verf.) Die Anekdote erschien in der deutschen Presse etwa in Allgemeine Zeitung vom . November (Nr. ), S. – und Baierische National-Zeitung vom . November (Nr. ), S. .
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zu schreiben, sondern giebt auch sehr weislich allen Schaulustigen den Rath weiter zu gehen. Diese Besorgniß ist jedoch sehr überflüßig, denn außer dem Räumungs[g]eschäfte von Frankreich [= Abzug der Besatzungstruppen, J. T.], ist kein amtlich verhandelter Gegenstand zur offnen Kunde gekommen, und über das, was unter den Ministern verhandelt wird, werden nicht immer Protokolle aufgenommen, wie es der Korrespondent des Frankfurter Zeitungs-Schreibers wähnt.«⁸²
Dass über die laufenden diplomatischen Verhandlungen aus Zeitungen kaum etwas erfahren werden konnte, lag also zum einen daran, dass diese wie beim Wiener Kongress auch hinter verschlossenen Türen stattfanden, aber zum anderen wohl auch, dass sich die Redaktionen in den meisten Ländern vor Zensurmaßnahmen hüten mussten. Der Presse blieb nicht viel anderes übrig, als es im Gros bei Nachrichten über Gesellschaftsereignisse und das Kulturleben zu belassen, für die dann unterm Strich mehr Spalten übrig blieben. Hippolyte Larsonneur zog also, wie andere der anwesenden Künstler auch, seinen Vorteil aus der angespannten Lage : Der Kongress verschaffte ihm schlagartig internationale Bekanntheit und ein neuartiges Prestige, welches daraus resultierte, dass er in der öffentlichen Wahrnehmung in den Umkreis der europäischen Monarchie rückte. Die sich im Winter anschließende Reise durch das Vereinigte Königreich der Niederlande (zu dem damals auch Belgien gehörte) war damit bestens vorbereitet. Die Programmchronik des Théâtre Royal in Antwerpen etwa verzeichnete ein Konzert für den . Januar .⁸³ In Utrecht trat Larsonneur als Solist in zentraler Funktion in einem »Stads-Concert« am . Januar auf, für das man einen Eintritt von einem Niederländischen Gulden verlangte.⁸⁴ In Arnhem wurden da bereits die Subskribenten zu Monsieur Larsonneur in den Zwijnshoofd gebeten, um ihre Zusage für das Vokal- und Instrumentalkonzert am . Februar zu denselben Konditionen zu versichern (Herren waren allerdings dazu angehalten, großzügigerweise zehn Cent draufzulegen).⁸⁵ Danach
[Anon.], »Rhapsodien eines Reisenden zum Aachner Kongresse«, in : Eos, eine Zeitschrift aus Baiern, zur Erheiterung und Belehrung /Nr. (. Oktober ), S. . Siehe Frédéric Faber, Histoire du théâtre français en Belgique depuis son origine jusqu’à nos jours. D’après des documents inédits reposant aux archives générales du royaume, Bd. , Brüssel u. a. , S. . Siehe Utrechtsche Courant vom . Januar (Nr. ), o. S. Siehe Arnhemsche Courant vom . Januar (Nr. ), o. S. bis zur Ausgabe vom . Februar (Nr. ), o. S.
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war angeblich die Weiterreise über Zutphen Richtung Rotterdam geplant.⁸⁶ Doch schon wenige Tage später wurde in Den Haag die folgende typische Werbeankündigung gedruckt : »Le jeune hyppolite [sic] l arsonneur, âgé de huit ans, virtuose sur le violon, qui a excité l’admiration des plus grands maîtres, tels que MM. Kreutzer, Lafont, Baillot, &c., ainsi que celle des amateurs & du Public de toutes les capitales et qui a eu dernierement à Aix-la-Chapelle l’honneur d’être entendu des Souverains, qui l’ont comblé d’éloges et de caresses, est arrivé en cette Ville ; l’on se flatte que ce jeune prodige, des talens duquel les journaux de France et de la Belgique ont rendu un temoignage flatteur, se fera entendre pendant le court séjour que son père et son maître se propose de faire ici à la Haye.«⁸⁷
Der Text rief also die gängigen Bürgen für die Fähigkeiten des Knaben auf und gehörte zur Einleitung des (weiter oben bereits erwähnten) Benefizkonzerts am . Februar, zu dem auch das niederländische Herrscherhaus zwei Vertreterinnen sandte und für das, dem Saal des luxuriösen Hotel du Vieux Doelen angemessen, der Eintrittspreis auf über zwei Gulden angehoben wurde.⁸⁸ Für die brabantische Stadt Brüssel wiederum ist ein Konzert am . März im Théatre de la Monnaie belegt.⁸⁹ Nach Paris kehrten Vater und Sohn im April zurück.⁹⁰ An die Erfolge des Vorjahres konnte nahtlos angeknüpft werden, hatten die Ereignisse in Aachen das Interesse des Adelsgeschlechts der Bourbonen nun wohl endgültig Siehe Arnhemsche Courant vom . Februar (Nr. ), o. S. s’ Gravenhaagsche Courant vom . Februar (Nr. ), o. S. »Der junge achtjährige hyppolite [sic] l arsonneur, ein Violinvirtuose, der die Bewunderung der größten Meister, wie Monsieurs Kreutzer, Lafont, Baillot etc., ebenso wie die der Liebhaber und der Öffentlichkeit aller Hauptstädte hervorgerufen hat und der neulich in Aachen die Ehre hatte, von den Herrschern gehört zu werden, die ihn mit Lob und Liebkosungen überschüttet haben, ist in dieser Stadt angekommen ; man rühmt sich hier damit, dass dieses junge Wunder, mit Talenten, denen die Zeitungen Frankreichs und Belgiens ein schmeichelhaftes Zeugnis ausgestellt haben, sich während des kurzen Aufenthaltes hören lassen wird, den sein Vater und Lehrmeister beabsichtigt hier in Den Haag einzulegen.« (Übers. d. Verf.). Siehe die Ausgaben des Nederlandsche Staatscourant vom . Februar (Nr. ), o. S. bis zum . Februar (Nr. ), o. S.; s’ Gravenhaagsche Courant vom . Februar (Nr. ), o. S.; Arnhemsche Courant vom . Februar (Nr. ), o. S. Siehe Jacques Isnardon, Le Théatre de la Monnaie depuis sa fondation jusqu’à nos jours, Brüssel u. a. , S.. Siehe Journal du commerce, de politique et de littérature vom .April (Nr. ), S. ; Journal de Paris, politique, commercial et littéraire vom . April (Nr. ), S. .
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auf den jungen Musiker gelenkt. Zunächst wurde Larsonneur bei Louis Philippe III., dem Herzog von Orléans (und späteren französischen König Louis Philippe I.), vorgeführt und daraufhin für ein Hofkonzert (»concert de la cour«) am . Mai verpflichtet.⁹¹ Selbstverständlich wurde nun ein neuerliches Benefizkonzert in der Metropole erwartet. Einen ungewöhnlich spöttischen Ton schlug zu diesem Zeitpunkt ein anonymer Journalist der Theaterzeitung Le Camp-volant an : »Le petit Hyppolite [sic] Larsonneur, déjà renommé comme l’un de nos fameux violons, s’est fait entendre chez d’augustes personnages dont il a fait l’admiration. Il a le projet de donner plusieurs concerts qui doivent attirer la foule. C’est devant le public de la capitale qu’il prendra ses dernières lettres de créance. Ce succès manque à son commencement de gloire : s’il l’obtient, on pourra croire aux prodiges dont on l’a dit l’auteur ; autrement, ce sera des miracles à refaire ; la chose devient de jour en jour moins difficile.«⁹²
Die Kritik, die sich aus dem Kommentar herauslesen lässt, betraf die mit dem wachsenden Erfolg zwangsläufig in die Höhe getriebenen Erwartungen an Larsonneur. Sie ließ eine Skepsis darüber anklingen, ob diese Erwartungen denn überhaupt noch zu erfüllen waren beziehungsweise ob sie erst zu erfüllen wären, wenn der Knabe weiter herangereift wäre, andeutungsweise aber auch eine Skepsis gegenüber der Urteilskraft des Publikums, das hier eher abschätzig (»la foule«) angesprochen ist. So eine Kritik war der beste Beweis dafür, wie weit Larsonneur als Virtuose gekommen war. Immerhin wurde in einem zeitgenössischen Reiseführer für Paris und Umgebung von darauf hingewiesen, dass er – neben Angelica Catalani, Laure Cinti (»Mademoiselle Cinni«) und dem Violinisten Jacques-Féréol Mazas – einer der wenigen Musiker gewesen wäre, die es in der vergangenen Saison geschafft hätten, aus dem überquellenden Konzertkalender Siehe Journal de Paris, politique, commercial et littéraire vom . Mai (Nr. ), S. ; Le Constitutionnel, journal du commerce, politique et littéraire vom . Mai (Nr. ), S. . B., [Ohne Titel], in : Le Camp-volant, journal des spectacles de tous les pays vom . Mai (Nr. ), S. . »Der kleine Hyppolite [sic] Larsonneur, bereits bekannt als einer unserer berühmten Violinisten, hat sich bei erlauchten Persönlichkeiten hören lassen, deren Bewunderung er erregt hat. Er plant, einige Konzerte zu geben, welche die Menge anziehen sollen. Vor dem Publikum der Hauptstadt soll er seine letzten Empfehlungsschreiben [lettres de créance = wörtlich auch : Schuldscheine] erhalten. Dieser Erfolg fehlt seinem rühmlichen Anfang noch : Falls er ihn erhält, wird man an die Wunder glauben können, die man ihm nachsagt ; andernfalls müssen neue Wunder her ; die Sache wird von Tag zu Tag weniger schwierig.« (Übers. d. Verf.).
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der Metropole hervorzustechen.⁹³ Selbstredend sollte diese Bemerkung jenen Touristen, die im Besitz des Bandes waren, bei Entscheidungen im aktuellen Unterhaltungsangebot auf die Sprünge helfen. Das erwartete Konzert fand, nachdem man es zunächst um eine Woche hatte verschieben müssen, schließlich am . Mai im Théâtre Favart statt, einem prächtigen Opernhaus, das im Laufe der Zeit verschiedenen der großen staatlich subventionierten Truppen als Spielstätte gedient hat.⁹⁴ Nicht anders als im Vorjahr wurden »les meilleurs maîtres de la capitale«⁹⁵ (die besten Meister der Hauptstadt) für Programmbeiträge gewonnen, die Leitung des Orchesters übernahm erneut der Konzertmeister Habeneck.⁹⁶ Mit Caroline Lépy, Preisträgerin der Abschlusskonzerte am Conservatoire (die wenige Tage später an der Opéra debütieren würde), band man zudem eine vielversprechende Nachwuchssängerin ein.⁹⁷ Ein Auftritt Lafonts hingegen, wie ihn das Journal des débats in einer Ausgabe angekündigt hatte,⁹⁸ war hier schon deswegen unwahrscheinlich, weil man sich als Konzertgeber aus naheliegenden Gründen normalerweise keinen zweiten Virtuosen desselben Instruments dazuholte. Lafont hatte zwei Tage vorher ein Konzert unterstützt, das der vorgeblich elfjährige Hornvirtuose Rudolf Gugel mit seinem Vater im Menus-Plaisirs du Roi gegeben hatte, und vielleicht war es im Zuge dieser konkurrierenden Veranstaltungen zu der Verwechslung gekommen.⁹⁹ Den Publikumserfolg der beiden Konzerte verglich nachher auch das Journal de Paris.¹⁰⁰ Siehe François-Marie Marchant de Beaumont, Le Nouveau Conducteur de l’Etranger à Paris en , Septième Édition, Paris , S. . Siehe Journal de Paris, politique, commercial et littéraire vom . Mai (Nr. ), S. und vom . Mai (Nr. ), S. . Dass das Konzert bereits im tagesaktuellen Bühnenprogramm in Le Constitutionnel, journal du commerce, politique et littéraire vom . Mai (Nr. ), S. angezeigt wurde, war vermutlich ein Versehen. Le Constitutionnel, journal du commerce, politique et littéraire vom . Mai (Nr. ), S. . Das Journal de Paris nannte außerdem die Namen Mengal, Gégauer, Péchiguier, Dupent und Lépy. Siehe Journal de Paris, politique, commercial et littéraire vom . Mai (Nr. ), S. . Zu Lépy siehe Constant Pierre, Le Conservatoire national de musique et de declamation. Documents historiques et administratifs, Paris , S. . Siehe Journal des débats politiques et littéraires vom . Mai (o. Nr.), S. . Den Eintrittspreisen des Konzerts zwischen und Francs sowie den Mitwirkenden nach zu urteilen, war Gugel eine ernstzunehmende Konkurrenz. Neben Lafont trat Laure Cinti auf, die bereits Larsonneurs Benefizkonzert unterstützt hatte. Siehe Le Constitutionnel, journal du commerce, politique et littéraire vom . Mai (Nr. ), S. ; Journal des débats politiques et littéraires vom . Mai (o. Nr.), S. . Siehe Journal de Paris, politique, commercial et littéraire vom . Mai (Nr. ), S. .
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In den, von der Hauptstadt aus gesehen, eher abgelegenen Départements mussten interessierte Adlige und Bürgerliche schon lange darauf warten, dass sich der junge Virtuose, von dem man regelmäßig in Zeitungen lesen konnte, auch in ihrer Stadt einmal hören lassen würde. Diesem Wunsch kam die Familie nun mit einer längeren Konzertreise durch das französische Königreich nach, die Ende Juni in der Pariser Presse bekannt gegeben wurde.¹⁰¹ Im Herbst kam Hippolyte mit dem Vater in Rouen an, spielte am . Oktober zunächst im Rathaus während eines Konzerts der ansässigen Musikliebhaber und gab im November drei eigene im Théâtre des Arts.¹⁰² Zwischendurch unternahm er noch einen Abstecher nach Le Havre, wo kurzerhand ebenfalls drei Konzerte veranstaltet wurden.¹⁰³ Ähnlich ging es in Caen und vermutlich noch einer Reihe weiterer Ortschaften auf ihrer nach Westen gerichteten Reiseroute zu.¹⁰⁴ Im Frühjahr erreichten sie die Atlantikküste und machten unter anderem Station in Nantes, Bordeaux und Libourne.¹⁰⁵ Von hier führte die Tournee über den Süden wieder zurück nach Paris. Konzertaufführungen konnten damals, sprich im ersten Drittel des . Jahrhunderts, noch nicht nach rein marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten organisiert werden. Die Eintrittspreise zum Beispiel richteten sich grundsätzlich nach dem Prestige der Konzertstätte und nicht nach dem Willen des Konzertgebers. Die noch immer gängige Subskription war im Prinzip, da sie eine anonyme Käuferschaft ausschloss, eine mäzenatische Praxis. Und in ein und derselben Stadt mehrfach aufzutreten, musste gesellschaftlich legitimiert werden. Virtuosen agierten hier nicht als freie Siehe Le Constitutionnel, journal du commerce, politique et littéraire vom . Juni (Nr. ), S. . Die Nachricht implizierte auch, dass sich Larsonneur im Blattlesen und in Melodiediktaten hervortue, Tests, deren Anteil an seinen öffentlichen Auftritten aber unklar und anscheinend eher hintergründig war, da sie sonst nicht erwähnt wurden. Siehe Journal de Rouen et du département de la Seine-Inferieure vom . Oktober (Nr. ), S. bis zur Ausgabe vom . November (Nr. ), S. sowie die Ausgabe vom . November (Nr. ), S. . Vgl. zudem Jules Édouard Bouteiller, Histoire complète et méthodique des théâtres de Rouen. Tome troisième. Théâtre-des-Arts. à , Rouen , S. . Siehe Journal de Rouen et du département de la Seine-Inferieure vom . November (Nr. ), S. . Eines der Konzerte in Le Havre von »le jeune Larsonneur, ce petit prodige de violon« (dem jungen Larsonneur, dem kleinen Wunder der Violine) wurde zudem in einem Brief aus Rouen vom . November aus den Reisebeschreibungen von Charles Philippe de Rigaud erwähnt. Siehe P[hilippe de Rigaud], Comte de V[audreuil], Promenade de Bagnères-de-Luchon à Paris. Seconde Partie. De Saintes à Paris, Paris , S. –. Zu Caen siehe Paul de Longuemare, Le Théâtre à Caen, –, Paris , S. . Siehe Le drapeau blanc, journal de la politique, de la littérature et des théâtres vom . April (Nr. ), S. ; Le moniteur universel vom . Februar (Nr. ), S. .
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Unternehmer, die, von vornherein auf erhöhte Nachfrage spekulierend, schon bei der Ankunft mehrere Konzerte hätten ankündigen können, sondern beugten sich ihrem Selbstverständnis nach bei Konzertwiederholungen ausdrücklich immer dem Wunsch ihres Publikums, wie die entsprechenden Floskeln in Konzertankündigungen verraten. In Toulouse etwa, wo sich die Familie im April aufhielt, erklärte man sich förmlich nur »[à] la demande d’un grand nombre de dames de cette ville«¹⁰⁶ (auf Wunsch zahlreicher Damen dieser Stadt) bereit, nach dem Erfolg in der Salle de Spectacle vom . April in der Salle de l’Athénée ein zweites Konzert zu veranstalten, das angeblich wegen einer Erkrankung des Kindervirtuosen auf den . April verschoben werden musste. Auch hier wurden Subskriptionslisten (die mit der Zusicherung beziehungsweise Zahlung von Francs pro Person verbunden waren) genutzt, um die Veranstaltung finanziell und sozial zu kontrollieren.¹⁰⁷ Allerdings führten Konzertwiederholungen natürlich zu besser kalkulierbaren Gewinnen. Sie waren im Gegensatz zu Paris, wo die Konkurrenz groß war und es immer eine Vielzahl anderer Unterhaltungsangebote gab, in Kleinstädten am ehesten möglich, sodass die Provinz für reisende Virtuosen in dieser Hinsicht sogar lukrativer sein konnte als die Metropole. Auch in Marseille folgte ein Konzert dem nächsten. Eine erste Soiree gab es am . Juni in der Salle des Ecossais, eine weitere am . Juni im Theater, wo Larsonneur schließlich noch ein drittes Mal zwischen der Vorstellung zweier Schauspiele auftrat.¹⁰⁸ Ende August reiste der Vater mit Hippolyte nach Lyon, in die Heimatstadt der Familie. Hier schlossen sich an ein erstes Konzert am . September in der Salle de Tirage der Lotterie bis Anfang Oktober insgesamt noch drei weitere im Saal des Grand-Théâtre an.¹⁰⁹ Die Ankunft hatte man im Journal de Lyon wie folgt verkündet :
Journal politique et littéraire de Toulouse et de la Haute-Garonne vom . April (Nr. ), S. . Siehe auch weiter oben die ähnliche Formulierung in Bezug auf das zweite der Konzerte in Rouen. Siehe zu den Konzerten Journal politique et littéraire de Toulouse et de la Haute-Garonne vom . April (Nr. ), S. bis zur Ausgabe vom . April (Nr. ), S. . Siehe Journal de Marseille et des Bouches-du-Rhône vom . Juni (Nr. ), S. bis zur Ausgabe vom . Juli (Nr. ), S. . Das Journal de Lyon et du département du Rhône vom . September (Nr. ), S. behauptete offensichtlich unzutreffenderweise, Larsonneur hätte in Marseille sieben Konzerte gegeben. Siehe Journal de Lyon et du département du Rhône vom . September (Nr. ), S. bis zur Ausgabe vom . Oktober (Nr. ), S. .
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»Nous nous rendrons pareillement l’écho de tous les journaux, en rappelant les suffrages que le jeune Larsonneur a obtenus des Souverains de l’Europe au congrès, d’Aix-la-Chapelle et à la cour de France.«¹¹⁰
An zentraler Stelle angeführt wurde also noch immer die Würdigung des Hochadels, wenn es darum ging, was für den jungen Musiker sprach, eine Würdigung, die ihm neben Aachen mittlerweile auch am französischen Hof unter Beweis gestellt worden war und auf die auch in einer abschließenden Rezension der Zeitung mit gewissem Stolz auf die Herkunft des Kindes noch einmal Bezug genommen wurde : »Poursuis, aimable enfant, poursuis tes triomphes. Déjà les Souverains t’ont prodigué les justes applaudissemens de l’admiration ; déjà les suffrages unanimes des plus grands maîtres te décernent d’avance une place au mileu d’eux ; et Lyon un jour sera flatté de t’avoir vu naître dans ses murs.«¹¹¹
Von Lyon ging es für Larsonneur Ende Oktober weiter nach Straßburg, wo der ihm vorauseilende Ruf kein anderer gewesen sein dürfte. Er spielte hier immerhin drei Konzerte.¹¹² Die Familie fasste offenbar den Vorsatz, die Erfolge möglichst rasch international auszuweiten. Jedenfalls fiel der Aufenthalt in Paris nach der Rückkehr im Februar überraschend kurz aus. Nachdem Hippolyte am . März in einem der Vauxhalls ein eher unbeachtetes Konzert gegeben, und sich am . März im Salon von Monsieur Pfeiffer in der Rue Montmartre noch an einer öffentlichen Soiree beteiligt hatte,¹¹³ verkündete man bereits im Mai in London die Journal de Lyon et du département du Rhône vom . September (Nr. ), S. . »Wir machen uns ebenfalls zum Echo aller Zeitungen, indem wir an den Beifall erinnern, den der junge Larsonneur von den Herrschern Europas auf dem Aachener Kongress sowie am französischen Hof erhalten hat.« (Übers. d. Verf.). [Anon.], »Second Concert du jeune Hypolite Larsonneur«, in : Journal de Lyon et du département du Rhône vom . September (Nr. ), S. . »Setze, liebenswertes Kind, setze deine Triumphe fort. Schon haben die Herrscher dich mit berechtigtem Applaus der Bewunderung überschüttet ; schon verleiht der einhellige Beifall der größten Meister dir im Voraus einen Platz in ihrer Mitte ; und Lyon wird sich eines Tages geschmeichelt fühlen, dass es dich in seinen Mauern zur Welt kommen sah.« (Übers. d. Verf.). Siehe Journal des théâtres, de la littérature et des arts vom . November (Nr. ), S. ; Allgemeine musikalische Zeitung /Nr. (. Juni ), Sp. . Siehe zu dem Konzert Le Constitutionnel, journal du commerce, politique et littéraire vom . Februar (Nr. ), S. , sowie vom . Februar (Nr. ), S. . Gemeint war
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Ankunft des Knaben, dessen Name allerdings noch nicht zu jedem vorgedrungen war : »A boy is just arrived from Paris, who is said to be a very extraordinary player on the violin.«¹¹⁴ Die laufende Konzertsaison in London sollte also noch bestmöglich genutzt werden. Das Renommee, das der Musiker in Frankreich genoss, verschaffte ihm hier aber allem Anschein nach keine besonderen Vorteile. Es wurde ihm zunächst gewährt, am . Mai im King’s Theatre am Haymarket bei einer Veranstaltung des hiesigen Impresarios Michael Kelly (»his annual benefit night«) zu spielen, was vielleicht etwas unterging, da am selben Abend noch Gioachino Rossinis La Gazza Ladra, die Komödie The Midnight Hour und ein Ballett mit dem Titel La Payanna Supposer gegeben wurden.¹¹⁵ Es war vermutlich Kelly, der Larsonneur an eine ähnliche Veranstaltung am . Mai im Theatre Royal Drury Lane vermittelte, wo der junge Violinvirtuose in der Pause zwischen einer Komödie und dem Benefizkonzert von Frances Maria Kelly, der Nichte Michaels, auftreten sollte.¹¹⁶ »Le Jeune Larsonneur«, wie man den Virtuosen auch im Englischen ankündigte, bekam außerdem die zweimalige Chance, sich in den Argyll Rooms zu präsentieren, und zwar am . Mai im Konzert des singenden Schwesternpaares Frances und Rosalie Corri und eine Woche später in jenem des Flötenvirtuosen Jean-Louis Tulou.¹¹⁷ Die Argyll Rooms waren denn auch der Ort für sein, schließlich doch in Erfüllung gegangenes, eigenes Benefizkonzert am . Juni, für das sich die
hier wohl das Wauxhall d’été in der Rue Samson am Boulevard Saint-Martin, möglicherweise auch das Wauxhall d’hiver, respektive Petit-Panthéon in der Rue de Chartres. Zu dem Auftritt bei Pfeiffer siehe Le Constitutionnel, journal du commerce, politique et littéraire vom . März (Nr. ), S. . [Anon.], »Report of Music. No. XV.«, in : The London Magazine /Nr. (Mai ), S. . In der französischen Presse meldete man im April die Abreise Larsonneurs nach London. Siehe Le Constitutionnel, journal du commerce, politique et littéraire vom . April (Nr. ), S. . Das Journal de Paris gab bereits den Plan der Familie bekannt, nach England zu reisen, den man aufgrund einer Erkrankung des Vaters aber auf das nächste Jahr verschoben hätte. Siehe Journal de Paris, politique, commercial et littéraire vom . Juni (Nr. ), S. . Siehe die Anzeigen in The Times vom . Mai (Nr. ), o. S.; The Morning Chronicle vom . April (Nr. ), o. S. und vom . April (Nr. ), o. S.; The New Times vom . April (Nr. ), o. S., vom . Mai (Nr. ), o. S. und vom . Mai (Nr. ), o. S. Siehe auch die Nachricht in The Morning Post vom . Mai (Nr. ), o. S. Siehe The Morning Chronicle vom . Mai (Nr. ), o. S. Siehe Anzeigen in The Times vom . Mai (Nr. ), o. S., und vom . Mai (Nr. ), o. S.
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Familie die offizielle Unterstützung von Angehörigen des englischen Hochadels gesichert hatte, mit deren Namen man in der Presse warb.¹¹⁸ Schon für den . Juli war ein Konzert in Lille organisiert,¹¹⁹ der Besuch in England fiel also offensichtlich nicht länger aus als nötig. Am . und . Oktober ließ sich Larsonneur dann im Saal des Herrn Schrobilgen im Café Francais in Luxemburg hören und bereiste mit seinem Vater im Anschluss weitere Städte des Deutschen Bundes.¹²⁰ Als die Larsonneurs am . Oktober in Trier im Theater ein großes Vokal- und Instrumentalkonzert veranstalteten, befanden sie sich laut einer Zeitungsanzeige auf der »Durchreise nach Berlin«¹²¹, wo sie allerdings nie ankamen.¹²² Vielleicht überlegten es sich die beiden bereits nach einem Konzert am . November in Frankfurt anders, für das sie den Saal des sogenannten Rothen Hauses, eines ehemaligen Gasthofes, angemietet hatten.¹²³ Zwar hatte man sich auch in Frankfurt im Vorhinein »der Unterschriften der ausgezeichnetesten [sic] Personen dieser Stadt«¹²⁴ versichert, die Allgemeine Musikalische Zeitung berichtete später allerdings, dass das Konzert dennoch »bey fast ganz leerem Saale« hätte stattfinden müssen, ein Schicksal, das viele reisende Virtuosen in der Stadt treffe, »wenn nicht ein ausserordentlicher Ruf und ausserordentlich viele Empfehlungsbriefe eine Ausnahme verursachen«¹²⁵. Es Siehe The Morning Chronicle vom . Juni (Nr. ), o. S. Erwähnung fanden seine Auftritte in den Argyll Rooms auch in [Anon.], »Novellistik. London, im Monath July. (Fortsetzung)«, in : Allgemeine musikalische Zeitung, mit besonderer Rücksicht auf den österreichischen Kaiserstaat /Nr. (. September ), Sp. . Siehe Guy Gosselin, La symphonie dans la cité. Lille au XIXe siècle, S. ; Le Miroir des spectacles, des lettres, des mœurs et des arts vom . Juli (Nr. ), S. . Siehe Luxemburger Wochenblatt vom . Oktober (Nr. ), S. , sowie vom . Oktober (Nr. ), S. . Eine angeblich geplante »Reise nach Deutschland« Larsonneurs wurde bereits für das Jahr angekündigt von Georg Ludwig Peter Sievers, »Musikalisches Allerley aus Paris, vom Monate May «, in : Allgemeine musikalische Zeitung /Nr. (. Juni ), Sp. . Trierische Zeitung vom . Oktober (Nr. ), o. S. Siehe auch Gustav Bereths, Musikchronik der Stadt Trier (–). Teil I : Das Konzert- und Vereinswesen, Mainz (= Beiträge zur mittelrheinischen Musikgeschichte ), S. . In der über das Berliner Musikleben recht zuverlässig berichtenden Königlich privilegirte Berlinische Zeitung von Staats- und gelehrten Sachen wird Larsonneur im fraglichen Zeitraum zwischen Oktober und Juni jedenfalls nicht erwähnt. Siehe Frankfurter Ober-Postamts-Zeitung vom . November (Nr. ), o. S. Vgl. zudem A., »Korrespondenz und Notizen. Aus Frankfurt a. M., im Novbr.«, in : Zeitung für die elegante Welt /Nr. (. Dezember ), Sp. . Frankfurter Ober-Postamts-Zeitung vom . November (Nr. ), o. S. [Anon.], »Nachrichten. Frankfurt am Mayn«, in : Allgemeine musikalische Zeitung /Nr. (. Januar ), Sp. .
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mag im deutschen Ausland tatsächlich an einer Vernetzung zur sozialen Elite und wichtigen Persönlichkeiten des örtlichen Musiklebens gemangelt haben. Auch Larsonneurs Bekanntheitsgrad lag hier, ähnlich wie in England, wohl weit unter dem, den er in der Heimat genoss. Bezeichnend war dahingehend die Art und Weise, wie sich der Journalist Ludwig Börne nach dem Frankfurter Konzert bei seiner Brieffreundin Jeanette Wohl nach dem Musiker erkundigte : »Haben Sie in Frankfurt den jungen Larsonneur gehört ? Ich weiß nicht spielt er Klavier oder Violin – gefiel er Ihnen ?«¹²⁶ Demselben Missverständnis war bereits ein Londoner Korrespondent der Wiener Allgemeinen musikalischen Zeitung erlegen, der damit unabsichtlich verriet, dass er offensichtlich bei keinem der Auftritte Larsonneurs persönlich anwesend gewesen war (für seinen Text hatte er sich ansonsten beim London Magazine bedient).¹²⁷ Der Zenit des Ruhms war aber selbst in Frankreich längst überschritten, wie sich an den nachfolgenden Ereignissen ablesen lässt. Monsieur Larsonneur passierte mit seinem Sohn noch im selben Winter die französische Grenze. So ist etwa im Dezember von zwei Soireen im Theater von Orléans zu lesen, über die eine Lokalzeitung, dem allgemeinen Duktus der Presse treu bleibend und die stets gleichen Motive anführend, noch immer nur von ungebrochenem Zuspruch zu berichten hatte : »Le jeune Larsonneur, dont le talent précoce a fait l’admiration de la capitale et des principales villes de France, a donné cette semaine deux soirées musicales sur notre théâtre. Ici, comme partout où ce jeune et intéressant virtuose a été entendue, on ne sait ce que l’on doit le plus louer du charme, de la mélodie des sons, de leur énergique précision, ou de la grâce et de l’assurance de l’exécution. Cet enfant, à peine âgé de ans /, fait concevoir les plus brillantes espérances. Le talent supérieur qu’il possède est dû aux leçons de son père, et ce talent, qui ne tend qu’à se développer de jour en jour, promet à la musique française un digne émule des Kreutzer, des Lafond [sic] et des Boucher.«¹²⁸
Brief von Ludwig Börne an Jeanette Wohl, datiert auf München, den . November (Nr. ) in : Ludwig Börne und Jeanette Wohl, Briefwechsel (–), Edition und Kommentar, hg. von Renate Heuer und Andreas Schulz, Berlin u. a. , S. . Siehe [Anon.], »Novellistik. London, im Monath July. (Fortsetzung)«, in : Allgemeine musikalische Zeitung, mit besonderer Rücksicht auf den österreichischen Kaiserstaat /Nr. (. September ), Sp. ; [Anon.], »Report of Music. No. XVII.«, in : The London Magazine / Nr. (Juli ), S. . Journal général du département du Loiret vom . Dezember (Nr. ), S. . »Der junge Larsonneur, dessen frühzeitiges Talent die Bewunderung der Hauptstadt und der wichtigsten
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Der Enthusiasmus, dem der anonyme Verfasser hier Ausdruck verlieh, verdeckt, dass sich das Ende der Laufbahn Larsonneurs als Virtuose bereits allmählich abzeichnete. So ließen seine Erfolge in der kommenden Pariser Konzertsaison schon deutlich nach. Am . und . Juni trat er im Théâtre du Vaudeville auf, vermutlich zur regulären Spielzeit, sprich zwischen den aufgeführten Stücken oder einzelnen Akten, was kaum öffentliche Beachtung fand.¹²⁹ Ob es daran lag, dass eingespielte Inszenierungsmuster das Publikum nicht länger überzeugen konnten oder er keine eigenen Stücke für seine Auftritte schrieb, was mit steigendem Alter von ihm, wie von anderen Virtuosen auch, erwartet werden konnte, lässt sich nicht ausmachen. Die stets lauernde Konkurrenz war jedenfalls gnadenlos und ist an den ständigen Vergleichen und Gerüchten über Herausforderungen, wie sie die Presse gelegentlich streute, deutlich zu erkennen.¹³⁰ beispielsweise wurde ein in Neapel auftretender Violinist namens Faustin Hugues mit seinen angeblich sieben Jahren naheliegenderweise gegen Larsonneur gehalten : »Naples possède actuellement son Hippolite [sic] Larsonneur.«¹³¹ In dem belgischen Knaben Joseph Lambert Massart, einem Privatschüler Kreutzers in Paris, sahen Beobachter nach dessen Auftrittserfolgen in Brüssel im Januar »le rival de notre petit Larsonneur«¹³² (den Rivalen unseres kleinen Larsonneur) oder seinen »Nebenbuhler«¹³³. Im Gegensatz zu Italien lag Belgien nicht weit entfernt und selbstverständlich zog es Massart auch nach Paris. Anlässlich seines Konzerts im Wauxhall meinte das Journal de Paris : »Depuis quelques années nous avons vu paraitre plusieurs petits prodiges
Städte Frankreichs erregt hat, hat diese Woche zwei musikalische Soireen in unserem Theater gegeben. Hier, wie überall, wo dieser junge und interessante Virtuose gehört worden ist, weiß man nicht, was man am meisten an dem Reiz, der Melodie seiner Töne, ihrer kräftigen Genauigkeit, oder an der Anmut und Sicherheit ihrer Ausführung rühmen soll. / Dieses Kind, kaum elfeinhalb Jahre alt, lässt die glänzendsten Hoffnungen machen. Das überlegene Talent, das es besitzt, verdankt sich dem Unterricht seines Vaters, und dieses Talent, das nur danach strebt, sich von Tag zu Tag weiterzuentwickeln, verspricht der französischen Musik einen würdigen Nacheiferer Kreutzers, Lafonts und Bouchers.« (Übers. d. Verf.). Siehe Le Constitutionnel, journal du commerce, politique et littéraire vom . Juni (Nr. ), S. .; Le Miroir des spectacles, des lettres, des mœurs et des arts vom . Juni (Nr. ), S. und vom . Juni (Nr. ), S. . Zur Konkurrenzsituation unter Kindervirtuosen in Paris vgl. Alan Walker, Franz Liszt, S. . Le Camp-volant, journal des spectacles de tous les pays vom . Dezember (Nr. ), S. . »Neapel besitzt jetzt seinen Hippolite [sic] Larsonneur.« (Übers. d. Verf.). Le Miroir des spectacles, des lettres, des mœurs et des arts vom . Januar (Nr. ), S. . Man schätzte Massart in der Presse mit neuneinhalb Jahren damals zwei Jahre zu jung ein. Flora. Ein Unterhaltungs-Blatt o. Jg./Nr. (. Januar ), S. .
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dont le talent précoce sur le violon est vraiment remarquable […]«¹³⁴. Dass in der europäischen Konzertmetropole am laufenden Band neue Kindervirtuosen auf der Bildfläche erschienen, war ein gängiger Topos. »Es regnet hier, möchte ich sagen, musikal. Wunderkinder«¹³⁵ witzelte etwa der Pariser Korrespondent der Allgemeinen musikalischen Zeitung Georg Ludwig Peter Sievers mit Blick auf die Konzerte von Larsonneur sowie der Geschwister Eduard und Catharina Sigl im August . Ironisch bemerkte später ein Journalist im Constitutionnel : »Les petites merveilles sont à la mode ; on dirait maintenant qu’il suffit, pour acquérir de la célébrité, d’avoir de petites vues, de petits talens, une petite taille.«¹³⁶ Und in einem anderen Blatt raunte es damals : »Nous vivons au temps des merveilles enfantines […]«¹³⁷ (Wir leben in Zeiten kindlicher Wunder). Eine handfeste Rivalität behauptete die Presse übrigens zwischen Larsonneur und dem österreich-ungarischen Violinisten Sigismund von Praun, der zu jener Zeit ebenfalls durch Europa tourte, ausmachen zu können, doch hatte die Angelegenheit schließlich eher anekdotische Qualität, da man mit ihr die unterschiedlichen sozialen Stände, denen die beiden Geiger entstammten, pointiert gegeneinander ausspielen konnte : »Le bruit court que le jeune Hyppolite Larsonneur, jeune et très-jeune virtuose, qu’un autre enfant (le vieux Vaudeville), a pris récemment sous sa protection, a envoyé un cartel de défi au sieur Baron de Praun, autre virtuose âgé de onze ans, et que ce dernier a fait répondre par son secrétaire, qu’en sa qualité de gentilhomme, il ne lui convenait pas de se mesurer avec un vilain.«¹³⁸ Journal de Paris et des départemens, politique, commercial et littéraire vom . Juni (Nr. ), S. . »Seit ein paar Jahren haben wir einige kleine Wunder erscheinen sehen, deren frühzeitiges Talent auf der Violine wirklich bemerkenswert ist […]« (Übers. d. Verf.). Georg Ludwig Peter Sievers, »Musikalisches Allerley aus Paris, vom Monate August, «, in : Allgemeine musikalische Zeitung /Nr. (. September ), Sp. . Die Reiserouten der Familien Sigl und Larsonneur überschnitten sich außerdem in Aachen sowie in Amsterdam im Januar . Siehe Allgemeine musikalische Zeitung /Nr. (. Februar ), Sp. , sowie Nr. (. Mai ), Sp. . Le Constitutionnel, journal du commerce, politique et littéraire vom . Februar (Nr. ), S. . »Kleine Wunder sind in Mode ; um berühmt zu werden, scheint es jetzt auszureichen, kleine Ansichten, kleines Talent und eine kleine Körpergröße zu besitzen.« (Übers. d. Verf.) Der Verfasser bezog sich mit diesem Kommentar neben Larsonneur auf die etwa gleichaltrigen Schauspielerinnen Léontine Fay und »l’orpheline de Wilna«. Le Diable boiteux. Journal des spectacles, des mœurs et de la littérature /Nr. (. März ), S. . Le Miroir des spectacles, des lettres, des mœurs et des arts vom . Juni (Nr. ), S. . »Das Gerücht geht um, dass der junge Hyppolite Larsonneur, ein junger, sogar sehr junger
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Eine Lösung, um dem nachlassenden Interesse an Hippolyte entgegenzuwirken, erblickte die Familie offensichtlich in dessen jüngerem Bruder Charles und versuchte mit einer gemeinsamen Konzertreise durch Frankreich an vergangene Erfolge anzuknüpfen. Im November konnte man in Rouen immerhin drei Konzerte im Théâtre des Arts erwirken.¹³⁹ Schon im Vorfeld wurde hier das Gerücht verbreitet, dass Monsieur Larsonneur nicht nur den bereits bekannten Kindervirtuosen mitbringe, »mais encore une autre petite merveille de cinq ans, qui marche déjà, dit-on, à grand pas sur les traces de son frère.«¹⁴⁰ Und nach dem ersten dieser Konzerte druckte das Journal de Rouen eine durchweg begeisterte Rezension : »Il nous est agréable, en terminant cette revue, de n’avoir plus à donner que des éloges sans restriction. Ils s’adresseront aux jeunes fils de M. Larsonneur, dont l’aîné avait fait pour la première fois, en , l’étonnement de tous les amateurs de notre ville, par sa précoce habileté sur le violon. Il était réservé à M. Larsonneur, dont le talent se perpétue dans ses enfans, de nous offrir cette année un prodige plus étonnant encore : celui de son jeune Charles, qui, à peine âgé de cinq ans, exécute déjà sur cet instrument si difficile, avec une précision admirable, des morceaux qu’oseraient à peine aborder des élèves déjà avancés et dans la force de l’âge. L’accroissement rapide du talent de son frère Hyppolite [sic] n’est pas moins prodigieux. Loin de se démentir en quoi que ce soit, il semble maintenant se jouer avec les difficultés les plus excessives ; et, sans rien perdre de sa force ni de sa netteté, son jeu à [sic] acquis toute la grace [sic] qui donne à la musique le sentiment et la vie. Les applaudissemens les plus vifs ont prouvé à ces intéressans virtuoses tout le plaisir qu’ils avaient
Virtuose, den kürzlich ein anderes Kind (das alte Vaudeville) unter seine Fittiche genommen hat, eine schriftliche Herausforderung (cartel de défi) an den Herrn Baron von Praun, einen anderen elfjährigen Virtuosen, gesendet hat, und dass Letzterer durch seinen Sekretär hat antworten lassen, dass es ihm in seiner Stellung als Adliger nicht zusage, sich mit einem Bauern zu messen.« (Übers. d. Verf.). Die Anspielung bezog sich auf das Théâtre du Vaudeville, wo Larsonneur kurz zuvor aufgetreten war. Siehe Journal de Rouen et du département de la Seine-Inferieure vom . November (Nr. ), S. , vom . November (Nr. ), S. und vom . November (Nr. ), S. . Vgl. Jules Édouard Bouteiller, Histoire complète et méthodique des théâtres de Rouen, S. –. Journal de Rouen et du département de la Seine-Inferieure vom . Oktober (Nr. ), S. . »aber noch ein anderes kleines Wunder von fünf Jahren, das bereits, wie man sagt, mit großen Schritten seinem Bruder nachfolgt.« (Übers. d. Verf.) Ähnlich auch in : Le Diable boiteux. Journal des spectacles, des mœurs et de la littérature /Nr. (. November ), S. .
| Le jeune Larsonneur und die Stimme der Natur fait éprouver, et nous sommes convaincus que leur succès ne sera pas moins éclatant à la représentation qu’ils doivent donner ce soir.«¹⁴¹
Die Zeitung gab eine Woche später außerdem an, dass die Larsonneurs über Le Havre und Caen nach Bordeaux reisen würden, was bedeutete, dass sie exakt dieselbe Route im Auge hatten, wie die des beispiellosen Triumphzugs, den der ältere Bruder vor vier Jahren quer durch Frankreich angetreten hatte. Ihre Vorhersage aber, in jeder vor ihnen liegenden Stadt »un succès non moins brillant que celui qu’ils ont obtenu à Rouen«¹⁴² (einen nicht weniger glänzenden Erfolg als jenen, den sie in Rouen erzielt haben) zu erringen, traf schlussendlich nicht ein. Im Theater in Le Havre traten die beiden Brüder offenbar nur ein einziges Mal, zwischen den an jenem Abend gegebenen Opern, auf.¹⁴³ Ähnlich war es auch in Caen, wo sie gemeinsam mit dem Cellisten Filippo Lolli, lediglich zum Programm eines Dilettantenkonzertes beitragen durften.¹⁴⁴ Unbestreitbar ist, dass diese Reise bedeutend kürzer ausfiel als ihr Vorbild. Dabei ist es gut vorstellbar, dass das Vorhaben aus finanziellen Gründen vorzeitig abgebrochen werden musste. N. B***., »spectacles. Theatre des Arts«, in : Journal de Rouen et du département de la Seine-Inferieure vom . November (Nr. ), S. . »Es ist uns angenehm, am Ende dieser Revue nur noch uneingeschränktes Lob zu verteilen zu haben. Es wird den jungen Söhnen von Monsieur Larsonneur gelten, deren älterer durch seine frühreife Geschicklichkeit auf der Violine zum ersten Mal das Erstaunen aller Musikliebhaber unserer Stadt erweckt hatte. Monsieur Larsonneur, dessen Talent sich in seinen Kindern fortsetzt, war es vorbehalten, uns dieses Jahr ein noch erstaunlicheres Wunder zu bieten : dasjenige seines jungen Charles, der, gerade einmal fünf Jahre alt, auf diesem so schwierigen Instrument bereits mit einer bewundernswerten Genauigkeit Stücke spielt, an die sich fortgeschrittene Schüler in den besten Jahren kaum wagen würden. Die rasche Entwicklung des Talentes seines Bruders Hyppolite [sic] ist nicht weniger wunderbar. Weit davon entfernt in irgendeiner Weise nachzulassen, scheint er jetzt spielend mit den größten Schwierigkeiten fertigzuwerden ; und ohne seine Kraft oder seine Reinheit zu verlieren, hat sein Spiel die ganze Anmut gewonnen, die der Musik Gefühl und Leben gibt. Der lebhafteste Beifall hat den interessanten Virtuosen all das Vergnügen bewiesen, das sie empfinden ließen, und wir sind überzeugt, dass ihr Erfolg bei der Vorstellung des heutigen Abends nicht weniger durchschlagend sein wird.« (Übers. d. Verf.). Journal de Rouen et du département de la Seine-Inferieure vom . November (Nr. ), S. . Feuille d’annonces judiciaires, commerciales et maritimes du Havre vom . November (Nr. ), S. . Zitiert nach : Lucie Brachais, »Feuille d’annonces judiciaires, commerciales et maritimes du Havre, n° , mardi novembre , p. «, in : Joann Élart, Yannick Simon und Patrick Taïeb (Hgg.), Dezède. Histoire et chronologie des spectacles, Rouen u. a. o. J., o. S. Online : https://dezede.org/sources/id// [abgerufen am ..]. Siehe Paul de Longuemare, Le Théâtre à Caen, S. .
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Hippolyte Larsonneur tat sich in Paris mit dem etwa gleichaltrigen Gitarristen Luigi Sagrini zusammen, um am . Juni in der Salle Lebrun in der Rue de Cléry und am . Juni im Foyer der Salle Favart gemeinsam Konzerte zu geben (im ersteren trat auch Charles auf ).¹⁴⁵ Das Bild, das sich das Publikum von ihm in den letzten Jahren machen konnte, löste sich allerdings allmählich von der realen Person. Zwar war einem der Violinist immer noch als »le jeune Larsonneur«¹⁴⁶ vertraut, zugleich aber befand sich dieser nun in einem Alter, in welchem er – auch in der Presse – mit »Monsieur« angeredet wurde. Das zweite der Konzerte taucht glücklicherweise in den von dem Musikwissenschaftler Étienne Jardin katalogisch aufbereiteten Archivalien des droit des pauvres (der Steuer auf Unterhaltungsveranstaltungen) auf, aus denen die eher bescheidene Summe von Francs als zu versteuernde Einnahmen hervorgehen.¹⁴⁷ Das Konzert Larsonneurs am . Januar in den Pariser Salons Duport erzielte sogar nur einen lächerlichen Überschuss von Francs, von dem außerdem noch ein Viertel an den Fiskus ging.¹⁴⁸ Es wäre voreilig, hieraus einen Trend abzulesen, aber der Umstand, dass seine Virtuosenkarriere um die Mitte der er zu Ende ging, lässt sich auch daran ermessen, dass er von da an nur noch wenige Spuren in der Öffentlichkeit hinterließ. Am . Mai gaben die Brüder Charles und Hippolyte Larsonneur im Rathaussaal in Dijon noch ein Benefizkonzert, was vermutlich der letzte solche Versuch überhaupt gewesen ist. Eine Zeitung schrieb nachher : »Celle [= l’occasion] de vendredi étoit bonne, quoi qu’on en puisse dire. Et pourtant Hippolyte Larsonneur, qui nous avoit étonnés en , n’a pas tenu tout ce que nous nous en étions promis. Vienne l’âge des passions, disions-nous, et ce talent prendra son essor. Il sentira alors que tout n’est pas dans une grande pureté d’exécution, dans un coup d’archet léger et solide ; mais que le violon doit produire des émotions profondes, qu’il doit faire vibrer l’ame de celui qui écoute ; qu’il est lui-même, comme
Siehe Le Diable boiteux. Journal des spectacles, des mœurs et de la littérature /Nr. (. Juni ), S. , sowie Nr. (. Juni ), S. . Siehe Le Diable boiteux. Journal des spectacles, des mœurs et de la littérature /Nr. (. Juni ), S. . Siehe Étienne Jardin, »Répertoire des concerts parisiens de à d’après les archives du droit des pauvres«, in : Étienne Jardin und Patrick Taïeb (Hgg.), Archives du concert. La vie musicale française à la lumière de sources inédites (XVIIIe–XIXe siècle), Arles u. a. , S. . Zum Vergleich : Virtuosen wie Lafont oder Liszt nahmen in derselben Saison mit ihren Konzerten im Théâtre-Italien jeweils um die . Francs ein. Siehe ebd., S. . Siehe ebd., S. .
| Le jeune Larsonneur und die Stimme der Natur disoient les Anciens, une ame parlante. Aujourd’hui Hippolyte Larsonneur a dixhuit ans, et l’inspiration lui manque. Ceci est un mal sans remède ; mais enfin, avec du goût musical, et ce qu’il sait, il sera par-tout un violon très distingué. Archet brillant, extrème justesse dans la double corde, fermeté dans l’exécution, grand volume de son, beaucoup de vigueur dans la main gauche ; ce jeune artiste possède tous ces moyens, et il aura à un haut degré le mécanisme de l’instrument.«¹⁴⁹
Zwar sei, wie der Verfasser der Rezension meinte, sein technisches Handwerk (»le mécanisme«) keinesfalls zu tadeln. Von einem Virtuosen im Jünglingsalter (»l’âge des passions«) aber könne und müsse man, was Inspiration und Tiefe des Gefühls beträfen, mehr erwarten. Jene überragende Zukunft also, die sich in dem Knaben vor ein paar Jahren noch für viele angekündigt hätte, habe sich nicht eingelöst. Was hier immerhin nicht geleugnet wurde, ist das professionelle Niveau, auf dem Hippolyte Larsonneur ausgebildet war, welches ihm gemeinsam mit dem Vater eine Anstellung im Orchester des Second Théâtre Français (Odéon) verschaffte, die er noch für mindestens zwei weitere Spielzeiten behielt.¹⁵⁰ Einige Jahre später schlug nach Hippolyte und Charles noch ein drittes Kind der Familie Larsonneur eine Virtuosenlaufbahn ein. So meldete man im Frühjahr in Rouen das Debüt einer Pianistin namens Laure Larsonneur, die die Presse auf acht bis neun Jahr schätzte. Laure spielte zunächst am . März im alten Hôtel des Finances in einer musikalischen Soiree zweier italienischer Sänger namens Cechetti und Tedeschi und trat dann am . Mai in einem Konzert eines Monsieur Bosen im großen Saal des Rathauses auf.¹⁵¹ Le Provincial, recueil périodique o. Jg./Nr. (. Mai ), S. . »Diejenige [Gelegenheit] vom Freitag war günstig, ganz gleich was man sagen mag. Aber dennoch hat Hippolyte Larsonneur, der uns erstaunt hat, nicht ganz gehalten, was wir uns versprochen hatten. Kommt das Alter der Leidenschaften, sagten wir uns, wird dieses Talent aufblühen. Dann wird er fühlen, dass eine große Reinheit der Ausführung, eine leichte und sichere Bogenführung nicht ausreichen ; sondern dass die Violine tiefe Gefühle erzeugen muss, dass es erforderlich ist, die Seele des Zuhörers zum Schwingen zu bringen ; dass sie selbst, wie die Alten gesagt haben, eine sprechende Seele ist. Heute ist Hippolyte Larsonneur achtzehn Jahre alt, und die Inspiration fehlt ihm. Das ist ein Übel ohne Heilmittel ; aber schließlich, mit seinem musikalischen Geschmack und dem, was er kann, wird er überall ein ausgezeichneter Violinist sein. Brillanter Bogen, äußerste Genauigkeit im Doppelgriff, Bestimmtheit in der Ausführung, großes Tonvolumen, viel Kraft in der linken Hand ; dieser junge Künstler besitzt all diese Mittel, und er wird in einem höchsten Maße den Mechanismus des Instruments beherrschen.« (Übers. d. Verf.). Die beiden werden zumindest nur in den entsprechenden drei Jahrgängen des Almanach des Spectacles unter dem Orchesterpersonal des Theaters angeführt. Siehe Almanach des Spectacles (), S. ; (), S. ; (), S. . Siehe Journal de Rouen et du département de la Seine-Inférieure vom . März (Nr. ),
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Allerdings hörte man auch von ihr danach nicht mehr viel.¹⁵² Der Lebensweg von Hippolyte Larsonneur wiederum verliert sich um im Dunklen beziehungsweise verbreitete sich das Gerücht, er sei nach Amerika ausgewandert. Tatsächlich gab die amerikanische Presse dessen Ankunft in New Orleans sowie sein Vorhaben bekannt, sich in der neuen Welt als Pianist zu versuchen : »New Orleans papers speak of the arrival in that city from Paris, of a musical prodigy, in the person of Mr[.] Larsonneur. He is the same gentleman who, when the Sovereigns of Europe met at Paris [sic], performed before them on the violin, being then only nine years of age, and who created so much astonishment. He has since applied himself to the piano, under the most celebrated masters, and his skill on this instrument is highly commended.«¹⁵³
Über sein dortiges Schicksal hat der Schriftsteller Hippolyte Verly einige vage Andeutungen geliefert : »[…] Hippolyte Larsonneur, partit pour l’Amerique en et après avoir fait un brillant mariage au Mexique, alla mourir de chagrin à San-Francisco, ayant vu toutes ses espérances brisées dans une des tempêtes politiques si fréquentes dans ce malheureux pays.«¹⁵⁴ S. und vom . Juni (Nr. ), o. S.; X., »MM. Cechetti et Tedeschi«, in : Le Boïeldieu, journal artistique et littéraire /Nr. (. März ), S. sowie [Anon.], »Concert«, in : ebd. Nr. (. Juni ), o. S.; Escudier, »Revue des concerts pendant les mois de mars et avril, à Paris«, in : La France musicale /Nr. (. Mai ), S. ; B., »Concert de M. Bosen«, in : Le Colibri, journal de la littérature, des théâtres, des arts et des modes o. Jg./Nr. (. Juni ), o. S. Die Karriere von Laure Larsonneur wird an dieser Stelle nicht im Einzelnen nachverfolgt. Ein Konzert in den Salons Hesselbein am . April wurde beispielsweise noch annonciert in : Revue et Gazette Musicale /Nr. (. April ), S. . Dieses sowie ein weiteres dortiges Konzert am . Februar wurden angeführt in den Archivalien des droit des pauvres, siehe Étienne Jardin, »Répertoire des concerts parisiens de à d’après les archives du droit des pauvres«, S. , . Ein weiteres Familienmitglied, eine siebeneinhalbjährige Schwester, wurde bei ihrer Ankunft in Tours zusammen mit Charles erwähnt. Siehe [Anon.], »Boîte«, in : La Pandore. Journal des spectacles, des lettres, des arts, des mœurs et des modes vom . Oktober (Nr. ), S. . The Boston Morning Post vom . Dezember (Nr. ), o. S. Hippolyte Verly, Essai de biographie lilloise contemporaine, S. . »[…] Hippolyte Larsonneur reiste nach Amerika aus und verging, nach einer reichen Heirat in Mexiko, in San-Francisco fast vor Kummer, als er in einer der in diesem armen Land so häufigen politischen Unruhen alle seine Hoffnungen zerbrochen sah.« (Übers. d. Verf.) San-Francisco
Le jeune Larsonneur und die Stimme der Natur
Larsonneur war womöglich schon wieder nach Frankreich zurückgekehrt. So wurde in der Hafenstadt Caen für den Mai dieses Jahres nämlich der Auftritt eines Klavierspielers mit seinem Nachnamen in einem Konzert des Sängers Arthur Espinasse erwähnt.¹⁵⁵ hielt er sich nachweislich in Paris auf, da der Musiker und Schriftsteller Henri Blanchard ihn (»le jeune Larsonneur«) im Benefizkonzert der siebeneinhalbjährigen Pianistin Enrichetta Merli in der Salle Herz erkannt hat.¹⁵⁶ Bei »l’habile violiniste Larsonneur, de retour à Paris« (dem geschickten Violinisten Larsonneur, zurück in Paris), der für die dritte Vorstellung der Grande Fête des Cascades mit vorangehender Konzertvorstellung am . August des Jahres im Jardin d’Hiver neben anderen Musikern angekündigt wurde, dürfte es sich daher ebenfalls um Hippolyte gehandelt haben.¹⁵⁷ Das Mitteilungsblatt der in Paris ansässigen Association des artistes musiciens führte ihn zudem von bis als Mitglied an.¹⁵⁸ Zwar stellte Blanchard Larsonneur nun rückblickend in die erste Reihe der Geige spielenden Kindervirtuosen seiner Zeit und hatte ihn sogar schon unter jene sechzehn berühmte ›Wunderkinder‹ der jüngeren Geschichte gelistet, die der Kritiker für eine Pointe in seiner Konzertrubrik der Revue et Gazette musicale de Paris angeführt hatte – eine Liste, die vom Gelehrten Jean Pic de la Mirandole im . Jahrhundert bis zu Louise-Aglaé Masson reichte, welche drei Jahre zuvor den ersten Klavierpreis des Konservatoriums erhalten hatte.¹⁵⁹ Und gleichfalls hat sich ein anderer Musikjournalist in einer der vermehrt publizierten Fachzeitschriften noch an ihn erinnert, als in Boulogne mal wieder ein junger Geiger in einem Konzert zu hören war.¹⁶⁰ Musikhistoriographien im engeren
gehörte unter seinem ursprünglichen Namen Yerba Buena noch zu Mexiko und wurde erst im Zuge des mexikanisch-amerikanischen Krieges von den USA annektiert. Siehe E. C[amus], »Concerts«, in : Revue du Calvados (), S. –. Siehe Henri Blanchard, »Concert donné par Mlle Enrichetta Merli«, in : Revue et Gazette musicale de Paris /Nr. (. März ), S. –. Auch Blanchard erwähnte einen Aufenthalt Larsonneurs in Amerika. Siehe Journal des débats politiques et littéraires vom . August (o. Nr.), o. S.; Le Moniteur des théâtres vom . August (o. Nr.), o. S. Siehe Cécile Davy-Rigaux (Hg.) und Institut de recherche en musicologie (IreMus), Association des artistes musiciens. Liste des sociétaires (–), Paris [o. J.], o. S. Online : http:// iremus.huma-num.fr/aam/larsonneur-hippolyte [abgerufen am ..]. Siehe Henri Blanchard, »Matinées et soirées musicales«, in : Revue et Gazette musicale de Paris /Nr. (. Februar ), S. ; ders., »Concert donné par M. Ikelheimer«, in : Revue et Gazette musicale de Paris /Nr. (. Juni ), S. . Z. X., »Un concert à Boulogne«, in : La Musique. Gazette de la France musicale /Nr. (. August ), S. .
Die ästhetische Utopie der französischen Violinschule |
Sinne aber schenkten Larsonneur schon im . Jahrhundert keine Beachtung mehr. So existiert auch in der umfänglichen Biographie universelle des musiciens von François-Joseph Fétis, der im Pariser Musikleben hervorragend vernetzt war und ihn also gekannt haben muss, kein entsprechender Eintrag.¹⁶¹ Immerhin war sein Name noch unter jenen Musikern zu lesen, die der geborene Historiker Henri d’Almeras – Jahrzehnte später – als die der berühmtesten der Restaurationszeit zu nennen wusste.¹⁶² Nur ließ d’Almeras an dieser Stelle sein Gedächtnis oder das seiner Gewährsperson insofern im Stich, als er Larsonneur versehentlich unter den Gesangsvirtuosen aufzählte.
. die ästhetische utopie der fr anzösischen violinschule Die übliche Programmform eines Benefizkonzertes um war das große Vokal- und Instrumentalkonzert. Es bestand aus zwei durch Sinfoniesätze oder Ouvertüren eröffnete Teile, in denen der Konzertgeber oder die Konzertgeberin mehrere Male neben anderen Solisten auftrat. Ihm oder ihr war in der Regel auch ein virtuoser Konzertabschluss vorbehalten. Am . April druckte die örtliche Zeitung in Toulouse das geplante Programm eines solchen Konzertes vollständig ab, das noch am selben Tag in der Salle de l’Athénée stattfinden sollte. Es war bereits die zweite derartige Veranstaltung Hippolyte Larsonneurs in der Stadt : »Programme. Première partie. .° Symphonie d’Hayden [sic]. .° Air du prince de Catane, chanté par M. Darius. .° La première partie du treizième Concerto de Viotti, executée par le jeune Hippolyte. .° Air chanté par madame Mercier. .° Fragment de Symphonie.
In der Originalausgabe, vor einer Reihe von Neuauflagen, erschien das Lexikon als : François-Joseph Fétis, Biographie universelle des musiciens et bibliographie générale de la musique, Bd., Brüssel u. a. –. Siehe Henri d’Almeras, La Vie Parisienne sous la Restauration, Paris [], S. .
| Le jeune Larsonneur und die Stimme der Natur Seconde Partie. .° Ouverture à grand orchestre. .° Air chanté par madame Mercier. .° Grand Solo de Violon, composé et dédié au jeune Hippolyte, par M. Kreutzer, et exécuté par lui. .° Chœur du petit Chaperon Rouge, chanté par MM. les Amateurs de cette ville. .° Un air varié de Rode, exécuté par le jeune Hippolyte Larsonneur.«¹⁶³
Die Konzertankündigung ermöglicht zugleich einen repräsentativen Einblick in das Repertoire Larsonneurs. Zusammen mit anderen Quellen legt sie den Schluss nahe, dass dieser in der Öffentlichkeit ausschließlich mit einer relativ begrenzten Auswahl an Violinkonzerten (oder Einzelsätzen daraus) und Variationsstücken der Violinvirtuosen Giovanni Battista Viotti, Pierre Rode, Rodolphe Kreutzer und Charles Philippe Lafont aufgetreten ist. Zumindest mit Kreutzer müssen die Larsonneurs auch persönlich in Verbindung gestanden haben, ein Umstand, auf den das dritte Stück des zweiten Programmteils hinweist. Das lediglich im Manuskript vorliegende Grand Solo war von Kreutzer offensichtlich exklusiv für den jungen Musiker geschrieben worden. Bei dem »nouveau morceau de la composition de M. Kreutzer, et dédié par l’auteur même à ce jeune enfant«¹⁶⁴ (neuen von Monsieur Kreutzer komponierten und vom Autor dem kleinen Kind gewidmeten Stück), das der Kindervirtuose am . Juni zum ersten Mal bei seinem zweiten Konzert in Rouen spielen sollte, handelte es sich wahrscheinlich um dieselbe Komposition. Dabei war die Widmung des Maître de la Chapelle du Roi, Violinprofessor des Pariser Konservatoriums und Dirigenten an der Opéra, zweifellos eine besondere Auszeichnung.¹⁶⁵ Mit Lafont wiederum war Larsonneur im Salon der Constance de Salm in Aachen zusammengetroffen. Der junge Musiker stand also in enger Beziehung zu einem Personenkreis, den man schon damals als Journal politique et littéraire de Toulouse et de la Haute-Garonne vom . April (Nr. ), S. –. Dass man bei solchen Konzerten die örtlichen Dilettanten einband, wie man es hier mit einem Chor aus der damals aktuellen Märchenoper Le petit chaperon rouge (UA ) des Librettisten Émmanuel Théaulon de Lambert und des Komponisten François Adrien Boieldieu tat, war nicht ungewöhnlich. Journal de Rouen et du département de la Seine-Inferieure vom . Juni (Nr. ), S. . Die Komposition wurde vermutlich nicht gedruckt und scheint verschollen zu sein. Sie wird nicht in dem von Ingrid Isola erstellten Werkverzeichnis Kreutzers aufgeführt. Siehe Ingrid Isola, Rodolphe Kreutzer – Komponist, Virtuose und Violinpädagoge. Der Weg zum Erfolg –, Frankfurt a. M. (= Europäische Hochschulschriften. Musikwissenschaft ), S. –.
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französische Violinschule identifizierte und der von jeher eng an das Pariser Konservatorium gebunden war. Zur Restaurationszeit war die französische Violinschule aber längst nicht mehr die junge Avantgarde des »revolutionary Romanticism«¹⁶⁶, die sie in den Jahren rund um die Gründung der Institution im letzten Jahrzehnt des . Jahrhunderts vielleicht noch repräsentiert hatte. Ihre Begründer, größtenteils noch lehrende oder bereits emeritierte Professoren der Violinklasse wie Rode, Kreutzer und Pierre Baillot, waren mittlerweile zu arrivierten Herren auf dem Höhepunkt ihrer Karrieren geworden, die gewichtige Positionen im Pariser Musikleben besetzten. Obligatorisch war auch ihre Mitgliedschaft in der Société des Enfans d’Apollon, jener Musikgesellschaft, die Larsonneur wie erwähnt eine Ehrenmedaille verlieh.¹⁶⁷ Allein der etwas jüngere Lafont, wiederum Schüler Rodes und Kreutzers, war der einzige der Komponisten aus dem Repertoire Larsonneurs, der zur selben Zeit noch als reisender Virtuose aktiv war und öffentliche Konzerte gab. Entsprechende Vorgängerinstitutionen des Ancièm Regime ersetzend, wurde durch den französischen Nationalkonvent das Conservatoire de musique gegründet. Die staatlich finanzierte Ausbildungsstätte für professionelle Musiker, die Ausländer nur in Ausnahmefällen und unter besonderen Bedingungen in ihre Klassen aufnahm, machte die Rede von einer französischen Violinschule erst in ihrer doppelten Bedeutung sinnfällig : Zum einen stellte sie einen festen Ort musikalischer Wissensvermittlung bereit und garantierte zum anderen deren langfristige Kontinuität entlang bestimmter ästhetischer Modelle.¹⁶⁸ Dabei ist bemerkenswert, wie flexibel sich die Institution von ihrer Gründung an bis zur Mitte des . Jahrhunderts den veränderten politischen Bedingungen angepasst hat.¹⁶⁹ Eigentlich ein Erbe der Revolution wurde sie durch die Bourbonen nach kurzem Stillstand als École royale de musique und unter neuer Leitung wiederbelebt. Indem man nicht nur die räumliche Infrastruktur in Boris Schwarz, French Instrumental Music Between the Revolutions (–), New York , S. , . Auch Viotti sowie der Violinvirtuose Alexandre Boucher zählten zu den Mitgliedern. Siehe Maurice Decourcelle, La Société Académique des Enfants d’Apollon (–), S. –. Vgl. Laetitia Chassain, »Le Conservatoire et la notion d’école française‹«, in : Anne Bongrain und Alain Poirier (Hgg.), Le Conservatoire de Paris. Deux cents ans de pédagogie, –, Paris (Collection Musique), S. –. Siehe Emmanuel Hondré, »Le Conservatoire de musique de Paris : une institution en quête de sa mission nationale (–)«, in : Michael Fend und Michel Noiray (Hgg.), Musical Education in Europe (–). Compositional, Institutional, and Political Challenges, Bd. , Berlin (Musical Life in Europe –. Circulations, Institutions, Representation), S. –.
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der Rue Bergère, sondern auch Professoren und die Schülerschaft des Conservatoire übernahm, führte man faktisch genau dessen pädagogische Standards und künstlerisches Renommee weiter fort.¹⁷⁰ Die politische Propaganda rund um die Einrichtung wurde der Monarchie angepasst, behielt aber ihren patriotischen Tenor, wie eine Rede des französischen Generaldirektors der Schönen Künste, des Vicomte de La Rochefoucauld, zur jährlichen Preisverleihung am . November verdeutlicht : »Messieurs, […] vous pourrez toujours compter sur sa royale protection pour un établissement qu’un Roi tout français regarde comme destiné à conserver les traditions de cette École française, que tant de génies ont immortalisée, dont le siècle dernier a fondé la gloire, et dont l’honneur est si dignement soutenu, de nos jours, par les grands maîtres qui perpétuent son illustration. Adressez, Messieurs, l’hommage de vos respects, de votre amour, à ce monarque, à ce père dont la bienveillance vous a ouvert une carrière dans laquelle vos premiers pas ont été si heureux, et songez que c’est à lui que vous devrez votre avenir.«¹⁷¹
Neben ihren berühmten Lehrern oder Absolventen und Absolventinnen, auf die La Rochefoucauld hier anspielte, verdankte die Pariser Einrichtung ihre Ausstrahlung aber auch einem enormen Korpus an veröffentlichtem Lehrmaterial. Allein mithilfe der hauseigenen Druckerei wurden bis insgesamt vierzehn der sogenannten méthodes für die verschiedenen Fächer publiziert, die innerhalb der Institution eine von den individuellen Erfahrungen und Gewohnheiten des Lehrers unabhängige, einheitliche und rational begründete Musikausbildung sichern sollten.¹⁷² Selbstverständlich wurden diese Lehr Siehe Constant Pierre, Le Conservatoire national de musique et de declamation, S. XV. So war es nur folgerichtig, dass die Institution ab wieder Conservatoire de musique genannt wurde. Zitiert nach ebd., S. . »Meine Herren, […] Sie werden immer auf seine königliche Protektion zählen können für eine Einrichtung, die gerade ein französischer König für prädestiniert hält, die Traditionen dieser französischen Schule zu bewahren, die so viele Genies unsterblich gemacht haben, deren Ruhm im letzten Jahrhundert begründet wurde und deren Ehre heutzutage so würdig unterstützt wird durch die großen Meister, die ihre Exzellenz fortbestehen lassen. Richten Sie, meine Herren, Ihren ehrerbietigen Respekt, Ihre Liebe, an diesen Monarchen, an diesen Vater, dessen Wohlwollen Ihnen eine Karriere eröffnet hat, deren erste Schritte so glücklich gewesen sind, und bedenken Sie, dass er es ist, dem Sie ihre Zukunft verdanken werden.« (Übers. d. Verf.) Siehe zu dem Beispiel auch Emmanuel Hondré, »Le Conservatoire de musique de Paris«, S. . Vgl. Emmanuel Hondré, »Le Conservatoire de musique de Paris«, S. – ; ders. »Les mé-
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werke nicht nur am Konservatorium selbst gelesen und in der beachtlichen Zahl sind zahlreiche Neuauflagen und Übersetzungen sowie das weniger offizielle Schrifttum aus dem Umfeld der Pariser Einrichtung noch nicht mitgezählt.¹⁷³ Baillot, Rode und Kreutzer hatten eine solche Instrumentalschule für ihr Metier veröffentlicht : die Méthode de Violon. Wie das Titelblatt mit dem Hinweis »Redigée Par Baillot«¹⁷⁴ unmissverständlich macht, hatte einer der drei Autoren dabei jedoch wenigstens die federführende Rolle übernommen und so lässt sich insbesondere hinter den mehr theoretischen Textabschnitten Baillot vermuten. Als Überarbeitung und Erweiterung dieses Werks veröffentlichte er circa dreißig Jahre später unter seinem Namen außerdem L’art du Violon.¹⁷⁵ Bis zum Erscheinen dieser Schule war es zweifellos die Méthode gewesen, die europaweit als Referenzwerk gegolten und an der sich viele andere pädagogische Publikationen für das Instrument, gelegentlich mit wörtlichen Übernahmen, orientiert hatten.¹⁷⁶ Die relativ weitreichenden Übereinstimmungen in den Geigenschulen der ersten Hälfte des . Jahrhunderts sprechen für die Einheitlichkeit technischer Standards, aber auch die Stabilität eines bestimmten ästhetischen Verständnisses des Violinspiels, das zunächst stark von Paris ausging, aber nicht auf Frankreich beschränkt blieb. Baillot war nicht nur, dank seines schriftstellerischen Vermögens, der wichtigste Wortführer dieser Ästhetik, sondern zählte auch gesellschaftlich zu den höchst anerkannten Künstlerpersönlichkeiten des Landes : Seit erster Geiger an der Opéra, wurde er zum Chevalier de la Légion d’honneur ernannt und erhielt damit eine staatliche Ehrenauszeichnung, die unter Musikern besonders selten war.¹⁷⁷ Seit thodes officielles du Conservatoire«, in : Emmanuel Hondré (Hg.), Le Conservatoire de musique de Paris. Regards sur une institution et son histoire, Paris , S. –. Eine Auflistung der in Frankreich und anderen europäischen Ländern zwischen und veröffentlichten Violinschulen liefert Robin Stowell. Die Liste zeigt erstens einen Anstieg um und spiegelt in der Menge der Veröffentlichungen zweitens die dominante Rolle von Paris in der ersten Hälfte des . Jahrhunderts wider. Siehe Robin Stowell, Violin Technique and Performance Practice in the Late Eighteenth and Early Nineteenth Centuries, Cambridge u. a. (Cambridge Musical Texts and Monographs), S. –. Pierre Baillot, Pierre Rode und Rodolphe Kreutzer, Méthode de Violon, Paris []. Im Folgenden wird die zweisprachige Ausgabe der in Paris erstveröffentlichten Schrift verwendet : Pierre Baillot, L’art du violon. Nouvelle Méthode, Traduction allemande par J. D. Anton, Mainz u. a. []. Siehe Robin Stowell, Violin Technique and Performance Practice in the Late Eighteenth and Early Nineteenth Centuries, S. . Zur Einheitlichkeit der instrumentalpädagogischen Literatur innerhalb der französischen Violinschule vgl. Mary F. Boyce, The French School of Violin Playing in the Sphere of Viotti : Technique and Style, Diss., Chapel Hill . Siehe Brigitte François-Sappey, »Pierre Marie François de Sales Baillot (–) par lui-
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drei Jahren aber führte den Titel da schon ein anderer unbestrittener Meister des Instruments, und zwar der Italiener Viotti.¹⁷⁸ Warum Viotti im Repertoire Larsonneurs unter den Kompositionen der berühmtesten zeitgenössischen Violinvirtuosen Frankreichs auftauchte, hatte seine besonderen Gründe, die weniger mit persönlichen Vorlieben des jungen Musikers oder seines Vaters als vielmehr mit eben dieser ästhetischen Konzeption zu tun hatten, die das Violinspiel in der ersten Hälfte des . Jahrhunderts dominierte. Viotti fungierte am Konservatorium, für die Gruppe der sogenannten französischen Schule, in diesem Zusammenhang nachhaltig als eine Art Leitfigur. Der in Turin bei Gaetano Pugnani ausgebildete Musiker hatte am . März in der prominenten Konzertreihe der Concerts spirituels in der Salle des Suisses des Tuilerienpalastes seinen Pariser Einstand gegeben und hier in kurzer Zeit seinen Ruf als bedeutendster Violinist seiner Zeit begründet, obwohl er sich schon im nächsten Jahr als Virtuose aus der Öffentlichkeit zurückzog und sich mit eher informellen Auftritten in den Salons der Stadt begnügte.¹⁷⁹ Viotti übte in Frankreich nicht nur Einfluss auf seine eigenen Schüler Pierre Rode, Jean-Baptiste Cartier und Paul Alday, sondern noch mindestens auf vier weitere Violinisten aus, die sich neben Rode später im Lehrpersonal des Konservatoriums wiederfinden sollten : nämlich Pierre La Houssaye, Henri Guérillot, Pierre Baillot und Rodolphe Kreutzer.¹⁸⁰ Was an Viottis Spielweise für Aufsehen sorgte, bezog sich insbesondere auf eine einzigartige Klangfülle und Expressivität, die man ihm zuschrieb, was wohl auch mit der besonderen Aufmerksamkeit zusammenhing, die er der Tongebung durch die Bogenhand schenkte.¹⁸¹ Die Orientierung französischer Violinisten an der Idiomatik Viottis schlug sich bis ins . Jahrhundert hinein sowohl in der musikpädagogischen Literatur, also in Instrumentalschulen und Etüden, als auch in Kompositionen nieder, die für das öffentliche Konzertie-
même. Etude de sociologie musicale«, in : ›Recherches‹ sur la Musique française classique (), S. –. Siehe Warwick Lister, Amico. The Life of Giovanni Battista Viotti, New York , S. . Siehe ebd., S. –. Siehe Robin Stowell, »The Viotti School of Violin Playing : Style and Influence«, in : Massimiliano Sala (Hg.), Giovanni Battista Viotti. A Composer between the Two Revolutions, Bologna (= Ad Parnassum Studies ), S. . Siehe ebd., S. –. Vgl. Diane Tisdall, »›Violiniste Chanteur‹ versus ›Violoniste Virtuose‹. Contextualising the Technical Demands of Viotti’s Violin Repertoire«, in : Andrea Barizza und Fulvia Morabito (Hgg.), Nicolò Paganini. Diabolus in Musica, Turnhout (= Studies in Italian Music History ), S. –.
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ren bestimmt waren.¹⁸² Der Instrumentenbau trug zu dem als neuartig empfundenen kantablen Stil ebenfalls seinen Anteil bei : nämlich die Kombination aus modernem Bogen von François Tourte und dem älteren Geigentypus der Stradivari (wenngleich eine Verwendung durch Viotti selbst zumindest zu Anfang der er Jahre in beiden Fällen nur zu vermuten, aber nicht völlig gesichert ist).¹⁸³ Da die französische Hauptstadt schon bald nach Viottis Aufenthalt den Ruf eines europäischen Zentrums für die Kunst des Violinspiels genoss, waren es denn auch vor allem in Paris ansässige Geigenbauer, die eine Weiterentwicklung nach dem Stradivarius-Modell vorantrieben, dabei nicht nur neue Instrumente herstellten, sondern auch ältere, entsprechend wertvolle Violinen so modifizierten, dass sie den zeitgenössischen ästhetischen Anforderungen standhielten.¹⁸⁴ Aufgrund seiner engen Verbindung zum französischen Hof hatte Viotti nach England fliehen müssen.¹⁸⁵ Nach dem Sturz Napoleons versuchte die erneuerte monarchistische Regierung, seine ehemaligen Protektoren der Bourbonen also, den berühmten Musiker erneut an Paris zu binden und bot ihm im Oktober den Posten des Direktors der Académie Royale de musique (der Opéra) an, wo er zwei Jahre später wegen eines sich dort ereigneten Skandals – dem tödlichen Attentat auf den Duc Charles Ferdinand de Berry – durch Habeneck, den bisherigen Konzertmeister, ersetzt wurde.¹⁸⁶ Ungeachtet solcher kulturpolitischer Querelen aber hielt man sein Andenken am Konservatorium weiterhin hoch, was sich nicht zuletzt daran zeigte, dass sich die Violinschüler in den jährlichen Wettbewerben noch bis primär mit dessen Solokonzerten miteinander messen mussten.¹⁸⁷ , circa ein Jahr nach dem Tod Viottis, erschien in Paris die kurze Denkmalschrift Notice sur J.-B. Viotti, unterschrieben von Pierre Baillot.¹⁸⁸ Hierin rühmte der französische Professor den italienischen Komponisten und Virtuosen als unübertroffenen Meister und betonte besonders auch seine Bedeutung für die Ausbildung junger Vgl. Bruce R. Schueneman, The French Violin School. Viotti, Rode, Kreutzer, Baillot and Their Contemporaries, Kingsville , S. –. Siehe Warwick Lister, Amico, S. –. Siehe John Huber, The development of the modern violin : –. The rise of the French School, Frankfurt a. M. (= Studier i musikvetenskap ), S. –. Siehe Warwick Lister, Amico, S. –. Siehe ebd., S. –. Siehe Boris Schwarz, French Instrumental Music Between the Revolutions (–), S. . [Pierre Baillot], Notice sur J.-B. Viotti, Né en à Fontaneto, en Pièmont, Mort à Londres, le Mars , Paris .
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Geiger am Konservatorium. Der biographische Teil des Nachrufs beinhaltete dabei auch Baillots Beschreibung der mehrmaligen Wiederkehr Viottis nach Paris, wo dieser ein jedes Mal in aufrichtiger Freundschaft empfangen und ihm die größte Wertschätzung entgegengebracht worden sei. Als man ihm zu Ehren am Konservatorium ein Konzert organisiert hätte, so Baillot, sei er unter den französischen Musikern und Konservatoriumsschülern erschienen »comme un père au milieu de ses enfans«¹⁸⁹ (wie ein Vater inmitten seiner Kinder). Zur Erklärung dieser einseitig auf Paris konzentrierten Betrachtungsweise könnte man einerseits den Stil des Textes anführen, der einer subjektiven Erinnerung entsprach und einem Totengedenken darin durchaus angemessen erschien. Andererseits ist zu bedenken, dass Viotti vielen Musikern der Zeit längst mehr war als ein Freund oder persönliches Vorbild und dass er der eigenen Sache geradezu historisches Gewicht verleihen konnte, sobald eine ideelle Verwandtschaft mit ihm glaubhaft gemacht wurde. Dass Viotti dabei mal als letzter Vertreter der italienischen Schule des . Jahrhunderts, mal als erster der französischen der Gegenwart zugerechnet wurde, bedeutete im Grundsatz keinen Widerspruch, wurde dabei doch immer die gleiche Traditionslinie konstruiert. Henri Blanchard etwa führte in einem Beitrag für die Revue et Gazette musicale de Paris von die Erbfolge der Franzosen über Viotti sogar zurück bis auf den Barockgeiger Arcangelo Corelli : »[C]’est lui qui a fondé la première école de violon. De cette école sortirent Somitz ou Somis, Tartini, Locatelli, Geminiani, Pugnani, Viotti, et enfin Rode, élève de ce dernier, qui, avec Rodolphe Kreutzer et Baillot, ont maintenu l’école française au point élevé où l’avaient fait parvenir Leclair et Gaviniez […].«¹⁹⁰
Und kurz nach dem Tode Baillots im Jahr brachte es Blanchard noch einmal auf den Punkt : »Viotti jeta les fondements de l’école française moderne du violon […]«¹⁹¹ (Viotti legte den Grundstein der modernen französischen Ebd., S. . Henri Blanchard, »Physiologie du Violon. (Deuxième article.)«, in : Revue et Gazette musicale de Paris, Journal des Artistes, des Amateurs et des Théâtres /Nr. (. August ), S. . »Er war es, der die erste Violinschule gegründet hat. Aus dieser Schule kamen Somitz oder Somis, Tartini, Locatelli, Geminiani, Pugnani, Viotti, und schließlich Rode, Schüler des Letzteren, der, mit Rodolphe Kreutzer und Baillot, die französische Schule auf dem Höhepunkt fortgesetzt hat, wohin sie Leclair und Gaviniez gebracht hatten […].« (Übers. d. Verf.). Henri Blanchard, »Les Violinistes«, in : Revue et Gazette musicale de Paris, Journal des Artistes, des Amateurs et des Théâtres /Nr. (. September ), S. .
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Violinschule). Das von Baillot in seinem Nachruf auf Viotti eingeführte biographische Narrativ, bei dem Frankreich als geistige Heimat, andere Länder lediglich als Exil erschienen, wurde indes von François-Joseph Fétis für den entsprechenden Personeneintrag seines Musikerlexikons aufgegriffen. Unter der Ägide seiner historischen Autorität rückte Paris endgültig ins Zentrum von Viottis künstlerischer Biographie. Dass es gerade die französische Violinschule gewesen sei, die die Nachfolge jenes »illustre chef de l’école des violonistes modernes«¹⁹² (illustren Anführers der Schule moderner Violinisten) angetreten habe, fand hier ebenfalls Bestätigung : »Dès qu’on connut cette belle musique, la vogue des concertos de Jarnowick [= Giovanni Giornovichi] disparut, et l’école française du violon s’engagea dans une voie plus large.«¹⁹³
Diese Vorstellung historischer Entwicklung deckte sich wohl auch mit dem Selbstverständnis der französischen Violinschule. Zur alten Idee der Nationalstile gesellten sich nun ein neuartiges Geschichtsbewusstsein und der Fortschrittsglaube der Aufklärung.¹⁹⁴ So öffnete am Konservatorium eine Bibliothek ihre Pforten, mit der die staatliche Ausbildungsinstitution das anspruchsvolle Projekt einer länder- und epochenübergreifenden Musikaliensammlung verfolgte.¹⁹⁵ Parallel dazu, aber mit durchaus ähnlichen Interessen, setzte sich im ausgehenden . Jahrhundert Jean-Baptiste Cartier daran, unter aufwändiger Archivrecherche in der Bibliothèque nationale und in Zusammenarbeit mit dem Bibliothekar Paul Louis Roualle de Boisgelou, eine »réunion des pièces qui ont le plus servi à porter l’art vers sa perfection depuis presque son origin«¹⁹⁶ (Samm François-Joseph Fétis, Biographie universelle des musiciens et bibliographie générale de la musique. Tome huitième : Sa–Zy, Brüssel , S. . Ebd., S. . »Seit man diese schöne Musik kannte, verschwand die Beliebtheit der Konzerte Jarnowicks und die französische Violinschule begab sich auf einen offeneren Pfad.« (Übers. d. Verf.). Vgl. zum Folgenden auch Henri Vanhulst, »La musique du passé et la création du Conservatoire de Paris. Sa présence dans les premières méthodes«, in : Revue belge de Musicologie – (/), S. –. Siehe Catherine Massip, »La bibliothèque du Conservatoire (–). Une utopie réalisée ?«, in : Anne Bongrain und Yves Gérard (Hgg.), Le Conservatoire de Paris. Des Menus-Plaisirs à la Cité de la musique, –, Paris (Collection Musique), S. –. Jean-Baptiste Cartier, L’art du Violon ou Collection choisie dans les Sonates des Ecoles Itallienne ; Françoise et Allemande, Précédée d’un abrégé de principes pour cet Instrument, Seconde Edition, Paris [], S. III.
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lung an Stücken, die fast seit Anbeginn am meisten zur Vervollkommnung der Kunst beigetragen haben) zusammenzustellen. Cartier widmete die Sammlung mit dem Titel L’art du Violon ou Collection choisie dans les Sonates des Ecoles Itallienne ; Françoise et Allemande dem Pariser Konservatorium und nach einer Beratung der Violinprofessoren wurde das Lehrwerk für den Unterricht als geeignet befunden und im Mai offiziell anerkannt.¹⁹⁷ Die wenig später publizierte Méthode de Violon empfahl dem Schüler demnach, zur Bildung seines Geschmacks und seines Verständnisses für den jeweils angemessenen Ausdruck, die Auseinandersetzung mit ausgewählter Geigenliteratur des . Jahrhunderts : »On lui fera donc suivre pour ainsi dire l’histoire du Violon en lui mettant sous les yeux les ouvrages des plus anciens maitres successivement jusqu’à ceux de nos jours.«¹⁹⁸
Die namentliche Erwähnung von Arcangelo Corelli, Giuseppe Tartini, Francesco Geminiani, Pietro Locatelli, Domenico Ferrari, Pietro Nardini, Gaetano Pugnani, Johann Stamitz, Jean-Marie Leclair, Pierre Gaviniès stimmte mit dem Kanon Cartiers weitgehend überein. Für die deutsche Schule wurde Leopold Mozart durch Georg Friedrich Händel ersetzt. Hinzu trat Viotti. Am Konservatorium arbeitete man also auch auf einen neuartigen Typus von ausführendem Musiker hin, der sein Spiel flexibel an den Stil verschiedener Nationen und Epochen angleichen konnte. Über das wahrhaftige Talent zum musikalischen Vortrag (»genie d’execution«) war in dem Lehrwerk unter anderem zu lesen : »C’est lui qui saisit d’un coup d’œil les différens caractères de la musique, qui, par une inspiration soudaine, s’identifie avec le génie du compositeur, le suit dans toutes ses intentions et les fait connaitre avec autant de facilité que de précision […] ; qui sait […] tout traduire, tout animer, faire passer dans l’âme de l’auditeur le sentiment que le compositeur avait dans la sienne ; faire revivre les grands génies des siècles passés […].«¹⁹⁹ Siehe die mit abgedruckte Erklärung ebd., o. S. Pierre Baillot, Pierre Rode und Rodolphe Kreutzer, Méthode de Violon, S. . »Man lasse ihn also sozusagen die Geschichte der Violine verfolgen, indem man ihm die Werke der ältesten Meister bis zu denen unserer Zeit nacheinander vor Augen führt.« (Übers. d. Verf.). Pierre Baillot, Pierre Rode und Rodolphe Kreutzer, Méthode de Violon, S. . »Es ist dieses, das mit einem Blick die verschiedenen Charaktere der Musik begreift, das sich mit einer plötzlichen Eingebung mit dem Genie des Komponisten verbindet, ihm in allen seinen Absichten folgt und diese mit ebensoviel Einfachheit wie Genauigkeit wiedergibt […] ; das […]
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Die im vorigen Zitat angedeutete chronologische Ordnung wiederum zeigt auf, dass man sich in Paris gerne an der Spitze dieser fortschreitenden Entwicklung sah. Es ist nicht zu vergessen, dass die berühmtesten französischen Violinvirtuosen dieser Zeit noch vorwiegend mit ihren eigenen Kompositionen auftraten, also noch keine Interpreten im modernen Sinne darstellten.²⁰⁰ Die Berücksichtigung der Tradition schließe den Blick nach vorne nicht aus, so die Sichtweise, die Baillot in den seine Klasse betreffenden Richtlinien der Wettbewerbe am Konservatorium niederschrieb (sie sind posthum veröffentlicht worden) : »On a pu quelquefois remarquer que l’art prenait une marche rétrograde lorsque l’on cessait de regarder en arrière pour étudier les anciens. On ne saurait avancer avec sécurité si l’on ne connaît ni le point de départ, ni la direction de la route à parcourir. Il est nécessaire de s’en instruire, ne fût-ce que pour éviter de retomber dans les mêmes erreurs ou de reproduire les mêmes faits en croyant innover.«²⁰¹
Für die Geigenschüler des Konservatoriums war diese Blickrichtung allerdings nicht vorgesehen, denn Originalität und ein individueller Stil, der auch eigene Kompositionen erlaubt hätte, kam erst dem voll ausgebildeten Musiker zu, gehörte nicht mehr zum Lehrgebiet der Méthode und wurde hierin schon rein sprachlich in die Zukunft gesetzt. Vom Schüler wurde erwartet,
alles auszudrücken, alles zu beleben, in der Seele des Hörers das Gefühl, das der Komponist in der seinigen hatte, aufkommen, die großen Genies der vergangenen Jahrhunderte wieder aufleben zu lassen versteht […].« (Übers. d. Verf.) Vgl. hierzu Mary Hunter, »›To Play as if from the Soul of the Composer‹ : The Idea of the Performer in Early Romantic Aesthetics«, in : Journal of the American Musicological Society (), S. –. Baillot stellte mit seiner kammermusikalischen Kanonpflege hierbei eine Ausnahme dar. Vgl. dazu Brigitte François-Sappey, »Pierre Marie François de Sales Baillot (–) par luimême«, S. – ; Anne Penesco, »Pierre Baillot et l’école franco-belge de violon«, in : Anne Bongrain und Alain Poirier (Hgg.), Le Conservatoire de Paris, S. –. Pierre Baillot, »Observations relatives aux concours de violon du Conservatoire de musique«, in : Marsyas. Revue de pédagogie musicale et chorégraphique /Dezember (), S. . »Man hat gelegentlich anmerken dürfen, dass die Kunst einen Rückschritt macht, wenn man aufhört zurückzublicken, um die Alten zu studieren. Man kann nicht sicher fortschreiten, wenn man weder den Ausgangspunkt noch die Richtung des Wegs kennt, der zurückzulegen ist. Es ist notwendig, sich ihrer anzueignen, wenn auch nur, um zu vermeiden in dieselben Fehler zurückzufallen oder die gleichen Tatsachen zu wiederholen im Glauben, sie zu erfinden.« (Übers. d. Verf.).
| Le jeune Larsonneur und die Stimme der Natur »[…] qu’il commence par imiter les grands modèles pour pouvoir servir de modèle à son tour, et qu’il ne craigne pas de rester imitateur. Parmi les meilleurs ouvrages des meilleurs maitres, il prendra d’abord le style qui a le plus d’analogie avec sa manière de sentir […]«²⁰².
Wenn man hierin den Vorläufer des späteren Interpretentypus sehen möchte, der den Virtuosen in seiner kulturellen Bedeutung schließlich ablöste, war dieser offensichtlich eine Geburt aus dem Geiste der Pädagogik. Immerhin fand die Kultivierung dieser Kanonpflege nicht nur hinter verschlossenen Mauern jenseits der Öffentlichkeit statt, im Gegenteil. So bildeten die Schülerkonzerte des Konservatoriums (die sogenannten exercices musicales) mit zusammengezählt über Veranstaltungen bis zum Ende der napoleonischen Herrschaft und der Schließung des Konservatoriums die konstanteste und vielleicht populärste Pariser Konzertreihe überhaupt.²⁰³ Im Feuilleton des Journal de Paris erklärte ein Journalist gar, dass die Konzertserie »excite aujourd’hui dans Paris un intérêt, un enthousiasme que la majestueuse académie [= Opéra] est bien loin d’exciter«²⁰⁴ (gegenwärtig in Paris ein Interesse, eine Begeisterung hervorruft, von der die majestätische Akademie weit entfernt ist), und später wurde in demselben Blatt von »cette chaleur d’un sang neuf, cette verve juvenile«²⁰⁵ (dieser Wärme jungen Blutes, diesem jugendlichen Geist) der Musikerinnen und Musiker regelrecht geschwärmt. Auf den Programmen standen neben Sinfonik und Vokalmusik vor allem Solokonzerte, seltener auch Doppelkonzerte oder Variationsstücke, von denen viele aus der Feder der zugehörigen Lehrkräfte stammten und die von ausgewählten Schülern vorgetragen wurden. In der Violinklasse allerdings wurden mit Abstand am häufigsten Vi Pierre Baillot, Pierre Rode und Rodolphe Kreutzer, Méthode de Violon, S. . »[…] dass er damit beginne, die großen Vorbilder nachzuahmen, um seinerseits als Vorbild dienen zu können, und dass er sich nicht davor scheue, Nachahmer zu bleiben. Von den besten Werken der besten Meister wird er zunächst den Stil annehmen, der die größte Übereinstimmung mit seiner Art zu fühlen besitzt […]« (Übers. d. Verf.). Vgl. Jean Mongrédien, »Les premiers exercices publics d’élèves (–) d’après la presse contemporaine«, in : Anne Bongrain und Yves Gérard (Hgg.), Le Conservatoire de Paris, S. – ; Boris Schwarz, French Instrumental Music Between the Revolutions (–), S. – ; James Johnson, Listening in Paris. A Cultural History, Berkeley u. a. (= Studies on the History of Society and Culture ), S. –. M., »Académie impériale de musique, et Conservatoire impérial«, in : Journal de Paris, politique, commercial et littéraire vom . April (Nr. ), S. . [Anon.], »Exercice musical du Conservatoire«, in : Journal de Paris, politique, commercial et littéraire vom . April (Nr. ), S. –.
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ottis Kompositionen gegeben, gefolgt von denen Kreutzers und Rodes, wobei solche von Baillot nur gelegentlich auf dem Konzertzettel zu finden waren.²⁰⁶ Nach der Reorganisation des Konservatoriums unter den Bourbonen fanden die Schülerkonzerte nur noch sehr unregelmäßig statt (insgesamt lediglich Mal), wurden eingestellt und vier Jahre später schließlich von der Société des Concerts du Conservatoire abgelöst, deren Konzerte in erster Linie von Absolventen und Absolventinnen bestritten wurden.²⁰⁷ Das Vakuum im Pariser Unterhaltungsangebot, das diese Veränderung hinterließ, wurde von Kindervirtuosen wie Hippolyte Larsonneur rasch gefüllt. »L’école à laquelle il appartient (celle de Kreutzer), que je place, dans mon opinion, au-dessus de toutes les autres, garantit mon pressentiment autant que la renommée«²⁰⁸, verlautbarte das Journal de Marseille im Juni in Erwartung des großen Erfolgs, den Larsonneur in der Stadt erringen würde, bevor dieser Virtuose hier überhaupt einen ersten Bogenstrich gesetzt hatte. Das weiter oben bereits wiedergegebene Resumee aus Orléans im Winter des folgenden Jahres, das aussagte, dass sein Talent der französischen Musik einen würdigen Nacheiferer Kreutzers, Lafonts und Bouchers verspreche (»ce talent […] promet à la musique française un digne émule des Kreutzer, des Lafond [sic] et des Boucher«²⁰⁹), klang ähnlich. Larsonneur spielte also nicht nur ihr Repertoire, sondern genügte auch den musikalischen Ansprüchen der französischen Violinschule zumindest soweit, dass er regelmäßig auf diese Weise in ihre Tradition gestellt beziehungsweise zum Gegenstand entsprechender Vergleiche wurde. Das Journal de Paris bezeichnete ihn nach einem Konzert in Lille im Jahr als »Viotti en miniature«²¹⁰ (Viotti im Miniaturformat). Eine typische Formulierung war auch jene, die im Constitutionnel zu lesen war, als Larsonneur von seiner Konzertreise in die Hauptstadt zurückkehrte, und die ihn als »merveille en miniature, qui marche déjà sur les traces de Rode et de Baillot«²¹¹ Siehe Constant Pierre, Le Conservatoire national de musique et de declamation, S. –. Vgl. Jean Mongrédien, »Les premiers exercices publics d’élèves (–) d’après la presse contemporaine«, S. , . Siehe Boris Schwarz, French Instrumental Music Between the Revolutions (–), S. – ; James H. Johnson, Listening in Paris, S. –. [Anon.], »Spectacle«, in : Journal de Marseille et des Bouches-du-Rhône vom . Juni (Nr. ), S. . »Die Schule, aus der er kommt (die von Kreutzer), die ich persönlich über alle anderen stelle, gewährleistet meine Vorhersage ebenso sehr wie sein Ruf.« (Übers. d. Verf.). Journal général du département du Loiret vom . Dezember (Nr. ), S. . Journal de Paris, politique, commercial et littéraire vom . September (Nr. ), S. . Le Constitutionnel, journal du commerce, politique et littéraire vom . Februar (Nr. ), S. .
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(Miniaturwunder, das schon in die Fußstapfen von Rode und Baillot tritt) charakterisierte. Solche Zuschreibungen bedürfen insofern einer Erklärung, als der junge Musiker, wie eingangs erwähnt, ausschließlich als Schüler seines Vaters bekannt war. Bei einem erfolgreichen Abgänger des Konservatoriums wäre sie ungleich naheliegender gewesen. Ein Kommentar im Moniteur Universel zu Antoine Nicolas Marie Fontaine, der als »ancien élève du Conservatoire, jeune violon qui promet de marcher sur les traces des Viotti, des Rode et des Baillot«²¹² (ehemaliger Schüler des Konservatoriums, ein junger Violinist, der verspricht, in die Fußstapfen von Viotti, Rode und Baillot zu treten) vorgestellt wurde, verdeutlicht beispielhaft, dass dieselbe Metaphorik damals tatsächlich für Absolventen gebräuchlich war. Warum Hippolyte Larsonneur das Konservatorium nicht besucht hat, brachte er doch anscheinend beste Voraussetzungen dazu mit, bleibt ungeklärt. Fraglich ist aber auch, ob die Familie überhaupt ein Interesse daran haben konnte. Die Entscheidung nämlich, ihren Sohn zur Aufnahmeprüfung anzumelden, wäre mit einer angestrebten Karriere als Kindervirtuose kaum vereinbar gewesen. Zwar wurden öffentliche Auftritte der Schüler und Schülerinnen erst durch einen Erlass des zuständigen Staatsbeamten de La Rochefoucauld geregelt, was hieß, dass sie fortan nur noch auf Antrag möglich waren (Verstöße wurden mit Schulverweis geahndet). Sie sind von der Direktion aber schon zuvor als – so der Wortlaut des neuen Dekrets – »une cause de désordres et de scandale«²¹³ (eine Ursache für Unruhen und Skandale) kritisch beäugt worden. Außerdem verlangte man von der Schülerschaft ohnehin eine, bis auf wenige freie Tage, dauernde Anwesenheit; und ein erbetener Urlaub durfte drei Monate nicht überschreiten.²¹⁴ Larsonneur trat keine reale Nachfolge als Schüler einer der Professoren des Konservatoriums an, im öffentlichen Bewusstsein aber gab er dennoch so etwas ab wie einen idealen Schüler der französischen Violinschule, eine Rolle, die gerade von einem Knaben in besonders sinnfälliger Weise ausgefüllt werden konnte.²¹⁵ Zur Formung seines Zöglings konnte der Vater seinerseits zumindest auf das publizierte Material der Violinklasse zurückgreifen, und es gibt gute Gründe zu der Annahme, dass er das auch wirklich tat. Le moniteur universel vom . Juli (Nr. ), S. . Laut Unterlagen des Konservatoriums hatte der zu diesem Zeitpunkt bereits einunddreißigjährige Virtuose bei den jährlichen Wettbewerben den ersten Preis im Fach Violine erhalten. Siehe Constant Pierre, Le Conservatoire national de musique et de declamation, S. . Zitiert nach ebd., S. . Die Statuten des Konservatoriums sind abgedruckt ebd., S. –. Siehe Kapitel ., S. –.
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Die Lehrwerke des Konservatoriums, die Méthode de Violon ebenso wie Baillots spätere Fassung L’art du Violon, waren nicht bloß didaktische Werkzeuge, sondern zugleich so etwas wie künstlerische Manifeste. Sie stellen die wichtigsten Quellen für die Ästhetik der französischen Violinschule dar. Dabei ist es für den vorliegenden Zusammenhang von nachrangiger Wichtigkeit, inwieweit Baillot in diesen beiden Schriften originäre Ideen über das Violinspiel formuliert hat oder schlichtweg allgemein verbreiteten Überzeugungen zu erweiterter Publizität und größerer Autorität verhalf. So erkennt man als Lichtgestalt im Hintergrund der ästhetischen Konzepte etwa unzweifelhaft den aufklärerischen Philosophen Jean-Jacques Rousseau, und zwar nicht nur an den Stellen der beiden Lehrwerke, an denen er direkt zitiert wurde. Baillot, der einem eher bürgerlichen Milieu entstammte, seine Musikerlaufbahn zunächst als Dilettant begonnen und sich der Schriftstellerei gewidmet hatte, war – wie viele junge Bildungsbürger seiner Generation – früher oder später unweigerlich in Berührung mit dem Gedankengut Rousseaus gekommen.²¹⁶ In einer typischen Bemerkung über den gekünstelten Esprit der Franzosen etwa, die sich unter seinen unveröffentlichten »pensées diverses« befindet, wird das besonders deutlich : »On remarque dans les plus beaux génies qui ont illustré la France une simplicité admirable qui fait honte à notre siècle où on veut à toute force faire de l’esprit. […] Ce misérable esprit est devenu le fléau des Belles Lettres et des Arts. Il détruit le bon goût, parce qu’il ne peut s’étendre aux limites d’une vaste conception et qu’il est d’ailleurs ennemi de la simplicité et d’une certaine marche naturelle. Il sacrifie le raisonnement à une tournure de phrase piquante ou à un jeu de mots. Dans les arts surtout, il veut toujours paraître, toujours briller aux dépens du bon sens, des vraies proportions et de l’expression simple et naïve.«²¹⁷ Vgl. Brigitte François-Sappey, »Pierre Marie François de Sales Baillot (–) par luimême«, S. –. Privatarchiv von Magdeleine Panzéra-Baillot, zitiert nach Brigitte François-Sappey, »Pierre Marie François de Sales Baillot (–) par lui-même«, S. –. »Bei den schönsten Talenten, die Frankreich berühmt gemacht haben, bemerkt man eine bewundernswerte Einfachheit, die unser Jahrhundert beschämt, wo man um jeden Preis geistreich (faire de l’esprit) sein will. […] Dieser elende Esprit ist die Plage der schönen Literatur und Künste geworden. Er vernichtet den guten Geschmack, weil er sich nicht auf die Grenzen einer weiten Anschauung erstrecken kann und weil er im Übrigen Feind der Einfachheit und eines gewissen natürlichen Ganges ist. Er opfert das vernünftige Denken für eine pikante Satzwendung oder ein Wortspiel. Vor allem in den Künsten will er sich immer zeigen, immer brillieren auf Kosten des gesunden Menschenverstandes, der wahren Proportionen und des einfachen und ungekünstelten (naïve) Ausdrucks.« (Übers. d. Verf.).
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Baillot nahm diese Haltung auch in der Rolle des Musikpädagogen an. Mit der Verpflichtung Rousseaus für die ästhetischen Maßstäbe des Violinspiels stellte er dabei keine Ausnahme dar.²¹⁸ Immerhin stand Rousseaus Dictionnaire de Musique () bis zur Herausgabe des Dictionnaire de musique moderne () von Castil-Blaze als französischsprachiges Musiklexikon allein da und galt in Frankreich mindestens so lang als das Standardwerk für musikästhetische Fragen, selbst wenn manche musiktheoretischen Details inzwischen auch anders gesehen wurden.²¹⁹ Rousseau vertrat kurz gesagt eine musikalische Gefühlsästhetik. Dass es Sinn und Zweck der Musik sei, Gefühle darzustellen beziehungsweise zu erregen (damals wurde auch von Leidenschaften oder Empfindungen gesprochen), ist allerdings schon zu seiner Zeit längst ein Gemeinplatz gewesen. Originell war der Genfer Schriftsteller aber in zweierlei Hinsicht. Zwar erkannten und betonten auch andere Philosophen und Musiktheoretiker des . Jahrhunderts, nicht zuletzt aufgrund der unangefochtenen Hegemonie des Operngesangs, die wichtige Bedeutung der Melodie für die künstlerische Gefühlsnachbildung.²²⁰ Doch zeigte sich jener außerordentlich rigoros darin, sie der Harmonie in ihrer Wirkung gänzlich abzusprechen.²²¹ Als Argument diente Rousseau eine funktionale Analogie. So führte er die musikalische Melodie auf dasselbe Prinzip zurück wie die Akzente beziehungsweise den Tonfall einer von Leidenschaften bewegten menschlichen Stimme : »Indem sie das Auf und Ab der Stimme nachbildet, drückt die Melodie Klagen aus, Schreie der Freude oder des Schmerzes, Drohungen, Seufzer ; alle stimmlichen Äußerungen der Leidenschaft kommen von ihr her. Sie ahmt die Akzentuierung der Sprache nach und die übertriebenen Wendungen einer jeweiligen Sprechweise bei bestimmten Gemütsbewegungen. Sie ahmt nicht nur nach, sie spricht, und ihre Vgl. Renata Suchowiejko, »›Toutes les passions rapprochent les hommes‹ : Le jeu du violon en tant qu’art oratoire et langue des sentiments«, in : Ad Parnassum. A Journal of Eighteenth- and Nineteenth-Century Instrumental Music /Nr. (), S. –. Siehe Belinda Cannone, »Ce qu’il advint des écrits sur la musique du XVIIIe siècle, et de ceux de Rousseau, au début du siècle suivant«, in : Roland Mortier und Heré Hasquin (Hgg.), Retour au XVIIIe siècle, Brüssel (= Études sur le XVIIIe siècle ), S. –. Vgl. etwa John Neubauer, The Emancipation of Music from Language. Departure from Mimesis in Eighteenth-Century Aesthetics, New Haven u. a. , S. –. Siehe insbesondere den Artikel »mélodie« des Dictionnaire, in dt. Übersetzung : Jean-Jacques Rousseau, Musik und Sprache. Ausgewählte Schriften, Übersetzt von Dorothea Gülke und Peter Gülke, . Aufl., Wilhelmshaven (= Taschenbücher zur Musikwissenschaft ), S. –.
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unartikulierte, aber lebendige, glühende, leidenschaftliche Sprache ist hundertmal kraftvoller als selbst das Wort. Genau daher rührt die Kraft der musikalischen Nachahmung ; daher stammt die Macht des Gesanges über empfindsame Herzen.«²²²
An vorderster Front beteiligte sich Rousseau Mitte des . Jahrhunderts in Paris an einer Debatte, die sich – oberflächlich betrachtet – erstens gegen den französischen Hofkomponisten Jean-Philippe Rameau und dessen musiktheoretische Traktate, zweitens gegen die Vorherrschaft der französischen Oper, der Gattung der Tragédie lyrique an der Académie Royale de musique, richtete (der sogenannte Buffonistenstreit). Zugleich aber fochten Rousseau und andere seiner Verbündeten aus dem Umkreis des Aufklärungsprojektes der Encyclopédie damit einen gesellschaftspolitischen »Stellvertreterkampf«²²³, bei dem die Harmonie für das Anciem Régime überhaupt, die Melodie hingegen für den reformerischen Geist einer erneuerten, wahrhaftigeren Natürlichkeit und Freiheit stand. Das Zitat Rousseaus ist seinem posthum veröffentlichten Essai sur l’origine des langues où il est parlé de la mélodie et de l’imitation musicale () entnommen, in dem noch eindeutiger zum Vorschein kommt als in den diversen lexikalischen Beiträgen, in welchem weiteren Punkt seine Gefühlsästhetik über diejenigen anderer zeitgenössischer Autoren hinausging. In seinem Essai nämlich verknüpfte Rousseau die Musik sogleich mit dem Entwurf einer ganzen Menschheitsgeschichte und einer damit einhergehenden umfassenden Kulturkritik an der Gegenwart : dem Europa der Aufklärung. Für das ideale anthropologische Ursprungsstadium, das er dieser Gegenwart entgegensetzte, schwebte Rousseau eine arkadische Welt vor, das heißt verstreut lebende Jäger und Hirten in warmen und fruchtbaren Gegenden, die sich mit ersten stimmlichen Lauten untereinander ihre Leidenschaften vermittelten.²²⁴ Dabei seien Musik und Sprache im Prinzip noch ein und dasselbe gewesen, so die Kernthese seines Aufsatzes, und unter diesen ersten Menschen hätte es noch »keine andere Musik als die Melodie, und zwar keine andere Melodie als den vom Wort geprägten Tonfall«²²⁵, gegeben. Von diesem Ursprung beziehungs Ebd., S. . Hans G. Nicklaus, Weltsprache Musik. Rousseau und der Triumph der Melodie über die Harmonie, Paderborn , S. . Siehe Jean-Jacques Rousseau, Musik und Sprache, S. –. Zur Kulturkritik Rousseaus vgl. insbesondere auch ders., Discours sur les sciences et les arts. Abhandlung über die Wissenschaften und die Künste, Übersetzt von Doris Butz-Striebel in Zusammenarbeit mit MarieLine Petrequin, hg. von Béatrice Durand, Stuttgart , S. –. Jean-Jacques Rousseau, Musik und Sprache, S. . Nicht ganz widerspruchsfrei meinte
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weise dem Umschlagpunkt ausgehend, den Rousseau auf die Hochkultur der klassischen Antike datiert, wird von ihm der Prozess eines Verfalls umrissen, der aus der verheerenden Herrschaft des Intellekts über das Gefühl resultierte und mit dem zugleich die Scheidung von Musik und Sprache einherging. Ein Zeichen vollständiger Entartung (»dégénération«) sei dann schließlich der Aufstieg der kontrapunktischen Mehrstimmigkeit seit dem Mittelalter gewesen : »Auf solche Weise also wurde die Melodie allmählich zu einer Kunst, die von ebendem Wort vollkommen abgelöst ist, dem sie ihren Ursprung dankt, wie entsprechend die den Tönen beigegebenen Harmonien die Nuancierungen der Stimmen vergessen ließen und wie endlich die Musik, eingeschränkt auf die rein physikalischen Wirkungen der wetteifernden Schwingungen, sich aller Wirkungen auf das Gemüth beraubt sah, welcher sie einst, in einem doppelten Sinne als Stimme der Natur, mächtig gewesen war.«²²⁶
Die Stimme der Natur (»voix de la nature«) fasst das Wesentliche des Rousseauismus zusammen und stellt eine Metapher dar, die der Literat, in sprachlich geringfügig abweichenden Varianten, auch in anderen Kontexten beziehungsweise mehreren seiner Schriften bemüht hat.²²⁷ Immer aber verwies sie auf eine Instanz des Allgemeinmenschlichen, Guten und Wahrhaftigen, die sich dem Subjekt über ein inneres Gefühl mitteilte. In seinem Aufsatz über den Ursprung der Sprache im Speziellen führte Rousseau diese ethische Bedeutung des Begriffs mit der Musik zusammen : Die Stimme der Natur bezeichnete hier nämlich zugleich wörtlich jene melodische Ursprache, mit der, so die Vorstellung des Philosophen, der naturnahe und damit authentische Mensch seine Rousseau im Artikel »chant« des Dictionnaire : »Gesang scheint dem Menschen nicht von Natur gegeben zu sein.« Ebd., S. . Ebd., S. –. Siehe die Beispiele : Jean-Jacques Rousseau, Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen, Aus dem Französischen übersetzt und hg. von Philipp Rippel, Stuttgart , S. – ; ders., Discours sur les sciences et les arts, S. ; ders., Julie oder die neue Héloïse. Briefe zweier Liebenden aus einer kleinen Stadt am Fuße der Alpen, In der ersten deutschen Übertragung von Johann Gottfried Gellius, Vollständig überarbeitet und ergänzt nach der Edition Rey, Amsterdam , sowie mit einer Zeittafel von Dietrich Leube, Mit Anmerkungen und einem Nachwort von Reinhold Wolff, ., durchgesehene Aufl., München (Winkler Dünndruck-Bibliothek), S. , , ; ders., Emile oder Über die Erziehung, Herausgegeben, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Martin Rang, Unter Mitarbeit des Herausgebers aus dem Französischen übertragen von Eleonore Sckommodau, Stuttgart , S. .
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Leidenschaften zum Ausdruck gebracht hätte und deren Eigenschaften bloß noch in der musikalischen Melodie überlebt hätten. Frei von Entstellung sollte sie sein, niemals trügerisch. Mit Rousseau wurde Musik mithin zur Utopie der unmittelbaren Kommunikation einer noch nicht von der Natur entfremdeten und dadurch erst wirklich freien Menschheit.²²⁸ Sein Essai war dabei aber nur ein Beispiel einer Reihe ähnlicher Theorien der Zeit, die eben dieses Merkmal gemeinsam hatten : dass sie nämlich gerade der Musik mit ihrer Gefühlsnähe das Potential zuschrieben, jene angebliche Unmittelbarkeit eines vorsprachlichen Ursprungs einlösen zu können.²²⁹ Die Méthode de Violon des Konservatoriums verstand die Musik als eine »langage noble et touchant«²³⁰ (edle und rührende Sprache). Und für einen Rousseauisten wie Pierre Baillot war es noch weit im . Jahrhundert selbstverständlich, sie wahlweise als »l’expression de nos sentimens et le langage de nos passions«²³¹ (den Ausdruck unsrer Empfindungen und die Sprache der Leidenschaften) oder »l’art dont le but est d’émouvoir«²³² (die Kunst, deren Zweck die Rührung darstellt) zu bezeichnen. Die Vorstellung von Musik als Sprache der Herzen hat sich also bis in die französische Violinschule erhalten. Dass Rousseau terminologisch noch vom aristotelischen Prinzip der Mimesis (Kunst als Naturnachahmung) ausgegangen war, sich die Diskussion mittlerweile längst aber auf den Begriff des Ausdrucks verlagert hatte, kann dahingehend leicht in die Irre führen, da doch im Grunde inhaltlich noch immer dasselbe gemeint war : Musik als Medium der Darstellung und Erregung menschlicher Gefühle.²³³ In der Violinklasse des Konservatoriums vertrat man
Vgl. Hans G. Nicklaus, Weltsprache Musik, S. – ; Peter Gülke, Rousseau und die Musik oder von der Zuständigkeit des Dilettanten, Wilhelmshaven (= Taschenbücher zur Musikwissenschaft ), S. –. Siehe Christine Zimmermann, Unmittelbarkeit. Theorien über den Ursprung der Musik und der Sprache in der Ästhetik des . Jahrhunderts, Frankfurt a. M. (= Europäische Hochschulschriften. Reihe I : Deutsche Sprache und Literatur ). Pierre Baillot, Pierre Rode und Rodolphe Kreutzer, Méthode de Violon, S. . Pierre Baillot, L’art du violon, S. . Pierre Baillot »Observations relatives aux concours de violon du Conservatoire de musique«, S. . Zum Nachahmungsprinzip bei Rousseau vgl. Peter Gülke, Rousseau und die Musik oder von der Zuständigkeit des Dilettanten, S. – ; Hans G. Nicklaus, Weltsprache Musik, S. –. Vgl. daneben, auch zur Verabschiedung des Mimesis-Prinzips in der Musikästhetik der zweiten Hälfte des . Jahrhunderts, Edward A. Lippman, A History of Western Musical Aesthetics, Lincoln u. a. , S. – ; John Neubauer, The Emancipation of Music from Language, S. –.
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demnach in keinster Weise eine romantische Musikästhetik im Sinne einer Suche nach metaphysischen Wahrheiten, die quasi noch über die Natur des Menschen hinausgingen (und die manche Autoren damals insbesondere in der Instrumentalmusik zu finden glaubten).²³⁴ Gleichwohl sind auch hier hohe Erwartungen an die Musik gestellt worden, was eine Anlehnung an Rousseaus Utopie der Unmittelbarkeit zweifellos nahelegte. So sprach Baillot von ihr in seiner überarbeiteten Schrift L’art du violon mit Enthusiasmus als einer »[…] langue universelle, que le sentiment sait comprendre partout, et qui n’est intelligible que pour l’homme mal d’accord avec lui même.«²³⁵ Diese Auffassung lässt sich allerdings nur bedingt auf Rousseau zurückführen, der nämlich – wie seinerzeit üblich – von verschiedenen Nationalstilen ausging und sie in seinem Essai auf die verschiedenen klimatischen Bedingungen der jeweiligen Länder zurückführte : »Die Akzentuierung der Sprache prägt die Melodie jeder Nation […].«²³⁶ Seine Argumentation führte den Autor zu dem Schluss : »Der Italiener braucht italienische Lieder, der Türke türkische. Jeder wird nur von den Akzenten berührt, die ihm vertraut sind […].«²³⁷ Latent zumindest war aber auch bei ihm schon ein Universalismus angelegt, der sich als Vorstellung im Kontext empfindsamer Musikästhetik in der zweiten Hälfte des . Jahrhunderts allmählich verbreitete.²³⁸ Die entscheidende Stelle findet sich im Lexikonartikel über die Harmonie, an der der musikalische Dilettant Rousseau zum erneuten Angriff gegen den Musikgelehrten Rameau überging und die zu diesem diametrale Gegenbehauptung aufstellte, »[…] daß die reinen harmonischen Schönheiten künstliche Schönheiten sind, die nur kunstversierte Menschen begeistern ; während die wahren Schönheiten der Musik, die aus der Natur stammen, allen gebildeten und ungebildeten Menschen gleichermaßen erfahrbar sind und sein müssen.«²³⁹ Im Hinblick auf Rousseau vgl. Hans G. Nicklaus, Weltsprache Musik, S. –. Schuenemans Behauptung, dass die französische Violinschule »more accurately be called romantics, at least in terms of their philosophy«, ist daher fehlleitend. Siehe Bruce R. Schueneman, »The French Violin School : Viotti and Rode«, in : Massimiliano Sala (Hg.), Giovanni Battista Viotti. A Composer between the Two Revolutions, Bologna (= Ad Parnassum Studies ), S. . Pierre Baillot, L’art du violon, S. . »[…] Universalsprache, welche die Empfindung überall versteht und welche nur dem mit sich selbst zerfallenen Menschen dunkel bleibt.« (Übers. ebd.). Jean-Jacques Rousseau, Musik und Sprache, S. . Siehe dazu auch ebd., S. –. Ebd., S. . Siehe Hans G. Nicklaus, Weltsprache Musik, insbesondere S. –, –. Zitiert nach ebd., S. . (Übers. von Angela Mißlbeck).
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Für Rousseau und andere Enzyklopädisten war es nur folgerichtig, dass sie Instrumentalmusik daran maßen, wie groß ihre Ähnlichkeit zum Gesang war.²⁴⁰ Die Geigenprofessoren am Konservatorium sahen das ähnlich und meinten, die Überlegenheit ihres Instruments wegen seines der menschlichen Stimme besonders nahestehenden Klangcharakters belegen zu können. Entsprechend wurde in ihrer Méthode postuliert : »Son timbre qui joint la douceur à l’éclat, lui donne la prééminence et l’empire sur tous les autres, et par le secret qu’il a de soutenir, d’enfler et de modifier les sons, de rendre les accens de la passion comme de suivre tous les mouvemens de l’âme, il obtient l’honneur de rivaliser avec la voix humaine.«²⁴¹
Der spezifische Ton der Violine, der ihr anderen Instrumenten gegenüber angeblich eine größere Ausdrucksvielfalt verlieh, fand bei Rousseau Bestätigung.²⁴² Auf dessen Musiklexikon wurde dann auch verwiesen, als weiter unten das Ideal des gleichsam belebten aber ausgeglichenen Klangs noch einmal wiederholt und konkretisiert wurde : »Le plus beau timbre est celui qui réunit la douceur à l’éclat. […] Il faut donc s’attacher à le lui conserver en tirant des sons pleins et moëlleux, en leur donnant de la force et de la rondeur.«²⁴³ Zugleich ist die Orientierung am Gesang als ein Relikt der italienischen Geigenkunst des . Jahrhunderts nachzuvollziehen, in deren Tradition man sich in Frankreich wähnte. Bei den Anweisungen zur richtigen Bogenführung, die mit der Atmung beim Singen verglichen wurde, berief man sich etwa auf einen entsprechenden Ausspruch Giuseppe Tartinis.²⁴⁴ Gleichfalls wurde schon in dem in London vertriebenen Lehrwerk von Francesco Geminiani proklamiert : »The Art of playing the Violin consists in giving that Instrument a Tone that shall
Siehe Peter Gülke, Rousseau und die Musik oder von der Zuständigkeit des Dilettanten, S. . Pierre Baillot, Pierre Rode und Rodolphe Kreutzer, Méthode de Violon, S. . »Ihr Klang, der die Sanftheit mit dem Glanz verbindet, gibt ihr den Vorrang und die Herrschaft über alle anderen, und durch ihr Geheimnis, die Töne zu halten, anschwellen zu lassen und zu verändern, die Akzente der Leidenschaft wiederzugeben wie auch allen Regungen der Seele zu folgen, erhält sie die Ehre, mit der menschlichen Stimme zu wetteifern.« (Übers. d. Verf.) Siehe im Artikel »expression«, Jean-Jacques Rousseau, Musik und Sprache, S. . Pierre Baillot, Pierre Rode und Rodolphe Kreutzer, Méthode de Violon, S. . »Der schönste Klang ist der, der die Sanftheit mit dem Glanz verbindet. Man muss sich daher bemühen, ihn dadurch zu erhalten, dass man volle und weiche Töne hervorbringt, denen man Kraft und Rundung verleiht.« (Übers. d. Verf.). Siehe ebd., S. .
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in a Manner rival the most perfect human Voice […].«²⁴⁵ In dieser Hinsicht also von zwei Seiten abgesichert, bildeten Stimme und Gesang die unerschütterlichen Leitbilder für die Ästhetik der französischen Violinschule.²⁴⁶ Baillot hielt es nicht ohne Grund für erforderlich, dass sich in der fünfköpfigen Jury der jährlichen Wettbewerbe seiner Klasse immer auch ein Gesangsprofessor befände.²⁴⁷ Entsprechende Vergleiche waren in den Lehrwerken des Konservatoriums allgegenwärtig und den Terminus chant (Gesang) verwendete man überhaupt gleichbedeutend mit musikalischem Vortrag. Zum Beispiel wurden in der Méthode Vorschläge und Triller als »agremens du chant«²⁴⁸ (Verzierungen des Gesangs) bezeichnet. Es war eine Analogie, die sich auch im allgemeinen Sprachgebrauch der Presse wiederfand, wie an einer Bemerkung des Journal de Paris zum Pariser Benefizkonzert Hippolyte Larsonneurs von ersichtlich ist, mit der die Zeitung den jungen Musiker dafür pries, dass er mit seinem Instrument bereits jede Art von Musik vom Blatt zu singen vermöge (»déjà aussi bon musicien que fort sur le violon, puisqu’il chante à livre ouvert toute sorte de musique«²⁴⁹). Francesco Geminiani, The Art of Playing the Violin, op. , London , S. . Zur Leitfunktion des Gesangs für das Violinspiel in der ersten Hälfte des . Jahrhunderts, auch über Baillot beziehungsweise Frankreich hinaus, vgl. Emmanuel Hondré, »Les méthodes officielles du Conservatoire«, S. – ; Stéphanie Moraly, »A la recherche d’une voix idéale. La vocalité et le violon du XIXe siècle. L’exemple de la sonate française pour violon et piano«, in : Danièle Pistone (Hg.), Musicologies d’aujourd’hui. es Rencontres de l’Observatoire musical français, Paris (= Conférences et Séminaires ), S. – ; Camilla Bork, »Virtuosität und Vokalität. Bemerkungen zu einer Denkfigur des mittleren . Jahrhunderts«, in : Musik in Baden-Württemberg Jahrbuch (), S. – ; Clive Brown, »Singing and String Playing in Comparison : Instructions for the Technical and Artistic Employment of Portamento and Vibrato in Charles de Bériot’s ›Méthode de Violon‹«, in : Claudio Bacciagaluppi, Roman Brotbeck und Anselm Gerhard (Hgg.), Zwischen schöpferischer Individualität und künstlerischer Selbstverleugnung. Zur musikalischen Aufführungspraxis im . Jahrhundert, Schliengen (= Musikforschung der Hochschule der Künste Bern ), S. – ; Maiko Kawabata, »Violinists ›Singing‹ : Paganini, Operatic Voices, and Virtuosity«, in : Ad Parnassum. A Journal of Eighteenth- and Nineteenth-Century Instrumental Music /Nr. (), S. – ; Diane Tisdall, »›Violiniste Chanteur‹ versus ›Violoniste Virtuose‹«, S. –. Siehe Pierre Baillot »Observations relatives aux concours de violon du Conservatoire de musique«, S. . Siehe Pierre Baillot, Pierre Rode und Rodolphe Kreutzer, Méthode de Violon, S. . Vgl. auch Jean-Baptiste Cartier, L’art du Violon, S. , . Journal de Paris, politique, commercial et littéraire vom . Juni (Nr. ), S. . Ähnlich auch in : Le Constitutionnel, journal du commerce, politique et littéraire vom . Juni (Nr. ), S. .
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Die Violinisten waren sich allgemein einig, dass es vor allem einer entsprechenden Bogenführung bedurfte, um mit ihrem Instrument einen stimmhaften Ton und damit den erwünschten Gefühlsausdruck erreichen zu können. Der Bogen verlieh der Geige sozusagen erst das Leben : Jean-Baptiste Cartier etwa bezeichnete ihn vielsagend als »l’[â]me de l’Instrument«²⁵⁰ (die Seele des Instruments) und Baillot hat sich über das Verhältnis später ähnlich poetisch geäußert : »[M]oteur de cette lyre des temps modernes, l’archet vient l’animer d’un souffle divin […].«²⁵¹ Bogentechnik wurde in den französischen Instrumentalschulen folglich mit besonderer Ausführlichkeit und Genauigkeit behandelt. Und interessanterweise richtete sich auch bei den öffentlichen Auftritten Hippolyte Larsonneurs das Augenmerk häufig zunächst auf seinen Bogen, wie einige Presseberichte nahelegen. Schon in einer Besprechung seines Konzertdebüts in Rouen wurde an allererster Stelle die Beherrschung des Bogens gelobt : »Le jeune Hyppolite [sic] Larsonneur vient de renouveler ici les prodiges dont il avait étonné la capitale. Cet enfant, âgé de sept ans seulement, possède sur le violon un talent aussi rare que précoce. On a surtout admiré la franchise de son coup d’archet, la vigueur de son jeu, la justesse et le fini de son exécution.«²⁵²
Das neunte Violinkonzert Kreutzers, so später eine Lokalzeitung in Arnhem, hätte der junge Musiker hier gespielt »met eene gemakkelijkheid en vastheid van behandeling van den strijkstok, en eene lieflijkheid, kracht en zuiverheid, zelfs in de moeilijkste passages«²⁵³ (mit einer Leichtigkeit und Sicherheit in der Bogenführung und einer Sanftheit, Kraft und Reinheit, selbst in den schwierigsten Passagen). Dem belgischen Blatt L’Oracle kam es nach dem Konzert in Brüssel von ebenso vor allem auf Bogenstrich und Tongebung an : Jean-Baptiste Cartier, L’art du Violon, S. . Dieselbe Formlierung fand sich bereits in L’Abbé le fils Principes du Violon (). Siehe Robin Stowell, Violin Technique and Performance Practice in the Late Eighteenth and Early Nineteenth Centuries, S. . Pierre Baillot, L’art du violon, S. . »Der Bogen, als Beweger dieser Lyra der modernen Welt, beseelt sie mit einem himmlischen Hauche […].« (Übers. ebd.). Journal de Rouen et du département de la Seine-Inferieure vom . Mai (Nr. ), S. . »Der junge Hyppolite [sic] Larsonneur stellte soeben erneut die Wunder unter Beweis, mit denen er bereits die Hauptstadt verblüfft hatte. Dieses erst sieben Jahre alte Kind besitzt auf der Violine ein so seltenes wie frühreifes Talent. Bewundert hat man vor allem die Freimütigkeit seines Bogenstrichs, die Kraft seines Spiels, die Reinheit und Vollendung seiner Ausführung.« (Übers. d. Verf.). Arnhemsche Courant vom . Februar (Nr. ), o. S.
| Le jeune Larsonneur und die Stimme der Natur »[…] La manière brillante avec laquelle il a exécuté un concerto de Rode et un air varié, a enlevé tous les suffrages. C’est une chose vraiment étonnante, à son âge, que la fermeté de son coup d’archet et la justesse des sons qu’il tire de son instrument.«²⁵⁴
Das Journal de Lyon gestand dem Virtuosen sogar zu, dass »son archet tire des sons qui semblent appartenir à des inspirations passionnées ou du moins très-vivement senties«²⁵⁵ (sein Bogen Töne hervorbringt, die leidenschaftlichen oder immerhin sehr lebhaft empfundenen Eingebungen anzugehören scheinen). Und ein Schreiber des Miroir des spectacles erinnerte sich schließlich, als die Auftritte Larsonneurs im Pariser Théâtre du Vaudeville anstanden, an den Beginn von dessen Karriere, wobei ihm wörtlich »le plaisir et l’étonnenment que son archet tour-à-tour mâle et gracieux produisit«²⁵⁶ (das Vergnügen und die Überraschung, die sein abwechselnd männlicher und anmutiger Bogen hervorbrachte) noch vor Augen standen. Der einzige in der Presse namentlich genannte Autor, der sich den Konzerten Larsonneurs gewidmet hat, war Georg Ludwig Peter Sievers. Der deutsche Schriftsteller hielt sich damals einige Zeit in Paris auf, von wo aus er als Korrespondent für das Morgenblatt für gebildete Stände, die Wiener Zeitschrift für Kunst, Literatur, Theater und Mode, das Illyrische Blatt zum Nutzen und Vergnügen sowie die Allgemeine musikalische Zeitung berichtete.²⁵⁷ Seine Tätigkeit gab ihm die Möglichkeit, die Entwicklung des Kindervirtuosen über längere Zeit zu verfolgen. Auch Sievers fielen sofort die bogentechnischen Fähigkeiten Larsonneurs auf, als er ihn im Sommer das erste Mal im privaten Rahmen spielen sah : »Sein musikal. Talent ist mir nicht sowol wegen der ungemeinen Leichtigkeit, mit welcher er die grössten Schwierigkeiten besiegt, als durch die Ruhe und Kraft, welche in seinem Spiele herrschen, und sich da, besonders in der Bogenführung, zu erkennen geben, bemerkbar worden. […]«²⁵⁸ Zitiert nach Frédéric Faber, Histoire du théâtre français en Belgique depuis son origine jusqu’à nos jours, S. . »Die glänzende Art und Weise, mit welcher er ein Konzert von Rode und eine Air varié spielte, hat allgemeinen Beifall gewonnen. Die Bestimmtheit seines Bogenstrichs und die Reinheit der Töne, die er aus seinem Instrument herausholt, sind in seinem Alter wirklich eine erstaunliche Sache.« (Übers. d. Verf.). Journal de Lyon et du département du Rhône vom . Oktober (Nr. ), S. . Le Miroir des spectacles, des lettres, des mœurs et des arts vom . Juni (Nr. ), S. . Siehe Christoph E. Hänggi, G.L.P. Sievers (–) und seine Schriften. Eine Geschichte der romantischen Musikästhetik, Bern (= Europäische Hochschulschriften. Reihe : Musikwissenschaft ), S. –. Georg Ludwig Peter Sievers, »Musikalisches Allerley aus Paris, vom Monate July«, in : Allge-
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Das Benefizkonzert vom . August bestärkte Sievers schließlich nur noch in seiner Ansicht : »Das Concert, welches der junge Larsonneur gegeben hat, ist ohnstreitig die wichtigste musikal. Erscheinung im ganzen Monat gewesen. Der Ruf, den sich dieser noch nicht achtjährige Knabe erworben, hatte eine für die Jahrszeit und die ungemeine Hitze bedeutende Versammlung herbeygezogen. Im Allgemeinen habe ich bereits in meinem letzten Berichte meine Meynung über ihn zu erkennen gegeben : durch sein öffentliches Spiel bin ich in derselben bestätigt worden. In der soliden, sicheren und ungestörten Bogenführung zeichnet sich dieser Knabe nicht allein vor allen den frühreifen Genies seiner Art aus, welche mir bis dahin vorgekommen sind : sondern es stehen ihm in dieser, einem guten Geiger unerlässlichen Eigenschaft, meiner Meynung nach, sehr renommirte Künstler nach. Er hat ein Concert von Lafont gespielt ; und vortrefflich – darüber ist hier nur Eine Stimme.«²⁵⁹
Nachdem die Familie im kommenden Frühjahr ihre Rückkehr nach Paris bekannt gemacht hatte, spekulierte der Journalist darauf, dass ihr Sprössling »während der Zeit seiner Abwesenheit bedeutende Fortschritte gemacht haben«²⁶⁰ müsste und verlieh nach dessen Auftritt im Théâtre Favart seiner bisherigen Begeisterung noch einmal gehörigen Nachdruck. Die Ursache lag wieder einmal im Bogenstrich des von ihm regelrecht idolisierten jungen Musikers : »Auch der junge Larsonneur hat sein angekündigtes Concert gegeben. Möge dieser zarte, bildschöne Knabe immerhin andern wegen seiner jetzt schon so bedeutenden Fertigkeit ein Gegenstand des Interesses seyn ; mir flöst die Ruhe seiner Ausübung und die Kraft seiner Bogenführung Bewunderung ein. Er hat das bekannte Rhodesche Concert aus A dur [sic] gespielt. Wenn dem Künstler [= Rode] dabey Manches misslungen ist, so hat der Knabe hingegen das gerechteste Staunen erregt.«²⁶¹
meine musikalische Zeitung /Nr. (. September ), Sp. –. Georg Ludwig Peter Sievers, »Musikalisches Allerley aus Paris, vom Monate August, «, in : Allgemeine musikalische Zeitung /Nr. (. September ), Sp. . Georg Ludwig Peter Sievers, »Musikalisches Allerley aus Paris, vom Monate April, «, in : Allgemeine musikalische Zeitung /Nr. (. Juni ), Sp. . Georg Ludwig Peter Sievers, »Musikalisches Allerley aus Paris, vom Monate May «, in : Allgemeine musikalische Zeitung /Nr. (. Juni ), Sp. . Die Angabe der Tonart war vermutlich ein Fehler. Andere Konzertberichte lassen auf Rodes Violinkonzert Nr. in a-Moll, op. schließen.
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Der allgemeine Fokus auf den Bogen Larsonneurs offenbart, dass auch die Presse über bestimmte Ansprüche des zeitgenössischen Violinspiels informiert war und dass ihre Kenntnis mit der französischen Schule eine durchaus signifikante Schnittmenge aufwies. Man könnte die Zitate umgekehrt auch als Indizien dafür gelten lassen, dass der Vater mit der Méthode des Konservatoriums vertraut gewesen ist und die Ausbildung seines Sohnes nach deren Standards ausgerichtet hat. Ein derart geteiltes Wissen stellte auch die erwünschte gesangliche, mit der Bogentechnik einhergehende, Klangqualität dar, die zum Teil ebenfalls aus den zitierten Quellen herauszulesen ist. Daneben lobte etwa auch ein Bericht über die Gastvorstellung Larsonneurs im Theater von Marseille die vollen Töne, die er seinem Instrument entlockt habe (»sons pleins qu’il tire de son instrument«²⁶²). Nach den Konzerten in Orléans deutete eine Zeitung an, wie das Publikum nicht zuletzt »du charme, de la mélodie des sons, de leur énergique précision«²⁶³ (durch den Reiz, die Melodie, Kraft und Genauigkeit der Töne) gefesselt worden sei. Und auf das Spiel im königlichen Theater von Antwerpen im Januar Bezug nehmend, wurde Larsonneur von einem anderen Schreiber im Journal d’Anvers nachgesagt : »Son jeu est tout à la fois ferme et moëlleux ; sous ses jeunes doigts l’instrument parait s’animer, et la mélodie des sons vient charmer l’oreille du spectateur surpris que ce prodige soit l’ouvrage d’un enfant.«²⁶⁴
Das in der Méthode vorgegebene Streben nach einem Klang, der »die Sanftheit mit dem Glanz verbindet«, dadurch der menschlichen Stimme nahekommt, lebendige Gefühle suggeriert und zugleich das rechte Maß zwischen gewissen Gegensätzen findet, tritt hier deutlich hervor. Der bereits im . Jahrhundert verbreitete Gemeinplatz vom Vorrang des Gesangs wurde in der französischen Violinschule in einer Hinsicht allerdings eher eigensinnig gedeutet. Baillot etwa hatte als Muster nämlich möglicherweise weniger die Oper im Sinn als vielmehr die französische Liedgattung der [Anon.], »Spectacle«, in : Journal de Marseille et des Bouches-du-Rhône vom . Juni (Nr. ), S. . Journal général du département du Loiret vom . Dezember (Nr. ), S. . Zitiert nach : Edouard G. J. Gregoir, Littérature musicale. Documents historiques relatifs à l’art musical et aux artistes-musiciens, Bd. , Brüssel u. a. , S. . »Sein Spiel ist bestimmt und weich zugleich ; unter seinen jungen Fingern scheint sich das Instrument zu beleben, und die Melodie der Töne umschmeichelt das Ohr des Zuschauers, der überrascht ist, dass dieses Wunder das Werk eines Kindes ist.« (Übers. d. Verf.).
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Romance, was schon die langsamen Mittelsätze vieler seiner Violinkonzerte durch ihre Titel vermuten lassen.²⁶⁵ Eine gewisse Distanz wird in der Méthode zumindest zum italienischen Belcanto mit seinem Reichtum an Koloraturen deutlich, da hier vehement auf die Notwendigkeit eines maßvollen Einsatzes improvisierter Verzierungen hingewiesen wurde : »Il ne suffit pas d’avoir égard à la place où il faut mettre les ornemens, on doit encore éviter de les multiplier ; la quantité d’ornemens nuit à la véritable expression, défigure la mélodie et finit par devenir monotone. On ne s’en sert souvent que pour suppléer au défaut de sensibilité, ou dans l’intention d’augmenter le charme de l’exécution, mais c’est une erreur : rien n’est beau et touchant que ce qui est simple ; il faut que l’expression soit parée par les graces, mais non pas éclipsée par elles. Le bon goût veut que l’on employe les ornemens avec sagesse, et surtout qu’on les tire de la nature même de l’expression du chant.«²⁶⁶
Über die musikalische Vorschrift im engeren Sinne hinaus, sich nämlich möglichst nah am Notentext zu bewegen, verweist die Stelle noch auf ein grundsätzliches ästhetisches Gebot. Es erinnert ebenso an den Diskurs der Empfindsamkeit, wenngleich Rousseau selbst im Brief über die französische Musik ausgerechnet an die Geiger Frankreichs den Vorwurf gerichtet hatte, »[d]urch unabsehbar viele kleine, ausdruckslose und geschmacklose Verzierungen […] die Kraft des Bogenstriches«²⁶⁷ zu ersetzen. Der gute Geschmack (bon goût) in den Künsten wurde von französischen Theoretikern schon seit dem späten
Siehe Anne Penesco, »Pierre Baillot et l’école franco-belge de violon«, S. –. Die Nähe zur Romance erkennt Schwarz auch in den langsamen Sätzen der Konzerte von Lafont. Siehe Boris Schwarz, French Instrumental Music Between the Revolutions (–), S. . Vgl. zu dieser Konvention bereits Ende des . Jahrhunderts, Diane Tisdall, »›Violiniste Chanteur‹ versus ›Violoniste Virtuose‹«, S. –. Pierre Baillot, Pierre Rode und Rodolphe Kreutzer, Méthode de Violon, S. . »Es reicht nicht, die Stellen zu berücksichtigen, an den man die Verzierungen setzen sollte, man muss zudem vermeiden, sie zu häufen ; die Menge der Verzierungen schadet dem wahren Ausdruck, entstellt die Melodie und wird schließlich eintönig. Man bedient sich ihrer oft nur, um den Mangel der Empfindsamkeit zu ersetzen, oder in der Absicht, den Reiz des Vortrags zu steigern, aber das ist ein Irrtum : nichts ist schön und rührend, als was einfach ist ; der Ausdruck muss von Schönheiten geschmückt, aber darf nicht von ihnen überstrahlt werden. Der gute Geschmack erfordert, dass man die Verzierungen mit Besonnenheit anwendet, und vor allem, dass man sie aus dem Wesen des Ausdrucks des Gesangs selbst entnimmt.« (Übers. d. Verf.). Jean-Jacques Rousseau, Musik und Sprache, S. .
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. Jahrhundert mit einem inneren Gefühl gleichgesetzt.²⁶⁸ Im Rousseauismus war er demnach nur eine andere Bezeichnung für die Stimme der Natur. Die Méthode stellte ihn der Vorstellungskraft, die hier tendenziell eher der Tätigkeit des Komponierens zugeordnet wurde, als ein Gefühl an die Seite, auf das der Musiker vertrauen sollte, wenn er nach der angemessenen Wiedergabe eines in dem jeweiligen Stück angelegten Ausdrucks suchte.²⁶⁹ Es ist eindeutig erkennbar, dass auf das innere Maß des guten Geschmacks implizit auch in dem Abschnitt über das Ausdrucksvermögen verwiesen wurde, »[…] qui sait joindre la grace au sentiment, la naïveté à la grace, la force à la douceur, et marquer toutes les nuances qui déterminent les oppositions […] ; faire sentir sans affectation les passages les plus saillans, et jetter un voile adroit sur les plus vulgaires […]«²⁷⁰.
Dabei ging es nicht um instinktive Plan- oder Regellosigkeit des Spiels, sondern um die Maxime, dass sich Vernunft immer auf der Grundlage der Empfindung – mit anderen Worten : Kultur auf Natur – auszubilden habe.²⁷¹ Es galt, das Innere zu erhören und nach außen hin, im Handeln also, bloß noch zu verfeinern : »Le goût natur el n’est autre chose que le sentiment des convenances, un tact imperceptible qui porte à donner à chaque chose le ton, le caractère, et la place qui lui conviennent. Il précède la réflexion, et sans le savoir, il choisit toujours bien. Il est une autre espèce de goût formé par le résultat des comparaisons, par le jugement, par l’expérience, c’est le goût perfectionné qui joint au goût naturel la connaissance particulière des convenances dont on vient de parler ; il est à la fois un don de la nature et le fruit de l’éducation, il exige de la réflexion autant que de l’instinct […]«²⁷². Siehe Georgia J. Cowart, »Sense and Sensibility in Eighteenth-Century Musical Thought«, in : Acta Musicologica /Nr. (), S. –. Siehe Pierre Baillot, Pierre Rode und Rodolphe Kreutzer, Méthode de Violon, S. . Ebd., S. . »[…] das die Anmut mit dem Gefühl, die Einfachheit mit der Anmut, die Kraft mit der Sanftheit zu verbinden und alle Nuancen, die die Gegensätze bestimmen, zu zeigen […] ; die hervorstechendsten Passagen ohne Affektiertheit fühlen zu lassen und einen gewandten Schleier über die ordinärsten zu werfen versteht […]« (Übers. d. Verf.). Dem entsprechenden Eintrag von Rousseaus Dictionnaire nach sollte der Geschmack »der Vernunft als Brille« dienen. Siehe Jean-Jacques Rousseau, Musik und Sprache, S. . Pierre Baillot, Pierre Rode und Rodolphe Kreutzer, Méthode de Violon, S. . »Der natürliche Geschmack ist nichts anderes als das Gefühl der Schicklichkeit, ein unmerklicher Takt, der dazu verleitet, jeder Sache den Ton, den Charakter und den Ort zu geben, die ihr
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Musikalischer Ausdruck war damit letztlich ein Vermittlungsprozess von der Komposition über den Musiker bis zum Publikum, der immer auf der Ebene der Empfindsamkeit stattfand, von Herzen zu Herzen sozusagen. Noch für Baillot galt daher die alte Faustregel : »On sait que pour émouvoir il faut commencer par être fortement ému soi-même […]«²⁷³ (Man weiß, dass man, um zu rühren, zunächst selbst stark gerührt sein muss). Den inneren Maßgeber des guten Geschmacks musste folglich auch bei Larsonneur vermuten, wer sein Violinspiel als einfach und gleichzeitig expressiv empfand. So betonte das Journal des débats nach dem Pariser Konzertdebüt im Sommer , der junge Virtuose spielte »avec un goût et une précision qu’on auroit admirés dans un artiste consomm髲⁷⁴ (mit einem Geschmack und einer Genauigkeit, die man bei einem vollendeten Künstler bewundert hätte). Eine niederländische Zeitung hob ein halbes Jahr später »zijne zuivere toonen, zijn’ smaak en vaardigheid bij het voortbrengen der moeijelijkste passages«²⁷⁵ (seine reinen Töne, seinen Geschmack und Geschick bei der Ausführung der schwierigsten Passagen) hervor. In einer fast nicht enden wollenden Eloge des Journal de Marseille erklärte ein Rezensent seinen Lesern in Übereinstimmung mit den Ansprüchen der Méthode, was einen im Konzert Larsonneurs am meisten erstaunt habe, sei die Genauigkeit, Reinheit und Sanftheit der Töne, sein Geschmack und seine vorzügliche Empfindung für Nuancen sowie die Lebhaftigkeit und Kraft des Klangs, den er seinem Instrument entlockte, gewesen, und der Verfasser verwies hier auch auf den Prüfstein des Gefühlsausdrucks empfindsamer Musikästhetik, das Adagio : »Tout la bonne compagnie de Marseille s’était portée au concert du jeune Larsonneur ; la salle des Ecossais était comble. Cet enfant, qui est parvenu à la plus rare perfection sur le plus difficile des instrumens, dans un âge où les élèves le plus zugehören. Er geht der Überlegung voran, und ohne es zu wissen, wählt er immer gut. Eine andere Art von Geschmack, der durch das Ergebnis von Vergleichen, durch das Urteil, durch Erfahrung gebildet wird, ist der vervollkommnete Geschmack, der dem natürlichen Geschmack die genaue Kenntnis des Schicklichen hinzufügt, das gerade erwähnt wurde ; er ist ein Geschenk der Natur und eine Frucht der Erziehung, er erfordert das Denken ebenso wie den Instinkt […]« (Übers. d. Verf.). Pierre Baillot »Observations relatives aux concours de violon du Conservatoire de musique«, S. . Ähnlich etwa auch schon zu finden bei Carl Philipp Emanuel Bach, Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen mit Exempeln und achtzehn Probe-Stücken in sechs Sonaten, Bd. , Berlin , S. . Journal des débats politiques et littéraires vom . August (o. Nr.), S. . Nederlandsche Staatscourant vom . Februar (Nr. ), o. S. Erneut abgedruckt in Arnhemsche Courant vom . Februar (Nr. ), o. S.
| Le jeune Larsonneur und die Stimme der Natur heureusement organisés en essaient péniblement les élémens, a surpassé l’attente de l’assemblée. On a trouvé que les éloges prodigués au jeune virtuose partout où il a passé, sont encore au-dessous de la réalité ; il faut, en effet, l’avoir entendu pour s’en faire une idée. Il a exécuté, comme en se jouant, les passages les plus scabreux d’un concerto de Rode, dont les difficultés font pâlir les artistes consommés : rien de si facile et de si merveilleusement accentué que son adagio. Mais ce qui excite l’étonnement, ce qu’on ne saurait trop admirer, quand on porte ses regards sur ces traits calmes et naïfs, sur cette jolie physionomie, qui semble ne demander que des encouragemens et ne promettre tout au plus que les premiers rayons d’un talent à son aurore, c’est la justesse, la netteté, la suavité des sons, le goût et le sentiment exquis des nuances, et surtout la vigueur et la force des vibrations. Boucher se proclame fastueusement l’Alexandre des violons ; le jeune Hippolyte en est, en quelque sorte, l’Hercule au berceau. On a particulièrement remarqué ses brillantes qualités dans les variations qui ont terminé le concert, sur un thème de la Vestale arrangé par Lafon[t] : elles ont été exécutées par le jeune artiste avec un charme qu’on ne pourrait exprimer.«²⁷⁶ [Anon.], »Spectacle. Concert du jeune Larsonneur«, in : Journal de Marseille et des Bouchesdu-Rhône vom . Juni (Nr. ), S. . »Die gesamte gute Gesellschaft von Marseille hat sich beim Konzert des jungen Larsonneur eingefunden ; die Salle des Ecossais war voll besetzt. Dieses Kind, das es in einem Alter, in dem selbst die am besten vorbereiteten Schüler sich mühsam an den Grundelementen versuchen, zu ungewöhnlichster Vollkommenheit auf dem schwierigsten der Instrumente gebracht hat, hat die Erwartung der Versammlung übertroffen. Man fand, dass das, überall wo er auftrat, verschwenderische Lob des jungen Virtuosen noch hinter der Wirklichkeit zurückbleibt : Man muss ihn tatsächlich gehört haben, um sich davon eine Vorstellung zu machen. Er hat, wie spielend, die heikelsten Passagen aus einem Konzert von Rode ausgeführt, dessen Schwierigkeiten vollendete Künstler erbleichen lassen : nichts ist so mühelos und wundervoll akzentuiert wie sein Adagio. / Aber was Erstaunen erregt, was man gar nicht zu sehr bewundern kann, wenn man seine Blicke auf diese sanften und reinen Züge, auf diese hübsche Physiognomie richtet, die nichts als Ermutigung zu suchen und höchstens die ersten Strahlen einer Begabung im Morgenrot zu verheißen scheint, das ist die Genauigkeit, die Reinheit, die Sanftheit der Töne, der Geschmack und das vorzügliche Gefühl für Nuancen, und vor allem die Energie und Kraft der Schwingungen. Boucher nennt sich prunkvoll den Alexander der Violine ; der junge Hippolyte ist gewissermaßen der Herkules in der Wiege. Man hat seine brillanten Fähigkeiten besonders in den von Lafont arrangierten Variationen über ein Thema aus der Vestale bemerkt, die das Konzert beendet haben : sie wurden von dem jungen Künstler mit einem unbeschreiblichen Reiz ausgeführt.« (Übers. d. Verf.) Erneut abgedruckt in : Journal de Lyon vom . September (Nr. ), S. –. Zur Rolle des Adagio im Virtuosenideal der Empfindsamkeit vgl. Erich Reimer, »Der Begriff des wahren Virtuosen in der Musikästhetik des späten . und frühen . Jahrhunderts«, in : Basler Jahrbuch für historische Musikpraxis () (= Virtuosität und Wirkung in der Musik), S. –.
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Ihren Vorbildern des . Jahrhunderts noch immer treu ergeben, forderte auch die französische Violinschule von der Musik bestimmte Grundsätze der Einfachheit und Natürlichkeit ein, die die ausdruckshafte Belebung gewissermaßen beschränkten und die sie – wie zuvor schon Rousseau – von der Moral in die Ästhetik überführte. In seinem späteren Lehrwerk L’art du violon von gab Baillot den Schülern einige Regeln des musikalischen Vortrags an die Hand, die möglicherweise auch als ein Versuch zu verstehen sind, die Intuition des guten Geschmacks schlussendlich wenigstens ansatzweise greif- und vermittelbar zu machen. Baillot umriss seine Ansprüche an ein gutes Violinspiel mit drei Begriffen, die sich auf die Tongenauigkeit beziehungsweise Reinheit der Intervalle (»justesse«), das rhythmische Gleichmaß (»mesure«) und zuletzt eine Form der Klarheit, Geschlossenheit und Ausgewogenheit bezogen, die der Autor auf das Musizieren anscheinend noch grundlegender angewandt wissen wollte als die beiden anderen Kriterien und die er als »netteté« bezeichnet hat (dieser letzte Begriff ist in der zitierten Ausgabe etwas missverständlich als »Zierlichkeit« übersetzt).²⁷⁷ Alle drei Termini zielen jedenfalls, genau wie die innere Empfindungsinstanz des Geschmacks, auf das ästhetisch Maßvolle. Und zumindest zwei der Begriffe Baillots, ersterer und letzterer, sind – neben inhaltlich eng verwandten sprachlichen Ausdrücken – immer wieder auch in den Konzertberichten über Larsonneur als Merkmale eines mustergültigen Spiels nachzuweisen, woraus sich schließen lässt, dass sie schon damals in ähnlicher Bedeutung zirkulierten. Jacques-Féréol Mazas, ein Konservatoriumsschüler Baillots, hat die justesse im Übrigen schon vor diesem in seiner eigenen Geigenschule als »la première condition de la Musique«²⁷⁸ (die erste Voraussetzung der Musik) gekennzeichnet. Geschmackvolle Mäßigung war das Gegenteil dessen, was die Zeitgenossen damals mit dem italienischen Violinisten Niccolò Paganini in Verbindung brachten. Paganini schien die Geigenvirtuosität in vielerlei Hinsicht auf ein neues Level zu heben und sich den ästhetischen Geboten der französischen Violinschule, mit deren Solokonzerten er zu Beginn seiner Karriere immerhin noch selbst aufgetreten ist, kaum zu beugen. Die Pariser Revue musicale hat im Februar , ebenso wie einige Wochen später auch die englische Musikzeit-
Siehe Pierre Baillot, L’art du violon, S. . Ähnliche Kriterien sind auch auf dem Merkblatt für das Beurteilungsverfahren der Jury der Konservatoriumswettbewerbe zu finden : Pierre Baillot »Observations relatives aux concours de violon du Conservatoire de musique«, S. . Jacques Féreol Mazas, Méthode de Violon suivie d’un Traité des Sons Harmoniques, en simple et double-cordes, op. , Paris u. a. [], S. .
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schrift The Harmonicon, einen Brief von Charles Philippe Lafont abgedruckt, in dem die besondere Herausforderung, die Paganini den Pariser Musikern stellte, paradigmatisch zum Ausdruck kommt. In seinem Schreiben nämlich richtete sich der französische Violinist, der hier selbstbewusst mit seinem Titel des königlichen Hofgeigers (»Premier violon de la chambre du Roi«) unterschrieb, an einen namentlich ungenannten Zeitungsredakteur, welcher die in einer kürzlich erschienenen Broschüre über Paganini enthaltene Behauptung kolportiert hat, Lafont sei aus einem Wettstreit mit dem Genueser Virtuosen, der sich in Mailand ereignet hatte, als Verlierer hervorgegangen. Lafont bestritt, dass er Paganini jemals den größten Geiger der Welt genannt habe (was ihm offenbar in den Mund gelegt wurde) und erklärte den Ausgang des Wettstreits, scheinbar versöhnlich, für unentschieden.²⁷⁹ Doch fand sich in seiner Entgegnung zugleich noch folgende Bemerkung : »[…] et je déclare ici, comme je l’ai toujours fait, que l’école française est la première du monde pour le violon.«²⁸⁰ Lafont meinte, es wäre diese seine Schule gewesen, die ihm damals den entscheidenden Vorteil bei der Interpretation einer bestimmten melancholischen Passage des Wettbewerbsstücks (Kreutzers Sinfonie concertante in F-Dur) verschafft hätte : Während Paganini die Melodie mit brillanten Verzierungen übersät hätte, was kaum Wirkung erzeugte, so Lafont, hätte er selbst sie mit mitreißenderem, wenn auch einfacherem Ausdruck (»une expression plus entraînante, quoique plus simple«²⁸¹) hervorgebracht. Die scheinheilige Argumentation Lafonts wurde von dem Londoner Musikverleger Francesco Cianchettini durchschaut, dessen Replik in der Mai-Ausgabe von The Harmonicon erschien. Der aus Rom stammende Unternehmer hielt die Überlegenheit Paganinis für unwiderleglich und parodierte Lafonts Berufung auf »the super-excellent Parisian Violin School«, wobei er auf eine entscheidende Schwachstelle in der Selbstdarstellung dieser Schule hinwies : »Whatever excellence the Parisian Violin School may claim a title to, is derived from Italians ; from Viotti, who descended from Pugnani, Pugnani from Tartini, and Tar-
Siehe [Anon.], »Nouvelles«, in : Revue musicale (Deuxième série) (. Februar ), S. – ; [Anon.], »Paganini and Lafont«, in : The Harmonicon /Nr. (April ), S. –. Auslöser war : G. Imbert de Laphalèque [= Pseud.?], Notice sur le célèbre violiniste Nicolo Paganini, Paris , S. –. [Anon.], »Nouvelles«, S. . »[…] und ich erkläre hiermit, wie ich es immer getan habe, dass die französische Schule bei der Violine weltweit unübertroffen ist.« (Übers. d. Verf.) Ebd.
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tini from Corelli ; the last being considered as the father of the violin, […] For the restoration of the Fine Arts, living nations must look to Italy.«²⁸²
Mit der Europatournee Paganinis um , die diesem einen für Instrumentalvirtuosen bisher nie gesehenen Ruhm und Eklat bescherte und darin auch vor Paris keinen Halt machte, stand die französische Violinschule unversehens für einen Konservatismus, dessen Geltungsanspruch einer erneuten Rechtfertigung bedurfte. Dieser Zugzwang ist in einigen Lehrwerken gerade aus dieser Zeit spürbar, die ihren Autoren auch die Gelegenheit boten, zu Paganini öffentlich Stellung zu beziehen, wenn dessen Erfolg nicht hier und dort sogar der eigentliche Anlass zur Publikation gewesen ist. Ein Blick auf die Auseinandersetzung mit Paganini lohnt sich deshalb, weil sie über das Selbstverständnis der französischen Violinschule auch rückwirkend, also für die Zeit des Kindervirtuosen Hippolyte Larsonneur, Aufschluss gibt.²⁸³ Baillot konnte Paganini unter seiner Aufzählung der berühmtesten Violinspieler, die er im Zuge seiner Überarbeitung der Instrumentalschule für das Konservatorium erstellte, nur schwerlich übergehen. Zwar tat er in L’art du violon ausdrücklich seine Bewunderung für dessen einzigartige Beherrschung des Instruments kund, doch konnte er grundsätzliche Vorbehalte gegenüber einer Spielweise, die auf Kosten des guten Geschmacks ging, auch hier nicht unterdrücken. Baillot war so diplomatisch, Paganini bei seinem Angriff nicht namentlich zu nennen. Wo man diesen in der Hierarchie zwischen gefühlsmäßiger Innerlichkeit und einer oberflächlichen Effekthascherei aber zu verorten hatte, erklärte sich ohnehin von selbst : »Il est une observation importante à faire ici, c’est que, le plus souvent, l’art perd d’un côté ce qu’il gagne de l’autre : on perd en simplicité ce que l’on obtient en élégance ; en sons graves, ce que l’on ajoute en sons aigus ; en chants expressifs et naturels ce que l’on trouve en choses d’effet ; en grandeur, ce que l’on acquiert en délicatesse : cependant, le génie peut tout employer avec succès pourvu que ce soit avec mesure, c’est-à-dire, pourvu qu’il ne passe point de certaines limites que le goût doit fixer.«²⁸⁴ Francesco Cianchettini, »Paganini and Lafont. To the Editor of the Harmonicon«, in : The Harmonicon /Nr. (Mai ), S. . Bei dem Autor handelte es sich übrigens um den Vater des Kindervirtuosen Pio Cianchettini. Siehe zu diesem Kapitel ., S. –. Zur Herausforderung der Dominanz der französischen Violinschule durch Paganini, vgl. auch Clive Brown, »Polarities of Virtuosity in the First Half of the Nineteenth Century«, in : Andrea Barizza und Fulvia Morabito (Hgg.), Nicolò Paganini, S. –. Pierre Baillot, L’art du violon, S. . »Hier muss man die wichtige Beobachtung machen, dass
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An einer weiteren Stelle, an der Baillot vor dem möglichen Missbrauch technischer Neuheiten warnte, die den natürlichen Ausdruck ihm zufolge niemals trüben dürften, war wohl ebenfalls der italienische Virtuose indirekt angesprochen : »Surgit-il un genre qui soit de nature à reculer les bornes de l’exécution, non pour exciter l’étonnement au moyen d’un surcroit de difficultés vaincues, mais pour offrir quelques moyens de plus à l’éloquence ou aux effets qui ont de l’empire sur l’ame que pénétrés de cette noble destination, les élèves cherchent à en faire un digne usage, mais qu’ils ne perdent jamais de vue la source des vrais plaisirs, cette première innocence de l’art qui nous fait préférer aux qualités brillantes, la simple et naïve expression du cœur, expression dont on ne se lasse jamais parcequ’elle est l’aliment habituel et nécessaire de notre sensibilité.«²⁸⁵
François-Antoine Habeneck, ein ehemaliger Konservatoriumsschüler Baillots, empfahl zwar Paganinis Capricci, op. in seiner Méthode théorique et pratique de violon () für fortgeschrittene Studien, wies aber gleichfalls auf den möglichen Missbrauch (»l’abus«) technischer Finessen hin.²⁸⁶ Empfänglicher für den neuen Stil Paganinis war Jacques-Féréol Mazas, der wie erwähnt ebenfalls Baillots Violinklasse besucht hatte. Das Flageolett, das Paganini so ausgiebig und variantenreich einsetzte, dass es geradewegs zu dessen Markenzeichen avancierte, bildete somit auch einen Schwerpunkt der Méthode de Violin die Kunst oftmals auf der einen Seite verliert, was sie auf der andern gewinnt : So verliert man an Einfachheit das, was man an Eleganz gewinnt ; an den tiefen Tönen, was man den hohen beifügt, an ausdrucksvollem und natürlichem Gesange, was man in effektvollen Dingen sucht, an Grossartigkeit, was man an Delikatesse gewinnt. Indess kann das Genie alles mit Erfolg anwenden, vorausgesetzt, dass es mit gehörigem Maasse geschieht, das heisst : dass es gewisse Gränzen nicht überschreitet, welche der Geschmack bestimmen muss.« (Übers. ebd.). Ebd., S. . »Entsteht ein Genre, welcher [sic], ohne Verwunderung vermittelst überwundener übermässiger Schwierigkeiten erregen zu wollen, einige neue Mittel des Ausdruk [sic] der die Seele beherrschenden Beredsamkeit, oder Effekte bietet, dann mögen die von diesem edlen Zweck durchdrungenen Schüler einen weisen Gebrauch davon machen. Aber niemals dürfen sie die Quelle des wahren Genusses aus den Augen verlieren, diese ursprüngliche Unschuld der Kunst, den einfachen naïven Ausdruck des Herzens der niemals ermüdet, weil er die beständige und nothwendige Nahrung unserer Empfindungsfähigkeit ist.« (Übers. ebd.) Siehe hierzu auch Pierre Baillot »Observations relatives aux concours de violon du Conservatoire de musique«, S. –. Siehe François-Antoine Habeneck, Méthode théorique et pratique de violon, Paris , Faksimilenachdruck Courlay (= Méthodes & Traités , Série II, Volume IV), S. , .
Die ästhetische Utopie der französischen Violinschule |
() von Mazas. Eine von diesem Violinpädagogen erinnerte Episode, die zum Zeitpunkt der Publikation seines Lehrwerks ungefähr zehn Jahre her sein musste, enthüllt, als wie unumstößlich die ästhetische Ideologie seiner Lehrergeneration in Frankreich damals angesehen wurde. Nachdem er sich Paganinis Anwendung der Technik in Italien abgeschaut hätte und danach nach Paris zurückgekehrt wäre, so Mazas, sei ihm hier nämlich zunächst nur Ablehnung entgegengebracht worden : »[…] mais de retour à Paris je fus fortement blamé par les connaisseurs pour m’être abandonné, disaient ils, au charlatanisme et au mauvais goût. Le public bénévole applaudissait en vain des sons qui lui paraissaient suaves, ils furent proscrits par les puristes qui n’avaient jamais perdu de tems à les étudier. Mais depuis le Romantisme a brisé toutes les lisières classiques, j’ai pu sans scrupule et même avec succès employer de nouveau ce moyen de varieté.«²⁸⁷
Trotz seiner angeblichen ›romantischen‹ Revolte gegen die konservative Haltung der Pariser Musikwelt ist es dennoch so, dass auch Mazas das Flageolett als »moyen de varieté« (Mittel der Abwechslung) bezeichnete, das heißt als etwas Sekundäres. Genauso wurde die Spieltechnik dann auch von Baillot den zum Gesanglichen kontrastierenden, der Abwechslung dienenden Effekten (»choses d’Effet«) zugeordnet, die dem Gebot des guten Geschmacks gemäß stets nur äußerst sparsam eingesetzt werden sollten.²⁸⁸ Das imposante Gegenbild zu Paganini lieferte für Baillot in dieser Hinsicht von jeher Viotti. In dessen Violinspiel erkannte er, so die Retrospektive seines Nachrufs, »une absence totale d’ambition«²⁸⁹ (ein völliges Fehlen von Ehrgeiz), von Absichten des ohnehin eher als publikumsscheu bekannten Musikers, mit technischen Schwierigkeiten zu brillieren, ganz zu schweigen. Die Gedenkschrift lieferte, am Beispiel Viottis, eine musterhafte Zusammenfassung jener musikalischen Ästhetik, die Baillot – im Rekurs auf Rousseau – bereits in der Méthode entworfen hatte : Jacques Féreol Mazas, Méthode de Violon, S. . »[…] aber zurück in Paris wurde ich durch die Kenner kräftig dafür getadelt, dass ich mich, sagten sie, dem Scharlatanismus hingegeben habe und dem schlechten Geschmack. Das wohlwollende Publikum applaudierte vergeblich den ihm lieblich erscheinenden Tönen, sie wurden geächtet von den Puristen, die niemals die Zeit damit vergeudet hatten, sie zu studieren. Aber seit die Romantik alle klassischen Grenzen eingerissen hat, habe ich ohne Bedenken und sogar mit Erfolg erneut dieses Mittel der Abwechslung anzuwenden vermocht.« (Übers. d. Verf.). Siehe Pierre Baillot, L’art du violon, S. . [Pierre Baillot], Notice sur J.-B. Viotti, S. .
| Le jeune Larsonneur und die Stimme der Natur »Les ouvrages de Viotti sont du nombre de ceux dont l’expression vraie ne saurait cesser d’émouvoir. La musique instrumentale a pour base la musique vocale ; la voix humaine est le type auquel tous les systêmes doivent se rattacher : elle est pour la musique cette nature que les autres arts invoquent comme leur modèle, qui, seule, peut empêcher le goût de se dépraver, et le génie d’enfanter des monstres. Tel fut le guide que Viotti suivit sans cesse. Il suffit de prononcer son nom, pour rappeler tout ce que la mélodie offre de plus capable de toucher le cœur et d’élever l’âme. Il avait adopté la maxime de Tartini, Per ben suonare, bisogna ben cantare, et personne ne sut mieux que lui la mettre en pratique. La musique n’était pour Viotti que l’expression du sentiment.«²⁹⁰
Die Bewertungsmaßstäbe des Violinspiels waren in England und Deutschland ähnliche. Allerdings war die Meinung darüber, ob sie von Hippolyte Larsonneur auch erfüllt wurden, nicht so ungeteilt wie in Frankreich. Einer der Kritikpunkte betraf dabei ausgerechnet das Wesen des musikalischen Vortrags : das durch den Geschmack angeleitete Ausdrucksvermögen. Wurden im London Magazine eher am Rande dahingehende Schwächen seines Spiels angemerkt (»bating that it yet lacks a little of the bolder lights and shadows of expression«²⁹¹), wurde der Einwand im Quarterly Musical Magazine and Review noch einmal ausführlicher besprochen : »It would not be fair to expect at such an age all the accomplishment of taste, judgment, and feeling, in their maturity, but the approximation to excellence was very close indeed in all these qualities. The deficiency was chiefly to be discerned in the want of the strong lights and shades that constitute the last perfections of conception and execution.«²⁹² Ebd., S. . »Die Werke Viottis gehören zu jenen, deren wahrer Ausdruck nicht umhin kann zu rühren. Die Instrumentalmusik basiert auf der Vokalmusik ; die menschliche Stimme ist das Modell, dem sich alle anderen Systeme unterstellen müssen : sie ist für die Musik diese Natur, die die anderen Künste als ihr Vorbild verwenden, die allein den Geschmack daran hindern kann, in die Irre zu gehen, und das Genie, Missgestalten zu gebären. Dies war die Leitlinie, der Viotti unaufhörlich folgte. Es genügt, seinen Namen auszusprechen, um alles in Erinnerung zu rufen, was die Melodie an besonders geeigneten Möglichkeiten bietet, um das Herz zu berühren und die Seele zu erheben. Er hat sich die Maxime Tartinis, Per ben suonare, bisogna ben cantare (Um gut zu spielen, muss man gut singen), zu eigen gemacht und niemand verstand sie besser in die Tat umzusetzen. Die Musik war für Viotti nur der Ausdruck des Gefühls.« (Übers. d. Verf.). [Anon.], »Report of Music. No. XVII.«, in : The London Magazine /Nr. (Juli ), S. . [Anon.], »Sketch of the State of Music in London. June, «, in : The Quarterly Musical
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Vergleichsweise nüchtern im Ton kam die Rezension auch ganz ohne die sonst so üblichen enthusiastischen Zukunftsprognosen aus. Verhalten war auch das Urteil eines deutschen Korrespondenten der Allgemeinen musikalischen Zeitung aus Amsterdam : »Seine Bogenführung ist schon recht gut, u. sein Anstand ist zu rühmen ; doch sollte er noch nicht reisen.«²⁹³ Eindeutig nationalistisch gefärbte Vorbehalte wiederum klangen Larsonneur aus der Zeitung für die elegante Welt entgegen : »Unter den Vergnügungen, welche der Winter mit sich brachte, nahmen die Konzerte auswärtiger und einheimischer Künstler einen ausgezeichneten Rang ein. Mit Vergnügen gedenken wir der Leistungen des jungen Geigers Larsonneur aus Paris. Er zeigte in den vorgetragenen Solostücken eine höchst ausgebildete Mechanik. Vielleicht wird durch den Aufenthalt unter deutschen Musikern, und bei dem Eintritt in das reifere Alter, auch die Saite des Gemüths wohlthätig in Anregung gebracht.«²⁹⁴
Es hätte damals kaum jemand geleugnet, dass der gute Geschmack bei verschiedenen Menschen unterschiedlich ausgeprägt war oder dass er manchmal erst einer entsprechenden Entwicklung bedurfte. Es ist allerdings auffällig, dass sich jene kritischen Kommentare zu Larsonneur ausschließlich bei Konzerten im Ausland finden lassen und dass man sich in Frankreich wiederum so einig über sein überragendes Talent zu sein schien. Tatsächlich stand damals die Frage der Musikalität von Nationen im Zentrum vieler Debatten und gewann leicht den Vorrang vor der Erörterung individueller Fähigkeiten. So allgemeinmenschlich sie auch erscheinen mochte, war die Universalsprache Musik doch etwas, was als Errungenschaft immer wieder auch einzelnen Ländern oder ihren ›Völkern‹ auf die Fahne geschrieben wurde. Es ist schwerlich zu übersehen, mit welcher patriotischen Überheblichkeit sich einzelne Vertreter der französischen Violinschule gebärdeten und dass diese sogenannte Schule in der ersten Hälfte des . Jahrhunderts mit der politischen Propaganda des Konservatoriums oder auch durch Musikschriftsteller, die für die Presse tätig waren, noch zusätzlich Magazine and Review /Nr. (Juli ), S. . Etwas abgeschwächt auch zu finden bei [Anon.], »Novellistik. London, im Monath July. (Fortsetzung)«, in : Allgemeine musikalische Zeitung, mit besonderer Rücksicht auf den österreichischen Kaiserstaat /Nr. (. September ), Sp. . [Anon.], »Nachrichten. Amsterdam, im April«, in : Allgemeine musikalische Zeitung /Nr. (. Mai ), Sp. . F. W. L., »Korrespondenz und Notizen. Aus Frankfurt am Main, im März«, in : Zeitung für die elegante Welt /Nr. (. April ), Sp. –.
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mit Nationalismen beladen wurde. Auf den Versuch, sie in die Tradition eines italienischen Vorbilds einer vergangenen Epoche zu stellen und damit ihre Vorrangstellung über andere nationale Schulen der Gegenwart zu behaupten, wurde bereits hingewiesen, ebenso auf die Schlüsselstellung, die dabei der Figur Viotti zukam. Dabei wäre diese Vereinnahmung nie problematisch gewesen, hätte sie nicht von vornherein einen Ausschluss impliziert, will heißen : andere mögliche Nachfolger verschwiegen oder geleugnet. Die wohl größte Gefahr, die den Franzosen im ersten Drittel des . Jahrhunderts den Rang hätte ablaufen können, ging dabei vor Paganini zunächst von Louis Spohr aus. Spohr orientierte sich, wie andere Violinisten in ganz Europa, ebenfalls an Viotti und es lag ihm augenscheinlich auch gegen Ende seines Lebens noch daran, darauf hinzuweisen, dass dieser »von jeher mein Vorbild«²⁹⁵ gewesen sei, wie in der posthum erschienenen Autobiographie zu lesen war. In Frankreich wiederum erfuhr der deutsche Geiger Spohr zwiespältige Reaktionen. So war im Courrier des spectacles am . Januar , also zwei Tage nach seinem ersten und letzten Pariser Benefizkonzert in der Opéra, zu lesen : »Il a deux qualités rares et précieuses, la pureté et la justesse. S’il reste quelque temps à Paris, il pourra perfectionner son goût, et retourner ensuite former celui des bons Allemands.«²⁹⁶
Die Zeitung für die elegante Welt drehte den Spieß später einfach um. Unter einem der »deutschen Musiker«, die Larsonneur von dem Modeblatt als Vorbild empfohlen wurden, sollten sich Leserinnen und Leser vielleicht tatsächlich Spohr vorstellen. Immerhin gehörte es auch zu dessen eigenem künstlerischen Selbstverständnis, sich gegenüber dem sogenannten ›Französischen‹ abzugrenzen, das mit technischer Brillanz und Gefühlskälte gleichgesetzt wurde, ein Vorurteil, das dann auch in seinem Schülerkreis die Runde machte.²⁹⁷ Diese Louis Spohr, Selbstbiographie, Bd. , Kassel u. a. , S. . Vgl. Warwick Lister, Amico, S. . Zitiert nach Hélène Cao, Louis Spohr ou Le don d’être heureux, Genf , S. . »Er hat zwei seltene und wertvolle Eigenschaften, die Reinheit und die Genauigkeit. Wenn er einige Zeit in Paris bleibt, wird er seinen Geschmack vervollkommnen können und danach zurückkehren, um den der guten Deutschen auszubilden.« (Übers. d. Verf.). Vgl. Karl T. Goldbach, »German and French Violin School in th Century Germany«, in : Nikos Maliaras (Hg.), The National Element in Music, Conference Proceedings, Athens, – January , Athen , S. –. Diesem ›französischen‹ Stil wurden hier zum Teil auch Violinisten wie Paganini, Josef Mayseder oder Heinrich Wilhelm Ernst zugeordnet. Siehe ebd.
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imaginäre Frontstellung zwischen deutschem und französischem Wesen war etwa in den »Briefen aus Paris« allenthalben spürbar, die Spohr für die Allgemeine musikalische Zeitung ungefähr zu jener Zeit verfasst hat, als sich Larsonneur auf dem Höhepunkt seines Ruhms befand. Obwohl Spohr unumwunden zugab, dass ihn auch französische Komponisten und Violinisten beeinflusst hätten und er sich immerhin selbst als Louis und nicht, seinem Taufnamen entsprechend, als Ludwig ausgab, sprach er hier von sich doch in erster Linie als »einem Deutschen«²⁹⁸. Die »Briefe« waren also nicht bloß harmlose Korrespondenzberichte über das Pariser Musikleben, sondern stellten die Auseinandersetzung eines Exilanten mit einer als fremd empfundenen Nation dar und bargen zugleich den problematischen Versuch, nicht allein im Violinspiel, sondern vor allem auch auf den Gebieten der Oper und der Sinfonie eine genuin ›deutsche‹ musikalische Identität greifbar zu machen. Dabei hieß es sich nicht nur gegen Frankreich, sondern insbesondere auch gegen »das süße musikalische Gift, was uns so reichlich jenseits der Alpen zufliesst«²⁹⁹ abzugrenzen, wie Spohr Italiens Stellung (vielleicht mit einer Anspielung auf die entsprechende Legende über Mozarts unnatürlichen Tod) charakterisierte. Eine zentrale und sehr grundsätzliche Anschuldigung, die Spohr gegen französische Musiker vorbrachte, war auch hier deren angebliche Oberflächlichkeit und ein Mangel an Gefühl : »Es ist aber auffallend, wie alles hier, jung und alt, nur darnach strebt, durch mechanische Fertigkeit zu glänzen, und Leute, in denen vielleicht der Keim zu etwas Besserm liegt, ganze Jahre, mit Aufbieten aller ihrer Kräfte dazu verwenden, ein einziges Musikstück, was als solches oft nicht den mindesten Werth hat, einzuüben, um dann öffentlich damit auftreten zu können. Dass bey solchem Verfahren der Geist getödtet werden müsse, und aus solchen Leuten nicht viel Besseres werden könne, als musikalische Automaten, ist leicht begreiflich.«³⁰⁰
Sein vernichtendes Urteil konkretisierte Spohr noch einmal in einem der späteren »Briefe«. Über die vier Violinisten Baillot, Habeneck, Kreutzer und Lafont, die er allesamt kürzlich gehört hätte, berichtete er :
Louis Spohr, »Briefe aus Paris von Louis Spohr. Zweiter Brief«, in : Allgemeine musikalische Zeitung /Nr. (. März ), Sp. . Louis Spohr, »Briefe aus Paris von Louis Spohr. Erster Brief«, in : Allgemeine musikalische Zeitung /Nr. (. Februar ), Sp. . Louis Spohr, »Briefe aus Paris von Louis Spohr. Zweiter Brief«, Sp. .
| Le jeune Larsonneur und die Stimme der Natur »Fragst Du mich nun, welcher von diesen vier Geigern mir am besten gefallen habe, so nenne ich Dir, wenn von blosser Execution die Rede ist, unbedenklich Lafont. Er vereinigt in seinem Spiel schönen Ton, höchste Reinheit, Kraft und Grazie, und würde ein ganz vollkommener Geiger seyn, wenn er mit diesen vorzüglichen Eigenschaften auch noch ein tiefes Gefühl verbände, und sich das, der französischen Schule eigene Herausheben der letzten Note einer Phrase nicht so sehr angewöhnt hätte. Gefühl aber, ohne welche man weder ein gutes Adagio erfinden, noch es gut vortragen kann, scheint ihm, wie fast allen Franzosen zu fehlen ; denn obgleich er seine langsamen Sätze mit vielen eleganten und niedlichen Verzierungen auszustatten weiss, so bleibt und lässt er doch dabey ziemlich kalt. Das Adagio scheint überhaupt, sowohl vom Künstler wie vom Publikum, als der unwichtigste Satz eines Concertes betrachtet zu werden, und wird wohl nur beybehalten, weil es die beyden schnellen Sätze gut von einander scheidet, und deren Effect erhöhet. Dieser Gleichgültigkeit dafür, so wie überhaupt der Unempfänglichkeit der Franzosen für alles, was das Gefühl anregt, schreibe ich es auch zu, dass mein Adagio und die Weise, wie ich es vortrage, hier weniger Eindruck machte, wie die brillanten Allegro-Sätze.«³⁰¹
Besonders Baillot kam bei dieser Kritik schlecht weg : Seinen Kompositionen sei »etwas erkünsteltes, manierirtes und veraltetes im Styl« zu eigen, »dass sie meistens kalt lassen«, und sein Ausdruck im Spiel schien Spohr ebenso »mehr ein erkünstelter als natürlicher zu seyn«.³⁰² Dabei entbehrte es nicht einer gewissen Ironie, dass Spohr den französischen Geigern genau jene Qualitäten absprach, die im Zentrum von deren Ästhetik standen und ihnen denselben Vorwurf machte, den diese später an Paganini weiterreichen sollten. Spohrs Abgrenzung erklärt sich an dieser Stelle aber keineswegs daraus, dass er grundsätzlich andere Überzeugungen vertreten hätte, sondern wohl vielmehr aus der Tatsache, dass er mit der Art seines Violinspiels und dem Versuch einer eigenen Schulbildung in einem direkten Konkurrenzverhältnis zur französischen Violinschule stand. Seine Violinschule () stimmte in bemerkenswerter Weise, sowohl im ästhetischen Grundsatz als auch in vielen technischen Details, mit der Méthode des Konservatoriums überein. Auch Spohr verlieh der Violine den ersten Rang unter den Instrumenten, »weil sie sich zum Ausdruck des tiefsten Gefühls eignet und hierin, von allen Instrumenten, der menschlichen Stimme Louis Spohr, »Briefe aus Paris von Louis Spohr. Vierter Brief«, in : Allgemeine musikalische Zeitung /Nr. (. März ), Sp. –. Ebd., Sp. .
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am nächsten kommt.«³⁰³ Und gleicher Art war unter anderem die Rolle, die »der gute Geschmack«³⁰⁴ beim richtigen Gebrauch der Ausdrucksmittel in dem Lehrwerk zugewiesen bekam. Die renommierte Leipziger Fachzeitschrift Allgemeine musikalische Zeitung wurde damals zu einem der wichtigsten Sprachrohre deutsch-nationalistischer Musikästhetik. Dabei ist bemerkenswert, dass der genannte Journalist Georg Sievers, der ungefähr zeitgleich zu Spohr ebenfalls aus Paris zu dem Leipziger Organ beigetragen hat und dort wohl spätestens im Winter mit diesem auch persönlich zusammentraf,³⁰⁵ den jungen Violinisten Hippolyte Larsonneur nicht nur von einer derartigen Kritik verschont hat, sondern von diesem ganz im Gegenteil immer nur in den höchsten Tönen sprach. Umso verwunderlicher erscheint diese Tatsache, als dass auch Sievers jenem Kreis aus dem norddeutschen protestantischen Bildungsbürgertum angehörte, für den die Gefühllosigkeit des französischen Wesens in der Musik eine ausgemachte Sache war und der diesem Wesen mit dem Programm einer originär deutschen ›Romantik‹ entgegentrat.³⁰⁶ Dazu bediente man sich häufig derselben Topoi, die schon Rousseau Mitte des . Jahrhundert gegen die französische Oper hervorgebracht hatte.³⁰⁷ Frankreich erschien also wieder einmal als Kontrastfolie einer neuen musikalischen Utopie. Dem positiv besetzten ›Romantischen‹ stand dabei der französische ›Witz‹ (der pejorativ übersetzte esprit) im Sinne des Geistreichen, aber Gefühlstauben gegenüber. Ähnlich wie Spohr attestierte auch Sievers dem Nachbarvolk in einem Aufsatz über Opernkomposition einen »erwiesenen Mangel an poetischer Empfänglichkeit, das heisst an Gemüth«³⁰⁸, oder urteilte an anderer Stelle, nachdem er sich in Paris nun selbst bereits einige Zeit unter den Franzosen aufgehalten hatte, dass »deren witziger Charakter jede eigentliche poetisch-romantische Gemüthsäusserung von sich Louis Spohr, Violinschule. Mit erläuternden Kupfertafeln, Wien[], S. . Ebd., S. . Siehe Georg Ludwig Peter Sievers, »Musikalisches Allerley aus Paris, von den Monaten Oktober, November und December «, in : Allgemeine musikalische Zeitung /Nr. (. Februar ), Sp. . Siehe Christoph E. Hänggi, G.L.P. Sievers (–) und seine Schriften, S. –. Sievers, für den übrigens Mozart der romantischste Musiker gewesen war, distanzierte sich allerdings seit Mitte der er Jahre wieder vom Ideal einer Romantik. Siehe ebd., S. –. Siehe ebd., S. –. Zum nationalistischen Musikdiskurs im deutschen Bildungsbürgertum des . Jahrhunderts, vgl. umfassend Frank Hentschel, Bürgerliche Ideologie und Musik. Politik der Musikgeschichtsschreibung in Deutschland –, Frankfurt a. M. , S. –. Georg Ludwig Peter Sievers, »Charakteristik der italienischen und französischen Musik«, in : Allgemeine musikalische Zeitung /Nr. (. Mai ), Sp. .
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aus ausschließt«³⁰⁹. Wenigstens zeitweise hatte Sievers aber sogar Hoffnung auf einen ›romantischen‹ Wandel des französischen Musiklebens, der sich für ihn um im Genre der Märchenoper innerhalb der Opéra comique ankündigte.³¹⁰ Vielleicht vor diesem Hintergrund, vielleicht auch aufgrund des Alters, das Larsonneur eine Art Schonfrist einzuräumen vermochte, war der Kindervirtuose von Sievers’ nationalistischem Vorurteil ausgenommen. Dass er sich als Rezensent seiner Konzerte dennoch einer Spitze gegen Pierre Rode (ihm sei in seinem Violinkonzert in A-Dur »Manches misslungen«) nicht enthalten konnte, lässt aber vermuten, dass er seine Grundhaltung auch bei der französischen Violinschule nicht beiseitelegte. Über einen Zusammenhang zwischen Frankophobie und einem möglichen Abbruch der Deutschlandreise ließe sich ebenfalls spekulieren. Hippolyte Larsonneur wäre damals zumindest wohl nicht der einzige international reisende Virtuose gewesen, der dahingehend zwischen die Fronten geriet. Dabei sind die imaginären Grenzziehungen und antifranzösischen Nationalgefühle in der Musikkultur um auch im politischen Kontext realer Grenzen zu sehen, hatten sich entsprechende Vor- und Einstellungen doch gerade aus der Erfahrung mit Frankreich als militärischem Feind und Besatzungsmacht während der napoleonischen Herrschaft herausgebildet oder zumindest deutlich verstärkt. In diesem Kontext tritt auch der sarkastische Unterton einer Anekdote über Larsonneur hervor, die in deutschen Zeitungen schon im Spätsommer kursierte : »Frankreich […] setzt der deutschen Gründlichkeit das gallische Genie entgegen.«³¹¹ Die Musik wurde schließlich ein Schlachtfeld, auf dem Intellektuelle ihren ganz eigenen Kampf führten, einen Kampf des Inneren, einen um das nationale Vorrecht auf das wahrhaftige Gefühl. Auch diese vermeintliche Universalsprache also hat nicht nur dazu beigetragen, dass die Menschen zueinander fanden.
. physiognomie der natürlichkeit In der Pädagogik der französischen Violinschule wurden Fragen körperlicher Technik, des sogenannten Mechanismus (mécanisme), von Belangen des Aus Georg Ludwig Peter Sievers, »Musikalische Uebersicht aus Paris, seit dem sten October «, in : Allgemeine musikalische Zeitung /Nr. (. Januar ), Sp. . Siehe Christoph E. Hänggi, G.L.P. Sievers (–) und seine Schriften, S. –. Rheinische Blätter, . Juli (Nr. ), S. . Ähnlich etwa in : Augsburgische Ordinari Postzeitung vom . August (Nr. ), o. S.; Baierische National-Zeitung vom . August (Nr. ), S. .
Physiognomie der Natürlichkeit |
drucks (expression) prinzipiell unterschieden und getrennt behandelt, was dem generellen Schema der Lehrwerke für die verschiedenen Instrumentalklassen des Pariser Konservatoriums entsprach.³¹² Gemessen am Seitenumfang, den man den beiden Themen jeweils widmete, lag der Fokus dabei eindeutig auf der Technik, da Ausdrucksfähigkeit als etwas verstanden wurde, was sich der Didaktik weitgehend entzog. Zwar gab man im zweiten Teil der Méthode de Violon, welcher in Baillots L’art du violon noch einmal nahezu unverändert abgedruckt wurde, auch dahingehend allgemeine Hinweise in Bezug auf Ton, Tempo, Stil oder Takt, letztlich blieb die richtige Anwendung dieser Parameter aber Sache eines inneren Gefühls des ausführenden Musikers.³¹³ Die notwendige »profonde sensibilit髳¹⁴ (tiefe Empfindsamkeit) galt als Qualität des angeborenen Genies, war also nicht vermittelbar. Besonders klar brachte François-Antoine Habeneck das Problem auf den Punkt : »L’expression de l’exécutant est toujours en raison de la profondeur de son sentiment musical, et des moyens d’execution qu’il possède. Le sentiment musical est une qualité innée qui échappe à l’analyse. Les bonnes études peuvent le developper et le fortifier, mais non le donner à celui qui n’en a pas recu [sic] le germe de la nature.«³¹⁵
Eine praktische Konsequenz dieser Auffassung war, dass zunächst die technischen Mittel isoliert von den Anforderungen des richtigen Ausdrucks gemeistert werden sollten, eine Logik, der auch der gesamte Aufbau der Méthode entsprach, welche dem Schüler zunächst seitenlang Tonleitern und andere Übungen vorsetzte, die gezielt einzelne technische Schwierigkeiten aus realen musikalischen Zusammenhängen herauslösten. Diese reduzierten Kompositionen waren bewusst ausdruckslos und auch nicht zum Zuhören gedacht. Jacques-Féreol Mazas zog den naheliegenden Schluss, dass die Aufgabe des Leh Siehe Laetitia Chassain, »Le Conservatoire et la notion d’école française‹«, S. ; Emmanuel Hondré, »Les méthodes officielles du Conservatoire«, S. –. Siehe Pierre Baillot, Pierre Rode und Rodolphe Kreutzer, Méthode de Violon, S. – ; Pierre Baillot, L’art du violon, S. –. Pierre Baillot, Pierre Rode und Rodolphe Kreutzer, Méthode de Violon, S. . François-Antoine Habeneck, Méthode théorique et pratique de violon, S. . »Der Ausdruck des Ausführenden ist immer abhängig von der Tiefe seines musikalischen Gefühls und von den technischen Mitteln, über die er verfügt. / Das musikalische Gefühl ist eine angeborene Qualität, die sich der Analyse entzieht. Die richtigen Übungen können es weiterentwickeln und stärken, aber es keinesfalls demjenigen geben, der hierfür nicht die natürliche Anlage erhalten hat.« (Übers. d. Verf.).
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rers, wenigstens im Anfängerunterricht, in erster Linie aus einer Inspektion der Körperbewegungen bestehen müsse : »Il importe en commençant, de se garantir de principes vicieux : on pense généralement à tort qu’un Maître très ordinaire, suffit pour dégrossir un elève [sic] ; il peut au contraire lui laisser contracter de mauvaise habitudes, fort difficiles à corriger, et plus nuisibles que s’il n’avait encore rien appris. On évitera ce danger en observant rigoureusement les principes qui s’appliquent au mécanisme, partie éssentielle de l’art du Violon […]«³¹⁶.
Die Priorität des sogenannten Mechanismus in der Instrumentalpädagogik der Zeit legitimierte eigentlich erst die regelrechte Flut gedruckter Schulen und Sammelhefte an Etüdenwerk, wie sie im . Jahrhundert nicht nur in Frankreich einsetzte. Die vollständige Souveränität über den Bewegungsapparat, die zumindest theoretisch den Zielpunkt solcher Studien in ihrer typisch progressiven Anlage darstellte, war kein Selbstzweck, sondern sollte letztlich wiederum dem Gefühlsausdruck dienlich sein, ein Zusammenhang, den Louis Spohr – vielleicht mit Absicht – bei seinem an die Franzosen gerichteten Vorwurf der »musikalischen Automaten« übersehen hat. Körperformung wurde in der französischen Violinschule in gewisser Weise besonders umfassend betrieben, denn entsprechende Anweisungen gehen in der Methodik des Konservatoriums deutlich über musikalische Spieltechnik im engeren Sinne hinaus. So wurde vom Musiker letztlich immer die Kontrolle seines gesamten Körpers entlang bestimmter Normen erwartet, wie sich an den Bemerkungen der Méthode zur Haltung (»attitude«) äußerte : »Il ne suffit pas que le Violon et l’archet soient posés comme on vient de l’indiquer, il faut de plus que l’attitude du corps et celle de la tête se trouvent d’accord avec cette pose et tendent à la maintenir. Une attitude noble et aisée favorise le développement de tous les moyens, permet à la grace d’accompagner les mouvemens des doigts et de l’archet, et augmente ainsi le charme de l’exécution. […] On évitera Jacques Féreol Mazas, Méthode de Violon, S. . »Es ist wichtig, sich zu Beginn eines falschen Grundsatzes zu erwehren : Man denkt allgemein zu Unrecht, dass ein sehr gewöhnlicher Lehrer genügt, um einen Schüler vorzubilden ; er kann ihn sich im Gegenteil schlechte Angewohnheiten zuziehen lassen, die sehr schwierig zu beheben sind und schädlicher, als wenn er noch nichts gelernt hätte. Man vermeidet diese Gefahr, indem man streng die Grundsätze einhält, die für den Mechanismus gelten, einen essentiellen Teil der Kunst des Violinspiels […]« (Übers. d. Verf.).
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enfin de mettre dans son attitude ou une recherche affectée qui deviendrait ridicule, ou une négligence qui nuirait à la grace et qui ne pourrait que dégrader le premier des instrumens.«³¹⁷
Die Violinpädagogen waren sich sehr bewusst darüber, dass sich ihre Schüler früher oder später einem Publikum hör- und sichtbar aussetzen würden und welche gesellschaftlichen Ansprüche dieses Publikum an Salons, Versammlungsräume, Operntheater und dergleichen Orte mehr stellte, in denen die musikalischen Auftritte stattfanden. Baillot hat seine Anforderungen an die Körperhaltung in L’art du violon daher noch einmal zu einer regelrechten Verhaltenslehre ausgeweitet.³¹⁸ Doch schon im . Jahrhundert hatten Lehrwerke des Instruments aus gleichen Gründen eine entsprechend kultivierte Präsentation des Körpers empfohlen und von unnötigen Bewegungen oder affektierten Grimassen abgeraten.³¹⁹ Dass die Musiker durch ästhetische ebenso wie durch moralische Erfordernisse zur Achtsamkeit ihrer Körperhaltung gegenüber gezwungen waren, scheint indirekt auch in einem zeitgenössischen Wörterbuch durch. Der entsprechende Eintrag lässt nämlich erkennen, dass die Körperhaltung etwas war, was immer als Entsprechung des inneren Zustands – der Sittlichkeit, der Seele, der Empfindung – gelesen wurde : Pierre Baillot, Pierre Rode und Rodolphe Kreutzer, Méthode de Violon, S. . »Es reicht nicht aus, dass die Violine und der Bogen so ausgerichtet werden wie angegeben, es ist überdies notwendig, dass sich die Haltung des Körpers und die des Kopfes in Übereinstimmung mit dieser Ausrichtung befinden und sie zu untersützen anstreben. Eine edle und einfache Haltung begünstigt die Entwicklung aller Mittel, erlaubt der Anmut, die Bewegungen der Finger und des Bogens zu begleiten, und erhöht so den Reiz des Vortrags. […] Man vermeide schließlich, in seine Haltung etwas affektiert Gesuchtes zu legen, das lächerlich würde, oder eine Nachlässigkeit, die der Anmut schadete und die das oberste der Instrumente nur herabsetzen könnte.« (Übers. d. Verf.) Teilweise fast wortgleich auch bei Jacques Féreol Mazas, Méthode de Violon, S. zu finden und ähnlich bei François-Antoine Habeneck, Méthode théorique et pratique de violon, S. . Siehe Lothaire Mabru, »Donner à voir la musique : les techniques du corps des violonistes«, in : Musurgia /Nr. (), S. –. Siehe Robin Stowell, Violin Technique and Performance Practice in the Late Eighteenth and Early Nineteenth Centuries, S. –. Zur sozialen Implikation der Körperhaltung, wie sie ähnlich auch in der zeitgenössischen Anstandsliteratur und Tanztheorie gefordert wurde, vgl. Marianne Rônez, »Pierre Baillot, ein Geiger an der Schwelle zum . Jahrhundert. Ein Vergleich seiner Violinschulen von und «, in : Claudio Bacciagaluppi, Roman Brotbeck und Anselm Gerhard (Hgg.), Spielpraxis der Saiteninstrumente in der Romantik. Bericht des Symposiums in Bern, .–. November , Schliengen (= Musikforschung der Hochschule der Künste Bern ), S. .
| Le jeune Larsonneur und die Stimme der Natur »attitude. s. f. […] Disposition propre, convenable, disposition générale de toutes les parties du corps ; manière de tenir le corps, relativement aux convenances, à la condition des personnes, à leur caractère, à leurs passions, à l’état actuel de leur ame. […] Attitude, est aussi un terme de beaux-arts. Il se dit en peinture et en sculpture, de la position des figures, relativement à l’état et aux passions dans lesquels on suppose la personne représentée. Il semble convenir plus particulièrement à celles que l’on mises dans une position tranquille. Pour les positions violentes, on dit plutôt action. […] Il se dit aussi de la position du corps d’un danseur, d’un acteur. Attitude élégante. Attitude gracieuse.«³²⁰
Zugleich gab das Lexikon mit dem Hinweis auf die bildende Kunst sowie den anschließenden Anwendungsbeispielen den entscheidenden Wink, welche Haltung (nicht nur am Konservatorium) allgemein erwünscht war : eine edle und anmutige nämlich. Sie konnte als authentischer Spiegel des natürlichen Innersten gelten und wurde hier nicht ohne Grund von der künstlichen und eher situativ angenommenen »posture«³²¹ (Positur) unterschieden, die dem Körper in etwa dasselbe war, wie dem Gesicht die Grimasse. An diversen Reaktionen der Presse lässt sich nachvollziehen, dass Larsonneur nicht nur den Mechanismus des Instruments beherrschte, sondern sich zudem jene Körperhaltung angewöhnt haben muss, wie sie in der Méthode vorgeschrieben und von gesellschaftlichen Anstandsregeln getragen wurde. Bereits in seinem ersten Pariser Benefizkonzert in der Salle de Tivoli d’hiver von wurde die rundherum elegante Art seiner Spielweise (»l’élégance de sa manière«³²²) angemerkt. In einer Rezension des Konzerts in Arnhem war im Jahr darauf zu lesen :
Jean-Charles Laveaux, Noveau dictionnaire de la langue française. Tome premier. A–K, Paris , S. . »h altung. S. w. […] Saubere, angemessene Anordnung, gesamte Anordnung aller Teile des Körpers ; Art und Weise, den Körper zu halten, im Verhältnis zum Anstand, zur Verfassung von Personen, ihrem Charakter, ihren Leidenschaften, dem gegenwärtigen Zustand ihrer Seele. […] Haltung, ist auch ein Begriff der Schönen Künste. Er benennt in der Malerei und Plastik die Stellung der Figuren, im Verhältnis zum Zustand und den Leidenschaften, in denen man die dargestellte Person vermutet. Er scheint ganz besonders auf jene zu passen, die man in eine ruhige Stellung versetzt hat. Zu heftigen Stellungen sagt man eher Aktion. […] Er benennt auch die Stellung des Körpers eines Tänzers, eines Schauspielers. Edle Haltung. Anmutige Haltung.« (Übers. d. Verf.). Ebd. Le moniteur universel vom . August (Nr. ), S. .
Physiognomie der Natürlichkeit |
»[…] een aanvallig achtjarig kind, van een zacht voorkomen met eenen levendigen opslag van het oog, dat het gevoel voor de kunst, waarvoor de natuur hem geheel en al bestemd heeft, uitdrukt. Hij voert de stukken uit zonder eenige gemaaktheid, en zelfs met eene soort van bescheidene nederigheid die hem des te aanvalliger en beminnelijker maakt, en het kenmerk van bijzondere talenten is.«³²³
In Den Haag wiederum ist Larsonneur wenig später von einer Zeitung als »bevallig en door de natuur zoo mildelijk met muzijkale talenten bedeeld kind«³²⁴ (anmutiges und durch die Natur so reich mit musikalischen Talenten gesegnetes Kind) wahrgenommen worden, eine andere lobte den Vortrag der ausgewählten Stücke, »qu’il a exécuté avec autant de grace que de précision«³²⁵ (die er mit ebenso viel Anmut wie Genauigkeit ausgeführt hat). Diese Form der Körperführung rühmte man schließlich auch in Lyon : »C’est comme en se jouant qu’il a rendu avec une fermeté, un aplomb et sur-tout une grâce impossible à décrire, les difficultés effrayantes du e. Concerto de Rode.«³²⁶ Gleiches passierte in Orléans, wo eine Zeitung »de la grâce et de l’assurance de l’exécution«³²⁷ (von der Anmut und Sicherheit der Ausführung) sprach. In Straßburg wie auch Amsterdam nahmen die Korrespondenten der Allgemeinen musikalischen Zeitung den »Anstand«³²⁸ Larsonneurs im Violinspiel gebührend zur Kenntnis. Und auch Georg Sievers berichtete für diese Zeitschrift von einer Arnhemsche Courant vom . Februar (Nr. ), o. S. »[…] ein anmutiges achtjähriges Kind, von sanfter Erscheinung und mit einem lebhaften Augenschlag, das das Gefühl für die Kunst, zu dem die Natur es ganz und gar bestimmt hat, ausdrückt. Er führt die Stücke ohne irgendeine Affektiertheit aus, und sogar mit einer Art von bescheidener Demut, die ihn umso anmutiger und liebenswürdiger macht und das Merkmal besonderer Talente ist.« (Übers. d. Verf.). Nederlandsche Staatscourant vom . Februar (Nr. ), o. S. Erneut abgedruckt in Arnhemsche Courant vom . Februar (Nr. ), o. S. s’ Gravenhaagsche Courant vom . Februar (Nr. ), o. S. Journal de Lyon et du département du Rhône vom . September (Nr. ), S. . »Wie spielend hat er mit einer Bestimmtheit, einer Sicherheit und vor allem einer unbeschreiblichen Anmut die unheimlichen Schwierigkeiten des . Konzertes von Rode wiedergegeben.« (Übers. d. Verf.). Journal général du département du Loiret vom . Dezember (Nr. ), S. . [Anon.], »Nachrichten. Strassburg«, in : Allgemeine musikalische Zeitung /Nr. (. Juni ), Sp. ; [Anon.], »Nachrichten. Amsterdam, im April«, in : Allgemeine musikalische Zeitung /Nr. (. Mai ), Sp. . Vielleicht handelte es sich bei letzterem Autor um Johann Wilhelm Wilms, der für die AmZ und , möglicherweise auch noch in späteren Jahren, anonym aus Amsterdam berichtete. Vgl. Ernst A. Klusen, Johann Wilhelm Wilms und das Amsterdamer Musikleben (–), Buren , S. .
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Form des Musizierens, die den ganzen Körper einbezog. Dabei beschrieb er eine regelrechte Verwandlung des Knaben, als er sich den Auftritt seines Pariser Konzertdebüts vergegenwärtigte : »Uebrigens habe ich schon neulich gesagt, dass dieser Knabe eine Kindlichkeit besitzt, welche oft in Kindischkeit ausartet. Aber, von dem Augenblicke an, wo er mit der Geige in der Hand vor dem Pulte steht, verbreitet sich, wie durch plötzliche Eingebung, ein Ernst, eine Würde, eine gewissermassen majestätische Haltung über sein ganzes Wesen, dass man eine ganz andere Person in ihm wahrzunehmen glaubt. So viel von diesem jungen Virtuosen, der in jeder Hinsicht zu den merkwürdigsten Erscheinungen seiner Art gehört.«³²⁹
Eine ähnliche Erfahrung machte nach eigenen Angaben später ein Rezensent des London Magazine in den Argyll Rooms : »His person is very handsome ; but, from the manner of curling his hair, and his general dress (which closely resembles that in miniatures of the young Napoleon), his air and appearance are feminine. This, however, totally disappears when he begins to play. His attitude is commanding ; and the motion of his bowarm superior to that of any player we ever saw.«³³⁰
Im Quarterly Musical Magazine and Review sprach man Larsonneur nach seinem Benefizkonzert der englischen Metropole in ähnlichem Wortlaut »a general dignity and command in his attitude and performance very uncommon«³³¹ zu.
Georg Ludwig Peter Sievers, »Musikalisches Allerley aus Paris, vom Monate August, «, Sp. . [Anon.], »Report of Music. No. XVII.«, in : The London Magazine /Nr. (Juli ), S. . Der Bericht erschien in deutscher Übersetzung in der Rubrik »Novellistik« auch in der Wiener Allgemeinen musikalischen Zeitung. Zum Absatz zu Larsonneur siehe : Allgemeine musikalische Zeitung, mit besonderer Rücksicht auf den österreichischen Kaiserstaat /Nr. (. September ), Sp. . Der Hinweis auf Larsonneurs Kleidung bezog sich auch auf seinen Skeleton (siehe Abb. ), der in England – in Sachen Mode damals tonangebend – für Knaben wohl bereits nicht mehr aktuell war. Vgl. Ingeborg Weber-Kellermann, Der Kinder neue Kleider. Zweihundert Jahre deutsche Kindermoden in ihrer sozialen Zeichensetzung, Unter Mitarbeit von Dagmar Eicke-Jennemann und Regine Falkenberg, Frankfurt a. M. (= suhrkamp taschenbuch ), S. , . [Anon.], »Sketch of the State of Music in London. June, «, S. .
Physiognomie der Natürlichkeit |
In der heroisch oder militärisch konnotierten Macht- und Herrschaftsmetaphorik, die im Virtuosentum der ersten Hälfte des . Jahrhunderts überhaupt allgegenwärtig war, drückt sich auch der Aspekt der Körperbeherrschung aus.³³² Dabei ging es der französischen Violinschule um eine totale Ermächtigung des Musikers über seinen Körper, was sich daran erkennen lässt, dass der Mechanismus durch Vorschriften zur Haltung ergänzt, sprich an der Tonerzeugung beteiligte und unbeteiligte Körperteile gleichermaßen einbezogen wurden. Die hinter dieser Leibeserziehung liegende Vorstellung entsprach einer gängigen rationalistischen Logik : ein antagonistisches Verhältnis zwischen körperlicher Natur und der Seele, wobei sich das geistige Subjekt seines Leibes instrumentell bemächtigte. Pädagogen war es aber wahrscheinlich immer schon klar gewesen, dass sich der Körper nicht von sich aus zu der perfekten descart’schen »Gliedermaschine«³³³ fügte, als die er seit der Aufklärung theoretisch entworfen wurde.³³⁴ Nicht umsonst ist er in der gleichen Epoche regelmäßig auch als animalischer Anteil des Menschen beschrieben worden, der erst durch eine vernünftige Erziehung diszipliniert und damit der Seele untertan gemacht werden müsse.³³⁵ In jedem Fall aber wurde er eher als Objekt gehandelt. Baillot empfahl dem Schüler, um alle körperliche Eigensinnigkeit endgültig zu tilgen, bezeichnenderweise den Blick in einen Spiegel »[…] pour voir si l’attitude est belle et gracieuse, et pour observer s’il n’y a point dans la figure ou dans les membres quelques contractions, signes infaillibles de raideur.«³³⁶ Schon in der Zur Rolle des Virtuosen als Herrscher, die er in Sologattungen wie dem Instrumentalkonzert einnehme, siehe etwa Pierre Baillot, Pierre Rode und Rodolphe Kreutzer, Méthode de Violon, S. . Vgl. auch Maiko Kawabata, »Virtuoso Codes of Violin Performance : Power, Military Heroism, and Gender (–)«, in : th-Century Music /Nr. (), S. – ; Dana Gooley, The Virtuoso Liszt, Cambridge u. a. (New perspectives in music history and criticism), S. –. René Descartes, Meditationen über die Grundlagen der Philosophie, mit sämtlichen Einwänden und Erwiderungen, übersetzt von Artur Buchenau, unveränderter Nachdruck der ersten Auflage von , mit neuer Vorbemerkung, Hamburg (= Philosophische Bibliothek ), S. . Zur Konjunktur des mechanistischen Körperverständnisses seit dem . Jahrhundert, siehe etwa Alex Sutter, Göttliche Maschinen. Die Automaten für Lebendiges bei Descartes, Leibniz, La Mettrie und Kant, Frankfurt a. M. . In Bezug auf den pädagogischen Diskurs des Philantropismus seit der zweiten Hälfte des . Jahrhunderts, siehe Eugen König, Körper – Wissen – Macht. Studien zur historischen Anthropologie des Körpers, Berlin (= Reihe Historische Anthropologie ), S. –, –. Pierre Baillot, L’art du violon, S. »[…] damit man sehen kann, ob die Stellung schön und graziös sey und ob in der Gestalt und in den Gliedern keine Zusammenziehungen, als unfehlbare Beweise hemmender Steifheit sind.« (Übers. ebd.).
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Méthode fanden sich für die gesonderten Gliedmaßen genaueste Anweisungen zu räumlicher Position und Bewegungsverlauf, in denen sich die rationale Analyse des Körpers, wie man sie am Konservatorium vornahm, exemplarisch erkennen lässt. Die in Baillots L’art de violon schließlich beigefügten und dem Schüler als Muster dienenden Bilddrucke entwarfen den Leib ebenfalls, nicht anders als das Instrument, als ein funktionales Ding (Abbildung ). Die stilisierten und an Linien ausgerichteten Schemata stellen keine individuellen Körper, geschweige denn konkrete Personen dar. Es übertrug sich hier der Gedanke des Mechanismus im eigentlichen Sinne vollständig auf die Darstellungsweise. Ersichtlich wird das auch an einzeln segmentierten Körperteilen, dessen richtige Haltung und Bewegung der Schüler anhand entsprechender Abbildungen zunächst visuell analysieren und sich daraufhin selbst aneignen sollte. Es wäre weit gefehlt, diesen Rationalismus als Gegensatz zur vermeintlichen Natürlichkeit der anmutigen Haltung zu begreifen, denn diese hatte nichts gemeinsam mit der ungebändigten Natur des Menschen, mit jenem Tier, das in ihm hauste. So bezogen die Drucke die richtige Haltung – gänzlich aufgerichtet, mit leicht vorgewölbter Brust und dem Ansatz eines klassischen Kontrapost in der Differenzierung von Stand- und Spielbein – gleich mit ein. Das aristokratische Körperideal, das die Werte von Vornehmheit (noblesse) und Anmut (grâce) letztlich geprägt hatte, und seit dem ausgehenden . Jahrhundert beispielsweise im höfisch-absolutistischen Tanz zum Ausdruck kam, verband sich gleichfalls bereits mit einer strengen Geometrisierung und Zergliederung sowie detaillierten Vorschriften der einzelnen Bewegungsabläufe, was auch der Repräsentation des königlichen Machtzentrums und einer von ihm ausgehenden Unterwerfung beziehungsweise Beherrschung der Natur diente.³³⁷ Weit abseits von Hochadel und höfischer Repräsentation, sondern vielmehr an einigen Randbezirken der Gesellschaft, hat der Philosoph und Historiker Michel Foucault dem Rationalismus der frühen Neuzeit und seiner praktischen Folge, nämlich »fügsame und gelehrige Körper«³³⁸ zu erzeugen, nachgespürt. Hier, das heißt in militärischen Regimentern, in Klöstern, Spitälern, Manufakturen, Gefängnissen und nicht zuletzt auch in pädagogischen Einrichtungen wie Schulen und Kollegs, setzte sich nach Foucault eine völlige Kör Siehe Rudolf Braun und David Gugerli, Macht des Tanzes – Tanz der Mächtigen. Hoffeste und Herrschaftszeremoniell, –, München , S. – ; Rudolf zur Lippe, Naturbeherrschung am Menschen II. Geometrisierung des Menschen und Repräsentation des Privaten im französischen Absolutismus, . Aufl., Frankfurt a. M. , S. –. Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Aus dem Französischen übersetzt von Walter Seitter, Frankfurt a. M. (= suhrkamp taschenbuch ), S..
Physiognomie der Natürlichkeit |
Abb. 9 : Pierre Baillot, L’art du violon. Nouvelle Méthode, Paris : Dépôt central de la musique [1834], o. S. (Tafel 1, Ausschnitt).
perdisziplinierung schon früh durch.³³⁹ Im Sinne Foucaults stellte das Pariser Konservatorium ebenfalls eine disziplinarische Anstalt dar, da auch diese Institution eine möglichst umfassende und gleichzeitig minutiöse Überwachung und Kontrolle ihrer Schülerschaft anstrebte sowie einheitliche Richtlinien ihrer Formung entwarf, die sich letztlich bis zur Perfektionierung einzelner Körperglieder erstreckte.³⁴⁰ Dabei darf nicht übersehen werden, dass der Gegenstand der Méthode und ähnlicher Lehrwerke nicht der musizierende Körper des Virtuosen schlechthin war, sondern der Körper eines Knaben. Ihre Entwürfe waren von vornherein untrennbar an den transitorischen Status des Schülers und das Alter der Kindheit gebunden. Wie dem Fragment einer von Viotti geplanten, allerdings nie fertiggestellten, Violinschule zu entnehmen ist, sah dieser das siebte Lebensjahr als geeignet an, mit der Instrumentalausbildung zu beginnen, und begründete dies damit, dass ein Kind dann einerseits bereits über ein ausreichendes geistiges Vermögen verfüge, andererseits aber noch eine Siehe ebd., S. –. Siehe Maud Pouradier, »La musique disciplinée. Le contrôle de la musique dans les conservatoires français du XIXe siècle«, in : Musurgia /Nr. (), S. –.
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gewisse muskuläre Geschmeidigkeit vorhanden sei.³⁴¹ Es kam in der Instrumentalpädagogik also darauf an, diesen optimalen Zeitpunkt der Formbarkeit abzupassen. Am Konservatorium wurden neue Aspiranten üblicherweise wohl zwischen ihrem achten und dreizehnten Lebensjahr aufgenommen (ältere nur bei entsprechenden Vorkenntnissen).³⁴² In der pädagogischen Methodik der französischen Violinschule wurde alles daran gesetzt, den Körper des Knaben zu einem reinen Gefühlsmedium zu erziehen. In gewissem Sinne war das Ziel letztlich also eine Überschreitung des Körperlichen.³⁴³ Dafür bezeichnend sprach Pierre Baillot etwa davon, dass die Violine unter den Händen des wahren Virtuosen nicht bloß ein Werkzeug sei, sondern zur klingenden Seele werde (»n’est plus un instrument, c’est une âme sonore«³⁴⁴). Es war das erklärte Ziel der Méthode, dass der musizierende Körper dem Publikum nur mehr den Gefühlsausdruck übermitteln, seinen Mechanismus aber gleichsam unsichtbar werden lassen sollte. So war darin direkt nach den Anmerkungen zur Erarbeitung des klassischen Kanons zu lesen : »Le Violon prend alors un caractère, tout ce tient au mécanisme disparait, et le sentiment règne à sa place : c’est ici qu’il doit l’emporter sur l’art, se montrer seul et faire oublier les moyens dont il se sert pour émouvoir.«³⁴⁵
Ein guter Musiker würde auch selbst seinen Körper im Spiel vergessen können, sobald er ihn einmal völlig im Griff hätte, wie es an anderer Stelle des Lehrwerks hieß : »Avant d’en venir à l’expression, il faut qu’ils [= les élèves] se livrent entièrement à l’étude du mécanisme pour se le rendre tellement familier qu’ils n’ayent plus à y
Siehe Warwick Lister, Amico, S. . Das handschriftliche Fragment wurde als Faksimile von Habeneck abgedruckt, siehe François-Antoine Habeneck, Méthode théorique et pratique de violon, S. –, –. Siehe Constant Pierre, Le Conservatoire national de musique et de declamation, S. . Vgl. Lothaire Mabru, »Donner à voir la musique«, S. –. Pierre Baillot, L’art du violon, S. . Pierre Baillot, Pierre Rode und Rodolphe Kreutzer, Méthode de Violon, S. . »Die Violine nimmt dann einen Charakter an, alles was mit dem Mechanismus zusammenhängt verschwindet, und das Gefühl herrscht stattdessen : Jetzt muss er den Sieg über die Kunst davontragen, allein sich selbst zeigen und die Mittel vergessen lassen, derer er sich bedient, um zu rühren.« (Übers. d. Verf.).
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revenir, plus à y penser par la suite : […] Ces difficultés une fois vaincues, le talent prend son essor ; il ne connait plus d’entraves, et devient tout ce qu’il peut être.«³⁴⁶
Angeblich aufgrund der Beeinträchtigung des Mechanismus, vermutlich aber auch wegen der Gefahr einer Ablenkung vom Wesentlichen, wurden in Baillots L’art du violon scheinbar überflüssige Regungen, etwa den Fuß oder das Instrument im Takt mitzubewegen, untersagt.³⁴⁷ Dies wurde auch an anderer Stelle bestätigt, nämlich im Abschnitt »Du naturel dans l’art« (Über das Natürliche in der Kunst). Hier wird noch einmal deutlich, dass es der in seiner Funktionalität aufgehende Körper war, der die emphatische Auszeichnung von Natürlichkeit verdiente, weil er nichts mehr tat, außer den freien Fluss des Gefühls zu ermöglichen : »Il résulte […] que, sous le rapport du mécanisme, le naturel consiste à ne faire que les mouvemens qui sont nécessaires ; Et que sous le rapport intellectuel le naturel est un se laisser aller au sentiment qui doit nous dominer, […]«³⁴⁸
Die Beherrschung des Körpers wurde also als unabdingbare Voraussetzung dafür angesehen, dass der universale Gefühlsausdruck, ergründet durch die eigene Stimme der Natur, von innen nach außen dringen konnte. Mit anderen Worten : Das reine Medium war das notwendige Gegenstück der Unmittelbarkeit. Dass genau dieser Ideenkomplex bereits bei Rousseau im Zentrum stand, hat unter dem Stichwort der »Transparenz«³⁴⁹ der Literaturwissenschaftler und Historiker Jean Starobinski in seinem Buch Rousseau. Eine Welt von Widerständen () umfassend dargestellt. Das Ideal einer unmittelbaren Kommunikation über das natürliche Innere jenseits aller Verschleierung und Maskierung, letztlich auch jenseits von Körperlichkeit überhaupt, erstreckt sich bei
Ebd., S. –. »Bevor sie zum Ausdruck kommen, müssen sie [= die Schüler] sich vollkommen dem Studium des Mechanismus widmen, um sich mit ihm derart vertraut zu machen, dass sie später nicht mehr zu ihm zurückzukommen oder an ihn zu denken haben : […] Diese Schwierigkeiten einmal überwunden, nimmt das Talent seinen Aufschwung ; es kennt keine Hindernisse mehr und wird alles, was ihm möglich ist.« (Übers. d. Verf.). Siehe Pierre Baillot, L’art du violon, S. –. Ebd., S. . »Daraus folgt hinsichtlich des Mechanismus, dass das Natürliche darin besteht, dass man nur Bewegungen macht die nöthig sind. Hinsichtlich des Intellektuellen aber ist die Natürlichkeit nichts anders, als der freie Gang der Empfindung […]« (Übers. ebd.). Jean Starobinski, Rousseau. Eine Welt von Widerständen, Aus dem Französischen von Ulrich Raulff, Ungekürzte Neuausgabe, Frankfurt a. M. , S. und passim.
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Rousseau von der Sozialkritik und Moral über die Pädagogik bis hin zu seinen Vorstellungen über die Musik : »Denn die Melodie besitzt eine Macht, zu Herzen zu gehen : das ist der Grundsatz von Rousseaus Musiktheorie, womit er seine Vorliebe für die Melodie und sein Mißtrauen gegen die Harmonie rechtfertigt. Er verabscheut eine Musik, die nur dazu da ist, den Ausführenden brillieren zu lassen, lehnt eine Musik ab, die sich nur an die Sinnenlust wendet. Warum ? Rousseau bekennt hier einen sentimentalen Idealismus ; die Persönlichkeit des Interpreten und der rein sinnliche Genuß sind ihm nichts als Hindernisse, die zwischen das musikalisch ›Wesentliche‹ und die Seele des Hörers treten. Freilich bedarf es einer Stimme, die singt, und eines Ohrs, das zuhört, doch Sänger und Ohr dürfen als Vermittler nicht wahrnehmbar sein. Die Theorie Rousseaus setzt voraus, daß ihre Gegenwart sich verflüchtigen, sich augenblicklich auslöschen, einen reinen Überträger bilden kann. Die Magie der Melodie besteht darin, die Sinnesempfindung aufzuheben, um reines Gefühl zu werden […]«³⁵⁰.
Ein tatsächlich unsichtbarer Körper war realistischerweise nicht zu haben, eine Problematik, auf die der Theaterwissenschaftler Günther Heeg auch in Bezug auf das zeitgenössische Theater vor dem Hintergrund der Empfindsamkeit in der zweiten Hälfte des . Jahrhunderts in ähnlicher Form gestoßen ist. Dem hier entworfenen »Phantasma der natürlichen Gestalt«³⁵¹ war das Konzept einer Körperlichkeit inhärent, so Heeg, die nicht zeichenhaft berechnend auf etwas verweist (also repräsentiert), sondern sich stets unmittelbar und authentisch ausdrückt. Versuche der Umsetzung führten absurderweise aber eher zu einer Art »Erotik der Unschuld«³⁵², also einer gesteigerten Aufmerksamkeit auf diesen Körper, der eigentlich transparent zu bleiben hatte. Was reine Innerlichkeit sein sollte, kehrte augenblicklich ihre Äußerlichkeit in den Vordergrund. Genau genommen haben solche Vorstellungen das Interesse am Körper nicht nur befördert, sondern paradoxerweise zugleich legitimiert, da die leibliche Oberfläche, verstanden als direkter Ausdruck des Inneren, dadurch in einer Weise physiognomisch lesbar wurde, dass man sie kaum mehr ignorieren konnte.
Ebd., S. –. Günther Heeg, Das Phantasma der natürlichen Gestalt. Körper, Sprache und Bild im Theater des . Jahrhunderts, Frankfurt a. M. u. a. (= nexus ). Zu der Idee allgemein, siehe insbesondere ebd., S. –. Ebd., S. . (Bei Heeg nächst in einfachen Anführungszeichen gesetzt.)
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Auch in Bezug auf die Sichtbarkeit des musizierenden Körpers lassen sich Idealvorstellungen aus der beziehungsweise über die französische Violinschule am besten illustrieren, wenn man das öffentliche Bild Paganinis kontrastierend dagegenhält. Eine Rezension über das Konzert von Charles-Auguste de Bériot und Maria Malibran in Douai aus dem Indicateur du Nord vom . Oktober , die in der Revue musicale erneut abgedruckt worden ist, vermag dies mit ihrem einleitenden Vergleich zwischen Paganini und Baillot beispielhaft zu demonstrieren : »L’extérieur, les goûts, les manières de l’artiste portent l’empreinte du cachet de son talent, sa physionomie est le résumé des émotions de son ame, et l’observateur exercé a souvent, à la seule inspection de plusieurs artistes du même genre, assigné à chacun son mérite particulier. Qui ne devinerait à la mise négligée de Paganini, à son attitude disloquée, à son regard d’aigle, à son teint livide, à son air profondément absorbé que, pour lui, le corps n’est rien, que ses membres sont les souples esclaves de sa volonté, qu’un génie diabolique l’anime, qu’un feu trop vif le dévore, qu’il cherche ailleurs que sur terre ces inspirations surnaturelles qui semblent nous broyer le cœur par mille sensations inconnues ; ce jeu sylphique qui [t]out à coup nous trouble l’esprit par un jet subit de son aériens. Un visage réfléchi, pensif, fort d’expression, des habitudes austères, annoncent [sic ?] dans Baillot cet artiste distingué, ami du simple, du vrai, du beau, du grand ; ce n’est pas comme Paganini un talent de fantasmagorie, de rêveries, c’est l’homme inspiré qui électrise un auditoire ; un ame brûlante qui communique son feu, non ce feu dévorant qui tourmente, mais ce feu bienfaisant dont la douce chaleur anime sans cesse ; ce n’est point l’éclair qui brille, c’est le soleil ; ce n’est point une cascade impétueuse, c’est un fleuve majestueux.«³⁵³ [Anon.], »Nouvelles des Départemens«, in : Revue musicale /Nr. (. Oktober ), S. . »Das Äußere, die Geschmäcker, die Manieren des Künstlers tragen den Abdruck des Stempels seines Talents, seine Physiognomie ist das Resümee seiner Gefühle und seiner Seele und der geübte Beobachter hat häufig, allein durch die Beschau mehrerer Künstler derselben Art, jedem seinen besonderen Wert zugeschrieben. / Wer erräte nicht an der nachlässigen Kleidung Paganinis, an seiner verrenkten Haltung, an seinem Adlerblick, an seiner bleichen Hautfarbe, an seiner tief versunkenen Miene, dass ihm der Körper nichts gilt, dass seine Glieder die fügsamen Sklaven seines Willens sind, dass ein teuflischer Geist ihn belebt, dass ein loderndes Feuer ihn verschlingt, dass er anderswo als auf der Erde seine übernatürlichen Eingebungen sucht, die uns das Herz zerstoßen zu scheinen mit tausend fremden Eindrücken ; dieses sylphische Spiel, das uns plötzlich den Verstand verwirrt mit einem aus seinen Lüften erhaltenen Strahl. / Ein ernsthaftes Gesicht, gedankenvoll, voll von Ausdruck, von enthaltsamen Gewohnheiten, verkündet in Baillot den erlesenen Künstler, Freund des Einfa-
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Paganini wurde hier, wenn schon nicht bloße Positur, so doch zumindest eine andere Form der Körperlichkeit zugeschrieben, die ungefesselter war und ihn eher zum Beherrschten fremder Mächte als selbst zum souveränen Herrscher zu machen schien und sich auch dem Betrachter ästhetisch anders aufdrängte als der angeblich besonnene, in sich ruhende Baillot. Die exzentrische Physiognomie Paganinis fingen damals nicht zuletzt auch zahlreiche Porträtisten und Karikaturisten ein.³⁵⁴ Selbst ohne sich derartig in die Sache hineinzusteigern und eher nüchtern im Ton, bemerkte sogar Carl Guhr in seiner Abhandlung über die Spielweise Paganinis zu dessen Körperhaltung : »Dieselbe ist ungezwungen, wenn auch nicht so edel wie bei baillot, rode und spohr.« ³⁵⁵ Der physiognomische Blick, der vom Äußeren her das Innere zu entschlüsseln versuchte, war als Beobachtungsmodus auch im Musikleben leicht legitimierbar. Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, warum jener Zeitungsschreiber aus Marseille in seiner Huldigung Hippolyte Larsonneurs seinen Blick über dessen – wie er es ausdrückte – sanfte und reine Züge, seine hübsche Physiognomie streifen ließ (»sur ces traits calmes et naïfs, sur cette jolie physionomie«³⁵⁶). Es lässt sich gleichfalls nachvollziehen, dass einer Lokalzeitung in Lyon nach einem ersten Konzert die Ruhe und Heiterkeit der Miene des liebenswürdigen Kindes (»[l]e calme, la sérénité de la figure de cet aimable enfant«³⁵⁷), die diesem angeblich selbst an den schwierigsten Stellen nicht entglitt, eine Erwähnung wert waren, und hierin auch nach dem vierten Auftritt noch einmal sinniert wurde : »On a autant de plaisir à le voir qu’à l’entendre. Les plus grandes difficultés ne lui coûtent rien, et jamais la beauté des sons n’est altérée. C’est un contraste bien digne de remarque, que cet air de calme et de candeur qui respire dans tous les traits de sa
chen, Wahren, Schönen, Großen ; es nicht wie bei Paganini ein Talent der Fantasmagorie, der Träumereien, es ist der inspirierte Mensch, der das Publikum elektrisiert ; eine glühende Seele, die sein Feuer entfacht, nicht das verzehrende Feuer, das quält, sondern das wohltuende, dessen sanfte Wärme ununterbrochen belebt ; es ist nicht der Blitz, der leuchtet, es ist die Sonne ; es ist nicht eine reißende Kaskade, es ist ein majestätischer Strom.« (Übers. d. Verf.). Vgl. Edward Neill, Niccolò Paganini. Eine Biographie, München , S. . Carl Guhr, Ueber Paganini’s Kunst die Violine zu spielen. [E]in Anhang zu jeder bis jetzt erschienenen Violinschule nebst einer Abhandlung über das Flageoletspiel in einfachen und Doppeltönen, Mainz u. a. [], S. . Spohr forderte ebenfalls eine Haltung, die »edel und ungezwungen« sein sollte. Siehe Louis Spohr, Violinschule, S. . [Anon.], »Spectacle. Concert du jeune Larsonneur«, in : Journal de Marseille et des Bouchesdu-Rhône vom . Juni (Nr. ), S. . Journal de Lyon et du département du Rhône vom . September (Nr. ), S. .
Physiognomie der Natürlichkeit |
jolie figure, tandis que son archet tire des sons qui semblent appartenir à des inspirations passionnées ou du moins très-vivement senties.«³⁵⁸
Das Natürlichkeitsideal der französischen Violinschule ist auch in einem Kunstdruck zu erkennen, den der in Bordeaux ansässige und als Protegé der Bourbonen entsprechend angesehene Maler und Lithograph Gustave de Galard angefertigt hat (Abbildung ).³⁵⁹ Dieser Stich ist also nicht allein als Porträt der Person Larsonneurs zu begreifen, sondern auch als eine Darstellung dessen, was der musizierende Solist auf der Bühne verkörperte. Die Übereinstimmungen mit den Körperschemata aus Baillots L’art du violon sind bemerkenswert. Zum einen fällt auf, dass auch Galard auf einen Hintergrund verzichtete und den musizierenden Körper damit bildlich in völliger Autonomie darstellt, als bloße Figur. Zum anderen lässt sich auf dem Bild in allen Einzelheiten die in den Lehrwerken des Konservatoriums detailliert beschriebene Körperhaltung nachvollziehen : von der Belastung des linken Standfußes über die Funktion des rechten Arms, für den ein nah am Rumpf befindlicher Ellbogen, weitgehende Passivität des Oberarms und ein Bogen, der gewissermaßen unter dem Handgelenk aufgehängt war, gefordert wurden, bis zur Position der Violine direkt vor der Brust und nicht zuletzt die gänzliche Aufrichtung bis hin zum Scheitel.³⁶⁰ Die musikalische Ästhetik der französischen Violinschule, die von Grund auf von ihrer eigenen Pädagogisierung durchdrungen und eigentlich kaum zu trennen war, vermochte Larsonneur auf ganz eigene Weise zum Ausdruck bringen. Denn das reine Medium, dieses erzieherische Korrelat des
Journal de Lyon et du département du Rhône vom . Oktober (Nr. ), S. . »Man hat ebenso viel Freude daran, ihn zu sehen, wie ihn zu hören. Die größten Schwierigkeiten kosten ihn nichts, und nie ist die Schönheit der Töne verzerrt. Das ist ein bemerkenswerter Gegensatz, diese Anmutung von Ruhe und Arglosigkeit, die alle Züge seines hübschen Gesichts ausstrahlen, während sein Bogen Töne hervorbringt, die leidenschaftlichen oder immerhin sehr lebhaft gefühlten Eingebungen anzugehören scheinen.« (Übers. d. Verf.). Siehe Robert Coustet, Gustave de Galard (–). Un peintre bordelais à l’époque romantique, Bordeaux , S. ; ders., »Gustave de Galard (–). Un peintre à Bordeaux à l’époque romantique«, in : Revue historique de Bordeaux et du département de la Gironde (), S. . Ich danke Pierre Astanière von der Bibliothèque municipale de Bordeaux für die detaillierte Auskunft zu dem Druck. Vgl. Robin Stowell, Violin Technique and Performance Practice in the Late Eighteenth and Early Nineteenth Centuries, S. . Von dieser idealen Körperhaltung weicht Larsonneur auf der Abbildung darin ab, dass die Geige nicht ganz horizontal gehalten wird, was sich vielleicht aus der im Verhältnis zum Instrument geringen Körpergröße erklärt. Siehe dazu auch die entsprechenden Hinweise bei Pierre Baillot, L’art du violon, S. .
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rousseauistischen Ideals natürlicher Unmittelbarkeit, konnte gerade von einem Knaben bestens verkörpert werden. Das junge Alter, das man seinem Körper ablesen konnte, trug mit Sicherheit seinen entscheidenden Anteil zur überzeugenden Erscheinung Larsonneurs als Überbringer von Gefühlsinnerlichkeit bei. Mit Zuschreibungen wie Reinheit, Unschuld, Einfachheit und Natürlichkeit bewegten sich Kindervirtuosen in der ersten Hälfte des . Jahrhunderts von vornherein in einem sich mit den nachwirkenden musikästhetischen Vorstellungen der Empfindsamkeit weithin überschneidenden Bedeutungsfeld.³⁶¹ Schon von Rousseau wurde das Kind als jene Figur dargestellt, durch die die Stimme der Natur besonders klar spricht, eine Konstruktion, die sich vor allem in Émile ou De l’éducation () finden lässt. Das Erziehungswerk, das im Grunde genommen noch das herkömmliche, auf den männlichen Nachwuchs wohlhabender Schichten bezogene Modell des Hauslehrers voraussetzte, stellte als pädagogisches Prinzip den »Gang der Natur«³⁶² auf. Mit diesem Schlagwort hinterließ das Buch auch seine Spuren in der Instrumentalausbildung des Konservatoriums, wie die Formulierung »la marche même de la nature«³⁶³ (der Gang gleich der Natur) verrät, die Baillot für die in ihrer Schwierigkeit ansteigenden Studien seiner Schule gewählt hat. Allerdings sollte der Émile zugleich eine Ausstrahlung entfalten, die weit über den erzieherischen Anwendungsbereich hinausging, und in zahllosen Ausgaben und Übersetzungen eine beispiellose Rezeptionsgeschichte nach sich ziehen.³⁶⁴ Das lag letztlich daran, dass der Émile, trotz einiger auch in ihm enthaltenen praktischen Ratschläge, im Kern tatsächlich weniger ein Erziehungshandbuch darstellte, als vielmehr einen weiteren utopischen Gegenentwurf zur vermeintlich korrumpierten Gesellschaft des . Jahrhunderts, der hierin eng mit dem Siehe Jonas Traudes, »Das ›Wunderkind‹ im Virtuosentum. Eine kulturhistorische Skizze«, in : Christine Hoppe, Melanie von Goldbeck und Mai Kawabata (Hgg.), Exploring Virtuosities. Heinrich Wilhelm Ernst, Nineteenth-Century Musical Practices and Beyond, Hildesheim (Göttinger Studien zur Musikwissenschaft), S. –. Hinzuweisen ist hier auch auf den Aufsatz von Robert Adelson, in dem dieser darstellt, wie Rousseauismus und Empfindsamkeit im Umfeld André Grétrys teilweise zur Bevorzugung von Mädchen als Komponistinnen an der Opéra comique geführt hätten. Siehe Robert Adelson, »›Mozart Fille‹ : Lucile Grétry (–) and the forgotten tradition of girl musical prodigies«, in : Brigitte van Wymeersch (Hg.), Mozart aujourd’hui, Louvain , S. –. Jean-Jacques Rousseau, Emile oder Über die Erziehung, S. . Rousseau dazu eindeutig : »Der Arme braucht keine Erziehung.« Ebd., S. . Pierre Baillot, L’art du violon, S. . Vgl. Jo-Ann E. McEachern, Bibliography of the Writings of Jean-Jacques Rousseau to . Vol. : Émile, ou de I’éducation, Oxford .
Physiognomie der Natürlichkeit | Abb. 10 : Gustave de Galard, Hippolyte Larsonneur. Né en 1811, Radierung/ Aquatinta, [Bordeaux : o. V. 1820].
Kindheitsstadium verknüpft wurde.³⁶⁵ So machte schon der Beginn des ersten Absatzes den Zusammenhang zu Rousseaus Zivilisationskritik deutlich : »Alles, was aus den Händen des Schöpfers kommt, ist gut ; alles entartet unter den Händen des Menschen.«³⁶⁶ Die dem Buch inhärente Utopie ist an der Einfügung eines fiktiven Handlungsstrangs ersichtlich : Den Protagonisten Émile stellt Rousseau dem literarischen Ich als seinen »imaginären Schüler«³⁶⁷ gegenüber und versetzt beide gemeinsam in die Isolation einer ländlichen Idylle. In dieser Lehr- und Lernsituation ging es nicht um das Gelingen einer Einführung des Individuums in die Gesellschaft durch Aneignung von Wissen und bestimmter Verhaltensweisen, sondern um die Möglichkeit einer Bewahrung ursprünglicher Natur des Menschen gegen gesellschaftlichen Einfluss.³⁶⁸ Die Vgl. Peter Tremp, Rousseaus Émile als Experiment der Natur und Wunder der Erziehung. Ein Beitrag zur Geschichte der Glorifizierung von Kindheit, Mit einem Vorwort von Doris BühlerNiederberger, Opladen (= Forschung Erziehungswissenschaft ), S. –. Jean-Jacques Rousseau, Emile oder Über die Erziehung, S. . Ebd., S. . Heute wird das ein Konzept der negativen Erziehung genannt, ein Begriff, den Rousseau an einer Stelle auch selbst verwendet. Siehe ebd., S. .
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Figur des Émile, die von sich aus nichts weiter mitbringt als ihre, von Rousseau so vorausgesetzte, ursprüngliche Güte und Kraft, befindet sich hierbei in der Situation einer andauernden Beobachtung durch den Lehrer : »Das Kind muß sich ganz der Sache hingeben, aber ihr müßt euch ganz dem Kind hingeben, ihr müßt es ohne Unterlaß beobachten und belauern, ohne daß es dessen gewahr wird, ihr müßt all seine Gefühle vorausfühlen und denen zuvorkommen, die es nicht haben darf, kurzum es auf eine Weise beschäftigen, daß es sich nicht nur zu etwas nützlich fühlt, sondern darum dabei glücklich ist, weil es gut versteht, wozu das dient, was es tut.«³⁶⁹
Das Kind soll sich also unbeobachtet wähnen, seine Erziehung soll sich indirekt, im unbefangenen, nur heimlich gelenkten Spiel vollziehen. Es stellte eine Konstellation dar, die nicht unbedingt wörtlich zu nehmen und zur Nachahmung empfohlen war. Rousseau stellte ein hypothetisches Experiment auf : die Ontogenese unter Ausschluss sozialer Verhältnisse. Damit bildete er ein frühes Beispiel für das in der zweiten Hälfte des . Jahrhunderts gängige Genre der »literarischen Menschenversuche«³⁷⁰, die dem Literaturwissenschaftler Nicolas Pethes zufolge typischerweise fiktionalen Gattungen angehörten, im Kern aber ernste anthropologische Fragen über die Natur des Menschen und den Einfluss der Erziehung verhandelten. Bei Rousseau erfährt der Schüler seine entscheidende Formung bis ins Knabenalter, denn die gesellschaftliche Isolation entspricht in in seiner Darstellung dem Wesen des Kindes. Dieses besitze von Natur aus weder Vernunft – daher auch keine Einbildungskraft und kein Urteilsvermögen – noch eine erst mit dem Erwachen der Leidenschaften einsetzende Geschlechtsidentität.³⁷¹ Der Knabe Émile ist der Inbegriff des ungesellschaftlichen Menschen und wird durch das literarische Ich in dieser Hinsicht bezeichnend beschrieben (wobei selten klar ist, ob durch die Erzählstimme die Figur des Erziehers, oder Rousseau selbst spricht) :
Ebd., S. . Nicolas Pethes, Zöglinge der Natur. Der literarische Menschenversuch des . Jahrhunderts, Göttingen , S. . Zum Émile siehe ebd., S. –. Siehe Jean-Jacques Rousseau, Emile oder Über die Erziehung, S. , –, . Gleichzeitig sind Kinder bei Rousseau schon einer übergreifenden androzentrischen Geschlechterdichotomie unterworfen. Die komplementäre Figur der Sophie erfährt hier nicht wie Émile eine Erziehung zum Menschen im emphatischen Sinne, sondern bleibt auf ihre Funktion als Gattin und Mutter beschränkt. Siehe insbes. ebd., S. –, .
Physiognomie der Natürlichkeit |
»Er betrachtet sich selbst, ohne an die anderen zu denken, und findet es richtig, daß die anderen nicht an ihn denken. Er verlangt von niemandem etwas und glaubt sich niemandem verpflichtet. Er ist allein in der menschlichen Gesellschaft und verläßt sich nur auf sich selbst.«³⁷²
Rousseau versteht das Kind in dieser Hinsicht als eigene Spezies, spricht folgerichtig von einer »Reife der Kindheit«³⁷³ im Knabenalter und bezeichnet die Pubertät, die er mit etwa fünfzehn Jahren ansetzt, als »zweite Geburt«³⁷⁴. Selbstverständlich existiert ein Kind wie Émile nur unter den Laborbedingungen des Gedankenexperimentes. Es war mehr eine Projektionsfigur, ähnlich der des ›Wilden‹ im zivilisatorischen Urzustand, der nach Rousseau ebenso nur »in sich selbst«³⁷⁵ lebe. Der Knabe Émile lernt in der ländlichen Isolation nicht, sich durch die Augen anderer zu betrachten und seine Handlungen von vornherein selbstreflexiv an deren mögliche Reaktionen anzupassen. Seine natürliche Innerlichkeit kann ungehindert nach außen fließen, er ist im emphatischen Sinne authentisch und erfüllt damit passgenau das von Starobinski bei Rousseau gekennzeichnete Transparenzideal.³⁷⁶ Es ist diese zugeschriebene und dem Erwachsenen abhanden gekommene Natürlichkeit, die schließlich auch die Kinderliebe im Émile ausmacht (Rousseau gab die eigenen bekanntlich ins Waisenhaus) : »Liebt die Kindheit, fördert ihre Spiele, ihre Freuden und ihren liebenswerten Instinkt. Wer von euch hätte nicht manchmal dieser Zeit nachgetrauert, da die Lippen nur das Lächeln kennen und die Seele den Frieden ?«³⁷⁷
Es gibt Stellen, an denen das lyrische Ich sich vom pädagogischen Beobachter unversehens zum Voyeur verwandelt und diese drücken genau eine solche Sehnsucht nach dem ursprünglichen Naturzustand, einem Zustand vollkommener Glückseligkeit, aus :
Ebd., S. . Ebd., S. . Ebd., S. . Jean-Jacques Rousseau, Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen, S. . Der von Rousseau in diesem Discours hypothetisch vorausgesetzte Naturzustand zeichnet sich vor allem durch die Abwesenheit von Eigentumsverhältnissen und Arbeitsteilung aus, mit welchen erst die Ungleichheit unter den Menschen entstehe. Siehe Jean Starobinski, Rousseau, S. – ; Alfred Schäfer, Jean-Jacques Rousseau. Ein pädagogisches Porträt, Weinheim u. a. (Pädagogische Porträts), S. . Jean-Jacques Rousseau, Emile oder Über die Erziehung, S. .
| Le jeune Larsonneur und die Stimme der Natur »Ob er arbeitet oder spielt – das eine gilt ihm so viel wie das andere ; seine Spiele sind seine Arbeit, da gibt es für ihn keinen Unterschied. Alles, was er tut, tut er mit einem Interesse, das zum Lachen reizt, und mit einer Freiheitlichkeit, die sympathisch ist, da er damit gleichzeitig seine Geisteshaltung und den Umfang seiner Kenntnisse zeigt. Ist es nicht das Bild dieses Alters, ein reizvolles und liebenswürdiges Bild, ein hübsches Kind zu sehen, mit lebhaften und fröhlichen Augen, zufriedener und heiterer Miene, offenem und lachendem Gesicht, das spielend die ernsthaftesten Dinge tut oder sich tiefernst mit dem unsinnigsten Zeitvertreib abgibt ?«³⁷⁸
Das Fortwirken von Rousseaus Kindheitsverklärung in der öffentlichen Wahrnehmung Hippolyte Larsonneurs, mit den allgegenwärtigen Rühmungen als »aimable enfant« (liebenswertes Kind) und Ähnlichem, lässt sich dabei nur vermuten. Rousseaus Werk ist ohnehin zugleich im größeren historischen Zusammenhang der Empfindsamkeit und eines sich mit dieser herausbildenden Kindheitskultes zu sehen, wie er schon im . Jahrhundert von mehreren Schriftstellern, Philosophen, Künstlern und Pädagogen befördert und schließlich in der Romantik mit neuen Akzenten weitergeführt wurde.³⁷⁹ Ansätze zur Idealisierung und Romantisierung der Kindheit können auch in einem Lobgedicht erkannt werden, zu dem sich ein Verfasser namens Aune nach dem Aufsehen, das Larsonneur im Sommer in Marseille erregte, offensichtlich berufen fühlte und das er in der dortigen Zeitung abdrucken ließ. Mit den ersten Versen stellte er folgende Frage in den Raum : »Quoi ! dit-on, lorsqu’on voit le jeune Larsonneur, / Est-ce la ce fameux artiste / Dont l’archet gracieux, / brillant, joyeux ou triste / Enchante les humains en captivant leur cœur ?«³⁸⁰
Ebd., S. . Speziell in Bezug auf Frankreich, siehe grundlegend Colin Heywood, Growing Up in France. From the Ancien Régime to the Third Republic, Cambridge u. a. , S. –. Zum literarischen Genre der Autobiographie ausgehend von Rousseaus Confessions (), vgl. Tatjana Michaelis, Der romantische Kindheitsmythos. Kindheitsdarstellungen der französischen Literatur von Rousseau bis zum Ende der Romantik, Frankfurt a. M. (= Europäische Hochschulschriften. Reihe XIII : Französische Sprache und Literatur ). M. Aune fils, »Vers au jeune Larsonneur«, in : Journal de Marseille et des Bouches-du-Rhône vom . Juni (Nr. ), S. . »Was ! fragt man, wenn man den jungen Larsonneur sieht, / macht diesen berühmten Künstler aus, / dessen anmutiger, brillanter, freudiger oder trauriger Bogen / die Menschen verzaubert, indem er ihre Herzen fesselt ?« (Übers. d. Verf.).
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Die folgenden Zeilen verleihen dann unter dem Motto »l’éloge est trompeur« (das Lob ist trügerisch) einer Skepsis gegenüber der üblichen Schmeicheleien der Zeitungsschreiber (»ces juges«), die allesamt unter der Wahrheit blieben, ihren Ausdruck.³⁸¹ Wie die anschließende Schlussstrophe verrät, wollte der Dichter hier wohl darauf hinaus, dass man mit einer poetischen Sprache der gesuchten Antwort zumindest noch am nächsten komme. Dabei kam ihm statt vermeintlich abgegriffener Etiketten wie »fils d’Apollon« (Sohn Apollos) oder »prodige des Cieux« (himmlisches Wunder) Folgendes in den Sinn : »Pour moi, je le compare au bel astre du jour, / Lorsque, ranimant la nature, / De ses rayons vainqueurs / il voile la figure / Des astres éclatans qui composent sa cour.«³⁸²
Mit der Kritik an der Lobhudelei, aber auch der aufgehenden Sonne als Sinnbild der Jugend griff der Verfasser augenscheinlich auf den Konzertbericht derselben Zeitung vor zwei Wochen zurück, in dem der Fähigkeit Larsonneurs nachgesagt worden war, sie scheine nichts als Ermutigung zu suchen und höchstens die ersten Strahlen einer Begabung im Morgenrot zu verheißen (»semble ne demander que des encouragemens et ne promettre tout au plus que les premiers rayons d’un talent à son aurore«³⁸³). Die Sonnenmetapher eröffnet selbstverständlich einen großen Spielraum möglicher weiterer Bedeutungen. So stand sie hier zugleich auch für das musikalische Genie des Kindes, und zwar für eines, das aus dem eigenen Inneren heraus ruhig und gleichmäßig seine belebenden Strahlen nach Außen entsende. Genauso malte man sich schließlich auch Baillot in der oben zitierten Konzertrezension aus der Revue musicale von aus und stellte ihn der gewitterhaften Erscheinung Paganinis gegenüber : »[…] ce n’est point l’éclair qui brille, c’est le soleil«³⁸⁴ (es ist nicht der Blitz, der leuchtet, es ist die Sonne).
Ebd. Ebd. »Was mich betrifft, ich vergleiche ihn mit dem schönen Tagesstern, / wenn, die Natur belebend, / er mit seinen Siegesstrahlen das Antlitz / der strahlenden Sterne verdeckt, die seinen Hofstaat bilden.« (Übers. d. Verf.). [Anon.], »Spectacle. Concert du jeune Larsonneur«, in : Journal de Marseille et des Bouchesdu-Rhône vom . Juni (Nr. ), S. . Auch die Gravur der Medaille der Société des Enfans d’Apollon wies auf die Erfolge »›dès sa première aurore‹« hin. Siehe Maurice Decourcelle, La Société Académique des Enfants d’Apollon (–), S. . [Anon.], »Nouvelles des Départemens«, in : Revue musicale /Nr. (. Oktober ), S. .
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Auf Mechanismus und Haltung eines Knaben konnte pädagogisch Einfluss genommen werden. Doch hinterließ die Erziehung immer eine gewisse Leerstelle, und es war diese, auf die sich physiognomische Aufmerksamkeit häufig zuallererst richtete : die angeborene Veranlagung beziehungsweise das musikalische Genie. Einen »Durchschnittsgeist«³⁸⁵, wie ihn Rousseau bei seinem fiktiven Knaben voraussetzen musste, um seine Beobachtungen an ihm auf die Menschheit generalisieren zu können, hätte man Hippolyte Larsonneur in keinem Falle abgenommen. Er war in dieser Hinsicht kein Émile. Das Genie allerdings war für jedes pädagogische Programm, das auf eine einheitliche Methodik pochte und sich selbst am Ende den Erfolg zuschreiben wollte, eine unangenehme Wahrheit. Hier standen gleich zwei auf dem Spiel : das reale der Musikschule des Monsieur Larsonneur und das ideelle der französischen Violinschule. Georg Sievers hingegen ließ sich davon nicht behelligen. Nachdem er die Möglichkeit erhalten hatten, den ihm bekannt gewordenen Fall aus nächster Nähe zu untersuchen, gab er über seine physiognomischen Erkenntnisse in der Leipziger Allgemeinen musikalischen Zeitung Auskunft. Dabei war er der Überzeugung, eine naturgegebene Ursache für die musikalischen Talente des Kindes entdeckt zu haben : »Ich habe in meinem letzten Berichte des Knaben, Larsonneur, Erwähnung gethan, der mir als ein vorzügliches Talent auf der Geige gerühmt worden war. Seitdem habe ich Gelegenheit gehabt, ihn selbst zu hören, und sein Talent unmittelbarer, als es vielleicht in einem Concerte hätte geschehen können, kennen zu lernen. Er ist, nach der Versicherung seiner Aeltern, noch nicht volle acht Jahre alt. Sein Körper ist sehr ausgewachsen ; und nur aus der Kindlichkeit seines Geistes, die fast an Kindischkeit gränzt, lässt sich sein zartes Alter abnehmen. Im Physischen dieses Knaben sind mir besonders aufgefallen : sein ungemein grosser, obgleich sehr wohlgestalteter Kopf, der auf eine kräftige Entwickelung der Seelenkräfte mit Recht schliessen lässt, obgleich die Anwesenheit derselben sich noch durch nichts besonders anzeigt ; und das Musikorgan, das mir (vorausgesetzt, dass es die Natur dahin gelegt hat, wo es Gall gefunden zu haben glaubt) bisher noch an keiner andern Person in einer solchen Grösse vorgekommen ist. Uebrigens zeigt sich dieser Knabe, wie ich schon gesagt habe, noch in einem so hohen Grade als Kind, wie es hier zu Lande seines Gleichen bereits von drey bis vier Jahren zu seyn aufgehört haben. […]«³⁸⁶
Jean-Jacques Rousseau, Emile oder Über die Erziehung, S. . Georg Ludwig Peter Sievers, »Musikalisches Allerley aus Paris, vom Monate July«, Sp. .
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Nur beiläufig erwähnt Sievers den Namen Franz Joseph Galls, der damals so berühmt wie berüchtigt war, dass er keiner Vorstellung bedürft hätte. In Wien hatte Kaiser Franz II. dem deutschen Arzt, unter dem Vorwurf des Materialismus, ein Vorlesungsverbot erteilt und ihn des Landes verwiesen, worauf sich Gall nach einer zwei Jahre andauernden europaweiten Forschungs- und Vortragsreise schließlich in Paris niederließ. Hier hielt er weiterhin öffentliche Vorlesungen, legte eine umfangreiche Sammlung an Schädeln, Totenmasken, Büsten, Hirnpräparaten und anderen anatomischen Exponaten an und arbeitete an ersten umfangreicheren Schriften. Während des napoleonischen Kaiserreichs zählte er zu den gefragtesten Gästen der Pariser Salons.³⁸⁷ Trotz der Zwiespältigkeit seiner sogenannten Schädellehre (oder Organologie) schien der Funke auch auf Kenner und Liebhaber der Musik schnell übergesprungen zu sein. So informierte die Allgemeine musikalische Zeitung bereits im Oktober über Konsequenzen der Theorie für die Erkenntnis musikalischer Begabung. In dem entsprechenden Artikel wurden zunächst Galls verblüffend einfache Grundsätze zusammengefasst, wie sie dieser erstmals für die Zeitschrift Der Neue Teutsche Merkur von dargelegt hatte : ») Der Sitz aller Fähigkeiten und Neigungen liegt einzig und allein im Gehirne. ) Jede Fähigkeit ist an einen besondern Theil der Gehirnmasse gebunden, den man das Organ dieser Fähigkeit nennen kann. ) Die vorzüglichere Entwickelung eines Organs bestimmt den vorzüglichen Grad der von ihm abhängigen Fähigkeit. ) Die Gestalt des Schädels, besonders seiner innern Fläche, hängt ganz von der Gestalt des Gehirns ab. ) Also kann man aus den Erhabenheiten oder Vertiefungen des Schädels auf das Daysein oder den Mangel gewisser Fähigkeiten und ihrer intensiven Stärke schliessen.«³⁸⁸
Zum Werdegang Galls siehe John van Wyhe, »The authority of human nature : the ›Schädellehre‹ of Franz Joseph Gall«, in : The British Journal for the History of Science /Nr. (), S. – ; Marc Renneville, Le langage des crânes. Histoire de la phrénologie, Préface de Georges Lantéri-Laura, Paris , S. –. Gr., »Ueber ein physiologisches Kennzeichen des musikalischen Talents. Nach Herrn D. Galls Entdeckungen«, in : Allgemeine musikalische Zeitung /Nr. (. Oktober ), Sp. –. Vgl. Franz Joseph Gall, »Des Herrn Dr. J. F. Gall Schreiben über seinen bereits geendigten Prodromus über die Verrichtungen des Gehirns der Menschen und der Thiere, an Herrn Jos. Fr. von Retzer«, in : Der Neue Teutsche Merkur o. Jg./Nr. (Dezember ), S. –.
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An den Schädeln unnachahmlicher Meister wie Händel, Bach, Gluck, Mozart oder Haydn erkenne man nun, so hieß es in dem Aufsatz weiter, dass Musik nur begrenzt erlernbar sein könne : »Woher kommt es nun, dass sich in einigen Subjekten das musikalische Talent so früh und so thätig, in andern hingegen theils gar nie, theils nur schwach äussert ? Herr Gall findet den Grund davon in dem Baue des Gehirnes, und in der grösseren oder geringeren Entwicklung desjenigen Theiles, den er als den eigenthümlichen Sitz des Tonsinnes annimmt. Er bestimmt die Stelle desselben in einem S c h w u n g e ü b e r d e m A u g e n w i n k e l g e g e n d i e S c h l ä f e z u , wenn nämlich dieser Schwung durch die hervordrängende Gehirnmasse, und nicht durch den blossen Knochen gebildet ist.«³⁸⁹
Materialismus war gleichbedeutend mit der Untergrabung von christlicher Lehre und Moral und somit selbstredend ein Problem für gläubige Christen wie Franz II., den katholischen Habsburger Monarchen. Gleichzeitig stieß Galls Schädellehre aber auch in gelehrten Kreisen auf erheblichen Widerstand. Zwar war man sich eines Zusammenhangs zwischen Geist und Gehirn, insbesondere durch die Kenntnisse des Nervensystems, schon zuvor bewusst gewesen, Naturgelehrte wie Mediziner aber hatten bis dato die Descart’sche These eines Seelenorgans und damit die grundsätzliche Trennung von Körper und Geist nicht ernsthaft in Frage gestellt.³⁹⁰ Gall hingegen rüttelte an dem Menschenbild, das hinter der unsterblichen und unteilbaren Seele, die über das Gehirn mit einem ihr hierarchisch untergeordneten Körper kommuniziert, steckte. Das Arsenal an Fähigkeiten, charakterlichen Eigenschaften und Neigungen, die eher das diagnostizierte Alltagssubjekt charakterisierten, bezeugte den Aufschwung der Medizin als Deutungsmacht ; für die philosophische Zunft aber muss es mehr als irritierend gewesen sein, dass Kategorien wie Vernunft, Einbildungskraft, Gedächtnis oder Wille bei der Beschreibung des Menschen damit ersetzt wurden.³⁹¹ Zudem entsprach die Zuweisung zu einzelnen Arealen in der bisher Gr., »Ueber ein physiologisches Kennzeichen des musikalischen Talents«, Sp. . Als Belege für diesen Grundsatz werden nachfolgend nicht nur Beispiele einzelner musikalischer Genies genannt, sondern auf der Basis vorliegender Schädelvergleiche Unterschiede in der Musikalität verschiedener Tiere sowie rassistische Differenzen menschlicher Völker behauptet. Siehe ebd., Sp. –. Siehe Michael Hagner, Homo cerebralis. Der Wandel vom Seelenorgan zum Gehirn, Frankfurt a. M. (= suhrkamp taschenbuch wissenschaft ), S. –. Siehe ebd., S. –. Entsprechend Galls Tätigkeit als praktizierender Arzt standen in seiner
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eher nebensächlich behandelten Hirnrinde einer in der aufklärerischen Gelehrtenrepublik noch undenkbaren Partikularisierung des Geistes und schien damit die Einheit und Freiheit des Subjekts grundsätzlich zu untergraben.³⁹² Mit Gall hatte sich Sievers für das von ihm verfasste Lustspiel Lessings Schädel () bereits auseinandergesetzt, bevor er als Korrespondent nach Frankreich kam.³⁹³ Sein Versuch, das Ausmaß des musikalischen Talentes von Larsonneur zu ergründen, fügt sich überhaupt nahtlos ein in den allgemeinen »Schädelenthusiasmus«³⁹⁴, der vom Geniekult der Zeit kaum zu trennen ist und der Ende des . Jahrhunderts mit den Schriften Johann Caspar Lavatars eingesetzt hatte, gestützt von einer ganzen Reihe physiognomischer Theorien der Zeit (etwa derjenigen von Peter Camper, Samuel Thomas Soemmerring oder Johann Friedrich Blumenbach). Ebenso wenig wie Gall erfand Lavater die Physiognomik völlig neu, da der Grundgedanke wenigstens bis in die Antike zurückreichte. Der Schweizer Theologe aber unterzog den physiognomischen Blick einer spezifischen Aktualisierung und machte ihn damit in völlig neuem Maße gesellschaftsfähig.³⁹⁵ Seine beliebten Physiognomischen Fragmente (– ) publizierte er in edlen und reich illustrierten Folianten, bediente sich darin eines emphatischen Sprachduktus im Stile des Sturm und Drang und erhob mit seiner Analyse von Gesichtsprofilen gleichzeitig den Anspruch einer auf Prinzipien höherer Natur basierenden »Wissenschaft«³⁹⁶. Dabei hegte auch schon Lavater ein besonderes Interesse an ›großen‹ Geistern, das heißt an Ge-
Hirntopographie etwa »Geschlechtstrieb« oder »Mordsinn« gleichberechtigt neben »Freundschaft«, »Kunstsinn«, »philosophischem Scharfsinn« und »Theosophie«. Siehe etwa [Franz Joseph Gall], Dr. F. J. Galls neue Entdeckungen in der Gehirn-, Schedel- und Organenlehre. Mit vorzüglicher Benutzung der Blöde’schen Schrift über diese Gegenstände, dargestellt und mit Anmerkungen begleitet nach den Gall’schen Unterrredungen zu Carlsruhe im Dezember , Carlsruhe, S. –. Siehe Michael Hagner, Homo cerebralis, S. –. Vgl. Christoph E. Hänggi, G.L.P. Sievers (–) und seine Schriften, S. , . Michael Hagner, Geniale Gehirne. Zur Geschichte der Elitegehirnforschung, Ungekürzte Ausgabe, München , S. . Siehe hierzu ebd., S. –. Zur europäischen Lavater-Rezeption siehe einführend und mit weiteren Quellenhinweisen Melissa Percival, »Introduction«, in : Melissa Percival und Graeme Tytler (Hgg.), Physiognomy in Profile. Lavater’s Impact on European Culture, Newark , S. –. Zu physiognomischen Lehren im Europa der frühen Neuzeit bis Lavater, vgl. Martin Porter, Windows of the Soul. The Art of Physiognomy in European Culture –, Oxford (Oxford Historical Monographs). Johann Caspar Lavater, Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Erster Versuch. Mit vielen Kupfern, Leipzig u. a. , o. S. (Vorrede) und passim.
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lehrten, Künstlern, Schriftstellern oder Musikern.³⁹⁷ Auch wurde durch seine Lehre die rechtzeitige Feststellung natürlicher Anlagen in Aussicht gestellt, wie beispielsweise jene »Sechs Knabensilhouetten«³⁹⁸ in seinem Werk zeigen, aus denen die Leser und Leserinnen die vielversprechenden von den weniger vielversprechenden Geistern und Charakteren übungsweise unterscheiden lernen konnten. Doch eine systematische Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Frühbegabung fand sich in dem umfassenden Werk nicht und die eher intuitiven Anleitungen Lavaters nahmen sich im Vergleich zu den einfachen Prinzipien Galls überhaupt ziemlich kryptisch aus. Die grundlegende Überzeugung aber, dass bestimmte Formen oder Proportionen des Körpers als Anzeichen für innere Qualitäten gelesen werden konnten, wirkte schließlich auch auf die Alltagswahrnehmung ein, und in der populären Rezeption wurde zwischen einzelnen Theorien ohnehin nicht immer genau unterschieden. Das Musikleben bildete dabei keine Ausnahme.³⁹⁹ Auch Sievers verwies im Falle Larsonneurs nicht nur auf das Gall’sche »Musikorgan«, sondern ihm fiel überhaupt »sein ungemein grosser, obgleich sehr wohlgestalteter Kopf« ins Auge, eine Beobachtung, die gleichwohl auf physiognomischen Überlegungen beruhen musste. Bei Hippolyte Larsonneur wurde die virulente Schädellehre mit Sicherheit angedacht, mit Ausnahme von Sievers aber in der Öffentlichkeit nicht weiter behandelt. Ob sich Gall selbst für Larsonneur interessiert hat, die beiden hielten sich schließlich zeitgleich in derselben Stadt auf, ist nicht bekannt. In einem publizierten Band einer mehrteiligen Abhandlung widmete er dem Zusammenhang zwischen »sense des rapports des tons« (Tonsinn) und musikalischer Begabung ein eigenes Kapitel und berichtete darin unter anderem über eine einst unternommene Untersuchung an einem fünfjährigen Mädchen namens Bianchi, das für ihr außergewöhnliches musikalisches Gedächtnis bekannt gewesen sei und an dem der Arzt die Existenz und Beschaffenheit jenes
Zu Letzteren siehe auch Gerda Mraz, »Musikerportraits in der Sammlung Lavater«, in : Otto Biba und David W. Jones (Hgg.), Studies in Music History presented to H. C. Robbins Landon on his seventieth birthday, London , S. –. Johann Caspar Lavater, Physiognomische Fragmente, S. –. Siehe Alan Davison, »Franz Liszt and the Physiognomic Ideal in the Nineteenth Century«, in : Music in Art /Nr. – (), S. – ; ders. »High-Art Music and Low-Brow Types : Physiognomy and Nineteenth-Century Music Iconography«, in : Context : A Journal of Music Research (), S. – ; Pauline Pocknell, »Reading Liszt’s Hands : Molds, Casts and Replicas as Guides to Contemporary Creative Representations«, in : Journal of the American Liszt Society – (–) (= Flores Musicais. A Festschrift in Honor of Fernando Laires upon his th Birthday), S. –.
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Hirnorgans angeblich erstmals erkannt hätte.⁴⁰⁰ Einem Vergleich ihrer Schädelform mit dem des jungen Virtuosen Larsonneur kann Gall nicht prinzipiell abgeneigt gewesen sein, hat er doch zum Beispiel während des Aufenthaltes von Franz Liszt in Paris ab Dezember auch einen Gipsabdruck vom Kopf dieses Knaben genommen.⁴⁰¹ Doch muss man auch in Betracht ziehen, dass die altbekannten Vorwürfe in der Restauration noch längst nicht aus der Welt geschafft waren. Die Theorie war in akademischen Kreisen weithin geächtet, eine Verbreitung wurde durch die Obrigkeit behindert, was wohl auch mit den politischen Verflechtungen einiger Anhänger mit dem Geheimbund der Charbonnerie sowie der liberalen Opposition zusammenhing.⁴⁰² wurde Gall jedenfalls der Eintritt in die Académie des Sciences verwehrt, und die Gründung einer eigenen Wissenschaftsgesellschaft, die Société phrénologique de Paris, sollte erst – und damit drei Jahre nach seinem Tod – der neue Bildungsminister der Juli-Monarchie gestatten.⁴⁰³ Den sachlich naheliegenden Vorschlag, an den Konservatorien und Musikschulen entsprechende Tests nach den Grundsätzen Galls als Aufnahmebedingung einzuführen, unterbreitete erstmals Giovanni Antonio Lorenzo Fossati, ein ehemaliger enger Vertrauter Galls, Vizepräsident der neuen Pariser Sozietät und Hausarzt des Théâtre-Italien, als Fazit seines Vortrags für eine der Sitzungen. Erst unter den neuen politischen Bedingungen, so schien es, konnte ein solcher Vortrag von François-Joseph Fétis gefahrlos in seiner Revue musicale abgedruckt werden.⁴⁰⁴ Während man in Frankreich den Namen Galls also einige Zeit noch hinter vorgehaltener Hand aussprechen musste, versuchten in Großbritannien die so Franz Joseph Gall, Anatomie et physiologie du système nerveux en géneral, et du cerveau en particulier, Bd. , Paris , S. –. Siehe Alan Walker, Franz Liszt, S. . Siehe Marc Renneville, Le langage des crânes, S. –. Siehe ebd., S. – ; Elizabeth A. Williams, The Physical and the Moral. Anthropology, Physiology, and Philosophical Medicine in France, –, Cambridge u. a. (Cambridge History of Medicine), S. , ; Stephen Tomlinson, Head Masters. Phrenology, Secular Education, and Nineteenth-Century Social Thought, Tuscaloosa , S. –. Siehe [Anon.], »Nouvelles de Paris«, in : Revue musicale /Nr. (. August ), S. ; [Giovanni Antonio Lorenzo] Fossati, »Mémoire de M. Fossati, lu à la séance annuelle de la ›Société phrénologique‹ de Paris«, in : Revue musicale /Nr. (. September ), S. – . Der Aufsatz erschien, erweitert um einige längere Fußnoten, erneut : ders., »Sur le talent de la musique, Discours prononcé dans la séance annuelle de la Société phrénologique de Paris«, in : Journal de la Société phrénologique de Paris (), S. –. Vgl. zu Fossati : Marc Renneville, Le langage des crânes, S. – ; Céline Frigau Manning, »Phrenologizing Opera Singers : The Scientific ›Proofs of Musical Genius‹«, in : th-Century Music /Nr. (), S. –.
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genannten Phrenologen längst schon, dem Phänomen des musikalischen Genies mit gründlichen und wiederholten Schädelmessungen auf die Schliche zu kommen.⁴⁰⁵
Siehe Kap. ..
5. T H E I N FA N T LY R A : I KON E DE R U NS C H U L D
. prominenz einer namenlosen Die Royal Arcade in Dublin galt zweifellos als angesagte Adresse. mit der Privatinvestition eines gewissen George Home am College Green eröffnet, zog die Einkaufspassage seither als einzigartiges »resort of beauty, fashion, and curiosity«¹ die wohlhabenderen Einwohner und Einwohnerinnen der irischen Hauptstadt ebenso an wie Touristen. Im Parterre barg sie um die dreißig Ladengeschäfte und im Obergeschoss eine Art Basar, der sich entlang zweier gegenüberliegender Säulengänge über den darunterliegenden Geschäften erstreckte und in dem sich eine Warentheke an die nächste reihte. Zu dem Gebäude gehörten außerdem ein Ballsaal, ein Restaurant, ein Kartenkasino, eine Kunstgalerie, ein Hotel, ein Kaffeehaus sowie das Sans Pareil Theatre oder New Theatre, in dem vorwiegend abwechselnde Ausstellungen aller Art untergebracht waren.² Es ist gut möglich, dass die Blicke der Laufkundschaft der Royal Arcade am . März nicht nur eine luxuriöse Warenwelt streiften, sondern auch – an einer Straßenecke vor dem Gebäude vielleicht – einen Anschlagzettel entdeckten, der ihnen die aktuelle Attraktion im New Theatre in großen Lettern anpries. Sie hätten darauf dann wohl Ähnliches zu lesen bekommen, wie jene Werbebotschaft, die an dem Tag mit einer Annonce der druckfrischen Ausgabe des Dubliner Freeman’s Journal vermittelt wurde : »little lyr a. This extraordinary gifted Infant, aged only three years and a half, and who weighs only Twenty-six Pounds, has acquired a degree of execution on the Harp, which justly entitles her to rank as the Greatest Wonder of the age.
[Anon.], »The Royal Arcade in Dublin«, in : The Dublin Weekly Register vom . März (o. Nr.), o. S. Siehe John James McGregor, New Picture of Dublin : Comprehending a History of the City, an Accurate Account of Its various Establishments and Institutions, and a Correct Description of All the Public Edifices Connected with Them ; […], Dublin , S. –.
| The Infant Lyra : Ikone der Unschuld In the course of the Entertainment, she will perform a variety of National Airs, and some difficult Concert Pieces, with a degree of masterly execution.«³
Neben dem harfespielenden Mädchen (hier als »Littly Lyra« angekündigt) umfasste das saisonale Programm des New Theatre noch optische Illusionen, chinesisches Feuerwerk sowie die mechanischen Musikautomaten und Androiden des Schweizer Uhrmachers Henri Maillardet. Zudem präsentierte es – im vorzüglichen Kontrast zu der kleinen Musikerin, wie man meinte – den Franzosen Louis Jacques : »the largest, best proportioned, and most agreeable Giant in Europe«⁴. Bedient wurde an diesem Ort die augenscheinlich ungebrochene Nachfrage nach Unterhaltung im Grenzbereich von wissenschaftlicher Neugierde und ästhetischer Faszination. Die Royal Arcade, in der das Kuriositätentheater untergebracht war, stellt ein gutes Beispiel für das Prinzip der Einkaufspassage dar, wie es seit dem . Jahrhundert allmählich das Stadtbild vieler europäischer Metropolen mitgestalten sollte, ein aus Stein und Glas geformtes Symbol der prosperierenden britischen Wirtschaftsnation und der Kommerzialisierung des urbanen Lebens. Dieser Prozess hatte nun selbst hintere Winkel des vereinigten Königreichs – Irland nämlich – erreicht. Die wissenschaftliche Unterhaltung erhielt auch in der Royal Arcade ihren festen Platz. In ihr drückt sich somit räumlich aus, dass Wissenschaft im . Jahrhundert, bei aller Professionalisierung und Spezialisierung, zugleich elementarer Bestandteil einer Konsumkultur blieb, die sozial und geographisch nur noch weiter expandierte.⁵ Die junge Harfenspielerin, die das New Theatre als Little Lyra bewarb, war in Dublin bereits am . Dezember in der Benefizveranstaltung eines Mr. Hamblin im Theatre Royal aufgetreten. Einige Zeitungen hatten damals angekündigt, dass das Mädchen nach einer Vorstellung der Tragödie Virginius ; Or, the Liberation of Rome von James Sheridan Knowles auf die Bühne kommen sollte : »little lyr a, the greatest Musical Prodigy in the World, being only three and a half years old, will perform on the Harp a variety of National Airs […].«⁶ Die späteren Vorführungen in der Royal Arcade könnten eine Konse The Freeman’s Journal, and Daily Commercial Advertiser vom . März (o. Nr.), o. S. The Freeman’s Journal, and Daily Commercial Advertiser vom . April (o. Nr.), o. S. Siehe auch den entsprechenden Absatz im Nachrichtenteil dieser Ausgabe sowie die Ausgabe vom . April (o. Nr.), o. S. Vgl. Aileen Fyfe und Bernard Lightman, »Science in the Marketplace : An Introduction«, in : Aileen Fyfe und Bernard Lightman (Hgg.), Science in the Marketplace. Nineteenth-Century Sites and Experiences, Chicago u. a. , S. –. The Freeman’s Journal, and Daily Commercial Advertiser vom . Dezember (o. Nr.), o. S.
Prominenz einer Namenlosen |
quenz aus dem Erfolg dieses Auftritts oder ohnehin längst geplant gewesen sein. Jedenfalls wurden über die Presse im Februar einige erstaunlich erscheinende – angeblich verlässlich beglaubigte – Tatsachen über das Kind lanciert, die den eindeutigen Zweck besaßen, das öffentliche Interesse weiter zu erhöhen : »We congratulate the Musical World on another opportunity which will shortly occur of hearing Little Lyra, the Infant Harpist. This extraordinary little Girl, of unrivalled musical powers, previous to her departure from Dublin, to be presented to his Majesty, as a specimen of Irish genius, will be exhibited to the Nobility and Gentry of this City, for a few days, at one of the Public Rooms. Amateurs who have heard this phenomenon of the Age, say that her powers on the Harp seem almost supernatural ; they must appear so to our readers when we mention that we heard from unquestionable authority, that this prodigy of science, only three years and an half old, and twenty-six pounds weight, has lately executed forty pages of difficult compositions, with all the elegance and facility of style of an experienced professor, and to add to the surprise of her hearers, her powers of memory exceed, if possible, her musical talents. She performs with the utmost precision, upwards twenty pieces of music, with her eyes blindfold. We anticipate that this prodigy of Irish genius will [merit] with the share of public patronage, due by the Citizens of Dublin, to those unrivalled talents, so creditable to our country.«⁷
Die Vorstellungen im New Theatre fanden, nach mehrmaliger Verlängerung und zu guter Letzt verringertem Eintrittspreis, noch bis Juni statt, wobei manche der dortigen Veranstaltungen als sogenannte benefits, sprich zum alleinigen finanziellen Vorteil der jungen Musikerin, ausgerichtet wurden.⁸ Mittlerweile hatte sie sich »the patronage of many of the first nobility of the city«⁹ erworben,
sowie vom . Dezember (o. Nr.), o. S.; Saunders’s News-Letter, and Daily Advertiser vom . Dezember (Nr. ), o. S. sowie vom . Dezember (Nr. ), o. S. [Anon.], »›Little Lyra.‹«, in : The Freeman’s Journal, and Daily Commercial Advertiser vom . Februar (o. Nr.), o. S. Siehe die Anzeigen in : The Freeman’s Journal, and Daily Commercial Advertiser bis zur Ausgabe vom . Juni (o. Nr.), o. S. Zu den benefits siehe The Freeman’s Journal, and Daily Commercial Advertiser vom . April (o. Nr.), o. S., vom . Mai (o. Nr.), o. S. und vom . Mai (o. Nr.), o. S. X. X., »Little Lyra«, in : The Freeman’s Journal, and Daily Commercial Advertiser vom . Mai (o. Nr.), o. S.
| The Infant Lyra : Ikone der Unschuld
wie ein Journalist des Freeman’s Journal Ende Mai vermerkte, um dann ungefähr einen Monat danach bereits ihren Abschied kommentieren zu müssen : »This is really the age of wonders ! We have musicians of three years old – good singers of five – accomplished actresses of twelve ! – Dwarfs of eight inches, and Giants of eight feet high ! We have already repeatedly noticed Little Lyra, and Big Mons. Jacques ; and it is with regret that we find ourselves on the point of losing so fruitful and so favourite a theme. These extraordinary beings are about to depart from this city, where they have been so long the objects of popular favour. Those who delight in observing ›the freaks of nature,‹ but have hitherto deferred paying their visits to the Arcade, would do well do procrastinate no longer. This, we are informed, is positively the last week.«¹⁰
Nachdem das Kuriosum in Dublin innerhalb weniger Wochen bekannt geworden war, begab sich das Mädchen mit ihrer Reisebegleitung auf die Irische See, um die Überfahrt nach England zu machen. Hier, in England, sollte sie als »Infant Lyra« zu einem Maß an Berühmtheit gelangen, das alles Gewesene weit in den Schatten stellte. Die Person hinter dem Pseudonym trug den bürgerlichen Namen Isabella Rudkin ( ?–).¹¹ In die Öffentlichkeit sickerte der Familienname unter anderem, als ein Ingenieur namens Mr. Rudkin, den man als ihren Vater identifizierte, eine seiner Erfindungen anmeldete (es handelte sich um eine Apparatur, die der automatischen Produktionsüberwachung von Destillerien zum Zweck der Steuerbemessung dienen und dadurch die bis dato eingesetzten Inspektoren überflüssig machen sollte).¹² Schon hatte die Carlow X. X., [Ohne Titel], The Freeman’s Journal, and Daily Commercial Advertiser vom . Juni (o. Nr.), o. S. Das bestätigen auch die Notizen zur Ahnenforschung des Nachfahren William E. Hingston. In Eintrag Nr. zu George Sackville Cotter Hingston, der Isabella Rudkin heiratete, ist auch deren Todesdatum, der . Oktober angegeben. Siehe William Edward Hingston, William Edward Hingston’s Study, transkribiert und online veröffentlicht durch Chris Burgoyne, o. O. []. Online : http://www-civ.eng.cam.ac.uk/cjb/hingston/wehdata.htm [abgerufen am ..]. Siehe zu Informationen über die Person zudem die verfassten autobiographischen Notizen von Anne Chalmers, die eine Begegnung mit der siebzehnjährigen Rudkin wiedergibt : Anne Chalmers, Letters & Journals, Edited by Her Daugther, London , S. –. Siehe etwa [Anon.], »Death-Blow to Excisemen«, in : The Kaleidoscope ; or, Literary and Scientific Mirror /Nr. (. Mai ), S. . Man bezog sich hier wie andernorts auf einen Augenzeugenbericht aus der Glasgow Free Press.
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Post über eine Erfindung Henry Rudkins, Esquire of Corris und Magistrat der Grafschaft Carlow (»a gentleman of great mechanical genius, and whose entire family posses uncommon musical talents«) berichtet, nämlich eine mechanische Orgel, von deren Klaviatur aus ein kleines Orchester verschiedener Saiten- und Blasinstrumente angesteuert werden konnte.¹³ Außerdem lässt sich eine Verbindung des Familiennamens zum Dubliner Musikbetrieb nachweisen : In der Rotunda gab am . Mai eine Miss Rudkin ein Konzert auf einem brandneuen und gerade importierten Flügel aus dem Hause Clementi, der zeitgleich im Musikalienhandel von Isaac Willis in der Westmoreland Street zu erwerben war.¹⁴ Für eines der Konzerte des Violinisten John Fallon am . November wurde ebenfalls eine Miss Rudkin angekündigt, die dort mit der selbst verfassten Harfenkomposition »Grand Introductory March and Variations to a National Air« auftreten sollte.¹⁵ Und schließlich spielte am . April eine Harfenistin mit diesem Namen in der Rotunda in einem Konzert von Mr. Hodson einen eigenen »Introductory March and St. Patrick’s Day, with Variations on the Harp«.¹⁶ Zu jener Zeit wurde überdies für den Harfenunterricht einer Miss Rudkin geworben. Rudkin vermietete den jungen Damen ihrer Musikschule, wie eine Anzeige verlautbarte, Harfen in verschiedenen Größen, die mit einer Vorrichtung des Harfenbauers John Egan (dem sogenannten »Harp Supporter«) ausgestattet waren, welche die Schulter vom Gewicht des Instruments entlastete : »[…] in order to do away the idea which some entertain, that practice of the Harp is injurious to the figure of Children«.¹⁷ Bei all diesen Namen handelte es sich womöglich um eine oder mehrere der Schwestern Isabellas und damit mutmaßlich auch um dieselben Zitiert nach [Anon.], »Extraordinary improvement in music«, in : The Dublin Weekly Register vom . März (o. Nr.), o. S. Siehe etwa The Dublin Evening Post vom . Mai (Nr. ), o. S. Anzeigen von Willis mit einem Hinweis auf das Konzert erscheinen bis zum . Juni auch in The Freeman’s Journal, and Daily Commercial Advertiser, The Dublin Weekly Register sowie Saunders’s News-Letter, and Daily Advertiser. Siehe The Freeman’s Journal, and Daily Commercial Advertiser vom . November (o. Nr.), o. S., bis zur Ausgabe vom . November (o. Nr.), o. S.; The Dublin Evening Post vom . November (Nr. ), o. S.; The Dublin Weekly Register vom . November (Nr. ), o. S. Zu Fallon siehe Ita M. Hogan, Anglo-Irish Music, –, Cork , S. . Der Name Rudkin wird in dem Buch über das Musikleben in Dublin und anderen irischen Städten allerdings an keiner Stelle erwähnt. Siehe die Konzertanzeigen in : Saunders’s News-Letter, and Daily Advertiser vom . März (Nr. ), o. S. bis zum . April (Nr. ), o. S. Siehe Saunders’s News-Letter, and Daily Advertiser vom . Oktober (Nr. ), o. S.
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Personen, die sie bei der Reise durch England ab dem Sommer begleiteten und gelegentlich bei ihren Auftritten auf der Bühne als Musikerinnen unterstützten. Die älteste ihrer Schwestern wurde später, als diese zuweilen auch unabhängig von Isabella als Harfen- und Klaviervirtuosin auftrat, im Übrigen unter dem Namen Mrs. J. Gregory erwähnt.¹⁸ Diese Karrierewege sprechen eigentlich dafür, dass es sich bei den Rudkins um eine professionelle Musikerfamilie und nicht etwa um Dilettanten aus einer sozialen Elite gehandelt haben müsste. Eine höher angesehene Familie aus der Aristokratie oder dem wohlhabenden Bürgertum hätte damit jedenfalls ihren Ruf aufs Spiel gesetzt, da in solchen Kreisen mit der Sphäre der Öffentlichkeit eine moralische Gefahr in Verbindung gebracht wurde, von der man die eigenen Töchter möglichst fernhielt.¹⁹ Der Titel des Vaters (Esquire of Corris) ordnet die Familie hingegen dem britischen Kleinadel der sogenannten Landed Gentry zu. Henry Rudkins Stammbaum geht wohl auf deutsche Vorfahren zurück und er gehörte, im Unterschied zur katholischen irischen Mehrheitsbevölkerung, der privilegierten Gruppe der protestantischen Anglo-Iren an. Die Mutter Arabella war die Tochter des in England erzogenen Reverend George Sackville Cotter.²⁰ In der Dubliner Presse findet sich zu genau jener Zeit allerdings ein Hinweis auf den sozialen Abstieg der Familie. So wurde Henry Rudkin (»late of Carris [sic], co. Carlow«) am . Januar zur Insolvenzanhörung vor Gericht geladen, der Auftakt eines Rechtsstreits, der am Ende offensichtlich auch zur Enteignung des Familienanwesens in Leighlin und der Aufgabe des damit verbundenen Titels führte.²¹ Eine bloße Koinzidenz zur Vorbereitung Isabellas auf eine Karriere als Kindervirtuosin ist unwahrscheinlich, auch wenn der Zusammenhang – ob es etwa reelle finanzielle Nöte waren oder schlichtweg der Grund, dass man an Ansehen nun weitaus weniger zu verlieren hatte – nicht genauer geklärt werden kann.
So in einer Rezension eines Amateurkonzerts im Green Man Hotel im Stadtteil Blackheath am . Juli sowie in Anzeigen für ein Wohltätigkeitskonzert im Theatre Royal in Dublin für Waisenkinder am . März . Siehe The Morning Post vom . Juli (Nr. ), o. S.; The Freeman’s Journal, and Daily Commercial Advertiser vom . März (o. Nr.), o. S. bis zum . März (o. Nr.), o. S. Siehe Kapitel .., S. –. Siehe zur familiären Abstammung John Ryan, The History and Antiquities of the County of Carlow, Dublin , S. –, . Siehe The Dublin Mercantile Advertiser, and Weekly Price Current vom . Januar (Nr. ), o. S. sowie die Ausgabe vom . Dezember (Nr. ), o. S.; The Dublin Correspondent vom . April (Nr. ), o. S.
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Nur wenige Tage trennten die Abreise der Rudkins aus Irland von der Veröffentlichung einer Ankündigung in The Kaleidoscope ; or, Literary and Scientific Mirror, die den Leserkreis dieser in Liverpool herausgegebenen Zeitschrift über die Ankunft der Infant Lyra und ihre baldige Beteiligung an einem Konzert von Don Celestino Bruguera informierte. Unter Berufung auf einen »gentleman fully competent to form a judgment on the subject«²² zählte der Text im Prinzip dieselben Sachverhalte auf, die die Familie bereits in Dublin über die Presse hatte kolportieren lassen : das junge Alter und geringe Körpergewicht des Mädchens, ihr ausgeprägtes musikalisches Gedächtnis, die geradezu meisterhafte Ausführung schwieriger und langer Konzertstücke, die Begehrtheit beim Publikum beziehungsweise der eleganten Welt – ihre Auftritte seien in Dublin von über . Personen besucht worden, darunter hohe Adlige (»the principal of nobility«) – sowie eine Einladung des britischen Monarchen, die ein längeres Verweilen an diesem Ort nicht zulasse. Die Adressaten waren somit dazu aufgefordert, sich schleunigst Zutritt zu einer ihrer Aufführungen zu erwerben. Aus diesem Fundus an Werbebotschaften wurde für Zeitungsanzeigen oder Anschlagzettel der Auftritte der Infant Lyra auch fortan auf der englischen Insel immer wieder geschöpft (wobei sich die angegebene Besucherzahl mit der Zeit verzehnfachte).²³ Zu den bereits aus dem . Jahrhundert bekannten Werbeargumenten für Kindervirtuosen kam dabei ein neues hinzu : der Bestseller. Das Konzert des Gitarrenvirtuosen Bruguera wurde schließlich am . Juli im Pantheon Room realisiert. Die Infant Lyra trat darin unter anderem in einem Harfenduett mit einer ihrer Schwestern auf. An diesem Tag ist das Publikum neben einer Konzertanzeige mit folgender Beschreibung im Liverpooler Kaleidoskope auf die Sensation vorbereitet worden, die ein anonymer Beobachter nach eigenen Angaben bereits vor ihrem ersten öffentlichen Auftritt in England hatte bezeugen können : »Whilst her fairy fingers are wandering amongst the strings of her instrument, her sylph-like figure, and beautiful features lighted up and inspired by genius, produce
[Anon.], »Musical Prodigy«, in : The Kaleidoscope ; or, Literary and Scientific Mirror /Nr. (. Juni ), S. . Siehe etwa die Anzeige in : The Cambridge Chronicle and Journal, And Huntingdonshire Gazette vom . November (Nr. ), o. S. Ein entsprechender Anschlagzettel ist aus Stratford erhalten : [Anon.], The Infant’s Lyra At Stratford for One Day Only, Anschlagzettel, Stratfort (Shakespeare Birthplace Trust, Sign.: BRU//).
| The Infant Lyra : Ikone der Unschuld an effect that is so extraordinary and indescribable, that more than one of her auditors at our own house were affected to tears.«²⁴
Es blieb durchaus nicht die einzige und letzte Möglichkeit, das musizierende Kind in Liverpool zu hören, wie es die erste Ankündigung des Kaleidoscope zunächst behauptet hatte, da das Publikum eine Woche später ersten Vorführungen im Lecture Room des Lyceum beiwohnen konnte, die noch bis Ende August wiederholt wurden.²⁵ Zwischendurch beteiligte sich die Harfenistin an zwei von Andrew Ward organisierten großen Vokal- und Instrumentalkonzerten, die für den . und . August im Theatre Royal in Manchester angekündigt waren.²⁶ Neben der Infant Lyra sorgte in den Konzerten der zwölfjährige Franz Liszt am Klavier sichtlich für Aufsehen.²⁷ Nicht zuletzt wegen der erstaunlichen Leistungen der zwei im Mittelpunkt stehenden Kindervirtuosen wurden sie von einem Rezensenten des Manchester Guardian ohne Umschweife als »the best concerts which have ever been given in Manchester«²⁸ bezeichnet, einer der möglichen Gründe auch dafür, dass zwei Tage später spontan noch ein drittes Konzert nachgeschoben wurde.²⁹ Damals berichteten bereits diverse englische Zeitungen selbst in entfernteren Städten über das Mädchen :
[Anon.], »The Infant Lyra«, in : The Kaleidoscope ; or, Literary and Scientific Mirror /Nr. (. Juli ), S. . Den Bericht griff später der Komponist und Musikschriftsteller Thomas Busby auf, der einen Ausschnitt daraus – mit einigen Ausschmückungen versehen, um die feenhafte Erscheinung des Mädchens zu unterstreichen – in seine populäre Anekdotensammlung übernahm. Siehe Thomas Busby, Concert Room and Orchestra Anecdotes, of Music and Musicians, Ancient and Modern, Bd. , London , S. . Siehe Anzeigen in The Kaleidoscope ; or, Literary and Scientific Mirror /Nr. (. Juli ), S. , bis Nr. (. August ), S. ; Liverpool Mercury, Or Commercial, Literary, and Political Herald vom . Juli (Nr. ), S. , bis zum . August (Nr. ), S. . Siehe The Manchester Mercury ; and Harrop’s General Advertizer vom . Juli (Nr. ), o. S. und vom . August (Nr. ), o. S.; The Manchester Guardian vom . Juli (Nr. ), o. S. Vgl. Alan Walker, Franz Liszt, Volume : The Virtuoso Years, –, Revised Edition, Ithaca , S. – ; William Wright, »Liszt in Manchester«, in : Journal of the American Liszt Society (), S. –. Wright hat bisher den überhaupt einzigen Versuch einer Rekonstruktion der Infant Lyra unternommen, leider mit den fälschlichen Behauptungen, dass sie Ende August vor dem englischen König aufgetreten sei und dass sie eine traditionelle irische Harfe (clarsach) mit Stahlsaiten gespielt habe. Zum angeblichen Spiel vor dem König siehe weiter unten, zur Richtigstellung bezüglich ihres Instruments siehe Kapitel ., S. . [Anon.], »Mr. Ward’s Concerts«, in : The Manchester Guardian vom . August (Nr. ), o. S. Siehe William Wright, »Liszt in Manchester«, S. .
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»A very extraordinary musical phenomenon, in the form of a female child only three years and eight months old, is now performing on the harp at Liverpool. Her skill is so exquisite, that many of the audience are affected even to tears. No name is given – they call her ›The Infant Lyra.‹«³⁰
Wie repräsentativ Mitteilungen dieser Art für das waren, was sich im Zuschauerraum tatsächlich abspielte, darüber kann wieder einmal nur spekuliert werden. Nur so viel ist sicher : Die Presse, die immer wieder von Gefühlsrührungen des Publikums berichtete, legitimierte so eine bestimmte Rezeptionsweise. Hierin offenbaren sich die deutlichen Nachwirkungen der Kultur der Empfindsamkeit des . Jahrhunderts, eine Kultur, die auch an der Schwelle zum Viktorianismus das Potential besaß, das Kuriose an dem Fall der Infant Lyra weitgehend in den Hintergrund rücken zu lassen. Tränen als sicherste, weil unwillkürliche, Zeichen eines empfindsamen Gemüts, waren nach wie vor ein Ausweis für verfeinerten Geist und sogar moralische Tugend, und gerade deswegen erwähnenswert – unabhängig davon, ob Nostalgie, Mitgefühl oder eine andere Leidenschaft dahinter vermutet werden konnte. Wenn schon keine psychische Ursache im engeren Sinne, so kann in dem Zusammenhang doch zumindest ein kulturelles Motiv benannt werden, das allgemein als Anlass für Sentimentalität angesehen und der Infant Lyra einmütig zugeschrieben wurde : ihre Unschuld.³¹ An ihrer Karriere ist ersichtlich, dass die Familie vor allem die Infrastruktur der wissenschaftlichen Unterhaltung für die öffentliche Inszenierung ihrer Tochter nutzte (Konzerte oder Auftritte in Theatern spielten eine vergleichsweise nebensächliche Rolle), dem Publikum auf der Gefühlsebene aber augenscheinlich mehr zu bieten hatte als die Befriedigung seiner Neugierde. Im Spätsommer machten sich die Rudkins vom Nordwesten Englands auf den Weg nach London. Dabei kamen sie unter anderem durch Birmingham. Hier lieferte die Infant Lyra am Theatre Royal zunächst die Zwischenmusik für eine Vorstellung am . August, woraufhin am . September zu ihren Gunsten William Shakespeares Romeo and Juliet gespielt wurde.³² Größere The Lancaster Gazette ; and General Advertiser for Lancashire, Westmorland, etc. vom . Juli (Nr. ), o. S. Etwa auch : The York Herald, and General Advertiser vom . Juli (Nr. ), o. S.; Bell’s Life in London, and Sporting Chronicle vom . August (Nr. ), S. . Siehe Kapitel . und .. Siehe Anzeige in : Aris’s Birmingham Gazette vom . August (Nr. ), o. S. und vom . August (Nr. ), o. S.; The Birmingham Chronicle, and General Advertiser of the
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Städte ließ man aus naheliegenden Gründen bei der Reise ebenso wenig aus, wie die Bade- und Kurorte des Landes, wo sich zu dieser Jahreszeit Adel und Großbürgertum tummelten.³³ Eine Nachricht aus der Rubrik »The Mirror of Fashion« der Londoner Zeitung The Morning Chronicle gibt am Beispiel von Leamington einen Eindruck davon, welches Publikum dort erwartet werden konnte : »Leamington is still very full of fashionable company. Among its present visitors are, the Earl and Countess of Grosvenor, the Earl and Countess of Egmont ; Admirals Sir O. Gould and C. Knowles, and their Ladies ; as also her Grace the Duchess Dowager of Rutland and suite, &c. &c.; with several East India Families of the first distinction, and many coronated carriages are seen on the drives, whose owners’ names have not as yet appeared in the arrival list. – The Infant Lyra, a beautiful child, only three years and eight months old, has been performing on the harp, at the Public Assembly Rooms, to very crowded and brilliant audiences, to their great delight and astonishment. […]«³⁴
Doch selbst in einer Kleinstadt wie Woodstock nahe Oxford legte die Familie einen Halt ein und ließ zwei Vorführungen im Bear Inn für den . November bekannt machen.³⁵ Im Winter schließlich in der Hauptstadt angekommen, wurden Annoncen für regelmäßige »Performances on the Harp« im Apollo Saloon in Pall Mall geschaltet, die dort am . Dezember beginnen sollten.³⁶ Ein Wechsel in die Bazar Rooms in Bath machte im Februar eine Unterbrechung dieser Auftrittsserie erforderlich, doch wurde danach die Infant Lyra in Pall Mall noch bis Ende Juli, zeitweilig bis zu vier Mal am Tag, einem zahlenden Publikum vorgeführt, wobei sie zu jedem der Auftritte um die zehn Stücke auf ihrem Instrument vortrug.³⁷ Wie aus den Anzeigen hervorgeht, alternierten Midland Counties vom . August (Nr. ), S. . Zu den Reisestationen vgl. The Morning Chronicle vom . Dezember (Nr. ), o. S.; The Morning Post vom . Dezember (Nr. ), o. S. The Morning Chronicle vom . Oktober (Nr. ), o. S. Siehe auch Coventry Herald, And Weekly Advertiser vom . September (Nr. ), o. S. Siehe Jackson’s Oxford Journal vom . November (Nr. ), o. S. Siehe The Morning Chronicle vom . Dezember (Nr. ), o. S.; The Morning Post vom . Dezember (Nr. ), o. S. Zum Teil war in Anzeigen von einem »Large Room« oder »Grand Room« die Rede, es wurde jedoch immer dieselbe Adresse angegeben. Siehe die Anzeige und die entsprechende Nachricht in : The Bath Chronicle vom . Februar (Nr. ), o. S.; siehe [Anon.], »The Infant Lyra«, in : La Belle Assemblée, or Court and Fashionable Magazine /Nr. (Juli ), S. .
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im Apollo Saloon diese Auftritte ab einem bestimmten Zeitpunkt (ähnlich wie zuvor in der Dubliner Royal Arcade) mit der Ausstellung von Musikautomaten oder – bei Abendvorstellungen – mit dem Klavierspiel Ferdinand Panormos.³⁸ Es war zwar nicht die Audienz des Königs, aber immerhin der Auftritt vor Prinzessin Sophia und der Herzogin von Kent, mit dem hier geworben werden konnte, und der der Presse zufolge am . Dezember im Kensington Palace stattgefunden hatte.³⁹ Das Gehör Georges IV. erreichte die Infant Lyra übrigens allem Anschein nach zeitlebens nicht, trotz der entsprechenden Ankündigungen in diversen Organen und trotz einer noch Jahre später in einer Nachricht aus Derby geäußerten diesbezüglichen Behauptung.⁴⁰ Ebenso gaben Londoner Zeitungen im April bestenfalls ein Gerücht wieder, als sie verkündeten, dass die junge Musikerin anlässlich der Krönungszeremonie Charles X. nach Frankreich eingeladen worden sei und sich gerade zur Abreise vorbereite.⁴¹ Diese Einladung jedenfalls, wenn sie denn überhaupt je ausgesprochen worden war, wurde nicht wahrgenommen. Es zeigt sich an den Bei Siehe die Anzeigen in : The New Times vom . Februar (Nr. ), o. S., bis zur Ausgabe vom . April (Nr. ), o. S.; The British Press vom . Februar (Nr. ), o. S., bis zur Ausgabe vom . April (Nr. ), o. S.; The Observer vom . Februar (Nr. ), o. S., bis zur Ausgabe vom . März (Nr. ), o. S.; The Morning Post vom . Februar (Nr. ), o. S., bis zur Ausgabe vom . Juni (Nr. ), o. S.; The Morning Chronicle vom . Februar (Nr. ), o. S., bis zur Ausgabe vom . Juni (Nr. ), o. S.; The Times vom . Februar (Nr. ), o. S., bis zur Ausgabe vom . Juni (Nr. ), o. S.; The Examiner vom . April (Nr. ), S. ; The Courier vom . März (Nr. ), o. S., bis zur Ausgabe vom . Mai (Nr. ), o. S.; The Age vom . Juni (Nr. ), S. , bis zur Ausgabe vom . Juli (Nr. ), S. ; The Theatrical Observer ; and Daily Bills of the Play vom . Juni (Nr. ), o. S., bis zur Ausgabe vom . Juli (Nr. ), o. S.; English Gentleman vom . Juli (Nr. ), S. , bis zur Ausgabe vom . Juli (Nr. ), S. . Jahre später erschien in der Presse eine Anekdote aus der Biographie Queen Victoria from her Birth to her Bridal (London ) von Agnes Strickland über den Besuch der Infant Lyra im Kensington Palace. Der Kern der Anekdote betraf eine soziale Grenzüberschreitung : Als man die Kinder alleine ließ, so wird hier erzählt, hätten sie angefangen, gemeinsam mit den kostbaren Spielsachen der Prinzessin zu spielen. Siehe [Agnes Strickland], »The Queen and the Infant Lyra« in : Bristol Times, and Bath Advocate vom . September (Nr. ), o. S.; in : Reading Mercury, Oxford Gazette, Newbury Herald and Berks County Paper, General Advertiser of Berks, Bucks, Hants, Oxon, Surrey, Sussex, Middlesex, and Wilts vom . September (o. Nr.), o. S.; in : The Salisbury and Winchester Journal, and General Advertiser of Wilts, Hants, Dorset, and Somerset vom . September (Nr. ), o. S. Siehe The Derby Mercury vom . Januar (Nr. ), o. S. Siehe The New Times vom . April (Nr. ), o. S.; The Morning Chronicle vom . April (Nr. ), o. S.
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spielen aber, dass eine Verbindung zum Hochadel in der Öffentlichkeit prinzipiell noch immer als Qualitätssiegel funktionierte. Dick aufzutragen war vielleicht notwendig, wollte man in der Londoner Metropole überhaupt Gehör finden, die von Unterhaltungsangeboten jeglicher Couleur – Ausstellungen, Museen, Vorlesungen, Vorführungen usw. – nach wie vor regelrecht überquoll.⁴² Recht anschaulich macht die unübersichtliche Menge und Vielfalt der Angebote ein Korrespondenzbericht des Berkshire Chronicle, der dabei in einer Fußnote auch auf die Infant Lyra verweist : »To these entertainments [= theatres], must be added, incessant morning and evening concerts, with which those griping gentry, who deal in musicals, tax all their friends, patrons, and acquaintances. Lectures on every branch of science, philanthropic and other meetings, (for these now rank among the amusements,) giants and pigmies, big fish and small horses, musical prodigies and prodigious music ; the exhibition of the Royal Academy, the Society of British Artists, and other painters in water-colours, pictures and plaster casts, tombs and temples, dioramas, panoramas, cosmoramas, naturamas, etc. etc. meet the eye in every street.«⁴³
Bei der allgegenwärtigen Konkurrenz war es keinesfalls selbstverständlich, dass ein Saal durch dieselbe Attraktion auch über einen längeren Zeitraum hinweg »crowded with Fashionables«⁴⁴ blieb, wie es die Morning Post Ende April über den Apollo Saloon meldete. Wenn die Show sogar in einem redaktionellen Beitrag der Presse aus dem augenscheinlichen Überangebot hervorgehoben wurde – was gelegentlich vorkam –, ist das ein nicht zu unterschätzendes Indiz für ihre öffentliche Ausstrahlung, waren doch Leserinnen und Leser vermutlich dankbar für eine solche Empfehlung, mit der ihnen die Qual der Wahl genommen wurde.⁴⁵ Im Übrigen gehörte die Infant Lyra – neben der Grabkammer der Egyptian Hall, der Automatenausstellung in der Gothic Hall, dem »Holy Sepulchre« (vermutlich war das Panorama des heiligen Grabes in Jerusalem gemeint) sowie den illusionistischen Bilderwelten des sogenannten Diorama – auch zu jenen touristischen Highlights, die ein Londoner Einwohner bei einem städtischen Rundgang mit seinen Besuchern ansteuerte, wovon er Vgl. Richard D. Altick, The shows of London, Cambridge u. a. , S. –. Omniana [= Pseud.], »No. XVI. – Politics and Pleasure«, in : The Berkshire Chronicle, and Forest, Vale, and General Advertiser vom . Mai (Nr. ), o. S. The Morning Post vom . April (Nr. ), o. S. Siehe die Beispiele The London Evening Chronicle vom . Juni (Nr. ), o. S., sowie La Belle Assemblée, or Bell’s Court and Fashionable Magazine /Nr. (Juni ), S. .
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im Anschluss in einem kleinen Beitrag für das Blatt The Age Zeugnis ablegte.⁴⁶ Begleitet wurden die Vorführungen außerdem von einer ganzen Reihe begeisterter Erlebnisberichte, deren auffälliges gemeinsames Merkmal es war, dass sich ein Verfasser selbst als besonders unvoreingenommener Augenzeuge darstellte, indem er zunächst eine grundsätzliche Abneigung gegenüber ›Wunderkindern‹ zum Ausdruck brachte. So war beispielsweise in einer Ausgabe des Examiner zu lesen : »Walking the other day into Pall-mall, we overtook a musical friend on his way to hear what he called the ›Infant Lyra,‹ a child only four years of age, and who had been represented as a musical prodigy. We are seldom tempted to witness the efforts of precocious genius, but strong entreaty overruled our objection, and we accompanied him to the Apollo Room, the grotesque Chinese embellishments of which formed a striking contrast to an elegant group of lovely and intelligent faces assembled to witness the performance. About half-past three o’clock, the parents introduced their infant prodigy, and our objections to prodigies were for a time lost in admiration of the pretty and interesting features of the child. A harp of small dimensions was then placed before her, and instead of the insipid monotony which might have been expected from an infant only four years old, we were surprised to hear a variety of National Airs, English, Irish, and Scottish, uniting the bold, the lively, and the pathetic, played with a neatness of execution, energy of feeling, and vivacity of manner, that surprised us. Never before were we so strongly impressed with the idea of the predominance of original genius. […]«⁴⁷
Über eine etwaige Einflussnahme auf solche Berichte durch die Familie Rudkin oder die Betreiber des Apollo Saloon ist nur zu mutmaßen. An anderer Stelle zeigt sich hingegen deutlich, wie weit die Bemühungen der Veranstalter damals reichten, um nicht nur die Aufmerksamkeit des Lesepublikums, sondern auch die der Passanten in den eleganteren Stadtvierteln der Metropole auf sich zu ziehen. Man konnte sich nicht allein auf die Presse verlassen, um den Zustrom der Kundschaft sicherzustellen. Daher gehörte es im London der ersten Hälfte des . Jahrhunderts zum normalen Straßenbild, dass auf Siehe The Age vom . Juni (Nr. ), S. . S., »The Infant Lyra«, in : The Examiner vom . März (Nr. ), S. . Erneut abgedruckt in : The Kaleidoscope ; or, Literary and Scientific Mirror /Nr. (. April ), S. . Dasselbe rhetorische Schema fand sich auch bei B. H., »The Infant Lyra«, in : The Literary Chronicle And Weekly Review /Nr. (. Juli ), S. und [Anon.], »The Infant Lyra«, in : The New Times vom . April (Nr. ), o. S.
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fällig gekleidete Standartenträger durch die Stadt zogen und auf das Angebot von Unterhaltungsveranstaltungen oder Geschäften hinwiesen. Es war ein über die, schon lange zuvor gebräuchlichen, einfachen informativen Anschlagzettel hinausgehendes Mittel, auf die Interessen im öffentlichen Raum Einfluss zu nehmen. Eine Illustration von George Scharf, einem aus Bayern stammenden Künstler mit ausgeprägtem Interesse an den Alltagsszenen, die sich auf den Straßen der Metropole tagtäglich abspielten, belegt eindeutig (siehe die Figur links im Bild), dass dieses Mittel auch für die Vorführungen der Infant Lyra ausgeschöpft wurde (Abbildung ).⁴⁸ Für das Musikleben waren solche Praktiken in London wohl nichts Ungewöhnliches. So konnte man beispielsweise auch eine Reklame für Musikertruppen »auf mirabolanten Zetteln abgebildet, im buntesten Druck, von buntgekleideten Männern in den Strassen umhergetragen«⁴⁹ beobachten, wie sich in einer frühen Biographie des Pianisten und Komponisten Ignaz Moscheles nachlesen lässt. Eine Aufzählung verschiedener Werbemaßnahmen für die Infant Lyra ist durch einen Reisebericht überliefert, der einige Jahre später in einer deutschen Zeitschrift erschienen ist. Zwar ist dem Bericht wegen seiner moralisierenden Absichten hinsichtlich einer von ihm verteufelten Kommerzialisierung der Musik und seiner Mutmaßungen über eine Dressur des Kindes, das »wie eine Flöten-Uhr«⁵⁰ aufgezogen gespielt hätte, mit Vorsicht zu begegnen. Angesichts der konkurrierenden Angebote aber wären die darin beschriebenen Methoden, dem Künstlernamen im öffentlichen Raum zu entsprechender Präsenz zu verhelfen, in dieser oder ähnlicher Form aber durchaus denkbar gewesen : »Es blieb mir bald kein Zweifel, daß es in London nicht geschwind geht, mit der Musik zu verdienen, wenn man nicht etwa den Weg der ›Infant-Lyra‹ einschlagen will. ›Infant-Lyra‹ nannte sich eine kleine bildhübsche Schottin [sic], die erträglich Harfe spielen konnte. Der Vater, Beschützer oder Rathgeber des kleinen Mädchens Siehe zu dem Beispiel wie zur generellen Praxis Brigitte Huber, Mainburg – London. Der Altbayer Johann Georg Scharf (–) als Bildchronist der englischen Hauptstadt, Regensburg , S. , ; Peter Jackson, George Scharf ’s London. Sketches and Watercolours of a Changing City, –, London , S. –. Charlotte Moscheles, Aus Moscheles’ Leben. Nach Briefen und Tagebüchern, Bd. , Leipzig , S. . Ähnliches berichtete aus London auch Hermann von Pückler-Muskau, Briefe eines Verstorbenen. Ein fragmentarisches Tagebuch aus Deutschland, Holland und England, geschrieben in den Jahren , und , Bd. , Stuttgart , S. . [Anon.], »Momente aus dem Leben eines Musikers. Der Musiker in London. (Fortsetzung.)«, in : Thalia. Norddeutsche Theater-Zeitung, Kunst- und schönwissenschaftliches Unterhaltungs-Blatt []/Nr. (), Sp. .
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Abb. 11 : George Scharf, Men and boys with advertising boards, Zeichnung, [London ~1825 ?].
wußte das Ding beim rechten Zipfel anzugreifen. Er miethete ein Lokal in einer der elegantesten Straßen vom West-End. Im Saal errichtete er eine Art Thron, mit Drapperien und Emblemen verziert. Ueber der Thür des Hauses befand sich ein ungeheuer buntes Aushängeschild, in dessen Mitte die colossalen Buchstaben ›Infant-Lyra‹ prangten und noch nicht zufrieden mit dieser Ankündigung, befahl er zweien gemietheten Lakaien, in phantastischem halb spanischen halb altenglischen Costüm, sich wie Hellebardirer auf das Trottoir zu stellen, so daß die Vorübergehenden sie entweder umstoßen, oder ihnen höflich ausweichen mußten. Statt des Spießes hielten diese mit ausgespreiztem rechten Arme hohe Stangen, woran oben eine viereckige Tafel befestigt war, die wiederum in Messing das ›Infant-Lyra‹ zu lesen bot. Nächst den genannten Anlockungen begrüßte Einen das ›Infant-Lyra‹ in allen Farben des Regenbogens von den Straßenzetteln, aus allen Zeitungen und von kleinen Zettelchen, welche den Straßengängern von Agenten wie Liebesbriefchen freundlich lächelnd und geheimnißvoll in die Hand gedrückt wurden. Diese wüthende Attaque auf die Theilnahme des Publikums hatte Erfolg.«⁵¹
Bevor die Vorführungen in London fortgesetzt wurden, bereiste die Familie Rudkin im Sommer den südlichen Teil Englands. Auftrittsmöglichkeiten Ebd.
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eröffneten sich hier insbesondere in den Hotels touristisch belebter Küstenorte. So ist etwa eine Aufführung am . Juli im Howes’s Royal Hotel am Cecil Square (»Howes’s Rooms«) in Margate organisiert worden, einem gehobenen Etablissement, das seinen Gästen – neben dem obligatorischen Seeblick – Billardtische, einen Kartenspielraum, einen Ballsaal und eben regelmäßige Konzerte bot.⁵² Mitte August spielte die junge Musikerin dann im Swan Royal Hotel in Hastings, Anfang September in den Steyne Hotel Assembly Rooms in Worthing.⁵³ Danach ging es weiter Richtung Southampton und nach einem Abstecher nach Portsmouth über Winchester der Stadt Chichester entgegen, wo die Infant Lyra schließlich am . Oktober im Swan Inn auftrat.⁵⁴ Kurze Zeit später hielten sich die Rudkins in Brighton auf, wo man sie dem Publikum im Royal York Hotel präsentierte.⁵⁵ Zu den Vorteilen dieser Reiseroute gehörte es auch, dass der englische Hochadel hier einen Teil seiner Sommerresidenzen pflegte. So konnte die Familie bei der Rückkehr in die Hauptstadt auf ein Zusammentreffen mit Herzog und Herzogin von Cambridge, Herzogin von Gloucester, Prinz George, Prinzessin Augusta Amelia und anderen Mitgliedern der königlichen Familie hinweisen, das sich im Juli in einem Adelssitz in Weymouth, dem sogenannten Gloucester House, ereignet hatte.⁵⁶ In London wählte sie für die Vorführungen ab dem . Januar zunächst die Gothic Hall am Haymarket.⁵⁷ Siehe The Morning Post vom . Juli (Nr. ), o. S. Zum Royal Hotel, siehe etwa [Anon.], The Picturesque Pocket Companion to Margate, Ramsgate, Broadstairs, and the Parts Adjacent ; Illustrated with One Hundred and Twenty Engravings on Wood by G. W. Bonner, London , S. –. Siehe The Sussex Advertiser : Or, Lewes and Brighthelmston Journal vom . August (Nr. ), o. S.; The Morning Post vom . September (Nr. ), o. S. Siehe The Dorset County Chronicle, and Dorchester, Weymouth, Poole, and West of England Advertiser vom . September (Nr. ), o. S.; Hampshire Telegraph and Sussex Chronicle, And General Advertiser for Hants, Sussex, Surrey, Dorset, and Wilts vom . September (Nr. ), o. S.; The Bucks Gazette, Windsor and Eton Express, and Reading Journal vom . Oktober (Nr. ), o. S.; Hampshire Chronicle and Southampton Courier ; Or, South and West of England Pilot vom . Oktober (Nr. ), o. S. und vom . Oktober (Nr. ), o. S. Siehe The Morning Post vom . November (Nr. ), o. S.; The Sussex Advertiser : Or, Lewes and Brighthelmston Journal vom . November (Nr. ), o. S. Hier entging das Mädchen angeblich nur knapp einem Unfall mit einem durchgegangenen Pferd, siehe The Morning Post vom . November (Nr. ), o. S. Siehe The Morning Post vom . Januar (Nr. ), o. S.; The Morning Chronicle vom . Januar (Nr. ), o. S.; The New Times vom . Januar (Nr. ), o. S.; The Times vom . Januar (Nr. ), o. S. Siehe The Morning Post vom . Januar (Nr. ), o. S.; The Morning Chronicle vom
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Zu ihrem Zweck hatte man in der ersten Etage einen separaten Raum hergerichtet, während es im eigentlichen Ausstellungssaal Androiden und Automaten sowie eine Sammlung alter Militaria zu sehen gab.⁵⁸ Eine Weile lang konnte man die Infant Lyra dann auch in der Town Hall in Cambridge spielen sehen, bevor die Auftritte an der alten Adresse in Pall Mall ab dem . März weitergeführt wurden.⁵⁹ Zur Zielgruppe all dieser Veranstaltungen gehörten im Übrigen auch Kinder. So enthielten die Anzeigen von Beginn an Hinweise auf eine entsprechende Ermäßigung des regulären Eintritts von Schilling und Pence oder auch Angebote für günstige Familientickets. Ab wurde gelegentlich auch auf einen verringerten Eintritt für Erziehungspersonal hingewiesen sowie der Besuch schulischer Einrichtungen gegen ein Entgelt von Guinee angeboten.⁶⁰ Auch auf die Möglichkeit privater Buchungen der jungen Musikerin, für die man je nach Tageszeit zwischen und Guinee verlangte, wiesen die Annoncen hin. Zwei Belege dafür, dass auch dieses Angebot rege angenommen wurde, kann man der Rubrik »Fashionable World« der Morning Post entnehmen. Zunächst erschien hier eine kurze Notiz über eine »very small and early party for Children, to hear the Infant Lyra«⁶¹, zu der Lady Arundell am . Mai geladen hatte. Gemeinsam mit anderen Musikerinnen und Musikern sollte sie außerdem am Abend des . Januar die Mitternachtseinlage vor einem erlesenen Kreis an Gästen geben, die eine Mrs. Coutts für eine sogenannte Conversazione bei sich versammelt hatte.⁶² Hieran zeigt sich einerseits eine . Januar (Nr. ), o. S.; The Times vom . Januar (Nr. ), o. S.; The Theatrical Observer ; and Daily Bills of the Play vom . Januar (Nr. ), o. S., bis zur Ausgabe vom . Februar (Nr. ), o. S. Siehe etwa die Anzeige in The New Times vom . Februar (Nr. ), o. S. Zu dieser Ausstellung siehe auch Richard D. Altick, The shows of London, S. . Siehe The Cambridge Chronicle and Journal, And Huntingdonshire Gazette vom . März (Nr. ), o. S. Siehe The Morning Chronicle vom . März (Nr. ), o. S.; The Times vom . März (Nr. ), o. S.; The Theatrical Observer ; and Daily Bills of the Play vom . März (Nr. ), o. S. bis zur Ausgabe vom . April (Nr. ), o. S. Siehe beispielsweise The Cambridge Chronicle and Journal, And Huntingdonshire Gazette vom . November (Nr. ), o. S. Im Übrigen wurde auch für die erste Ausgabe des neuen Juvenile Magazine, and Polite Miscellany mit einem Porträt der Infant Lyra geworben. Siehe etwa The Literary Chronicle And Weekly Review /Nr. (. Dezember ), S. . The Morning Post vom . Mai (Nr. ), o. S. Siehe The Morning Post vom . Januar (Nr. ), o. S. Hierbei handelte es sich wohl um eine private Soirée, obwohl ab der Jahrhundertmitte auch, durch wissenschaftliche Gesellschaften o. ä. organisierte, öffentliche Abendveranstaltungen als conversaziones bezeichnet wurden. Siehe dazu Samuel J. M. M. Alberti, »Conversaziones and the Experience of Science in Victorian England«, in : Journal of Victorian Culture /Nr. (), S. –.
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auch in London noch immer existierende enge Wechselbeziehung zwischen der urbanen Öffentlichkeit und der privaten Sphäre der Salons. Andererseits signalisieren die festen Gagen, dass sich diese Beziehung hier vom traditionellen mäzenatischen Protektorat schon signifikant in Richtung einer selbstständigen Unternehmerschaft nach den Gesetzen eines Marktes entfernte. Nachdem seit Beginn der Englandreise eine der Schwestern gelegentlich in die Auftritte der Infant Lyra einbezogen worden war, traten jetzt nach und nach weitere Familienmitglieder ins Rampenlicht. Eine Anzeige für den Apollo Saloon verkündete am . März , dass von nun an auch die älteste Schwester des Mädchens am Klavier auftreten werde und neben der Mutter einige der gespielten Kompositionen beisteuern würde, unter denen sich etwa »Favourite Airs, with Variations« befanden, die jene bereits im Kindheitsalter und auf ausdrücklichen Wunsch (»by the express wishes, and under the patronage«) der mittlerweile verstorbenen Prinzessin Charlotte von Wales geschrieben hätte.⁶³ Ebenso informierte die Werbung darüber, dass wohlhabende Gastgeberinnen und Gastgeber für Besuche der kleinen Harfenistin jetzt auch weitere der insgesamt fünf weiblichen Personen für jeweils Guinee hinzubuchen könnten. Wenig später war in der Presse von bevorstehenden »Infant’s Family Concerts« die Rede, an denen sich die Mutter des Mädchens in der Rolle als Sängerin sowie drei aus Irland angereiste Schwestern beteiligen würden.⁶⁴ Das erste dieser Konzerte fand am . April im Apollo Saloon statt. Obwohl es nicht gesondert in den Zeitungen beworben worden wäre, sei der Saal überfüllt gewesen, berichtete danach ein Journalist der Morning Post, wusste ansonsten aber nicht viel über dieses Ereignis zu sagen, außer dass das Publikum (einmal mehr) zu Tränen gerührt gewesen wäre : »An entertainment so truly interesting has not been seen for a long time ; the appearance altogether of the Mother and her four Daughters seemed to excite a feeling which may be conceived. On the latter subject we shall merely add, that many were moved to tears.«⁶⁵
Die Vorführungen, die im Apollo Saloon auch weiterhin regulär jeden Nachmittag zweimal stattfanden, wurden fortan »The Infant Lyra’s Family Musical Siehe The Morning Chronicle vom . März (Nr. ), o. S. Siehe The Morning Post vom . März (Nr. ), o. S. Siehe [Anon.], »The Infant Lyra’s Family Concerts«, in : The Morning Post vom . April (Nr. ), o. S.
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Rehearsel« genannt. Ein zweites Konzert wiederum wurde am . April veranstaltet und versprach dem Publikum unter anderem eine »performance of one of those young Ladies on both Harp and Pianoforte at the same time«, ein Kunststück, das wohl zum Repertoire der ältesten Schwester gehörte.⁶⁶ In der Modezeitschrift La Belle Assemblée findet sich außerdem ein Hinweis darauf, dass auch während dieser Auftritte für private Vermittlungen geworben wurde : »The family, of which this young lady is a member, seem to be all musical ; as, by the bills distributed in the room, we learn that her mother and three sisters, the eldest of whom is said to have composed nearly three hundred pages of music between her eight and twelfth years, aided by the the Infant Lyra herself, occasionally attend the evening parties of the nobility, furnishing an entertainment of much interest upon the grand piano-forte and four harps.«⁶⁷
Während der nächsten Saison begab sich die Familie erneut auf die Reise. Sie machte sich im November erst einmal auf den Weg nach Cambridge, wo sie einen Saal im Hoop Hotel anmietete. Im Monat darauf ging es zum Chequers’ Inn nach Oxford. Hier standen unter anderem Harfenduette mit einer der Schwestern sowie erste Eigenkompositionen der Infant Lyra auf dem Programm.⁶⁸ Um Weihnachten herum trat die junge Musikerin außerdem in Cheltenham auf.⁶⁹ Am . Februar eröffnete sie mit ihrem Harfenspiel in Bath eine prunkvolle Theaterveranstaltung mit anschließendem Ball, die im Gedenken an die Krönung Georges IV. ausgerichtet wurde.⁷⁰ Im Mai des Jahres fanden dann im Market House in Taunton tägliche Vorführungen statt, danach (erneut mit gelegentlicher Unterstützung ihrer Schwester) im Street’s Hotel in Exeter.⁷¹ Ungefähr zu diesem Zeitpunkt trat ein weiteres Familienmit-
Siehe The Morning Chronicle vom . April (Nr. ), o. S. [Anon.], »The Infant Lyra«, in : La Belle Assemblée, or Court and Fashionable Magazine /Nr. (April ), S. . Siehe The Cambridge Chronicle and Journal, And Huntingdonshire Gazette vom . November (Nr. ), o. S.; The Oxford University and City Herald vom . Dezember (Nr. ), o. S. und vom . Dezember (Nr. ), o. S. Siehe The Morning Post vom . Dezember (Nr. ), o. S. Siehe [Anon.], »Bath Dramatic Fête and Fancy Dress Ball, In honour of His Majesty’s Accession«, in : The Bath Chronicle vom . März (Nr. ), o. S., sowie in : Oxberry’s Dramatic Biography and Histrionic Anecdotes (), S. –. Siehe The Taunton Courier, And Western Advertiser vom . Mai (Nr. ), o. S.; Trewman’s Exeter Flying Post : Or, Plymouth and Cornish Advertiser vom . Mai (Nr. ), o. S.
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glied in Erscheinung, ein Bruder der Infant Lyra, der hinsichtlich seines Alters die berühmte Schwester sogar noch unterbot : »During the late performance of the Infant Lyra on the Harp, in this town, a very surprising instance of innate predilection for music was exhibited in a child only thirteen months old, belonging to the same parents. Although just weaned, the bantling boy beats time with singular precision to several popular airs ; and, as far as its present incapacity of speech allows, expresses them by tones delivered with great accuracy. If in the progress of a tune with which the child is familiar, commenced by another person, any notes are omitted, the child supplies them. This faculty was displayed repeatedly before large companies, after his very juvenile sister’s performance last week, to the great surprise of every one present.«⁷²
Das trommelnde und singende Baby wurde zum festen Bestandteil des Programms. Um diese Attraktion bereichert, ließen sich in den Vorführungen nun all jene frühkindlichen Fähigkeiten einer Naturbegabung direkt beobachten, die man im Falle des Mädchens höchstens aus retrospektiver Erzählung kannte. Unter dem Titel »The Infant Lyra and her Baby Brother« reiste das Veranstaltungsformat mit der Familie umher und kam in nur einem halben Jahr vom äußersten Südwesten Englands bis nach Edinburgh.⁷³ In der schottischen Hauptstadt wurden dem Publikum vom . Dezember an in den Gibb’s Waterloo Rooms vier Vorstellungen täglich angeboten.⁷⁴ Dabei erscheint es aus heutiger Sicht gewissermaßen als Ironie der Geschichte, dass das dort zeitgleich ausgestellte Wachsfigurenkabinett der Madame Tussaud damals an der großen Popularität der Infant Lyra gemessen wurde und nicht umgekehrt.⁷⁵ Das Auftrittsmuster wurde auch an anderen Orten beibehalten, nur dass in kleineren Städten der Aufenthalt eben entsprechend kürzer ausfiel, beispiels The Taunton Courier, And Western Advertiser vom . Mai (Nr. ), o. S. Der Bericht erschien erneut in : Hampshire Telegraph and Sussex Chronicle, And General Advertiser for Hants, Sussex, Surrey, Dorset, and Wilts vom . Mai (Nr. ), o. S.; Devizes and Wiltshire Gazette vom . Mai (Nr. ), o. S. Auf dem Weg wirkte die Infant Lyra auch bei einem Konzert am . September in Leeds mit. Siehe The Leeds Mercury vom . September (Nr. ), o. S.; The Leeds Intelligencer, and Yorkshire General Advertiser vom . Oktober (Nr. ), o. S. The Edinburgh Advertiser vom . Dezember (Nr. ), S. ; Caledonian Mercury vom . Dezember (Nr. ), o. S. und vom . Dezember (Nr. ), o. S. Ein Aufenthalt in St Andrews wird erwähnt bei Anne Chalmers, Letters & Journals, S. . Siehe [Anon.], »Exhibition of Figures«, in : The Edinburgh Advertiser vom . Januar (Nr. ), S. .
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weise in Sheffield, wo für Mitte November lediglich zwei Tage anberaumt wurden.⁷⁶ Auch diese Reise begleitete eine der älteren Schwestern, wie sich aus dem gelegentlichen Angebot zum Harfenunterricht in den entsprechenden Zeitungsanzeigen der Auftritte schließen lässt. Zurück nach London kehrte die Familie erst wieder gegen Ende des Jahres . Nun waren es die Argyll Rooms, in denen am . November die Vorführungen begannen. Der jüngere Bruder wurde hierfür als »The Infant Mozart« angekündigt : »The Infant Lyra’s talents have ever been considered wonderful, but her little brother is a perfect miracle of science. Although a baby in his nurse’s arms, hardly able to articulate a word of our language, he accompanies his sister on his little harp with all the steadiness of an old musician. He catches any air placed before him with incredible facility ; and, what must appear almost miraculous, he attaches regular bases to her tunes without the least hesitation, so that his performance would not sour the ear of the greatest critic.«⁷⁷
Es war der letzte und erfolglose Versuch, noch einmal für Aufsehen zu sorgen. Die Londoner Presse zeigte an dem Phänomen kaum mehr ein Interesse, zumindest im Vergleich mit jenem Enthusiasmus, den der musizierende Unschuldsengel namens Infant Lyra noch vor ein paar Jahren in der Öffentlichkeit hervorgerufen hatte. Die Rudkins entgingen dem Schicksal nicht, das Musikerfamilien damals so oft ereilte, wenn sie darauf spekulierten, den Erfolg eines Kindes in den jüngeren Geschwistern fortzusetzen. Die Figur der Infant Lyra hingegen hatte sich ins Bewusstsein eingebrannt. Sie war über die Jahre hinweg augenscheinlich zu einem Maß an Prominenz gelangt, das sie zu einem Bestandteil des kollektiven Gedächtnisses zumindest einer bestimmten Generation werden ließ. Zeichen einer solchen Ikonisierung zeigen sich an mehrerlei Stellen, am deutlichsten in den poetischen Huldigungen, die selbst noch Jahre nach dem Ende der Karriere publiziert wurden.⁷⁸ Zudem lassen sich wenigstens zwei musikalische Kompositionen nachweisen, Siehe Sheffield Independent, and Yorkshire and Derbyshire Advertiser vom . November (Nr. ), o. S. Zum Auftritt in Manchester siehe William Wright, »Liszt in Manchester«, S. . Siehe [Anon.], »The Infant Mozart and his Sister Lyra«, in : The Morning Chronicle vom . November (Nr. ), o. S. Siehe etwa auch die Anzeigen in The Morning Post vom . November (Nr. ), o. S.; The Morning Journal vom . November (Nr. ), o. S. Siehe Kapitel ., S. –.
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die ihr gewidmet waren, ein Klavierstück mit dem Titel La Festa ( ?) der Pianistin, Musiklehrerin und Komponistin Maria Hinckesman sowie die elfte Ausgabe der Three Favorite Airs eines R. Schroeder.⁷⁹ Nicht nur selbst an ihrer Rezeption mitgewirkt, sondern zugleich eine Einschätzung ihres Ruhms abgegeben hat der Dramatiker und Theaterdirektor William Thomas Moncrieff – und zwar, indem er in seinen humoresken Versen »Paul Pry’s New London Directory for « die Zeile »The Infant Lyra, all admire her« (in der Strophe »Four-and-twenty exhibitions, all of a row«) unterbrachte. Der frei nach dem Volkslied Four-and-twenty Fiddlers all of a Row geschriebene Gassenhauer wurde ab dem . Mai auch am Astley’s Royal Amphitheatre in Moncrieffs Komödie Paul Pry on Horseback gesungen.⁸⁰ Analog dazu lässt sich bei näherer Betrachtung auch in der Parade der Standartenträger von George Scharf eine historische Bewertung sehen, da die Figuren stellvertretend für bestimmte Jahreszahlen standen, die zusammen eine Zeitleiste am unteren Bildrand bilden (Abbildung ). Die Infant Lyra wurde zu einer Art Topos der englischen Alltags- und Unterhaltungskultur und das Pseudonym schließlich auch auf ganz andere Gegenstände übertragen. So bewegte man sich in eleganteren Ballsälen zu jener Zeit zu einem Gesellschaftstanz mit dem Titel »the Infant Lyra«⁸¹. Außerdem konnte man damals seine Wetten auf ein Pferd des besagten Namens setzen, das offensichtlich nach der berühmten Musikerin getauft worden war, bevor es im Mai in Chester sein erstes Derby rannte.⁸² Als eine Art Synonym für Frühbegabung scheint die Infant Lyra auch in den alltäglichen Sprachgebrauch eingesickert zu sein, wie einige Beispiele demonstrieren. In der Siehe R. Schroeder, Three Favorite Airs, Arranged for the Harp or Piano Forte. No. , London []. Zu Hinckesman, inklusive einer Werkliste, siehe Michael Kassler, »The Remarkable Story of Maria Hinckesman«, in : Musicology Australia (), S. –. Ein Hinweis auf die Widmung findet sich in einer Anzeige in : The Atlas. A General Newspaper and Journal of Literature vom . Juni (Nr. ), S. . Siehe [William Thomas] Moncrieff, »Paul Pry’s New London Directory for «, in : The Universal Songster ; or, Museum of Mirth (), S. – ; John Liston (Hg.), Liston’s Drolleries ; A Choice Collection of Tit Bits, Laughable Scraps, Comic Songs, Tales, and Recitations, Fourth Collection, London : John Duncombe [ ?], S. –. [Anon.], Goulding & D’Almaine’s Twenty-Four Country Dances for the year with proper figures and directions to each dance, performed at Almack’s, Bath and all Public Assemblies, London [ ?]. Siehe Chester Courant, and Anglo-Welsh Gazette : Advertiser for Cheshire, Salop, Lancaster, Stafford & Derby vom . Mai (Nr. ), o. S.; Chester Chronicle, and Cheshire and North Wales Advertiser vom . Mai (Nr. ), o. S. Ein spätes Rezeptionsbeispiel stellt eine in Boston publizierte Anekdote über ihr Harfenspiel dar. Siehe Kazlitt Arvine, The Cyclopædia of Anecdotes of Literature and the Fine Arts […], Boston , S. .
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Literaturzeitschrift Foreign Quarterly Review von verglich ein Rezensent das Phänomen etwa mit der Erfindung der Dampfmaschine : »Of inventions, as of infants, some are occasionally observed shooting rapidly up to precocious maturity, and, like the infant Lyra, or the young Roscius [= William Henry West Betty, J. T.], attaining an early perfection of power, which subsequent training and extended experience never enable them to surpass.«⁸³
Der Arzt und Reiseschriftsteller Augustus Bozzi Granville titulierte Henriette Sontag beziehungsweise Gesangsvirtuosinnen ihres Schlags abschätzig als »Infant Lyras«⁸⁴ und äußerte die Ansicht, dass man diese ob ihres hübschen Aussehens und ihrer Frühreife voreilig feierte, anstatt ihnen zunächst richtigerweise eine dramatische Ausbildung zukommen zu lassen. Als entsprechendes Sprachbild findet sich der Begriff schließlich noch in einer Satire zeitgenössischer Lieddichtung, deren fiktiver Autor unterstrich, dass er auf keinen Fall »as an extraordinary instance of precarious talent, nor as Infant Lyra«⁸⁵ gelten wolle. Die nachhaltige Präsenz der Infant Lyra im englischen Sprachgebrauch kann indes nicht darüber hinwegtäuschen, dass zur selben Zeit eine größere Zahl virtuos musizierender Kinder um die Gunst des Publikums stritten.⁸⁶ Das war auch in England ein häufiger Auslöser kritischer Kommentare über vermeintliche modische Verirrungen der Gegenwart :
[Anon.], »Art. VII. – . ›Considérations sur les Chemins de Fer, et sur les Machines Locomotives‹, par M. J. Cordier. Paris, . vo. . ›Traité pratique sur les Chemins en Fer, et sur la Théorie des Chariots à Vapeur, &c., traduit de l’Anglais de M. Tredgold‹, par J. Duperré. Paris, . vo.«, in : The Foreign Quarterly Review /Nr. (Oktober ), S. . Zu dem ähnlich berühmten Kinderschauspieler Betty siehe umfassend Jeffrey Kahan, Bettymania and the Birth of Celebrity Culture, Bethlehem (Pennsylvania) . Augustus Bozzi Granville, St. Petersburgh. A Journal of Travels to and from that Capital ; Through Flanders, the Rhenish Provinces, Prussia, Russia, Poland, Silesia, Saxony, the Federated States of Germany, and France, Bd. , London , S. . Der entsprechende Abschnitt erschien bereits als Vorabdruck : Augustus Bozzi Granville, »Mademoiselle Sontag – the Beautiful Opera Singer«, in : The Athenæum. London Literary and Critical Journal o. Jg./Nr. (. April ), S. –. B. A. D. [= Pseud.?], »Billingsgate Melodies«, in : Literary Lounger /o. Nr. (März ), S. . Zur Vielzahl der Kindervirtuosen in der Londoner Öffentlichkeit insbesondere ab den er Jahren, vgl. Yvonne Amthor, »The perception of musical prodigies in London Concert Life between and «, in : Die Tonkunst /Nr. (), S. –.
| The Infant Lyra : Ikone der Unschuld »This is certainly a musical era of no common interest. Prodigies crowd so thickly upon us that we have hardly time to express our admiration of one before another starts up. The Infant Lyra, who succeeded Master Listz [sic], as the lion of the day, was in turn succeeded by the Musical Sisters ; Master Harrington had scarcely established himself at the Egyptian Hall, before we were summoned to Covent Garden, to hear the four German brothers, Hermann : and that melodious quatuor had barely enjoyed the ›nine days,‹ granted from time immemorial to all new ›wonders,‹ ere four other brothers, with a sister to boot, threatened to engross all the wonder and all the admiration of this wondering and admiring age.«⁸⁷
Eine unmittelbare Konkurrenz zur Familie Rudkin ging in London insbesondere von den »Musical Infant Sisters« Mary und Sarah Ann Manning aus, die dort täglich in der Egyptian Hall auftraten und Vergleiche zur Infant Lyra besonders nahelegten : »The success, we presume, of the Infant Lyra, has stimulated the parents and friends of other musically-gifted children to offer them to public notice. A few weeks ago, two delicate-looking little girls, of the age respectively of four and seven years, were brought out at the Egyptian Hall, Piccadilly, to perform on the harp and piano-forte. Considering the tender age of the children, and the very slight instruction which they are said to have received, they played with much correctness, spirit, and effect – not merely simple airs, but difficult and complicated pieces, from some of our great composers. Wanting, however, the apparent enthusiasm of the Infant Lyra, we can scarcely venture to anticipate for them an equal share of success.«⁸⁸
Da die Rudkins ihre Tochter unter einem Pseudonym auftreten ließen und der Familienname in der Öffentlichkeit kaum bekannt gewesen sein dürfte, waren Verwechslungen vorprogrammiert. Für Verwirrung sorgte wahrscheinlich, dass im November bei der Ankündigung zweier Konzerte im Theater der Rotunda in der Great Surrey Street »the celebrated Infant Lyra and her Sister, whose astonishing performances on the Harp and Pianoforte have been so much admired at the Egyptian Hall [ !], Piccadilly«⁸⁹ versprochen wur-
[Anon.], »Announcement Extraordinary«, in : The Harmonicon /Nr. (), S. . Auch erschienen in : The Examiner vom . Juni (Nr. ), S. . [Anon.], »The Musical Sisters«, in : La Belle Assemblée, or Court and Fashionable Magazine / Nr. (Februar ), S. . Weekly Times vom . November (Nr. ), o. S.
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den, womit vollkommen unklar blieb, wen das Publikum hier genau erwarten durfte : die Rudkins oder die Mannings. Ein paar Jahre später musste sich ein Veranstalter des Gerüchtes erwehren, dass es sich bei den Vorführungen in den Argyll Rooms nicht um die wirkliche Infant Lyra handeln würde, sondern ein völlig anderes Kind, das bloß in ihrem Namen auftrete : »[…] we can assure our readers that in this interesting Exhibition of Genius there is no deception. That the little Lyra is alive and well need not be doubted«⁹⁰. Dass sich andere Kindervirtuosen die Identität der Harfenistin gewissermaßen anzueignen versuchten, war indes nicht allzu weit hergeholt. Zumindest übernahmen manche den Künstlernamen und profitierten damit faktisch von seiner, einer Marke gleichkommenden, Öffentlichkeitswirksamkeit. Da er keinerlei rechtlichem Schutz unterlag, war die Sache entsprechend einfach. verkündeten Anzeigen des New Strand Subscription Theatre in Westminster eine »reappearance of the original Infant Lyra and her Brother«⁹¹ (der Auftritt sollte in den Pausen zwischen den Vorstellungen der einzelnen Stücke stattfinden) und die Wortwahl ist durchaus bezeichnend. Vielleicht lag die Betonung hier auch deshalb auf »original«, weil zur selben Zeit in London der fünfjährige Master Hughes als »Infant Lyra« auftrat.⁹² Als die Familie Hughes in den er Jahren durch die USA tourte, ging der Titel dann an eine jüngere Schwester, die das amerikanische Publikum mit ihrem Harfenspiel und Gesang unterhielt.⁹³ Durch die Grafschaft Kent wiederum reiste eine singende »infant Lyra« gemeinsam mit ihrer Mutter, einer gewissen Madame Panormo.⁹⁴ Eine weitere Reinkarnation der »Infant Lyra« präsentierte die Adelaide Gallery of Practical Science in London. Dabei handelte es sich um Vorführungen von Fanny Gregory, die nach ihrem Debüt im Vorjahr als die vierjährige Nichte der früheren Infant Lyra erkannt worden war (also offensichtlich die Tochter ihrer Schwester J. Gregory).⁹⁵ Aufgrund dieser Unübersichtlichkeit bleibt es schleierhaft, ob Isabella Rudkin zuletzt vielleicht doch noch Gelegenheit hatte, vor dem The Morning Post vom . April (Nr. ), o. S. Etwa The Morning Post vom . März (Nr. ), o. S. So wurde zumindest dessen Auftritt im Wohltätigkeitskonzert zugunsten des Choral Fund am . Mai in den King’s Concert Rooms am Hanover Square beworben. Siehe The Morning Post vom . April (Nr. ), o. S.; The Times vom . Mai (Nr. ), o. S. Siehe etwa The Globe vom . April (Nr. ), o. S. Siehe B., »Canterbury«, in : The Weekly Belle Assemblée /Nr. (. Mai ), S. . Siehe The Morning Chronicle vom . September (Nr. ), o. S.; The Morning Post vom . Oktober (Nr. ), o. S.; Reading Mercury, Oxford Gazette, Newbury Herald, and Berks County Paper, General Advertiser of Berks, Bucks, Hants, Oxon, Surrey, Sussex, Middlesex, and Wilts vom . November (o. Nr.), o. S.
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britischen Königshaus aufzutreten. Es lässt sich wohl nicht mehr ermitteln, welche der »Infant Lyras« es war, die als eine der Attraktionen jener luxuriösen Festveranstaltung, die Walter und Charlotte Montagu Douglas Scott, Duke of Buccleuch und Duchess of Buccleuch, in geradezu höfischem Ausmaß im Sommer in ihrer Villa in Richmond ausgerichtet haben, auch vor dem neuen König William IV. erschien.⁹⁶
. von himmlischen sphären und häuslichen engeln Wenn die elegante Welt ihren Nachwuchs in die Vorführungen der Infant Lyra bringen ließ, stand weniger eine Heranführung an wissenschaftliche Erkenntnisse im Vordergrund, als vielmehr elterliche Hoffnungen, einen Nachahmungstrieb zu wecken. Dass Kindervirtuosen andere Kinder, die ihre Auftritte besuchten, zum Fleiß am häuslichen Musikinstrument anzuregen vermochten, war dabei keine ganz neue Einsicht. So wurde mit dem Argument in London auch schon früher geworben, wie eine geschaltete Anzeige zu William Henry Appleton, einem angeblich siebenjährigen Pianisten, verrät. Naheliegenderweise wurde darin auch auf den Musikunterricht des Vaters hingewiesen : »As emulation is the stimulus towards equalling in any Science, it is presumed, that a display of the wonderful talents of Master Appleton may excite a strong propensity to equal, or excel him. Such Parents who are training their Children in Music, can never have a more happy opportunity of setting before them an example how for genius and application may arrive at superior excellence.«⁹⁷
Die Vorführungen der Infant Lyra wurden als Bestandteil von Musikerziehung in der gehobenen Gesellschaft in dem Roman Herbert Lacy () von Tho Siehe [Anon.], »Splendid Fête«, in : The Albion and the Star vom . Juli (Nr. ), o. S., in : The Guardian and Public Ledger vom . Juli (Nr. ), o. S. und in : The Dublin Evening Post vom . Juli (Nr. ), o. S ; [Anon.], »The Duke and Duchess of Buccleuch’s Dejeuner to their Majesties«, in : The Court Journal : Gazette of the Fashionable World vom . Juli (Nr. ), S. . The World vom . Januar (Nr. ), o. S. Siehe etwa auch die Anzeigen in The Times vom . Januar (Nr. ), o. S.; The Morning Chronicle vom . Januar (Nr. ), o. S.; The Morning Post vom . Februar (Nr. ), o. S.; The True Briton vom . März (Nr. ), o. S.
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mas Henry Lister explizit angesprochen. Dabei macht dieses Beispiel trotz der fiktionalen Gattung des Romans besonders begreiflich, dass die Harfenistin gerade für Mädchen auch in der Realität als ideales Rollenvorbild gewirkt haben könnte. Thematisch verhandelte das Buch, kennzeichnend für das damals populäre Genre der silver fork novel, die Konfrontation aristokratischer mit neuen bürgerlichen Lebensumständen und Wertesystemen.⁹⁸ Die entscheidende Szene ereignet sich im vierten Kapitel, in dem der Besuch einer kleinen Gesellschaft in dem frisch renovierten, allerdings rundum geschmacklosen, Anwesen (ein ehemaliges Kloster) der bourgeoisen Familie Bingley geschildert wird. Unter den Gästen befindet sich der Protagonist des Romans, der junge Gentleman Mr. Lacy. Die obligatorische Präsentation des erarbeiteten Sozialstatus der Familie besteht aus einer Führung der Besucher über das Grundstück mit Mr. Bingley und einer Vorstellung der Kinder durch seine Gattin.⁹⁹ Die Dame wird dabei mit ausgeprägtem Hang zu neuesten Erziehungsmoden charakterisiert, der spätestens dann hervortritt, als bei der Vorstellungsrunde der Nachkommen die Reihe auf die sechsjährige Jane fällt : »›She is a very good girl, though I wish she showed more taste for music. I tell her every body likes music – how comes it that Jane does not ? I dare say Miss Morton likes music – go to that lady, my love, and ask her.‹ Encouraged by the engaging smile of Agnes, the little musician sidled up to her, asked her the question, and received the required assurance. ›And have you dot a tarryplaster ?‹ said the incredulous child, looking inquiringly in her face. ›Chiroplast, Jane ; you must learn to say chiroplast. No, Miss Morton does not want a chiroplast, no more will you, when you can play better. She does not like the chiroplast, ma’am, though she took to it wonderfully at first. I had her taught upon Logier’s system ; I have spared no pains in giving her an early taste for music. I took her last spring to see the infant Lyra – I thought it would excite her emulation. Do you remember the little Lyra, Jane ? When will you do any thing like that ? Only think how well that little girl played upon that great harp !‹
Zu diesem Roman insgesamt, insbesondere im Kontext politischer Reformen, siehe Edward Copeland, The Silver Fork Novel. Fashionable Fiction in the Age of Reform, Cambridge u. a. (= Cambridge Studies in Nineteenth-Century Literature and Culture ), S. –, –. Siehe Thomas Henry Lister, Herbert Lacy. By the Author of Granby, Bd. , London , S. – .
| The Infant Lyra : Ikone der Unschuld ›But her harp is not so big as my pianoforte,‹ said the little musician, rather piqued by the comparison. ›True, my love, but she plays it better. Edward, my dear, don’t touch that – and do stand straight, or you will grow quite crooked. Come here – hold yourself up, as the soldiers do. We think him very like his father – but you must not pull those faces – you don’t look like papa when you do so.‹«¹⁰⁰
Die Figur der Mrs. Bingley, die in dem Gespräch ihre Mühe mit der scheinbar mangelnden Zuneigung ihrer Tochter zur Musik zum Ausdruck bringt, tendiert zur Karikatur. Man muss zugleich davon ausgehen, dass die beiden von ihr genannten Methoden, nämlich die berüchtigte Handleiter-Apparatur Johann Bernhard Logiers einerseits, die damals der geballten Kritik einer Reihe an Autoritäten aus dem Umkreis der Philharmonic Society ausgesetzt war,¹⁰¹ sowie die Anreize durch einen Besuch der Infant Lyra andererseits, so weit bekannt und verbreitet gewesen sind, dass die Pointe von Listers Leserschaft verstanden werden konnte. Der pädagogische Übereifer der Mrs. Bingley wird dann noch einmal in dem Gespräch bloßgestellt, das die kleine Reisegesellschaft auf ihrem Heimweg führt.¹⁰² Während sich Lister über bestimmte Erziehungsmittel lustig macht, waren die Erziehungsabsichten, die an der Szene ebenfalls zutage treten, keine Ironie. Sie differenzierten sich auch bei den Bingleys in, für die Zeit und die soziale Schicht der fiktiven neureichen Familie, typischer Weise nach dem jeweiligen Geschlecht der Kinder aus. Bei den angedeuteten Vorbildern stehen sich Infant Lyra und Miss Morton für das Mädchen auf der einen Seite, Soldaten und Vater für den Knaben auf der anderen Seite gegenüber. Schon in der Art und Weise, in der der ungestüme Sohn zurechtgewiesen wird – was die Unterhaltung mit Jane im obigen Zitat unterbricht –, ist diese Polarität deutlich erkennbar. Auch entsprechen die konkreten Lerninhalte, die von Mrs. Bingley bei der Vorstellung ihrer beiden ältesten Kinder thematisiert werden, einer Geschlechtertrennung : Während Jane über ihr Klavierspiel Auskunft geben muss, wird der etwas ältere Edmund danach über die Funktionsweise des Thermometers befragt und tut sich durch seine Antwort als »young philosopher«¹⁰³ hervor.
Ebd., S. –. Diese Kritik äußerte sich insbesondere in [Thomas Attwood u. a.], An Exposition of the Musical System of Mr. Logier ; with Strictures on his Chiroplast, &c. &c., London . Siehe Thomas Henry Lister, Herbert Lacy, S. –. Ebd., S. .
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In einer weiteren Quelle ist die Infant Lyra ebenfalls in einer Dialogszene als potentielles Vorbild für junge Damen thematisiert worden. Wiedergegeben wurde die entsprechende Episode durch einen anonymen Gentleman, der für das Metropolitan Quarterly Magazine über eine Vorführung der Musikerin in Cambridge berichtete. Zwar unterstellte der Verfasser, dass das Gespräch auf einer wahren Begebenheit beruhe, doch präsentierte er mit den beiden Personen, die es angeblich geführt hätten, ebenso eine Karikatur wie Lister mit Mrs. Bingley. Auch er wollte offensichtlich auf etwas ganz Bestimmtes hinaus : »A little ugly pug-nosed minx, who sat just before me whispered a dignified dame beside her (during the little Lyra’s sprited [sic] performance of ›The Campbells are coming‹, which made every one present clap with rapture) saying just loud enough for me to hear, ›La ! mamma, did you ever see such an affected little creature ? I declare her conceit is beyond every thing ! My goody gracious, just look how she is tossing her arms about, and nodding at that gentleman !‹ ›Yes, my love,‹ answered the prudent mother, ›she is abominably affected. I hope you will never be like her.‹ Be not alarmed, Goody, thought I ; your envious deary has not the slightest chance of ever being in the smallest degree like her !«¹⁰⁴
Die misogyne Polemik der Passage bezieht ihre Wirkung aus einem Kontrast. Während sich der Autor des Artikels nämlich zu immer weiteren Lobeshymnen auf die Infant Lyra verstieg, wurde an dieser Stelle das Kehrbild des ihm vorschwebenden Ideals präsentiert : das verzogene, lästerliche und missgünstige Luder (»minx«), das nichts von all den musikalischen Eingebungen wahrzunehmen imstande gewesen sei, sie bloß für Arroganz und Affiziertheit des anderen, ihm an Musikalität weit überlegenen Kindes genommen habe. Das lasterhafte Wesen der jungen Besucherin äußert sich in ihrer gestelzten und gleichzeitig ordinären Sprache sowie nicht zuletzt einer zugehörigen Physiognomie (»ugly pug-nosed«). Der an dem Mädchen entlarvte Neid und der Umstand, dass es der Infant Lyra hier von Mutter wie Autor überhaupt in der Form gegenübergestellt wird, sprechen für die grundsätzliche Vergleichbarkeit der beiden. Das wiederum lässt den Schluss zu, dass jungen Damen umgekehrt eine Identifikation mit jenem Ideal nahegelegt wurde, für das die Infant Lyra in dem Bericht stellvertretend einstand. Das normative Leitbild, das sich symbolisch schon im Instrument der Harfe und dem musikalischen Repertoire, letztlich aber in Zitiert nach C., »The Infant Lyra«, in : The Spirit of the Times ; or, Essence of the Periodicals / Nr. (. Juni ), S. .
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der gesamten Erscheinung der jungen Musikerin materialisierte, dürfte ihnen jedenfalls alles andere als fremd gewesen sein, da es auch von anderen Stellen als gesellschaftlicher Anspruch ans weibliche Geschlecht an sie herangetragen wurde. Dieses Ideal und seine Repräsentation durch die Infant Lyra wird im Folgenden aus drei unterschiedlichen, für ihre Wahrnehmung in der Öffentlichkeit aber gleichermaßen wichtigen Blickwinkeln und anhand verschiedener Quellen betrachtet : einem biographischer Aufsatz, der zur Begleitung der Vorstellungen in der Londoner Pall Mall im European Magazine publiziert wurde, der Debatte, die sich in der Presse an diesen Auftritten bald entzündete, sowie schließlich dem Medium sentimentaler Gedichte, zu dessen Adressatin beziehungsweise Sujet die Infant Lyra mehrfach und selbst noch nach dem Ende ihrer Karriere gelegentlich geworden ist. Das Bild der Infant Lyra wurde spätestens nach der Ankunft in London im Jahr in seinen wesentlichen Zügen geformt und verfestigt. Dabei ist unter der Vielzahl von Berichten und Notizen an erster Stelle der umfassende Hauptartikel zur Mai-Ausgabe des European Magazine unter dem Titel »Memoir of the Infant Lyra« hervorzuheben. Der Artikel erschien mitsamt eines lithographierten Bildporträts des Kindes, dessen Original – eine Zeichnung, die wohl von Magdalena Ross stammte – zu jener Zeit in der Royal Academy of Arts im Somerset House ausgestellt wurde (Abbildung ).¹⁰⁵ Derselbe Druck wurde später außerdem einem Sammelband mit mehreren Gedichten zu Ehren der Infant Lyra beigefügt, der ohne Jahresangabe in Taunton, möglicherweise aber während des dortigen Aufenthaltes der Infant Lyra, verlegt worden ist.¹⁰⁶ Bei den Reisen sorgte die Familie anscheinend dafür, dass solche Porträtdrucke in lokalen Geschäften der gegenwärtigen Auftrittsorte zum Verkauf auslagen.¹⁰⁷ Übereinstimmend mit anderen Abbildungen der Musikerin lässt sich auch an dem Konterfei im European Magazine ein bestimmter Modestil erkennen, der für die Frage nach einer Identifikation mit anderen Mädchen nicht zu vernachlässigen ist. Mit dem bestickten weißen Chemisenkleid, der hoch zusammengebundenen farbigen Schärpe, den Wäschehöschen und der Kurzhaarfrisur entsprach ihr Erscheinungsbild exakt der eleganten Mädchenmode der Zeit und sie war den jungen Damen im Publikum dadurch zumindest schon einmal äußerlich
Siehe [Anon.], »Memoir of the Infant Lyra«, in : The European Magazine, and London Review /o. Nr. (Mai ), S. ; [Anon.], The Exhibition of the Royal Academy, MDCCCXXV. The Fifty-Seventh, London [], S. . Siehe o. Hg., Poetry, by Various Hands, Inscribed to the Infant Lyra, Taunton[ ?]. Das geht in Bezug auf St Andrews hervor aus Anne Chalmers, Letters & Journals, S. .
Von himmlischen Sphären und häuslichen Engeln | Abb. 12 : Thomson, »The Infant Lyra«, Lithographie nach einer Zeichnung von [Magdalena ?] Ross, in : The European Magazine, and London Review 87/o. Nr. (Mai 1825), o. S.
ähnlich.¹⁰⁸ Das heißt wiederum nicht, dass die Lithographie ein naturalistisches Bild wiedergab. So ist der Körper hierauf deutlich idealisiert dargestellt, was sich an den allzu perfekten Symmetrien, den geometrisch angeglichenen Rundungen, den unrealistischen Proportionen oder dem eher komponiert erscheinenden Herabfallen der Haare zeigt. Thema und Darstellung standen dabei in einer gewissen Tradition aus dem Umfeld der Londoner Academy of Arts. Eine ähnlich geartete Verklärung weiblicher Kindheitsfiguren ist insbesondere mit den fancy pictures von Joshua Reynolds schon im späteren . Jahrhundert entscheidend geprägt worden, Motive, die durch einige noch Jahre später kursierende Kopien und Nachdrucke ihre nachhaltige Popularität unter Beweis stellten.¹⁰⁹ In der Vgl. Ingeborg Weber-Kellermann, Der Kinder neue Kleider. Zweihundert Jahre deutsche Kindermoden, Unter Mitarbeit von Dagmar Eicke-Jennemann und Regine Falkenberg, Frankfurt a. M. (= suhrkamp taschenbuch ), S. –, – ; Anne Buck, Clothes and the Child. A Handbook of Children’s Dress in England –, Carlton , S. –. Vgl. Johannes Bilstein, »Die Kraft der Kinder. Romantische Imaginationen von Kindheit und ihre Vorgeschichte«, in : Hanno Schmitt und Silke Siebrecht (Hgg.), Eine Oase des Glücks. Der romantische Blick auf Kinder, Begleitbuch zur Ausstellung im Rochow-Museum Reckahn vom . August bis . Dezember , Berlin , S. – ; Anne Higonnet,
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Academy of Arts wurde übrigens noch ein weiteres Porträt der Infant Lyra – diesmal ein Gemälde – ausgestellt.¹¹⁰ Der Artikel des European Magazine, dem die Lithographie als Beilage diente, beginnt mit einigen grundsätzlichen Überlegungen zu musikalischer Begabung, auf die ein biographischer Abriss folgt. Mit der persönlichen Lebensgeschichte, die er zu enthüllen vorgab, verlieh der Beitrag der Figur der Infant Lyra in der Öffentlichkeit deutlich mehr Kontur. Er gab ihr eine Identität, allerdings eine, die von vornherein für das Publikum bestimmt gewesen zu sein schien, denn bezeichnenderweise wurde nicht einmal hier der Name des Mädchens preisgegeben. Offengelassen wird auch, wer sich eigentlich an die biographischen Ereignisse erinnert haben soll, die teilweise recht detailliert geschildert sind. Die Spiegelung einer realen Person kann in der »Memoir« daher nicht erwartet werden, die Grenze zwischen Fiktion und Wirklichkeit war darin wohl eher fließend. An der Inszenierung der Musikerin aber hat der Aufsatz entscheidend mitgewirkt, nicht zuletzt, weil die entsprechenden Passagen durch andere Presseorgane mehr oder weniger wortgleich weiter verbreitet wurden. Unter diesen Medien befand sich etwa auch ein ebenso ausführlicher Beitrag des Lady’s Monthly Museum, der zudem mit einem motivisch ähnlichen Porträtdruck von Thomas Woolnoth (nach einem Gemälde von Thomas Charles Wageman) bereichert war. Er ist deswegen erwähnenswert, weil mit diesem – so wie mit anderen Artikeln zur Infant Lyra in Mode- und Frauenzeitschriften – noch einmal direkt eine weibliche Leserschaft angesprochen wurde.¹¹¹
Pictures of Innocence. The History and Crisis of Ideal Childhood, London , S. – ; Martin Postle, »›The Age of Innocence‹. Child Portraiture in Georgian Art and Society«, in : o. Hg., Pictures of Innocence. Portraits of Children from Hogarth to Lawrence, An Exhibition at the Holborne Museum of Art, Bath, March to June and Abbot Hall Art Gallery, Kendal, July to October , Bath u. a. , S. –. Siehe [Anon.], The Exhibition of the Royal Academy, MDCCCXXVI. The Fifty-Eighth, London [], S. . Siehe M., »The Infant Lyra«, in : The Ladies’ Monthly Museum ; or, Polite Repository of Amusement and Instruction /o. Nr. (September ), S. –. Vgl. zu dem dortigen Bilddruck William Wright, »Liszt in Manchester«, S. . Gekürzt beziehungsweise stark zusammengefasst erschienen die entsprechenden Passagen auch bei : [Anon.], »The Infant Lyra«, in : La Belle Assemblée, or Court and Fashionable Magazine /Nr. (Juli ), S. –, und erneut in : The Atheneum ; or, Spirit of the English Magazines /Nr. (. Oktober ), S. – sowie in : New-York Mirror, and Ladies’ Literary Gazette /Nr. (. September ), S. ; [Anon.], »The Infant Lyra«, in : The Literary Magnet of the Belles Lettres, Science, and the Fine Arts /Nr. (Januar ), S. –. Zitierte Auszüge außerdem in : [Anon.], »The Infant Lyra«, in : English Gentleman vom . Juli (Nr. ), S. .
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Der biographische Abschnitt der »Memoir« besteht aus einer chronologischen Darstellung von der Entdeckung und Entwicklung der Musikalität des Mädchens, die mit entsprechenden Anekdoten angereichert war. Sie beginnt bei den ersten frühkindlichen Anzeichen und endet beim finalen Schritt der Musikerin in die Öffentlichkeit. Bereits mit neun Monaten (»while in her nurse’s arms«), so weiß der anonyme Verfasser zu berichten, hätte das Kind besonders stark auf Musik reagiert, bestimmte Stücke mit Entzücken, andere dagegen mit Beunruhigung oder Verärgerung quittiert (Ähnliches zeigte sich angeblich bei verstimmten Instrumenten).¹¹² Er erzählt, wie es bald darauf in unvollständigen Tonleitern, die ihm von der Mutter vorgesungen worden wären, die fehlenden Töne hätte ausfüllen, mit sechzehn Monaten jede gehörte Melodie singend wiedergeben und wiederum zwei Monate später schließlich zwischen Dur und Moll einwandfrei unterscheiden hätte können.¹¹³ Nach den ersten Wochen Übung im Harfenspiel wäre es bereits zur Komposition erster kleiner Melodien übergegangen, die sogar harmonische Transpositionen beinhalteten, hätte mit dem Instrument aus dem Stegreif einen Bass zu einer Stimme ergänzen vermocht und hunderte Seiten an Musik aus dem Gedächtnis gespielt.¹¹⁴ Soweit brachte der Artikel nichts wirklich Neues, waren das alles doch Merkmale, die in England spätestens seit den Untersuchungen der Royal Society an William Crotch und anderen Kleinkindern als sichere Anzeichen musikalischer Begabung bekannt waren. Auch dieser Autor hielt sich noch ganz an das geläufige sensualistische Erklärungsmodell : »We have always been of opinion, that a genius for music is the result of extreme sensibility, particularly in that organ which is the medium of sound, but had we even entertained a doubt on the subject, this little enchanting minstrel would instantly remove it.«¹¹⁵
Das Besondere an dem Beitrag über die Infant Lyra war hingegen, dass er die Genese des Naturgenies in eine dezidiert weiblich kodierte Sphäre versetzte. Als sensuellen Erfahrungsraum steckte er die behütete Umgebung von Wohnstube beziehungsweise Salon ab, die das Mädchen seiner Darstellung nach bis zum ersten Konzertdebüt augenscheinlich nicht verlässt. Dabei wird zunächst eine
Siehe [Anon.], »Memoir of the Infant Lyra«, S. . Siehe ebd., S. –. Siehe ebd., S. . Ebd., S. .
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unwiderstehliche Anziehungskraft beschrieben, die das häusliche Instrument auf die Infant Lyra ausgeübt habe, woraufhin diese sich aus freien Stücken der Harfe angenommen und schließlich ihren ersten Unterricht erhalten habe : »Even before she was capable of walking, she kept her eyes immoveably fixed upon it, nor could any other object attract her attention until it was removed from her presence. As soon as she was capable of moving round the bound without assistance, she tried constantly to get at the harp, and to play or make out tunes upon it. From this period she constantly played tunes with her mother and sister, keeping her own part, and singing perfectly in time and tune. At the age of two, a harp mistress was engaged to instruct a young lady in the house, and the little infant could not be prevailed upon to leave the room during the hours of instruction ; and not only evinced the greatest delight, but paid the most fixed attention to the harp mistress’s instruction, and when she and her pupil retired, the infant climbed up with difficulty the chair or music stool, and practised the instructions she had heard given to the young lady, with such success that she soon played two or three tunes in perfect time. Her parents, fortunately, had too much good sense to check the current of her genius, and accordingly had her regularly instructed on her favourite instrument.«¹¹⁶
Es fällt auf, dass alle Personen, die sich gemeinsam mit der Infant Lyra in diesem Erfahrungsraum der häuslichen Sphäre bewegen und ihn gewissermaßen definieren, also Mutter, Schwestern und Musiklehrerin, ausnahmslos ebenfalls weiblichen Geschlechts sind. Der Herr des Hauses hingegen, oder auch mögliche Söhne, tauchen nicht auf. Die Erzählung war das geschönte Abziehbild eines bestimmten Familienmodells, das sich in höheren Gesellschaftsschichten damals zunehmend verbreitete. Im Laufe der frühen Neuzeit wandelte sich das traditionelle patriarchal geführte Haus, in dem sich Berufswelt und Familienleben überschnitten, hin zur geschlossenen Kernfamilie, die sich in eine Privatsphäre zurückzog und nunmehr anstatt der Werte von Respekt und Gehorsam primär durch das Prinzip eines »affective individualism«¹¹⁷ zusammengehalten wurde, wie der Historiker Lawrence Stone am Beispiel Englands darstellt. Das neuere Modell basierte wesentlich auf einer komplementär aufgefassten Aufgabenverteilung der Geschlechter : Während der Vater seinen geschäftlichen und politischen Tätigkeiten außerhalb des Hauses nachging, wurden Ehefrauen so Ebd., S. . Lawrence Stone, The Family, Sex and Marriage in England –, Abridged Edition, London u. a. , S. und passim.
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wie Töchter auf die Rolle verpflichtet, den männlichen Familienmitgliedern in Heim und Haus einen von der Außenwelt sicher abgetrennten, glücklichen Rückzugsort zu bereiten. Wie die Sozialhistorikerinnen Leonore Davidoff und Catherine Hall aufzeigen, wurde diese dichotome Spaltung in eine privatweibliche und eine öffentlich-männliche Sphäre in England gegen Ende des . Jahrhunderts insbesondere durch den Aufschwung evangelikaler Doktrinen argumentativ befördert, war allerdings mit den Lebensrealitäten der entsprechenden Bevölkerungsgruppen nicht unbedingt deckungsgleich, da Frauen zum Beispiel noch immer häufig im Familiengeschäft mitwirkten (zumindest solche bürgerlicher Herkunft) oder auch ehrenamtliche Wohltätigkeitsarbeit leisteten.¹¹⁸ Dennoch gedieh diese Aufteilung im . Jahrhundert, so Davidoff und Hall, allmählich zur gesellschaftlichen Norm eines »common sense«¹¹⁹. Im Zusammenhang mit dieser familiären Geschlechtertrennung wurde das Musizieren, ähnlich wie Tanzen, Sticken, Zeichnen oder französische Konversation, als Zierde des weiblichen Geschlechts erachtet, womit man im Übrigen in weiten Teilen adlige Tugendkataloge beerbte, anstatt genuin bürgerliche Werte zu etablieren. Solche Fähigkeiten nannte man accomplishments.¹²⁰ Eine gewisse musikalische Ausbildung war für Töchter aus gutem Hause obligatorisch : »Alle jungen Damen von einiger Erziehung spielen, oder öfter klimpern, Clavier oder Harfe«¹²¹, meinte beispielsweise ein Korrespondent des Journal des Luxus und der Moden während seines England-Aufenthalts und traf bei aller Herablassung doch einen Kern Wahrheit. Musik sollte Mädchen und Frauen zum eigenen Zeitvertreib dienen und sie zur Gestaltung von Hausmusiken und Salons befähigen. Die accomplishments signalisierten das Vorhandensein von Freizeit, die zudem noch kostspielig ausgefüllt wurde, ergo einen hohen Sozialstatus. Das war auf dem Heiratsmarkt relevant und eine neu zu gründende Familie hatte dadurch die Aussicht auf ein eigenes erfülltes Heim sowie die Fortführung dieses Status. In diesem Zusammenhang ist auch die abschließende Bemerkung der »Memoir« aus dem European Magazine besser verständlich. Am Ende des Artikels wurde nämlich behauptet, dass bereits die Mutter der Infant Lyra eine exzellente Klavierspielerin gewesen sei und sich bei Siehe Leonore Davidoff und Catherine Hall, Family Fortunes. Men and Women of the English Middle Class –, Revised Edition, London u. a. , insbes. S. –, –. Ebd., S. . Vgl. zur Mädchenerziehung und den accomplishments grundlegend Lawrence Stone, The Family, Sex and Marriage in England –, S. –. [Anon.], »Ueber den jetzigen Zustand und die Moden der Musik in England«, in : Journal des Luxus und der Moden /o. Nr. (Juli ), S. .
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ihr eine ebenso frühe künstlerische Begabung geäußert und sie schon im Alter von zehn Jahren in den Stand versetzt hätte, Ölgemälde auf meisterliche Weise zu schaffen. Die Schlussfolgerung des Autors lautete : »The infant’s talent is therefore hereditary, and the result of that exquisite sensibility of feeling from which alone a genius for poetry, painting, and music, can ever emanate.«¹²² Die hier formulierte Idee einer Vererbung von Empfindsamkeit und künstlerischem Talent darf nicht mit dem biologischen Konzept eines unabhängig vom Lebenswandel über Generationen weitergegebenen genetischen Erbmaterials verwechselt werden, eine Vorstellung, die vor dem Hintergrund des wissenschaftlichen Erkenntnisstandes noch bis etwa zur Mitte des . Jahrhunderts undenkbar gewesen wäre.¹²³ Der Vererbungsbegriff war in diesem Kontext also nicht streng naturwissenschaftlich zu verstehen und er unterstrich vor allem eine gemeinsame Pflicht von Mutter und Tochter im guten Hause, die zur Pflege der Schönen Künste. Die Musik- und Geschlechterwissenschaftlerin Ruth A. Solie hat diesen Zusammenhang treffend als »intergenerational female obligation«¹²⁴ bezeichnet und am Beispiel des häuslichen Musizierens erläutert, dass das Instrument ein zentraler, wenn nicht der zentrale Ort war, an dem Mädchen der Oberschicht ihre soziale Rolle einstudierten und gleichzeitig bereits von Kindesbeinen an die damit einhergehende Aufgabe wahrnehmen mussten, sprich für einen gefühlsmäßigen Ausgleich und die Erholung des berufstätigen Vaters (später dann des Ehemanns) zu sorgen. Dabei sei im Zuge der Naturalisierung dieser Aufgabe allerdings häufig verschleiert worden, so Solie, dass der Musikunterricht tatsächlich meist nicht von Müttern, sondern von entlohntem Personal wie Gouvernanten oder Lehrerinnen übernommen wurde.¹²⁵ Repräsentativ für die Verhältnisse in wohlhabenden Haushalten könnte somit folgende zeitgenössische Stellenanzeige gewesen sein : »to governesses. – wanted, in a Private Family of respectability, resident in the Country, a l ady, well educated and accomplished, to finish the Education (without the assistance of Masters), and to form the manners of two Sisters, under years of age, advanced in their studies. It is necessary she should be thorough mistress of [Anon.], »Memoir of the Infant Lyra«, S. . Siehe dazu Hans-Jörg Rheinberger und Staffan Müller-Wille, Vererbung. Geschichte und Kultur eines biologischen Konzepts, Frankfurt a. M. , S. –. Siehe (im Aufsatz »›Girling‹ at the Parlor Piano«) Ruth A. Solie, Music in Other Words. Victorian Conversations, Berkeley u. a. (= California Studies in th-Century Music ), S. . Siehe ebd., S. –.
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Music, with a knowledge of the Harp, and disposed to devote the whole of her time and attention to her Pupils. Any Lady of the Established Church, competent to fill the situation, will find it worthy her notice. A liberal Salary. […]«¹²⁶
Als Bestandteil der Mädchenerziehung erwünscht war ein basaler Unterricht in Klavier, Harfe oder Gitarre, einem Instrument also, mit dem sich die Musizierenden auch beim Singen selbst begleiten konnten und zugleich visuell eine dekorative Erscheinung für das Heim abgaben. Diese Ansicht war so geläufig, dass sie von der Schriftstellerin Jane Austen in ihren Romanen als Klischee vorgeführt werden konnte, wie etwa an der Figur der jungen Dame Mary Crawford aus Mansfield Park () : »A young woman, pretty, lively, with a harp as elegant as herself ; and both placed near a window, cut down to the ground, and opening on a little lawn, surrounded by shrubs in the rich foliage of summer, was enough to catch any man’s heart.«¹²⁷
Die weibliche Idealgestalt am häuslichen Instrument oder auch die liebevolle Unterweisung der Tochter durch die Mutter gehörten zu Stereotypen, die seit der Mitte des . Jahrhunderts in Literatur und bildender Kunst regelmäßig aufgegriffen wurden.¹²⁸ Diese sowie die mit ihnen einhergehenden Geschlechterkonstruktionen sind in jenem Kontext zu sehen, den der Historiker Graham Barker-Benfield – bewusst allgemein – als »culture of sensibility«¹²⁹ bezeichnet. Der breite Begriff ist deswegen angebracht, weil die Empfindsamkeit weit mehr war als bloß eine Stilepoche oder flüchtige Modeerscheinung. Ihre Merkmale erstreckten sich nämlich flächendeckend, wie Barker-Benfield zurecht anmerkt und mit seiner Studie demonstriert, von der Moralphilosophie über die Me The New Times vom . Mai (Nr. ), o. S. Jane Austen, Mansfield Park. Authorative Text. Contexts. Criticism, hg. von Claudia L. Johnson, New York u. a. (Norton Critical Edition), S. . Vgl. Arthur Loesser, Men, Women and Pianos. A Social History, With a new foreword by Edward Rothstein and a preface by Jacques Barzun, New York , S. – ; Alisa Clapp-Itnyre, Angelic Airs, Subversive Songs. Music as Social Discourse in the Victorian Novel, Athens , S. – ; Pierre Dubois, Music in the Georgian Novel, Cambridge , insbes. S. – ; Richard Leppert, Music and Image. Domesticity, ideology and socio-cultural formation in eighteenth-century England, Cambridge , insbes. S. –, – ; ders., The Sight of Sound. Music, Representation, and the History of the Body, Berkeley u. a. , S. –. Graham J. Barker-Benfield, The Culture of Sensibility. Sex and Society in Eighteenth-Century Britain, Chicago u. a. , S. xix und passim.
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dizin bis zu den Schönen Künsten, vom Gelehrtendiskurs bis zum Alltagsverhalten, und stellten die verschiedenen Wissensbereiche in enge Beziehung zueinander. Ihren Ausgang etwa um die Mitte des . Jahrhunderts nehmend, war die Kultur der Empfindsamkeit zumindest innerhalb einer bestimmten gesellschaftlichen Elite in Europa weithin bestimmend für den allgemeinen Erkenntnishorizont, für Vorstellungen und Überzeugungen, Selbst- und Fremdbilder sowie für die Wechselwirkung solcher mentalen Dispositionen mit Handlungsmustern. Dass sie über vermeintliche Epochengrenzen hinweg sogar noch weit bis in den Viktorianismus hinein fortwirkte, ist daher nicht weiter überraschend. Das Beispiel der Infant Lyra macht diesen Umstand im Übrigen mehr als deutlich. Samuel Richardson, einer der wichtigsten englischen Autoren der Empfindsamkeit, schrieb in einem Brief an Sophia Westcomb : »If there were sex in heaven, good women would be angels there as they are here.«¹³⁰ Insbesondere in den Liebesgeschichten des Romans, als jener literarischen Gattung, deren beispielloser Siegeszug auf dem europäischen Buchmarkt untrennbar mit der Genese der Empfindsamkeit als kulturellem Phänomen verbunden war, betrieben Schriftsteller wie Richardson eine kultische Glorifizierung von Weiblichkeit, die nicht unabhängig von der Herausbildung polarisierter Geschlechterkonstrukte und dem mit ihnen verbundenen Familienmodell zu betrachten ist. Die mit Feinfühligkeit und unschuldigem Wesen ausgestattete prototypische weibliche Hauptfigur des empfindsamen Romans war eine in hohem Maße moralisch, wenn nicht sogar religiös aufgeladene Figur und stieß bei männlichen Protagonisten beziehungsweise Erzählern häufig auf regelrechte Erlösungsfantasien, so Barker-Benfield : »Pamela, Clarissa, Arabella, Matilda, Emily, Emma Courtney, and all of the other heroines of sensibility engaged in proselytizing men could be extended to what must have appeared to a reader as a series of icons, almost infinite because they became predictable. Their overlapping characteristics blurred into a single female ideal, charged with moral power.«¹³¹
Solche Protagonistinnen standen stellvertretend für Empfindsamkeit als natürliche Tugendhaftigkeit, die im Laufe der Handlung meist in Bedrängnis bezie Samuel Richardson, The Correspondence of Samuel Richardson, Bd. , hg. von Anna L. Barbauld, Cambridge u. a. (Cambridge Library Collection), S. . Graham J. Barker-Benfield, The Culture of Sensibility, S. .
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hungsweise Gefahr gerät (auch als Narrativ von virtue in distress bezeichnet).¹³² Auch wenn eine solche Eigenschaft für Männer ebenfalls erstrebenswert erschien, war sie hier grundsätzlich eher weiblich kodiert. Es ist aufschlussreich, dass diese Idealgestalt holder Weiblichkeit mit dem häuslichen Musizieren in der Romanliteratur der Zeit zusammengeführt wurde. Eine Passage aus dem Briefroman Julia de Roubigné () von Henry Mackenzie illustriert diesen Zusammenhang besonders eindrücklich. Sie ist einem fiktiven Schreiben des Helden Montauban an seinen Freund Segarva entnommen und schildert eine Szene, die sich nach der durch Eifersucht motivierten Vergiftung seiner Ehefrau Julia – also im Wissen um ihren baldigen Tod – ereignet : »When I was returning to my apartment, I heard the sound of music proceeding from my wife’s chamber : – there is a double door on it ; I opened the outer one without any noise, and the inner has some panes of glass at top, through which I saw a part of the room. Segarva ! She sat at the organ, her fingers pressing on the keys, and her look up-raised with enthusiastic rapture ! – the solemn sounds still ring in my ear ! such as angels might play, when the sainted soul ascends to Heaven !«¹³³
Der inspirierte Blick gen Himmel der ins Orgelspiel vertieften Segarva stellt eine eindeutige Referenz auf die Verzückung der Cäcilia dar, der Schutzheiligen der Musik.¹³⁴ Dieselbe Geste sollte dem Publikum später bei Auftritten der Infant Lyra ins Auge fallen und ist anscheinend auch in Imaginationen des weiblichen Harfenspiels zuvor schon gängig gewesen. Ein bezeichnendes Beispiel dafür findet sich nicht zuletzt bei der Figur der Glorvina aus dem Roman The Wild Irish Girl () von Sydney Owensen (Lady Morgan) : »Her voice faultered as she spoke – her fingers seemed impulsively to thrill on the chords of the harp – her eyes, her tear-swollen beautiful eyes, were thrown up to heaven, and her voice, ›low and mournful as the song of the tomb,‹ sighed over the chords of her national lyre, as she faintly murmured Campbell’s beautiful poem to the ancient Irish air of Erin go Brack ! […] God knows how little I was inclined or empowerd to make the faintest eulogium, or disturb the sacred silence which suc-
Siehe ebd., S. xviii. Henry Mackenzie, Julia de Roubigné, Edited and with an Introduction by Susan Manning, East Linton , S. . Siehe zu dem Beispiel und dem Cäcilientopos im empfindsamen Roman allgemein : Pierre Dubois, Music in the Georgian Novel, S. –, –.
| The Infant Lyra : Ikone der Unschuld ceeded to her music’s dying murmur. On the contrary, I sat silent and motionless, with my head unconsciously leaning on my broken arm, and my handkerchief to my eyes […]«¹³⁵.
Besonders interessant ist die Protagonistin dieser Erzählung, weil sie einige frappierende Gemeinsamkeiten mit der Infant Lyra aufweist, darunter ihre Nationalität, ihr Instrument, ihre Verbindung zum irischen Volkslied und die Art und Weise, wie ihre außergewöhnliche musikalische Begabung beschrieben wird. Owensen leistete mit dem Roman bereits eine ähnliche Engführung von Empfindsamkeit und Keltenkult.¹³⁶ Wenn diese Parallelen auch zufällig gewesen sein mögen, machen sie doch besonders deutlich, dass die Infant Lyra imstande war, beim Publikum bestimmte Assoziationen zu erwecken, die ihm engstens vertraut waren, wenn auch bislang eher aus dem Bereich der Fiktion. Glorvina wird in dem Roman als Tochter eines gälischen Fürsten vorgestellt, dessen Vorfahren einst durch die englische Krone entmachtet worden waren. Die verarmte Familie lebt zurückgezogen in den Ruinen ihres abgeschiedenen Schlosses in der irischen Provinz Connaught, einer archaisch anmutenden Welt. Als charakteristische Tugendfigur der Empfindsamkeit wird Glorvina von dem jungen englischen Edelmann Horatio, den es unfreiwillig nach Irland verschlagen hat, gerade aufgrund ihres natürlichen Wesens begehrt, ein Begehren, das im Laufe des Romans immer wieder durch das intuitive und gleichzeitig inspiriert erscheinende Harfenspiel Glorvinas angeheizt wird. Ihre Eigenschaften stehen dabei mit ihrem Geschlecht, zugleich aber auch mit der Geographie ihrer Heimat in Verbindung : »Where can she have acquired this elegance of manner ! – reared amidst rocks, and woods, and mountains ! deprived of all those graceful advantages which society confers – a manner too that is at perpetual variance with her looks, which are so naif – I had almost said so wildly simple […]. This elegance of manner, then, must be the pure result of elegance of soul ; and if there is a charm in woman, I have hitherto
Sydney Owensen, Lady Morgan, The Wild Irish Girl. A National Tale, Edited with and Introduction and Notes by Kathryn Kirkpatrick, Oxford (Oxford World’s Classics), S. . Vgl. hierzu Pierre Dubois, Music in the Georgian Novel, S. –. Die Geste ist übrigens auch schon bei der Darstellung der Harfe spielenden Emily de Visme als Cäcilia in einem Ölgemälde von John Russell von gegeben (als Druck publiziert). Siehe Richard Leppert, Music and Image, S. –. Siehe Kapitel ..
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vainly sought, and prized beyond all I have discovered, it is this refined, celestial, native elegance of soul […]«¹³⁷.
Romane spiegelten keine soziale Realität wider. Mit ihrer Evokation empfindsamer Tugend, verkörpert durch die Gestalten häuslicher Engel, die das glückliche Heim erst zu einem solchen machen zu können schienen, wirkte die Literatur subkutan auch auf gesellschaftliche Diskurse um innerfamiliäre Rollenverteilungen ein. Das dabei beschworene Weiblichkeitsideal, das sich durch Eigenschaften wie Ergebenheit, Sanftmut, Reinheit oder Unschuld auszeichnete, hat sich der Historikerin Deborah Gorham zufolge in der ersten Hälfte des . Jahrhunderts in den entsprechenden Schichten weitgehend stabilisiert.¹³⁸ Dass sich dafür besonders Mädchen anboten, beziehungsweise Frauen umgekehrt häufig infantilisierenden Darstellungen unterzogen wurden, wie Gorham an der zeitgenössischen Erzählliteratur sowie an moralischen und medizinischen Ratgebern herausarbeitet, erklärt sich so : »These contradictions could be resolved by focusing on the femininity of the daughter rather than on the adult woman. Much more successfully than her mother, a young girl could represent the quintessential angel in the house. Unlike an adult woman, a girl could be perceived as a wholly unambiguous model of feminine dependence, childlike simplicity and sexual purity.«¹³⁹
Diese Form der Feminität konnte von der kindlichen Tochter widerspruchsfreier verkörpert werden als von der erwachsenen Frau, die in ihrer Rolle als Gattin und Mutter dahingehend ambivalent blieb. Scheinbar paradox bot die Zuschreibung solcher idealen Eigenschaften an das Stadium der Kindheit dann gerade auch den Nährboden für eine Erotisierung, ein Zusammenhang, den man auch in der öffentlichen Wahrnehmung der Infant Lyra vorfindet, in journalistischen wie lyrischen Texten. Anders gesagt : Die erotische Aufladung funktionierte nicht trotz Unschuld, sondern sie war ganz im Gegenteil das eigentliche Sehnsuchtsobjekt.¹⁴⁰ Attribute körperlicher Schönheit des musizierenden Mädchens Sydney Owensen, Lady Morgan, The Wild Irish Girl, S. –. Siehe Deborah Gorham, The Victorian Girl and the Feminine Ideal, Bloomington , S. –. Gorham bezieht sich hierbei auf den Titel einer veröffentlichten erzählerischen Dichtung des englischen Literaten Coventry Patmore : The Angel in the House. Ebd., S. . Zum Zusammenhang zwischen Unschuld und Sexualisierung von Kindern im Viktorianismus siehe allgemein James R. Kincaid, Child-Loving. The Erotic Child and Victorian Cul-
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wurden an ihr regelmäßig hervorgehoben, häufig standen sie sogar im Zentrum der Aufmerksamkeit, außerdem wurden bestimmte sprachliche Chiffren angewendet, die wenigstens latent auf sexuelle Attraktivität und Begehren verwiesen. Eines der Lobgedichte aus dem weiter oben bereits angesprochenen Bändchen aus Taunton mit dem Titel »On the young Lyra« vermag das exemplarisch zu veranschaulichen. Der imaginäre Blick des lyrischen Ich trifft in der ersten Strophe zunächst auf die Augen (»irradiant and bright«) der Musikerin, um in der zweiten Strophe über ihre Haut, den Busen und die Finger zu schweifen : »See rosy Lyra, cherub-like, / Unto her bosom bends / The harp, her nimble fingers strike, / By which her spirit blends / The softest notes of earth / With Heaven that gave them birth.«¹⁴¹
Er wandert dann weiter zu ihrem lächelnden Gesicht (»Smiling, she bids the sounds arise«) und später auf das Muskelspiel ihrer Glieder (»With magic strength each muscle plays«), bevor in der letzten Strophe schließlich eine Himmelfahrt des Kindes symbolisch angedeutet wird (siehe zu diesem Aspekt weiter unten).¹⁴² Ein beidseitiges erotisches Verhältnis hingegen wurde, um ein weiteres Beispiel zu geben, in den Versen »The Infant Lyra« des Schriftstellers Richard Cobbold hergestellt. Es beginnt mit dem rekapitulierten Eindruck eines Auftritts der Infant Lyra, den der Sprecher als intime Situation mit dem musizierenden Kind erlebt, welches hier als direktes Gegenüber angesprochen wird : »Thou lovely Infant ! ne’er in life have I / Thine equal seen ; thy soul is harmony ! / How sweet thy smile, thy glist’ning eye so sharp, / As, peeping through the spaces of the harp, / Thou lookst around to catch the welcome meed / Of praise and interest. Thou art indeed / A wonder, not a great one, since so small, / Yet wonderful in Music above all. / My Spirit rose, to see thy little hand / Sweep o’er the chords ; in spirit-like command, / Call forth the tones of innocent delight«¹⁴³.
ture, New York u. a. , S. , –, –. Ähnlich beurteilt die Erotisierung von Kindheit in der Literatur des deutschen Realismus vor dem Hintergrund der etablierten wissenschaftlichen Auffassung einer vorgeschlechtlichen Verfasstheit des Kindes : Sebastian Susteck, Kinderlieben. Studien zum Wissen des . Jahrhunderts und zum deutschsprachigen Realismus von Stifter, Keller, Storm und anderen, Berlin u. a. (= Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur ), S. –. C., »On the young Lyra«, in : o. Hg., Poetry, by Various Hands, S. . Siehe ebd. Richard Cobbold, Valentine Verses ; or, Lines of Truth, Love and Virtue, Ipswich , S. .
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In der folgenden Nacht wird das Ich selbst noch im Traum von dem Bild des Kindes verfolgt : »O ! I shall dream of thee this very night ! / I think I see thee with thy look so wild, / So sweet, so simple, nature’s favored child ; / Once strike the lyre, and childhood seems to fly ; / Thy soul inspires thee ; and in vain I try, / To think thee as thou art.«¹⁴⁴
Beschreibungen von Kindern dergestalt, wie sie die beiden Gedichte beinhalten, wurden im Allgemeinen nicht als moralisch fragwürdig angesehen. Dabei gab der Reiz des Unschuldigen, wie er etwa durch die Brille des Autoren Cobbold als das exotische Andere zutage trat, aber nur die halbe Wahrheit an der öffentlichen Ausstrahlung der Infant Lyra wieder, nicht nur dahingehend, dass die junge Musikerin auf ähnliche Weise auch von Dichterinnen verklärt wurde (wenngleich man das lyrische Ich hier ebenso wenig mit den Autorinnen gleichsetzen kann, wie im Falle Cobbolds). Man darf nicht übersehen, dass mit ihren Auftritten gezielt auch Mädchen und junge Damen der eleganten Welt angesprochen wurden, die sich an dem musizierenden Körper das eigene Weiblichkeitsideal vorführen lassen konnten.¹⁴⁵
Der gesamte Band wurde eingerahmt von einer nostalgischen Kindheitserinnerung, die Cobbold im Vorwort als Anlass für die Veröffentlichung darstellte. Darin wurde der verstorbenen Mutter Elizabeth Cobbold, die ebenfalls Schriftstellerin gewesen war, gedacht und die jährlichen Parties am Valentinstag in Ipswich geschildert, zu deren Charakteristikum es gehört hätte, dass die Mutter jedem Gast einen kunstvollen Papierschnitt mit einem Gedicht hergestellt hätte. Siehe ebd., S. vii–xv. Cobbold hat den Gedichten jeweils eine passende Zeichnung aus eigener Hand hinzugefügt. Ebd., S. . Freia Hoffmann, die einen voyeuristischen Rezeptionsmodus (»Ebene heimlicher Wahrnehmung und heimlichen Genusses«) beim Publikum von Kindervirtuosinnen annimmt, beschränkt das Problem auf Mädchen in der Adoloszenz. Siehe Freia Hoffmann, Instrument und Körper. Die musizierende Frau in der bürgerlichen Kultur, Frankfurt a. M. u. a. , S. –. Siehe auch dies., »Miniatur-Virtuosinnen, Amoretten und Engel. Weibliche Wunderkinder im frühen Bürgertum«, in : Neue Zeitschrift für Musik /Nr. (), S. . Die Beschränkung resultiert entweder daraus, dass Hoffmann den positiven Zusammenhang von Unschuld und Sexualisierung übersieht oder auch daraus, dass sie insgesamt von einem heterosexuell-patriarchalen Erklärungsmodell für gesellschaftliche Zusammenhänge ausgeht. Der Fall Hippolyte Larsonneurs im vorigen Kapitel belegt im Übrigen, dass Erotisierungen nicht ausschließlich auf Kinder weiblichen Geschlechts beschränkt waren. Siehe Kapitel ., S. , und Kap. ., S. –.
| The Infant Lyra : Ikone der Unschuld
Unschuld schien so erstrebens- wie begehrenswert. Es ging um einen imaginierten Zustand, der wegen seiner Unberührtheit oder Unversehrtheit grundsätzlich näher an Natur, an Wahrhaftigkeit, an Güte beziehungsweise an Gott stehen sollte. Dabei setzt das ganze Konzept zwangsläufig ein Äußeres voraus, das für die Unschuld eine latente Bedrohung darstellt und implizit moralisch zu Anstrengungen seiner Bewahrung aufruft. Während die wichtigste kulturhistorische Wurzel für die Idee zweifellos die biblische Erzählung vom Sündenfall darstellt, wurde sie im Zuge der Empfindsamkeit mitsamt des ihr inhärenten religiösen Transzendenzmoments erneut aufgegriffen und mit Vorstellungen sowohl von Weiblichkeit als auch Kindlichkeit eng verknüpft.¹⁴⁶ Wenn eine der Schönen Künste beziehungsweise der accomplishments besonders gut zum Wunsch nach Unschuld und dem Traum des häuslichen Engels passte, dann war es die Musik. Deren zeitgenössisches Alltagsverständnis könnte man als utilitaristische Version einer romantischen Musikästhetik bezeichnen. So sprachen ihr im England des . Jahrhunderts Philosophen, Pädagogen, Romanciers und Sozialreformer immer wieder großen Nutzen bei spiritueller Erbauung und Moralisierung sowie zur Stärkung patriotischer Gefühle und der familiären Gemeinschaft zu.¹⁴⁷ Als gemeinsamer Nenner der Diskurse firmierte dabei jedoch »music’s unparalleled, otherworldly etherealism«¹⁴⁸, wie die Literaturund Kulturhistorikerin Alisa Clapp-Itnyre betont. Das Paradigma ästhetischer Natur- beziehungsweise Gefühlsnachahmung hatte man mittlerweile hinter sich gelassen. Während Cobbold in seiner Dichtung über das visuelle Moment eine erotische Distanz herstellt, wird mit den Harfenklängen (»the tones of innocent delight«) der Infant Lyra eine Berührung mit Unschuld in Aussicht gestellt, eine empfindsame Rührung und moralische Läuterung zugleich : »Can music move / The soul of man to harmony and love ? / This infant Innocence may well display, / O’er nature’s feeling, nature’s mighty sway.«¹⁴⁹ In gewisser Weise erschien die Infant Lyra nicht nur als Vertreterin emphatisch weiblicher Musikausübung, sondern füllte sinnbildlich auch diese Musikvorstellung selbst aus, wenn ihre körperliche Gestalt wechselnd als fragil, als gleichsam ätherisch, als feenhaft oder engelsgleich beschrieben wurde und damit das Bild eines pas Zu entsprechenden literarischen Konventionen von Kindheitsdarstellungen in der englischen Literatur um siehe Alan Richardson, Literature, Education, and Romanticism. Reading as Social Practice, –, Cambridge u. a. (Cambridge Studies in Romanticism), S. –. Siehe Alisa Clapp-Itnyre, Angelic Airs, Subversive Songs, S. –. Ebd., S. xvii. Richard Cobbold, Valentine Verses, S. –.
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siven Mediums jenseitiger Mächte formte.¹⁵⁰ Transzendenz war wie gesagt seit der Empfindsamkeit ohnehin weiblich konnotiert. Einleitend zum ersten, allgemeineren Abschnitt der »Memoir« wurde dementsprechend zunächst der Sonderstatus der Musik als »the most delightful, and rapturous ; the most animating, inspiring, and divine of all the arts«¹⁵¹ hervorgehoben, womit traditionelle Hierarchien der Künste über Bord geworfen waren, die jahrhundertelang die Literatur an erste Stelle gesetzt hatten. Für den anonymen Autor des Aufsatzes war sie die Kunst einer übergeordneten Natur schlechthin, die Infant Lyra, stilisiert als Naturwesen, in besonderem Maße für sie empfänglich : »We have listened to her divine touches with feelings of too exquisite and etherial a mould, to be produced either by art, or the disciple of art, and of which we would not only believe ourselves incapable, but of which we could not even form an idea, had we never heard the strains by which they were produced. Could the little Lyra have ever produced this effect, if she had not been a peculiar favourite of nature, if she did not possess that exquisite degree of sensibility which responds to all those finer tones and divine strains which wake us to rapture and delight, and shudder instinctively from all those discordant sounds that intercept the harmony by which this rapture is produced ?«¹⁵²
Ein paar Zeilen weiter wird die körperliche Erscheinung der Musikerin beim Harfenspiel ausführlich beschrieben : »The expression of her countenance eternally varies, but always harmonises with the variation of the strains by which it is produced. In the finer notes, her head appears as fixed as a statue, and her ears in an attitude of attention, which no language can describe ; but anon she strikes the lyre with a bold and fearless hand, and her coun-
Zu solchen Deutungen in Bezug auf weibliche ›Wunderkinder‹ im deutschsprachigen Raum, vgl. Freia Hoffmann, Instrument und Körper, S. –. Zu den Schwestern Milanollo im Zusammenhang von Weiblichkeitsidealen, vgl. zudem Volker Timmermann, »(Domenica Maria) Teresa Milanollo (–). Maria Milanollo (–). ›So kann aber auch kein Mann spielen !‹ Der zeitgenössische Blick auf die Schwestern Milanollo in Wien «, in : Carolin Stahrenberg und Susanne Rode-Breymann (Hgg.), ›… mein Wunsch ist, Spuren zu hinterlassen …‹ Rezeptions- und Berufsgeschichte von Geigerinnen, Hannover (= Beiträge aus dem Forschungszentrum Musik und Gender ), S. –. [Anon.], »Memoir of the Infant Lyra«, S. . Ebd., S. .
| The Infant Lyra : Ikone der Unschuld tenance becomes then as strongly, but as indescribably, expressive, as her former rivetted, and yet angelic, attention. It is not the expression of joy, nor of its absence : it indicates neither pain nor pleasure, joy nor melancholy ; it expresses no passion for which we have a name ; but it seems to say to the harp, as if in anger, and yet not angry, ›you shall obey my will ; you shall produce none of your discordant sounds : you were at one time stubborn and reluctant, and would fain produce sounds that grated on my ear ; but I have subdued your rebellious spirit, and you shall now utter not a sound, breathe not a sigh, that is not in harmony with my feelings, and the emotions which I seek to create.[‹] It is with this kind of feeling that her fingers fly, or rather sweep, along the lyre, with a boldness and command that is perfectly astonishing. In the intermediate parts, every note is accompanied by a corresponding motion of the body, and expression of countenance. The hand that is not employed upon the harp, is waving gracefully in the air, but always in perfect harmony with the music, and falls at the proper moment on the harp, as if by accident. It is, however, the expression of her countenance, that completely discloses the quick and rapid sensibility that reigns within. Her eyes inform you of the delight which her own harmony inspires, and she unites all the intelligence of age, with all the sweetness, simplicity, and innocence of youth.«¹⁵³
Die scheinbare Macht des Kindes über das Instrument kam in dieser und Beschreibungen anderer Beobachter tatsächlich eher einer Bemächtigung ihres Körpers durch die Musik gleich, die sich auf das Mienenspiel und alle Bewegungen ihrer Glieder sichtbar übertrug. Ihr Leib erschien im Zustand der Inspiration vollständig von einem musikalischen Ausdruck durchdrungen, der nicht länger bestimmte Leidenschaften nachzeichnete, sondern vielmehr auf Höheres oder Übersinnliches verwies (»no passion for which we have a name«). Ein ähnliches Bild vermittelte ein Journalist des Literary Chronicle : »No painter would desire to see a more perfect personification of a being ›rapt – inspired‹ – than this lovely little child, when, with her hand drawing out the softest tones, her ear close to the instrument, and her breath suspended, she seems absolutely absorbed in her own harmony, lost to all around her, and existing but in the Heaven of sweet sounds she was born to enjoy and communicate.«¹⁵⁴
Ebd., S. –. B. H., »The Infant Lyra«, S. . Teilweise identische Formulierungen finden sich in : [Anon.], »Music«, The Lady’s Magazine ; or, Mirror of the Belles-Lettres, Fine Arts, Music, Drama, Fashions, etc. /o. Nr. (August ), S. . Inhaltlich Ähnliches wurde zudem geäußert in : [Anon.],
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Dieselbe Sentenz aus William Collins The Passions, an Ode for Music () wurde zuvor bereits in einem Bericht der Londoner Times bemüht : »The divinity of music seems to stir within her. At particular parts of her performance, she appeared to be ›rapt inspired ;‹ her countenance became more animated, and the sparkling of her eyes, the motion of her head, and the graceful but impassioned action of her hands, proved that she felt intensely the beauty of the strains to which she was giving life.«¹⁵⁵
Auch hier lag die besondere Aufmerksamkeit auf dem Antlitz des Mädchens : »[…] her countenance is beautifully expressive ; but it is an expression which, while it promises acuteness and genius, is not at all at variance with that playful simplicity and softness which we love to see mantling on the cheek of infancy.«¹⁵⁶
Die »remarks of a gentleman«, die am Schluss eines Artikels im Lady’s Montly Museum zitiert wurden schließlich, gaben ebenfalls eine Erscheinung »Fill’d with fury, rapt, inspired« wieder, ein Eindruck, der sich an bestimmten Stellen nur noch verstärkte : »I also observe, in the more serious passages there is a certain elevated expression of countenance, giving her the air of an inspired minstrel, looking up to the source whence her feelings are derived.«¹⁵⁷ Die Achtsamkeit auf eine schöne, graziöse und zugleich ausdrucksvolle leibliche Erscheinung beim Musizieren war gleichermaßen im Rahmen weiblicher accomplishments erforderlich, wie ein Abschnitt aus einem zeitgenössischen Benimmbuch aus der Feder einer »Lady of Distinction« erhellt. Notwendig war dabei eine dem Dekor des häuslichen Innenraums adäquate Präsentation : »Let their attitude at the piano, or the harp, be easy and graceful. […] The latter certainly admits of most grace, as the shape of the instrument is calculated, in every respect, to show a fine figure to advantage. The contour of the whole form, the turn and polish of a beautiful hand and arm, the richly-slippered and well-made foot on »The Infant Lyra«, in : La Belle Assemblée, or Court and Fashionable Magazine /Nr. (Juli ), S. ; erneut abgedruckt in : The Atheneum ; or, Spirit of the English Magazines /Nr. (. Oktober ), S. –. [Anon.], »The Infant Lyra«, in : The Times vom . April (Nr. ), o. S. Erneut abgedruckt in : The Museum of Foreign Literature and Science /Nr. (), S. –. Ebd. M., »The Infant Lyra«, S. .
| The Infant Lyra : Ikone der Unschuld the pedal stops, the gentle motion of a lovely neck, and, above all, the sweetly-tempered expression of an intelligent countenance ; these are shown at one glance, when the fair performer is seated unaffectedly, yet gracefully, at the harp.«¹⁵⁸
Wenn die Ausstrahlung der Infant Lyra auch nicht auf die Einhaltung einer sozialen Etikette reduziert werden kann, muss doch festgehalten werden, dass sie sich mit der Art und Weise, wie sie verschiedenen Zeugnissen zufolge ihre Harfe spielte und sich an dem Instrument bewegte, diesen Rahmen des körperlichen Ausdrucks zumindest nicht zu sprengen schien. Mit dem scheinbar gewährten Einblick in die familiäre Intimität beruhte die »Memoir« im Kern auf einem Narrativ, das der Historiker und Literaturwissenschaftler John Brewer als die zentrale Erzähltechnik der Empfindsamkeit überhaupt kennzeichnet : »The poetics of sensibility depended upon the opening up of the private realm – interior feelings, emotional affect, intimate and familial friendship, the transactions of the home, the business of the closet, parlour, even bedroom – to public view.«¹⁵⁹
Das aus der Sphäre des häuslichen Heims, des idealen Weiblichen geborene musikalische Genie war das Bild, welches das European Magazine in seinem Beitrag über die Infant Lyra vermittelte und damit in gewisser Weise auch das wirkliche Auftreten des Mädchens widerspiegelte : quasi ein häuslicher Engel für Jedermann, der sich die zweieinhalb Schilling für eine ihrer Vorstellungen leisten konnte. Die öffentliche Ausstellung des Privaten war allerdings nicht ohne innere Widersprüche, vor allem wenn sie real und nicht auf fiktionaler Ebene vollzogen wurde. Dagegen kamen auch die Versicherung eines ansehnlichen Stammbaums und Beteuerungen guter Absichten der Familie, wie sie die »Memoir« wiedergab, nicht an : »The infant’s father is an Irish gentleman, the descendant of a very ancient and respectable family. After spending the greater part of his life in the military service, he retired to his patrimonial estate, which has been for some hundred years in his family. The infant’s mother is a lady of the first rate accomplishments, the niece of
[Anon.], The Mirror of the Graces ; Or, The English Lady’s Costume, London , S. –. John Brewer, »Sentiment and sensibility«, in : James Chandler (Hg.), The Cambridge History of English Romantic Literature, Cambridge u. a. (The New Cambridge History of English Literature), S. .
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an old baronet, and allied to families of the first distinction in Ireland. Both parents, however, though themselves independent, have judiciously, and honourably to themselves, deemed it a duty to realize an independence for the infant, by the exhibition of her extraordinary and unrivalled powers, having a very numerous family to provide for.«¹⁶⁰
Die Formulierungen blieben so allgemein, dass die Leserschaft an ihnen vielleicht sogar Vermutungen über eine alte gälische Adelsabstammung – geradeso wie bei Glorvina – hätte anstellen können (»very ancient […] family«). Der kürzliche Verlust von Besitz und Titel, der soziale Abstieg der Familie wird hingegen mit keinem Wort erwähnt. Dabei kann auch dieses Detail zugleich durch den literaturhistorischen Kontext erhellt werden : Innerhalb der Welt empfindsamer Erzählung nämlich war der männlich konnotierten, gefühlskalten Sphäre der bürgerlichen Geschäftswelt auf sozialer Ebene häufig der Adel als Ideal gegenübergestellt, was sich insbesondere an dem wiederkehrenden Topos einer Enthüllung der edlen Herkunft der Protagonistin erkennen lässt.¹⁶¹ Die abschließende Rechtfertigung der öffentlichen Auftritte wiederum schien nicht mehr als reine Rhetorik gewesen zu sein und das angeführte Argument (»a duty to realize an independence for the infant«) nicht recht zu passen. Aus guten Gründen verschwieg man hier die gewichtigen moralischen und medizinischen Einwände, die einer Karriere als Musikerin für die Tochter eines Adelshauses damals entgegenstanden, und in einer Zusammenfassung des Lebenslaufs im vorigen Absatz wurde die kritische Schwelle vom häuslichen Dilettantismus zur Berufstätigkeit bemerkenswert rasch übergangen : »From this period she gave evident and rapid proofs of her surprising talent, and soon outstripped young ladies who began to learn the harp long before her, and she played, publicly at the Rotunda, a variety of national airs, with different variations, before she weighed twenty pounds.«¹⁶²
Der Schritt wurde in der »Memoir« als folgerichtig dargestellt. Er war allerdings alles andere als selbstverständlich, denn Mädchen der Oberschichten
[Anon.], »Memoir of the Infant Lyra«, S. –. Siehe Janet Todd, Sensibility. An Introduction, London u. a. , S. . [Anon.], »Memoir of the Infant Lyra«, S. . Weitere Hinweise auf das in diesem Artikel behauptete Debüt in den Dubliner »Rotunda concerts« (ebd., S. ), das hätte, zurückgerechnet, im Frühjahr stattgefunden haben müssen, konnten nicht gefunden werden.
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wurden von der Sphäre der Öffentlichkeit normalerweise ferngehalten. Wenn möglich, erhielten die Töchter bis zum jugendlichen Alter ihre Erziehung von einer Gouvernante im eigenen Haus (von der Mutter nur, wenn das Einkommen der Familie dafür nicht ausreichte), alternativ dazu in einer der kleinen privaten Mädchenschulen, die von einzelnen Lehrerinnen geführt wurden und sich meist in einem der Häuser der unmittelbaren Nachbarschaft finden ließen.¹⁶³ Erziehungshandbücher rieten jungen Damen vom Streben nach zu großer Virtuosität und jeglichen professionellen Ambitionen beim Musizieren ab – für den häuslichen Rahmen waren basale Fähigkeiten ausreichend. Eine solche Ermahnung findet sich etwa auch in Practical Education, jenem populären Standardwerk, das die Schriftstellerin Maria Edgeworth um die Jahrhundertwende zum . Jahrhundert gemeinsam mit ihrem Vater Richard Lovell verfasst hat.¹⁶⁴ Das Kapitel über die »female accomplishments« wird durch den Dialog der Erzählstimme mit einer Mutter eingeleitet, in dem es um die Umstände geht, die zur Bewahrung von Jungfräulichkeit und gutem Ruf ihrer Tochter (»innocence and reputation«) im Kontext ihrer künstlerischen Bildung in Tanz oder Musik notwendig seien.¹⁶⁵ Das fiktive Gespräch verleiht dem Thema des Kapitels einen unterhaltsamen wie didaktischen Auftakt. Mit den allerbesten Absichten tappt jene Mutter nämlich in eine rhetorische Falle, die ihr hier von dem anonymen Gegenüber mit seiner sophistischen Fragetechnik von vornherein gestellt wird, die schließlich zu folgendem verlockenden Angebot führt : »›But would not you, as a good mother, consent to have your daughter turned into an automaton for eight hours in every day for fifteen years, for the promise of hearing her, at the end of that time, pronounced the first private performer at the most fashionable, and most crowded concert in London ?‹«¹⁶⁶
Mit einer geringfügigen Einschränkung erklärt sich die Mutter schließlich tatsächlich bereit, ihre Tochter in dieser Weise zum Üben am Instrument zu nö Siehe Sally Mitchell, Daily Life in Victorian England, Second Edition, Westport (Daily Life Through History), S. –. Ein entsprechendes Beispiel stellte vermutlich auch die eingangs erwähnte Musikschule der Miss Rudkin in Dublin dar. Vgl. hierzu auch Arthur Loesser, Men, Women and Pianos, S. – ; Alisa Clapp-Itnyre, Angelic Airs, Subversive Songs, S. . Siehe Maria Edgeworth und Richard Lovell Edgeworth, Practical Education, Bd. , London , S. –. Ebd., S. .
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tigen, was scheinbar nur ein kleines Opfer im Vergleich dazu wäre, was es zu gewinnen gab : »›For one concert,‹ says the hesitating mother ; ›I think it would be too high a price. Yet I would give any thing to have my daughter play better than any one in England. What a distinction ! She would be immediately taken notice of in all companies ! She might get into the first circles of London ! She would want neither beauty nor fortune to recommend her ! She would be a match for any man, who has any taste for music ! […]‹«¹⁶⁷
Die Mutter verwechselt also den Ruhm einer professionellen Musikerin mit sozialem Rang, indem sie sich vom virtuosen Spiel ihrer Tochter reell bessere Chancen auf dem Heiratsmarkt der eleganten Welt erhofft. Eine trügerische Hoffnung, wie von Autorin und Autor im Verlauf des Kapitels schließlich deutlich gemacht und am Exempel der ehrgeizigen Mutter ein allgemeines Vorurteil über die accomplishments bloßgestellt wird. Die Edgeworths beschrieben das ganze Problem vor allem als eines bürgerlicher Familien, die, in der Gesellschaftshierarchie von unten herandrängend, über eine Bildung ihrer Töchter versuchten, Zutritt zur Elite zu erhalten und dabei häufig übers Ziel hinausschössen : »We condemn only the abuse of these accomplishments ; we only wish that they should be considered as domestic occupations, not as matters of competition, or of exhibition, or yet as the means of attracting temporary admiration.«¹⁶⁸
Im pädagogischen Schrifttum der Zeit blieb es indes nicht bei dieser einen Warnung. Einem Aufsatz für das Quarterly Musical Magazine von etwa lässt sich entnehmen, welche musikästhetischen Vorstellungen sich mit der erforderten Beschränkung der Damen auf das häusliche Musizieren verbanden. Sein Verfasser, der ihn unter dem Pseudonym »Vetus« in einen Leserbrief kleidete, kritisierte genau wie schon die Edgeworths den Ehrgeiz mancher Mütter, die angeblich probierten, ihren Töchtern in den Salons mit virtuosem Gesang und Klavierspiel Geltung zu verschaffen, womit sie allerdings bei all dem Aufwand nichts erreichten, als Eitelkeiten zu wecken und sie zur Zielscheibe von
Ebd., S. –. Ebd., S. .
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Neid und Bosheit werden zu lassen.¹⁶⁹ Der eigentliche Zweck des Musizierens müsse für die Damenwelt – zumindest beträfe dies jene jungen Frauen, so Vetus, die nicht für ihren Unterhalt selbst sorgen müssten – eine häusliche Freizeitbeschäftigung bleiben und allein der Gestaltung eines glücklichen Heims dienlich sein : »But now pleasures are chiefly domestic, they are enjoyed only by participation ; and the framing such a round of amusement as shall keep as well as win the husband, and mould him to that home which is not only to preserve affection and to attract a circle, but which is also to cradle and nurture their offspring, and to model a society fitted to form them for virtuous and amiable citizens, good sons and daughters, good husbands and wives, and, in their turn, good fathers and mothers.«¹⁷⁰
Was die Musik dabei zu leisten imstande und wofür sie von Natur aus bestimmt sei, beschrieb der Autor als eine Methode der Gefühlsverfeinerung und Tugenderziehung in den sicheren Grenzen der Privatsphäre : »If, as has been affirmed with an approach to truth, none can sing with really fine expression till they have felt the passion of love, it may be inferred, that there is a subtilizing, a refining power inherent in music, which cannot fail to be ultimately connected with the affections concerned in the support of domestic happiness. I firmly believe that it is so. I firmly believe that music purifies and elevates and endears wherever it is cultivated, not for the superiority which is the prize of public exhibition, but as the alternative amusement and solace of private life […]«¹⁷¹.
Im moralischen Diskurs um die Frage idealer Weiblichkeit blitzte die Figur der Infant Lyra noch einmal kurz auf, und zwar in einer Erzählung, die in einer Folge von Fortsetzungen im New Yorker Metropolitan Magazine erschienen ist und aus der Feder einer gewissen Mrs. Abdy stammte. Abgesehen von der beiläufigen Nennung der berühmten Musikerin, stellt der Text ein eher willkürliches Beispiel aus einer Masse ähnlicher Quellen dar. Aus der Sicht der Protagonistin Jessy Moreland erzählt, der jüngsten Tochter einer Familie
Siehe Vetus [= Pseud.], »On the Objects of Musical Education«, in : The Quarterly Musical Magazine and Review /Nr. (), S. –. Ebd., S. . Vor diesem Hintergrund rät er im Übrigen überhaupt mehr zu einfachen Zupfinstrumenten wie spanischer Gitarre oder britischer Harfenlaute. Siehe ebd., S. . Ebd., S. .
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der besseren Gesellschaft, kreist die ganze Geschichte rund um das Thema der Heiratsvermittlung. Als Problemfall wird den Leserinnen und Lesern diesbezüglich die Figur der Josephine vorgestellt, einer musikalisch begabten Schwester Jessys. Nachdem sie sich durch das Üben einer italienischen Bravourarie völlig verausgabt und ihre brillante Stimme ruiniert, ist sie fortan zu bescheidenerer musikalischer Praxis mit ihrer in eine tiefere Lage gesunkenen Stimme (»a sweet little cabinet voice«¹⁷²) regelrecht gezwungen, so die entscheidende Wende dieses Handlungsstrangs. Der moralische Fingerzeig war nicht zu überlesen, dass nämlich eine Frau nicht zu musikalischem Ehrgeiz und Virtuosität bestimmt sei, sondern zum sanften, einfachen Gesang der häuslichen Sphäre. Als Symbol dafür fungierte an der Stelle die Infant Lyra : »As for Josephine, I fitted up for her a miniature room, with the smallest of cottage pianos, and a fairy harp, which might tempt the touch of an infant Lyra. On my nights for receiving company she sits there, warbling lullaby ditties in soft faint tones […] ; many gentlemen are very fond of lounging in to listen to her, and we live in hopes that she may make a serious impression on one of them […]«¹⁷³.
Was die Erzählung verschwieg : Auch im Fall der Infant Lyra hatten sich damals zu dem moralischen Konflikt, der mit dem öffentlichen Auftreten verbunden war, schwerwiegende gesundheitliche Bedenken gesellt. In Anbetracht des Alters und der schwächlichen Konstitution des Mädchens sowie auch der spezifischen Belastung, die gerade das Harfenspiel bereitete, schien die Gefahr einer Überanstrengung bei der Infant Lyra verschärft.¹⁷⁴ Das Auftreten entsprach einer Gratwanderung : So wurde einerseits ein Repertoire präsentiert, mit dem auch junge Damen aus ihrer häuslichen Musizierpraxis vertraut waren. Andererseits wurde versucht, mit ihren außergewöhnlichen musikalischen Fähigkeiten Aufsehen zu erregen, und Zeitungsannoncen versprachen gelegentlich mit Ausdrücken wie »long and difficult concertos on the Harp«¹⁷⁵ oder »long and difficult Concert Pieces«¹⁷⁶ ein gewisses virtuoses Niveau ihrer Auftritte. Damit aber wurde das Ideal des häuslichen Engels aufs Spiel gesetzt. Zu Beginn der Karriere wurde das geringere Gewicht des Kindes Mrs. Abdy, »The Younger Sister. A Tale«, in : The Metropolitan Magazine /Nr. (Oktober ), S. . Ebd., S. . Vgl. zur Thematik auch Kapitel . The Kaleidoscope ; or, Literary and Scientific Mirror /Nr. (. Juli ), S. . The Morning Chronicle vom . Dezember (Nr. ), o. S.
The Infant Lyra : Ikone der Unschuld
in Werbeanzeigen sogar noch explizit herausgestellt und dadurch ein bestimmtes Problem vielleicht überhaupt erst ins Blickfeld gebracht : »To those acquainted with the difficulty of the Harp, and the strength required to bring forth a tone from that instrument, it must appear incredible that this Infant, whose weight does not exceed pounds, could perform even a simple air.«¹⁷⁷
Der Schreiber des Kaleidoskope, der ihr Harfenspiel später in Liverpool beobachtete, war ebenfalls der Ansicht, dass die Harfe, als schwierigstes aller Instrumente überhaupt, an die Musikerin besondere Anforderungen stelle : »Perhaps there is nothing in the scope of instrumental practice more difficult of accomplishment than a shake [= Triller] upon the harp, and yet this infant has completely mastered even that difficulty.«¹⁷⁸ Das einen Monat darauf veranstaltete zweite Konzert in Manchester rekapitulierend, berichtete die Cowdroy’s Manchester Gazette von einer »physical exertion which was required to strike many chords«, die beim Publikum für Erheiterung (»some amusement«) gesorgt hätte.¹⁷⁹ Und vor dem Hintergrund der regelmäßigen Vorführungen in der Londoner Pall Mall schließlich sprach im Juli unter anderem die Modezeitschrift La Belle Assemblée die Sorge einer allmählichen Erschöpfung aus : »We should fear that the exertion – the mere physical exertion – of exhibiting four times a-day would soon prove too much for her infant frame. At present, however, she appears lively, active, intelligent, and in the enjoyment of good health.«¹⁸⁰
Einen Konflikt erkannte auch der zeitgleich erschienene Bericht des Literary Chronicle, ein Beitrag, der wie viele andere in erster Linie vor dem Hintergrund einer wachsenden Beunruhigung entstanden zu sein schien, die aus den von vornherein naheliegenden moralischen und medizinischen Einwänden erwuchs. Das bedrohliche Szenario, das diese Einwände beschworen, versuchte dieser Artikel zu zerstreuen und bemühte dafür eine gängige Rhetorik : [Anon.], »Little Lyra«, in : The Freeman’s Journal, and Daily Commercial Advertiser vom . Mai (o. Nr.), o. S. [Anon.], »The Infant Lyra«, in : The Kaleidoscope ; or, Literary and Scientific Mirror /Nr. (. Juli ), S. . Zitiert nach Alan Walker, Franz Liszt, S. . [Anon.], »The Infant Lyra«, in : La Belle Assemblée, or Court and Fashionable Magazine / Nr. (Juli ), S. . Auch in : The Atheneum ; or, Spirit of the English Magazines /Nr. (. Oktober ), S. .
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»We are by no means partial to infant Roscii, or to prodigies of any kind ; we even dislike the precocity produced in children by any species of hot-bed forcing, and prefer one sensible observation, the result of native reflection in a child, to a hundred affectations of wisdom which cannot exist, or knowledge too premature to be serviceable. But this child is so entirely a child – a very creature of smiles, and frolic, and perfect artlessness – yet so evidently a being of most extraordinary genius, that she delights us at the same moment by infantine simplicity, and beauty, and astonishes us by a display of talent which was unquestionably never paralleled except in the case of the celebrated S. Wesley. […] she is a little, lively, unfettered girl, alike free from the control of fear and the language produced by labour.«¹⁸¹
Auf ihre Gesundheit würde, so hieß es weiter, auf vorbildliche Weise Rücksicht genommen, ein Umstand, von dem sich das Publikum bei ihren Vorführungen selbst überzeugen könnte : »Too much praise cannot be given to her parents and friends for the manner in which this extraordinary child’s performances are offered to the world : her hours of rest and refreshment are duly attended to, and even her passion for music is not indulged to the injury of her health, which is evidently excellent ; and it is certain her beautiful features and roseate complexion, the freedom of her gait, and the little bobbing untutored courtesy which closes the performance, add not a little to the pleasure of the entertainment. In fact, we never witnessed so many quiet, but strong plaudits, follow any exhibition ; for every individual seemed alike delighted : gentlemen were not less warm in their commendation than ladies ; and many rushed forward to press the little hand, or snatch a kiss from the rosy cheek, of the fairy minstrel who had given them one hour of such blameless and unmixed pleasure as life seldom can bestow – an hour in which it might be truly said she took – ›The prisoned soul, and wrapt it in Elysium.‹ For our own parts, we are not ashamed to say […], that we were charmed even to tears ; nor do we hesitate to place this little girl amongst the most illustrious proofs of extraordinary genius the world has yet witnessed.«¹⁸²
Interessanterweise konzentrierte sich die Argumentation auch in diesem Zusammenhang auf die Unschuld des Mädchens. Ihr natürliches und unbeschwertes Wesen war ästhetischer Fokus und diente zugleich als diagnosti B. H., »The Infant Lyra«, S. . Ebd. Das Zitat stammte aus John Milton, Comus ().
| The Infant Lyra : Ikone der Unschuld
scher Beleg für ihre körperliche und seelische Unversehrtheit (allerdings nur auf Basis einer Laiendiagnose). Bereits ein Bericht des Examiner hatte zuvor in ähnlicher Weise unterstrichen : »[…] the playfulness and simplicity of her manner evinced that little coercion had been used. She played with the harp as she would play with a doll […].«¹⁸³ Und zur selben Zeit hatte der British Guardian vorausgesagt : »She will not disappoint, we will venture to say, the most sanguine expectations, or sour the temper of the most rigid critic. She is a musical prodigy.«¹⁸⁴ Tatsächlich aber gingen die Meinungen auseinander und der apologetische Ton, mit dem Berichterstatter wie die eben zitierten die Infant Lyra in Schutz zu nehmen schienen, war vielleicht ohnehin ein Zeichen dafür, dass bestimmte Vorwürfe oder Verdächtigungen längst im Raum standen. Die Hemmschwelle, einen adligen Gentleman und Veteranen sowie seine nicht minder aristokratische Gattin zu beleidigen, hielt am Ende nicht jeden Skeptiker zurück und so entbrannte in der Londoner Presse im Sommer schließlich eine Debatte über den umstrittenen Fall der Infant Lyra. Darin zeichneten sich relativ deutlich zwei Fronten ab, Unterstützer und Gegner ihrer Auftritte, doch interessanterweise schlugen sich auch kritische Positionen vorgeblich auf die Seite des Mädchens. Die argumentativen und rhetorischen Mittel waren überall ähnliche : Appelle der Herzerweichung sowie umgekehrt, wechselseitige Vorwürfe der Hartherzigkeit angesichts kindlicher Unschuld. Der anonyme Schreiber des Literary Chronicle etwa wusste, was er tat, wenn er auf die einvernehmliche Gefühlsresonanz der Besucherinnen und Besucher (»gentlemen were not less warm in their commendation than ladies«) und sein eigenes Gefühlsbekenntnis (»we were charmed even to tears«) einging. Auf diese Weise stellte er nämlich auch in moralischer Hinsicht klar, wer richtiglag. Im Mittelpunkt der Auseinandersetzung standen zwei Anschuldigungen, die allerdings nicht gänzlich unabhängig voneinander betrachtet wurden : der Betrug des Publikums und ein grausames Vergehen gegen das Mädchen selbst. Sie bargen das Potential, die Vorführung der Infant Lyra in Verruf zu bringen und verlangten nach öffentlichen Antworten. Einer dieser kritischen Journalisten – sein Bericht wurde in der Juli-Ausgabe des London Magazine publiziert – meinte etwa, die Korrumpierung kindlicher Natur an einigen der nur scheinbar ausdrucksvollen Gesten der jungen Musikerin ablesen zu können : S., »The Infant Lyra«, S. . [Anon.], »The Infant Lyra«, in : The British Guardian And Protestant Advocate vom . April (Nr. ), S. .
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»The child cannot be too perfectly a child ; and, inasmuch as it transgresses this rule, it fails of its effect. Hence the impolicy of that teaching which has made it adopt a system of grimace which is affectation, and which, in this case, is affectation peculiarly misapplied. If the animal itself had felt that it ought to turn up its eyes to the ceiling, or to heaven, as the phrase is, it would have done so, and we should have approved. But, being taught, we are provoked at the cheat, and disgusted with the effect ; while the poor creature, not knowing why all this is, but hearing that it must obey, becomes pathetic in the wrong place, and appeals to the ceiling for Paddy O’Rafferty, when it had better have appealed to the audience in its own mild way. If there is any thing which captivates, in infancy, it is the grace and nature of infancy ; but, by this artificial system, we are deprived of that pleasure, and, what is much worse, pained with affectation and artifice. We doubt very much the propriety of the whole prestige with which she has been surrounded ; and are sure that it would very much increase our pleasure, and probably also the profits of the proprietor, if she were simply displayed as a child, and allowed at the same time to act as she pleased, under no other restrictions than such as must be very obvious.«¹⁸⁵
Da er angeblich auch an völlig unpassenden Stellen wie zum eher bodenständigen irischen Jig »Paddy O’Rafferty« erfolgte, so seine Schlussfolgerung, müsste der nach oben gerichtete und auf Inspiration verweisende Blick als nichts weiter angesehen werden, als eine künstliche Grimasse, die man dem Kind von außen angetragen beziehungsweise antrainiert hätte. Sein Maßstab aber basierte auf derselben Tautologie (»The child cannot be too perfectly a child«), die bereits der oben zitierte Bewunderer seinem Artikel für den Literary Chronicle zugrunde gelegt hatte (»this child is so entirely a child«). Den Vorwurf hat im Jahr darauf der Kommentator des Metropolitan Quarterly Magazine in seinem umfänglichen Beitrag über die Infant Lyra entkräftet. Er ging davon aus, dass sich das Mädchen ihre Gesten vor dem Publikum von sich aus angewöhnt hätte und erachtete diese »little affection« als harmlos beziehungsweise gerade als Zeichen von Kindlichkeit : »When the pretty harper found that her animated manners and movements excited admiration, that glancing through the strings with a sly look at her acquaintance, and laughing merrily during a sprightly air, delighted every body ; I will readily allow that she must have been induced to indulge in these sportive tricks more than she would have done had they pleased less. But is not that perfectly natural ?«¹⁸⁶ [Anon.], »The Infant Lyra«, in : The London Magazine /o. Nr. (Juli ), S. . Zitiert nach C. »The Infant Lyra«, in : The Spirit of the Times ; or, Essence of the Periodicals /
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Allerdings wurde der Artikel ausgerechnet vom Literary Chronicle als »laudatory as any paid paragraph could well be rendered«¹⁸⁷ verunglimpft. Die in der Presse ausgetragene Debatte war zugleich auch eine um das Problem neutraler und verlässlicher Zeugenschaft in der Öffentlichkeit und es ging anscheinend ein gewisses Misstrauen gegenüber mancher Quellen um. So wurde die Einsendung eines Beitrags zur Infant Lyra von zweien der Organe, die der Musikerin zunächst eher zugetan waren, nämlich dem European Magazine und der Belle Assemblée, zu jener Zeit sogar ausdrücklich abgewiesen. Welche Absicht auch dahintersteckte, lieferten die Redaktionen der beiden Zeitschriften damit jedenfalls auch einen öffentlich sichtbaren Beleg für ihre Unabhängigkeit in der laufenden Diskussion : »›The Infant Lyra, an Acrostic,‹ written, we should imagine, by herself, and intended to place another feather in the cap of this little prodigy, is not at all to our taste. We recommend her by all means to keep to the music, and leave the words alone ; – besides puffing, being another term for lying, we do not admire it in one so young.«¹⁸⁸
Ein besonders scharfer Ton wurde im Sommer auch in der Kolumne »Sights of London« der Literary Gazette angeschlagen. Die Angriffsfläche bildete hier in erster Linie die angebliche Verantwortungslosigkeit des Publikums : »The world has grown old : it is in its dotage ; and, like people in their second childhood, it seems as if the companionship of children were best calculated to amuse and entertain it. We have infants spoiling what little remains of the drama ; and infant wonders of as many kins, kinds, ages, and nations, as there are instruments in music. One urchin is seen fastened to violin, sawing away like a mouse at a cheese ; another is at a piano-forte like a monkey at a weaver’s loom ; and here we have a poor tiny girl, of some four or five years of age, sprawling over a harp like a spider over a web ! Where is the Member for Galway, that he permits such cruelty ? Surely the fiddle is a case for Bowstreet ; the turning of a prison-key is merited by those who Nr. (. Juni ), S. . The Literary Chronicle And Weekly Review o. Jg./Nr. (. Juni ), S. . [Anon.], »Avis«, in : The European Magazine (New Series) /Nr. (), S. . Siehe auch [Anon.], »To subscribers and correspondent«, in : La Belle Assemblée, or Court and Fashionable Magazine /Nr. (März ), o. S. Ob es sich bei der Einsendung um das Akrostichon (ein Gedicht, bei dem die Anfangsbuchstaben jeder Zeile zusammen »the infant lyr a« ergaben) aus dem Band aus Taunton : o. Hg., Poetry, by Various Hands, S. handelte, ist offen.
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devote their babes to the piano ; and the barbarous usage of this unhappy Lyra could not be harped upon too long. Seriously it is a pain to witness so helpless a creature doomed to premature death at the rate of four exhibitions per day, and then to be farmed out to evening parties as a curiosity till past midnight. It is thoughtless, if not heartless, to encourage such cruelty. The poor child plays very prettily, but evidently the exertion is too much ; it is ›a prodigy.‹ as the bills say ; but a prodigy which, after the performance of one slight and easy air, exites [sic] only feelings of regret and compassion.«¹⁸⁹
Bei aller grotesk erscheinenden Polemik über die Unzumutbarkeit der Vorführungen, die dieser Autor unumwunden als »barbarous usage« beziehungsweise »cruelty« anprangerte, zielte der Text letztlich auf eine sentimentale Wirkung bei der Leserschaft, die wiederum eine entsprechend drastische Bebilderung erforderlich machte. Um eine analoge Gefühlsreaktion (»feelings of regret and compassion«) bei ihr hervorzurufen, bediente er sich einer gängigen Rhetorik, zu der auch die Analogie zur misshandelten und gequälten Kreatur gehörte, eine Analogie, die in Ansätzen etwa auch in dem bereits angesprochenen Pamphlet des London Magazine zu finden war (»the animal« beziehungsweise »poor creature«). Eine Rührung zu Tränen des Glücks oder Tränen des Mitleids : die Empfindsamkeit eröffnete hier durchaus mehrere Möglichkeiten. Ohne den festen Glauben an die Kraft des Einfühlungsvermögens wäre die Kultur der Empfindsamkeit in der Form undenkbar gewesen. Die Fähigkeit, sich emotional in andere Menschen hineinzuversetzen, war das Fundament einer Gefühlsethik, die einen ihrer wichtigsten Bestandteile ausmachte. Mit der empfindsamen Moralvorstellung und ihren historischen Wurzeln hat sich in Bezug auf England der Literaturwissenschaftler John K. Sheriff befasst und bei dem Schriftsteller Henry Fielding eine erste konsistente Definition gefunden : »The Heart that finds its Happiness to please, / Can feel another’s Pain, and taste his Ease. / The Cheek that with another’s Joy can glow, / Turn pale, and sicken with another’s Woe ; / Free from Contempt and Envy, he who deems / Justly of Life’s two opposite Extremes.«¹⁹⁰ [Anon.], »Sights of London : Infant Lyra«, in : The Literary Gazette ; and Journal of Belles Lettres, Arts, Sciences, etc. o. Jg./Nr. (. Juni ), S. . Henry Fielding, Miscellanies, Bd. , London , S. . Siehe John K. Sheriff, The Good-Natured Man. The Evolution of a Moral Ideal, –, Tuscaloosa , S. –. Eine verständliche Einführung in den Moraldiskurs der Empfindsamkeit, auch in seiner Vielstimmigkeit und seinen Widersprüchen, liefert : Alexander Cook, »Feeling Better : Moral Sense
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Philosophisch gestützt etwa durch Theorien zum natürlichen Moralsinn, erlebte die Ethik der Einfühlung in der zweiten Hälfte des . Jahrhunderts ihren Aufschwung und Tugenden wie Mitgefühl, Güte und Barmherzigkeit, die auch an das christliche Vorbild anknüpften, rückten ins Zentrum moralischer Fragen. Die sogenannte empfindsame Seele wurde als Bedingung für Zivilisiertheit und Humanität begriffen, demgegenüber Hartherzigkeit, Egoismus und Barbarei in eins gedacht. Dabei wurde Empfindsamkeit auch als eine Frage der Kultivierung erachtet und nicht zuletzt die Lektüre als Mittel einer entsprechenden Gefühlserziehung : »Sentimental literature is exemplary of emotion, teaching its consumers to produce a response equivalent to the one presented in its episodes. It is a kind of pedagogy of seeing and of the physical reaction that this seeing should produce, clarifying when uncontrolled sobs or a single tear should be the rule, or when the inexpressible nature of the feeling should be stressed.«¹⁹¹
Im Übrigen stand es auch nach der Wende zum . Jahrhundert – bei allen Zweifeln über den Empfindsamkeitskult, die sich im Laufe der Zeit ebenfalls geäußert hatten – für einen Gentleman nicht im Widerspruch zu gängigen Sitten und Tugendvorstellungen, sich einfühlend und empfindsam zu zeigen, ganz im Gegenteil.¹⁹² Mit Herzensliebe und aufrichtiger Freundschaft begegneten sich empfindsame Seelen auf (zumindest imaginierter) gleicher Höhe. Weite Bereiche empfindsamer Moral aber lebten wesentlich von den sozialen Hierarchien der Ständegesellschaft, beziehungsweise dem, was davon übrig war. Mitleid trat dort auf, wo Leid gesehen wurde, fremdes Leid. Empfindsamkeit war zweifelsohne ein gesellschaftliches Privileg und machte sich häufig gerade am sentimentalen Blick auf Randgruppen oder Minderheiten fest : Arme, Sklaven, Kranke, Irre, Gefängnisinsassen, Frauen, Tiere oder eben auch Kinder. Diese Form der Anteilnahme galt daher den Kindern der Armen, als Gesamtheit waren Kinder hierbei nicht angesprochen. Auf die prinzipielle Unterscheidung von Kindern and Sensibility in Enlightenment Thought«, in : Henry M. Lloyd (Hg.), The Discourse of Sensibility. The Knowing Body in the Enlightenment, Cham u. a. (= Studies in History and Philosophy of Science ), S. –. Siehe grundlegend auch John Mullan, Sentiment and Sociability. The Language of Feeling in the Eighteenth Century, Oxford . Janet Todd, Sensibility, S. . Siehe Leonore Davidoff und Catherine Hall, Family Fortunes, S. –, ; Lawrence Stone, The Family, Sex and Marriage in England –, S. –.
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der oberen und unteren Schichten in der öffentlichen Wahrnehmung der Zeit weist auch der Historiker Hugh Cunningham in seiner einschlägigen Studie The Children of the Poor () hin. Zur Unterschicht der sogenannten Armen, die einen Großteil der Bevölkerung ausmachte und stets als besondere gesellschaftspolitische Herausforderung angesehen wurde, zählte man besitzlose Arbeiterfamilien ebenso wie Bedürftige. Um konzentrierten sich Schriftsteller und Journalisten in England insbesondere auf das Schornsteinfegergewerbe sowie die Baumwollspinnerei und verliehen ihren Bedenken gegen die für die dort arbeitenden Kinder lauernden moralischen und gesundheitlichen Gefahren mithilfe der damals gängigen sentimentalen Rhetorik den nötigen Ausdruck.¹⁹³ Legislatives Ergebnis dieses Diskurses war der Factory Act von . Mit ihm wurden nun – um die in den Wollmanufakturen de facto bereits seit untersagte Beschäftigung von Kindern unter neun Jahren überprüfen zu können – Inspektoren eingesetzt, gestufte Regelungen zu den Arbeitszeiten und eine Unterrichtspflicht von zwei Stunden täglich für Kinder zwischen neun und dreizehn Jahren eingeführt. Es wäre ein Fehler, diese Ereignisse als Teil einer Fortschrittsgeschichte zu interpretieren, die schließlich zur gegenwärtigen Form eines universalen Kinderschutzes geführt hätte. Der Factory Act war juristisch gesehen ein Gesetz zum Arbeitsschutz und hatte mit einem Grundrecht nichts gemein. Die rechtlichen Konsequenzen, die aus der Industrialisierung gezogen wurden, beschränkten sich auch die nächsten Jahrzehnte darauf, das Prinzip einer altersentsprechend zeitlichen Begrenzung der Erwerbstätigkeit sowie einer Mischung aus Arbeit und Schule von der Textilindustrie auf andere Wirtschaftsbereiche auszuweiten.¹⁹⁴ Bei den Industriegesetzen verfolgte der Staat im Übrigen auch ein Eigeninteresse an dem Wohl der Gesamtnation, wobei unter anderem die Militärtauglichkeit der Bevölkerung oder volkswirtschaftliche Berechnungen eine Rolle spielten.¹⁹⁵ Kinderarbeit an und für sich war deswegen noch lange nicht stigmatisiert. In diesem Zusammenhang Siehe Hugh Cunningham, The Children of the Poor. Representations of Childhood since the Seventeenth Century, Oxford u. a. (Family, Sexuality and Social Relations in Past Times), S. –. Siehe ebd., S. –. Vgl. Colin Heywood, A History of Childhood. Children and Childhood in the West from Medieval to Modern Times, Cambridge , S. –. Eine gute Übersicht des aktuelleren Forschungsdiskurses zur Arbeit von Kindern während der britischen Industrialisierung geben auch : Nigel Goose und Katrina Honeyman, »Introduction«, in : Nigel Goose und Katrina Honeyman (Hgg.), Childhood and Child Labour in Industrial England. Diversity and Agency, –, Farnham u. a. , S. –.
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darf nicht übersehen werden, dass die Zwangsvermittlung an Arbeitshäuser, Armen- und Industrieschulen oder an eine durch die Gemeinde verwaltete Leiharbeit (sogenannte parish apprenticeships) noch bis ins . Jahrhundert hinein als Form der Wohltätigkeit galt, als sinnvolles Instrument, Waisen und andere Armenkinder vom Müßiggang abzuhalten, den man immer wieder für Kriminalität und diverse Laster der Unterschichten verantwortlich machte.¹⁹⁶ Solche karitativen Einrichtungen wiederum bewegten sich im rechtlichen Rahmen des englischen Armengesetzes. Die Industrie aber blieb bis zur Jahrhundertmitte der erste und einzige Sektor, in dem die Arbeitsbedingungen von Kindern zu einem Problem wurden, für das zu gesetzlichen Lösungen gedrängt wurde. Kinderarbeit in der Unterhaltungsbranche hingegen war in Großbritannien bis zum eingeführten Children’s Dangerous Performance Act und einigen nachfolgenden Erlassen weitgehend ungeregelt.¹⁹⁷ Selbst bei diesem Gesetz, das es vor allem auf den Bereich von Zirkussen und akrobatischem Theater abgesehen hatte, standen aber anfangs dieselben Argumente im Vordergrund, wie bei den Manufakturen und Fabriken. So war der öffentliche Auftritt von Kindern unter vierzehn Jahren nur dann untersagt, wenn damit Leben oder Gesundheit gefährdet wurden. Der Children’s Dangerous Performance Act ist, ähnlich wie zuvor der Factory Act, durch literarische Diskurse vorbereitet worden, mit Romanen wie in sozialreformerischen Debatten.¹⁹⁸ Die Darstellungen griffen das Muster der sentimentalen Moral auf und übertrugen es auf die sprichwörtlichen Bretter, die auch für die vielen Kinder die Welt bedeuteten, die damals regulär als Straßenkünstler, Artisten, Tänzer, Schauspieler usw. in der urbanen Unterhaltungsindustrie arbeiteten. Im Jahr aber war mit einem Eingriff der staatlichen Hand in diese Welt noch nicht zu rechnen. Auch gegen eine, wie auch immer geartete, elterliche Misshandlung hätte man Siehe Hugh Cunningham, The Children of the Poor, S. –, –. Vgl. Tracy C. Davis, »The Employment of Children in the Victorian Theatre«, in : New Theatre Quarterly /Nr. (), S. – ; Anne Varty, »The Rise and Fall of the Victorian Stage Baby«, in : New Theatre Quarterly /Nr. (), S. –. Vgl. Monica Flegel, Conceptualizing Cruelty to Children in Nineteenth-Century England. Literature, Representation, and the NSPCC, Farnham u. a. (Ashgate Studies in Childhood, to the Present), S. – ; Carolyn Steedman, Strange Dislocations. Childhood and the Idea of Human Interiority, –, Cambridge , S. –. Eine in diesem Kontext besonders aufschlussreiche Studie zum Umgang von Presse, Behörden und Wohlfahrtsorganisationen mit Kindern als Straßenmusiker, die aufgrund wirtschaftlich bedingter Emigration aus ländlichen Gebieten Italiens zu Tausenden in europäische und nordamerikanische Großstädte kamen, ist : John E. Zucchi, The Little Slaves of the Harp. Italian Child Street Musicians in Nineteenth-Century Paris, London and New York, Liverpool .
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in Großbritannien erst ab unter der Maßgabe des Prevention of Cruelty to, and Protection of, Children Act vorgehen können. Der Präzedenzfall eines Kindervirtuosen, bei dem sich eine philanthropische Lobby tatsächlich gegen das Elternrecht durchsetzen konnte, findet sich ebenfalls erst am Ende des . Jahrhunderts, und zwar in Amerika. So holte im November die New Yorker Society for the Prevention of Cruelty to Children ärztliche Gutachten über den elfjährigen Pianisten Jósef Hofmann ein und konnte augenscheinlich erfolgreich auf einen Abbruch von dessen Konzerttournee im Februar hinwirken.¹⁹⁹ Der Ruf des Journalisten der Literary Gazette nach dem Gerichtshof in der Londoner Bow Street beziehungsweise dem irischen Politiker Richard Martin (»Member for Galway«), sich um den Fall der Infant Lyra zu kümmern, war also blanke Rhetorik. Der Verweis stellte in dem Artikel nur die konsequente Fortführung der vorausgegangenen Tiermetaphern dar, da auf das Wirken Martins hin ein erstes Tierschutzgesetz, der Cruel Treatment of Cattle Act, erlassen worden war. Ähnlich wie die Sklaverei diente die Tierquälerei als einer der gängigen Querverweise innerhalb der sentimentalen Moral, mit dem der Status des Opfers abgestumpfter Gefühle und verfallener Sitten besonders bildhaft unterstrichen werden konnte.²⁰⁰ Die Repräsentation von Kind und Tier als »companions in their suffering, as blameless victims of an uncaring, adult society«²⁰¹ hat sich aus bestimmten Gründen im . Jahrhundert aber erst allmählich durchsetzen können. Immerhin existierte innerhalb des christ Letztendlich stiftete der Unternehmer Alfred Corning Clark im Geheimen eine Summe von fünfzigtausend Dollar unter der Auflage, dass das Kind bis zu seinem achtzehnten Lebensjahr nicht mehr auftreten solle. Die Intervention der SPCC, mit der sich zusätzlich Musiker und Reporter solidarisierten, hatte den Ruf Hofmanns zu diesem Zeitpunkt jedoch schon entscheidend geschädigt. Vgl. zu diesem Fall Harold C. Schonberg, Die grossen Pianisten. Eine Geschichte des Klavierspiels und der berühmtesten Interpreten von den Anfängen bis zur Gegenwart, einzig berechtigte Übertragung aus dem Amerikanischen von Maureen Martin-Turner und Fritz J. Oberli, bearbeitet von Hildegard Weber, Bern u. a. (= Das moderne Sachbuch ), S. – ; Stephen Husarik, Josef Hofmann (–), the composer and pianist, with an analysis of available reproductions of his performances, Diss., Ann Arbor , S. –. Zum Vergleich der Kinderarbeit mit der Sklaverei, siehe Hugh Cunningham, The Children of the Poor, S. –. Auf ähnliche Weise zogen auch Schriftstellerinnen zwischen dem . und . Jahrhundert immer wieder den Vergleich mit der Behandlung von Tieren heran, um die Situation der Frauen zu illustrieren und für eine notwendige Reform zu argumentieren. Siehe Graham J. Barker-Benfield, The Culture of Sensibility, S. –. Monica Flegel, Conceptualizing Cruelty to Children in Nineteenth-Century England, S. . Siehe zudem ebd., S. –.
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lichen Weltbildes ein gewichtiger Widerspruch : So war der Mensch gemäß des auf Augustinus zurückgehenden Dogmas im Gegensatz zur kreatürlichen Schöpfung in Schuld geboren, und die Überzeugung von der Erbsünde des Kindes übte noch bis weit ins . Jahrhundert großen Einfluss aus (nicht zuletzt auf die Erziehung).²⁰² Vor diesem Hintergrund konnte die Figur des Kindes auch selbst noch überzeugend den Tierquäler abgeben, wie es etwa die erste Tafel aus The Four Stages of Cruelty () des bekannten Malers und Karikaturisten William Hogarth vor Augen führte.²⁰³ Dabei ging es Hogarth mit seiner Kupferstichserie um ein Gleichnis von der moralischen Verrohung des Menschen, die letztendlich auch zur Grausamkeit gegenüber den Mitmenschen führe, würde man ihr nicht von vornherein Einhalt gebieten. Die Frage der Tierquälerei war in gewisser Hinsicht also weniger ambivalent, als die der Kindesmisshandlung und kulturhistorisch fester verwurzelt. Die Moral der Empfindsamkeit verband somit verschiedene ältere Motive wie die Achtung vor der göttlichen Schöpfung oder das aufklärerische Verrohungsargument, konzentrierte sie auf die Leidensfähigkeit des Tieres und spielte sie schließlich gegen ganz unterschiedliche gesellschaftliche Praktiken aus : beispielsweise gegen die aristokratische Jagd, die diversen Formen von Schaukämpfen, die Tierhaltung und Schlachtung oder die Vivisektion.²⁰⁴ Der eigentliche Zynismus des sentimentalen Blicks lag darin begründet, dass die mit ihm verbundene Tugend erst zur Geltung kommen konnte, wenn man das Leiden mit eigenen Augen sah oder sich wenigstens vor dem inneren Auge bildhaft vorstellte. So durften sich auch die Kritiker der Infant Lyra ein Urteil eigentlich erst dann erlauben, wenn sie selbst einen Eindruck von der Verfassung des Kindes gewonnen hatten, mit anderen Worten : sich in ihr Publikum einreihten. Die in der Rubrik »Sights of London« der Literary Gazette Siehe grundlegend Andreas Gestrich, Jens-Uwe Krause und Michael Mitterauer, Geschichte der Familie, Stuttgart (= Europäische Kulturgeschichte ), S. . Zur Erbsündelehre im englischen Methodismus und Evangelikalismus an der Schwelle zum . Jahrhundert bei John Wesley und Hannah Moore siehe Alan Richardson, Literature, Education, and Romanticism, S. . Zur Fortdauer des Dogmas am Beispiel der Kinderliteratur The History of the Fairchild Family (–) von Mary M. Sherwood, vgl. Roger Cox, Shaping Childhood. Themes of Uncertainty in the History of Adult-Child Relationships, Abingdon , S. –. Siehe hierzu Monica Flegel, Conceptualizing Cruelty to Children in Nineteenth-Century England, S. . Im Übrigen findet sich dies auch schon bei : John Locke, Gedanken über Erziehung, Übersetzung, Anmerkungen und Nachwort von Heinz Wohlers, Stuttgart , S. . Siehe Keith Thomas, Man and the Natural World. Changing Attitudes in England –, London u. a. , S. –.
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im Juni erhobene Anschuldigung stellten die Herausgeber der Zeitschrift im Übrigen schon in der nächsten Ausgabe richtig. In der Zwischenzeit war angeblich nämlich eine weitere Inaugenscheinnahme des Kindes erfolgt, jedoch nicht auf der Bühne, sondern im eigenen Redaktionsbüro : »The remarks upon this phenomenon in our last number have procured to our office a visit of the extraordinary little creature who was their subject. Thence we learn that, notwithstanding all her exertions, she enjoys excellent health, and that her lively and playful appearance fully supported this fact. As we never had but one opinion of her remarkable precocious talent, we hasten to remove the impression which we felt and communicated, that it was exercised to the injury of a being so interesting.«²⁰⁵
Den kommenden Skandal vermochte dieses Eingeständnis aber nicht mehr abzuwenden. Ohne die Richtigstellung überhaupt zur Kenntnis zu nehmen, erschien in der Juni-Ausgabe des European Magazine – jenem Organ, das der Musikerin bereits mit der »Memoir of the Infant Lyra« ausführlich gehuldigt hatte – eine umfängliche Gegendarstellung, die sich direkt an den Herausgeber der Literary Gazette, William Jerdan (»Mr. Jordan«), wandte und diesem die Entgleisung persönlich zuschrieb. Sicherlich war die Sache für das European Magazine auch ein willkommener Anlass, dem Ruf des Konkurrenzblatts Schaden zuzufügen, indem sie Jerdan als »supercilious, unhumanized, uninformed, and inexorable critic – a critic who has as much feeling as a stone, and as much brains as a turnip«²⁰⁶ zur Zielscheibe machte. Die Kritik am Publikum richtete sich nun gegen den Kritiker selbst. Mit dem Vorwurf der gefühllosen Pedanterie, der Ignoranz und Hartherzigkeit schlug sie diesen schließlich mit den eigenen Waffen : »[…] may we ask the inexorable Mr. Jordan why he finds fault with the age for delighting in the companionship of children ? Is it because his own callous and indurated feelings will not permit him to delight in any of the softer sympathies of our nature, that he rails at the finer and more humanized feelings of the age ?«²⁰⁷
The Literary Gazette ; and Journal of Belles Lettres, Arts, Sciences, etc. o. Jg./Nr. (. Juni ), S. . [Anon.], »The Infant Lyra and the Periodical Press«, in : The European Magazine, and London Review /o. Nr. (Juni ), S. . Ebd., S. .
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Der Angriff gegen die Vorführung der Infant Lyra aus der Literary Gazette wurde als verirrte Einzelmeinung hingestellt, eine Einschätzung, der mit einer Art Pressespiegel zusätzliches Gewicht verliehen wurde. Das heißt, es wurden eine Reihe an Kommentaren aus anderen Organen zitiert und anschließend folgendes Resümee gezogen, das die Natürlichkeit der Infant Lyra außer Frage stellen sollte : »Here we have a host of critical writers, who all pay undivided and unqualified tribute to the genius, the grace, the elegance of attitude, the magic fire of expression, and all that witchery and fascination by which this little infant fascinates the mind of her auditors, and not only softens into peace, but raises into rapture, the crabbed and mordacious spirit of criticism itself. Indeed we think it would be as difficult to imitate the grace and elegance of her movements and attitudes, as to equal her in the divinity of her enchanting strains.«²⁰⁸
Später suchte der Literary Magnet eine Erklärung für den Streit und fand sie im Zugang zu Informationen aus erster Hand, von denen es manchen Blättern anscheinend mangelte. Ähnlich wie im European Magazine wurde die Kritik an den Vorführungen hier geschickt als Feindseligkeit gegen das Mädchen selbst umgedeutet : »We cannot but regret that any of our contemporaries should have made such illiberal animadversions on this child as have been laid before the public ; we can only suppose that they speak merely from hearsay, having never availed themselves of that kindness and attention, which her father wished to show to every member of the press : though, not having visited London for many years, he was ignorant of many periodical publications ; and we certainly think that it is unworthy of the press to exert its powers against a child of only five years of age, as many of our contemporaries have done.«²⁰⁹
Im Frühjahr gab, nach ihrer anfänglichen Sorge, denn auch die Zeitschrift La Belle Assemblée Entwarnung : »Our fears at first were, that the physical exertion of exhibiting four times a day would soon prove too much for her infant frame. We are glad, however, to find that Ebd., S. . [Anon.], »The Infant Lyra«, in : The Literary Magnet of the Belles Lettres, Science, and the Fine Arts /Nr. (Januar ), S. .
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upon her return to her old quarters in Pall-Mall, this season, her health appears to be not only unimpaired, but invigorated ; and we are additionally pleased to perceive that her home performances are now only twice a day.«²¹⁰
Den grundsätzlichen Unterschied zwischen der Infant Lyra und der zu Recht kritisierten Masse der Wunderkinder (»juvenile prodigies«) in der englischen Unterhaltungsindustrie, insbesondere zur Spezies der Kinderakrobaten, meinte im Sommer des Jahres schließlich der Reporter des Metropolitan Quarterly Magazine festmachen zu können : »As for personal agility and graceful movements in perilous situations, not to mention the anxiety we feel lest an accident should happen […], there is always a feeling that the poor children must, from their tenderest years have been subjected to continual drilling and exercise, probably, like dancing bears, even to cruelty, in order to produce that pliancy and elasticity in their limbs which their mercenary task-masters considered necessary for the expected achievements. But music – music, in the hands of one so young as the little Lyra, tells its own story. Such performance could be the produce of no system of discipline, however it might have been refined and corrected by instruction.«²¹¹
Die für Jedermann sichtbare Unbeschwertheit des Mädchens, ihre spielerische Leichtigkeit beim Musizieren und ihr natürlicher Körper, der allein dem inneren Gefühl zu gehorchen schien, waren ihm Beweise genug für die Unversehrtheit kindlicher Unschuld : »In looking at, and listening to this sweet child, we feel no draw-back to our pleasure from the thought of tears wrung, heart-eaches inflicted, and infantine amusements interrupted in order to force the unwilling hand to elicit sounds to which the bosom gave no responsive echo. The little sylph is evidently delighted with her task, and under no constraint, either from herself or others, in performing it. She bounds with childish glee to her toy-like seat, seizes her fairy harp with eagerness, and whatever be the mood to which her strains are adapted, whether plaintive or lively, melting in softness, or swelling into martial energy, all are as perfectly indicated by her expression and gesture as by the tones of her instrument. Every note was evidently felt [Anon.], »The Infant Lyra«, in : La Belle Assemblée, or Court and Fashionable Magazine / Nr. (April ), S. . Zitiert nach C., »The Infant Lyra«, S. .
| The Infant Lyra : Ikone der Unschuld by the little enthusiast at the instant it vibrated on the string ; and her dark eye was moistened with tenderness, sparkled with rapturous vivacity, or beamed high with triumphant animation, as the Ionian, Lydian, or Phrygian measure swept along the chord ; and her infantine features bore witness to the emotions of her heart.«²¹²
Die kritischen Stimmen verstummten und die Debatte kam schließlich zum Erliegen. Anscheinend hat sich die Seite der Befürworter einer öffentlichen Ausstellung der Infant Lyra die moralische Instanz der Zeit, die Einfühlsamkeit nämlich, am Ende ganz zu eigen gemacht. Tränen sollten zwar fließen, aber es durfte keine des Mitleids darunter sein : ein emotionaler Drahtseilakt für das Publikum. Um genau jenen Zustand der Unschuld zu erhalten, wünschte sich der zuletzt zitierte Autor, die Musikerin möge ewig ein Kind bleiben, eine Vorstellung, die er sich zumindest metaphorisch am Schluss seines Berichts für das Metropolitan Quarterly Magazine ausmalte : »May your harp, dear girl, vibrate to none but the lively breezes of spring, or soft summer gales breathing happiness ; may no autumnal storms of passion, or chilling wintry blasts, bearing sorrow and mourning on their wings, sweep over its delicate strings, to derange their harmony ; may no bursting chord tell the tale of its destruction !«²¹³
Derselbe motivische Komplex von Unschuld, einer äußeren Bedrohung, die sie stets umgab, sowie die Chancen ihrer Bewahrung ist auch in der zeitgenössischen englischen Lyrik zu finden, ein Medium, das an und für sich wie geschaffen zu sein schien für die Figur der Infant Lyra. Es gab hierbei also durchaus inhaltliche Berührungspunkte sowohl mit der »Memoir« als auch mit der Pressedebatte von . Den Rahmen konventioneller Elogen in gewisser Weise sprengend, verhalf die Dichtung ihr zu einer zweiten Existenz jenseits der Bühne, die noch viele Jahre nach ihrer Auftrittskarriere anhielt.²¹⁴ Die inhaltliche Besonderheit dieses Mediums war, dass es dem allgegenwärtigen Topos der Unschuld einen weiteren an die Seite stellte, den Topos des Todes. Die Grenzen Ebd. Ebd., S. . Als späteste Publikation konnte »On hearing the Infant Lyra perform on the Harp (written many years ago)« des Geistlichen William Pepperell Hutton ausfindig gemacht werden, ein Gedicht, das die typischen Motive von Kindlichkeit, Unschuld, Naturgenie und Gefühlsrührung verarbeitete. Siehe W[illiam] P[epperell] Hutton, A Tribute of Song : Being Thoughts and Feelings Expressed in Verse, London u. a.: J. Hatchard & Son u. a. , S. .
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zur Fiktion waren hier nicht nur unscharf, sondern wurden an einigen Stellen deutlich überschritten. Dass sich vielfach, wenn nicht sogar vorwiegend, Dichterinnen dem musizierenden Mädchen auf diese Weise gewidmet haben (die Autorschaft steht nicht überall fest), war dahingehend nichts Ungewöhnliches, da innerhalb der Grenzen des Sentimentalen und Religiösen lyrische Publikationen von Frauen als legitim angesehen wurden.²¹⁵ Es ist daher möglich, dass eine Autorin auch für eine erste Eloge auf die Infant Lyra verantwortlich war, die zunächst begleitend zu den Vorführungen in Liverpool in der hiesigen Presse und erneut in dem in Taunton herausgegebenen Sammelbändchen erschienen ist.²¹⁶ Unterschrieben war der Text lediglich mit einem Kürzel (»G.«). Er wurde von den Eltern gezielt zur öffentlichen Inszenierung ihrer Tochter genutzt, was daran ersichtlich ist, dass er auch in Werbungen für Vorführungen im Londoner Apollo Saloon abgedruckt wurde.²¹⁷ Im hymnischen Ton wird die Infant Lyra mit dem Gedicht angerufen und als engelsgleiche Botin aus einem himmlischen Jenseits beschrieben : »Art thou indeed of earth ? or say, from heav’n / To weary mortals for a season given, / Say, hast thou left thy starry mansion bright, / Elysium blessed of supreme delight, / To lure, with seraph form and witching lay, / And bear to far off realms the soul away ? / Art thou indeed of earth, that sweep’st the lyre / With inspiration’s glowing hand of fire ? / Or aërial spirit from the bowers of bliss, / To tell of distant realms of blessedness ? / Human thy song, or sure thou well might’st seem / Some fairy geni of Arcadian dream, / So bright the sparkle of thy beaming eye, / Whispering of heaven in all its purity ; / So fair the beauties of thy cherub face, / Matchless in infant loveliness and grace / Human thy song, yet ne’er, oh ! ne’er did art / Weave spell like thine around the captive heart !«²¹⁸
Ihr musikalisches Talent erscheint als personifizierter (weiblicher) Genius, sie selbst als ein Medium höherer Mächte : Siehe Linda K. Hughes, The Cambridge Introduction to Victorian Poetry, Cambridge u. a. , S. –, –. G., »To the Infant Lyra«, in : Liverpool Mercury, Or Commercial, Literary, and Political Herald vom . Juli (Nr. ), S. ; erneut in : The Kaleidoscope ; or, Literary and Scientific Mirror /Nr. (. Juli ), S. ; sowie in : o. Hg., Poetry, by Various Hands, S. . Siehe The British Press vom . März (Nr. ), o. S. und vom . April (Nr. ), o. S.; The New Times vom . März (Nr. ), o. S.; The Morning Post vom . März (Nr. ), o. S.; The Examiner vom . April (Nr. ), S. . G., »To the Infant Lyra«, S. .
| The Infant Lyra : Ikone der Unschuld »Heaven-taught, sweet Lyra, – Genius, from her throne / Exulting, calls thee hers, and hers alone ; / And hers thou art : she breathes in every sigh, / Lives in the lustre of thy speaking eye, / Prompts the soft warblings of thy every tone, / And sheds a halo round thee all her own !«²¹⁹
Das Gedicht schließt im Imperativ und richtet sich nun direkt an das Mädchen mit dem Gebot, die überirdische Kraft während der begrenzten Zeit auf Erden zu nutzen : »Go – heaven-instructed – charm the listening throng / With all thy sweet varieties of song, / And with a lay befitting regal sphere, / Go, win, in princely halls, the royal ear ; / And when thy dazzling race on earth is run, / And mortal immortality puts on ; / When the dark shadows on the mountains spread / Shall call thee to thy last and quiet bed ; / Resume in brighter worlds thy sounding lyre, / The sweetest harpist of th’ angelic choir !«²²⁰
Es war nur der Erste einer ganzen Reihe poetischer Texte, die auf stereotype Weise immer wieder um dieselben Themen kreisten : Die Unschuld des Mädchens, ihre gleichsam erotisierte Körperlichkeit, die Transzendenz ihrer Musikalität sowie – meist in der Schlussstrophe – der unausweichliche Tod. Die wörtliche Stilisierung als Engel findet sich gleich in mehreren der Beiträge der in Taunton verlegten Publikation : »Strike the harp, Oh ! strike again / That soul-enchanting string, / So fair a form, so sweet a strain, / Might stay a seraph’s wing. So bright the flash of warlike fire, / So soft the dying fall, / Not sweeter swells angelic lyre / In Heav’n’s æthereal hall. Those eyes, to Heav’n uplifted, seem / Far, far from earth to rest – / ’Tis thus in eyes angelic beam / The spiritis of the blest.«²²¹
Ein weiteres Gedicht des Bändchens schließt mit den Zeilen :
Ebd. Ebd. [Anon.], »To the Infant Lyra«, in : o. Hg., Poetry, by Various Hands, S. .
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»Pure, artless gem of infancy, / Bright angel-vision from above, / Too sweet for earth thy minstrelsy, / Too lovely but for worlds of love ! ! !«²²²
Ein dritter der darin anonym abgedruckten Titel »To the Infant Lyra« erschien in leicht abweichender Version (in der einige sprachliche Wendungen durch andere ersetzt sowie die vorletzte Strophe gestrichen wurde) als »Written after Hearing the ›The Infant Lyra‹« in der Kollektion der Poetin Charlotte Elliott, wodurch zumindest eine Urheberschaft geklärt wäre.²²³ Zur Engelsmetapher treten in diesem Gedicht weitere Bilder hinzu. Die jenseitige Welt, der die Musik des Kindes entsprungen sei, wird in der ersten Strophe mit Himmelskörpern und kosmischer Sphärenharmonie, in der zweiten mit dem Land der Elfenkönigin Titania (aus Shakespeares Sommernachtstraum) in Verbindung gebracht : »Where dids’t thou learn thy science, wond’rous child ? / Heard’st thou the morning stars before thy birth ? / Or, by ›the music of the spheres‹ beguil’d, / Lingered thy spirit on her way to earth ? Or wert thou, while an infant, snatch’d away, / By viewless beings, to Titanea’s land, / Where fairy concerts, ’neath the moonlight ray, / Awoke the magic of thy tuneful hand ? Those tiny notes, that suit thy age so well, / Those soft aërial cadences so sweet, / Did’st thou not learn them in some emerald dell, / Attun’d to fairy songs, and fairy feet ?«²²⁴
Im Zusammenhang einer Betrachtung der weltlichen Erfolge des Kindes bringt die achte Strophe schließlich die erwartbare Wendung ins Morbide, die wiederum im religiösen Trost einer göttlichen Erlösung aufgefangen wird : »Yet even while thy music charm’d my ear, / I looked with anxious thought, sweet child, on thee ; / Thou breath’st a heated, dangerous atmosphere, / And full of snares thy flowery path must be. Methought, though now the scene appear so gay, / And listening crowds admire thy tuneful skill, / ’Ere long, life’s pageant will have pass’d away, / Thy harp be silent, and thy hand be still. [Anon.], »To the Infant Lyra«, in : o. Hg., Poetry, by Various Hands, S. . Siehe [Charlotte Elliott], »To the Infant Lyra«, in : o. Hg., Poetry, by Various Hands, S. – ; [dies.], Hours of Sorrow : or, Thoughts in Verse, Chiefly adapted to Seasons of Sickness, Depression, and Bereavement, London, S. –. [Charlotte Elliott], »To the Infant Lyra«, S. .
| The Infant Lyra : Ikone der Unschuld Then, what will it avail to thee to have won / The brilliant prize of transitory fame, / Unless a nobler treasure be thine own, / Unless a brighter record bear thy name ? Dear, gifted child ! if eloquence were mine, / Then should it grace this monitory strain ; / Nor should the pleasure I receiv’d from thine, / Have wak’d the love I feel to thee, in vain. Then would I tell thee of a Heavenly Friend, / Who longs thy gentle, infant heart to win ; / Who waits his guidance and his grace to lend, / And died to save thee from distress and sin.«²²⁵
Die Mahnung des lyrischen Ichs nach einer Hinwendung zu Gott spielt auch hier mit dem Gedanken an den Tod, wie am Ende noch einmal unterstrichen wird : »Then wilt thou learn to feel a Saviour’s love, / To know the wonders heavenly truth displays ; / Then shall thy golden harp in realms above, / Be ever tuned to thy Redeemer’s praise.«²²⁶ Das Todesmotiv tritt in späteren Dichtungen noch deutlicher hervor. So etwa auch bei Marianne Prowse, die in ihren Reflektionen »To the Infant Lyra« aus dem publizierten Konvolut ihrer poetischen Werke besonders eindringlich das unwiderrufliche Schicksal des Todes, eines frühen Todes sogar, darstellt : »Young enchantress tell, / Whence is thy power, and what thy destiny ? – / But no – thou needest not – I know the spell / That works in thee – ’tis Genius – thou hast caught / The gift of music, and it is thy joy, / Thy life, thy passion, thus to pour thy soul / Into the raptur’d breathings of the lyre. / Thy destiny – fair child – not happiness ! / No : – happiness hath never made her rest / In hearts impassion’d – eloquence, and song, / And poesy, and all unquiet things / Are in the glances of thy restless eyes / And a prophetic spirit speaks in all, / They tell me of an anxious, fever’d life, / And of a glorious, but an early tomb. –«²²⁷
In »The Infant Lyra« wiederum, einem Gedicht, das in einem Band von Lydia B. Smith erschien, verband sich dieses Schicksal mit einem durchgehend religiösen Tenor. Als Verkörperung unschuldigen Glücks wird das Kind hierin als regelrechter Fremdkörper in einem irdischen Jammertal beschrieben, ein Kontrast, der sich insbesondere in einer in Varianten refrainartig wiederholten Ebd., S. . Ebd. [Marianne] Prowse, Poems, London , S. –.
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Zeile immer wieder bestärkt : »But this is no home for spirits rare, / There is nothing beautiful or fair / In this world of trial lives !«²²⁸ Die Unschuld wird, ob ihrer Flüchtigkeit und Vergänglichkeit, in eine tiefschwarze Elegie getaucht, die bald nach den ersten Zeilen schon jede Strophe durchzieht : »Thou fairy child ! I pity thee, / While all are envying ; / Too soon thine ardent soul will be / Depress’d and withering ! And care will steal from thy sweet face / Some of its own bewitching grace, / And the ruin of faded hope will speak / In paleness and woe on thy sunken cheek – / Where then, alas ! minstrel girl, wilt thou seek / Thy wond’rous inspired strain ? / O this is no home for spirits rare, / There is nothing beautiful or fair / But most droop in decay and pain ! E’en so – e’en so – thy fate must be ! / Those mirthful fancies gay, / And childhood’s playful laugh and glee / Must yield to sorrow’s sway ! Little thou know’st of grief or tears ! / The anguish of maturer years ; / The passions that sear are unknown to thee ; / Yet suff’ring, sure doom of mortality, / Will spread its dark cloud o’er the dew-bright eye ; / E’en thine own, sweet child ! must fade ! / For this is no home for spirits rare, / There is nothing beautiful or fair / For a world like our’s made !«²²⁹
Die Infant Lyra löste sich letztlich völlig in eine Fiktion auf, die über die Musikerin selbst und ihre Auftrittskarriere im engeren Sinne hinausging. Sie reihte sich als poetische Figur ein in die endlose »succession of graveyards and wonderlands where the child wandered alone«²³⁰, wie der Literaturwissenschaftler Robert Pattison die Allgegenwart der Kindheitsthematik in der englischen Literatur des . Jahrhunderts auf griffige Weise umschrieben hat. Dabei füllte sie einen in der Lyrik der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts besonders weit verbreiteten Typus aus, den des angelic child, der einerseits an ältere religiöse Sujets wie Puttendarstellungen oder den kindlichen Jesus Christus anknüpfte, sich von solchen Vorbildern andererseits aber durch das ihm inhärente Todes Lydia B. Smith, Songs of Granada and the Alhambra. With other Poems, London , S. . Ebd., S. –. Robert Pattison, The Child Figure in English Literature, Athens , S. ix. Die zentrale These des erstveröffentlichten Buchs, die besagt, dass Kinderfiguren in der englischen Literatur seit der Reformation insgesamt eine Auseinandersetzung mit der augustinischen Lehre von Sündenfall und Erbsünde darstellten, erscheint aber etwas reduktionistisch. Siehe dazu insbesondere ebd., S. ix–x, –.
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motiv unterschied, das gewissermaßen auf der Logik gründete, dass das Kind allein im Jenseits die ihm zugeeignete Unschuld bewahren könne.²³¹ Zugleich aber stand hinter der poetisch hergestellten Todesnähe der Infant Lyra ein für die Zeitgenossen durchaus reales Bedrohungsszenario, das sich schließlich auch in den Auseinandersetzungen der Londoner Presse auf dem Höhepunkt ihres Ruhms andeutete. Während gesundheitliche Schäden – auch mit möglicher Todesfolge – hier als Ergebnis einer Korrumpierung der kindlichen Natur angesehen wurden, war der Tod auf literarischer Ebene im Gegenteil dazu ein Weg zu ihrer Erhaltung. Dem poetischen Phantasma des kindlichen Engels schien die Infant Lyra passgenau zu entsprechen. Sie füllte auch hierbei eine kulturelle Schablone aus, die schon vor ihr existiert hatte : »O ! Take, young Seraph, take thy harp, / And play to me so cheerily ; / For grief is dark, and care is sharp, / And life wears on so wearily. / O ! take thy harp ! Oh ! sing as thou wert wont to do, / When, all youth’s sunny season long, / I sat and listen’d to thy song […]«²³².
Dieses Gedicht von Thomas Hood – es stellt ein einigermaßen willkürliches Beispiel des angelic child dar – erschien drei Jahre, bevor Isabella Rudkin irgendeine Bühne betrat und schließt gleichfalls mit dem obligatorischen Weg ins Jenseits (»Take then, Oh ! take the skylark’s wing, / And leave dull earth, and heav’nward rise […]«²³³). Ebenso lässt einen die Übereinstimmung der Eloge aus Liverpool mit den Anfangszeilen einer ungefähr zeitgleich im Londoner New Monthly Magazine and Literary Journal publizierten Dichtung mit dem Titel »Geraldine« stutzig werden, einem Text, der sich an keiner Stelle explizit auf die Infant Lyra bezog : »Art thou indeed of earth, angelic child ! / Art thou indeed of earth, or hast thou left / Thy starring dwelling-place, to win all hearts / And charm all thoughts, from mortal love, to Heaven ?«²³⁴ Siehe Naomi Wood, »Angelic, Atavistic, Human : The Child of the Victorian Period«, in : Adrienne E. Gavin (Hg.), The Child in British Literature. Literary Constructions of Childhood, Medieval to Contemporary, Basingstoke u. a. , S. –. Vgl. auch Laurence Lerner, Angels and Absences. Child Deaths in the Nineteenth Century, Nashville , S. –. [Thomas Hood], »To Hope«, in : The London Magazine /Nr. (Juli ), S. . Ebd., S. . [Anon.], »Geraldine«, in : The New Monthly Magazine and Literary Journal /Nr. (), S. .
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Unabhängig davon, wer hier bei wem abgeschrieben hat oder ob es sich um zwei Produkte aus dem Fundus derselben Autorin oder desselben Autors handelte, ist die semantische Brücke zwischen den beiden Gedichten, die diese Überschneidung der Verse zwangsweise herstellt, aufschlussreich. Denn bezeichnenderweise wird in »Geraldine« noch die erwachsene Frau auf das Ideal kindlicher Unschuld (»blank and virgin ignorance«) in einer gleichsam natürlichen Fortsetzung des Kindheitsalters verpflichtet : »Smile on, sweet child ! – may many a stainless day / Of youthful joy, and guiltless love, roll by, / Bearing thee calmly into womanhood, / As gentle rivers bear a bark to ocean / In their transparent arms !«²³⁵
Die Wirkungsmacht der Infant Lyra als musizierender Engel aus Fleisch und Blut, als real gewordene Fiktion, dem Publikum genau dieses Ideal scheinbar zum Greifen nahe vorzuführen, ist nur noch zu erahnen.
. kindheit im lichte ossianischer nostalgie Neben dieser normativen Funktion erfüllte die Infant Lyra für das Publikum eine memorative. Das deutet sich zumindest vage an einem weiteren Motiv an, das in den Lobgedichten an manchen Stellen erschien und mit jenem der Unschuld verknüpft war. Marianne Prowse etwa ließ ihre Eloge aus dem Gedichtband von so beginnen : »Child ! – hast thou plung’d into the awful depth / Of ages gone, and from oblivion’s grasp / Wrested that lyre Orphëan ? What old airs / Of times forgotten, tremble on the strings / That as a living pulse, responsively / Throb ’neath thy lightning fingers ?«²³⁶
Die Verse sprechen von einer fernen und verschleierten Vergangenheit, deren Melodien (»old airs / Of times forgotten«) durch das Saitenspiel des Mädchens für einen Moment wiederbelebt würden. Der antike Vorläufer ihres Instruments (»lyre Orphëan«) weist symbolisch auf diese Zeit hin, die zugleich mit dem Repertoire der Musikerin in Verbindung gebracht wird. Was die Infant Ebd. [Marianne] Prowse, Poems, S. .
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Lyra bei ihren Auftritten tatsächlich spielte, ließ sich größtenteils tatsächlich unter ein musikalisches Genre subsumieren, das nicht nur das übergreifende ästhetische Ideal natürlicher Einfachheit perfekt einzulösen schien, sondern den Zuhörerinnen und Zuhörern darüber hinaus Erinnerungen an verflossene Zeiten versprach : die Rede ist von den sogenannten national airs, ein Begriff, der am adäquatesten mit Volksweisen (oder auch Volksliedthemen beziehungsweise -melodien) zu übersetzen ist. Was es im Londoner Apollo Saloon zu hören gab, wurde demzufolge im Examiner etwa als »a variety of National Airs, English, Irish, and Scottish«²³⁷ zusammengefasst. Die verstreuten Hinweise aus weiteren Anzeigen, Nachrichten und Berichten bestätigen den Eindruck, dass das Repertoire der Infant Lyra fast ausschließlich aus Instrumentalbearbeitungen solcher national airs bestand, Melodien, die man damals vorwiegend irischen und schottischen Ursprüngen, in einigen Fällen auch englischer Tradition zugeschrieben hätte. Daneben beinhaltete es zwar auch zum Beispiel Variationen über das französische Kinderlied »Ah ! vous dirai-je, maman« von Jean-Baptiste Cardon²³⁸ oder (zumindest ab einem späteren Zeitpunkt) verschiedene Walzer, einen »Grand March« des Harfenvirtuosen Robert Nicholas Charles Bochsa sowie ein paar Eigenkompositionen.²³⁹ Der Bezug zu den national airs aber war besonders eng, wie es auch in einem der Beiträge der Gedichtsammlung aus Taunton herausklang : »Fairy minstrel, sweet enchantress, / Stay not yet thy witching strain ; / Oh ! strike, in all thy native wildness, / Thy native melodies again !«²⁴⁰ Die national airs fanden sich vielfach abgedruckt in zeitgenössischen Liedsammlungen wieder. Da die Titel in den Programmankündigungen der Harfenistin ausschließlich in englischer Sprache (nicht etwa auf Irisch, Schottisch-Gälisch, Scots oder Walisisch) erschienen sind, können sie großteils als Entlehnungen solcher Publikationen identifiziert oder zumindest als Anlehnungen verstanden werden. Solche Sammlungen bezogen ihre Texte oder Melodien in der Regel zu gewissen Anteilen aus vorangegangenen Publikationen, während anderes Material von Informanten ausfindig gemacht oder von Schriftstellern beziehungsweise Musikern beigesteuert wurde. Sie entstanden S., »The Infant Lyra«, S. . Siehe The Manchester Guardian vom . Juli (Nr. ), o. S. Eine wertvolle Quelle liefert dabei eine Anzeige für die täglichen Auftritte in Taunton , in der alle Stücke für die drei verschiedenen Auftrittszeiten in der entsprechenden Reihenfolge aufgelistet sind. Siehe The Taunton Courier, And Western Advertiser vom . Mai (Nr. ), o. S. [Anon.], »To the Infant Lyra«, in : o. Hg., Poetry, by Various Hands, S. .
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also häufig aus kollaborativen Anstrengungen heraus. Nicht nur im Repertoire der Infant Lyra fungierte als primäre Referenz für schottische Musik die von James Johnson herausgegebene sechsbändige Anthologie The Scots Musical Museum (–). Zwischen dem zweiten und fünften Band arbeitete der Dichter Robert Burns eng mit Johnson zusammen, redigierte die meisten der Liedtexte oder verfasste sie gleich komplett neu.²⁴¹ Melodien von Liedern wie »The yellow-hair’d laddie«, »Roy’s wife of Aldivalloch«, »My love she’s but a lassie yet« und andere mehr, deren Titel sich auch im Programm der Infant Lyra befanden, hatten Burns und Johnson überhaupt erst einem größeren Publikum zugänglich gemacht. Von ihrer Sammlung aus gelangten diese Melodien wiederum in populäre Musikdrucke, die gegenüber dem antiquierten Generalbass des Scots Musical Museum moderne Klavierbearbeitungen aufboten, wie etwa die erfolgreiche Serie Select Collection of Original Scottish Airs : »[…] plainly expressed in musical Notes, which every young Lady may execute correctly«²⁴², wie es im Vorwort hieß. Die Scottish Airs erschienen zwischen und in insgesamt sechs hochwertigen Bänden sowie in mehreren Neuauflagen und wurden von George Thomson herausgegeben. Auch an diesem Projekt war Burns als Poet beteiligt. Für die musikalische Bearbeitung dieser und anderer Herausgaben Thomsons – darunter gab es auch solche mit walisischen und irischen Melodien – konnte der erfolgreiche Verleger international bekannte Komponisten wie Ignaz Pleyel, Leopold Koželuch, Joseph Haydn, Ludwig van Beethoven, Carl Maria von Weber oder Johann Nepomuk Hummel gewinnen.²⁴³ Thomsons Scottish Airs und vergleichbare Klavierausgaben sind besonders aufschlussreich für die Ausrichtung der national airs auf den Musikmarkt Vgl. Roger Fiske, Scotland in Music. A European Enthusiasm, Cambridge u. a. , S. – ; Paul F. Moulton, Imagining Scotland in Music : Place, Audience, and Attraction, Diss., Tallahassee , S. – ; Karen McAulay, Our Ancient National Airs : Scottish Song Collecting from the Enlightenment to the Romantic Era, Farnham u. a. (Music in Nineteenth-Century Britain), S. –. George Thomson (Hg.), A Select Collection of Original Scottish Airs for the Voice. With Introductory & Concluding Symphonies & Accompaniments for the Piano Forte, Violin & Violoncello by Pleyel, Kozeluch & Haydn With Select & Characteristic Verses both Scottish and English adapted to the Airs including upwards of One Hundred New Songs by Burns, Bd. , London u. a. [], S. . Siehe Kirsteen McCue, »›An individual flowering on a common stem‹ : melody, performance, and national song«, in : Philip Connell und Nigel Leask (Hgg.), Romanticism and Popular Culture in Britain and Ireland, Cambridge u. a. , S. –. Zu den Scottish Airs und konkurrierenden Publikationen, vgl. auch Roger Fiske, Scotland in Music, S. – ; Paul F. Moulton, Imagining Scotland in Music, S. – ; Karen McAulay, Our Ancient National Airs, S. –.
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einer vorwiegend urbanen, gebildeten und wohlhabenden Käuferschaft. Sie bewegten sich damit stets in einem gewissen Zwiespalt : Einerseits mussten sie den Geschmack dieses Publikums treffen, andererseits erschienen sie dabei durch eine etwaige Verfälschung der vermeintlich rustikalen Einfachheit der Melodien angreifbar, ein Konflikt, der es erforderlich machte, die eigene Bearbeitungspraxis im Sinne einer Bewahrung, Verzierung, Veredlung oder Bereinigung der Musik zu rechtfertigen.²⁴⁴ Eine ähnliche Zielgruppe wie Thomsons Publikationen besaßen auch die Irish Melodies von Thomas Moore (»it is found upon the piano-fortes of the rich, and the educated«²⁴⁵). Die Reihe, die zwischen und in insgesamt zehn Bändchen veröffentlicht wurde, ließ den irischen Dichter und Balladensänger gerade auch in England zu einer Berühmtheit werden. Sie enthielt einige Neudichtungen Moores zu melodischen Vorlagen, die dieser wiederum zu weiten Teilen aus A General Collection of the Ancient Irish Musics (–) von Edward Bunting und anderen Sammlungen übernommen, zunächst eigenhändig angepasst und dann von dem Kirchenmusiker und Komponisten John Stevenson für moderne Klavierbegleitung einrichten lassen hatte.²⁴⁶ Nachweislich hatte aber nicht einmal Bunting einen rein dokumentarischen Ansatz verfolgt. Mittels der erhaltenen Manuskripte zu seinem Werk lässt sich nachvollziehen, wie er die Melodien, die sich der ausgebildete Musiker zunächst von irischen Harfenisten selbst hatte vorspielen lassen, nicht in der von ihm selbst transkribierten Form beließ, sondern stattdessen einem entsprechenden Bearbeitungsprozess gemäß dem modernen Musikgeschmack unterzog.²⁴⁷ War bereits der Inhalt seiner Antho Siehe Kirsteen McCue, »›An individual flowering on a common stem‹«, S. – ; Matthew Gelbart, The Invention of ›Folk Music‹ and ›Art Music‹. Emerging Categories from Ossian to Wagner, Cambridge u. a. (New perspectives in music history and criticism), S. – ; Claire Nelson, »Tea-table miscellanies. The development of Scotland’s song culture, –«, in : Early Music /Nr. (), S. –. Thomas Moore, Irish Melodies, London , S. . (Zitate auch im Folgenden nach dieser reinen Textausgabe). Genau genommen erschien der achte Band wegen der Entzweiung der beiden Verleger, den Brüdern Power, zugleich bei James Power in London mit Bearbeitungen von Henry Rowley Bishop, während die Dubliner Ausgabe von William Power weiterhin Stevenson als Arrangeur heranzog. Zu den Irish Melodies sowie zur Popularität Moores, vgl. Ronan Kelly, Bard of Erin. The Life of Thomas Moore, Dublin , S. –, – ; Sarah McCleave, »The Genesis of Thomas Moore’s ›Irish Melodies‹, –«, in : Paul Watt, Derek B. Scott und Patrick Spedding (Hgg.), Cheap Print and Popular Song in the Nineteenth Century. A Cultural History of the Songster, New York , S. –. Siehe David Cooper, »›’Twas one of those Dreams that by Music are brought‹ : the development of the piano and the preservation of Irish traditional music«, in : Michael Murphy und
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logie das Ergebnis einer Aktualisierung, wurde er von Moore, der – ähnlich wie Burns für Schottland – den Status eines irischen Nationaldichters verliehen bekam, an Popularität überboten. Bestimmte Melodien waren im öffentlichen Bewusstsein von seinen Dichtungen komplett vereinnahmt. So wurde auch im Programm der Infant Lyra wohl durchaus mit Bedacht der Titel »The Last Rose of Summer« aus dem herausgegebenen fünften Band der Irish Melodies gewählt, weder also jener der dort angegebenen Originalmelodie »The Groves of Blarney« (einer zeitgenössischen Dichtung des Iren Richard Alfred Milliken) noch die Überschrift »The Young Man’s Dream« (beziehungsweise Gälisch : »Aisling an Oigfhir«) derselben Melodie im ersten Band von Buntings General Collection. Und über einen Auftritt am . August im Theater von Birmingham schrieb ein Journalist auf bezeichnende Weise, das Mädchen habe »some of the best airs from the Irish Melodies«²⁴⁸ gespielt. Was Moore, der berühmte Landsmann der Infant Lyra, über das musizierende Mädchen dachte, nachdem er am . Februar gemeinsam mit seiner Frau Elizabeth eine ihrer Vorstellungen in den Bazar Rooms besucht hatte, ist aus der kurzen Notiz dazu in seinem Tagebuch aber leider nicht zu entnehmen.²⁴⁹ Solche Liedsammlungen mit schottischen, irischen, walisischen, seltener auch englischen national airs, die in unterschiedlichen Preisklassen, vielfach auch nur als simple Textausgaben, erschienen sind, waren vorwiegend für den bürgerlichen und adligen Hausgebrauch bestimmt und richteten sich in erster Linie an Damen. Sie waren essentieller Bestandteil der Erziehung zu den accomplishments der eleganten Welt.²⁵⁰ Ergänzt wurden sie durch eine Menge an reinen Instrumentalbearbeitungen, großteils ebenfalls zum Zweck des häuslichen Musizierens.²⁵¹ Im reichen England fanden all diese Publikationen selbstredend den größten Absatzmarkt und die melodischen Vorlagen der von der Infant Lyra gespielten Stücke müssen also auch dem Londoner Publikum weitgehend vertraut gewesen sein. Eine wichtige vermittelnde Funktion für die
Jan Smaczny (Hgg.), Music in Nineteenth-Century Ireland, Dublin u. a. (= Irish Musical Studies ), S. –. The Birmingham Chronicle, and General Advertiser of the Midland Counties vom . August (Nr. ), S. . Siehe Thomas Moore, Memoirs, Journal, and Correspondence, Bd. , hg. von John Russel, London : Longman, Brown, Green, and Longmans , S. –. Siehe Paul F. Moulton, Imagining Scotland in Music, S. –, – ; Derek B. Scott, The Singing Bourgeois. Songs of the Victorian Drawing Room and Parlour, Second Edition, Aldershot (Popular Music in Britain), S. –. Zu diesem Genre, vgl. Stanley C. Pelkey, British National Identities and Keyboard Music in the Later Georgian Period, Diss., Ann Arbor , S. –.
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national airs spielte zudem die englische Theaterbühne, die für die Verbreitung tradierter, in einigen Fällen aber auch für die Entstehung neuer Melodien verantwortlich war, die sich den Anstrich einer alten Volksweise gaben. George Thomson etwa wies in der »Dissertation concerning the national melodies of Scotland«, die er erstmals einer Zusammenstellung verschiedener Melodien als wissenschaftliche Einleitung beigab, auf das Problem hin, dass bereits seit dem frühen . Jahrhundert Lieder dieser Art in Umlauf wären und auch in diverse Sammlungen Eingang gefunden hätten : »[…] it had become very much the fashion in London to write and compose songs and tunes in the Scottish style, for the theatres and public gardens.«²⁵² Die Schwierigkeit, im Nachhinein die Spreu vom Weizen zu trennen – also das was nur alt klang, von dem, was wirklich alt war –, war den Zeitgenossen bewusst. Ein gutes Beispiel bietet dahingehend »Savourneen Deelish«, ein Titel, der in einer Bearbeitung für die Harfe spätestens ab auch zum Repertoire der Infant Lyra gehörte. In einem Bericht über die Auftritte im Apollo Saloon für die Londoner Times hob ein Journalist unter anderem dieses Stück – da angeblich mit besonderer Zartheit gespielt – lobend hervor und bezeichnete es als »a melancholy and very characteristic Irish melody«²⁵³. Allerdings lässt sich die Musik zu keinem früheren Datum nachweisen als dem . November , dem Tag nämlich, an dem The Poor Soldier am Theatre Royal in Covent Garden uraufgeführt wurde. Gedruckt findet sich die Melodie somit erstmals in Partituren und Klavierausgaben dieser Londoner Comic Opera.²⁵⁴ Es ist unsicher, ob sie zu jenem mündlich tradierten Material gehörte, das dem englischen Komponisten William Shield von seinem in Irland aufgewachsenen Librettisten John O’Keeffe herangetragen worden war, oder ob sie von vornherein eine Eigenkomposition im irischen Nationalkolorit darstellte. Sie wurde später jedenfalls erneut in der melodramatischen Oper The Surrender of Calais (uraufgeführt am . Juli am Theatre Royal, Haymarket) von George Colman und Samuel Arnold verarbeitet, wo sie einen Text mit der wiederkehrenden Zeile »Savorneen Deelish, Eileen Oge !« (Treuer Liebling, junge Eileen !) vertonte und damit die Hei George Thomson (Hg.), The Select Melodies of Scotland, interspersed with those Ireland and Wales […], Bd. , London u. a. [], S. . The Times vom . April (Nr. ), o. S. Der Bericht erschien außerdem in der Rubrik »Miscellaneous Intelligence« in : The Museum of Foreign Literature and Science /Nr. (), S. –. Zur Entstehung und den frühen Drucken der Oper siehe John O’Keeffe und William Shield, The Poor Soldier (), hg. von William Brasmer und William Osborne, Madison (= Recent Researches in American Music ), S. vii–xiii.
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matsehnsucht eines irischen Soldaten, der im Hundertjährigen Krieg für die englische Krone kämpft, musikalisch zum Ausdruck bringen sollte. Seit dem frühen . Jahrhundert erfuhr die Melodie dann noch weitere Aneignungen mit zum Teil eindeutig irisch-patriotischen Intentionen.²⁵⁵ Das Beispiel soll weniger demonstrieren, dass die zugeschriebene Herkunft einer Melodie fingiert sein konnte, als vielmehr den kulturellen Kontext hervorheben, in dem das Publikum mit dieser Musik vertraut gemacht wurde, was auch die ausgeprägte Romantisierung der national airs teilweise erklärt. Das Musiktheater trug zumindest entscheidend zu ihrer Popularität bei, wobei auch den zahlreichen Bühnen ohne königlichem Patent (ihnen war die Aufführung von Sprechdramen seit dem Licensing Act von untersagt) eine nicht unwesentliche Rolle zukam.²⁵⁶ National airs konnten für patriotische Bewegungen eine wichtige Rolle bei der Identitätsstiftung einnehmen und wurden auch zur Abgrenzung gegenüber der englischen Krone funktionalisiert.²⁵⁷ Nicht zu leugnen aber ist, dass es einem englischen wie europäischen Publikum zugleich möglich war, diese Musik weitgehend unpolitisch zu rezipieren, schlicht als tönende Botschaften weit entfernter, einfacherer und glücklicherer Zustände (was natürlich erleichtert wurde, wenn Texte fehlten). Gleichwohl ging dieser Binnenexotismus nicht ohne einen historischen Wandel der Repräsentation der Iren und Schotten in England vonstatten, der die traditionsreiche Karikierung als unzivilisierte und bedrohliche Barbaren in der zweiten Hälfte des . Jahrhunderts zugunsten idealisierter Bilder in den Hintergrund treten ließ.²⁵⁸ Die politischen Verhältnisse korrelierten in gewisser Hinsicht mit dieser Vereinnahmung : Siehe hierzu insgesamt David Cooper, The Musical Traditions of Northern Ireland and its Diaspora. Community and Conflict, Farnham u. a. (Ashgate Popular and Folk Music Series), S. –. Siehe David Worrall, The Politics of Romantic Theatricality, –. The Road to the Stage, Basingstoke u. a. (Palgrave Studies in the Enlightenment, Romanticism and Cultures of Print), S. –. Zur Situation in Irland um , vgl. Barra Boydell, »The United Irishmen, Music, Harps, and National Identity«, in : Eighteenth-Century Ireland (), S. –. In diesem Zusammenhang stellen Thomas Moores Gesinnung sowie die Frage nach dem subversiven oder opportunistischen Gehalt seiner Dichtungen noch immer wissenschaftliche Streitpunkte dar. Zur Problematik, Moore als Nationalpoeten zu vereinnahmen, vgl. Leith Davis, »Irish Bards and English Consumers : Thomas Moore’s ›Irish Melodies‹ and the Colonized Nation«, in : ARIEL : A Review of International English Literature, /Nr. (), S. –. Siehe Murray G. H. Pittock, Celtic identity and the British image, Manchester u. a. , S. –.
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wurde mit den Acts of Union das irische Parlament aufgelöst, das seine Repräsentanten nunmehr nach London zu entsenden hatte. Faktisch bedeutete das die vollständige staatliche Einverleibung Irlands in das Vereinigte Königreich, nachdem das Land zuvor bereits in Personalunion von englischen Königen regiert worden war. Dasselbe Schicksal war ein knappes Jahrhundert vorher bereits Schottland widerfahren. Der Einfügung in eine übergeordnete britische Nation folgten aber erst mit George IV. wirksame Gesten der Versöhnung. Unmittelbar nach seiner Krönung trat er im August eine Reise nach Dublin an, ein Staatsbesuch ohne vergleichbaren Präzedenzfall. Dabei wurde ein politisches Ritual inszeniert, dessen symbolisches Potential nicht zu unterschätzen ist : Gerahmt von Massenspektakeln wie dem Einzug des Königs in die Stadt und anderen pompösen Feierlichkeiten, die eine regelrechte Euphorie auslösten, wurden die Ereignisse auch als Zugeständnis an die irische Nation und ihre katholische Mehrheitsbevölkerung wahrgenommen, die dabei umgekehrt vermehrt die Loyalität zu ihrem englischen König beschwor.²⁵⁹ Auf diese Erfahrungen aufbauend, wurde für das folgende Jahr ein Besuch des Königs in Schottland organisiert, den federführend niemand anderer als der ortskundige Dichter und Liedgutsammler Walter Scott ausgestalten sollte.²⁶⁰ Dass die Vorführungen der Infant Lyra politisch gesehen eher in Verbindung mit diesem panbritischen Nationalismus als mit dem irischen Separatismus gesehen werden müssen, darauf geben nicht zuletzt die Zugeständnisse an die englische Krone in Werbung und musikalischer Programmgestaltung ihrer Vorführungen unmissverständliche Hinweise. Zwar klang in manchen Kommentaren der Dubliner Presse noch ein durchaus patriotischer Stolz auf »this prodigy of Irish genius«²⁶¹ an, doch immerhin wurde auch hier bereits auf die angeblich bevorstehende Reise zum englischen König verwiesen. Für England ist das Beispiel der Auftritte in Taunton von bezeichnend, die allesamt mit einem »Finale Medley for two Harps, concluding with God Save the King« beschlossen werden sollten.²⁶² Ein Anschlagzettel für eine Vorführung in Stratford am . September kündigte »Irish Melodies, with several scientific pieces, From the most Eminent Masters. To Conclude with ›God save the King‹«²⁶³ an. Siehe James Loughlin, The British Monarchy and Ireland. to the Present, Cambridge , S. –. Siehe ebd., S. –. [Anon.], »›Little Lyra.‹«, in : The Freeman’s Journal, and Daily Commercial Advertiser vom . Februar (o. Nr.), o. S. Siehe The Taunton Courier, And Western Advertiser vom . Mai (Nr. ), o. S. [Anon.], The Infant’s Lyra At Stratford for One Day Only.
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Nachweislich endeten bereits die beiden Anfang August dieses Jahres in Manchester veranstalteten Konzerte, die neben national airs auch Ouvertüren und Opernarien, englische Balladen und Glees sowie virtuose Klaviermusik boten, mit »Rule Britannia« beziehungsweise »God Save the King«.²⁶⁴ Die dramaturgische Entscheidung ist wahrscheinlich auch auf andere Auftritte der Infant Lyra verallgemeinerbar. Auf der anderen Seite findet sich in dem Gedichtband aus Taunton aber ein einzelner Beitrag, der mit seiner Klage über das geschundene irische Volk der Moore’schen Nationalromantik in all ihrer politischen Ambivalenz durchaus ähnlich war : »Dear, injured Erin ! thou hast sent before, / Bright statesmen, warriors, poets, to our land ; / Each foremost in the ranks of fame to stand / Rich in those deeds that live for evermore. / Now, newly wafted frome thine emerald shore, / (Like minstrel stolen from th’ angelic band), / Thy infant sweet Cecilia’s magic hand, / With wandering pleasure bids the heart flow o’er : / O ! While I watch’d her arch, expressive smile, / And mark’d ›the soul of feeling‹ in her eye. / I thought, poor Erin ! of thy woes the while, / Thou land of beauty, genius, harmony ; And breathed a prayer that concord might be given, / Sweet as thy Lyra’s notes, to thee from Heaven.«²⁶⁵
Ein wesentlicher Grund für die Beliebtheit von national airs war wohl ihr geschichtsphilosophischer und musikästhetischer Überbau, der die Probleme bei der exakten Bestimmung ihrer Entstehung und Verbreitung in der öffentlichen Wahrnehmung eher beiseitezuschieben schien, anstatt zu ihrer Klärung beizutragen. Besonders augenfällig ist der Zusammenhang zum europaweiten Kult um das Keltische, wie er um die Mitte des . Jahrhunderts mit dem Ossian seinen Ausgang genommen hatte. Jenes Versepos stellt einen Schlüssel für den Bedeutungshorizont der Idee von Volksmelodien dar, die in der Form erst jetzt ins Leben gerufen wurde. Die ab zunächst in verschiedenen Stadien in Edinburgh und London publizierte Schrift enthielt die Gesangsdichtungen des gleichnamigen legendären Barden des . Jahrhunderts nach Christus, die der schottische Poet James Macpherson angeblich aus mündlicher Überlieferung und Fragmenten in den Highlands zusammengetragen und aus dem Gälischen übersetzt hatte. Als letzter Überlebender des keltischen Volks besingt Ossian in dem elegischen Werk vergangene heroische Taten inmitten einer Szenerie wil Siehe The Manchester Guardian vom . Juli (Nr. ), o. S. sowie vom . August (Nr. ), o. S. [Anon.], »Sonnet«, in : o. Hg., Poetry, by Various Hands, S. .
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der, urtümlicher Landschaften. Mit seiner Verklärung eines untergegangenen Goldenen Zeitalters und der Verherrlichung natürlicher Einfachheit bewegte es sich ganz im Strom spätaufklärerischer Zivilisationskritik, und dass schon manche Zeitgenossen in dem Epos eine Fälschung des Herausgebers Macpherson erkannten, tat seinem internationalen Erfolg – noch vor der Jahrhundertwende ist es in mehreren Übersetzungen auch auf dem europäischen Kontinent erschienen – kaum einen Abbruch.²⁶⁶ Über den Anstoß zu einem keltischen Revival hinaus, das auch das Interesse an den national airs anregte, präsentierte der Ossian ein Modell vermeintlich authentischer Überlieferung, das sich problemlos auch auf die Musik übertragen ließ. Naheliegenderweise hat sich die Vorstellung der Wiederentdeckung einer in ländlicher Abgeschiedenheit bewahrten volkseigenen Musiktradition im späteren . Jahrhundert zunächst ebenso in Bezug auf Schottland herausgebildet, wurde jedoch rasch auf andere Länder und Regionen übertragen.²⁶⁷ Sie hing zugleich eng mit einem generell um sich greifenden Ursprungsdenken in der Musikästhetik zusammen, das die herkömmliche Unterscheidung musikalischer Gattungen und Stile nach ihren gesellschaftlichen Funktionen allmählich verschwinden ließ.²⁶⁸ Was man beim Volk suchte und immer wieder zu finden glaubte, war nicht bloß eine primitive andere Kultur, sondern versprach durch seine vermeintliche Nähe zum Naturzustand einen Zugang zum Ursprung der eigenen Identität, indem man den eigenen historischen Fortschritt in Gedanken rückwärts ging, anders gesagt : sich an ein Früher erinnerte. In der Peripherie meinte man, ein Reservat vorfinden zu können, an dem die Zeit gewissermaßen stehen geblieben war, eine Überzeugung, der schon Macpherson in einem kritischen Nachwort zur ossianischen Dichtung Temora in Bezug auf die schottischen Highlander Ausdruck verliehen hat : »It is no wonder, therefore, that there are more remains of Zur Rezeptionsgeschichte siehe grundlegend Howard Gaskill (Hg.), The Reception of Ossian in Europe, London u. a. (= The Athlone Critical Traditions Series : The Reception of British Authors in Europe ). Siehe Matthew Gelbart, The Invention of ›Folk Music‹ and ›Art Music‹, S. –, –. Seit Johann Gottfried Herders fiktivem »Auszug aus einem Briefwechsel über Ossian und die Lieder alter Völker« aus dem Sammelband Von Deutscher Art und Kunst. Einige fliegende Blätter () ist die Idee im Deutschen vor allem mit dem Terminus des Volksliedes belegt. Herders Schriften aber sind in Großbritannien bis zur Wende des . Jahrhunderts nur wenig bekannt gewesen. Siehe ebd., S. –. Zur Ossian-Rezeption im Kontext der national airs, vgl. auch Roger Fiske, Scotland in Music, S. – ; Paul F. Moulton, Imagining Scotland in Music : S. – ; Karen McAulay, Our Ancient National Airs, S. –, – ; Claire Nelson, »Tea-table miscellanies«, S. –. Siehe Matthew Gelbart, The Invention of ›Folk Music‹ and ›Art Music‹, S. –.
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antiquity among them, than among any other people of Europe.«²⁶⁹ Eine treffende Formulierung für die Verschränkung der zeitlichen mit der räumlichen Perspektive findet sich später in den verfassten »Introductory Remarks on Popular Poetry, and on the Various Collections of Ballads of Britain, Particularly those of Scotland« von Walter Scott : »Like the natural gifts of Flora, these poetical garlands can only be successfully sought for where the land is uncultivated ; and civilisation and increase of learning are sure to banish them, as the plough of the agriculturist bears down the mountain daisy.«²⁷⁰
Das Zitat stellt zugleich ein gutes Beispiel für die in Bezug auf national airs allgegenwärtigen Naturmetaphern dar, die wechselweise auf das Wilde, Unkultivierte, Pastorale oder natürlich Tugendhafte verwiesen.²⁷¹ Das Augenmerk von Sammlern richtete sich nicht ohne Grund besonders auf die gälischen Regionen in Schottland, Irland und Wales, die als zivilisatorisch rückständige Regionen des Vereinigten Königreichs betrachtet wurden. Die Konzeption und Rezeption der national airs war in doppelter Hinsicht nostalgisch gefärbt, menschheits- wie individualgeschichtlich, ein Zusammenhang, den die Literaturwissenschaftlerin Ann Wierda Rowland in ihrer kulturhistorischen Studie Romanticism and Childhood. The Infantilization of British Literary Culture () herausarbeitet. Allgemein vorausgesetzt wurden dabei ein spezifisches Verständnis geschichtlicher Entwicklung auf der einen und eine bestimmte Kindheitsvorstellung auf der anderen Seite, und diese beiden Aspekte schließlich zusammengeführt. Fest etabliert hat sich die in der Aufklärung entwickelte Theorie der Zivilisationsstufen, die eine Nation im Laufe der Geschichte zwangsläufig nacheinander durchlief : vom barbarischen Stadium der Jäger und Sammler über ein pastorales der Hirten und ein bäuerliches des Ackerbaus bis hin zur fortgeschrittenen Gegenwart mit ihrer Schriftkultur, komplexem Tauschhandel, technischen Errungenschaften und urbanem Lebenswandel. Dabei wurde das historische Ursprungsstadium immer wieder in Analogie zum mentalen Zustand der Kindheit gesetzt, womit auch auf die äl-
Ossian, Temora, an Ancient Poem, in Eight Books : Together with several other Poems, Translated from the Galic Language, By James Macpherson, London : T. Becket u. a. , S. ii. Walter Scott, Poetical Works, Bd. , Edinburgh : Robert Cadell u. a. , S. . Siehe Karen McAulay, Our Ancient National Airs, S. –.
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tere Rhetorik universaler Lebenszyklen zurückgegriffen wurde.²⁷² Die national airs stellten eine Berührung mit diesem Zustand in Aussicht. Mit ihnen war, so ein Begriff Rowlands, die besondere Form einer »antiquarian nostalgia«²⁷³ verbunden, bei der individuelles und historisches Gedächtnis ineinander überblendet wurden. Das Motiv der Kindheit beziehungsweise der Kindheitserinnerung war in dem die Herausgaben begleitenden Diskurs allgegenwärtig. Entsprechende Hinweise finden sich seit dem späten . Jahrhundert in Quellenangaben oder Kommentartexten von Volksliedsammlungen ebenso zuhauf wie das Klischee der singenden Amme, Informationen, die dem Publikum auch eine Kette authentischer mündlicher Überlieferung signalisierten und damit Echtheit und hohes Alter der gesammelten Stücke auswiesen.²⁷⁴ Wissenschaftlich gestützt wurde dieses Modell durch die sensualistische Erkenntnistheorie und die aus ihr hervorgegangene Pädagogik, die von einer kindlichen Aufnahmefähigkeit im Sinne eines reinen Speicherns der Eindrücke ausgingen, die auch Jahre später noch ungetrübt abrufbar seien : »The child becomes a missive, a communication sent into the future, with the stories and songs of the past impressed and inscribed on its brain.«²⁷⁵ Wie alt die national airs tatsächlich waren, war schon damals ein Streitpunkt und wurde immer wieder in, den Sammlungen häufig vorangestellten, kritischen Einleitungen oder in zum Teil ausufernden Fußnotenapparaten verhandelt. Den Status quo der wissenschaftlichen Debatte Anfang der er Jahre hat George Thomson in seiner »Dissertation concerning the national melodies of Scotland« zusammengefasst und sich mit der Abhandlung zugleich selbst energisch in sie eingeschaltet. Der Text kreist um Fragen wie, ob die alten Melodien im Prozess der mündlichen Überlieferung ihre ursprüngliche Gestalt oder Substanz verlören, ob bestimmte keltische Exemplare aus Schottland oder Irland stammten, ob die stolze Kaste der Barden oder doch eher das einfache Volk der Hirten oder Bauern für ihre Entstehung verantwortlich gemacht werden müsse, welche Instrumente früher zur Begleitung genutzt worden wären, und ob es möglich sei, anhand der Skala eine grobe Datierung vorzunehmen (Thomson war wie andere Autoren der Meinung, Pentatonik spreche für die
Siehe zu diesen Zusammenhängen Ann Wierda Rowland, Romanticism and Childhood. The Infantilization of British Literary Culture, Cambridge u. a. (Cambridge Studies in Romanticism), S. –, insbes. –. Ebd., S. . Vgl. zudem ebd., S. –. Siehe ebd., S. –, –. Ebd., S. . Siehe hierzu ebd., S. –, –, –.
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Nähe einer Nation zum Naturzustand).²⁷⁶ Ob sich Liebhaberinnen und Liebhaber der Musik allerdings für solche Spitzfindigkeiten ernsthaft interessierten, ist fraglich. Gegen den archaischen Nimbus der national airs richtete die Diskussion der Gelehrten und antiquarisch gebildeten Sammler, bei allen noch so begründeten Zweifeln, die gelegentlich an Entstehungszeit beziehungsweise Echtheit der Musik aufkamen, vermutlich nicht viel aus. Vielleicht war das exakte numerische Alter einer Melodie für viele ohnehin von nachrangiger Bedeutung, wenn sie ihrer Art nach ursprünglich und unverbildet zu sein schien und damit versprach, dem eigenen Ursprung, der inneren Natur ein Stück weit näherzukommen.²⁷⁷ Eine grundlegende Bedingung für die ästhetische Rechtfertigung der Kindheitserinnerung als Rezeptionsmodus der national airs war die Entpathologisierung der Nostalgie. Von dem Arzt Johannes Hofer mit der Abhandlung Dissertatio medica de Nostalgia, oder Heimwehe als Fachterminus eingeführt, wurde das Phänomen fortan in Krankheitskatalogen als Sonder- beziehungsweise Scheinform der Melancholie geführt, von der – den häufigsten Schilderungen nach – augenscheinlich besonders Soldaten, Seeleute oder Entdeckungsreisende befallen wurden. Zeitgleich zum fortgeführten medizinischen Diskurs wurde der nostalgische Gefühlszustand im Laufe des . Jahrhunderts aber auch umgedeutet, mit Patriotismus, romantischer Sehnsucht, Kindheitserinnerung in Verbindung gebracht und im Kontext der Empfindsamkeit als Zeichen sensiblen Charakters und der Tugend gepriesen.²⁷⁸ Der allgemeine Wandel hin zur positiven Konnotation einer Wehmut nach dem idealen Heim, das eine geographische Heimat, der Hort der Kindheit, die gute Stube oder alles zugleich sein konnte, zeigt sich vielleicht nirgends so deutlich wie in dem populären Lied »Home, sweet Home« von Henry Rowley Bishop, eine Art Schlager des . Jahrhunderts, der übrigens irgendwann nach seiner Publikation im Jahr auch in das Repertoire der Infant Lyra einging.²⁷⁹ Doch Siehe George Thomson (Hg.), A Select Collection of Original Scottish Airs for the Voice, Bd. , S. –. Zur Theorie einer universalen pentatonischen Ur-Skala, für deren Entstehung Charles Burney maßgeblich verantwortlich war, vgl. Matthew Gelbart, The Invention of ›Folk Music‹ and ›Art Music‹, S. –. Insbesondere Thomas Moore war bezüglich des antiken Alters der meisten Melodien skeptisch, stellte deswegen aber nicht die natürliche Einfachheit der irischen Musik in Frage. Siehe Thomas Moore, Irish Melodies, S. –. Siehe Tamara S. Wagner, Longing. Narratives of Nostalgia in the British Novel, –, Cranbury , insbes. S. –, –. Vgl. auch Linda M. Austin, Nostalgia in Transition, –, Charlottesville u. a. (Victorian Literature and Culture Series), S. –. Siehe The Taunton Courier, And Western Advertiser vom . Mai (Nr. ), o. S.
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bereits über den seit Hofer bekannten Topos des Schweizer Kuhreihens (Ranz des Vaches) wurde die Nostalgie mit der Musik zusammengeführt. Niemand Geringeres als Jean-Jacques Rousseau griff das Beispiel dieses Liedes auf, dessen Gesang den Schweizer Soldaten einst bei Androhung von Todesstrafe untersagt gewesen wäre, weil es sie angeblich so niedergeschlagen hinterließ, dass sie entweder kampfunfähig oder fahnenflüchtig geworden wären. In seinem Musiklexikon von widmete er ihm einen eigenen Eintrag und rekapitulierte es an prominenter Stelle, im Artikel »Musique« nämlich, erneut : »Diese Wirkungen, die ein Fremder nicht verspürt, rühren lediglich von den Gewohnheiten her, den Erinnerungen, tausend Umständen, die, für die Hörenden durch diese Melodie heraufbeschworen und ihre Heimat, ihre verlorenen Freuden, ihre Jugend und all ihre Lebensumstände in Erinnerung bringend, ihnen bitteren Kummer darüber verursachen, daß sie all dies verloren haben. Die Musik wirkt hier also nicht im genauen Sinne als Musik, sondern als Erinnerungszeichen.«²⁸⁰
Auf das Beispiel aus Rousseaus Lexikon bezog sich dann der schottische Dichter, Philosoph und musikalische Dilettant James Beattie in seinem Aufsatz »On Poetry and Music« ().²⁸¹ Beattie war im frühen . Jahrhundert ein hochgeschätzter Schriftsteller. So erschien eine erste mehrfach neu aufgelegte Biographie,²⁸² und dass sein ästhetischer Essay noch immer gelesen wurde, ist an Besprechungen und Auszügen der Schrift in englischen und schottischen Zeitschriften ersichtlich.²⁸³ Berühmt war er vor allem für seine Dichtung »The Minstrel« (), mit der er nach eigener Aussage seines Vorworts den Werdegang eines poetischen Genies nachzeichnen wollte, »born in a rude and illiterate age, from the first dawnings of fancy and reason, till that period at which he may be supposed capable of supporting the character of A Minstrel […].«²⁸⁴ Als Vorbild diente ihm dafür zweifellos die Figur des Ossian. Beattie Zitiert nach Peter Gülke, Rousseau und die Musik oder von der Zuständigkeit des Dilettanten, Wilhelmshaven (= Taschenbücher zur Musikwissenschaft ), S. . (Übers. ders.). Siehe James Beattie, Essays. On Poetry and Music, as they affect the Mind. On Laughter, and Ludicrous Composition. On the Utility of Classical Learning, Edinburgh u. a. , S. –. Siehe William Forbes, An Account of the Life and Writings of James Beattie, Edinburg . Siehe Stanley C. Pelkey, British National Identities and Keyboard Music in the Later Georgian Period, S. –. James Beattie, The Minstrel ; Or, The Progress of Genius. A Poem, Bd. , London , S. v. Zur Wirkungsgeschichte des Gedichts siehe Scott Hess, Art. »Beattie, James –. Scottish poet, moral philosopher, aesthetician, and man of letters«, in : Christopher J. Murray (Hg.), Encyclopedia of the Romantic Era, –, Bd. –, New York u. a. , S. –.
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war ein typischer Vertreter der Empfindsamkeit – nicht zuletzt deshalb, weil auch er sich von sentimentalen Gefühlsregungen wie Mitleid und ähnlichen eine moralische Läuterung des Menschen erwartete – und er gehörte zu jenen philosophischen Autoren dieses Umfeldes, die die Subsumtion der Musik unter die nachahmenden Künste entschieden ablehnte.²⁸⁵ Mit der Befreiung aus dem Imitationsparadigma ging bei Beattie auch eine gewisse Unzufriedenheit mit den bisherigen Erklärungen der Gefühlswirkung von Musik einher, wie man sie zumindest bei Instrumentalmusik allein aus inhärenten Qualitäten des Erklingenden ableitete. Sie wurden von ihm durch eine Theorie der subjektiven Assoziationen (»associations«) ergänzt, ein Gedankengang, den in ähnlicher Form auch schon Rousseau vollzogen hatte. An einer Stelle seines Essays, wo es ihm eigentlich um einen Beweis der Ambiguität des musikalischen Ausdrucks in Abwesenheit eines Textes ging, führte er am Rande den bis dahin eher unterbelichteten Aspekt der musikalischen Sozialisation ein. Nicht zufällig wählte Beattie hierfür ein Beispiel aus den national airs, nämlich die Melodie des schottischen Liedes »Tweedside«. Diese Melodie nämlich, so Beattie, würde ein gebürtiger Schotte aufgrund von Gewohnheiten mit romantischer Liebe und ländlicher Ruhe verbinden, während ein Fremder, der mit der Musik nicht vertraut sei, in ihr höchstens einen sehr vagen Gefühlsausdruck erkennen könne : »It is true, that to a favourite air, even when unaccompanied with words, we do commonly annex certain ideas, which may have come to be related to it in consequence of some accidental associations : and sometimes we imagine a resemblance (which however is merely imaginary) between certain melodies and certain thoughts or objects.«²⁸⁶
Solche im Laufe des Lebens erworbenen Assoziationen zu einer Melodie müssten aber nicht zwangsläufig dem zugehörigen Text entspringen, so argumentiert Beattie weiter, sondern könnten auch aus der Situation und Umgebung resultieren, in der man die Musik gehört hätte.²⁸⁷ Erst diese Assoziationen sättigten ihm zufolge die Instrumentalmusik mit einer Bestimmtheit des Ausdrucks und verhälfen ihr zu ihrer vollen Wirkung.²⁸⁸ Gleichzeitig bedeutete
Siehe James Beattie, Essays, S. –. Ebd., S. . Siehe ebd., S. –. Siehe ebd., S. .
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dies aber auch eine eigene Wertschätzung simpler Volksmelodien gegenüber kunstvoll gestalteter Musik, deren Maßstab für Beattie, wie für viele seiner Zeitgenossen, eindeutig in Italien und nicht etwa im schottischen Hinterland gesetzt wurde.²⁸⁹ Assoziationen und die aus ihr resultierende Freude an der Musik hatten für Beattie allerdings weniger mit konkreten Erinnerungen an bestimmte Inhalte oder Ereignisse, sondern vielmehr mit dem persönlichen Befinden zu tun, in das eine Melodie in der Vergangenheit eingebettet war : »If a song, or piece of music, should call up only a faint remembrance, that we were happy the last time we heard it, nothing more would be needful to make us listen to it again with peculiar satisfaction.«²⁹⁰
Der Kindheit (»a period of life, which we seldom look back upon without pleasure«²⁹¹) kam dadurch eine Schlüsselrolle für die musikalische Rezeption im Kontext der national airs zu. Für Beattie war Kindheit nicht bloß die erste Lebensphase des Menschen, sondern wurde als eine Art verlorenes Paradies dem Exilzustand des Erwachsenen diametral gegenübergestellt. Diese Gegenüberstellung wird an einer Stelle des Essays besonders deutlich, an der sich zugleich der argumentative Sprachstil zu einer empfindsamen Rhetorik verwandelte : »It is an amiable prejudice that people generally entertain in favour of their national music. This lowest degree of patriotism is not without its merit : and that man must have a hard heart, or dull imagination, in whom, though endowed with musical sensibility, no sweet emotions would arise, on hearing, in his riper years, or in a foreign land, those strains that were the delight of his childhood. What though they be inferior to the Italian ? What though they be even irregular and rude ? It is not their merit, which in the case supposed would interest a native, but the charming ideas they would recal to his mind : – ideas of innocence, simplicity, and leisure, of romantic enterprise, and enthusiastic attachment ; and of scenes, which, on recollection, we are inclined to think, that a brighter sun illuminated, a fresher verdure crowned, and purer skies and happier climes conspired to beautify, than are now to be seen in the dreary paths of care and disappointment, into which men, yielding to the passions peculiar to more advanced years, are tempted to wander.«²⁹²
Siehe ebd., S. –. Ebd., S. . Ebd., S. . Ebd., S. –.
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Der Vorgang musikalischer Assoziation (»the charming ideas they would recal«) wird hier als eine innere Erfahrung, als heraufbeschworene Stimmung beschrieben, in der die Kindheit mit dem Ort der Heimat sowie dem pastoralen Milieu vergangener Zeiten verschmilzt : eine ideale, aber flüchtige Gegenwelt zum trüben, kummervollen und enttäuschenden Alltag des Erwachsenen (»the dreary paths of care and disappointment«) im Hier und Jetzt.²⁹³ Nostalgie – hervorgerufen durch Musik – erschien als Möglichkeit, mit verlorener Unschuld emotional in Berührung zu treten, die Kindheit als eine Art Goldenes Zeitalter der Individualgeschichte. In ihrem Buch Strange Dislocations. Childhood and the Idea of Human Interiority, – () argumentiert die Historikerin Carolyn Steedman, anhand diverser Refigurationen der Mignon aus Johann Wolfgang von Goethes Roman Wilhelm Meister, dass bereits im . Jahrhundert – und damit lange vor Sigmund Freud – die Kindheit als innerster Kern des Selbst und Schlüssel zur Identität entworfen wurde, analog zu einem modernen Geschichtsverständnis.²⁹⁴ In Anbetracht des Ossianismus, der nostalgischen Rezeption der national airs und des Beispiels Beatties, müsste man die Historisierung des Ichs sogar noch früher ansetzen, nämlich in Spätaufklärung und Empfindsamkeit. Die Nostalgie blieb den national airs erhalten. Thomas Moore, um ein naheliegendes Beispiel herauszugreifen, der insbesondere in dem an Marchioness Dowager of Donegal gerichteten »Letter on Irish Music« (erstmals als Vorwort des dritten Bandes der Irish Melodies erschienen) musikästhetische Überlegungen formulierte, nahm darin die Position des Exilanten ein und legte sie auch für die Rezeption nahe : »Indeed absence, however fatal to some affections of the heart, rather strengthens our love for the land where we were born ; and Ireland is the country, of all others, which an exile must remember with enthusiasm.«²⁹⁵
Dabei sah er die irische Musik zugleich als ein Medium historischen Gedächtnisses an, in dem sich Geschichte und Charakter der Nation niedergeschlagen hätten, die mit dem Hören wieder wachgerufen werden könnten :
Die Lowlands, auf die sich Beattie vorwiegend bezog, waren ihm das »Arcadia of Scotland«. Ebd., S. . Siehe Carolyn Steedman, Strange Dislocations, S. –, , –. Thomas Moore, Irish Melodies, S. –.
| The Infant Lyra : Ikone der Unschuld »It has often been remarked, and oftener felt, that our music is the truest of all comments upon our history. The tone of defiance, succeeded by the languor of despondency – a burst of turbulence dying away into softness – the sorrows of one moment lost in the levity of the next – and all that romantic mixture of mirth and sadness, which is naturally produced by the efforts of a lively temperament, to shake off, or forget, the wrongs which lie upon it : – such are the features of our history and character, which we find strongly and faithfully reflected in our music ; and there are many airs, which, I think, it is difficult to listen to, without recalling some period or event to which their expression seems peculiarly applicable.«²⁹⁶
Den zehnten und letzten Band seiner Irish Melodies von widmete Moore der Marchioness of Headfort bezeichnenderweise »in remembrance of old times«²⁹⁷. Und in der Dichtung »On Music« aus dem dritten Band seiner Sammlung wiederum wird der Topos der Kindheitserinnerung durch Volksliedmelodien aufgegriffen. Er pries darin nicht nur die im Gefühl begründete Wahrhaftigkeit, die die Musik im Gegensatz zur Sprache besäße, sondern auch deren einzigartige Funktion als ein Speicher vergangenen Glücks : »When thro’ life unblest we rove, / Losing all that made life dear, / Should some notes, we us’d to love / In days of boyhood, meet our ear, / Oh how welcome breathes the strain ! Wakening thoughts that longe have slept ; / Kindling former smiles again, / In faded eyes that long have wept !«²⁹⁸
Der Prozess der Überlieferung erhält in der folgenden Strophe das passende Sinnbild : ein Sturm, der über exotische Blumenfelder (»Beds of oriental flowers«) fegt und deren Balsam (»balm«) – Moore spielte hier mit der botanischen und übertragenen Doppelbedeutung des Wortes – mit sich weiter fortträgt, auch wenn die Blumen längst verwelkt sind.²⁹⁹ Ein ähnliches Beispiel aus der Volkslieddichtung stellt »Scottish Music. An Ode« von John Leyden dar, ein Gedicht, das erstmals mit dem zweiten Band der von Walter Scott herausgegebenen Minstrelsy of the Scottish Border veröffentlicht wurde : Ebd., S. –. Vgl. hierzu auch Katie Brown, »›The Tone of Defiance‹. Music, Memory, and Irish Nationalism«, in : Oona Frawley (Hg.), Memory Ireland. Volume : Diaspora and Memory Practices, Syracuse (Irish Studies), S. –. Thomas Moore, The Letters of Thomas Moore. Volume II : -, hg. von Wilfred S. Dowden, Oxford , S. . Thomas Moore, Irish Melodies, S. . Siehe ebd.
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»Sweet sounds ! that oft have soothed to rest / The sorrows of my guileless breast, / And charm’d away mine infant tears : / Fond memory shall your strains repeat, / Like distant echoes, / doubly sweet, / That in the wild the traveller hears.«³⁰⁰
Innerhalb der Sammlung, die von Scott in der schottischen Grenzregion zu England gesammelte Texte ebenso enthielt wie Neudichtungen zeitgenössischer Poeten, führte die »Ode« die Abteilung der »Romantic Ballads« an und sollte wohl auch als eine Art übergreifendes Motto verstanden werden. Eine Besonderheit der hier beschriebenen musikalischen Erinnerung war es, dass sie bis an einen Punkt vor der Geburt zurückreichte : »Ah ! sure, as Hindú legends tell, / When music’s tones the bosom swell, / The scenes of former life return«³⁰¹. Dabei wurden diese Zeilen mit folgender redaktioneller Erläuterung versehen : »The effect of music is explained by the Hindús, as recalling to our memory the airs of paradise, heard in a state of pre-existence. – Vide Sacontala.«³⁰² Die Notiz bezog sich auf das antike indische Drama Shakuntala, das von William Jones erstmals aus dem Sanskrit ins Englische übersetzt worden war. Interessanterweise nahm Leyden, der damals ebenso als Koryphäe auf dem Gebiet der Orientalistik galt, damit ein poetisches Motiv vorweg, dessen Einführung vornehmlich der englischen Romantik um William Wordsworth zugeschrieben wird, nämlich Kindheit als überirdischer Zustand und höheres Bewusstsein.³⁰³ Der hinduistische Mythos einer pränatalen Erinnerung durch Musik schien in Großbritannien damals aber unabhängig von der romantischen Literaturbewegung im engeren Sinne zu zirkulieren. Er tauchte schließlich auch in einem der Zeitschriftenartikel zur Infant Lyra auf : »Sweet and interesting child ! Would not one, while listening to your strains, almost be tempted to adopt the superstition of the Hindoos, and believe that just fresh from Paradise you had culled some of its choicest lays, and brought them, still redolent of heaven, to delight mankind ?«³⁰⁴ [Walter Scott] (Hg.), Minstrelsy of the Scottish Border : Consisting of Historical and Romantic Ballads, Collected in the Southern Counties of Scotland ; with a Few of Modern Date, Founded upon Local Tradition, Fifth Edition, Bd. , Edinburgh u. a. , S. . Ebd., S. . Ebd., S. . Siehe Terence A. Hoagwood, From Song to Print. Romantic Pseudo-Songs, New York (Nineteenth-Century Major Lives and Letters), S. –. Zur Vorstellung einer Transzendenzerfahrung von Kindheitserinnerung durch Volkslieder, vgl. auch Pia-Elisabeth Leuschner, Orphic Song with Daedal Harmony. Die ›Musik‹ in Texten der englischen und deutschen Romantik, Würzburg (= Stiftung für Romantikforschung ), S. –. Metropolitan Quarterly Magazine, zitiert nach C. »The Infant Lyra«, S. .
The Infant Lyra : Ikone der Unschuld
Der Zustand, der durch national airs wachgerufen werden sollte, war der einer kindlichen Unschuld, von Ursprünglichkeit und Heimat, einem Zustand vollkommenen Glücks oder sogar eine Berührung mit dem Jenseits. Dabei wurde Unwissenheit und empfindsame Naturnähe auch mit der Verfasstheit des poetischen Genies in Verbindung gebracht, ein Ideal, das direkt auf den Ossianismus zurückgeführt werden kann. In Bezug auf die Dichtung wurde es zuerst von einer Handvoll Personen in Umlauf gebracht, die, wie James Beattie, zu den zentralen Figuren der schottischen Aufklärung gehörten und damals als Förderer und Fürsprecher von James Macpherson auftraten. Den Rückenwind der Gelehrten konnte Macpherson, der zum Zeitpunkt der Herausgabe ein einfacher Lehrer und als Schriftsteller kaum bekannt war, gut gebrauchen. Bereits publizierte der Geistliche und Edinburgher Literaturprofessor Hugh Blair eine Critical Dissertation on the Poems of Ossian, the Son of Fingal, die aus seinen Universitätsvorlesungen hervorging und in der er das Epos gegen den laut gewordenen Fälschungsvorwurf in Schutz nahm. Blair stand mit Macpherson offensichtlich in engem Austausch und hatte ihn womöglich überhaupt erst zu der Sammlung motiviert.³⁰⁵ Sein Text wurde ab der dritten Ausgabe des Ossian von dem Versepos als begleitender Kommentar beigelegt und bildete noch im . Jahrhundert die Grundlage für den Eintrag »Bard« in der Encyclopaedia Britannica.³⁰⁶ Er enthielt einige der Vorstellungen, die später auch auf die national airs übertragen werden sollten. Blair verglich den keltischen Barden in seiner Abhandlung mit Homer und huldigte ihm als einem Dichter, der es wie kein zweiter verstanden hätte, Erhabenheit des Stils mit sentimentalem Gehalt zu verbinden. Für den schottischen Gelehrten erschien die legendäre Figur als Inbegriff des empfindsamen Poeten : »Ossian, himself, appears to have been endowed by nature with an exquisite sensibility of heart ; prone to that tender melancholy which is so often an attendant on great genius ; and susceptible equally of strong and of soft emotions.«³⁰⁷
Siehe Dafydd Moore, »The Reception of ›The Poems of Ossian‹ in England and Scotland«, in : Howard Gaskill (Hg.), The Reception of Ossian in Europe, S. . Siehe Art. »Bard«, in : o. Hg., Encyclopaedia Britannica : Or, A Dictionary of Arts, Sciences, and Miscellaneous Literature ; Enlarged and Improved, The Sixth Edition, Bd. , Edinburgh , S. –. [Hugh Blair], A Critical Dissertation on the Poems of Ossian, the Son of Fingal, London , S. .
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Die Sprache Ossians sei einfach und ohne Künstelei, spreche direkt aus dem Herzen : »The simplicity of Ossian’s manner adds great beauty to his descriptions, and indeed to his whole Poetry. We meet with no affected ornaments ; no forced refinement ; no marks either in style or thought of a studied endeavour to shine and sparkle. Ossian appears every where to be prompted by his feelings ; and to speak from the abundance of his heart.«³⁰⁸
Zugleich aber, so bemerkte Blair, sei dessen literarische Schöpfung gerade durch das historische Frühstadium, in dem dieser gelebt hätte, besonders begünstigt worden : »In the infancy of societies, men live scattered and dispersed, in the midst of solitary rural scenes, where the beauties of nature are their chief entertainment. They meet with many objects, to them new and strange ; their wonder and surprize are frequently excited ; and by the sudden changes of fortune occuring in their unsettled state of life, their passions are raised to the utmost. Their passions have nothing to restrain them : their imagination has nothing to check it.«³⁰⁹
Blair unterstrich, dass die barbarische Kultur »not inconsistent with generous sentiments and tender affections«³¹⁰ sei. Mehr noch : Gerade die einfache Lebensweise der Jäger und Hirten, der direkte Zugang der Menschen zur Natur, so spekulierte er, mache die unmittelbare Anschauung und ungetrübte Gefühlsreaktion erst möglich und hätte schließlich auch die stark figurative Sprache Ossians hervorgebracht. An einer anderen Textstelle wurde dieser Zustand von ihm noch einmal in eine direkte Parallele zur Kindheit gesetzt : »As the ideas of our youth are remembered with a peculiar pleasure on account of their liveliness and vivacity ; so the most ancient poems have often proved the greatest favourites of nations.«³¹¹
Ebd., S. . Der Autor deutete mit seinen Hinweisen auf bei der Lektüre angeblich vielfach vergossene Tränen eine adäquate empfindsame Rezeption an. Siehe ebd., S. –. Ebd, S. . Ebd., S. . Ebd., S. .
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Adam Ferguson, ein Kollege Blairs an der philosophischen Fakultät in Edinburgh, der mit seinem Essay on the History of Civil Society () im Grundsatz dem aufklärerischen Fortschrittsoptimismus anhing, machte für die Poesie eine Ausnahme. Die Überfigur des Ossian musste dabei nicht extra genannt werden : »The most admired of all poets lived beyond the reach of history, almost of tradition. The artless song of the savage, the heroic legend of the bard, have sometimes a magnificent beauty, which no change of language can improve, and no refinements of the critic reform. […] The simple passions, friendship, resentment, and love, are the movements of his own mind, and he has no occasion to copy. Simple and vehement in his conceptions and feelings, he knows no diversity of thought, or of style, to mislead or to exercise his judgement. He delivers the emotions of the heart, in words suggested by the heart : for he knows no other.«³¹²
Im selben Jahr erschien die Abhandlung An Essay on Original Genius von William Duff. Auch der presbyterianische Priester Duff schloss sich Blairs Grundannahme an und behauptete, an den Beispielen Ossians und Homers aufzeigen zu können, »[…] that the early and uncultivated periods of society are peculiarly favourable to the display of original Poetic Genius, and that this quality will seldom appear in a very high degree in cultivated life«³¹³.
Die These, dass sich wahrhaftiges poetisches Genie allein im zivilisatorischen Frühstadium eines Volks entfalten könne, war bei Duff noch deutlicher ausformuliert : »Genius naturally shoots forth in the simplicity and tranquillity of uncultivated life. The undisturbed peace, and the innocent rural pleasures of this primeval state, are, if we may so express it, congenial to its nature. A Poet of true Genius delights to contemplate and describe those primitive scenes, which recal to our remembrance the fabulous era of the golden age.«³¹⁴
Adam Ferguson, An Essay on the History of Civil Society, Edinburgh , S. –. [William Duff], An Essay on Original Genius ; and its Various Modes of Exertion in Philosophy and the Fine Arts, particularly in Poetry, London , S. viii–ix. Zu den Beispielen Ossian und Homer, siehe ebd., S. . Ebd., S. .
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Natürliche Unschuld, nicht Erfahrungsreichtum, wurde hier also zum Signum künstlerischer Kreativität erklärt. Sie war die Bedingung einer poetischen Weltsicht, bei der der Mensch weniger genuin schöpferisch, als vielmehr als Medium der Natur erschien, deren Eindrücke er wiedergäbe : »Such a person looks round him with wonder ; every object is new to him, and has the power to affect him with surprise and pleasure ; and as he is not familiarised by previous description to the scenes he contemplates, these strike upon his mind with their full force ; and the Imagination astonished and enraptured with the survey of the Vast, the Wild, and the Beautiful in nature, conveyed through the medium of sense, spontaneously expressed its vivid ideas in bold and glowing metaphors, in sublime, animated and picturesque description.«³¹⁵
In den ästhetischen Schriften des schottischen Ossianismus wurde, angefangen bei Blair, zwar am Rande auf die vermutete ursprüngliche Funktion der Musik – es handelte sich bei dem Epos letztendlich um Gesänge – zur Memoration der Verse verwiesen.³¹⁶ In der Auseinandersetzung um das Originalgenie am Beginn menschlicher Zivilisation bezog man sich aber ausschließlich auf die metaphorische Sprache der Poesie und das dafür notwendige Vermögen der Einbildungskraft.³¹⁷ Duff betonte sogar ausdrücklich, dass seine These nur für die Dichtung, nicht aber für Prosa, Malerei, Architektur oder Musik gelte, wo man erst durch wiederholte Anstrengungen und wissenschaftliche Reflektion – sprich durch einen kulturellen Lernprozess – zu künstlerischen Höhen gelangen würde, und ihm fielen für diese Bereiche auch keine mit Homer oder Ossian vergleichbaren Beispiele ein.³¹⁸ Dabei stand einer Übertragung auf die Musik eigentlich nichts im Wege – allein schon, wenn man sich die geistige Verwandtschaft mit Rousseau vor Augen führt. Fast zwangsläufig musste sich also die Vorstellung musikalischer Originalgenies aus früheren Zeiten, deren Melodien aufgrund ihrer Naturnähe einen besonderen Wert besaßen, früher oder später ebenso breit machen. Am Ausgang des . Jahrhunderts schien es jedenfalls bereits zu einer allgemeinen Devise geworden zu sein, »that the early age of society (which is the ancient, let
Ebd., S. . Siehe [Hugh Blair], A Critical Dissertation on the Poems of Ossian, S. ; Adam Ferguson, An Essay on the History of Civil Society, S. –. Vgl. auch Ann Wierda Rowland, Romanticism and Childhood, S. –. Siehe [William Duff], An Essay on Original Genius, S. –.
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it happen at any period) is most favourable to Genius«³¹⁹, wie es in einem Aufsatz aus der Feder des englischen Komponisten William Jackson ohne weitere Begründung oder Einschränkung hieß. Von seinem Landsmann, dem Geistlichen Richard Eastcott, wurden Ossian und das schottische Volksliedgut schon zuvor in einem Atemzug genannt : »[…] as long as a pure and genuine taste remains, the poems of Ossian, and the music of the old Scottish songs will continue to be admired. […] Surely no one will pretend to a taste for music, whose whole frame does not vibrate to a Scottish song, when delivered with that tender feeling, which the composer himself experienced in the moments of his enthusiasm, when he first caroled forth his ›wood-notes wild‹.«³²⁰
Der Sammelband Eastcotts enthielt außerdem den Aufsatz »Of the power of music over Infants«, eine simple Aneinanderreihung von Anekdoten über verschiedene musikalische ›Wunderkinder‹ in England.³²¹ Ohne dass eine explizite Verbindung zwischen den beiden Themen hergestellt wurde, ist die Zusammenstellung vielleicht doch nicht ganz zufällig gewesen und lässt sich einem generellen Interesse am Primitivismus unterordnen. Ausdrücklich findet sich der Zusammenhang von Unwissenheit und Musik – als die reine Gefühlsbeziehungsweise Naturkunst überhaupt – schließlich in der im vorigen Kapitel ausführlicher besprochenen »Memoir of the Infant Lyra« des European Magazine : »Indeed it exercises a much stronger and powerful influence over the uncultivated and savage mind than over polished society, though it is only in civilized nations that the art itself has been cultivated and brought to perfection. […] There is, consequently, nothing of art in music but the art of getting acquainted with nature, and our ignorance of music is only our ignorance of certain properties or laws of nature. That music, therefore, though termed an art, should exercise a more powerful influence over the simple children of nature, than over those who are governed altogether by the adventitious rules and usages of artificial society, is natural […]«³²². William Jackson, The Four Ages ; Together with Essays on Various Subjects, London , S. . (Auszug aus seinem Aufsatz zur Dichtung The Bard () von Thomas Gray.) Richard Eastcott, Sketches of the Origin, Progress and Effects of Music, With an Account of the Ancient Bards and Minstrels, Bath , S. . Das Zitat stammte aus John Miltons pastoraler Dichtung L’Allegro (). Siehe ebd., S. –. [Anon.], »Memoir of the Infant Lyra«, S. –.
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Trotz der Möglichkeit, die musikalischen Regeln zu erlernen und anzuwenden, so lautete die hier gezogene Schlussfolgerung, stehe der Mensch im Unschuldszustand der Musik naturgemäß näher und sei durch sie noch unmittelbar ansprechbar. Die These der »Memoir« deckte sich im Grundsatz also mit der des schottischen Ossianismus vor dem Hintergrund spätaufklärerischer Zivilisationskritik, selbst wenn direkte Quellenverweise an der Stelle nicht zu finden sind und es bei der Infant Lyra schließlich weniger um das Moment der poetischen Einbildungskraft, das für die Dichtung notwendig war und von Duff zudem als dezidiert männliches Vermögen verstanden wurde, als um das von Gefühlsempfindung und -ausdruck ging.³²³ Die Verbindung lässt sich außerdem über die Figur des Barden herstellen, die nach dem Vorbild Ossians zum Synonym wurde für das ursprüngliche und naturwüchsige Originalgenie und die auch in Bezug auf Musik, in geschichtlichen Abhandlungen, in Liedsammlungen, in zigfachen Neudichtungen und musikalischen Bearbeitungen der national airs, regelmäßig auftauchte.³²⁴ Obwohl sie sich keineswegs in einem barbarischen oder pastoralen Zeitalter wähnen durften, legten sich schließlich auch moderne Zeitgenossen gerne Titel wie »The Simple Bard, unbroke by rules of Art […]«³²⁵ an, so das Beispiel Robert Burns. Und an wiederkehrenden Bezeichnungen wie »fairy minstrel«, »inspired minstrel«, »minstrel girl« und ähnlichen mehr lässt sich klar erkennen, dass auch die Infant Lyra mit solchen Zuschreibungen belegt wurde. Immerhin verband man die Harfe um diese Zeit symbolisch nicht nur mit der griechischen Lyra, dem Attribut Apollons beziehungsweise seinem Geschenk an Orpheus, oder mit der biblischen Figur des König David, sondern auch mit dem keltischen Instrument (Clairseach).³²⁶ Zwar trat die Infant Lyra mit einer modernen Pedalharfe auf, nicht zuletzt aufgrund ihrer irischen Herkunft aber dürfte man diese archaische Komponente ebenfalls mit ihr assoziiert haben.³²⁷ Die Harfe und der Umstand, dass die Siehe [William Duff], An Essay on Original Genius, S. . Siehe Clare A. Simmons, Popular Medievalism in Romantic-Era Britain, New York (Nineteenth-Century Major Lives and Letters), S. – ; Karen McAulay, Our Ancient National Airs, S. –. Robert Burns, Poems, Chiefly in the Scottish Dialect, Kilmarnock , o. S. (Titelblatt). Zu diesem Instrument, das sich vor allem durch seine Metallbesaitung von der modernen Harfe unterschied und im Laufe des . Jahrhunderts weitgehend außer Gebrauch kam, siehe Simon Chadwick, »The early Irish Harp«, in : Early Music /Nr. (), S. –. Eine Pedalharfe ist auf der Skizze des Dichters Richard Cobbold eindeutig erkennbar. Siehe ders., Valentine Verses, S. . Kein Hinweis konnte hingegen gefunden werden, ob die Musikerin sogar auf die relativ neue Erfindung der Doppelpedalharfe zurückgriff. Bei einfachen Liedbearbeitungen wären deren erweiterte Modulationsmöglichkeiten zumindest nicht not-
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Musikerin namentlich mit dem Instrument gleichgesetzt war, legten aber noch ein weiteres Sinnbild nahe, wie ein Artikel des Literary Magnet demonstrierte : »[…] for our own parts, we never so forcibly felt the power of music, as when produced by the fairy touch of this little seraph. We cannot better describe the delicacy of her playing than by comparing its tones to those soft sounds which issue from the Æolian Harp, supposing it were possible to arrange them in an artificial movement. We would not infer from the comparison, that the Infant Lyra excels only in the softer strains ; far from it, her forté movements are both animated and powerful : the expression of her countenance fully convinces every impartial observer that she was born to feel the influence and distinguish the beauties of this heart-touching science.«³²⁸
Auf Windharfensymbolik spielte auch der Journalist des Metropolitan Quarterly Magazine an, als er die, nach dem regulären Ende einer Vorstellung der Infant Lyra, von der Musikerin spontan gespielten Variationen beschrieb und zu diesem Zweck eine Verszeile aus Thomas Moores »Farewell to my Harp« (in leicht abgewandelter Form) zitierte : »[…] she selected some well known piece, and after once playing it over, struck off into such wild and original variations, with so much ease and rapidity, as plainly proved that whatever instructions she had received, ›They were but as the wind passing carelessly over, And all the wild sweetness she waked was her own –‹«³²⁹
Als Metapher für den empfindsamen Poeten hatte sich die Äolsharfe in der englischen Literatur bereits um die Mitte des . Jahrhunderts etabliert und wurde spätestens mit der Romantik zum allgegenwärtigen Topos.³³⁰ Mit entsprechenwendig gewesen. Indes war die Harfe nicht nur seit spätestens dem . Jahrhundert das offizielle Emblem Irlands unter englischer Herrschaft, sondern stand um symbolisch, in patriotischen ebenso wie in romantisierenden Abbildungen, für das irische Heimatland ein, eine Ikonographie, die im Übrigen in allen Varianten ausschließlich weiblich personifiziert war. Siehe hierzu Barra Boydell, »The Female Harp : The Irish Harp in th- and Early-th-Century Romantic Nationalism«, in : RIdIM/RCMI Newsletter /Nr. (), S. –. [Anon.], »The Infant Lyra«, in : The Literary Magnet of the Belles Lettres, Science, and the Fine Arts /Nr. (Januar ), S. . Zitiert nach C. »The Infant Lyra«, S. . Zur Symbolik der Äolsharfe in europäischer Literatur und musikalischer Komposition am
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den Anleihen bei antiken und christlichen Mythen von göttlichem Odem oder Vorstellungen einer Weltseele geriet sie insbesondere zum Sinnbild für künstlerische Inspiration durch Natur : »a persistent Romantic analogue of the poetic mind, the figurative mediator between outer motion and inner emotion.«³³¹ Allerdings war die Windharfe nicht nur eine sprachliche Trope, sondern auch ein real existierender Gegenstand, genauer betrachtet eine besondere Form von Musikautomat. Athanasius Kircher etwa hatte in Abhandlungen um die Mitte des . Jahrhunderts deren Konstruktion beschrieben und sie Besuchern seiner barocken Wunderkammer in Rom vorgeführt.³³² Im . Jahrhundert wurden Windharfen dann auch zum Bestandteil der englischen Landschaftsarchitektur, sodass man sie seitdem in Parks, Gärten oder künstlichen Burgruinen vorfand.³³³ Was die Eigenschaften der Unwissenheit, Passivität und Empfänglichkeit für äußere Eindrücke der Natur betraf, waren Barde, Kind und Windharfe als Symbole weitgehend austauschbar.³³⁴ Der Vergleich der Infant Lyra mit der Äolsharfe brachte dabei bildhaft also eine spezifische Vorstellung des musikalischen Genies zum Ausdruck, die sich von jener des autonomen Werkschöpfers kontrastierend abhob.
. die vermessung des musik alischen genies Jener Schreiber des London Magazine, der der Infant Lyra falsche Grimassen unterstellt und sich damit vehement in die moralische Kontroverse um ihre Vorführungen in der Londoner Pall Mall eingemischt hat, gab sich sichtlich umfassendsten siehe Walter Windisch-Laube, Einer luftgebornen Muse geheimnisvolles Saitenspiel. Zum Sinn-Bild der Äolsharfe in Texten und Tönen seit dem . Jahrhundert, Bd., Mainz (= Musik im Kanon der Künste ). Zu einem Überblick, insbesondere zur Virulenz zwischen dem Ende des . und der Mitte des . Jahrhunderts im Zusammenhang mit der romantischen Bewegung, siehe ebd., Bd. : Dokumentation und zusammenfassende Deutung, S. –. Meyer H. Abrams, The Correspondent Breeze. Essays on English Romanticism, With a Foreword by Jack Stillinger, New York u. a. , S. . Siehe Walter Windisch-Laube, »A Magic Lantern of Sound ? The Aeolian Harp between Cheap Showmanship and Spiritual Mystery, here shown as a Catalyst within the History of Music«, in : Jarmila Mildorf, Hans U. Seeber und Martin Windisch (Hgg.), Magic, Science, Technology, and Literature, Berlin (= Kultur und Technik ), S. –. Siehe Walter Windisch-Laube, Einer luftgebornen Muse geheimnisvolles Saitenspiel, Bd. , S. –. Vgl. Ann Wierda Rowland, Romanticism and Childhood, S. –.
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große Mühe um eine sachliche Betrachtung, wenn es um die musikalische Begabung des Kindes ging : »We shall not say that it is a beautiful child, or an interesting child, or that it has descended from heaven on the wings of an angel, or of St. Cecilia ; because all this has been said already, and might as well have been omitted. It is time that some one should be sober, because there are people who have considerable hesitation in believing miracles, and who are very apt, when over crammed, to rebel and doubt every thing.«³³⁵
Allerdings bestritt auch dieser Kritiker, der sich hier von den allgegenwärtigen Romantisierungen deutlich distanzierte, nicht, dass es sich bei dem Mädchen doch um »a creature of great powers and great precocity«³³⁶ handle. Nach eigener Beobachtung kam er zu demselben Schluss wie die von ihm angefeindeten Enthusiasten, dass es nämlich insbesondere ihr musikalisches Ausdrucksvermögen sei, das für wahres Genie spreche : »We have watched her expression narrowly, for it is in this that we consider the test of her faculties to lie, and we know not that we have been able to detect an error in taste ; while we are very sure that much of her expression is such as many a finished performer or musician would be pleased to have felt and given. This is the inventive talent, if otherwise denoted ; and we presume that this little personage can scarcely fail to become a musical composer, unless she should be marred by mismanagement. To discover rapidly what the composer intended, and to execute it, requires the congeniality of feeling which would itself invent ; or it demands those habits of observation, abstraction, and comparison, which belongs only to powerful and rapid minds.«³³⁷
Dem Autor fielen an dieser Stelle weitere solche Beispiele wie Wolfgang Mozart oder William Crotch ein. Gemeinsam mit anderen hinlänglich bekannten Fällen würden sie allerdings nur zeigen, so meinte er, dass das Phänomen des musikalischen ›Wunderkindes‹ bis dato noch keine befriedigende wissenschaftliche Erklärung erhalten habe. Trotz einiger Vorbehalte erschien ihm dabei ein bestimmter Ansatz grundsätzlich vielversprechend, der in Großbritannien zu der Zeit von sich reden machte, nämlich die sogenannte Phrenologie : [Anon.], »The Infant Lyra«, in : The London Magazine /o. Nr. (Juli ), S. . Ebd. Ebd., S. .
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»That the musical faculty appears in very early youth, when all the rest are unformed or imperfect, has long been known. […] Why this should be the case, is one of those problems in the philosophy of mind which we are as yet unable to solve : yet, though we cannot pretend to suggest a final cause, we may conclude that there is a proximate one in the structure of the nervous system, in the ear, or rather in the brain, and especially in that part of it which is the termination of the auditory nerves, or the immediate point of connection between the sense of hearing and the general mind, or the soul, as it is commonly called. Thus we approach to the physiological hypothesis respecting the division of the mental faculties, and the appropriation of distinct portions of the nervous system to them ; which having, unluckily, invented for itself a term which has become popular, has undergone the fate, not uncommon in such cases, of terminating in being a subject of discussion and dispute. […] If one power appears before the rest, if it predominates above the other, there is some inequality in the original formation of the mind, or of the body. If that power belongs to an organ of sense, the peculiarity must be in the body, since the organs of sense are corporeal. Being in the body, it must be in the nervous system, and that system is the brain.«³³⁸
Der Aufsatz führt exemplarisch vor Augen, dass die auf Gall zurückgehende Hirn- und Schädellehre beziehungsweise ihre britische Fortsetzung als Phrenologie in der Öffentlichkeit nicht unbedingt als Paradigmenwechsel weg von Sensualismus und Nerventheorie des . Jahrhunderts wahrgenommen wurde. Hinsichtlich musikalischer Begabung wurde der Hörsinn nicht einfach durch ein lokalisierbares Hirnorgan ersetzt, stattdessen waren gleitende Übergänge am Werk. Diesen Autor etwa führte schließlich gerade die sensualistische Grundvoraussetzung (»that power belongs to an organ of sense«) auf argumentativem Wege zu seiner Sympathie mit der phrenologischen Theorie, die im englischsprachigen Raum schließlich zu »the nineteenth century’s most popular und popularized ›science‹«³³⁹ geraten sollte. Allerdings war die Phrenologie in Großbritannien, wo sie sich ab den er Jahren verbreitete, zugleich in hohem Maße umstritten und fand in Fachkreisen vor allem Anklang unter
Ebd., S. –. Roger Cooter, The Cultural Meaning of Popular Science. Phrenology and the Organization of Consent in Nineteenth-Century Britain, Cambridge u. a. (Cambridge History of Medicine), S. . Der Begriff phrenology wurde von Thomas Ignatius Maria Forster geprägt. Siehe ebd., S. .
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praktizierenden Ärzten, weitgehend abseits der Universitäten und ehrenwerten Gelehrtengesellschaften.³⁴⁰ Ihre Anhänger waren darum bemüht, ihr Anerkennung als Naturwissenschaft zu verschaffen, verhieß dies doch nicht zuletzt auch für jeden Einzelnen eine Möglichkeit, zu sozialem Ansehen zu gelangen.³⁴¹ Der Journalist des London Magazine brachte eine weit verbreitete Haltung gegenüber der Phrenologie zum Ausdruck, indem er zwar den engen Zusammenhang zwischen Psyche und Gehirn unterschrieb, die Untersuchungsmethoden der Phrenologen aber für unausgereift und fehlerhaft erklärte.³⁴² Auch den Schlüssel zum musikalischen Genie vermutete er in diesem Teil des Körpers, beeilte sich aber, den rein theoretischen Charakter seiner Überlegungen zu unterstreichen : »We shall not however search the side of the parietal bone or the temporal, for a protuberance ; because we doubt much whether the physiological views in question have made sufficient progress to determine the exact place of any faculty or organ ; but we must remark, nevertheless, that the forehead of this child presents a very unusual relative bulk or capacity. Somewhere within it, lies the property or power in question ; and hence is the musical genius.«³⁴³
Die Verlockung, die von einer materiellen Lokalisierung eines bisher als so komplex zwischen Seele und Körper verorteten Phänomens ausging, ist nachvollziehbar. Auch andere Beobachter der Infant Lyra setzten daher ihre Hoffnungen in die neue Wissenschaft : »The retentive powers of this child must be of a very wonderful description. She plays, of course by ear, no less than airs, many of them with difficult variations. This is no matter of art – this, in a child so young, can be no matter of instruction – it is intuition : we leave the philosophers of the Spurzheim school to account for it.
Siehe ebd., S. –. Siehe John van Wyhe, Phrenology and the Origins of Victorian Scientific Naturalism, Aldershot (Science, Technology and Culture, –), S. –, –, –. Relativiert wird von van Wyhe die These, dass ausschließlich akademische Außenseiter die Phrenologie unterstützten, was die von Cooter beschriebene Tendenz aber nicht in Frage stellt. Siehe ebd., insbes. S. –. Siehe ebd., S. –. [Anon.], »The Infant Lyra«, in : The London Magazine /o. Nr. (Juli ), S. –.
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We confess that we have seen no theory that can explain to us satisfactorily so strange a phenomenon : we only know that it exists.«³⁴⁴
Der deutsche Arzt Johann Gaspar Spurzheim, ein ehemaliger Assistent Galls, sorgte mit seinen Vortragsreisen und Publikationen auf den britischen Inseln ab für die dortige Verbreitung der Lehre seines Mentors, entwickelte sie in einigen Punkten aber auch weiter.³⁴⁵ Musikalisches Talent war für ihn im Prinzip, ebenso wie für Gall, ein Ergebnis entsprechender Ausprägung zerebraler Organe und ließ sich somit angeblich an lokalen Erhebungen des Schädels in zwei Bereichen erkennen, die von Spurzheim als »tune« und »time« gekennzeichnet wurden.³⁴⁶ Der Mediziner stellte somit die Überzeugung, musikalische Begabung sei einzig auf die Funktion des Ohrs zurückzuführen, als Irrtum bloß. Als Argument diente ihm dazu etwa die Tatsache, dass das Gehör bei vielen Tieren vollkommener ausgebildet sei als beim Menschen : »Hearing in general cannot produce music, because there is no proportion between hearing and the faculty of music, either in animals or in man. Many animals hear very acutely, and are yet insensible to music.«³⁴⁷
Außerdem, so Spurzheim, würden von Taubheit befallene Musiker nicht aufhören zu komponieren, und selbst von Geburt an Taubstumme verrieten einen gewissen Sinn für Musik.³⁴⁸ Die Abkehr der Phrenologie vom Locke’schen Sensualismus tritt an folgender Stelle seiner ersten englischsprachigen Abhandlung klar und deutlich hervor : [Anon.], »The Infant Lyra«, in : The Times vom . April (Nr. ), o. S. Erneut abgedruckt in : The Museum of Foreign Literature and Science /Nr. (), S. –. Siehe Roger Cooter, The Cultural Meaning of Popular Science, S. –, ; John van Wyhe, Phrenology and the Origins of Victorian Scientific Naturalism, S. – ; Stephen Tomlinson, Head Masters. Phrenology, Secular Education, and Nineteenth-Century Social Thought, Tuscaloosa , S. –. Zu Spurzheim im Kontext der Musik, siehe Jamie C. Kassler, The Science of Music in Britain, –. A Catalogue of Writings, Lectures and Inventions, Bd. , New York u. a. (= Garland Reference Library of the Humanities ), S. –. Johann Gaspar Spurzheim, The Physiognomical System of Drs. Gall and Spurzheim ; Founded on an Anatomical and Physiological Examination of the Nervous System in General, and of the Brain in Particular ; and Indicating the Dispositions and Manifestations of the Mind, Second Edition Greatly Improved, London u. a. , S. . Siehe ebd., S. . Möglicherweise dachte Spurzheim in diesem Zusammenhang an Beethoven, den er mit großer Wahrscheinlichkeit durch seine Aufenthalte in Wien kannte.
| The Infant Lyra : Ikone der Unschuld »Finally, hearing cannot produce music, because hearing perceives only tones which are already produced. The first musician, therefore, began to produce music from an internal impulse, and that music of course he had not previously heard. Singing birds, moreover, which have been hatched by strange females, sing naturally, and without any instruction, the song of their species as soon as their internal organization is active.«³⁴⁹
Die Theorie, dass musikalische Ideen auf sinnlicher Erfahrung aufbauen, versuchte Spurzheim als aporetisch hinzustellen und zog dafür den instinktiven Gesang der Vögel zum Vergleich heran. Die Konsequenz war, dass das musikalische Genie von ihm vollständig in die innere Natur des Menschen verlegt wurde. Die britische Phrenologie war, anders als zuvor Galls Schädellehre auf dem Kontinent, weniger an Fertigkeiten und Ausstrahlung einer Einzelperson gebunden. Stattdessen wurde sie von unterschiedlichen Vertretern in einer, nach der Ankunft Spurzheims, immer größer werdenden Zahl von Vortragsreihen öffentlich verbreitet und brachte die Gründung eigener Gesellschaften und Publikationsorgane hervor.³⁵⁰ Außerdem sind die natürlichen Anlagen des Menschen, wie sie sich in den zerebralen Fakultäten jeweils ausprägten, bei den Phrenologen weitaus weniger determiniert betrachtet worden, als noch von Gall selbst.³⁵¹ Spurzheim etwa ging davon aus, dass man die einzelnen Hirnorgane in gleicher Weise wie Muskeln trainieren könne : »Each part of the body, being properly exercised, encreases and acquires more strength. The fact is known to be so, with respect to the muscles of woodcutters, smiths, runners, &c. Now, the brain and its parts are subject to all the laws of organization ; they are nourished like the arms and legs.«³⁵²
Insbesondere nach der Veröffentlichung von George Combes einschlägiger Abhandlung The Constitution of Man () wurden die Anwendungsmög Johann Gaspar Spurzheim, The Physiognomical System of Drs. Gall and Spurzheim, S. . Siehe Roger Cooter, The Cultural Meaning of Popular Science, S. –, – ; John van Wyhe, »The Diffusion of Phrenology through Public Lecturing«, in : Aileen Fyfe und Bernard Lightman (Hgg.), Science in the Marketplace. Nineteenth-Century Sites and Experiences, Chicago u. a. , S. –. Siehe Roger Cooter, The Cultural Meaning of Popular Science, S. , – ; Stephen Tomlinson, Head Masters, S. –. Johann Gaspar Spurzheim, A View of the Elementary Principles of Education, Founded on the Study of the Nature of Man, Edinburgh , S. .
Die Vermessung des musikalischen Genies |
lichkeiten der neuen Wissenschaft in der Pädagogik, der medizinischen Therapeutik, der Psychiatrie, der Ökonomie sowie ihr Nutzen für umfassende Gesellschaftsreformen breit diskutiert.³⁵³ Seine Publikation ließ den Edinburgher Rechtsanwalt endgültig zu »Britain’s leading exponent of phrenology«³⁵⁴ werden. Maßgeblich beteiligt an der gegründeten Edinburgh Phrenological Society machte er die schottische Hauptstadt, gemeinsam mit seinem Bruder, dem Arzt Andrew Combe, zu ihrer Keimzelle. Die Gesellschaft zog eine stetig wachsende Zahl an Mitgliedern vor allem aus dem medizinischen und bildungsbürgerlichen Milieu an und ihre öffentliche Ausstrahlung wurde durch zunehmende Vorträge und Publikationen – ab wurde auch eine eigene Zeitschrift herausgegeben – befördert, rief sogleich jedoch auch vermehrt Kritiker auf den Plan. Die zum Teil heftigen Attacken gingen über eine fachliche Argumentation hinaus, es standen die altbekannten Vorwürfe des Materialismus, Fatalismus und Atheismus im Raum.³⁵⁵ In dieser Phase der Institutionalisierung und Expansion der Phrenologie bei gleichzeitig enormem Rechtfertigungsdruck trat die Infant Lyra gemeinsam mit anderen ›Wunderkindern‹ in der Öffentlichkeit in Erscheinung. Die Phrenologen hegten naheliegenderweise großes Interesse an solchen Fällen. Dies illustriert unter anderem ein anonym beim Edinburgher Phrenological Journal eingegangener Leserbrief, der auf den . März datiert war und in dem ein Mitglied der drei Jahre zuvor gegründeten London Phrenological Society die vergangene Sitzung der Gesellschaft rekapitulierte. Vor dem Plenum hatte man, so seine Schilderung, neben einem farbenblinden Mann und einem Knaben, der erstaunliche Fähigkeiten im Kopfrechnen zeigte, auch Mary und Sarah Ann Manning vorgeführt, damals besser bekannt als die musizierenden Infant Sisters.³⁵⁶ In dem Schreiben wurde auch auf die musikalischen Fähigkeiten der beiden Mädchen eingegangen, die der Vereinskollege James Deville (auch »De Ville«) bei sich zuhause – unter anderem im Blattspiel – getestet hatte. Zudem hatte er eine Anekdote parat, wie er zur Entdeckung der Virtuo Siehe Roger Cooter, The Cultural Meaning of Popular Science, S. – ; John van Wyhe, Phrenology and the Origins of Victorian Scientific Naturalism, S. – ; Stephen Tomlinson, Head Masters, S. –, –. Stephen Tomlinson, Head Masters, S. . Zur Edinburgher Gründungsphase und der öffentlichen Kontroverse, vgl. John van Wyhe, Phrenology and the Origins of Victorian Scientific Naturalism, S. –, – ; Stephen Tomlinson, Head Masters, S. –, –. Siehe [Anon.], »To the Editor of the Phrenological Journal«, in : The Phrenological Journal and Miscellany /Nr. (/), S. –.
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sinnen und ihrer musikalischen Veranlagung durch die Phrenologie gekommen wäre : »They have been brought to light entirely by Phrenology. Two gentleman of the name of Vincent, brothers, and somewhat acquainted with the science, saw one of them last June playing on a dulcimer, or some little instrument, before their father’s door for amusement. They were struck with the enormous size of the organ of Music, entered into conversation with the children and parents, and finally requested that the children might be taken to Mr De Ville’s, whose skill in ascertaining development is well known. Mr De Ville, before a word was uttered by the party, exclaimed, ›What a development of musical power ! – with a little instruction these children will be prodigies in music.‹«³⁵⁷
Nachdem sich die Mutter der Mädchen dazu entschlossen hätte, einen Musiklehrer zu engagieren, so wird weiter berichtet, hätten sie bereits vier Monate später mit ihren Fähigkeiten öffentlich auftreten können. Dann fällt ein vergleichender Hinweis auf die Infant Lyra : »She is about four years of age, and displays extraordinary musical talent upon the harp. The organ of music in her head also is of very great size.«³⁵⁸ Eine ähnlich gestaltete Anekdote über Deville und seine geradezu prophetische Voraussage über die zukünftige Entwicklung einer Person wurde ein paar Jahre später auch zum Schauspieler und Violinvirtuosen Joseph Burke publiziert, dessen künstlerische Begabung der Phrenologe angeblich mit einem einzigen Blick – und ausgerechnet während einer Vorführung der Infant Lyra – erkannt haben soll.³⁵⁹ Und der Mythos über Devilles blindes Erkennen musikalischen Genies durch bloße Betastung des Schädels kursierte später auch in der frühen Liszt-Biographik.³⁶⁰ Sehr wahrscheinlich steckte Deville selbst hinter dem Leserbrief an das Phrenological Journal. Bereits in einer Sitzung der Londoner Phrenologen am . Ebd., S. –. Ebd., S. . Siehe J. L : L., »Phrenological Observation of the Histrionic Talent of the Celebrated Master Burke«, in : The Hull Packet and Humber Mercury, or Yorkshire and Lincolnshire Advertiser vom . August (Nr. ), o. S. Der Fall Burke wurde unter Phrenologen bereits früher diskutiert. Siehe [Anon.], »Recent Cases of W. C. M. of Edinburgh, and Miss W. of London, farther illustrative, respectively, of the Phrenological Explanation of Ventriloquism and Histrionic Personation«, in : The Phrenological Journal and Miscellany /Nr. (/), S. –. Siehe David Trippett, »Exercising Musical Minds : Phrenology and Music Pedagogy in London circa «, in : th-Century Music /Nr. (), S. –.
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Januar des Jahres nämlich hatte er die Fälle der Schwestern Manning und Isabella Rudkins vorgestellt und diskutiert.³⁶¹ Die Infant Lyra wurde außerdem in der Begleitbroschüre zu einer von ihm vertriebenen phrenologischen Büste als ein Paradebeispiel für die unter Musikern und Musikerinnen besonders starke Ausprägung bestimmter Hirnorgane angeführt (die Erwähnung findet sich erstmalig in der Ausgabe von ).³⁶² Deville, von Haus aus ein auf Lampen und Gipsabgüsse spezialisierter Handwerker und Geschäftsmann, der nie eine medizinische Ausbildung genossen hatte, war einer der wichtigsten Akteure der neuen Wissenschaft, Gründungsmitglied der London Phrenological Society und Organisator von Spurzheims Vorlesungen in der Crown and Anchor Tavern im Frühjahr .³⁶³ Spurzheim selbst war der Fall der Infant Lyra hinreichend bekannt und er zog ihn bei seinen Vorträgen exemplarisch heran, wenn es wieder einmal darum ging, zu beweisen, dass die Musikalität im Gehirn und nicht im Gehör zu verorten sei.³⁶⁴ Der deutsche Arzt war überdies auch anwesend, als das Mädchen am . Januar schließlich einer Einladung der Edinburgh Phrenological Society folgte und gemeinsam mit dem Vater einer Sitzung beiwohnte, bei der die Beurteilung ihres Falls aus der Feder eines gewissen Mr. Ritchie durch George Combe persönlich verlesen wurde.³⁶⁵ Derzeit schienen sich Phrenologen auch für die Begabung ihres jüngeren Bruders interessiert zu haben, wie ein Bericht aus Taunton von verriet : »The phrenologists doat on the boy, from his incontestible manifestation, as they say, of those organs which indicate musical talent.«³⁶⁶ Dem zitierten, mutmaßlich von Deville verfassten, Leserbrief im Phrenological Journal von waren Tabellen der kraniometrischen Untersuchungser-
[Anon.], »Proceedings of the London Phrenological Society«, in : The Phrenological Journal and Miscellany /Nr. (/), S. . [James Devillle], Outlines of Phrenology, as an Accompaniment to the Phrenological Bust, London , S. . Siehe Roger Cooter, Phrenology in the British Isles : An Annotated, Historical Biobibliography and Index, Metuchen u. a. , S. –. Siehe Johann Gaspar Spurzheim, »Lectures on Phrenology. Lecture «, in : The Lancet / Nr. (. Juli ), S. . Siehe [Anon.], »Proceedings of the Phrenological Society, Edinburgh«, in : The Phrenological Journal and Miscellany /Nr. (/), S. . The Taunton Courier, And Western Advertiser vom . Mai (Nr. ), o. S. Der Bericht erschien erneut in : Hampshire Telegraph and Sussex Chronicle, And General Advertiser for Hants, Sussex, Surrey, Dorset, and Wilts vom . Mai (Nr. ), o. S.; Devizes and Wiltshire Gazette vom . Mai (Nr. ), o. S.
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gebnisse zu den drei Mädchen gemäß der Spurzheim’schen Schädelkartierung angehängt (Abbildung ). Unter einer Auflistung in Inch angegebener Spannweiten zwischen verschiedenen Hirnorganen wurden noch einmal alle Fakultäten mit jeweils einer proportionalen Größenangabe aus mehreren Stufen angeführt. Informationen darüber, mit welchen Messinstrumenten und -methoden diese Ergebnisse zustande gekommen sind, finden sich hier nicht. Entsprechende Verfahrensweisen unter Verwendung von Kraniometer und Tasterzirkel empfahl damals aber etwa auch Combe.³⁶⁷ Die Untersuchung an Isabella Rudkin (ihr bürgerlicher Name wurde hier tatsächlich genannt) war auf den . Januar datiert. In entsprechenden Spalten fanden sich nicht nur die nach Spurzheim musikalisch primär relevanten Organe ». Time« und ». Melody or Tune« als »very large« ausgezeichnet, sondern es wurden auch fast alle anderen mit diesem Merkmal oder wenigstens als »large« beziehungsweise »rather large« qualifiziert, was auf eine insgesamt hohe Entwicklung des Geistes bei dem Kind schließen lassen konnte. So behauptete Combe : »Great general size and great activity combined, constitute the natural elements of the highest genius.«³⁶⁸ Ein wesentlicher Aspekt der Weiterentwicklung der Schädellehre durch Spurzheim war die Betonung eines ausgewogenen Verhältnisses und der Kombination der Hirnorgane, die ihm zufolge, anders als noch bei Gall, allesamt im Guten wie auch im Schlechten wirken konnten. Für einige der Fakultäten suchte er nach neutralen Termini mit wissenschaftlichem Beiklang, erweiterte und gruppierte die Aufstellung seines ehemaligen Partners in einer hierarchischen Taxonomie völlig neu, die von den niederen Instinkten am Hinterkopf zu höheren Moralempfindungen auf der Stirn führte.³⁶⁹ Auf dem Spezialgebiet der Musik wurde die phrenologische Theorie um diese Zeit gerade einer weiteren Ergänzung und Differenzierung unterzogen.³⁷⁰ In einem Aufsatz des Phrenological Journal von wurde erläutert, dass die deutliche Ausprägung von »Tune« und »Time« zwar als notwendige Voraussetzungen musikalischer Fähigkeiten angesehen werden könnten, keineswegs aber als hinreichende. Für Sängerinnen und Sänger sei insbesondere »Imitation« unabdingbar, »Form«, »Size« und »Individuality« beim Noten- beziehungs Siehe George Combe, Elements of Phrenology, Edinburgh u. a. , S. –. Ebd., S. . Siehe John van Wyhe, Phrenology and the Origins of Victorian Scientific Naturalism, S. –. Vgl. auch Stephen Tomlinson, Head Masters, S. –. Vgl. hierzu Céline Frigau Manning, »Phrenologizing Opera Singers : The Scientific ›Proofs of Musical Genius‹«, in : th-Century Music /Nr. (), S. –.
Die Vermessung des musikalischen Genies | Abb. 13.: Johann Gaspar Spurzheim, Phrenology, or, the Doctrine of the Mind ; and of the Relations between its Manifestations and the Body, London : Charles Knight 1825 (Phrenologische Schautafel).
weise Blattlesen, »Constructiveness«, »Weight« und »Locality« für technisches Geschick beim Instrumentalspiel, »Concentrativeness« zur Kombination und simultanen Anwendung der beteiligten Hirnorgane und schließlich »Firmness«, ein Organ, das generell dafür sorge, dass andere Fakultäten sich auf Dauer weiterentwickeln könnten. Für Gefühlsausdruck im Allgemeinen sei, ähnlich wie beim Schauspiel, neben »Imitation«, »Secretiveness« von vorrangiger Bedeutung.³⁷¹ Doch darüber hinaus ließ die mögliche Vielfalt des musikalischen Ausdrucks hierbei potentiell jedes Organ relevant erscheinen : »With regard to the nature of the expression, this will depend, in each particular case, on the peculiar development of the individual. If Combativeness and Destructiveness be large, the individual will excel in expressing the bold irascible feelings – if Adhesiveness, Philoprogenitiveness, and Benevolence, be predominant, the kindly and affectionate. – If Hope is large, the expression of joy will be easy to him. – If Siehe [Anon.], »Music. – Madame Catalani, Madame Ronzi de Begnis, Signior Ronzi de Begnis, and Mr Kalkbrenner«, in : The Phrenological Journal and Miscellany /Nr. (/), S. –.
| The Infant Lyra : Ikone der Unschuld Veneration and Cautiousness, he will be able to affect his hearers with feelings of solemnity and reverential awe. – If Wit is large, he will excel in ludicrous expression ; and so with all the rest.«³⁷²
Belegt wurde die Theorie auch in diesem Artikel mit entsprechenden Maßtabellen zu den im Titel genannten Musikerinnen und Musikern. Dabei schien der Schädel des Pianisten Friedrich Kalkbrenner besonders auffällig zu sein : »The large general size of the head, taken in conjunction with the large development of all the organs essential to music, point him out as a musical genius of the highest order«³⁷³. Damit bestätigten sie, was als Alltagswissen ohnehin verbreitet war. Ein überdimensionaler Kopf war etwa auch eines der künstlerischen Stilmittel des Porträtdrucks der Infant Lyra im European Magazine (Abbildung ) oder ist bereits von Georg Ludwig Peter Sievers dem Kindervirtuosen Hippolyte Larsonneur zugeschrieben worden.³⁷⁴ Eine tiefere Auseinandersetzung mit dem Thema Musik fand sich in einer späteren Ausgabe des Jahrgangs des Phrenological Journal. Gleichfalls anonym publiziert, hat Combe den Aufsatz später William Scott, dem zeitweiligen Präsidenten der Edinburgh Phrenological Society, zugeschrieben.³⁷⁵ Auch in dem vorangegangenen Beitrag wurde schon auf Scott als die Person verwiesen, welche die wiedergegebene Ansicht über die musikalisch relevanten Hirnorgane zuerst geäußert habe.³⁷⁶ Zwischen Affinität beim Musikgenuss und Begabung beim Musizieren oder Komponieren nicht prinzipiell unterscheidend, wurde Musikalität hier als eine »co-operation of almost every faculty of man«³⁷⁷ konzipiert. Was man landläufig ein musikalisches Gehör (»a musical ear«) nenne und welches sich vom akustischen Hörsinn als solchem unterscheide, so behauptete Scott, resultiere zwar primär aus dem Organ »Tune«, das sich unterhalb der, die Schläfengrube nach oben abgrenzenden, linea temporalis (»temporal ridge«)
Ebd., S. . Ebd., S. . Siehe Kap. ., S. . Siehe George Combe, A System of Phrenology, Third Edition, Edinburgh u. a. , S. . Combe sprach unbegreiflicherweise von zwei Aufsätzen des Titels, die zweite seiner Seitenangaben führt aber ins Leere. Siehe [Anon.], »Music«, S. . [William Scott], »Of music, and the different faculties which concur in producing it«, in : The Phrenological Journal and Miscellany /Nr. (/), S. . Der Aufsatz erörterte am Ende zudem die Rolle der Musik zur Erziehung der armen Masse in einer Sozialreform. Siehe ebd., S. –.
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befände.³⁷⁸ Zugleich aber sei Empfänglichkeit für die Musik nicht auf diese Eigenschaft zu reduzieren und involviere eine Reihe von Hilfsorganen (»auxiliary faculties«), wie »Time«, »Ideality«, »Individuality« (was hier die Funktion des musikalischen Gedächtnisses meinte) oder »Concentrativeness«, etwa neben den für die motorischen Fertigkeiten von Instrumentalisten notwendigen Fakultäten »Constructiveness« und »Weight«, beziehungsweise beim Gesang »Imitation« und »Secretiveness«.³⁷⁹ Diese Zusammenstellung unterschied sich nur geringfügig, nicht aber im Grundsatz von der eben zitierten. Wichtiger war Scott augenscheinlich ohnehin etwas anderes, nämlich ein angemessenes phrenologisches Verständnis des ästhetischen Wesens der Musik selbst als »master-key to the human heart«³⁸⁰. Die ganze Bandbreite ihr zugehöriger Fakultäten resultierte auch hier aus der musikalischen Ausdrucksvielfalt. Dabei ist besonders aufschlussreich, was Scott über die an Moll-Tonarten sowie an weiche und sanfte Klänge gebundenen Organe zu sagen hatte : »Of this character are many of the original melodies of our own country, and of the sister kingdom of Ireland, the expression of which is allowed to be plaintive and pathetic in a high degree. That sounds such as we have last described are the natural language of pity, or of a highly-excited state of the feelings of Benevolence, Adhesiveness, and Philoprogenitiveness, may be shewn by attending to the tones used by nurses in condoling with and soothing infants, to whom the natural language of these sentiments, and that alone, would be intelligible. That it gratifies, and in some instances excites these feelings in others by sympathy, there can be little doubt.«³⁸¹
Scott umschrieb hier die natürliche Sprache der Empfindsamkeit, einen Ausdruck, wie er mit Volksliedmelodien, dem moralischen Mitgefühl und Mitleid oder auch der Stimme, die die Amme annehme, um eine emotionale Verbindung zum Kind herzustellen und es zu beruhigen, in Verbindung gebracht wurde. Die drei zugeordneten Fakultäten – ihnen war im vorigen Aufsatz ein ähnlicher Ausdrucksgehalt (»kindly and affectionate«) zugeteilt – hatte man bei der Vermessung des Schädels der Infant Lyra Anfang des Jahres allesamt als »very large« klassifiziert. Der Erklärungsanspruch der Phrenologie reichte bei Scott jedoch noch wesentlich weiter und er drang in ästhetische und ge
Siehe ebd., S. . Siehe ebd., S. –. Ebd., S. . Ebd., S. –.
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schichtsphilosophische Gebiete vor, die die Philosophen der Spätaufklärung im . Jahrhundert abgesteckt hatten. So leitete er in seinem Aufsatz etwa auch den Anstoß zur historischen Entstehung der Musik kurzerhand aus einem der Hirnorgane ab : »The faculty of Tune, though capable at once of perceiving and relishing music, when produced, does not seem to be sufficiently strong in man to produce, naturally and spontaneously, music of the most simple kind ; and, in consequence, it appears to come at first from Imitation.«³⁸²
Das Organ der »Imitation«, das für den Menschen im Ursprungszustand (man betrachtete die Menschheitsgeschichte damals wie gesagt in Analogie zur Individualgeschichte) für seine erste musikalische Äußerung angeblich sogar noch entscheidender sei als »Tune«, wurde in den Maßen der Infant Lyra ebenfalls als »very large« angeführt. Den zivilisatorischen Frühzustand bald nach der Geburt der Menschheit, nachdem sich die ältere Instrumental- mit der jüngeren Vokalmusik verbunden hätte, malte sich Scott auf folgende Weise aus und zeichnete dabei ein relativ vertrautes Bild : »Thus, in the days of Homer, and in the earlier days of almost every nation, the bards sung, to the music of the harp, ›the songs to savage virtue dear,‹ and the shepherd accompanied the praises of his mistress with the melody of his pipe.«³⁸³
Ein auffälliges Detail an der Vermessung und Quantifizierung der Begabung der Infant Lyra ist schließlich, dass ». Amativeness« (was verklausuliert schlicht den Fortpflanzungstrieb meinte, der sich nach dem Spurzheim’schen Modell, gewissermaßen verschämt, im Nacken versteckte) als einziges der Organe als bloß »moderate« ausgewiesen wurde, ähnlich unterentwickelt wie bei den anderen beiden Untersuchungsobjekten im Leserbrief an das Phrenological Journal, den Schwestern Manning. Das Bild idealer Unschuld stellte die Phrenologie trotz des evidenten musikalischen Genies der Mädchen so unter keinen Umständen in Frage. Ob die eigenen Vorurteile der Wissenschaftler unbeabsichtigt in ihre Messungen, Urteile und Beschreibungen eingeflossen Ebd., S. . Ebd., S. . Das Zitat stammte aus einer Ode () von Thomas Warton beziehungsweise den Zeilen, die von Walter Scott als Motto der Minstrelsy of the Scottish Border von Warton übernommen wurden.
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sind, oder ob es sich vielleicht – es erscheint weitaus unwahrscheinlicher – um seltsame Zufälle handelte, lässt sich nicht mehr aufdecken. Die scheinbaren Fakten solcher Körperinspektionen kamen schon damals kaum überprüfbaren Behauptungen gleich, die gemeinsam mit ihren Gegenbehauptungen im Raum standen, ohne dass Außenstehende letztlich rational nachvollziehen konnten, wer Recht hatte : »I have never heard of any of these facts against Phrenology that have not turned to be unfounded. A very clever friend of mine had been to hear the Infant Lyra, and assured me she had no development of what is called the organ of Music ; whereas it is so remarkably large in her as, on one side at least, to be an absolute bump.«³⁸⁴
Die Phrenologie war damit auf das alte Problem empirischer Wissenschaft nach der Glaubwürdigkeit des Augenzeugen zurückgeworfen. An der Passgenauigkeit der Untersuchung sowie den musikästhetischen Überlegungen aus den Reihen der Phrenologen mit dem öffentlichen Bild der Infant Lyra drängt sich aber eine Vermutung auf. Es sollte im Prinzip überhaupt nichts Neues ans Tageslicht gebracht werden und dass hier das ohnehin allgemein Bekannte scheinbar noch einmal empirisch bestätigt wurde, war Teil einer Strategie. Mit anderen Worten : Solche Fallstudien erfüllten eine demonstrative und keine explorative Funktion. Denn unter dem gesellschaftlichen Zwang der Legitimation sah sich die Phrenologie damals in erster Linie zu Ergebnissen genötigt, die ihre theoretischen Voraussetzungen eindeutig und eindrücklich bestätigten und die nicht zu Korrekturen herausforderten, weil damit die Gefahr verbunden war, dass ihr ohnehin umstrittener Wahrheitsanspruch weiteren Schaden nahm. Sie bestätigte also Vorurteile und Gemeinplätze, um sich selbst zu behaupten. Ihre Forschungspraxis war von Grund auf doktrinär geleitet, nicht ergebnisoffen.³⁸⁵ Ein Artikel des Birmingham Magazine vom Juni ist es in diesem Zusammenhang wert, aus den unzähligen Beispielen für die damalige Kontroverse um die Phrenologie herausgegriffen zu werden. In ihm nämlich wurde ein zentrales Problem angesprochen, gegen das die ›Wunderkinder‹ als schlagender Gegenbeweis zu funktionieren schienen, wie sich später in einer Replik auf John Elliotson, »Adress delivered to the London Phrenological Society, at the commencement of the fourth session, th november, «, in : The Phrenological Journal and Miscellany /Nr. (/), S. –. Siehe John van Wyhe, Phrenology and the Origins of Victorian Scientific Naturalism, S. .
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die Einsendung herausstellen sollte. Der Verfasser des Artikels, ein sich nicht weiter zu erkennen gebender Korrespondent, sandte ihn gegen Ende des Jahres zudem an das Londoner Medizinerblatt The Lancet und muss auf diesem Wege ein weites Fachpublikum erreicht haben.³⁸⁶ Als vielsagendes Motto stellte er seinem Text einen Auszug aus dem Vorwort von John Lockes erkenntnistheoretischem Hauptwerk, dem Essay Concerning Human Understanding, voran. Doch hinter der philosophischen Argumentation gegen angebliche Denkfehler der Phrenologen ließ sich auch bei diesem vergleichsweise nüchternen Autor noch die Bedrohung für die Unantastbarkeit der göttlichen Seele und die Freiheit des Menschen spüren, die für einige Zeitgenossen von der neuen Disziplin ausging : »But, as though to dim the lustre of our era of common sense, a sect has recently arisen, which, under the appellation of phrenologists, is busily propagating absurdities derided by the wise, but from their novelty, and the resolute quackery by which they are accompanied, not ill-calculated to catch the ignorant and unwary.«³⁸⁷
Der Phrenologie sprach er damit jede Geltung als Wissenschaft ab. Weiter unten karikierte er in einem Nebensatz den Aberglauben des typischen enthusiastischen Anhängers, »believing his doctrine to be ›true as holy writ‹«³⁸⁸. An sachlichen Argumenten führte er erstens an, dass man niemals sicher von Handlungen auf spezifische Motive oder Gefühle schließen könne, die diese bewirkten (der Grundsatz, auf den die ganze Doktrin aufbaue). Zweitens verwies er am Ende des Aufsatzes auf die Widersprüchlichkeit des phrenologischen Organs »Firmness«, ein Begriff, der keine Ursache, sondern eine Wirkung emotionalen Antriebs (dem Überwiegen einer bestimmten Leidenschaft) beschreibe. Dazwischen unterstrich der Autor den angeblich unterschätzten Störfaktor der Erziehung, deren Anteile im Charakter eines Menschen im Verhältnis zu seinen natürlichen Anlagen äußerlich nicht erkennbar sein könnten : »That the character is powerfully influenced by education, the most strenuous phrenologist will not deny. Even admitting then, that by some bold and fortunate con-
Siehe **, »On Phrenology«, in : The Birmingham Magazine, or, Literary and Scientific Repository /Nr. (Juni ), S. –. Erneut in : The Lancet /Nr. (/) S. –. **, »On Phrenology«, S. . Ebd.
Die Vermessung des musikalischen Genies |
jecture, an advocate of this newfangled philosophy should hit upon the true character of one of the subjects of his investigation, how is he to know what portion of this character springs from circumstances, and what portion from natural susceptibility or capability ?«³⁸⁹
Die Entgegnung aus den Reihen der Phrenologen ließ nicht lange auf sich warten und erschien in Form eines Leserbriefs bereits in der nächsten Monatsausgabe der Zeitschrift : »I shall now pass to the assertion, that the powerful influence of education presents an insuperable obstacle to the discovery of original capabilities. How then are we to account for the extraordinary musical talents so early displayed by the infant Lyra, and Master Burke, or that of calculation by Messrs. Bidder and Noakes previously to the influence of education ; many more cases might be cited, but I trust these are sufficient to refute this proposition.«³⁹⁰
Berühmte Kindervirtuosen wie die Infant Lyra, die Infant Sisters, Joseph Burke oder George Aspull, später etwa Giulio Regondi oder Louisa Vinning, allerdings auch junge Rechenkünstler, Schauspieler und ähnliche frühzeitig erkannte Genies waren als Fallgeschichten in der Phrenologie allgegenwärtig.³⁹¹ Die Vorteile lagen anscheinend auf beiden Seiten, so die Einschätzung des eingangs zitierten Journalisten des London Magazine : Ebd., S. . N., »Reply to the Paper on Phrenology in Our Last Number. To the Editor of the Birmingham Magazine«, The Birmingham Magazine, or, Literary and Scientific Repository /Nr. (Juli ), S. . Siehe etwa auch [Anon.], »Master George Aspull«, in : The Phrenological Journal and Miscellany /Nr. (/), S. – ; [Anon.], »Mr Cull on a Case of Musical Talent«, in : The Phrenological Journal, and Magazine of Moral Science /Nr. (), S. – ; [Anon.], »Infant acting the result of certain mental endowement«, in : The Boston Medical and Surgical Journal /Nr. (. März ), S. –. In der Sammlung von Spurzheim und J. D. Holm, die nach Spurzheims Tod in den Besitz der Boston Phrenological Society überging, befand sich unter anderem ein Gipsabguss des Kopfes von Regondi aus dem Jahr . Siehe [Anon.], A Catalogue of Phrenological Specimens, belonging to the Boston Phrenological Society, Boston , S. . Siehe etwa auch die Untersuchung am Schädelabguss des Sängers Ernst August Kellner : Richard Cull, »Case of precocious Musical Talent, being a Notice of the late Ernest Augustus Kellner […]«, in : The Phrenological Journal, and Magazine of Moral Science /Nr. (), S. –. Zu Aufsätzen über musikalische Begabung britischer Phrenologen aus den er Jahren siehe auch Roger Cooter, Phrenology in the British Isles, S. .
| The Infant Lyra : Ikone der Unschuld »If it has always been judged sound policy to watch and cultivate the genius, or peculiar disposition to any given pursuit, in a child, it is an advantage which we have derived from the fashionable and contested hypothesis in question, that it has excited more attention to this subject. Hence, we really believe, have arisen the greater number of such prodigies, and we have no doubt that it will continue to produce the same effects.«³⁹²
Auch in dem populären Repository Rudolph Ackermanns wurden die zwei Moden damals in unmittelbarer Verbindung zueinander gesehen : »The very infants are musical, sing and play before they know their letters, and give public concerts. The town is a musical hot-bed, and plants of precocious maturity are brought forth in rapid succession. There’s Master Aspull, there’s our friend Master Minasi, there are the ›Infant Lyra‹, the ›Infant Apollo‹, and above all, the ›Infant Musical Sisters‹, two musical sprouts in one family ! whose genius appeared prominent in the very cranial bumps which they had brought into the world with them ; for the patriarch of phrenology, with whom no head is safe, elephant or christian, came to have a touch, and prophesied musical wonders. And once in a way, certainly, the craniological prediction has been verified.«³⁹³
Doch über die publizistische Symbiose hinaus waren solche Untersuchungen für den Erkenntnisanspruch der neuen Wissenschaft über die Natur des Menschen von grundlegender Bedeutung.³⁹⁴ Denn gerade die in einem einzelnen Bereich besonders ausgeprägte Fähigkeit – die Inselbegabung avant la lettre – war, sobald sie mit evidenten Merkmalen der Schädelanatomie in Übereinstimmung gebracht werden konnte, eines der überzeugendsten Beweise überhaupt, wenn es um die Wahrheit des partikularisierten Gehirns ging : »Prodigies, as children are called who indicate early the matured state of some peculiar form of genius, are mere infants in all other respects. The infant Lyra, Master Aspull, Master Burke, Zhero [sic] Colburn, and George Bidder, excelled, in music, acting, and arithmetic, men of mature years, when they were aged only seven or
[Anon.], »The Infant Lyra«, in : The London Magazine /o. Nr. (Juli ), S. . [Anon.], »The Musical Infant Sisters«, in : The Repository of Arts, Literature, Fashions, Manufactures, &c. /Nr. (. April ), S. . Vgl. David Trippett, »Exercising Musical Minds«, S. ; Geoffrey N. Cantor, »The Edinburgh Phrenology Debate : –«, in : Annals of Science /Nr. (), S. –.
Die Vermessung des musikalischen Genies |
eight. But while they astonished the world so long as they were at the harpsichord, on the stage, or at the slate, they were as childish, and as fond of play as any of the most stupid ; and in any other department of knowledge than their own, they were mediocre or even dull.«³⁹⁵
Phrenologen sparten bei dieser Frage umgekehrt nicht mit Hinweisen auf die Vorteile, die ihre Methode besaß. Die gelehrte Naturphilosophie alten Schlags war in ihren Augen überholt und gehörte einer Welt von Gestern an, das Phänomen ›Wunderkind‹ schien endlich aus der Sphäre des Außernatürlichen befreit und in die kausale Ordnung der Natur eingegliedert : »As, under the old systems, no account can be given of such cases, we have been content to set them down as miracles. They have puzzled alike the learned and the unlearned – the philosopher and the vulgar, – and as nobody could account for them, they have hitherto ranked as wonders with the cow with two heads, and the other monsters of Bartholomew fair. The Phrenologist, on the contrary, who sees the causes of such precocity of talent in the vigorous or premature development of the cerebral organs, and viewing such instances merely as proofs of a system equally admirable and equally perfect throughout all its details, feels no more wonder in these instances than in any other that falls under his notice, but in this, as in every other phenomenon of nature, makes her operations the object of an enlightened admiration.«³⁹⁶
Sidney Smith, The Principles of Phrenology, Edinburgh u. a. , S. . [Anon.], »Master George Aspull«, S. –.
6 . DA S U N V E R M E I DL IC H E E N DE DE S F RÜ HG E R E I F T E N ?
Was zunächst widersprüchlich klingen mag : Die wissenschaftliche Normalisierung des ›Wunderkindes‹ in der Phrenologie ging mit einer Pathologisierung einher. Amariah Brigham etwa vertrat in seinen in Boston erstveröffentlichten Remarks on the Influence of Mental Cultivation and Mental Excitement upon Health die Lehrmeinung, dass »mental precocity […] generally a symptom of disease«¹ sei. Der amerikanische Psychiater führte die ›Frühreife‹ auf übermäßige Nervenreizung und ein dadurch verursachtes beschleunigtes Gehirnwachstum zurück, das im Regelfall zum frühzeitigen Tode führe. Der englische Arzt Robert Macnish, der Brighams populären, sich an das Laienpublikum wendenden Gesundheitsratgeber in Glasgow herausgab, ergänzte diesen Grundsatz mit folgender Fußnote : »George Aspull and the Infant Lyra are cases in point. Both exhibited, at a very early period, a wonderful genius for music – the first performing upon the piano, while a mere boy, in a style worthy of Cramer, Kalkbrenner, or Moschelles [sic], and the latter, at an equally early age, displaying powers hardly inferior upon the harp. The heads of both were unusually large for their age – the intellectual compartment of the brain splendid, and the organ of tune very fine developed. As in the case of all prodigies, their brains were overworked, bad health ensued, and death was the consequence, at a period when they had not yet emerged from early boyhood and girlhood. I am very well acquainted with another youthful musical genius, quite as wonderful as either of them, Giulio Regondi, the celebrated Guitarist. The brain of this boy is very large, and its configuration of the noblest description, whether considered in a moral or intellectual point of view ; but it has been too much wrought, and if he survives boyhood, as from the strength of his constitution he has every chance of doing, I am apprehensive that his mental powers will be found to have suffered by this early over-exertion, and that, as a man, he may be no way remarkable for genius. Still, it is possible that he may prove an exception to the general rule, as was the case with Mozart, who exhibited great musical talent and general power
Amariah Brigham, Remarks on the Influence of Mental Cultivation and Mental Excitement upon Health, with Notes by Robert Macnish, Glasgow u. a. , S. .
Das unvermeidliche Ende des Frühgereiften ? |
of mind at an equally early age, and retained them unimpaired till the last moment of his splendid career.«²
Der englische Kindervirtuose George Aspull starb bald nach seinem neunzehnten Geburtstag infolge einer Erkältung, verursacht wahrscheinlich durch eine der vielen damals noch lebensgefährlichen Infektionskrankheiten.³ Giulio Regondi hingegen wurde immerhin fast fünfzig Jahre alt und blieb zeitlebens ein gefeierter Musiker ;⁴ und auch Isabella Rudkin war entgegen der Behauptung Macnishs zu diesem Zeitpunkt noch ganz und gar lebendig und hat schließlich ein hohes Alter erreicht. Als weiterführende Quellen für die Thematik verwies der Arzt auf seinen Kollegen Andrew Combe sowie auf entsprechende Fallstudien im Phrenological Journal.⁵ Der Tod der Infant Lyra ist von Macnish wohl nicht völlig aus der Luft gegriffen worden, gab dieser hier doch bloß ein allgemein kursierendes Gerücht wieder. So war die schwermütige Elegie aus der Feder von Lydia B. Smith, die in England im selben Jahr wie die Abhandlung Brighams erschienen ist, mit dem Kommentar versehen : »The forebodings expressed in these lines were unfortunately verified a few years ago, as it is gene Ebd., S. –. Siehe zu Aspull auch Yvonne Amthor, »The perception of musical prodigies in London Concert Life between and «, in : Die Tonkunst (), S. – ; dies., ›Wunderkinder‹ – Musical Prodigies in European Concert Life between and , Diss., Leeds , S. – ; William B. Squire und Anne P. Baker, Art. »Aspull, George«, in : Henry C. G. Matthew und Brian Harrison (Hgg.), Oxford Dictionary of National Biography. From the earliest times to the year . Volume : Amos – Avory, Oxford , S. – ; Nicholas Temperley, Art. »Aspull, George«, in : Stanley Sadie (Hg.), The New Grove Dictionary of Music and Musicians. Volume : Aristoxenus to Bax, London , S. . Zu Regondi siehe Yvonne Amthor, »The perception of musical prodigies in London Concert Life between and «, S. – ; Helmut C. Jacobs, Der junge Gitarren- und Concertinavirtuose Giulio Regondi. Eine kritische Dokumentation seiner Konzertreise durch Europa und , Bochum (= Texte zur Geschichte und Gegenwart des Akkordeons ) ; Peter Pieters, »Die Wunderkinder der Gitarre während der ersten Hälfte des . Jahrhunderts«, Teil , in : Gitarre & Laute (), S. – ; David J. Golby, Art. »Regondi, Giulio«, in : Henry C. G. Matthew und Brian Harrison (Hgg.), Oxford Dictionary of National Biography. From the earliest times to the year . Volume : Randolph – Rippingille, Oxford , S. – ; Thomas F. Heck, Art. »Regondi, Giulio«, in : Stanley Sadie (Hg.), The New Grove Dictionary of Music and Musicians. Volume : Recitative to Russian Federation §, London , S. . Eine ähnliche Argumentation, allerdings mit anderen Beispielen, findet sich tatsächlich bei Andrew Combe, The Principles of Physiology Applied to the Preservation of Health, and to the Improvement of Physical and Mental, Second Edition, Enlarged and Corrected, Edinburgh u. a. , S. –.
| Das unvermeidliche Ende des Frühgereiften ?
rally supposed that this interesting child fell a sacrifice to the early display of her precocious talent.«⁶ Als man in der Öffentlichkeit nichts mehr von dem Mädchen hörte, musste die düstere Prophezeiung, die sich andere Dichterinnen und Dichter auch zuvor schon auszusprechen gewagt hatten, vielleicht irgendwann einfach real erscheinen. Die poetische Stringenz des teuer erkauften weltlichen Ruhms der jungen Harfenistin ging jedenfalls Hand in Hand mit medizinischer Kausalität. Wenig später dienten Aspull und die Infant Lyra in einer Erzählung mit dem Titel »The Concert« erneut als Belege für die Regel des frühen Todes musikalischer Kindervirtuosen. In der tragisch-sentimentalen Geschichte um das Schicksal der fiktiven Sängerin Clara Fielding, die erstmals in dem von Marguerite Powers, Countess of Blessington, herausgegebenen Heath’s Book of Beauty von publiziert wurde, hieß es wörtlich : »The diminutive spectres of the past will sweep before my readers – perhaps the victims they have seen, applauded, and involuntarily aided to destroy – George Aspull, the infant Lyra, and a crowd more, whose innocent voices cry from their untimely graves.«⁷
Robert Macnish hat man auf seinen Irrtum sogar persönlich aufmerksam gemacht. Ein entsprechender, an ihn gerichteter Brief eines gewissen John Brown wurde auch im Phrenological Journal besprochen : »We have received a copy of the Doncaster Chronicle, containing a letter from Dr John Brown, Worksop, addressed to the late Dr Macnish of Glasgow, calling attention to an error which the latter gentleman had fallen into respecting the musical prodigy known by the name of the Infant Lyra, whom he states, in his edition of Brigham on Mental Cultivation, to have died in consequence of over exertion of a naturally active brain. Dr Brown informs him that the young lady is alive in good health. We doubt not that our lamented friend had what he considered good authority for believing the circumstances to be such as he states ; and he would have been happy to have corrected any error into which he may have inadvertently fallen.«⁸
Lydia B. Smith, Songs of Granada and the Alhambra. With other Poems, London , S. . Miss Worthington, »The Concert«, in : Heath’s The Book of Beauty o. Jg. (), S. . In der Erzählung selbst ist es Claras Bruder Alfred, der als Kindervirtuose diesen typischen Tod stirbt. Siehe ebd., S. . The Phrenological Journal and Miscellany /Nr. (/), S. .
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Die Redaktion des Edinburgher Blatts bezog hier allerdings gegen Brown Stellung. Dabei ließ sie die diversen Beispiele für einen glücklichen Ausgang geistiger ›Frühreife‹, die dieser in seinem Schreiben anführte, kaum gelten : »Notwithstanding the instances which Dr Brown cites, of precocious children being early occupied in mental tasks, and yet continuing to display eminent abilities in adult age, we must still retain our conviction of the hurtfulness of overtasking the young mind ; and in this opinion we are borne out by the recorded experience of nearly the whole of the medical profession.«⁹
Macnish, der mittlerweile selbst verstorben war, konnte zu seiner Verteidigung nichts mehr erwidern. Seine Fußnotenbemerkung über die Kindervirtuosen aber war nicht nur längst auch in die deutschen und französischen Übersetzungen von Brighams Remarks eingegangen, sondern wurde selbst noch in Neuauflagen ohne entsprechende Korrektur wieder abgedruckt.¹⁰ Im Übrigen soll sich auch James Deville in einer Sitzung der britischen Phrenological Association in Glasgow am . September daran erinnert haben, als man hier den aktuellen Fall der Louisa Vinning diskutierte, dass er die Eltern der Infant Lyra schon damals vorgewarnt hatte, es aber gekommen sei, wie es habe kommen müssen, da man seine gesundheitlichen Ratschläge nicht berücksichtigt hätte : »[…] the child, from continued and severe exercise of her brain, fell into disease, and died at an early age.«¹¹ Der frühe Tod des ›Wunderkindes‹ entsprach nach medizinischem Erkenntnisstand schlichtweg allen Prognosen, was sich als Erwartungshaltung augenscheinlich auch in Bewusstsein und Wahrnehmung einiger Zeitgenossen niederschlug. Nur so jedenfalls lässt sich diese konsequente, rückblickend fast stur erscheinende, Ausblendung der Tatsachen erklären. Die Herausgeber des Phrenological Journal hatten in einem Punkt recht : Ihre Meinung war keine, die sich auf die neue Hirn- und Schädellehre begrenzt hätte, ein Umstand, den beispielsweise der Arzt und Publizist Michael Ryan – ein erbitterter Gegner der Phrenologie – bezeugte : »Children who are prodigies in learning, music, and other pursuits, are generally destroyed by premature disease in the brain, water in the head, and many other complaints.«¹² Ebd. Siehe etwa Amariah Brigham, Remarks on the Influence of Mental Cultivation and Mental Excitement upon Health, Third Edition, Philadelphia , S. –. [Anon.], »Mr Cull on a Case of Musical Talent«, in : The Phrenological Journal, and Magazine of Moral Science /Nr. (), S. . Michael Ryan, The Philosophy of Marriage, in its Social, Moral, and Physical Relations ; […],
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Die Pathologie der ›Frühreife‹ erwies sich als historisch übergreifende Kontinuität in den Lebenswissenschaften. Dass auf übermäßige Anstrengungen während der Kindheit über kurz oder lang schwere gesundheitliche Probleme und im schlimmsten Falle sogar der Tod folgten, war bereits im . Jahrhundert ein unerschütterlicher medizinischer Lehrsatz, der sich durch alle akademischen Schulen und Strömungen zog.¹³ Er fand sich bei den Mechanisten, die die Funktionen des Körpers auf physikalische und chemische Gesetze reduzierten, ebenso wie bei den Vitalisten, die in ihm das Wirken einer Lebenskraft vermuteten. Er basierte im Wesentlichen auf der im Kontext der Aufklärung wiederbelebten antiken Diätetik (Neohippokratismus), die sich übergangslos im Hygienediskurs des . Jahrhunderts fortsetzte, wie der Historiker Philipp Sarasin in seiner Diskursgeschichte Reizbare Maschinen. Eine Geschichte des Körpers, – () umfassend rekonstruiert. Mindestens implizit auf das Modell der sechs nicht natürlichen Dinge (sex res non naturales) des griechischen Arztes Galen von Pergamon zurückgreifend, bezog sich die erneuerte Diätetik beziehungsweise Hygiene auf bestimmte Umwelteinflüsse und Aspekte des Lebenswandels gesunder Menschen (im Unterschied zur Diagnose und Bekämpfung von Krankheiten in anderen medizinischen Disziplinen) und war im Kern mit einem typisch aufklärerischen Appell an die individuelle Eigenverantwortung für den Körper verbunden.¹⁴ Dabei galt in allen Bereichen der Gesundheitspflege das Diktum der Mäßigung und Ausgewogenheit.¹⁵ Andernfalls konnte, so die Vorstellung, das empfindliche Gleichgewicht der Körpermaschine leicht aus dem Lot geraten, sprich es drohten die Vorräte an Körpersäften und Lebenskräften vor der Zeit aufgebraucht zu werden oder in Unordnung zu geraten, die Nerven zu überspannen oder schließlich zu erschlaffen. Eine Anpassung und Gewöhnung des Körpers an äußere BelastunLondon , S. . Zu Ryans Feindschaft gegen die Phrenologie siehe Roger Cooter, The Cultural Meaning of Popular Science. Phrenology and the Organization of Consent in Nineteenth-Century Britain, Cambridge u. a. (Cambridge History of Medicine), S. , . Ein paar Beispiele geben auch Johannes Oehme, Das Kind im . Jahrhundert. Beiträge zur Sozialgeschichte des Kindes, Lübeck (= Documenta Paediatrica ), S. – ; Gerhardt Nissen, Kulturgeschichte seelischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen, Stuttgart , S. ; Ingrid Bodsch, »›Merckwürdige Nachricht von einem sehr frühzeitig gelehrten Kinde …‹. Von unvergleichlichen Begabungen und ihrer Rezeption in Literatur, Medien und Fachwelt«, in : Ingrid Bodsch, Otto Biba und Ingrid Fuchs (Hgg.), Beethoven und andere Wunderkinder, Wissenschaftliche Beiträge und Katalog zur Ausstellung, Bonn , S. –. Siehe Philipp Sarasin, Reizbare Maschinen. Eine Geschichte des Körpers, –, . Aufl., Frankfurt a. M. (= suhrkamp taschenbuch wissenschaft ), insbes. S. –. Siehe ebd., S. –, –, –.
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gen beziehungsweise eine Leistungssteigerung wurde im . Jahrhundert nur nebenbei, etwa an der gesellschaftlichen Randfigur des Athleten, diskutiert und ohne das hygienische Ausgleichsgebot zu verdrängen.¹⁶ Die Vorstellung eines Trainings war überhaupt nur in Bezug auf die Muskeln denkbar, nicht aber bei jenen Bereichen des Körpers, die bei Geistestätigkeit beansprucht wurden, und gerade Kinder galten dahingehend als besonders gefährdet : »Doch was das Gehirn und die Nerven selbst betrifft, so galt den Hygienikern der zivilisatorische Reizfluss fast grundsätzlich als zu stark, so dass man sich mit einer Art defensiver Hygiene gegen Überreizung schützen müsse.«¹⁷
Tatsächlich wurde selbst in Bezug auf Kindervirtuosen meist weniger vor den Anstrengungen des Bewegungsapparates gewarnt (die Infant Lyra stellte dabei gewissermaßen eine Ausnahme dar), beziehungsweise wurde gelegentlich auch umgekehrt die mangelnde Bewegung durch das dauernde Sitzen angekreidet. Weitaus schwerer wog generell die Überreizung der Sinne des Kindes beziehungsweise die Überaktivität seines Geistes. Da das Maßvolle und Harmonische, dem als Gegensatz der Exzess gegenüberstand, von vornherein auch moralisch beladen war, konnten Medizin und aufklärerische Pädagogik in diesem Punkt perfekt ineinandergreifen. Bereits John Locke, der übrigens selbst ein Medizinstudium absolviert hatte, warnte im ausgehenden . Jahrhundert vor einer einseitigen Anstrengung des Geistes ohne ausgleichende Erholung : »Wenigstens jungen Leuten darf das nicht versagt werden ; sonst läßt man sie mit zu großer Eile alt werden und erlebt den Schmerz, sie früher, als man wünschen kann, ins Grab oder in eine zweite Kindheit zu bringen.«¹⁸
Auch Jean-Jacques Rousseau hatte bei der Entfaltung seiner Erziehungsidee nach dem Gang der Natur verständlicherweise so seine Probleme mit der ›Frühreife‹ : Siehe ebd., S. –. Ebd., S. . Vgl. zur zweiten Hälfte des . Jahrhunderts zudem Sally Shuttleworth, The Mind of the Child. Child Development in Literature, Science, and Medicine, –, Oxford u. a. , S. –. John Locke, Gedanken über Erziehung, Übersetzung, Anmerkungen und Nachwort von Heinz Wohlers, Stuttgart , S. . Lockes Warnung galt grundsätzlich, findet sich aber ausgerechnet im Abschnitt über die Musik, über die – als möglicher Lerninhalt für einen jungen Gentleman – er generell kein gutes Wort verlor.
| Das unvermeidliche Ende des Frühgereiften ? »Die Natur will, daß Kinder Kinder sind, bevor sie zum Erwachsenen werden. Wollen wir diese Ordnung umkehren, erzeugen wir frühreife Früchte, die weder Saft noch Kraft haben und bald verfault sein werden – auf die Art erzeugen wir junge Doktoren und alte Kinder. Die Kindheit hat ihre eigene Weise zu sehen, zu denken und zu empfinden. Nichts ist unsinniger, als ihr die unsrige unterschieben zu wollen.«¹⁹
Rousseau äußerte sich außerdem zu den Fähigkeiten von »Wunderkindern, die fünf oder sechs Sprachen zu sprechen glaubten«²⁰, und begegnete ihnen mit ähnlicher Skepsis wie den Kinderakrobaten der Jahrmärkte oder auch musikalischen Kindervirtuosen.²¹ Johann Heinrich Campe, ein Anhänger Rousseaus und gleichzeitig selbst einer der einflussreichsten Pädagogen seiner Zeit, schrieb dann sogar einen gesonderten ausführlichen Aufsatz »Ueber die große Schädlichkeit einer allzufrühen Ausbildung der Kinder«²². An den Beispielen lässt sich erahnen, dass der Medizin im . Jahrhundert eine »kulturelle Autorität«²³ zugeeignet wurde, die sie zuvor noch nicht besessen hatte, sicherlich ein zentraler Aspekt der wissenschaftshistorischen Umwälzungen der Aufklärung. Nicht zuletzt aber auch an der zunehmenden Zahl pädiatrischer Abhandlungen dieser Zeit lässt sich erkennen, wie der Körper des Kindes damals in den Fokus der medizinischen Profession geriet, die auf diesem Wege zu einer wichtigen Deutungsmacht bei allgemeinen Erziehungsfragen wurde.²⁴ Die Pathologie der ›Frühreife‹ kam wahrscheinlich bei jedem berühmten ›Wunderkind‹ früher oder später an der einen oder anderen Stelle öffentlich zur Sprache. Und wo sie es nicht tat, kann man sie wohl als stille Ahnung und Befürchtung vermuten. Zumindest an allen im vorliegenden Buch erwähnten Fällen lässt sich diesem diskursiven Faden folgen, angefangen bei den ›gelehrten Kindern‹ Christian Heinrich Heineken und Jean-Philippe Baratier. Jean-Jacques Rousseau, Emile oder Über die Erziehung, Herausgegeben, eingeleitet und mit Anmerkungen versehen von Martin Rang, Unter Mitarbeit des Herausgebers aus dem Französischen übertragen von Eleonore Sckommodau, Stuttgart , S. –. Ebd., S. . Siehe ebd., S. –. Johann Heinrich Campe, »Ueber die große Schädlichkeit einer allzufrühen Ausbildung der Kinder«, in : Allgemeine Revision des gesammten Schul- und Erziehungswesens (), S. –. Roy Porter, Die Kunst des Heilens. Eine medizinische Geschichte der Menschheit von der Antike bis heute, Aus dem Englischen übersetzt von Jorunn Wissmann, Erfstadt , S. . Siehe Adriana S. Benzaquén, »The Doctor and the Child. Medical Preservation and Management of Children in the Eighteenth Century«, in : Anja Müller (Hg.), Fashioning Childhood in the Eighteenth Century. Age and Identity, Aldershot u. a. (Ashgate Studies in Childhood, to the Present), S. –.
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So schien es beispielsweise schon dem Hauslehrer und späteren Biographen Heinekens, Christian von Schöneich, ein Bedürfnis gewesen zu sein, sich gegen die Unterstellung einer durch seinen Lernzwang herbeigeführten Überanstrengung zu rechtfertigen. Schöneich machte stattdessen den Umstand, dass sich das Kind zeitlebens nur von der Milch seiner Amme ernähren mochte, für dessen schwächliche Konstitution und den frühen Tod verantwortlich.²⁵ Auch François Baratier wehrte sich vorauseilend in seinem Erziehungsbericht gegen den möglichen Vorwurf der schädlichen Geistesbelastung seines Sohnes.²⁶ Im Brief des Biographen Jean Henri Samuel Formey an den Herausgeber David Etienne Choffin, der in einer Neuauflage der Lebensgeschichte des Knaben mit abgedruckt wurde, hieß es dann allerdings verhalten : »Ce n’est pas que j’aie jamais été dans l’idée qu’il faille rien prématurer : ces fruits précoces ont le fort de ceux que les arbres portent, ils font souvent périr la plante même ; ou lorsque la saison des fruits mûrs & savoureux est venue, il se trouve que la sève est épuisée. Je ne sçai s’il faut imputer à cette cause la brieveté de la vie du jeune Baratier.«²⁷
Baratier und Heineken blieben den Zeitgenossen in Verbindung mit der vermeintlichen Gefahr der ›Frühreife‹ noch lange im Gedächtnis. Wie auch bei Rousseau, kann man bei seinem Freund Denis Diderot vermuten, dass er an mindestens einen dieser beiden Fälle dachte, als er am . August an Sophie Volland über ein weiteres ›gelehrtes Kind‹ – vermutlich war Hippolitus St. Paul gemeint – schrieb, das zu dieser Zeit in Frankreich für Aufsehen sorgte : »Je serois désolé que ce prodige m’appartînt. Cela sera à l’âge de quinze ans
Siehe Christian von Schöneich, Merkwürdiges Ehren-Gedächtniß von dem Christlöblichen Leben und Tode des weyland klugen und gelehrten Lübeckischen Kindes, Christian Henrich Heineken […], Hamburg , S. –, –. Siehe [François Baratier], Merckwürdige Nachricht, Von einem sehr frühzeitig Gelehrten Kinde, Nebst vielen zur Kinder-Zucht gehörig-nützlichen Anmerckungen, und einer Vorrede von gelehrten Kindern, Stettin u. a. , S. –. Jean Henri Samuel Formey, La Vie de Mr. Jean Philippe Baratier. Maître ès Arts, & Membre de la Societé Royale des Sciences de Berlin, Nouvelle Edition, Frankfurt u. a. , o. S. »Es ist nicht so, dass ich noch nie daran gedacht hätte, dass man nichts verfrühen lassen sollte : Die frühreifen Früchte sind die stärksten derer, die die Bäume tragen, sie lassen häufig die Pflanze selbst verenden ; oder wenn die Saison der reifen und köstlichen Früchte gekommen ist, passiert es, dass der Saft erschöpft ist. Ich weiß nicht, ob man die kurze Lebensdauer des jungen Baratier auf diese Ursache zurückführen muss.« (Übers. d. Verf.).
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mort ou stupide.«²⁸ Noch Immanuel Kant dienten die zwei Lebensgeschichten aus der ersten Jahrhunderthälfte in seiner Anthropologie in pragmatischer Hinsicht () als Exempel für das notwendige Ende solcher Erscheinungen des Außernatürlichen : »[…] aber ein früh-kluges Wunderkind (ingenium praecox) wie in Lübeck H e i n e c k e oder in Halle B a r a t i e r von ephemerischer Existenz sind Abschweifungen der Natur von ihrer Regel, Raritäten fürs Naturalienkabinett, und lassen ihre überfrühe Zeitigung zwar bewundern, aber oft auch von denen die sie beförderten, im Grunde bereuen.«²⁹
Kant griff dabei auf ein aus der Naturgeschichte altbekanntes Prinzip zurück, für das auch antike Autoritäten herangezogen werden konnten. So ist etwa in der Naturalis Historia von Plinius aus dem ersten nachchristlichen Jahrhundert – zu jener Zeit neu aufgelegt – über die Natur zu lesen : »Blumen aber und wohlriechende, gebiehret sie auf eines Tages Dauer. Wobey ; wie klar ist ; eine starke Warnung für die Menschen liegt, daß dasjenige, welches am ansehnlisten pranget, am geschwindesten verfalle.«³⁰
Pflanzenmetaphern und -vergleiche gehörten zum festen Inventar des pädagogischen Diskurses seit der Aufklärung. Immer wieder war die Rede von ›Treibhauspflanzen‹, von ›Pilzzucht‹ und ähnlichen Sprachbildern, um im erzieherischen Zusammenhang der ›Frühreife‹ das Vergehen an der Natur zu unterstreichen. Samuel Auguste Tissot, einer der angesehensten Mediziner der Aufklärung, war mit solchen Fällen wie Heineken oder Baratier selbstverständlich ebenso vertraut. In seiner Abhandlung Von der Gesundheit der Gelehrten () riet er
Zitiert nach Denis Diderot, Correspondance, Bd. , hg. von Georges Roth, Paris , S. . »Ich wäre untröstlich, wenn dieses Wunder mir gehörte. Jenes wird mit fünf Jahren tot oder stumpfsinnig sein.« (Übers. d. Verf.) Zu Rousseaus wahrscheinlicher Auseinandersetzung mit dem Fall Baratier, siehe Michèle Sacquin, »L’automne des prodiges à la fin des Lumières«, in : Revue de la bibliothèque nationale (), S. . Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, hg. von Reinhard Brandt, Hamburg (= Philosophische Bibliothek ), S. . [Gaius] Plinius [Secundus], Naturgeschichte, Uebersetzt von Johann Daniel Denso, Bd. , Rostock u. a. , S. .
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eindringlich zur Mäßigung der Wissbegierde mancher Zöglinge, wobei ihm der berühmte Schwabacher Knabe als Warnhinweis galt : »Wenn das Wachsthum des Geistes allzu schnelle ist, wenn die Talente sich frühzeitig entwickeln, und man einen dieser Entwickelung proportionirten Fleiß erlaubt, so empfängt der Leib gar keinen Wachsthum, weil die Nerven nichts zur Nahrung beytragen ; man verfällt in Schwindsucht und stirbt bald hernach an den grausamsten Krankheiten, wie man ein merkwürdiges Beyspiel davon an dem jungen Ph. B a r a t i e r gesehen […]«³¹.
Eine übermäßige Einwirkung auf den Geist, so Tissot, habe nicht nur unmittelbar Auswirkungen auf Gehirnmark und Nervensystem, sondern letztendlich auf die gesamte diffizil organisierte Körpermaschine und sie stifte darin eine Unordnung, die eine Reihe verschiedener Krankheiten nach sich ziehen könne.³² Das Kernproblem war für Tissot die Verschwendung und mangelnde Regeneration der durch die Nervenbahnen fließenden, für die Vermittlung zwischen Körper und Seele so wichtigen Lebensgeister (spiritus animales) : »Das Nachdenken, indem es die Nerven in einem Zustand von anhaltender Würkung hält, verbraucht allzuviel von diesen Lebensgeistern, und verhindert das Gehirn an ihrer Zubereitung, […].«³³ Tissot knüpfte mit seiner Abhandlung an eine bis in die griechische Antike zurückreichende Tradition der Pathologisierung des Gelehrten beziehungsweise Genies an. Dabei machte sich diese Vorstellung auch im . Jahrhundert noch immer meist an der sogenannten Melancholie fest, auch wenn sich die humoralpathologische Erklärung eines Übermaßes an schwarzer Galle nun allmählich verlor und der mental-körperliche Zustand nun eher als eine Kehrseite der Empfindsamkeit in Erscheinung trat.³⁴ Mit seiner Lehrmeinung über die verheerenden Folgen einer geistigen S[amuel] A[uguste] D[avid] Tissot, Von der Gesundheit der Gelehrten, Aus dem Französischen übersetzt von Joh. Rud. Füeßlin, Zürich : Füeßlin und Compagnie , S. . Siehe ebd., S. . Ebd., S. . Tissot ging hier im Prinzip noch von einer cartesischen Trennung des materiellen Körpers (res extensa) von der immateriellen Seele (res cogitans) sowie von Wechselwirkungen zwischen diesen beiden unterschiedlichen Substanzen aus. Siehe insbes. ebd., S. –. Eine gute historische Einführung zur Melancholie sowie ihrer Verbindung zum Genie bietet Jennifer Radden, »Introduction. From Melancholic States to Clinical Depression«, in : Jennifer Radden (Hg.), The Nature of Melancholy. From Aristotle to Kristeva, New York u. a. , S. –. Zur Diskussion des musikalischen Genies am Beispiel Beethovens, vgl. Melanie Wald-Fuhrmann, »Ein Mittel wider sich selbst«. Melancholie in der Instrumentalmusik um , Kassel , S. –.
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Überanstrengung des Kindes stand Tissot unter den Fachgrößen seiner Zeit jedenfalls nicht alleine dar. Weitere prominente Beispiele stellen etwa der an der Leipziger Universität lehrende Physiologe und Philosoph Ernst Platner oder auch Melchior Adam Weikard, Medizinprofessor der Fuldaer Universität und zeitweiliger Leibarzt diverser europäischer Herrscherinnen und Herrscher, dar.³⁵ Im »XVI. Discours« vom . Oktober der Zeitschrift Aristide ou le Citoyen hat Tissot bekanntermaßen den Knaben Wolfgang Mozart zum Gegenstand seiner Überlegungen gemacht. Es lag in diesem Zusammenhang ebenso nahe, auf die Gefahren der ›Frühreife‹ hinzuweisen : »L’on peut prédire, avec confiance, qu’il sera un jour un des plus grands maîtres dans son art ; mais n’a-t’on pas à craindre, que dévelopé si jeune, il ne vieilisse de très bonne heure ? Il n’est que trop vrai que les enfans précoces ont souvent été usés à la fleur de l’âge ; des fibres trop travaillées, deviennent calleuses & incapables de fonctionner davantage ; mais l’expérience a aussi fait voir quelquefois, que les hommes nés avec un talent particulier pour quelqu’un des beaux arts, se sont soutenus très long-tems ; l’organisation faite pour ce talent joue avec une si grande facilité, qu’elle ne s’use presque point par l’exercise, & l’on voit que le travail ne fatigue point le jeune Mozard.«³⁶
Der Schweizer Arzt spekulierte also darüber, dass sich manche Talente gerade dadurch auszeichneten, dass sie ihre Lebenskräfte von Natur aus eher schonten, doch stellte das den Grundsatz selbst nicht in Frage und schien bei seinen Zeit-
Siehe Ernst Platner, Anthropologie für Aerzte und Weltweise, Erster Theil, Leipzig , S. ; Melchior Adam Weikard, Der philosophische Arzt, Bd. , neue durchaus vermehrte und verbesserte Auflage, Frankfurt a. M. , S. . [Samuel Auguste Tissot], »XVI. Discours«, in : Aristide ou le Citoyen (), S. . »Man kann mit Zuversicht voraussagen, daß er eines Tages einer der größten Meister in seiner Kunst sein wird : aber muß man nicht fürchten, daß er, so früh entwickelt, sehr früh altern wird ? Es ist nur zu wahr, daß die frühreifen Kinder oft in der Blüte ihres Alters verbraucht sind : zu stark angestrengte Nervenfasern werden schwielig und unfähig, weiter zu arbeiten. Aber die Erfahrung hat auch zuweilen gezeigt, daß die mit einer besonderen Begabung für eine der schönen Künste geborenen Menschen sich sehr lange gesund erhalten haben : die für diese Begabung geeignete Organisation spielt mit solcher Leichtigkeit, daß sie sich durch die Übung fast gar nicht abnutzt. Und man sieht, daß die Arbeit den jungen Mozart nicht ermüdet.« Übers. von Albert Leitzmann (), zitiert nach Otto E. Deutsch und Joseph H. Eibl (Hgg.), Mozart. Dokumente seines Lebens, . Aufl., München u. a. , S. .
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genossen ohnehin keinen Widerhall zu finden.³⁷ Als der englische Diplomat Joseph Yorke in einem Brief an seinen Bruder aus Den Haag vom . Oktober hingegen den jungen Mozart erwähnte, den er gerne in seinen Salon einladen wollte, merkte er an : »[…] he is really a most extraordinary effort of Nature, but our Professors in Physick don’t think he will be long lived.«³⁸ Auch Friedrich Melchior von Grimm sah sich in seinem Bericht über die Pariser Auftritte der Geschwister Mozart für die Correspondance littéraire mit diesem Problem konfrontiert. In der Ausgabe vom . Juli schrieb er daher : »Il rassure même par sa gaieté contre la crainte qu’on a qu’un fruit si précoce ne tombe avant sa maturité.«³⁹ Und bereits das als Einblattdruck vervielfältigte Lobgedicht auf Wolfgang Mozart anlässlich des Konzertes am . Oktober im Palais des Grafen Thomas Vinciguerra Collalto in Wien (das vermutlich Konrad Freiherr von Pufendorf zuzuschreiben ist), enthielt den abschließenden Wunsch, dass dieser Musiker »nicht, wie Lübecks-Kind, zu früh zu Grabe geh.«⁴⁰ Daines Barrington verwies wiederum auf Baratier, als er formulierte : »[…] as it may be hoped that little Mozart may possibly attain to the same advanced years as Handel, contrary to the common observation that such ingenia præcocia are generally short lived.«⁴¹ Bei William Crotch hielt sich Barrington dahingehend bedeckt. Dafür aber stellte Charles Burney in seinem Aufsatz für die Philosophical Transactions den Topos der Erschöpfung zur Diskussion und mutmaßte über die Entwicklung des Kindes : »Into what the present prodigy may mature is not easy to predict ; we more frequently hear of trees in blossom during the winter months than of fruits in consequence of such unseasonable
Vielleicht hätte Tissot auch anders geurteilt, hätte er von den allnächtlichen Obsessionen des Kindes gewusst, wie sie die frühe Mozartbiographik schilderte, denn eine Geistesbetätigung in der Nacht hielt er für besonders schädlich. Siehe S[amuel] A[uguste] D[avid] Tissot, Von der Gesundheit der Gelehrten, S. –. Zitiert nach Cliff Eisen (Hg.), Mozart. Die Dokumente seines Lebens. Addenda. Neue Folge, Kassel (= Wolfgang Amadeus Mozart. Neue Ausgabe sämtlicher Werke X/, ), S. . Friedrich M. Grimm u. a., Correspondance littéraire, philosophique et critique, Bd. , hg. von Maurice Tourneux, Paris , S. . »Er beruhigt durch seine Fröhlichkeit selbst gegen die Befürchtung, die man hat, dass eine so frühe Frucht vor ihrer Reife falle.« (Übers. d. Verf.). Zitiert nach Otto E. Deutsch (Hg.), Mozart. Die Dokumente seines Lebens, Kassel (= Wolfgang Amadeus Mozart. Neue Ausgabe sämtlicher Werke X/), S. . Danies Barrington, »Account of a very remarkable young Musician«, in : Philosophical Transactions (), S. . Vgl. Rachel Cowgill, »›Proofs of Genius‹ : Wolfgang Amadeus Mozart and the construction of musical prodigies in early Georgian London«, in : Gary E. McPherson (Hg.), Musical Prodigies. Interpretations from Psychology, Education, Musicology, and Ethnomusicology, Oxford u. a. , S. –.
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appearances.«⁴² Gleichfalls zeigte sich Georg Christoph Lichtenberg besorgt um die Zukunft des jungen Engländers. Eindringlich appellierte er an pädagogische Pflichten und merkte an, »daß die Eltern dieses Knaben, aus Begierde sich die Jugend desselben so viel als möglich einträglich zu machen, seinen eignen Vortheil gänzlich aus der Acht lassen sollen. Er wird verdorben […].«⁴³ Ein paar Jahre später hieß es dann in einer Zeitungsnachricht über ein Musikfestival in Winchester, in der das Schicksal Crotchs mit dem Giovanni Battista Pergolesis verglichen wurde : »He was in his day as extraordinary an instance of early musical genius, as Master William Crotch is in our time, and like him also is said to have possessed in other matters a quickness of apprehension and a taste far beyond his years. There is a fatal coincidence too frequently found in the history of premature and uncommon genius, which it is to be hoped will not befall our little countryman !«⁴⁴
Was früh reift, müsse eben früh fallen – zur Illustration dieses Gemeinplatzes sollte Crotch im Übrigen auch dann noch dienen, als seine Karriere als Kindervirtuose längst der Vergangenheit angehörte und er sich trotzdem noch immer bester Gesundheit erfreute : »[…] / Neither too backward kept, that it be ripe / Before the Autumn’s blight, or Winter’s gripe, / Nor brought too forward, lest it come too soon, / Flow’r of an hour, to perish e’er life’s noon. / Nature throughout this principle is true, / What is unfeas’nable’s imperfect too ; / An equal Monster will the world deplore, / After its time which comes, or comes before. / ›Soon come, soon gone,‹ in both’s maxim known, / The longer blowing are the longer blown : / A Mushroom Scholar may be a surprize ; / But early learners seldom late are wise. / Crotch, when an Infant, play’d a tune at will, / Now a Professor grown, he plays but ill. / […]«⁴⁵
Charles Burney, »Account of an Infant Musician«, in : Philosophical Transactions (), S. . Georg Christoph Lichtenberg, »Protocoll des Sekretärs der Königl. Societät der Wissenschaften zu London, über Dr. Burneys Bericht von William Crotch dem musikalischen Kinde«, in : Göttingisches Magazin der Wissenschaften und Litteratur /Nr. (), S. . The Reading Mercury and Oxford Gazette vom . Oktober (Nr. ), o. S. Pergolesi, so hieß es hier, sei nur Jahre alt geworden. Tatsächlich aber starb er mit Jahren. [Edmund Poulter], Ethic Epistles to the Earl of Carnarvon, on the Mind and its Operations […], London , S. .
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Die Pathologie der ›Frühreife‹ behielt also auch dann noch Recht, wenn sich der Verfall der Geisteskräfte, wenn schon nicht in erkennbaren Krankheitssymptomen, doch zumindest in mangelnder künstlerischer Leistung zu äußern schien. Eine ähnliche Einschätzung gab schon eine Notiz des Morning Chronicle ab und stellte Crotch dabei in eine Reihe mit den Brüdern Wesley, den Geschwistern Mozart und Thomas Linley : »Young Crotch, a yet greater phenomenon in musick, is also not progressive ! In the department of musick, more than any where else, nature seems fond of sporting early prodigies ! but she cannot hold it – E.G. the Mozarts, the Thomasino, the instances above-mentioned, etc. etc. etc.«⁴⁶
Ein erstes Gerücht über den Tod des Master Crotch verbreitete sich übrigens bereits .⁴⁷ Zwei Jahre später, während einer längeren Abwesenheit der Familie aus London, gab die englische Presse allerorts erneut das Ableben des Kindes bekannt, eine Meldung, die schon kurze Zeit später wieder zurückgenommen werden musste, als man von seinem Aufenthalt in Schottland erfuhr.⁴⁸ Prinzipiell nicht anders als Mozart, Crotch oder Rudkin erging es auch Hippolyte Larsonneur. So zählte die ›Frühreife‹ zu den ersten Gedanken, die Georg Ludwig Peter Sievers in den Sinn kamen, nachdem er von den erstaunlichen Fähigkeiten des jungen Violinvirtuosen gehört hatte :
The Morning Chronicle, and London Advertiser vom . Februar (Nr. ), o. S. Siehe etwa The Norfolk Chronicle : or, Norwich Gazette vom . März (Nr. ), o. S. Siehe auch die Richtigstellung durch Isabella Crotch in : The Morning Post, and Daily Advertiser, . März (Nr. ), o. S. Siehe The St. James’s Chronicle ; Or, British Evening-Post vom . Dezember (Nr. ), o. S.; The Morning Herald, and Daily Advertiser vom . Dezember (Nr. ), o. S., The Newcastle Courant vom . Dezember (Nr. ), o. S.; The Norfolk Chronicle : or, The Norwich Gazette vom . Dezember (Nr. ), o. S.; The Northampton Mercury vom . Dezember (Nr. ), o. S.; The Gentleman’s Magazine, and Historical Chronicle /o. Nr. (Dezember ), S. ; The Leeds Intelligencer vom . Januar (Nr. ), o. S.; The Newcastle Chronicle. Or, Weekly Advertiser, and Register of News, Commerce & Entertainment vom . Januar (Nr. ), o. S. Das Gerücht wurde wohl bereits im Juli gestreut und hatte wahrscheinlich eine Krankheit oder einen Unfall des Kindes zur Grundlage. Siehe Jonathan Rennert, William Crotch (–). Composer, Artist, Teacher, Lavenham , S. . Die Revidierung erfolgte zunächst in The Caledonian Mercury vom . Januar (Nr. ), o. S., dann etwa in The Whitehall Evening-Post vom .–. Januar (Nr. ), o. S., The Newcastle Chronicle. Or, Weekly Advertiser, and Register of News, Commerce & Entertainment vom . Januar (Nr. ), o. S. und anderen englischen Zeitungen.
| Das unvermeidliche Ende des Frühgereiften ? »Man spricht von einem Knaben, Larsonneur mit Namen, der kaum sieben bis neun Jahre alt, bereits von ungemeiner Stärke auf der Geige seyn soll. Er wird sich nächstens öffentlich hören lassen. Zu welchen sonderbaren Schlussfolgerungen giebt die Bemerkung Veranlassung, dass wir auf einer so gewaltsamen Höhe von Kunstbildung oder vielmehr von Kunstschwelgerey stehen, dass alle Natur umgekehrt zu seyn, dass besonders der Baum der musikal. Erkenntnis vor der Zeit Früchte zu tragen scheint ! Wo will das hinaus ? Etwa wieder herab ?«⁴⁹
Ausgesprochen wurde diese Sorge auch in der französischen Zeitung Le Campvolant, die Ende des Jahres aus Gent berichtete : »On partage ici l’admiration que le jeune Hippolyte Larsonneur a excitée dans tous les pays qu’il a parcourus. Cet enfant est musicien-né. Son adresse, sa facilité sont extrêmes. Il est fâcheux qu’on n’en puisse rien conclure pour l’avenir. L’expérience a prouvé trop souvent que ces prodiges finissaient aussi mal qu’ils avaient bien commencé. Tout leur avantage se réduisait à avoir atteint plutôt que d’autres, les bornes que la nature a prescrites au talent de chaque individu. On peut espérer que le jeune Larsonneur n’ajoutera rien à de pareils exemples ; et c’est déjà beaucoup pour lui d’en faire naître le doute.«⁵⁰
Pierre Baillot, der Zeitgenosse Larsonneurs und bekennende Rousseauist, verurteilte nicht nur eine erzwungene Übung am Instrument, sondern riet selbst bei natürlicher musikalischer Veranlagung zur Zügelung der Musikschüler : »Ainsi, loin de hâter les prògres des enfans doués d’une intelligence extraordinaire, on doit plutôt s’appliquer à les rallentir, autrement, c’est fatiguer leur organes aux dépens de leur constitution, et se presser d’en faire des hommes, c’est s’exposer à en faire de vieux enfans.«⁵¹ Georg Ludwig Peter Sievers, »Musikalisches Allerley aus Paris vom Monate Juny«, in : Allgemeine musikalische Zeitung /Nr. (. August ), Sp. –. Le Camp-volant, journal des spectacles de tous les pays vom . Dezember (Nr. ), S. . »Man teilt hier die Bewunderung, die der junge Hippolyte Larsonneur in allen Ländern erregt hat, die er bereist hat. Dieses Kind ist der geborene Musiker. Sein Geschick, sein Talent sind außerordentlich. Es ist bedauerlich, dass man dabei nichts für die Zukunft ableiten kann. Die Erfahrung hat zu oft bewiesen, dass diese Wunder genauso schlecht endeten, wie sie gut begonnen hatten. Ihr ganzer Nutzen beschränkte sich darauf, eher als andere die Grenzen, die die Natur dem Talent jedes Einzelnen vorgeschrieben hat, erreicht zu haben. Man kann hoffen, dass der junge Larsonneur zu solchen Beispielen nichts hinzufügen wird ; es ist schon genug, dass er den Zweifel erweckt.« (Übers. d. Verf.). Pierre Baillot, L’art du violon. Nouvelle Méthode, Traduction allemande par J. D. Anton, Mainz
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Die pädiatrischen und pädagogischen Warnungen gingen schließlich mit dem zeitgenössischen Virtuositätsdiskurs – der weitgehend ein Diskurs gegen die Virtuosität war – eine produktive Verbindung ein. Dem ästhetischen Phänomen beziehungsweise seiner gesellschaftlichen Erscheinung, sprich dem Virtuosentum von Salonkultur und Bühnenwesen, wurde zwar im . Jahrhundert schon kritisch begegnet, die Situation verschärfte sich aber deutlich in der Friedensära nach den Napoleonischen Kriegen, in der das urbane Musikleben mit international reisenden Virtuosen in Europa erst so richtig aufblühte. Die Anfeindungen richteten sich dabei gegen die angebliche Scharlatanerie und Effekthascherei, die Gefühl- und Seelenlosigkeit der Virtuosen, die sich häufig mit Anspielungen auf Automaten – das unheimliche Simulacrum des homme machine – rüsteten, sowie gegen eine mit ihren Auftritten verbundene modische Vergänglichkeit, schwelgerischen Luxus, Egozentrik und Zügellosigkeit. All dem wurden Ideale wie wahrer Ausdruck, poetische Innerlichkeit und das autonome Kunstwerk mit seiner asketischen, am Bildungsgedanken orientierten Rezeptionsästhetik gegenübergestellt.⁵² Virtuosenkritik war damit meist tiefgreifende Kulturkritik, die ganze Angelegenheit in hohem Maße moralisch aufgeladen und jedes medizinische Argument willkommen. Dass immer wieder einzelne ›wahre Virtuosen‹ vom generellen Übel des Virtuosen-
u. a. [], S. . »Mithin anstatt die Forschritte der, mit ausserordentlichen Fähigkeiten begabten Kinder zu beschleunigen, muss man vielmehr bemüht sein sie zu mässigen, sonst würde man ihre Empfindungsfähigkeit auf Kosten ihrer körperlichen Ausbildung anstrengen, und sich beeilen wollen, Männer aus ihnen zu bilden, würde man sich dabei vielmehr der Gefahr aussetzen, alte Kinder aus ihnen zu erziehen.« (Übers. ebd.). Vgl. zur zeitgenössischen Virtuositätskritik Žarko Cvejić, The Virtuoso as Subject : The Reception of Instrumental Virtuosity, c. –c. , Newcastle upon Tyne ; Dana Gooley, »The Battle Against Instrumental Virtuosity in the Early Nineteenth Century«, in : Christopher H. Gibbs und Dana Gooley (Hgg.), Franz Liszt and His World, Princeton u. a. , S. – ; Sven O. Müller, Das Publikum macht die Musik. Musikleben in Berlin, London und Wien im . Jahrhundert, Göttingen u. a. , S. – ; Gillen D’Arcy Wood, Romanticism and Music Culture in Britain, –. Virtue and Virtuosity, Cambridge u. a. (Cambridge Studies in Romanticism) ; Susan Bernstein, Virtuosity of the Nineteenth Century. Performing Music and Language in Heine, Liszt, and Baudelaire, Stanford ; Erich Reimer, »Die Polemik gegen das Virtuosenkonzert im . Jahrhundert. Zur Vorgeschichte einer Gattung der Trivialmusik«, in : Archiv für Musikwissenschaft /Nr. (), S. – ; Eva M. Hanke, Ferdinand Hiller und das virtuose Klavierkonzert in der Mitte des . Jahrhunderts, Kassel (= Beiträge zur rheinischen Musikgeschichte ), S. – ; Cécile Reynaud, »Présentation – Misère et accomplissement de l’art dans la virtuosité romantique«, in : Romantisme. Revue du dix-neuvième siècle () (= La virtuosité), S. –.
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tums ausgenommen wurden,⁵³ ähnlich wie man auch einzelne Kindervirtuosen als ›wahre Wunderkinder‹ in Schutz nahm, bedeutete am Ende nur – da sie meist ausdrücklich als Ausnahmen gekennzeichnet waren – dass mit ihnen die scheinbare Regel bestätigt wurde. Eine wichtige, wenn nicht sogar die wichtigste Plattform dieses Diskurses stellten musikalische Fachzeitschriften dar. Der medizinische Lehrsatz über die ›Frühreife‹ nahm darin eine zentrale Stellung ein und war ein allgegenwärtiger Topos. So war sich seiner unter anderem William Ayrton, der Herausgeber des Londoner Organs The Harmonicon, sicher : »[…] for how commonly are such genuises either cut off by the preternatural action of the mind, or mentally exhausted at an age when the intellects of ordinary persons are beginning to arrive at their full strength !«⁵⁴
In Frankreich ließ Henri Blanchard, in seiner Funktion als Redakteur der Pariser Revue et Gazette musicale, nicht nur in einem Artikel verlautbaren, »[…] les enfants d’une célébrité précoce s’étiolent et meurent physiquement, comme moralement, si l’on ne sait pas tenir leur intelligence, leurs facultés hâtives en bride […].«⁵⁵ Und auch Gustav Heuser, ein reger Mitarbeiter an Robert Schumanns Neue Zeitschrift für Musik, wusste zu referieren :
Vgl. Erich Reimer, »Der Begriff des wahren Virtuosen in der Musikästhetik des späten . und frühen . Jahrhunderts«, in : Basler Jahrbuch für historische Musikpraxis () (= Virtuosität und Wirkung in der Musik), S. –. Zur Kontinuität dieses apologetischen Argumentationsmusters in der gegenwärtigen Musikwissenschaft siehe Jonas Traudes, »Virtuosität im Werkparadigma : eine Diskurskritik«, in : ANKLAENGE. Wiener Jahrbuch für Musikwissenschaft o. Jg. () (= Virtuosität), S. –. [William Ayrton], »Extracts from the diary of a dilettante«, in : The Harmonicon /Nr. (August ), S. . Siehe zu Ayrtons Autorschaft der Rubrik, Eric Johnson-Hill, »Miscellany and Collegiality in the British Periodical Press : The ›Harmonicon‹ (–)«, in : Nineteenth-Century Music Review (), S. –. Henri Blanchard, »Merveilles musicales«, in : Revue et Gazette musicale de Paris, Journal des Artistes, des Amateurs et des Théâtres /Nr. (. Mai ), S. . »[…] dass die Kinder von frühreifer Berühmtheit verkümmern und körperlich wie seelisch verenden, wenn man ihre Klugheit, ihre voreiligen Fähigkeiten, nicht im Zaum zu halten weiß […].« (Übers. d. Verf.) Ähnlich formuliert etwa auch : ders., »Matinées et soirées musicales«, in : Revue et Gazette musicale de Paris, Journal des Artistes, des Amateurs et des Théâtres /Nr. (. April ), S. ; aber auch schon : François-Joseph Fétis, »De l’organisation musicale des individus«, in : Revue musicale /Nr. (. Juni ), S. .
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»Nach einem bekannten psychologischen Erfahrungssatze führt eine voreilige, unzeitige, gewaltsame Entwickelung des Geistes anfangs zu glänzenden Fortschritten, dann zur Abstumpfung der geistigen Kräfte und endlich zu gänzlichem Stillstand.«⁵⁶
Abgesehen von den zahllosen Randbemerkungen und Botschaften zwischen den Zeilen in der täglichen Berichterstattung über das Musikleben, widmete man sich der Thematik der ›Wunderkinder‹ in der musikalischen Presse auch in separaten Aufsätzen, Pamphleten oder Satiren.⁵⁷ Das Problem geistiger ›Frühreife‹ war dabei nur ein Element ; der moralische Pranger, an den Eitelkeit, Habgier und Ruhmsucht von Eltern solcher Kinder sowie die blanke Sensationslust des Publikums gestellt wurden, ein anderes. Dass bei der teilweise drastischen Schilderung einer angeblich grassierenden Mode das Auftreten professioneller Kindervirtuosen mit dem Ehrgeiz in wohlhabenden Familien vermengt wurde, in denen die Musik grundsätzlich zur allgemeinen Erziehung ihrer Zöglinge gehörte, trug nur noch mehr zur erzielten Wirkung bei. Solche Beiträge breiteten vor ihrer Leserschaft häufig regelrechte Gesellschaftsdiagnosen über ein pathologisches Massenphänomen aus. Seine Pionierfunktion bekleidete auch in diesem Zusammenhang gewissermaßen die bereits seit erscheinende Leipziger Allgemeine musikalische Zeitung. In einer Ausgabe von legte sie ihrem Publikum in Form eines Tagebuchauszugs »eines praktischen Musikers« die herzzerreißende Geschichte über Nicolas Zygmontowsky vor : Gustav Heuser, »Das moderne Pianoforte. (Fortsetzung.)«, in : Neue Zeitschrift für Musik / Nr. (. Dezember ), S. . Siehe etwa auch [Humanus], »Etwas über musikalische Wunderkinder«, in : Berliner allgemeine musikalische Zeitung /Nr. (. Juli ), S. – ; Humanus, »Weitere Nachricht von dem Aufsatze : über Wunderkinder«, in : Berliner allgemeine musikalische Zeitung /Nr. (. August ), S. – ; Euseb. [= Robert Schumann], »Theodor Stein«, in : Neue Zeitschrift für Musik /Nr. (. April ), S. ; Carl Gollmick, »Das heutige Virtuosenwesen«, in : Neue Zeitschrift für Musik /Nr. (. Dezember ), S. – ; C. Kossak, »Eltern junger Virtuosen«, in : Signale für die Musikalische Welt /Nr. (. August ), S. – ; [Anon.], »Musikalische Daguerrotypen. II.«, in : Allgemeine Wiener Musik-Zeitung /Nr. (. Juli ), S. – ; Franz Gernerth, »Musikalische Genre-Bilder. Nach dem Leben gezeichnet«, in : Wiener allgemeine Musik-Zeitung /Nr. (. Juni ), S. – ; L. A. Zellner, »Wunderkinder«, in : Blätter für Musik, Theater und Kunst /Nr. (. Januar ), S. – ; [Anon.], »Des petites Virtuoses et de la musique facile«, in : Le Ménestrel. Journal de Musique /Nr. (. Dezember ), o. S.; [Anon.], »Les Enfans précoces«, in : Le Ménestrel. Journal de Musique et de Littérature /Nr. (. April ), o. S.; M. S., »Concert donné par un enfant de trois mois«, in : Revue et Gazette musicale /Nr. (. Januar ), S. –.
| Das unvermeidliche Ende des Frühgereiften ? »Es giebt für mich kaum einen traurigern Anblick, als die Virtuosen in f r ü h e n Kinderjahren, die man, wie Paviane und Meerkatzen, zur Schau umherführt und die – mit so wenigen Ausnahmen, dass sie kaum in Betrachtung kommen – traurige Schlachtopfer der Eitelkeit, Habsucht u. s. w. werden ! Die erstaunenswürdigste von allen solchen Wunderpuppen, die mir vorgekommen sind, war der kleine Sigmuntovsky. Als ein Kind v o n v i e r J a h r e n spielte er schon auf der Violin, und noch besser auf der Viola, die ihm eingelernten Stücke wahrhaft meisterlich. Man setzte das blasse, schwächliche Kind gewöhnlich auf einen Tisch, damit mans nur sahe [sic]. Es nahm nun seine Geige, wie ein Violoncell zwischen die Kniee, und nur über dem Spiel blühete es ein wenig auf und die Augen bekamen Leben. Gewöhnlich jauchzten alle Anwesenden vor Entzücken, und mir that es in der Seele wehe : denn ich wusste, dass der Vater das Kind erzog und behandelte, wie kaum der roheste Kosak seinen Hund. Nicht unwiderstehlicher Trieb, wie er sagte, sondern Hunger und Prügel hatten den grössten Antheil an dieser frühen Entwickelung ungemeiner Talente. Wollte der Kleine nicht alle Tage gleich früh stundenlang und immer die nämlichen Stücke spielen : so bekam er den ganzen Tag nichts als Wasser und Schläge. Was war die Folge ? Dass sein Körper sich nicht entwickelte und er an steter Nervenschwäche litt, war noch die geringste ! aber noch in frühen Knabenjahren fanden sich in ihm so widernatürliche, unbezähmbare Triebe aller Art, dass er als ein Knabe von eilf Jahren schon starb, und zwar – man darf sagen, nicht blos abwelkte, sondern lebendig verwesete. Ein Publikum, das menschlich fühlt, sollte darum, dachte ich, wenn ihm s e h r junge Virtuosen vorgeführt werden, nicht zulaufen, sondern fliehen. Gewönnen die Triebhausgärtner nichts, so würden sie die Pflänzchen nicht so gewaltsam erhitzen ; und wäre unter den Kleinen auch wirklich einer und der andere, mit welchem die Natur eine gänzliche Ausnahme von ihrer Regel machte : so ginge damit nichts verloren, sondern er bildete sich ohne Ueberreizung wenigstens einigermaassen dem Gange der Natur gemäss, und würde nicht hingeopfert.«⁵⁸
Das war ein empfindsamer Appell par excellence. An den weitgehend gleichlautenden Formulierungen ersichtlich, lag dem Verfasser ein Buch des Wiener Arztes und musikalischen Dilettanten Amand Wilhelm Smith vor,⁵⁹ doch übertraf er dessen vergleichsweise hölzernen Stil in Sachen sentimentaler Rhetorik. Smiths Philosophische Fragmente über die praktische Musik (), genauer gesagt das Kapitel »Von jungen, unzeitigen Virtuosen«, enthielt eine [Anon.], »Bemerkungen aus dem Tagebuche eines praktischen Musikers«, in : Allgemeine musikalische Zeitung /Nr. (. März ), Sp. –. Siehe auch Ingrid Fuchs, »›Bewundrungswerthes Kind ! deß Fertigkeit man preißt …‹«, S. .
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Erzählung über das harte Los des polnischen Cellisten Zygmontowsky, der Ende der er Jahre als Kind mit seinem Vater durch Europa gereist war.⁶⁰ Es stellte wahrscheinlich die erste ausführliche biographische Darstellung zu Zygmontowsky überhaupt dar. Für den frühzeitigen Tod des Kindervirtuosen machte der fachkundige Autor seine grausame Dressur auf Kosten der inneren Ordnung der Körpermaschine mit ihren Säften und Kräften verantwortlich und folgte darin treu den Grundregeln der aufgeklärten Diätetik. Generell war auch er der Ansicht, wenn sich musikalisches Genie in der Kindheit abzeichne, dass man dieses nicht noch zusätzlich bestärken und befördern, sondern besser den »Trieb mäßigen«⁶¹ solle. Es ist interessant, dass Smiths Publikation bei Literaturkritikern insgesamt äußerst schlecht wegkam, mit Ausnahme der Zygmontowsky-Anekdote, die ein Rezensent der Allgemeinen Literatur-Zeitung beispielsweise als »das Einzige, was wir lobenswerth finden«⁶², heraushob. Zygmontowsky lieferte, nach den ›gelehrten Kindern‹ Baratier und Heineken, ein eindrückliches und scheinbar kaum widerlegbares Exempel für die Pathologie der ›Frühreife‹ und blieb dergestalt noch im . Jahrhundert berüchtigt. Niccolò Paganini etwa verglich später seine eigene Ausbildung mit der des polnischen Knaben, zumindest einer persönlichen Mitteilung an den Schriftsteller Julius Max Schottky nach, wie sie dieser in seiner veröffentlichten Biographie über den Violinvirtuosen wiedergegeben hat.⁶³ Die entsprechende Passage aus der Allgemeinen musikalischen Zeitung wurde auch hier noch einmal zitiert. Bereits für Smiths Schilderung aber existierten mögliche literarische Vorbilder. So hat der Schriftsteller Johann Friedrich Reichardt (der nebenbei auch das Amt des preußischen Hofkapellmeisters ausfüllte) anonym ein satirisches Romanfragment veröffentlicht, das die groteske Erzählung über den Kindervirtuosen Heinrich Wilhelm Gulden enthielt, der von seinem Vater, ei Siehe [Amand Wilhelm Smith], Philosophische Fragmente über die praktische Musik, Wien , S. –. Zur Identifizierung des Autors siehe Ingrid Fuchs, »Die ›philosophischen Fragmente über die praktische Musik‹ () des A[mand] W[ilhelm] S[mith]«, in : Studien zur Musikwissenschaft (), S. –. [Amand Wilhelm Smith], Philosophische Fragmente über die praktische Musik, S. . [Anon.], »Wien, gedruckt in der k. k. Taubstummeninstituts-Buchdr.: ›Amand Wilhelm Smiths philosophische Fragmente über die praktische Musik.‹ Auf Kosten des Vf. . S. . ( gr.)«, in : Allgemeine Literatur-Zeitung []/Nr. (. Januar ), Sp. . Ähnlich auch in : [Anon.], » F o r t s e z u n g [sic] der in Wien erschienenen Philosophischen Fragmente über die praktische Musik«, in : Musikalische Real-Zeitung []/Nr. (. Dezember ), Sp. –. Siehe Julius Max Schottky, Paganini’s Leben und Treiben als Künstler und als Mensch ; mit unpartheiischer Berücksichtigung der Meinungen seiner Anhänger und Gegner, Prag , S. .
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nem ungehobelten und gewinnsüchtigen Biermusikanten, auf Reisen geschickt wird. Dabei wurden auch am Beispiel des Protagonisten Gulden gesundheitliche Gefahren angesprochen : »Diesem lieblichen Gesichte fehlte nichts als die feine Mischung von weiß und roth bey gesunden Kindern, denn sein Blut war durch die unordentliche Lebensart zu dick, stets zu sehr in Wallung, und färbte das Gesicht des Knaben unnatürlich roth. Auch fehlte ihm aus eben dem Grunde die Zierde der weißen Zähne.«⁶⁴
Reichardt, merklich von Aufklärungsideen und Empfindsamkeit beeinflusst, folgte mit seinem unvollständig gebliebenen Werk dem Modell eines negativen Entwicklungsromans. Man kann im Rückblick heute nicht mehr davon absehen, dass jene mediale Plattform der Virtuosenkritik, die musikalische Fachzeitschrift, zugleich einen wichtigen Grundstein der Institutionalisierung von Musikwissenschaft legte. Jahrgangsweise gebunden, wurden zumindest renommiertere und beständigere Organe, im Unterschied zu anderen Quellen wie Tageszeitungen oder Modeblätter, in den Regalen universitärer Fachbibliotheken als Nachschlagewerke für die Nachwelt aufgehoben. Diese Medien sind also mitverantwortlich dafür, dass der Begriff des musikalischen ›Wunderkindes‹ in der ersten Hälfte des . Jahrhunderts seinen pejorativen Beiklang erhielt und behalten sollte.⁶⁵ Gleichzeitig wurde sich über das Phänomen im musikhistoriographischen Schrifttum engeren Sinnes, das heißt in geschichtlichen Abrissen, Biographien oder Lexika, weitgehend ausgeschwiegen, wo nicht ähnlich abwertend geäußert. Einer entsprechenden Würdigung schien die Sache unwert. Jede Chance einer kulturellen Erinnerung ist dadurch zunichte gemacht worden – mit einer Ausnahme. Johann Friedrich Reichardt, Leben des berühmten Tonkünstlers Heinrich Wilhelm Gulden nachher genannt Guglielmo Enrico Fiorino, Erster Theil, Berlin , S. –. Schon Zeitgenossen erkannten in dem Buch übrigens autobiographische Züge Reichardts. Siehe Andreas Anglet, »›Leben des berühmten Tonkünstlers Heinrich Wilhelm Gulden‹. Reichardts Roman eines musikalischen ›Wundertieres‹«, in : Walter Salmen (Hg.), Johann Friedrich Reichardt und die Literatur. Komponieren, Korrespondieren, Publizieren, Hildesheim , S. –. Zu Reichardts eigener Kindervirtuosen-Karriere siehe Walter Salmen, Johann Friedrich Reichardt. Komponist, Schriftsteller, Kapellmeister und Verwaltungsbeamter der Goethezeit, Zweite erweiterte und ergänzte Aufl. mit einer neuen Bibliographie, Hildesheim u. a. , S. –. Vgl. Ingrid Fuchs, »›Bewundrungswerthes Kind ! deß Fertigkeit man preißt …‹«, S. – ; Yvonne Amthor, »The perception of musical prodigies in London Concert Life between and «, S. –.
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Die historische Figur Wolfgang Amadeus Mozart bewegte sich seit ungefähr dem beginnenden . Jahrhundert in einem von den zeitgenössischen Fällen sogenannter ›Wunderkinder‹ abgehobenen Diskursfeld. In der Musikpresse war diese Differenz tendenziell markiert durch den Unterschied der Beitragsformate : musikhistorischer oder biographischer Aufsatz auf der einen, Konzertbesprechung, Korrespondenzbericht und Nachrichtenspalte auf der anderen Seite. Dabei erschien es auch angesichts Mozarts unausweichlich, sich dem Thema der ›Frühreife‹ zu stellen, gerade hinsichtlich der Tatsache, dass dem verehrten ›Tondichter‹ tatsächlich nur ein verhältnismäßig kurzes Leben beschieden gewesen war. Allerdings trat hier bald ein kunstreligiöser Fatalismus in Erscheinung, der dem Tode Mozarts einen besonderen Sinn verlieh, dem pädagogischen und medizinischen Diskurs der Aufklärung dem Wesen nach aber fremd gewesen wäre. Mit diesem Widerspruch konnten die Zeitgenossen anscheinend gut leben. Die einschlägigen Mozart-Monographien, aus denen auch in den Musikzeitschriften immer wieder ausgiebig zitiert wurde, waren von dieser Zwiespältigkeit nicht ausgenommen. Von seinen Biographen spekulierte als Erster Franz Xaver Niemetschek über die Folgen einer »frühen Geistesanstrengung«⁶⁶. Niemetschek stellte sie in den Zusammenhang der unansehnlichen Physiognomie Mozarts sowie seiner Todesursache, stellte sie als alternative Erklärung zu der damals bereits kursierenden Gifthypothese in den Raum : »[…] aber von dem ten Lebensjahre an war er an eine sitzende Lebensweise gebunden, um diese Zeit fing er schon an zu schreiben ! Und wie viel hat der Mann nicht in seinem Leben, besonders in den letzten Jahren geschrieben ? Da Mozart bekanntermassen in der Nacht am liebsten spielte und komponierten und die Arbeit oft dringend war : so kann sich jeder vorstellen, wie sehr ein so fein organisirter Körper darunter leiden mußte ! Sein früher Tod (wenn er ja nicht auch künstlich befördert war), muß diesen Ursachen hauptsächlich zugeschrieben werden.«⁶⁷
Georg Nikolaus Nissen stimmte in diesem Punkt mit Niemetschek und der medizinischen Lehrmeinung überein, bediente sich hingegen der geläufigen Analogie zur Botanik :
Franz Niemtschek, Leben des K. K. Kapellmeisters Wolfgang Gottlieb Mozart, nach Originalquellen beschrieben, Prag , S. . Ebd.
| Das unvermeidliche Ende des Frühgereiften ? »Er war eine früh gereifte Frucht, deren Existenz nur kurz dauert. In dem zarten Alter, wo die Natur noch am Hervorbringen und Sammeln der Lebensgeister arbeitet, hinderte er ihr Geschäft nicht nur durch sitzende Lebensart, sondern consumirte auch schon anhaltend einen Theil der Lebensgeister durch ununterbrochenes Componiren.«⁶⁸
Im Detail, aber nicht im Grundsatz abweichend, war einige Seiten weiter zu lesen : »Der zurückgebliebene Wuchs seines Körpers mochte von seiner frühen Anstrengung und Entwickelung seines Geistes herkommen, nicht aber von dem Mangel an freyer Bewegung in seiner Kindheit (wie einige irrig behaupten) ; denn gerade in seiner Kindheit und Jugend hatte er bey seinen vielen weiten Reisen die meiste Bewegung ; aber in späteren Jahren bey seinen Studien und Compositionen kann ihm Mangel an Bewegung schädlich gewesen seyn.«⁶⁹
Zu dieser Einschätzung fügte Nissen dann noch einmal die entsprechende Passage aus Niemetscheks Buch, versehen mit einigen Ergänzungen, an. Die Verschwörungstheorie um eine Vergiftung Mozarts konnte man angesichts medizinischer Evidenz damals also verwerfen. Sehr ausdrücklich hat sich der Advokat und Schriftsteller Ignaz Ferdinand Arnold dahingehend geäußert, und dessen Argumentation zitierte Nissen in diesem Zusammenhang ebenfalls : »Ich frage hier jeden Arzt, was die Folgen einer solchen Lebensart sind. Man braucht hier kein Gift, keinen geheimnißvollen Bothen, keinen feinen Staub im Briefe, kein Requiem – ; seine Kräfte waren aufgerieben, die organische Thätigkeit zerstört, langsame Schwindsucht, (consumtio dorsalis) Vertrocknung mußte erfolgen.«⁷⁰
Auch Arnold bediente sich der suggestiven Pflanzenmetapher : »Mozarts Geist entwickelte sich früh – sehr früh, und erreichte in den Jahren schon einen großen Grad von Vollkommenheit, wo bei andern gewöhnlichen Menschen Georg Nikolaus Nissen, Biographie W. A. Mozarts, hg. und mit Anmerkungen versehen von Rudolph Angermüller, Hildesheim , S. . Ebd., S. [Ignaz Ferdinand Arnold], Mozarts Geist. Seine kurze Biografie und ästhetische Darstellung seiner Werke. Ein Bildungsbuch für junge Tonkünstler, Erfurt , S. –. Vgl. Georg Nikolaus Nissen, Biographie W. A. Mozarts, S. –.
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sich kaum der Funke des Talents zeigt. Er blühte früh, trug frühzeitig Früchte, und – welkte früh.«⁷¹
Eine weitere wichtige Passage zur Thematik ist im Anhang zu Nissens Werk zu finden. Hier wurde nun gerade ein Unterschied zwischen seinem biographischen Helden Mozart und gewöhnlichen Fällen geistiger ›Frühreife‹ festgemacht, durch den sich jeder Vergleich von vornherein verbot : »Frühzeitigen Talenten drohen aber auch gewöhnlich grosse Gefahren ; denn indem man sie zu Anstrengungen reizt, gehen sie gegen die Kindesnatur. So nur bey unserm Mozart. Er spielte schon in seinem ten Jahre brav, im ten und ten schrieb er Sonaten, im ten oder ten ein Te Deum, was wir noch jetzt nicht ungern hören ! – So glaubt ihr wirklich, mit eurem Kinde dieselbe Ausnahme zu erfahren, die die Natur in fast einem vollen Jahrhunderte (seit Händel) nur ein Mal machte ? glaubt, weil ihr ein Loos in der Lotterie habt, den grössten Gewinn zu erhaschen (dieser Vergleich sagt noch viel zu wenig), und macht in dieser Zuversicht den ganzen Zuschnitt des Lebens darnach ? ! Ich frage auch nicht : war denn Mozart glücklich ? – Ich habe ihn gekannt, er war es nie. Ich erinnre euch auch nicht daran, wie kurz sein Leben war. Ihr würdet wohl nur sagen : so brachte er Glück und Leben der Kunst zum Opfer ! so steht er darum vor aller Welt um so höher da ! – Ihr habt Recht. Aber das ist gewiss, Mozart wurde in früher Kindheit weniger gereizt, weniger in der Kunst angestrengt, nicht einmal wissentlich zu ihr geleitet, sondern nur sich selbst überlassen, ja sogar zurückgehalten, bis seine ganz eigenthümliche Natur von selbst unaufhaltsam hindurch brach und unverkennbar ankündigte : Dieser soll einmal unter Millionen allein ganz gegen die Regel gerathen. Nun so wartet’s nur still ab, ob sie über euer Kind dasselbe unwiderstehliche Machtwort zu sprechen, und ihnen diess grosse, nur Anderen wohlthätige Opfer aufzulegen vorhabe.«⁷²
Der Unterschied bestünde darin, so die hier zum Ausdruck gebrachte Vorstellung, dass Mozart nicht von außen zum künstlerischen Schaffen gedrängt oder gezwungen worden wäre und sein Unglück zu Lebzeiten, gleicherweise sein Tod, daher als natürliche Notwendigkeit entschuldigt bliebe. Beziehungsweise er im Gegenteil sogar, durch den Dienst an der höheren Sache, moralisch aufgewertet wurde (»so brachte er Glück und Leben der Kunst zum Opfer !«). [Ignaz Ferdinand Arnold], Mozarts Geist, S. . Georg Nikolaus Nissen, Biographie W. A. Mozarts, S. (Anhang).
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Diese Passage, ein entscheidender Baustein des romantisierten Mozartbildes, war dem Aufsatz »Die frühzeitigen Talente« aus der Allgemeinen musikalischen Zeitung von entnommen. Interessanterweise reiht sich dieser Beitrag ansonsten völlig stereotyp in die Auseinandersetzung mit der ›Frühreife‹ im Namen vernünftiger Erziehung ein.⁷³ Die tragische Lebensgeschichte Mozarts mitsamt seinem fatalen Ende entsprach spätestens seit der Biographie Nissens also sichtlich einer eigenen Sinnordnung. Sie erschien als ein gerechter – oder mehr als gerechter – Tauschhandel : das Leben eines Künstlers gegen seine unsterblichen Werke. Oder anders ausgedrückt : die Transzendierung seiner Natur in höchste Höhen der Kultur. Mozart starb als biographische Figur jedenfalls einen Heldentod. Die Idee musikalischer Kunstreligion ernst genommen, kam er einem Märtyrer gleich. Dass der österreichische Komponist, angefangen bei Niemetschek und Rochlitz, immer wieder mit dem Renaissancekünstler Raffael verglichen wurde, welcher seit der Frühromantik stellvertretend für ein sakrales Künstlerideal eines Mediums göttlicher Inspiration einstand,⁷⁴ tat hierzu sein Übriges. Schließlich war auch Raffael für seine früh vollendete Meisterschaft und ein vergleichbar kurzes Leben bekannt. Er sei ein Künstler gewesen, so Rochlitz, der sich mit seinem letzten Gemälde der Transfiguration Christi – genau wie Mozart mit dem Requiem – geradezu eine »Verklärung seiner selbst«⁷⁵ geschaffen habe. Eine ähnliche Apotheose verrät das Sinnbild des strahlenden und rasch verglühenden Himmelskörpers, das sich etwa in Arnolds Vergleich mit dem alten Haydn findet, neben welchem » M o z a r t wie ein Sohn des Lichts plötzlich unerwartet unter die Sterblichen tritt, und sie mit allmächtigem Arm, im unaufhaltsamen Fluge hoch zum Olimp emporreißt.«⁷⁶ Oder mit den Worten des Musikers und Lexikographen Ernst Ludwig Gerber gesprochen :
Siehe [Anon.], »Die frühzeitigen Talente«, in : Allgemeine musikalische Zeitung /Nr. (. Dezember ), Sp. –. Siehe Gerhard vom Hofe, »Die Konstellation der Genies : Raffael und Shakespeare in Mozart. Mozarts Kunstgeist in parallelisierender Deutung des frühen . Jahrhunderts«, in : Hermann Jung (Hg.), Mozart. Aspekte des . Jahrhunderts, Mannheim (= Mannheimer Hochschulschriften ), S. – ; Ulrich Konrad, »Friedrich Rochlitz und die Entstehung des Mozart-Bildes um «, in : ebd., S. –. [Friedrich Rochlitz], »Anekdoten aus Mozarts Leben. (Fortsetzung.)«, in : Allgemeine musikalische Zeitung /Nr. (. Dezember ), Sp. . [Ignaz Ferdinand Arnold], Gallerie der berühmtesten Tonkünstler des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts. Ihre kurzen Biografieen, karakterisirende Anekdoten und ästhetische Darstellung ihrer Werke, Erster Theil, Erfurt , S. –.
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»Fast kann man sich der paradox scheinenden Bemerkung nicht enthalten, daß M o z a r t zu früh auf dem Schauplatze erschien und zu früh abtrat. […] und doch war das, was er uns bey seinem kurzen Verweilen auf der Erde gab, groß und erhaben genug, um öfters an das Unbegreifliche zu grenzen. Er war ein Meteor am musikalischen Horizonte, auf dessen Erscheinung wir noch nicht vorbereitet waren«⁷⁷.
Der romantische Geniebegriff löste sich somit allmählich von der Pathologie der ›Frühreife‹ völlig ab. Arthur Schopenhauer, obwohl er sich für sein Paradebeispiel des Genies immerhin auf Nissens Biographie bezog, stellte nun schon diametral gegenüber, was im . Jahrhundert noch ein- und dasselbe gewesen war : »[V]ielmehr werden die ingenia praecocia, die Wunderkinder, in der Regel Flachköpfe ; das Genie hingegen ist in der Kindheit oft von langsamen Begriffen und faßt schwer, eben weil es tief faßt.«⁷⁸
Der ehemalige Glanz des Außernatürlichen schien immer mehr zu verblassen und schließlich ganz und gar einer vergangenen Epoche anzugehören. Die medizinische Pathologie der ›Frühreife‹ – allein vom romantischen Genie hinter sich gelassen – hat sich hingegen nachhaltig Geltung verschaffen und sich das Ende noch vieler weiterer Fälle ausmalen können. Sie selbst war nicht so schnell tot zu kriegen. Und hat sie sich nicht sogar bis in unsere Tage als dumpfes Unbehagen angesichts mancher musikalischer Hochleistungen von Kindern und als Klischee über diese erhalten ? Der Zeitraum um hat musizierenden ›Wunderkindern‹ nicht die einzige, aber doch eine einzigartige Bühne der Inszenierung und Wahrnehmung geboten. Entstanden als historische Späterscheinung des sogenannten Naturwunders oder Kuriosen, überlagert immer wieder durch andere Bedeu Ernst Ludwig Gerber, Neues historisch-biographisches Lexikon der Tonkünstler, welches Nachrichten von dem Leben und den Werken musikalischer Schriftsteller, berühmter Komponisten, Sänger, Meister auf Instrumenten, kunstvoller Dilettanten, Musikverleger, auch Orgel- und Instrumentenmacher, älterer und neuerer Zeit, aus allen Nationen enthält. Dritter Theil. K–R, Leipzig : A. Kühnel , Sp. . Der dazugehörige Auszug des Lexikoneintrags erschien bereits als Vorabdruck : Ernst Ludwig Gerber, »Nachtrag zu den, in No. . der Leipziger musikalischen Zeitung eingerückten ›Gedanken über den Geist der heutigen deutschen Setzkunst.‹«, in : Allgemeine musikalische Zeitung /Nr. (. Juni ), Sp. –. Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, Zweite, durchgängig verbesserte und sehr vermehrte Auflage, Bd. , Leipzig , S. .
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tungsschichten, lassen die öffentlichen Bilder erfolgreicher Kindervirtuosen tiefgreifende Auseinandersetzungen mit dem Verhältnis von Natur und Kultur erkennen. Dabei war die Aufmerksamkeit stets davon abhängig, welcher Sinn sowohl Musik als auch Kindheit verliehen wurde. So viel zumindest hat der fragmentarische Einblick des vorliegenden Buchs aufzeigen und begreiflich machen können. Es würde sich für die kulturhistorische Musikwissenschaft lohnen, von diesem Punkt aus auf weitere Spurensuche zu gehen. Mit Sicherheit würde sie dabei auf Namen stoßen, die damals ähnliche, und welche, die völlig andere Resonanz in der Öffentlichkeit erzeugt haben, und unsere Vorstellung des Phänomens erweitern und vervollständigen können. Mit zweierlei Maß messend, haben wir uns allein Mozart als liebgewonnenes Souvenir aus diesem Teil der Kulturgeschichte erhalten, während unzählige andere musizierende ›Wunderkinder‹ der Zeit unvermeidlich ihr Ende fanden, als die kulturelle Erinnerung an sie allmählich erlosch.
QU E L L E N U N D L I T E R AT U RV E R Z E IC H N I S
Gedruckte Schriften A.: »Korrespondenz und Notizen. Aus Frankfurt a. M., im Novbr.«, in : Zeitung für die elegante Welt /Nr. (. Dezember ), Sp. A., B.: [Ohne Titel], in : The Gentleman’s Magazine : and Historical Chronicle /o. Nr. (Januar ), S. – Abdy, Mrs.: »The Younger Sister. A Tale«, in : The Metropolitan Magazine /Nr. (Oktober ), S. – Academicus [= Pseud.] : »verses on hearing the celebrated Master crotch playing to Notes«, in : Jackson’s Oxford Journal vom . Juni (Nr. ), o. S. Académie française (Hg.) : Le Dictionnaire de l’Académie Françoise, Tome Second : M–Z, Paris : Jean Baptiste Coignard u. a. Addison, Joseph : The Works, Bd. , London : Jacob Tonson d’Almeras, Henri : La Vie Parisienne sous la Restauration, Paris : Albin Michel [] André, Yves Marie : Essai sur le beau, Paris : Guerin [Anon.] : A Catalogue of Books […] By BOOTH and SON, [Norwich] : o. V. [] [Anon.] : A Catalogue of Phrenological Specimens, belonging to the Boston Phrenological Society, Boston : John Ford [Anon.] : An Address to Timmy Straightforward. By a Friend, London : Almon and Debret [Anon.] : Euterpe ; or, Remarks on the Use and Abuse of Music, As a Part of Modern Education, London : J. Dodsley [ ?] [Anon.] : History and Antiquities of the County of Norfolk. Volume X. Containing The City and County of Norwich, Norwich : J. Crouse [Anon.] : L’Observateur au Congrès, ou relation historique et anecdotique du congrès d’Aixla-Chapelle, en […], Paris : A. Eymery [Anon.] : Neu-eröffneter Historischer Bilder-Saal. Das ist : Kurtze/deutliche und unpartheyische Beschreibung der Historiae Universalis, Bd. /, Nürnberg : Johann Leonhard Buggel u. a. [Anon.] : Richardson’s Catalogue, London : o. V. [Anon.] : »Sonnet«, in : o. Hg., Poetry, by Various Hands, Inscribed to the Infant Lyra, Taunton : J. W. Marriott [ ?], S. [Anon.] : The Astonishing Musical Infant, Handzettel, Newcastle : o. V. (Archiv der Royal Academy of Music, Sign.: .) [Anon.] : The Exhibition of the Royal Academy, MDCCCXXV. The Fifty-Seventh, London : W. Clowes []
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Quellen- und Literaturverzeichnis |
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Quellen- und Literaturverzeichnis |
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Quellen- und Literaturverzeichnis |
Aris’s Birmingham Gazette Aristide ou le Citoyen Arnhemsche Courant Augsburgische Ordinari Postzeitung Baierische National-Zeitung Bell’s Life in London, and Sporting Chronicle Berliner allgemeine musikalische Zeitung Berliner Musikalische Zeitung Berlinische Musikalische Zeitung Blätter für Musik, Theater und Kunst Bristol Times, and Bath Advocate Bury and Norwich Post : Or, Suffolk, Norfolk, and Essex Advertiser Chester Courant, and Anglo-Welsh Gazette : Advertiser for Cheshire, Salop, Lancaster, Stafford & Derby Coventry Herald, And Weekly Advertiser Der Neue Teutsche Merkur Der Patriot Deutsche Revue über das gesammte nationale Leben der Gegenwart Devizes and Wiltshire Gazette Die Gartenlaube. Illustrirtes Familienblatt English Gentleman Eos, eine Zeitschrift aus Baiern, zur Erheiterung und Belehrung Europäische Zeitung Felix Farley’s Bristol Journal Feuille d’annonces judiciaires, commerciales et maritimes du Havre Finn’s Leinster Journal Flora. Ein Unterhaltungs-Blatt Franckfurter Frag- und Anzeigungsnachrichten Frankfurter Ober-Postamts-Zeitung Göttingisches Magazin der Wissenschaften und Litteratur Hampshire Chronicle and Southampton Courier ; Or, South and West of England Pilot Hampshire Telegraph and Sussex Chronicle, And General Advertiser for Hants, Sussex, Surrey, Dorset, and Wilts Heath’s The Book of Beauty Hochfürstlich-Bambergische wochentliche Frag- und Anzeigenachrichten Jackson’s Oxford Journal Journal de dames et des modes Journal de la Société phrénologique de Paris Journal de Littérature, des Sciences et des Arts Journal de Lyon et du département du Rhône / Journal de Lyon Journal de Marseille et des Bouches-du-Rhône Journal de Paris, politique, commercial et littéraire / Journal de Paris et des départemens, politique, commercial et littéraire
| Quellen- und Literaturverzeichnis Journal de Rouen et du département de la Seine-Inferieure Journal des débats politiques et littéraires Journal des Luxus und der Moden Journal des théâtres, de la littérature et des arts Journal für Literatur, Kunst, Luxus und Mode Journal général du département du Loiret Journal Politique de Mannheim Journal politique et littéraire de Toulouse et de la Haute-Garonne Kaiserl. östreichische und Königl. bairische privilegirte Allgemeine Zeitung Königlich privilegirte Berlinische Zeitung von Staats- und gelehrten Sachen Kurtz-gefasste historische Nachrichten zum Behuf der neuern europäischen Begebenheiten L’Avantcoureur L’Esprit des Journaux, François et Étrangers La Belle Assemblée, or Bell’s Court and Fashionable Magazine / La Belle Assemblée, or Court and Fashionable Magazine La Minerve française La Musique. Gazette de la France musicale / La France musicale La Pandore. Journal des spectacles, des lettres, des arts, des mœurs et des modes Lady’s and Gentleman’s Scientifical Repository Le Boïeldieu, journal artistique et littéraire Le Camp-volant, journal des spectacles de tous les pays Le Colibri, journal de la littérature, des théâtres, des arts et des modes Le Constitutionnel, journal politique et littéraire / Le Constitutionnel, journal du commerce, politique et littéraire / Journal du commerce, de politique et de littérature Le Diable boiteux. Journal des spectacles, des mœurs et de la littérature Le drapeau blanc, journal de la politique, de la littérature et des théâtres Le Ménestrel. Journal de Musique / Le Ménestrel. Journal de Musique et de Littérature Le Miroir des spectacles, des lettres, des mœurs et des arts Le Moniteur des théâtres Le moniteur universel Le Provincial, recueil périodique Le voleur, Gazette des Journaux français et étrangers Lemberger Zeitung Literary Lounger Liverpool Mercury, Or Commercial, Literary, and Political Herald Luxemburger Wochenblatt Magazin der Musik Münchener Politische Zeitung Museum für Künstler und Kunstliebhaber Musicalisches Handbuch Musikalische Monatsschrift Musikalische Real-Zeitung Nederlandsche Staatscourant
Quellen- und Literaturverzeichnis |
Neue Zeitschrift für Musik New-York Mirror, and Ladies’ Literary Gazette Nieder-Rheinischer Beobachter Oxberry’s Dramatic Biography and Histrionic Anecdotes Philosophical Transactions Real-Zeitung Revue du Calvados Revue musicale / Revue et Gazette Musicale / Revue et Gazette musicale de Paris / Revue et Gazette musicale de Paris, Journal des Artistes, des Amateurs et des Théâtres Rheinische Blätter Sammlungen zur Physik und Naturgeschichte von einigen Liebhabern dieser Wissenschaften Saunders’s News-Letter, and Daily Advertiser s’ Gravenhaagsche Courant Sheffield Independent, and Yorkshire and Derbyshire Advertiser Signale für die Musikalische Welt Taschenbuch zum Nutzen und Vergnügen Thalia. Norddeutsche Theater-Zeitung, Kunst- und schönwissenschaftliches Unterhaltungs-Blatt The Aberdeen Journal ; and North-British Magazine The Age The Albion and the Star The American Magazine The Annual Register The Athenæum. London Literary and Critical Journal The Atheneum ; or, Spirit of the English Magazines The Atlas. A General Newspaper and Journal of Literature The Bath Chronicle The Berkshire Chronicle, and Forest, Vale, and General Advertiser The Birmingham Chronicle, and General Advertiser of the Midland Counties The Birmingham Magazine, or, Literary and Scientific Repository The Boston Medical and Surgical Journal The Boston Morning Post The British Chronicle. Or, Pugh’s Hereford Journal The British Guardian And Protestant Advocate The British Press The Bucks Gazette, Windsor and Eton Express, and Reading Journal The Caledonian Mercury / Caledonian Mercury The Cambridge Chronicle and Journal, And Huntingdonshire Gazette The Chelmsford Chronicle The Chester Chronicle ; And General Advertiser / Chester Chronicle, and Cheshire and North Wales Advertiser The Courier The Court Journal : Gazette of the Fashionable World
| Quellen- und Literaturverzeichnis The Critical Review : or, Annals of Literature The Derby Mercury The Dorset County Chronicle, and Dorchester, Weymouth, Poole, and West of England Advertiser The Dublin Correspondent The Dublin Evening Post The Dublin Mercantile Advertiser, and Weekly Price Current The Dublin Weekly Register The Edinburgh Advertiser The Edinburgh Magazine, or Literary Miscellany The Edinburgh Magazine, or, Literary Amusement The European Magazine, and London Review The European Magazine (New Series) The Examiner The Foreign Quarterly Review The Gazetteer and New Daily Advertiser The General Advertiser The General Advertiser, and Morning Intelligencer The Gentleman’s Magazine : and Historical Chronicle / The Gentleman’s Magazine, and Historical Chronicle / The Gentleman’s Magazine The Globe The Guardian and Public Ledger The Harmonicon The Hibernian Magazine, Or, Companion of Entertaining Knowledge / Walker’s Hibernian Magazine, Or, Compendium of Entertaining Knowledge The Hull Packet and Humber Mercury, or Yorkshire and Lincolnshire Advertiser The Ipswich Journal The Kaleidoscope ; or, Literary and Scientific Mirror The Ladies’ Monthly Museum ; or, Polite Repository of Amusement and Instruction The Lady’s Magazine ; or, Mirror of the Belles-Lettres, Fine Arts, Music, Drama, Fashions, etc. The Lancaster Gazette ; and General Advertiser for Lancashire, Westmorland, etc. The Lancet The Leeds Intelligencer / The Leeds Intelligencer, and Yorkshire General Advertiser The Leeds Mercury The Literary Chronicle And Weekly Review The Literary Gazette ; and Journal of Belles Lettres, Arts, Sciences, etc. The Literary Magnet of the Belles Lettres, Science, and the Fine Arts The London Chronicle The London Courant, and Westminster Chronicle The London Evening Chronicle The London Magazine : Or, Gentleman’s Monthly Intelligencer / The London Magazine The Manchester Guardian
Quellen- und Literaturverzeichnis |
The Manchester Mercury ; and Harrop’s General Advertizer The Metropolitan Magazine The Monthly Review ; or, Literary Journal The Moral and Entertaining Magazine ; Or, Literary Miscellany of Instruction and Amusement The Morning Chronicle / The Morning Chronicle, and London Advertiser / Morning Chronicle and London Advertiser The Morning Herald / The Morning Herald, and Daily Advertiser The Morning Journal The Morning Post, and Daily Advertiser / The Morning Post The Museum of Foreign Literature and Science The New Monthly Magazine and Literary Journal The New Times The New Wonderful Magazine and Marvellous Chronicle The Newcastle Chronicle. Or, Weekly Advertiser, and Register of News, Commerce & Entertainment The Newcastle Courant The Norfolk Chronicle : or, the Norwich Gazette / The Norfolk Chronicle : or, Norwich Gazette The Northampton Mercury The Observer The Oxford University and City Herald The Phrenological Journal and Miscellany / The Phrenological Journal, and Magazine of Moral Science The Public Advertiser The Public Register : Or, Freeman’s Journal / The Freeman’s Journal, and Daily Commercial Advertiser The Quarterly Musical Magazine and Review The Reading Mercury and Oxford Gazette / Reading Mercury, Oxford Gazette, Newbury Herald and Berks County Paper, General Advertiser of Berks, Bucks, Hants, Oxon, Surrey, Sussex, Middlesex, and Wilts The Salisbury and Winchester Journal, and General Advertiser of Wilts, Hants, Dorset, and Somerset The Scots Magazine The Spectator The Spirit of the Times ; or, Essence of the Periodicals The St. James’s Chronicle ; Or, British Evening-Post / St. James’s Chronicle ; Or, British Evening-Post The Sussex Advertiser : Or, Lewes and Brighthelmston Journal The Taunton Courier, And Western Advertiser The Theatrical Observer ; and Daily Bills of the Play The Times
| Quellen- und Literaturverzeichnis The Town and Country Magazine, or, Universal Repository of Knowledge, Instruction and Entertainment The True Briton The Universal Magazine of Knowledge and Pleasure The Universal Songster ; or, Museum of Mirth The Weekly Belle Assemblée The Weekly Magazine, or, Edinburgh Amusement The Weekly Miscellany : or, Instructive Entertainer The Westminster Magazine The Whitehall Evening Post The World The World, Fashionable Advertiser The York Herald, and General Advertiser Transactions of the Royal Society of Edinburgh Trewman’s Exeter Flying Post : Or, Plymouth and Cornish Advertiser Trierische Zeitung Utrechtsche Courant Weekly Times Wienerisches Diarium Wöchentliche Nachrichten und Anmerkungen die Musik betreffend Zeitung für die elegante Welt Handschriften Crotch, William : Memoirs of William Crotch extracted by himself and for himself from old letters etc., handschriftl. Manuskript (Norfolk Record Office, Sign.: MS ) de Salm, Constance : Die Korrespondenz der Constance de Salm (–), Inventar des Fonds Salm der Société des Amis du Vieux Toulon et de sa Région (SAV TR), Elektronische Edition des DHI, Paris . Online : http://www.constance-de-salm. de [abgerufen am ..] von Zabuesnig, Johann Christoph : Sinngedicht, zur Ehre, des Herrn Wolfgang Mozarts, Manuskript in Abschrift St. Gilgen, . November (Stiftung Mozarteum Salzburg, Bibliotheca Mozartiana, Sign.: A–Sm, Doc /). Digitale Mozart-Edition. Online : http://dme.mozarteum.at/DME/briefe/letter.php?mid=&cat= [abgerufen am ..] Musikalien [Anon.] : Goulding & D’Almaine’s Twenty-Four Country Dances for the year with proper figures and directions to each dance, performed at Almack’s, Bath and all Public Assemblies, London : Goulding and D’Almaine [ ?] Bach, Carl Philipp Emanuel : Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen mit Exem-
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PE R S ON E N R E G I S T E R Abdy, Mrs. – Ackermann, Rudolph Adams, Mrs. Addison, Joseph Adolphus Frederick (Herzog von Cambridge) Alday, Paul Alkan, Céleste Alkan, Charles-Valentin Almeras, Henri d’ André, Yves Marie Anna Amalia (Prinzessin von Preußen) Anne (Prinzessin von Oranien) Appleton, William Henry Aquin, Thomas von Aristoteles , Arne, Thomas , Arnold, Ignaz Ferdinand , – Arnold, Samuel Arriaga, Juan Crisóstomo de Artois, Charles Ferdinand d’ (Herzog von Berry) Arundell, Lady Aspull, George –, – Attwood, Thomas Augusta (Herzogin von Cambridge) Augusta (Prinzessin des Vereinigten Königreichs) Augustinus , Aumont, Louis-Marie-Céleste d’ Austen, Jane Avison, Charles Ayrton, William Bach, Johann Christian Bach, Johann Sebastian Bachmann, Sigismund Bacon, Francis –, – Baillet, Adrien , , Baillot, Pierre , , , –, , –, –, –, ,
–, –, , , –, –, –, , Baratier, François –, Baratier, Jean-Philippe , –, , –, , Barrett, Giles Linnett Barrington, Daines , , , , – , –, , –, –, –, –, Bartoli, Cosimo Bates, Joah Beattie, James –, Beauchâteau, François de Beechey, William , Beethoven, Ludwig van , , , , , , Begnis, Giuseppe de – Behm, Ernst Leopold Friedrich Bériot, Charles-Auguste de Berton, Henri Montan , Best, Georg August – Betty, William Henry West (Young Roscius) Bewley, William Bianchi, (?) Bidder, George – Bishop, Henry Rowley , Blair, Hugh – Blanchard, Henri , , Blumenbach, Johann Friedrich Bochsa, Robert Nicholas Charles Bohrer, Anton Bohrer, Maximilian Boildieu, François Adrien Boisgelou, Paul Louis Roualle de Borghi, Luigi Börne, Ludwig Bosen, Monsieur Boucher, Alexandre , , , , Boyce, William , Boyle, Robert –, Boyton, Miss
| Personenregister Brahe, Tycho Brentano, Clemens Bresciani (Brüder) Bridgetower, George Polgreen Brigham, Amariah , Brown, John – Bruguera, Don Celestino Bunting, Edward – Burke, Edmund , Burke, Joseph , Burney, Charles , , , , , –, –, –, –, , – Burney, Esther Burney, Fanny Burns, Robert , Busby, Thomas Butler, Thomas Hanley Buxton, Jedediah – Byrne, Charles Cäcilia von Rom –, Campe, Johann Heinrich Camper, Peter Cantelo, Anne Cardon, Jean-Baptiste Caroline von Nassau-Weilburg (Prinzessin von Oranien) Cartier, Jean-Baptiste , –, – Castil-Blaze (François-Henri-Joseph Blaze) Catalani, Angelica , , , – Cechetti, (?) Cervetto, James Chalmers, Anne , , Charles II. (König von England) Charles X. (König von Frankreich) Charlotte von Wales (Prinzessin des Vereinigten Königreichs) Chatterton, Thomas Cheyne, George – Choffin, David Etienne Christian IV. (König von Dänemark) Cianchettini, Francesco – Cianchettini, Pio –,
Cianchettini, Veronica Elizabeth (geb. Dussek) – Cinti, Laure , – Clark, Alfred Corning Clementi, Muzio Cloiseau, Monsieur Cobbold, Elizabeth Cobbold, Richard –, Colburn, Zerah Collalto, Thomas Vinciguerra Collins, William Colman, George Combe, Andrew , Combe, George –, –, Comenius, Johann Amos Comte, Louis –, –, , Congreve, William Cooper, John Gilbert Corelli, Arcangelo , , , , Cornwallis, Frederick (Erzbischof von Canterbury) – Corri, Frances Corri, Rosalie Cotter, George Sackville Cotter, Patrick Coutts, Mrs. Cramer, Carl Friedrich Cramer, Johann Baptist Cramer, Wilhelm –, Crotch, Isabella –, –, –, , –, –, , , –, , –, –, Crotch, Michael , –, , , , , Crotch, William –, , –, –, –, –, –, –, –, –, , , – Czerny, Carl Darius, Monsieur Dartmouth, Lady David (König von Juda) Davies, Cecilia , Davies, Marianne , , Dejernon, Monsieur Deldevez, Édouard –
Personenregister | Deris, Mrs. Désargus, Monsieur Descartes, René , , , Desprez, Josquin Deville, James –, Diderot, Denis , – Donegal, Barbara of Duff, William –, Dumesnil, Monsieur Dupent, (?) Dussek, Jan Ladislav Duvernois, F.
Forster, Thomas Ignatius Maria Fossati, Giovanni Antonio Lorenzo Franz I. Stephan (Kaiser des Hl.-Röm. Reichs) Franz II. (Kaiser des Hl.-Röm. Reichs) – Frederika Louise (Prinzessin von Oranien-Nassau) , Freud, Sigmund Friedrich IV. (König von Dänemark) – Fürstenau, Anton Bernhard Fürstenau, Kaspar
Eastcott, Richard Eccles, John Edgeworth, Maria – Edgeworth, Richard Lovell – Egan, John Egerton, Eleanor (Gräfin von Grosvenor) Ella, John Elliotson, John Elliott, Charlotte Epinay, Madame d’ Ernst, Heinrich Wilhelm Eschenburg, Johann Joachim Espinasse, Arthur Essich, Johann Gottfried Fabricius, Albert Fabricius, Werner Fallon, John Feder, Johann Georg Heinrich Ferdinand Karl (Erzherzog von Österreich) Ferguson, Adam Ferracina, Bartolomeo Ferrari, Domenico Fétis, François-Joseph , , , Feuerstein, Johann Heinrich Fielding, Henry Filtsch, Carl Finger, Gottfried Fisher, Charles Flotow, Friedrich von – Fontaine, Antoine Nicolas Marie Forkel, Johann Nikolaus Formey, Jean Henri Samuel , Forster, Georg
Gail, Sophie Galard, Gustave de Galen von Pergamon Galiani, Ferdinando Gall, Franz Joseph –, , –, Garat, Joseph Dominique Fabry – Gardiner, Thomas Gardiner, William , Garnerin, Elisa Gaviniès, Pierre , Gégauer, (?) Geminiani, Francesco , , , , , George (Prinz des Vereinigten Königreichs) George III. (König des Vereinigten Königreichs) –, –, , George IV. (Prinz von Wales, König des Vereinigten Königreichs) , , , , Gerber, Ernst Ludwig , – Gernerth, Franz Giardini, Felice Giornovichi, Giovanni Gluck, Christoph Willibald Goethe, Johann Wolfgang von , Goldsmith, Oliver Gollmick, Carl Gould, O. Granville, Augustus Bozzi Greatorex, Thomas Gregory, Fanny
| Personenregister Gregory, J. (geb. Rudkin) –, –, Gresset, Jean-Baptiste Grétry, André Grétry, Lucile Grimm, Friedrich Melchior von –, Grosvenor, Robert (Graf von Grosvenor) Guérillot, Henri Gugel, Heinrich Gugel, Rudolf Guhr, Carl Habeneck, François-Antoine , , , , , , Hagenauer, Lorenz , –, –, –, Hagenauer, Maria Theresia Hamblin, Mr. Händel, Georg Friedrich , –, , , –, –, –, , , , , Hanslick, Eduard Harley, Mr. Harrington, Master Harrington, Mrs. Hart, Mrs. –, –, , Haslang, Joseph von (Graf ) Hasse, Johann Adolph , Hastings, Francis (Graf von Huntingdon) Hatzfeld, John Martin Lazare Hawdon, Matthias Hawkins, John –, Haydn, Joseph , , , Heineken, Christian Heinrich , –, –, , Helvétius, Claude Adrien , Herder, Johann Gottfried Hermann (Brüder) Hertel, Johann Christian Hertel, Johann Wilhelm Hertford, Lady – Heuser, Gustav – Hiller, Johann Adam Hinckesman, Maria Hingston, George Sackville Cotter Hodson, Mr.
Hofer, Johannes – Hoffman, Sophia Hofmann, Jósef Hogarth, William Holbach, Paul-Henri Thiry d’ Holland, Henry Home, George Homer , –, Hood, Thomas Hornby, Jane (Gräfin von Egmont) Hübner, Beda Hughes, Master Hugues, Faustin Hume, David , Hummel, Johann Nepomuk Hummell, Charles Hummell, John Louis Hunter, William , , Hutcheson, Francis – Hutton, William Pepperell Jackson, William , Jacques, Louis , Jagger, Benjamin Jähndl, Anton Jameson, William – Jean Paul (Johann Paul Friedrich Richter) Jerdan, William Jesus Christus , Johnson, James Johnson, Samuel Jones, William (of Nayland) – Jones, William Junker, Carl Ludwig , Kalkbrenner, Friedrich –, Kant, Immanuel Karl Alexander (Prinz von Lothringen) Katterfelto, Gustavus Kellerie, (?) Kellner, Ernst August Kelly, Frances Maria Kelly, Michael Kent, James Kersey, John Kircher, Athanasius ,
Personenregister | Knowles, Charles Knowles, James Sheridan Kossak, C. Koželuch, Leopold Kreutzer, Rodolphe , , , , , –, –, , , , La Chabeaussière, Ange-Étienne-Xavier Poisson de – La Guerre, Élisabeth Jacquet de La Houssaye, Pierre La Rochefoucauld, Sosthènes de , Lafont, Charles Philippe , , –, –, , , , , –, , , , , , – Lake, James Lamoignon, Chrétien de Lamotte, Franz , Lanza, (?) – Larsonneur, Charles –, –, – Larsonneur, Hippolyte –, –, –, –, –, , – , –, –, , –, –, –, –, –, –, , – Larsonneur, Laure – Larsonneur, Monsieur (Vater) –, –, , –, , –, –, –, , , , , , Lavater, Johann Caspar – Laveaux, Jean-Charles Lebrun, Ludwig August Leclair, Jean-Marie , Lépy, Caroline Leyden, John – Libon, Philippe Lichtenberg, Georg Christoph , –, –, , –, Lind, Jenny Lind, Mr. Linley, Thomas (Sohn) , Linley, Thomas (Vater) Linné, Carl von Lister, Thomas Henry –
Liszt, Adam Liszt, Franz , , , , , Locatelli, Pietro , Locke, John –, , , , , , Logier, Johann Bernhard Lolli, Filippo Louis Auguste I. de Bourbon (Herzog von Maine) Louis Philippe III. (Herzog von Orléans) Louis XIV. (König von Frankreich) Louis XVIII. (König von Frankreich) , , Louise Marie Adélaïde de Bourbon (Herzogin von Orléans) Lullman, Mrs. , –, Mackenzie, Henry Macnish, Robert – Macpherson, James –, Maillardet, Henri Mainwaring, John , Malibran, Maria Manning, Mary (Infant Sisters) –, –, , – Manning, Sarah Ann (Infant Sisters) –, –, , – Mara, Gertrud Elisabeth (geb. Schmeling) –, – Marchant de Beaumont, François-Marie Maria (Herzogin von Gloucester) Maria Theresia (Regentin von Österreich) , Marjoribanks, John Martin, Mr. , Martin, Richard Massart, Joseph Lambert Massey, Mrs. Masson, Louise-Aglaé Mattheson, Johann Maty, Matthew Maurelles, Francisco Antonio Maximilian I. Joseph (König von Bayern) Mayseder, Josef Mazas, Jacques-Féréol , , –, –
| Personenregister Meifred, M. Mengal, Jean-Baptiste , Menocchio Mercier, Madame – Mercucci, Madam Merli, Enrichetta Mesmer, Joseph Meusel, Johann Georg Michelot, Laure Milanollo, Maria Milanollo, Teresa Milliken, Richard Alfred Milton, John , Minasi, Master Mirandole, Jean Pic de la Molière (Jean-Baptiste Poquelin) Mölk, Albert von Monanni, Angelo (Manzoletto) Monasterio, Jesús de Moncrieff, William Thomas Montagu Douglas Scott, Charlotte (Herzogin von Buccleuch) Montagu Douglas Scott, Walter (Herzog von Buccleuch) Montagu, John (Graf von Sandwich) Moore, Elizabeth (geb. Dyke) Moore, Hannah Moore, Thomas –, , , , –, Morelli Fernandez, Maria Maddalena Moscheles, Charlotte Moscheles, Ignaz , Mozart, Anna Maria , Mozart, Constanze (später Nissen) –, Mozart, Franz Xaver – Mozart, Leopold –, –, , , –, –, , –, –, –, –, , , , Mozart, Maria Anna –, , –, –, –, –, –, –, –, , , , , Mozart, Wolfgang Amadeus , , –, –, –, –, –, –, , –, –, –, –, , –, , , , , , , –, , –
Mully, Mr. Nadèje-Fusil, Mlle (Orpheline de Wilna) , Nadermann, (?) Napoleon I. (Napoleon Bonaparte) , –, , , , , Nardini, Pietro , Nares, Robert Naumann, Johann Gottlieb Neefe, Johann Gottlob , Newton, Isaac Nichelmann, Christoph Niemetschek, Franz Xaver –, , –, Nissen, Georg Nikolaus , , –, – Noakes, (?) Norris, Thomas O’Keeffe, John Offenbach, Jacques Ohthere Olivia (Marquise von Headfort) Orfila, Monsieur Owensen, Sydney (Lady Morgan) – Paganini, Niccolò , –, , , –, , Palschau, Johann Gottfried Wilhelm Panormo, Ferdinand Panormo, Madame Paris, François de Partridge, Robert Pascal, Blaise Pascal, Jacqueline Patmore, Coventry Paul, Mr. Péchiguier, (?) Pepusch, Johann Christoph – Perceval, George (Graf von Egmont) Pergolesi, Giovanni Battista –, Pfeiffer, Monsieur Philidor, François-André Danican – Phillips, Peregrine – Pholman, John
Personenregister | Piccini, Louis Alexandre Piccini, Niccolò Pierre, Monsieur Pinchbeck, Mr. Pinto, George Frederick – Platner, Ernst Platon , Pleyel, Ignaz Plinius (der Ältere) Pompée, Monsieur Poulter, Edmund Power, James Power, William Powers, Marguerite (Gräfin von Blessington) Pozzi, Anna Pradel, Eugène de Praun, Sigismund von Prowse, Marianne , Pückler-Muskau, Hermann von Pufendorf, Konrad von Pugnani, Gaetano , , , Purcell, Daniel Purcell, Henry , –, , Pythagoras – Raboteau, Pierre Raffael da Urbino Rameau, Jean-Philippe , –, –, , Randall, John –, , Regondi, Giulio , – Reichardt, Johann Friedrich , , – Reinagle, Alexander Reinagle, Joseph Reinagle, Philip Reynolds, Joshua Richard, Jérôme Richardson, Samuel Ridt, Fortunatus – Rigaud, Charles Philippe de Ritchie, Mr. Rochlitz, Friedrich , Rode, Pierre –, –, , –, , , , , Ronzi de Begnis, Giuseppina –
Ronzi, Josephine Rosenkron, Johann Daniel Rosenkron, Nicholas Ross, Magdalena Rossini, Gioachino Rousseau, Jean-Jacques , , , – , , –, –, , , , –, –, , –, , –, Rudkin, (?) (Infant Mozart) –, , Rudkin, Arabella , , –, –, Rudkin, Henry –, , –, , Rudkin, Isabella (Infant Lyra) –, –, –, –, –, –, –, , , –, –, –, –, –, , Russell, John Rust, Wilhelm Karl – Ryan, Michael – Sagrini, Luigi Sainsbury, John Saint-Lubin, Léon de , Saint-Sevin, Joseph-Barnabé (L’Abbé le Fils) Salieri, Antonio Salm, Constance de , Salm-Reifferscheidt-Dyck, Joseph zu Salomon, Johann Peter –, Sammartini, Giuseppe Sanders, John , –, Savile, George Scarlatti, Domenico Schachtner, Johann Andreas , , Scharf, George , Schetky, Johann Georg Christoph Schlichtegroll, Friedrich –, Schmitz, Oscar A. H. Schomberg, Alexander Goucher , , , Schöneich, Christian von –, Schopenhauer, Arthur , ,
| Personenregister Schottky, Julius Max Schrattenbach, Sigismund Christoph von (Erzbischof von Salzburg) , – Schrobilgen, Herr Schroeder, R. Schumann, Clara (geb. Wieck) – Schumann, Robert – Scott, Walter , , –, Scott, William – Seelen, Johann Heinrich von , Shaftesbury (Anthony Ashley Cooper) – Shakespeare, William , Sharpe, William Sherwood, Mary M. Shield, William Shillito, Charles Sievers, Georg Ludwig Peter , , – , –, –, , –, , – Sigl, Catharina , Sigl, Eduard , Sigl, Friedrich Sigl, Ignaz Sigl, Klara Smith, Adam Smith, Amand Wilhelm – Smith, Lydia B. –, – Smith, Sidney Soemmering, Samuel Thomas , Somis, Giovanni Battista Sontag, Henriette Sophia (Prinzessin von Großbritannien) Sophie Charlotte (Königin des Vereinigten Königreichs) Spalding, Mr. Spohr, Louis –, , Spurzheim, Johann Gaspar –, –, St. Paul, Hippolitus Stamitz, Johann Stanley, John , Stauffer, Franz Steele, Richard Stevenson, John Storm, Friedrich
Strickland, Agnes Sudre, Jean François – Suffield, Harbord Harbord of Svoboda, Rosa Tartini, Giuseppe , , , –, Tedeschi, (?) Telemann, Georg Philipp Théaulon de Lambert, Émmanuel Thomson, George , , – Thrale, Henry Thrale, Hester Tissot, Samuel Auguste , , – Tourte, François Travers, John Tulou, Jean-Louis Tussaud, Marie Twining, Thomas Underhill, Mr. , Urso, Camilla Verly, Hippolyte Victoria (Herzogin von Kent) Victoria (Königin des Vereinigten Königreichs) Vincent (Brüder) Vinci, Leonardo Vinning, Louisa , Viotti, Giovanni Battista , –, –, –, –, , Visme, Emily de Volland, Sophie Voltaire (Arouet, François-Marie) Wageman, Thomas Charles Walpole, Maria (Herzogin von Gloucester) Ward, Andrew Warton, Joseph Warton, Thomas Weber, Carl Maria von Weikard, Melchior Adam Weldon, John – Wesley, Charles (Sohn) , , , ,
Personenregister | Wesley, Charles (Vater) Wesley, Garret (Wellesley) , Wesley, John , Wesley, Samuel , , –, , , –, , , , Westcomb, Sophia Whitaker, H. Wieck, Friedrich – Wilhelmina (Prinzessin von Oranien-Nassau) , William Henry (Herzog von Gloucester) William IV. (König des Vereinigten Königreichs) Willis, Isaac Willis, Thomas Wilms, Johann Wilhelm
Wohl, Jeanette Woolnoth, Thomas Wordsworth, William Worthington, Miss Wynne, Elisabeth Wynne, John Yorke, Joseph Young, Walter Zabuesnig, Johann Christoph von – Zarlino, Gioseffo Zellner, L. A. Ziegler, Anton –, Zinzendorf, Karl von Zygmontowsky, Nicolas –