Musil-Forum: Band 36 2019/2020 9783110730401, 9783110729689

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Musil-Forum: Band 36 2019/2020
 9783110730401, 9783110729689

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Musil-Forum

Musil-Forum Studien zur Literatur der klassischen Moderne

Im Auftrag der Internationalen Robert-Musil-Gesellschaft herausgegeben von Norbert Christian Wolf und Rosmarie Zeller

Band 36 · 2019/2020

De Gruyter

Redaktion: Harald Gschwandtner, Thomas Hübel Wissenschaftlicher Beirat/Advisory Board Klaus Amann (Klagenfurt), Karl Corino (Tübingen), Walter Fanta (Klagenfurt), Christoph Hoffmann (Luzern), Alexander Honold (Basel), Inka Mülder-Bach (München), Birgit Nübel (Hannover), Wolfgang Riedel (Würzburg), Peter Utz (Lausanne), Karl Wagner (Zürich/Wien)

ISBN 978-3-11-072968-9 e-ISBN (PDF) 978-3-11-073040-1 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-073042-5 ISSN 1016-1333 Library of Congress Control Number: 2018962691 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2021 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz und Druckvorlage: Martin Dieringer Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Editorial Der vorliegende Band 36 des Musil-Forums wurde um ein Jahr verspätet abgeschlossen. Nicht nur die Corona-Pandemie mit ihren vielfältigen unerfreulichen Begleiterscheinungen hat sein Erscheinen verzögert, sondern vor allem auch die Berufung des Herausgebers Norbert Christian Wolf von der Universität Salzburg an die Universität Wien sowie der Berufswechsel des langjährigen Redakteurs Harald Gschwandtner bzw. sein Ausscheiden aus der Redaktion während der Arbeit an diesem Band. Die Herausgeber möchten ihm an dieser Stelle für seine engagierte, umsichtige und sorgfältige Redaktionstätigkeit und für den Aufbau sowie die Betreuung des Rezensionsteils danken. Die Buchbesprechungen wurden auch in diesem Band noch von ihm betreut. Nach einer durch den Umzug der Redaktion bedingten Vakanz hat Thomas Hübel an der Universität Wien die bisherigen Agenden Harald Gschwandtners, insbesondere die Redaktion und Fertigstellung der übrigen Rubriken übernommen. Durch diesen Wechsel und die damit verbundene Neuaufstellung waren Verzögerungen unvermeidlich. Wir freuen uns über die Zusammenarbeit mit Thomas Hübel, deren erstes Ergebnis hier vorliegt. Obwohl die für das Jahr 2020 in Lausanne geplante Tagung der Internationalen Robert-Musil-Gesellschaft »Musil (wieder) übersetzt – Musil (à nouveau) traduit – Musil translated (again)« aufgrund der behördlichen Reisebeschränkungen nicht stattfinden konnte, ist geplant, die dafür vorgesehenen Beiträge im nächsten Band 37 des Musil-Forums abzudrucken. Die Herausgeber danken den Organisatoren Hans-Georg von Arburg, Bernhard Metz und Irene Weber Henking für Ihre freundliche Zustimmung. Der Band sollte fristgerecht im Herbst 2022 erscheinen können. Norbert Christian Wolf, Rosmarie Zeller

Inhalt Editorial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

V

Themenschwerpunkt: »Literatur und Polemik in der klassischen Moderne: Robert Musil und Zeitgenossen« Norbert Christian Wolf: Einleitung . . . . . . . . . . .

1

Birgit Nübel: »Schwert und Feder«. Robert Musil und die polemische Tradition des 18. Jahrhunderts . . . . . . . .

14

Juliane Vogel: Der Schnitt gegen den Feind. Polemische Praktiken bei Edgar Allan Poe, Karl Kraus, John Heartfield . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

38

Daniela Strigl: »Von einer blutgierigen Fackel versengt«. Karl Kraus vs. Georg Kulka – und Robert Musils Kommentar im zeitgenössischen Wiener Polemik-Diskurs . .

56

Alexander Honold: Von der Polemik zur Meta-Polemik. Musils Notizen zur Lage von Geist und Literatur . . . .

72

Dirk Rose: Die Amsel oder Robert Musils Novellenpoetik als Gattungspolemik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

90

Hans-Georg von Arburg: Häuserkampf. Musil und das Neue Wohnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

110

Gunther Martens: »Was wirst Du machen, wirklich Teneriffa?« Die Polemik aus der Sicht der experimentellen Psychologie. Oder: Robert Musil und die Affen . . . . . . .

136

Barbara Neymeyr: Der »mitteleuropäische geflügelte Zwergchinese« als anthropologische Rarität. Zur Polemik gegen Spenglers Untergang des Abendlandes in Musils Essay Geist und Erfahrung und zum Nietzsche-Kontext . . . .

166

VIII

Inhalt

Nicole Streitler-Kastberger: »Rettung der Polemik«? Literaturkritische Strategien bei Robert Musil, Walter Benjamin und in der nationalsozialistischen Publizistik (mit einem Seitenblick auf Ödön von Horváth) . . . . . . . .

204

Isabel Langkabel, Katharina Prager: Karl Kraus’ polemische Praktiken in der Ersten Republik . . . . . . . . .

227

Abhandlungen Jacques Le Rider: Karl Kraus und Frankreich. Von der Distanz zur Freundschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

243

Thomas Traupmann: Schauplatz der Konfrontation: Karl Kraus’ Schreibtisch im Kriegskontext . . . . . . . . . .

259

Robert Krause: »Urlaub vom Leben«. Zu einem Ausgangsund Endpunkt von Robert Musils Mann ohne Eigenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

289

Miszelle Hans Ulrich Gumbrecht: Frau mit Eigenschaften

. . . .

305

Rosmarie Zeller: Nachruf auf Philippe Jaccottet (1925– 2021) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

309

Florence Vatan: Nachruf auf Jacques Bouveresse (1940– 2021) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

312

Rezensionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

317

Internationale Robert-Musil-Gesellschaft

Jorge Estrada: Experiencing Ethics with Sterne and Musil (Tim Mehigan) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bernadette Appel: Robert Musil und Amos Gitaï (Manfred Mittermayer). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mariaelisa Dimino, Elmar Locher, Massimo Salgaro (Hg.): Oberleutnant Robert Musil als Redakteur (Rosmarie Zeller) . . . . . . Anja Gerigk: Kulturromane (Florens Schwarzwälder) . . . . . . . Ludwig Laher: Wo nur die Wiege stand (Harald Gschwandtner) . .

317 319 323 327 330

Inhalt

IX

Julia Maas: Dinge, Sachen, Gegenstände (Dominik Müller). . . . . Marjorie Perloff: Ironie am Abgrund (Birthe Hoffmann) . . . . . Mareike Schildmann: Poetik der Kindheit (Kira Kaufmann) . . . . Bastian Strinz: Robert Walsers Prosastücke im Lichte Friedrich Nietzsches (Peter Utz) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Miriam Annabelle Wray: Ornament und Mode bei Kafka, Broch und Musil (Julia Bertschik) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Andreas Blödorn, Christof Hamann, Christoph Jürgensen (Hg.): Erzählte Moderne (Roland Innerhofer) . . . . . . . . . . . . Matthias Bock: Figurationen des Augenblicks (Mandy DröscherTeille) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vera Kaulbarsch: Untotenstädte (David Wachter) . . . . . . . . Paul Keckeis: Robert Walsers Gattungen (Luisa Banki) . . . . . . Stefan Keppler-Tasaki: Alfred Döblin (David Midgley) . . . . . . Uta Klein: Liebe als Folgeproblem von Individualität in der Literatur um 1900 (Thomas Pekar) . . . . . . . . . . . . . . . . . Norbert Christian Wolf: Revolution in Wien (Primus Heinz Kucher) Benedikt Wolf: Penetrierte Männlichkeit/Sebastian Zilles: Die Schulen der Männlichkeit (Florian Kappeler) . . . . . . . . . . . . Niklas Bender: Die lachende Kunst (Anja Gerigk) . . . . . . . . Jacques Bouveresse: Le Mythe moderne du progrès (Rosmarie Zeller) Clemens Peck, Norbert Christian Wolf (Hg.): Poetologien des Posturalen (Joanna Raisbeck) . . . . . . . . . . . . . . . . .

333 337 341

Anschriften der Beiträgerinnen und Beiträger

345 350 354 359 363 366 370 373 378 382 389 393 395

. . . . . . . . .

399

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

403

Redaktioneller Hinweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

404

Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

405

Siglen

Norbert Christian Wolf

Einleitung Der Begriff ›Polemik‹ findet sich in Robert Musils Schriften und Nachlass vergleichsweise selten, doch begegnet er bereits kurz nach dem Beginn und auch noch gegen Ende seiner schriftstellerischen Laufbahn.1 So lautet die Überschrift des vierten Kapitels seiner Dissertation (1908) über die Philosophie Ernst Machs: »Die Polemik gegen den Begriff der Kausalität; sein Ersatz durch den Funktionsbegriff.«2 Wie aus dem argumentativen Kontext hervorgeht, versteht der junge Musil unter ›Polemik‹ hier sachlich (mehr oder weniger) fundierte »Angriffe« auf »bestimmte theoretische Gebilde«,3 also ein Element und Verfahren wissenschaftlicher Kritik. Auch beim späten Musil bleibt dem Polemik-Begriff die Vorstellung unvoreingenommener Prüfung im Sinne des Kritik-Verständnisses der Aufklärung assoziiert. Im Nachlass haben sich Notizen zu einem nicht realisierten Vortragsprojekt erhalten, in dessen projektiertem Titel Musil nichts Geringeres als Die Aufgabe des Dichters zu ergründen sich vornimmt; vermutlich handelt es sich dabei um Skizzen einer geplanten Vorrede zu einer Lesung. Als eine Art Zumutung an das Publikum führen sie Ende der 1930er Jahre das von Klaus Amann bei Musil diagnostizierte Dilemma »programmatische[r] politische[r]«, ja generell ideologischer »Ortlosigkeit«4 exemplarisch vor Augen: Ich weiß nicht, ob es unvermeidlich ist, daß ich [. . .] mit einer kleinen Polemik gegen meine verehrten Gastgeber beginne – Menschen, die den Takt im Verkehr höher stellen als die Unbiegsamkeit der Sache, unterließen es gewiß. Aber ich gehöre nicht unter allen Umständen zu ihnen; ich bin hieher gekommen, um für eine Sache einzustehn, für mich als Sache; und das ist, wenn ich mich so ausdrücken darf, notgedrungen heute eine Sache der europäischen Literatur geworden; weshalb es mich nicht nur 1

2 3 4

Der Themenschwerpunkt »Literatur und Polemik in der klassischen Moderne: Robert Musil und Zeitgenossen« dokumentiert eine von Harald Gschwandtner und mir konzipierte Tagung der Internationalen Robert-Musil-Gesellschaft, die von 4. bis 6. Oktober 2018 im KunstQuartier der Universität Salzburg in Kooperation mit dem interuniversitären Schwerpunkt »Wissenschaft und Kunst«, Programmbereich »Kunstpolemik – Polemikkunst« (Universität Salzburg, Universität Mozarteum Salzburg) stattgefunden hat. Die folgende Einführung greift auch auf Vorarbeiten des Mitorganisators zurück. Für die Erlaubnis, sie zu verwenden, möchte ich ihm an dieser Stelle danken. Robert Musil: Beitrag zur Beurteilung der Lehren Machs und Studien zur Technik und Psychotechnik. Reinbek b. Hamburg 1980, S. 56 (Erstdruck ohne den Anhang: Berlin 1908). Ebd. Klaus Amann: Robert Musil – Literatur und Politik. Mit einer Neuedition ausgewählter politischer Schriften aus dem Nachlass. Reinbek b. Hamburg 2007, S. 18.

2

Norbert Christian Wolf

persönlich angeht, wie ich mich einem Publikum (Zuhörerkreis) empfehlen werde, dem ich noch größtenteils fremd bin.5

Diese wohl nie öffentlich vorgetragene Bemerkung verdeutlicht eine zentrale Herausforderung für den Autor, zumal im Kontext der politischen Zeitläufte der 1930er Jahre: um »der Sache« willen keine Konzessionen gegenüber heteronomen Forderungen an sein Denken und Schreiben zu machen. »Unbiegsamkeit der Sache« – und zwar der eigenen, die mit der »Sache der europäischen Literatur« gleichgesetzt wird – ist hier bedeutend höher gewichtet als Rücksichten konventioneller Etikette bzw. des ›Taktes‹. Das Wissen darum, dass Letzterer von Musil bisweilen in Momenten (scheinbarer oder tatsächlicher) Gefährdung ganz bewusst missachtet wurde, hat Hermann Broch in seinem berühmten Brief an Musil vom 2. September 1933 in die Formel von dessen »militante[r] Art« gebracht, die er »seit Jahren zu kennen« die wohl verzichtbare »Ehre« habe (Br I, S. 580). Auch Elias Canetti hat die eminente Agonalität von Musils Habitus bestätigt: »Seine Haltung zu Männern war eine des Kampfes.«6 Dass es Musil bei seinem unverhohlenen Plagiatsvorwurf gegen Broch um die Integrität der eigenen Autorschaft bzw. des eigenen Werks zu tun war, dass er »nichts, das dafür schädlich werden könnte, in sich eingehen« ließ, führt Canetti empathisch vor Augen: Die Empfindlichkeit für die eigene Person, die lächerlich erscheint, wenn es sich um Malvolio handelt, ist gar nicht lächerlich, wenn es um eine besondere, höchst komplexe, reich ausgebildete Welt geht, die einer in sich trägt und nur durch Empfindlichkeit zu schützen vermag, bevor es ihm gelungen ist, sie herauszustellen. / Seine Empfindlichkeit war nichts anderes als ein Schutz gegen Trübung und Vermischung. Klarheit und Durchsichtigkeit des Schreibens ist keine automatische Eigenschaft, die, einmal erworben, bestehen bleibt, sie muß immer wieder und unaufhörlich erworben werden.7

Solche Zeugnisse von Dritten, aber auch Musils eigene Erwägungen und Äußerungen dieser Zeit zeigen den Autor als dezidierten Outsider des Kulturbetriebs; der Gestus des forciert Agonalen und Polemischen erweist sich für diesen als letzte Möglichkeit literarischer Selbstbehauptung.8 Nicht von ungefähr hat Musil ein ganzes Konvolut von Notizen zu einer geplanten Satire auf den Literaturbetrieb mit dem Arbeitstitel Die Akademie von Dünkel(s)hausen (vgl. Tb I, S. 677–685) angelegt, das auch als Materialsammlung zu einer noch zu schreibenden »Polemik gegen gesellschaftliche Zustände«9 gelten kann: Er erwog nämlich, unter demselben Titel Dünkelshausen seine »Essays über Literatur« zu publizieren und zukünftige sogar 5 6 7 8 9

KA/Lesetexte/Bd. 9 Reden/Vortragsmanuskripte aus dem Nachlass/Die Aufgabe des Dichters. Elias Canetti: Das Augenspiel. Lebensgeschichte 1931–1937. Frankfurt a. M. 1988, S. 160. Ebd., S. 164. Vgl. Amann: Robert Musil – Literatur und Politik (Anm. 4), S. 120–144. So Musils Formulierung in der Theaterkritik »Vivat academia« von Schönherr vom 6. 4. 1922 (GW II, S. 1567–1569, hier S. 1568).

Einleitung

3

»unter diesem Gesichtspunkt ab[zu]fassen.« (Tb I, S. 684) Dabei war es ihm niemals um eine bloße »Polemik gegen A. und B.« als eigenen »Zweck« für sich zu tun,10 denn: »Mit Polemik überzeugt man nicht.«11 Stattdessen ging es ihm um eine »Kritik der Zeit«, deren Versagen etwa in der sachlich nicht begründeten Verehrung gewisser mediokrer Dichter zum Ausdruck komme; durch die kritische »Feststellung ihres Wertes« – also ihrer tatsächlichen künstlerischen und intellektuellen Leistung – sollte dem Publikum genau dies vor Augen geführt werden, wie ein polemischer Essayentwurf mit dem ironischen Titel Über echte deutsche Dichter gleichsam programmatisch postuliert: denn die polemische Anstrengung »gilt einer Haltung.«12 In den Notizen für ein geplantes Aphorismenbuch mit dem Arbeitstitel Die Dichter u.[nd] der Staat reflektiert Musil in diesem Sinn über die »Möglichkeit«, grundsätzliche Erwägungen mit der persönlichen Auseinandersetzung mit meiner literar.[ischen] Umwelt zu verbinden: Jeder Dichtererfolg ist ein Zeichen, woraus man auf die Konstitution der Zeit schließen kann. Es handelt sich also nicht darum, sie alle zu bekämpfen, sondern sie auszuwerten, aus der Zeit zu verstehn u[nd] in ihnen diese zu kritisieren. Dann muß ich auch nicht bloß mich gelten lassen, sondern kann die Frage der richtigen Lösung immer etwas offen halten. (Tb I, S. 858 f.)

Er sucht mithin das Symptomatische im individuellen Missstand offenzulegen. Auch in seinen Theaterkritiken nimmt Musils Polemik ihren Ausgang häufig »bei einer (künstlerischen) Einzelerscheinung«, um »von dort zu einem gesamtgesellschaftlichen Befund« zu gelangen.13 Polemik und Satire verschmelzen hier zu einer Methode literarischer Gesellschaftskritik. Was ist dann aber unter ›Polemik‹, ›Polemiker/in‹, ›polemisch‹ und ›polemisieren‹ im Allgemeinen zu verstehen? Im aktuellen Duden Universalwörterbuch findet sich zum Substantiv ›Polemik‹ (von griech. πόλεµος) folgender Eintrag: Po|le|mik, die; -, -en [frz. polé|mique (subst. Adj.), eigtl. = streitbar, kriegerisch < griech. polemikós = kriegerisch, zu: pólemos = Krieg]: 1. scharfer, oft persönlicher Angriff ohne sachliche Argumente [im Rahmen einer Auseinandersetzung] im Bereich der Literatur, Kunst, Religion, Philosophie, Politik o. Ä.: die -en Lessings gegen Gottsched. 2. 〈o. Pl.〉 polemischer Charakter (einer Äußerung o. Ä.): ein Pamphlet voller scharfer, heftiger P. 3. scharfe, polemisch geführte Auseinandersetzung: eine [wissenschaftliche] P. entfachen, führen.14

10 11 12 13 14

KA/Transkriptionen/Mappe IV/3/435. KA/Transkriptionen/Mappe IV/3/54. KA/Transkriptionen/Mappe IV/3/435. So der Kommentar zu: Das Theater in den Festwochen, in: KA/Bd. 13: Kritiken/Theaterkritiken. Duden. Deutsches Universalwörterbuch. Hg. v. d. Dudenredaktion. 8., überarbeitete und erweiterte Auflage. Berlin 2015, S. 1362.

4

Norbert Christian Wolf

Es handelt sich bei ›Polemik‹ demnach (1.) um eine aggressive Form sozialer Praxis, oder genauer: sozialen Sprachhandelns, (2.) allgemein um eine Art und Weise des Sprechens oder (3.) um einen ganzen kommunikativen Zusammenhang. Als ›Polemiker*in‹ wird in diesem Sinn jemand genannt, der bzw. die »zur Polemik (2) neigt, gern scharfe, unsachliche Kritik übt«;15 als ›polemisch‹ bezeichnet das Wörterbuch ein Sprechen »in der Art, in der Form einer Polemik (1)«: »als Polemik gemeint; scharf, unsachlich«.16 Die dabei immer wieder betonte, konstitutive ›Unsachlichkeit‹ polemischer Rede, die man in Musils Polemiken vergeblich sucht, war nicht immer die zentrale Konnotation auch des Verbums ›polemisieren‹, das im aktuellen Duden Universalwörterbuch folgendermaßen veranschaulicht wird: »sie polemisieren, statt sachlich zu argumentieren«.17 Um den synchronen lexikografischen Befund diachron zu differenzieren, eignet sich ein Blick in das große Grimm’sche Wörterbuch. Dort findet sich im Lemma ›Polemik‹ folgende Worterklärung: »wissenschaftliches wortgefecht und die kunst desselben; im 18. jahrh.[undert] entlehnt aus franz. polémique vom griech. πολεµικη [polemik¯e] (nämlich τεχνη [téchn¯e]), die kriegskunst«.18 Beim Blick auf diese agonale Kommunikationsform ist sogar wiederholt von ›Kunst‹ die Rede, während pejorative Konnotationen wie ›Unsachlichkeit‹ auffallend fehlen. In der Folge definiert Matthias Lexer in weiteren Lemmata den ›Polemiker‹ wertfrei als einen, »der polemik treibt«, veranschaulicht das zugehörige Adjektiv ›polemisch‹ durch den – damals offenbar besonders gängigen und ebenfalls wertfreien – Begriff »die polemische literatur« und paraphrasiert das Verb ›polemisieren‹ ein weiteres Mal wertfrei als »polemik üben«.19 Das neutrale oder gar aufwertende Verständnis begleitet sämtliche Bildungen aus der Wortfamilie um das kämpferische Sprachhandeln. Bezeichnend für den Zusammenhang des gegenwärtigen Themenschwerpunktes ist darüber hinaus die allenthalben konstatierte gedankliche Affinität zwischen ›Polemik‹ und ›Literatur‹ sowie auch die für Musil relevante Frage nach der (Un-)Sachlichkeit der Polemik. Was die Erforschung der Polemik betrifft, so scheint es damit auch heute noch eher im Argen zu liegen, wie das Historische Wörterbuch der Rhetorik nahelegt, dessen ausführlicher einschlägiger Artikel aus der Feder Hermann Stauffers ›Polemik‹ eingangs als »Meinungsstreit« oder »scharfe Auseinandersetzung« paraphrasiert; dort heißt es sodann einleitend: Jede anfängliche Beschäftigung mit der P.[olemik] und ihrer Geschichte ist zunächst ernüchternd [. . .]: Weder existiert 〈P.[olemik]〉 als rhetorischer Fachbegriff, noch 15 16 17 18 19

Ebd. Ebd. Ebd. Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. Bd. 7. Bearbeitet von Matthias von Lexer. Leipzig 1889, Sp. 1977. Ebd.

Einleitung

5

gibt es eine ausgebildete Lehre von ihr als Typus einer Redegattung. Obgleich eine Vielzahl von Forschungsbeiträgen den Begriff im Titel führt [. . .] und eine Fülle von Beispielen rhetorischer und literarischer P.[olemik] bereithält, scheint hier doch in der Mehrzahl weder eine klare Begrifflichkeit noch ein deutliches entwicklungsgeschichtliches Bewußtsein zu herrschen.20

Für die wissenschaftliche Erforschung der Rhetorik bleibt ›Polemik‹ demnach ein vager und unspezifischer Terminus, was nicht zuletzt mit seiner großen Bedeutungsvielfalt sowie eminenten Historizität zusammenhängt: Dies [das Fehlen einer klaren Begrifflichkeit etc., N. C. W.] resultiert auch aus der historisch gewachsenen Vielschichtigkeit, ja Schwammigkeit des Begriffs selbst, die es vorerst festzuhalten gilt. Zum einen bezeichnet P.[olemik], im weiteren Sinne, eine bestimmte Verfahrensweise, eine Methode der Auseinandersetzung; zum anderen, im engeren Sinne, einen literarischen Typus öffentlichen Streitens insbesondere seit der Frühneuzeit; und, zum dritten, wird P.[olemik], zumal in der Forschungsliteratur, zum undifferenzierten Sammelbegriff für heterogene inhaltliche Kontroversen gewählt, ohne daß dies historisch oder systematisch ein- und abgegrenzt würde. Insofern diese dritte Begriffsschicht gemeint ist, gilt es dann allerdings, P.[olemik] im weitesten Sinne als ein die Kommunikationskultur seit ihren Anfängen begleitendes Phänomen in all seinen Ausprägungen namhaft zu machen und diese von der P.[olemik] im engeren Sinne abzugrenzen.21

Die literaturwissenschaftlichen Nachschlagewerke bestätigen den Befund, dass es sich bei der ›Polemik‹ um ein lange Zeit vernachlässigtes Thema handelt, zu dem noch kaum eine genuine Literatur- und Kulturgeschichtsschreibung existiert, die sich erst in jüngster Zeit allmählich zu etablieren scheint.22 So findet sich in dem von 1958 bis 1988 erschienenen Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte bezeichnenderweise nicht einmal ein eigenes Lemma ›Polemik‹, sondern nur der Verweis auf einschlägige Stellen in anderen Artikeln. Dies änderte sich erst mit dem von 1997 bis 2003 ebenfalls bei de Gruyter publizierten Nachfolgeformat: Im Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft definiert der Karl-Kraus-Forscher Sigurd Paul Scheichl ›Polemik‹ als »[a]ggressiv formulierte Texte oder Textteile, die Bestandteil eines meist personalisierten Streits sind«,23 ohne dabei den Vorwurf konstitutiver ›Unsachlichkeit‹ zu wiederholen. Die »Grundbedeutung von Polemik« als »aggressive, auf Bloßstellung und moralische oder intellektuelle Vernichtung abzielende, gleichwohl argumentierende Kritik am Gegner in einem 20 21 22 23

Hermann Stauffer: [Art.] Polemik, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hg. v. Gert Ueding u. a. Bd. 6. Tübingen 2003, Sp. 1403–1415, hier Sp. 1403. Ebd. Eine bemerkenswerte Ausnahme und zugleich einen Anstoß für weitere Forschungen bildet jetzt die Habilitationsschrift von Dirk Rose: Polemische Moderne. Stationen einer literarischen Kommunikationsform vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Göttingen 2020. Sigurd Paul Scheichl: [Art.] Polemik, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Bd. 3. Hg. v. Jan-Dirk Müller u. a. Berlin, New York 2003, S. 117–120, hier S. 117.

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Norbert Christian Wolf

Streit« stellt demnach »keine Gattungsbezeichnung« dar, sondern einen »Typ der Argumentation«, der »in Gestalt vieler Textsorten« erscheint; deshalb sei eine generische »Abgrenzung etwa zum Pasquill, zur ›Schmähschrift‹ oder ›Streitschrift‹ und besonders zum Pamphlet« »[w]eder sinnvoll noch trennscharf möglich«.24 Denn, wie es erläuternd heißt: »All diese Genres können Verfahren der Polemik verwenden. Polemische Äußerungen können auch in als ganzen nicht polemischen Texten stehen.«25 Im Themenschwerpunkt des vorliegenden Bandes, der sich mit der ›Klassischen Moderne‹ einer wichtigen Station der Literatur- und Kulturgeschichte der Polemik widmet, soll es indes nicht in erster Linie um solche vereinzelte polemische Bemerkungen gehen, sondern vor allem um unterschiedliche historische Ausprägungen agonaler schriftstellerischer Auseinandersetzung bzw. des »Streit[s] zwischen zwei und/oder mehreren Kontrahenten«, die literarisch und kulturell signifikant waren, sowie um »Folge[n] von Texten« oder »Einzeltext[en]« aus »solchen Auseinandersetzung[en]«.26 Vergleichsweise einfach lässt sich ›Polemik‹ vorderhand als nicht allein literarische Rede- und Schreibform hingegen von eminent literarischen Gattungen wie der Satire abgrenzen. Karl Kraus, selbst ein Meister der Polemik und der Satire, hat in den Jahrgängen 1908, 1911 und 1926 der Fackel verstreute Bemerkungen über die Abgrenzung zwischen Satire und Polemik hinterlassen, »die ja nicht nur bei ihm der gleichen (radikal ablehnenden) Haltung gegenüber der Wirklichkeit entsprechen«.27 Scheichl resümiert Kraus’ Ausführungen folgendermaßen: »Der Unterschied liege im Grad der Fiktionalisierung: Der Satiriker gestalte die angegriffenen realen Personen wie literarische Figuren, hinter denen weniger die gemeinten Menschen wiedererkannt, als Typen durchschaut werden können, während die Polemik die betreffenden Personen direkt angreife und ihnen schaden wolle.«28 So trennscharf, wie es scheint, lässt sich freilich auch diese Unterscheidung nicht konsequent durchhalten: Als gleichsam maßstabsetzendes literaturhistorisches Beispiel aus dem deutschsprachigen Raum sei in diesem Zusammenhang an das Xenien-Projekt Goethes und Schillers erinnert, das es ihnen erlaubte, allzu zeitgemäße und ausgesprochen persönliche Invektiven gegen zahlreiche Größen des damaligen literarischen Feldes antikisierend verbrämt in polemische Distichen zu verpacken.29 Trotz ihrer konstitutiven ›Polemizität‹ gelten die Xenien bis 24 25 26 27 28 29

Ebd. Ebd. Ebd., S. 117 f. Ebd., S. 118. Ebd., S. 118 f. Vgl. dazu Friedrich Sengle: Die ›Xenien‹ Goethes und Schillers als Dokument eines Generationenkampfes, in: Unser Commercium. Goethes und Schillers Literaturpolitik. Hg. v. Wilfried Barner, Eberhard Lämmert u. Norbert Oellers. Stuttgart 1984, S. 55–77; Franz Schwarzbauer: Die Xenien. Studien zur Vorgeschichte der Weimarer Klassik. Stuttgart, Weimar 1993 (= Germanistische Abhandlungen, Bd. 72).

Einleitung

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heute als Teil des literarischen (i. e. künstlerischen) Werks ihrer Autoren, was wohl auch damit zusammenhängt, dass man sie als satirisches (und damit fiktionalisiertes) Genre verstanden hat. Kaum erschienen 1796 in Schillers Musenalmanach auf das Jahr 1797, lösten sie indes einen gewaltigen Skandal aus, der in einen regelrechten Literaturkrieg mündete und zu einer definitiven Klärung der ästhetischen Fronten beitrug.30 Persönliche Attacken solcher Art lassen sich bereits in den ›gelehrten Polemiken‹ der Frühen Neuzeit beobachten,31 die zur Vorgeschichte entsprechender literarischer Praktiken zählen, aber auch noch in der streitbaren Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, wie Dirk Rose exemplarisch an den ausgreifenden Polemiken um Heine, Nietzsche und Kraus gezeigt hat.32 Häufig sind den Polemiken satirische Elemente inhärent, und Entsprechendes gilt auch umgekehrt: Hinsichtlich des Mann ohne Eigenschaften wäre etwa an die Figur des Zeitgeistdichters Friedel Feuermaul zu denken, hinter dessen satirischer Zeichnung die Polemik gegen den Autorkollegen Franz Werfel so deutlich wird, dass Musil später fürchtete, seinen Romantext durch allzu individuell-zeitbedingte Elemente beschädigt zu haben.33 Um zu verstehen, unter welchen Voraussetzungen und inwiefern bestimmte schriftstellerische Aversionen das Entstehen polemischer Texte oder Textelemente (inner- oder außerhalb von Satiren) generieren, ist der Fokus allein auf die Intentionen der Autoren unzureichend; vielmehr bedarf es eines Blicks auf polemikaffine soziale Situationen und Konstellationen, also auf den polemischen Kontext.34 Dies alles kann im gegenwärtigen Zusammenhang nicht näher ausführt werden. Stattdessen seien mit Blick auf Musil zwei kleine Essays diskutiert, die schon bisher anregend gewirkt haben und maßgebliche Aspekte der Theorie, Rhetorik, Wirkungsweise und sozialen Funktion literarischer Polemik behandeln, nämlich zunächst Jürgen Stenzels Aufsatz Rhetorischer Manichäismus. Vorschläge zu einer Theorie der Polemik, der 1985 im Sammelband Formen und Formgeschichte des Streitens. Der Literaturstreit erschienen ist. Stenzel fasst ›Polemik‹ darin einleitend als »aggressive Rede«, durchaus mit normativem Anspruch und zwar in Abhebung von der sachlichen »Kritik«, 30 31

32 33 34

Vgl. Frieder von Ammon: Ungastliche Gaben. Die »Xenien« Goethes und Schillers und ihre literarische Rezeption von 1796 bis in die Gegenwart. Tübingen 2005 (= Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte, Bd. 123). Vgl. dazu die Publikationen des DFG-Netzwerks »Gelehrte Polemik«, etwa: Gelehrte Polemik: Intellektuelle Konfliktverschärfungen um 1700. Hg. v. Kai Bremer u. Carlos Spoerhase. Frankfurt a. M. 2011; »Theologisch-polemisch-poetische Sachen«. Gelehrte Polemik im 18. Jahrhundert. Hg. Kai Bremer u. Carlos Spoerhase. Frankfurt a. M. 2015. Vgl. Rose: Polemische Moderne (Anm. 22), S. 203–633. Vgl. Josef Strutz: Politik und Literatur in Musils Mann ohne Eigenschaften. Am Beispiel des Dichters Feuermaul. Königstein i. Ts. 1981. Vgl. dazu jetzt Daniel Ehrmann u. N. C. W.: Der Streit um Klassizität. Polemische Konstellationen vom 18. zum 21. Jahrhundert. Einführung, in: Der Streit um Klassizität. Polemische Konstellationen vom 18. zum 21. Jahrhundert. Hg. v. Daniel Ehrmann u. Norbert Christian Wolf. Paderborn 2021, S. 1–29.

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als »jene Rede, in welcher unsachlicher Stil dominiert«.35 Genauer gesagt: »Erst unsachlicher Stil – nicht schon unsachliche Verfahrensweisen wie Zitatverfälschung und dergleichen – qualifiziert eine Rede als polemische.«36 Dass diese systematische Definition auf die jeweiligen Einsätze der historischen Polemiken rund um Musil, die in den folgenden Beiträgen genauer behandelt werden, nur sehr bedingt zutrifft, sollte schon angeklungen sein. Kommunikationstheoretisch entscheidend für sämtliche Fälle von Polemik ist hingegen folgende Feststellung über den Empfänger der polemischen Botschaft: »Der direkte oder indirekte Adressat polemischer Rede ist die polemische Instanz, worunter wir nach dem Muster der Rechtssprache das als entscheidungsmächtig vorgestellte Publikum begreifen.«37 Wie ›entscheidungsmächtig‹ ein Publikum tatsächlich ist, bleibt freilich eine zentrale Fragestellung der historischen Analyse. Darüber hinaus bestimmt Stenzel zum Gegenstand der Rede: »Der polemische Prozeß handelt von einem polemischen Thema. Dieses Thema muß kontrovers sein und eine ausgiebige Energiequelle für Aggressionen, es muß also intensive Wertgefühle aktivieren können.«38 Und zum Sender der Botschaft heißt es entsprechend: »Um seine Absicht zu erreichen, muß der Polemiker, wie schon die klassische Rhetorik dem Redner überhaupt angeraten hatte, als vir bonus erscheinen.«39 Demgegenüber gehört der denunziatorische Verweis auf die schlechten Charaktereigenschaften und die – wie immer problematische – soziale Stellung des Gegners zu den »einschlägigen Topoi« der Polemik,40 mehr noch: Die Unterstellung zählt sogar zu den »Grundoperationen des Polemikers«, wobei die tatsächliche Beweisbarkeit der denunziatorischen Behauptungen eher nebensächlich bleibt: »[I]n der Unterstellung ist der Tatsachengehalt polemischer Behauptungen fraglich, und das kann für das Argument bedeuten, daß es unbewiesen bis unbeweisbar oder gar nachweislich falsch ist, sobald man nachsieht.«41 Darüber hinaus bemüht sich auch Stenzel um eine Abgrenzung zwischen Polemik und Satire: »Gegenüber der Satire hebt sich Polemik durch ihren argumentierenden Grundgestus ab. [. . .] Satire dagegen kritisiert durch komische Darstellung, Mimesis unerwünschter Zustände«,42 wobei Polemik – angeblich anders als umgekehrt – »satirische Züge sehr wohl nutzbringend integrieren kann«; die Satire nämlich sei »ein ästhetisch-pragmatisches Zwitterwesen, und insofern stellt sich auch bei ihr die Wahrheitsfrage; aber erst, 35 36 37 38 39 40 41 42

Jürgen Stenzel: Rhetorischer Manichäismus. Vorschläge zu einer Theorie der Polemik, in: Formen und Formgeschichte des Streitens. Der Literaturstreit. Hg. v. Franz Joseph Worstbrock u. Helmut Koopmann. Tübingen 1985 (= Kontroversen, alte und neue, Bd. 2), S. 3–11, hier S. 4. Ebd., S. 4, Anm. 7. Ebd., S. 5 f. Ebd., S. 6. Ebd., S. 7. Ebd., S. 8. Ebd. Ebd., S. 5.

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wenn man ihre Darstellung analytisch auf Behauptungen reduziert. Nimmt die Satire diese Reduktion selber vor, so wird sie mit ihrem Gattungscharakter uneins: polemische, argumentierende Züge zerstören ihre obligatorische mimetische Indirektheit«.43 Jede und jeder von uns haben es schon erlebt, wie eine Satire in Peinlichkeit kippen kann, wenn sie diese basale poetische Regel missachtet – aber nicht muss, wie das Beispiel der beiden GroßschriftstellerKapitel aus dem Mann ohne Eigenschaften zeigt, in denen Musil sich auch polemisch-argumentierend an seinem Konkurrenten Thomas Mann abarbeitet (vgl. MoE, S. 428–434).44 Abschließend skizziert Stenzel verschiedene Möglichkeiten einer literaturwissenschaftlichen Untersuchung von Polemiken und entwirft idealtypisch folgendes Modell, dessen Anspruch weit über den einer rhetorischen Analyse hinausreicht: »Die historische Einzelfalluntersuchung hat sich (1.) mit der Entstehung der polemischen Situation zu befassen, gleichsam mit der Exposition der polemischen Handlung, (2.) mit Verlauf und Folgen der Polemik und (3.) mit der Symptomatik des untersuchten Konfliktgebietes.«45 Letztere kann auch aus diskurshistorischer Perspektive in den Blick genommen werden, indem etwa jene Orte des Diskurses untersucht werden, an denen sich – wie bei der schon angesprochenen Problematik des ›geistigen Eigentums‹ – Polemiken in besonderer Häufigkeit und Intensität entzünden bzw. entzündet haben. Etwas weniger trocken-analytisch, dafür aber mit größerer rhetorischer Suggestivkraft und Drastik, argumentiert Peter von Matt in seinem Essay Grandeur und Elend literarischer Gewalt. Die Regeln der Polemik aus dem Jahr 1994, der gleich eingangs bestimmt: Polemik von literarischem Rang ist Anwendung von Gewalt, so wirklich wie irgendein Hauen, Stechen, Würgen oder Einsperren. Sie zielt auf den Tod oder die Verstümmelung des Gegners, und sie hat nicht die geringeren Chancen, ihr Ziel zu erreichen, als irgendein Messerstecher oder Knüppelträger. Polemik von literarischem Rang ist allerdings selten. Die Häufigkeit ihres Vorkommens steht in umgekehrtem Verhältnis zur Häufigkeit des bloßen Schimpfens oder Verhöhnens.46

Als entscheidend für das Funktionieren der Polemik erachtet von Matt die Fähigkeit ihrer Verfasserinnen und Verfasser, dem Leser und der Leserin die 43 44

45 46

Ebd. In seiner oben (Anm. 9) bereits zitierten Theaterkritik »Vivat academia« von Schönherr vom 6. 4. 1922 bewertet Musil die von Schönherrs »Satire des Menschlichen« mit ihrem »kosmischen Galgenhumor« bloßgestellten Missstände übrigens als »Symptome, die nur in einem bestimmten Gesamtbild etwas bedeuten«; ein solches entstehe aber erst durch die »Polemik gegen gesellschaftliche Zustände« (GW II, S. 1568). In diesem Sinn erlaubt die Polemik eine viel umfassendere Gesellschaftskritik als die ihr gewissermaßen untergeordnete Satire, die sich an Einzelerscheinungen abarbeitet, ohne ein »Gesamtbild« zeichnen zu können. Stenzel: Rhetorischer Manichäismus (Anm. 35), S. 10. Peter von Matt: Grandeur und Elend literarischer Gewalt. Die Regeln der Polemik, in: ders.: Das Schicksal der Phantasie. Studien zur deutschen Literatur. München 1996, S. 35–42, hier S. 35.

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eigene Strategie zu verheimlichen, damit diese »bei der Stange bleiben und schließlich tun«, wozu sie von dem Polemiker oder der Polemikerin »ausersehen« seien: »den Akt der sozialen Tötung selber [zu] vollziehen durch tätige Verachtung, durch die spontane Exkommunikation des andern im Urteil: Der gehört nicht mehr zu uns!«47 In textueller Hinsicht charakteristisch sei in diesem Zusammenhang der »unverhoffte Wechsel der Aussageweise von der Ironie zum Ernst, von der Überlegenheit zum Zuschlagen«, ja »[l]iterarisch verbindliche Polemik« werde sogar »wesentlich und durchgehend von solchen Umschlägen bestimmt«,48 wie am Beispiel satirisch-polemischer Passagen in Musils Mann ohne Eigenschaften unschwer zu zeigen wäre. Wenn aber von Matt das grundsätzliche »Dilemma« der Polemik im Verfahren lokalisiert, »um der Wahrheit willen die Wahrheit zu verstellen«,49 dann trifft dies die Musil’sche Polemik keineswegs. In seinen offenen Polemiken gegen Rathenau und Spengler verschleiert er niemals den tatsächlichen Adressaten seiner polemischen Rede, indem er suggerieren würde, sein »wahrer Adressat sei der Gegner« und nicht das Publikum, die polemische Instanz, wie das von Matt Polemikern unterstellt. Komplexer verhält es sich freilich mit Musils innerfiktionalen Polemiken gegen Werfel, Rathenau oder Thomas Mann im Mann ohne Eigenschaften, in denen die gemeinten Gegner nicht namentlich genannt werden und die polemische Szene somit nicht voll ausgeführt bzw. satirisch abgemildert erscheint; hier greift dann tatsächlich folgende Beobachtung von Matts: Die wirkliche Kommunikationssituation wird [. . .] durch eine künstliche überlagert. Dies ist nötig, weil mit dem Leser etwas geschehen soll. Ziel ist nicht, daß der Angegriffene seine Meinungen überprüfe, sondern daß der Leser sein Verhalten dem Angegriffenen gegenüber verändert. Er soll ihn nicht mehr zu den Seinen rechnen, soll über ihn lachen, ihn verabscheuen und verachten. Öffentliche Verachtung aber ist soziale Vernichtung.50

Auch Musil zielte auf die argumentative Depotenzierung seiner erklärten ›Gegner‹, was jedoch – nicht zuletzt mangels einer Breitenwirkung seiner Texte – im Effekt nie die Form einer sozialen Vernichtung annahm. Worin gründet nun aber der unbestreitbare Genuss, den die Lektüre von Polemiken gleichwohl bereitet? Von Matt gibt darauf eine zwar bedenkenswerte, aber wohl nicht ganz hinreichende Antwort, die den Grund des Vergnügens an polemischen Gegenständen nur sehr einseitig, nämlich spontanpsychologisierend betrachtet: »Weil wir dabei gewinnen, was der andere verliert. Die praktizierte Verachtung bewirkt ein gesteigertes Gefühl von Zugehörigkeit, und beim Verstoßen fühlt man sich so recht geborgen.«51 Hin47 48 49 50 51

Ebd. Ebd., S. 37. Ebd., S. 41. Ebd., S. 42. Ebd.

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sichtlich der in polemischen Akten implizierten Affektökonomie scheint das zwar durchaus plausibel zu sein; es lässt aber die ästhetisch-poetische Seite der polemischen Praxis gänzlich außer Acht. Das von dieser ausgelöste Vergnügen ist ein sinnliches Erlebnis, das nur wenig mit den geläufigen Vorstellungen ästhetischer Erfahrung zu tun hat, indem es sich nicht mit ›interesselosem Wohlgefallen‹ und auch kaum mit ›Zweckmäßigkeit ohne Zweck‹ – beides im Sinne von Kants Kritik der Urteilskraft – begründen lässt. Um sich der Frage einer Poetizität der Polemik mit genuin literaturwissenschaftlichen Mitteln zu nähern, eignet sich ein kursorischer Blick auf ein Musil-Zitat aus dem Interview mit Alfred Polgar vom 5. März 1926: [A]ls die österreichischen Klerikalen einem schriftstellerisch dilettierenden Beamten, dem Hofrat Millenkovich, die Leitung des Burgtheaters anvertrauten und dieser mit einem völlig lächerlichen christlich-germanischen Schönheitsprogramm vor die Öffentlichkeit trat, tat Polgar nichts, als daß er ihn an der richtigen Stelle eines Satzes den Garten-Laube des Burgtheaters nannte, welches Wort (man muß freilich wissen, was der Name Laubes mit Recht oder Unrecht in der Wiener Theatergeschichte bedeutet) die längste und tatsächlich auch eine erfolgreiche Polemik ersetzte. (GW II, S. 1158)

Die Prägnanz und Treffsicherheit dieser von Musil gerühmten Mikropolemik Polgars resultiert aus einer äußerst kondensierten Wortprägung, die in ihrer ambivalenten Mehrfachcodierung – u. a. durch den Namen eines früheren Burgtheaterdirektors und des als trivial geltenden Journals – auf die Materialität der Sprache selbst verweist und somit jener besonderen sprachlichen Leistung entspricht, die Roman Jakobson als ihre ›poetische Funktion‹ identifiziert hat.52 Jürgen Link hat die sprachliche ›Überstrukturierung‹ sogar jeder Dichtung im emphatischen Wortsinn als genuine Faktur zugeschrieben,53 und Sigmund Freud hat dem Witz, der ebenfalls mit sprachlichen Verdichtungen arbeitet, jene ästhetische Leistung konzediert, die »entblößenden, feindseligen, zynischen, skeptischen« Tendenzen zum Ausdruck verhilft.54 Insofern erscheint Polgars Mikropolemik, die sich in konzentriertester sprachlicher Form des Witzes bedient, zumindest als Grenzfall der poetischen Rede. Im Unterschied zur traditionellen Dichtungsvorstellung ist die Polemik als Poesie aber nicht im Sinne Moritz’ und Kants ›in sich selbst vollendet‹ sowie ›aus sich selbst verständlich‹, sondern in mehrfacher Hinsicht fremdbestimmt sowie – zumindest vom Autor aus gesehen, aber oft auch vom Publikum – nicht (eigen)interesselos, sondern eminent interessegeleitet. Hier stellt sich die Frage nach dem Verhältnis der Polemik zur Autonomie: Ist die Polemik ein 52 53 54

Vgl. Roman Jakobson: Was ist Poesie?, in: ders.: Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921–1971. Hg. v. Elmar Holenstein u. Tarcisius Schelbert. Frankfurt a. M. 1979, S. 67–82, bes. S. 79. Vgl. Jürgen Link: Elemente der Lyrik, in: Literaturwissenschaft. Ein Grundkurs. Hg. v. Helmut Brackert u. Jörn Stückrath. Reinbek b. Hamburg 1992, S. 86–101, hier S. 92 ff. Sigmund Freud: Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten, in: ders.: Gesammelte Werke. Hg. v. Anna Freud u. a. Bd. VI . Frankfurt a. M. 1999, S. 149.

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genuin heteronomes Sprachhandeln bzw. eine heteronome Textsorte? Oder stellen die autonomieästhetischen Prätentionen maßgeblicher Polemikkünstler wie Karl Kraus – oder später Thomas Bernhard – ein Indiz dafür dar, dass Polemik im literarischen Feld gerade ein Mittel zur Ausstellung und Verteidigung künstlerischer Autonomie sein kann? Wogegen richtet sich die agonale Energie der Polemik und wie verhalten sich in diesem Zusammenhang ästhetische Erfahrung und schriftstellerische Strategie zueinander, mithin die symbolische respektive die soziale Ebene polemischer Sprachverwendung? Bisweilen sogar provokant ausgestellte Heteronomie im Symbolischen ist sicherlich eine ästhetisch-poetologisch noch nicht ausreichend gewürdigte Besonderheit literarischer Polemik. Das hier dokumentierte Symposium der Internationalen Robert-MusilGesellschaft widmete sich den polemischen Aspekten des Schreibens und Agierens Musils und seiner Zeitgenossen im literarischen Kräftefeld der Moderne. Ziel war es, das Polemische dieser Epoche als spezifisches Schreib-, Argumentations- und/oder Erzählverfahren in den Blick zu nehmen, aber auch die politischen, ideologischen und kulturellen Kontexte von Musils Polemiken zu konturieren. Erst vor dem Hintergrund zeitgenössischer Konstellationen – so die Annahme – werden die Texte des streitbaren Autors Musil als Einsätze in konkreten ästhetischen und (kultur-)politischen Debatten verstehbar. Mit der Salzburger Tagung zum Thema »Literatur und Polemik in der klassischen Moderne« wollten wir ein Forschungsfeld eröffnen, das Beiträge zu einzelnen charakteristischen Texten Musils (z. B. Das Unanständige und Kranke in der Kunst, 1911; Unter Dichtern und Denkern, 1926; Der bedrohte Ödipus, 1931) oder bestimmten Szenen polemischer Konfrontation (z. B. den Diskussionen um die Vereinigungen, 1911, oder den »Schwärmerskandal«, 1929) ebenso anregt wie umfassendere, Gattungs- und Werkgrenzen überschreitende Themenkomplexe. Das Spektrum möglicher Aspekte der Thematik ist breit gestreut: Dazu zählen Medien und Genres polemischen Schreibens bei Musil (Essays, Feuilletons, Rezensionen, Arbeitshefte, Aphorismen) oder die Situierung seiner Polemiken an der Schnittstelle von Wissenschaft und Kunst (bereits in seiner Ernst-Mach-Dissertation); darüber hinaus die Frage des Konflikts zwischen Musil und anderen Autoren seiner Zeit (Hermann Broch, Karl Kraus, Thomas Mann, Anton Wildgans, Stefan Zweig etc.) – wobei gerade hinsichtlich Brochs und mit Einschränkung sogar Manns zu fragen ist, inwiefern Polemik auch als Effekt künstlerischer Nähe aufgefasst werden kann. Musils Literatur- und Theaterkritiken geraten als Austragungsorte zum Teil harsch geführter ästhetischer Debatten in den Blick (etwa seine Rezensionen über Schriften Walther Rathenaus, Oswald Spenglers, Paula Groggers u. a.), genauso wie Musils ›Kitsch-Polemiken‹ und sein ambivalentes Verhältnis zu Phänomenen des Populären oder seine Tätigkeit als ›Literaturfunktionär‹ und streitbarer ›Kunst- und Kulturpoliti-

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ker‹ (Stichworte: ›Schmutz-und-Schund-Gesetz‹, RAVAG, SDSOe etc.), die in mancher Hinsicht vom früheren Auftragsschreiber im Dienste des österreichischen Staates konterkariert worden sind – Polemik und Propaganda vertragen sich offensichtlich nur in gewisser Hinsicht.55 Ein besonders lohnendes Objekt literaturwissenschaftlicher Aufmerksamkeit bildet Polemik als Gegenstand des Erzählens, etwa im Mann ohne Eigenschaften, aber auch als Mittel erzählerischer Motivierung, wie eine nachgelassene Notiz anlässlich der Korrektur des Kapitels »Ein geniales Rennpferd reift die Erkenntnis, ein Mann ohne Eigenschaften zu sein« nahelegt: »Polemik gegen die alte Moral als Ursache der Sportbewegung«.56 Last but not least ist natürlich auch einmal die Polemik gegen Musil in den Blick zu nehmen, etwa in der zeitgenössischen Rezeption durch die christliche, die sozialistische oder die NSPublizistik, aber auch in den ideologiekritischen Strömungen der Philologie. Diese vorläufige Skizze soll veranschaulichen, wie reichhaltig das vom Themenschwerpunkt des vorliegenden Bandes nur angerissene Forschungsfeld ist. Es war von vornherein klar, dass das breite Spektrum möglicher Themen hier nicht erschöpfend behandelt werden kann. Wenn es jedoch gelungen ist, mit dem Band 36 des Musil-Forums weitergehende Diskussionen und Untersuchungen anzustoßen, dann hat er seine Funktion erfüllt.

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So heißt es auf einem Flugblatt mit der Ankündigung der Zeitschrift Heimat, für die Musil 1918 im Auftrag des Wiener Kriegspressequartiers tätig war, mit Blick auf einen freilich anderen Polemik-Begriff aus dem Bereich der Politik: »Jede Polemik, alle Parteistreitigkeiten müssen fern bleiben, Politik darf nur in jenem Maße behandelt werden, als es das Staatsinteresse und militärische Rücksichten erfordern.« KA/Transkriptionen/Mappe I/2/2.

Birgit Nübel

»Schwert und Feder« Robert Musil und die polemische Tradition des 18. Jahrhunderts Abstract: This article pursues the question of whether Robert Musil’s approach is polemic in two ways: first, from the perspective of literary history and second, by proceeding systematically. A ›polemic‹ is defined as a constructed, performative situation of communication centered on verbal acts of aggression. Although Musil uses a polemical rhetoric – for example in Geist und Erfahrung (1921) and Der Schwärmerskandal (1929) –, this rhetoric is always subordinated to a criticism of his time. Musil’s simultaneous use and criticism of polemics and the ineffectiveness of its ›weapons‹ is an expression of powerlessness in (literary) politics. At the same time, the author generates a philosophical-poetic polemic by using polemical means against the mission of the polemic itself.

1. Einleitung »Ich bin dieser Niemand; ich leugne es gerade zu.«1 (Gotthold Ephraim Lessing)

Inwiefern lässt sich der Autor Robert Musil mit der polemischen Tradition des 18. Jahrhunderts in eine Beziehung setzen? Die Konjunktion ›und‹ im Untertitel dieses Beitrags vermeidet die Option, diesen Autor in der Polemik der Aufklärung zu verorten, auch soll keine Genealogie hergestellt werden, die von Lessing, Herder und Schlegel über Nietzsche bis hin zu Musil reichte. In dessen Nachlasskonvolut ist zwar ein einseitiges, mit »Friedrich Schlegel« überschriebenes Typoskript erhalten, das eine Auswahl von Exzerpten aus den Lyceums-Fragmenten (1797) enthält.2 Doch ausgerechnet diejenigen Schlegel’schen Fragmente, die sich explizit der Polemik widmen,3 sind offenbar nicht von Musil exzerpiert worden (sofern sich das angesichts der Fragmentarizität von Musils Nachlass überhaupt sagen lässt) und somit von 1 2 3

Gotthold Ephraim Lessing: Siebzehnter Brief (16. Februar 1756), in: ders.: Werke und Briefe in 12 Bdn. Hg. v. Wilfried Barner u. a. Bd. 4: Werke 1758–1759. Hg. v. Gunter E. Grimm. Frankfurt a. M. 1997, S. 499–501, hier S. 499. KA/Transkriptionen/Mappe VI/1/4. Vgl. Friedrich Schlegel: Lyceums-Fragmente [Nr. 42], in: ders.: Kritische Friedrich-SchlegelAusgabe. Hg. v. Ernst Behler u. a. I . Abt., 2. Bd.: Charakteristiken und Kritiken I (1796–1801). Hg. v. Hans Eichner. München u. a. 1967, S. 152; hier und im Folgenden zitiert als KFSA . Vgl. ebd., [Nr. 81] (KFSA I/2, S. 157). Musil hat die Lyceums-Fragmente, zum Teil stark gekürzt, in der folgenden Reihenfolge [79], [89], [112], [123], [2], [12], [16], [23], [26], [33], [35], [37], [38],

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der philologisch nachweisbaren Überlieferung ausgeschlossen. Geht man weiter zu Lessing und Herder, so ist der Befund auch nicht viel ergiebiger. Denn deren Autorennamen stehen bei Musil nicht für eine aufklärerisch-streitbare Polemik, sondern für das »Humanitätsideal der Klassik«4 bzw. die »Heiligenlegenden« des Humanismus in seiner im langen 19. Jahrhundert überlieferten und ›verwesten‹ Form bürgerlicher Ideologie.5 Die Namen der mit den Mitteln der Polemik agierenden Aufklärer sind – wie das Taschentuch, das Leo Fischel als Attribut zeitgenössischer Männermode in der Brusttasche trägt6 – modische Reminiszenz, Ausdruck von Anpassung und eben nicht von Kritik und Verletzung des Stils (aptum). So äußert sich Musil in Das hilflose Europa (1922) – wie auch an anderer Stelle – eher skeptisch zum »Bildungswert« von Lessing & Co:7 Immerhin referiert Musil in Der »Untergang« des Theaters (1924) auf der Grundlage von Leopold von Wieses Soziologie des Volksbildungswesens (1921) positiv auf Herders aufklärerischgesellschaftskritischen Bildungsbegriff.8 Mit dessen Anthropologie setzt sich Musil allerdings ausschließlich auf der Grundlage von Eric Voegelins Rasse und Staat (1933) auseinander, und mit der Ästhetik des frühen Herder hat er sich – obwohl ihm von Ernst Cassirer die ersten Bände der »Suppantschitsch Ausgabe« empfohlen worden sind9 – offenbar nicht beschäftigt. 1934 jedoch, im Vortragsentwurf zu »Der Dichter in dieser Zeit«, wird Musil die ›Klassiker‹ der Aufklärungsidee und das auf eine Veränderung der Gesellschaft

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[117], [57], [115] exzerpiert; dies spricht dafür, dass er die Bausteine des Prätexts für den Argumentationsverlauf einer (fiktionalen Figuren-)Rede entsprechend arrangiert hat; zu den intertextuellen Verfahren Musils vgl. Mandy Dröscher-Teille u. Birgit Nübel: Intertextualität, in: Robert-Musil-Handbuch. Hg. v. Birgit Nübel u. Norbert Christian Wolf. Berlin, New York 2016, S. 760–791. KA/Transkriptionen/Mappe IV/3/33. KA/Transkriptionen/Mappe I/6/119. Vgl. KA/Transkriptionen/Mappe Vortrag/170: Leo Fischel »polierte sein Glas mit einem Taschentuch, das er aus der Brusttasche zog, obgleich er früher bestimmt gegen solche Geckerei eingewandt hätte, dass es einem Goethe genügt hat, seine Taschentücher in der Hosentasche zu tragen; mochte das nun stimmen oder nicht.« Robert Musil: Das hilflose Europa oder Reise vom Hundertsten ins Tausendste [1922], in: GW II, S. 1075–1094, hier S. 1093. Vgl. Robert Musil: Der »Untergang« des Theaters [1924], in: GW II, S. 1116–1131, hier S. 1123: »Das Wort im heutigen Sinn kam um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts auf. Allgemeine Bildung hieß damals universelle Erudition; sich bilden, sich formieren; Kant gebrauchte dafür das Wort Kultur; bei Herder, dann bei Goethe tritt in das Wort noch die Bedeutung von paideia und eruditio ein. In der Hauptsache aber war von damals bis gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts Bildung gleich geistiger Selbständigkeit oder Aufgeklärtheit. Vom Zeitalter der Aufklärung geformt, umschloß diese Vorstellung die Opposition gegen kirchliche und politische Gebundenheit und war ursprünglich rationalistisch vom Glauben an die Dreieinigkeit von Natur, Vernunft und Freiheit getragen. Später, als der Glaube an die Autonomie der Vernunft schwere Schlappen erlitten hatte, wurde er teilweise durch den Glauben an das naturwissenschaftlich realistische Denken ersetzt.« KA/Transkriptionen/Heft 30/54. Gemeint ist die von Bernhard Suphan herausgegebene Ausgabe in 33 Bänden, Berlin 1877–1913.

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zielende Konzept der Individualität gegen den Nationalsozialismus wenden: Angesichts solcher Aussprüche [Formulierungen Lessings, Kants und Schillers zur »Kollektivität in der Sittenlehre«, B. N.] drängt sich freilich die Bemerkung auf, daß der Kollektivismus seither aus der Unendlichkeit ordentlich in die Nähe gerückt ist! Und es kann wohl auch nicht verschwiegen werden, daß er sich in der Zeit unserer Klassik auf die »Humanität« und auf die »Persönlichkeit« verlassen hat, wogegen er heute antiindividualistisch und antiatomistisch auftritt und nicht gerade ein leidenschaftlicher Verehrer der Humanität ist.10

Während er Herder in erster Linie, wenn nicht gar ausschließlich, aus zweiter Hand rezipiert, scheint Lessing von Musil auch primär gelesen worden zu sein, sogar – wenn auch in ironische Klammern gesetzt – Vorbild- bzw. Leitbild-Charakter zu haben. So bezieht sich der Archivar, die titelgebende neurasthenisch-autofiktionale Figur eines autobiographischen Roman-Entwurfs, die das ›unreife‹ Gefühl hat, »das müßte alles anders gemacht werden«,11 explizit auf Lessing: »Er sagt sich: Lessing war Bibl.[iothekar] usw. also kann die Schuld nur an mir liegen.«12 Noch im Genfer Exil wird Musil zwei Seiten von Racines Andromaque (1667) (»[b]einahe ohne Hilfe« Marthas) im französischen Original lesen und seine »Lessingausgabe [. . .] auf den Bücherborden in Wien« vermissen. Dieser materielle Verlust steht allerdings im Kontext einer Reflexion auf die »Dramaturgie der Schwärmer«13 und nicht einer polemischen Traditionsbildung. 1937, also noch vor seiner Emigration in die Schweiz, entwickelt Musil in einem Brief an den Dirigenten Hermann Scherchen (1891–1966) den Plan »eine[r] ›komplette[n]‹ Zeitschrift«, »mit Dichtung, Essay, Kritik u. Diskussion von Kunstfragen«. Diese soll – im Rückgriff auf die Kommunikationsform Moralische Wochenschrift (mit Referenz auf die »Gattin«/Gottschedin) und »geleitet von einem kleinen Ausschuß« – »das autonome Geistesleben davor [. . .] retten, daß die Politik es ganz auffrißt.«14 Der autonome Geist, der sich nicht auffressen lassen will, degeneriert unter den Bedingungen totalitär-nationalsozialistischer Gewaltherrschaft zur ›rhetorischen Polemik‹, zum aufklärerischen Schein-Dialog. Ist bei Musil »der Gestus des Polemischen [. . .] als letzte Möglichkeit ›literarischer Selbstbe10 11 12 13 14

Robert Musil: Der Dichter in dieser Zeit [1934], in: GW II, S. 1243–1258, hier S. 1245 f. KA/Transkriptionen/Heft I/40. KA/Transkriptionen/Heft I/39. KA/Transkriptionen/Heft 35/3. Robert Musil an Hermann Scherchen, 28. Januar 1937 (Br I, S. 759 f., hier S. 759); vgl. »[. . .] daß ein Ausgewählter (am besten Sie u[nd] ihre Gattin selbst in Fortführung des mit den Zitaten Begonnenen) einen einleitenden oder umreißenden Aufsatz schreibt, dieser einem größeren Kreis im M[anu]sk[rip]t oder Abzug zugänglich gemacht wird, worauf der Mitarbeiterkreis sich polemisch oder ergänzend äußert, u. schließlich beides von redaktionswegen [sic] noch einmal zusammengefaßt wird.« (Br I, S. 760).

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hauptung‹«15 zu lesen? Oder aber als Zeichen persönlicher wie programmatischer Selbstaufgabe? Wenn Musil polemisch agiert, so geschieht dies, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, nicht in markierter literarhistorischer Referenz auf die Polemik der Aufklärung.16 Musil behauptet sich vielmehr mit einer polemischen Geste der Autonomie gegenüber einer von ihm konstatierten allgemeinen ›Dummheit‹,17 den Mechanismen des Literaturbetriebs wie der nationalsozialistischen Herrschaft: Musil übt Gesellschafts- und Kulturkritik mit den Mitteln der Polemik. Im Folgenden soll Musils polemische Position zwischen Selbstbehauptung und Selbstaufgabe, Kampf und Kritik in einem Zeitraum von der Jahrhundertwende um 1900 bis 1942 herausgearbeitet werden.

2. Ist Robert Musil ein Polemiker? Wenn »auf hundert Ironiker oder Pathetiker oder Polterer ein einziger Polemiker« kommt,18 dann gehört Musil – im Gegensatz zu Rudolf Borchardt, Karl Kraus, Theodor Haecker o. a.19 – nicht dazu. Musil ist weder Polemiker20 noch hat er eine Theorie der Polemik vorgelegt. Musil inszeniert einen polemischen Gestus in seinen Texten, die auf die eine oder andere Weise vielfach polemisch wirken, grundsätzlich aber Polemik kritisieren und ironisieren. Polemik ist keine (Kunst-)Gattung, sondern eine Redetechnik. Friedrich Schlegel hat in Lessings Gedanken und Meinungen (1804) Polemik »als eine der Kritik sehr nah verwandte Gattung«21 bezeichnet. Mit Klaus L. Berg15 16 17 18 19 20

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Harald Gschwandtner u. Norbert Christian Wolf: Exposé zur Tagung »Literatur und Polemik in der klassischen Moderne: Robert Musil und Zeitgenossen«, Universität Salzburg 4.–6. Oktober 2018. Vgl. Panajotis Kondylis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus. Hamburg 2002, S. 19–35. Vgl. Robert Musil: Über die Dummheit [1937], in: GW II, S. 1270–1291. Peter von Matt: Grandeur und Elend literarischer Gewalt. Die Regeln der Polemik [1979], in: ders.: Das Schicksal der Phantasie. Studien zur deutschen Literatur. München 1996, S. 35–42, hier S. 37. Vgl. Christoph Deupmann: Polemik, in: Metzler Lexikon Literatur. Begriffe und Definitionen. Hg. v. Dieter Burdorf u. a. 3. Aufl. Stuttgart, Weimar 2007, S. 596 f., hier S. 597. Vgl. Gunther Martens: Rhetorik der Evidenz, Schreibweisen der Polemik: Jünger – Kraus – Musil, in: Terror und Erlösung. Robert Musil und der Gewaltdiskurs in der Zwischenkriegszeit. Hg. v. Hans Feger, Hans-Georg Pott u. Norbert Christian Wolf. München 2009, S. 43–63, hier S. 55: »Musil war kein Polemiker wie Kraus, aber Musils Pointen, boshafte Porträts und Kurzcharakteristiken in Essay oder Kritik (etwa in Bezug auf den Expressionismus oder auf Spengler) erinnern [. . .] stark an Kraus’sche Schreibverfahren.« Friedrich Schlegel: Lessings Gedanken und Meinungen. Vom Wesen der Kritik [1804] (KFSA I/3, S. 46–60, hier S. 52); vgl. hierzu Klaus L. Berghahn: »Zermalmende Beredsamkeit«. Lessings Literaturkritik als Polemik, in: Lessing Yearbook 24 (1992), S. 25–43, hier S. 26. Nach Hermann Stauffer (Polemik, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hg. v. Gert Ueding. Tübingen 2003, Sp. 1403–1415) liegt »kein eigenständiger Gattungstypus« (Sp. 1405) oder eine »Redegattung« (Sp. 1403) vor, vielmehr handele es sich um »Techniken polemischer Rede«

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hahn könnte Kritik als literarische Gattung und Polemik als deren Methode verstanden werden.22 Günter Oesterle konstatiert eine »Dissoziation von Kritik und Polemik«, die sich im 18. Jahrhundert »parallel« zu der »von Satire und Pasquill« entwickelt habe.23 Während Kant die auf dem »Grundsatz der Neutralität«24 beruhende »Kritik der reinen Vernunft« als den »wahren Gerichtshof für alle Streitigkeiten«25 und somit als den Höhepunkt philosophischer Zivilisiertheit bestimmt, erfährt Polemik als »Streithändel«,26 »endlose[ ] Streitigkeiten« und »Krieg« im »Stande der Natur«27 im Zuge der ›Entpolemisierung der Kritik‹ eine Abwertung.28 Bei Musil werden, so die These, Kritik und Polemik wieder zusammengeführt. Das Ironie-Konzept Musils steht in der Tradition der Frühromantik; es ist selbstreflexiv und das heißt, immer auch gegen sich selbst gerichtet und gattungsreflexiv. Polemik dagegen, so könnte zunächst vermutet werden, ist weniger ironisch-selbstdestruktiv als vielmehr gegen den Gegner, den männlichen Konkurrenten gerichtet und umso unerbittlicher, je näher der ›Feind‹ innerhalb der eigenen Planche steht. Als ›kämpferisch-kriegerische‹ Schreibund Inszenierungstechnik ist Polemik eng mit Männlichkeitskonzepten verbunden.29

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(Sp. 1405); Sigurd Paul Scheichl (Polemik, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Hg. v. Jan-Dirk Müller. Berlin, New York 2003, Bd. 3, S. 117–120) spricht von einem »Argumentationstyp« (S. 117), Wilfried Barner (›Rettung‹ und Polemik. Über Kontingenz in Lessings frühen Schriften, in: ders.: »Laut denken mit einem Freunde«. Lessing-Studien. Hg. v. Kai Bremer. Göttingen 2017, S. 367–378) von einer »Rede- oder Schreibweise, die sich vielerlei Gattungen bedienen kann« (S. 368). Auch von Matt (Anm. 18, S. 36) verwendet konsequent den Text- statt des Gattungsbegriffs. Vgl. Berghahn: »Zermalmende Beredsamkeit« (Anm. 21), S. 26 u. S. 38. Günter Oesterle: Das »Unmanierliche« der Streitschrift. Zum Verhältnis von Polemik und Kritik in Aufklärung und Romantik, in: Formen und Formgeschichte des Streitens. Der Literaturstreit. Hg. v. Franz Josef Worstbrock u. Helmut Koopmann. Tübingen 1986, S. 107–120, hier S. 110. Immanuel Kant: Theoretische Philosophie. Hg. v. Georg Mohr. Bd. 1: Kritik der reinen Vernunft [1781/87]. Frankfurt a. M. 2004, S. 743. Ebd., S. 740. Ebd., S. 737. Ebd., S. 740. Vgl. Oesterle: Das »Unmanierliche« der Streitschrift (Anm. 23), S. 110 f. Im Folgenden wird in Bezug auf den Autor Musil und die polemische Kommunikationsform ausschließlich die grammatisch männliche Form für die Begriffe ›Gegner‹ etc. verwendet; nicht weil diese die weibliche ›mitmeint‹, sondern weil die Formen öffentlicher polemischer Auseinandersetzung zwischen Frauen, wie auch die Polemik gegen Frauen bzw. das ›weibliche Geschlecht‹ und die Kategorie ›Gender‹ einer eigenen Erforschung bedürfen, die im Kontext des vorliegenden Beitrags nicht geleistet werden kann; vgl. hierzu die Ringvorlesung »Polemik und Gender. Konstruktionen – Distinktionen – Provokationen«, die im Sommersemester 2017 an der Universität Salzburg unter der Leitung von Hildegard Fraueneder u. Christa Gürtler stattgefunden hat (https://www.w-k.sbg.ac.at/de/kunstpolemik-polemikkunst/oeffentlicheringvorlesung/polemik-und-gender-konstruktionen-distinktionen-provokationen.html; aufgerufen am 4. 4. 2019).

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Friedrich Schlegel hat von der bloß ›rhetorischen Ironie‹ der Polemik gesprochen, die er von der philosophischen und poetischen abgrenzt: Die Philosophie ist die eigentliche Heimat der Ironie, welche man [als] logische Schönheit definieren möchte: denn überall wo in mündlichen oder geschriebenen Gesprächen, und nur nicht ganz systematisch philosophiert wird, soll man Ironie leisten und fordern; und sogar die Stoiker hielten die Urbanität für eine Tugend. Freilich gibts auch eine rhetorische Ironie, welche sparsam gebraucht vortreffliche Wirkung tut, besonders im Polemischen; doch ist sie gegen die erhabne Urbanität der sokratischen Muse, was die Pracht der glänzendsten Kunstrede gegen eine alte Tragödie in hohem Styl. Die Poesie allein kann sich auch von dieser Seite bis zur Höhe der Philosophie erheben, und ist nicht auf ironische Stellen begründet, wie die Rhetorik. Es gibt alte und moderne Gedichte, die durchgängig im Ganzen und überall den göttlichen Hauch der Ironie atmen. Es lebt in ihnen eine wirklich transzendentale Buffonerie. Im Innern, die Stimmung, welche alles übersieht, und sich über alles Bedingte unendlich erhebt, auch über eigne Kunst, Tugend, oder Genialität: im Äußern, in der Ausführung die mimische Manier eines gewöhnlichen guten italiänischen [sic] Buffo.30

Diese Unterscheidung – zwischen einer ›rhetorischen Ironie im Polemischen‹ und der poetisch-›transzendentalen Buffonerie‹ im Sinn einer ›Ironie der Ironie‹ – wird im Folgenden mit derjenigen von Polemik1 , die sich der Mittel der Rhetorik bedient, und einer Polemik2 , als einer selbstreflexiven, die Mittel der rhetorischen Polemik kritisierenden Polemik zusammengedacht. Zielt Musil auf der Ebene der Polemik1 auf eine Kritik der Sache, auch wenn die verwendeten ironisch-rhetorischen Mittel andere Autoren ›persönlich‹ angreifen, so wird auf der Ebene der Polemik2 diese Rhetorik in Bezug auf ihre Wirkungslosigkeit kritisiert. Angesichts der nationalsozialistischen Herrschaft degeneriert die mit den Mitteln der ›rhetorischen Polemik‹ vorgetragene Kritik zu einer unwirksamen ›Waffe‹ des Kampfes. Unter den Bedingungen der Heteronomie behauptet die polemische Geste einen Anspruch auf Autonomie. Eine (rhetorische) Polemik1 lässt sich für Musils Essays konstatieren: für seinen Anti-Goeze,31 den ›Anti-Spengler‹, Geist und Erfahrung (1921), ebenso wie für den ›Anti-Rathenau‹, Anmerkungen zu einer Metapsychik (1914), oder aber für die Theater-Kritiken zu Werfel, Wildgans u. a. Deutlicher aber noch als im Bereich der Populärphilosophie und -dichtung wird ›Die Bedeutung der Konkurrenz im Gebiete des Geistigen‹32 bzw. innerhalb des zeitgenössischen Literaturbetriebs in Musils polemischen Invektiven, die sich auf den 30 31 32

Vgl. Schlegel: Lyceums-Fragmente [Nr. 42] (KFSA I/2, S. 152; Hervorhebungen B. N.). Vgl. Gotthold Ephraim Lessing: Fragmentenstreit. Zweiter Teil: Die Kontroverse mit Johann Melchior Goeze, in: ders.: Werke und Briefe in 12 Bdn. Hg. v. Wilfried Barner u. a. Bd. 9: Werke 1778–1780. Hg. v. Klaus Bohnen u. Arno Schilson. Frankfurt a. M. 1993. Vgl. Karl Mannheim: Die Bedeutung der Konkurrenz auf dem Gebiete des Geistigen [1929], in: ders.: Wissenssoziologie. Auswahl aus dem Werk. Hg. v. Kurt H. Wolff. 2. Aufl. Darmstadt 1970, S. 566–614.

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›Großschriftsteller‹ Thomas Mann oder den philosophisch-enzyklopädischen Romancier Hermann Broch beziehen. Vor allem das unveröffentlichte essayistische Fragment über Hermann Hesse33 ist zwar vernichtend, aber nicht unbedingt persönlich verletzend, wenn die soziale Homophilie des Peter-Camenzind-Romans (1904) herausgestellt wird, ohne aber dem Autor Hesse Homosexualität zu unterstellen.34 Grundlage der polemischen Rhetorik (Polemik1 ) Musils gegenüber den Schriftstellerkollegen ist in literaturästhetischer sowie -politischer Hinsicht zum einen ein normatives Dichterkonzept, zum anderen aber auch ein literatursoziologischer Blick auf die Rolle des zeitgenössischen Schriftstellers im Literaturbetrieb und dessen (Nicht-)Anerkennung durch das Publikum. Denn je ›größer‹, im Sinn von öffentlich gewichtiger, bedeutender, erfolgreicher und beliebter der Angegriffene ist, desto besser greifen in der polemischen Interaktion die Mechanismen der Projektion,35 Entlastung36 und Prestigeübertragung.37 33

34

35 36

37

Vgl. KA/Lesetexte/Bd. 15 Fragmente aus dem Nachlass/Über echte deutsche Dichter (vgl. KA/ Transkriptionen/Mappe IV/3/435): »Hesse: Ehe zwischen Gottfried Keller und der Marlitt, mehr nach der Seite der Mutter. Der Camenzind fängt gut an und klingt gut aus. Aber merkt niemand die Kluft zwischen dem Ton des Endes und dem des Buches? Merkt niemand, daß sagen, die Natur ist schön noch keine Dichtung von der Natur ist? Fühlt niemand, daß auch eine bessere Schilderung der Natur nichts wäre? Darf man Jacobsen wiederholen? Fühlt niemand die eigentümliche Anerotik dieses Buches? Das Sentimentale seiner Freundschaften. Das selbstverständliche Küssen von Männern und Miteinanderleben und für einander Schwärmen – das Selbstverständliche! Unbeachtete! Brottägliche! In Summa das Homosexuelle dieses Buches?! Fühlt niemand den Schwindel mit der guten Frau in Italien, die wie solche gute Frauen gewiß selten badet? [. . .] Dann merkt niemand das schlechte und gemeine Deutsch des Buches? Diesen Kommisstil? Fühlt niemand den holprigen Gang, das Dillettantische [sic], Geheftete dieses Buches? Wehrt sich niemand gegen die Apostrophe solcher Leser, die sich für Pariser Kokottenerlebnisse interessieren würden[,] als Schweinigel, während von Betrunkenheiten gesprochen wird wie von verzeihlichen Torheiten? So als ob man das Wort Geschlecht nicht aussprechen dürfte, dafür aber breit auf den Fußboden spucken?« (Hervorhebungen B. N.). Vgl. dagegen die Polemik Heinrich Heines gegen August von Platen in: Die Bäder von Lucca, in: ders.: Reisebilder. Dritter Theil. Hamburg: Hoffmann und Campe 1830. Thomas Mann wird am 3. Dezember 1932 in Das Tagebuch »Robert Musils große[n] Roman Der Mann ohne Eigenschaften« mit einem Platen-Zitat empfehlen: »Seid nicht träge und furchtsam! Lest diesen großen Roman! Laßt euch erhellen, erheitern, befreien von seinem keuschen Witz, seiner bildnerischen Geistigkeit und euch über das ordinäre Mystagogengeschwätz, über die Schwaden verdorbener Literatur, die Deutschland verpesten, hinaus ins Reine tragen! Denkt an den Vers, den Platen – er wußte, warum – seinen Deutschen ins Stammbuch schrieb: ›Dieser entsetzlichen Furcht vor dem Geist, ihr Guten, entschlagt euch: Kommt ihm näher, er ist lieblich und ohne Gefahr.‹« (KA/Kommentare u. Apparate: Zeitgenössische Rezensionen). Vgl. Matt: Grandeur und Elend literarischer Gewalt (Anm. 18), S. 35. Vgl. Dieter Lamping: Zur Rhetorik des Verrisses, in: Formen und Formgeschichte des Streitens. Der Literaturstreit. Hg. v. Franz Josef Worstbrock u. Helmut Koopmann, Tübingen 1986, S. 34–40, hier S. 40; vgl. Dieter Claessens: Entlastung, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. v. Joachim Ritter u. a. Basel 1972, Bd. 2, S. 538 f. Vgl. Wilfried Barner: Autorität und Anmaßung. Über Lessings polemische Strategien, vornehmlich im antiquarischen Streit, in: ders.: »Laut denken mit einem Freunde« (Anm. 21), S. 265–286, hier S. 275 f.

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Schlegel hat in den Lyceums-Fragmenten von der »polemischen Fiktion« gesprochen: Es hat etwas Kleinliches, gegen Individuen zu polemisieren, wie der Handel en detail. Will er die Polemik nicht en gros treiben, so muß der Künstler wenigstens solche Individuen wählen, die klassisch sind, und von ewig dauerndem Wert. Ist auch das nicht möglich, etwa im traurigen Fall der Notwehr: so müssen die Individuen, kraft der polemischen Fiktion [Hervorhebung B. N.], so viel als möglich zu Repräsentanten der objektiven Dummheit, und der objektiven Narrheit idealisiert werden [. . .].38

In diesem Sinn ließe sich die rhetorische Polemik gegen Oswald Spengler als »Repräsentanten der objektiven Dummheit« in Geist und Erfahrung (1921) verstehen, während die Invektiven gegen Jo Lherman (i. e. Walter Ullmann) in Der Schwärmerskandal (1929) als »traurige[r] Fall der Notwehr« gelten können. Polemik ist auch bei Musil nicht (nur) durch »verletzte Eitelkeit«39 motiviert, sondern zuerst und vor allem eine Methode der Autorinszenierung, die dem Gebot der »Selbstbehauptung des Polemikers auf dem öffentlichen Markt«40 entspricht: je anerkannter der Gegner, desto höher der eigene Prestige- bzw. Positionsgewinn. Es ließe sich zudem die Behauptung aufstellen, dass Polemik ein durchgängiges Textmerkmal der Theater-Kritiken Musils ist. Lobendes, KritischWürdigendes, ›Rettendes‹41 ist dagegen eher in den Essays – sei es zu Johannes von Allesch, Robert Müller, Alfred Kerr oder Franz Blei – zu finden. Dagegen sind die Invektiven gegen das sogenannte illustrative Schauspieler- bzw. Burgtheater (als Gegenpol zum eigenen ›schöpferischen‹ Theaterkonzept) Teil der angewandten, rhetorischen Polemik1 Musils, seien sie nun gegen Franz Werfel, Anton Wildgans oder Hermann Sudermann lanciert. Als (Theater-)Kritiker lässt sich Robert Musil somit durchaus in die Tradition des 18. Jahrhunderts, beispielsweise von Lessings Hamburgischer Dramaturgie (1767/69) stellen, die selbst weder Dramaturgie noch Theatertheorie ist, sondern ein überwiegend polemischer Text,42 das heißt: Kritik an den Schauspieler*innen, den schlechten Stücken und untalentierten Autoren, vor allem aber die bissige Klage darüber, wie unsinnig und verfehlt es sei, den Deutschen, die weder eine Nation sind noch ein Theater haben, eine Dramaturgie zu schreiben.43 Der Kritiker Musil hat sich in einer »Nur Literatur II« überschriebenen Notiz (1927) selbst, wenngleich (selbst-)ironisch, in dieser Tradition verortet: 38 39 40 41 42 43

Schlegel: Lyceums-Fragmente [Nr. 81] (KFSA I/2, S. 157). Berghahn: »Zermalmende Beredsamkeit« (Anm. 21), S. 35. Ebd., S. 27. Vgl. Barner: ›Rettung‹ und Polemik (Anm. 21), S. 367–378. Vgl. Berghahn: »Zermalmende Beredsamkeit« (Anm. 21), S. 28. Vgl. Lessing: Hamburgische Dramaturgie, in: ders.: Werke und Briefe in 12 Bdn. Hg. v. Wilfried Barner u. a. Bd. 6: Werke 1767–1769. Hg. v. Klaus Bohnen u. Wilfried Barner. Frankfurt a. M. 1985, S. 181–694, hier S. 684.

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Ich soll einmal im Monat, in zwei aufeinanderfolgenden dieser Hefte, hier Kritiken der schönen deutschen Literatur schreiben. Ich soll besprechen, was mir besprechenswert erscheint, und soll dabei, so gut ich es vermag, dem alten Gebäude der Hamburgischen Dramaturgie einen neuzeitlichen Flügel, eine Korrektionsanstalt anfügen, worin hauptsächlich Epiker untergebracht werden dürfen.44

Neben persönlichen, auf die Person oder die Rolle des einzelnen Schriftstellers oder sonstiger Agenten im Literaturbetrieb gerichteten Polemiken gibt es in Musils Œuvre auch sachlich-diskursive – das betrifft die kritische Auseinandersetzung beispielsweise mit Ellen Key, der reformpädagogischen Vertreterin eines ›gynozentrischen Feminismus‹ avant la lettre, in Bezug auf die satirisch aus Zitaten zusammengesetzte Diotima-Figur, die aufgrund ihres fiktionalen Status dem Bereich der Satire zuzuordnen wäre.45 Als weitere Beispiele zu nennen sind der Nietzsche-Kult, der in der Clarisse-Figur dekonstruiert wird, sowie der Genie-Diskurs, der im Mann ohne Eigenschaften (1930/32) als Erbe des 18. Jahrhunderts im Kontext von feuilletonistischer Sportberichterstattung ›aufs Korn genommen‹ wird. Die satirischen, aus Zitaten konstruierten Figuren Arnheim, Diotima, Clarisse, Meingast, Lindner u. a. sind – bezogen auf die zeitgenössischen Diskurse, denen sie entnommen (›herausgeschnitten‹) worden sind, also gewissermaßen ins Referentielle zurückübersetzt – immer auch als Polemik2 , also als philosophische und poetische Polemik lesbar.

3. Was ist Polemik? Etymologisch leitet sich ›Polemik‹ von ›Kampf‹, ›Schlacht‹ und ›Kriegsgetümmel‹ ab46 und wird in den meisten Lexika- und Wörterbuchartikeln vom kriegerischen Geschehen auf sprachliche Handlungen übertragen. Der deutsche Begriff ›Polemik‹ ist – wie auch das Wort ›Kritik‹47 – eine »Lehnübersetzung« aus dem 18. Jahrhundert, und zwar »des französischen Adjektivs ›polémique‹ bzw. dessen gleichlautender Substantivierung.«48 Auch der Kollektivsingular ›Krieg‹ – das Wort bedeutet ursprünglich nicht nur ›bewaffnete Auseinandersetzung‹, sondern auch ›Streit‹ und ›Kampf‹ im weiteren Sinn – 44 45 46 47

48

Vgl. KA/Lesetexte/Bd. 15 Fragmente aus dem Nachlass/Einige Schwierigkeiten der Dichtkunst (vgl. KA/Transkriptionen/Mappe VI/2/50). Vgl. Deupmann: Polemik (Anm. 19), S. 597: »Im Unterscheid zur meist indirekt verfahrenden Satire verzichtet die Polemik auf Fiktion und erzählende Form und verwendet in geringerem Maße Mittel der Ironie und Komik.« Vgl. Deupmann: Polemik (Anm. 19), S. 596; Scheichl: Polemik (Anm. 21), S. 118 u. a. Nach Kurt Röttgers (Kritik, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Hg. v. Otto Brunner, Werner Conze u. Reinhart Koselleck. Bd. 3, Stuttgart 1982, S. 651–675, hier S. 660) ist »das Wort ›Kritik‹ erstmals 1718 in einem deutschen Text« belegbar. Stauffer: Polemik (Anm. 21), Sp. 1403.

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entstand um 1800. Weder zu ›Polemik‹ noch zu ›Krieg‹ gibt es jedoch eine klare Begrifflichkeit, geschweige denn eine allgemeine bzw. einheitlich akzeptierte Definition. Als kleinster gemeinsamer Nenner bzw. als gemeinsame Schnittfläche der Begriffe ›Krieg‹ und ›Polemik‹ ließe sich ›Gewalt‹ ausmachen, welche bestimmt werden könnte als [d]er absichtliche Gebrauch von angedrohtem oder tatsächlichem körperlichem Zwang oder physischer Macht gegen die eigene oder eine andere Person, gegen eine Gruppe oder Gemeinschaft, der entweder konkret oder mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Verletzungen, Tod, psychischen Schäden, Fehlentwicklung oder Deprivation führt.49

Diese intentionale ›Gewalt‹, sei es als Androhung oder Ausübung, wird in verschiedenen Disziplinen (Biologie, Psychologie und Soziologie u. a.) mit ›Aggression‹ gleichgesetzt. Und so ist ›Polemik‹ in den einschlägigen Lexikaund Wörterbucheinträgen eher metaphorisch denn definitorisch bezeichnet als »aggressive Rede«,50 »direkte, aggressive Form der Auseinandersetzung«51 bzw. als »aggressive, auf Bloßstellung und moralische oder intellektuelle Vernichtung abzielende [. . .] Kritik am Gegner in einem Streit.«52 In Bezug auf kriegerische und sprachliche Gewalt ließe sich innerhalb einer noch zu schreibenden (Literatur-)Geschichte der Polemik allenfalls eine heuristische Grenze zwischen physisch-materieller Gewalt i. e. S. und psychischer Gewalt i. w. S. ziehen, da eine sprachliche Handlung nicht nur psychische Verletzungen, sondern – je nach Machtposition der Aussageinstanz – auch konkrete materielle Folgen (Nichtgewährung eines Stipendiums, Entlassung aus dem Dienst, Exilierung etc.) bewirken kann. Inwiefern ist aber Sprache selbst Gewalt? Kann Sprache nicht nur verletzen,53 sondern auch töten? Wenn Polemik eine »Sprache der Gewalt«54 ist, 49 50 51 52 53

54

WHO Global Consultation on Violence and Health. Violence: a public health priority. Geneva, World Health Organization, 1996 (document WHO/EHA/SPI .POA .2); zit. nach WHO : Weltbericht Gewalt und Gesundheit. Zusammenfassung. WHO 2003, S. 6. Jürgen Stenzel: Rhetorischer Manichäismus. Vorschläge zu einer Theorie der Polemik, in: Formen und Formgeschichte des Streitens. Der Literaturstreit. Hg. v. Franz Josef Worstbrock u. Helmut Koopmann, Tübingen 1986, S. 3–11, hier S. 4. Deupmann: Polemik (Anm. 19), S. 596. Scheichl: Polemik (Anm. 21), S. 117. Vgl. Steffen K. Herrmann, Sybille Krämer u. Hannes Kuch: Verletzende Worte. Eine Einleitung, in: Verletzende Worte. Die Grammatik sprachlicher Missachtung. Hg. v. Steffen K. Herrmann, Sybille Krämer u. Hannes Kuch. Bielefeld 2007, S. 7–30, hier S. 7: »Mit Sprache können wir Gewalt nicht nur beschreiben, ankündigen und androhen, sondern auch selbst Gewalt zufügen.« Judith Butler: Haß spricht. Zur Politik des Performativen. Übers. v. Katharina Menke u. Markus Krist. Frankfurt a. M. 2006, S. 17; vgl. auch Steffen K. Herrmann u. Hannes Kuch: Philosophien sprachlicher Gewalt – eine Einleitung, in: Philosophien sprachlicher Gewalt. 21 Grundpositionen von Platon bis Butler. Hg. v. Hannes Kuch u. Steffen K. Herrmann. Weilerswist 2010, S. 7–37.

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inwiefern handelt es sich – über die aggressive Intentionalität ›sprechender Gewalt‹ hinausgehend – um eine performative Reinszenierung struktureller (Johan Galtung) bzw. symbolischer (Pierre Bourdieu) Gewalt?55 Es stellt sich die Frage nach den institutionellen Bedingungen sprachlicher Gewalt: Ist Polemik als literarische Kommunikationsform Teil der Institution Kunst? Inwiefern vermag Literatur über die Institution Kunst bzw. die temporär begrenzte ästhetische Erfahrung hinaus – sei es nun ins Positive oder Negative gehend – etwas zu bewirken, mit Musil gesprochen: Kann »ein Kunstwerk überhaupt etwas andres beleidigen [. . .] als die Kunst«?56 Dient Polemik als ›kulturelle Gewalt‹ letztlich der Legitimation direkter und/oder struktureller Gewalt? Handelt es sich bei polemischer Rede um eine Form des Gewalt explizierenden ›Gegensprechens‹ im Sinne einer Selbstermächtigung oder um eine bloße »Verdoppelung«, wenn nicht gar Potenzierung des »verletzenden Sprechens«?57 Beiden – Krieg wie Polemik – gemeinsam ist ein Legitimationsproblem: beim Krieg in Bezug auf das Menschen- und Völkerrecht, bei der Polemik in Bezug auf das aptum, den kalkulierten Regelverstoß hinsichtlich der Grenzen des guten Geschmacks, des Anstands und der Sittlichkeit. Insofern sind beide, Krieg wie Polemik, Gegenkonzepte zum Ideal des konsensualen herrschaftsfreien Diskurses.58 Verstehen wir Polemik als Maskerade, als ›Kriegsspiel‹, so handelt es sich um eine literarisch ›inszenierte Aggression‹ bzw. ›aggressive Performanz‹, die sich einer »gewaltsamen Rhetorik«59 bedient und selbst wiederum Aggression erzeugt.60 Nach Silvia Bonacchi können »[s]ymbolische Aggressionsformen« als »Ausprägung[en] aggressiven Verhaltens« verstanden werden, die »über die kommunikative Funktion hinaus eine [. . .] expressive oder sogar kreative Qualität annehmen.«61 Nicht nur der Satiriker, sondern auch der Polemiker kämpft mit aufgesetzter Maske und folglich nicht ›mit offenem Visier‹; wie jener so steht auch dieser auf einer Bühne und »inszeniert ein Spiel«.62 Im Folgenden werden 55

56 57 58 59 60 61 62

Vgl. Silvia Bonacchi: Sprachliche Aggression beschreiben, verstehen und erklären. Theorie und Methodologie einer sprachbezogenen Aggressionsforschung, in: Verbale Aggression. Multidisziplinäre Zugänge zur verletzenden Macht der Sprache. Hg. v. Silvia Bonacchi. Berlin, Boston 2017 (= Diskursmuster/Discourse Patterns, Bd. 16), S. 3–32, hier S. 13. Robert Musil: Helden [1921], in: GW II, S. 1496–1498, hier S. 1497. Butler: Haß spricht (Anm. 54), S. 28. Vgl. Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns. 2 Bde. Frankfurt a. M. 1995. Butler: Haß spricht (Anm. 54), S. 27. Vgl. Stenzel: Rhetorischer Manichäismus (Anm. 50), S. 11; Urszula Topczewska: Was sind aggressive Sprechakte? Zu Theorie und Methodologie von pragmalinguistischen Untersuchungen zur verbalen Aggression, in: Verbale Aggression (Anm. 55), S. 35–50, hier S. 35. Bonacchi: Sprachliche Aggression beschreiben (Anm. 55), S. 10. Vgl. Ludwig Rohner: Die literarische Streitschrift. Themen – Motive – Formen. Wiesbaden 1987, S. 229: »Der Satiriker inszeniert ein Spiel auf einer (imaginären) Bühne und liebt die Verhüllung, der Polemiker argumentiert sozusagen am Rednerpult mit offenem Visier.«

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Merkmale polemischer Kommunikationsstrukturen entwickelt und auf die polemische Performanz des Autors Robert Musil bezogen.

3.1 Polemik als rhetorische Technik verbaler Aggressionsakte Polemische Rhetorik agiert nicht (bzw. nur scheinbar) argumentativ,63 sondern apodiktisch,64 affektiv und somatisch.65 Ein zentrales Merkmal polemischer Rede ist das polemische Zitat. Dieses wird nicht notwendig philologisch korrekt belegt, sondern bisweilen auch als in doppelte Anführungszeichen gesetzte, eher lockere Paraphrase, wenn nicht gar fake quotation eingesetzt. Laut Peter von Matt darf »[d]er Gegner [. . .] Satz für Satz vorbringen und bekommt für jeden eins aufs Haupt, sorgsam gezielt und liebevoll gesetzt.« Die »Zitate aus den Schriften des Angesprochenen« werden diesem vielmehr »als unmittelbare Äußerungen in den Mund gelegt [. . .]. Für den Leser verbinden sich so die zwei obersten Beweismittel [. . .] Dokument und Augenzeugenschaft«.66 Auf der (lokutionären) Textoberfläche kennzeichnen neben der »Sprache der Verweisung«, die aus »Auszügen, Referaten, Pseudo- und Kryptozitaten [. . .], Fußnoten, Anführungszeichen, metasprachliche[n] Wendungen« besteht,67 Imperativsätze, Pseudovokative, rhetorische Fragen, Assertationen, performative Verben, Diminutive, metonymische Figuren und Topoi sowie ein pejorativer Wortschatz die polemische Rhetorik.68 Neben der »Steigerung von Gegensätzen«69 und der extremen Spannung zwischen diesen70 gehört das Prinzip »unverhofften Wechsel[s]«, des Sprungs, Umschlagens bzw. ›Umschaltens‹71 zur polemischen Text- bzw. Redetechnik, zum Beispiel der Wechsel von Witz, Gelächter oder Ironie ins Pathos oder Sentimentale.72 Zu den Elementen bzw. Bausteinen polemischer Rhetorik sind zudem direkte Anreden zu zählen, wie beispielsweise – im Falle Lessings – der »[l]iebe Pastor«;73 neben Klerikern werden in der Tradition des 18. Jahrhunderts auch 63 64 65 66 67 68 69 70 71 72 73

Vgl. dagegen Scheichl: Polemik (Anm. 21), S. 118: »Eine Polemik kann bei aller Aggressivität und bei aller rhetorischen Stilisierung nicht auf eine argumentative Struktur verzichten.« Vgl. Stauffer: Polemik (Anm. 21), Sp. 1409. Vgl. Bonacchi: Sprachliche Aggression beschreiben (Anm. 55), S. 10. Matt: Grandeur und Elend literarischer Gewalt (Anm. 18), S. 41. Jürgen Brummack: Herders Polemik gegen die ›Aufklärung‹. in: Aufklärung und Gegenaufklärung in der europäischen Literatur, Philosophie und Politik von der Antike bis zur Gegenwart. Hg. v. Jochen Schmidt. Darmstadt 1989, S. 277–293, hier S. 292. Vgl. Bonacchi: Sprachliche Aggression beschreiben (Anm. 55), S. 16. Deupmann: Polemik (Anm. 19), S. 597. Vgl. Oesterle: Das »Unmanierliche« der Streitschrift (Anm. 23), S. 107. Matt: Grandeur und Elend literarischer Gewalt (Anm. 18), S. 37. Vgl. ebd., S. 37 f. Lessing: 1. Anti-Goeze, in: ders.: Fragmentenstreit (Anm. 31), S. 93.

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Gelehrte sowie Tiere (das Pferd des Reichspostreiters74 ) und Mischwesen (»die impertinente Professorgans«75 ) angesprochen: Diese Begrüßungen beschwören den Gegner persönlich. Ob er will oder nicht, er tritt in den Raum, und gerne ergreift der Polemiker die Gelegenheit, ein paar physiognomische Akzente zu setzen oder sonst ein Detail aus des Feindes Körperlichkeit zu erwähnen.76

3.2 Polemik als performativ konstruierte Kommunikationssituation Gunther Martens hat »Polemik [. . .] als ein Genre definiert, das[ ] sich durch eine besondere Dichte an performativen Sprechakten auszeichnet.«77 Polemik ist immer öffentlich.78 Ihr Ort ist die öffentliche Streitschrift, das Feuilleton, nicht das Tagebuch bzw. Notiz- und Arbeitsheft. Polemik ist in den meisten Fällen aktualitätsbezogen und – in Bezug auf Sender und Empfänger, den textexternen Sprecher und den textexternen Adressaten, der im Akt des Polemisierens als Gegner bzw. Opfer der Polemik konstituiert wird – referentiell.79 Die polemische Kommunikationssituation ist situiert in einem 1.) polemischen Kontext, der themenbezogen, medial oder institutionell sein kann. Sie besteht 2.) aus einem polemischen Subjekt, das nicht mit dem textexternen Sprecher identisch sein muss,80 3.) einem polemischen Objekt, dem ›Gegner‹, und 4.) der polemischen Instanz, der Leserschaft bzw. dem Publikum.81 Polemik gibt vor, den Gegner und seine Position vernichten zu wollen.82 Die Kampf-Metaphern dienen allerdings weniger dazu, den Geg74 75 76 77 78

79 80

81 82

Lessing: 8. Anti-Goeze, in: ders.: Fragmentenstreit (Anm. 31), S. 351–355. Gotthold Ephraim Lessing an Elise Reimarus, 14. Mai 1779, in: ders.: Briefe von und an Lessing 1776–1781. Hg. v. Helmuth Kiesel u. a. Frankfurt a. M. 1994, S. 354 f., hier S. 355. Matt: Grandeur und Elend literarischer Gewalt (Anm. 18), S. 41. Martens: Rhetorik der Evidenz, Schreibweisen der Polemik (Anm. 20), S. 44. Vgl. Stauffer: Polemik (Anm. 21), Sp. 1408 f.: »Wenn auch Intentionalität und Öffentlichkeitscharakter sowie die mit ihr genuin verbundene polarisierende Affektweckung und [. . .] Rhetorisierung der Praxis [. . .] notwendige Konstituenten der polemischen Auseinandersetzung [. . .] sind«, ist das Publikum die entscheidende, weshalb »die in der Tradition der ›Querelle des Anciens et des Modernes‹ stehende Literaturdebatte Gottscheds mit Bodmer und Breitinger ebenso wie die ›Querelle‹ selbst als P[olemik] im eigentlichen Sinne zu bezeichnen« sei. Zum »systematischen Zusammenhang von Polemik und Moderne« von der Querelle des Anciens et des Modernes bis zu Karl Kraus vgl. Dirk Rose: Polemische Moderne. Stationen einer literarischen Kommunikationsform vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Göttingen 2020, S. 16. Vgl. Scheichl: Polemik (Anm. 21), S. 117. Während das »polemische Subjekt« nach Scheichl (Polemik, Anm. 21, S. 118) »eine Rolle sein kann und nicht mit der Person des [textexternen] Polemikers identisch zu sein braucht« (vgl. auch Walther Dieckmann: Streiten über das Streiten. Normative Grundlagen politischer Metakommunikation. Berlin 2005, S. 38), identifiziert Stenzel (Rhetorischer Manichäismus, Anm. 50, S. 5) das polemische Subjekt mit dem Autor. Vgl. Stenzel: Rhetorischer Manichäismus (Anm. 51), S. 5–7. Vgl. Georg Braungart: Zur Rhetorik der Polemik in der Frühen Neuzeit, in: Feindbilder. Die Darstellung des Gegners in der politischen Publizistik des Mittelalters und der Neuzeit. Hg. v.

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ner zu treffen, sondern sollen vielmehr die Leser*innen beeindrucken; sie sind »über die Kontrahenten hinaus auf das Publikum bezogen, das zum Zeugen der Streit-Szene gemacht wird.«83 Die Bezogenheit auf die Adressaten ist – laut von Matt – nur ein »Täuschungsmanöver«, denn »[d]er wahre Adressat« sei »der Leser [. . .] bzw. das Publikum«:84 »So verschleiert der polemische Text dem Leser [. . .] seine eigene Rolle. Der faktisch Angesprochene glaubt sich unbeteiligt« und meint, er sei nur Beobachter, »Zaungast«.85 Tatsächlich aber befindet er sich in der Position des Zeugen in einem fingierten Gericht, vor dem die rhetorische Polemik zur Aus- und Aufführung kommt. Trotz ihrer textexternen Referenzialität ist die reale Kommunikation demnach von einer indirekten, fiktiven überlagert. Es handelt sich somit um eine doppelte bzw. maskierte Kommunikationssituation, in welcher – sprechakttheoretisch gesehen – der lokutionäre Akt der Aussage nicht mit der illokutionären und perlokutionären Funktion übereinstimmt. Kennzeichnend für die polemische Kommunikationssituation sind neben performativer Mündlichkeit auch szenische Elemente: »[D]ie polemische Szene, die fiktive Begegnung Aug’ in Auge«86 ist ein theatraler, inszenatorischer Akt, wobei weder der Sprecher (als Subjekt der Textaussage) noch der Adressat (als Zielscheibe der polemischen Rede) die Kommunikationssituation als polemische konstituiert, sondern die Instanz des Publikums. Dabei wird der propositionale Gehalt der Aussage durch die kriegerische, verletzende, herabsetzende und beleidigende illokutionäre Funktion überlagert, das heißt: Die rhetorisch ausgestellte Affektion des polemischen Subjekts unterläuft die (scheinbar sachliche) Argumentation.87 Darüber hinaus muss diese aber auch von einem der »Teilnehmer der kommunikativen Interaktion« perlokutionär als aggressiv empfunden, mithin als Polemik anerkannt werden.88 Deshalb ist eine polemische Äußerung im Tagebuch89 auch keine Polemik i. e. S., bis auf ihre persönliche Entlastungsfunktion kann sie den Gegner nämlich nicht verletzen oder töten – und sie bleibt unbezeugt. Denn im Akt der verbalen Übergriffigkeit, bei dem aggressiven Kränkungs- und Tötungswillen in Bezug auf den Adressaten der polemischen Interaktion und dessen entlastender Funktion für das polemische Subjekt der

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Franz Bosbach. Köln 1992, S. 1–21, hier S. 1: »Denn die Polemik vernichtet ihren Gegner, wenn sie gut ist.« Laut Stenzel (Rhetorischer Manichäismus, Anm. 50, S. 6) »läßt sich die Absicht des Polemikers als Vernichtung des Gegners und seiner Position bezeichnen.« Scheichl: Polemik (Anm. 21), S. 118. Matt: Grandeur und Elend literarischer Gewalt (Anm. 18), S. 41 f. Ebd., S. 42. Ebd. Vgl. Lamping: Zur Rhetorik des Verrisses (Anm. 36), S. 37: »Auf den Leser als den Adressaten des Verrisses [. . .] zielt eine Strategie der Einvernahme. Der verreißende Kritiker will den Leser zu seinem Verbündeten machen, allerdings nicht nur auf dem Weg der Argumentation, sondern der Affektion.« Topczewska: Was sind aggressive Sprechakte? (Anm. 60), S. 35. Vgl. Rohner: Die literarische Streitschrift (Anm. 62), S. 226: »Ein Tummelplatz der polemischen Affekte ist das Tagebuch«.

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Aussage, geht es wiederum weniger darum, den Angegriffenen argumentativ zu überzeugen, als vielmehr darum, das Publikum zu bewegen.90 Entscheidend ist dabei nicht die Wahrheit(sfindung), sondern die Wahrheitssuche, es geht nicht um Überzeugung, sondern um »Erschütterung«, die »unaufhörliche Bewegung«,91 das movere. Dabei verbindet sich – so von Matt – »[t]änzerische Eleganz [. . .] mit dem kruden Geschehen«, also dem verbalen Tötungsakt, denn »der Leser [soll] bei der Stange bleiben und schließlich tun, wozu ihn der Polemiker ausersehen hat: den Akt der sozialen Tötung selber vollziehen durch tätige Verachtung, durch spontane Exkommunikation des anderen im Urteil [. . .].«92 Gunther Martens hat die »Performativität des Textsubjektes« hervorgehoben.93 Zum Tanz mit der Waffe in der Hand gehört auch, dass literarische Polemik – anders als hate speech – immer auch sich selbst autoreflexiv ausstellendes Spiel ist: Dies gilt für Lessing und Kraus in besonderer Weise, aber auch für Musil, der Polemik zwar als untaugliche Waffe im Kampf gegen den Konkurrenten wie die Zeitläufte bewertet, zugleich aber selbst – vor allem in den Reden sowie in den Theaterkritiken, aber auch in den Essays, beispielsweise in Geist und Erfahrung (1921) und Der Schwärmerskandal (1929) –, Techniken polemischer Rede (Polemik1 ) verwendet.

3.3 Polemik als verbale Kriegstechnik »Das erste Opfer der Polemik, wie des Krieges, ist oft die Wahrheit selbst«.94 Denn nur vordergründig geht es um (das bessere) Wissen oder die Suche nach Wahrheit, dahinter steht die Vorstellung von Recht haben, das heißt auch, auf der ›rechten‹ – im Sinne von ›richtigen‹, moralisch überlegenen – Seite zu sein: »Die Lizenz für Polemik« ist nicht das positive Recht (Legalität), sondern Gerechtigkeit, »die Ethik«95 (Legitimität).96 Ludwig Rohner hat Polemik als »Fecht- und Kriegskunst« bezeichnet;97 gefochten wird allerdings nicht mit Waffen, sondern mit Worten.98 Steht Kritik selbst im Kontext von Negativi90

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Vgl. Matt: Grandeur und Elend literarischer Gewalt (Anm. 18), S. 42: »Ziel ist nicht, daß der Angegriffene seine Meinungen überprüfe, sondern daß der Leser sein Verhalten dem Angegriffenen gegenüber verändert.« Vgl. Scheichl: Polemik (Anm. 21), S. 118: »Ziel der Polemik ist nicht ein Sinneswandel des Gegners, sondern die Erregung von Aversionen gegen ihn beim Publikum.« Hugh Barr Nisbet: Polemik und Erkenntnistheorie bei Lessing, in: Streitkultur. Strategien des Überzeugens im Werk Lessings. Hg. v. Wolfram Mauser u. Günter Saße. Tübingen 1993, S. 410–419, hier S. 416. Matt: Grandeur und Elend literarischer Gewalt (Anm. 18), S. 35. Martens: Rhetorik der Evidenz, Schreibweisen der Polemik (Anm. 20), S. 52. Nisbet: Polemik und Erkenntnistheorie bei Lessing (Anm. 91), S. 410. Oesterle: Das »Unmanierliche« der Streitschrift (Anm. 23), S. 112. Vgl. hierzu Herrmann u. Kuch: Philosophien sprachlicher Gewalt (Anm. 54), S. 28: »In bestimmten Fällen etwa kann eine Beleidigung ein ebenso legitimes wie effektives Mittel sein, um ungerechtfertigte Formen sozialer Autorität bloßzustellen.« Rohner: Die literarische Streitschrift (Anm. 62), S. 235. Vgl. Stauffer: Polemik (Anm. 21), Sp. 1404.

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tät immer auch noch für das Konstruktive, so Polemik im Allgemeinen für das Destruktive,99 persönlich Verletzende, Beleidigende und Bloßstellende. Die kriegerische Performativität äußert sich in einer Metaphorik der Gewalt – von drastischen »Folterphantasien« und Tötungswünschen bis hin zu Drohszenarien (Kastration und Hinrichtung): »Polemik [. . .] ist Anwendung von Gewalt, so wirklich wie irgendein Hauen, Stechen, Würgen oder Einsperren. Sie zielt auf den Tod oder die Verstümmelung des Gegners«.100 1937 notiert Musil – Anlass ist ein »breitspuriges Interview« Franz Theodor Csokors, der für ihn Anton Wildgans als polemische Zielscheibe bei der Kritik des »heutigen Zustand[s] Österreichs« ersetzt: »Es fällt mir sehr leicht ein, jemand zu töten, ich glaube aber, daß ich es im Alter weniger denn je täte. Es ist die Revolte der inneren Ohnmacht.« Und unter der selbstkritischen Ein-Wort-Frage »Schriftstellerneid?« notiert er: »Von den Menschen verlassen sein, die Waffen zerbrochen, den Jubel und die Musik hören, die den triumphalen Einzug von Fortunas Liebling begleiten: gilt es denn nicht als eine tragische Situation?!«101 Der Umschwung vom pathetischen Tötungswunsch in Bezug auf den Konkurrenten in Sentimentalität (und Selbstmitleid) zeigt: Hier hat jemand nicht freiwillig die Waffen abgegeben, sie sind ihm unter den Bedingungen der »Entmündigung des Geistes durch die Politik«, wie es in der Baseler Vorrede zu einem Vortragsmanuskript aus dem Nachlass, »Der Dichter in dieser Zeit« (1935), heißt,102 unter den Bedingungen von Bücherverbrennung, Exil und Publikationsverbot, gewaltsam entwendet worden. Das Gewehr, mit dem Musil im I. Weltkrieg geschossen hat, ist nicht erhalten.103 Vermutlich hat Musil es abgeben müssen, als er im Frühjahr 1916 aus dem Frontdienst ausschied und seine Stellung in Bozen antrat: »Erhalten hat sich dagegen der Säbel Musils, den er als Leutnant trug. Es war ein reines Schmuckstück, mit dem nicht gekämpft wurde. Das gute Stück war auf ungeklärten Wegen bei einer Tochter von [Karl] Dinklage gelandet«104 und befindet sich heute im Musil-Institut in Klagenfurt. Es gibt zwei Aufnahmen von Leutnant Robert Musil, die ihn in k. u. k.Uniform mit Stehkragen und Parolis zeigen – 1903 noch mit nur einem Distinktionsstern in der Knopffarbe des Waffenrocks, auf der einen hält die linke 99 100 101 102 103 104

Vgl. Braungart: Zur Rhetorik der Polemik in der Frühen Neuzeit (Anm. 82), S. 1: »Denn die Polemik vernichtet ihren Gegner, wenn sie gut ist.« Matt: Grandeur und Elend literarischer Gewalt (Anm. 18), S. 35. KA/Lesetexte/Bd. 17 33. Autobiographie (1937–1942); vgl. KA/Transkriptionen/Heft 33/21). KA/Lesetexte/Bd. 9 Reden; dieser Passus wurde von Musil gestrichen und durch die positive Formulierung einer »notwendige[n] Unabhängigkeit der geistigen von der politischen Entwicklung« ersetzt (Transkriptionen/Vortrag/19). Es war vermutlich eines der Steyr-Mannlicher-Gewehre M1895, Kaliber 8 mm, mit Bajonett M1895 und zur Zeit seiner Einführung das weltweit schnellste Repetiergewehr, das Patronen mit rauchschwachem Pulver verschoss. E-Mail-Auskunft von Karl Corino an B. N., 28. 8. 2018.

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Abb. 1: Photographie von Robert Musils Säbel mit Scheide (Robert-MusilInstitut der Universität Klagenfurt/Kärntner Literaturarchiv)

Abb. 2: Robert Musil mit Säbel (RMI/KLA ; © Robert-Musil-Literatur-Museum)

Hand die Parierstange des dekorativen Säbels. Der Inszenierung militärischer Männlichkeit haftet etwas Anachronistisches an: In Als Papa Tennis lernte (1931) wird die olympische Kampfsportart Fechten als »schwarzseidene Kavalierskunst« beschrieben, »deren Anblick, wenn sie öffentlich auftritt, mehr vom achtzehnten Jahrhundert an sich hat als von den Formen der Gegenwart«.105 Der Schmuck-Säbel ziert das männliche Individuum, macht es begehrenswert; zugleich weist er den jungen Leutnant, Landessturmhauptmann und Edler von Musil in spe, als Träger einer machtgeschützten Institution, dem österreichischen Heer und der Österreich-Ungarischen Monarchie aus. Ein Photo von der Titelseite des Mährisch-schlesischen Correspondenten aus dem Jahr 1902 zeigt »eine Gruppe von 10 Fechtern, darunter [in der Mitte sitzend] der italienische Fechtlehrer Luigi Della Santa«, anlässlich einer vom Brünner Fechtboden ausgerichteten »Fechtakademie«106 vor einem »sehr 105 Musil: Als Papa Tennis lernte [1931], in: GW II, S. 685–691, hier S. 678. 106 E-Mail-Auskunft von Karl Corino an B. N., 28. 8. 2018.

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Abb. 3: »Von der Fechtacademie im Deutschen Hause am 6. April l.[aufenden] J.[ahres]«, Mährisch-schlesischer Correspondent, 12. April 1902 (ÖNB Wien: 394.208-D-E, Nr. 84, 12. 4. 1902)

distinguierte[n], aus Civil- und Militärkreisen bestehende[n] Publikum«.107 Musil ist »in schwarzem Dress am linken Rand« zu sehen – es handelt sich laut Karl Corino um »das einzige Foto, das [Musil] bei sportlichen Aktivitäten [genauer in sportlicher Pose, Kleidung und Setting] zeigt«.108 In dem Artikel »Von der Fechtacademie im Deutschen Hause« heißt es zu dem »Gruppenbild auf der Titelseite«: »Ingenieur Musil, ein strebsamer Schüler Della Santa’s, zeigte im Assaut gegen Oberlieutenant Reichl, daß er die Principien der italienischen Fechtkunst beherrscht und gemäß denselben seine Klinge zu führen weiß.«109 Musil hatte offenbar »auf den Militärrealschulen das Florettfechten mit Erfolg betrieb[en]«.110 Fechten steht auch in seinem Romandebüt im Stundenplan des jungen Törleß – wie übrigens auch bei Gaetano, Martha Musils Sohn aus der Ehe mit Marcovaldi. In den »Erlöser«-Vorstufen zum Mann ohne Eigenschaften kann Anders nicht nur boxen, sondern auch fechten – 107 [Redaktion:] Von der Fechtacademie des Fechtclubs Della Santa in Brünn, in: Mährisch-schlesischer Correspondent (12. 4. 1902), Nr. 84, S. 2. 108 E-Mail-Auskunft von Karl Corino an B. N., 28. 08. 2018. 109 [Redaktion:] Von der Fechtacademie des Fechtclubs Della Santa in Brünn (Anm. 107), S. 2. 110 E-Mail-Auskunft von Karl Corino an B. N., 28. 08. 2018.

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er tritt als »essayist.[ischer] u[nd] Theorein-Mensch« – so das Ideen-Einzelblatt zu Anders – überhaupt »instinktiv polemisch, negativ, unmoralisch auf«.111 Für Ulrich wird im zweiten Kapitel vom Mann ohne Eigenschaften nur noch der Boxball in seinem Ankleidezimmer verbleiben, an dem er seine Aggressionen auslassen kann (MoE, S. 46); später wird Agathe das Sportgerät als Kleiderständer umfunktionieren (vgl. MoE 937). Den Säbel aber hat Anders, die Präfiguration Ulrichs, an General Stumm von Bordwehr ab- und somit gezielt der Lächerlichkeit preisgegeben. Der Säbel exponiert die militärische Männlichkeit als vermeintlich Schützenswertes, er macht den General – beispielsweise in der Irrenhaus-Szene112 – ähnlich verletzbar wie Leutnant Gustl vor der Theatergarderobe. Verweist der (Zier-)Säbel des Militärs auf dessen Gefährdetstes – seine Männlichkeit –, so steht er metonymisch zugleich für die militärische und intellektuelle Wehrtüchtigkeit Kakaniens. In den nicht veröffentlichten apokryphen Fortsetzungen zum Mann ohne Eigenschaften wird der männliche Säbel in parodistischer Übersteigerung seiner phallischen Konnotation ins Groteske überzeichnet: Und die Polizei war mit Säbeln ausgerüstet, die so lang waren wie die der Offiziere und bis an die Erde reichten, niemand wußte mehr warum, es sei denn aus Mäßigung. Denn die Polizei war nur mit der rechten Hand die der Gerechtigkeit, mit der anderen mußte sie ihre Säbel festhalten. [. . .] Diese Ordnung war dem FranziskoJosefinischen Zeitalter in Kakanien zur Natur, ja fast schon zur Landschaft geworden, und ganz bestimmt hätten dort bei längerer Andauer der stillen Friedenszeit auch noch die Geistlichen lange Säbel bekommen, da nach den Fischinspektoren und Postbeamten schon die Universitätsprofessoren welche hatten, und wäre nicht eine Weltveränderung zu ganz anderen Auffassungen dazwischengekommen, so hätte sich der Säbel vielleicht in Kakanien zu einer geistigen Waffe entwickelt.113

Das mehr oder minder revolutionäre Ende der Habsburger Monarchie korreliert im Nachlasstext mit dem Ende des sozial und militärisch distinktiven Ziersäbels. Was aber trägt der gut ausgebildete Fechter und Hauptmann, wenn der »Säbel« von Staats wegen zur »geistigen Waffe« mutiert und – wie Graf Leinsdorf meint – »sogar Revolutionen [. . .] seit Achtzehnhundertachtundvierzig nur noch durch vieles Reden gemacht« (MoE, S. 1023) werden? Wir wissen: 111 KA/Transkriptionen/Mappe I/1/48. 112 Vgl. Kapitel 33: »Der General bringt Ulrich und Clarisse ins Irrenhaus«: »›Ich bin doch für den Minister, falls er mich rufen läßt, schon angezogen wie ein Christbaum‹ rief er aus und unterstrich es, indem er auf seinen hellblauen Waffenrock und die daran hängenden Orden hinwies: ›Meinst du nicht, daß es zu peinlichen Zwischenfällen führen kann, wenn ich mich so in Uniform den Narren zeige? Was mach ich zum Beispiel, wenn einer meinen Rock beleidigt? Da kann ich doch nicht den Säbel ziehn, und zu schweigen, ist für mich auch höchst gefährlich!?‹« (MoE, S. 977) 113 KA/Bd. 3 Der Mann ohne Eigenschaften. Fortsetzungsreihen 1932–1936: Beschreibung einer kakanischen Stadt.

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Musil ist nicht nur »Held[ ] der eisernen Feder«,114 er ist vor allem auch ein »Dichter am Apparat«;115 neben Blau- und Rotstift und feuilletonistischem Bleistift ist sein ›Aufschreibesystem‹116 eine Underwood Standard Portable Typewriter. Martha berichtet ihrer Tochter Annina am 13. September 1938 aus Italien, sie habe »eine Füllfeder [. . .] gekauft, für den Anfang eine ganz billige, die aber gut schreibt, R[obert]’s erste Füllfeder.« (Br I, S. 843 f.) Ein halbes Jahr zuvor hatte Musil anlässlich des Todes von Gabriele D’Annunzio (in schwarzer Tinte) notiert: »Schwert u.[nd] Feder. – Die Feder wie ein Schwert zu führen, Ideal vieler Schriftsteller. Rührt wohl aus den 48er Jahren her. Aber ich bin beim Schwert aufgewachsen, ich bin mißtrauisch gegen diese Vertauschung. Ich weiß, daß ich mit einer Wachskerze fechten müßte!«117

3.4 Über das Fechten mit Wachskerzen – Musils Kritik der Polemik 1918 notiert Musil ein polemisches Buchprojekt mit der Überschrift »Erfolgreiche Schriftsteller« in sein Arbeitsheft; das Vorhaben ist nur in Fragmenten realisiert worden: im Spengler-Essay (Geist und Erfahrung, 1924), in den Theaterkritiken zu Karl Schönherr und Anton Wildgans sowie im essayistischen Nachruf auf Robert Müller (1924). Die polemischen Projekte zu Karl Kraus, Heinrich Mann118 und zu den »Dichter[n] des Ewigen«, Paul Ernst sowie Stefan George,119 zu Agnes Günther (Die Heilige und ihr Narr, 1913) und Hermann Bahrs Expressionismus-Buch (1916) wurden nicht weiter ausgeführt bzw. veröffentlicht. Der Plan war: »Nur besprechen, weil sie zeigen, wie die Zeit ist, was man heute schätzt. Auch nur so weit besprechen, daraus erklärt sich der polemische Charakter des Buchs. Wie blöd die Zeit ist.«120 Das Zurücktreten des Persönlichen – »Neid, Ehrgeiz und dergleichen Bedenken«121 – im Medium des Polemischen ist gewissermaßen ein gattungsmäßiges Paradox, denn angestrebt wird von Musil keine persönliche, sondern eine sachliche Polemik, eine Kritik an der Sache, für die der Autor einsteht.122 Die Person wird nur angegriffen, um dem Publikum das Allgemeine, Symptomatische (der ›blöden Zeit‹) aufzuzeigen. Es geht Musil offenbar nicht bzw. nicht in erster Linie um Personen-/Autorenkritik, sondern um Zeitkritik, 114 115 116 117

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KA/Lesetexte/Bd. 11 Publizistik/Beiträge aus der Soldatenzeitung: Vermächtnis. KA/Lesetexte/Bd. 13 Kritiken/Kulturberichte: Der Dichter am Apparat. Vgl. Friedrich A. Kittler: Aufschreibesysteme 1800/1900 [1985]. München 2003. KA/Transkriptionen/Heft 33/39, 1937–1938; vgl. KA/Lesetexte/Bd. 17 Späte Hefte 1928–1942: »Schwert und Feder«42; in Der Vorstadtgasthof [1908] (GW II, S. 630–634) erinnern »zwei Wachsstumpen« den Mann an »zwei niedergebrannte Glieder« (GW II, S. 632) und deuten auf die Verstümmelung der Frau voraus (vgl. GW II, S. 634). KA/Transkriptionen/Heft 10/48. KA/Transkriptionen/Heft 10/1. KA/Transkriptionen/Heft 10/48. KA/Transkriptionen/Heft 10/48. Vgl. KA/Lesetexte/Bd. 9 Reden/Vortragsmanuskripte aus dem Nachlass: Die Aufgabe des Dichters: »Ich weiß nicht, ob es unvermeidlich ist, daß ich trotzdem mit einer kleinen Polemik

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Gesellschafts- und Kulturkritik, konkret: Kritik am zeitgenössischen Literaturbetrieb, am Burgtheater, an der Akademie der Dichtung, an den politischen Parteien, den Polizeipräsidenten und Vertretern der Politik, angefangen vom Essay Das Unanständige und Kranke in der Kunst (1911) bis zur Rede Über die Dummheit (1937). Robert Musil, der angesichts einer Rezension Jakob Schaffners zu den Verwirrungen (1906) und den Vereinigungen (1911)123 in sein Arbeitsheft notiert hat: »Ich trete mit meinem ganzen Denken für eine geistig kriegerische Kunst ein, für eine moralische Kunst«,124 veröffentlicht in der Folge selbst dezidiert keine »literar.[ische] Polemik«.125 Vielmehr entwickelt und präzisiert er in »Profil eines Programms« (1911–13), »Novelleterlchen« (1912) und in seinem figurativ inszenierten programmatischen Essay Über Robert Musil’s Bücher (1913) sein literarästhetisches Programm, um – wie es in einem Schreiben an die Redaktion der Neuen Rundschau heißt – »einiges von dem festzustellen, was ich gewollt hatte« (Br I, S. 91), »ohne jedoch von mir od.[er] von ihm [Jakob Schaffner] zu sprechen« (Br I, S. 90). Bereits in einem essayistischen »Gehirnspaziergang« von 1908/10 hatte Musil unter der ironischen Überschrift »Über echte deutsche Dichter« notiert: »Zweck ist nicht die Polemik gegen A. und B.[,] sondern durch die Feststellung ihres Wertes soll die mangelnde Kritik der Zeit ausgewiesen werden.«126 Denn der »Geist des Fortschritts«,127 also neue, relevante, das Weltbild verändernde Erkenntnisse werden, so Musil, weder im Bereich der Literatur noch durch persönliche Polemik gewonnen, sondern durch neues Wissen und die ›Struktur wissenschaftlicher Revolutionen‹:128 »zb entsteht die naturw.[issenschaftliche] Weltanschauung aus der kirchlichen nicht durch die Polemik, sondern durch die Forschungsergebnisse, Technik usw. / Höchstens entstehen gewisse Ideen›richtungen‹, Gruppierungen.«129 Literatursoziologisch handelt es sich bei Polemik »um einen Machtkampf zwischen Vertretern von Positionen oder Gruppen«,130 mitsamt den dazugehörigen Institutionen (Verlage, Zeitschriften, Theater, Akademien). Polemik ist folg-

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gegen meine verehrten Gastgeber beginne – Menschen[,] die den Takt im Verkehr höher stellen als die Unbiegsamkeit der Sache, unterließen es gewiß. Aber ich gehöre nicht unter allen Umständen zu ihnen; ich bin hieher [sic] gekommen, um für eine Sache einzustehn, für mich als Sache; und das ist, wenn ich mich so ausdrücken darf, notgedrungen heute eine Sache der europäischen Literatur geworden; weshalb es mich nicht nur persönlich angeht [. . .].« Vgl. Jakob Schaffner: Neue Bücher, in: Die neue Rundschau XXII (1911), Bd. 2, S. 1763–1771. KA/Transkriptionen/Heft 15/33. Vgl. Robert Musil an die Neue Rundschau, 14. Dezember 1911 (Br I, S. 91). KA/Transkriptionen/Mappe IV/3/435. KA/Transkriptionen/Mappe IV/3/435. Vgl. Thomas S. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen [1962]. Frankfurt a. M. 2 1976. KA/Transkriptionen/Heft 21/125: Die Schildkröte. Stenzel: Rhetorischer Manichäismus (Anm. 50), S. 6.

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lich performative Selbstermächtigung, nicht nur ›Literaturkampf‹,131 sondern auch »Literaturpolitik«132 in eigener Sache, die zur ›Wahrheit‹, ›Gerechtigkeit‹, ›Moralität‹ oder eben ›Literatur‹ erklärt wird. Bis in die 1920er Jahre hinein – also die Zeit des Anti-Spengler Geist und Erfahrung (1924) und des Anti-Lherman, dem Schwärmerskandal (1929) – erscheint Musil, der versucht, als Dichter und Kritiker im Literaturbetrieb zu reüssieren, Polemik als rhetorische Waffe nicht geeignet, um seine »geistig kriegerische Kunst« zu verfechten. – Was könnten die Gründe sein? Erstens tritt eine »geistig kriegerische Kunst« nicht notwendig auch aggressiv auf, so wie »moralische Kunst«133 nicht zwingend selbst ethisch sein muss. Zweitens hält Musil Polemik nicht für eine geeignete Methode zur Verfolgung seiner Ziele: »Mit Polemik überzeugt man nicht«, – so heißt es bereits in einem Kurt Hiller gewidmeten essayistischen »Gehirnspaziergang« von 1913 zu »Eine Zeitschrift, die gegründet werden soll«:134 Entworfen wird stattdessen eine neue, aktivistische Literatur135 und gesucht wird eine andere Art von ›synthetischer Kritik‹: Denn es sei »leichter, einen Gegner niederzuboxen als einen Gutgesinnten zur Selbstverleugnung zu überreden.«136 Musil fordert in diesem Zusammenhang die »Abschaffung des lyrischen Kritikers« und bemängelt die »Kriterienlosigkeit der Kritik«; er verlangt »Genauigkeit«, »Klarheit«, »Adäquation. Qualitative Analyse. Schärfung und Vermehrung der Begriffe, mit denen der Kritiker arbeitet.«137 Die geforderte Theorie der Kritik auf der Grundlage einer Unterscheidung von Kritik als Methode und Kritik als Methodologie138 hat Musil allerdings selbst nicht erarbeitet, zumindest nicht systematisch. Andererseits: Jede Form von Kritik beruht auf »unsichere[n] Kriterien« und generiert – so Kurt Röttgers – ihre Legitimation nicht theoretisch, sondern erst »durch die Praxis des kritischen Protestes«.139 Eine kriegerische Kunst, die sich ihrer Wirkungslosigkeit gegenüber der Zeit, den ökonomischen und politischen Machthabern bewusst ist, verwendet 131 Vgl. Walter Benjamin: Die Technik des Kritikers in dreizehn Thesen, in: ders.: Einbahnstraße. Frankfurt a. M. 1955, S. 51. 132 Barner: Autorität und Anmaßung (Anm. 37), S. 279. 133 KA/Transkriptionen/Heft 15/33. 134 KA/Lesetexte/Bd. 15 Essayistische Fragmente. 135 Vgl. KA/Lesetexte/Bd. 15 Essayistische Fragmente: »Es liegt eine bessere Literatur heute in Gesprächen, in Briefen, in Umarmungen, in gedäftet Abseitigen [sic].« 136 Ebd.; das Zitat geht weiter: »Man sammle bloß ein Jahr lang die sämtlichen Rezensionen unserer Zeitschriften und Zeitungen. Romantik, Klassizität, Intellektualismus, Zurückwollen zu guter breiter Erzählerart werden als Rezepte ausgegeben und gegenseitig bekämpft, deren Vorstellung jede einzelne gut ist (und von guten Vorbildern stammt), Dichter werden mit Eigenschaftswörtern ausgestattet, aus dem gleichen glänzenden Haufen halbgebildeter Begriffe heraus, man hätte nichts gegen sie einzuwenden, wenn sie wahr wären.« 137 KA/Lesetexte. Bd. 15 Essayistische Fragmente. 138 Vgl. Röttgers: Kritik (Anm. 47), S. 654. 139 Kurt Röttgers: Kritik, in: Enzyklopädie Philosophie. Hg. v. Hans Jörg Sandkühler. Bd. 2. Hamburg 2010, S. 1317–1323, hier S. 1322.

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die polemische Kriegskunst als Mittel, als rhetorische Methode, als feuilletonistische Erfolgs- bzw. Durchsetzungsstrategie in Bezug auf Verlag, Redaktion und Publikum, aber nicht als (Selbst-)Zweck. Ziel ist nicht – bei aller persönlicher Gekränktheit und Aggressivität gegenüber dem ›Konkurrenten im Gebiete des Geistigen‹ innerhalb des Literaturbetriebs, auch in Bezug auf die ausbleibende Anerkennung des Publikums – der Kampf gegen den persönlichen Gegner. Vielmehr geht es Musil auch auf diesem Feld darum, »Beiträge zur geistigen Bewältigung der Welt« zu geben,140 die ›böse Zeit‹ konstruktiv, das heißt in der Sache zu kritisieren. Polemik1 fungiert dabei als Hilfsmittel. Im Fall Broch (wie auch im Fall Franz Blei) hat sich Musil gegen den öffentlichen Streit und für einen (nicht erhaltenen) persönlichen Brief sowie private Notizen entschieden141 bzw. entscheiden müssen. Zwar mache Hermann Broch mit seinem ›Parallelroman‹ Die Schlafwandler (1930–32), der im Verkauf wie bei der Kritik erfolgreicher war als Der Mann ohne Eigenschaften (1930/32), »den philosophischen Roman suspekt«. Dennoch erwägt Musil alternativ zur Polemik (»wenn ich dagegen polemisiere, ist es entweder ein philosophischer Streit oder ich müßte persönlich angreifen«) immanente Kritik.142 Denn unter den Bedingungen nationalsozialistischer Herrschaft und aggressiver Propaganda gegen alles Andere und vermeintlich ›Minderwertige‹ funktioniert die polemische Kommunikationssituation, die trotz aller Asymmetrien Reziprozität fordert, nicht mehr: Die polemische Gegenrede wird angesichts des schneidenden Zynismus und des aggressiven Sarkasmus der NS-Sprache zum Verstummen gebracht. Das Publikum fungiert ab 1933 nicht mehr, oder zumindest nur noch eingeschränkt, als polemische Instanz: Dem ohnmächtigen polemischen Subjekt verbleiben – sofern es nicht zur Wachskerze, sondern zur Waffe greift,143 nur noch die Optionen »Selbstverleugnung«144 oder »Selbstvernichtung«.145

4. Fazit Musil geht es nicht um die Gegner bzw. polemischen Objekte Wildgans, Sudermann usw. ad personam, vielmehr ist seine persönlich auftretende Polemik gegen diese Autoren zunächst und vor allem Anklage und zugleich Verur140 [Oskar Maurus Fontana:] Was arbeiten Sie? Gespräch mit Robert Musil [1926], in: GW II, S. 939–942, hier S. 942. 141 Vgl. Birgit Nübel: Robert Musil. Essayismus als Selbstreflexion der Moderne. Berlin, New York 2006, S. 378 f. u. S. 433 f. 142 KA/Transkriptionen/Mappe III/5/33. 143 Vgl. Karl Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung [1844], in: ders.: MEW, Bd. 1 (1956), S. 385; zit. nach Röttgers: Kritik (Anm. 48), S. 672: »Die Waffe der Kritik kann allerdings die Kritik der Waffen nicht ersetzen«. 144 KA/Lesetexte/Bd. 15 Essayistische Fragmente. 145 KA/Transkriptionen/Mappe III/4/29.

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teilung seiner Zeit, also Kritik des Theaters sowie Gesellschaftskritik – und das heißt immer auch mehr oder minder explizite Klage über das nicht anerkannte ›schöpferische‹ Drama, den nicht abgesetzten eigenen Roman. Musils Kritikbegriff ist in der Tradition der Frühromantik weder »mikrologische[ ] (Text)Kritik« noch persönliche Polemik,146 sondern – mit den Worten Walter Benjamins – »Invektive gegen die herrschende Gesellschaft«.147 Aber die Kritik der zeitgenössischen Gesellschaft unter den Bedingungen der nationalsozialistischen Herrschaft ist auch und gerade in der Emigration geprägt von der persönlichen Konkurrenzsituation. In seinem Arbeitsheft notiert Musil 1938 unter dem Stichwort »Der Auswurf der Demokratie«: Man kann nicht gegen Emil Ludwig, Stefan Zweig und Feuchtwanger einzeln polemisieren, es wird Tagesgezänk, aber alle drei zusammen, diese Nutznießer der Emigration, die erst recht Weltlieblinge geworden sind, während sich gute Schriftsteller kaum vor dem Untergang bewahren können, alle drei zusammen sind sie ein ungeheures Symbol der Zeit.148

Auch hier wird persönliche Polemik zurückgewiesen gegenüber einer allgemeineren, sachlich orientierten Zeitkritik und -diagnostik. Die externe Sprecherposition ist nun allerdings nicht mehr die des Fechters, Leutnants oder Boxers, es ist die »traurige[ ] Situation« des »Mann[es] im Exil«, des BüffelKönigs »mit der gewaltigen Stirn, die einst Waffen getragen hat« und dem »an der Stelle seiner gewaltigen Hörner ein anderes Hautgebilde, nämlich zwei lächerlich empfindliche ›Hühneraugen‹, entstanden« sind.149 Robert Musil bedient sich der polemischen Methode der ›rhetorischen Ironie‹ zwar als Mittel der Zeitkritik (Polemik1 ), seine »eigentliche Heimat« aber ist – mit den Worten Friedrich Schlegels – die »transzendentale Buffonerie« (Polemik2 ),150 die auf sich selbst gerichtete, (mit-)›leidende‹ Ironie, in der sich Polemik und Satire einerseits sowie Polemik und Kritik andererseits verbinden. Sie ist Musils »Form des Kampfes«.151

146 Ulrich Breuer u. Ana-Stanca Tabarasi-Hoffmann: Einleitung, in: Der Begriff der Kritik in der Romantik. Hg. v. Ulrich Breuer u. Ana-Stanca Tabarasi-Hoffmann. Paderborn 2015, S. 9–17, hier S. 14: Der romantische Kritikbegriff »grenzt sich erstens von der atomistischen Kritik der Aufklärung und der mikrologischen (Text)Kritik der Philologie ab. Er bezieht sich zweitens nicht länger (als Polemik) auf Personen oder (philologisch) auf geistige Entitäten, sondern (wie schon in der Altphilologie Heynes und Wolfs) auf Werke (Artefakte) und Systeme von Werken.« 147 Walter Benjamin: Jemand meint. Zu Emanuel Bin Gorion, »Ceterum Recenseo« [1932], in: ders.: Gesammelte Schriften. Hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser. Bd. III . Hg. v. Hella Tiedemann-Bartels. Frankfurt a. M. 1989, S. 360–363, hier S. 361. 148 KA/Lesetexte/Bd. 17 Späte Tagebuchhefte (vgl. KA/Transkriptionen/Heft 34/89). 149 Robert Musil an Rolf Langnese, 20. Januar 1942 (Genf-Ronco), in: Br I, S. 1388. 150 Schlegel: Lyceums-Fragmente [Nr. 42] (KFSA I/2, S. 152). 151 Vgl. [Oskar Maurus Fontana:] Was arbeiten Sie? Gespräch mit Robert Musil [1926], in: GW II, S. 941.

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Der Schnitt gegen den Feind Polemische Praktiken bei Edgar Allan Poe, Karl Kraus, John Heartfield Abstract: This article deals with the transformation of polemical literature and art in the age of modern mass media and concentrates on the conceptualization of enmity, the aims of the attack, and the choice of weapons. It uses Edgar Allan Poe, Karl Kraus and John Heartfield as examples to illustrate the following argument: while earlier polemical writing was guided by principles of argutia and epigrammatical sharpness and borrowed its metaphors from the courteous sphere of the duel, modern polemicists employ ›cut and paste‹ methods, attacking the enemy by cutting up his or her own works or media representations. They fragmentize and rearrange newspaper articles and images to bring about the self-destruction of the author’s work. This shows how polemicists adapt their technique to the materials circulated by the press. Thus, rhetorical attacks are transformed into »pratiques de papier« in which the metaphorical sword and dagger are replaced by scissors: a tool that degrades the enemy by cutting up and collaging his or her words and images.

1. Wortwaffen: Die Kunst der treffenden Rede Die Frage nach der Polemik hat stets die Frage ihrer Waffen in sich eingeschlossen. Wie und mit welchen Werkzeugen zu kämpfen sei, wenn es um einen Krieg (polemos) der Worte geht – diese Fragen berühren das Verhältnis der Worte zu den Waffen. Seit der Antike, die die Gattung der Polemik noch nicht kennt, wird das in verletzender Absicht geführte Wort in die Nähe einer Kriegs- oder Kampfhandlung gerückt.1 Metaphorisch wie buchstäblich können Waffen Worte substituieren und umgekehrt.2 Die Ähnlichkeit ihrer 1

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Vgl. Carlos Spoerhase, Kai Bremer: Rhetorische Rücksichtslosigkeit. Problemfelder der Erforschung gelehrter Polemik um 1700, in: Gelehrte Polemik. Intellektuelle Konfliktverschärfungen um 1700. Hg. v. Carlos Spoerhase u. Kai Bremer. Frankfurt a. M. 2011 (= Themenheft der Zeitsprünge, Bd. 15, Heft 2/3), S. 111–121. »Polemik ist das rhetorische Pendant des Krieges.« (S. 112) Hier finden sich anregende Ansätze zu einer Systematik des Polemischen auch über den Gelehrtenstreit hinaus (vgl. S. 115 ff.). Wie bei Spoerhase und Bremer geht es auch in diesem Beitrag um die Rekonstruktion von »Schärfe« (Spoerhase, Bremer: Rhetorische Rücksichtslosigkeit [Anm. 1], S. 114), allerdings nicht um »Konfliktverschärfungen« in der Gelehrtenrepublik, sondern in Bezug auf polemische Formen und Praktiken im Zeitalter der Massenpresse. Das hier gewählte Ausgangsmodell ist ein rhetorisch-aristokratisches, nicht das des gelehrten Federkriegs, dessen Kontinuitäten in der Polemik der Moderne eigens untersucht werden müssten. Vgl. dazu Marian Füssel: Die Gelehrtenrepublik im Kriegszustand. Zur bellizitären Metaphorik von gelehrten Streitkulturen

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Wirkung begründet sich in den Merkmalen des Spitzen und der Schärfe, die dem einen wie dem anderen zugeschrieben werden. Die rhetorische Figur, in der sich diese Ähnlichkeit manifestiert, ist das acumen – wörtlich: das oder die Spitze und seine Trabanten: die acutezza3 und argutia: sämtlich Figuren der pointierten Rede, die eine potentiell aggressive Redestruktur begründen und die Verwandtschaft zwischen Waffen und Worten evident werden lassen.4 Das acumen ist die rhetorische Leitfigur der geschärften Rede, die sich zunächst in der Kürze und Geschwindigkeit der Repliken zeigt. In ihm verbindet sich Scharfblick mit epigrammatischer Zuspitzung. In Analogie zum Waffenwesen machen auch diese rhetorischen Techniken ein Eindringen, Vordringen und Durchdringen in widerständiges Material möglich.5 Dabei ist das Kämpfen mit der Wortwaffe stets auf das höhere strategische Vermögen angewiesen, eine Lage zu übersehen und zu den eigenen Gunsten zu entscheiden. Bereits Quintilian leitet vom Kampf zum Krieg über. Wie dieser in seiner Institutio oratoria in Bezug auf Caesar bemerkt, ist hierzu die Kunst eines Feldherrn gefordert, dessen Kraft – vis – sich im acumen – in der Leidenschaft kriegerischen Sprechens – äußere. »So groß ist die Kraft [vis], die er besitzt, solchen Scharfblick [acumen], solche Leidenschaftlichkeit beweist er, dass es klar ist, dass er in dem gleichen Geist seine Reden gehalten, in dem er seine Kriege geführt hat.«6 Die feindliche Rede schließt die potentielle Zerstörung ihres Objektes ein, so dass die polemische Entblößung eines Gegners mit dessen symbolischer Tötung enden kann. Die performative Kraft, die der polemischen vis zugeschrieben wird, wirkt dissoziativ-unterbrechend und stiftet kein rhetorisches Kontinuum und keinen übergreifenden Argumentationszusammenhang. Die kriegerische Rede – das bellare – ist vielmehr durch vielfache Neueinsätze gekennzeichnet. Ihre Angriffe erfolgen an unterschiedlichen und unvorhersehbaren Stellen. Der polemische Stich ist inchoativ – eine energetische Setzung, in der die energeia – die Kraft des sprachlichen Ausdrucks – in kriegerischen menos7 umschlägt, wobei mit menos der Impetus oder die geballte Energie bezeichnet ist, die auch im Wortpfeil oder in der Wortlanze wirksam ist und vernichtend über die gesetzten Kriegsziele hinausschießen kann. Der sprichwörtlichen ›Feuernatur‹ der Polemik entspricht

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5 6 7

der Frühen Neuzeit, in: Gelehrte Polemik. Hg. v. Carlos Spoerhase u. Kai Bremer (Anm. 1), S. 158–175, hier S. 158. Vgl. Andrea Battistini u. Andrea Katzenberger: Acutezza, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hg. v. Gert Ueding. Bd. 1. Tübingen 1992, S. 88–100, hier S. 91. Vgl. ebd.; vgl. auch Ruth Bielfeldt: Der Wille im Pfeil. Menos als Bewegungsenergie in Homer, Aristoteles und in frühgriechischen Bildern treffender Wurfgeschosse, in: Kraft, Intensität, Energie. Zur Dynamik der Kunst. Hg. v. Frank Fehrenbach, Robert Felfe u. Karin Leonhard. Berlin, Boston 2018 (= Naturbilder/Images of Nature, Bd. 2), S. 1–29, hier S. 7 ff. Vgl. Battistini u. Katzenberger: Acutezza (Anm. 3), S. 91. Marcus Fabius Quintilianus: Institutionis oratoriae libri XII/Ausbildung des Redners. 12 Bücher. Bd. 2: Libri VII–XII . Hg. u. übers. v. Helmut Rahn. Darmstadt 1995, S. 114. Vgl. Bielfeldt: Der Wille im Pfeil (Anm. 4), S. 3 ff.

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es, dass sie scharfsinnig, schnell, heftig und durchdringend agiert, dass sie von Fall zu Fall springt und damit einen wendigen, improvisatorischen Argumentationsstil begünstigt, dessen Richtung und Ende wie in einer Kampfhandlung unberechenbar ist. Die rhetorischen Redefiguren im Umkreis des acumen erweisen ihre Beweglichkeit in gegebenen Kampfsituationen, sie reagieren ad hoc und erweisen die Geistesgegenwart des Kämpfers, der auf wechselnde Lagen reagiert: »De las contingencias suele tomar pie el discurso, para grandes conceptos como se dice en cada especie de agudeza, del mismo modo para la semejanza, y suelen ser las más gustosas, por lo pronto y tan a la ocasión«,8 heißt es in Baltasar Graciáns 1648 erschienener Schrift Agudeza y arte de ingenio. Als exemplarisch für einen Kämpfer, der Fecht- und Redekunst zusammenführte, gelten Figuren wie Cyrano von Bergerac, der seine Gegner als Duellist wie als Dichter traf. Dieser selbst bemerkte, »dass er schon nicht mehr wüsste, wie Papier aussähe, wenn man darauf nicht die Kartelle [Forderungen zum Duell; Anm. J. V.] schreiben würde«.9 Edmond Rostand, der Autor des gänzlich von rhetorischen und Kampfvorgängen beherrschten Dramas Cyrano von Bergerac, bezeichnete ihn als »riposteur de tac au tac«.10 – Die Stilfigur der riposte, der kritischen Replik, ist zugleich eine Fechtfigur, die einen Angriff pariert. Schärfe und Spitze waren rhetorische Metaphern, die den Kommunikationszielen der höfischen Gesellschaft entsprachen. Sie prägten den Stil aristokratischer Wortgefechte,11 die sich sowohl auf Redekünste wie auf Fechtkünste verstanden und in der Regel ebenbürtige Gegner involvierten.

2. Polemik im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit Die Kunst des auf den Gegner gerichteten acumen schwindet, als die Rhetorik in ihrer höfischen Ausübung an Geltung einbüßt.12 In den Konstellationen der Moderne ist die Polemik von starken Asymmetrien gekennzeichnet und in einer bis dahin unbekannten Weise medialisiert. Sie verliert bzw. relativiert nun den Charakter des Widerstreits bzw. den Duellcharakter, der die höfischen oder akademischen Gegner zumindest ihrer Anordnung 8

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Baltasar Gracián: Agudeza y arte de ingenio. Madrid 1929, S. 71. »Aus den Gelegenheiten wächst gewöhnlich die Rede, sowohl für die großen Ideen als auch für jede Art scharfsinniger Wendung, ebenso für die Ähnlichkeit. Diese [scharfsinnigen Wendungen der Ähnlichkeit] sind die gefälligsten wegen ihrer Schlagfertigkeit und Angemessenheit an die Gelegenheit.« (Ich danke Ulrike Sprenger für die Übersetzung.) Frank Rudolph: Cyrano de Bergerac. Biografie. Chemnitz 2019, S. 51. Ebd., S. 56. Vgl. Volker Knapp: Argutia-Bewegung, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hg. v. Gert Ueding. Bd. 1. Tübingen 1992, S. 991–998, hier S. 991. Vgl. Gert Ueding u. Bernd Steinbrink: Grundriß der Rhetorik. Geschichte – Technik – Methode. Stuttgart 1994, S. 134–156. Vgl. Rhetorik um 1800. Hg. v. Peter Krause. Tübingen 2002 (= Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch, Bd. 20).

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nach auf Augenhöhe zusammen und gegeneinander führte.13 Im Verlauf des 19. Jahrhunderts wird die polemische Technik den neuen gesellschaftlichen und medialen Rahmenbedingungen angepasst, die auf der Basis moderner Reproduktionstechnologie günstige Bedingungen für die Schmährede schufen und polemisches Handeln zu einer breiten massenmedialen Aktivität werden ließen.14 Die symmetrische Anordnung verschiebt sich dahingehend, dass der Gegner nun vor einer dritten Figur vorgeführt, bloßgestellt, medial ›exekutiert‹ wird.15 Die folgenden Überlegungen fragen daher nach der Transformation des Polemischen im beginnenden Pressezeitalter. Anhand dreier exemplarischer Autoren und Künstler, Edgar Allan Poe, Karl Kraus und John Heartfield, beschäftigen sie sich mit spezifischen Verfahren der Kritik bzw. mit der Herausbildung polemischer Praktiken,16 die historisch mit der Entstehung der Massenpresse zusammenhängen und die Bedingungen von öffentlicher Feindschaft auf neue Grundlagen stellten.17 Hier ist zunächst festzuhalten, dass sich die Zahl der Polemiker sowie auch die Zahl ihrer Gegner im Zeitalter der Massenmedien unübersehbar vermehrte. Die moderne Presse ist eine Maschinerie zur Erfindung von Feinden. Zeitschriften und Zeitungen generieren immer neue Gegner und liefern täglich, wöchentlich oder monatlich neuen polemischen Stoff, der Feindschaften am Leben hält. Der Ereignischarakter solcher Feindschaften wird von den Medien systematisch genutzt.18 In seinem 1928 erschienenen Leitfaden für Polemiken schreibt Alfred Polgar: »Polemiken müssen sein, zumal in der Zei13

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Allerdings ist festzuhalten, dass Feindinflationierungen bereits im Ancien Régime zu beobachten sind. Von Cyrano de Bergerac ist überliefert, dass er gegen hundert Feinde gleichzeitig standgehalten habe. Außerdem werden in seinem Umkreis journalistische Formen der Chronik entwickelt, die fortlaufend – im Tagesrhythmus – polemische Verse produzieren. Vgl. Rudolph: Cyrano de Bergerac (Anm. 9), S. 57. Umgekehrt bleibt die Rhetorik des Waffenkampfes bis in den modernen Zeitungsdiskurs erhalten. Vgl. Alfred Polgars Leitfaden für Polemiken, in dem die polemischen Kampfspiele immer noch in aristokratisch-höfischen Begriffen beschrieben werden, wenn es heißt, dass der Zuschauer eines polemischen Kampfspiels nicht umhin kommen soll, »die Grazie des Sprungs und die Härte des Hiebs« zu bewundern, »mag auch der Sprung eine leere Tanzfigur sein und der Hieb daneben gehen.« (Zit. nach Jens Malte Fischer: Karl Kraus. Der Widersprecher. Biografie. Wien 2020, S. 212.) Zur medialen Verfasstheit von Polemik bzw. zu den wechselnden Konfliktmedien vgl. Spoerhase u. Bremer: Rhetorische Rücksichtslosigkeit (Anm. 1), S. 120 ff. Diese Beobachtung verdanke ich einem Kommentar von Carlos Spoerhase zum vorliegenden Aufsatz. Vgl. Hermann Stauffer: Polemik, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hg. v. Gert Ueding. Bd. 6. Tübingen 1992, Sp. 1403–1415, hier Sp. 1403. Stauffer geht davon aus, dass hinsichtlich der Polemik weniger von einer »zur Eigenständigkeit sich entwickelnde[n] Gattung« als von einer »Verfahrensweise, eine[r] Methode der Auseinandersetzung« gesprochen werden kann. Demgemäß ist hier von polemischen Praktiken die Rede. Vgl. Spoerhase u. Bremer: Rhetorische Rücksichtslosigkeit (Anm. 1), S. 120 ff. Zur Autopoiesis von Ereignissen in der Massenpresse vgl. Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Bd. 2. Frankfurt a. M. 1998, S. 1097.

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tung, die ja ihren Lesern Unterhaltung schuldet.«19 Wie die junge Gattung des Leserbriefs zeigt, wird auch auf Seiten der Leser die Schwelle zur eigenen Meinungsäußerung so weit abgesenkt, dass unter den von der Massenpresse diktierten Äußerungsbedingungen jeder Privatmann publizistisch als Feind in Erscheinung treten kann.20 Alle drei Beispiele, Poes Satire, Kraus’ Texte und Heartfields Fotomontagen, agieren in einem polemischen Milieu, das von der Presse ihren Eigengesetzen entsprechend kultiviert wurde.21 Sie verfahren in unterschiedlicher Weise damit, dass der Gegner, der einem in der Zeitschrift oder Zeitung entgegentrat, ein mediales, automatisiertes, entwertetes und durch Fortsetzungsformate am Leben erhaltenes Artefakt oder das »Objekt einer industrialisierten Produktion«22 war, das umgekehrt auch ihre eigenen Äußerungen affizierte. Hauptsächlich sind Poe, Kraus und Heartfield jedoch darin vergleichbar, dass sie nicht nur das scharfe Wort gegen die gegnerische Äußerung wenden, sondern konkret – taktisch oder haptisch – in das Material bzw. in die Text- und Bildträger eindringen, in denen sich der jeweilige Gegner bzw. seine Äußerungen manifestieren. Aus der polemischen Haltung heraus werden materielle Praktiken entwickelt, die, wie Uwe Wirth beobachtet, zunehmend demonstrativ angewandt und inszeniert werden.23 Die Operation, die hier in Frage steht, ist der Schnitt in die Zeitung, der den Feind oder seine Äußerung in seiner Papiergestalt beschädigt. Aus der rhetorischen Kampfhandlung wird eine »pratique du papier«,24 die darauf abzielt, das Material, auf dem sich der Gegner manifestiert, durch bestimmte und jeweils unter19 20 21 22 23

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Zit. nach Fischer: Karl Kraus. Der Widersprecher (Anm. 13), S. 212. Vgl. Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, in: ders.: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Drei Studien zur Kunstsoziologie. Frankfurt a. M. 1974, S. 7–65, hier S. 33. Vgl. Anke te Heesen: Der Zeitungsausschnitt. Ein Papierobjekt der Moderne. Frankfurt a. M. 2006, S. 11. Ebd., S. 47. Mit Bezug auf Georg Simmel: Persönliche und sachliche Kultur, in ders.: Gesamtausgabe. Bd. 5: Aufsätze und Abhandlungen 1894–1900. Hg. v. Heinz-Jürgen Dahme u. David O. Frisby. Frankfurt a. M. 1992, S. 560–582. Vgl. Uwe Wirth: Poetisches Paperwork. Pfropfung und Collage im Spannungsfeld von Cut and Paste, in: Paperworks. Literarische und kulturelle Praktiken mit Schere, Leim, Papier. Hg. v. Irmgard Wirtz u. Magnus Wieland. Göttingen, Zürich 2017, S. 7–29, hier S. 11. Hier der Verweis auf Viktor Žmegač: Montage/Collage, in: Moderne Literatur in Grundbegriffen. Hg. v. Dieter Borchmeyer u. Viktor Žmegač. Tübingen 1994, S. 286–291, hier S. 287. Vgl. Wirth: Poetisches Paperwork (Anm. 23), S. 51: Diese Papierpraktiken sind nach Wirth »ein Symptom dafür, dass die Logik der Vervielfältigung, wie sie sich sowohl im Buchdruck als auch im Massenmedium Zeitung mit dem Einsatz der Rotationspressen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts realisiert findet, durch Gesten des Cut and Paste in prägnanter Weise thematisch wird.« Antoine Compagnon: La seconde main ou le travail de la citation. Paris 1979, S. 17. Vgl. auch Wirth: Poetisches Paperwork (Anm. 23), S. 57: Demnach handelt es sich um »keine Metapher eines abstrakten Schrift- und Kunstprinzips, sondern zunächst einmal [um] eine konkrete Schreibpraxis: poetisches Paperwork als materialgebundene Papierpraktik, bei der die Autorin als eigentümliche ›Papierarbeiterin‹ in Erscheinung tritt.« Polemik wird daher zur Papierarbeit. (Wirth bezieht sich hier auf Herta Müller.)

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schiedliche Zurichtungen zu exponieren. Walter Benjamins bekannte These, dass das Ferne durch technische Reproduktion durchdrungen und verfügbar gemacht werden könne,25 gilt auch für den nun in Reichweite gerückten Feind. Die Verfahren, von denen hier die Rede ist, sind Strafvollzüge, die am Papier exekutieren, was sie dem Gegner selbst nicht antun können. Diskutiert werden jedoch Beispiele mit unterschiedlicher polemischer Struktur. Am Anfang stehen nicht ein Autor und seine Praxis, sondern eine satirische Darstellung des amerikanischen Zeitschriftenmarkts im frühen 19. Jahrhunderts, die die mediengeschichtlichen Voraussetzungen moderner Polemik in prophetischer Überzeichnung offenlegt. Edgar Allan Poes Erzählung The Literary Life of Thingum Bob Esq. von 1844 steckt das Feld ab, in dem sich Kraus und Heartfield bewegen werden. Die Satire bereitet den Boden für ein Verständnis der polemischen Papierpraxis, die Karl Kraus und John Heartfield selbst ausüben werden. Folgende Gesichtspunkte können einleitend festgehalten werden: a) Die ›pratiques du papier‹, die die genannten Autoren schildern oder praktizieren, umfassen Verfahren der negativen Zitierung, die nicht mehr in erster Linie den Polemiker selbst zu Wort kommen lassen, sondern die Rede des Feindes. Poe, Kraus und Heartfield zitieren, um zu vernichten. Rhetorische Waffenkunst wird in allen drei Fällen durch ein aggressives Cut-and-paste-Verfahren ersetzt, das der Anonymität massenmedialer Äußerungen Rechnung trägt und dabei die persönliche Signatur der Gegner in den Hintergrund treten lässt. Ihre polemischen Aktivitäten bewegen sich jeweils im Spannungsfeld von auktorialer und editorialer Autorität,26 indem sie Gewalt nicht nur über die eigene urteilende Rede, sondern über einen Akt des Editing – der aggressiven Text- und Bildbearbeitung – an gegnerischen Materialien ausübt. b) Die polemische Cut-and-paste-Praxis gründet auf der Einsicht, dass die Presse Äußerungen anonymisiert und die Zirkulation von Phrasen begünstigt, dass sie allenfalls flüchtige und temporäre Stabilisierungen von polemischer Autorschaft hervorbringt und daher andere Formen erfordert, die im Feind auch das Medium angreift, in dem er sich äußert. c) Poe, Kraus und Heartfield kämpfen mit Waffen, die keinen aristokratischen Nimbus mehr besitzen. Konkret verwenden sie bei ihrer Papierarbeit mechanisches Gerät, an die Stelle des metaphorischen Stechens tritt das buchstäbliche Schneiden. Die polemischen Waffen verlieren im Kontext der Massenpresse ihren heroischen Charakter. Anders als in den Künsten der argutia und der acutezza lassen sie sich nicht mit dem Schwert bzw. dem Florett vergleichen. 25 26

Vgl. te Heesen: Der Zeitungsausschnitt (Anm. 21), S. 52 über die »Verfügbarkeit von Reproduktion« mit Bezug auf Walter Benjamins Das Kunstwerk im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit. Für diesen Begriff danke ich Carlos Spoerhase.

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d) In den Texten der genannten Autoren treten Souveränität und Abhängigkeit von den Eigengesetzen der Presse in paradoxe Konstellationen. Einerseits profilieren sie sich als brillante Polemiker, deren Ruhm unstrittig auf ihrer analytischen, stilistischen und bellizistischen Schärfe gründet, mit der sie den Gegner treffen. Andererseits aber stehen sie in Abhängigkeit zu den Produktionsbedingungen und redaktionellen Diktaten eines stets mächtiger werdenden Pressewesens, das Herrschaft über alle Publikationsabläufe beansprucht. So klar sie sich als Autoren mit eigener polemischer Handschrift profilieren, so unabweisbar ist ihnen zugleich das Format der Feindschaft durch die Medien vorgegeben. Demnach werden sie einem Publikationsregime unterstellt, das Feindschaft verkauft, quantifiziert, mechanisiert und der flüchtigen Temporalität der Massenpresse aussetzt.

3. »Legion« of enemies: Edgar Allan Poe Edgar Allan Poe wurde für seine Fähigkeit gerühmt, durch die artistische Zuspitzung seiner Kritik – his »sharp tone and pointed content«27 – literarische Kontroversen zu entzünden. In seinen Rezensionen benutzte er das acumen seiner Rede, um in der von ökonomischen Interessen beherrschten literarischen Kultur der Vereinigten Staaten Qualitätsmaßstäbe durchzusetzen. Gleichzeitig stehen seine Feindschaften in engem Zusammenhang mit dem Konkurrenzkampf auf dem amerikanischen Zeitschriftenmarkt und dienen der Profilierung des Autors auf der mit großer Geschwindigkeit expandierenden Zeitschriftenszene in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts. Poes »little wars«28 im »periodical milieu«29 intensivieren und vermehren sich in direkter Proportionalität zur steigenden Auflagenzahl der von ihm redigierten Zeitschriften (Burton’s Gentleman’s Magazine; Southern Literary Messenger; Broadway Journal; Graham’s Magazine u. a.). Bereits an dieser Stelle ist zu sehen, dass eine steigende Anzahl von Feinden generell nicht nur eine Entwertung von Feinden, sondern generell eine Entwertung von Feindschaft selbst nach sich zieht. Poes »cutting and slashing«30 gilt den »minuscule figures«.31 Zeitgenössischen Eindrücken zufolge machte er sich Feinde »like 27

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Vgl. Kent Ljungquist: The poet as a critic, in: The Cambridge Companion to Edgar Allan Poe. Hg. v. Kevin J. Hayes. Cambridge u. a. 2002, S. 7–21, hier S. 7. Zur Kurzlebigkeit der zeitgenössischen Journale vgl. Julian Symons: Edgar Allan Poe. Leben und Werk. München 1986, S. 75. Was Symons für den Süden der USA sagt, dass er ein »Friedhof für literarische Magazine« sei, gilt auch für den Osten. Zu Poes Tätigkeit als Kritiker vgl. hier S. 246–267. Ljungquist: The poet as a critic (Anm. 27), S. 16. Ebd., S. 16. Zit. nach Julian Symons: The Tell-Tale Heart. The Life And Works Of Edgar Allan Poe. London 1978, S. 56. Ebd., S. 62.

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carping muck-worms in the barnyard«, deren Zahl mit »legion« angegeben wird.32 In diesen Zusammenhang fällt auch Poes 1844 erschienene Satire The Literary Life of Thingum Bob Esq., die Voraussetzungen und Methoden einer polemischen Textproduktion behandelt, die mit einer Formulierung des Dadaisten Hugo Ball gesprochen in den »mechanistischen Prozess verschlungen«33 ist. Konkret reagiert die Erzählung auf die massenhafte Gründung von Literaturzeitschriften in den USA der 30er Jahre des 19. Jahrhunderts und die Degradierung, die den Autoren auf einem von ausbeuterischen Herausgebern und Serienprodukten beherrschten literarischen Markt drohte.34 Die Titelfigur Thingum Bob, der Poe Züge von sich selbst verlieh, ist der Glücksritter einer Zeitschriftenkonjunktur, die die Kommerzialisierung der Literatur soweit vorantreibt, dass Texte zur gleichförmigen Massenware, ihre Autoren zu austauschbaren Pseudonymen, das Original zum Plagiat und Kontroversen tautologisch werden. Gestützt auf die eigenen Erfahrungen, polemisiert Poe gegen einen Literaturbetrieb, dessen Texte weder substantielle Debatten noch distinkte auktoriale Positionen hervorbrachten. Gegenstand seiner Kritik ist eine Rezensionsmanufaktur, die Verrisse ohne Argumente und eigene Meisterschaft herstellte. Thingums Vorgangsweise gibt ein frühes Beispiel eines Cutand-paste-Verfahrens, das explizit mit Printmaterialien arbeitete und zugleich die Gleichgültigkeit journalistischer Erzeugnisse evident werden ließ. Seine Polemiken sind das Ergebnis einer »apparativen Autopoiesis«,35 in der sich das Material zufällig und ohne auktorialen Impetus innerhalb einer festgelegten experimentellen Anordnung arrangiert. Sie schreiben sich gleichsam von selbst: Die Texte des Gegners werden nach dem Zufallsverfahren zerschnitten, ihres diskursiven, semantischen und syntaktischen Zusammenhangs entkleidet und mit Schimpfworten durchmischt, die selbst wieder aus zerschnittenen Büchern bezogen werden. Damit tritt die aleatorische Verteilung von Phrasen an die Stelle polemischer Zielgenauigkeit, ein unpersönliches Verfahren an die Stelle des auktorialen Entwurfs: My practice was this. I bought auction copies (cheap) of »Lord Brougham’s Speeches,« »Cobbett’s Complete Works,« the »New Slang-Syllabus,« the »Whole Art of Snubbing,« »Prentice’s Billingsgate« (folio edition) and »Lewis G. Clarke on Tongue«. These works I cut up thoroughly with a currycomb, and then, throwing the shreds into a sieve, sifted out carefully all that might be thought decent, (a mere trifle); reserving the hard phrases, which I threw into a large tin pepper-castor with longitu32 33 34 35

Sandra Tomc: Poe and his circle, in: The Cambridge Companion to Edgar Allan Poe. Hg. v. Kevin J. Hayes. Cambridge u. a. 2002, S. 21–41, hier S. 21, hier eine zusammenfassende Darstellung der »culture of insult«, in die sich auch Poes Feindschaften einfügten. Hugo Ball: Dada Tagebuch, in: Das war Dada. Dichtungen und Dokumente. Hg. v. Peter Schifferli. München 1963, S. 16–50, hier S. 22. Vgl. Daniel Royot: Poe’s humor, in: The Cambridge Companion (Anm. 32), S. 57–71. Friedrich Weltzien: Selbsttätig aus der Natur ins Bild, in: Von selbst. Autopoietische Verfahren in der Ästhetik des 19. Jahrhunderts. Hg. v. dems. Berlin 2006, S. 15–30, hier S. 19.

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dinal holes, so that an entire sentence could get through without material injury. The mixture was then ready for use. When called upon to play Thomas Hawk, I anointed a sheet of fools-cap with the white of a gander’s egg; then, shredding the thing to be reviewed as I had previously shredded the books, – only with more care, so as to get every word separate – I threw the latter shreds in with the former, screwed on the lid of the castor, gave it a shake, and so dusted out the mixture upon the egged foolscap [sic]; where it stuck. The effect was beautiful to behold. It was captivating. Indeed, the reviews I brought to pass by this simple expedient have never been approached, and were the wonder of the world.36

Dieses Verfahren – Poe spricht von »practice« – ermöglicht nicht nur die serielle Herstellung polemischer Texte, es erfordert auch ein anderes, der Kunst des acumen nicht mehr verpflichtetes Werkzeug. Die Bedienung der polemischen Textmaschine verlangt einen Striegel (curry comb), der seiner technischen Struktur keine Subtilität gestattet, sondern den zu rezensierenden Text in seiner Gesamtheit, ohne Ansehen seiner Inhalte und in vollem Bewusstsein seiner Wertlosigkeit zerkleinert. Striegeln – »to curry comb« – bedeutet Dreck herauslösen, aber auch »jemanden maßregeln«.37 An die Stelle des Schwerts tritt ein am Tier verwendetes Gerät, das nicht punktuell zusticht und mit der Spitze eindringt, sondern gleichmäßig größere Fläche durchbürstet, ohne dabei gestaltend, erhellend oder zuspitzend auf das Ergebnis einzuwirken. An die Stelle des aristokratischen Wortgefechts tritt die maschinelle Massenproduktion von polemischer Ware, deren vorgefertigte verbale Bestandteile ohne Rücksicht auf Inhalte nach dem Zufallsprinzip verteilt werden. Polemik speist sich folglich nicht aus dem Ingenium eines überlegenen, durchdringenden Geistes, sie recycelt und durchmischt vielmehr mehrere Phraseninventare, deren Wertlosigkeit daran zutage tritt, dass sie in Antiquariaten billig zu haben sind. Um das Waffenarsenal des Polemikers zu vervollständigen, fügt Poe dem Striegel außerdem eine zweite Waffe hinzu, die ebenfalls keine feine Klinge besitzt und hauptsächlich als Wurfgeschoss bekannt ist: Auf Wunsch eines Herausgebers soll sich Thingum Bob als »Thomas Hawk« betätigen – d. h. sich seinen Feinden gegenüber eines Beils bedienen, das die indianischen Krieger jeweils zu Beginn eines Krieges ausgruben: »and that by ›playing tomahawk‹ he refered to scalping, brow-beating and otherwise using up the herd of poor devil-authors.«38 Damit bringt sich Poe, der seiner scharfen Kritiken wegen den Beinamen »The Tomahawk man« erhalten hatte,39 in der Satire selbst ins Spiel. 36 37 38 39

Edgar Allan Poe: The Literary Life of Thingum Bob Esqu., in: ders: Poetry and Tales. Hg. v. Patrick F. Quinn, New York 1984, S. 766–786, S. 782. Das Oxford English Dictionary kennt »to curry comb somebody« auch in übertragener Bedeutung. Poe: Thingum Bob (Anm. 36), S. 781. Paul Hurh: Poe the Critic: The Aesthetics of the »Tomahawk« Review, in: The Oxford Handbook of Edgar Allan Poe. Hg. v. J. Gerald Kennedy u. Scott Peeples. New York 2019, S. 444–462.

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4. Strafendes Schneiden: Der Ausschnitt vor dem Gericht der Fackel Die Abhängigkeit von den Publikationsfrequenzen der Massenmedien ist auch für den Kritiker Karl Kraus gegeben, der nach eigener Auskunft jedem seiner Gegenstände ein »Schärflein«40 mit »ä« hinzulegt. Auch seine im Jahr 1899 in Wien gegründete Zeitschrift Die Fackel erklärt die Erfindung von Feinden zur Hauptsache, sowie sie auch in der fortwährenden polemischen Bezugnahme auf die Tagespresse ihre Rechtfertigung sieht. Kraus kämpft mit einer unübersehbaren Zahl kleiner Feinde, die nur deshalb über die Wahrnehmungsschwelle gehoben werden, weil er der eigenen Auskunft nach »aus einer Mücke einen Elefanten«,41 d. h. aus einer journalistischen Trivialität einen polemischen Gegenstand von wahrnehmbarer Größe, macht.42 Sein Ziel ist es, den ephemeren Gegner aus der Anonymität zu reißen,43 ihn dingfest zu machen44 und gegen das rasante Zeitregime des Pressebetriebs, das seine Äußerung unverzüglich entwertet, vor das letzte Gericht der Fackel zu zitieren45 und damit jene zur Rechenschaft zu ziehen, die, wie der Zeitungswissenschaftler Hans Traub in seinem 1928 erschienenen Beitrag Zeitungswesen und Zeitungslesen darlegt, in der Regel »hinter die geschlossene Einheit ›Zeitung‹ zurück(treten).«46 Zugleich sind diese Asymmetrien zwischen Gegnern auch dadurch bedingt, dass der Gegner dem Polemiker nicht als Person, sondern als anthropomorphes Symptom einer politisch-medialen Korruption entgegentritt, die er gerade auf Grund seiner persönlichen Bedeutungslosigkeit idealtypisch verkörpert. Von Anfang an richtet sich die Fackel auch gegen die »periodisch erscheinenden Dummheiten und Lächerlichkeiten unseres politischen, gesellschaftlichen und literarischen Lebens.«47 Der Herausgeber der Zeitschrift sieht seine 40 41 42

43 44 45 46 47

Karl Kraus: Schweigen, Wort und Tat, in: Die Fackel (Dezember 1915), Nr. 413, S. 25–28, hier S. 28. Vgl. Karl Kraus: Untergang der Welt durch schwarze Magie, in: Die Fackel (Dezember 1912), Nr. 363, S. 1–28, hier S. 21. Jens Malte Fischer erklärt es sogar zu einem Gattungsmerkmal der Polemik, dass sie es mit kleinen Größen zu tun hat: »Polemik, so könnte man das Ganze vereinheitlichen, benötige als Zielrichtung eine Person geringen Formats, der in der Öffentlichkeit aber ein ebenso angemaßtes wie ihr nicht zukommendes großes Format zugesprochen werde.« Fischer: Karl Kraus. Der Widersprecher (Anm. 13), S. 211. Vgl. Karl Kraus: Untergang der Welt durch schwarze Magie (Anm. 41), S. 21. Vgl. Walter Benjamin: Karl Kraus, in: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. II .1: Aufsätze, Essays, Vorträge. Hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a. M. 1977, S. 334–367, hier S. 363. Vgl. Bettine Menke: Zitat. Zitierbarkeit. Zitierfähigkeit, in: Anführen – Vorführen – Aufführen. Texte zum Zitieren. Hg. v. Volker Pantenburg u. Nils Plath. Bielefeld 2002, S. 273–281, hier S. 275. Zum Zitat bei Kraus vgl. auch Fischer: Karl Kraus. Der Widersprecher (Anm. 13), S. 927. Hans Traub: Zeitungswesen und Zeitungslesen. Dessau 1928 (= Wege zur Bildung, Bd. 8), S. 79. Karl Kraus: Die Unabhängigen, in: Die Fackel (Anfang April 1899), Nr. 1, S. 4–8, hier S. 4.

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Aufgabe darin, den Drehungen der Rotationsmaschinen48 bzw. der »Dummheit und Bosheit, welche über eine Rotationsmaschine verfügt«,49 wenigstens kurzfristig Einhalt zu gebieten. Unerreichbares Ziel der Fackel ist es, die fortlaufende journalistische Produktion zu unterbrechen, die den Maschinen zuarbeitet und darüber selbst maschinenähnliche Züge annimmt. Wenn die großen Zeitungsmaschinen mit »Rennpferden vor dem Absprung zu vergleichen sind«, wie Hans Traub behauptet, wenn ihr Einsatz in ihrem »heulenden Brausen«50 orkanhafte Züge annimmt, dann ist daran auch die Gegenkraft zu ermessen, die es braucht, um diese Bewegung anzuhalten. Das Verfahren, das die Arbeit der Maschinen wenigstens virtuell anhalten soll, ist ein Verfahren des »strafenden Zitats«,51 das die Herauslösung und Wiederholung einer Äußerung aus einem gegebenen Kontext mit einer Anklage verbindet und polemisch gegen ihren Urheber wendet. Der Polemiker Kraus arbeitet nicht nur mit acumen und Gegenrede, so sehr er auch in dieser Kunst brilliert, sondern auch mit der entblößenden Exposition des gegnerischen Wortlauts.52 Die Zitationen der Fackel lassen sich erneut als feindliche Mobilisierungen fremder Texte gegen sich selbst beschreiben. Das zeigt die folgende Passage, die den Prozess der Fackel gegen das polemische Objekt (in diesem Fall Arthur Schnitzlers Professor Bernhardi) in biblischer Diktion erläutert: Fern sei es von mir, den »Professor Bernhardi« zu lesen, denn läse ich ihn, ich fühlte mich hingerissen, ihn zu zitieren, und zitierte ich ihn, man läse ihn richtig. Denn ihr alle wisset doch schon, daß die Dinge, die ihr anderorts mit Wohlgefallen betrachtet, hier plötzlich ein anderes Gesicht annehmen, indem sie das werden, was sie sind. Denn mir ist ein Engel erschienen, der mir sagte: Gehe hin und zitiere sie. So ging ich hin und zitierte sie. Und kann Existenzen dem Hungertode preisgeben, bloß dadurch, daß ich sie hier noch einmal und wörtlich das sagen lasse, wodurch sie Reichtümer erwerben.53

Konkret werden diese Zitationen jedoch in der Praxis mit der Schere vorgenommen. Während Poe die Zeitung mit einem Striegel zerstückelt, benutzt der Herausgeber Kraus die Schere, um in das gedruckte Material wie in den gesamten Produktionsprozess zu intervenieren: »[D]urch vier Jahre schnitt er tagaus, tagein mit der Schere Dokumente aus den Zeitungen und leimte Karikaturen aus diesen Ausschnitten, neben denen die Karikaturen eines Daumier 48 49 50 51 52 53

Vgl. Karl Kraus: Literatur, in: Die Fackel (Januar 1920), Nr. 521, S. 65–88, hier S. 88. Vgl. auch Karl Kraus: Das Jubiläum (März 1912), Nr. 345, S. 52–55, hier S. 55. Zit. nach: Karl Kraus: Rundfragen, in: Die Fackel (27. April 1912), Nr. 347, S. 12–13, hier S. 13. Traub: Zeitungswesen (Anm. 46), S. 173 ff. Walter Benjamin: Karl Kraus (Anm. 44), S. 363. Zur Prägung Benjamins vgl. auch Fischer: Karl Kraus. Der Widersprecher (Anm. 12), S. 932. Vgl. Cornelia Vismann: Karl Kraus. Die Stimme des Gesetzes, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 74 (2000), S. 710–724, hier S. 720 ff. Karl Kraus: Fern sei es von mir, den »Professor Bernhardi« zu lesen, in: Die Fackel (Februar 1913), Nr. 368, S. 1–4, hier S. 1.

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reinste Romantik sind.«54 – Konkret verwendet er das Werkzeug der Redakteure, die mit der Schere alte Zeitungen ausschlachteten, um ihre eigenen Spalten zu füllen. Wie andere Blätter und Journale macht auch die Fackel aus alten Zeitungen neue. Die im Nachlass vorhandenen Druckvorlagen zeigen, dass sie zu großen Teilen aus Presseausschnitten und Wiederabdrucken besteht. Anders als in den Redaktionen der regulären Zeitungen jedoch, die einen Artikel im Cut-and-paste-Verfahren erneut in Umlauf setzen und dadurch seine Aktualität erneuern,55 schneidet Kraus in die entgegengesetzte Richtung. Während die zeitgenössischen Zeitungsmacher Nachrichten ausschnitten, um sie weiterzuverwenden und neu zu verkaufen, zielt Kraus’ Scherenpraxis auf eine Form von Kritik, für die ich die Bezeichnung ›negative editing‹ vorschlage. Die Schere der Fackel zielt nicht auf Bewahrung und Zirkulation, sondern auf die Selbstzerstörung einer Aussage ab. Ihr Herausgeber schneidet nicht aus, was ihm gefällt, sondern, »was ihm mißfällt«. Der Schnitt in die Zeitung ist das erste, aggressive und wirkmächtige Glied einer Verfahrenskette, die auf die Bloßstellung und Selbstrichtung des gegnerischen Wortlautes hinarbeitet56 Erster polemischer Zug ist die Herstellung eines Ausschnitts und damit die Zerstörung eines Kontexts, der einer Äußerung den Anschein der Selbstverständlichkeit und der Sinnhaftigkeit verlieh. Mittels der Schere der Fackel wird ein falscher, in der Presse vorgefundener Zusammenhang neutralisiert und eine auf den ersten Blick unauffällige Notiz zur Ungeheuerlichkeit. Während sich Poes Thingum dem mechanischen Prozess überlässt und im Cut-and-paste gegnerischer Schriften seine persönliche Signatur auslöscht, steigert der Herausgeber der Fackel durch den editorischen Eingriff seine Autorität. Kraus’ Praxis bewegt sich im Spannungsfeld von auktorialer und editorialer Autorität. So wächst ihm Autorität nur insofern zu, als er den Gegner zitiert und ihn im Akt der Herausgabe und Bearbeitung zur Kenntlichkeit entstellt. Umgekehrt erwirbt er sich die Stimme des Herausgebers auktoriale Macht, indem dieses Zitat Urteil und Strafvollzug zugleich ist. Dieses Verfahren, das für Kraus’ redaktionelle Arbeit insgesamt bestimmend ist, erlangt in der Kurzgattung der Glosse seine pointierteste Form. Die Glosse, die zu den wichtigsten polemischen Gattungen in der Fackel 54

55

56

Artikel der Hrvatska Revija zitiert nach: Karl Kraus: Notizen und Glossen, in: Die Fackel (Mai 1930), Nr. 649, S. 15–24, hier S. 18 f. Dieses Zitat verdanke ich Thomas Traupmann, der mir freundlicherweise sein Kapitel Schereneinsätze. Bestandsaufnahmen – Schneiden um ›1900‹ – Zusammen-Stellungen – Schnittfolgen zur Verfügung gestellt hat, in dem er die Arbeit mit Zeitungsausschnitten detailliert und erhellend rekonstruiert. Hier Ms. S. 12. Vgl. Lothar Müller: Weiße Magie. Die Epoche des Papiers. München 2012, S. 325; Will Slauter: Who owns the news? A History of Copyright. Stanford 2019, S. 87 ff. Vgl. auch Ellen Gruber Garvey: Writing with Scissors. American Scarpbooks from the Civil War to the Harlem Renaissance. New York 2013, S. 25–60. Vgl. Leo Lensing zum »aggressiven Moment des (visuellen) Zitierens« (S. 562). Leo Lensing: »Photographischer Alpdruck« oder politische Fotomontage? Karl Kraus, Kurt Tucholsky und die satirischen Möglichkeiten der Fotografie, in: Zeitschrift für Deutsche Philologie 107 (1988), S. 556–571, hier S. 562.

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gehört,57 legt dem Kritiker und Autor Kraus äußerste Zurückhaltung auf. Glossen isolieren in der Regel einen einzelnen Zeitungsausschnitt. Ihre polemische Energie konzentriert sich vorwiegend im Schnitt. Der feindliche Akt besteht auch hier im ›negative editing‹ einer feindlichen Äußerung, die das, was zunächst vom Leser »mit Wohlgefallen betrachtet« wurde, nun als das kenntlich wird ›was es ist‹.58 Der zur Zitation beförderte Ausschnitt wird gewählt, isoliert, mobilisiert, geklebt und, wie Edward Timms zu Kraus’ Glossen bemerkt hat, anschließend durch die Handschrift des Herausgebers herausgefordert, die mit einer Inskription oder einem kurzen Kommentar polemisch in den Wortlaut des Gegners interveniert: »Häufig begann er damit, einen Zeitungsausschnitt auf ein größeres Stück Papier zu kleben, um die Position des Gegners zu bestimmen. Diese Position wurde dann eingekreist – von Kraus’ winziger Handschrift förmlich umzingelt.«59 Bei dem abgebildeten Dokument60 handelt es sich um eine solche Glosse, die in der von Timms geschilderten Weise umzingelt ist. Negativ editiert wird das Dokument in mehrfacher Hinsicht: durch strafendes Schneiden, durch die handschriftlichen Zusätze des Herausgebers, durch die Sperrung der Sperrung und durch die Beifügung des ironisch-alarmierenden Titel »Der Ernstfall«, der dem banalen Ereignis einer vom Militär veranstalteten Redoute die Dringlichkeit einer unter Ausnahmebedingungen stattfindenden Kriegshandlung verleiht. Doch auch wenn der Herausgeber Kraus seine auktoriale Macht in starken Gesten verteidigt, beruht doch auch seine Arbeit auf dem Fundament einer kollektiven Praxis, von der er sich nur gewaltsam und unvollständig abzugrenzen vermag. Zumindest in den ersten Jahren der Zeitschrift zählt er auf die Mithilfe der »Meinungsgemeinschaft«61 der Fackelleser, die ihm Zeitungsausschnitte zusenden und ihn auf korrumpierende Zeitungsaussagen aufmerksam machen.62 Wendungen wie: »Von mehreren Lesern wird mir ein Zeitungsausschnitt zugesendet [. . .]«,63 setzen eine kollektive Mitarbeit voraus, die sich an der Recherche beteiligt und im Hintergrund der Redaktionsarbeit an der Fackel vor sich geht. Eine solche Mithilfe leistet auch das Wiener Zeitungsausschnittsbüro Der Observer, das bis zum Jahr 1913 in der 57 58 59 60

61 62 63

Vgl. Fischer: Karl Kraus. Der Widersprecher (Anm. 13), S. 208 ff. Karl Kraus: Fern sei es von mir, den »Professor Bernhardi« zu lesen (Anm. 53), S. 1. Edward Timms: Karl Kraus. Satiriker der Apokalypse. Übers. v. Max Looser u. Michael Strand. Berlin 1999, S. 75. Karl Kraus: Der Ernstfall, in: Die Fackel (Juni 1912), Nr. 351, S. 17. Zusätze: oben: »Das Kriegsministerium lässt nicht mit sich spassen«; unten: »Ich bin furchtbar erschrocken, erschien trotzdem vorschriftswidrig adjustiert (Straßenanzug), wurde erkannt, sollte füsiliert werden, desertierte vor der Langweile und werde jetzt gesucht.« Traub: Zeitungswesen (Anm. 46), S. 77, hier im Plural. Traub spricht von »freiwilligen Gelegenheitsmitarbeitern«, einem unentgeltlich sich zur Verfügung stellenden Kreis von Menschen. Ebd. S. 160 f. Karl Kraus: Meine Bücher, in: Die Fackel (Juni 1909), Nr. 281–282, S. 30–33, S. 33.

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Abb. 1: Manuskript der Glosse: Der Ernstfall (Die Fackel [Juni 1912], Nr. 351, S. 17) mit Zeitungsausschnitt, Wienbibliothek im Rathaus (Ib 159635)

Fackel inserierte und den Herausgeber ebenfalls mit Zeitungsausschnitten belieferte.64 Wie Thomas Traupmann in einer Untersuchung zu Kraus’ Montagepraxis zeigt,65 wird diese Zusammenarbeit 1908 mit dem Ziel beendet, dem Herausgeber die alleinige Verfügungsgewalt über das Material zu sichern. Nur sein Schnitt darf ein strafender sein. Gerade aber die dekretorische Geste, mit der sich Kraus weitere Zusendungen von externer Seite verbittet, deutet die Problematik dieser Maßnahmen an. Wenn die Materialherrschaft nur mit Gewalt wieder personalisiert werden kann, bleibt sie weiterhin auf die kollektive Ausschneidepraxis bezogen.66 Wie Traupmann bemerkt, muss das Verbot wiederholt ausgesprochen werden. Es bedarf mehrerer Machtwörter von Sei64 65 66

Vgl. Thomas Traupmann: Schereneinsätze. (Anm. 54), Ms. S. 12. Vgl. ebd., S. 10–11. Vgl. te Heesen: Der Zeitungsausschnitt (Anm. 21), S. 56; Müller: Weiße Magie (Anm. 55), S. 325.

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ten Karl Kraus’, um die Zusendung von Zeitungsausschnitten abzustellen und den Herausgeber als alleinigen Herren über das Material zu bestätigen. Nur sein Schnitt darf ein strafender sein.

5. Papierexekution: John Heartfield Das dritte Beispiel sucht die moderne Polemik im Bereich der Fotomontage auf. Es handelt sich um eine Kunstform, die John Heartfield gemeinsam mit George Grosz im Ersten Weltkrieg entdeckt haben will67 und zum zentralen politischen Kampfmedium weiterentwickelte. Heartfields Arbeit berührt sich zunächst für die Dauer eines Zwischenspiels mit der Scherenpraxis der Dadaisten, die das Schneiden in provokanter und kritischer Absicht betrieben und in ihren Aktionen auf eine Zerstörung der durch die bürgerliche Gesellschaft beglaubigten Sinnzusammenhänge hinarbeiteten. Vorübergehend agierte Heartfield als Partisan einer Bewegung, die Revolution durch Chaosstiftung herbeiführen wollte. Besonders in der Berliner Dada-Gruppierung, der Raoul Haussmann, Hannah Höch und George Grosz angehörten, waren Schere und Klebstoff unverzichtbarer Bestandteil des Waffenarsenals: »Man zerschnitt Fotos, klebte sie provokativ zusammen, verband sie mit Zeichnungen, zerschnitt auch diese, durchsetzte sie mit Zeitungspapier oder alten Briefen oder was immer einem in die Hände fiel, um einer verrückten Welt ihr eigenes Bild in den Rachen zu stoßen.«68 Seine Klebearbeiten für die Erste Internationale Berliner Dada-Messe von 1920 zeigten dadaistische Zufallsarrangements, die den Betrachter durch ihr sinnfreies und »ursacheloses Angeordnetsein«69 herausforderten. Seine späteren Fotomontagen hingegen verfolgten konkrete politische Ziele und konkrete politische Gegner: Aus dem chaosstiftenden Schneiden des Dadaisten ging das agitierende Schneiden des Polemikers Heartfield hervor, der nach dem Ersten Weltkrieg, 1918 oder 1919, in die kommunistische Partei eingetreten war und die Fotomontage nun in den Dienst seiner politischen Arbeit stellte.70 Doch auch in diesen, nach der Devise »Kämpfe mit Fotos«71 vorgehenden Arbeiten wird das Bild des Gegners aus den Printmedien und ihren Archiven bezogen. John Heartfields Bruder Wieland Herzfelde berichtet, dass Heartfield stets alte Zeitungen bei sich hatte: »John trug nämlich, da er sich von dem jeweils erworbenen Material ungern zu trennen pflegte, ehe er alles durchge67 68 69 70 71

Vgl. Herta Wescher: Die Collage. Geschichte eines künstlerischen Ausdrucksmittels. Köln 1968, S. 144–145. Hans Richter: Dada, Kunst und Anti-Kunst. Der Beitrag Dadas zur Kunst des 20. Jahrhunderts. Köln 31978, S. 117. Ebd. Vgl. Wieland Herzfelde: John Heartfield. Leben und Werk. Dresden 1971, S. 46. Ebd., S. 42.

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Abb. 2: John Heartfield: Benütze Foto als Waffe. Fotomontage (Arbeiter-Illustrierten Zeitung 8 [1929], Nr. 37); Akademie der Künste, Berlin, Kunstsammlung, Inv.-Nr.: JH 430; © The Heartfield Community of Heirs/VG Bild-Kunst, Bonn 2021.

sehen hatte, eine ganze polygraphische Wochenernte mit sich herum.«72 Auch in seinem Fall ist die Presse die zentrale polemische Ressource, die ihm stets zur Hand ist und das Bild des Feindes in Papierform – als »Zerschnittenes«73 – verfügbar macht. Auch diese Variante der modernen, materialbasierten Polemik arbeitet mit Reproduktionen, und auch ihre Gewalt richtet sich gegen die als fertig gesetzte, verkehrsfähige und verfügbare mediale Form. Zugleich zeigt sich auch bei Heartfield, was aus dem Degen des acumen im Zeitalter der Massenpresse geworden ist und wie die scharfe Rede in eine konkrete Szene der Hinrichtung umgewandelt wird. Beispielhaft lässt sich diese Umwandlung an dessen Selbstportrait mit dem Polizeipräsidenten Zörgiebel ablesen. Es zeigt die Exekution des Polizeipräsidenten durch die Schere. 72 73

Ebd., S. 32. Ebd., S. 46.

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In diesem Bild nimmt das Verfahren der ›strafenden Zitierung‹ die dezidiert scharfrichterliche Form einer Enthauptung an.74 Offen demonstriert Heartfield das Schneiden als Gewalt am Feindbild. Seine Handlung trägt die Züge eines Schadenszaubers, der einen Gegner durch die Misshandlung einer effegie oder stellvertretenden Abbilds tötet. Die Fotomontage unterwirft den feindlichen Papierkörper dem Henker. Die ›strafende Zitierung‹ beraubt das Objekt dabei zunächst des angestammten Ortes, seiner Haltung und des Zusammenhangs, in dem es ›an seinem Platz‹ zu sein schien. Zörgiebel wird durch die Schere sowohl die normative Vertikalität entzogen, in der sich Autorität im Bildraum behauptet, wie das Gewicht, das seinem Körper wie seinem Amt zukommt. Zugleich wird sein Bild in den unteren Bildteil verwiesen, während sich der Zorn über denjenigen, der im ›Blutmai‹ 1929 einen Schießbefehl gegenüber demonstrierenden Arbeitern erließ und den Tod von dreiunddreißig Zivilisten verschuldete, in der überlegenen oberen Bildhälfte aufbaut. Zuletzt aber wird der polemische Ausschnitt durch einen tödlichen Einschnitt überboten. Der Schnitt ist nicht nur insofern polemisch, als er den Feind exponiert und vor die Schranken zitiert, er ist außerdem polemisch, weil er nicht nur ausschneidet, sondern auch einschneidet und dabei die Integrität einer Kontur verletzt.75 Heartfields Fotomontage macht außerdem darauf aufmerksam, dass der polemische Austausch im Zeitalter der Massenpresse vor einer dritten Figur ausagiert wird. Sein böser Blick auf den Betrachter zeigt, dass der Schnitt in den Feind »demonstrativ«, vor den Augen der medialen Öffentlichkeit stattfindet. »Der Blick des scherenführenden Vollstreckers richtet sich an die Betrachtenden, die als Dritte das Urteil über den polemischen Papierakt fällen.«76 Die Kunst der treffenden, zugespitzten Rede, die sich an der Fechtkunst oder am Schwertkampf orientierte, wird damit von Praktiken ergänzt und ersetzt, die Kriege am Material führen. Heartfields polemische Kunst bekämpft die Gegner nicht mehr (nur) durch spitze Worte, sondern mit speziellen ›pratiques du papier‹, in denen der zum Papierobjekt gewordene Gegner einer speziellen polemischen Behandlung unterzogen wird. Diese Feinde sind in allen drei Fällen Artefakte der Printmedien, die durch die Zeitungen hervorgebracht, vervielfältigt und zerschnitten werden. Dabei sind die Asymmetrien zwischen Gegnern auch dadurch bedingt, dass der Gegner seinem Polemiker nicht als Person, sondern als Symptom einer politisch-medialen Korruption entgegentritt, die er 74

75 76

Traub: Zeitungswesen (Anm. 46): »Unter Entrefilet (Spitze) versteht man eine kurze schlagende Beleuchtung eines einzelnen Ereignisses, während das Stimmungsbild sich in der breiteren Form der Schilderung bewegt. Die Spitze soll sich durch Kürze, Schneid und Schärfe auszeichnen. Sie ist die Hauptwaffe des parteipolitischen Kampfes.« (S. 137) Te Heesen spricht von Heartfields Agitationsschere bzw. von der Schere als Agitationsmittel. Vgl. te Heesen: Zeitungsausschnitt (Anm. 21), S. 282. Kommentar Spoerhase (Anm. 15).

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gerade auf Grund seiner persönlichen Unauffälligkeit idealtypisch verkörpert. Die hier beschriebenen Vorgänge spiegeln jedoch nicht nur den Reputationsverlust von Gegnern, die keiner Widerrede mehr wert sind, sie spiegeln zugleich den Rangverlust der Waffen, die in den minderen Formen der Feindschaft gebraucht werden. Schere, Striegel und Tomahawk fehlt der tödliche Ernst und, was noch gravierender ist, die analytische Durchdringungskraft, die dem Schwert und dem Degen zugeschrieben werden. Mit ihnen werden mechanische, domestische oder weibliche Tätigkeiten ausgeübt, die die kriegerische Aura des Polemikers zerstören und seine Kampfformen in die komische, jedenfalls aber in die niedere Sphäre rücken. Der Striegel ist für den Stall, aber nicht für epigrammatische Finessen gemacht. Die Schere ist ihrem Ruf nach ein unkreatives Werkzeug, das anstatt Neues zu schaffen, fragmentierend, aber nicht klärend in bestehende Text-, Bild- und Stoffzusammenhänge eingreift.77 Da sie den Gegner außerdem nicht ersticht, sondern ihm etwas abschneidet, ist ihr kastrierender Charakter dominanter als ihr tödlicher. Zuletzt unterscheiden sich beide Werkzeuge von den Waffen des acumen darin, dass ihr Schnitt nicht in die Tiefe, sondern in die Fläche dringt.78 Beide zielen nicht mit punktueller Treffgenauigkeit auf eine wunde Stelle, sie arbeiten sich stattdessen durch beliebige Papiermengen hindurch, die die Kontingenz publizistischer Feindschaften noch einmal deutlich werden lässt. In allen drei Fällen jedoch können die ohnmächtigen Papierpraktiken zumindest in der Imagination in körperliche Gewalt umschlagen. Karl Kraus imaginiert sich selbst mit dem Attribut des Skalpells, nicht mit der Schere, die er den Plagiatoren überlässt.79 Heartfields Zorn manifestiert sich auch in der Papierexekution so stark, dass sich die Komik nicht endgültig durchsetzen kann und sich die Harmlosigkeit des Papierschnitts mit mörderischer Energie auflädt, und Poes Cut-and-paste-Methode läuft innerhalb des gewaltsam eskalierenden Wettbewerbs auf dem amerikanischen Zeitschriftenbetriebs auf einen Befehl zum Vatermord hinaus, der in den Worten »We must cut him at once! . . . We must cut him!«80 die Gewalt freisetzt, die in den ›pratiques du papier‹ eingeschlossen ist.

77 78 79 80

Vgl. Juliane Vogel: Schnitt und Linie. Etappen einer Liaison, in: Öffnungen. Zur Theorie und Geschichte der Zeichnung. Hg. v. Friedrich Teja Bach u. Wolfram Pichler. München 2009, S. 141–159, hier S. 141 ff. Vgl. Juliane Vogel: Kampfplatz spitzer Gegenstände. Schneiden und Schreiben nach 1900, in: Konstellationen – Versuchsanordnungen des Schreibens. Hg. v. Helmut Lethen u. a. Wien 2013, S. 67–82, hier S. 75. Vgl. Anke te Heesen u. Juliane Vogel: Papieroperationen – der Schnitt in die Zeitung. Stuttgart 2004, S. 47–49. Poe: Thingum Bob (Anm. 36), S. 783.

Daniela Strigl

»Von einer blutgierigen Fackel versengt« Karl Kraus vs. Georg Kulka – und Robert Musils Kommentar im zeitgenössischen Wiener Polemik-Diskurs Abstract: This essay illuminates the relationship between Robert Musil and Karl Kraus using the example of Kraus’s polemic, in 1920, against the young expressionist poet Georg Kulka and his prominent colleague Albert Ehrenstein, who defended him. Musil was marginally involved in the conflict. The article examines contemporary manifestations of polemics and pamphlets (e. g., by Walther Rode and Anton Kuh) in order to determine what Musil’s position was in the debate. Although he adopted a critical attitude towards Kraus and his sect-like group of followers, after the end of the World War the editor of the Fackel exerted a considerable influence on Musil’s understanding of satire and the use of literal quotations.

In diesem Beitrag geht es um einen Fall der österreichischen Literaturgeschichte, der Musil-Experten bekannt sein dürfte, sonst aber zu den unterbelichteten Kapiteln der literarischen Skandalchronik gehört. Es ist – im doppelten Wortsinn – der Fall eines Schriftstellers, der ins Visier eines Kritikers geriet, ein Fall, der womöglich über sich hinausweist auf eine Typologie der Polemik. Die Polemik leitet sich ab von griechisch ὁ πόλεµος (»ho pólemos«), der Krieg, der Kampf, der Streit. Polemik im ursprünglichen Sinn versteht sich als eine scharf geführte argumentative Auseinandersetzung, die vor der Person des Kontrahenten nicht haltmacht, ja auf sie abzielt. Die Metaphorik des Brachialen, des Martialischen und somit auch des Mörderischen ist der Polemik immer schon eingeschrieben. Der im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts im deutschen Sprachraum zwar nicht unangefochtene – es kam ihm aufs Angefochtenwerden an –, aber weithin anerkannte Meister aller Waffengattungen spielt die Hauptrolle im Folgenden.

1. Der Fall Das Zitat im Titel meines Beitrags stammt weder von Kraus noch von Kulka, noch von Musil, sondern von einem Kommentator der Causa, von Albert Ehrenstein. In seiner katachretischen Entschlossenheit verweist es auf dessen Label im literarischen Feld: Ehrenstein firmiert als Expressionist. So wenig die Bildbereiche des Bluttrinkens und des Verbrennens zusammenstimmen,

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so kommen sie doch im Orange-Rot der Fackel, des Leuchtmittels wie der Zeitschrift des Karl Kraus, zur Deckung. Ich versuche eine Rekonstruktion in Kürze.1 Wir befinden uns im Jahr 1920. Ehrenstein reagiert in seiner eigenen Zeitschrift Die Gefährten auf Kraus’ Attacke gegen den jungen Autor Georg Kulka (1897–1929), von der er sich »angeekelt, empört« zeigt: Ich ergreife nicht die Partei des Schriftstellers Kulka, mich ergriff das Leiden eines unbekannten dreiundzwanzigjährigen Menschen, den der gewaltige Kraus bei lebendigem Leibe röstete. Es ist ein Wunder, daß Georg Kulka noch lebt. Daß er nach einem so infernalischen Mordversuch noch lebt, von einer blutgierigen Fackel versengt, gebrannt, gebrandmarkt, geschmort, geröstet, ist kein Verdienst des [. . .] Philantropen [sic] Karl Kraus [. . .].2

Vorausgegangen war dem eine 23-seitige Abhandlung, die Kraus unter dem Titel Ein neuer Mann im Juli-Heft der Fackel von 1920 gebracht hatte und mit der er Kulka in einem zweistufigen Verfahren erledigt: zunächst seinen Band Der Stiefbruder. Aufzeichnung und Lyrik, von dessen Gedichten der Kritiker rundweg behauptet, sie seien von »Hölderlin, Nietzsche, Stefan George, Rilke, Lasker-Schüler, Trakl, Kokoschka, Werfel, Goethe, Ehrenstein, Wolfenstein, Lichtenstein, Einstein, Stramm, Benn und Becher, Goll und Gütersloh, Klopstock, Sonnenschein und sogar von meiner Wenigkeit«;3 sodann einen Essay, den Kulka unter dem Titel Der Gott des Lachens in den Blättern des Burgtheaters publiziert hat und der sich mit dem Wesen des Komischen befasst: Wie Kraus durch eine synoptische Darstellung von Auszügen unwiderleglich demonstriert, ist er in beträchtlichen Stücken aus Jean Pauls Vorschule der Ästhetik abgeschrieben. Meint Kraus die Zuschreibung der Gedichte Kulkas an die genannten Dichter nicht in einem wörtlichen Sinn – eher im Sinne eines Epigonentums –, so klassifiziert er das Copy-and-paste-Verfahren alter Schule unmissverständlich als Plagiat. Kraus’ ästhetische Kritik an Kulkas Gedichten ist eine Kritik des Expressionismus, dem er früher, als Förderer von Werfel und Ehrenstein, durchaus aufgeschlossen gegenübergestanden war. Nun tadelt er mit aggressiver Verve insbesondere die expressionistische Ambition, ins Sprachlose mittels Sprache vorzustoßen.4 Kraus bringt Beispiele, etwa das Gedicht Nachtrag, mit dem Kulka originellerweise den Band eröffnet: 1

2 3 4

Vgl. Wendelin Schmidt-Dengler: »Surrealismus und so«. Karl Kraus und Georg Kulka, Herbert Eisenreich und H. C. Artmann. Ein Beitrag zur Konfliktgeschichte der österreichischen Avantgarde, in: Konflikte – Skandale – Dichterfehden in der österreichischen Literatur. Hg. v. W. S.-D., Johann Sonnleitner u. Klaus Zeyringer. Berlin 1995 (= Philologische Studien und Quellen, Bd. 137), S. 9–23, bes. S. 11–17. Albert Ehrenstein: Werke. Bd. 5: Aufsätze und Essays. Hg. v. Hanni Mittelmann. Göttingen 2004, S. 152. Karl Kraus: Ein neuer Mann, in: Die Fackel (Juli 1920), Nr. 546–550, S. 45–67, hier S. 46 f. Vgl. Karl-Markus Gauß’ kritische Auseinandersetzung mit Kraus’ nicht zuletzt antikommunistisch motivierter Haltung und Methode: Karl-Markus Gauß: Karl Kraus und seine »kos-

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Und. Erwartung. Kraß. Selber. Übermut. Schoß. 16. Gemischt. Auftreibung. Alles. Brodeln. All. Mannigfaltig. Aufspeichern. Ausnahme. Fraglos. Zusammenschnurren. Stil. Völlig. Platzen. Behauptung. Rhythmisch. Gischten. Ende. Giltig. Wiederkehr. Entgegentreten. Grauen. Notdurft. Beisammen. Abtropfen. Mann. Inständig. Ersiegen. Männin. Wirklicher. Aufgebürdet. Zweieinheit. Künftig. Wimmern. Bewährung. Herzwärts. Haftbar. Du. Du. Nahgefühl. Braun. Richtung. Blau. Schmerzenreich. Aufdunsten. Und.5

Kraus zitiert ein zweites Gedicht, Die Welt verzichtet, in dem er Kulkas poetologisches Programm zu erkennen behauptet: So vergib dem All, wenn es ans Nichts Sich wendend, Worte schleift um unbesiegte (Schädel) Mauern durch den Staub der Verse, Ausstrich, der es beklemmt, verschollnen Reim Und Rätselhaftes würgte und erschrak (Nicht kicherte): Konstruktion! – und War’s gestillt (nicht mehr), hart blieb, Statt mitzuleiden, daß die Welt auf Rotation verzichtet!6

Kraus kommentiert dies gemäß seiner einem konservativen Ordnungsbegriff verpflichteten,7 vormodernen Auffassung von einer realitätsvermittelnden Sprache: Aber es muß schon so sein, daß nichts was in der Welt erlebbar ist, nicht auch in der Sprache erlebbar wäre, doch was außerhalb ihrer Grenzenlosigkeit gesagt wird, der Willkür verfallen und dem Glauben entrückt bleibt. Solange ich mit dem Stammler nicht fühle, glaube ich nicht, daß er ein Gefühl gestammelt hat [. . .].8

5 6 7 8

mischen Schlieferln«. Zur Rehabilitierung von Albert Ehrenstein, Hugo Sonnenschein und Georg Kulka, in: Zeitgeschichte 10 (1982), S. 43–90. Gauß spricht von Kraus’ »Versagen vor ästhetisch avancierten Strömungen« und von einem »Verständnis-Defizit« im Ansatz der den Expressionisten gewidmeten Satire (ebd., S. 54). Zit. in Kraus: Ein neuer Mann (Anm. 3), S. 47. Zit. ebd. Vgl. Gauß: Karl Kraus und seine »kosmischen Schlieferln« (Anm. 4), S. 53 f. Kraus: Ein neuer Mann (Anm. 3), S. 50.

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Diese bald sarkastisch, bald betont fair vorgebrachte Kritik bildet jedoch nur das Vorgeplänkel zur eigentlichen Attacke. Wendelin Schmidt-Dengler resümiert: »Die Verurteilung Kulkas als Plagiator versprach mehr Effekt als die satirische Erledigung der Lyrik.«9 Mit dem Beginn der Hyperinflation in Österreich waren Fragen von Eigentum, Vergesellschaftung und Hochstapelei auch im intellektuellen Diskurs virulent. Durch die Gegenüberstellung von Original und Kopie in zwei Spalten macht Kraus Kulkas Arbeitsweise unmittelbar anschaulich, der verräterische Ersatz einzelner altertümlicher Wörter (etwa »Thorheit« durch »Dummheit«) ist durch Sperrung markiert.10 Der Aufdecker begnügt sich freilich nicht mit der Bloßstellung des Delinquenten, er ruft nach dem Staatsanwalt: Da der Schutz des Urheberrechts nur dreißig Jahre nach dem Tod des Urhebers gelte, müsse der Strafbestand des Betrugs zur Anklage gebracht werden, damit das »Ethos, das den impotenten Literaten zur Plünderung eines Klassikers verleitet«, nicht ungestraft bleibe: Die Verfehlung des Individuums, die ja unterhalb und außerhalb aller Berufsunmoral liegt und einfach einen zivilen Betrugsfall vorstellt, der nur zufällig in der literarischen Sphäre spielt, geht den staatlichen Ankläger an. Für die Betrachtung des Geisteslebens scheidet sie als eine kriminelle Angelegenheit aus, und wer in das Bodenlose zu schauen gewohnt ist, wird das Milieu, in dem sie möglich war, interessanter finden, nebst der Möglichkeit einer Zeitschrift, die weder von hinreichender literarischer Bildung geführt wird, um Jean Paul zu erkennen, noch genügend Stilgefühl hat, um ihn zu vermuten, noch auch nur so viel, um zwischen den Leistungen eines Stammlers und seinem letzten ihr dargebotenen Manuskript einen Unterschied zu bemerken.11

Das in der Tat vernichtende Urteil des Satirikers über den Plagiator erfasst auch den Herausgeber der Zeitschrift, dessen Versagen ihn gleichsam zu einem Mittäter macht. Albert Ehrensteins Intervention übernahm Kulkas wenig überzeugende Rechtfertigung, das Ganze sei ein Streich – eine »literarische Mystifikation« zum Ruhme des Jean Paul – gewesen, den er seinen Freunden schon vor dem Druck verraten habe.12 Seinen Versuch, Kraus umgekehrt eines Plagiats am Johannesevangelium zu bezichtigen, kleidet Ehrenstein in eine Suada des Schimpfens gegen den »heiligen Crausiscus von Narcissi«, der als »apostolischer Denunzius« fungiert habe; in weiteren Epitheta erscheint der Kontrahent als »Kulkaschächter«, »semitische[r] Plagiarier«, »Weltgerichterstatter«, »Gedankensplitterrichter« und »bestialische[r] Klosettspiegel 9 10

11 12

Schmidt-Dengler: »Surrealismus und so« (Anm. 1), S. 17. Vgl. Kraus: Ein neuer Mann (Anm. 3), S. 55. Vgl. zu Kraus’ Methode der zitierenden Bloßstellung durch Sperrung Juliane Vogel: Materialbeherrschung und Sperrgewalt. Der Herausgeber Karl Kraus, in: Die Souveränität der Literatur. Zum Totalitären der Klassischen Moderne 1900–1933. Hg. v. Uwe Hebekus u. Ingo Stöckmann. München 2008, S. 459–471. Kraus: Ein neuer Mann (Anm. 3), S. 66. Ehrenstein: Werke. Bd. 5 (Anm. 2), S. 143. Gauß hält diese m. E. hanebüchene Erklärung für nicht ganz abwegig. Vgl. Gauß: Karl Kraus und seine »kosmischen Schlieferln« (Anm. 4), S. 55.

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der Zeit«.13 Kraus antwortet u. a. mit dem Essay Vom Plagiat (1921). Darin heißt es über Ehrenstein: Der anschlägige Kopf, der mich »St. Crausiscus« nannte und der über Scherz, Satire, Ironie ohne tiefere Bedeutung verfügt und demgemäß unerschöpflich ist an Buchstabenwitzen ohne gedankliche Grundlage, also ein rechter Einfallspinsel, hat nachgewiesen, daß die Bestandteile meines Gedichtes »Apokalypse« sich in der Offenbarung Johannis vorfinden.14

Nun aber kommt endlich Robert Musil ins Spiel: Mit Kulka geriet wie gesagt auch einer seiner eigenen Publikationsorte ins Visier – die Blätter des Burgtheaters (im Verlag Strache/Waldheim-Eberle), redigiert von Erhard Buschbeck.15 Ihnen und damit ihm unterstellt Kraus sowohl mangelnde Bildung als auch mangelndes Stilgefühl. Robert Musil, mit dem Burgtheater-Dramaturgen Buschbeck in Briefverkehr, beeilt sich am 7. August 1920 zu trösten und zu kalmieren: Das »Mißgeschick« mit Kulka finde er [. . .] nicht gar so schrecklich, denn es kann leicht passieren, daß man einen Beitrag eines ständigen Mitarbeiters so gut wie ungelesen nimmt. Ich höre, daß K. in einer Zeitungsnotiz das ganze als Witz hinstellt oder als Absicht; das leidet aber an Unwahrscheinlichkeit, denn so macht man es nicht. [. . .] Ich an Ihrer Stelle würde ihm in den nächsten »Blättern« tüchtig meine Meinung sagen, zugeben daß (u warum) ich den Beitrag nicht aufmerksam las und Kraus angreifen, weil ihm das nicht passieren könnte bei seiner egomanen Einstellung. Man kann ihm ja zugeben, daß sie diesmal ihr Gutes hatte. Schlimmstenfalls wäre Ihnen passiert, daß Sie Jean Paul nicht erkannt haben, er aber merkt die Göthekopie nicht einmal in den Gedichten, die er selbst macht. (Br I, S. 203)

Die Beziehung zwischen Kraus und Musil war insofern eine einseitige, als Musils Name in der Fackel kein einziges Mal genannt wird, Kraus umgekehrt in Musils Werk jedoch etliche Male vorkommt, in den Tagebüchern finden sich zwanzig Erwähnungen.16 Charakteristisch ist Musils Bonmot: »Es gibt zwei Dinge, gegen die man nicht kämpfen kann, weil sie zu lang, zu dick sind, keinen Kopf u Fuß haben: Karl Kraus und die Psychoanalyse.« (Tb I, S. 845) Bemerkenswert ist einerseits, dass dem sonst Streitbaren vor dem Phänomen Kraus, in seiner Allgegenwart und Ungreifbarkeit, Kapitulation angemessen scheint, und andererseits, dass Kraus hier just mit der von ihm geschmähten Psychoanalyse in ein und denselben Topf unabwendbarer Übel geworfen 13 14 15 16

Ebd., S. 142, 144 u. 151 ff.; Hervorhebung D. S. Karl Kraus: Vom Plagiat, in: Die Fackel (Juni 1921), Nr. 572–576, S. 61–63, hier S. 61. Erhard Buschbeck (1889–1960), damals einunddreißig, war ein enger Freund Georg Trakls, der Trauzeuge Hermann Bahrs und in seinen letzten Jahren der Lebensgefährte Lotte Tobisch-Labotýns. Vgl. Stéphane Gödicke: Ironie und Satire bei Musil und Kraus, in: Robert Musil – Ironie, Satire, falsche Gefühle. Hg. v. Kevin Mulligan u. Armin Westerhoff. Paderborn 2009, S. 225–238, hier S. 234. Eine falsche Fährte der Bezugnahme auf Musil deckt auf: Harald Gschwandtner: In der Sperrgewalt der Fackel? Karl Kraus, Robert Musil und die Tiroler Soldaten-Zeitung, in: Musil-Forum 34 (2015/2016), S. 157–176.

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wird.17 Überdies erinnert die Beschreibung (»zu lang, zu dick«, »keinen Kopf u Fuß«) an eine Schlange. Musils Skepsis gegen den Kultautor gilt vor allem dessen Wirkung und damit dessen Publikum: »Lange vor den Diktatoren hat unsere Zeit die geistige Diktatorenverehrung hervorgebracht. Siehe George. Dann auch Kraus und Freud, Adler u. Jung.« Im Typus des ›Krausianers‹ sieht Musil das zeitgemäße »Bedürfnis nach Herrschaft u Führerschaft«, nach einem Messias verkörpert (Tb I, S. 896). An anderer Stelle spitzt er in der Notiz »K. K. u H.« sein Verdikt noch weiter zu und vergleicht die Anhänglichkeit der Anhänger mit jener der Gefolgschaft Hitlers: »Wenn K K. den Vorlesungssaal betritt, steht das Publikum solange, bis er sich setzt. Und das, obzwar er völlig versagt hat. Sie lieben ihn ›erst recht‹. Ähnlich wirken die Mißerfolge H[itler]s Liebe vergrößernd.« (GW 7, S. 846) Es gibt neben Musils grundsätzlicher und daher auch das intellektuelle Feld umfassender Ablehnung massenhysterischen Personenkults aber noch einen zumindest indirekten Schlagabtausch beider Autoren, der allerdings erst zwei Jahre nach der Affäre Kulka stattfindet: Im April 1922 äußert Musil sich in der Prager Presse abfällig über Nestroy – man habe, wenn man viele seiner Stücke hintereinander liest, »das entmutigende Gefühl, wie bei der Berührung mit einem untiefen Menschen« (GW 9, S. 1569).18 Unter dem Titel Nestroy und die Literaten springt Kraus im Juli-Heft der Fackel für seinen literarischen Hausgott in die Bresche, und zerpflückt Musils Artikel, ohne den Autor beim Namen zu nennen: »Das habe ich mir immer ganz anders vorgestellt, da ich geglaubt habe, daß selbst wenn die Literaten nur ein einziges Stück von Nestroy lesen, sie das entmutigende Gefühl haben werden, nichts mehr schreiben zu sollen.«19 Es fällt auf, dass Kraus ausgerechnet Musil als (»untiefen«) Literaten verunglimpft (er spricht vom »Gefühl, zum erstenmal mit sich selbst in Berührung gekommen zu sein, also allerdings mit einem untiefen Menschen«)20 und ihn zugleich durch Nichtnennung schont – oder auch straft. Musils Revanche folgt zwei Jahre später, aus Anlass von Kraus’ fünfzigstem Geburtstag: Im Mai 1924 bespricht er in der Deutschen Allgemeinen Zeitung einen Theaterabend mit Kraus’ Dramoletten Traumstück und Traumtheater, die Berthold Viertel in Wien inszeniert hat. Gleich im ersten Satz der Kritik ist die Rede vom »bösartigen Karl Kraus«, den »man totschweigen möchte, während er sich längst schon, köstlich balsamiert, im Königsgrab einer Pyramide von Anhängerschädeln beigesetzt hat« (GW 9, S. 1660).21 Mit 17 18 19 20 21

Vgl. Heinz Müller-Dietz: Diktat, Diktatur und Geist. Anmerkungen zu Anmerkungen Robert Musils über Karl Kraus, in: Musil-Forum 10 (1984), S. 171–180, hier S. 178. Vgl. Gödicke: Ironie und Satire bei Musil und Kraus (Anm. 16), S. 235 f. Karl Kraus: Nestroy und die Literaten, in: Die Fackel (Juli 1922), Nr. 595–600, S. 53–55, hier S. 54. Ebd. Gödicke nennt irrtümlich die Prager Presse als Publikationsort, vgl. Gödicke: Ironie und Satire bei Musil und Kraus (Anm. 16), S. 236 f.

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dem Bild des gottgleich verehrten Pharaos verknüpft Musil die Vorstellung einer tödlichen Erstarrung, er spricht mit dem Wunsch des Totschweigens aber auch das bisher unausgesprochene Leitmotiv ihrer Beziehung an. Als »Achillesferse« seines Gegenstands macht er dessen dichterische Ambition aus, indem er metaphorisch präzisiert, »daß die Leier, die er im Busen trägt, mit Achillessehnen bespannt ist«. Musils Verdikt geht einher mit der Anerkennung von Kraus’ Leistung als Satiriker, es wiegt umso schwerer durch die ostentative Bemühung um hierarchisierende Gerechtigkeit: Seine unbiegsame Moral, als Rückhalt der Angriffe auf dubiose Zeiterscheinungen von höchstem Wert, ist ohne deren Gegendruck ein wenig spießbürgerlich. Sein Wille, Mut und Fanatismus, seine ungeheuer scharfe Witterung für das Unreinliche, die unnachahmliche Art seines Polizeigriffs, seine Fähigkeit, die Zeit als satirische Halbfertigware der Zeitung zu entnehmen und zu vollenden, alle diese Eigenschaften, die in seiner Publizistik zum Gebilde werden, wirken in seiner Dichtung um viele Grade schwächer. (GW 9, S. 1660)

Karl Kraus blieb in der halbklandestinen Auseinandersetzung mit dem Kollegen beim Prinzip des Totschweigens und behielt darin »das letzte Wort, oder besser gesagt, das letzte Schweigen«:22 In durchaus auffälliger Weise, bedenkt man die Aufmerksamkeit, mit der der Jubilar das große Zeitungsecho auf seine Geburtstagsfeierlichkeiten wahrnimmt und kommentiert, reagiert er auf Musils Kritik mit keinem Wort. Und was wurde aus Georg Kulka? Er zog sich aus der Literatur zurück, vollendete 1922 seine Dissertation über niemand anderen als Jean Paul, war dann als Buchhersteller tätig und übernahm nach dem Tod seines Vaters dessen Getreidehandelsunternehmen.23 1929, also neun Jahre nach dem Plagiatsskandal (und nicht als dessen direkte Folge, wie oft dargestellt), nahm Kulka sich das Leben.

2. Das Verfahren Die Polemik hat in der Literatur zwei Aspekte: einen im engeren Sinn literarischen und einen literaturbetrieblichen, also soziologischen. Die beiden Sphären überschneiden sich naturgemäß. Autoren und Autorinnen polemisieren durch den Mund, aus der Sicht, im Kopf ihrer Figuren, ihrer Ich-Erzähler, aber sie tun es auch unter eigenem Namen, als Personae, sie mischen sich ein, beziehen politisch Stellung, attackieren Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens oder auch, wie in unserem Fall, einander. 22 23

Ebd., S. 237. Vgl. dort auch zu Kraus’ Reaktion auf das Presseecho. Vgl. Gerhard Sauder: Kulka, Georg, in: Neue Deutsche Biographie 13 (1982), S. 276, Online-Version, https://www.deutsche-biographie.de/pnd116606916.html#ndbcontent (aufgerufen am 22. 9. 2020). Kulkas Dissertation trägt den Titel Der Unsterblichkeitsgedanke bei Jean Paul bis zum Jahre 1797 mit besonderer Berücksichtigung des Kampaner Thals.

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Robert Musil tritt in der Causa Kulka nicht als Kombattant, sondern als Ratgeber für einen Jüngeren (Buschbeck war Jahrgang 1889) auf. Er gibt den Löschmeister, der den mit in die Schusslinie geratenen Redakteur beschwichtigt, tröstet, berät, der zugleich aber auch ein bisschen zündelt und Buschbeck Argumente für einen Angriff auf Kraus liefert, getreu der Maxime: Angriff ist die beste Verteidigung. Gunther Martens hält fest, dass Polemik »metaphorisch-verbal« auf die Zerstörung »einzelner Personen oder Zustände« ziele, als Sprechakt sei sie auf den schlagenden Beweis aus, Martens spricht von einer »Rhetorik der Evidenz«.24 Für die Literaturwissenschaft sei das Genre »das Unproduktive schlechthin«, weil der Selbstzweck der polemischen Glanzleistung über einen möglichen Erkenntnisgewinn triumphiere. In rhetorischer Hinsicht handelt es sich um eine Gattung mit einer »besondere[n] Dichte an performativen Sprechakten«. Einerseits gehe es um eine verbale Aggression gegen einen individuellen Gegner, andererseits sei Polemik eine »Form der Depersonalisierung«, weil sie das Vorhandensein einer objektiven Instanz behaupte, von der aus Wertungen vorgenommen und Urteile gesprochen werden. Ohne Zweifel ist Polemik und Satire nicht möglich ohne (implizite) Berufung auf ein Ideal, dem die Wirklichkeit Hohn spricht, auf eine Moral, zu der der Polemiker sich bekennt. Der Abscheu gegen die Wirklichkeit der Presse und des Feuilletonismus verbindet Kraus und Musil, dieser nennt ausdrücklich selbst die Praxis des – ihm verbundenen, mit Kraus im Streit liegenden – Alfred Kerr in dessen Zeitschrift Pan »ekelhaft« (Tb I, S. 230). Während Musil jedoch eine eher abstrakt utopische »neue Moral« anstrebt, geht Kraus von einem simpel pragmatischen Moralbegriff aus, einem allgemein verbreiteten Gefühl für Anständigkeit oder »Zimmerreinheit«.25 In einer Theaterkritik konstatiert Musil 1924, die Satire der Gegenwart verfüge nicht mehr über einen »feste[n] Punkt«, von dem aus sie sich »gegen den Gegenstand richten kann«, sie sei vielmehr zum »atmosphärischen Medium« geworden, »in dem sich alle Vorgänge lächerlich verknüpfen« (GW 9, S. 1646).26 Eine Übereinstimmung zwischen Musil und Kraus findet sich gleichwohl in der Bedeutung des Zitats für die satirisch-entlarvende Absicht. »Wo wird Karl Kraus bleiben?«, notiert Musil 1919 anlässlich einer vermutlich von Admiral Horthy beim Einmarsch seiner Truppen in Budapest gehaltenen Rede in 24

25 26

Gunther Martens: Rhetorik der Evidenz, Schreibweisen der Polemik: Jünger – Kraus – Musil, in: Terror und Erlösung. Robert Musil und der Gewaltdiskurs der Zwischenkriegszeit. Hg. v. Hans Feger, Hans-Georg Pott u. Norbert Christian Wolf. München 2009 (= Musil-Studien, Bd. 37), S. 43–64, hier S. 43 f.; dort auch das Folgende. Karl Kraus: Der kleine Pan röchelt noch, in: Die Fackel (29. 4. 1911), Nr. 321–322, S. 57–64, hier S. 64. Vgl. auch Helmut Arntzen: Robert Musil und Karl Kraus, in: Musil-Forum 4 (1978), S. 204–220, hier S. 209 f. Vgl. Christian van der Steeg: 50 Jahre Karl Kraus. Robert Musils Differenzierung Dichtung/ Satire, in: Musil-Forum 33 (2013/2014), S. 162–176, hier S. 171. Die Besprechung galt der Aufführung eines Stücks von Romain Rolland am Wiener Volkstheater.

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sein Tagebuch (Tb I, S. 540); zu diesem Zeitpunkt liegt die ›Aktausgabe‹ von Kraus’ Drama Die letzten Tage der Menschheit bereits vor, in deren Vorwort die Methode mit denselben Worten umrissen wird wie später in der Buchausgabe: »Die unwahrscheinlichsten Gespräche, die hier geführt werden, sind wörtlich gesprochen worden; die grellsten Erfindungen sind Zitate.«27 In Musils Vorüberlegungen zum Mann ohne Eigenschaften spielt ein Panoptikum von »[m]indestens 100 Figuren« eine Rolle, »die Haupttypen des heutigen Menschen«, die man dann »durcheinanderbewegen« müsse, ohne dass sie für den Leser »verschwimmen«; als sein Arbeitsprogramm formuliert er: »Einen Menschen ganz aus Zitaten zusammensetzen!« (Tb I, S. 356 u. 443)28 »Gestalten verenden als Leitartikel«, heißt es im Vorwort der Buchausgabe der Letzten Tage der Menschheit und: »Phrasen stehen auf zwei Beinen.«29 Kraus wie Musil ist es darum zu tun, das Zitat nicht einfach als Beleg ihrer Epoche einzusetzen, sondern es gewissermaßen gegen diese zu kehren. Ihre Figuren verkörpern entfremdetes Sprechen als Versündigung gegen die Sprache, sie sind die Phrasen, die sie von sich geben.30 So verstehen beide Satiriker Polemik nicht (oder nicht in erster Linie) als Schimpftirade, sondern als eine Form der Sprachkritik. Mit dem sprachlichen Versagen nehmen sie ein moralisches aufs Korn und damit den realen Übelstand. »Die Phrase und die Sache sind eins«, befindet Kraus in einem Aphorismus.31 Zur moralischen Funktionsweise der Kraus’schen Satire hat Musil notiert: »Kraus ist die Erlöserfigur; dadurch daß Kraus da ist u. schimpft, ist alles wieder gut. Das objektivierte schlechte Gewissen. Natürlich ist diese Wirkung nicht günstig. / Kraus’ Kriegsgegnerschaft ist moralisch ebenso steril wie die Kriegsbegeisterung.« (Tb I, S. 634) Musil nimmt Kraus’ identifikatorisches Angebot als ambivalent wahr – gemeint sind immer die anderen – und vermerkt als ein mögliches literarisch zu verwertendes »Motiv«: »Ein Schieber als Anhänger von K. Kraus.« (Tb I, S. 633) Das Wesen der Polemik als einer absichtsvollen Grenzübertretung definiert Karl Kraus 1912 so: »Polemik ist eine unbefugte Handlung, die ausnahmsweise durch Kunst zum Gebot wird.«32 In einer anderen Definition bemüht Kraus nicht die Kunst als Rechtfertigungsgrund, sondern die Natur, nämlich den Rausch der Empörung: Wenn Polemik nur ein Meinungsstreit ist, so haben beide Unrecht. Anders, wenn der eine die Macht hat, Recht zu haben. Dann hat der andere nicht das Recht, Recht 27 28 29 30 31 32

Karl Kraus: Die letzten Tage der Menschheit. Tragödie in fünf Akten mit Vorspiel und Epilog. Wien, Leipzig 21922, S. VII . Vgl. Arntzen: Robert Musil und Karl Kraus (Anm. 25), S. 215 f. Vgl. ebd., S. 216. Kraus: Die letzten Tage der Menschheit (Anm. 27), S. VII . Vgl. Arntzen: Robert Musil und Karl Kraus (Anm. 25), S. 216 f. Karl Kraus: Nachts, in: Die Fackel (7. 11. 1912), Nr. 360–362, S. 1–25, hier S. 25. Karl Kraus: o. T., in: Die Fackel (21. 6. 1912), Nr. 351–352, S. 53–54, hier S. 53.

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zu haben. Keine Kunst bedarf so sehr der Natur, die sie ermächtigt, wie die Polemik. Sonst ist sie ein Streit, der, auf die Gasse getragen, gegen die guten Sitten verstößt. Sie ist wahrlich ein Exzeß, den der Rausch nicht entschuldigt, sondern rechtfertigt.33

Dass die Polemik sich grundsätzlich vor allem aus einem Machtgefälle speist – die Macht des Staates, des Kapitals, der Presse –, hat Kraus vorgeführt, aber auch, dass er selbst als Herausgeber der Fackel im Laufe der Jahre Macht als symbolisches Kapital akkumulieren konnte. Nicht nur mit Kraus hat sich im agonalen Klima der Spätzeit der Monarchie eine Sonderform der Polemik zur Blüte entwickelt, die in der Ersten wie in der Weimarer Republik nicht zuletzt von Kraus’ Gegnern (Hugo Sonnenschein, Albert Ehrenstein, Anton Kuh, Franz Blei, Alfred Kerr) aufgegriffen wurde: das Pamphlet. Es konstituiert sich als gezielter Verstoß gegen die Gebote sachlicher Auseinandersetzung und konventioneller Höflichkeit. Die Form des persönlichen Angriffs und der Schmähung ist Musils Sache nicht. Als Meister des Pamphlets etabliert sich in der Zwischenkriegszeit ein Autor, der mit Musil das Verdikt (oder Privileg) des Nichterwähntwerdens in der Fackel teilt: der Wiener Anwalt Walther Rode. Rode (1876–1934), dessen Vater in Czernowitz bereits den Familiennamen Rosenzweig abgelegt hatte, galt schon als einer der streitbarsten Strafverteidiger und Publizisten der Monarchie.34 Angeklagt wegen Beleidigung des Höchstgerichts, lieferte er 1925 mit seiner unter dem Titel Gericht über den obersten Gerichtshof gedruckten Verteidigungsrede vor einem Geschworenengericht sein pamphletistisches Meisterstück. Rodes Auffassung des Pamphlets, die er bei dieser Gelegenheit darlegt, entspricht Kraus’ Verständnis von einer gebotenen Notwehr gegen die Macht, von dem Zweck, der die Mittel der Regelübertretung heiligt: Das Pamphlet ist ein vehementer Frontalangriff, um eine in Ruhe und Ansehen thronende Macht zu erschüttern. Sehr wahr, der Pamphletist ist ein Friedensbrecher. [. . .] Gegenstand des Pamphlets ist der Kampf gegen das Erstarrte ohne Sinn, gegen die Herrschaft der toten Vergangenheit über die lebende Gegenwart; der Kampf gegen die unverfolgbaren Verbrechen der Großen, gegen ihre Packeleien, gegen ihre Urteilssprüche. [. . .] Zweck des Pamphlets ist die Vernichtung. Es gilt daher: Greifst Du in ein Wespennest, so greife fest.35

An die Kraus’sche Rhetorik erinnert einerseits die martialische Bildsprache (»Frontalangriff«, »Vernichtung«); das Pamphlet erscheint auch als »treffsicherer Schuß [. . .] aus einem Riesenmörser« – die Verteidigung betrachtete der 33 34 35

Karl Kraus: Pro domo et mundo, in: Die Fackel (8. 7. 1911), Nr. 326–328, S. 38–47, hier S. 42. Vgl. Gerd Baumgartner: Walther Rode – Leben und Werk. Mit einer Einleitung v. Andreas Mirecki u. einer Bibliographie der Schriften v. Walther Rode. Wien 2007. Walther Rode: Gericht über den obersten Gerichtshof. Rede, gehalten am 23. Juni 1925 vor dem Schwurgericht Wien, in: ders.: Werkausgabe. Hg. v. Gerd Baumgartner. Bd. 2: Lesebuch für Angeklagte. Wien 2007, S. 181–253, hier S. 240 ff.

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Anwalt, wie »schon der Name sagt«, als ein »militärisches Geschäft«.36 Andererseits gehört es zur Methode beider Polemiker, die justiziable Ehrenbeleidigung nicht nur zu riskieren, sondern herauszufordern, um die Gelegenheit zur öffentlichen Abrechnung auszuweiten. Dabei fassen sie das Pamphlet nicht als einen analytisch fundierten Beitrag zu einer Kontroverse auf, sondern als quasi brachiales Mittel der Überzeugungstäterschaft. Es geht ausdrücklich nicht darum, dem Kontrahenten en détail gerecht zu werden: »Ich tue ihm hier unrecht; aber es geschieht ihm recht, daß ihm unrecht geschieht«, verkündet Walther Rode.37 Und Karl Kraus konstatiert: »Ungerechtigkeit muß sein; sonst kommt man zu keinem Ende.«38 Die Form des Pamphlets ergibt sich naturgemäß aus dem persönlichen Stil des Pamphletisten, die Invektive ist dabei jedoch keine Betriebspanne, sondern integraler Bestandteil. »Wer die Wahrheit sagt, braucht nicht höflich zu sein. Der anzuschlagende Ton richtet sich nach der Größe des bekämpften Übels«, heißt es in Rodes Streitschrift Österreichs Beamtenpyramide (1927), die sich auf sein Pamphlet Die Ausrottung der Beamten gründet.39 Das darin bekämpfte Übel waren, wie der Titel kundtut, die Beamten an sich, ihre die Finanzen der jungen Republik überfordernde Masse, ihre Unfähigkeit, Indolenz und Arroganz, Eigenschaften, mit denen der Strafverteidiger alltäglich konfrontiert wurde. Mit seiner Praxis der empörten Attacke stand Rode als Anwalt und als Autor vorsätzlich auf Kriegsfuß mit der von den übrigen Akteuren eingemahnten Würde des Gerichts wie mit dem Ansehen seines Standes. Dem Pamphletisten war es um eine Ehrenrettung des Schimpfens zu tun: »Meine angeschossenen Herren Gegner haben geschrieen [sic]: Der schimpft wie ein Cabskutscher[40] . Versuchen Sie es einmal, Sie Herren mit den gequälten Communiqués, fünf Minuten lang so zu schimpfen, daß jedermann aufhorcht und jedes Wort sitzt.«41 Die vor allem bei Richtern beliebte Ermahnung, ›zur Sache zu reden‹, empfindet Walther Rode auch im politischen Essay als unerträgliche Beschränkung seiner rednerischen Gewalt und als leicht durchschaubaren Versuch, unangenehme Wahrheiten zu unterdrücken: »Ich lasse mir die Tagesordnung nicht diktieren. Ich rede von dem, wovon ich reden will.«42 Überhaupt sagt Rode dem Fetisch der Sachlichkeit im Meinungsstreit den Kampf an: »Man glaubt, sachlich zu sein, ist aber doch nur ein Konkretin. Es ist bloß 36 37 38 39 40 41 42

Walther Rode: Österreichs Beamtenpyramide, in: ders.: Werkausgabe. Hg. v. Gerd Baumgartner. Bd. 1: Österreichs fröhliche Agonie. Wien 2007, S. 395–445, hier S. 440; Walther Rode: Knöpfe und Vögel, in: ders.: Werkausgabe. Bd. 2 (Anm. 35), S. 257–496, hier S. 427. Rode: Gericht über den obersten Gerichtshof (Anm. 35), S. 241. Karl Kraus: Pro domo et mundo, in: Die Fackel (31. 10. 1910), Nr. 309–310, S. 28–44, hier S. 40. Rode: Österreichs Beamtenpyramide (Anm. 36), S. 440. Cabskutscher = Lenker der Cabswagen, von engl. cab, Lastenfuhrwerk; waren für ihre derbe Ausdrucksweise berüchtigt. Rode: Österreichs Beamtenpyramide (Anm. 36), S. 441. Ebd., S. 442.

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einfältig [. . .], sich auf den Boden jeder Dummheit und jeder Niedertracht als einer gegebenen Tatsache zu stellen.«43 Während Robert Musil »Missstände anprangern, schlechte Denker entlarven, kurz, Satire üben« will,44 ohne einzelne beim Namen zu nennen, geht auch Karl Kraus aufs Ganze, indem er das Besondere aufs Korn nimmt. Während Musil sich der Gefahr der ironischen Haltung bewusst ist – »Ironie muß etwas Leidendes enthalten. (Sonst ist sie Besserwisserei)« (Tb I, S. 973) –, maßen Rode und Kraus sich die Richterrolle wie selbstverständlich an, wobei Kraus bestreitet, je »eine Person um ihretwillen angegriffen« zu haben, »selbst dann nicht, wenn sie mit Namen genannt war. [. . .] Nenne ich einen, so geschieht es nur, weil der Name die plastische Wirkung der Satire erhöht. Meine Opfer sollten nach zehn Jahren künstlerischer Arbeit so weit geschult sein, daß sie das einsehen und das Lamentieren endlich aufgeben.«45 Die vollendete Überheblichkeit, die aus diesem Ratschlag spricht, wie auch die Verwendung des Begriffs »Opfer« deuten freilich darauf hin, dass die namentlich zugespitzte Attacke für den Angreifer mit einem uneingestandenen Lustgewinn verbunden und nicht allein der »plastische[n] Wirkung der Satire« geschuldet ist. Während Kraus seine zerstörerische Erzgewalt im Eifer des Gefechts auch an Objekte von minderer Bedeutung verschwendet, bleibt Gewalt in Musils Polemik verdrängt oder nur unterschwellig spürbar und somit »symbolischer Natur«.46 Es fehlt ihm offenkundig so etwas wie kriminelle Energie, die Lust an der totalen Vernichtung des Gegners. So taucht die Plagiatsaffäre um Georg Kulka im Zusammenhang mit dem »Großschriftsteller« Thomas Mann in Musils Tagebuch auf, in Form einer literarisch-satirischen Idee – ein Hochstapler gibt sich als Manns Sohn aus und plagiiert den Schriftsteller, um dessen »Überschätzung« »ad absurdum zu führen« (Tb I, S. 808) –, die Musil jedoch nicht weiter verfolgt hat. Ein offenes Bekenntnis zum maßgeschneiderten Angriff legt der als »Sprechsteller« berühmt gewordene Anton Kuh ab, indem er die gesellschaftliche Übereinkunft auf den Kopf stellt: »Es gibt ein einziges argumentum ad rem: das argumentum ad hominem.«47 Oder als paradoxe Mahnung: »Nur nicht gleich sachlich werden! Es geht ja auch persönlich.«48 Wie Kraus und Rode bricht auch Kuh eine Lanze für den Exzess in Wort und Schrift, sogar für das Exzedieren, das Übertreten der Grenze zwischen Mundwerk und Handgreiflichkeit, sofern es der Handlungslogik entspricht: »Eine Ohrfeige darf nichts als das klatschende Endglied einer Kette unausgesprochener, schlüssiger Argumente sein. Wenn sie nicht wie ein Bonmot zündet, gehört sie vors 43 44 45 46 47 48

Ebd., S. 440. Gödicke: Ironie und Satire bei Musil und Kraus (Anm. 16), S. 228. Karl Kraus: Tagebuch, in: Die Fackel (13. 5. 1909), Nr. 279–280, S. 1–16, hier S. 5 f. Gödicke: Ironie und Satire bei Musil und Kraus (Anm. 16), S. 229. Anton Kuh: Werke. Hg. v. Walter Schübler. Bd. 5: 1930–1933. Göttingen 2016, S. 259. Ebd., S. 269.

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Bezirksgericht.«49 In diesem Punkt pflichtet ihm auch sein notorischer Antipode Kraus bei, wiewohl dieser selbst Opfer zumindest einer Ohrfeigenaffäre (Felix Salten ohrfeigte ihn im Café Griensteidl) war: »Eine Ohrfeige kann ein literarisches Argument sein. Sie kann der geistige Ausdruck der Unmöglichkeit sein, eine geistige Distanz abzustecken, und ich habe es oft so empfunden und gesagt, daß die Polemik ihre Grenze in dem Wunsch hat, statt der Feder das Tintenfaß zu gebrauchen.«50

3. Die Rolle Das Publikum des Satirikers prägt dessen öffentliche Rolle wesentlich mit. Im Falle von Karl Kraus resümiert Elias Canetti, zunächst ein leidenschaftlicher Parteigänger, dann ein ebenso leidenschaftlicher Abtrünniger, Kraus sei es gelungen, »eine Hetzmasse aus Intellektuellen zu bilden, die sich bei jeder Lesung zusammenfand und so lange akut bestand, bis das Opfer zur Strecke gebracht war«.51 Wie Musil vom Diktator spricht Canetti von einer »Diktatur«, deren »freiwilliger [. . .] Anhänger« er selbst gewesen sei.52 Und Musil ist auch nicht der einzige, der hierzu Hitler assoziiert – in seiner von fanatischen Krausianern gestörten Stegreifrede Der Affe Zarathustras (1925) sagt Anton Kuh: »Ich sehe leider: ob Hitler, ob Karl Kraus – es ist dasselbe. [. . .] Wenn Sie nunmehr die Anhängerschaft zu diesem Mann so praktizieren, als ob er ein politischer Heiliger wäre, an den prinzipiell kein Wort heranreicht, so schänden Sie seine Anhängerschaft«;53 Kuh diagnostiziert im Falle Kraus »eine Art von epidemischer hysterischer Überschätzung«54 und stellt psychologische Überlegungen zu pubertärem Selbstbehauptungsdrang und zur Wahl der Opfer an, zur Balance zwischen Verehrung und Verachtung. So habe Kraus Heine aus einem Gefühl verwandter »jüdischer Geistesgenialität« niedergemacht: »Einer von uns beiden muß auf dem Platze bleiben. Entweder bin ich gescheit oder du!«55 Einen Narzissmus des Urteilens und Verurteilens unterstellt dem Herausgeber der Fackel auch Franz Blei in seinem Großen Bestiarium der Literatur (1922), genauer gesagt Carl Schmitt, von dem der überaus gehässige Eintrag über »Die Fackelkraus« stammt: »Um zu verhindern, daß andere gehört werden, gebraucht sie zwei Mittel: das eine ist, daß die Fackelkraus diese andern lobt, das andere, daß sie sie 49 50 51 52 53 54 55

Ebd., S. 260. Vgl. Walter Schübler: Anton Kuh. Biografie. Göttingen 2018. Karl Kraus: Der kleine Pan stinkt schon, in: Die Fackel (2. 6. 1911), Nr. 324–325, S. 50–60, hier S. 53. Elias Canetti: Das Gewissen der Worte. Essays. Frankfurt a. M. 21989, S. 45. Ebd., S. 52. Anton Kuh: Werke. Hg. v. Walter Schübler. Bd. 3: 1923–1926. Göttingen 2016, S. 369–408, hier S. 373. Ebd., S. 391. Ebd., S. 404.

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verhöhnt. Beides tut sie mit überschreiender Fistelstimme, damit man sie hört.«56 Diesen narzisstischen Alleinvertretungsanspruch des Polemikers spricht Musil in einer Entwurf gebliebenen Rezension eines Vortrags von Alfred Kerr in Wien an. Der Redner habe vergessen, »daß er sich in der Stadt Karl Krausens befand, der das Messer wetzt, wenn ein andrer Ich sagt« (GW 8, S. 1406). In dieser Formulierung schwingt die Frage mit, wie Kraus’ Reaktion darauf zu deuten ist, dass Musil selbst in dieser Stadt als junger Autor vernehmlich ›Ich gesagt‹ hat. Warum gibt es keine Erwähnung Musils in der Fackel? Hat Kraus nicht nur kleine Gegner durch seine Angriffe aufgewertet, sondern auch große dadurch klein gehalten, »dass sie als Gegner für seine Polemik gar nicht erst in Frage kommen«? Ist Kraus’ »Totschweige-Strategie« Musil gegenüber als besonders perfide Form der Demütigung aufzufassen? Oder als »Zeichen der Ehrfurcht und der Vorsicht«?57 Ich tendiere eher zu Letzterem – die Nichterwähnung in der Fackel als Zeichen, wenn nicht der Ehrfurcht, so doch des Respekts vor einem Ebenbürtigen wurde auch Walther Rode zuteil, der als Anwalt etwa Kraus’ Feind Imre Békessy vertrat. Kraus mokierte sich, ohne Namensnennung, über »das Reinheitsideal dieses Kämpen, gegen dessen polemische Kraft ich ein Schlucker bin« und »der mit der eisernen Hand eines Götz von Berlichingen schreibt und wie der Abraham a Sancta Clara spricht, was bei Juden selten ist«58 – eine ironische Charakterisierung, die ihrem Gegenstand die Anerkennung nicht versagt. Walther Rode, der mit Tucholsky und Kuh bekannt war und von diesen geschätzt wurde, fasste seine Rolle als öffentlicher Ankläger durchaus im Sinn von Karl Kraus auf, als Agent einer absoluten Instanz: Der Pamphletist übt in der Gesellschaft das Amt eines Zensors aus; er übt dieses Amt durch Gottes Gnaden, vermöge ungeschriebener ewiger Verfassung. Das sage ich besonders jenen Idioten, die glauben, ich sei ein Stänkerer, und die nicht begreifen, daß ich, eine Partei für mich, eine Grundfunktion der Gesellschaft mit Einsetzung meines Leibes und meines Lebens bestreite. Den Pamphletisten kann man töten, aber weder einschüchtern, noch absetzen. Er ist ein Organ der Vernunft gegen die Verkehrtheit und Heillosigkeit der Welt. [. . .] Er bezeichnet die Gegenstände, deren Demolierung nicht länger aufgeschoben werden kann.59

Die Attitüde des Scharfrichters, Berserkers und Kämpen, des gottgesandten ritterlich Streitenden und Wütenden, der immer für die richtige Seite antritt, 56 57 58 59

[Franz Blei, recte Carl Schmitt, Pseudonym Dr. Negelinus:] Die Fackelkraus, in: Die Fackel (November 1922), Nr. 601–607, S. 86. Kraus hat Bleis Dank für den Beitrag an Dr. Negelinus im Vorwort übersehen. Gödicke: Ironie und Satire bei Musil und Kraus (Anm. 16), S. 238. Karl Kraus: Man kennt sich nicht aus, in: Die Fackel (Oktober 1926), Nr. 735–742, S. 6–7, hier S. 7. Rode: Österreichs Beamtenpyramide (Anm. 36), S. 441.

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der Typus Kraus/Rode, war Musil fremd. Ebenso die spielerische Spielart der Polemik, wie Anton Kuh sie verkörperte. Als Kraus am Höhepunkt seiner Macht und seines Einflusses seinen »Ritualmordversuch«60 an einem jungen Schriftsteller beging, hatte Musil seine eigene Form von Satire noch nicht gefunden. Das Phänomen Kraus war ihm aus inhaltlichen, literaturpolitischen und aufmerksamkeitsökonomischen Gründen suspekt. So will Musil für ein geplantes Buch über »erfolgreiche Schriftsteller«– neben Oswald Spengler, Stefan George und Heinrich Mann – auch Karl Kraus und dessen Erfolg beim Publikum berücksichtigen, in deutlich kritisch-satirischer Absicht.61 Außerdem kreidet er Kraus dessen seiner Meinung nach unfruchtbaren »Negativismus« an. Musils Verhältnis zu Kraus bessert sich allerdings in den 1930er Jahren. »Karl Kraus hätte so etwas nie getan«, (Tb I, S. 924) kommentiert Musil 1937 selbstkritisch sein Handeln im literarischen Feld. Trotz allem Widerstreben zeichnet sich Kraus’ Einfluss auf Musils eigene Hinwendung zur Satire, zur Arbeit mit Sprachfunden bereits in den oben zitierten Tagebucheintragungen nach dem Kriegsende ab und war offenbar enorm, jedenfalls größer, als ihm selbst bewusst war.62 Aus der Distanz literaturkritischer und literarhistorischer Betrachtung kann man nicht umhin, eine Konvergenz der Miteinander-nicht-Einverstandenen festzustellen, sodass, wie Arntzen meint, »die beiden wichtigsten Satiriker deutscher Sprache im 20. Jahrhundert zu außerordentlich ähnlichen satirischen Praktiken und Perspektiven kommen«.63 Man kann sogar eine »Art von Doppelgängerscheu«, wie Freud sie gegenüber Schnitzler einbekannt hat,64 im Falle von Kraus und Musil vermuten, die als polemisch veranlagte Naturen und brillante Stilisten so manche literarische und politische Position – den kritischen Rückblick auf den Krieg und die Habsburgermonarchie, den Abscheu vor dem Nationalsozialismus – und so manches Feindbild65 teilten. Die Frage der persönlichen Moral bleibt dabei ungeklärt. Ob Karl Kraus das Exempel, das er an Kulka statuierte, um ihm das »Räuberhandwerk«66 zu 60 61 62

63 64 65 66

Ehrenstein: Werke. Bd. 5 (Anm. 2), S. 144. Vgl. dazu und zum Folgenden Arntzen: Robert Musil und Karl Kraus (Anm. 25), S. 211– 215. Gunther Martens nennt den Einfluss »erheblich«. Vgl. Gunther Martens: Beobachtungen der Moderne in Hermann Brochs Die Schlafwandler und Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften. Rhetorische und narratologische Aspekte von Interdiskursivität. München 2006 (= Musil-Studien, Bd. 35), insbes. S. 347 f. Vgl. auch van der Steeg: 50 Jahre Karl Kraus (Anm. 26), S. 169 f. u. 172 f. Arntzen: Robert Musil und Karl Kraus (Anm. 25), S. 218. Sigmund Freud: Briefe an Arthur Schnitzler. Hg. v. Henry [Heinrich] Schnitzler, in: Die Neue Rundschau 66 (1955), S. 95–106, hier S. 97. Etwa Anton Wildgans oder Franz Werfel; vgl. Roman Roček: Musil – Wildgans – Kraus. Witz und Aberwitz literarischer Bewertungen, in: Musil-Forum 19/20 (1993/1994), S. 215–239, sowie Pavel Trost: Zu Musil und Karl Kraus, in: Musil-Forum 17/18 (1991/1992), S. 241–244. Kraus: Ein neuer Mann (Anm. 3), S. 46.

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legen, irgendwann später bereut hat, wissen wir nicht. Ein Jahr vor Kulkas Selbstmord meint Kraus ohne jeden selbstkritischen Impetus, dessen »Tat« sei »durch den Rücktritt in ein ehrenhaftes Privatleben gesühnt«67 – immerhin verschweigt er rücksichtsvoll den Namen seines einstigen Opfers.

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Karl Kraus: Der größte Schuft im ganzen Land . . . , in: Die Fackel (Anfang September 1928), Nr. 787–794, S. 1–208, hier S. 151. Kraus erwähnt die Causa Kulka im Kontext seiner Polemik gegen Alfred Kerr, der ihm sein diesbezügliches Agieren angekreidet hat.

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Von der Polemik zur Meta-Polemik Musils Notizen zur Lage von Geist und Literatur Abstract: In both his literary criticism and his aphoristic remarks from the 1930s, Musil makes use of polemics in a twofold way. He tries to diminish the much-publicized importance of cultural innovations of his time by comparing them to the forgotten or discredited innovations of previous eras, while at the same time seeking to establish an overarching point of view beyond the polemic, beyond controversy. As long as rhetoric is involved in the polemic, in a game of pros and cons, there can be no fully comprehensive view of the existing antagonisms as a whole. Musil thus seeks to establish a standpoint of metapolemics that can capture the ambivalence of cultural phenomena and describe them in a dialectical manner, using the tools of cartography and statistics, among other disciplines.

1. Am 17. November 1935 fand im Basler Hotel des Trois Rois, dem ersten Haus der Stadt, eine vom Basler P.E.N.-Club veranstaltete Dichterlesung mit dem seinerzeit noch in Österreich wohnhaften Schriftsteller Robert Musil statt. Tags zuvor hatte Musil eine Lesung in Zürich absolviert, im Beisein Thomas Manns; zwei potentiell irritierende Umstände, über die man in Basel geflissentlich hinwegsah. Schon weniger leicht zu ignorieren war, dass sich der literarische Gast aus Österreich in dieser Phase, also Mitte der 1930er Jahre, in einer zutiefst skeptischen, geschichtspessimistischen Arbeits- und Lebenshaltung befand, die sich literarisch in einer Hinwendung zu kurz angebundenen Aphorismen und Reflexionen niederschlug, in welchen der Autor mit ironischem Sarkasmus und schmerzvoller Resignation die Zeitläufte kommentierte – ein Unzeitgemäßer, der auf die Wirkungsmöglichkeiten von Geist und Kultur nicht mehr allzu große Hoffnungen zu setzen schien.1 Musils aphoristischer Pessimismus ließ sich zu jener Zeit auf eine ganze Reihe von guten und deshalb auch unguten Gründen zurückführen. Da war zunächst die unübersehbare Stockung bei der Fortführung seines Hauptwerks, des Epochenromans Der Mann ohne Eigenschaften, aus dessen Werkkomplex 1930 und 1932 zwei gewichtige Bände erschienen waren, welche das abgesteckte ambitionierte Erzählprogramm aber allenfalls bis zur Hälfte seines geschichtlichen und individuellen Handlungsweges geführt und dabei 1

Robert Musil: Aphorismen, in: GW II, S. 811–863, darin S. 813–815 die im Zuge des Basler Vortrages publizierten Notizen.

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den intendierten Fortgang und Abschluss sogar gegenüber den ursprünglichen Rahmenvorgaben eher noch erschwert hatten. Da waren zweitens, und nicht weniger existentiell, die seit dem Beginn der Hitler-Diktatur im Januar 1933 rapide wegbrechenden Arbeits- und Wirkungsmöglichkeiten in Deutschland, wo vor allem der Berliner Freundeskreis und das dortige Metropolen-Ambiente für Musil bis dahin wichtige literarische Antriebskräfte geboten hatten. Und da war drittens das durch den Zwang zur politischen Stellungnahme und zum publizistischen Engagement ausgelöste öffentliche ›Haltungsproblem‹ Robert Musils, der zwar die Motive einer möglichst einhelligen kulturellen Widerstandsfront gegen das Naziregime (und dessen internationale Gesinnungspartner in Spanien und Italien) moralisch unterstützte, dem aber der bloß defensive Affekt einer bildungsbürgerlichen »Verteidigung der Kultur«, wie er etwa auf dem großen Pariser Kongress im Sommer 1935 proklamiert worden war, als ein falscher und kritikwürdiger Akzent erschienen war, dessen bewahrender Reflex hinter den wirklichen intellektuellen und ästhetischen Herausforderungen der Zeit in sträflicher Weise zurückblieb. Bei seinem eigenen, unglücklich verlaufenen Auftritt in Paris hatte Musil deutlich gemacht, dass durch ein bloßes Beharren auf dem linksbürgerlich vereinnahmten kulturellen Erbe die strukturellen Bedrohungen des Geistes durch das Zeitalter der Massen-, Maschinen- und Warenwelt noch nicht einmal im Ansatz erkannt seien, geschweige denn ihren künftigen Problemlagen schon Rechnung getragen würde. In gleich doppelter Weise missverstanden: als politisch unzuverlässig und pragmatisch zögerlich, verfehlten die kritischen Signale in Musils Rede allerdings ihre Adressaten. Unzeitgemäß, wie er war, wies Musils Pariser Redebeitrag in eine ähnliche Richtung wie die wenige Jahre später ebenfalls in Paris entstandenen geschichtsphilosophischen Thesen Walter Benjamins, in welchen sich die mit Musils Betrachtungen übereinstimmende Bemerkung findet, dass kein Monument der Kultur existiere, welches nicht zugleich auch als ein Mahnmal der Barbarei aufzufassen wäre.2 Musil war von der Pariser Mission äußerlich geschlagen und innerlich desillusioniert zurückgekehrt.3 Das noch bei weitem nicht abgeschlossene Werkprojekt des Romans hätte eigentlich den langen Atem ungestörter Schaffensbedingungen verlangt; doch war hieran unter dem wachsenden Druck der politischen und wirtschaftlichen Existenznot weniger zu denken als je zuvor. So hatte es also schlechterdings sehr triftige Gründe, wenn sich der Autor zur Mitte der 1930er Jahre zunehmend auf die Arbeit an kleineren Prosaformen und auf die Niederschrift aphoristischer Betrachtungen verlegt hatte – wie in 2 3

Vgl. Walter Benjamin: Werke und Nachlaß. Kritische Gesamtausgabe. Bd. 19: Über den Begriff der Geschichte. Hg. v. Gérard Raulet. Berlin 2010, S. 34: »Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein.« Vgl. Karl Corino: Robert Musil. Eine Biographie. Reinbek b. Hamburg 2003, S. 1183–1206.

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eine Art von innerem Exil,4 respektive, um an seine eigene, primär zeitlich ausgerichtete Umschreibung dieser paradoxen Haltung zu erinnern, in einem »Nachlass zu Lebzeiten«. Die gleichnamige Prosasammlung aus kleinen Novellen, Reiseskizzen, Tiergeschichten und philosophischen Reflexionen hatte Musil für seinen Hausverlag Ernst Rowohlt zusammengestellt, um trotz der Stockung des Romanfortgangs zwischenzeitlich nicht ganz von der literarischen Bildfläche zu verschwinden. Die Veröffentlichung des Nachlaß zu Lebzeiten-Bandes stand unmittelbar bevor, als sich Musil im Spätherbst 1935 auf die dank der freundschaftlichen Initiative des jungen Basler Musikwissenschaftlers und späteren Beethoven-Forschers Harry Goldschmidt zustande gekommene Lesereise nach Zürich und Basel begab. Den bis hierher skizzierten Kontext einer krisenhaft zugespitzten Ausgangslage sollte man mitbedenken, wenn es darum geht, die im Zusammenhang mit den Zürcher und Basler Auftritten veröffentlichten Prosaminiaturen und Aphorismen Musils in ihrer Problematik zu würdigen. Skepsis, ja Feindseligkeit gegenüber den zeitgenössisch herrschenden Kräften war unter diesen Auspizien keineswegs bloße Marotte eines soziophoben Sonderlings, sondern die nur allzu verständliche Quintessenz aus den höchst unersprießlichen politischen Tagesbefunden; fast halb Europa schien sich in fataler Kettenreaktion der Versuchung, das eigene Denken zugunsten eines berauschten Mitläufertums aufzugeben, an den Hals geworfen zu haben. Gleichwohl hatte das Basler Publikum, zumindest die literarisch versierten Teile desselben, im eingeladenen Schriftsteller vorwiegend den kühnen Autor des Kolossalromans Der Mann ohne Eigenschaften erwartet, der sich seit der Publikation der ersten beiden Bände in Expertenkreisen einen gewissen Nimbus als intellektueller Avantgardist erworben und schon Vergleiche mit Joyce und Proust auf sich gezogen hatte. An derlei Vorleistungen und Ambitionen würden sich Musils weiteres Prosaschaffen und auch sein literarisches Auftreten hinfort messen lassen müssen, auch wenn nur sehr wenige zeitgenössische Leserinnen und Leser in der Lage waren, dem Romancier in die verschlungenen Gänge seines erzählerisch-essayistischen Fuchsbaus zu folgen. Bei der Zürcher Lesung war neben dem schon erwähnten, gönnerhaft distanzierten Schriftstellerkollegen Thomas Mann auch die aus Wien stammende Ninon Hesse zugegen, die dritte Ehefrau Hermann Hesses. Sie, die das Schaffen Musils bis dahin intensiv mitverfolgt hatte, erlebte bei der Veranstaltung mit bedauerndem Mitgefühl den Auftritt eines Deplatzierten. »Es war eine solche Einsamkeit um ihn«, beschreibt Ninon Hesse ihren Eindruck jenes Leseabends, »wie in einer Mandorla von Einsamkeit saß er vor uns, und ich hätte ihm so gern gesagt, daß ich ihn verstehe.«5 — In Basel wiederum war nicht nur eine Lesung Musils vor den Mitgliedern des P.E.N.4 5

So bereits Peter C. Pfeiffer: Aphorismus und Romanstruktur. Zu Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften. Bonn 1990 (= Bonner Arbeiten zur deutschen Literatur, Bd. 46). Zit. nach: Corino: Robert Musil (Anm. 3), S. 1209.

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Clubs arrangiert worden, sondern auch ein zweiter Auftritt bei der Basler Studentenschaft, die sich ihrerseits statt einer literarischen Lesung lieber einen auf zeitgeschichtliche Fragen zugespitzten Vortrag des Schriftstellers gewünscht hatte. Musil nahm deshalb bei seinen Vorarbeiten für dieses Gastspiel den früheren Vortrag Der Dichter in dieser Zeit (1934) wieder vor, um dessen Grundthesen der modernisierungsbedingt veränderten Konfliktlagen zwischen Geist und Gesellschaft vor dem Hintergrund der Pariser Missverständnisse mit aktuellen Zusätzen zu versehen.6

2. Das Basler Publikum war also im November 1935 auf eine durchaus zwiespältige, aus literarischen Kostproben und tagesaktuellen Einlassungen gemischte Darbietung des Gastes einzustimmen. Zu diesem Behufe hatte Musil der Basler National-Zeitung im Vorfeld einige der jüngst entstandenen Stücke aus der Sammlung seiner Aphorismen und Betrachtungen zum veranstaltungsbegleitenden Abdruck überlassen, darunter auch solche, die über den Standpunkt des Nachlaß zu Lebzeiten an Schärfe nochmals hinausgingen. Doch was auf diese Weise und gewissermaßen als werbliche Maßnahme für seine Dichterlesung an die geneigte Öffentlichkeit gelangte, war nicht durchwegs dazu geeignet, diese im Sinne einer captatio benevolentiae für die Person des Dichters und dessen Anliegen einzunehmen. Im Gegenteil handelt es sich bei einigen der kleinen Prosastücke weit eher um Kampfansagen, welche die Erwartungen und Gepflogenheiten bildungsbürgerlicher Literaturkreise mit einem maliziösen Gusto zu düpieren drohten. Eine dieser als Konvolut unter der Gattungs-Überschrift Aphorismen von Adolf Frisé im Nachlassteil der Werkausgabe mitgeteilten Notizen eröffnet keck mit dem Ausruf: »Ein neuer Geist ist da?«, um dann hinzuzusetzen: »Es ist noch nicht lange her, daß diese Behauptung bloß ein Schlagwort von Künstlergruppen gewesen ist; heute bildet sie den Stolz von gedrillten Massen.« (GW II, S. 813) Da Robert Musil, ein zu jener Zeit in der Mitte seines sechsten Lebensjahrzehnts stehender Autor, seit seinen literarischen Anfängen schon allerhand kulturelle Aufbrüche und Stilgenerationen die Bühne öffentlicher Aufmerksamkeit hatte erobern und irgendwann auch wieder von ihr abtreten sehen, hatte sich der langjährige teilnehmende Zeitbeobachter im beständigen Auf und Ab der Kunstformen eine gewisse Indifferenz, ja Skepsis zugelegt gegenüber der selbsterklärten ›Neuheit‹ aktueller künstlerischer Bewegungen. »Wir haben die Sache ja mehrmals mitgemacht«, so hatte Musil schon im Jahre 1922 in seiner Glosse Stilgeneration und Generationsstil festgestellt; 6

Vgl. GW II, S. 1256–1258; vgl. Corino: Robert Musil (Anm. 3), S. 1207 f.

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»jedesmal war eine neue Generation da, behauptete, eine neue Seele zu haben, und erklärte, für diese neue Seele nun auch den gehörigen Stil zu finden.« (GW II, S. 665) Dem längerfristigen, ausdauernden und deshalb zu Vergleichen befähigten Beobachter kulturellen Wandels zeigen sich die aufeinander folgenden Aufbrüche und Neuanfänge als in einer unfreiwilligen Komplizenschaft miteinander verwobene Parade beständigen Wechsels, die letztlich viel mehr an kontinuierlichem Gleichlauf aufweist, als ihren scheinbar so kühnen und originellen Protagonisten selbst jeweils zu Bewusstsein kommt.7 Sobald man aber die Ausrufung einer jeweils ultimativ neuen Kunstrichtung als einen nur scheinbaren Neueinsatz durchschaut habe, dürfte man sich Musils Einsicht zufolge gelassenen Schrittes im Tempo zurückfallen lassen, und zwar solange, bis man automatisch wieder ganz vorne stünde: »Stil wird immer von den Nachläufern gemacht; wenn sie ganz weit hinterdreinlaufen, so daß sie die Spitze nicht mehr sehen, werden sie Vorläufer.« (GW II, S. 666) Diese humorvolle Bemerkung eines Autors, der Anfang der 1920er Jahre gerade nicht mehr zur Jugend gehörte, gibt sich zwar bemerkenswert abgeklärt, aber gerade deshalb ist sie noch von einem erheblichen Grad an polemischer Verve durchdrungen. Wenn Musil in seiner stilkritischen Glosse die abgestempelten Nachzügler zu privilegierten Vorläufern umetikettiert, verhält er sich genauer betrachtet polemisch im doppelten Sinne, indem seine Diagnose nämlich kritische Bemerkungen nach zwei Richtungen zugleich austeilt und dabei sowohl den Innovationsanspruch des einen Lagers wie auch das ängstliche Beharren des anderen als gleichermaßen unberechtigte Vereinseitigungen relativiert. Schon in dieser vergleichsweise frühen publizistischen Intervention zeigt sich Musil in Sachen Polemik demzufolge nicht nur an der kritischen Stellungnahme und am direkten Schlagabtausch interessiert, sondern versucht darüber hinaus der angezettelten Kontroverse insgesamt eine neue, selbstreflexive bzw. die Gegensätze umgreifende Wendung zu geben. Als ironisch kommentierender Beobachter nimmt Musil einen bestehenden Disput auf, indem er beide hierbei entstandenen Lager als aufeinander bezogene Polaritäten erfasst und damit auf elegante Weise die Grundspannung ihres Konfliktpotentials gesamthaft in den Blick rückt. Schon in jenen aus der Nachkriegssituation heraus entstandenen kulturdiagnostischen Betrachtungen zeigt der Autor bei seiner eigenen Positionierung also die hier noch implizit bleibende Tendenz, zu den eingeschliffenen Frontstellungen eine dritte, querständige Sonderperspektive einzunehmen.8 Genau diese Haltung des ausbalancierten Weder-Noch bzw. 7 8

Vgl. Alexander Honold: Die Wiener Décadence und das Problem der Generation, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 70 (1996), H. 4, S. 644–669. Vgl. auch die von Norbert Christian Wolf: Kakanien als Gesellschaftskonstruktion. Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts. Wien u. a. 2011 (= Literaturgeschichte in Studien und Quellen, Bd. 20), S. 1130 ff., entwickelte Diagnose eines doppelten Bruches in Musils gesellschaftskritischem Denken.

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Sowohl-Als-Auch wird, so meine These, den Ansatzpunkt zu Musils späterer meta-polemischer Diskursstrategie ergeben, wie er sie sukzessive durch die Arbeit am Mann ohne Eigenschaften entwickelte und dann insbesondere in den Essays und Aphorismen ab den mittleren 1930er Jahren mit zunehmender methodisch-theoretischer Selbstreflexion ausarbeitete. Im bereits zitierten Aphorismus aus der Notizensammlung vom November 1935 allerdings scheint Musil gerade nicht den Weg einer sanften Ironisierung kontroverser Lagerbildung einzuschlagen, welcher darauf vertraut, die proklamierten Differenzen würden sich durch den schieren Fortgang der Zeit wie von selbst mittelfristig wieder egalisieren. Was er hier formuliert – und das heißt, unter den durchaus beunruhigenden politischen Rahmenbedingungen massiver Repression und ideologischer Gleichschaltung im Nachbarland Deutschland –, muss sich nicht mehr nur mit dem (noch vergleichsweise milden) Skandalon eines fortdauernden Wandels der künstlerischen Prioritäten auseinandersetzen, sondern mehr noch mit dem Befund einer radikalen Entwertung respektive Enteignung der für das kulturelle Feld insgesamt konstitutiven Begrifflichkeiten. »Ein neuer Geist ist da? Es ist noch nicht lange her, daß diese Behauptung bloß ein Schlagwort von Künstlergruppen gewesen ist; heute bildet sie den Stolz von gedrillten Massen.« (GW II, S. 813) Dieser Zusammenprall von Geist und Drill, von altgewohnten Mechanismen und neuer massenpropagandistischer Manipulation – das sind unerwartet starke Kontraste vor überaus ernsthaftem Hintergrund. Anstatt wie zu früheren Gelegenheiten die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit im Auftreten neuer künstlerischer Strömungen zu kritisieren, verweist Musil auf eine Konfrontation neuen Typs, indem er die ideologische Rolle des Geistes, oder genauer: seine diskursive Instrumentalisierung in den Blick nimmt, die für denkbar unterschiedliche gesellschaftliche und politische Ziele erfolgt und bei der sich das Geistesleben an höchst divergente Rahmenbedingungen anzupassen hat. Wenn nicht mehr nur einzelne Akteure oder Künstlergenerationen sich auf den Einzug eines neuen Geistes berufen, sondern auch die Nazi-Bewegung der gleichgeschalteten Massen diesen Begriff für sich zu reklamieren beginnt, dann ist der herkömmlichen Stilkritik, wie sie auch Musil in den 1920er Jahren verfochten hatte, auf schlagende Weise der Boden entzogen. Das Konzept des Geistes ist dabei zu einem funktionalen Effekt gewaltgestützter Machtkonstellationen geworden. Doch anders, als dieser scharfe Seitenhieb auf das Phänomen gedrillter Massen vermuten lassen könnte (welches freilich nicht allein in diktatorisch geführten Staaten wie Deutschland, Italien, Spanien oder der Sowjetunion anzutreffen war), sind direkte politische Bezugnahmen in Musils zeitgeschichtlichen Betrachtungen auch noch zur Mitte der 1930er Jahre eher selten. In überwiegender Zahl beschäftigen sich seine skeptischen Reflexionen weiterhin mit den Hervorbringungen, Protagonisten und Spielregeln des künstlerischen, literarischen und intellektuellen Feldes, wobei nunmehr eine im Vergleich zu

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früheren Einlassungen Musils deutlich distanziertere und demonstrativ illusionslose Haltung zum Ausdruck gelangt. Ist Robert Musil in seinen aphoristischen Betrachtungen ein polemischer Autor? Ja und nein; zwar zeigt er sich weiterhin in polemischer Angriffslaune, lässt dabei allerdings durchblicken, dass seinem rhetorischen Schwung gewissermaßen das eigene Basislager abhandengekommen ist, auf dessen sicheren Boden er sich nach erfolgtem Angriff zurückziehen könnte. Äußerlich wirkt an Musils kritischen Reflexen alles noch recht intakt. Wenn der Autor in seinen Aphorismen wie gewohnt das Übertriebene am »Begriff des Genies« moniert, wenn er sich Gedanken macht über die Krise des literarischen Helden oder über die durchaus störungsanfällige Beziehung von Schriftsteller und Publikum, so scheint sich all dies weiterhin in den vorgespurten Bahnen eines überdurchschnittlich skepsisbegabten Zeitgenossen und seiner erzieherisch gemeinten Diskursmanöver zu bewegen, mit deren Hilfe ein gewöhnliches literarisches Publikum durch strenge geistige Übungen zu einem mit geschärfter Urteilskraft qualifizierten Musil-Publikum herangebildet werden sollte. Doch bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass des Autors Hoffnung auf das literarische Vermitteln von Lerneffekten rapide geschwunden sein muss – und ebenso auch die Zuversicht, für die Darlegung von logischen Zusammenhängen oder ästhetischen Qualitätsunterschieden auf begründete, argumentativ einsichtige Wertmaßstäbe setzen zu können. In Richtung einer geradezu vom nihilistischen Sog erfassten Sinnkrise weist beispielsweise die folgende Betrachtung, in welcher sich der Autor mit dem Verhältnis der Menschheit zur Dummheit befasst – einem erstaunlich entspannten Verhältnis, wie man sagen muss, das nur bei oberflächlicher Betrachtung eine negative Voreingenommenheit an den Tag legt. Eine recht beachtenswerte Skala ist diese: Er ist ein gescheiter Mensch, gilt als unbedingtes Lob. Er ist ein guter Mensch, gilt auch als Lob, aber manchmal doch mit einer leichten Einschränkung in der Richtung: gut gleich dumm. Er ist ein intelligenter Mensch – was doch soviel heißt wie: ein einsichtsvoller – hat dagegen schon lange vor Erfindung der »Intelligenzbestie« in manchen Kreisen als verdächtig gegolten: siehe zum Beispiel den »Intelligenzler« und »Westler« bei Dostojewski. Wir bewerten also: Lieber schlecht als dumm, aber: Lieber gut als intelligent. Wozu bemerkt werden muß, daß dieses zutiefst gestellte Intelligentsein gerade die Klugheit umfaßt, die lieber schlecht sein will als dumm. Der Fall ist also verwickelt. (GW II, S. 814)

Eine kritische Intervention findet in solchen Darlegungen zwar noch statt, doch geht sie nicht mehr von normativen Prämissen aus, sondern artikuliert sich als Bestandsaufnahme eines herrschenden bzw. allgemein weithin akzeptierten Sprachgebrauchs. Musil agiert dabei implizit als Vertreter einer weitgefassten Wiener Schule (Mauthner, Kraus, Wittgenstein) der analytischen Sprachdeskription. Wie der Autor zeigt, sind die semantischen Konzepte von ›intelligent‹, ›gescheit‹ und ›dumm‹ in ihrer logischen Abstufung nur schwer mit dem common sense zu vereinbaren; besonders schwierig aber wird es,

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sobald die Frage der ethischen Grundhaltung, des Verhältnisses vom ›GutSein‹ zum ›Gescheit-Sein‹, in die Wertordnung mit hineinspielt. Methodisch bewegt sich Musil dabei insofern in der Nähe der Sprachphilosophie Wittgensteins und seiner Vorgänger, als er den Sinn bestimmter Ausdrücke und Bewertungen nicht apodiktisch festgelegt sieht, sondern sich an der Praxis alltäglicher Verwendungsweisen und der in ihnen kondensierten Meinungen orientiert. Hier zeigt sich eine Art von ordinary-language-Konzept, mit dem sich der Autor gerade den für das Selbstverständnis seines Geistesmetiers so grundlegenden Fragen nach dem Wesen der Kunst und des Dichtertums nähert. Eine deskriptive Grundhaltung zur Semantik geistiger Größen wird etwa bei jener Gelegenheit sichtbar, als der Autor auf eine Medien-Umfrage nach dem zeitgenössischen Begriff des Dichters einfach den Spieß umdreht und seine Antwort mit der an die Leser gestellten Frage beginnt: »Können Sie mir sagen, was ein Dichter ist?« (Was ist ein Dichter? Eine unzeitgemäße Frage, 3. 8. 1931; GW II, S. 618) Oder, noch schlichter, wenn Musil im Falle der Grundlegung des Begriffs Ästhetik auf ein demonstrativ locker erfasstes Verwendungsspektrum rekurriert, dem Prinzip folgend: »Kunst ist das, was wir unter diesem Namen vorfinden.« (Von der Möglichkeit einer Ästhetik; GW II, S. 1329) Etwas ausführlicher hat Musil diesen Ansatz in einem Arbeitshefteintrag festgehalten; dort heißt es: Die wissenschaftliche Ästhetik sucht nach dem Universalziegel, aus dem sich das Gebäude der Ästhetik errichten ließe. Für uns ist aber Kunst das, was man so nennt wir unter diesem Namen vorfinden. Etwas, das ist und gar nicht nach Gesetzen zu sein braucht, ein kompliziertes soziales Produkt. (Tb I, S. 449; im Orig. gestrichen)

Zum methodischen Grundansatz einer deskriptiven Bestandsaufnahme des Sprachgebrauchs gesellt sich in diesen Fällen eine letztlich sogar nihilistische bzw. agnostische Tendenz hinzu, was die mittels der Begriffe aufgerufenen idealen Wertvorstellungen anbelangt.

3. Woraus bestehen eigentlich Geist, Genie, Größe? Worin äußern sie sich, wie beweisen sie sich in einem modernen, d. h. leistungsorientierten Konkurrenzfeld? Gerade von den prima vista ungedeckten generischen Termini des Geisteslebens geht üblicherweise ein impliziter Mehrwert-Anspruch aus, der freilich nur durch das einverständige Investment seitens der überwiegend gutgläubigen Begriffsbenutzer erwirtschaftet werden kann. Um sich selbst und sein Publikum vor solchem eilfertigen Einverständnis in die Sinnhaftigkeit geistiger Leitwerte zu bewahren, empfiehlt Musil in Geschwindigkeit ist eine Hexerei eine gleichermaßen aus agnostischen wie passivischen Motiven

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gespeiste Disposition. Er rät: »Es ist immer gut, wenn man die Worte so gebraucht, wie man soll, nämlich, ohne sich etwas dabei zu denken.« (GW II, S. 683) Auf die aktuelle Lage gemünzt, deren progredierende Verfallsdynamik auszumalen Mitte der 1930er Jahre wohl kein Orakel eine genügend schwarzseherische Phantasie besessen hätte, würde dies Musil zufolge in etwa bedeuten: »Es ist das sicherste, einen Unsinn zu sagen: irgendwann geschieht er!« (GW II, S. 836) Das aber bedeutet: Wie bizarr und tollkühn das Denken oder Behaupten auch jeweils der Wirklichkeit vorauszueilen glaubt, so wird die Tatsächlichkeit lange vor der Imaginationskraft bereits an Ort und Stelle sein, ganz nach dem Muster des Wettstreits von Hase und Igel. Es sieht daher in vielen einzelnen Aspekten so aus, als wollten Musils Aphorismen in jener krisenhaften Phase um die Mitte der 1930er Jahre den listenreichen Grundsatz aus Walter Benjamins Sürrealismus-Aufsatz beherzigen, der da lautete: »Den Pessimismus organisieren.«9 Doch selbst in der maximalpessimistischen Zuspitzung dessen, was von den Zeitläuften noch an grundstürzenden und niederschmetternden Tendenzen zu erwarten sein würde, könnte noch ein gewisser ethischer Impuls des Protests gegen die kritikwürdigen Verhältnisse mitschwingen. Nicht so bei Musil, jedenfalls nicht in den aus der Schreibnot geborenen Aphorismen jener Zeit. Sie beugen sich, offenbar widerstandslos, den Mächten der Affirmation, indem sie ihr Einverständnis mit dem Einverständnis proklamieren. Die Menschheit gestattet sich überhaupt gerne in Ausnahmen, was sie sich sonst verbietet. So gilt es zum Beispiel als ein Zeichen schlechten Geschmacks, wenn nicht als eines der Dummheit, daß sich ein Mensch selbst lobt; wo Menschen aber als Masse, Partei, Glaubensgemeinschaft, Nation und ähnliches verbunden auftreten, loben sie sich schamlos. Sie loben sich, sobald sie »wir« statt »ich« sagen dürfen. Nur wir haben den rechten Willen, sind von Gott erleuchtet oder von der Geschichte berufen, ist noch das wenigste, was sie vorbringen; und sie halten das nicht nur für erlaubt, sondern noch für ein gutes Zeichen! / Bezeichnenderweise gilt in Zeiten, wo das überhandnimmt, der Dichter als überflüssig oder als Schwächling. (GW II, S. 813)

Auch hinter den Mechanismen kollektiver Anerkennung steckt nach Musils Einsicht, um nochmals die früher angeführte Definition von Kunst als Formulierung heranzuziehen, »ein kompliziertes soziales Produkt« (Tb I, S. 449). Der Wechsel vom Ich zum Wir, die Anrufung abstrakter und höhergestellter Mächte, das Aufgehen des Einzelnen in einer Partei, Glaubensgemeinschaft oder Nation sorgen augenscheinlich dafür, dass sich die Regeln persönlichen Anstands ab einer gewissen Vervielfachung des Faktors Persönlichkeit auf wundersame Weise außer Kraft gesetzt finden. Selbstlob des Einzelnen ist dumm, peinlich oder abgeschmackt; das Selbstlob von vielen allerdings, im 9

Walter Benjamin: Der Sürrealismus. Die letzte Momentaufnahme der europäischen Intelligenz, in: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. II . Hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a. M. 1977, S. 295–310, hier S. 309.

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ungeformten Chorus einer vagen Kollektivbildung vorgetragen, erlangt rasch etwas Ungreifbares und darum auch Unangreifbares. In unmittelbarer Nachbarschaft des eben angesprochenen Notats hat Musil die Konsequenzen solcher Affirmationsmechanismen auch für sein eigenes Feld, nämlich für die Gelingensbedingungen literarischen Reüssierens, ausbuchstabiert. Publikumserfolg: Man sollte meinen, daß es schwerer sei, das Bedeutende zu erkennen, als, wenn es einmal erkannt ist, das Unbedeutende von ihm zu unterscheiden. Die Kunsterfahrung, und wohl auch die allgemeine, lehrt aber immer wieder das Gegenteil, daß es beiweitem leichter ist, eine Anzahl Menschen auf das Bedeutende zu einen, als sie davon abzuhalten, bei erstbester Gelegenheit das Unbedeutende mit ihm zu verwechseln. (GW II, S. 814)

Wo die argumentativen Mittel der kritischen Unterscheidungskunst ihr Hausrecht aufgrund politischen Meinungsdrucks oder grassierender Ignoranz längst schon verloren haben und wo selbst noch die unsachlichen Waffen der Polemik ob der allgemeinen Trägheit stumpf zu werden drohen, da bleibt als dritte und letzte Option nur mehr die nicht minder listenreiche Bejahungstechnik eines umwerfenden Einverständnisses,10 welches einzig auf dem suggestiven Mantra beruht, dass alles gut wird, weil es eben besser so ist. Eine fast schon wieder ›tragische‹, auf die Rolle des Fatums abzielende Weltanschauung scheint hingegen aus folgendem Aperçu zu sprechen: »Der Held braucht Verhängnis und Unglück, um sich beweisen zu können. Not und Held gehören zusammen wie Krankheit und Fieber.« (GW II, S. 813) Diese Bemerkung zielt darauf ab, die Beziehungen zwischen realhistorischen Zeitumständen und literarischen Gestaltungsformen als eine Art von Symptom-Zusammenhang zu beschreiben. Die Rolle des Protagonisten in zeitgenössischen Romanhandlungen müsste dann mit derjenigen eines Fieberthermometers in Analogie gesetzt werden (der Zauberberg lässt grüßen). Dass die fiktionalen Akteure in den literarischen Texten der klassischen Moderne nicht mehr Helden althergebrachten Schlages sind respektive zu sein brauchen, ist ein unabwendbarer, allenfalls zu verschleiernder Effekt des Umstandes, dass man »schon seit geraumer Zeit Einzelschicksale nicht mehr so wichtig zu nehmen vermag wie früher« (GW II, S. 1246),11 wie Musil schon im Gefolge des Ersten Weltkrieges aus eigener leidvoller Erfahrung wiederholt festgestellt hatte. Die Entwertung oder zumindest Relativierung des Individuellen als Gefühlsinstanz und Handlungsträger ist ein aus den Kriegsjahren ergehender, auch auf gesamtgesellschaftliche Prozesse anzuwendender 10

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Dieses ›affirmationsgeladene‹ Widerstandskonzept hat der marxistische Philosoph Wolfgang Fritz Haug an dem Helden von Jaroslav Hašeks Roman vom braven Soldaten Schwejk entwickelt. Vgl. Wolfgang Fritz Haug: Bestimmte Negation. Das umwerfende Einverständnis des braven Soldaten Schwejk und andere Aufsätze. Frankfurt a. M. 1973. Der Beitrag geht auf eine am 16. Dezember 1934 in Wien gehaltene Rede anlässlich des 20-jährigen Bestehens des »Schutzverbandes deutscher Schriftsteller in Österreich« zurück.

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Befund; wenn die Bejahung des Krieges als ein masseneuphorisierendes Spektakel um sich greifen konnte, die tatsächliche Freund-Feind-Konstellation an der Front hingegen immer stärker zu einem abstrakten Kalkül statistischer Treffer-Wahrscheinlichkeit mutierte, dann war damit die Handlungsmächtigkeit des Einzelnen gleich auf zweifache Weise in Frage gestellt, aufgrund seines amorphen Eintretens in eine Massensozietät und aufgrund seines Verschwindens in den Funktionswerten großer Zahlen und Häufigkeitsverteilungen. Die Zurechnungsfähigkeit des Individuums erhält Risse, weil und sofern seinem Selbst die durchlaufenen Gefühlslagen und Handlungsimpulse nicht mehr als ureigene, unverwechselbare Eigenheiten zugerechnet werden können: ein Phänomen, das Musil deshalb sowohl an der psychopathologischen Moosbrugger-Figur wie an dem omnipräsenten und pluridiskursiven Titelhelden des Romans vorführen kann, mit übrigens verblüffend kongruenten Verhaltensaspekten und Verlaufskurven. Wie im Seelen- und Geistesleben Moosbruggers einzelne Worte eine opake Durchschlagskraft gewinnen konnten, die ihn zu gewalttätigen Handlungen trieb, so wird die existentielle Sinnkrise Ulrichs durch die allgemein tolerierte Entwertung bzw. Entfremdung geistiger Leitkonzepte wie etwa des Genie-Begriffs ausgelöst, welche ihm zunächst in der Zeitungsmeldung über ein sogenannt »geniales« Rennpferd ins Auge sprang. Solcherart jählings von seinem Geistesthron vertrieben, noch ehe er ihn offiziell überhaupt hatte einnehmen können, reagiert der Jung-Intellektuelle des Romans bekanntlich mit einer Mischung aus Achselzucken, Gekränktheit und Trotz. Ulrich macht bei den Umtrieben zu Kakaniens jubiläumsseliger Selbstdarstellung getreulich mit, weil die Umstände auch ihn mitmachen und seine eigenschaftslose Unterbestimmtheit dabei gleichsam ausstaffieren wie jenen Sack, der mit jeder hineingestopften Meinung ein bisschen voller und fester wird. An eine konstruktive Grundschwierigkeit und fiktionslogische Schwachstelle des Romans Der Mann ohne Eigenschaften rührt in diesem Zusammenhang die Frage, wie der Protagonist Ulrich zugleich als distanzierter, unparteiischer Beobachter und Analytiker dieser inflationierten Geisteswerte figurieren kann, wenn und solange er zugleich auf der Ebene alltagspraktischer Zusammenhänge selbst weiterhin als ein Teil dieser Zeitläufte anzusehen ist und als ein solcher seine partikularen Gefühle, Handlungen und Positionen zu vertreten hat. Obwohl er ausdrücklich den ironischen Verächter oder Verweigerer jeder lebensweltlichen Nähe abgibt, gelangt Musils Ulrich bewusstseinstechnisch dennoch nicht auf die ontologisch nächsthöhere Ebene, sich nur mehr als Kommentator des Zeitgeschehens zu betätigen und damit in metanarrativer Wendung zu einem Beobachter zweiter Ordnung des kakanischen Weltgeschehens zu avancieren. Was Ulrich und seine perspektivische Stellung im Roman anbelangt, so ist zwar über weite Passagen ein osmotisches Ineinanderfließen von Figurenebene und Erzählerdiskurs festzustellen,

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das die Titelfigur als Akteur strukturell überdeterminiert und gegenüber dem restlichen Romanpersonal privilegiert; dennoch kann dem Mann ohne Eigenschaften die Münchhausen-Volte einer sich am eigenen Schopfe packenden Selbsterhebung aus den beklagten Zeit-Kontingenzen innerhalb der Romanfiktion letztlich nicht gelingen. Als Autor hatte Musil wiederum mit seinen diagnostischen Aphorismen noch ganz andere Möglichkeiten; ihm schwebte auch während der Romanarbeit schon des Längeren, nicht erst seit dem durch General Stumm von Bordwehr ins Spiel gebrachten Grundbuchsblatt der modernen Kultur, die diskursive Einnahme eines sich aus dem Getümmel heraushaltenden Metastandpunktes vor, eine kartographische Beobachterwarte, von der aus allerhand Formen der Lagerbildung, Grenzziehung und Allianzen in ihren wiederkehrenden Emergenz- und Zerfallserscheinungen thematisiert werden konnten. Von einer solchen übergeordneten Diskursposition aus gesehen wären dann nicht mehr einzelne, partikulare Standpunkte und ihre jeweiligen Abgrenzungs- oder Anschließungsbedürfnisse die maßgeblichen Bezugsgrößen, sondern die über mehrere solche Lagerbildungen hinweg sich abzeichnende Strukturlogik, die sich in dergleichen wiederholten Dichotomien und ihrer allmählichen Auflösung oder Verschiebung durchzeichnet. Das aus gewisser Distanz erfolgende romaninterne mapping, also die Einnahme eines kartographischen Beobachterpunktes zweiter Ordnung, bildet folglich eine derjenigen Diskursstrategien, mit welchen der Erzähler Musil den Transfer von einer Situation der polemischen Involviertheit in diejenige einer metapolemischen Indifferenz oder vielmehr Desinvolviertheit zu vollziehen bestrebt war. Im Zusammenhang der seinerzeit noch als »Rittmeister von Horn« geführten Offiziers-Figur hatte Musil in Heft 8 seiner Arbeitsentwürfe und Notizen dargelegt, wie er diesen Akteur und seinen militär-topographischen Ansatz »zum Träger der Satire auf die Geistigen und den geistigen Inhalt der Zeit machen« wollte. »Er entwirft zuerst eine Landkarte. Läßt sich die geistige Welt erklären. / Die geistigen Hauptrichtungen sind Länder: [. . .] Große Persönlichkeiten Berge darin [. . .] Politische/Geistige Parteien zeichnet er als Städte ein. Sie liegen auf einem Kamm oder dazwischen.« (Tb II, S. 1086) An diesen konzeptionellen Ausführungen Musils zur kartographischen Darstellungslogik zeigt sich deren implizit ideologiekritischer Erkenntnisanspruch, welcher darin besteht, bei den skizzierten konträren Diskurspositionen die ihnen jeweils gemeinsamen Mechanismen einer generischen Dichotomisierung freizulegen. Humanismus und Naturwissenschaft, Christentum und Materialismus, Sozialismus und Kapitalismus sowie Individualismus und Kollektivismus sind diesen kartographischen Frontbildungen zufolge als Gegensätze jeweils sowohl räumlich wie sachlich engstens auf das von ihnen bekämpfte Gegenüber bezogen und insofern als miteinander verschwistert zu denken – sie befinden sich in einer dichotomiestiftenden Komplizenschaft.

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Eine weitere Schwierigkeit auf dem skizzierten Diskurs-Tableau entsteht, als der Protagonist und sein militärischer Adlatus überdies die zutreffende Beobachtung machen, dass sich die getroffenen Einteilungen partiell dann auch wieder »durchkreuzen«, so dass der aufs gesellschaftliche Parkett abgeordnete Rittmeister schließlich mit resignierendem Seufzen konstatiert: »Es ist eben komplizierter als der Krieg!« (Tb II, S. 1088) Musils Figuren sind unter der kundigen Anleitung ihres Autors der Einsicht in jenen gesellschaftlichen Mechanismus auf der Spur, den der französische Soziologe Pierre Bourdieu als Konsens im Dissens beschrieben hat, dem Umstand also, dass nahezu jede Form der diskursiven Auseinandersetzung auf der vorgängigen oder impliziten Einigung der Kontrahenten über das ihnen gemeinsame Feld ihres Kräftemessens sowie über dessen Spielregeln bedarf. Denn wie Bourdieu dargelegt hat, setzen kulturelle Distinktionen und Antagonismen stets ein gemeinsames symbolisches Terrain entsprechend dem »intersubjektiven Verständigungsmodus« der sprachlichen Kommunikation voraus. In diesem Sinne sucht Bourdieus praxeologische Feldtheorie ihrerseits gleichfalls einen gewissermaßen metapolemischen Blickwinkel einzunehmen, indem sie den intrinsischen Zusammenhang vermeintlich tiefgreifender Gegnerschaften offenlegt: »[D]ie manifesten Konflikte zwischen Richtungen und Doktrinen verschleiern, zumindest den darin Befangenen, die verschwiegene Komplizität in ihren Voraussetzungen, [. . .] nämlich den Konsensus im Dissensus, der die objektive Einheit des kulturellen Kräftefeldes einer beliebigen Epoche bildet [. . .].«12 Erst auf der Grundlage meist unbewusster diskursiv-symbolischer Konventionen können demnach Differenzen und konträre Artikulationen ausgetragen werden. In dieser Argumentationsfigur einer partikulare Interessen und ihre Konfliktbildung umgreifenden oder sie sogar fundierenden Feldstruktur liegt eine der sozioanalytisch produktivsten Erkenntnisse, die sich aus dem allmählichen Umbau in Musils essayistischen und aphoristischen Beiträgen zur Kulturdiagnostik ziehen lässt.13

4. Wenn nun in einem abschließenden Schritt versucht wird, die in dieser Skizze vorgestellten rhetorisch-philosophischen Interventionen Musils zusammenfassend zu einer kleinen Typologie zu bündeln, so kann der eben erörterte Rekurs auf feldtheoretische und kartographiebasierte Darstellungsformen, wie ihn die »Rittmeister-von-Horn«-Episode und sämtliche hiervon abgelei12 13

Pierre Bourdieu: Künstlerische Konzeption und intellektuelles Kräftefeld [1967], in: ders.: Zur Soziologie der symbolischen Formen. Übers. v. Wolfgang Fietkau. Frankfurt a. M. 21983, S. 75– 124, hier S. 122 f. Vgl. auch Wolf: Kakanien als Gesellschaftskonstruktion (Anm. 8).

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teten Erläuterungen demonstrierten, methodisch als eine ›mittlere Ebene‹ der metapolemischen Distanznahme eingeordnet werden, was sowohl in chronologischer wie in sachlogischer Hinsicht gemeint ist. Denn das Modell einer feldstrukturellen Komplizenschaft der Gegensätze ist einerseits als Fortentwicklung jener kulturkritischen Auffassungen zu sehen, die sich zunächst noch an dem zur Jahrhundertwende als analytische Kategorie virulent gewordenen Begriff der Ambivalenz orientiert hatten, als mit entlarvendem Gestus auf die intrinsische Zweiwertigkeit oder Doppeldeutigkeit all jener kulturellen Werte hingewiesen worden war, die zwar den Eindruck erweckten, klare und zielgerichtete Bestrebungen zu verfolgen, dabei zugleich aber auch deren Gegenteil beförderten. An diese erste Stufe der analytischen Distanznahme durch Ambivalenz-Bewusstsein schließt sich in der Fortentwicklung von Musils erzählerischen Verfahrensweisen zweitens die schon erwähnte feldkartographische Argumentation an, mittels derer dem Autor eine systematische Erweiterung solcher punktuell erfasster Zweiwertigkeiten im Hinblick auf die hierin wirksamen gesellschaftlichen Diskursmechanismen möglich wird. Sie geht einher mit einer zunehmenden intellektuellen Ablösung Musils von den Formen direkter und einsinnig-polemischer Auseinandersetzung. Eine dritte, nochmalig erweiterte Reflexionsebene erlangt der Autor schließlich durch die am mathematischen Denken geschulten Erwägungen zur egalisierenden Wirkung großer Zahlen und statistischer Gesetzmäßigkeiten – eine Sphäre der Abstraktion, in der sich sowohl die Ambivalenzen wie auch die Lagerdichotomien der vorgängigen Stufen als ephemere und kontingente Effekte relativieren lassen. Ambivalenz, Feldstruktur und Statistik sind demzufolge als drei sachsystematisch und genealogisch miteinander verbundene Analysekonzepte zu verstehen, die in Musils Entwicklung eine intellektuelle und werkchronologische Stufenfolge bilden und vom Autor sowohl im fiktionalen als auch im essayistischen Kontext als sozialstratifikatorische Darstellungsmodelle jenseits einer polemischen prise de position sukzessive erprobt und argumentativ verfeinert wurden. Zunächst zur ersten, dann ganz kurz noch zur dritten dieser Stufen, nachdem die mittlere im vorigen Abschnitt schon etwas ausführlicher besprochen wurde. Dem kartographischen Strukturmodell in kulturdiagnostischer Hinsicht vorgeschaltet ist eine Denkfigur, die sich von Musils intensiver Beschäftigung mit Nietzsche und auch aus seiner partiellen Rezeption psychoanalytischer Theoreme herleiten lässt und die kurzgefasst mit dem Begriff der Ambivalenz zu umreißen ist. Ausgangspunkt dieser Argumentationslinie ist die von Nietzsche vor allem in der Schrift Jenseits von Gut und Böse (1886) und in Zur Genealogie der Moral (1887) vorgetragene Kritik moralischer Werte, bei der Nietzsche u. a. folgende Bedenken geltend macht: Man darf nämlich zweifeln, erstens, ob es Gegensätze überhaupt giebt, und zweitens, ob jene volksthümlichen Werthschätzungen und Werth-Gegensätze, auf welche die

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Metaphysiker ihr Siegel gedrückt haben, nicht vielleicht nur Vordergrunds-Schätzungen sind, nur vorläufige Perspektiven, [. . .] Frosch-Perspektiven gleichsam [. . .].14

Dieser These folgend, fehlt es den ethischen Wertsetzungen des kulturellen Systems aufgrund ihrer jeweils perspektivisch eingeschränkten Optik an einer Wahrnehmungsfähigkeit für die zwischen den statuierten Gegensätzen jeweils obwaltenden Vergleichspunkte, Verbindungslinien und Umschlagstendenzen. An die Stelle der logisch-semantischen Dichotomien, die jeden normativen Diskurs als eine Prozedur von Ein- und Ausschließungen konstituieren, setzt Nietzsches Jenseits von Gut und Böse deshalb die »verfängliche« Verwandtschaft »jener guten und verehrten Dinge [. . .] mit jenen schlimmen, scheinbar entgegengesetzten Dingen«.15 In das kulturphilosophische Räsonnement der Jahrhundertwende ist Nietzsches Gedanke von der Verwandtschaft des Wahren, Schönen und Guten mit seiner weniger respektablen Kehrseite auf vielfältige Weise eingeflossen. So lässt bekanntlich Hugo von Hofmannsthal im Brief des Lord Chandos diesen schmerzvollen Sprachskeptiker und Begriffs-Agnostiker erklären, er sehe sich selbst zu den alltäglichsten Formen der Unterscheidung von Gut und Böse ganz außer Stande. In etwa zur gleichen Zeit konstatierte der Psychiater Eugen Bleuler bei etlichen seiner Patienten die »gleichzeitige Anwesenheit einander entgegengesetzter Strebungen, Haltungen und Gefühle«, was Bleuler mit dem später dann durch Sigmund Freud vollends populär gewordenen Begriff der »Ambivalenz« bezeichnete;16 Musil dürfte dies Konzept direkt von Bleuler übernommen haben. Schon in seinem Aufsatz über Das Unanständige und Kranke in der Kunst von 1911 lieferte der Hinweis auf die Relativität moralischer Wertvorstellungen Musil das Argument, für die künstlerische Darstellung auch des Obszönen, Hässlichen und Kranken Partei zu ergreifen. »In Wahrheit gibt es keine Perversität oder Unmoral, die nicht eine sozusagen korrelate Gesundheit und Moral hätte.« (GW II, S. 982) ›Perversion‹, das Schlagwort der empörten Sittlichkeit, wird hierbei, im wörtlichen Sinne einer Technik des Umkehrens verstanden, Musils »Schlüssel zu der Kombinatorik« (GW II, S. 982), die »Ehr- und Kehrseite« (MoE, S. 1097 u. S. 1205) jeglicher Wertsetzung zusammenzudenken. Eine solche Kombinatorik von Ambivalentem hat Musil sodann in der Sozioskopie des Romans Der Mann ohne Eigenschaften systematisch erweitert und mit ideologiekritisch motivierter Satire zur entlarvenden Figurenzeichnung eingesetzt. Den Schwerpunkt der Durchführung des Ambivalenz-Kon14 15 16

Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse, in: ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden. Hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. Bd. 5: Jenseits von Gut und Böse. Zur Genealogie der Moral. München 1988, S. 9–243, hier S. 16. Ebd., S. 17. Vgl. Jean Laplanche, Jean-Bertrand Pontalis: Das Vokabular der Psychoanalyse [frz. 1967]. Unter der Leitung v. Daniel Lagache. Aus dem Französischen v. Emma Moersch. Frankfurt a. M. 1972, S. 55–58.

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zeptes bildet hierbei die bekannte Triade der Jugendfreunde Ulrich, Clarisse und Walter, in der die persönlichen Spannungen der sich auseinandergelebt habenden Zeitgefährten vor allem durch ihre unterschiedliche Haltung zu den beschriebenen modernen Ambivalenzphänomenen Ausdruck finden. In der Perspektive des unmerklich verspießerten Möchtegern-Künstlers Walter erscheint der »Mann ohne Eigenschaften« dabei als leibhaftiger Inbegriff des Zerfalls der Werte. »Als er fertig war, hatte er erkannt, daß Ulrich nichts ausdrücke als dieses aufgelöste Wesen, das alle Erscheinungen heute haben.« (MoE, S. 65) »Wen soll das tausendjährige Gerede darüber, was gut und bös sei, fesseln, wenn sich herausgestellt hat, daß das gar keine ›Konstanten‹ sind, sondern ›Funktionswerte‹« (MoE, S. 37), kontert hingegen der Erzähler, sich als Verbündeter der Hauptfigur zu erkennen gebend. Walters Diagnose einer im Verfall begriffenen Gegenwart beleuchtet dasselbe Phänomen von entgegengesetzter Warte. Seine zivilisationspessimistische Scheltrede, von der sich der Erzähler durch wörtliche Wiedergabe distanziert, rekurriert als negative Bezugnahme ebenfalls auf die Ambivalenzfigur der Neutralisierung gegensätzlicher Wertorientierungen: »Dann besteht zwischen einer Sonne und einem Zündholz kein Unterschied mehr, und zwischen dem Mund als dem einen Ende des Verdauungskanals und seinem anderen Ende auch keiner!« (MoE, S. 66) Diese und zahlreiche vergleichbare Passagen zeigen eine nahezu konstante Ausgestaltung des Prinzips der Ambivalenz, das figurenübergreifend der kulturphilosophischen Diskursebene des Romans mittels aphoristischer Bemerkungen und Sentenzen implementiert wird. Auch in Musils späterer Aphoristik ist die Denkfigur des Ambivalenzprinzips durchaus noch wirksam, doch zeigt sich ihre satirisch-kritische Schärfe dann deutlich abgemildert oder sogar abgestumpft, was sicherlich auch auf die Hinzunahme des oben beschriebenen kartographischen Verfahrens einer diskurskritischen ›Dekonstruktion‹ von Gegensatzbildungen zurückzuführen ist. Von dem aus Nietzsche und Bleuler gewonnenen Ambivalenzbegriff (erste Stufe) gelangt Musil über das Modell einer Feldstruktur dichotom verbundener Positionen (zweite Stufe) schließlich zu einer noch abstrakteren bzw. distanzierteren Ebene der metapolemischen Betrachtung, indem er als dritte und letzte Stufe eines nicht mehr konfrontativ eingebetteten Kritikverfahrens das Kalkül der großen Zahlen, statistischen Streukorridore und Wahrscheinlichkeitsrechnungen in die Kulturdiagnostik einführt. Den locus classicus für eine erzählerisch demonstrierte Entwertung des Einzelschicksals aufgrund des Kalküls der großen Zahlen stellt sicherlich die Darstellung des Autounfalls am Ende des ersten, berühmt gewordenen Romankapitels im Mann ohne Eigenschaften dar, an dem sich zunächst ein ganzes Panorama von regelmäßigen und unregelmäßigen Bewegungsabläufen mitsamt ihren potentiellen Zusammenstößen ausgebreitet findet, das sich sodann auf den singulären, bedauernswerten Vorfall eines vom Automobil

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angefahrenen Fußgängers verengt und zuspitzt. Die Vehemenz eines solchen Zusammenpralls bewegter Körper wäre geeignet, Anteilnahme und Mitgefühl der zufällig am Unfallort vorbeispazierenden Passanten auszulösen – doch wird über die gesamte Wucht des Ereignisses hinweggeredet durch den Verweis auf eine unvorstellbar hohe Zahl solcher und ähnlicher Vorfälle, die folglich in einem derart asymmetrischen Verhältnis zur menschlichen Erlebnisfähigkeit stehen, dass ein spontanes emotionales Investment der Augenzeugen des Geschehens besser von vornherein unterbleiben sollte. Nachdem zu Beginn des Kapitels die Hoch- und Tiefdruckgebiete auf der europäischen Wetterkarte mit ihren Eroberungszügen und Verteidigungslinien in symbolisch leicht zu entschlüsselnder Weise den kommenden Krieg nachspielten und damit dem ›Vater aller Dinge‹ (polemos) ihren zeitgeschichtlichen Tribut zollten, kommt in der Schadensbilanz am Ende des Kapitels das kollektive Schicksal der österreichischen Kriegstoten und Verwundeten nur mehr als chiffrierte Zahlenakrobatik zu Wort, so sehr auf eine metapolemische Abstraktionsstufe gehoben, dass die historische Signatur dadurch nahezu unkenntlich geworden ist.17 Das Konzept Metapolemik erlangt hierbei die großräumliche Bedeutung einer Betrachtungsweise ›über dem Kriegsgetümmel‹. Was Musil mit seinen statistischen Zahlenwerten an dieser strategisch exponierten Stelle evoziert, ist nichts anderes als die zeitgenössisch adäquate Erscheinungsform des Erhabenen – eine Machtdemonstration mathematischer Größe, die das Fassungsvermögen des menschlichen Verstandes rettungslos an sich abgleiten lässt. Musil hat die geschichtsphilosophischen Konsequenzen einer auf diese Abstraktionshöhe gehobenen statistischen Betrachtung lebensweltlicher Phänomene in seinen kulturtheoretischen Überlegungen mithilfe des vergleichenden Blicks auf die Gesetze der Thermodynamik näher ausgeführt und dabei den Ansatz einer molekularkinetischen Geschichtsauffassung vorgeschlagen. Deren Betrachtungsweise und allfällige Ergebnisse könnten sich nur mehr in einem aus Näherungswerten und Wahrscheinlichkeitsoptionen umrissenen Erwartungsraum bewegen, ohne dabei noch zu konkreten Aussagen über Einzelfälle zu gelangen. Die Geschichte wäre damit, zumindest im diegetischen Sinne, am Ende der Erzählbarkeit. »Es ist immer eine Arbeit mit Zufallshypothesen, u. entweder müßte man mit deren Reihe u Summe arbeiten oder mit deren Zusammenfassung.« (GW II, S. 831) 17

Das erste Kapitel des Romans und insbesondere die verwirrenden statistischen Angaben im Kontext der von den Figuren vorgenommenen emotionalen Normalisierung des Geschehens haben wiederholt die Aufmerksamkeit der Interpreten gefunden und können in einen zahlensymbolischen Bezug zum habsburgischen Kriegseinsatz gebracht werden. Vgl. Alexander Honold: Die Stadt und der Krieg. Raum- und Zeitkonstruktion in Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften. München 1995 (= Musil-Studien, Bd. 25), S. 88 f.; vgl. auch Ulrich Boss: Männlichkeit als Eigenschaft. Geschlechterkonstellationen in Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften. Berlin, Boston 2013 (= Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, Bd. 134), S. 42 ff.

Von der Polemik zur Meta-Polemik

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In jener essayistischen Perspektive, wie sie Musils Notizen und Reflexionen um die Mitte der 1930er Jahre vermehrt einnehmen, zeigt sich das statistische Geschichtsbild indes nicht von seiner verstörenden und desillusionierenden Seite, vielmehr ist es mit einer fast schon wieder beruhigenden immanenten Tendenz zur egalisierenden Selbstregulierung versehen. »Geschichte: Besteht aus den andauernden Anstrengungen die ebenso andauernden Verfallstendenzen nicht gewähren zu lassen. Jede historische Tat kommt in der mehrfachen Zeit ihrer eigenen Andauer auf nichts hinaus.« (GW II, S. 843) Steckt hinter Musils Aufschwung ins Metapolemische also letztlich der Vorschlag, angesichts einer fatal um sich greifenden Tendenz zu den ›einfachen Lösungen‹ gleichgeschalteter diktatorischer Staaten schicksalsergeben die Hände in den Schoß zu legen und auf die irgendwann von selbst wieder eintretende Schubumkehr zu hoffen? In manchen der Aphorismen scheint es tatsächlich so. Politik[:] Die grundlegende Erkenntnis der neuen Zeit ist, daß man, im Besitz der Brachialmittel, nichts zu fürchten hat. / Als zweites müßte wohl der nicht-individuelle Heroismus zur Sprache kommen. Das Davonlaufen im Krieg u. im Frieden. Das führt vielleicht auf einen Begriff: Passivität als moderne Waffe. (u. a: Wer im Leben aushält, bringt es zu etwas) (GW II, S. 853)

Was also war zu tun? Davonlaufen, noch zu rechter Zeit? Oder aber (wie Musils Protagonist im Roman empfiehlt) geschehen lassen, was ohnehin passiert? Nicht ohne Grund wird die resignative Geste in den aphoristischen Bemerkungen Mitte der 1930er Jahre zur bestimmenden, tonangebenden Haltung. Auf seinen Dichterlesungen in Zürich und Basel im November 1935 mochte Musil noch gehofft haben, dass die eingespielten zivilisatorischen Mechanismen zumindest in der neutralen Schweiz und bei derlei Veranstaltungen ihre Tragfähigkeit selbst dann noch bewahren würden, wenn sich der Gast nicht sicher sein konnte, ob bzw. für wie lange er in diesen Kreisen wirklich willkommen war. Unter dem Stichwort »Applaus« beschrieb Musil ein wiederholt auftretendes theatrales Gefühl der Selbstentwirklichung bei der Entgegennahme dieser ebenso flüchtigen wie rätselhaften, zivilisatorisch gut eingeübten Anerkennung für erbrachte geistige Leistungen. Wie der öffentliche Unfall, so beruht auch der öffentliche Beifall auf dem letztlich unberechtigten Gefühl, etwas Besonderes erlebt oder vollbracht zu haben. »Ich habe von Anfang an das Gefühl gehabt«, so schreibt Musil, »daß Applaus nicht mir gilt, nicht die direkte Beziehung zw. mir u denen ausdrückt, zu denen ich gesprochen habe, sondern, daß ich auf einen Knopf drücke u. den Applaus öffne.« (GW II, S. 833)

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Die Amsel oder Robert Musils Novellenpoetik als Gattungspolemik Abstract: The following essay focusses on the poetics of the novella in Robert Musil’s work. It outlines the sources and polemical elements of Musil’s poetics as exemplified by the novella Die Amsel and traces the transformation of the nineteenth-century novella traditions in this text. In so doing, it brings Musil’s novella poetics in dialogue with Georg Lukács’s theory of the modern Western novel as polemical literature.

1. Drei Vorbemerkungen 1.1 Georg Lukács und das polemische Erzählen in der Moderne1 Im Zwang zur Polemik hat der Kulturphilosoph und Literaturtheoretiker Georg Lukács das Grundmotiv der westlichen Kultur und Literatur seit der Mitte des 18. Jahrhunderts erkennen wollen: »[D]ie westeuropäische Kulturwelt wurzelt so stark in der Unentrinnbarkeit der sie aufbauenden Gebilde, daß sie niemals fähig sein kann, sich anders als polemisierend ihr entgegenzustellen.«2 Dieser Satz entstammt dem vielleicht bekanntesten Text von Lukács, seiner Theorie des Romans, die 1920 erstmals in Buchform erschien. Die Romane Tolstois etwa, so ist darin zu lesen, verdankten sich als »Gesinnungs- und Gestaltungssubstrate« einem Schreibimpuls, der sie als »eine solche schaffende Polemik möglich« gemacht habe;3 und zwar in Form einer »gestalteten Polemik gegen die Konvention«.4 Ähnlich – wenngleich unter anderen Voraussetzungen – argumentiert später Erich Auerbach, wenn er über 1 2 3

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Dieser Abschnitt basiert zum Teil auf meiner Habilitationsschrift Polemische Moderne. Stationen einer literarischen Kommunikationsform vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Göttingen 2020. Georg Lukács: Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik [1920/63]. München 2000, S. 130. Ebd. – Den Unterschied zum Roman der Vormoderne verdeutlicht die Arbeit von Werner M. Bauer: Fiktion und Polemik. Studien zum Roman der österreichischen Aufklärung. Wien 1978, bspw. S. 130–155: »Der Zusammenhang zwischen polemischem Programm und rhetorischem Gestaltungsmittel«. In den dort untersuchten Texten bleibt die Polemik Mittel zum Zweck, während Lukács die Interferenz des modernen Romans mit den polemischen Genesebedingungen der kulturellen Moderne anvisiert. Lukács: Theorie des Romans (Anm. 2), S. 144. Diese Formulierung findet sich interessanterweise nur im Inhaltsverzeichnis.

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die Romane Stendhals schreibt, in ihnen werde »die Wirklichkeit seiner Zeit als Widerstand [erlebt]«.5 Obwohl Lukács der Polemik einen zentralen Stellenwert für die ›bürgerliche‹ Erzählliteratur zuschreibt, führt er seine Überlegungen dazu in der Theorie des Romans nicht weiter aus – möglicherweise, weil die polemischen Intentionen seines eigenen Textes ohnehin offen zu Tage lagen.6 Auch der spätere Aufsatz Zur Frage der Satire von 1932 geht über die Bestimmungen der Polemik in der Theorie des Romans nicht hinaus. Allerdings wird von Lukács noch einmal der produktive Aspekt einer polemischen bzw. satirischen7 Schreibweise betont: »Die Satire ist [. . .] keine Literaturgattung, sondern eine schöpferische Methode«.8 Sie kann daher im Prinzip überall in der Erzählliteratur seit dem späten 18. Jahrhundert am Werk sein, selbst da, wo ein scheinbar ephemerer Alltag ›abgebildet‹ wird: Eine Kritik, eine Polemik [. . .] kann sich damit begnügen, die von ihr bekämpften Zustände auf ihre objektiven Grundlagen hin zu untersuchen und sie gerade dadurch zu bekämpfen, daß sie sie, so wie sie sind, darstellt. (Ich verweise auf Defoes ›Moll Flanders‹, auf Tolstois ›Anna Karenina‹, auf Zola, etc.).9

In dem Zitat versteckt sich ein Hinweis darauf, warum Lukács eine Explizierung seiner These, das Erzählen in der Moderne verdanke sich einem allgemein polemischen Impuls, im Kontext seiner Romantheorie schuldig geblieben ist. Sie ist nämlich in zwei umfassendere Denkmodelle eingebettet, aus denen sie ihre Plausibilität gewinnt: einerseits in eine linkshegelianische Geschichtsphilosophie, andererseits in eine normative ›Widerspiegelungsästhetik‹. Lukács’ Theorie des Romans versteht sich im Untertitel als »ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik«.10 Unverkennbar ist seine Argumentation von einer dem Marxismus nahestehenden Hegellektüre geprägt.11 Das literarische Erzählen fungiert für ihn gleichsam als Antithese zu einer Gesellschaft, die ihrerseits die Literatur jenseits von 5 6 7

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Erich Auerbach: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur [1946]. Tübingen, Basel 1994, S. 434. In der Neuausgabe von 1963 schreibt er rückblickend, der Text sei »nicht bewahrenden, sondern sprengenden Charakters« gewesen; Georg Lukács: Vorwort [zur Neuausgabe 1963], in: ders.: Theorie des Romans (Anm. 2), S. 5–17, hier S. 14. Polemik und Satire lassen sich zwar sowohl gattungs- als auch begriffsgeschichtlich voneinander abgrenzen; allerdings zeigt die konkrete Textpraxis, dass diese Abgrenzung, zumal im 20. Jahrhundert, in der Regel nicht durchgehalten bzw. bewusst unterlaufen wird. Auch Lukács verwendet ›Polemik‹ und ›Satire‹ oft synonym und ohne terminologische Trennschärfe. Georg Lukács: Zur Frage der Satire [1932], in: ders.: Essays über Realismus. Neuwied, Berlin 1971, S. 83–107, hier S. 107. Ebd., S. 100. Lukács: Theorie des Romans (Anm. 2), Titelblatt. Georg Lukács: Vorwort [zur Neuausgabe 1963], in: ebd., S. 5–17, hier S. 6: »Ich befand mich damals im Prozeß des Übergangs von Kant zu Hegel«. – Vgl. dazu auch Konstantinos Kavoulakos: Ästhetizistische Kulturkritik und ethische Utopie. Georg Lukács’ neukantianisches

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Verwertungslogiken weitgehend nihiliert.12 Es müsse daher fast zwangsläufig von einer polemischen Grundhaltung bestimmt sein, die sich gegen die eigenen Entstehungsbedingungen richte, um diese in einer historischen Synthese aufzuheben, für die Dostojewskijs Texte als »Anfang« einer »neuen Welt« einstehen sollen.13 Und Lukács fügt hinzu: »Bei Tolstoi waren Ahnungen eines Durchbruchs in eine neue Weltepoche sichtbar: sie sind aber polemisch, sehnsuchtsvoll und abstrakt geblieben«.14 Ganz ähnlich hatte schon Friedrich Engels in seinem Aufsatz Moderne Polemik (1840) argumentiert, als er die Notwendigkeit zur Polemik in der Vormärzliteratur mit ihrer geschichtsphilosophisch notwendigen Funktion als Antithese gegenüber etablierten Autoren, Diskursen und sozialen Verhältnissen begründet, die freilich in einer neuen Ästhetik aufgehoben und zum Verschwinden gebracht werden soll.15 Diese geschichtsphilosophische Grundierung sowie die daraus resultierende Einbindung in eine ›Widerspiegelungsästhetik‹16 führen dazu, dass die Bestimmung polemischen Erzählens bei Lukács stark inhaltlich motiviert ist. Eine »gestaltete Polemik gegen die Konvention« kommt für ihn in erster Linie durch die ästhetische Symbolisierung sozialer Verhältnisse im Geist der Gesellschaftskritik zum Tragen. Die Beispiele, die er anführt (Defoe, Tolstoi, Zola), unterstreichen diese Argumentation. So heißt es über Tolstois Erzählen in der Theorie des Romans: »Tolstois wertende und verwerfende Stellungnahme reicht in jedes Detail der Darstellung herunter. [. . .] Jedes Gespräch und jede Begebenheit erhält hiermit den Stempel dieses Gerichts, das der Dichter über sie vollzogen hat.«17 Tolstois »gestaltete Polemik gegen die Konvention« führe »in wenigen ganz großen Momenten« zu einer »Totalität«, für die die »Kategorien des Romans völlig unzugänglich wären«, weil sie »einer neuen Form der Gestaltung bedürfte«.18 Zumindest in diesem Fall erstreckt sich der polemische Grundimpuls eines solchen Schreibens nicht

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Frühwerk. Berlin 2014, S. 124–133: »Die theoretischen Grundlagen des ›geschichtsphilosophischen Versuchs‹«. Damit steht Lukács nicht allein; vgl. Michael Reiter: Philosophisches Unbehagen in der modernen Kultur. Der Protest gegen das Bürgerliche bei Botho Strauß, Amitai Etzioni, Carl Schmitt und Georg Lukács, in: Der Aufstand gegen den Bürger. Antibürgerliches Denken im 20. Jahrhundert. Hg. v. Günter Meuter u. Henrique Ricardo Otten. Würzburg 1999, S. 185–207, hier S. 198–205. Lukács: Theorie des Romans (Anm. 2), S. 137. Ebd. Friedrich Engels: Moderne Polemik [1840], in: Politische Avantgarde 1830–1840. Eine Dokumentation zum »Jungen Deutschland«. Hg. v. Alfred Estermann. 2 Bde. Frankfurt a. M. 1972, Bd. 2, S. 589–598. – Vgl. dazu das Kapitel »›Moderne Polemik‹: Friedrich Engels« in meiner oben (Anm. 1) genannten Habilitationsschrift, S. 304–308. Für diesen Zusammenhang vgl. Niklas Hebing: Unversöhnbarkeit. Hegels Ästhetik und Lukács’ Theorie des Romans. Duisburg 2009, S. 21–38. Lukács: Theorie des Romans (Anm. 2), S. 133 f. Ebd., S. 136.

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allein auf inhaltliche, sondern auch auf formale Belange; die freilich, darauf legt Lukács wert, nicht von »seiner [Tolstois] Gesinnung«19 getrennt werden können. Später wird Lukács im Zuge der ›Expressionismus-Debatte‹20 darauf bestehen, die »Polemik gegen die Konvention« habe sich inhaltlich gegen die bürgerliche Gesellschaft und ihre repräsentative Kultur zu richten, aber nicht durch Formexperimente, sondern durch eine ›realistische‹ Darstellung der »bekämpften Zustände«21 selbst. Nicht zufällig trägt seine abschließende Stellungnahme in dieser Auseinandersetzung den Titel Es geht um den Realismus (1938).22 Eine Konzentration auf die Form als Ziel moderner Literaturpolemik erscheint vor diesem Hintergrund sogar als kontraproduktiv, da sie eine Darstellung der Verhältnisse, »so wie sie sind«, verunmöglicht bzw. Formbelange gleichsam zwischen das Erzählen und das Erzählte schiebt. Robert Musil, der Die Theorie des Romans wenige Jahre nach ihrem Erscheinen gelesen hat, zog daraus jedenfalls die Schlussfolgerung, dass »man sich nichts mehr erzählen lassen« wolle, außer »wo die Ideologie fest ist« (GW 8, S. 1412). Musils Erzählweise folgt keineswegs den Dogmen von Lukács, auch wenn die gesellschaftspolitischen Dimensionen seines Romans Der Mann ohne Eigenschaften heute deutlicher zu Tage liegen.23 Nicht umsonst dient sie dem späten Lukács als Paradebeispiel für eine avantgardistische Erzählliteratur, deren Ziel im »Abschaffen der Wirklichkeit«24 bestehe: Bei Robert Musil [. . .] wird also das Pathologische zu einem Terminus ad quem der dichterischen Komposition. [. . .] Denn der Protest, den die Flucht ins Pathologische ausspricht, ist völlig abstrakt und leer, verurteilt die Wirklichkeit, aus der geflohen wird, rein summarisch und allgemein, sagt mit dem Protest nichts konkret Kritisches über diese aus.25

Dem stehe »ein konkreter Aufstand [. . .] gegen eine konkrete, gesellschaftlichgeschichtliche Wirklichkeit«26 in der realistischen Literatur gegenüber. Diese Zurechtweisung Musils, die sich mit dem Pathologievorwurf selbst dem in der Moderne gängigen polemischen Schema von gesund vs. krank ver19 20 21 22 23 24 25 26

Ebd. Die zentralen Beiträge dieser Auseinandersetzung sind gesammelt in: Die Expressionismusdebatte. Materialien zu einer marxistischen Realismuskonzeption. Hg. v. Hans-Jürgen Schmitt. Frankfurt a. M. 1973. Lukács: Zur Frage der Satire (Anm. 8), S. 100. Georg Lukács: Es geht um den Realismus [1938], in: ders.: Essays über den Realismus (Anm. 8), S. 313–343. Das ist vor allem der umfangreichen Arbeit von Norbert Christian Wolf zu verdanken: Kakanien als Gesellschaftskonstruktion. Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts. Wien, Köln, Weimar 2011. Georg Lukács: Die Gegenwartsbedeutung des kritischen Realismus [1957], in: ders.: Essays über den Realismus (Anm. 8), S. 457–603, hier S. 476. Ebd., S. 480. Ebd., S. 481.

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schreibt,27 entspricht dem ideologisch verhärteten Realismuskonzept des späten Lukács – und zeigt zugleich dessen Schwachstelle auf, einen normativen Wirklichkeitsbegriff nämlich, der im Sozialen bzw. in sozialen Konfliktlagen gründet. Die Abwehr Musils durch Lukács erfolgt freilich umso erbitterter, je evidenter die strukturelle Analogie ist. Denn man könnte Musils Erzählweise sogar eine noch radikalere Auslegung von Lukács’ Devise unterlegen, das Erzählen in der Moderne habe die Aufgabe, »die von ihr bekämpften Zustände auf ihre objektiven Grundlagen hin zu untersuchen und sie gerade dadurch zu bekämpfen, daß sie sie, so wie sie sind, darstellt«.28 Musils Erzählen befragt die »objektiven Grundlagen« der »Zustände« auf deren vermeintliche Objektivität hin und zielt damit auf die Konstitutionsbedingungen des Glaubens, die Dinge seien so, wie sie sind;29 was letztlich Lukács’ polemischen Wirklichkeitsbegriff seinerseits polemisch unterminiert. Emblematisch dafür ist der Anfang des Romans Der Mann ohne Eigenschaften, der in seiner meteorologischen Beschreibung eines »schönen Augusttages im Jahre 1913« (MoE, S. 9) auch als »gestaltete Polemik gegen die Konvention« eines realistischen Erzählens gelesen werden kann, das Wirklichkeitsbehauptungen aufstellt, die keinen anderen Ort haben als in der doxa konventionalisierter Alltagssprache – und der realistischen Romanliteratur selbst. Auch wenn Musil nicht primär als Polemiker in Erinnerung geblieben sein mag, der auf der Suche nach möglichst öffentlichkeitswirksamen Konflikten gewesen ist, so zeigt nichtsdestoweniger bereits die erste Seite seines großen Romanprojektes, dass auch sein Schreiben von einem polemischen Grundimpuls bestimmt gewesen ist, der freilich oft durch einen langen, ästhetisch überformten Reflexionsprozess gegangen ist. Schon das Gutachten zu Musils Dissertation von seinem Doktorvater Carl Stumpf monierte, der Kandidat werde noch »in der Form mildern müssen«.30 Und Musil selbst bekennt in einer Notiz, die sich im Nachlass findet, und die in unmittelbarem Zusammenhang mit seiner Novellenpoetik, genauer gesagt mit der Kritik an seinem Novellenband Vereinigungen, steht: »Ich trete mit meinem ganzen Denken für eine geistig kriegerische Kunst ein« (GW 9, S. 1833).31 Eine solche »kriegerische Kunst« wird aber notwendigerweise auch die Formen, in denen 27 28 29 30

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Vgl. das Kapitel »Pathologische Polemik« in meiner Habilitationsschrift: Polemische Moderne (Anm. 1), S. 443–454. Lukács: Zur Frage der Satire (Anm. 8), S. 100. Dies wird bei Musil bekanntlich unter dem Begriff des Möglichkeitssinns diskutiert; vgl. Wolf: Kakanien als Gesellschaftskonstruktion (Anm. 23), S. 199–257. Gutachten von Professor Carl Stumpf. In: Robert Musil: Beitrag zur Beurteilung der Lehren Machs [Diss. phil. 1908]. Reinbek b. Hamburg 1980, S. 136. – Über die Beziehung von Stumpf und Musil vgl. Artur R. Boelderl: Musil Mach Stumpf oder Der Roman als strenge Wissenschaft, in: Robert Musil und die modernen Wissenschaften. Hg. von Károly Kókai. Wien 2019, S. 47–74. Zur Kritik an dem Novellenband und Musils polemischen Reaktionen darauf vgl. unten, Kap. 3.

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eine Kultur sich manifestiert und mit denen sie kommuniziert, anzugreifen haben. In der Literatur betrifft das auch und gerade die Gattungen.32

1.2 Gattungspolemik Der Begriff ›Gattungspolemik‹ wird verhältnismäßig selten gebraucht und bezeichnet eine kritische bis ablehnende Haltung etablierten Gattungsmustern gegenüber.33 Dass damit Protagonisten einzelner Gattungen, Autoren wie exemplarische Werke, mitgemeint sind, versteht sich von selbst. Harald Gschwandtner hat am Beispiel von Peter Handkes Invektiven gegen den Familien- und Gesellschaftsroman in der Gegenwartsliteratur auf zwei wichtige Charakteristika der Gattungspolemik aufmerksam gemacht: Zum einen, dass sie vor allem auf der Ebene des Discours operiert, also wie etwas erzählt wird; und zum anderen, dass sie meist in ein literarhistorisches Narrativ von Aufstieg, Glanz und Verfall einzelner Gattungen eingebunden ist, »das nicht zuletzt auch ein Modell der Abnutzung literarischer Verfahren vorstellt«.34 Gattungskritik, und damit auch Gattungspolemik, ist freilich so alt wie die Literatur selbst. Schon Platon schließt in seinem idealtypischen Staat nicht die Dichter per se aus, sondern ›nur‹ die Dichter mimetischer Gattungen; so wie umgekehrt panegyrische Gattungen, nämlich »Hymnen auf die Götter und Lobgesänge auf die tüchtigen Männer«,35 einen festen Platz in seinem Staat erhalten sollen. Man kann sogar die Literaturgeschichte als eine Abfolge dominanter Gattungsmuster lesen, die jeweils eine spezifische Wirkmächtigkeit erlangt haben. Der Aufstieg des Romans, beispielsweise, ist nicht zuletzt die Geschichte vom Abstieg der Tragödie als kultureller Leitgattung. Literatursoziologisch lassen sich Gattungen auch als soziale Institutionen begreifen.36 Diese Annahme erleichtert das Verständnis, warum sie für 32 33

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Lukács’ Theorie des Romans gibt ja nicht zuletzt vor, eine historische Gattungsanalyse zu sein, bei der »die Aufbaukategorien des Romans auf den Stand der Welt konstitutiv auftreffen«; Lukács: Theorie des Romans (Anm. 2), S. 82. Der Begriff scheint im Umfeld der mediävistischen Forschung zum sogenannten ›Sängerkrieg‹ entstanden zu sein; vgl. Burghart Wachinger: Sängerkrieg. Untersuchungen zur Spruchdichtung des 13. Jahrhunderts. München 1973, S. 342: Registereintrag »Gattungsfragen, Gattungspolemik«. Dort auch der Hinweis (S. 116, Anm. 2) auf eine parallele Begriffsbildung bei Eberhard Lämmert: Reimsprecherkunst im Spätmittelalter. Eine Untersuchung der Teichnerreden. Stuttgart 1970, S. 144–164. Vgl. Harald Gschwandtner: »Fontane hat das vielleicht noch gekonnt«. Familiennarrativ und Gattungspolemik bei Peter Handke, in: Familie und Identität in der Gegenwartsliteratur. Hg v. Goran Lovrić u. Marijana Jeleč. Frankfurt a. M. 2016, S. 199–218, hier S. 204–206 (Zitat S. 206). Platon: Der Staat. Übersetzt von Ludwig Georgii, in: Platon: Sämtliche Werke. Hg. v. Erich Löwenthal. Heidelberg 1982, Bd. II, S. 5–407, hier S. 386. Vgl. Hans Robert Jauß: Theorie der Gattungen und Literatur des Mittelalters, in: Grundriß der romanischen Literaturen des Mittelalters. Bd. 1. Hg. v. dems. u. a. Heidelberg 1972, S. 110. – Vgl. auch Wilhelm Voßkamp: Gattungen als literarisch-soziale Institutionen. Zu Problemen sozial- und funktionsgeschichtlich orientierter Gattungstheorie und -historie, in: Textsortenlehre – Gattungsgeschichte. Hg. v. Walter Hinck. Heidelberg 1977, S. 27–44.

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die soziale Rhetorik der Polemik überhaupt zum ›Objekt‹ werden können.37 In ihnen gerinnen Lesesozialisationen, Leseerwartungen und mediale wie soziale Praktiken des Literaturbetriebs zu Formen, die einen mehr oder weniger stabilen Kern und eine gewisse, aber nicht beliebige Bandbreite an Variationsmöglichkeiten aufweisen. Spätestens mit dem Eintritt in die Moderne wurden eine Reihe von Gattungsnormen auf besondere Weise prekär.38 Denn einerseits bildeten sie jenen Erwartungshorizont, an dem sich das Publikum mit seinem literarischen Wissen orientieren konnte. Andererseits wurde von literarischen Texten immer häufiger verlangt, dass sie im Sinne einer Avantgardeästhetik gegen diese Publikumserwartung verstoßen und damit den Spielraum für die jeweilige Gattung schrittweise erweitern. Hans Robert Jauß schlägt vor, »den Kunstcharakter eines literarischen Werks« danach zu bestimmen, inwiefern es in der Lage ist, eine »Distanz zwischen Erwartungshorizont und Werk« aufzubauen, die »durch Negierung vertrauter oder Bewusstmachung erstmalig ausgesprochener Erfahrungen einen ›Horizontwandel‹ zur Folge haben kann«.39 Glücke dieser Wandel, so würde »die ursprüngliche Negativität des Werkes zur Selbstverständlichkeit«.40 Ähnlich wie Adorno in seiner ›negativen Ästhetik‹41 bestimmt Jauß den Kunstwerkcharakter eines Textes damit weitgehend polemisch, nämlich insofern er sich gegen »Erwartungen, die eine herrschende Geschmacksrichtung vorzeichnet«,42 richte. Diese Erwartungen aber sind meist an bestimmte Gattungsmuster geknüpft. Hatte Lukács in Bezug auf den Gehalt literarischer Erzähltexte in der westeuropäischen Kultur seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert einen Zwang zur Polemik erkennen wollen, so reformuliert Jauß – übrigens in deutlicher Abgrenzung zu Lukács43 – diese polemische Konstitution moderner Litera37

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Die Begriffe ›polemisches Subjekt‹ und ›polemisches Objekt‹ nach Jürgen Stenzel: Rhetorischer Manichäismus. Vorschläge zu einer Theorie der Polemik, in: Formen und Formgeschichte des Streitens. Der Literaturstreit. Hg. v. Franz Josef Worstbrook u. Helmut Koopmann. Tübingen 1986, S. 3–11; zur sozialen Dimension polemischer Rede vgl. bes. Peter von Matt: Grandeur und Elend literarischer Gewalt. Die Regeln der Polemik, in: ders.: Das Schicksal der Phantasie. Studien zur deutschen Literatur. München, Wien 1994, S. 35–42. Vgl. Werner Michler: Kulturen der Gattung. Poetik im Kontext 1750–1950. Göttingen 2015, S. 459–554. Hans Robert Jauß: Literaturgeschichte als Provokation. Frankfurt a. M. 1970, S. 177 f. Ebd., S. 178. Vgl. Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie [1970], in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 7. Hg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt a. M. 2003, bspw. S. 55: »Das Neue als Kryptogramm ist das Bild des Untergangs; nur durch dessen absolute Negativität spricht Kunst das Unaussprechliche aus, die Utopie«. – Zu Jauß’ Abgrenzung von Adorno, die insbesondere dessen Verabsolutierung eines normativen Autonomiebegriffes gilt, vgl. Hans Robert Jauß: Negativität und Identifikation. Versuch zur Theorie der ästhetischen Erfahrung, in: Positionen der Negativität. Hg. v. Harald Weinrich. München 1975, S. 263–339, hier S. 264–272. Jauß: Literaturgeschichte als Provokation (Anm. 39), S. 178. Ebd., S. 162, Anm. 45, wo es mit Blick auf Lukács’ Widerspiegelungsästhetik heißt: »Die Wirkung des Kunstwerks setzt beim Publikum demnach schon die richtige Gesamterfahrung

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tur auf der Ebene der Gattungspoetik und ihrer Rezeptionsmodi. Dort müsse die Literatur der Moderne ihre ästhetische Innovationskraft durch das Aufbrechen bzw. Erweitern von Gattungsnormen oder Gattungsmustern unter Beweis stellen.

1.3 Novelle um 1900 Das 19. Jahrhundert ist in der deutschen Literatur das Jahrhundert der Novelle, deren Etablierung als literarische Gattung in die Zeit um 1800 datiert.44 Diese »Novellenliebe« hat mehrere, größtenteils bekannte, Gründe.45 Der Siegeszug der Gattung speist sich unter anderem aus einem ästhetischen Vorbehalt gegen den Roman, dem man aufgrund fehlender formaler Kriterien einen Kunstwerkcharakter nicht restlos zugestehen will.46 ›Novelle‹ hingegen wird, unter Verweis auf ihren idealtypisch relativ stringenten Aufbau, zu einem »Distinktionsbegriff [. . .], zu dem sich eine wiedererkennbare und anschlussfähige Struktur gefunden hat«.47 Erinnert sei nur an die bekannte Charakterisierung durch den Novellisten Theodor Storm, der die Novelle zur »Schwester des Dramas« und zur »strengsten Form der Prosadichtung« adelt.48 Hinzu tritt ein mediengeschichtlicher Aspekt: Der literarische Markt wird im 19. und frühen 20. Jahrhundert stark von Zeitschriften bestimmt, die zwar auch Romane in Fortsetzungen abdrucken, für die sich aber die Novelle als kurze und geschlossene »Erzählprosa mittlerer Länge« mindestens ebenso eignet.49 Das hat eine starke Konventionalisierung der Novellistik als literarisches Massenprodukt zur Folge. So gesehen, ließe sich die Novelle als moderne Gattung par excellence beschreiben, da sie ohne die Infrastrukturen eines modernen Medienmarktes weder eine solche Verbreitung noch diese Geltung im Gattungssystem hätte erlangen können. Dennoch, oder gerade deshalb, wird die zeitgenössische Novellistik zu einem bevorzugten Objekt der Gattungspolemik am Ende des 19. Jahrhunderts. So richten sich die Kritischen Waffengänge, mit denen die Brüder Hart 1882 die Etablierung einer programmatischen Moderne einleiten,50 nicht nur gegen das »Ueberwuchern eines eklektischen Dilettantismus«

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voraus«. Tatsächlich geht es bei Lukács nicht um die Überschreitung eines formalen oder inhaltlichen Erwartungshorizontes, sondern um dessen Einlösung. Vgl. ausführlich Michler: Kulturen der Gattung (Anm. 38), S. 347–411. Vgl. Hannelore Schlaffer: Poetik der Novelle. Stuttgart, Weimar 1993, S. 79–82 (Zitat S. 79). Eine zeitgenössische Quelle ist Friedrich Spielhagen: Novelle oder Roman? [1876], in: Theorie des bürgerlichen Realismus. Eine Textsammlung. Hg. v. Gerhard Plumpe. Stuttgart 1985, S. 264–267. Michler: Kulturen der Gattung (Anm. 38), S. 356. Theodor Storm: Verteidigung der Novelle [1881], in: Theorie des bürgerlichen Realismus (Anm. 46), S. 268 f., hier S. 268. Vgl. Michler: Kulturen der Gattung (Anm. 38), S. 351 f. (Zitat S. 351). Vgl. Ingo Stöckmann: Naturalismus. Lehrbuch Germanistik. Stuttgart, Weimar 2011, S. 15 f.

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oder das »um sich fressende Castratenthum der Kritik«, sondern auch gegen die »Fluthwoge novellistischer Fabrikarbeit«.51 Allerdings führten solche Urteile keineswegs zu einem Abbruch der Novellenkonjunktur in der literarischen Moderne um und nach 1900. Zwar wurde die Novellistik mit sozialen oder psychologischen Themen angereichert und nicht zuletzt durch impressionistische Schreibverfahren auch formalästhetisch erheblich variiert.52 Dennoch blieb sie erstaunlich anschlussfähig an die Gattungsmuster aus dem 19. Jahrhundert.53 Drei Gründe scheinen mir dafür verantwortlich zu sein. Erstens konnte die Novelle mit ihrer relativen Kürze und dem pyramidalen Plot, der ein einzelnes Ereignis und dessen Wirkungen ins Zentrum stellt, noch in ihren experimentelleren Varianten auf ein relativ festes Schema zurückgeführt werden, das mit älteren Leseerfahrungen abgeglichen werden konnte.54 Zweitens spielten Kulturzeitschriften und Zeitungen als genuiner Erstveröffentlichungsort von Novellen weiterhin eine zentrale Rolle; auch wenn deren Titel nun anders lauteten, und sie sich teilweise an ein jüngeres Publikum wandten.55 Und drittens war die Novellistik des 19. Jahrhunderts, die mit ihren etablierten Erzählverfahren noch immer die Gattungserwartungen prägte, keineswegs durch die Moderne vom Buchmarkt verdrängt worden. Sammlungen wie Meister-Novellen neuerer Erzähler (1909) oder die 1922 von Max Tau initiierte Publikationsreihe Die deutsche Novelle hielten eine der Tradition verpflichtete Novellistik der »deutschen Gemütswärme«56 mit Nachdrucken und Neuauflagen in teils hohen Verkaufszahlen präsent.57 Der Gattungshorizont der Novellistik in der literarischen Moderne war damit trotz aller Formexperimente immer noch zu großen Teilen derjenige des 19. Jahrhunderts; gegen ihn musste sich eine 51 52 53 54 55 56

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Heinrich und Julius Hart: Kritische Waffengänge. Heft I. Leipzig 1882, S. 6. Vgl. den Abschnitt »Die Novelle um die Jahrhundertwende« bei Winfried Freund: Novelle. Stuttgart 1998, S. 230–261. Zu dieser Absorptionsfähigkeit der Novelle als »Prosaform mit der höchsten poetisierenden Energie« vgl. auch Schlaffer: Poetik der Novelle (Anm. 45), S. 203–205 (Zitat S. 204). Dass dem »Lesehorizont, der den Gattungstypus geformt hat«, eine entscheidende Rolle in der Gattungsgeschichte der modernen Novelle zufällt, unterstreicht auch Germán Garrido Miñambres: Die Novelle im Spiegel der Gattungstheorie. Würzburg 2009, S. 166. Vgl. im Überblick Günter Butzer, Manuela Günter: Literaturzeitschriften der Jahrhundertwende, in: Naturalismus, Fin de siècle, Expressionismus 1890–1918. Hg. v. York-Gothart Mix. München, Wien 2000, S. 116–136. Richard Wenz: Einleitung, in: Meister-Novellen neuerer Erzähler. Hg. v. dems. Leipzig 1909, S. 5–17, hier S. 17. – Zur populären Wirkungsgeschichte dieser Art von Novellistik zählt, dass das benutzte Exemplar, ausweislich des Besitzerstempels, einem Biergroßhändler in Zella-Mehlis (Thüringen) gehörte. Vgl. Sascha Kiefer: Die deutsche Novelle im 20. Jahrhundert. Eine Gattungsgeschichte. Köln, Weimar, Wien 2010, S. 120–122. – Die Arbeit von Kiefer widmet sich vorrangig einer »klassizistischen Novellenauffassung« (S. 65), wie sie die Publikationsreihe Die deutsche Novelle vertrat. Das hätte freilich verlangt, die Quelle im Titel als Zitat zu markieren. Andernfalls wird der Eindruck einer Gesamtdarstellung suggeriert, der gerade nicht angestrebt ist.

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entsprechende Gattungspolemik sowohl theoretisch als künstlerisch unvermindert richten.

2. Die Amsel Ein in Musils Nachlass erhaltenes Typoskript einer Vorstufe seines Erzähltextes Die Amsel (1928) kommt ohne Gattungsbezeichnung aus.58 Eine Reihe von inhaltlichen und strukturellen Anhaltspunkten, sowie die Tatsache, dass man den Text auch in der Kontinuität von Musils novellentheoretischen Überlegungen lesen kann, legen es freilich nahe, ihn im Gattungsrahmen der Novelle zu diskutieren.59 Vor diesem Hintergrund wird er hier als Beispiel für eine literarisch-produktive Gattungspolemik gelesen, bevor er im Schlussabschnitt in den (polemischen) Kontext von Musils Novellenpoetik eingebettet werden soll. Die Gattungspolemik beginnt bereits beim titelgebenden Vogel. Es ist eben nicht »der Falke« Paul Heyses60 (und nicht einmal die durch Romeo und Julia geadelte Nachtigall), sondern eine profane Amsel. In seinen aus dem Jahr 1938 bzw. 1939 datierenden novellentheoretischen Überlegungen zum Band Vereinigungen (1911) wird er den »Falken« als Erzählelement karikieren:61 Ein Schriftsteller [Otto Stoessl], Epigone im besten Sinn (d. h. sauberer Traditionalist, von nichts Ungefügem geplagt) schrieb eine Kritik: Ich hätte kein Verständnis für das Wesen der Novelle, daß man im Gleichnis des Falken ausdrücke. (Wohl daß der Sinn bei wohlgebauter Erzählung aus ihr am entscheidenden Punkt wie ein Falke aufsteigen müsse – nach KF . Meyer oder Keller). Er hatte keine Ahnung von der Abneigung gegen das Erzählen, die hinter diesen zwei Novellen war. (Tb I, S. 934)

Doch auch der Veröffentlichungskontext wirft gattungspolemische Fragen auf. Denn anders als in dem Nachlasstyposkript erscheint Die Amsel bei ihrer Erstveröffentlichung im Januar 1928 in der Neuen Rundschau mit der Gattungsbezeichnung »Erzählung«; und zwar gleich zweifach: einmal zu Beginn des Textes, als Gattungszuweisung nach dem Titel, ein anderes Mal auf dem 58

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Nach der Klagenfurter Ausgabe KA/Mappe III/3/17. Auch die Nachlassmanuskripte, die Walter Busch und Ingo Breuer zusammengestellt haben, kommen ohne Gattungsbezeichnung aus: Robert Musil. Die Amsel. Kritische Lektüren – Letture critiche. Materialien aus dem Nachlaß. Hg. v. Walter Busch u. Ingo Breuer. Bozen, Innsbruck 2000, S. 258–331. Das ist, soweit ich sehe, in der Musilforschung Konsens; vgl. Birgit Nübel: Art. Novelle, in: Robert-Musil-Handbuch. Hg. v. Birgit Nübel u. Norbert Christian Wolf. Berlin, Boston 2016, S. 663–669, hier S. 663. Der Artikel von Elmar Locher zur Amsel im Musil-Handbuch (ebd., S. 334–340) spricht überwiegend von dem Text als einer Novelle. Paul Heyse: Einleitung, in: Deutscher Novellenschatz. Hg. v. Paul Heyse u. Hermann Kurz. München 1871, S. V–XXIV, hier S. XX . Vgl. Nübel: Art. Novelle (Anm. 59), S. 663.

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Cover der Zeitschrift.62 Gerade die Nennung dort ist bemerkenswert, denn beinahe jedes Heft der Neuen Rundschau aus diesen Jahren annonciert auf dem Titelblatt einen Erzähltext explizit als Novelle. Auch die meisten Hefte des Jahrgangs 1928 beinhalten einen Text mit dieser Gattungsbezeichnung; das erste Heft aber kündigt statt einer Novelle eine Erzählung an: »Robert Musil, Die Amsel (Erzählung)«.63 Diese Ankündigung verlangt nach einer Erklärung, die je nachdem unterschiedlich ausfällt, ob man Robert Musil eine Mitverantwortung an der Gattungsbenennung zubilligt oder nicht. Dafür spricht, dass sie sich direkt über dem Text nochmals befindet, der Musil mit hoher Wahrscheinlichkeit als Druckfahne vorgelegen hat. Zudem war Musil, wenngleich mehr als zehn Jahre zuvor, selbst Mitarbeiter der Neuen Rundschau gewesen;64 gewisse Einflussmöglichkeiten könnte man ihm daher zugestehen. In diesem Fall könnte die Gattungszuweisung als eine Distanzierungsgeste des Autors gegenüber der zeitgenössischen Novellenproduktion, beispielsweise in der Neuen Rundschau, verstanden werden – wobei man auch an die berühmte Geburtstagsnummer für Thomas Mann im Juni 1925 denken darf, in der sich der Jubilar mit einem eigenen Text beschenkte, der auf dem Titelblatt wie folgt angekündigt wurde: »Thomas Mann, Unordnung und frühes Leid (Novelle)«.65 Im anderen Fall, dass die Gattungszuweisung durch die Redaktion erfolgte, würde das einmal mehr auf die relative Stabilität novellistischer Gattungsmuster aus dem 19. Jahrhundert hindeuten. Musils Erzähltext entsprach demzufolge wohl so wenig dem gattungshistorischen Erwartungshorizont, dass man sich für die neutralere und im Grunde unbestimmte Gattungszuweisung »Erzählung« entschieden hätte. Wie dem auch sei, es lassen sich eine Reihe von Merkmalen aus der Novellentradition in dem Text wiederfinden, allerdings in polemischer Absicht. So besteht er etwa aus einer Rahmen- und einer Binnenerzählung. Die Rahmenerzählung berichtet von zwei Männern, die sich seit Langem kennen: »Die beiden Männer, deren ich erwähnen muß – um drei kleine Geschichten zu erzählen, bei denen es darauf ankommt, wer sie berichtet –, waren Jugendfreunde; nennen wir sie Aeins und Azwei.« (GW 7, S. 548) Aeins und Azwei: das sind ungewöhnliche Namen für literarische Figuren. Sie ähneln eher Positionen in wissenschaftlichen Experimenten oder in mathematischen Gleichungen.66 Tatsächlich ist Die Amsel immer wieder als literarisches Ex62 63 64 65 66

Die Neue Rundschau 39 (Januar 1928), S. 36 und Titelblatt. Ebd., S. 36. – Das Februarheft 1928 der Neuen Rundschau kündigt auf dem Cover an: »Wilhelm Lehmann, Verführerin, Trösterin (Novelle)«, das Märzheft »Hans Reisiger, Not und Verklärung (Novelle)« usw. Vgl. das betreffende Kapitel bei Karl Corino: Robert Musil. Eine Biographie. Reinbek b. Hamburg 2003, S. 467–495. Die Neue Rundschau 36 (Juni 1925), Titelblatt. Vgl. Peter Horn: »Wenn ich den Sinn wüßte, so brauchte ich dir wohl nicht erst zu erzählen«. Zu Robert Musils Die Amsel, in: Euphorion 81 (1987), S. 391–413, hier S. 394 f.

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periment gelesen worden: »Es liegt nahe, das Organisationsprinzip dieser Erzählung als das des Experiments zu bezeichnen«.67 Der Text ist freilich nicht allein aus purer Experimentierlust entstanden, sondern versteht sich mindestens ebenso sehr als polemische Provokation konventionalisierter Gattungsmuster novellistischen Erzählens. Sogar die ›Experimentierfreude‹ kann dabei als polemischer Seitenhieb auf Paul Heyse verstanden werden, der in seiner Novellenpoetik mit szientistischem Vokabular jongliert: »[S]elbst der tiefste ideelle Gehalt des einzelnen Falles wird wegen seiner Einseitigkeit und Abgetrenntheit – der Isolirung des Experiments, wie die Naturforscher sagen – nur einen relativen Werth behalten«.68 Die Rahmenerzählung der Amsel ruft ein weiteres Gattungselement der Novellentradition auf, nämlich den mündlichen Erzählakt und die Vertrautheit der Gesprächspartner.69 Ähnliches kennt man bereits aus dem Decamerone. Allerdings verweigert Musil mit der Benennung Aeins und Azwei eine, dem Realismusprinzip entsprechende, sozialweltlich konkrete Verortung des Erzählaktes. Er bleibt letztlich im abstrakten Raum der literarischen Formen beheimatet, so dass eine Überführung in die gesellige Konversation als sozialen Raum der alteuropäischen Novellistik von vornherein unmöglich gemacht wird.70 Darüber hinaus wird der Erzählrahmen am Anfang zwar geöffnet, am Ende aber nicht wieder geschlossen. Die Stimme des extradiegetischen Erzählers aus der Rahmenhandlung kehrt nicht zurück; vielmehr behält der intradiegetische Erzähler Azwei das letzte Wort, das zudem ausgesprochen vage ausfällt: »Das ist die dritte Geschichte, wie sie enden wird, weiß ich nicht« (GW 7, S. 562). Von der geschlossenen Form der Novelle und ihren narrativen Absicherungen, die nicht zuletzt ihre Konsumtion erleichtern, bleibt hier vergleichsweise wenig übrig. Über diese Form bemerkte der, mit Thomas Mann befreundete, Literaturwissenschaftler Ernst Bertram in seiner Dissertation zu den Novellen Adalbert 67

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Karl Eibl: Die dritte Geschichte. Hinweise zur Struktur von Robert Musils Erzählung Die Amsel, in: Poetica 3 (1970), S. 455–471, hier S. 456. – Dagegen der Einwand bei Peter Henninger: Schreiben und Sprechen. Robert Musils Verhältnis zur Erzählform am Beispiel von »Drei Frauen« und »Die Amsel«. In: Modern Austrian Literature 9 (1976), H. 3/4, S. 57–99, hier S. 59: »Musil hat in keiner Phase seines Schaffens je ›Erzählexperimente‹ angestellt, im Sinne systematischer, dem Vorgehen der Naturwissenschaften vergleichbarer Schreibversuche«. Allerdings räumt Henninger ein, Musils Erzählweise sei durch »offensichtliche Irregularitäten« gekennzeichnet, die sich als »Abweichungen von einer Norm« beschreiben lassen (ebd., S. 60). Auf diesen Punkt kommt es bei der Amsel letztlich an. – Für die Einordnung als Experiment plädiert jüngst wieder Christoph Hoffmann: Drei Geschichten. Erzählen als experimentelle Operation bei Musil (und Kleist), in: »Es ist ein Laboratorium, ein Laboratorium für Worte«. Experiment und Literatur III . 1890–2010. Hg. von Michael Bies u. Michael Gamper. Göttingen 2011, S. 162–180. Heyse: Einleitung (Anm. 60), S. XVIII . Vgl. Christine Lubkoll: Fingierte Mündlichkeit – inszenierte Interaktion. Die Novelle als Erzählmodell, in: Zeitschrift für germanistische Linguistik 36 (2008), S. 381–402. Zu diesem auf Boccaccio zurückgehenden Gattungsmuster vgl. Schlaffer (Anm. 45), S. 11–16.

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Stifters, die »Rahmentechnik« diene dort »dem Zurückdrängen der eigentlichen Handlung«.71 Genau diese Distanzierung dem Geschehen gegenüber hebt der Schluss der Amsel radikal auf. Ihre letzte Geschichte dauert in der Gegenwart des Erzählens und seiner Rezeption unvermindert an.72 Aber was erzählt Azwei eigentlich? Wie angekündigt drei Geschichten, die jedoch unterschiedlicher kaum sein könnten. In der ersten berichtet er davon, dass er seine Frau verlassen hat, weil eine vermeintliche Nachtigall, die sich als Amsel herausstellt, vor seinem Fenster gesungen hat. Die zweite Geschichte berichtet von einem Kriegserlebnis: Über Azwei wird ein Fliegerpfeil abgeworfen, der knapp neben ihm einschlägt. In der dritten und letzten Geschichte kehrt Azwei ins Haus seiner Kindheit zurück. Seine Mutter ist gerade gestorben, da sitzt wieder eine Amsel auf dem Fensterbrett und spricht zu ihm: »Ich bin deine Mutter« (GW 7, S. 561). Diesmal behält er den Vogel in einem Käfig. Die meisten Leser des Textes werden sich ähnlich wie Aeins fragen, ob »dies alles einen Sinn gemeinsam hat?« (GW 7, S. 562).73 Darauf antwortet Azwei: »Du lieber Himmel, [. . .] es hat sich eben alles so ereignet; und wenn ich den Sinn wüßte, so brauchte ich dir wohl nicht erst zu erzählen. Aber es ist, wie wenn du flüstern hörst oder bloß rauschen, ohne das unterscheiden zu können!« (GW 7, S. 562) Diese Antwort verweist neben dem thematischen auch auf den gattungspoetischen Zusammenhang der drei Geschichten. Sie nehmen die »unerhörte Begebenheit«, welche Goethe gegenüber Eckermann als das konstitutive Merkmal der Novelle bestimmt hatte,74 beim Wort: »[D]enn was ist eine Novelle anders als eine sich ereignete, unerhörte Begebenheit. Dies ist der eigentliche Begriff, und so vieles, was in Deutschland unter dem Titel Novelle geht, ist gar keine Novelle, sondern bloß Erzählung oder was Sie sonst wollen.«75 Goethes Novellendefinition beinhaltet offensichtlich einen polemischen Kern, der sich gegen etablierte Formen der Novellistik als ›kurze Erzählung‹ richtet.76 Und auch Goethe nimmt seine ei71 72 73 74 75 76

Ernst Bertram: Studien zu Adalbert Stifters Novellentechnik. (Diss. phil. Bonn 1907). Dortmund 1907, S. 41. Im Anschluss an Eibl: Die dritte Geschichte (Anm. 67), S. 463. Vgl. auch Kai Löser: Das Ich und das Andere. Identität, Sinn und Erzählen in Die Amsel von Robert Musil, in: The German Quarterly 83 (2010), S. 297–316. Zur Bedeutung dieser Novellendefinition für die Gattungsgeschichte vgl. Freund: Novelle (Anm. 52), S. 33 f. Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens [1836– 1848]. Hg. v. Regine Otto unter Mitarbeit von Peter Wersig. Berlin, Weimar 1982, S. 194 f. Vgl. Michler: Kulturen der Gattung (Anm. 38), S. 367–371. – Zum Frühwerk Goethes unter polemischen Vorzeichen vgl. Norbert Christian Wolf: Streitbare Ästhetik. Goethes kunst- und literaturtheoretische Schriften 1771–1789. Tübingen 2001. Zum späten Goethe als Polemiker vgl. den Abschnitt »Goethe und der ›polemische Teil‹ der ›Farbenlehre‹« in meiner Habilitationsschrift, S. 210–227 (Anm. 1).

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gene Definition beim Wort, insofern das Gehör – im Gegensatz zum Sehsinn – eine wichtige Funktion in dem Text erhält.77 In den drei Geschichten von Azwei in der Amsel spielen gleichfalls akustische Phänomene eine zentrale Rolle.78 In der ersten und letzten ist es der Gesang eines Vogels, der dann in der letzten, in einer halb traumhaften Sequenz, zu sprachlichen Lauten mutiert. Und in der zweiten Geschichte ist es das Geräusch, das der durch die Luft surrende Fliegerpfeil verursacht:79 »Es war ein dünner, singender, einfacher hoher Laut, wie wenn der Rand eines Glases zum Tönen gebracht wird; aber es war etwas Unwirkliches daran; das hast du noch nie gehört, sagte ich mir.« (GW 7, S. 556) Das ›Unerhörte‹ dieser akustischen Phänomene bezieht sich aber nicht nur auf das Außergewöhnliche ihres Auftretens: der seltene Ruf einer vermeintlichen Nachtigall, das ›Singen‹ des Fliegerpfeils, die sprechende Amsel in der letzten Geschichte. All diese akustischen Signale sind jeweils verbunden mit einer existentiellen Wendung im Leben von Azwei.80 Im Grunde geht es jedes Mal um Grenzerfahrungen, die an der Grenze des Hör- und Sagbaren liegen:81 »Aber es ist, wie wenn du flüstern hörst oder bloß rauschen, ohne das unterscheiden zu können!« (GW 7, S. 562)82 Vielleicht erhalten diese Erfahrungen gerade deshalb eine artikulationsfähige Semantik erst in einem 77 78

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Vgl. Bernhard Jahn: Das Hörbarwerden des unerhörten Ereignisses. Sinne, Künste und Medien in Goethes Novelle, in: Euphorion 95 (2001), S. 17–37. Das ist von der Forschung wiederholt vermerkt worden; vgl. etwa Bernhard Siegert: Rauschfilterung als Hörspiel. Archäologie nachrichtentechnischen Wissens in Robert Musils Amsel, in: Robert Musil – Dichter, Essayist, Wissenschaftler. Hg. v. Hans-Georg Pott. München 1993, S. 193–207. Die Fliegerpfeil-Episode geht auf verschiedene Vorstufen und Fragmente im Nachlass zurück, die größtenteils abgedruckt sind bei Walter Busch und Ingo Breuer: Robert Musil. Die Amsel (Anm. 58), S. 289–303. Zum »Fliegerpfeil-Erlebnis« Musils vgl. auch den gleichnamigen Abschnitt bei Rosmarie Zeller: Von den Notizen im Krieg zum literarischen Text. Textgenetische Studien zu Musils Nachlass, in: Musil-Forum 34 (2015/16), S. 59–78, hier S. 73–76. Vgl. Wolfram Mauser: »Es hat sich eben alles so ereignet . . .«. Zu Musils Erzählung Die Amsel, in: Literatur als Dialog. Festschrift zum 50. Geburtstag von Karl Tober. Hg. v. Reingard Nethersole. Johannesburg 1979, S. 405–423, hier S. 415 f. – Auf die existentielle Dimension, die der Text für Musil selbst besessen hat, verweist Walter Busch: Die ›Sekunde einer gelungenen Gebärde‹. Robert Musils Novelle Die Amsel, in: Robert Musil. Die Amsel (Anm. 58), S. 183–224, hier S. 183 f. Am Beispiel der Fliegerpfeil-Episode erläutert das Peter Berz: Der Fliegerpfeil. Ein Kriegsexperiment Musils an den Grenzen des Hörraums, in: Armaturen der Sinne. Literarische und technische Medien 1870 bis 1920. Hg. v. Jochen Hörisch u. Michael Wetzel. München 1990, S. 265–288. Zu diesem Zitat im Kontext einer Poetologie des Hörens vgl. Bernadette Malinowski: ». . . wie wenn du flüstern hörst oder bloß rauschen.« Versuch über das Geräusch bei Robert Musil, in: Auf den Schultern des Anderen. Festschrift für Helmut Koopmann. Hg. v. Andrea Bartl u. Antonie Magen. Paderborn 2008, S. 297–326. – Zum wissensgeschichtlichen Hintergrund vgl. auch Britta Herrmann: Auralität und Tonalität in der Moderne. Aspekte einer Ohrenphilologie, in: dies. (Hg.): Dichtung für die Ohren. Literatur als tonale Kunst. Berlin 2015, S. 9–32, hier S. 15–26.

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mündlichen Erzählakt, der selbst auf dem akustischen Phänomen der menschlichen Stimme basiert.83 Für die Novellenstruktur von Musils Erzähltext hat diese »unerhörte Begebenheit«, die aus drei voneinander getrennten Geschehnissen besteht, jedoch weitreichende Konsequenzen. Einerseits bildet sie, im Sinne Goethes, den strukturellen Kern der Geschichten. Andererseits lässt sie sich eben nicht mehr auf eine einzige Begebenheit reduzieren, weil erst der (akustische) Zusammenhang zwischen allen drei Geschichten das Unerhörte als Grundmotiv dieses Erzählens hervortreten lässt. In einer solchen ›Aufsplitterung‹ oder ›Zertrümmerung‹ tradierter Novellenformen zeigt sich einmal mehr, wie kritisch Musil der Novellentradition des 19. Jahrhunderts gegenüberstand. In dieser Hinsicht kann Die Amsel als eine Antwort auf Musils eigene novellentheoretische Überlegungen erscheinen, die beide von gattungspolemischen Intentionen begleitet, wenn nicht gar initiiert worden sind.

3. Die Novelle als Problem Ein Jahr nach Veröffentlichung der Amsel erschien 1929 in der Zeitschrift für Deutschkunde ein Aufsatz über Die strenge »Novellen«form und die Problematik ihrer Zertrümmerung.84 Verfasser war der Germanist und Schriftsteller Adolf von Grolmann (1888–1973).85 Ob er Musils Erzähltext gekannt hat, muss Spekulation bleiben; dessen Name taucht jedenfalls in dem Aufsatz nicht auf. Ähnlich wie Musil sieht auch von Grolmann die Gattungsmuster der Novelle aus dem 19. Jahrhundert unter den Bedingungen der literarischen Moderne zunehmend problematisch werden. Das signalisiert schon der erste Satz seiner Abhandlung: »Die ›Novelle‹ steht mit allem, was etwa noch zu ihr gehören könnte, mündlich und schriftlich zur Diskussion«.86 Anders als Musil macht er dafür aber nicht eine überlebte Tradition, sondern die Moderne selbst verantwortlich. Wie alle anderen, so ist auch die Vokabel: Novelle – vogelfrei geworden. Mehr noch: ihr entspricht kein klarer und sicherer Begriff, kaum eine ästhetisch erlebte Anschauung, welche allenfalls den Mißbrauch der Vokabel entschuldigen und die Folgen davon abschwächen könnte. Ganz im Gegenteil, auch auf diesem Gebiet ist die moderne Zerfaserung in gefährlichem Vordringen.87

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Die Erzählproblematik des Textes erläutert im Detail Massimo Salgaro: La difficoltà del narrare. Forme e strutture in Die Amsel di Robert Musil. Verona 2003. Adolf von Grolmann: Die strenge »Novellen«form und die Problematik ihrer Zertrümmerung, in: Zeitschrift für Deutschkunde 43 (1929), S. 609–627. Vgl. als zeitgenössische biobibliographische Quelle Philipp Leibrecht: Adolf von Grolman, in: Die Neue Literatur 33 (1932), S. 58 f. von Grolmann: Die strenge »Novellen«form (Anm. 84), S. 609. Ebd., S. 610.

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Mit dieser stereotypen Modernekritik, einstmals organische Formen würden durch die technisierte Moderne »zertrümmert« bzw. »zerfasert« und damit weltanschaulich entwertet,88 steht von Grolmann nicht allein. Vielmehr bildet gerade die Gattungsdiskussion um die Novelle eine exemplarische ›Kampfzone‹ zwischen Vertretern eines konservativen bzw. antimodernen und eines progressiven bzw. emphatisch-modernen Literaturbegriffs.89 Das ist insofern nicht verwunderlich, als die Novelle mit ihren zwar wenigen, für die jeweiligen Gattungszuschreibungen aber relativ festen Strukturmerkmalen einen Erzähltypus bildet, der unter das Primat einer scheinbar strengen Form zu stehen und damit für (neo)klassizistische und konservative Literaturvorstellungen besonders anschlussfähig ist. Mehr noch: Erst in dieser Diskussion der 1920er Jahre werden die bis dahin eher lockeren bzw. divergenten Strukturmerkmale der Novelle endgültig festgeschrieben und ›auf Linie gebracht‹.90 So endet der Aufsatz von Grolmanns mit der Empfehlung, »es müsste eine Harmonie höherer Art Platz greifen, in der das Erlebnis novellistischer Art sich zu jener Formklarheit hinfände, welche das Charakteristikum der echten ›Novellen‹form ist«.91 Mit »der echten ›Novellen‹form« ist jener Typus der Boccaccio-Novelle gemeint, der eine Handlung stringent und in gebotener formaler Geschlossenheit erzählt. Der letzte, der diese Novellenform beherrscht habe, sei, so von Grolmann, Paul Heyse gewesen.92 Danach nur noch Trümmer und Verfall. Auch wenn sich die Gattungspolemik um die Novelle in den weltanschaulich verhärteten Diskussionen der Zwanziger Jahre deutlich verschärfte, so reicht der zugrunde liegende Antagonismus von tradierten Gattungsmustern und dem formsprengenden Imperativ im Kunstsystem der Moderne, den Georg Simmel als »Kampf [. . .] gegen die Form überhaupt, gegen das Prinzip der Form«,93 beschrieben hat, weit tiefer. So klagte Rudolf Gottschall über die »moderne Novelle« bereits im Jahr 1856: »Was ist aus dem heitern Kind des Boccaccio in dieser wenig romantischen Zeit des Crédit mobilier geworden?«94 Auch Robert Musils gattungspolemische Texte zur Novelle, die scheinbar auf die Diskussion der Zwanziger Jahre reagieren, sind tatsäch88 89 90 91 92

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Vgl. Georg Bollenbeck: Tradition, Avantgarde, Reaktion. Deutsche Kontroversen um die kulturelle Moderne 1880–1945. Frankfurt am Main 1999, S. 207–210. Vgl. Kiefer: Die deutsche Novelle (Anm. 57), S. 72–78. Ebd., S. 10: »Die immer wiederkehrenden Merkmale einer Novelle [. . .] werden erst in dieser Phase hypostasiert«. von Grolmann: Die strenge »Novellen«form (Anm. 84), S. 627. Ebd., S. 626. – Immerhin lässt von Grolmann die Option offen, dass »die typische Sparsamkeit der echten ›Novellen‹form, ihre immanente Ruhe, und die herbe, konzise, geschliffene Art ihres Seins modernen Wünschen nach Gerafftheit, Fehlen von Schnörkeln und nach allerlei Sachlichkeit geradezu entgegen [käme]« (ebd., S. 627). Georg Simmel: Der Konflikt der modernen Kultur [1918], in: ders.: Gesamtausgabe. Bd. 16. Hg. v. Gregor Fitzi und Otthein Rammstedt. Frankfurt a. M. 1999, S. 181–207, hier S. 185. Rudolf Gottschall: Die moderne Novelle (1856), in: Plumpe: Theorie (Anm. 46), S. 256 f., hier S. 256.

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lich weitgehend vor dem Ersten Weltkrieg entstanden. Veranlasst wurden sie durch die überwiegend negative Aufnahme des Bandes Vereinigungen (1911). In diesen Notizen und kurzen essayistischen Texten, deren polemischer Schreibimpuls mehr oder weniger offen zu Tage liegt, entwirft Musil nichts weniger als »ein Programm modernen Erzählens«.95 Der erste Abschnitt jener Literarischen Chronik, die Musil im Juni 1914 in der Neuen Rundschau veröffentlichte, ist mit dem programmatischen Titel überschrieben: Die Novelle als Problem (GW 9, S. 1465 f.). Darin wird zunächst die Novelle als »Handelsartikel« (GW 9, S. 1465) von der Novelle als Kunstform abgegrenzt, wobei die Übergänge durchaus fließend sein können. Für den Autor letzterer gilt: Eine plötzliche und umgrenzt bleibende geistige Erregung ergibt die Novelle. [. . .] In diesem einen Erlebnis vertieft sich plötzlich die Welt oder seine Augen kehren sich um; an diesem einen Beispiel glaubt er zu sehen, wie alles in Wahrheit sei: das ist das Erlebnis der Novelle. Dieses Erlebnis ist selten und wer es öfters hervorrufen will, betrügt sich. (GW 9, S. 1465)

Man kann das als poetologischen Vorgriff auf Die Amsel lesen;96 und als polemischen Angriff auf eine zeitgenössische Novellistik durch einen »Denker«, der »weiß, bei welchen inneren Feldzügen man sich auf die eine, bei welchen auf die andre Waffe stützen muß«, und »der nicht gackert, wo sich nur ein Ei in ihm regt, sondern Einfälle für sich behalten kann« (GW 9, S. 1465). Dieser Novellentheoretiker ist unschwer als ›polemisches Subjekt‹ im Sinne Jürgen Stenzels zu erkennen.97 Sein ›polemisches Objekt‹ bildet »eine beliebte Auffassung« der Novelle, die »Schmückung längst öffentlicher, gemeinbesessener Fälle verlangt« (GW 8, S. 1324). Dieses Zitat entstammt Musils Text Novelleterlchen, einem essayistischen Fragment, das auf 1912 datiert worden ist (GW 8, S. 1323–1327). Es beginnt mit einer ironischen Rekapitulation konventioneller Gattungsmuster der Novelle und ihnen konvergierender Leseerwartungen:98 Novelle ist: Ein sauber verschnürtes Päckchen mit einer kleinen Überraschung beim Aufmachen. Ein Funkelstein (von Einfall) à jour gefasst, sagt Federmann. Oder auch: es kommt eine Welle, verknotet sich, löst sich, verklingt, verschwingt (denn so ist das Leben); das Knötchen bildet das Geschehnis der Novelle. (GW 8, S. 1323) 95 96

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Nübel: Art. Novelle (Anm. 59), S. 664. Wie bspw. Bianca Cetti Marinoni: Die Amsel: teoria e prassi musiliane della novella »ideale«, in: Robert Musil. Die Amsel (Anm. 58), S. 13–28, hier S. 16: »come una sorta di autointerpretazione preventiva della novella«. Dadurch wird im Übrigen deutlich, dass sich das »ideale« im Titel des Aufsatzes auf Musils Novellenkonzeption und nicht auf eine überzeitliche Gattungsnorm bezieht. Vgl. Stenzel: Rhetorischer Manichäismus (Anm. 37). Die Behauptung, dass »Musil mit Theorie und Geschichte der Novelle kaum vertraut war«, lässt sich kaum aufrechterhalten; sie ist nachzulesen bei Nanda Fischer: »Eine plötzliche und umgrenzt bleibende geistige Erregung . . .«. Zum Novellenbegriff Robert Musils, in: Monatshefte 65 (1973), S. 224–240, hier S. 224.

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Diese, obgleich wenigen und wenig präzisen, formalen Merkmale würden dazu führen, dass man der Novelle per se eine literarästhetische Qualität zuspräche: Aus einer gewissen Geringfügigkeit sucht man einen Kunstwert zu machen, der eine Sonderstellung der Novelle begründen soll. [. . .] Es hört sich sachlich, recht artistisch-technisch an und hat zur Folge, daß die Novelle eine friedliche Enclave bildet, in der heute noch Schriftsteller von [. . .] sanftem geistigen Postkutschenrhytmus als Meister gelten: v. Heyse, v. Saar, v. Ebner-Eschenbach als Beispiel. (GW 8, S. 1323)

Solche Gattungsmuster und ihre Autoren gehören für Musil offensichtlich dem Ancien Régime an, wie die polemische Namensreihung schreibender Adliger bzw. geadelter Schreiber zeigt.99 Doch während die Novellistik (von) Heyses für von Grolmann noch fünfzehn Jahre später das unerreichte Vorbild der Gattung bildet, gilt sie Musil schon vor dem Untergang der Habsburgermonarchie als Ausdruck einer ›Welt von gestern‹.100 Die Novelle der Moderne müsse hingegen, so Musil, weniger um inhaltliche Probleme kreisen, »sondern um das Problematische des Erzählens« (GW 8, S. 1323) selbst. Mit anderen Worten: Novellistisches wie jedes andere Erzählen nach dem Postkutschenzeitalter sollte sich nicht zuletzt kritisch-reflexiv zu seinen eigenen Ermöglichungsbedingungen verhalten.101 Das setzt freilich einen polemischen Grundimpuls gegenüber vermeintlich selbstverständlichen Gattungskonventionen und eine ihnen entsprechende Textproduktion voraus. Bereits im Entwurf zu einem Vorwort für den Novellenband Vereinigungen hat Musil das – nicht publizierte – Eingeständnis niedergeschrieben, »daß diese Erzählungen durch den Ekel am Erzählen geformt sind« (GW 8, S. 1315). Hier ist zugegebenermaßen Georg Lukács’ Argument nicht mehr fern, das Erzählen in der Moderne sei vor allem »gestaltete Polemik gegen die Konvention«;102 auch wenn Lukács, wie gesehen, eher soziale und Musil eher ästhetische Konventionen im Auge gehabt haben dürfte. Hier wie dort steht jedoch der literarästhetisch produktive Gehalt der Polemik im Zentrum, die eben nicht in der puren Negation stehenbleibt, sondern eine ästhetische Ein ähnliches Argumentationsmuster findet sich schon bei Heinrich Heine, etwa in der Einleitung zu: Kahldorf über den Adel in Briefen an den Grafen M. von Moltke (1831). Es gewinnt seine Brisanz aus der Französischen Revolution, durch die »die ganze Zeitgeschichte [. . .] jetzt nur eine Jagdgeschichte« geworden sei, wie Heine süffisant anmerkt; Heinrich Heine: Sämtliche Schriften. Hg. von Klaus Briegleb. Bd. 2.3., durchgesehene Auflage. München, Wien 1995, S. 653–667, hier S. 667. 100 Vgl. Kathleen O’Connor: Robert Musil and the Tradition of the German Novelle. Riverside 1992. 101 Vgl. dazu Florentine Biere: Unbekanntes, für das man als erster Worte findet. Robert Musils Novellentheorie, in: Die Grenzen des Sagbaren in der Literatur des 20. Jahrhunderts. Hg. v. Sabine Schneider. Würzburg 2010, S. 53–71. 102 Lukács: Theorie des Romans (Anm. 2), S. 145.

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Form zu gewinnen sucht.103 Musils Novelleterlchen endet mit dem Hinweis, man müsse für die Novelle »eine neue Technik finden [. . .], von besonderem Ausgleich. Es wäre zunächst gut, wenn man einsehen würde, daß hier eine gesucht werden soll.« (GW 8, S. 1327) Tatsächlich wird Musil nach dem Ersten Weltkrieg trotz – oder wegen – aller Gattungspolemik erneut als Novellist in Erscheinung treten. Zwar trägt sein Erzähltext Grigia, als er 1921 im Dezemberheft der Münchner Zeitschrift Der neue Merkur publiziert wird, noch die Gattungsbezeichnung »Erzählung«104 – was im Journalkontext, wie gesehen, besonders auffällig erscheinen mag. Die Buchausgabe von 1923 führt hingegen die Gattungsbezeichnung »Novelle« im Titel; ebenso wie der Band Drei Frauen von 1924, der neben Grigia noch zwei weitere Erzähltexte enthält.105 In Anbetracht der polemischen Auseinandersetzung, die Musil der Novelle in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg zuteil werden lässt, kann man diese Gattungszuweisung durchaus als Provokation betrachten – oder als Fortführung der Gattungspolemik mit künstlerischen Mitteln. Die Texte zeigen nämlich die spezifische Produktivität, die dieser polemische Schreibimpuls bei Musil entfaltet. Er nimmt seinen Ausgang in glossierenden Notizen und Kommentaren, die sich oft einem konkreten Leseeindruck verdanken. Im wiederholten Überschreiben der Textfragmente und Notizen weicht die explizite Polemik zunehmend einem reflexiven Moment, bis sie in essayistische Argumentationszusammenhänge – wie beispielsweise den Text Die Novelle als Problem – eingepasst werden kann. Dort erfährt sie in der Regel eine rhetorische Entschärfung oder zumindest eine intellektuelle Sublimierung. Während für die meisten Autoren der polemische ›Fall‹ damit erledigt ist, wirken bei Musil die polemischen Schreibimpulse mehr oder weniger untergründig in der ästhetischen Produktion fort: Erst in seinen eigenen literarischen Texten, die sich auch und gerade in ihrer Gattungswahl gegen dominierende zeitgenössische Strömungen positionieren und »eine neue Technik« bzw. alternative Erzählformen dazu aufzeigen, vollendet sich dieses polemische Schreiben;106 und zwar, in den Worten von Lukács, als »gestaltete Polemik gegen die Konvention«. Von der Gattungspolemik ihren Ausgang nehmend, führen die novellentheoretischen Überlegungen Musils zur Produktion von Novellen, die 103 Eine ähnliche Konvergenz lässt sich auch für die Gattung des Essays feststellen; vgl. Niklaus Largier: Zeit der Möglichkeit. Robert Musil, Georg Lukács und die Kunst des Essays. Hannover 2016. 104 Der neue Merkur (Dezember 1921), S. 587: »Grigia. Erzählung von Robert Musil«. 105 Grigia. Novelle von Robert Musil. Potsdam 1923; Robert Musil: Drei Frauen. Novellen. Berlin 1924. 106 In diesem produktiven Moment hebt sich die von Musil konstatierte Dichotomie von Satire und Dichtung wieder auf bzw. geht ein neues Wechselverhältnis ein; vgl. Christian van der Steeg: 50 Jahre Karl Kraus. Robert Musils Differenzierung Dichtung/Satire, in: Musil-Forum 33 (2013/14), S. 162–176.

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den »Postkutschenrhytmus« ein für allemal hinter sich lassen wollen.107 Am Schlusspunkt dieser Entwicklung steht der Erzähltext Die Amsel (1928),108 der zugleich einen Wendepunkt in der Geschichte des Erzählers Robert Musil markiert, der sich von da ab auf die Form des Romans, und zwar durchaus auch in gattungspolemischer Absicht, konzentriert. Unbeschadet ihrer erzählerischen Innovationen ist es dabei nicht zuletzt die polemische Wendung gegen die Gattungskonventionen – und damit auch gegen Institutionalisierungsformen einer bürgerlichen Lese- und Medienkultur –, welche die Modernität der Novelle Die Amsel unter den Bedingungen einer »polemischen Moderne« ausmacht.

107 Ähnliches lässt sich von Hermann Brochs Methodologischer Novelle (1918) sagen, die freilich trotz aller Experimentierfreude stärker in der Erzähltradition des 19. Jahrhunderts wurzelt; vgl. die luzide Analyse von Gunther Martens: Spielräume des auktorialen Diskurses bei Hermann Broch: Eine methodologische Novelle, in: Orbis Litterarum 59 (2004), S. 239–269, bes. S. 266 f. 108 Zum werkgenetischen Zusammenhang zwischen dem Novellenband Drei Frauen und der Amsel vgl. Henninger: Schreiben und Sprechen (Anm. 67), bes. S. 73: »Was insbesondere Drei Frauen anbelangt, bringt die in Die Amsel zur Anwendung gelangende erzähltechnische Apparatur die versteckte narrativische Struktur der darin enthaltenen Erzählungen an den Tag«.

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Häuserkampf Musil und das Neue Wohnen Abstract: In the etymological tradition of the word, polemics must be understood not so much as a rhetorical strategy but rather as a philosophical and intellectual struggle. With this in mind, most texts by Robert Musil are not polemic in style but become polemic when seen in their discursive and sociopolitical context. In this article I argue that Musil’s contributions to the ongoing public debate on modern dwelling and housing in the Weimar Republic turn out to be polemic when read in their historical and discursive context. As their literary conception – and reception – was determined by the growing impact and complexity of booming media such as daily newspapers and culture magazines, I pay special attention to the interplay between Musil’s critical essays on domestic architecture and the overwhelming number of images that surround them.

Wo es Polemik geben soll, muss Krieg herrschen, mindestens ein Glaubenskrieg. So jedenfalls will es die Etymologie des Wortes. Die Polemik deutscht die griechische polemiké téchn¯e ein, die Kriegstechnik oder militärische Strategie. Und diese wiederum gehorcht Polemos, dem Herrn des kydoimós, des Schlachtgetümmels, und der alalá, des Kriegsgeschreis.1 Das Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft definiert Polemik demzufolge als »aggressive, auf Bloßstellung und moralische oder intellektuelle Vernichtung abzielende, gleichwohl argumentierende Kritik am Gegner in einem Streit«.2 Es geht hier also um die soziale Pragmatik eines besonderen Sprechakts. Und genau das ist der springende Punkt, wenn man von der Polemik zur Literatur kommen will. Polemiken sind keine puren rhetorischen Projekte, sondern kommunikative Effekte im umfassenderen Sinn. Die spätantike und frühneuzeitliche Rhetorik in der römischen Tradition hat sich denn auch kaum für die polemische Rede interessiert.3 Und auch der griechische Mythos bleibt vor 1 2 3

Vgl. Wolfgang Speyer: [Art.] Polemik, in: Der neue Pauly. Enzyklopädie der Antike. Bd. 10. Hg. v. Hubert Cancik u. Helmuth Schneider. Stuttgart, Weimar 2001, Sp. 4–5. Vgl. Sigurd Paul Scheichl: [Art.] Polemik, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Bd. 3. Hg. v. Jan-Dirk Müller u. a. Berlin, New York 2003, S. 117–120, hier S. 117. Das Historische Wörterbuch der Rhetorik stellt dazu nüchtern fest: »Jede anfängliche Beschäftigung mit der P[olemik] und ihrer Geschichte ist zunächst ernüchternd: Weder existiert ›P[olemik]‹ als rhetorischer Fachbegriff, noch gibt es eine ausgebildete Lehre von ihr als Typus einer Redegattung«, und spricht von der »historisch gewachsenen Vielschichtigkeit, ja Schwammigkeit des Begriffs«. Hermann Stauffer: [Art.] Polemik, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hg. v. Gert Ueding u. a. Bd. 6. Tübingen 2003, Sp. 1403–1415, hier Sp. 1403. Vgl. ähnlich auch Scheichl: [Art.] Polemik (Anm. 2), S. 118.

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ihr stumm. Erst in Rom wird Bellum, der Krieg, mit eisernen Riegeln hinter doppelten Türen eingeschlossen und von Ianus ängstlich bewacht.4 Umso beredter ist die Vorvergangenheit der modernen Polemik in der allegorischen Literatur der alten Griechen und in der Philosophie der Vorsokratiker. Sie heben beide die abstrakten Voraussetzungen hervor, unter denen konkrete Sätze im Streit allererst polemisch werden. So deutet Heraklit Polemos als den allmächtigen Vater der Trennung und Differenzierung, ohne die es keinen Dissens zwischen Menschen und Meinungen geben kann: »Krieg ist aller Dinge Vater, aller Dinge König. Die einen erweist er als Götter, die anderen als Menschen, die einen macht er zu Sklaven, die anderen zu Freien.«5 Und nach dieser Grundsatzerklärung von Heraklit erklärt später auch Martin Heidegger die Polemik zum Prinzip der philosophischen Auseinandersetzung schlechthin.6 Reden wir über Polemik, dann sprechen wir also immer über ein intellektuelles Schlachtgetümmel in einem konkret gegebenen gesellschaftlichen Rahmen. Mitten in einem solchen Getümmel hat auch Robert Musil seine Texte über das Wohnen in der Moderne geschrieben und veröffentlicht.7 Die Urbanisierung hatte das Wohnen im langen 19. Jahrhundert zum Hotspot der ›sozialen Frage‹ gemacht.8 Und die Rationalisierung, Standardisierung und Typisierung des Wohnens nach dem Ersten Weltkrieg setzte es dann schlagwortartig als ›Wohnungsfrage‹ zuoberst auf die Tagesordnung der öffentlichen Debatten in der Weimarer Republik.9 Wie um die Neue Frau oder das Neue Sehen entflammte in den 1920er Jahren auch um das Neue Wohnen für einen Neuen Menschen ein offener Glaubenskrieg.10 Hier pflanzte sich die Phalanx aus wertkonservativem Heimatstil und reaktionärer deutscher Baukunst auf, dort standen die Partisanen des Neuen Bauens und eines avantgardistischen International Style. Allerdings waren die Fronten nur auf dem 4 5

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8 9 10

Vgl. Stephanie Thurmann: [Art.] Polemos, in: Der neue Pauly. Bd. 10 (Anm. 1), Sp. 10. Heraklit, Fragment B 53. Zit. nach Hermann Diels: Die Fragmente der Vorsokratiker. Griechisch und Deutsch. Hg. v. Walther Kranz. 3 Bde. Dublin, Zürich 1972, S. 162. Zur Deutung des griechischen pólemos im Sinne eines allgemeinen differenzierenden Prinzips vgl. Gregory Fried: Heidegger’s Polemos: From Being to Politics. New Haven (CT), London 2000, S. 21–28. Vgl. ebd., S. 28–42. Zur Aktualität und (gesellschafts-)politischen Brisanz der philologisch aufbereiteten Polemik in den 1920er Jahren vgl. Glenn Most: Πόλεµος πάντων πατήρ. Die Vorsokratiker in der Forschung der Zwanziger Jahre, in: Altertumswissenschaft in den 20er Jahren. Neue Fragen und Impulse. Hg. v. Hellmut Flashar. Stuttgart 1995, S. 87–114. Zu Musils Architekturtexten vgl. Hans-Georg von Arburg: [Art.] Architektur, in: Robert-Musil-Handbuch. Hg. v. Birgit Nübel u. Norbert Christian Wolf. Berlin, Boston 2016, S. 691–695. Vgl. Clemens Zimmermann: Wohnen als sozialpolitische Herausforderung. Reformerisches Engagement und öffentliche Aufgaben, in: Die Geschichte des Wohnens. Bd. 3: 1800–1918: Das bürgerliche Zeitalter. Hg. v. Jürgen Reulecke. Stuttgart 1997, S. 503–636. Vgl. Gert Kähler: Nicht nur Neues Bauen, in: Die Geschichte des Wohnens. Bd. 4: 1918–1945: Reform, Reaktion, Zerstörung. Hg. v. Gert Kähler. Stuttgart 1996, S. 303–452. Aus der inzwischen recht breiten Forschung zum Thema vgl. exemplarisch zum theoretischen (H. Plessner) und gesellschaftspolitischen Zusammenhang nach wie vor grundlegend Helmut

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Papier so klar. In der Praxis verlief die Linie dazwischen oft kreuz und quer. Und genau das reizte den Zeitkritiker Musil zu Streifzügen durch dieses verminte Gelände mit seinem symptomatischen soziokulturellen Profil. Musils Stellungnahmen zum Neuen Wohnen sind denn auch selten im engeren Sinne polemisch, erst die Umstände machen sie dazu. Darin zeigt sich einerseits ein typischer Zug von Musils Schreiben im Allgemeinen. Viele seiner Texte funktionieren ja so, dass sie Probleme eher umstellen als direkt angreifen und dass die von ihm aufgegriffenen Themen erst im Gegenlicht anderer Texte brisant werden. Es zeigt sich darin andererseits aber auch eine Eigentümlichkeit der literarischen Polemik im Besonderen. Denn diese verdankt ihre Schlagkraft oft weniger der eigenen Wortgewalt als vielmehr fremden Wortgefechten, die ihre Argumente vorbereiten, ihre Rhetorik begleiten und ihre Wirkung verstärken. Die Polemik ist bei Musil also ein für das Gesamtwerk paradigmatischer Spezialfall. Und seine Texte zum Wohnen sind dafür ein nur scheinbar abseitiges Paradebeispiel. Diese These möchte ich an einigen exemplarischen Textstellen und ihren Kontexten ausführen. Im Mittelpunkt steht zuerst der Mann ohne Eigenschaften. Programmatisch geht es in den ersten Kapiteln des Romans um Ulrichs Wohnung und um die Frage, wie sich dieser in seinem Haus und damit in seinem Leben neu einrichten kann. Später wird diese Frage von Ulrich im Gespräch mit Agathe zur Gretchenfrage der Moderne schlechthin erklärt. Ihre kämpferische Note erhält sie durch die Verstrickung mit der zeitgenössischen Debatte um das Neue Wohnen. Und diese Debatte wurde nicht nur mit schlagenden Argumenten, sondern vor allem auch mit schlagkräftigen Bildern geführt. Wie diese Bilder unter veränderten Umständen ihrem polemischen Gehalt mitspielen, lässt sich exemplarisch am Essay Türen und Tore aus dem Nachlaß zu Lebzeiten zeigen. In dieser Sammlung essayistischer bis feuilletonistischer Kurzprosa nimmt Musil alte Themen und Texte wieder auf, die er für Tageszeitungen und Zeitschriften geschrieben hatte, und reflektiert sie neu und ausdrücklich im Zeichen der Polemik. Gleichzeitig wird das Polemische an diesen Texten als poetischer und hermeneutischer Bedingungszusammenhang von ihm aber auch in Frage gestellt. Und damit steht die zweite Frage im Raum: Wie denn kontingente und obsolete Umgebungen die Ästhetik von Musils polemischem Schreiben bestimmen und wie sie das Verständnis dieser Schreibweise auch längerfristig mitbestimmen. Lethen: Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen. Frankfurt a. M. 1994; zur Debatte in der Architektur (am Beispiel von Brechts Bauhaus-Kritik in der Erzählung Nordseekrabben von 1926) speziell S. 163–170; zum architektonischen Spezialdiskurs und seinem gesellschaftlichen Führungsanspruch Tanja Poppelreuter: Das Neue Bauen für den Neuen Menschen. Zur Wandlung und Wirkung des Menschenbildes in der Architektur der 1920er Jahre in Deutschland. Hildesheim 2007; zur literarischen Auseinandersetzung mit dem Neuen Wohnen Ines Lauffer: Poetik des Privatraums. Der architektonische Wohndiskurs in den Romanen der Neuen Sachlichkeit. Bielefeld 2011.

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1. Neues Wohnen, neues Leben! – Der Mann ohne Eigenschaften »Sage mir, wie du wohnst, und ich sage dir, wer du bist!« Diese »Drohung« aus dem fünften Kapitel des Mann ohne Eigenschaften bringt das Wesen und die Nöte des Protagonisten auf den Punkt (MoE, S. 19 f.). Durch »Haus und Wohnung« lernt man den Mann ohne Eigenschaften im zweiten Kapitel zuallererst kennen: als kühlen Beobachter der Moderne »hinter einem der Fenster«, der die unterdrückten Emotionen im Ankleidezimmer seines »Jagd- und Liebesschlößchen[s] vergangener Zeiten« an einem Boxball abreagiert (MoE, S. 11–13). Das billige Schlösschen hat er nur aus Abscheu vor gewöhnlichen Wohnungen gemietet. Als er das Sammelsurium von Stilen aus den vergangenen drei Jahrhunderten dann aber »mit den Ansprüchen der Gegenwart [. . .] verbinden« will, kostet ihn das so viel Geld, dass er es mit dem angepumpten Vater verdirbt. Denn »auch ein Mann ohne Eigenschaften hat einen Vater mit Eigenschaften«, wie man im dritten Kapitel erfährt (MoE, S. 13–15). Und dieser billigt zwar das »Bedürfnis« seines Sohnes »nach Häuslichkeit und eigener Ordnung«. Aber es schockiert den sozialen Aufsteiger »die Aneignung eines Gebäudes, das man, und sei es auch nur im Diminutiv, nicht umhin konnte als ein Schloß zu bezeichnen« und es »verletzte sein Gefühl und ängstigte es als eine unheilverheißende Anmaßung« (MoE, S. 14). Das »Ganze«, Mann und Haus im Sinne einer patriarchalischen Ordnung,11 hat darum von Anfang an »einen etwas verwackelten Sinn, so wie übereinander photographierte Bilder« (MoE, S. 12). Der Mann ohne Eigenschaften hat offenbar nicht nur ein Wohnungsproblem. Er wird damit geradezu identifiziert. Und darum bekommt dieses Wohnungsproblem im fünften Kapitel auch einen Namen: Es heißt »Ulrich« (MoE, S. 18–21). Aber hat es auch ein Gesicht? Vor eben diese Frage stellt die oben zitierte Drohung »Sage mir, wie du wohnst, und ich sage dir, wer du bist!« den Helden und seine Leser. Diktiert wird sie von der Architekturphysiognomik, die in der Weimarer Republik ein überraschendes Revival erlebte. Von anthropologisch interessierten Architekturtheoretikern im 18. Jahrhundert entwickelt,12 wurde die physiognomische Interpretation von Häusern und Wohnungen im frühen 20. Jahrhundert als schweres Geschütz im Kampf zwischen national-konservativen Baumeistern und der internationalen Architekturavantgarde eingesetzt.13 Das ›deutsche 11 12 13

Vgl. zur genealogischen Klammer zwischen Häusern, Hausbesitzern und Hausbewohnern in der bürgerlichen Moderne Nacim Ghanbari: Das Haus. Eine deutsche Literaturgeschichte 1850–1926. Berlin, New York 2011. Vgl. Ulrich Schütte: Aufklärung, Empfindsamkeit und die Krise der Architektur um 1800. Zu den Untersuchungen über den Charakter der Gebäude, in: IDEA . Jahrbuch der Hamburger Kunsthalle 8 (1989), S. 57–74. Vgl. dazu unter einem disziplingeschichtlichen Blickwinkel Daniela Bohde: Kunstgeschichte als physiognomische Wissenschaft. Kritik einer Denkfigur der 1920er bis 1940er Jahre. Berlin 2012.

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Abb. 1a: Vorderer Umschlag von Paul Schultze-Naumburgs Das Gesicht des deutschen Hauses (1929), Le Corbusiers (über den Buchrücken abfallende) ›schlechte‹ Weißenhof-Doppelvilla versus das ›gute‹ Herrschaftshaus um 1800.

Haus‹ und die ›Neue Baukunst‹ standen sich hier face to face gegenüber (Abb. 1a und 1b).14 Der physiognomische Streit um das richtige Zuhause provozierte auf beiden Seiten Kurzschlüsse: soziologische, psychoanalytische, rassenbiologische usw. Und genau dagegen sträubt sich Ulrich und sträubte sich offensichtlich auch Musil. Der Autor stellt seine Figur allerdings nicht frontal in den Gegenwind. Er lässt sie vielmehr am Steuer der Mimikry dagegen aufkreuzen. Dabei gehen Musil und Ulrich ganz planmäßig vor, um in drei Schritten ins Planlose zu kommen. Vor der Aufgabe, sein Haus zu bestellen, sucht Ulrich zuerst Rat bei zeitgenössischen Wohnungseinrichtern: Er hatte sich in die angenehme Lage versetzt, sein verwahrlostes kleines Besitztum nach Belieben vom Ei an neu herrichten zu müssen. Von der stilreinen Rekonstruktion bis zur vollkommenen Rücksichtslosigkeit standen ihm dafür alle Grundsätze 14

Vgl. dazu am Beispiel von Paul Schultze-Naumburg und Adolf Behne Hans-Georg von Arburg: »Sage mir, wie du baust, und ich sage dir, wer du bist!« Physiognomik in der Architekturpublizistik der Weimarer Republik, in: Im Lichte Lavaters. Lektüren zum 200. Todestag. Hg. v. Karl Pestalozzi u. Ulrich Stadler. Zürich 2003, S. 165–200.

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Abb. 1b: Schutzumschlag von Adolf Behnes Neues Wohnen, Neues Bauen (1927), altes Mietskasernenelend versus modernes Licht- und Luftglück. zur Verfügung, und ebenso boten sich seinem Geist alle Stile, von den Assyrern bis zum Kubismus an. Was sollte er wählen? Der moderne Mensch wird in der Klinik geboren und stirbt in der Klinik: also soll er auch wie in einer Klinik wohnen! – Diese Forderung hatte soeben ein führender Baukünstler aufgestellt, und ein anderer Reformer der Inneneinrichtung verlangte verschiebbare Wände der Wohnungen, mit der Begründung, daß der Mensch dem Menschen zusammenlebend vertrauen lernen müsse und nicht sich separatistisch abschließen dürfe. Es hatte damals gerade eine neue Zeit begonnen (denn das tut sie in jedem Augenblick), und eine neue Zeit braucht einen neuen Stil. (MoE, S. 19 f.)

Die Suche nach einem zeitgemäßen modernen Stil parodiert hier die in den 1920er Jahren obsolet gewordene Stilfrage aus dem 19. Jahrhundert: »In welchem Style sollen wir bauen?«15 Und die dem Baukünstler und dem Innenarchitekten in den Mund gelegten Parolen evozieren Lieblingsthemen der Architekturmoderne. Ihr A und O war ein klinisches Zuhause. Dabei reichte das Alphabet von den nach der Jahrhundertwende gebauten Tuberkulosesanatorien in den Schweizer Alpen bis zu Richard Döckers universellem Terrassentyp von 1929.16 Zum Grundinventar dieses hygienischen Neuen Bauens und Wohnens gehörte auch ein flexibler Grundriss. Zwischen dem freien Raumplan von Adolf Loos und Le Corbusiers plan libre wurden hier 15 16

Vgl. Klaus Döhmer: »In welchem Style sollen wir bauen?« Architekturtheorie zwischen Klassizismus und Jugendstil. München 1976. Vgl. Befreites Wohnen. 86 Bilder eingeleitet v. Sigfried Giedion. Zürich 1929, Abb. 63–65, und Richard Döcker: Terrassentyp: Krankenhaus, Erholungsheim, Hotel, Bürohaus, Einfamilienhaus, Siedlungshaus, Miethaus und die Stadt. Stuttgart 1929. Aufschlussreich dazu auch Beatriz Colomina: X-Ray Architecture. Baden 2019.

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x Varianten ersonnen.17 Möglicherweise hat es Musil auf einen dieser (Innen-) Architekten oder auf ein bestimmtes Manifest von Loos, Le Corbusier oder Sigfried Giedion abgesehen.18 Aber wie fast immer bei Musil wird hier eben gezielt daneben zitiert. Die Zitate sind wörtlich nicht zu eruieren, die Zitierten werden nicht ab-, sondern lediglich angeschossen. Weil Ulrich aber auch in den zuständigen Kunstzeitschriften keinen Rat findet, nimmt er in einem zweiten Schritt »den Ausbau seiner Persönlichkeit« lieber »selbst in die Hand« und beginnt »seine zukünftigen Möbel eigenhändig zu entwerfen« (MoE, S. 20). Aus dem Angebot konkurrierender Optionen probiert er nacheinander eine regionalistische »wuchtige Eindrucksform«, eine neusachliche »technisch-schmalkräfige Zweckform« und eine konstruktivistische »ausgezehrte Eisenbetonform« aus. Letztere erinnert ihn »an die märzhaft mageren Formen eines dreizehnjährigen Mädchens«, und Ulrich beginnt »zu träumen statt sich zu entschließen« (MoE, S. 20). Und so kommt er »vom Hundertsten ins Tausendste« und denkt sich schließlich »überhaupt nur noch unausführbare Zimmer aus, Drehzimmer, kaleidoskopische Einrichtungen, Umstellvorrichtungen für die Seele, und seine Einfälle wurden immer inhaltsloser« (MoE, S. 20). Aber genau in dieser Inhaltslosigkeit findet Ulrich in einem dritten Schritt die Lösung für sein Wohnungsproblem. Er überlässt »die Einrichtung seines Hauses einfach dem Genie seiner Lieferanten, in der sicheren Überzeugung, daß sie für Überlieferung, Vorurteile und Beschränktheit schon sorgen würden« (MoE, S. 21). Und so hat sich Ulrich in seiner »Residenz für einen Residenten, wie ihn sich Möbel-, Teppich- und Installationsfirmen vorgestellt hatten«, am Ende »wie am Mond eingerichtet« (MoE, S. 21). Diese endlose Fortbewegung und Verschiebung von shifting grounds ist nicht nur charakteristisch für den Mann ohne Eigenschaften, bei dem Mobilität an die Stelle der Identität als oberstes Prinzip des Wohnungsdiskurses rückt.19 Das Prozedere ist mindestens ebenso typisch für Musils polemische Schreibweise. Jedem Leser wird sofort klar, was Musil von den Patentlösungen hält, mit denen die Moderne möbliert und der ›Neue Mensch‹ entworfen wurde: nicht eben viel.20 Die Gegner sind bekannt und sie werden teilweise 17 18

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Vgl. Werner Oechslin: Raumplan versus plan libre, in: Daidalos 42 (November 1991), S. 76–83. Diese Vermutung legt auch die intertextuelle und intermediale Konstellation aus Autoren der Avantgarde nahe, die Heinz Brüggemann rekonstruiert hat. Vgl. Heinz Brüggemann: Architekturen des Augenblicks. Raum-Bilder und Bild-Räume einer urbanen Moderne in der Literatur, Kunst und Architektur des 20. Jahrhunderts. Hannover 2002, zu Musil bes. S. 490–566. Vgl. Roland Innerhofer: Architektur aus Sprache. Korrespondenzen zwischen Literatur und Baukunst 1890–1930. Berlin 2019, S. 274–297. Zum anvisierten Gegendiskurs vgl. Fritz Neumeyer: Der neue Mensch. Körperbau und Baukörper in der Moderne, in: Moderne Architektur in Deutschland 1900 bis 1950. Expressionismus und Neue Sachlichkeit. Hg. v. Vittorio Magnago Lampugnani u. Romana Schneider. Stuttgart 1994, S. 15–31, und Wolfgang Pehnt: Der Neue Mensch und der Alte Adam. Zum Menschenbild des Neuen Bauens, in: Ernst May 1886–1970. Kat. Deutsches Architekturmuseum Frankfurt am Main, 28. Juli bis 6. November 2011. Hg. v. Claudia Quiring, Wolfgang Voigt, Peter Cachola Schmal u. Eckhard Herrel. München, London, New York 2011, S. 99–109.

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auch benannt. Allerdings nicht namentlich, sondern nur sinngemäß. Und auf eben das Sinngemäße kommt es dem Polemiker Musil an. Was dem Sinn der Moderne gemäß ist, wird zwar mit spitzer Feder als Frage und als Problem gestellt. Eine Antwort darauf muss man beim Lesen allerdings selbst finden. Dem eingeweihten Leser mögen zwar einschlägige Namen und Textstellen dazu einfallen, aber er kann bei den Zuweisungen nie auf Nummer sicher gehen. Und das ist kein Wunder angesichts der vom reflektierenden Erzähler festgestellten »Zusammenhanglosigkeit der Einfälle und ihre[r] Ausbreitung ohne Mittelpunkt, die für die Gegenwart kennzeichnend ist« (MoE, S. 20). Dem allgemein gebildeten Leser mag darum vielleicht nur das polemisch aufgespießte Problem einleuchten. Aber das reicht ja auch, um das zeitdiagnostische Sprengpotential der Polemik zu aktivieren. Und genau um diese Sprengkraft geht es Musil am Ende. Aus diesem Grund gehört für Musil Reflexion mit zur Polemik. Sie darf ihr nur nicht den Schneid abkaufen. Damit seine umsichtige polemische Schreibweise bei all den offengelassenen Optionen den Biss nicht verliert, setzt Musil verschiedene Stilmittel ein. Zu den patentesten und bekanntesten aus dem Mann ohne Eigenschaften gehört die Modulation der Textstimme zwischen Erzähler- und Figurenrede. Als Agathe im 24. Kapitel des Zweiten Buches bei Ulrich einzieht und nun »wirklich da« ist, trifft sie dort »auf Kleiderschränke, Stiefelkasten, den Boxball, Hanteln, eine schwedische Leiter«. Es ist »etwas teilnahmlos, in gleichgültigen Launen Angehäuftes in diesem Haus, das sie erschreckte« (MoE, S. 893). Mit dieser pointierten Wohnungskritik nimmt der Erzähler seinen früheren Bericht über Ulrichs Einrichtungstrick aus dem Romananfang auf, um die fortgesetzte Diskussion darüber unverzüglich an das Geschwisterpaar weiterzuspielen. »Warum hast du es aber getan, wenn es dir nicht gefällt?«, will Agathe von Ulrich wissen. Worauf ihr der bedrängte Bruder erklärt, er habe absichtlich »alles leichtfertig, falsch und so eingerichtet, daß es in keiner Weise mit mir zusammenhängt. [. . .] Ich mag Wohnungen nicht leiden, die seelisch nach Maß gemacht sind [. . .]. Ich käme mir darin vor, als ob ich auch mich selbst bei einem Innenarchitekten bestellt hätte!« Und Agathe sagte: »Ich habe auch vor solchen Wohnungen Angst.« (MoE, S. 893)

Wie bei einem Bauchredner hört man hier in Ulrichs Erklärung die Stimme des Erzählers mit. Und doch hat sie ein hörbar anderes Timbre als die Stimme der Romanfigur. Peter von Matt hat in einem grundlegenden Aufsatz zu den Spielregeln der Polemik den abrupten Wechsel zwischen Brutalität und Larmoyanz in der Rede des Polemikers hervorgehoben.21 Dieses Oszillieren zwischen verschiedenen Sprachregistern und Tonlagen übersetzt sich bei Musil in synchrone Stimmungsdifferenzen. Ein solches zwei- oder mehr21

Vgl. Peter von Matt: Grandeur und Elend literarischer Gewalt. Die Regeln der Polemik (1979), in: ders.: Das Schicksal der Phantasie. München 1994, S. 35–42.

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stimmiges Sprechen regiert auch das Verhältnis zwischen der Meinung von Musils Figuren und den Diskursen, die sie zitieren. So mündet der Wortwechsel zwischen Ulrich und Agathe schließlich in Ulrichs nachäffende Spottrede über den ›Neuen Menschen‹, der in den mobilen Kisten des ›Neuen Wohnens‹ gedeihen soll, und über das ›Neue Leben‹, das hier angeblich entsteht: »Wir haben nun einmal ein Haus« verwahrte sich Ulrich »und müssen es für uns beide anders einrichten; aber im ganzen ist diese Frage heute überholt und müßig. ›Ein Haus machen‹ täuscht eine Schauseite vor, hinter der sich nichts mehr befindet; die sozialen und persönlichen Verhältnisse sind nicht mehr fest genug für Häuser, es bereitet keinem Menschen mehr ein ehrliches Vergnügen, Dauer und Beharrung nach außen darzustellen. Früher einmal hat man das getan und durch die Zahl der Zimmer und Diener und Gäste gezeigt, wer man sei. Heute fühlt fast jeder, daß ein formloses Leben die einzige Form ist, die den vielfältigen Willen und Möglichkeiten entspricht, von denen das Leben erfüllt ist, und die jungen Leute lieben entweder die nackte Einfachheit, die wie ein unmöbliertes Theater ist, oder sie träumen von Schrankkoffern und Bobmeisterschaft, vom Tennischampionat und vom Luxushotel an der Autokarawanenstraße mit Golflandschaft und fließender Musik zum Aufund Zudrehen in den Zimmern. [. . .] Liebe Agathe, es gibt einen Kreis von Fragen, der einen großen Umfang und keinen Mittelpunkt hat: und diese Fragen heißen alle ›wie soll ich leben?‹ « (MoE, S. 895)

Das klingt zwar visionär, aber so noch wenig polemisch. Und doch entsteht daraus Polemik, wenn man das Zitat in seinen zeitgenössischen Resonanzraum hineinstellt. Ulrichs Wohnphilosophie provoziert bei Agathe die schreckliche Vorstellung, »im Hotel leben« zu müssen (ebd.). Auch hier handelt es sich um eine Lieblingsidee der Architekturavantgarde der zwanziger Jahre mit einem vielstimmigen Echo in der neusachlichen Literatur.22 Sie wurde von keinem radikaler propagiert als vom Urbanisten und späteren Bauhausmeister Ludwig Hilberseimer. In seiner Kampfschrift Großstadtarchitektur von 1927 dekretiert Hilberseimer unter dem Stichwort »Koffer statt Möbelwagen«: Jede Wohnung besteht aus einem großen Wohnraum, einer entsprechenden Zahl von Schlafräumen, Bad, Anrichte, Vorraum und Loggia. Ferner enthält jede Etage zwei Räume für das Bedienungspersonal, das, wie in einem Hotel, die ihm zugeteilten Wohnungen, in Ordnung zu halten hat. Die einzelnen Wohnungen, deren Komfort mit allen Mitteln der Technik zu steigern ist, sind vollkommen eingerichtet, und zwar so, daß sich die praktikablen Möbel auf Tische und Sitzmöbel beschränken. Im Falle eines Wohnungswechsels ist nicht mehr der Möbelwagen, sondern [sind] nur noch die Koffer zu packen. Das Vorbild ist nicht mehr das Einzelhaus mit seinen Unzulänglichkeiten als Massenhaus, sondern das auf alle Bequemlichkeit und vollkommenen Komfort eingestellte Hotel.23

22 23

Vgl. Lauffer: Poetik des Privatraums (Anm. 10), S. 165–199. Ludwig Hilberseimer: Großstadtarchitektur. Stuttgart 1927 (= Baubücher, Bd. 3), S. 18–19.

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Abb. 2: Schema einer Hochhausstadt, Abb. 23 aus Ludwig Hilberseimers Groszstadtarchitektur (1927).

Die Beispiele für das Faszinosum Hotel in der funktionalistischen Stadtplanung und im rationalisierten Wohnungsbau der Weimarer Republik ließen sich beliebig vermehren. So könnte man einen ganzen Diskursraum rekonstruieren, der Agathes Schrecken über ein Leben im Hotel inspiriert. Richtig polemisch wird Musils Kritik allerdings erst dann, wenn man sie als Reaktion auf die aggressive Bildpolitik der Avantgarde versteht. Hilberseimers futuristisches Schema einer Hochhausstadt aus anonymen Hotelbauten lässt hier wenig Wünsche offen (Abb. 2). Ein prägnanteres Schreckbild für die »überamerikanische Stadt«, wie sie Musil im achten Kapitel des Mann ohne Eigenschaften als »soziale Zwangsvorstellung« der Moderne karikiert (MoE, S. 31), lässt sich kaum ersinnen. Und auch das Inventar von Ulrichs Herrenzimmer zielt pointiert auf eine mit dem futuristischen Hotelleben verwandte Phantasie des Neuen Wohnens. Es parodiert ganz offensichtlich den living room des modernen Sportsmannes. Marcel Breuer hatte mit seinem Berliner Apartment für Erwin Piscator 1926/27 eine Ikone dieser epochalen Männerphantasie geschaffen (Abb. 3a), die von Wohnungsratgebern der Avantgarde wie Sigfried Giedions Schaubuch Befreites Wohnen von 1929 fotografisch massenhaft verbreitet wurde (Abb. 3b).24 Mit solchen Bildargumenten für das richtige und wahre neue Wohnen bombardierten sich ab 1924 avantgar24

Giedion: Befreites Wohnen (Anm. 16), Abb. 26. Vgl. zur Publizistik der Architekturmoderne und ihrer Bildpolitik allgemein Beatriz Colomina: Privacy and Publicity. Modern Architecture as Mass Media. Cambridge (MA), London 1994, sowie zum allgemeinbildenden Programm der Schaubücher aus dem Zürcher Orell Füssli-Verlag speziell Timm Starl: »Schaubücher«. Eine

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Abb. 3a: Marcel Breuers Berliner Schlafzimmer für Erwin Piscator 1926/27. Fotografie: Jacobi, © Archives of American Art, Smithsonian Institution Washington, D. C.

Abb. 3b: Breuers Piscator-Schlafzimmer in Sigfried Giedions Befreites Wohnen (1929).

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distische Enthusiasten und ihre konservativen Kritiker. Die Entscheidungsschlacht wurde 1927 in der Stuttgarter Weißenhofsiedlung geprobt.25 Hier wohnten je nach ästhetischem und politischem Standpunkt entweder Halbgöttinnen (Abb. 4a), oder es hausten dort Beduinen (Abb. 4b).26 Deutsche und undeutsche Hausgesichter wurden in der Schuss-Gegenschuss-Technik architektonischer Verbrecherfotos identifiziert (vgl. oben, Abb. 1a und 1b).27 In diesen Häuserkampf schreiben sich Musils Architekturtexte ein. Der herrschende Bilderkrieg ist ihre polemische Basis und verleiht ihnen noch in ihrer reflexiven Grundeinstellung Biss. So sieht die Sache jedenfalls im Mann ohne Eigenschaften aus. Mit diesem Arsenal von Bildargumenten konnte der Romanautor Musil hier relativ sicher rechnen. Aber gerade die Bilder machen die Sache ein bisschen komplizierter, sobald man den geschützten Rahmen des Romans verlässt. Das beweist Musils essayistische Arbeit auf dem schwer kontrollierbaren Terrain der Zeitungsfeuilletons und Kulturzeitschriften. Ihre polemischen Produktionsbedingungen ließen sich später nicht umstandslos in die Buchform einholen, in die viele Autoren ihre gesammelten Feuilletons brachten. Andererseits konnten sich gerade hier aus veränderten Umständen neue und oft überraschend aktuelle Rezeptionsvoraussetzungen für das Verständnis dieser Texte als Polemiken ergeben.

2. Neues Wohnen, neues Lesen? – Nachlaß zu Lebzeiten Das lässt sich an Musils Beiträgen zum modernen Wohnen aus dem Umkreis des Nachlaß zu Lebzeiten gut zeigen. In dieser Sammlung von früher publizierten Essays und Feuilletons gibt es viele Statements und eine Reihe

25 26

27

Bildbandreihe 1929 bis 1932, in: Fotogeschichte. Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie 16 (1996), H. 61, S. 47–59. Zum Häuser- und Bilderkrieg um die Stuttgarter Weißenhofsiedlung vgl. Richard Pommer, Christian F. Otto: Weissenhof 1927 and the Modern Movement in Architecture. Chicago, London 1991, S. 131–144. Der traditionalistische Stuttgarter Architekturprofessor Paul Bonatz hatte das Bildargument vom Araberdorf rhetorisch vorbereitet. In einer Kritik am ersten Bebauungsplan des Ausstellungsgeländes schreibt er am 5. Mai 1926 im Schwäbischen Merkur: »In vielfältigen horizontalen Terrassierungen drängt sich in unwohnlicher Enge eine Häufung von flachen Kuben am Abhang hinauf, eher an eine Vorstadt Jerusalems erinnernd als an Wohnungen in Stuttgart [. . .].« Die sarkastische Reaktion von Werner Hegemann, dem Schriftleiter der renommierten Fachzeitschrift Wasmuth’s Monatshefte für Baukunst, löste eine öffentliche Polemik aus, wobei der für die staatlich geförderte Siedlung verantwortliche Stuttgarter Oberbürgermeister Karl Lautenschlager sogar juristische Schritte gegen Hegemann erwog. Die Angaben nach Karin Kirsch: Die Weißenhofsiedlung. Werkbund-Ausstellung Die Wohnung – Stuttgart 1927. Stuttgart 1987, S. 206. Das Gesicht des ›modernen‹ Hauses von Le Corbusier und Konsorten trägt in den Augen des national-konservativen Architekturphysiognomikers Schultze-Naumburg selbstverständlich auch fremdländisch-mediterrane Züge und ist daher suspekt. Vgl. Paul Schultze-Naumburg, Das Gesicht des deutschen Hauses. München 1929 (= Kulturarbeiten, Bd. 4), S. 128 f. und 144 f.

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Abb. 4a: Reklame für das Mercedes-Benz Modell 8/38 vor Le Corbusiers Doppelwohnhaus in der Weißenhofsiedlung. Fotografie ca. 1927, © Mercedes-Benz AG, Historisches Archiv

Abb. 4b: Postkarte mit der Weißenhofsiedlung als Araberdorf. Fotomontage 1927, Schwäbischer Kunst-Verlag Hans Bötticher Stuttgart.

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von Texten, die sich eigens dem Thema widmen. Am bekanntesten ist da wohl die Kritik am etagenweisen Wohnen am Anfang der Amsel, vergleichbar den Brötchen in einem Automatenbüffett, variantenreich sind die Voyeurismus-Dispositive im Slowenischen Dorfbegräbnis und in Triëdere, halluzinativ die Szenen in Hotel- und Sanatoriumszimmern in Hellhörigkeit und Wer hat dich, du schöner Wald . .?, und am durchtriebensten vielleicht ist die Architekturgeschichte Türen und Tore. Die Themen und Musils Thesen zur ›Wohnungsfrage‹, die damals in aller Munde war, sind entsprechend heterogen.28 Zerstreut sind aber auch die medialen Produktions- und Rezeptionsbedingungen dieser Texte. Zuerst in Tageszeitungen und Kulturzeitschriften publiziert, führen sie zwischen Politik, People und Reklame seit je ein zusammenhangloses Leben. Ihr Nachleben im Buch von 1936, für das sie aus diesem zusammenhanglosen Zusammenhang herausgerissen werden, ist dann noch einmal entfremdet. Musil hat das so gut gewusst wie alle für den Tag produzierenden Autoren. Und er hat wie viele andere auch virtuos darüber geschimpft.29 Allerdings hat er im täglichen Umgang damit auch eine ebenso große Raffinesse entwickelt. Denn Musil sah in dieser Zerstreuung nicht nur ein Problem, sondern er erkannte darin auch eine Chance. Darüber gibt das Vorwort des Nachlaß zu Lebzeiten konzentriert Auskunft. Zwar trügen die »Teilchen« des Buches »die Zeit ihrer Entstehung sichtbar an sich«, erklärt Musil dort. Und »was an ihnen Spottrede« sei, gelte »zum Teil gewesenen Zuständen« (GW II, S. 474). Trotzdem glaubt Musil an ihre »Zeitbeständigkeit«, weil die »Kritik kleiner Fehler« gerade »in Zeiten, wo schon viel größere gemacht« würden, »ihren Wert nicht verlier[e]« (GW II, S. 474 f.). Dass die Texte ursprünglich »für Zeitungen geschrieben« wurden »mit ihrem unaufmerksamen, ungleichen, dämmerig-großen Leserkreis«, kann ihnen in einem neuen Publikationszusammenhang und in einem anderen gesellschaftlichen und politischen Umfeld auch zugute kommen. Tatsächlich war die Sprengkraft von Musils »begrenzte[m] Ärgernisnehmen[ ]« (GW II, S. 474) an Dingen aus den 1920er Jahren unter den 1936 gegebenen politischen und persönlichen Umständen in vieler Hinsicht massiv größer geworden. Das gilt auch und vielleicht in besonderem Maße für die Bilder, die Musils essayistisches Werk von Anfang an bedingten und begleiteten. Das Eigenleben dieser Bilder und Bildumgebungen hatte dem Satiriker einst einen Strich durch die Rechnung gemacht. Jetzt spielte es dem Polemiker in die Hände. Türen und Tore ist ein Paradebeispiel für diese umständehalber gesteigerte Polemik. Der Essay erscheint erstmals am 28. September 1928 in der Kulturzeitschrift Sport im Bild (S. 1448–1450, vgl. GW II, S. 608–610) und wird am 10. Februar 1929 im Feuilleton der Prager Presse wieder abgedruckt. 1936 28 29

Vgl. von Arburg: [Art.] Architektur (Anm. 7), S. 693 f. Vgl. Dominik Müller: Robert Musil, Joseph Roth und das Feuilleton: Nachlaß zu Lebzeiten, von der Zeitung zum Buch, in: Robert Musil. Ironie, Satire, falsche Gefühle. Hg. v. Kevin Mulligan u. Armin Westerhoff. Paderborn 2009, S. 239–254.

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nimmt ihn Musil dann unter die »Unfreundlichen Betrachtungen« in seinen Nachlaß zu Lebzeiten auf (GW II, S. 504–506).30 Gegenstand des Essays ist eine alternative Architekturgeschichte von Türen und Toren, die in einem hörbar satirischen Ton erzählt wird. Früher, so beginnt diese Geschichte, seien Türen noch als gut bewegliche Bretter »in jedem ordentlichen Familienzimmer angepflanzt« worden. In einem »zeitgenössischen Haus« dagegen seien sie völlig überflüssig geworden (GW II, S. 504). Sie taugten nicht einmal mehr zum Horchen, weil das durch die hellhörigen Eisenbetonwände wie von selbst gehe (vgl. ebd.). Überliefert geblieben seien allein die Türangeln als »einsame Symbole« einer untergegangenen Kultur. Damit ist es den Türen in der Moderne ganz ähnlich ergangen wie dem Kragen und den »Röllchen«, das heißt den Manschetten, an einem Herrenhemd, die man heutzutage allenfalls noch als nostalgische Atavismen verstehen könne (GW II, S. 505). Die »großen Zeiten der Türen« sind für den alternativen Architekturhistoriker von Musils Essay also »vorbei« (GW II, S. 506). Damit gibt es für ihn aber auch das ›ganze Haus‹ nicht mehr, das sie einst repräsentierten (vgl. GW II, S. 505 f.).31 Und weil Tür und Haus konstruktiv wie sozial dysfunktional geworden sind, funktioniert auch das alltagssprachliche Hantieren mit ihnen nicht mehr reibungslos. Mit der Tür ins Haus fallen, offene Türen einrennen oder vor seiner eigenen Tür kehren seien »längst undurchführbare Redensarten« geworden. Sie würden uns allenfalls noch als »freundliche Einbildungen« vorschweben, wenn wir wehmütig »alte Tore« betrachteten (GW II, S. 506). Die Geschichte, die Türen und Tore erzählt, ist also eindeutig eine Verlustgeschichte. Das Fazit des Textes ist denn auch eine »[d]unkelnde Geschichte um ein Loch, das die Gegenwart vorläufig noch für den Zimmermann offen gelassen hat« (GW II, S. 506). Dieser Schlusssatz hat es allerdings in sich. Denn er quittiert die Kapitulationserklärung der redensartlichen Funktionslosigkeit der modernen Tür seinerseits mit einer Redensart. Zeigt man nämlich jemandem, wo der Zimmermann das Loch gelassen hat, dann weist man ihm mit anderen Worten die Tür.32 Und dieser Selbstwiderspruch ist nicht der einzige im Text. Der ominöse Schlusssatz antwortet vielmehr auf einen nicht weniger merkwürdigen Anfangssatz: »Türen gehören der Vergangenheit an«, so heißt es dort, »wenngleich bei Bauwettbewerben Hintertüren noch vorkommen sollen« (GW II, S. 504). Der Seitenhieb gegen undurchsichtige Praktiken bei Bauvergaben aktualisiert hier also das später behauptete passé der Türen und Tore von Anfang an. Noch wichtiger in unserem Zusammenhang aber ist, dass dieser erste Satz die polemische Grundeinstellung des 30 31 32

Vgl. den Herausgeberkommentar in: GW II, S. 1753. Das epische Schicksal des ›ganzen Hauses‹ in der europäischen Moderne ist bei Joachim Eibach und Inken Schmidt-Voges (Hg.): Das Haus in der Geschichte Europas. Ein Handbuch. Berlin 2015 nachzulesen. Vgl. Lutz Röhrich: Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten. 2 Bde. Freiburg i. Br. 1973, Bd. 1, S. 604, und Bd. 2, S. 1181.

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Textes verrät. Diese polemische Orientierung wird im Erstdruck von Musils Essay dort manifest, wo der Text plötzlich »ich« sagt und der Gegner mit der typischen Geste des Polemikers auf die Bühne gezerrt wird: 33 Ich widme diese Entdeckung, daß unsere Holztüren Röllchen sind, dem namhaften Architekten, der herausgefunden hat, daß der Mensch auf der Klinik geboren wird und im Spitale stirbt, weshalb auch seine Wohnräume von antiseptischer Nüchternheit erfüllt sein müßten, um die unserem Leben eigene Schönheit zu zeigen. Es gibt da noch vieles zu tun. Aber die Baukunst ist heute in einer schweren Lage. (GW II, S. 609)

Das Ich-Sagen ist bei Musil selten und kommt, wenn überhaupt, beim umgebungssensiblen Feuilleton zum Einsatz.34 Und auch das namentliche Aufdie-Bühne-Zerren des Gegners ist für Musil eher ungewöhnlich. Umso größer ist hier der Knalleffekt für den Leser. Dass er als moderner Mensch sein ganzes Leben in der Klinik fristen soll, sitzt ihm noch vom Mann ohne Eigenschaften in den Knochen (vgl. GW I, S. 19). Darum lässt er sich nun vom Polemiker nur zu gern gegen diese ungute Idee mobilisieren.35 Nur: wer ist überhaupt der Gegner? Der »namhafte Architekt«, der uns keimfrei einquartieren möchte, hat hier so wenig einen Namen wie der »führende Baukünstler« im Mann ohne Eigenschaften. Und auch die provokative klinische Wohnphantasie, die Musil ihnen in den Mund legt, findet man so nirgends zitiert. Sie lässt sich nur auf sehr verschlungenen Pfaden aufstöbern. Ich habe an anderer Stelle argumentiert, dass, wenn man auf den Busch klopft, Le Corbusier und seine Schriften herauskommen.36 Ob diese Vermutung stimmt oder nicht, ist hier nicht so wichtig. Entscheidend ist die Tatsache, dass Le Corbusier ganz prominent zum polemischen Kontext von Türen und Tore gehört. Ja, er verkörpert diesen Kontext geradezu, gab es doch keinen größeren Provokateur und Polemiker unter den Architekten der Avantgarde als den Schweizer Internationalen. In wünschenswerter Deutlichkeit belegen dies Le Corbusiers Manifeste Vers une architecture (1923) und L’Art décoratif d’aujourd’hui (1925), auf die sich Musil 33 34 35

36

Zu dieser typischen Ich-Theatralik des Polemikers vgl. von Matt: Grandeur und Elend literarischer Gewalt (Anm. 21), S. 40 f. Vgl. dazu Dominik Müller: Art. Feuilletons und kleine Prosa, in: Robert-Musil-Handbuch. Hg. v. Birgit Nübel u. Norbert Christian Wolf. Berlin, Boston 2016, S. 396–414, hier S. 403 f. Peter von Matt erklärt das Täuschungsmanöver, vom Leser ab- und auf den Gegner hinzulenken, zum eigentlichen Clou polemischer Texte: »So unbestreitbar nämlich der wahre Adressat all dieser Schriften der Leser ist, bzw. das Publikum, so unverkennbar sucht der Text den Eindruck zu erwecken, wahrer Adressat sei der Gegner. [. . .] Dies ist nötig, weil mit dem Leser etwas geschehen soll. Ziel ist nicht, dass der Angegriffene seine Meinungen überprüfe, sondern dass der Leser sein Verhalten dem Angegriffenen gegenüber verändert. Er soll ihn nicht mehr zu den Seinen rechnen, soll über ihn lachen, ihn verabscheuen und verachten.« Vgl. von Matt: Grandeur und Elend literarischer Gewalt (Anm. 21), S. 41 f. Vgl. Hans-Georg von Arburg: Türen und Tore. Hermeneutik und Hermetik bei Musil und Le Corbusier, in: Poetica 43 (2011), H. 3/4, S. 319–354.

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bezogen haben mag.37 Beide Bücher fassen Artikelserien zusammen, die Le Corbusier zuvor in seiner programmatischen Zeitschrift L’Esprit Nouveau veröffentlicht hatte. Sie proklamieren jene »neue Zeit« und jenen »neuen Stil«, über die sich Musil im Wohnkapitel »Ulrich« des Mann ohne Eigenschaften lustig macht, weil die Zeit und ihr Stil ja in jedem Augenblick neu beginnen würden (GW I, S. 20). Die Innovationsgarantie für Le Corbusier lieferte die moderne Industrie.38 Damit wollte er die neurotischen Sentimentalitäten seiner Zeit mit genau jenem Mittel desinfizieren, das Musil mit dem modernen Leben in der Klinik perhorresziert.39 Le Corbusiers Hygienekeule hieß Ripolin. Wenn wir die hochweiße Industriekalkschlacke Ripolin anwenden, skandiert Le Corbusier in seiner Kampfschrift L’art décoratif d’aujourd’hui, dann wissen wir, dass wir einen moralischen Akt vollziehen: die Reinheit lieben! wir unseren Geisteszustand erhöhen: ein eigenes Urteilsvermögen haben! Der Akt führt zu Lebensfreude: Streben nach Vollkommenheit. Stellt euch die Wirkung des Gesetzes von Ripolin vor. [. . .] Man macht bei sich zuhause sauber: Da gibt es keine dreckige Ecke mehr, keinen dunklen Winkel: Alles zeigt sich so, wie es ist. Danach reinigt man sich selbst, man schwenkt ein auf die Linie, auf der man nichts mehr akzeptiert was unzulässig ist, was nicht erlaubt, gewollt, gewünscht, geplant ist [. . .]. Auf dem Ripolin-Weiß der Wände wird der Wust von Dingen aus der Vergangenheit nicht mehr toleriert; sie würden sie nur beflecken. Wenn das Haus ganz weiß ist, dann hebt sich die Form der Dinge, ohne zu verschwimmen, davon ab; das Volumen der Dinge erscheint darauf ganz sauber; die Farbe der Dinge ist kategorisch. Die Kalkschlacke ist absolut, alles hebt sich davon ab, schreibt sich absolut darauf ein, schwarz auf weiß; das ist ehrlich, es ist loyal.40

37 38 39 40

Le Corbusier [d. i. Charles-Édouard Jeanneret]: Vers une architecture. Paris 1923 und ders.: Le Corbusier: L’art décoratif d’aujourd’hui. Paris 1925. Vgl. zu Le Corbusiers strategischer Allianz mit der zeitgenössischen Industrie den Ausstellungskatalog: L’Esprit Nouveau. Le Corbusier und die Industrie 1920–1925. Kat. Museum für Gestaltung Zürich. Hg. v. Stanislaus von Moos. Berlin 1987. Vgl. zur Industriemoderne als Anti-Neurotikum ebd., S. 196 f., und die deutsche Übersetzung von Hans Hildebrandt: Le Corbusier: Kommende Baukunst. Stuttgart, Berlin, Leipzig 1926, S. 200 f. Übers. d. Verf. Vgl. Le Corbusier: L’art décoratif d’aujourd’hui (Anm. 37), S. 190 f. und 193: »LA LOI DU RIPOLIN / LE LAIT DE CHAUX / nous ferions un acte moral : Aimer la pureté ! / nous accroîtrions notre état : Avoir un jugement ! / Un acte qui conduit à la joie de vivre : la poursuite de la perfection. / Concevez les effets de la Loi du Ripolin. [. . .] On fait propre chez soi : il n’y a plus nulle part de coin sale, ni de coin sombre : tout se montre comme ça est. Puis on fait propre en soi, car l’on entre dans la voie de se refuser à admettre quoi que ce soit qui ne soit licite, autorisé, voulu, désiré, conçu [. . .]. / Sur le ripolin blanc des murs, ces amoncellements de choses mortes du passé ne sauraient être tolérées ; elles feraient tache. / Si la maison est toute blanche, le dessin des choses s’y détache sans transgression possible ; le volume des choses y apparaît nettement ; la couleur des choses y est catégorique. Le blanc de chaux est absolut, tout s’y détache, s’y écrit absolument, noir sur blanc ; c’est franc, c’est loyal.«

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So lautet Le Corbusiers kulturtherapeutisches Gesetz, la Loi du Ripolin.41 Und so lässt sich auch bei Musil die Idee des »namhaften Architekten« für »Wohnräume von antiseptischer Nüchternheit« leicht ins Polemische (zurück) übersetzen. Nun ist der Gegner erkannt, und wir Leser haben ihn so gut wie fertig gemacht. Aber sind wir damit auch als Leser fertig? Nicht ganz. Denn da ist immer noch der oben zitierte merkwürdige Schlusssatz von der »dunkelnde[n] Geschichte um ein Loch, das die Gegenwart vorläufig noch für den Zimmermann offen gelassen hat« (GW II, S. 506). Und eben dieser Satz lautet in der Fassung von 1928 aus Sport im Bild anders. Dort nämlich liegt das »[h]istorische[ ] Dunkel um das Loch, das der Zimmermann vorläufig noch 42 in der Gegenwart gelassen hat.« Die grammatischen und aussagelogischen Positionen von Subjekt und Präpositionalobjekt werden in den Textvarianten vom Erstdruck bis zur Nachlaß-Fassung also geradezu vertauscht. Sucht man in den abweichenden Schlusssätzen nach dem endgültigen Textsinn von Türen und Tore, dann wirkt das Quidproquo von Gegenwart und Zimmermann höchst verwirrend. Unverrückbar bleibt allein das Sprachbild vom dunklen Loch zurück, das allen sicheren Sinn verschluckt. Und dann sind da auch noch die optischen Bilder. Als dienstfertige Wirkungsverstärker spielten sie dem Polemiker Le Corbusier und dem MetaPolemiker Musil offensichtlich in die Hände. Als eigenwillige Querschläger konnten sie ihnen allerdings auch einen Strich durch die Rechnung machen, indem sie sich rebellisch gegen ihre Dienstherren wandten. Das wussten Le Corbusier und Musil als gewiefte Medienarbeiter selbstverständlich, und sie mussten mit dem einen so gut wie mit dem anderen rechnen.43 Bei Le Corbusier strafen die Bilder im eigenen Text die Botschaft, die sie evident machen sollen, immer wieder Lügen. Das Kapitel »Le lait de chaux. La loi du Ripolin« in Le Corbusiers Kampfschrift L’Art décoratif d’aujourd’hui etwa mündet in eine Doppelseite mit einer Fotografie des Sultans Mahembe und seiner beiden Söhne (links) und einer Innenaufnahme des Pariser Ateliers, das Le Corbusier für seinen Malerfreund Amédée Ozenfant entworfen hatte (rechts) (Abb. 5).44 Die afrikanische Herrscherdynastie steht hier für die zeitlose moralische Integrität der Naturvölker. Sie hebt sich pechschwarz auf dem diffusen Weiß der Wüste im Hintergrund ab. Im Zusammenhang des Textes macht dieses Schwarz auf Weiß aber erst vor der Folie der weißen Industriefarbe Ripolin Sinn, für die Le Corbusier in diesem Kapitel wirbt. Darum wird auf der ge41

43 44

Zur Schlüsselfunktion des so überschriebenen Kapitels aus L’art décoratif d’aujourd’hui für Le Corbusiers Polemik gegen das ornamentale Kunstgewerbe (frz. l’art décoratif) und für ein asketisch weißes Design der Moderne vgl. Mark Wigley: White Walls, Designer Dresses. The Fashioning of Modern Architecture. Cambridge (MA), London 1995, S. 3–8. Vgl. für Le Corbusier Colomina: Privacy and Publicity (Anm. 24), S. 77–199, für Musil Monika Wagner-Egelhaaf: Wirklichkeitserinnerungen. Photographie und Text bei Robert Musil, in: Poetica 23 (1991), H. 1/2, S. 217–256. Le Corbusier: L’art décoratif d’aujourd’hui (Anm. 37), S. 194–195.

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Abb. 5: Doppelseite aus Le Corbusiers L’art décoratif d’aujourd’hui (1925) mit Sultan Mahembe und seinen zwei Söhnen (links) und dem von Le Corbusier für Amédée Ozenfant entworfenen Pariser Atelier (rechts).

genüberliegenden Seite auch die moderne Atelierfotografie aus Paris platziert. Aber gerade das Atelier Ozenfant gehörte zu den ersten Innenräumen, die Le Corbusier in Farbe ausgeführt hatte! Die Sprache der Bilder ist also alles andere als so »ehrlich« und »loyal«, wie es der Text behauptet. Ein vergleichbares Schicksal wie die heilsbringende Ripolin-Farbe ereilt auch die modernen Türen bei Le Corbusier. In der von ihm und Ozenfant herausgegebenen Zeitschrift L’Esprit Nouveau macht Le Corbusier 1925 mit einer von ihm selbst gestalteten Anzeigenserie Werbung für die Industrietür der Metallwarenfabrik Ronéo SA .45 Die fünf Inserate bilden zusammen einen kleinen roman feuilleton. Und gerade dieser werbegrafische Fortsetzungsroman hintertreibt den patenten Schließmechanismus, den die Bilder nachzeichnen. Wie Musils Architekturgeschichte Türen und Tore beginnt auch Le Corbusiers Ronéo-Serie mit einer Definition (Abb. 6): »Une porte n’est qu’un passage d’homme. Monumentale, elle encombre souvent malen45

Le Corbusier hatte nicht nur seine Bücher, sondern auch die Hefte des Esprit Nouveau und überhaupt alle Drucksachen, die das Haus verließen, entweder selbst gestaltet oder deren grafisches Design minutiös kontrolliert. Vgl. Catherine de Smet: Le Corbusier – Un architecte et ses livres. Baden 2005.

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Abb. 6: Erste Anzeige für die Ronéo-Tür in Le Corbusiers L’Esprit Nouveau 24 (1925).

contreusement le mur.«46 (»Eine Tür ist lediglich ein Durchgang für den Menschen. Überdimensioniert verstellt sie oft ganz unzweckmäßig die Wand.« Übers. d. Verf.). Die Ronéo-Tür stellt mit ihrem tadellosen Mechanismus die verlorene Einheit der Wand wieder her. Ja, die Tür wird hier ganz zur Wand, wie der Text der zweiten Anzeige erklärt (Abb. 7): »Exécutée mécaniquement en fer, impeccable, elle ne se fissure plus et les vernis restent intacts ; son huisserie de tôle pliée, résistante grâce à son moment d’inertie, se lie exactement au plâtre et dispense, si l’on veut, de tout cadre décoratif.«47 (»Von der Maschine fehlerlos aus Eisen gefertigt, bekommt sie keine Risse mehr, und der Lack bleibt unbeschädigt; ihr Rahmen aus gefalztem Blech ist aufgrund des Trägheitsmoments äußerst widerstandsfähig, er passt sich perfekt der Gipswand 46 47

Vgl. den unpag. Anzeigenteil in: L’Esprit Nouveau. Revue internationale illustrée de l’activité contemporaine: arts, lettres, sciences 24 (1925). Vgl. Heft Nr. 25 von Esprit Nouveau (Anm. 46), unpag.

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Abb. 7: Zweite Anzeige für die Ronéo-Tür in L’Esprit Nouveau 25 (1925).

an und macht, wenn man so will, jeden dekorativen Rahmen überflüssig.« Übers. d. Verf.) So macht sich die Ronéo-Tür im Wohnraum gleichsam unsichtbar und als Durchgang für den Menschen ganz vergessen. Dahinter aber verschwindet in der fünften und letzten Anzeige auch der angebliche Hauptnutznießer dieser Patentlösung selbst, der Mensch (Abb. 8): »Une porte d’un dessin pur. Une porte qui ne troue pas le mur, mais qui occupe une place modeste et permet ainsi aux architectes de réaliser des locaux de plus en plus petits, de plus en plus exacts, et qui facilite l’utilisation la plus précise de la place [. . .].«48 (»Eine Tür mit einem klaren Design. Die Tür durchlöchert die Wand nicht, sondern kommt mit wenig Platz aus und erlaubt es den Architekten, immer kleinere und exaktere Räume zu gestalten, und erleichtert so die genaueste Raumausnutzung.« Übers. d. Verf.) 48

Vgl. Heft Nr. 27 und 28 von Esprit Nouveau (Anm. 46), unpag.

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Abb. 8: Vierte und (identische) fünfte Anzeige für die Ronéo-Tür in L’Esprit Nouveau 27 (1925).

In Le Corbusiers Architektenphantasie wird die Tür gegenstandslos und der Mensch überflüssig. Soweit geht (es bei) Musil nicht. Und es sind auch nicht eigene, sondern fremde Bilder, die hier den Textsinn sabotieren. In einer komplexen Medienwelt, in der Autoren zu Produzenten werden in einem immer unübersichtlicheren Informationssystem, macht das aber keinen großen Unterschied mehr. Die Erstveröffentlichung von Türen und Tore in der Kulturzeitschrift Sport im Bild ist dafür ein Musterbeispiel. Dort muss der Kurzprosaproduzent Musil über einer üppigen Schwarzkopffrisur gegen Schwergewichte wie Alfred Richard Meyers Sportikana (unter der Rubrik »Fünf Minuten mit Büchern«) oder die Völkerbundiade der Gräfin Nora von Beroldingen antreten (Abb. 9). Und auch auf den Seiten, auf denen sein eigener Text steht, wird in dieser Zeitschrift mit harten Bandagen gekämpft. Musils scharfzüngige Prosa wird dort nämlich von den süßlichen Aquarellen des österreichischen Werbegrafikers und Buchgestalters Leopold von Nettel-

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Abb. 9: Titelseite und Inhaltsverzeichnis von Sport im Bild, 34. Jahrgang, Nr. 20, 28. September 1928, mit Musils Türen und Tore.

horst (*1905) umflort (Abb. 10). Der Setzer oder Grafiker von Sport im Bild hat hier zu einem Handkantenschlag angesetzt, den er akkurat zwischen die vorangehende Fotografie des Windhunds Jussuf (Abb. 11a) und die darauffolgende Adelsfantasie vom Hirsch am Meer mit einem Handscherenschnitt von Ilse Meister-Zeyen platziert (Abb. 11b). Musil selbst spricht am Ende von Türen und Tore zwar ausdrücklich von der Wehmut, die einen beim Betrachten alter Tore angesichts ihrer zurückgebliebenen Funktionslosigkeit beschleichen würde. Aber diese Aussage steht eben in dieser ikonografischen Umgebung. Da muss einer schon ein ausgefuchster Nostalgiker sein, wenn er den Text trotz dieser Bilder ganz und gar beim Wort nehmen will.

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Abb. 10: Der Erstdruck von Musils Türen und Tore in Sport im Bild 34 (1928), S. 1448–1450.

3. Schluss Die zuletzt betrachteten Bilder belegen nur besonders deutlich, in welchem Klima die Polemik gegen – oder wer weiß für? – das Neue Wohnen bei Musil gedeiht. Sie nährt sich durch eine kriegsbedingt ausgeweitete gesellschaftliche Kampfzone und überwuchert hier am Ende sogar die eigenen Stellungen der polemischen Subjekte. Dazu gehören nicht allein die auf die Textbühne zitierten Gegner, die Le Corbusier, Ludwig Hilberseimer oder Sigfried Giedion heißen mögen. Es gehört dazu auch der polemische Essayist und Erzähler Robert Musil selbst. Durch die moderne »Zusammenhanglosigkeit der Einfälle und ihre Ausbreitung ohne Mittelpunkt« gerät die Position des Polemikers ins Rutschen. Und Musil rutscht da absichtsvoll mit. Er zapft das große Ar-

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Hans-Georg von Arburg

Abb. 11a: Der Windhund Jussuf vor Musils Türen und Tore in Sport im Bild 34 (1928), S. 1447.

senal an polemischen Architekturmanifesten aus den 1920er Jahren an, um es gleichzeitig auszupowern. Ganz ähnlich wie der hoffnungslose Hausherr Ulrich lässt er dabei einfach die anderen machen und liefert sich dem ›Genie‹ der Lieferanten von allerlei Wohnideen und Einrichtungsratschlägen aus. Auf diese Weise werden neue Wohnformen als programmatische Rezepte aus- und nicht selten auch bloßgestellt. Aber auch der Autor und Journalist Musil selbst richtet sich so in den widersprüchlich möblierten Publikationskontexten seiner Beiträge fremd und befremdlich ›wie am Mond‹ ein. Gegen Nettelhorst, Jussuf und Konsorten ist eben kein anderes Kraut gewachsen als das der kalkulierten Selbstentfremdung. Der Architektur- und Wohnungskritiker Musil macht sich also die Spielregeln der literarischen Polemik zunutze, aber er befolgt sie nur halbherzig. Zu den wichtigsten Regeln des Polemikers

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Abb. 11b: E. van Lidth de Jeudes Erzählung Der Hirsch im Meer nach Musils Türen und Tore in Sport im Bild 34 (1928), S. 1450.

gehört es ja, dass er den Leser zu seinem ahnungslosen Agenten macht, damit dieser seinen Gegner umso blindwütiger exkommuniziert.49 Musils Ziel ist jedoch gerade nicht die Exkommunikation der modernen Wohnungsapostel von links bis rechts, auch wenn diese ihn mächtig auf Trab bringen. In seinem Visier taucht vielmehr das intellektuelle Schlachtgetümmel selbst und das Kriegsgeschrei als solches auf, das sich allenthalben um das Neue Wohnen erhob. Und deshalb kann auch Musils Leser mit den nicht nur im Roman, sondern auch in der essayistischen Publizistik an verschiedene Meinungsträger delegierten Statements nicht einfach mitlaufen. Er muss sich selbstständig seinen Weg durch das Stimmengewirr bahnen, um sich zwischen den konkurrierenden Verdikten und Versprechen irgendwie einzurichten. 49

Vgl. von Matt: Grandeur und Elend literarischer Gewalt (Anm. 21), S. 35 und 41 f.

Gunther Martens

»Was wirst Du machen, wirklich Teneriffa?« Die Polemik aus der Sicht der experimentellen Psychologie. Oder: Robert Musil und die Affen Abstract: So far Musil’s interest in Darwin has not been at the forefront of critical attention. This contribution aims to show that Musil was closely acquainted with the animal experiments of his former colleagues and with the underlying methodological questions of principle. Musil’s settling of accounts with popular Darwinism as a kind of inverse idealism was scathing and satirical, yet animal psychology continued to inform both his literary writings and his view of political events. Wolfgang Köhler’s attempt to provide an empirical foundation for Gestalt psychology met with fierce opposition and even ridicule. Musil responded to the animal experiments of his former fellow students in ways that have not been explored so far. At the centre of this contribution is a reinterpretation of Die Affeninsel, which is read, against the grain of the author’s later cue, as a revenge phantasy and against the backdrop of the Methodenstreit between Gestalt psychology and behaviorism. This debate had a deeper influence on Musil than Ernst Mach with his loosely Darwinian concept of »cognitive economy«, and a more lasting one as well, informing even texts as late as Musil’s lecture Über die Dummheit and his sketches for a satirical sci-fi novel. This contribution shows that Musil was to some extent forced to backpedal on his own scepticism towards human ethology later in life, when mass democracies abolished themselves under the pressure of habit-forming communication techniques straight out of the behaviorist textbook.

Musils Verhältnis zu den ›Meistern des Verdachts‹ Freud, Nietzsche und Marx kann als gut erforscht betrachtet werden. Die »genauere Verortung der naturwissenschaftlich-biologischen Wissensbestände in Musils Werk« (Stichwort: Darwin) gilt aber nach wie vor als »Forschungsdesiderat«.1 Bekanntlich hat Musil die Empirisierung von sowohl Biologie als auch Psychologie, die seinen Gang durch die Wissenschaft begleitet haben, als Herausforderung und Provokation des angestammten Literaturbegriffs wahrgenommen und sowohl zu korrigieren als auch zu integrieren versucht. Der Beitrag unternimmt den Versuch, die Spuren von Musils Nähe zu den Grazer und Berliner Instituten für Psychologie und deren durchaus auch polemisch agierenden Hauptakteuren in seinen Texten nachzuzeichnen. Auf provokative Weise hat Musil seinen Schriftstellerkollegen die Lektüre von Wolfgang Köhlers Buch Die physischen Gestalten in Ruhe und im stationären Zustand von 1920 als Zeugnis einer kopernikanischen Wende 1

Werner Michler: Biologie/Tiere, in: Robert-Musil-Handbuch. Hg. v. Birgit Nübel u. Norbert Christian Wolf. Berlin, Boston 2016, S. 565–571, hier S. 570.

»Was wirst Du machen, wirklich Teneriffa?«

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ans Herz gelegt (vgl. GW II, S. 1085). Weit weniger deutlich jedoch ist, wie stark er dabei die empirische Herleitung aus von Alleschs und Köhlers Erfahrungen auf der Anthropoidenstation auf Teneriffa (dokumentiert in Intelligenzprüfungen an Menschenaffen, 1917 erstmals referiert, 1922 erschienen) berücksichtigt hat. Im Folgenden möchte ich die Hypothese entwickeln, dass Musil sich in diesem Umfeld nur beschränkt für die experimentelle Methode als Wissenschaft und Beruf interessierte, und zwar, weil sie mit viel Polemik einherging und er der Polemik sowohl im politischen als auch im wissenschaftlichen Bereich ambivalent gegenüberstand, dass er sich aber längerfristig die Gestaltpsychologie und deren evolutionär-empirische Grundlegung durchaus angeeignet hat. Das Fernziel meiner Überlegungen ist die Untersuchung von Land über dem Südpol, das ich als Musils Beitrag zu den literarischen Bestiarien seiner Zeit betrachte. Musil erlaubt sich Polemik, trotz aller Vorbehalte, letztlich als intellektuelle Notwehr gegen Tendenzen, die polemische Schärfe zulässig machen.

1. Robert Musil, Wolfgang Köhler und die Anthropoidenstation Teneriffa Das Zitat im Titel entstammt einem Brief von Musil an Johannes von Allesch vom 13. Dezember 1919: »Ich wünsche Dir, daß Du dann schon Ordnung innen und außen hast. Was wirst Du machen, wirklich Teneriffa?« (Br I, S. 193) Der kryptische Verweis auf Teneriffa wird von Adolf Frisé knapp kommentiert: Allesch sollte Wolfgang Köhler (1887–1967) – mit Kurt Koffka und Max Wertheimer Gründer der Berliner Schule der Gestaltpsychologie – auf Teneriffa ablösen, wo er seit 1912 an der von der Preuß. Akademie eingerichteten Anthropoidenstation arbeitete und von wo er, während des Krieges technisch interniert, erst 1920 hatte zurückkehren können [. . .]. (Br II, S. 109)

Aufgrund dieser Briefstelle kann man davon ausgehen, dass Musil über die Interna der experimentellen Psychologie seiner Kollegen bestens informiert war. Gleichwohl kann man auch hier schon eine gewisse Skepsis heraushören. Das mag mit persönlichen Vorbehalten gegen den Karriereschritt des Freundes zu tun haben; möglicherweise wusste Musil sogar um die finanziellen Probleme der Station. Carl Stumpf hatte die Anthropoidenstation der Akademie auf der spanischen Insel Teneriffa gefördert; ihre Finanzierung war aber schon während des Krieges prekär geworden,2 und das Gelände 2

Vgl. Mitchell Ash: Gestalt Psychology in German Culture, 1890–1967: Holism and the Quest for Objectivity. Cambridge 1998, S. 166. Die Affen wurden an den Berliner Zoo verkauft.

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wurde 1920 geschlossen.3 Bekanntlich hatte sich der Aufenthalt von Köhler wegen der Zeitumstände zu einem siebenjährigen ausgedehnt. Danach war keine »Teilnahme am Weltfest des Todes« (Thomas Mann) mehr möglich. Bislang sind Musils Bedenken gegen die konkrete experimentelle Arbeit sowohl der Ingenieure als auch der Psychologen des Berliner Instituts stark betont worden.4 Musils Tierbilder, so der bisherige Forschungskonsens, nähmen, trotz großer Vertrautheit mit den verschiedenen »tierpsychologischen Studien, die Oskar Pfungst und Wolfgang Köhler – beide mit Musil seit den Berliner Studientagen bekannt – in den Jahren vor und während des Ersten Weltkriegs durchführten«,5 keinen direkten Bezug auf dieses Wissen: »Hans, das rechnende Pferd«, die anderen Tiere, die in diesen Jahren Schlagzeilen machten, sowie die »Affen, mit denen Köhler auf Teneriffa arbeitet, kommen in Musils Geschichten nicht vor.«6 Die jüngere Forschung sieht das jedoch anders.7 Im Vordergrund steht hier also die Frage, wieso Musil Wolfgang Köhlers theoretische Schrift zu den größten Tendenzen des Zeitalters rechnete, letztlich aber auf den Versuch der experimentellen Grundlegung der Gestalttheorie nicht einging.8 Mir geht es nicht darum, Musil auf evolutionär-psychologisches Wissen bzw. auf konkrete Darwin-Bezüge oder Nennungen hin auszuschlachten. Vielmehr soll der Nachweis geführt werden, dass bei ihm ein evolutionär geprägtes Wissen vorhanden ist, das sich auf die Darstellung der literarischen Figuren auswirkt und das für Musils Verhältnis zur Polemik relevant ist. Das Ausmaß, in dem Musils Texte eine Anschlussfähigkeit an die soziobiologische Theoriebildung aufweisen, birgt nämlich polemisches Potenzial in sich; allerdings artikuliert Musil seine Position auf eher unpolemische Weise und zwischen den Zeilen. Er vollzieht eine Gratwanderung zwischen seinem Glauben an die Optimierungsmöglichkeiten anhand der Psychotechnik und seinem Widerwillen gegen krude Züchtungs- und Selektionslehren, die andere daraus ableiten. Es wird ohne Polemik mit Ansätzen experimentiert, aus 3 4 5 6 7 8

Vgl. Margret Kaiser-El-Safti, Matthias Ballod: Musik und Sprache. Zur Phänomenologie von Carl Stumpf. Würzburg 2003. Vgl. Karl Corino: »Herr Musil wird niemals ein ordentlicher Ingenieur«. Die Verwirrungen des Zöglings Törleß als Produkt der Stuttgarter Langeweile, in: Musil-Forum 35 (2017/2018), S. 236–244. Christoph Hoffmann: Augen und Blicke. Robert Musils Tierbilder, in: Medien, Technik, Wissenschaft. Wissensübertragung bei Robert Musil und in seiner Zeit. Hg. v. Ulrich Beil, Michael Gamper u. Karl Wagner. Zürich 2011, S. 209–218, hier S. 210 f. Ebd., S. 210. Vgl. Ulrich Stadler: Rätsel und Witz, Hans und Pfungst. Robert Musil: Kann ein Pferd lachen?, in: Der Witz der Philologie. Rhetorik – Poetik – Edition. Festschrift für Wolfram Groddeck zum 65. Geburtstag. Hg. v. Felix Christen u. a. Basel, Frankfurt a. M. 2014, S. 232–244. Zu Köhlers Entscheidung, die experimentelle Herleitung im als Brückenschlag zwischen Physik und Psychologie gedachten Buch quasi unerwähnt zu lassen, vgl. Ash: Gestalt Psychology in German Culture (Anm. 2), S. 169.

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denen sich Musil mit seiner Entscheidung für die Laufbahn als Schriftsteller bewusst herausgehalten hat.

2. Zwei Definitionen der Polemik Bislang habe ich in Veröffentlichungen zum Thema »Musil und die Polemik« den Schriftsteller mit unterschiedlichen Autoren (Karl Kraus, Ernst Jünger, Elias Canetti) verglichen.9 Richtungsweisend war dabei ein Interesse an der Narratologie und der Stilistik, das die Polemik vor allem als sprachliches Verfahren fokussierte. Diese Herleitung der Polemik aus der rhetorischen Tradition dominiert weiterhin die einschlägige Forschung, läuft aber möglicherweise auf eine veredelte, wissenschaftliche Abwandlung des Begriffs hinaus. Wie aus den Arbeiten der einschlägigen DFG-Forschergruppe »Gelehrte Polemik« zu ersehen ist, gibt es die Möglichkeit, eine »auf Konfrontation, Dissens und Lagerbildung hin ausgerichtete[ ] polemische[ ] Haltung programmatisch« zu definieren.10 Insbesondere die jüngere Forschung zur Polemik hebt den epistemischen Mehrwert polemischer Kommunikation hervor: »So dient, recht betrieben, die Polemik nicht nur als etabliertes Mittel gelehrter Rangstreitigkeiten, sondern als Medium der Sinn- und Wissensproduktion.«11 Die Polemik ist, so verstanden, »keine definierte literarische Gattung, sondern eine Redeform, die jedoch literarische Gattungen wie die Streitschrift und das Streitgespräch hervorgebracht hat. Zur rhetorischen Konfliktverschärfung bedient sich der Polemiker oftmals der Übertreibung, der Ironie, des Sarkasmus, des Zynismus und der Satire.«12 In Vergleichen mit anderen scharfzüngigen Schriftstellerkollegen hat Musil überwiegend den Part der Abklärung, der Deflation von Pathos übernommen. Musil hat sich selbst quasi die Relevanz für das Thema ›Polemik‹ abgesprochen, indem er jeder Form von Agitatorik eine klare Absage erteilt: »[J]a selbst von der Sehnsucht umgeben nicht zu schreiben sondern zu organisieren, agitieren, Zeitungen zu gründen, den Hansabund zu führen, von dem Bewußtsein umgeben, zu all dem die Kraft zu rauben, all das anderen zu überlassen [. . .].« (GW II, S. 1313) Man könnte behaupten, dass Musil in intellektuellen Angelegenheiten für die Verwendung von Polemik genauso wenig Verständnis hatte wie für die 9

10 11 12

Vgl. Gunther Martens: Argumente für die ›Gestalt‹ des ›neuen Soldaten‹? Musils Mann ohne Eigenschaften und Jüngers Der Arbeiter im sprachlich-rhetorischen Vergleich, in: Neophilologus 92 (2008), H. 2, S. 279–297; ders.: Rhetorik der Evidenz, Schreibweisen der Kontingenz: Ernst Jünger, Robert Musil, Karl Kraus, in: Terror und Erlösung. Robert Musil und der Gewaltdiskurs der Zwischenkriegszeit. Hg. v. Hans Feger, Hans-Georg Pott u. Norbert Christian Wolf. München 2009, S. 43–64. Andrea Albrecht: Polemik, in: Über die Praxis des kulturwissenschaftlichen Arbeitens. Ein Handwörterbuch. Hg. v. Ute Frietsch u. Jörg Rogge. Bielefeld 2014, S. 306–310, hier S. 306. Ebd., S. 307. Ebd., S. 308.

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Musik und für die empirische Musikpsychologie, die er im Laboratorium bei Stumpf beobachten konnte. Unschwer kann man aus der nachfolgenden Charakterisierung der Musik zentrale Techniken polemischer Kommunikation herauszuhören: Ist vielleicht die Dummheit musikalisch? Dauernde Wiederholungen, eigensinniges Beharren auf einem Motiv, Breittreten ihrer Einfälle, Bewegung im Kreis, beschränkte Abwandlung des einmal Erfaßten, Pathos und Heftigkeit statt geistiger Erleuchtung [. . .]. (Tb II, S. 1210)

Die Polemik ist, etwa in ihrer sprachlich-literarischen Realisierung bei Karl Kraus, Thomas Bernhard und Elfriede Jelinek, als musikalisch zu betrachten. Diese Besonderheit mag zu Musils Antipathie gegenüber Karl Kraus beigetragen haben. Mittlerweile hat sich die Kraus-Forschung systematisch auf das Thema Pathos eingelassen. Auch mit Blick auf diese Befunde kann man nur feststellen, dass Musil vielleicht zu jenen Autoren gehört, die die ›Fackel im Ohr‹, jedoch nicht im Munde hatten. Dieser Vorbehalt gegen die Polemik ändert allerdings nichts am Befund, dass Musil in Kritiken zu Theaterstücken und AutorInnen, die er für intellektuell nicht ebenbürtig hält, durchaus polemische Töne anstimmt.13 Es wäre grundsätzlich falsch, es bei dieser Fehlanzeige zu belassen. Musils Beschäftigung mit Polemik als Diskursform ist, abgesehen von den Theaterkritiken, auf einer breiteren Ebene anzusiedeln.14 Zu diesem Zweck gehe ich zunächst von der Frage nach Musils Verhältnis zur Wissenschaft aus. Polemik soll dabei weniger als eine hyperbolische Form der Kommunikation, die, systemtheoretisch gesprochen, aus der Zurechnung von Kommunikation auf eine Person besteht, betrachtet, sondern eher im Rahmen eines Rekurses auf evolutionstheoretische Ansichten zu menschlichem und animalischem Konkurrenz- und Kooperationsverhalten angesiedelt werden. Denn gerade im Falle Musils trifft die Definition ›ad personam‹ nicht wirklich zu, da er seine polemischen Einstellungen oft indirekt und über den Weg der fiktionalen Beschreibung von typischen Dispositionen und Haltungen artikuliert. Folglich ist die Definition von Polemik um eine Bezugnahme auf Darwin zu erweitern, nämlich um Aspekte der Körperlichkeit (Hexis) und letztlich auch der Sexualität. Canettis Augenzeugenbericht bescheinigt Musil eine kämpferische 13

14

Vgl. Norbert Christian Wolf: Zwischen Diesseitsglauben und Weltabgewandtheit – Musils Auseinandersetzung mit den Berliner literarischen Strömungen, in: Robert Musils Drang nach Berlin. Internationales Kolloquium zum 125. Geburtstag des Schriftstellers. Hg. v. Annette Daigger u. Peter Henninger. Bern u. a. 2008, S. 185–232. Olav Kramer bescheinigt Ulrich eine »betont wissenschaftsnahe, metaphysikfeindliche, skeptisch-desillusionierende und tendenziell destruktive Haltung« (Olav Kramer: Ethos und Pathos des Metaphysikverzichts bei Ernst Mach, Max Weber und Robert Musil, in: Ethos und Pathos der Geisteswissenschaften: Konfigurationen der wissenschaftlichen Persona seit 1750. Hg. v. Ralf Klausnitzer, Carlos Spoerhase u. Dirk Werle. Berlin 2015, S. 103–131, hier S. 127).

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Unnahbarkeit, eine quasi-animalische Angriffsbereitschaft.15 Ein neulich aufgetauchtes Foto zeigt Musil als Teil einer Gruppe von Schaufechtern.16 Das Schaufechten stellt auch Männlichkeit und die Fähigkeit, Stöße zu parieren, in einem für franzisko-josephinische Verhältnisse selbstverständlichen Sinne heraus. Angesichts dieser agonalen Konstellation ist es notwendig, sich unter die Tiere, unter die Affen zu begeben.

3. Wissenschaftliche Schlagabtäusche um Affen Wenn man sich Handbücher zur Rezeption der Gestaltpsychologie ansieht, dann stellt man fest, dass die Grundlegung der Gestalttheorie von Polemiken und Kontroversen begleitet wurde, die nach damaligem Verständnis und allgemein in den vorwiegend von Männern dominierten Wissenschaften nicht ungewöhnlich waren, zusätzlich aber von einem Kulturkonflikt zwischen amerikanischen und europäischen Forschern angeheizt wurden. Musils Doktorvater Carl Stumpf ist wegen seiner Sachlichkeit gerühmt worden,17 aber er war wohl eher die Ausnahme in diesem Feld der Etablierung der Psychologie als Wissenschaft und Disziplin, in dem es um Abgrenzung ging – und mitunter sehr ruppig. Das Feld, in dem Musil sich wissenschaftlich bewegte, war ein vermintes Gelände: Man versuchte bei Lehrstuhlbesetzungen den eigenen Einfluss geltend zu machen und angesichts eines an Adolf Harnack orientierten Verständnisses von großformatiger Wissenschaftsorganisation ging es auch um die Gründung von Laboren.18 Dabei sollte man nicht nur die Exilsituation mancher Vertreter berücksichtigen, sondern sich auch die Tatsache vor Augen halten, dass Max Wertheimer und Kurt Koffka einen jüdischen Familienhintergrund hatten, was mit zusätzlichen Anfeindungen einherging. Wolfgang Köhler, dessen Buch von Musil als richtungweisend angepriesen wurde und der im Übrigen als sehr temperamentvoll galt, hat sich später vehement gegen die Entlassung von jüdischen Kollegen gesträubt, was Zivilcourage voraussetzt. Am Beispiel von Köhler lassen sich der grundlegende Streit zwischen Behaviorismus und Gestalttheorie und dessen polemische Zuspitzung im wissenschaftlichen Diskurs der Zeit sehr gut beschreiben. In den Intelligenz15 16 17 18

Vgl. Elias Canetti: Das Augenspiel. München 1985, S. 231. Vgl. dazu Karl Corino: Robert Musil trainiert seine Muskeln: Der Dichter war auch ein Bodybuilder, in: Neue Züricher Zeitung, 10. 2. 2019. Vgl. S. 31 in diesem Band. Vgl. Tb I, S. 925: »Diese nüchterne u. wissensch. Atmosphäre war doch ein Verdienst dieses Lehrers, der wohl nicht bloß durch Zufall die bedeutendsten Schüler hatte.« Vgl. Donald M. Borchert: Wolfgang Köhler, in: Encyclopedia of Philosophy. Detroit 2006, S. 126: »Köhler was an ardent controversialist, and he engaged in a continuing polemical defense of the Gestalt theory.« Der Name Harnack steht für die um bedeutende Persönlichkeiten zentrierte Forschung im Umfeld der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft bzw. später der Max-PlanckGesellschaft.

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prüfungen geht es Köhler darum, bei Affen eine dem Menschen ähnliche instrumentelle Vernunft nachzuweisen. Dieser Nachweis hängt mit dem Gebrauch von Werkzeugen zusammen, geht aber auch in die Richtung, den Affen die Möglichkeit der Einsicht zu unterstellen. Köhler zufolge lernt man nicht durch Versuch und Irrtum, sondern durch Einsicht. Wolfgang Köhler versuchte mit seinen Experimenten, den Affen ein einsichtiges Verhalten zuzuschreiben, und zwar im holistischen Sinne nach dem Muster der Gestaltpsychologie, als Plötzlichkeit: Ihnen ›geht ein Licht auf‹, was auf die Fähigkeit schließen lässt, Hintergrund von Vordergrund, Ordnung von Redundanz unterscheiden zu können. Es sind dies Hypothesen, die gegen den Behaviorismus und die Assoziationspsychologie gerichtet sind. Das Experiment, das Köhler im Jahre 1914 auf Teneriffa vornahm, bestand darin, dass der Schimpanse Sultan die Distanz zu einer vordem unerreichbar hoch hängenden Banane verkleinerte, indem er mit Kisten einen (wackligen) Turm baute. Den Menschenaffen konnte Problemlösungskompetenz nachgewiesen werden, indem sie ohne jedwede Konditionierung zu dieser Lösung fanden oder voneinander diese Problemlösung übernahmen. Wolfgang Köhler betont dabei sehr stark die Ähnlichkeit zur menschlichen Problemlösungskompetenz. Die Einsicht, die der veränderten Strukturierung des Raums vorausgeht, wird als blitzartig, als Aha-Erlebnis umschrieben. Mit dieser Ansicht ging Köhler auf Distanz zu den Behavioristen, die das Verhalten von Tieren (und Menschen) auf erfolgreiche Dressur zurückführen. Es kann nachgewiesen werden, dass Musil Köhlers Intelligenzprüfungen gelesen hat;19 weniger gut erforscht ist jedoch, wie er sich zum anderen Lager, dem Behaviorismus, verhalten hat. Gleichwohl reflektiert Musil deutlich die grundlegenden Positionen. Dass Köhler selbst mit seinem teilweise gestalttheoretischen, teilweise empirischen Ansatz in eine Polemik mit den Behavioristen geraten würde, war abzusehen. Vor allem der vermeintliche Anthropomorphismus von Köhlers ›Forschungsdesign‹ war Zielscheibe zahlreicher Polemiken. So hat sich sogar der namhafte Vertreter des Behaviorismus B. F. Skinner zu einer Parodie auf Köhlers Affenexperimente verstiegen, die, obwohl späteren Datums, wegen ihrer polemischen Schärfe in diesem Kontext eine nähere Beachtung verdient: A »scientist« in a white lab coat is seen pointing to [. . .] a basket hanging from a high branch of a tree on a long rope, some boxes to be piled by the ape to reach the basket and a banana [. . .]. The scientist picks up the banana, climbs a ladder against the tree, and reaches for the basket. He slips, grasps the basket, and finds himself swinging from the rope. He begs the ape to pile some boxes under him so he can get down, but the ape refuses until the scientist throws him the banana.20 19 20

Vgl. Michler: Biologie/Tiere (Anm. 1), S. 566. Zit. nach: D. Brett King, Michael Wertheimer: Max Wertheimer and Gestalt Theory. New Brunswick, London 2005, S. 245.

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Wenn man die Attacke des Erzbehavioristen etwas genauer liest, dann stellt man fest, dass Skinner gegen das Experiment eigentlich das gleiche Argument ins Treffen führt, das auch Oskar Pfungst gegen die vorhin erwähnte, vermeintliche Intelligenz des Pferdes eingewendet hatte: Das Tier orientiere sich am Menschen, der das Experiment in Gang gesetzt habe und so als wenig geschickt getarnter Dompteur die vermeintlich einsichtigen Verhaltensweisen auslöse. Die unterstellte Sinnhaftigkeit der Konstellation, die der Forderung nach objektiven Laborsituationen zuwiderlaufe, wird vom Positivisten als Manko kritisiert, während sie in einem mehr phänomenologisch und holistisch orientierten Umfeld, dem die Gestalttheoretiker (und wohl auch Musil) angehören, als in einem gewissen Grade unumgänglich aufgefasst wird. Wenig später (1942) wird das Heider-Simmel-Experiment zeigen, wie sehr Menschen dazu neigen, nicht nur Tieren, sondern sogar geometrisch abstrakt gezeichneten Objekten Kausalität und Intentionalität zuzuschreiben und sie in ein Narrativ einzubetten. Daraus hat Daniel Hutto, unter Verweis auf Fritz Heider, den letzten Doktoranden Alexius Meinongs, später seine »Narrative Practice Hypothesis« abgeleitet, die mit Musils Ausführungen in Mann ohne Eigenschaften zur Rolle des Erzählerischen in der Weltwahrnehmung durchaus kompatibel ist.21 Es geht jetzt nicht um den philologischen Nachweis, wie konkret Musil sich mit diesen Affenexperimenten auseinandergesetzt hat. Nachweislich hat er sehr kritisch die Verehrung von Pawlow und von dessen Konditionierungsexperimenten verfolgt.22 Man könnte sich an dieser Stelle schon mit dem Hinweis begnügen, dass Musil nicht daran interessiert war, in polemisch geführte wissenschaftliche Debatten einzusteigen. Ein Vorbehalt gegen solche Auseinandersetzungen klingt im Mann ohne Eigenschaften an, wenn davon die Rede davon ist, dass Ulrich sich für diese Karriere, als »Stütze« und Sprosse auf der Leiter für andere zu fungieren, nicht hergeben will (MoE, S. 44). Andererseits kann man nachweisen, dass sich Musil zu der gestalttheoretischen Auffassung von Lernpsychologie bekennt, wie sich im nachfolgenden Zitat aus dem Mann ohne Eigenschaften zeigt: In anderer Hinsicht wieder vollzieht sich die Lösung einer geistigen Aufgabe nicht viel anders, wie wenn ein Hund, der einen Stock im Maul trägt, durch eine schmale Tür will; er dreht dann den Kopf solange links und rechts, bis der Stock hindurchrutscht, und ganz ähnlich tun wir’s, bloß mit dem Unterschied, daß wir nicht ganz wahllos darauf los versuchen, sondern schon durch Erfahrung ungefähr wissen, wie man es zu machen hat. Und wenn ein kluger Kopf natürlich auch weit mehr 21 22

Vgl. Daniel D. Hutto: The narrative practice hypothesis: origins and applications of folk psychology, in: Royal Institute of Philosophy Supplements 60 (2007), S. 43–68. Vgl. schon den reißerischen Aufmacher des Zeitungsartikels: »Nur ein einziger sagt alles: das ist der fünfundachtzig Jahre alte Physiologe Professor Pawlow« (Tb II, S. 532). Es handelt sich um einen Zeitungsartikel späteren Datums aus Der Wiener Tag vom 26. 9. 1934; das Exzerpt zeigt aber, dass Musil zeitlebens die Karrieren der an der Behaviorismus-Debatte Beteiligten akribisch verfolgte.

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Geschick und Erfahrung in den Drehungen hat als ein dummer, so kommt das Durchrutschen doch auch für ihn überraschend, es ist mit einemmal da, und man kann ganz deutlich ein leicht verdutztes Gefühl darüber in sich wahrnehmen, daß sich die Gedanken selbst gemacht haben, statt auf ihren Urheber zu warten. (MoE, S. 112)

Auf den ersten Blick scheint Musil hier aus dem klassischen Fundus der behavioristischen Topik zu zitieren, denn die Trial-and-error-Vorstellung spiegelt die Kleinteiligkeit und die Rolle der Dauer in der Lernpsychologie des Behaviorismus. Gerade gegen diese Vorstellung opponiert ja die Gestalttheorie. Wenn man aber genauer hinsieht, stellt man fest, dass Musil auch an dieser Stelle zentrale Bestandteile der Gestaltpsychologie einführt, nämlich die holistische Übersummativität (»schon durch Erfahrung ungefähr wissen«), das Aha-Erlebnis (»ein leicht verdutztes Gefühl«) und die Plötzlichkeit (»auch für ihn überraschend, es ist mit einemmal da«). Dass sich Musils Überlegungen vor dem Hintergrund dieser Debatte zwischen Positivismus und Gestaltpsychologie bewegen, ist bislang kaum wahrgenommen worden. Gleichwohl ist Musil ein wichtiger Stichwortgeber für die jüngst ins Leben gerufenen Human-Animal Studies.

4. Die Affeninsel als Kritik am Vulgärdarwinismus? Die 1919 erschienene Geschichte Die Affeninsel ist bislang vor allem als Vorausdeutung auf die Willkür der Macht in totalitären Staaten interpretiert worden.23 Dabei geht sie auf Italien-Aufenthalte in den Jahren 1912/1913 zurück, was es, trotz Musils späterer Rezeptionsanleitung in der Vorbemerkung im Nachlaß zu Lebzeiten (1936), als wenig wahrscheinlich erscheinen lässt, dass diese Konnotation mit Totalitarismus und Faschismus die einzig sinnvolle ist. Im Folgenden entwickle ich den Vorschlag, diese Geschichte vor dem Hintergrund der vorhin skizzierten Debatten als prinzipielle Frage nach der Übertragbarkeit von Tierverhalten auf Menschen zu analysieren. Musil hebt unverkennbar darauf ab, die Analogie zwischen Tier- und Menschverhalten zu betonen. Dazu werden Zuschreibungen vorgenommen (»Würde«, »Haß«), die den Rahmen tierischen Verhaltens überschreiten. Auch wird die Beiläufigkeit, mit der das Alphatier sein Territorium ab- und ausschreitet, tentativ auf eine »Terrainkur« bezogen (GW II, S. 478), die eindeutig auf menschliche Verhaltensweisen verweist: »Die Terrainkur kann zur Behandlung von Herz-, Kreislauf- und Stoffwechselerkrankungen eingesetzt werden. Neben einer Ökonomisierung der Regelsysteme des Organismus und einer verbesserten neuromuskulären Koordination werden auch positive psychische Effekte im Sinne einer allgemeinen Stabilisierung (Stresstoleranz, Selbstbewusstsein, 23

Vgl. Herbert Kraft: Musil. Wien 2003, S. 213–215.

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Lebensfreude) erreicht.«24 Hier klingen also Diskurse der Hygiene und zugleich der Repräsentation und Symbolisierung von Macht an. Der Vergleich mit körperlicher Selbstpflege erhöht noch die Blindheit der Gewalt, da der Gewaltakt in dem Falle quasi beiläufig, ohne Rücksicht auf das Opfer und eher als ›Leibesübung‹ vollzogen wird – auch die Geschichte Fischer an der Ostsee (1922) vollzieht diesen Spagat. Dass es in der Affeninsel »kleine Gesichter« sind, die »die Arme in die Höhe« werfen und »die Handflächen abwehrend« vorstrecken (GW II, S. 479), passt zu der in Polemiken üblichen emotionalisierenden Strategie der synekdochischen Fokussierung auf die aussagekräftigsten Körperteile, entbehrt aber wegen der latent schiefen Darstellung nicht einer gewissen Komik. Die Wahrnehmung einer »Fläche von Haar und Fleisch und irren, dunklen Augen« sowie die Theatralität des Umschlags von der blanken »Angst« über das »befreite Geschrei[ ]« in ein »freudig schnatternd[es]« Sich-Sammeln, die billige Katharsis sowie das Casting nach Rollenmustern (»ein böser Bursche«) gemahnen alle an das Boulevardtheater (GW II, S. 479). Sprachlich ähnelt die Darstellung der Benutzung von Abstrakta im Expressionismus, für den Musil in einem Theater-Feuilleton aus dem Mai 1921 ironisch meinte, höchstens »onklig-väterliche Gefühle hegen« zu dürfen, »etwa wie sie dem Orang-Utan gegenüber dem Menschen geziemen« (GW II, S. 1483). Spätestens bei der Formulierung »die Woge von Entsetzen« sollte man aufhorchen. Dass hier durchaus auch Medienkritik im Spiel ist, scheint gar nicht so abwegig: Die Darstellung flüchtet sich auf betonte Weise in jene unpersönliche journalistische Aussageform, die Musil auch andernorts als Indiz für die nur notdürftig sublimierte, voyeuristische Faszination durch drastische Grausamkeit einsetzt: »[N]un wird es ganz unmöglich, sich so zu beherrschen, daß man weder zuviel noch zuwenig Angst zeigt« (GW II, S. 479). Diese Aussage setzt ein Vermögen zur Einfühlung voraus, das eigentlich mehr mit menschlichen Zuschauern als mit Tieren zu tun hat. Folglich geht es nicht um den Gewaltakt, sondern vor allem um die Reaktion des Publikums. Dass sich jener wie ein Ritual vollzieht, ist erst in letzter Zeit bemerkt worden.25 Die moralischen und emotionalen Kategorien, die an das Geschehen herangetragen werden, wirken bemüht und unangebracht. Den Kontrast 24

25

Christian Gutenbrunner, Gunther Hildebrandt: Handbuch der Balneologie und medizinischen Klimatologie. Berlin, Heidelberg 2013, S. 581. Max Joseph Oertel (1835–1897) empfahl die Bewegungskur im spezifischen Falle von Herzinsuffizienz. Eine jüngere kardiologische Studie zitiert Musils Affeninsel als Ausfluss des Oertel-Ansatzes. Musil kannte den Begriff wohl eher aus dem Neurasthenie-Diskurs. Vgl. Günter Riegger: Geschichte der Herzinsuffizienz (inklusive Hypertonie), in: 75 Jahre Deutsche Gesellschaft für Kardiologie – Herz- und Kreislaufforschung. Hg. v. Berndt Lüderitz u. Gunther Arnold. Berlin, Heidelberg 2022, S. 307–320, hier S. 308. Vgl. Thomas Hake: Gefühlserkenntnisse und Denkerschütterungen. Robert Musils Nachlaß zu Lebzeiten. Bielefeld 1998. Hake schreibt von »ritualisierten Konstitutentien der Organisation des erzwungenen Zusammenlebens« (S. 231). Vgl. auch Claudia Öhlschläger: Spielplatz,

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zwischen den heranzitierten heftigen Gefühlen und der Depersonalisierung hat bereits Hans Wolfgang Schaffnit kommentiert.26 Wie sehr der Vulgärdarwinismus dazu tendierte, animalisches Verhalten zu anthropomorphisieren, haben die Animal Studies inzwischen recht anschaulich dokumentiert.27 Es ist allerdings interessant zu sehen, was Musil an dieser Stelle nicht macht: Er versetzt sich nicht wirklich in die Affen hinein; die Tiere nähern sich menschlichen Verhaltensmustern an; letztere geben sich aber im Gegenzug als archaisch und animalisch zu erkennen.28 Musil beantwortet damit elegant die polemisch umstrittenste Frage des vorhin skizzierten Experiments, nämlich nach dem Ausmaß, in dem Affen aufgrund von Steuerung oder von Einsicht zum Lernen fähig sind, durchaus im Sinne eines Kompromisses zwischen Gestalttheorie und Verhaltensforschung. Man verkennt das Spezifische von Köhlers Ansatz, wenn man das Experiment wie J. M. Coetzee in seinem Roman Elizabeth Costello kritisiert. Alexandra Tischel weist darauf hin, dass Köhlers Gebrauch von Fotos als Medium der Berichterstattung über dieses Experiment ein Novum war, das dazu geführt hat, die Tiere zu anthropomorphisieren.29 Bei Musil bleiben Mensch wie Affe am Ende als Massenwesen eine black box. Die Stimmen der Tiere erscheinen als indifferentes »Schreien und Schnattern«, wodurch sie sich von individuellen Willensbekundungen unterschieden. Es handelt sich um das Tier als Art und nicht um individuelle Subjekte. Es geht Musil also in seinem »Tierbuch eines Menschen, der sich nie Tiere gehalten hat«,30 nicht darum, Tiere zu domestizieren, sondern das Animalische im Menschen sichtbar zu machen. So grausam die Szene auch anmuten mag, letztlich zeugt die Übertragung der Machtbeziehung – die mittleren Affen strafen die kleinen Affen, weil (und so wie) sie von den großen Affen mit Nichtbeachtung bestraft werden – von jener Form des Beziehungslernens, die Köhler an Affen und Hühnern

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Festung, Insel. Randzonen der Geschichtsreflexion in Prosaminiaturen und Reisefeuilletons von Franz Hessel, Joseph Roth und Robert Musil, in: Musil-Forum 35 (2017/2018), S. 195–210, hier S. 208. Vgl. Hans Wolfgang Schaffnit: Mimesis als Problem. Studien zu einem ästhetischen Begriff der Dichtung aus Anlaß Robert Musils. Berlin 1971, S. 281. Vgl. Harald Neumeyer: Peter – Moritz – Rotpeter. Von »kleinen Menschen« (Carl Hagenbeck) und »äffischem Vorleben« (Franz Kafka), in: Die biologische Vorgeschichte des Menschen. Zu einem Schnittpunkt von Erzählordnung und Wissensformation. Hg. v. Johannes Friedrich Lehmann, Roland Borgards u. Maximilian Bergengruen. Freiburg i. Br. 2012, S. 269–300. Anders argumentiert hier ein Großteil der Forschung, zuletzt Öhlschläger: Spielplatz, Festung, Insel. (Anm. 25); Hake betont sehr stark die »verblüffende Ähnlichkeit mit humanen Sozialstrukturen«, lehnt aber strikt eine biologistische Lektüre ab: »Auch hier ist die Pointe also gerade keine biologistische in jenem kruden Sinne faschistischer Rasseideologien, die Humangeschichte auf Naturgeschichte reduzieren.« (Hake: Gefühlserkenntnisse und Denkerschütterungen [Anm. 25], S. 255 u. 257) Vgl. Alexandra Tischel: Affen wie wir. Was die Literatur über uns und unsere nächsten Verwandten erzählt. Stuttgart 2018, S. 179–192. KA/Transkriptionen/Heft II/55, vgl. Tb I, S. 340.

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nachzuweisen bemüht war und die für empirische Überprüfung des Gestaltprinzips im Rahmen der animalischen Intelligenz ausschlaggebend war. In der Geschichte Die Affeninsel ist es wegen der Art der Darstellung unschwer zu sehen, dass das Alphamännchen hier an einem beliebig gewählten Opfer ein Exempel statuiert, um als ›Mann fürs Grobe‹ interessanterweise auch noch einmal stellvertretend für den eigentlichen König den Rang innerhalb der Hierarchie zu bestätigen. Dieser Akt geht phasenweise vor sich, und zwar mit einem Fokus auf (symbolische) Kommunikation und Lagerbildung sowie auf eine ganzheitliche Erfahrung der quasi-mystischen Entgrenzung, die der Erzähler aus seiner ›kinästhetischen Empathie‹ für den ›Täter‹ ableitet (»mit federnden Griffen«). Andererseits orientieren sich der Wortschatz des Strafens/Belohnens und die Betonung der Wiederholung am Behaviorismus, und zwar auf eine Weise, die die evolutionäre Grundlage von Polemik und Satire als Formen der aversiven Stimuli und der Generalprävention in Erinnerung ruft. Konkret kann diese Szene als Illustration des Ablaufs einer polemischen Auseinandersetzung gelesen werden, wobei sie dann nicht nur die Nähe dieser Kommunikation zur physischen Gewalt, sondern auch ihre Herkunft aus einer stratifizierten Gesellschaftsstruktur illustriert. Die Rede vom Rededuell behält ja einen Überrest dieses Ursprungs bei, sie betrachtet die agonale Auseinandersetzung als Vorrecht unter satisfaktionsfähigen Wenigen: »[A]llmählich heftet dieser Blick sich an einem fest; der rückt vor und zurück und fünf andere mit ihm, die noch nicht unterscheiden können, welcher das Ziel dieses langen Blickes ist« (GW II, S. 479). Uns erschreckt die Willkür des individuellen Opfers, aber auffällig sind die Passivkonstruktionen, mit denen das Agens der Gewalt, wie das bei der Berichterstattung über legitime (z. B. polizeiliche) Gewalt üblich ist, völlig der Sicht entzogen wird: »bis der Haß da ist, und der Sprung losschnellen kann, und ein Geschöpf ohne Halt und Scham unter Peinigungen wimmert« (ebd.). Fast wichtiger ist die Reaktion der glücklich Davongekommenen: Die anderen »sammeln sich freudig schnatternd an der entferntesten Stelle« (ebd.; Herv. d. Verf.). Diese stilistischen Details gehen in den vielen Deutungen, die dazu tendieren, die Geschichte auf den Faschismus zu reduzieren und so eher die »Zeitbeständigkeit dieser kleinen Satiren« (GW II, S. 474) zu unterschätzen, völlig unter. Die Absicht der Polemik, hier als Form der triadischen Kommunikation verstanden,31 ist ja aus evolutionärer Sicht, salopp formuliert, dass die Anderen darüber reden können: Dieser Befund deckt sich mit jüngeren Ansichten 31

Vgl. Cyril Lemieux: À quoi sert l’analyse des controverses?, in: Mil neuf cent. Revue d’histoire intellectuelle 25 (2007), H. 1, S. 191–212. Zur dunklen, quasi-sadistischen Lust an der altruistischen Bestrafung von (vermeintlichen) Trittbrettfahrern und an nicht-kooperativer Kommunikation vgl. auch die Studien von Fritz Breithaupt: Die dunkle Seite der Empathie. Berlin 2017, sowie von William Flesch: Comeuppance. Costly Signaling, Altruistic Punishment and Other Biological Components of Fiction. Cambridge, London 2009.

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der Primatologie, die den Ursprung der Sprache als Ausdruck des Komplexitätszuwachses von Gesellschaften verstehen. »Je größer die Gruppen, je intensiver wird gelaust und desto vielfältiger und aufwendiger ist das Geplauder. [. . .] Je komplizierter die Sprache, desto komplexer die Hierarchie im Clan.«32 In diesem Sinne ähnelt das Verhalten der Affen nicht nur der Logik des Spektakels der Hinrichtung als Affekttheater, sondern auch dem unökonomischen Aspekt der Verschwendung, der der polemischen Kommunikation wie auch der altruistischen Bestrafung inhärent ist.33 Wenn die Aufregung »wie Wasser in einem geneigten Bottich« hochschwappt (GW II, S. 479), dann ist man nicht weit von der zeitungssprachlichen Metasprache entfernt, mit der eine rege Debatte ›hohe Wellen schlägt‹ und letztlich (z. B. als ›Sturm in einem Wasserglas‹) als ephemer und oberflächlich abqualifiziert wird. Metasprachliche Benennungen polemischer Kommunikation zielen darauf ab, dass es eigentlich darum geht, eine Duftmarke zu setzen, ein Territorium zu wahren, Gebietsansprüche im Revierkampf zu signalisieren. Dieses Verhalten ist unökonomisch, da es ja logischer wäre, einen Feind mit Nichtachtung zu bestrafen. Jüngst hat man den Vorschlag gemacht, die Tiergeschichten im Nachlass zu Lebzeiten als Ironisierung des »Vulgärdarwinismus«34 zu begreifen. Im Falle der Affeninsel tut man gut daran, den Text parallel zum Kapitel »Die Irren begrüßen Clarisse« im Mann ohne Eigenschaften zu lesen, das regressives Verhalten in der Psychiatrie dokumentiert (und auf quasi zeitgleich gemachte Beobachtungen in Rom zurückgeht): Da es nötig ist, daß wir übereinstimmen, sind natürlich zahlreiche Einrichtungen vorhanden [. . .]. [L]aß ihre Einflüsse auch nur einen Augenblick aussetzen und überlasse ihr Geschäft der Vernunft, so wirst du ganz wenig später sehen, daß die Menschheit zu schnattern und in Zorn zu geraten beginnt, wie Irre durcheinandergeraten, wenn die Aufsicht nachläßt! (MoE, S. 1107 f.)

Mit dieser Parallelisierung klingt natürlich eine kontrovers geführte Debatte um das Verhältnis von Ethnologie und Primitivismus im Zeitkontext und spezifisch bei Musil an.35 Vor dem Hintergrund des Wissens um die quasi zeitgleich stattfindenden Affenexperimente der Berliner Kollegen wird es 32 33 34 35

Elke Bodderas: Verhaltensforschung. Auch bei Affen tratschen Weibchen am meisten, 2008, https://www.welt.de/wissenschaft/tierwelt/article2809552/Auch-bei-Affen-tratschen-Weibchen-am-meisten.html (aufgerufen am 5. 4. 2019). Vgl. dazu Flesch (Anm. 31). Dominik Müller: Hundekatastrophe. Das Untypische an Robert Musils Feuilletontext Die Durstigen, in: Musil-Forum 35 (2017/2018), S. 113–131, hier S. 119. Vgl. Florian Kappeler: Das fremde Geschlecht der Irren und der Tiere. Ethnologie, Psychiatrie, Zoologie und Texte Robert Musils, in: Das Geschlecht der Anderen. Eine Wissensgeschichte der Alterität: Kriminologie, Psychiatrie, Ethnologie und Zoologie. Hg. v. Sophia Könemann u. Anne Stähr. Bielefeld 2011, S. 187–208; Norbert Christian Wolf: Das wilde Denken und die Kunst. Hofmannsthal, Musil, Bachelard, in: Poetik des Wilden. Festschrift für Wolfgang Riedel. Hg. v. Jörg Robert u. Friederike Felicitas Günther. Würzburg 2012, S. 363–392, hier S. 392.

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trotz aller Vorbehalte möglich, bei Musil eine Poetik des Wilden jenseits der intellektuellen Projektion auszumachen. Die anthropologische Katabasis unter die Tiere stellt auf jeden Fall ein Experimentiergelände bereit, um über Verhaltensweisen und deren Steuerbarkeit nachzudenken. Musil interessiert sich durchaus für die experimentellen Wissenschaften, die sich auf das unvoreingenommene Beobachten von Verhalten beschränken. Der einschlägige, kontraintuitive Wortschatz bezüglich des Belohnens und Strafens, der auf etwas verquere Weise in jeder Strafe auch eine Form des Belohnens sieht, ist in den Roman eingegangen.36 Musil scheint sich sogar positive Folgen des »social engineering«-Ansatzes vorstellen zu können, wenngleich er direkte Anwendungsmöglichkeiten sozialdarwinistischer Ansätze in Frage stellt.37 Das der Polemik sowie der Dynamik des Tierverhaltens »Gemeinsame ist wohl ein Bedürfnis nach Herrschaft u[nd] Führerschaft, nach dem Wesen des Heilands«, nach »[f]este[n] Werte[n]« (Tb I, S. 896). Dieser Konnex zwischen Tierpsychologie und Gestalttheorie als einer frühen Form der Systemtheorie im weitesten Sinne des Wortes berechtigt durchaus dazu, auch im Falle der Affeninsel einmal »von einer chaotischen Entladung eines energetischen Systems und dessen Restituierung zu sprechen«.38 Der Angriff ist mehr als nur ein rein verbaler Ausrutscher; dennoch handelt es sich um eine bei Musil typische Transgression, die man auch einmal aus rein statistischer Sicht beziehungsweise mit Foucault als das geringere Übel betrachten kann. Die physische Natur der exemplarischen ›Vorführung‹ bzw. die Konzentration auf den Einzelnen (›ad personam‹) gewährleisten ja gerade, dass die Mehrheit unbehelligt davonkommt, während die moderne, psychische Macht totalitär ist. Die alte Macht gewährleistet der Masse die Anonymität und eine größere Freiheit. Gerade deswegen können die anderen »freudig schnattern«. Letztlich bleibt unentschieden und auch unerheblich, ob Musil die Affeninsel nun als Gesellschaftsparodie oder als nüchterne Verhaltensbeschreibung zur Konterkarierung des empfindsamen Touristenblicks intendiert hat.39 Der Blick des Erzählers auf die Tierwelt scheint auf jeden Fall eher zur Sachlichkeit 36 37

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»Die Psychiatrie nennt die große Heiterkeit eine heitere Verstimmung, als ob sie heitere Unlust wäre« (MoE, S. 252). »Man ist bereits so nahe daran, durch bestimmte Einflüsse allerhand entartete Zustände verbauen zu können, wie einen Wildbach, dass es beinahe nur noch auf eine soziale Fahrlässigkeit hinausläuft oder auf einen Rest von Ungeschicklichkeit, wenn man nicht aus Verbrechern rechtzeitig Erzengel macht.« (MoE, S. 252) Die hyperbolische Formulierung sollte uns nicht darüber hinwegsehen lassen, dass ähnliche Formulierungen im Aufsatz vorkommen, in dem Musil den Erfolg von Verhaltenstherapien im Bereich der Psychiatrie durchaus würdigt. Vgl. Robert Musil: Psychologie des Lehrlings, in: Der Wiener Tag, 30. 5. 1928. Öhlschläger: Spielplatz, Festung, Insel (Anm. 25), S. 207. Obwohl es im Nachlass zu Lebzeiten mehrere als mechanisch und repetitiv beschriebene Verwertungsketten und Hierarchien gibt und diese seit Bergson als Quelle der Komik bekannt sind, stellt bislang nur Rußegger die Assoziation mit einer »an Slapstick aus der Stummfilmära erinnernde[n] Szene« her, wenngleich nur mit Blick auf Slowenisches Dorfbegräbnis. Vgl.

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als zum Alarmismus zu neigen.40 Das Tierverhalten mit Terror oder Proto-Faschismus gleichzusetzen, sieht über das Allzumenschliche der Szene hinweg, nämlich, wie es in einer Notiz aus dem Umfeld des oben erwähnten Besuchs in der psychiatrischen Anstalt heißt: die »allgemeine Arbeitsteilung«, »bei der es immer Sache besonderer Menschengruppen ist, Schäden zu heilen, welche die unerläßliche Tätigkeit anderer verursacht« (MoE, S. 1721). Der Hinweis auf das »Königreich Italien« kann auch in diesem Sinne aufgefasst werden: »[S]chließlich gibt es noch ganz bestimmte Organe wie die Parlamente, Könige und dergleichen, welche ganz dem Ausgleich dienen« (ebd.). In diesem Zusammenhang fällt die durchaus positiv-idyllische Akzentuierung des Textendes ins Auge: Der Verfolger, der »achtlos in der Luft schwebt« (GW II, S. 480), garantiert auch jene »technisch phrasenlose[ ]« »Ordnung der Dinge« (MoE, S. 1721), die der Erzähler im Mann ohne Eigenschaften (vor allem in frühen Vorstufen wie Die Zwillingsschwester und in den Anfangskapiteln) unter Rückgriff auf psychotechnische Optimierungsstrategien ausmalt. Man kann also der Affeninsel weiterhin allegorisches Potenzial unterstellen, allerdings sollte man diese Szenen nicht vorschnell als Kritik an der Kollektivierung der Gesellschaft oder am Feudalismus verstehen. In dieser Geschichte gibt es durchaus Ansätze, das Spektakel dieser physischen Strafpraktik im Sinne von Foucault als das geringere Übel zu interpretieren. Anhand von Musils Überlegungen zu den Sedimenten der Tierpsychologie in der menschlichen Psychologie taucht das Bedürfnis nach Stabilisierung und Lagerbildung als neutrale anthropologische Feststellung auf. Diese abgeklärte Haltung unterscheidet sich von den stärker humanistisch geprägten Appellen an den Geist und an die menschliche Selbstverantwortung in Musils öffentlichen Stellungnahmen. Unter dem Signalwort »Organisation«41 sammelt Musil Überlegungen, die durchaus mit aktuellen Varianten behavioristischer Psychologie, etwa der Theorie vom »Nudging« (Richard Thaler), in Einklang zu bringen sind. Im Folgenden gilt es nun zu untersuchen, wie polemisch die Projektion von Tierverhalten auf Menschen bei Musil noch ist bzw. sein kann.

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dazu Arno Rußegger: Kinema mundi. Studien zur Theorie des Bildes bei Robert Musil. Wien 1996, S. 152. Eine Interpretation der Kurzgeschichte Die Affeninsel im Kontext der Neuen Sachlichkeit habe ich an anderer Stelle vorgelegt. Vgl. Gunther Martens: Verhaltene Sachlichkeit, in: Neue Sachlichkeit im Kontrast – Deutschland und die Niederlande, hg. v. Ralf Grüttemeier, Janka Wagner und Haimo Stiemer. Berlin, Boston 2020, S. 43–64, hier S. 53–56 (https://doi.org/10. 1515/9783110682052–004). Vgl. dazu systematisch Florian Kappeler: Situiertes Geschlecht. Organisation, Psychiatrie und Anthropologie in Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften. München 2012, insbesondere das Kapitel »Psychotechnik als Sozialtechnologie« (S. 134–141) sowie die Feststellung: »Der psychotechnisch inspirierte Essayismus hat also durchaus imperiale Ansprüche« (S. 148).

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5. Musil, Darwin und die Evolution Um Musils Position näher zu bestimmen, lohnt es sich nun, Musils Haltung zu Darwin und, allgemeiner, zur Verhaltensbiologie, auf zweifache Weise zu profilieren, nämlich zunächst als kritische Abgrenzung vom Populärdarwinismus. In einem zweiten Schritt soll Musils Bezugnahme exemplarisch anhand der These von der Epigenese und der Plastizität nachvollzogen werden. Es ist schon ziemlich systematisch untersucht worden, wo bei Musil evolutionäre Konzepte begrifflich genannt bzw. exzerpiert werden.42 Das ›Problem‹ besteht nun eher darin, dass jede Thematisierung, jede Nennung von evolutionärem Wissen ironisch in Musils Texte eingeht, als provokative Spekulation à la baisse, was sie eher als Kritik an der Darwin-Popularisierung und an allzu direkten soziobiologischen Herleitungen erscheinen lässt. Die Herausforderung – etwa in der Amsel (1928) – besteht darin, dass die Begeisterung für »eine materialistische Lebenserklärung, die ohne Seele und Gott den Menschen als physiologische oder wirtschaftliche Maschine ansieht« (GW II, S. 549), bei Musil häufig als jugendliche Durchgangsphase bezeichnet wird. Vielleicht trifft diese Lebensanschauung zu, »worauf es ihnen aber gar nicht ankam, weil der Reiz solcher Philosophie nicht in ihrer Wahrheit liegt, sondern in ihrem dämonischen, pessimistischen, schaurig-intellektuellen Charakter« (ebd.). Im Roman Der Mann ohne Eigenschaften gibt Ulrich den Bürgerschreck, indem er dieses populäre und popularisierte Wissen zitiert, ohne sich jedoch wirklich dafür zu begeistern: »[I]ch kann mir dieses Unbedingt-für-einanderEinspringen, dieses Gemeinsam-Kämpfen und -Wundentragen aber auch als ein urangenehmes, tief in der Menschenzeit ruhendes, ja schon in der Tierherde ausgeprägtes Gefühl denken« (MoE, S. 716). Wenn man das menschliche Verhalten auf Tierverhalten zurückführt, betreibt man Spekulation à la baisse, aber diese wird noch immer als spekulativ bezeichnet. Trotzdem kann man nicht darüber hinwegsehen, dass den Protagonisten Musils ihre evolutionär bedingte ›Fitness‹ auf geradezu groteske Weise eingeschrieben ist.43 Dies gilt übrigens auch für weibliche Figuren wie etwa Regine in Vinzenz und die Freundin bedeutender Männer, die sich gegen das passive »Beschleimtwerden« (GW II, S. 347) von Männern wie Bärli zur Wehr setzt. Das Menschenbild ist auch hier grausam und schonungslos: »Bist du nicht lebenslang zitternd auf der Lauer gelegen und zugestoßen auf sie wie ein Hecht, um 42

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Vgl. dazu zuletzt Sergej Rickenbacher: Von der Gefühlspsychologie zur Poetologie der »Stimmung«. Musils Weiterschreiben von Carl Stumpf, in: Robert Musil’s Intellectual Affinities. Hg. v. Brett Martz u. Todd Cesaratto. Bern u. a. 2017, S. 37–65: »Insofern entwirft Musil einen Emotionsdarwinismus, dem die Anpassung des emotionalen Faktors an innere und äußere Ereignisse als unabdingbares Kriterium der Existenz der Menschheit inhärent ist.« Vgl. dazu Elias Canetti: Das Augenspiel. München 1985, S. 232: »In jede Figur, die er konzipierte, setzte er einen gesunden Menschen ein, sich selbst.«

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ihnen ein Stück des ihren aus dem Fleisch zu reißen, bevor sie dich fassen können? [. . .] Jeder Mensch kommt grausig zu seinem Bruder wie ein Fisch zur Leiche.« (GW II, S. 347) Der Mensch ist der »entsprungene Affe«, der »durch Gottes unbekannte Unendlichkeit saust« (GW II, S. 385), der »[i]m Studierzimmer wie der Affe mit dem Stein in der Hand überlegt, wie er am besten die Nuß aufschlägt« (GW II, S. 331). Trotz des primitiv-animalischen Subtextes überwiegt auch im Drama Die Schwärmer die Warnung vor pseudodarwinistischen Heilslehren, wie sie die Firma »Newton, Galilei & Stader« mit bedenklichen Anleihen bei »hereditärer« Anlage und Graphologie vertritt (GW II, S. 338 f.). In ihrer Studie Vom Übertier rekonstruieren Benjamin Bühler und Stefan Rieger die Vorgeschichte der kybernetischen Informationstheorie in den literarischen und wissenschaftlichen Diskursen zu Tierexperimenten. In ihrem 2006 erschienenen Buch kommen sie dabei auf Musil zu sprechen, wenngleich vor allem auf das »geniale Rennpferd« und auf Musils Überlegungen zum Muskelgedächtnis beim Sport und beim Schwimmen. Über Musils Faszination für die in Situationen hoher Geschwindigkeit automatisierten Körperfähigkeiten schreiben sie: Was Musil als Option auf den anderen Zustand und den Durchbruch von Persönlichkeitsstrukturen feiert, ist als natürliche Fähigkeit im Tier verkörpert. Dieses vermag aus der Latenz eines Unbewussten heraus zu handeln und dokumentiert so seine Überlegenheit.44

Dass sich diese einfachsten motorischen, physiologischen Dynamiken dem Bewusstsein (»daß sich die Gedanken selbst gemacht haben«; MoE, S. 112) und letztlich auch der Sprache entziehen, setzt einerseits das ästhetische Potenzial jener »motorischen Extase« (Tb I, S. 659) frei, macht aber andererseits den Menschen auch für Lenkung von höherer Warte aus anfällig. Im Dialog mit den rückwärtsgewandten Humanisten wie Arnheim bekundet Ulrich im Roman Hoffnungen auf eine psychotechnische Optimierung sozialer Fragen anhand »geistiger Organisation«: »[H]eute lebt man ohne leitende Idee, aber auch ohne das Verfahren einer bewußten Induktion, man versucht darauf los wie ein Affe!« (MoE, S. 636) Roland Innerhofer und Katja Rothe haben Musils Nähe zu der informationstheoretischen Auslegung dieser Tierexperimente als Regulierungswissen erkannt, sehen aber Musil auf eine eher humanistische Auslegung dieses Wissens fokussiert, die den Menschen nicht einfach als Herdentier kollektiv zu regulieren gedenkt.45 Im Folgenden kann aber gezeigt werden, dass Tieranalogien bei Musil durchaus im Horizont der Frage nach Bewusstsein und Intelligenzprüfungen stehen und dass dabei ge44 45

Benjamin Bühler, Stefan Rieger: Vom Übertier. Ein Bestiarium des Wissens. Frankfurt a. M. 2006, S. 37. Vgl. Roland Innerhofer, Katja Rothe: Regulierung des Verhaltens zwischen den Weltkriegen. Robert Musil und Kurt Lewin, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 33 (2010), H. 4, S. 365–381.

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rade den intelligentesten Tieren auch eine Überlegenheit dieser motorischkörperlichen Intelligenz nachgesagt wird: So ist der habilitierte Bibliothekar, der niemals Bücher liest, inzwischen zum locus classicus einer Gelehrtensatire avanciert, aber selten wird beachtet, dass Musils Erzähler seine Wertschätzung dadurch zum Ausdruck bringt, dass der Bibliothekar »wie ein Affe eine Leiter hinauf[fährt] und auf einen Band los, förmlich von unten gezielt, gerade auf diesen einen« loszugehen in der Lage ist (MoE, S. 461). Solch evolutionär vererbtes und bedingtes Geschick klingt bereits auf der ersten Seite des Mann ohne Eigenschaften an. Gleich zu Anfang des Romans wird aber der Verweis auf die »Hordenzeit« stark abqualifiziert: die »Überschätzung der Frage, wo man sich befinde, stammt aus der Hordenzeit, wo man sich die Futterplätze merken mußte« (MoE, S. 9). Man hat diese Aussage als ironisch interpretiert, als latente Kritik an einer positivistisch-szientistischen Weltsicht, von der sich der Protagonist im Roman ja gerade entfernt, oder als Kritik an der Blut-und-Boden-Literatur.46 Zum Teil entschärft man aber dadurch den Erzählerkommentar, denn Musils Poetik lässt sich durchaus auf biologische Sachverhalte beziehen, die, genauso wie Bezugnahmen auf die Physik, immer dann auftauchen, wenn es darum geht, einen zu naiver Harmonie und ›Realienarmut‹ (im Sinne von Kittlers ›Austreibung des Geistes‹) tendierenden Humanismus herauszufordern. Ironisch gefärbte Anspielungen auf das survival of the fittest, Futterneid und dergleichen gibt es allenthalben in Musils Œuvre: Im kurzen Text mit dem Titel Wer hat dich, du schöner Wald . .? im Nachlaß zu Lebzeiten führt Musil gegen die romantisch geprägte, subjektiv-einfühlende Betrachtung der Natur den ironisch-bösen Blick ins Feld. Dieser »böse Blick« stellt heraus, dass hinter der Fassade des auf den ersten Blick ruhigen und zeitlosen Waldes, wie er im von Eichendorff verfassten und von Mendelssohn Bartholdy vertonten Lied besungen wird, ein bitterer Kampf, ein richtiger survival of the fittest stattfindet. Wenn man scharf hinsieht, kann man sogar erkennen, daß diese freundlichen Riesen sich Licht und Boden mit dem Futterneid von Pferden streitig machen [. . .]; es sieht [. . .] so moralisch erbaulich [aus] wie der schöne Zusammenhalt von Familien, aber in Wahrheit ist es der Abend einer tausendjährigen Schlacht. [. . .] wo du einen einheitlichen urwüchsigen Wald siehst, ist es ein Heerhaufen, der sich auf dem erkämpften Schlachthügel befestigt hat; und wo dir gemischter Baumschlag das Bild friedlichen Beisammenseins vorzaubert, sind es versprengte Reiter, zusammengedrängte Reste feindlicher Scharen, die einander vor Erschöpfung nicht mehr vernichten können! [. . .] Urwälder haben etwas höchst Unnatürliches und Entartetes. (GW II, S. 526 f.)

Bekannt ist Musils Aussage, dass der Mensch ebenso leicht »der Menschenfresserei wie der Kritik der reinen Vernunft« (GW II, S. 1081) fähig sei. Die 46

Vgl. Norbert Christian Wolf: Kakanien als Gesellschaftskonstruktion. Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts. Wien u. a. 2011, S. 270.

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Anekdote geht auf einen Reisebericht von Alexander von Humboldt zurück, den Musil nachweislich gelesen hat. Es ist bezeichnend, dass Musil mit einer Fehlattribution (an Wilhelm von Humboldt; vgl. Tb II, S. 449) das Zitat in den Kontext der Pädagogik stellt. Denn in nucleo klingt hier auch das für so unterschiedliche pädagogische Programme wie die des Bauhauses und der russischen Psychologie gemeinsame Credo von der Bildsamkeit bzw. der Formbarkeit des Menschen an. In überspitzter Form steht für dieses Ideal das behavioristische Experiment von John B. Watson ein: Watson hatte einem Kind im frühesten Alter (»little Albert«) eine bisher nicht vorhandene Angst vor weißen Ratten antrainiert. Das Experiment war noch umstrittener als die polemischen Auseinandersetzungen zwischen Skinner und Köhler, und Watson wechselte rasch in die Privatwirtschaft, wo er das Wissen um Konditionierung in die Werbung umsetzte. Ob Musil die einschlägigen Artikel aus den Jahren 1917 und 1920, die zu den meistzitierten Texten der Psychologie gehören,47 gelesen (oder die Filmdokumentation gesehen) hat, kann nicht eruiert werden; ähnliche Positionen vertrat aber schon früher Hugo Münsterberg. Es gibt darüber hinaus handfeste Indizien, dass Musil mit amerikanischen Ansätzen der pragmatischen Psychologie vertraut war. So hat Andrea Albrecht jüngst nachgewiesen, dass Musils Beschäftigung mit dem Pädagogen Georg Kerschensteiner eigentlich auf eine direkte Rezeption von John Deweys How we think (1910) hinausläuft.48 Auch Musil selbst schwenkt wegen seiner physiologischen Sichtweise auf die körperliche Basis der menschlichen (oder animalischen) Psyche auf den Kurs der z. B. auch von William James propagierten pragmatischen experimentellen Psychologie ein, die sich einerseits am Körperlichen, andererseits an der Analyse des alltäglichen Sprachgebrauchs orientiert. Wenn man Musils – für die literarische Polemik höchst relevante – Beschreibungen des Zustandekommens von Wut liest, dann stellt man fest, dass es sich aus Musils Sicht um einen zunächst körperlichen Reiz handelt. Dies ähnelt der berühmten Analyse der Angst bei William James: »Wir fliehen also nicht vor der Schlange, weil wir Furcht verspüren, sondern unsere dem Reiz folgenden körperlichen Reaktionen (Erweiterung der Pupillen, schnel47 48

John B. Watson & J. J. B. Morgan: Emotional reactions and psychological experimentation, in: The American Journal of Psychology 28 (1917), S. 163–174; J. B. Watson, R. Rayner: Conditioned emotional reactions, in: Journal of Experimental Psychology 3 (1920), H. 1, S. 1–14. Andrea Albrecht: »Die Kunst ist nur der Affe dieser Gedankenkämpfe«: Erkenntnisprozesse in literarischer Darstellung bei Hermann Broch und Robert Musil, in: Literarische Denkformen. Hg. v. Marcus Andreas Born u. Claus Zittel. München 2018, S. 273–298. Obwohl Dewey und seine pragmatische Psychologie im amerikanischen Kontext der Tendenz nach eher als Antagonisten des Behaviorismus gehandelt werden, war Dewey auch Watsons Lehrer und die reformpädagogischen Rezepte von How we think würden von der Warte der Tradition des Deutschen Idealismus aus problemlos als »Treibhaus« (Herder) und Dressur gelten. Diese kritische Sichtweise auf die Verhaltenstherapie übernimmt Musil in seinem fiktionalen Œuvre, aber seine Schreib- und Rauchpraxis und die Überwindung seiner Schreibblockade richtet er ziemlich genau danach aus.

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ler Atem, Muskelanspannung, erhöhter Pulsschlag) sind die Emotion.«49 Auf ähnliche Weise beschreibt Musil das Gefühl der Wut, indem er es auf körperliche Erscheinungsformen zurückführt, die dem Gefühl quasi vorausgehen: »der entmächtigende Druck ist vorhanden, der dem vorangeht und von dem es [i. e. das Schimpfwort] befreien soll: man ›erstickt fast‹, [. . .] man muß sich ›Luft schaffen‹« (GW II, S. 1283; Herv. d. Verf.). Auch die scheinbar selbstverständliche aufrechte Haltung des Menschen (im Gegensatz zum Affen) wird zum wackligen Gleichgewicht, wenn man sich die Kaskade von unbewussten körperlichen Prozessen vergegenwärtigt, das Ineinander von feinmotorischen Fähigkeiten, das diese Haltung stabilisiert und das Musil im Mann ohne Eigenschaften liebevoll auseinandernimmt: Das ist schon genau so, wenn man einfach nur geht: hebt den Schwerpunkt, schiebt ihn vor und läßt ihn fallen; aber eine Kleinigkeit daran verändert, ein bißchen Scheu vor diesem Sich-in-die-Zukunft-Fallenlassen oder bloß Verwunderung darüber – und man kann nicht mehr aufrecht stehn! (MoE, S. 128)

Es geht nicht darum, Musil zum Behavioristen zurechtzustutzen oder ihn allzu direkt in anthropologische Diskussionen zu verwickeln.50 Es stimmt, dass die Rede vom »aufrechten Gang« im Interbellum inflationär weit verbreitet war,51 und zwar im emphatischen Sinne eines Alleinstellungsmerkmals des Humanums. Im Vergleich dazu gibt es bei Musil Anklänge an das behavioristische Forschungsprogramm: Dazu gehören nicht nur die Tier-MenschAnalogien, sondern zum Beispiel auch die Hochschätzung der Laborkonstellation. Manchmal lässt Musil sich zu Aussagen hinreißen, die direkt dem Behaviorismus das Wort zu reden scheinen. Bekanntlich vertritt er im Essayentwurf Der deutsche Mensch als Symptom die These, daß ein Menschenfresser, als Säugling in europäische Umgebung eingepflanzt, wahrscheinlich ein guter Europäer würde, und der zarte Rainer Maria Rilke ein guter Menschenfresser geworden wäre, wenn ihn ein uns ungünstiges Geschick als kleines Kind unter Südseeleute geworfen hätte. (GW II, S. 1372)

Dieses Zitat setzt, wie der Behaviorismus, maximal auf nurture (also »Training« oder »Umwelt« im Sinne der Anlage-Umwelt-Diskussion) bis hin zur Leugnung einer individuellen menschlichen (psychischen) Natur und ist solchermaßen eine ziemlich direkte Entsprechung zu einschlägigen Programmerklärungen des Behaviorismus: 49 50 51

Jan Plamper: Geschichte und Gefühl. Grundlagen der Emotionsgeschichte. München 2012, S. 210. Viel direktere Verbindungswege zwischen Affeninsel und den Anthropologien Schelers bis Gehlens sieht Burkhardt Wolf: Der befremdete Blick: Musils Sehversuche, in: Sprache und Literatur 47 (2018), H. 2, S. 133–152. Es ist interessant, dass Musil in einschlägigen Studien als Teil dieses Diskurses zitiert wird. Vgl. Kurt Bayertz: Der aufrechte Gang. Eine Geschichte des anthropologischen Denkens. München 2012, S. 361.

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Give me a dozen healthy infants, well-formed, and my own specified world to bring them up in and I’ll guarantee to take any one at random and train him to become any type of specialist I might select – doctor, lawyer, artist, merchant-chief and, yes, even beggar-man and thief, regardless of his talents, penchants, tendencies, abilities, vocations, and race of his ancestors.52

Dieses Motiv kommt auch im Mann ohne Eigenschaften vor, dort aber wird das einschlägige Heilsversprechen gehörig relativiert. General Stumm von Bordwehr versteigt sich zu der Aussage: »Wenn Sie mir die Zeitungen, den Rundfunk, die Lichtspielindustrie und vielleicht noch ein paar andere Kulturmittel überantworten, so verpflichte ich mich, in ein paar Jahren – wie mein Freund Ulrich einmal gesagt hat – aus den Menschen Menschenfresser zu machen!« (MoE, S. 1020) Wohlgemerkt ist es aber deren Umformulierung von einer Heils- in eine Verfallslehre, nicht jedoch die Idee selbst, die direkt im Anschluss von Ulrich aufs Korn genommen wird.53 Musil steht der Übertragung von materialistischem Wissen auf das menschliche Verhalten kritisch gegenüber, sobald in dieser abgeklärten Sicht auf menschliche Dinge oft ein invertierter Idealismus, ein neuer Anspruch auf Letztbegründung mitschwingt. Es sind die unwahrscheinlichsten Romanfiguren, die sich zu Wortführern sozialdarwinistischer Optimierungsprogramme aufschwingen können: Im Roman beschäftigt Diotima sich plötzlich »mit der Physiologie und Psychologie der Ehe«, aber Ulrich steht ihrem »großartigen Pessimismus« kritisch gegenüber: »[M]it Erstaunen erkannte er nun die seelen- und körperhygienische Wissensbegierde seiner Kusine, die sich in der Wahl dieser Bücher ausdrückte« (MoE, S. 816 f.). Auch wenn inzwischen bekannt ist, dass Musil zur Ausstaffierung dieser Lektüren aus sexualwissenschaftlichen Texten von Sofie Lazarsfeld zitiert,54 dürfte die Kritik daran, Materialismus als Ersatzidealismus auszugeben und naturwissenschaftliche Erkenntnisse allzu direkt auf den Bereich der Intimität zu übertragen, auf eine größere Reihe von Autoren der Darwin-Popularisierung gemünzt sein, darunter auch Bölsche. Wilhelm Bölsche, der Ahnherr der romantizistischen sexuellen Aufklärungsliteratur, bettet die Wahrheit über den Menschen (es ist die bürgerliche Wahrheit über den bürgerlichen Menschen) in eine groß angelegte Entwicklungsgeschichte der Liebe. In der ihm eigenen, sich anbiedernden, mit einem gewaltigen Wortschwall, vielen Vokativen, »Du«-Apostrophierungen, Ausrufezeichen und anderen ekstatischen Stilfiguren arbeitenden Sprache wird jedes Drüsensekret zum kosmischen Vorgang.55

52 53 54 55

John B. Watson: Behaviorism. New York 1924, S. 103 f. Vgl. dazu bereits Michael Gamper: Massen-Übertragung, in: Medien, Technik, Wissenschaft (Anm. 5), S. 193–207, hier S. 199 f. Vgl. dazu zuletzt Wolf: Kakanien als Gesellschaftskonstruktion (Anm. 46), S. 731. Hermann Glaser: Sexualität und Aggression. Sozialpathologische Aspekte der modernen Gesellschaft. Frankfurt a. M. 2016 [1975], o. S.

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Ulrich sieht im terminologischen Umschlag von der subjektiven Empfindsamkeit zur physiologischen Sachlichkeit eine vergeblich eingesetzte »Erneuerungskraft«, »die immerwährend am Werke ist, das, was sie mit den Begriffen der letzten zwanzig Jahre nicht gefunden hat, mit den Begriffen der nächsten zwanzig Jahre auch nicht zu finden« (MoE, S. 813). Der Roman enthält mehrere Figuren, die zur radikalen Konditionierung ihres eigenen Verhaltens tendieren. Wenngleich die biographische Person Musil zu ähnlichen behavioristischen Mustern und zu einem Vorläufer der Strategie der Quantifizierung des Selbst neigte, um seine Neurosen in den Griff zu bekommen, so werden gerade diese Taktiken der Konditionierung als Selbstdressur und Selbstüberwachung einer Lächerlichkeit preisgegeben, die an polemische Verbissenheit grenzt und immer wieder auch gestalttheoretische Argumente gegen diese Taktiken vorbringt.

6. Türen und Tore: Musil und die zweite Darwin-Schule Anderswo habe ich beschrieben, wie sich Musils Kurzprosa aus dem Fundus seiner experimentell-psychologischen Schulung speist.56 Man kann diese Texte auch auf ihre evolutionär-darwinistische Prägung hin abklopfen. Dazu ist ein Rekurs auf die anti-teleologischen Evolutionstheoretiker vonnöten, die ich einführe, um deren Thesen im nächsten Schritt anhand von Geschichten aus dem Nachlaß zu Lebzeiten konkret zu illustrieren. Denn Musils Hauptaugenmerk gilt, anders als bei Ernst Mach, nicht der notwendigen Adaptionsfähigkeit einer zentralen, an Darwin angelehnten Denkökonomie als Prinzip57 , sondern sein Blickwinkel geht in die Richtung nicht-funktionaler Teile, die trotzdem die Richtung der Evolution beeinflussen. Stephen Jay Gould und Richard Lewontin haben zur Bezeichnung dieser Dynamik, bei der die Emergenz phänotypischer Merkmale als Begleiterscheinung der Entwicklung anderer Merkmale und nicht als Folge von natürlicher Auslese oder Optimierung verstanden wird, den Begriff des spandrel (zu Deutsch: Spandrille) aus der Architektur abgeleitet: Als Spandrille definiert das Lexikon den Bogenwinkel zwischen einer Bogenlinie und der meist rechteckigen Umrahmung, etwa an einem Gebäude. Wenn die Evolution, dieser »blinde Uhrmacher«, einer Intention folgte, der Intention etwa: Maximierung des Reproduktionserfolges der Art, dann wären Spandrillen, was wir in den 56

57

Vgl. Gunther Martens: Rhetorik zwischen Philosophie und Literatur. Am Beispiel von Robert Musils Kurzprosa und Robert Menasses Die Vertreibung aus der Hölle, in: Nur Narr? Nur Dichter? Über die Beziehung von Literatur und Philosophie. Hg. v. Roland Duhamel u. Guillaume van Gemert. Würzburg 2008, S. 285–299. Zu den »darwinistischen Grundlagen von Machs Erkenntnistheorie«, vgl. Werner Michler: Darwinismus und Literatur: naturwissenschaftliche und literarische Intelligenz in Österreich: 1859–1914. Wien 1999, S. 291.

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Sozialwissenschaften unintendierte Nebenfolgen nennen. Es müsste sie selbst dann geben, wenn die Natur im Prinzip nichts anderes täte, als den Reproduktionserfolg zu maximieren. Alle Organismen entwickeln sich als komplexe und untereinander verknüpfte Ganzheiten, nicht als lockere Bündnisse getrennter Teile, von denen jeder für sich durch die natürliche Auslese optimiert würde. Jede adaptive Veränderung muß außerdem zusätzlich eine Reihe Spandrillen oder nicht-adaptive Nebenprodukte hervorbringen. Diese Spandrillen können später zu einer zweiten Nutzung ›kooptiert‹ werden.58

Diese Definition mag reichlich technisch und in ihrer Anwendung auf Musil anachronistisch anmuten. Dennoch trifft sie Musils Sichtweise auf die Kontingenz der Evolution aufs Genaueste, wie die ebenfalls an der Architektur ausgerichtete Geschichte Türen und Tore (1928) illustriert: Der vermeintlich fundierende, ursprüngliche »Rahmen« der Tür ist laut Musil eine Schwundstufe und ein Überrest der historisch gewordenen »getäfelten Decke[ ]«; der Rahmen ist der Tür also von der Peripherie aus »hinzugewachsen«. Erst das gestaltähnliche Umkippen der Wahrnehmung erlaubt es, diese zweite Nutzung zu registrieren. Auf ähnliche Weise sind auch Kragen und Stulpe aus einem anderen Zusammenhang heraus hervorgegangen (vgl. GW II, S. 504 f.). Aus dieser kooptierenden Sicht illustriert der Wandel der Mode, als Allerwelts- und Kulturphänomen, zugleich auch, dass der darwinistische Zugriff auf die menschliche Natur gar nicht so neu oder apokalyptisch ist. Dass Musil dieser zweiten Darwin-Schule zugeordnet werden kann, haben übrigens poststrukturalistische und posthumanistische Ansätze bereits erkannt. Beide haben ein konkretes Interesse daran, sich gegen biologistische Aussagen zur Wehr zu setzen und dabei die unten noch genauer diskutierte Exaption wie auch die Plastizität des Gehirns zu betonen. Zu diesem Zweck wird gerne auf Musils Konzept der Gestaltlosigkeit verwiesen: »An entire intellectual tradition, from Charles Sanders Peirce to Ludwig Boltzmann, via Hermann von Helmholtz and Robert Musil, develops the adaptive argument and prepares the ground for the contemporary thesis of brain epigenesis«.59 Musil betont tatsächlich die »größere[ ] Versa[ti]lität des Gehirns, die sich nur durch Generationen entwickelt« (GW II, S. 1081). Musil gesellt sich also zu den Anti-Teleologen unter den Darwinisten, die sich zu diesem Zweck auch auf Darwin selbst berufen konnten, und zwar gegen den re-teleologisierenden Darwinismus bei Haeckel, Boelsche und deren Nachfolgern im 20. Jahrhundert [. . .], insofern die Antiteleologie als Kern und Fun-

58 59

Günther Ortmann: Organisation und Welterschließung. Dekonstruktionen. Wiesbaden 2008, S. 264. Catherine Malabou: Before Tomorrow. Epigenesis and Rationality. Cambridge 2016, S. 71, unter Verweis auf Jacques Bouveresse.

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dament von Darwins eigener Evolutionstheorie verstanden werden kann. Denn für Darwin selbst hat die Evolution kein Ziel, und sie hat kein Ende.60

Dieser Aspekt der Theorie Darwins wird von Stephen Jay Gould und Elisabeth S. Vrba anhand des Begriffs »Exaption« hervorgehoben: Mit dem Begriff und dem Konzept der Exaption bzw. Exaptation versuchen Gould und Vrba, die evolutionäre Entstehung von neuen tierlichen Eigenschaften aus den linearen Modellen einer geradlinigen und zielgerichteten Entwicklung herauszunehmen. »Exaptation« bezieht sich auf tierliche Eigenschaften, die zunächst aus einem bestimmten Grund entstehen, dann aber zu einem ganz anderen Nutzen führen, so zum Beispiel die Entwicklung bestimmter Federn.61

Bei Musil ist der Faktor des Zufalls sehr präsent. Es ist dies der Ort, an dem Möglichkeitsdenken sich am ausdrücklichsten zu Wort meldet. Hier riskiere ich natürlich einen Anachronismus, denn die Animal Studies warnen davor, zoologisches Wissen aus der Zeit nach der Entstehung eines literarischen Werkes bei der Interpretation anzuwenden.62 Freilich unterschätzt diese Warnung das Potenzial einer wechselseitigen Erhellung von Wissenschaft und Literatur, zumal im Falle eines Autors wie Robert Musil, der genauestens Entwicklungen und Paradigmenwechsel beobachtet hat, deren konzeptuelle Spuren man bis in die Gegenwart hinein verfolgen kann. Der Zusammenhang von Stulpe (»Röllchen«) und Kragen dient in Türen und Tore dem Nachweis, dass Gestalt switch und Evolution einander keineswegs ausschließen. Die blitzartige, verfremdende Wahrnehmung rekapituliert hier also einen langsamen, evolutionären Prozess. Der Zufallsfaktor scheint erneut den evolutionären Glauben an Optimierbarkeit der Evolution oder Steuerbarkeit dieses Prozesses Lügen zu strafen. Dieses Verständnis von Indirektheit und Zufall reimt sich besser mit Musils Verständnis von Evolution: »[W]ir irren vorwärts« (GW II, S. 1248), und die Nachzügler von gestern werden die Vorreiter von morgen sein.63 Diese Ironie ist bei Musil eine wichtige Strategie, der evolutionären Psychologie den polemischen Stachel einer allzu direkten Übertragung auf das Humanum zu nehmen; die ironische Perspektive auf Biologie besteht darin, ihre Basis in normal-menschlichem Verhalten zu betonen und ihre kontextuelle Plastizität hervorzuheben.

60 61 62 63

Roland Borgards: Evolution als Experiment. Dietmar Daths Die Abschaffung der Arten, in: Tier, Experiment, Literatur: 1880–2010. Hg. v. Roland Borgards u. Nicolas Pethes. Würzburg 2013, S. 219–232, hier S. 224. Ebd. Vgl. Roland Borgards: Tiere und Literatur, in: Tiere. Kulturwissenschaftliches Handbuch. Hg. v. dems. Stuttgart 2016, S. 225–244, hier S. 229 f. Vgl. GW II, S. 663: »Stil wird immer von den Nachläufern gemacht; wenn sie ganz weit hinterdrein laufen, so daß sie die Spitze nicht mehr sehen, werden sie Vorläufer.«

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7. Musils Bestiarium: Über die Dummheit und Das Land über dem Südpol Bislang konnte festgestellt werden, dass Musil die Polemik am Beispiel von Szenen und Symptomen thematisch verhandelt, ohne selber polemisch zu werden. An zwei noch zu behandelnden Texten im Œuvre soll jetzt nachgewiesen werden, wie die Form der Polemik und der Inhalt der evolutionär erweiterten Gestaltpsychologie aufeinander bezogen werden können. Musils eigentliche Antwort auf die Polemik ist einerseits der Vortrag Über die Dummheit, andererseits die Skizze Land über dem Südpol oder Der Stern Ed. Beide Texte möchte ich zum Schluss als angewandte Reflexion auf die Kommunikationsstrategie der Polemik untersuchen. Wenn jetzt auf den Vortrag Über die Dummheit aus dem Jahr 1937 eingegangen wird, dann nicht nur, weil dieser Text die einzige Stelle ist, die Musils Lektüre von Köhlers Intelligenzprüfungen auf explizite Weise kenntlich macht: »[D]ie Tierpsychologie hat in ihren Intelligenzprüfungen herausgefunden, daß sich jedem ›Typus von Leistung‹ ein ›Typus von Dummheit‹ zuordnen lasse« (GW II, S. 1279).64 In seiner Übersetzung des Textes ins Italienische hat Antonello Sciacchitano diese Verbindung zu der evolutionären Psychologie explizit hergestellt, und zwar anlässlich der wortwörtlichen Rede vom ›zweiten Gebrauch‹: »der Gebrauch der Dummheitsausdrücke [wird] innig durchdrungen von einem zweiten [Gebrauch]« (GW II, S. 1281).65 Musil antizipiert im Vortrag Über die Dummheit also Motive der evolutionär bedingten Gestaltlosigkeit. Er illustriert dieses Motiv gerade am Beispiel der polemischen Wutrede und fasst nebenbei in klare Worte, wie der Populismus sich das Bauchgefühl zunutze macht: Psychologisch wird das, was sich beim Eintreten einer Panik abspielt, als ein Aussetzen der Intelligenz, und überhaupt der höheren geistigen Artung, angesehen, an deren Stelle älteres seelisches Getriebe zum Vorschein kommt; aber es darf wohl hinzugefügt werden, daß mit der Lähmung und Abschnürung des Verstandes in solchen Fällen nicht sowohl ein Hinabsinken zum instinktiven Handeln vor sich geht als vielmehr eines, das durch diesen Bereich hindurch bis zu einem Instinkt der letzten Not und einer letzten Notform des Handelns führt. Diese Handlungsweise hat die Form völliger Verwirrung, sie ist planlos und scheinbar von der Vernunft wie von jedem rettenden Instinkt verlassen; aber ihr unbewußter Plan ist der, die Qualität der Handlungen durch deren Zahl zu ersetzen, und ihre nicht geringe List beruht auf 64 65

Vgl. Michler: Biologie/Tiere (Anm. 1), S. 566. Vgl. Robert Musil: Sulla stupidità [o sull’inconscio] di Robert Musil. Conferenza tenuta a Vienna l’11 marzo 1937 e ripetuta il 17 marzo 1937 su invito della Österreichische Werkbund. Übers. v. Antonello Sciacchitano, in: http://www.sciacchitano.it/Alle%20soglie%20del%20 sito/Sulla%20stupidit%C3%A0.pdf (aufgerufen am 4. 7. 2019): »Il fenomeno è stato definito da S. J. Gould exaptation ed estende la nozione dell’adattamento selettivo, all’adattamento che è stato selezionato per altri usi. Le analogie tra distribuzione linguistica e distribuzione genetica sono un altro esempio di ›correlazione‹ tra scienze umane e scienze dure.«

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der Wahrscheinlichkeit, daß sich unter hundert blinden Versuchen, die Nieten sind, auch ein Treffer findet. (GW II, S. 1282)

Auch an dieser Stelle beschreibt er ein Trial-and-error-Verhalten, hinter dessen vermeintlicher Zwecklosigkeit aber eine verborgene Zweckmäßigkeit ausgemacht werden kann, die Musil mit einer Analogie aus dem Bereich der militärischen Technik verdeutlicht: Ein Mensch in seiner Kopflosigkeit, ein Insekt, das so lange gegen die geschlossene Fensterhälfte stößt, bis es durch Zufall bei der geöffneten ins Freie »stürzt«, sie tun in Verwirrung nichts anderes, als es mit berechnender Überlegung die Kriegstechnik tut, wenn sie ein Ziel mit einer Feuergarbe oder mit Streufeuer »eindeckt«, ja schon wenn sie ein Schrapnell oder eine Granate anwendet. Mit anderen Worten heißt das, ein gezieltes Handeln durch ein voluminöses vertreten zu lassen, und nichts ist so menschlich, wie die Beschaffenheit von Worten oder Handlungen durch deren Menge zu ersetzen. (GW II, S. 1283)

Polemik als kommunikative Notwehr, als Einbläuen durch Wiederholung, als Stellvertreterkrieg: Diese Sündenbock-Dynamik hatte Musil am Beispiel von Karl Kraus kritisiert und deren Funktion im Sinne von Lagerbildung aufgefasst: »Dadurch, dass Karl Kraus schimpft, ist alles wieder gut.«66 An anderer Stelle vergleicht Musil auf folgenreiche Weise Karl Kraus mit Hitler: Wenn K. K. den Vorlesungssaal betritt, steht das Publikum solange, bis er sich setzt. Und das, obzwar er völlig versagt hat. Sie lieben ihn erst recht. Ähnlich wirken die Misserfolge Hitlers Liebe vergrößernd. Das ist das Verheerende an der K[raus]-ianerei. Es war alles schon vorgebildet, was geschehen ist. Sie halten ihm Treue, auch wenn er es nicht verdient. Ist das einfach Schaltungs- und Ausschaltungswirkung? Blindes Liebesbedürfnis? Bedürfnis nach Illusionen? (GW I, 846)

Hier nimmt Musil die Polemik als nicht-ökonomische Kommunikationsform in den Blick. Die Aspekte des »Versagens«, der Treue, die man nicht verdient hat, betten die polemische Interaktion in einen ökonomischen Kontext ein, der asymmetrisch ist. Das Modell der Verausgabung, für das Hitlers Erschöpfungspathos beim Reden das einprägsame Hör- bzw. Bildäquivalent abgab, liefert nicht einfach die Berechtigung dafür ab, »die Nase über die Nazis« rümpfen zu können (GW I, S. 847). Mit den Begriffen »Schaltung« und »Ausschaltungswirkung« rekurriert Musil vielmehr direkt auf das behavioristische Reiz-Reaktions-Schema, in einem sehr technischen Sinne als Ausschaltung von Reizen, die Skinner (übrigens mit einer suggestiven evolutionären Metapher) seinerseits später als »extinction« bezeichnet hat. Da hier im zeitgeschichtlichen Kontext Gleichschaltung überdeterminiert ist, hat die Musil-Forschung sich bisher über die Begriffe »Schaltung- und Ausschaltungswirkung« keine Gedanken gemacht. Der Begriff Schaltung 66

KA/Transkriptionen/H 21/126; vgl. Tb I, S. 634.

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geht allerdings, Marcus Hahn67 zufolge, auf Bleulers Lehrbuch der Psychiatrie (1916) zurück, und ist auch bei Kretschmer vorhanden. Diese Bezugnahme auf Bleuler stellt die Polemik gänzlich in den Kontext primitiver Regungen und macht die Schlussfolgerungen auf Bestialität umso plausibler. Aber auch der behavioristische Blick auf den psychischen »Apparat« klingt an: Bleuler fand in den elektrischen Schaltungen und der cerebralen Schaltfähigkeit den Schlüssel zu einer elektrotechnisch ausbuchstabierten Psychopathologie. Während Bleuler den psychischen Apparat als elektrotechnische Schaltanordnung identifizierte, konzipierte der Mitbegründer der Gestaltpsychologie Wolfgang Köhler eine elektrodynamische Theorie strukturierter Wahrnehmungsprozesse. Nach dieser Theorie sollten elektrische Felder das neurophysiologische Substrat der experimentell gefundenen gestaltpsychologischen Experimente darstellen. [. . .]68

Dementsprechend klinkt sich, in der Wahrnehmung Musils, Hitler in erster Linie erfolgreich in Schaltkreise ein (»Christus mit Radio, Auto, Vereinsbildung«; Tb 1, S. 725) und verdankt dieser »Schaltung« seine elektrisierende Wirkung. Allerdings läuft die Identifizierung von Hitler und Kraus nicht einfach darauf hinaus, Kraus als Proto-Diktator zu entlarven. Musil betrachtet die Polemik als Verhaltensform und Mechanismus gleichzeitig auf der biologischarchaischen Ebene derjenigen, die sich »die Futterplätze merken musste[n].« (MoE, S. 9). »Musil compares Hitler to Karl Kraus in that the public maintains its love for and loyalty to them, not despite, but because of their failings and failures.«69 Das heißt, dass die Suggestivkraft mit dem risikoreichen Status von Kraus als Unruhestifter verbunden ist, der, wie der Berserker in der Affeninsel-Geschichte, zwar im individuellen Fall ungerechte und unlautere Mittel benutzt, aber anhand von »costly signaling« und »altruistischer Bestrafung« eine starke gemeinschaftsstabilisierende Funktion entfaltet. Musil durchschaut das »Double-Bind«, doch das Pathetische und Erhabene einer solchen »strafenden Satire« beschreibt und zerlegt Musil auf sehr technische Weise; er lehnt aber letztlich die polemische Schreibweise als psychologisch unterkomplex ab.70 Erneut wird man darauf verwiesen, wie bis in einzelne Formulierungen hinein Musils Haltung zur Polemik von seinem Hintergrund in der experimentellen Psychologie geprägt wurde und wie sehr dabei tech67 68 69 70

Marcus Hahn: Gottfried Benn und das Wissen der Moderne. Bd. 1. Göttingen 2011, S. 414. Cornelius Borck: Hirnströme: Eine Kulturgeschichte der Elektroenzephalographie. Göttingen 2005. S. 111. David Heald: »Ein konservativer Anarchist« – Robert Musil on politics, in: Musil-Forum 19/20 (1993/1994), S. 240–253, hier S. 247. Wenn Musil bei der Besprechung einer Theateraufführung Alfred Kerr erwähnt – im Zusammenhang mit einer kritischen Bemerkung desselben zu Shakespeare – und wenn seine eigene Haltung zu Shakespeares Wirkung ambivalent ist (»das Wort als geformte Luft«), dann ist diese Passage wegen des Kerr-Bezugs eher ein Seitenhieb auf Kraus’ polemische Schreib- und Redeweise. Vgl. G II, S. 1486.

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nologische Neuerungen wie auch Anleihen bei Tierexperimenten (und ihren primitivistischen Annahmen) eine Rolle spielen. Hat Musil die evolutionär bedingte Rolle des Zorns und der polemischen Kommunikation sehr scharfsichtig konturiert, so stuft er beide immer auch irgendwie als rückständig ein. Hier gerät man allmählich in den Bereich der unrealisierten Möglichkeiten. Denn unter dem Stichwort »Dünkelshausen« machte sich Musil im Tagebuch Skizzen zu einer polemischen Intelligenzprüfung an zeitgenössischen Schriftstellern. »Ganz offenbar ist die 1926 der Preußischen Akademie der Künste angegliederte Sektion für Dichtkunst, die sogenannte Dichterakademie gemeint.«71 Im Ansatz ging es ihm darum, den »Menschen aus der Perspektive der Tierpsychologie« zu betrachten, das heißt »die ganze Struktur der Tierseele auf die Menschenseele [zu] übertragen« (Tb I, S. 845). Unter dem Stichwort »Ed« wird »Zeitschilderung dadurch« möglich, »daß er [eine Figur in einem Text] das Zeitungsausschnittbüro leitet« (Tb I, S. 821).72 Sexualität spielt insofern eine Rolle, als das »Land über dem Südpol« eine moralische Experimentierlandschaft auch im sexuellen Sinne ist; alle sexuellen Konventionen und Hüllen sollen dort fallen. Das Projekt entstand, wie Birgit Nübel nachgewiesen hat,73 im Gespräch mit Franz Blei und ist zum Teil auch als Fortsetzung des Bestiariums zu sehen. Das Land über dem Südpol oder Der Stern Ed wäre in diesem Zusammenhang noch näher zu untersuchen, weil hier der Protagonist ein Mathematiker ist, der es mit Dietmar Daths ScienceFiction-Roman Die Abschaffung der Arten (2008) durchaus aufnehmen kann. In seinem satirisch-dystopischen Fragment hält sich Musil erstmals nicht mit jener direkten Übertragung evolutionär-biologischen Wissens auf den Menschen zurück, die er sich bislang ausdrücklich verboten hat: »Man lässt Menschen alle Tiere durchlaufen.« (Tb I, S. 639) – »Die körperliche Hinfälligkeit; das inter faeces« (Tb I, S. 841) wird dabei stark herausgestrichen. An den Hebeln der Institution RAVAG (Österreichische Radio-Verkehrs-Aktiengesellschaft), die die »fabriksmäßige Herstellung von Schmutz« vorantreibt, indem sie Musils Konkurrenten zu höchsten literarischen Ehren verhilft, sitzt ein Professor mit »Affenstirn«, dessen Gesicht »nicht nur etwas vom Affen« hat, »sondern auch etwas vom Priester« (Tb I, S. 890). Im Tagebuch erlaubt Musil es sich, wie Oesterle kommentiert, polemisch handgreiflich und ressentimentgeladen zu kommunizieren: »Die Lizenz für die Polemik in einer polemikfeindlichen Zeit ist die Ethik. Auf diesem Umweg und unter diesem 71

72 73

Christoph Hönig: Musils Pläne für einen satirisch-utopischen Experimentierroman: Land über dem Südpol oder Der Stern Ed, in: Vom Törleß zum Mann ohne Eigenschaften. Grazer Musil-Symposion 1972. Hg. v. Uwe Baur u. Dietmar Goltschnigg. München, Salzburg 1973. S. 293–324, hier S. 316. Vgl. den Beitrag von Juliane Vogel in diesem Band. Vgl. Birgit Nübel: Robert Musil – Essayismus als Selbstreflexion der Moderne. Berlin, New York 2006, S. 352.

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moralischen Schutzschirm darf, als Notwehr getarnt, eine vorangegangene pöbelhafte Ehrenschändung zu strafen, das ausgesparte Anale, Derbe dosiert und artistisch eingebunden zu Wort kommen.«74 In der Zeitspanne, die sich auf 1938 hin bewegt, notiert Musil zoologisch interessiert zwei Ausrichtungen der Abstammung des Menschen von Primaten: einerseits »Individualismus, Ehe, Familie – der Anthropoide«, andererseits »Kollektivismus – der in Horden lebende Affenvorfahre«. Beide Tendenzen seien »dem Menschen mitgegeben, er hat die Instinkte beider oder, wahrscheinlich richtiger gesagt, die Anlage zu beidem. [. . .] Wahrscheinlich ist schon die anthropoïde u. die Herdenlebensweise eine durch Lebensumstände bedingte Unterscheidung mit ursprünglich gemeinsamer Anlage zu beidem.« (Tb I, S. 855) Die zoologische Metaphorik, die ihm offenkundig rein technisch zur Verfügung steht, wird ihm aber von der zeitgleichen Verwendung im Rahmen der Rasseneugenik quasi unmöglich gemacht. Daher sind die Tierbilder von einem semantischen Zweifel betroffen und letztlich wohl im Tagebuch sicherer verwahrt. Das Land Ed kam über einzelne Fragmente und Skizzen nicht hinaus. Anders als die Affen der engagierten Literatur »schreibt man nicht mit dem Fuß; man steht nicht auf der Hand.« (GW II, S. 1426 f.)

8. Fazit Am Ende des vorliegenden Beitrags kann Musils Haltung zur Polemik weiterhin als ambivalent eingestuft werden. Die Forschung hat Musils Interesse für Biologie bislang nur gestreift. Dessen Aufarbeitung hat es ermöglicht, die Affeninsel einmal nicht, wie bislang üblich, von der wohlmeinenden Warte des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, sondern vor der ideellen Folie des Collège de Sociologie zu betrachten. Ausgehend von Musils »Unfreundlichen Betrachtungen« zum Verhalten von Primaten kann man bei ihm eine Stellungnahme zu (polemisch geführten) Debatten über Verhaltensregulierung verorten, die seine Haltung zur Gestaltpsychologie und zu einer besseren »Organisation« prägt. Nach wie vor gilt aber, dass solche Anleihen bei der Biologie auf reflexive, oft äußerst ironische Weise ins eigene Schreiben eingehen und folglich jeder polemischen Parteinahme entbehren, die den Quellen selbst auf geradezu penetrante Weise eigen ist: Die Schriften der in den Naturwissenschaften und der Biologie fachlich ausgewiesenen Autoren, die Musil zum Thema der Evolution rezipiert (Haeckel, Müller-Lyer), kranken mehrheitlich daran, dass sie im Zuge des Monismus sehr stark auf Fortschrittsoptimismus 74

Günter Oesterle: Das »Unmanierliche« der Streitschrift. Zum Verhältnis von Polemik und Kritik in Aufklärung und Romantik, in: Formen und Formgeschichte des Streitens. Der Literaturstreit. Hg. v. Franz Joseph Worstbrock u. Helmut Koopmann. Tübingen 1985. S. 107–120, hier S. 110.

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und Teleologie setzen.75 Musils polemisch-unpolemische Stellungnahmen zum Thema zeugen deswegen allesamt von der »Differenz zwischen der ideologischen Involviertheit und Selbstgewissheit von Autoren wie Wilhelm Bölsche oder Eduard von Keyserling und der durch reflexive und ironische Distanz charakterisierten Erzählhaltung Musils«.76 Seine Entgegnung läuft also, wie bei anderen Autoren der Epoche, darauf hinaus, den Monismus zu betrachten »with a scepticism born of post-World War I disillusionment with the belief in progress which had in their view characterized the earlier Darwinians«.77 Vor allem die Vorstellung, über dieses soziodarwinistische Wissen die Gesellschaft tiefgreifend anders zu organisieren bzw. zu optimieren, ist Musil in zunehmendem Maße zuwider. Diese Vorstellung sei so unwahrscheinlich, »wie wenn ein wild daherstürmender Menschenhaufen turnerisch diszipliniert wird und auf einen Wink Ausfall rechts, Arme Seitstoßen und tiefe Kniebeuge macht.« (MoE, S. 506) Es häufen sich also zwar die Tierbilder in Musils Œuvre, aber sie sind alle von einer tiefen Ambivalenz geprägt. Musils Auseinandersetzung mit der experimentellen Psychologie und insbesondere mit den Tierexperimenten könnte sogar die Human Animal Studies dazu führen, Musil für sich als Gesprächspartner zu entdecken, falls sie ein Interesse daran hätten. Es sei künftigen Untersuchungen vorbehalten, Musils Visualisierung des kollektiven Tieres auf diese biologische Basis zu beziehen.

75 76 77

Vgl. Richard Weikart: From Darwin to Hitler. Evolutionary Ethics, Eugenics and Racism in Germany. New York 2016, S. 139. Norbert Christian Wolf: Der Mann ohne Eigenschaften, in: Robert-Musil-Handbuch (Anm. 1), S. 224–319, hier S. 230. Malcolm Humble: Monism and Literature in the Later Years of the Kaiserreich, in: Science, Technology and German Cultural Imagination. Papers from the Conference »The Fragile Tradition«, Cambridge 2002. Hg. v. Christian Emden u. David R. Midgley. Frankfurt a. M. 2005, S. 57–79, hier S. 75. Zum Antidarwinismus der Zeit vgl. auch ausführlicher Marcus Hahn: Gottfried Benn und das Wissen der Moderne. Bd. 1. Göttingen 2011, S. 234–303.

Barbara Neymeyr

Der »mitteleuropäische geflügelte Zwergchinese« als anthropologische Rarität Zur Polemik gegen Spenglers Untergang des Abendlandes in Musils Essay Geist und Erfahrung und zum Nietzsche-Kontext

Abstract: Starting with the history of the impact of Spengler’s The Decline of the West, this essay first analyses Musil’s strategies of satirical polemics, which are directed against speculative analogies, dogmatic anti-rationalism, naïve vitalism, and the rigid conceptual dichotomies in Spengler’s cultural morphology. It argues that Musil’s anthropology of ›formlessness‹ can be read, to some extent, as countering Spengler’s image of man. The essay then reads Musil alongside Nietzsche, tracing their agreeing conceptions of a kind of anthropological ›plasticity‹ and of a ›logic of analogy‹ that opens up experimental avenues of thought and enables creative syntheses of literature and philosophy. Nietzsche’s theses on phylogenesis provide a link between the principle of analogy formation and anthropology. The satirical analogies in Musil’s criticism of Spengler can thus also be read in relation to an anthropology of creative energy, in which both analogy and metaphor are anthropologically and aesthetically relevant, as thought experiments providing evidence.

1. Prolegomena: Spenglers Untergang des Abendlandes im Spiegel kritischer Rezeption Die frappierende These, der »zitronengelbe Falter« sei ein »mitteleuropäische[r] geflügelte[r] Zwergchinese« und damit eine anthropologische Rarität, könnte – vor der Lektüre des Essays Geist und Erfahrung. Anmerkungen für Leser, welche dem Untergang des Abendlandes entronnen sind – den Eindruck erwecken, Musil habe sich mit dieser phantastischen Imago lediglich ins Terrain spielerisch-sinnfreier Komik begeben. – Wie verfehlt jedoch ein solcher Prima-vista-Eindruck wäre, soll im zweiten Kapitel evident werden. Entgegen dem ersten Anschein ist die Vorstellung eines »mitteleuropäische[n] geflügelte[n] Zwergchinese[n]« (GW II, S. 1044) nämlich keineswegs bloßer Nonsens, sondern beruht sogar auf einer ganz gezielten rationalen Konstruktion, die Musil in den Dienst seiner Polemik gegen die spekulativen Grundtendenzen von Oswald Spenglers Hauptwerk Der Untergang des Abendlandes

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stellt.1 Allerdings weist Musils Satire auf Spenglers visionäre Kulturmorphologie zugleich weit über die spezifische Attacke auf dieses Werk hinaus, weil sie überdies auf den Antirationalismus und Kulturpessimismus der Epoche generell bezogen ist und in dieser Hinsicht auch in seinen Roman Der Mann ohne Eigenschaften hineinwirkt. Im Folgenden skizziere ich zunächst Spenglers Kulturmorphologie und einige Aspekte ihrer Rezeption und Wirkungsgeschichte, um anschließend darzulegen, inwiefern Musils Essay Geist und Erfahrung. Anmerkungen für Leser, welche dem Untergang des Abendlandes entronnen sind (vgl. GW II, S. 1042–1059) durch subversive Ironie eine virtuose Parodie auf den Untergangspropheten bietet. Dabei treten die Strategien satirischer Polemik hervor, mit denen sich Musil gegen spekulative Analogiebildung, dogmatischen Antirationalismus, naiven Vitalismus und starre Begriffsdichotomien in Spenglers Kulturmorphologie wendet. Anschließend wird gezeigt, inwiefern sich Musils Anthropologie der ›Gestaltlosigkeit‹ auch als Gegenentwurf zum Menschenbild Spenglers lesen lässt. – Weiterführende Erkenntnisperspektiven eröffnet sodann ein Vergleich von Konzepten Musils und Nietzsches: durch Übereinstimmungen bezüglich einer anthropologischen ›Plastizität‹ und einer ›Logik des Analogischen‹, die experimentelle Denkwege bahnt und kreative Synthesen von Literatur und Philosophie ermöglicht. Da Thesen Nietzsches zur Phylogenese zugleich die anthropologische Bedeutung der Analogiebildung evident machen, werden die satirischen Analogien in Musils Spengler-Kritik schließlich auch auf eine Anthropologie kreativer Gestaltungskraft hin transparent, in der Analogie und Metaphorik anthropologisch und ästhetisch relevant sind: als Denkexperiment mit Evidenzeffekt. Musils Essay Geist und Erfahrung erschien im März 1921 in der Zeitschrift Der Neue Merkur (vgl. GW II, S. 1807) und bezieht sich mithin nur auf den ersten, im September 1918 publizierten Band von Oswald Spenglers Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte, dem erst 1922 der zweite Band folgte. Dass Spenglers wirkungsmächtiges Mammutwerk so rasch zum Bestseller avancierte, erklärt sich aus der Krisenkonstellation der Epoche: Kurz vor dem Kriegsende trugen enttäuschte Siegeshoffnungen, zerstörte Machtphantasien und verlorene Ideale sehr zu Spenglers Sensationserfolg beim deutschen Lesepublikum bei – ebenso wie die Konsequenzen der Kriegskatastrophe, die in der Bevölkerung zu defä-

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Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte. Erster Band: Gestalt und Wirklichkeit. Wien, Leipzig 1918. – Im Folgenden wird vorzugsweise nach dieser Spengler-Edition von 1918 zitiert, die Musil vorlag, als er seinen Spengler-Essay Geist und Erfahrung schrieb. Im Falle aufschlussreicher Text-Abweichungen in späteren Ausgaben von Spenglers Hauptwerk wird auch eine neuere Edition als Zitatbasis herangezogen (vgl. Anm. 4).

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tistischen Stimmungen führte.2 Entgegen naheliegenden Erwartungen spielt der suggestive Titelbegriff ›Untergang‹ allerdings nicht auf die Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg an: Denn dieses Debakel hatte den neokonservativen, national-heroischen und mit prophetischer Attitüde auftretenden Autor selbst überrascht.3 Im Untergang des Abendlandes entfaltet Spengler ein universalhistorisches Panorama, da seine vergleichenden Kulturbetrachtungen nicht nur der griechisch-römischen Antike und dem christlichen Abendland gelten, sondern auch die ägyptische, babylonische, indische, chinesische, mexikanische und arabische Kultur einbeziehen. Auf organologische Vorstellungen von Wachstum, Blüte und Verfall fixiert, versucht Spengler an den angeblich hermetisch gegeneinander abgeschlossenen Kulturen4 gleichwohl einen einheitlichen Entwicklungsprozess aufzuzeigen. Denn er setzt voraus, dass »allem Historischen allgemeine biographische Urformen« zugrunde liegen,5 und geht dabei auch auf Ursache, Zufall und Schicksal ein. Mit dem extrem weiten Spektrum der Themenfelder suggeriert Spengler den Lesern eine geradezu universale Breite seines Wissens: Mathematik, Architektur, bildende Kunst, Sprache und Musik berücksichtigt er ebenso wie Raum- und Zeitsymbolik, Technik, Moral, Religion und Philosophie, Wissenschaft, Ökonomie und Politik, Naturerkenntnis und die Stadt als Lebensraum. Sowohl in historischer als auch in systematischer Hinsicht tendiert Spengler mithin zu universeller Entgrenzung. – Dieser maßlose Anspruch gibt Anlass, die Seriosität des Autors zu hinterfragen: Da den Lesern eine umfassende Überprüfung der Thesen aber aussichtslos erscheinen muss, wird vor allem antirationalistisch gesonnenen Zeitgenossen eine gutgläubige Akzeptanz nahegelegt. – Eine kritiklose Affirmation fördert sogar noch 1972 der Klappentext der Taschenbuchaus2 3

4

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Vgl. dazu Thomas Koebner: Oswald Spenglers Phantasien über Wesen und Werdegang der Kulturen, in: Kultur. Bestimmungen im 20. Jahrhundert. Hg. v. Helmut Brackert u. Fritz Wefelmeyer. Frankfurt a. M. 1990, S. 111–131, hier S. 111. Vgl. Koebner: ebd., S. 111–112. Den Titel für sein Werk Der Untergang des Abendlandes, das »in der ersten Niederschrift« schon vor dem Kriegsausbruch 1914 abgeschlossen war, hatte Spengler bereits 1912 formuliert. Im Vorwort schreibt er: »Der Titel, seit 1912 feststehend, bezeichnet in strengster Wortbedeutung und im Hinblick auf den Untergang der Antike eine welthistorische Phase vom Umfang mehrerer Jahrhunderte, in deren Anfang wir gegenwärtig stehen« (Spengler: Der Untergang des Abendlandes [Anm. 1], S. VII). Dieses Vorwort vom Dezember 1917 endet dann mit dem Wunsch, »daß dies Buch neben den militärischen Leistungen Deutschlands nicht ganz unwürdig dastehen möge« (S. VIII). Hier deutet sich eine Affinität zum Konzept der fensterlosen Monaden in Leibniz’ Monadologie an, zumal sich Spengler im Vorwort von 1922 gleichsam als geistiger Enkel von Leibniz versteht: Denn er bekennt, dass er »Goethe und Nietzsche« »so gut wie alles verdanke«, und attestiert Goethe zugleich, er sei »in seiner gesamten Denkweise, ohne es zu wissen, ein Schüler von Leibniz gewesen« (Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte. Mit einem Nachwort von Anton Mirko Koktanek. München 1972, S. IX.) Diese Ausgabe enthält die überarbeitete Fassung des ersten Bandes von 1922 sowie den erstmals 1922 erschienenen zweiten Band. Spengler: Der Untergang des Abendlandes (Anm. 1), S. 3.

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gabe, in dem man Folgendes lesen kann: »Zum erstenmal hatte hier ein großer Denker den Versuch gewagt, eine ›Philosophie des Schicksals‹ vorzulegen, in der die abendländische Kultur in ihrer Zivilisationsphase und damit in ihrer Endphase erklärt wurde«, und zwar in einem »imponierenden, konsequenten Gedankengang«, der »zu faszinierenden Vergleichen und Prognosen« geführt habe, »die inzwischen zum Teil schlagend bestätigt wurden.«6 Spenglers hybrider Geltungsanspruch wird hier unversehens in eine Tatsachenbehauptung transformiert – als gäbe es keine triftigen Gründe für eine kritische Auseinandersetzung mit seinem spekulativen Geschichtsmodell. Bescheidenes Auftreten und maßvolle Zurückhaltung sind Spenglers Sache nicht; er bevorzugt die Selbstinszenierung mit Pauken und Trompeten. Schon die Einleitung beginnt gleichsam mit einem Fanfarenstoß: »In diesem Buche wird zum ersten Male der Versuch gewagt, Geschichte vorauszubestimmen.«7 Der ›Untergang des Abendlandes‹, den Spengler mit forciertem Originalitätsanspruch als »philosophisches Thema« behandeln will, schließt nicht weniger als »alle großen Fragen des Seins in sich«.8 Der Autor intendiert »die, gewissermaßen natürliche, von allen dunkel vorgefühlte Philosophie der Zeit« schlechthin und will mit seiner Kulturmorphologie »zu einer völlig neuen Philosophie, der Philosophie der Zukunft« überhaupt vorstoßen.9 Sein eigenes Konzept hält er sogar für »die kopernikanische Entdeckung im Bereich der Historie«.10 Damit beansprucht er für seine spekulativen Imaginationen den Status eines fundamentalen Paradigmenwechsels. Hybrid erscheint diese frohgemute Selbsteinschätzung Spenglers auch durch die provokative Parallelität zu einer wirklichen epochalen Wende. Denn er analogisiert seine eigenen Kulturansichten mit der Abkehr vom verfehlten Geozentrismus des Ptolemäischen Weltbildes. Sie wurde durch die revolutionäre Einsicht in den Heliozentrismus ermöglicht, die Kopernikus mit seiner Kosmologie gelang. Wenn Spengler für seinen kulturmorphologischen Entwurf den Status einer »kopernikanische[n] Entdeckung« reklamiert, dann spielt er damit vermutlich auch auf die sogenannte ›Kopernikanische Wende‹ in Gestalt der Kantischen Transzendentalphilosophie an, mithin auf einen Paradigmenwechsel im Bereich der Erkenntnistheorie, der den Vorrang der ›kritischen‹ Periode Kants vor seiner ›vorkritischen‹ Phase sowie vor erkennt6

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Spengler: Der Untergang des Abendlandes (Anm. 4), Klappentext. Friedrich Gundolf hingegen schreibt schon 1919 in einem Brief an Kurt Hildebrandt: »Spengler ist ein typischer Blender«; seine »sämtlichen Geschichtsbilder und Wertungen« sind »schlichte Clichés aus dem Kleinen Ploetz«; durch die bloße »Kombinationsfülle« seiner »Geschichts-Mathematik« lasse er »seine Armut kaleidoskopisch reich« erscheinen (Hildebrandt-Nachlass, zitiert nach Stefan Breuer: Retter des Abendlandes. Spenglerkritik von rechts. In: Jahrbuch zur Kultur und Literatur der Weimarer Republik 9 [2004], S. 165–193, hier S. 188). Spengler: Der Untergang des Abendlandes (Anm. 1), S. 3. Ebd., S. 4. Ebd., S. VII, 6. Ebd., S. 24.

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nistheoretischen Konzepten früherer Philosophen generell begründet. – Von der methodischen Strenge der systematischen Reflexion Kants indes unterscheidet sich Spenglers Hauptwerk ebenso wie vom naturwissenschaftlichen Durchbruch in Gestalt des von Kopernikus vollzogenen Paradigmenwechsels, der eine Epochenwende in der Mentalitätsgeschichte der Menschheit zur Folge hatte. Grundlegend verschieden sind schon das intellektuelle Niveau und der argumentative Duktus. Denn eine unüberschaubare Fülle kulturhistorischer Details, rhetorische Verve, eine Vielzahl dogmatisch-apodiktisch vorgetragener Spekulationen, ein exzessiver Hang zum Analogisieren und nicht zuletzt ein über alle Standpunkte sich erhebender Blick »aus zeitloser Höhe«, der souverän über die »historische Formenwelt von Jahrtausenden«11 glaubt hinschweifen zu können und sich dabei nicht einmal durch extreme geschichtliche Distanzen irritieren lässt: All das kennzeichnet Spenglers Untergang des Abendlandes. Die durch einen Mangel an methodologischer Reflexion bedingte naive Hybris Spenglers provozierte schon unter den Zeitgenossen eine Vielzahl prominenter Kritiker: außer Robert Musil auch Thomas Mann, Theodor W. Adorno,12 Karl Jaspers, Georg Lukács und Ernst Troeltsch.13 Den anmaßenden Gestus Spenglers, der selbstbewusst proklamierte: »Hat man diese 11 12

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Ebd., S. 47 f. Vgl. Theodor W. Adorno: Spengler nach dem Untergang, in: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 10.1: Kulturkritik und Gesellschaft I. Prismen. Ohne Leitbild. Hg. v. Rolf Tiedemann. Frankfurt a. M. 1977, S. 47–71. Adorno (vgl. ebd., S. 48) bezieht sich auf Manfred Schröter: Der Streit um Spengler. Kritik seiner Kritiker. München 1922. Kritisch reagiert Adorno allerdings auf die »Selbstdenunziation« des Geistes bei Spengler (S. 60) und auf die »denkfeindlichen Konsequenzen« seines negativen Menschenbildes (S. 57). Außerdem beanstandet er das »Element von Ostentation und Aufgeblasenheit«, das für den befehlshaberischen Gestus und die totalitäre Form von »Spenglers welthistorischer Perspektive« charakteristisch sei (S. 58–59). Adorno vergleicht den Untergang des Abendlandes polemisch mit »einem Warenhaus«, in dem »die getrockneten Lesefrüchte feilgeboten werden, die der intellektuelle Disponent von der Konkursmasse der Kultur billig zusammengerafft hat« (S. 60). Er diagnostiziert bei Spengler ein fragwürdiges Oszillieren zwischen Metaphysik und Positivismus (vgl. S. 61–62, 65) sowie einen aporetischen Fatalismus, in dem sich Spenglers Hybris mit der Erniedrigung des Menschen verbinde, der durch den Determinismus unfrei erscheine (vgl. S. 66–67). Überdies attestiert Adorno dem Untergangspropheten ein beflissenes Paktieren mit Repräsentanten der Macht (vgl. S. 64, 62) und eine gigantisch-destruktive Wahrsagerei kleinbürgerlichen Zuschnitts (vgl. S. 64). – Die Prognosen Spenglers im Hinblick auf die kollektivistische Gesellschaft mit Phänomenen wie Massenkultur und Propaganda sowie hinsichtlich politischer Herrschaftsformen, die leicht in Diktaturen umschlagen können, hält Adorno für verifiziert durch den Nationalsozialismus (vgl. S. 49–56). Vgl. dazu die instruktive Studie von Koebner: Oswald Spenglers Phantasien über Wesen und Werdegang der Kulturen (Anm. 2), S. 116. Zu Recht betont Koebner den Widerspruch zwischen dem »radikalen Historismus« Spenglers, der allen Standpunkten nur eine relative Gültigkeit zugestehe, und der angeblichen Zeitlosigkeit von Spenglers eigener Metaperspektive (S. 114). Zur Rezeption von Spenglers Untergang des Abendlandes durch die Zeitgenossen vgl. auch Detlef Felken: Oswald Spengler. Konservativer Denker zwischen Kaiserreich und Diktatur. München 1988, S. 114–116, 238–246. Zum kontroversen Spannungsfeld der intellektuellen Diskurse der Epoche vgl. Stefan Breuer: Magische Kultur? Max Weber contra Oswald Spengler, in:

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Höhe der Betrachtung erreicht, so fallen einem alle Früchte von selbst zu«, dann »lösen sich zwanglos alle Einzelprobleme«,14 mochten methodisch reflektierte Leser schon damals nicht widerspruchslos hinnehmen. Die Polemik gegen Spenglers Hauptwerk Der Untergang des Abendlandes in Musils Essay Geist und Erfahrung. Anmerkungen für Leser, welche dem Untergang des Abendlandes entronnen sind (GW II, S. 1042–1059) hat paradigmatische Bedeutung, und zwar als Kritik am Antirationalismus in der lebensphilosophischen Zivilisationskritik der Epoche. Denn populäre Kulturpessimisten glaubten den Intellekt als Instrument atomisierender Analyse oder einer ›zersetzenden‹ Kritik entlarven zu können.15 Spenglers eigene Affinität zu dieser Mentalität verrät seine pointierte Feststellung: »Wir glauben nicht mehr an die Macht der Vernunft über das Leben. Wir fühlen, daß das Leben die Vernunft beherrscht.«16 Zwar setzt sich Musil auch mit skeptischen Perspektiven auf die Ratio in Konzepten von Ludwig Klages und Walther Rathenau kritisch auseinander, aber in seinen Essays bleiben sie vergleichsweise marginal.17 Eine größere

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Archiv für Kulturgeschichte 99 (2017), H. 2, S. 429–456. Unter die ›Weltanschauungsliteratur‹ wird Spenglers Hauptwerk zu Recht subsumiert von Horst Thomé: Geschichtsspekulation als Weltanschauungsliteratur. Zu Oswald Spenglers Der Untergang des Abendlandes, in: Literatur und Wissen(schaften) 1890–1935. Hg. v. Christine Maillard u. Michael Titzmann. Stuttgart, Weimar 2002, S. 193–212. Spengler: Der Untergang des Abendlandes (Anm. 1), S. 55. Zu den politischen Implikationen vgl. den fundierten Überblick von Helmuth Kiesel: Aufklärung und neuer Irrationalismus in der Weimarer Republik, in: Aufklärung und Gegenaufklärung in der europäischen Literatur, Philosophie und Politik von der Antike bis zur Gegenwart. Hg. v. Jochen Schmidt. Darmstadt 1989, S. 497–521. – Eine Aufwertung des Kulturpessimismus im Prozess der Modernisierung versuchen Arne De Wilde, Oliver Kohns: Pessimismus, Kultur, Untergang. Nietzsche, Spengler und der Streit um den Pessimismus, in: Arcadia 50 (2015), H. 2, S. 286–306. – Breuer ordnet Spengler zwar der antidemokratischen Kulturkritik zu, hinterfragt aber seinen Status als »Leitfigur« des »Kulturpessimismus« (Stefan Breuer: Retter des Abendlandes. Spenglerkritik von rechts, in: Jahrbuch zur Kultur und Literatur der Weimarer Republik 9 [2004], S. 165–193, hier S. 182–183). Oswald Spengler: Preußentum und Sozialismus. München 1919, S. 82. – Thomas Mann kritisiert Jahrzehnte später im Essay Nietzsche’s Philosophie im Lichte unserer Erfahrung (1947) den vitalistischen Antirationalismus Nietzsches, den Spengler adaptiert: Er beanstandet »eine völlige [. . .] Verkennung des Machtverhältnisses zwischen Instinkt und Intellekt auf Erden, so, als sei dieser das gefährlich Dominierende«, so dass es »den Instinkt vor ihm zu retten« gelte (Thomas Mann: Nietzsche’s Philosophie im Lichte unserer Erfahrung, in: ders.: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden. Bd. IX : Reden und Aufsätze 1. Frankfurt a. M. 1990, S. 675–712, hier S. 695). Angesichts der Beobachtung, »wie völlig bei der großen Mehrzahl der Menschen der Wille, der Trieb, das Interesse den Intellekt, die Vernunft, das Rechtsgefühl beherrschen und niederhalten«, hält er antirationalistische Prinzipien für »etwas Absurdes [. . .]. Als ob es nötig wäre, das Leben gegen den Geist zu verteidigen! Als ob die geringste Gefahr bestünde, daß es je zu geistig zugehen könnte auf Erden!« (ebd., S. 696). Musil polemisiert gegen die Unzahl hermetisch gegeneinander abgeschotteter Weltanschauungsgemeinschaften mit Erlösungsanspruch in seiner Zeit; dabei erwähnt er konkret »die Schule um Klages« (GW II, S. 1164; vgl. auch GW II, S. 584). Zu dessen Werk Vom kosmogonischen Eros legte er ausführliche Exzerpte an (vgl. Tb I, S. 615–623), und zwar als Quelle für die Utopie des ›anderen Zustands‹ im Mann ohne Eigenschaften (vgl. Tb II, S. 419). –

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Rolle spielen Musils Reflexionen über das gedankliche Profil von Rathenau und Klages in seinem Roman Der Mann ohne Eigenschaften.18 Darüber hinaus ist hier aber auch Spenglers Kulturmorphologie relevant: Denn Musil, der sich für »das geistig Typische« interessierte (GW II, S. 939) und mit seinem Epochenroman bekanntlich »Beiträge zur geistigen Bewältigung der Welt geben« wollte (GW II, S. 942), macht sich hier – wie er in einem Interview von 1926 bekundet – »über alle Abendlandsuntergänge und ihre Propheten lustig« (GW II, S. 942). Mit diesem Statement bringt er selbst bereits eine skeptische Perspektive auf Spenglers Hauptwerk zum Ausdruck – ähnlich wie im ironischen Untertitel des Essays Geist und Erfahrung. Der nach dem Vorbild von Walther Rathenau modellierten Arnheim-Figur hat Musil im Mann ohne Eigenschaften mit kulturkritischer Intention auch Affinitäten zu Spengler eingeschrieben: im Hinblick auf Kulturpessimismus, Antirationalismus und Dilettantismus.19 Weitere Spengler-Elemente lässt der vitalistische Antirationalismus der Walter-Figur erkennen. – Und die unkritische Technikbegeisterung des Protagonisten Ulrich in seinem ›zweiten Versuch‹, ein bedeutender Mann zu werden, lässt in doppelter Hinsicht intertextuelle Bezüge erkennen: sowohl zu Marinetti als auch zu Spengler. In seiner geradezu futuristischen Faszination durch die Möglichkeiten der Technik war Ulrich damals zu der radikalen Einschätzung gelangt: »Wozu braucht man noch den Apollon von Belvedere, wenn man die neuen Formen eines Turbodynamo oder das Gliederspiel einer Dampfmaschinensteuerung vor Augen hat!« (MoE, S. 37). Diese Ansicht zeigt eine auffällige Affinität zum Manifest des Futurismus, in dem Marinetti provokativ erklärt:

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Zu Walther Rathenau schreibt Musils im essayistischen Fragment [Über den Essay]: »Rathenau ist das Beispiel der Entartung eines Essayisten in einen philosoph. Dilettanten« (GW II, S. 1337). Sein Buch Zur Mechanik des Geistes rezensierte Musil im Essay Anmerkung zu einer Metapsychik (GW II, S. 1015–1019) mit moderater Skepsis – unter Berücksichtigung der prinzipiellen Schwierigkeit, »das Grunderlebnis der Mystik« philosophisch darzustellen (GW II, S. 1017). Während Ludwig Klages das Modell für Musils Meingast-Figur bildet (vgl. GW II, S. 1751), weist die Arnheim-Gestalt Affinitäten zu Walther Rathenau auf (vgl. GW II, S. 1806). Am 11. 1. 1914 notierte Musil im Tagebuch eine persönliche Begegnung mit Rathenau; nach der Charakterisierung von dessen Erscheinungsbild und Auftreten schrieb er: »[. . .] hier erleuchtete er mich als Vorbild zu meinem großen Finanzmann in der Hotelszene« (Tb I, S. 295). Wie Rathenau (vgl. GW II, S. 1337) bezeichnet Musil auch Arnheim (vgl. MoE, S. 191) als Dilettanten. Zu diesem Zeitsyndrom vgl. Barbara Neymeyr: Psychologie als Kulturdiagnose. Musils Epochenroman Der Mann ohne Eigenschaften, Heidelberg 2005 (= Beiträge zur neueren Literaturgeschichte, Bd. 218); vgl. das Kapitel IV . 4 »Antirationalismus und Kulturpessimismus als Charakteristika eines degenerierten Idealismus« (ebd., S. 366–389). Zur Arnheim-Figur, der Musil Affinitäten zu Rathenau, Spengler und dem ›Großschriftsteller‹ Thomas Mann eingeschrieben hat, vgl. ebd. die Kapitel I .3 und IV . 4. – Auf die Relation zwischen Musils ArnheimFigur und Spengler weist auch Primus-Heinz Kucher hin: Die Auseinandersetzung mit Spenglers Untergang des Abendlandes bei R. Musil und O. Neurath: Kritik des Irrationalismus, in: Robert Musil – Literatur, Philosophie, Psychologie. Hg. v. Josef Strutz und Johann Strutz. München, Salzburg 1984 (= Musil-Studien, Bd. 12), S. 124–142, hier S. 133.

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Wir erklären, daß sich die Herrlichkeit der Welt um eine neue Schönheit bereichert hat: die Schönheit der Geschwindigkeit. Ein Rennwagen, dessen Karosserie große Rohre schmücken, die Schlangen mit explosivem Atem gleichen . . . ein aufheulendes Auto, das auf Kartätschen zu laufen scheint, ist schöner als die Nike von Samothrake.20

Markant erscheinen zudem die Analogien zum provozierenden Bekenntnis in Spenglers Untergang des Abendlandes, das gleichfalls ein radikales Kulturbanausentum erkennen lässt: »Für die prachtvoll klaren, hochintellektuellen Formen eines Schnelldampfers, eines Stahlwerkes, einer Präzisionsmaschine [. . .] gebe ich den ganzen Stilplunder des heutigen Kunstgewerbes samt Malerei und Architektur hin.«21 Drei Jahre nach Musils satirischem Essay Geist und Erfahrung mokiert sich Thomas Mann, der ursprünglich allerdings völlig unkritisch, ja sogar enthusiastisch auf Spenglers Untergang des Abendlandes reagiert hatte,22 über die hybride Selbstinszenierung Spenglers und seine Metaperspektive. In seinem Essay Über die Lehre Spenglers von 1924 nimmt er an der »boshaften Apodiktizität« und »Zukunftsfeindlichkeit« des Untergangspropheten Anstoß,23 um dann seine methodische Inkonsequenz zu attackieren. Spengler begreife die »Geschichte« der ›Kulturen‹ als »Lebenslauf vegetativer und strukturgleicher Organismen von individueller Physiognomie und begrenzter Lebensdauer«: Es sind bisher acht an der Zahl: die ägyptische, indische, babylonische, chinesische, antike, arabische, die abendländische (unsere eigene) und die Kultur der Mayavölker Zentralamerikas. Obwohl aber ›gleich‹ nach ihrer allgemeinen Struktur und ihrem allgemeinen Schicksal, sind die Kulturen streng in sich geschlossene Lebewesen, unverbrüchlich gebunden eine jede an die ihr eigenen Stilgesetze des Denkens, Schauens, Empfindens, Erlebens, und eine versteht nicht ein Wort von dem, was die andere 20 21 22

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Filippo Tommaso Marinetti: Manifest des Futurismus, in: Hansgeorg Schmidt-Bergmann: Futurismus. Geschichte, Ästhetik, Dokumente. Reinbek bei Hamburg 1993, S. 75 ff. (Übersetzung von Christa Baumgarth). Spengler: Der Untergang des Abendlandes (Anm. 1), S. 62. Vgl. die Belege im instruktiven Aufsatz von Barbara Beßlich: Kulturtheoretische Irritationen zwischen Literatur und Wissenschaft. Die Spengler-Debatte in der Weimarer Republik als Streit um eine Textsorte, in: Jahrbuch zur Kultur und Literatur der Weimarer Republik 10 (2005/ 2006), S. 45–72, hier S. 48, 64. Beßlich charakterisiert Spenglers Buch Der Untergang des Abendlandes, das Thomas Mann im Juli 1919 im Tagebuch emphatisch als »Das wichtigste Buch!« bezeichnet (vgl. Thomas Mann: Tagebücher 1918–1921. Hg. v. Peter de Mendelssohn. Frankfurt a. M. 1979, S. 283), als »Wissenschaftsmimikry« (S. 47) und ordnet es der ›Weltanschauungsliteratur‹ zu, die »argumentative Schwächen mit literarischen Schreibweisen kaschiert«, spekulative Welterklärungsmodelle bietet und »Sinnstiftungskompetenz« verspricht (S. 46). Thomas Mann: Über die Lehre Spenglers, in: ders.: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden. Bd. X. Frankfurt a. M. 1990, S. 172–180, hier S. 174. Nach Thomas Mann ist Spengler »nur ein Defaitist der Humanität«, der nicht wohl daran tut, »Goethe, Schopenhauer und Nietzsche zu Vorläufern seines hyänenhaften Prophetentums zu ernennen. Das waren Menschen« (S. 174). »Die Kompliziertheit und Perversität des Spengler’schen Falles« erblickt Thomas Mann darin, dass Spengler trotz eines »heimlichen Herzenskonservativismus nicht die Kultur bejaht«, sondern ihr jede »Lebensaussicht« abspricht (S. 178).

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sagt und meint. Nur Herr Spengler versteht sie samt und sonders und weiß von einer jeden zu sagen und zu singen, daß es eine Lust ist. Im übrigen [. . .] herrscht tiefe Verständnislosigkeit.24

An den »intuitiv-rhapsodischen [. . .] Kulturschilderungen« Spenglers25 kritisiert Thomas Mann hier also die erkenntnistheoretische Naivität des Untergangspropheten, der das jeweils Spezifische kulturgeschichtlicher Prozesse ignoriert und für sich selbst eine souveräne überhistorische Sonderposition beansprucht. Zudem liegt eine gedankliche Inkonsequenz Spenglers darin, zwar die monadenhaft-hermetische Abgeschlossenheit aller Kulturen gegeneinander vorauszusetzen, aber für sich selbst (trotz der Zugehörigkeit zur abendländischen Kultur) einen absoluten Standpunkt zu reklamieren, mithin einen singulären Überblick über alle Kulturepochen der Menschheitsgeschichte.

2. Musils Essay Geist und Erfahrung als Satire auf spekulative Analogiebildung, Antirationalismus und rigiden Begriffsschematismus bei Spengler Drei Jahre vor Thomas Mann verfolgt Robert Musil die Absicht, Spengler nicht nur en détail Fehler nachzuweisen, sondern darüber hinaus auch seinen Denkgestus überhaupt als Ausdruck des zeitgenössischen Antirationalismus zu problematisieren (vgl. GW II, S. 1044). Mit diesem Anspruch hinterfragt Musil in seinem Essay Geist und Erfahrung. Anmerkungen für Leser, welche dem Untergang des Abendlandes entronnen sind (GW II, S. 1042–1059) die Methodik, den gedanklichen Duktus und die Grundstrukturen von Spenglers Kulturmorphologie. Dabei intendiert er eine Kritik mit paradigmatischem Anspruch, weil er zugleich die Epoche angreifen will, der Spengler »entspringt und gefällt« (GW II, S. 1048). Indem Musil »am berühmten Einzelfall Zeitfehler zu demonstrieren« versucht (GW II, S. 1058), verleiht er seiner Polemik gegen Spengler einen exemplarischen Charakter und zeitdiagnostische Tiefenschärfe. Über den konkreten Fall Spenglers weist seine Kritik insofern hinaus, als er sich zugleich entschieden von den epochentypischen Tendenzen zum Antirationalismus und Kulturpessimismus abgrenzt, die sich nach Musils Ansicht auf geradezu repräsentative Weise in Spenglers Untergang des Abendlandes manifestieren. Bereits das Schiller-Zitat, das Musil seinem Spengler-Essay Geist und Erfahrung als Motto vorangestellt hat, ist in methodischer Hinsicht aussagekräftig. Wenn Musil mit Schiller feststellt: »Belletristische Willkürlichkeit im Denken ist freylich etwas sehr Übles« (GW II, S. 1042), dann distanziert 24 25

Thomas Mann: Über die Lehre Spenglers (Anm. 23), S. 175. Ebd., S. 173–174.

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er sich zugleich von einem solchen Gestus.26 – Während Thomas Mann in seinem Essay Über die Lehre Spenglers 1924 den Fatalismus des Untergangspropheten kritisiert, führt Musil den deterministischen Ernst von Spenglers Negativprognosen schon drei Jahre früher ebenfalls ironisch ad absurdum.27 Denn er bezeichnet seinen Essay Geist und Erfahrung im Untertitel als Anmerkungen für Leser, welche dem Untergang des Abendlandes entronnen sind. Indem er deren Weiterexistenz nach dem Untergang mithin süffisant voraussetzt, stellt er die pessimistischen Prognosen in Spenglers Kulturdeutung von vornherein in Frage. Zwei zentrale Einwände macht Musil geltend: Erstens kritisiert er Spenglers prinzipielle Vorbehalte gegen empirische Methoden und Tatsachen, nämlich die »falsche Skepsis«, durch die er »den Tatsachen das Gewicht ihrer Tatsächlichkeit stiehlt« (GW II, S. 1046). Zweitens versucht er an konkreten Beispielen zu demonstrieren, dass Spenglers spekulative Assoziationen und intuitive Analogien von terminologischer Unschärfe zeugen und sich schon durch empirische Fakten oft leicht widerlegen lassen. – Musil eröffnet seine Spengler-Kritik mit der Mathematik, weil hier die »bei belletristischen Geistern sich auf jedem Wissensgebiet rasch einstellende imitatorische Belesenheit von Sachlichkeit leicht« zu unterscheiden sei (GW II, S. 1042). Indem Spengler selbst behauptet, die Mathematik sei der »einzige« Bereich, »an dem sich seine Beweisführung erhärten lasse« (GW II, S. 1044), liefert er Musil eine willkommene Steilvorlage, um den Hebel seiner Polemik gerade hier anzusetzen: Denn aus Musils Perspektive eignen sich Spenglers Thesen zur Mathematik ideal als exemplarisches Angriffsziel. An Definitionen Spenglers führt Musil die mathematische Inkompetenz des Untergangspropheten vor, dem er stupende Ignoranz, Mangel an Präzision, realitätsferne Analogien, leichtfertige Definitionsversuche und die Verwechslung einschlägiger Fachtermini vorwirft. So gelangt er bereits im I. Abschnitt des Essays zur ironischen Quintessenz, Spenglers Umgang mit »Zahlengebilde[n] höherer Ordnung« sei »nicht fachkundiger als ob ein Zoologe zu Vierfüßlern die Hunde, Tische, Stühle und Gleichungen vierten Grades zusammenfassen würde!« (GW II, S. 1043).28 26

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In der Schrift Über die notwendigen Grenzen beim Gebrauch schöner Formen grenzt Schiller die »wissenschaftliche Erkenntnis, welche auf deutlichen Begriffen und erkannten Prinzipien ruht«, von »eine[r] populäre[n] Erkenntnis ab, welche bloß auf mehr oder weniger entwickelte Gefühle sich gründet« (Friedrich Schiller: Über die notwendigen Grenzen beim Gebrauch schöner Formen, in: ders.: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hg. v. Otto Dann u. a. Bd. 8: Theoretische Schriften. Hg. v. Rolf-Peter Janz. Frankfurt a. M. 1992, S. 677–705, hier S. 677, 679). – Musil folgt mit seinem Motto den Prämissen Schillers, der den rationalen Duktus theoretischer Diskurse mit den Charakteristika poetischer Texte kontrastiert. Implizit nimmt Musil auch im Essay Das hilflose Europa auf Spenglers fatalistische Untergangsprophetie Bezug (vgl. GW II, S. 1076, 1077). In Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften wird der Defätismus derer, die alle Zivilisationsschäden pauschal auf ein »logisch scharfes Denken« zurückführen möchten und die Rationalität für »den Zusammenbruch der europäischen Kultur« verantwortlich machen, durch

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Was prima vista als freischwebender Nonsens erscheinen könnte, erweist sich bei näherem Zusehen als kühl kalkulierte Strategie der Polemik: Den pseudowissenschaftlichen Gestus Spenglers entlarvt Musil hier, indem er (vermeintlich ganz in dessen Sinne) Subsumtionsverfahren der naturwissenschaftlichen Systematik anwendet: gemäß den Klassifikationen der Zoologie, die mit wachsendem Spezifikationsgrad ja bekanntlich zwischen Stamm, Klasse, Ordnung, Familie, Gattung und Art differenziert. Allerdings zelebriert Musil Subsumtion strategisch an untauglichen Objekten, indem er eine absurde Kombination von Beispielen wählt. Wenn er unter ›Vierfüßlern‹ unterschiedslos Lebewesen und Dinge, Konkreta und Abstrakta zusammenfasst, dann bleiben gerade die entscheidenden Differenzen außer Acht. Der kuriosen Schein-Systematik gewinnt Musil dabei einen paradoxen Evidenz-Effekt ab, indem er den Geltungsanspruch der Subsumtion ad absurdum führt. Diese polemische Strategie hat Methode: Musil konterkariert Spenglers Anspruch auf Evidenz und treibt ihn mithilfe eines offenkundig abwegigen Beispiels ins Ridiküle. Und mehr noch: Die Als-ob-Struktur der Formulierung (»nicht fachkundiger als ob [. . .]«: GW II, S. 1043) basiert gleichfalls auf Analogiebildung. Dadurch tritt eine Korrespondenz mit der Methodik des Kulturmorphologen Spenglers hervor. Allerdings unterscheiden sich die AnalogieTypen im intellektuellen Zuschnitt fundamental: Was Spengler bloß suggeriert, gelingt Musil im Rahmen seiner satirischen Spengler-Demontage, die gedankliche Defizite im Medium der Analogiebildung karikaturistisch auf die Spitze treibt. Evident wird durch diese polemische Strategie, dass Spengler mit subjektiven Assoziationen grenzüberschreitende Kulturparallelen herstellt, die aber fragwürdig erscheinen, weil sich die verglichenen Phänomene so fundamental voneinander unterscheiden. Die suspekte Methodik Spenglers macht Musil durch Übertreibung evident und führt sie dadurch lustvoll ad absurdum. – Spengler selbst beschreibt sein Vorgehen so: »Das Mittel, tote Formen zu begreifen, ist das mathematische Gesetz. Das Mittel lebendige Formen zu verstehen, ist die Analogie.«29 Mit ironischer Großzügigkeit konzediert Musil ihm zunächst: »Seien wir also generös. Spengler meint es quasi, arbeitet mit Analogien und in irgendeinem Sinne kann man da immer recht haben« (ebd.). Dabei reduziert Musil den intellektuellen Anspruch allerdings nur vordergründig und vorläufig bis zum Minimum, indem er erklärt: »Wenn ein Autor die Begriffe durchaus mit falschen Namen belegen oder selbst verwechseln will, so kann man sich schließlich daran gewöhnen« (GW II, S. 1043 f.). Dass er diese Attitüde von Generosität bloß zum Zweck satirischer Zuspitzung inszeniert, zeigt die Behauptung, Spenglers Denkweise werde nicht einmal den Mindestanforderungen an eine diskursiv vermittelbare Argumentation

29

intellektuelle Inkompetenz erklärt: »bezeichnenderweise sind sie alle in ihrer Jugend- und Schulzeit schlechte Mathematiker gewesen« (MoE, S. 40). Spengler: Der Untergang des Abendlandes (Anm. 1), S. 4.

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gerecht: »Aber ein Chiffrenschlüssel, irgendeine zuletzt eindeutige Verbindung des Gedankens mit dem Wort muß durchgehalten werden. Auch diese fehlt« (GW II, S. 1044). Den gedanklichen Duktus in Spenglers Untergang des Abendlandes attackiert Musil mithin schon in methodischer Hinsicht, also prinzipiell. Dafür wählt er eine in doppelter Hinsicht exemplarische Strategie: Erstens demonstriert er die Problematik von Spenglers Denkweise durch faktische und humoristisch fingierte Beispiele, zweitens sieht er den vitalistischen Intuitionismus Spenglers als typisch für den zeitgenössischen Antirationalismus an. – Einen Höhepunkt geistreicher Polemik bietet der II . Abschnitt des Essays Geist und Erfahrung dort, wo Musil Spenglers Vorliebe für spekulative Analogiebildungen kunstvoll konterkariert: Es gibt zitronengelbe Falter, es gibt zitronengelbe Chinesen; in gewissem Sinn kann man also sagen: Falter ist der mitteleuropäische geflügelte Zwergchinese. Falter wie Chinese sind bekannt als Sinnbilder der Wollust. Zum erstenmal wird hier der Gedanke gefaßt an die noch nie beachtete Übereinstimmung des großen Alters der Lepidopterenfauna und der chinesischen Kultur. Daß der Falter Flügel hat und der Chinese keine, ist nur ein Oberflächenphänomen. Hätte ein Zoologe je auch nur das Geringste von den letzten und tiefsten Gedanken der Technik verstanden, müßte nicht erst Ich die Bedeutung der Tatsache erschließen, daß die Falter nicht das Schießpulver erfunden haben; eben weil das schon die Chinesen taten. Die selbstmörderische Vorliebe gewisser Nachtfalterarten für brennendes Licht ist ein dem Tagverstand schwer zugänglich zu machendes Relikt dieses morphologischen Zusammenhangs mit dem Chinesentum. – (GW II, S. 1044)

Diese Textpassage ist ein Paradebeispiel für den Esprit und die kalkulierte Komik von Musils satirischer Polemik: Spenglers Vorliebe für spekulative Analogien wird hier durch absurde Pseudo-Argumente systematisch vorgeführt. Mit intellektuellem Vergnügen an den grotesken Implikationen treibt Musil das Verfahren der Analogiebildung bis zum Zenit der Absurdität. Spenglers Tendenz zur Konstruktion von Parallelen auch zwischen realiter kaum oder gar nicht vergleichbaren Phänomenen tritt dabei deutlich zutage. Der komische Effekt verdankt sich hier nicht zuletzt dem gravitätischen Nachdruck der Behauptungen und der bloßen Attitüde von Seriosität, mit der offenkundiger Nonsens als innovative Erkenntnis ›verkauft‹ wird. So inszeniert Musil spekulative Analogiebildung, um mit satirischem Impetus den Irrationalismus von Spenglers Kulturmorphologie vorzuführen. Wenn er ›seinem‹ Spengler die nonchalante Feststellung in den Mund legt, der morphologische Zusammenhang zwischen den suizidalen Neigungen gewisser Nachtfalterarten und dem Chinesentum sei »dem Tagverstand schwer zugänglich« zu machen, dann dekuvriert er damit das Obskurantismus-Problem Spenglers, der eine »dunkel vorgefühlte Philosophie«30 der logisch stringent operierenden Rationalität vorzieht und das Bekenntnis formuliert, er habe den Untergang des Abendlandes aus einem »Tiefenerlebnis« 30

Spengler: Der Untergang des Abendlandes (Anm. 1), S. VII .

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verfasst und sich »mit vollem Bewußtsein« auf die Seite »des Lebens, nicht des Denkens gestellt«.31 – Als vitalistisch geprägter Antirationalist erweist sich Spengler auch, wenn er »kaltes, abstraktes Nachdenken« und »bloße Wahrheiten« für lebensfern hält, weil Wahrheiten »festgestellt«, mithin »aus der lebendigen Unfaßlichkeit [. . .] in der Form von Begriffen abgezogen« (also abstrahiert) und in ein »System« gebracht werden, so dass sie als »absolut und ewig« dann »mit dem Leben nichts mehr zu tun« haben.32 Er selbst kontrastiert Wahrheiten und Tatsachen: »Ein System besteht aus Wahrheiten, eine Geschichte beruht auf Tatsachen. Tatsachen folgen aufeinander, Wahrheiten auseinander«.33 Unter diesen Prämissen sieht Spengler »eine der gewaltigsten Leistungen Nietzsches« darin, »das Problem vom Werte der Wahrheit, des Wissens, der Wissenschaft aufgestellt zu haben«.34 Damit meint er wohl vor allem Nietzsches frühe Schriften Die Geburt der Tragödie und Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben sowie die nachgelassene Frühschrift Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne.35 31

32 33 34 35

Vgl. Oswald Spengler: Pessimismus. Berlin 1921, S. 9 (zitiert nach Kurt Sontheimer: Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik. Die politischen Ideen des deutschen Nationalismus zwischen 1918 und 1933. 3. Aufl. München 1992. S. 47). – Musils Aussage über die »letzten und tiefsten Gedanken« Spenglers (GW II, S. 1044) erweist sich sogar als implizites Zitat des Untergangspropheten, der auch selbst von »letzten und tiefsten Gedanken« spricht (Spengler: Der Untergang des Abendlandes [Anm. 4], S. 8). – Zu Recht kritisiert Koebner Spenglers »Neigung, überraschende Gedankenverbindungen, die bisweilen die Form des Witzes haben, für Tiefendeutungen auszugeben« (Koebner: Oswald Spenglers Phantasien über Wesen und Werdegang der Kulturen [Anm. 2], S. 122). Zudem distanziert er sich von den Denkschablonen (vgl. S. 126) und zwanghaften Dichotomien Spenglers (vgl. S. 117), der sich trotz fehlender »Berührung mit der Empirie und der Historie« (S. 124) nahezu Allwissenheit anmaße (vgl. S. 118). – Demandt kritisiert Spenglers Idee der ›Kulturseele‹, seine radikale Zivilisationsschelte, sein schematisches Kulturkonzept und seinen Determinismus (vgl. Alexander Demandt: Untergänge des Abendlandes. Studien zu Oswald Spengler. Weimar, Wien 2017, S. 46, 173, 187– 189). Spengler: Der Untergang des Abendlandes (Anm. 4), S. 569. Ebd., S. 206. Auf der Basis dieser Gegenüberstellung charakterisiert er die vitale Prozessualität des Historischen so: »Das wirkliche Leben, die Geschichte kennt nur Tatsachen« (ebd., S. 569). Ebd., S. 569. Am 15. Oktober 1924 hielt Spengler aus Anlass von Nietzsches 80. Geburtstag im Weimarer Nietzsche-Archiv den Vortrag Nietzsche und sein Jahrhundert, in dem er erklärt: »Nietzsches Werk ist kein Stück Vergangenheit, das man genießt, sondern eine Aufgabe, die dienstbar macht. Sie hängt heute weder von seinen Schriften noch von deren Stoffen ab, und eben deshalb ist sie eine deutsche Schicksalsfrage. Wenn wir nicht handeln lernen, wie es die wirkliche Geschichte meint, mitten in einer Zeit, die weltfremde Ideale nicht duldet und an ihren Urhebern rächt, in der das harte Tun, das Nietzsche auf den Namen Cesare Borgias getauft hat, allein Geltung besitzt, [. . .] dann werden wir als Volk aufhören zu sein«; Spengler erkennt bei Nietzsche erstmals eine unentbehrliche »Lebensweisheit«, die aus »schlimmen Lagen [. . .] heraushilft«: »Er hat dem geschichtshungrigsten Volke der Welt die Geschichte gezeigt, wie sie ist. Sein Vermächtnis ist die Aufgabe, die Geschichte so zu leben« (Oswald Spengler: Reden und Aufsätze. München 1937, S. 123 f.). Diese Perspektive spiegelt die Krisenmentalität der 1920er Jahre, problematische Imperialismus-Ambitionen und die nationalistische Nietzsche-Rezeption radikaler Gruppierungen.

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Musil beschränkt sich im obigen Zitat nicht darauf, Spenglers Vorliebe für fernliegende Analogien zu parodieren, sondern setzt noch einen weiteren polemischen Akzent: Textelemente wie »Zum erstenmal«, »noch nie beachtete« und die Arroganz36 , mit der Musils Spengler den Zoologen attestiert, sie hätten nie »auch nur das Geringste von den letzten und tiefsten Gedanken der Technik verstanden« (GW II, S. 1044), signalisieren einen fragwürdigen Originalitätsanspruch und karikieren ihn überdies durch penetranten Nachdruck. – Auch mit dieser polemischen Strategie greift Musil auf tatsächliche Aussagen Spenglers zurück, der die Einleitung zu seinem Werk Der Untergang des Abendlandes emphatisch mit den Worten eröffnet: »In diesem Buche wird zum ersten Male der Versuch gewagt, Geschichte vorauszubestimmen.«37 Dabei ignoriert Spengler die Bedeutung kontingenter Faktoren für historische Ereignisse und Prozesse, die nicht vorhersehbar sind. So schreibt er: »Die Vergleiche könnten das Glück des historischen Denkens sein, insofern sie die organische Struktur des Geschehens bloßlegen«; denn bislang hat noch »niemand daran gedacht, hier eine Methode auszubilden. Man hat nicht im entferntesten geahnt, daß hier eine Wurzel, und zwar die einzige liegt, aus der eine große Lösung des Problems der Geschichte hervorgehen kann.«38 Die Aufgabe, die »Welt als Geschichte, aus ihrem Gegensatz, der Welt als Natur begriffen, geschaut, gestaltet – das ist ein neuer Aspekt des Daseins, der bis heute nie angewandt, vielleicht dunkel gefühlt, oft geahnt, nie mit allen seinen Konsequenzen gewagt worden ist.«39 Parallelstellen zu solchen Proklamationen sind bei Spengler zahlreich. Festzustellen ist eine doppelte, von Spengler offenbar nicht durchschaute Problematik: Einerseits versucht er das Historische einer an strikte Naturkausalität erinnernden Gesetzlichkeit zu unterwerfen, um es als prognostizierbar darzustellen – analog zu wissenschaftlichen Experimenten mit fixierter Versuchsanordnung und zur intersubjektiv gültigen Evidenz ihrer Resultate. Andererseits jedoch suspendiert er die überzeitliche Verbindlichkeit und Systematik naturwissenschaftlich begründeter Erkenntnis, indem er sie gemäß der Singularität kulturhistorischer Einzelphänomene relativiert und depotenziert. Diese wechselseitige Grenzüberschreitung eskamotiert gerade das jeweils Spezifische und erleichtert Spengler die Scheinsynthesen. 36

37

38 39

Musil weist nach, dass Spengler nicht nur erkenntnistheoretische Arbeiten pauschal diskreditiert, sondern mit Ignoranz auch die angeblich »albernsten Methoden der experimentellen Psychologie« verwirft, indem er sie »für einen seiner unwürdigen ›Jagdgrund mittelmäßiger Köpfe‹« hält (GW II, S. 1047). Bekanntlich promovierte Musil bei Carl Stumpf, einem Pionier der Experimentalpsychologie. Spengler: Der Untergang des Abendlandes (Anm. 1), S. 3. Vgl. auch S. 8–10. Indem Musil das Personalpronomen ›Ich‹ in der fingierten Rede Spenglers (GW II, S. 1044) nicht nur durch die exponierte syntaktische Position, sondern auch durch die unübliche Großschreibung hervorhebt, spielt er gleichfalls auf Spenglers Hybris an. Spengler: Der Untergang des Abendlandes (Anm. 1), S. 6. Ebd., S. 7.

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Ignoriert wird dabei die fundamentale Differenz zwischen der Unwiederholbarkeit geschichtlicher Ereignisse wie kultureller Einzelleistungen, die als jeweils individuelle Phänomene nicht prognostizierbar sind, und naturalen Fakten, die einer experimentell reproduzierbaren Kausalität folgen und durch sie Evidenz und Wahrheitsstatus erhalten. Dieser prinzipielle Unterschied zwischen der naturwissenschaftlichen, durch physikalische oder chemische Experimente nachweisbaren Gesetzmäßigkeit und den jeweils singulären historischen oder kulturellen Ereignissen scheint Spengler nicht bewusst zu sein, wenn er Kulturgeschichte für prognostizierbar hält und sich selbst zum Geschichtspropheten stilisiert. Naturalisierung der Geschichte und Subjektivierung der Naturwissenschaft erweisen sich insofern als zwei Seiten derselben erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Grundproblematik! So gerät Spengler in einen pseudowissenschaftlichen Gestus, wenn er die eigenen spekulativen Analogieschlüsse als eine »Technik des Vergleichens« exponiert und hier erstmals »eine Methode auszubilden« meint.40 Mit wörtlichen Zitaten aus Spenglers Hauptwerk nimmt Musil ironisch die erkenntnistheoretischen Konklusionen ins Visier, die Spengler aus seinen Ansichten über die Physik zieht: Dieser analogisiere nämlich »physikalische Systeme« mit der Einzigartigkeit von »Tragödien und Sinfonien«; so unterminiere er den naturwissenschaftlichen Wahrheitsbegriff, indem er behaupte, es gebe »hier Schulen, Traditionen, Manieren, Konventionen wie in der Malerei« (GW II, S. 1045).41 Ganz im Sinne solcher spekulativen Übertragungsversuche, die das jeweils Spezifische der verglichenen Phänomene nonchalant eskamotieren, meint Spengler im Untergang des Abendlandes sogar fühlen zu können, »wie nahe das Geheimnis im Phänomen der Zahl dem Geheimnis der künstlerischen Kunstform liegt«, um aus seiner subjektiven Intuition dann das Fazit zu ziehen: »Mathematik ist also auch eine Kunst. Sie hat ihre Stile und Stilperioden.«42 Von kulturhistorischen Perspektiven ausgehend, entwickelt Spengler hier eine Hypothese, die mit einer radikalen Relativierung des Wahrheitsanspruchs einhergeht. So glaubt er auf eine Pluralität von 40 41

42

Ebd., S. 5 f. Wichtig sind Differenzierungen, die bereits vor 1900 in die Kulturwissenschaft eingeführt wurden. Schon 1894 stellte der Philosoph Wilhelm Windelband (in seiner Straßburger Rektoratsrede Geschichte und Naturwissenschaft) der nomothetischen Methodik des Naturwissenschaftlers, der seine Forschungsobjekte auf allgemeine Gesetze hin untersucht, die idiographisch ausgerichteten Geisteswissenschaftler gegenüber, deren Gegenstände einmalig-individuell, mithin nicht wiederholbar sind. Der Windelband-Schüler Heinrich Rickert schloss daran an, indem er 1899 in der Schrift Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft methodische Konsequenzen daraus ableitete: Während es die Naturwissenschaften »mit der wert- und sinnfreien Natur zu tun haben, die sie unter allgemeine Begriffe bringen«, und zwar durch »generalisierende Verfahren«, ist es die Aufgabe der historischen Kulturwissenschaften, die »sinnvolle und wertbezogene Kultur« darzustellen: durch »eine individualisierende Betrachtung« (Heinrich Rickert: Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft. Mit einem Nachwort hg. v. Friedrich Vollhardt. Stuttgart 1986 [Text der 6. und 7. Auflage 1926], S. 12). Spengler: Der Untergang des Abendlandes (Anm. 1), S. 90.

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Mathematiken gleichen Ranges schließen zu können: Seines Erachtens existieren »so viele Mathematiken – Zahlenwelten [. . .] als es hohe Kulturen gibt«.43 Dabei erweist sich Spengler allerdings insofern als inkonsequent, als er darauf verzichtet, diesem universellen Wahrheitsrelativismus auch das eigene kulturmorphologische Konzept zu unterwerfen: Wie bereits gezeigt, zielt er ja prononciert auf »die [. . .] Philosophie der Zeit« und will mit seiner Kulturmorphologie zu »der Philosophie der Zukunft« überhaupt vorstoßen,44 die er zudem apodiktisch als »die unwiderlegliche Formulierung eines Gedankens« bezeichnet.45 Die (auch nach seinen eigenen Prämissen eigentlich unbegründbare) Verabsolutierung der kulturmorphologischen Zukunftsphilosophie wird an Spenglers Aussagen nicht zuletzt durch die prononcierte Singularform kenntlich gemacht: Der apodiktische Anspruch, den Spengler auch durch Kursivsetzung markiert, wenn er »die [. . .] Philosophie der Zeit« und der Zukunft zu präsentieren vorgibt, steht der von ihm behaupteten Pluralität von Mathematiken und Physiken diametral gegenüber, deren historisch beschränkter Wahrheitsanspruch seines Erachtens jeweils immer nur intrakulturelle Geltung haben kann. Fragwürdige Prämissen bestimmen laut Musil auch die spekulativen Hypothesen Spenglers zum »Wesen des Raums«, der seiner Meinung nach angeblich in jeder Kultur »etwas anderes ist« (GW II, S. 1046). Tatsächlich glaubt Spengler, »der absolute Raum unserer Physik [ist] eine Form, die allein aus unserm Seelentum als dessen Abbild und Ausdruck entstanden und allein für unsre Art des wachen Daseins wirklich, notwendig und natürlich ist.«46 Meinungen dieser Art offenbaren ein naives Wissenschaftsverständnis Spenglers, in dem die fundamentalen Differenzen zwischen naturkausaler Gesetzlichkeit und individueller künstlerischer Schöpfung aufgehoben zu sein scheinen. Zudem sind solche Ansichten offenbar auch durch Spenglers Überzeugung beeinflusst, die Kulturen seien hermetisch gegeneinander abgeschlossen – ohne produktive Interferenzen und ohne intertemporal gültige naturwissenschaftliche Grundgesetze. So weit reicht sein Antirationalismus, dass er laut Musil sogar physikalische Gesetzmäßigkeiten zu bloßen »Stilfragen« depotenziert (GW II, S. 1045). Durch derartige Thesen sieht sich Musil zu der polemischen Frage provoziert: »Warum haben aber die Hebel zur Zeit des Archimedes oder die Keile im Paläolithikum genau so gewirkt wie heute?« (ebd.). Im Essay Geist und Erfahrung grenzt sich Musil selbst energisch von den phantasievollen Spekulationen Spenglers ab, indem er auf der Unhin43 44 45 46

Ebd., S. 102. Ebd., S. VII, 6. Ebd., S. 71. Ebd., S. 119. Spenglers Perspektive auf die Raumzeitlichkeit reflektiert Christof Foderer: Zur Auffassung der Kategorien Zeit und Raum in Oswald Spenglers Der Untergang des Abendlandes, in: Weimarer Beiträge 58 (2012), H. 2, S. 225–237.

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tergehbarkeit naturgesetzlicher Grundprinzipien und deren intersubjektiver wie überzeitlicher Gültigkeit insistiert. Als zentrale Problematik, die einer adäquaten wissenschaftstheoretischen Reflexion entgegensteht, diagnostiziert er bei Spengler eine »Mischung subjektiver und objektiver Erkenntnisfaktoren, deren Trennung die mühselige Sortierarbeit der Erkenntnistheorie ausmacht«; von dieser Aufgabe jedoch habe »sich Spengler dispensiert [. . .], weil sie dem freien Flug der Gedanken ganz entschieden hinderlich ist« (ebd.). Mit dieser ironisch pointierten Flugmetaphorik, die nur scheinbar der positiven Imago der Gedankenfreiheit folgt, tatsächlich aber aus deren Kontrafaktur ihre polemische Sprengkraft bezieht, schließt Musil an das Willkür-Verdikt im Schiller-Motto seines Essays an (vgl. GW II, S. 1042), um sich von Spenglers Tendenz zu phantasievollen Analogien und Assoziationen abzugrenzen, die sich dem Anspruch auf eine naturwissenschaftlich fundierte moderne Erkenntnistheorie nonchalant entziehen und den empirischen Realitätsbezug wie ein lästiges Hindernis eskamotieren. Zu Recht insistiert Musil darauf, dass »jede seriöse Philosophie« grundsätzlich in dem Sinne »empiristisch« sein muss, dass alle Gedankensysteme Widersprüche »zur Erfahrung oder richtigen Schlüssen aus ihr« vermeiden müssen (GW II, S. 1048). Aus diesem Grund beanstandet er auch das »in geistigen Kreisen« grassierende »Vorurteil über Verstöße gegen Mathematik, Logik und Genauigkeit«, die »unter den Verbrechen wider den Geist gern zu den ehrenvollen politischen gezählt«, also zu Unrecht verharmlost werden (GW II, S. 1043).47 Indem Musil auf der obligatorischen Bindung an die »Instanz der Erfahrung« beharrt, distanziert er sich von Spengler, der sie »als ein westliches Zivilisationssymptom« abtäte (GW II, S. 1047) und ihr damit den Status interkultureller Verbindlichkeit abspräche. Vom überzeitlichen Geltungsanspruch empirischer Faktizität ausgehend, wendet sich Musil mit einem ironischen Seitenhieb gegen den »Chor der Geistkämpfer und Seelenvollen«, der »längst einstimmig intuitiert« hat: »es gibt überhaupt nichts Erbärmlicheres als Empirismus« (ebd.). In diesem Sinne ist der polemische Impuls von Musils Spengler-Satire Geist und Erfahrung schon im Spannungsverhältnis der Titelbegriffe sichtbar. Obwohl Musil am exemplarischen Fall Spenglers den Antirationalismus der Empirismus-Kritiker attackiert, versucht er den zeitgenössischen Intuitionismus auch ätiologisch zu erklären, indem er dessen Genese reflektiert: Denn die von den Empiristen geforderte induktive Exaktheit könne beim Zusammenleimen von »Erfahrungsbruchstücke[n]« auch »eine gewisse Philistrosität« bewirken, weil die durch akribische Detailarbeit beabsichtigten Synthesen auf höherer Ebene nur selten gelingen (GW II, S. 1048). Daher 47

In Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften findet sich auch die folgende Polemik gegen den Antirationalismus: »Bei uns werden ja schon die Säuglinge verdorben, weil man ihnen sagt, daß sie fabelhafte Instinktmenschen seien, die durch eine intellektuelle Entwicklung nur verlieren könnten« (MoE, S. 1003).

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signalisiert Musil sogar ein rudimentäres Verständnis für den antirationalistischen Kampf »gegen den engen wissenschaftlichen Geist«, also gegen empiristische Borniertheit (GW II, S. 1049), wenngleich seine fundamentalen Vorbehalte in der Sache dadurch keineswegs relativiert sind. Ohne jegliche Bereitschaft zur Selbstrelativierung und weit von jedem Impuls zur Selbstkritik entfernt, scheint Spengler von der singulären Bedeutung seines Werkes Der Untergang des Abendlandes uneingeschränkt überzeugt zu sein, glaubt er in ihm doch »die unwiderlegliche Formulierung eines Gedankens« und als »Denker« den »Sinn seiner Persönlichkeit als Lehre geformt« zu präsentieren.48 Sein vitalistisches Grundkonzept geht mit einem intuitiven Subjektivismus einher, wenn er sein methodisches Vorgehen selbst dadurch charakterisiert, dass er »die Gegenstände und die Beziehungen sinnlich nachzubilden sucht, statt sie durch Begriffsreihen zu ersetzen«49 und unter abstrakte Kategorien zu subsumieren. Allein die Leser, welche »die Wortklänge und Bilder ebenso nachzuerleben« verstehen, betrachtet Spengler als Adressaten seiner Gedanken, für die er mit apodiktischer Naivität den Status »historischer Notwendigkeit« beansprucht.50 Ein subjektivistischer Gestus verbindet sich hier mit einer Tendenz zum Dogmatismus. Seine Distanz zu »philosophische[r] Gelehrtenarbeit« und zu »begriffliche[n] Zergliederungen« macht Spengler evident, wenn er behauptet: »Wer definiert, der kennt das Schicksal nicht.«51 Vom Anspruch auf logische Stringenz in der Argumentation dispensiert er sich, wenn er die »deutsche Philosophie« als »Philosophie des Schicksals« begreift und sie durch lebendiges Denken und symbolische Darstellung geprägt sieht.52 Signalwörtern wie ›Schicksal‹, ›Blut‹, ›Geschichte‹, ›Leben‹, ›Natur‹, ›Seele‹ und ›Symbol‹ schreibt er eine zentrale Bedeutung zu.53 Da Spengler Kulturen für »Lebewesen höchsten Ranges« hält, geht er so weit, sogar von der »Seele ganzer Kulturen« zu sprechen.54 48

49 50 51 52 53 54

Spengler: Der Untergang des Abendlandes (Anm. 4), S. VII (im Dezember 1922: im Vorwort zur 33. bis 47. Auflage). – Psychologisch aufschlussreiche Einblicke bietet Spenglers autobiographische Schrift Eis heauton (entstanden 1913–1919): Hier gesteht Spengler, erzählen könne er nur vom »Ich, das in mir eingekapselt [. . .] sich quälte, ohne je eine Beziehung zum Draußen zu finden« (ebd., S. 68). Sein nostalgisches Lebensgefühl offenbart das Bekenntnis: »Meine Zeit ist das Rokoko; da bin ich zu Hause. Antike Reste erschüttern mich wie ein Traum von Glück, das uns versagt blieb. Die Romantik füllt die Brust mit tiefster Wehmut« (ebd., S. 50). Und mit visionärer Attitüde bekennt er: »Ich bin nie mit dem zufrieden gewesen, was ich geschrieben habe. Es stand zu tief unter dem, was ich sah« (ebd., S. 2). Eis heauton wird hier zitiert nach Joe Paul Kroll: ›A biography of the soul‹: Oswald Spengler’s biographical method and the morphology of history, in: German Life and Letters 62 (2009), H. 1, S. 67–83, hier S. 69, 74, 79. Spengler: Der Untergang des Abendlandes (Anm. 4), S. VIII . Ebd., S. X, VIII . Ebd., S. IX . Ebd., S. VIII-IX . Vgl. ebd., S. VII-XI . Spengler: Der Untergang des Abendlandes (Anm. 1), S. 29, 11.

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Intuitionistischer Vitalismus und antirationalistischer Impetus verbinden sich in Spenglers Kulturmorphologie auf so fragwürdige Weise, dass Musil ihm im Essay Geist und Erfahrung eine extreme Skepsis »in ratione« (GW II, S. 1055), Distanz zu empirischer Faktizität (GW II, S. 1046) sowie einen naiven Enthusiasmus für alle spontanen Einfälle attestiert: Da der Intuitionist Spengler zwar auf der Lebendigkeit der Erkenntnisakte insistiere, dabei aber zugleich deren jeweiligen Gehalt vernachlässige (GW II, S. 1045), schneide er »beim Vergleichen und Kombinieren von Fakten« erheblich schlechter ab als die von ihm zu Unrecht geschmähten Empiristen, weil er selbst »nur mit Dunst statt der Kugel schießt« (GW II, S. 1055). Und wenn Musil an Spengler polemisch »das klinische Bild des durch übermäßigen, fortgesetzten Intuitionsgenuß erweichten Geistes, Schöngeistes unserer Zeit« diagnostiziert (ebd.), dann schreibt er ihm mit subversiver medizinischer Metaphorik sogar eine Art intellektueller Paralyse zu. Der Spengler-Essay Geist und Erfahrung offenbart also nicht nur das intellektuelle Potential Musils, sein differenziertes Urteil und sein polemisches Pointierungsvermögen, sondern avanciert zugleich auch zu einem Paradebeispiel für die Brillanz seiner kreativen Metaphorik. Deren Evidenzeffekt unterstützt die Plausibilität der rationalen Argumentation und verstärkt zugleich den satirischen Esprit der Polemik. Spengler bemisst den »Wert eines Denkers« danach, »ob es die Seele der Zeit selbst ist, die aus seinen Werken und Intuitionen redet«.55 Wenn er Gestalt und Gesetz, Physiognomik und Systematik, Intuition und Intellekt, Symbol und Formel kontrastiert56 , dann erhebt er den für vitalistische Ideologien zentralen Dualismus von Leben und Tod dabei zum maßgeblichen Wertungskriterium: Unter Berufung auf Goethes Methode grenzt Spengler ein intuitives Verstehen, das »das Lebendige unberührt« lässt, »von dem exakten, tötenden Verfahren« der modernen Naturwissenschaften ab.57 Ein strikt antithetisches Denken, dessen Wertungsprämissen eine vitalistische Grundtendenz verraten, bestimmt seine apodiktische Prämisse: »Starre Formen verneinen das Leben. Formeln und Gesetze breiten Starrheit über das Bild der Natur. Zahlen töten.«58 Die anti-vitalistische Statik einer solchen Bildlichkeit, die Spengler hier in den Dienst lebensphilosophischer Prinzipien stellt, bestimmt auch eine Kontrafaktur, die Musil dem Roman Der Mann ohne Eigenschaften eingeschrieben hat: durch eine polemische Pointe, die generell auf einen naiven Antirationalismus zielt und sich mithin auch auf Spengler speziell beziehen lässt. Musils Irrationalismus-Kritik prägt hier das ironische Bonmot von der »Verspottung der Eisblumen [. . .], die der Verstand [. . .] zur schönsten 55 56 57 58

Ebd., S. 59. Vgl. ebd., S. 81, 147 f. Ebd., S. 143. Ebd., S. 102.

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Blüte treibt, worüber sich schon viele Menschen mit Tauwetter im Kopf lustig gemacht haben« (MoE, S. 537). Die filigrane Kristallstruktur rationaler »Eisblumen« ist dem Verständnis »des durch übermäßigen [. . .] Intuitionsgenuß erweichten Geistes« (GW II, S. 1055) ebenso unzugänglich wie den »Menschen mit Tauwetter im Kopf«, das hier die intellektuelle Paralyse metaphorisch zu variieren scheint. Meteorologische und medizinische Metaphorik dienen dabei gleichermaßen einer subversiven Polemik gegen den Antirationalismus.

3. Spenglers vitalistischer Antirationalismus und seine Nietzsche-Rezeption Seine geistige Provenienz sieht Spengler selbst durch eine methodische Doppelorientierung bestimmt: Schon im Vorwort von 1922 zum ersten Band seines Hauptwerks Der Untergang des Abendlandes bezeichnet er »Goethe und Nietzsche« als die für ihn zentralen Referenzautoren, nämlich als diejenigen, denen er »so gut wie alles« verdanke: »Von Goethe habe ich die Methode, von Nietzsche die Fragestellungen«.59 In der Einleitung bringt Spengler diese Ausrichtung konkret dadurch zur Geltung, dass er einerseits an Nietzsches kulturkritische Perspektiven anschließt und andererseits Goethes morphologische Betrachtungsweise von Naturphänomenen auf die Kulturgeschichte zu übertragen sucht: Denn er will – vermutlich mit implizitem Rekurs auf den Untertitel von Nietzsches Schrift Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft (1886) – nun seinerseits »zu einer völlig neuen Philosophie, der Philosophie der Zukunft« vorstoßen, und zwar »zur Idee einer Morphologie der Weltgeschichte, der Welt als Geschichte, die im Gegensatz zur Morphologie der Natur [. . .] alle Gestalten und Bewegungen der Welt in ihrer tiefsten und letzten Bedeutung [. . .] zu einem Bilde des Lebens, nicht des Gewordenen, sondern des Werdens zusammenfaßt«.60 Da Spengler die spezifischen Differenzen zwischen dem geistigen Profil seiner beiden Überväter jedoch nicht hinreichend reflektiert, entgeht ihm auch die dadurch bedingte Heterogenität seines eigenen Kulturkonzepts, in 59

60

Spengler: Der Untergang des Abendlandes (Anm. 4), S. IX . – Zwar lässt dieser Entwurf, in dem Spengler Goethes naturmorphologischen Ansatz auf die Kultur zu übertragen sucht, gewisse Affinitäten zu Nietzsches Décadence-Konzept erkennen. Aber durch den Anspruch, historische Entwicklungen sogar prognostizieren zu können, unterscheidet sich Spenglers Perspektive grundlegend von den prinzipiellen Vorbehalten gegenüber teleologischen Geschichtsdeutungen in Nietzsches Schrift Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben. Diesbezüglich scheint Spengler eher durch Hegel beeinflusst zu sein, von dem sich Nietzsche in seiner Historienschrift entschieden abgrenzt. Spengler: Der Untergang des Abendlandes (Anm. 1), S. 6, 7. Wenn Spengler zu »der Philosophie der Zukunft« vorstoßen will, signalisiert er mit diesem Akzent möglicherweise sogar die Absicht, Nietzsche zu überbieten.

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dem er naiv die Übertragbarkeit von Naturkategorien auf Kulturgegebenheiten voraussetzt – und in der eigenwilligen Synthese wohl auch Goethe und Nietzsche zu überbieten beansprucht. Vom Morphologie-Konzept Goethes ausgehend, interessiert sich Spengler primär für das »Studium der morphologischen Verwandtschaft, welche die Formensprache aller Kulturgebiete innerlich verbindet«; denn damit hat seines Erachtens noch niemand »Ernst gemacht«.61 Er ordnet Kulturen als »Lebewesen höchsten Ranges« wie »Pflanzen und Tiere, der lebendigen Natur Goethes« zu, »nicht der toten Natur Newtons«.62 Durch die vergleichende Morphologie der Weltgeschichte, die er im Untergang des Abendlandes als »eine Methode des Erfühlens, nicht des Zerlegens« bezeichnet,63 glaubt Spengler der »unermeßliche[n] Fülle, Tiefe, Bewegtheit des Lebendigen« gerecht zu werden.64 »Nachfühlen, Anschauen, Vergleichen« hält er für »die Mittel der Geschichtsforschung überhaupt«; er begreift Kulturen als Organismen, »Kulturgeschichte ist ihre Biographie«.65 Während »der Verstand, der Begriff« laut Spengler »tötet«, nämlich »das Erkannte zum starren Gegenstand« macht, »beseelt« das »Anschauen«, denn es »verleibt das einzelne einer lebendigen, innerlich gefühlten Einheit ein«.66 So diffamiert Spengler jede auf rationaler Begriffsbildung und stringenter Argumentation basierende Methodik. In dieser Aussage, die übrigens auch Musil im Spengler-Essay Geist und Erfahrung zitiert (vgl. GW II, S. 1051–1052), wird die positive Bewertung von Leben, Seele, Anschauung und Synthese mit einer pejorativen Einschätzung der Ratio kontrastiert, deren analytischen, auf Systematisierung zielenden Zugriff Spengler als einen destruktiven, lebensfeindlichen Mechanismus pauschal verurteilt. Vermutlich ist seine These, der sterile, wurzellose »innerlich erstorbene Mensch«, der »rein intellektuelle« Typus sei ein zivilisatorisches Spätzeit-Phänomen67 , von der Kritik am Sokratismus als Décadence-Symptom in der Geburt der Tragödie beeinflusst, wo Nietzsche übrigens auch auf die Gelehrtenkritik in Goethes Faust I Bezug nimmt.68 Spengler erwähnt Nietzsche im Kontext von Aussagen, in denen er »Weisheit und Intelligenz« kontrastiert; hier schreibt er »Sokrates« im Sinne von Nietzsches SokratesKritik nur ›Intelligenz‹, nicht aber ›Weisheit‹ zu und betont das »Seelische 61 62 63 64 65 66 67 68

Spengler: Der Untergang des Abendlandes (Anm. 4), S. 8. Spengler: Der Untergang des Abendlandes (Anm. 1), S. 29. Spengler: Der Untergang des Abendlandes (Anm. 4), S. 141. Spengler: Der Untergang des Abendlandes (Anm. 1), S. 29. Ebd., S. 35, 152. Ebd., S. 149. Ebd., S. 116; vgl. auch Spengler: Der Untergang des Abendlandes (Anm. 4), S. 143, 145, 527. Zu Nietzsches Schrift Die Geburt der Tragödie vgl. die Belege in: Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. München, Berlin, New York 1980. (Aus dieser Edition zitiere ich jeweils mit Bandziffer, Seitenzahl und der vorangestellten Sigle KSA .) – Vgl. KSA 1, S. 111–112, 116, 117, 118. Zu Goethes Faust I vgl. KSA 1, S. 116, 119.

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jeder lebendigen Kultur« gegenüber dem angeblich verfehlten Standpunkt derer, die im »Mangel an Intelligenz etwas Verächtliches« erblicken.69 Musils methodische Vorbehalte gegen vitalistische Schematismen richten sich auch gegen die Rigidität antithetischer Konstruktionen in Spenglers Untergang des Abendlandes. Exemplarisch nennt Musil die Gegensatzpaare Leben – Tod, Anschauen – Erkennen, Gestalt – Gesetz, Symbol – Formel, Werden – Gewordenes, Bewegung – Ruhe, Seele – Welt, Richtung – Raum, Schicksal – Kausalität, Physiognomik – Systematik et cetera (vgl. GW II, S. 1052).70 Die Simplizität eines strikt dualistischen Denkens, das auf einem schlichten Antagonismus von Organischem und Mechanischem, von Intuition und Analyse basiert, führt Musil durch den ironischen Vorschlag ad absurdum, mit Hilfe dieses Begriffsarsenals Spenglers Philosophie gleichsam ›nachzubasteln‹: Man nehme die Prädikate ›ist in gewissem Sinne‹, ›wird in gewissem Sinne‹ und ›hat in gewissem Sinne‹, vernachlässige unwesentliche Unterschiede der Ausdrucksform, und kombiniere nun jeden der angeführten Begriffe mit allen andren, bejahe die Kombinationen aller an erster Stelle in ihrem Paar stehenden Begriffe und ebenso die aller an zweiter Stelle stehenden untereinander, verneine jede Kombination eines an erster Stelle stehenden mit einem an zweiter Stelle stehenden Begriff: bei gewissenhafter Befolgung ergibt sich Spenglers Philosophie von selbst und sogar noch einiges mehr. Zum Beispiel: Leben wird angeschaut, hat Gestalt, ist Symbol, ist Werden usw. Kausale Beziehung ist tot, wird erkannt, hat Gesetz, ist Gewordenes usw. Leben hat keine Systematik, Schicksal wird nicht erkannt und so und so. Spengler wird sagen, da zeige sich der Mangel der Rationalität; aber eben das sage ich auch. (GW II, S. 1053)

Mit dieser satirischen ›Bastelanleitung‹ karikiert Musil das antithetische Konstrukt Spenglers, das dadurch ridikül erscheint. Zugleich enthält diese parodistische Kontrafaktur übrigens ein verstecktes Paradoxon: Denn das starre dichotomische Konzept lässt den vitalistischen Intuitionismus, den Spengler gegen die mechanistischen Vorstellungen wendet, sogar selbst zum Bestandteil einer mechanistischen Konstruktion werden. Auch in dieser Hinsicht scheint Musils ironische ›Bastelanleitung‹ die antagonistischen Schemata von Spenglers Kulturmorphologie, mithin die Opposition von Mechanismus und Vitalismus, zu konterkarieren. Dafür spricht eine süffisante Bemerkung, mit der Musil Spenglers Antirationalismus kritisiert, und zwar gerade indem er ironisch Einigkeit mit ihm suggeriert: »Spengler wird sagen, da zeige sich der Mangel der Rationalität; aber eben das sage ich auch« (ebd.). Eine solche im69 70

Spengler: Der Untergang des Abendlandes (Anm. 4), S. 527. Die meisten dieser Begriffspaare finden sich schon in der Einleitung zum ersten Band von Spenglers Untergang des Abendlandes: organisch – mechanisch, Gestalt – Gesetz, Symbol – Formel, Werden – Gewordenes (vgl. Spengler: Untergang des Abendlandes [Anm. 1], S. 7, 143, 149), tot – lebendig, Gesetz – Analogie (ebd., S. 4). Vgl. ferner: Eigenes – Fremdes (S. 77), Seele – Welt (S. 78), Leben – Tod (S. 79), Erkennen – Erleben (S. 81), Mechanismus – Organismus, Gesetz – Gestalt (S. 35), Kausalität – Schicksal (S. 9), Vergleich, Bild, Symbol – Formel, Gesetz, Schema (S. 81), Physiognomik – Systematik (S. 137, 147).

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manente Dialektik auf der Metaebene deutet sich außerdem dort an, wo Musil im Hinblick auf Spenglers intuitive Geschichtskonstruktionen mit satirischer Absicht vom »Mantelwurf der Geistigkeit« spricht, »unter dem die Gliederpuppe steckt« (GW II, S. 1058).71 Diese Demontage enthüllt überraschende Züge von Spenglers Vitalismus, die den programmatischen Anspruch auf eine intuitiv zugängliche Lebensdynamik pervertieren. Mit dem dichotomischen Grundkonzept scheint der Nietzscheaner Spengler implizit auf die zweite der Unzeitgemässen Betrachtungen Bezug zu nehmen: auf die außergewöhnlich wirkungsmächtige72 Schrift Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben (1874), in der Nietzsche dem lebensfernen Historismus der Epoche ein energisches Plädoyer für den Primat vitaler Interessen entgegenhält. Hier erklärt Nietzsche schon 44 Jahre vor Spenglers Hauptwerk von 1918: »Ein historisches Phänomen, rein und vollständig erkannt und in ein Erkenntnissphänomen aufgelöst, ist für den, der es erkannt hat, todt«.73 Und in Richard Wagner in Bayreuth, der vierten der Unzeitgemässen Betrachtungen, äußert sich Nietzsche so über seine Zeitgenossen: Sehen sie in ihrem innerlichen Schauen keine neuen Gestalten vor sich, sondern immer nur die alten hinter sich, so dienen sie der Historie, aber nicht dem Leben, und sind todt, bevor sie gestorben sind: wer aber jetzt wahres, fruchtbares Leben [. . .] in sich fühlt, könnte der sich durch irgend Etwas, das sich in Gestalten, Formen und Stylen abmüht, nur einen Augenblick zu weiter tragenden Hoffnungen verführen lassen?74

Und in einem nachgelassenen Notat konstatiert er 1888: »wo Leben e r s t a r r t, thürmt sich das Gesetz.«75 Die Präferenz für antithetische Gedankengänge mit ausgeprägten Wertungsschemata zeigt also eine Affinität zwischen Nietzsches frühen Schriften und Spenglers Hauptwerk, die durch das analoge vitalistische Grundprinzip bedingt ist. – Eine parodistische Kontrafaktur erfährt 71

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73 74

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Im Essay Das hilflose Europa wendet sich Musil mit analoger Metaphorik gegen den Antirationalismus »des Intuitionsmenschen«, der »eine sentimentale Nörgelei am Verstand« mit einem »Bedürfnis nach Halt, nach gigantischen Knochengespenstern« verbinde, »an die man die Impressionen hängen kann, aus denen man nur noch« besteht (GW II, S. 1087). Zu Nietzsches Historienschrift vgl. Barbara Neymeyr: Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen. I . David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller. II . Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben. Berlin, Boston 2020 (Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken. Hg. v. der Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Bd. 1/2), S. 253–584. Zur Wirkungsgeschichte dieser Schrift im Horizont des Historismus vgl. ebd., S. 305–386. Zu Musil vgl. ebd., S. 341–344, 418–419, 448, 451–452, 454, 469–470. Zu Spengler vgl. S. 344–346. Friedrich Nietzsche: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben, KSA 1, S. 257. Friedrich Nietzsche: Richard Wagner in Bayreuth, KSA 1, S. 459. Vgl. zu diesem Werk Barbara Neymeyr: Kommentar zu Nietzsches Unzeitgemässen Betrachtungen. III . Schopenhauer als Erzieher. IV . Richard Wagner in Bayreuth. Berlin, Boston 2020 (Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken. Hg. v. der Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Bd. 1/4), S. 287–581. Vgl. Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente 1888, 20 [128], KSA 13, S. 570.

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dieser dualistische Ansatz in der ›Bastelanleitung‹, die Musil im Essay Geist und Erfahrung polemisch inszeniert, um den mechanistischen Schematismus solcher antithetischen Konstrukte zu entlarven. – Einer vorschnell und undifferenziert auf Polaritäten fixierten Denkweise wie derjenigen Spenglers ist allerdings die Einschätzung entgegenzuhalten, die sein Vorbild Nietzsche 1882 formuliert, also acht Jahre nach der Historienschrift: Von der menschlichen Gewohnheit, »todt und lebendig, logisch und unlogisch usw. g e t r e n n t« zu halten, distanziert sich Nietzsche nämlich mit dem Postulat: »Unsere G e g e n s ä t z e verlernen – das ist die Aufgabe.«76 Dass sich ein rigider Dualismus wie derjenige, der die mechanistischen Tendenzen in Spenglers antirationalistischem Konzept bestimmt, auch für demagogische Zwecke eignet, hat die rassistische Ideologie des Nationalsozialismus bekanntlich mit katastrophalen Folgen gezeigt. Zwar stand der Kulturmorphologe Oswald Spengler, den man der sogenannten ›Konservativen Revolution‹ zurechnet,77 dem antisemitischen Rassismus der Nationalsozialisten skeptisch gegenüber. Aber auch Spengler hegte Vorbehalte gegen demokratische Gesinnungen. So entwickelte er eine gewisse Affinität zum Faschismus Mussolinis. Vom nationalsozialistischen Terrorregime erlebte er selbst nur noch die ersten drei Jahre, da er bereits im Mai 1936 starb. – Soweit ein Denken in rigiden Antagonismen für propagandistische Interessen genutzt wird, erhält es politische Brisanz. Durch die einprägsame Schlichtheit und die Suggestivkraft einer ideologisch geprägten Wertordnung sind vitalistische Konzepte wie dasjenige Spenglers für solche Vereinnahmungsversuche geradezu prädestiniert. Denn das antithetische Grundmodell, das Leben und Tod, organische Fülle und bloßen Mechanismus, Wachstum und Erstarrung kontrastiert, beruht insofern auf Scheinalternativen, als die Wertungskriterien des Vitalismus so deutliche Präferenzen vorgeben, dass der jeweilige Gegenbegriff dabei von vornherein diskreditiert wird.78 Musils prinzipielle Vorbehalte gegen dualistische Schemata79 weisen über die Kritik an der antithetischen Begrifflichkeit Spenglers allerdings hinaus. Denn sie gelten letztlich jedem vitalistischen Antirationalismus80 , beispiels76 77 78 79 80

Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente 1882, 1 [3], KSA 10, S. 10. Horizontbildende Untersuchungen zur Soziologie und Mentalitätsgeschichte dieser Strömung und zu ihren politischen Implikationen bietet Stefan Breuer: Anatomie der Konservativen Revolution. Darmstadt 1993. Vgl. dazu Sontheimer: Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik (Anm. 31), S. 60–61. Schon im Kurzessay Moralische Fruchtbarkeit von 1913 bezeichnet Musil die »diametrale Gegeneinandersetzung« von Begriffen wie Gut und Böse als Indiz für eine obsolete, auf Dichotomien fixierte Denkweise, die er für »wenig wissenschaftlich« hält (GW II, S. 1002–1003). Zu Musils kritischer Auseinandersetzung mit antirationalistischen Konzepten unterschiedlicher Provenienz vgl. Neymeyr: Psychologie als Kulturdiagnose (Anm. 19), vor allem Kapitel IV . 4 (S. 366–389). Außerdem: Barbara Neymeyr: Utopie und Experiment. Zur Literaturtheorie, Anthropologie und Kulturkritik in Musils Essays. Heidelberg 2009 (= Beiträge zur neueren Literaturgeschichte, Bd. 265), S. 171–188.

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weise auch demjenigen von Ludwig Klages, den er im Mann ohne Eigenschaften durch den dubiosen Propheten Meingast karikiert. Insofern erhält Musils Polemik gegen Spenglers dichotomische Denkweise einen paradigmatischen Charakter. Nicht nur im Spengler-Essay Geist und Erfahrung zeichnet sich dieser kritische Akzent ab, sondern auch in anderen Texten Musils. Im Essay Das hilflose Europa etwa betrachtet er eine »solche Antitypik«, das Entfalten von Problemstellungen in Gegensatzpaaren, als Anzeichen dafür, »daß hier nicht genug geistige Arbeit geleistet wird« (GW II, S. 1088). So erscheint ihm dann jede Entweder-Oder-Alternative als Indiz für »eine gewisse Naivität«; denn jedem »denkenden« Menschen, der die Komplexität der realen Phänomene nicht vorschnell auf antagonistische Schemata reduziert und sie dadurch in unangemessener Weise simplifiziert, lösen sich »die Gegensätze in Reihen von Übergängen« auf (ebd.).81 Differenzierungsfähigkeit verhindert mithin einen Eskapismus in dualistische Ordnungen, die vordergründig zwar weltanschauliche Orientierung zu erleichtern vermögen, den viel komplexeren Strukturen der Wirklichkeit aber nicht gerecht werden.

4. Musils Anthropologie der Gestaltlosigkeit als implizite Spengler-Kritik Dass Musil nicht allein im Essay Geist und Erfahrung Kritik an Spengler übt, zeigt sein Fragment Der deutsche Mensch als Symptom von 1923, in dem er sich folgendermaßen von einem rigiden Rationalismus distanziert: »Es ist ein Akt des Glaubens, der Phantasie der Annahme sogar im rein Rationalen nötig« (GW II, S. 1362). Denn anschließend grenzt er sich explizit von Spengler ab: »Man darf dieses bekannte Faktum aber nicht so verzerren wie es Sp. getan hat« (ebd.). Hier wirken Musils Vorbehalte gegen Spenglers Antirationalismus und gegen seine spekulativen Analogien weiter. Wenn er sein eigenes ›Theorem der Gestaltlosigkeit‹ gegen »falsches phil. Pathos, Größe, Erhabenheit« richtet (GW II, S. 1375), dann distanziert er sich von Spenglers Kulturmorphologie, wie die lapidare Notiz zeigt: »Spengler erscheint erhaben!« (ebd.). Spuren einer impliziten Polemik gegen Spengler lässt Musils essayistisches Fragment Der deutsche Mensch als Symptom auch dort erkennen, wo er »die Problematik der Zivilisation« thematisiert und am »deutschen Fall« exemplarisch »die geistige Situation von ganz Europa« untersuchen will (GW II, S. 1365). Dabei nutzt er Spenglers Hypothesen teilweise als Kontrastfolie, 81

An anderer Stelle erklärt Musil dezidiert, dass »die Übergänge von der moralischen Regel zum Verbrechen, von der Gesundheit zum Kranksein, von unserer Bewunderung zur Verachtung der gleichen Sache gleitende, ohne feste Grenzen sind« (GW II, S. 1239). – Mit antithetischen Konzepten sieht Musil auch das epochentypische Phänomen des »Grüppchenkollektivismus« verbunden (GW II, S. 1080).

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um eigene Konzepte als Gegenentwurf zu profilieren. Auch das Plädoyer für eine fortschrittsorientierte Internationalität des geistigen Lebens, mit dem sich Musil gegen den Konservativismus nationaler Interessen wendet (GW II, S. 1354), lässt sich als implizite Spengler-Kritik verstehen. Denn Spengler selbst diffamiert den Kosmopolitismus als Symptom einer zivilisatorischlebensfeindlichen ›Intelligenz‹, die »dem Blut und dem Dasein innerlich entfremdet« sei und den Bezug zu Schicksal und Geschichte, zu Nation und Rasse verloren habe.82 Ansichten dieser Art offenbaren Prämissen, die sich im Antisemitismus des nationalsozialistischen Terrorregimes radikalisierten. Und wenn Musil auf populärwissenschaftliche Rassen- und Kulturtheorien seiner Epoche anspielt (vgl. GW II, S. 1366) und die unhaltbare Hypostasierung von Wesensunterschieden ablehnt, polemisiert er ebenfalls gegen Spengler (vgl. ebd.). Mehrfach wird auch Musils ›Theorem der Gestaltlosigkeit‹ via negationis auf Spenglers Vorstellung monadisch voneinander abgekapselter Kulturen hin transparent, etwa dort, wo Musil ironisch die Denkgewohnheit reflektiert, »bestimmte, sich charakteristisch voneinander abhebende Zeit- und Kulturabschnitte auf verschiedene Substrate, als die einfachsten Arten von Ursachen« zurückzuführen – mit der Folge, dass dann gewissermaßen »alle 5 Jahre eine neue Generation da ist« (GW II, S. 1368). Für einen impliziten SpenglerBezug spricht hier, dass anschließend sogleich »von einem ägyptischen, hellenischen, gotischen Menschen, von Nationen, Rassen und geheimnisvollen Epochen oder Kulturen« die Rede ist (ebd.).83 – Diesem Konstrukt hält Musil sein anthropologisches Konzept der ›Gestaltlosigkeit‹ entgegen: im Sinne essentieller Plastizität und Formbarkeit (vgl. ebd.).84 Von einem interkulturell und überzeitlich konstanten menschlichen Substrat geht Musil selbst nur in dialektischer Hinsicht aus, indem er die Konstanz gestaltloser Inkonstanz voraussetzt, da er den Menschen generell für »eine liquide Masse« hält, »die geformt werden muß« (GW II, S. 1348). Diese Anthropologie der Gestaltlo82

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Spengler: Der Untergang des Abendlandes (Anm. 4), S. 780 f. – Ein vitalistischer Antirationalismus grundiert auch das nationalsozialistische Propaganda-Schlagwort ›zersetzend‹, das auf Juden wie ›Intellektuelle‹ bezogen wurde. Für das antisemitische Ressentiment in der rassistischen Ideologie des Nationalsozialismus hatte das Signalwort ›zersetzend‹ zentrale Bedeutung: auch in der Vorstellung »organisch-biologischen Untergangs« (vgl. Dietz Bering: Die Intellektuellen. Geschichte eines Schimpfwortes. Frankfurt a. M., Berlin, Wien 1982, S. 124). Musil nennt hier Epochen und Kulturen, die Spengler selbst thematisiert, darunter z. B. auch den ›gotischen Menschen‹. Im Untergang des Abendlandes ist vom »gotischen Menschen« (Anm. 1, S. 144), in der überarbeiteten Fassung des ersten Bandes vom »Vollgefühl des echten Gotikers« die Rede (Anm. 4, S. 26). Zum ›Theorem der Gestaltlosigkeit‹ in Musils Essays Die Nation als Ideal und als Wirklichkeit (GW II, S. 1059–1075) und Das hilflose Europa oder Reise vom Hundertsten ins Tausendste (GW II, S. 1075–1094) sowie im Fragment Der deutsche Mensch als Symptom (GW II, S. 1353–1400) vgl. die kritische Analyse in Barbara Neymeyr: Utopie und Experiment (Anm. 80), S. 129–169 (auch mit Bezug zu zeitgenössischen und späteren anthropologischen Konzepten – etwa von Arnold Gehlen und Wolfgang Iser).

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sigkeit, die auch den Mann ohne Eigenschaften grundiert, wird im essayistischen Fragment Der deutsche Mensch als Symptom genauer ausdifferenziert. Abstrahiert man von der Formung des animal rationale durch die konkrete gesellschaftliche Organisation, so bleibt laut Musil »etwas ganz Ungestaltetes« übrig (GW II, S. 1370). Wenn das ›Wesen‹ des Menschen demzufolge gestaltlos und formbar sein soll, dann kommt überhistorische Kontinuität nur noch dialektisch in Betracht: als Kontinuität des prinzipiell Diskontinuierlichen. Konstant erscheint dabei lediglich die gestaltlose Inkonstanz als solche. Unter derartigen anthropologischen Prämissen ist das Wesen des Menschen nur noch in seiner essentiellen Labilität stabil. Zwar rekurriert Musil mit den Epitheta ›ägyptisch‹, ›hellenisch‹ und ›gotisch‹ (GW II, S. 1368) auf Klassifikationen in Spenglers Untergang des Abendlandes. Allerdings unterminiert Musil in seinem Alternativentwurf die rigiden Grenzen zwischen den laut Spengler angeblich in monadenhafter Isolation existierenden Kulturen des hellenischen und abendländischen, des ägyptischen, chinesischen und indischen Menschen, indem er selbst generell eine Variabilität des Menschen betont, den er von gesellschaftlichen Strukturen vollkommen abhängig glaubt. Anders als Spengler setzt Musil in seiner Anthropologie der Gestaltlosigkeit fließende Übergänge auch »zwischen den menschlichen Typen« voraus (GW II, S. 1372). Die Prägung des Menschen durch Determinanten der Umgebung (vgl. GW II, S. 1373, 1239) führt er auf die »Ungestalt seiner Anlage« zurück (GW II, S. 1374). Dabei nimmt Musil einen permanenten Traditionsstrom an, der interkulturelle Vermittlungen ermöglicht, weil er die keineswegs hermetisch gegeneinander abgeschlossenen Kulturen miteinander interagieren und aneinander partizipieren lässt (vgl. GW II, S. 1373). Außerdem grenzt sich Musil von einem emphatisch-pathetischen Schicksalsbegriff und von teleologischen Kulturkonzepten ab, die »Phase[n] eines gesetzlichen Prozesses« in der Kulturentwicklung suggerieren (GW II, S. 1375), weil er selbst von einer »typologischen Mischung« ausgeht (ebd.). Die Faktizität historischer Ereignisse, Epochen, Kulturen und Nationen hält er nicht für notwendig, sondern lediglich für kontingent. – Und wenn Musil dem zeitgenössischen Defätismus und Pessimismus seine Überzeugung entgegenhält, der kulturelle Status quo sei »kein Verfall, sondern ein noch nicht vollzogener Übergang, keine Überreife, sondern Unreife« (GW II, S. 1367), dann erscheint auch diese vorsichtig optimistische und zukunftsorientierte Perspektive als Alternativentwurf zum fatalistischen Grundkonzept in Spenglers Untergang des Abendlandes. Musils Einschätzung unterscheidet sich mithin fundamental von den Prämissen Spenglers, der die Ansicht vertritt, ein Fortschritts- und Zukunftsoptimismus verachte »alle historische und also organische Erfahrung«.85 85

Spengler: Der Untergang des Abendlandes (Anm. 4), S. 28.

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Eine implizite Spengler-Kritik enthält auch der Essay Das hilflose Europa (1922), der über epochentypische Phänomene wie Zivilisationskritik, Antirationalismus und Untergangsprophetie reflektiert (vgl. GW II, S. 1076).86 Denn hier wendet sich Musil gegen die angebliche Gesetzlichkeit historischer Prozesse, da er selbst von der Einmaligkeit historischer Tatsachen überzeugt ist (vgl. GW II, S. 1078). Er betont die Relevanz von Zufall und ›ungesetzlicher Notwendigkeit‹ in der Geschichte (GW II, S. 1081). Musils Feststellung, das »Weltbild« verliere »dadurch an sogenannter Erhabenheit« (GW II, S. 1078), erinnert an eine Aussage im essayistischen Fragment Der deutsche Mensch als Symptom, wo er seine Anthropologie der Gestaltlosigkeit als eine »Philosophie der Niedrigkeit« von Spenglers »Erhabenheit« abgrenzt (GW II, S. 1375). Indem Musil auf die »Vor-, Früh-, Hoch- und Spätzeit« des gotischen Menschen rekurriert, bezieht er sich implizit auf Spenglers Vierphasenmodell der Kulturentwicklung.87 Dabei hat er die Kategorie der Epoche und die Differenzierung zwischen verschiedenen historischen Menschentypen bei Spengler ebenso im Blick wie sein (wohl nicht nur an Goethes Morphologie-Konzept, sondern auch an Herders Geschichtsverständnis orientiertes) organologisches Konstrukt des Kulturprozesses, den Spengler analog zu vegetabilischem Aufblühen und Verwelken beschreibt (vgl. GW II, S. 1079). Musil sieht dieses Konzept von der fragwürdigen Prämisse bestimmt, dass einzelne Zeitphasen, Epochen oder Kulturen jeweils auf einem »phänomenale[n] Substrat« basieren (vgl. ebd.). In der »Fiktion des konstanten seelischen Habitus« erblickt er selbst die Grundlage für problematische Typologien Spengler’scher Provenienz (GW II, S. 1080). Ihnen hält Musil seine Überzeugung entgegen, der Mensch sei »eine überraschend viel bildsamere Masse«, die sich in einem permanenten Entwicklungsprozess befinde (ebd.). 86

87

Dass in Musils Essay Das hilflose Europa »Spengler erneut den Ausgangspunkt Musilscher Reflexion bildet«, konstatiert auch Kucher, der aber die hier ansetzenden weiterführenden Erkenntnisperspektiven unberücksichtigt lässt (Kucher: Die Auseinandersetzung mit Spenglers ›Untergang des Abendlandes‹ bei R. Musil und O. Neurath [Anm. 19], S. 137). Ein Aufsatz von Bouveresse bietet kaum mehr als ein Konglomerat aus Musil-Zitaten und textnahen Paraphrasen (Jacques Bouveresse: Robert Musil oder der Anti-Spengler, in: Beiträge zur Musil-Kritik. Hg. v. Gudrun Brokoph-Mauch. Bern 1983 [= New Yorker Studien zur Neueren Deutschen Literaturgeschichte Bd. 2], S. 161–179). Mit dem Modell einer vierphasigen Kulturentwicklung (»Vorzeit, Frühzeit, Spätzeit und Zivilisation«) beruft sich Spengler auf Goethes Aufsatz Geistesepochen. Vgl. Spengler: Der Untergang des Abendlandes (Anm. 4), S. 598. Die Lebensalter des Menschen sind hier ebenso präsent wie der Rhythmus von Tages- und Jahreszeiten (Anm. 1, S. 157 f.). Musils Skepsis offenbart der Irrealis in seinem Konditionalsatz »Wenn unsre Zeit eine ›Epoche‹ wäre, so dürfte man wohl fragen, ob wir uns am Anfang, am Ende oder in der Mitte befinden?« (GW II, S. 1076–1077). Auch Musils Feststellung »wir sind eine Frühzeit« (GW II, S. 1385) erscheint als implizite Spengler-Kritik. Vgl. die umfassendere Analyse in Barbara Neymeyr: Musils skeptischer Fortschrittsoptimismus. Zur Ambivalenz der Gesellschaftskritik in seinen Essays, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 115 (1996), S. 576–607.

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Auch die Vielfalt interkultureller Wechselwirkungen innerhalb eines Kontinuums lässt nach Musils Auffassung rigide Grenzziehungen willkürlich und inadäquat erscheinen (vgl. GW II, S. 1079). Die Annahme strikter Epochenschranken im Sinne Spenglers lehnt er ebenso ab wie die Ansicht, jeder geschichtlichen Phase sei »ein bestimmter historischer Typus Mensch« zuzuordnen (GW II, S. 1079). Da dieses Konzept laut Musil die Komplexität kulturhistorischer Prozesse verfehlt, wird es auch der fast grenzenlosen Variabilität des gestaltlos-bildsamen Menschen nicht gerecht, der laut Musil »der Menschenfresserei wie der Kritik der reinen Vernunft« fähig und durch eine Vielzahl kontingenter Faktoren geprägt ist (GW II, S. 1081). Reflexionen dieser Art geben zu erkennen, inwiefern Musil sein ›Theorem der Gestaltlosigkeit‹ auf Spenglers Kulturmorphologie als implizite Kontrastfolie bezogen und als Gegenentwurf zu Spenglers Menschenbild konzipiert hat. Vor dem Horizont des zeitgenössischen Antirationalismus kommt Musils Kritik an Spenglers Untergang des Abendlandes eine paradigmatische Bedeutung zu. Auf dieses Buch spielt vermutlich auch der Titel des Essays Der »Untergang« des Theaters von 1924 an, in dem Musil die Krisensituation seiner Epoche und die »Gegnerschaft gegen den sogenannten Intellektualismus« in »Kunst und Bildungswesen« kritisch reflektiert (GW II, S. 1126). In der Schlusspartie seines Spengler-Essays Geist und Erfahrung entwirft er Perspektiven auf einen neuen Denkhorizont mit produktiven Synthesen, die den unfruchtbaren Antirationalismus zu überwinden helfen. Musil selbst vertritt die Überzeugung, dass »der ergebnislose Kampf in der heutigen Zivilisation zwischen dem wissenschaftlichen Denken und den Ansprüchen der Seele nur durch ein Plus zu lösen ist, einen Plan, eine Arbeitsrichtung, eine andre Verwertung der Wissenschaft wie der Dichtung!« (GW II, S. 1059). Angesichts der Problematik von Spenglers spekulativer Kulturmorphologie, die sich in einem dogmatischen Antirationalismus88 und in der Konstruktion realitätsferner Analogien ebenso manifestiert wie in einer Vielzahl von intuitiven Hypothesen, avanciert eine ironische Liebeserklärung zur Schlusspointe von Musils Essay Geist und Erfahrung. Anmerkungen für Leser, welche dem Untergang des Abendlandes entronnen sind: »Und Oswald Spengler erkläre ich öffentlich und als Zeichen meiner Liebe, daß andre Schriftsteller bloß deshalb nicht so viele Fehler machen, weil sie gar nicht die beide Ufer berührende Spannweite haben, um so viele unterzubringen« (ebd.).89 88 89

Vgl. dazu Musil: GW II, S. 1019, 1056–1058, 1091–1092, 1126, 1146, 1178–1179, 1209–1210, 1214, 1392. Erstaunlicherweise wurde diese Schlusspointe auch als Ausdruck von Musils Bewunderung für Spengler gedeutet; trotz seiner kritischen Einwände zeige Musil letztlich »indecision about how to relate to the symptoms he found in Spengler’s writing« (Stijn de Cauwer, James M. Fielding: Robert Musil’s symptomatology. Oswald Spengler and the clinical picture of society, in: Symposium 69 (2015), H. 2, S. 73–86, hier S. 73; analog S. 75), ja er offenbare sogar »great admiration« für einen Anspruch wie den Spengler’schen (S. 84; vgl. auch S. 75, 78, 82). Da die Autoren den Ironiegehalt der Stelle unterschätzen, plädieren sie allen Ernstes für »examining Spengler’s cen-

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5. Musils Konzept anthropologischer ›Plastizität‹ in Relation zu Nietzsches Schrift Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben Dass Musils Kulturkritik Affinitäten zu den Epochendiagnosen in Nietzsches Schrift Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben aufweist, lässt im Essay Geist und Erfahrung (1921) bereits die Schlusspassage vermuten, die auf eine Synthese von wissenschaftlicher Rationalität mit »den Ansprüchen der Seele« zielt (GW II, S. 1059). Denn Musil bezieht die Perspektive auf eine andersartige »Verwertung« von »Wissenschaft« und »Dichtung« (ebd.) schon sieben Jahre zuvor am Ende seiner Anmerkung zu einer Metapsychik (1914) auf Nietzsche, und zwar gleichfalls mit dem Anspruch auf zukunftsweisende Synthesen: »Wir Deutschen haben – außer dem einen großen Versuch Nietzsches – keine Bücher über den Menschen; keine Systematiker und Organisatoren des Lebens. Künstlerisches und wissenschaftliches Denken berühren sich bei uns noch nicht. Die Fragen einer Mittelzone zwischen beiden bleiben ungelöst« (GW II, S. 1019). Hier erhält Nietzsche eine geradezu avantgardistische Bedeutung. Dass Musil einerseits »Gefühlserkenntnisse« und die »Evidenz der Intuition« betont, andererseits jedoch Wert auf die »Tugenden scharfen Denkens« legt (GW II, S. 1018, 1019), ist symptomatisch. Denn gerade dem Essay als einer zwischen »Wissenschaft« und »Kunst« vermittelnden Gattung (GW II, S. 1335) traut er im Fragment [Über den Essay] ein innovatives Potential zu, da er von ihm eine »menschliche Umbildung« erhofft: »Sentimentale Komplexe kämpfen um die Herrschaft. Leitgedanken der Jahrhunderte« (GW II, S. 1337). Und dem Mann ohne Eigenschaften zufolge ziehen die »Essayisten und Meister des innerlich schwebenden Lebens« (MoE, S. 253) »alle moralischen Ereignisse« in ein »Kraftfeld« (MoE, S. 250), so dass dem Menschen »als Wirklichkeit und Charakter« der »potentielle Mensch« als »Inbegriff seiner Möglichkeiten« gegenübertritt (MoE, S. 251). Mit seiner anthropologischen Utopie, deren ›Möglichkeitssinn‹ sich der ›Plastizität‹ des Menschen verdankt, antizipiert Musil Arnold Gehlens These von der »Plastizität des menschlichen Antriebslebens«, die als »biologische Notwendigkeit« durch die »Unspezialisiertheit« des Menschen und seine »Weltoffenheit« bedingt sei.90 Dieses Konzept prolongiert sich bis in die anthropologisch grundierte Literaturtheorie Wolfgang Isers, nach dessen Überzeugung »die Inszenierung der Literatur« die »ungeheure Plastizität des Men-

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tral notions, removing them from their current formulations, and once again opening them up für scrutiny and redefinition«; so erwecken sie den Eindruck, als würde Spenglers spekulative Kulturmorphologie tatsächlich Zukunftspotential bieten (horribile dictu!), das lediglich von einigen zeitgenössischen Schlacken zu reinigen sei. Arnold Gehlen: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt. Wiesbaden 131986, S. 80, 351.

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schen« zeigt, der »keine bestimmte Natur zu haben scheint« und sich daher »zu einer unvordenklichen Gestaltenfülle seiner kulturellen Prägung zu vervielfältigen vermag.«91 In mehrfacher Hinsicht schließen Musils kulturkritische Essays an Epochendiagnosen Nietzsches an, der schon 1874 in der Schrift Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben »die plastische Kraft des Lebens« betont (KSA 1, S. 329) und »die p l a s t i s c h e K r a f t eines Menschen, eines Volkes, einer Cultur« (KSA 1, S. 251) als wichtige Voraussetzung für Wachstum sowie für kulturelle Assimilation und Transformation fremder Einflüsse betrachtet. Ausgehend von Analogien zwischen antikem und modernem Epigonentum (vgl. KSA 1, S. 333), setzt Nietzsche durch eine phantasierte Zeitreise zugleich eine humoristische Pointe: Seines Erachtens entwickeln sich die am Historismus leidenden, mit »fremden Zeiten« und Kulturen überfüllten Menschen seiner Gegenwart »zu wandelnden Encyclopädien, als welche uns vielleicht ein in unsere Zeit verschlagener Alt-Hellene ansprechen würde« (KSA 1, S. 274). Fast 50 Jahre später phantasiert Musil im Fragment Der deutsche Mensch als Symptom (1923) dann Zeitsprünge vergleichbaren Umfangs, indem er behauptet, »daß ein Menschenfresser, als Säugling in europäische Umgebung eingepflanzt, wahrscheinlich ein guter Europäer würde« und dass »der zarte Rainer Maria Rilke« auch »ein guter Menschenfresser« hätte werden können, um dann fortzufahren: »Ich glaube das gleiche von einem hellenischen Säugling des 4. Jhrdts. v. Chr., den ein Wunder im Jahr 1923 einer Kindsmutter am Kurfürstendamm untergeschoben hätte« (GW II, S. 1372). Analog zum Gedankenspiel Nietzsches (KSA 1, S. 274) überspringt Musil im Essay Das hilflose Europa oder Reise vom Hundertsten ins Tausendste (1922) ebenfalls imaginativ die Epochengrenzen von der Antike zur Moderne, indem er konstatiert: »Es gehört gar nicht so viel dazu, um aus dem [. . .] antiken Griechen den modernen Zivilisationsmenschen zu machen« (GW II, S. 1081). Darüber hinaus entspricht Musils Anthropologie der ›Gestaltlosigkeit‹, die das ›Wesen‹ des Menschen als ungestaltet, plastisch, labil, liquide, bildsam und formbar beschreibt (vgl. GW II, S. 1072, 1080, 1081, 1348, 1368–1375), auch einem nachgelassenen Notat Nietzsches aus der Zarathustra-Phase: »Der Mensch ist etwas Flüssiges und Bildsames – man kann aus ihm machen, was man will«.92 Evident sind hier die Analogien zu Musils Essay Die Nation als Ideal und als Wirklichkeit (GW II, S. 1059–1075), der den Menschen als etwas nahezu »Gestaltloses, unerwartet Plastisches, zu allem Fähiges« charakterisiert (GW II, S. 1072), als »eine liquide Masse, die geformt werden muß« (GW II, S. 1348) und sich als »eine überraschend viel bildsamere Masse« erweist als erwartet (GW II, S. 1080). Wenn Nietzsche in der Schrift Zur Ge91 92

Wolfgang Iser: Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie. Frankfurt a. M. 1991, S. 505. Friedrich Nietzsche: Nachgelassene Fragmente 1883, 15 [9], KSA 10, S. 481.

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nealogie der Moral (1887) allerdings das Charakteristikum »starker voller Naturen« darin erblickt, dass sie über einen »Überschuss plastischer [. . . .] Kraft« verfügen (KSA 5, S. 273), dann dominiert hier die Vorstellung einer aktiven Gestaltungsmacht und Prägekraft, während in Musils Begriff des ›Plastischen‹ die Passivität eines formbaren, bildsamen Substrats überwiegt. Bezeichnenderweise zählt Musil zu den »größten Begabungen« diejenige »Nietzsches« (GW II, S. 1376). Und wenn er »Nietzsche« zu den »einflußreichsten« unter den »Persönlichkeiten« rechnet, die ideologische »Mischungen« repräsentieren (GW II, S. 1355), dann gerät zugleich die kulturkritische Diagnose einer modernen Heterogenität ins Blickfeld. Auch in dieser Hinsicht sind Analogien festzustellen. Denn in der Schrift Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben diagnostiziert Nietzsche angesichts der Historismus-Problematik die Gefahr, »an der Ueberschwemmung durch das Fremde und Vergangne, an der ›Historie‹ zu Grunde zu gehen« (KSA 1, S. 333). Daher hält er es für notwendig, dass jedes Individuum »das Chaos in sich [zu] organisiren« versucht (KSA 1, S. 333). – Auch Musil sieht durch die chaotische Überfülle geistiger Impulse eine Desorientierung bedingt, die sich nur durch Struktur und Organisation bewältigen ließe, also durch intellektuelle Verarbeitungskapazität. Im Spengler-Essay Geist und Erfahrung (1921) beschreibt er ›Zivilisation‹ im Sinne Nietzsches als »diffus gewordenen Kulturzustand«, der »geistige Organisationspolitik« erfordere (GW II, S. 1057, 1058).93 Und in der Krisensituation der 1920er Jahre diagnostiziert er einen Pluralismus geistiger Strömungen: einen »nicht mehr zu bewältigende[n] Reichtum an Inhalten, das angeschwollene Tatsachenwissen [. . .], das Unübersehbare, das Chaos des Nichtwegzuleugnenden« (GW II, S. 1045). Markante Affinitäten zu Nietzsches Historienschrift (KSA 1, S. 258–264, 283–285, 319–320) lässt auch eine gegen die moderne Massenzivilisation gerichtete Tagebuch-Notiz94 Musils von 1919/20 erkennen: »Geschichte wird nur durch Persönlichkeiten gemacht, nie durch Masse. Masse ist immer gemein« (Tb I, S. 434). Damit schließt er sogar wörtlich an Nietzsche an, der unter den Prämissen seines Geistesaristokratismus betont, »wie gemein und ekelhaft uniform die Masse ist« (KSA 1, S. 320).95 Mehrfach beruft sich Musil in seiner Kulturkritik ausdrücklich auf Nietzsche (vgl. GW II, S. 1049, 1355, 1376, 1379, 1393), etwa dort, wo er auf eine »Ordnung der Gefühle« rekurriert, 93 94

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Vgl. dazu Neymeyr: Utopie und Experiment (Anm. 80), S. 95–127, 162–188. In Musils Tagebüchern finden sich etliche Nietzsche-Exzerpte; das Register verzeichnet sogar elf verschiedene Werke Nietzsches (vgl. Tb II, S. 1407), darunter auch Zur Genealogie der Moral (vgl. Tb I, S. 24; Tb II, S. 4–5, 15, 21, 539). Die Affinitäten von Musils Kulturkritik zu Nietzsches Schrift Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben sind dem Herausgeber Adolf Frisé aber offenbar entgangen: Seine Register zu GW II und Tb verzeichnen Nietzsches Historienschrift jedenfalls gar nicht. Wenn Musil den »Heroenkult Nietzsches« betont (GW II, S. 1376), dann spielt er wohl auch auf Nietzsches Charakterisierung der ›monumentalischen Historie‹ an (vgl. KSA 1, S. 258–264).

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eine »Wohlgefügtheit des seelischen Lebens – wie es Nietzsche zuweilen verlangt hat« (GW II, S. 1379). Wenn Spengler den »Wille[n] zur Macht [. . .] als Wille[n] zum Leben, als Lebenskraft« als »eigenstes Thema« der »wirkliche[n] Philosophie des 19. Jahrhunderts« bezeichnet,96 dann spielt er auf Nietzsche und Schopenhauer zugleich an. Seine Nähe zur Lebensphilosophie betont er in seinem Hauptwerk Der Untergang des Abendlandes wiederholt durch tendenziöse Polarisierungen: »Der Wille zum System ist der Wille, Lebendiges zu töten. [. . .] Wahrheiten sind leblos und lassen sich mitteilen, Ideen gehören zum lebendigen Selbst ihres Urhebers und können nur mitgefühlt werden.«97 Diese Auffassung erinnert an eine These in Nietzsches Götzen-Dämmerung: »Der Wille zum System ist ein Mangel an Rechtschaffenheit« (KSA 6, S. 63). Vor allem aber zeigt sie eine deutliche Affinität zur Aussage in Nietzsches Schrift Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben: »Ein historisches Phänomen, rein und vollständig erkannt und in ein Erkenntnissphänomen aufgelöst, ist für den, der es erkannt hat, todt« (KSA 1, S. 257). – Nietzsches System-Kritik teilt Musil nicht, wenn er im Essay Anmerkung zu einer Metapsychik den »großen Versuch Nietzsches [. . .] über den Menschen« würdigt, den er zu den »Systematiker[n] und Organisatoren des Lebens« zählt – mit der Aussicht, »Künstlerisches und wissenschaftliches Denken« auf neuartige Weise zu vereinen (GW II, S. 1019).

6. Die »Logik des Analogischen« als experimentelles Erkenntnisprinzip: Zum Evidenzeffekt eines metaphorischen Denkens Trotz der satirisch pointierten Polemik gegen die spekulativen Analogiebildungen Spenglers, die Musil mit subversivem Esprit im Denkbild vom »zitronengelbe[n] Falter« als »mitteleuropäische[m] geflügelte[m] Zwergchinese[n]« entfaltet (GW II, S. 1044), verbindet er mit dem Plädoyer für Rationalität und Faktennähe keinen prinzipiellen Vorbehalt gegen Analogien. Ganz im Gegenteil weiß Musil dem Erkenntnisprinzip des Analogischen98 sogar ein besonderes Potential abzugewinnen: durch Vergleiche und Metaphern, 96 97 98

Spengler: Der Untergang des Abendlandes (Anm. 4), S. 479. Ebd., S. 570. In den Parerga und Paralipomena II betont bereits Schopenhauer das intellektuelle Potential des Analogischen: »Eben weil Gleichnisse ein so mächtiger Hebel für die Erkenntnis sind, zeugt das Aufstellen überraschender und dabei treffender Gleichnisse von einem tiefen Verstande« (Arthur Schopenhauer: Sämtliche Werke. Hg. v. Wolfgang Frhr. v. Löhneysen, 5 Bände. Bd. 5: Parerga und Paralipomena II . Darmstadt 1976, S. 647). – Ein Einfluss Nietzsches auf Musils »Logik des Analogischen« (GW II, S. 1050) und auf seine metaphorischen Denkstrategien ist anzunehmen.

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die dem Postulat konstruktiver Synthesen in seiner Poetologie99 entsprechen. So stellt er im Essay Geist und Erfahrung, dessen Anspruch über die Polemik gegen Spengler deutlich hinausreicht, bedauernd fest, seines Wissens gebe es »überhaupt keinen Versuch, die Logik des Analogischen und Irrationalen zu untersuchen« (GW II, S. 1050). Musil weist auf die vielfältig nuancierten Gedankengänge hin, die vom »fast Eindeutigen« bis zu »diffuse[r] Bewegtheit« und »pulsierende[r] Vorstellung« reichen (ebd.). Eine solche gedankliche Lebendigkeit unterscheidet sich allerdings fundamental vom antirationalistischen Vitalismus Spenglers. Denn Musils differenzierte Gedankenführung bildet einen Kontrast zu den rigiden Dichotomien des Kulturmorphologen, die der Essay Geist und Erfahrung ja sogar durch eine ironische ›Bastelanleitung‹ konterkariert (vgl. GW II, S. 1053). Musil und Spengler sind in mehrfacher Hinsicht von Nietzsche beeinflusst: Während sich Spengler vorrangig an antirationalistischen und vitalistischen Tendenzen in Nietzsches Frühwerk zu orientieren scheint, sind für Musil Konzepte aus allen Schaffensphasen Nietzsches relevant:100 seine Experimental-Philosophie, seine Vorstellung des ›freien Geistes‹ und des Perspektivismus, seine Experimental-Metaphorik101 und die schon im Frühwerk ausgeprägte Décadence-Diagnose und Historismus-Kritik. – Das heuristische Erkenntnispotential von Analogien und Metaphern zeigen Musil und Zu Musils poetologischen Konzepten (einschließlich seiner Essay-Theorie) vgl. Neymeyr: Utopie und Experiment (Anm. 80), S. 19–94. Vgl. auch Barbara Neymeyr: Experimente im »Ideenlaboratorium«. Musils avantgardistische Literaturtheorie, in: Sprachkunst 41 (2010), H. 2, S. 203–219. 100 Im Anschluss an Nietzsches Schrift Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben reflektiert auch Musil im Mann ohne Eigenschaften die Problematik von Historismus, Positivismus und anderen Krisensymptomen der Epoche. Wenn er das moderne »Abstraktwerden des Lebens« diagnostiziert (MoE, S. 649), sind Analogien zur Historienschrift evident, in der schon Nietzsche die zeitgenössische Tendenz zum Abstrakten betont: Durch die »Austreibung der Instincte durch Historie« sieht er die »Menschen fast zu lauter abstractis und Schatten« degeneriert (KSA 1, S. 280), die er mit einem Oxymoron als »concrete Abstracta« charakterisiert (KSA 1, S. 283). Zum Einfluss von Nietzsches Geistesaristokratismus und Perspektivismus, seiner Décadence-Diagnose, Moralkritik, Experimental-Philosophie und Übermensch-Ideologie auf Musils Roman vgl. Neymeyr: Psychologie als Kulturdiagnose (Anm. 19), S. 107–200, 390–410, 415–416. Außerdem: Barbara Neymeyr: Identitätskrise – Kulturkritik – Experimentalpoesie. Zur Bedeutung der Nietzsche-Rezeption in Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften, in: Friedrich Nietzsche und die Literatur der klassischen Moderne. Hg. v. Thorsten Valk. Berlin, New York 2009, S. 163–182. 101 Diesen Terminus habe ich 2014 eingeführt: vgl. Barbara Neymeyr: Kalkulierte Paradoxa und subversive Synthesen. Zum Erkenntnispotenzial von Nietzsches Experimental-Metaphorik seit der Frühschrift Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne, in: Epoche und Metapher. Systematik und Geschichte kultureller Bildlichkeit. Hg. v. Benjamin Specht. Berlin, Boston 2014 (= spectrum Literaturwissenschaft, Bd. 43), S. 232–254. Zu Musil vgl. ebd., S. 232, 235, 237, 251–253. Vgl. auch Barbara Neymeyr: Sprache als Medium für die »verwegensten Kunststücke«. Nietzsches Experimental-Metaphorik, in: Nietzsche zwischen Philosophie und Literatur. Von der Fröhlichen Wissenschaft zu Also sprach Zarathustra. Hg. v. Katharina Grätz u. Sebastian Kaufmann, Heidelberg 2016 (= Akademiekonferenzen, Bd. 25), S. 323–353.

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Nietzsche durch kreative Bild-Synthesen, kalkulierte Pointen und geistreiche Paradoxien. Jenseits konventioneller Wahrnehmungsschablonen und Denkmuster können sie neue Perspektiven eröffnen: auch durch suggestive Verdichtung und subversiven Esprit. Ein Paradebeispiel dafür stellt der Bildkomplex dar, den Musil in der Imago vom »mitteleuropäische[n] geflügelte[n] Zwergchinese[n]« lustvoll ausfabuliert (GW II, S. 1044).102 Kreative Metaphorik kann zugleich Brücken zwischen Philosophie und Literatur schaffen – gerade in Gattungen mit experimentellem und synthetischem Potential: Vor allem Essays und Aphorismen ermöglichen solche interdisziplinär vernetzbaren gedanklichen Spannungsfelder. In der Fröhlichen Wissenschaft begründet Nietzsche die Fähigkeit zur Analogiebildung mit der Phylogenese des Menschen. Insofern korreliert er Analogie und Anthropologie im Medium der Ähnlichkeit, wenn er den Erfolg des Menschen im Evolutionsprozess durch eine pragmatische Urteilsfähigkeit bedingt sieht, die in einer komplexen, mitunter bedrohlichen Umwelt durch rasche »Subsumption« von Eindrücken das Überleben zu sichern vermag, also elementare Bedeutung hat: etwa im Urteil über gefährliche Tiere. Maßgeblich sei dabei »ein unlogischer Hang«, das bloß »Aehnliche als gleich zu behandeln«, obwohl es »an sich nichts Gleiches« gebe (KSA 3, S. 471). Effiziente Strategien zur Analogiebildung gehören insofern zur conditio humana. Metaphorisches Denken könnte man insofern einer Anthropologie kreativer Gestaltbildung zuordnen – in einer Art Komplementärentwurf zu Musils Anthropologie der Gestaltlosigkeit. Dabei ist die elementare Fähigkeit zu analogieschaffender Subsumtion nicht nur auf der empirischen Ebene der Realitätsbewältigung wirksam, sondern erhält überdies eine konstitutive Bedeutung auch im kulturellen ›Überbau‹: nämlich als Stimulans für Literatur, Philosophie und deren kreative Synthesen. – Schon in seiner Frühschrift Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne (1873) spricht Nietzsche dem Prinzip der Ähnlichkeit besondere Bedeutung zu, indem er konstatiert: »Jeder Begriff entsteht durch Gleichsetzen des Nicht-Gleichen« (KSA 1, S. 880). Analoge Thesen finden sich übrigens zuvor bereits bei Schopenhauer, der in den Parerga und Paralipomena II feststellt, dass »alle Begriffsbildung im Grunde auf Gleichnissen« beruht, »sofern sie aus dem Auffassen des Ähnlichen und Fallenlassen des Unähnlichen in den Dingen erwächst.«103 Eine charakteristische Unschärferelation ist also die Basis der Begriffskonstitution. Entsprechendes gilt für Metaphernbildung, die Nietzsche als »Analogieschluß« versteht (KSA 7, S. 483, 490): »Die Logik ist nur die Sklave102 Nietzsches Schrift Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne enthält ein originelles Bild für die Begriffskonstitution: Hier erscheint der Mensch »als ein gewaltiges Baugenie, dem [. . .] gleichsam auf fliessendem Wasser das Aufthürmen eines unendlich complicirten Begriffsdomes gelingt«; und dieser verdanke seine Haltbarkeit der Zartheit und Festigkeit von Elementen »wie aus Spinnefäden« (KSA 1, S. 882). 103 Schopenhauer: Parerga und Paralipomena II (Anm. 98), S. 646.

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rei in den Banden der Sprache«, die auch »ein unlogisches Element in sich« hat: »die Metapher« (KSA 7, S. 625). Nietzsche konstatiert: »M e t a p h e r heißt etwas als g l e i c h behandeln, was man in einem Punkte als ä h n l i c h erkannt hat« (KSA 7, S. 498). Demnach verdanken sich Metaphern und Begriffe gleichermaßen einer mentalen Transferleistung, die bloß Analoges wie Identisches behandelt.104 – Bereits Schopenhauer betont das kreative Potential bildhafter Sprache und beschreibt Gleichnisse als wichtiges Erkenntnisstimulans, »sofern sie ein unbekanntes Verhältnis auf ein bekanntes zurückführen.«105 Der Bildlichkeit von »Metapher, Gleichnis, Parabel und Allegorie« spricht er ein Vermittlungspotential »von trefflicher Wirkung« zu, das »abstrakte Gedanke[n]« zu veranschaulichen hilft und dadurch Evidenz schafft.106 Seines Erachtens »zeugt das Aufstellen überraschender und dabei treffender Gleichnisse von einem tiefen Verstande«.107 Unter Berufung auf Aristoteles exponiert Schopenhauer die Analogiebildung mithin als Signum besonderer geistiger Kreativität.108 Dabei können Metaphern und Vergleiche auch als Brücken zwischen »Poesie und Philosophie« fungieren, die Schopenhauer selbst in »schönste[r] Eintracht« sieht, zumal »die Poesie« seines Erachtens auch als »Fundquelle von Beispielen« die philosophische Reflexion zu stimulieren vermag.109 Ein Denken, das abstrakte Begriffe und anschauliche Metaphern mit ihrem je spezifischen Potential zu nutzen versteht, ermöglicht mit geistreichen Analogien also besonderen Erkenntnisgewinn. 104 Die Frage nach den spezifischen Differenzen zwischen Begriff und Metapher wird in Nietzsches Schrift Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne nur aufgelöst, nicht beantwortet, da er den Begriff der Metapher im altgriechischen Wortsinn von Übertragung so einsetzt, dass dessen semantische Spannweite auch die Begriffsgenese mit umfasst und den Eindruck einer Universalisierung der Metaphorik evoziert. – Im Anschluss an die Sprachphilosophie Gustav Gerbers beschreibt Nietzsche hier einen mehrstufigen Transformationsprozess, der vom Nervenreiz zum Bild, vom Bild zum Laut führt und die Abstraktion vom Wort zum Begriff mit umfasst (KSA 1, S. 879–880). Dabei dynamisiert er den Begriff der Metapher als ›Übertragung‹, indem er sogar vom vollständigen »Ueberspringen der Sphäre, mitten hinein in eine ganz andere und neue« spricht (KSA 1, S. 879). Diese spezifische ›Unschärferelation‹ relativiert dann auch den Anspruch auf Objektivität und Präzision sprachlicher Wirklichkeitsdarstellung. Zu dieser Schrift vgl. Hans Gerald Hödl: Nietzsches frühe Sprachkritik. Lektüren zu Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne (1873). Wien 1997. 105 Schopenhauer, Parerga und Paralipomena II (Anm. 98), S. 646. 106 Arthur Schopenhauer: Sämtliche Werke. Hg. v. Wolfgang Frhr. v. Löhneysen, 5 Bände. Bd. 1: Die Welt als Wille und Vorstellung I. Darmstadt 1974, S. 337. Die »unzähligen tropischen Ausdrücke in allen Sprachen« deutet er als »Bestrebungen [. . .], alles Abstrakte auf ein Anschauliches zurückzuführen« (Schopenhauer, Parerga und Paralipomena II [Anm. 98], S. 60). 107 Schopenhauer, Parerga und Paralipomena II (Anm. 98), S. 647. 108 Schopenhauer beruft sich auf Aristoteles, der metaphorische Diktion als Signum eines genialen Intellekts und eines philosophischen Scharfsinns betrachtet, ihr höchste poetische Dignität zuschreibt und ihren Erkenntniswert betont »(›De poetica‹ cap. 22 [. . .] ›Rhetorica‹ 3, 11)« (ebd., S. 647). 109 Aus Arthur Schopenhauer’s handschriftlichem Nachlaß. Hg. v. Julius Frauenstädt. Leipzig 1864, S. 305. Hier würdigt er »die Poesie« ausdrücklich als »Stütze und Hülfe der Philosophie«,

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Hans Blumenberg beschreibt Metaphern prägnant als »›Übertragungen‹, die sich nicht ins Eigentliche, in die Logizität zurückholen lassen«; zugleich betont er ihre »katalysatorische« Funktion, an der sich »die Begriffswelt bereichert«, ohne den fundierenden Bildervorrat dabei »umzuwandeln und aufzuzehren.«110 – Sowohl literarische als auch philosophische Reflexion kann mithilfe innovativer Metaphorik besondere Evidenz erzielen. Die spezifische Suggestivkraft bildlicher Vorstellungen verdankt sich dabei mehreren Funktionen: Metaphern und Vergleiche führen zu einer Komplexitätsreduktion, indem sie Nichtgleiches in ein Analogieverhältnis bringen. Zugleich versinnlichen sie Abstraktes und verfremden gewohnte Perspektiven, so dass dem Vertrauten neue, überraschende Aspekte abzugewinnen sind. So tragen Denkexperimente auch zur Erkundung unbekannter Dimensionen der Wirklichkeit bei. Dabei können kalkulierte Pointen durch überraschende Vernetzungen Erkenntnis stimulieren. Das kreative Potential außergewöhnlicher Metaphern und Vergleiche eignet sich zudem als Impuls zu intellektuellen Abenteuern oder geistiger Pionierarbeit. So betont Harald Weinrich, dass Metaphern nicht bloß »reale oder vorgedachte Gemeinsamkeiten abbilden«, sondern stattdessen »ihre Analogien erst stiften, ihre Korrespondenzen erst schaffen und somit demiurgische Werkzeuge sind.«111 Auch die metaphorischen Gedankenexperimente Nietzsches, der Analogiebildungen zudem als »Aeusserungen eines intellektuellen Spieltriebes« beschreibt (KSA 3, S. 470), kultivieren das heuristische Potential von Intuition, Intellekt und Phantasie und eröffnen durch poetisches Philosophieren einen neuen Blick auf die Realität: im intuitiven Ertasten, Erproben und Erkunden – mit »Fühlhörnern des [. . .] Gedankens« (KSA 3, S. 577), die unbekanntes geistiges Terrain zu erschließen versuchen. – Später propagiert Musil, der eine Fülle origineller Metaphern und Vergleiche erfindet, »ein emotio-rationales und senti-mentales Denken« (GW II, S. 1008), das sich dem kreativen Impuls von »Gefühlserkenntnisse[n] und Denkerschütterungen«, von Intellekt und Intuition verdankt (GW II, S. 1324)112 und dabei einer spezifischen »Logik des Analogischen« folgt (GW II, S. 1050). weil sie »Meditation« anrege und »ein Probierstein moralischer und psychologischer Lehrsätze« sei (ebd., S. 305). 110 Hans Blumenberg: Paradigmen zu einer Metaphorologie [1960], in: Theorie der Metapher. Hg. v. Anselm Haverkamp. Darmstadt 1983, S. 285–315, hier S. 288. 111 Harald Weinrich: Semantik der kühnen Metapher [1963], in: Theorie der Metapher (Anm. 110), S. 316–339, hier S. 331. 112 Rationalität und Intuition, über die auch Nietzsche in seiner Schrift Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne reflektiert (KSA 1, S. 889), schießen hier kreativ zusammen. Im Fragment [Über den Essay] schreibt Musil: »Dieses plötzliche Lebendigwerden eines Gedankens, dieses blitzartige Umschmelzen eines großen sentimentalen Komplexes« durch ihn (GW II, S. 1336) führe dazu, »daß man mit einemmal sich selbst und die Welt anders versteht« (GW II, S. 1337). – Zu polyperspektivischen Gedankenexperimenten und innovativer Bildlichkeit in Musils Poetologie vgl. Neymeyr: Utopie und Experiment (Anm. 80), S. 28–59. – Hugo von Hofmannsthals sogenannter ›Chandos-Brief‹ (1902) zeigt exemplarisch, inwiefern die sin-

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Was Spengler im Rahmen seiner Kulturmorphologie mit realitätsfernen Analogien nur spekulativ prätendiert, gelingt dem Spengler-Kritiker Musil: und zwar mithilfe kreativer Analogiebildung im Medium satirischer SpenglerDemontage, die charakteristische gedankliche Defizite durch karikaturistische Zuspitzung evident macht. Gerade durch Musils satirisches Ingenium erhält seine Polemik gegen Spengler ihre besondere Brillanz. Zudem liegt ein intellektueller Clou dieser Attacke darin, dass Musil den Kulturmorphologen Spengler im Terrain der Analogie gleichsam mit dessen eigenen Waffen schlägt, und zwar im Medium satirischer Analogiebildung, die sogar geistreiche Absurdität noch in den Dienst zukunftsweisender AntirationalismusKritik zu stellen vermag. – Ein Musterbeispiel dafür und einen Höhepunkt von polemischem Esprit bietet der Essay Geist und Erfahrung dort, wo Musil den Typus von Spenglers spekulativen Analogien ironisch charakterisiert (GW II, S. 1044), um damit zugleich Grundprinzipien seiner Kulturmorphologie in Frage zu stellen: »Es gibt zitronengelbe Falter, es gibt zitronengelbe Chinesen; in gewissem Sinn kann man also sagen: Falter ist der mitteleuropäische geflügelte Zwergchinese [. . .].«

guläre Erlebnisintensität mystischer Augenblicke außergewöhnliche Metaphernkomplexe und Bilderwelten generieren kann, die Strukturen konventioneller Wirklichkeitserfahrung auflösen. – Musil selbst reflektiert im Essay Anmerkung zu einer Metapsychik (anlässlich von Rathenaus Buch Zur Mechanik des Geistes) über die Problematik, »das Grunderlebnis der Mystik« philosophisch darzustellen (GW capsII, S. 1017), die in seinem eigenen Roman Der Mann ohne Eigenschaften eine Vielzahl expressiver Sprachbilder evoziert.

Nicole Streitler-Kastberger

»Rettung der Polemik«? Literaturkritische Strategien bei Robert Musil, Walter Benjamin und in der nationalsozialistischen Publizistik (mit einem Seitenblick auf Ödön von Horváth) Abstract: This article focuses on polemic writing in the works of Robert Musil, Walter Benjamin, and National Socialist critics such as Paul Fechter and Rainer Schlösser. Whereas Musil’s polemic writing is part of his fight for a morally advanced literature and grapples with new ways of being human, Benjamin sees literature as a means of coping with the sociopolitical developments of his time and understands his critical writing as part of his own politicization. The National Socialist critics regard literature from a national point of view and distinguish between politically conformist literature and other types of literature. Polemic writing often crosses the lines of the acceptable and attacks the person of the author instead of his work. Nevertheless, there are categorical differences between Musil’s or Benjamin’s polemic writing and that of the National Socialist critics who tend to not only criticize, but to ›annihilate‹ nonconformist authors, much like Fechter and Schlösser do in their attack on Kleist Prize laureate Ödön von Horváth’s ›Volksstücke‹.

Mein Begriff der Literatur, mein Eintreten für sie als Ganzes, ist wohl das Gegengewicht zu meiner Aggression gegen die einzelnen Dichter. (Robert Musil, Tagebuch-Heft 33, 1937–ca. Ende 1941)

1. Polemik – ein kurzes avant-propos Im Reallexikon definiert Sigurd Paul Scheichl Polemiken als »[a]ggressiv formulierte Texte oder Textteile, die Bestandteil eines meist personalisierten Streits sind«.1 In der ausführlichen Definition des Begriffs ist zu lesen: Die Grundbedeutung von Polemik ist die aggressive, auf Bloßstellung und moralische oder intellektuelle Vernichtung abzielende, gleichwohl argumentierende Kritik am Gegner in einem Streit. Polemiken gibt es in allen Bereichen des öffentlichen Lebens; sie stehen in einem pragmatischen Realitätsbezug und sind meist in einem 1

Sigurd Paul Scheichl: [Art.] Polemik, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Bd. 3. Hg. v. Jan-Dirk Müller u. a. Berlin, New York 2003, S. 117–120, hier S. 117.

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publizistischen Umfeld verankert, selbst wenn sie literarisch stilisiert sind (was bei den meisten Polemiken nicht der Fall ist). Sie erscheinen in Gestalt vieler Textsorten.2

Dabei ist es gerade die spezifische Mischung aus »aggressive[r]« »Bloßstellung«, »moralische[r] oder intellektuelle[r] Vernichtung« und »argumentierende[r] Kritik«, die Polemiken so reizvoll, aber auch so problematisch macht. Außerdem betont Scheichl: »Polemik ist ein Typ der Argumentation, keine Gattungsbezeichnung.«3 Und Polemik konstruiert fast immer einen persönlichen Gegner – auch wenn sie betont, daß es nicht um Personen, vielmehr um Prinzipien geht – und zugleich ein das Recht uneingeschränkt auf seiner Seite beanspruchendes polemisches Subjekt, das eine Rolle sein kann und nicht mit der Person des Polemikers identisch zu sein braucht.4

Die »[l]iterarisch gestaltete Polemik« sei »stilistisch bestimmt durch Umschläge von Ironie zu Pathos, vom Witz zum Prophetenton«.5 Als »Stilmittel« dieser literarischen Polemik nennt Scheichl »Berufungen auf Autoritäten, Schimpfwörter, Anrede des Gegners, Anspielungen auf seine Körperlichkeit und Verballhornungen seines Namens«.6 Auch durch »Zitate aus seinem Werk« werde der Gegner oft »bloßgestellt«.7 »Folterphantasien« und »brutale[ ] Metaphorik« gehörten ebenfalls zu dieser Form der Polemik: »Als Extremform der Literaturkritik nähert sich der Verriss, eine vernichtende, dabei oft auch unsachlich und aggressiv formulierende Rezension, allerdings der Polemik an [. . .].«8 Auf Basis der genannten Definitionen soll es in diesem Beitrag um Polemiken als schriftliche Kontroversen gehen, sowohl um ganze Texte als auch um polemische Schreibweisen, genau genommen aber immer um einen Spezialfall von Polemik, nicht um polemische Literatur, sondern um literaturkritische Polemiken. Viele der von Scheichl genannten polemischen Schreibweisen lassen sich in den literaturkritischen Polemiken Robert Musils wiederfinden.9 Kontrastierend zu Robert Musil soll in der Folge Walter Benjamins Theorie und Praxis der Literaturkritik beleuchtet werden. Als weitere Kontrastfolie wird ein Blick auf die literaturkritische Praxis nationalsozialistischer Kritiker wie Rainer Schlösser und Paul Fechter geworfen. Die Gegenüberstellung so unterschiedlicher Kritikertypen, die im literarischen Feld konträre Positionen besetzten, soll zeigen, ob und wie Polemik über ideologische Grenzen hinweg eingesetzt wurde, ja wie polemische Schreibweisen der Konstruktion und 2 3 4 5 6 7 8 9

Ebd. (Herv. im Original). Ebd. (Herv. im Original). Ebd., S. 118. Ebd. (Herv. im Original). Ebd. Ebd. Ebd. (Herv. im Original). Vgl. dazu ausführlich Nicole Streitler: Musil als Kritiker. Bern u. a. 2006 (= Musiliana, Bd. 12), S. 256–268.

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Begrenzung der entsprechenden literarischen und gesellschaftspolitischen Felder dienten. Auszuloten ist dabei zunächst die Rolle von Polemik in der Literaturkritik Musils, Benjamins sowie bei den nationalsozialistischen Kritikern Schlösser und Fechter. Zuletzt wird auf die literaturkritische Praxis der in Rede stehenden Kritiker fokussiert, um unterschiedliche polemische Schreibweisen zu differenzieren. Im Falle der nationalsozialistischen Literaturkritik wird dabei am Beispiel des Autors Ödön von Horváth gezeigt, nach welchen Gesichtspunkten diese verfährt.

2. »[E]ine Form des Kampfes« – kritische Konzepte Im Zuge der politischen Polarisierung der Gesellschaft der Zwischenkriegszeit vollzog sich auch eine Polarisierung innerhalb der Kunstkritik, zwischen rein ästhetisch argumentierenden Kritikern auf der einen und solchen, die Kritik einem außerästhetischen Gesichtspunkt unterstellten, sei es einem allgemein gesellschaftlichen, einem ethischen oder einem politischen, auf der anderen Seite. Innerhalb der »Politisierung« der Literaturkritik, wie sie Russel A. Berman beschrieben hat,10 ist zudem eine Polarisierungstendenz wahrzunehmen, und zwar zwischen linksbürgerlichen, insbesondere marxistischen, und rechtskonservativen, vor allem nationalsozialistischen und völkischen Kritikern. Insgesamt gilt: »Nie zuvor war die Literaturkritik vielstimmiger, vielfältiger und anspruchsvoller, nie war ihre gesellschaftliche Bedeutung und Wirkung größer als in der Weimarer Republik.«11 Dass Musil sich auf die Kunst der Polemik verstand, wird offensichtlich, wenn man nur ein paar seiner Kritiken liest. Die Literatur- und Theaterkritik stellte für ihn ein willkommenes Feld der gesellschaftlichen und ästhetischen Auseinandersetzung dar. Die kämpferische, aggressive Seite seiner Persönlichkeit – die Hermann Broch als »militante Art«12 bezeichnet hat –, sein Wunsch nach »geistigem Aktivismus«13 kann sich hier auf ganz direkte und konkrete Weise entfalten. Darin liegt für ihn zweifellos der besondere Reiz dieses Metiers. Dass Musil sich seinen Herausforderungen stellte, zeigt sich speziell in den Polemiken, die Ausdruck einer entschiedenen Positionierung 10 11 12 13

Vgl. Russel A. Berman: Literaturkritik zwischen Reichsgründung und 1933, in: Geschichte der deutschen Literaturkritik (1730–1980). Hg. v. Peter Uwe Hohendahl. Stuttgart 1985, S. 205– 274, hier S. 210 u. passim. Oliver Pfohlmann: Literaturkritik in der Weimarer Republik, in: Literaturkritik. Geschichte – Theorie – Praxis. Hg. v. Thomas Anz u. Rainer Baasner. München 52007, S. 114–129, hier S. 119. Die Wendung fällt in dem berühmten Brief Brochs an Musil vom 2. 9. 1933, in dem er auf dessen Plagiatsvorwurf antwortet, in: Hermann Broch: Briefe 1 (1913–1938). Hg. v. Paul Michael Lützeler. Frankfurt a. M. 1981, S. 252. KA/Lesetexte/Essayistische Fragmente/Literatur und Politik (1933–1937)/Bedenken eines Langsamen/Zwei Vorüberlegungen, Notizen und ein Gliederungsversuch.

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sind. Für die Literaturkritik der literarischen Moderne generell konstatiert Oliver Pfohlmann, dass die avancierten Kritiker der Zeit, die für die literarische Avantgarde eintraten, sich von der etablierten Kritik in »metakritischen, häufig polemischen Beiträgen und Glossen« absetzten und damit die »Rolle eines Agitators« einnahmen.14 Wesentliches Stilmittel der Polemiken ist bei Musil Ironie. Sie ist für ihn – wie er es 1926 im Interview mit Oskar Maurus Fontana ausdrückt – keine »Geste der Überlegenheit [. . .], sondern eine Form des Kampfes«,15 was heißen soll: ein rhetorisches Mittel, das der Präsentation und Durchsetzung der eigenen Anschauungen, des eigenen »Willens«16 in einem Zeitalter der Auflösung verbindlicher Werte und der massenhaften Buchproduktion für eine »nach Orientierung [. . .] suchende Leserschaft« dient.17 Musil hat sich in einigen Texten, insbesondere im Essay Bücher und Literatur (1926), auch theoretisch mit dem Begriff der Kritik auseinandergesetzt. Dabei begreift er die Literatur als »System«18 aus Autoren, Texten und Kritikern. Kritik ist demnach ein genuiner Teil dieses Systems, und die Kritiker hätten »so lange gegeneinander zu polemisieren [. . .], bis sich aus Willkür und Gestank der subjektiven Reaktion so etwas wie ein fester Niederschlag herausbildet«.19 Musil geht also davon aus, dass sich die Subjektivität von Literaturkritik durch Polemik, durch das Gegeneinander-Polemisieren aufhebt und zu einer Art Durchschnittsmenge führt, die dann so etwas wie Objektivität für sich beanspruchen kann; das ist wohl mit dem metaphorischen Ausdruck »fester Niederschlag« gemeint. Er räumt so gesehen der Polemik zwischen den Kritikern eine zentrale Rolle im Feld der Literaturkritik ein. Sowohl Musil als auch Benjamin konstatieren, dass die ästhetischen Maßstäbe ihre Gültigkeit verloren haben, weshalb sie sich ein kritisches Programm außerhalb des Ästhetischen suchen. Musil vermerkt dazu: Es hat eigentlich keinen Sinn, Bücher der Reihe nach vorzunehmen, wie sie der Buchhändler auf den Markt wirft, sie zu beschreiben und mit Hilfe von hochgerechnet fünfzig konventionellen Wertmaßen zu bewerten. Gerade das tut aber der 14 15 16

17 18 19

Oliver Pfohlmann: Literaturkritik in der literarischen Moderne, in: Literaturkritik (Anm. 11), S. 94–113, hier S. 111. KA/Lesetexte/Bd. 14 Lyrik, Aphorismen, Selbstkommentare/Selbstkommentare/Was arbeiten Sie? Gespräch mit Robert Musil/6. Immer wieder spricht Musil vom »Willen«. Im Interview mit Oskar Maurus Fontana heißt es: »Ich möchte Beiträge zur geistigen Bewältigung der Welt geben. Auch durch den Roman. Ich wäre darum dem Publikum sehr dankbar, wenn es weniger meine ästhetischen Qualitäten beachten würde und mehr meinen Willen. Stil ist für mich exakte Herausarbeitung eines Gedankens. Ich meine den Gedanken, auch in der schönsten Form, die mir erreichbar ist.« (KA/ Lesetexte/Bd. 14/Lyrik, Aphorismen, Selbstkommentare/Selbstkommentare/Was arbeiten Sie? Gespräch mit Robert Musil/6) Pfohlmann: Weimarer Republik (Anm. 11), S. 116. KA/Lesetexte/Bd. 12 Essays/1926–1931/Bücher und Literatur I/5. KA/Lesetexte/Bd. 13 Kritiken/Theaterkritiken/Zusammenhänge?

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Durchschnittskritiker. Er ist in seiner soziologischen Bedingtheit Journalist, in seiner Aufmachung Äthernist [sic].20

Dem setzt Musil ein zeitgemäßes ästhetisches Programm entgegen. Kritik muss seines Erachtens »Werte setzen«,21 dafür sei sie da. Es genüge nicht, »in einer süß-verringelten Manier nichts zu sagen«,22 wie Alfred Polgar dies einmal in einer Volte gegen die Ästhetisierung der Kritik im Impressionismus ausgedrückt hat, sondern der Kritiker müsse sich in der Kritik festlegen und klare Positionen beziehen. Im Rahmen dieses Konzepts von Kritik kommt der Polemik eine zentrale Funktion zu, denn Kritik hat für Musil wesentlich mit der Bekämpfung überholter, konventioneller literarischer Formen und Inhalte zu tun. Gegen diese habe der Kritiker anzukämpfen, und das entscheidende Mittel dieses Kampfes sei die mit Ironie arbeitende literaturkritische Polemik. Walter Benjamin äußert sich in seinem Programm der literarischen Kritik (1929/30) in einer Musil vergleichbaren Weise über die sogenannten »aesthetischen Kategorien«: Buchkritik muß sich ein Programm zu Grunde legen. Die immanente Kritik kann, als eine, die ihre Maßstäbe im Werke improvisiert, zu einzelnen glücklichen Resultaten führen. Aber notwendiger als das ist ein Programm. Das hat seinen Ausgang in der Einsicht zu nehmen, daß die aesthetischen Kategorien (Maßstäbe) samt und sonders außer Kurs gekommen sind.23

Benjamin unterscheidet also in seinen Notizen zur literarischen Kritik zwischen der »immanente[n] Kritik«, »die ihre Maßstäbe im Werke improvisiert«, und der programmatischen Kritik, der ein außerästhetisches Programm zugrunde liegt. Bei Musil ist dieses Programm allererst ethisch konzipiert, was nichts anderes heißt, als dass er Literatur an ihrer moralischen Innovationsleistung misst.24 Benjamin hingegen verankert in seinen fragmentarischen Notizen zur Literaturkritik von 1929/30 die Literatur im Politischen, indem er sie auf ihren Bezug zu den »Produktionsverhältnisse[n] auf 20 21 22 23

24

KA/Lesetexte/Bd. 14 Lyrik, Aphorismen, Selbstkommentare/Selbstkommentare aus dem Nachlass/Kritiker als Lebensform/Über den Sinn von Kritik. KA/Transkriptionen und Faksimiles/Nachlass Hefte/Heft 10/»Hohes Notizbuch«/»Über Bücher«/Heft 10/3. Alfred Polgar: Das Wiener Feuilleton, in: ders.: Kleine Schriften. Bd. 4: Literatur. Hg. v. Marcel Reich-Ranicki in Zusammenarbeit mit Ulrich Weinzierl. Reinbek b. Hamburg 1984, S. 200– 205, hier S. 200. Walter Benjamin: Programm der literarischen Kritik, in: ders.: Gesammelte Schriften. Unter Mitwirkung v. Theodor W. Adorno u. Gershom Scholem hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser. Bd. VI . Hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a. M. 1985, S. 161–167, hier S. 166. Vgl. Streitler: Musil als Kritiker (Anm. 9), S. 120–141, u. Nicole Streitler-Kastberger: Etho-Ästheten. Musil und einige Kritikerzeitgenossen, in: Musil-Forum 33 (2013/14), S. 142–161, hier insbes. S. 143–149.

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dem Büchermarkt«25 und auf ihre »zeitkritischen Einsicht〈en〉«26 hin überprüft. Benjamin war es aus literaturpolitischen und ideologischen Gründen ein zentrales Anliegen, sich vom bürgerlichen Großkritikertum und seinen impressionistischen Exaltiertheiten abzugrenzen, die sich seines Erachtens am deutlichsten in dem Berliner Kritiker Alfred Kerr verkörperten. Die bürgerliche Kritik, so schreibt Benjamin in seinem Programm der literarischen Kritik (1929/30), sei »die Erschlaffung und die Harmlosigkeit selber«.27 Sie sei nur durch »Rettung der Polemik«,28 durch »Parteinahme und Auseinandersetzung«,29 ja durch einen »Literaturkampf«30 reformierbar, wie er analog zum Marx’schen Begriff des Klassenkampfs formuliert: »Die vernichtende Kritik muß sich ihr gutes Gewissen wieder erobern«, schreibt Benjamin gleich zu Beginn seines Programms und damit ist die Devise ausgegeben.31 In dem kurzen Pamphlet Die Technik des Kritikers in dreizehn Thesen in dem Prosaband Einbahnstraße (1928) geht er sogar so weit, Polemik zur Essenz von Kritik zu erheben: »Polemik heißt, ein Buch in wenigen seiner Sätze zu vernichten. Je weniger man es studierte, desto besser. Nur wer vernichten kann, kann kritisieren.«32 Benjamin fordert dementsprechend eine »strategische, polemische« neben der »exegetisch kommentierende[n] Kritik«33 oder »magischen Kritik«34 und setzt damit dem »unbefangenen Geschmacksurteil«35 eine maßgeblich von Bertolt Brecht beeinflusste »sachlich[e]«36 und politisierte Form der Kritik entgegen.37 Sachlichkeit und Polemik bzw. Strategie gehen für Benjamin also durchaus zusammen. Allerdings spricht er sich in sei25 26 27 28 29 30

31 32 33 34 35 36 37

Benjamin: Programm der literarischen Kritik (Anm. 23), S. 162. Ebd., S. 166. Ebd., S. 161. Walter Benjamin: Falsche Kritik, in: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. VI (Anm. 23), S. 175–179, hier S. 175. Benjamin: Programm der literarischen Kritik (Anm. 23), S. 164. Walter Benjamin: Einbahnstraße, in: ders.: Gesammelte Schriften (Anm. 23). Bd. IV/1. Hg. v. Tillman Rexroth. Frankfurt a. M. 1972, S. 83–148, hier S. 108; vgl. auch Heinrich Kaulen: »Die Aufgabe des Kritikers«. Walter Benjamins Reflexionen zur Theorie der Literaturkritik 1929– 1931, in: Literaturkritik – Anspruch und Wirklichkeit. Hg. v. Wilfried Barner. DFG-Symposium. Stuttgart 1990 (= Germanistische Symposien-Berichtsbände, Bd. 12), S. 318–336, hier S. 321. Benjamin: Programm der literarischen Kritik (Anm. 23), S. 161. Benjamin: Einbahnstraße (Anm. 30), S. 108 f., hier S. 108. Walter Benjamin: 〈Antithesen〉, in: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. VI (Anm. 23), S. 169–171, hier S. 170. Benjamin: Falsche Kritik (Anm. 28), S. 179. Benjamin: Programm der literarischen Kritik (Anm. 23), S. 161. Ebd. Vgl. Kaulen: »Aufgabe des Kritikers« (Anm. 30), S. 321 f.; Christoph Schmitt-Maaß: Kritischer Kannibalismus. Eine Genealogie der Literaturkritik seit der Frühaufklärung. Bielefeld 2019, S. 126–130; Alexander Honold: Der Leser Walter Benjamin. Bruchstücke einer deutschen Literaturgeschichte. Berlin 2000, S. 34.

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nen Bemerkungen zur Falschen Kritik deutlich gegen eine falsch verstandene »Sachlichkeit« aus: Wenn in der guten Polemik die persönliche Note vorherrscht, so ist das nur die extreme Ausprägung der allgemeinen Wahrheit, daß die bloße kritische Sachlichkeit, die – von Fall zu Fall und ohne Hintergedanken – nichts weiter als ihr jeweiliges Urteil zu sagen weiß, immer belanglos ist. Diese »Sachlichkeit« ist ja nichts als die Kehrseite de〈r〉 Planlosigkeit und Unmaßgeblichkeit des Rezensierbetriebs, mit dem der Journalismus die Kritik zu Grunde gerichtet hat.38

Die Volte gegen den »Rezensierbetrieb[ ]« und den »Journalismus« ist symptomatisch für Benjamins Vorbehalte gegenüber der zeitgenössischen literarischen Kritik, ihrem »unbefangenen Geschmacksurteil«, das immer »uninteressant und im Grunde gegenstandslos« sei.39 Der Kritik müsse vielmehr ein »sachlicher Aufriß (strategischer Plan)« zu Grunde gelegt werden, wodurch sich die »politische Strategie« mit der »kritischen« decke, was letztlich »als Ziel anzusehen« sei.40 Benjamin spricht deshalb in der Folge auch von der »[m]aterialistische[n] Kritik«, die die »Funktion« habe, »[d]ie Maske der ›reinen Kunst‹ zu lüften und zu zeigen, daß es keinen neutralen Boden der Kunst gibt«.41 Allerdings spricht er sich an anderer Stelle auch gegen die »materialistische[ ] Literaturkritik« aus, weil diese dem Kunstwerk »immer (oder fast immer) hinter das Geheimnis komm[e]«, weshalb er an dieser Stelle eine »›magische‹, nichturteilende« Kritik fordert.42 Dennoch habe die zeitgenössische Kritik der Tatsache Rechnung zu tragen, dass die »alte[ ] Aesthetik« und deren ästhetische Kategorien überholt seien: Sie [i. e. die ästhetischen Kategorien] können auch durch eine noch so virtuose »Entwicklung« der alten Aesthetik nicht hervorgebracht werden. Vielmehr ist der Umweg über eine materialistische Kritik nötig, die die Bücher in den Zusammenhang der Zeit einstellt. Ein〈e〉 solche Kritik wird dann zu einer neuen, bewegten, dialektischen Aesthetik führen. Waren doch auch in der alten Aesthetik die höchsten zeitkritischen Einsicht〈en〉 eingeschlossen.43

Benjamins an Friedrich Schlegel geschultes Fazit lautet deshalb: »Die vollendete Kritik durchbricht den Raum der Aesthetik«,44 eine Erkenntnis, die letztlich auch Musils Kritiken zu Grunde liegt. Während Musil die »Ethisie38 39 40 41 42 43 44

Benjamin: Falsche Kritik (Anm. 28), S. 176. Benjamin: Programm der literarischen Kritik (Anm. 23), S. 161. Ebd. Ebd., S. 164 (Herv. im Original). Walter Benjamin: Die Aufgabe des Kritikers, in: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. VI (Anm. 23), S. 171–175, hier S. 174; vgl. auch Honold: Der Leser (Anm. 37), S. 27. Benjamin: Programm der literarischen Kritik (Anm. 23), S. 166. Benjamin: Falsche Kritik (Anm. 28), S. 179; vgl. auch Bernhard Fetz: Von ästhetischen Kramläden zum Kartell der Langeweile. Friedrich Schlegels Bedeutung für die aktuelle Literaturkritik, in: Literaturkritik. Theorie und Praxis. Hg. v. Nicole Katja Streitler u. Wendelin SchmidtDengler. Innsbruck 1999, S. 41–55, hier S. 42 f.

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rung«45 der Kritik betreibt, fordert Benjamin also deren »Politisierung«46 im Sinne der materialistischen Philosophie.47 Dies läuft parallel mit einer auch biographischen Politisierung Benjamins, durch die er den Intellektuellen zum »aktiv Eingreifenden« machen wollte.48 In beiden Konzepten kommt der Polemik eine ganz wesentliche Rolle zu, dient sie doch der scharfen Abgrenzung gegenüber den Gegnern und der Bekämpfung literarischer Texte, die keine »lockende[n] Vorbilder, wie man Mensch sein kann«,49 und keine »zeitkritischen Einsicht〈en〉«50 liefern. Demgemäß verfolgt Musil in der Kritik wie in der Literatur den »Kampf um eine höhere menschliche Artung«,51 und Benjamin wird zum Verfechter eines polemischen »Literaturkampf[s]«.52 Er plante in seinen Notizen zur Literaturkritik sogar eine »Theorie der Polemik«,53 die er aber nicht weiter ausgeführt hat. Immerhin äußert er in seinen Bemerkungen über Falsche Kritik Wesentliches dazu: Die Unterscheidung der persönlichen und sachlichen Kritik, mit deren Hilfe die Polemik diskreditiert wird, ist ein Hauptinstrument der objektiven Korruption. Der gesamte thetische Teil gipfelt in einer Rettung der Polemik. Damit ist schon gesagt, daß hier das Bild von Karl Kraus als des einzigen Bewahrers polemischer Kraft und polemischer Technik in dieser Zeit erscheint. Daß Kraus sich an den Personen, dem was sie sind mehr als dem was sie tun, dem was sie sagen mehr als dem was sie schreiben〈,〉 und an ihren Büchern – die für die landläufige Kritik den einzigen Gegenstand bilden – am wenigsten ausrichtet, das ist die Voraussetzung seiner polemischen Meisterschaft. Der Polemiker setzt seine Person ein. Kraus ist weiter gegangen. Er bringt das Opfer seiner Person.54

Die hier genannte »Rettung der Polemik« steht für Benjamin in Zusammenhang mit seinem allgemeineren Konzept der »Rettung«, dem es darum zu tun ist, den »Wahrheitsgehalt« literarischer und, allgemein, künstlerischer Werke für die Nachwelt zu sichern.55 Karl Kraus als Inbegriff des Polemikers und Satirikers war nicht nur für Benjamin vorbildlich, sondern auch für Musil, der zwar immer wieder Vorbehalte gegenüber Kraus äußerte,56 dessen »Fä45 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55 56

Streitler: Musil als Kritiker (Anm. 9), S. 143. Berman: Literaturkritik (Anm. 10), S. 210. Vgl. Streitler: Musil als Kritiker (Anm. 9), S. 77–80 u. 143–155. Jean-Michel Palmier: Walter Benjamin: Lumpensammler, Engel und bucklicht Männlein. Ästhetik und Politik bei Walter Benjamin. Hg. u. mit einem Vorwort versehen v. Florent Perrier. Aus dem Französischen v. Horst Brühmann. Frankfurt a. M. 2009, S. 389. KA/Lesetexte/Bd. 12 Essays/1918–1926/Skizze der Erkenntnis des Dichters/167. Benjamin: Programm der literarischen Kritik (Anm. 23), S. 166. KA/Lesetexte/Bd. 12 Essays/1908–1914/Europäertum, Krieg, Deutschtum/1304. Benjamin: Einbahnstraße (Anm. 30), S. 108. Benjamin: Die Aufgabe des Kritikers (Anm. 42), S. 171. Benjamin: Falsche Kritik (Anm. 28), S. 175. Vgl. ebd., S. 178, und Honold: Der Leser (Anm. 37), S. 10 u. 44; zur Bedeutung des Begriffs der »Rettung« für Benjamins Kritikbegriff und seine Geschichtsphilosophie vgl. Palmier: Lumpensammler (Anm. 48), S. 830–845. Vgl. etwa den Eintrag zu den »Krausianer[n]« und Hugo Bettauer in KA/Lesetexte/Band 16 Frühe Hefte 1899–1926/IV . Wien (1918–1926)/21: Die zwanzig Werke III (1920–1926)/Brünn/

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higkeit, die Zeit als satirische Halbfertigware der Zeitung zu entnehmen und zu vollenden«,57 die Welt gewissermaßen im Zitat abzubilden, er aber gleichfalls als bahnbrechend ansah und literarisch für sich fruchtbar machte.58 Wie Gunther Martens gezeigt hat,59 wollte Musil im Mann ohne Eigenschaften in der Figur des Feuermaul – zu dem bekanntlich Franz Werfel das Vorbild abgab – »[e]inen Menschen ganz aus Zitaten zusammensetzen«.60 Der Autor hat in seinem Konzept des »interdiskursive[n]«61 Romans schließlich ganze Teile desselben aufgrund von Exzerpten aus diverser Fachliteratur verfasst. Die »›entlarvend[e]‹« Zitat-Technik des Fackel-Herausgebers und »seine Gegnerschaft gegen das Pressewesen«, die prägend auch für Benjamin und Musil werden sollten, führt Andreas Stuhlmann unter anderem auf Kraus’ frühe Orientierung an Maximilian Harden zurück, die später in Feindschaft umschlagen sollte.62 Vor allem war es aber auch das Satirische und die Satire, in der Kraus Meisterschaft bewies und mit der er zum Vorbild einer »Ästhetik der Satire« der 1920er Jahre wurde.63 Bemerkenswert an Benjamins zitierten Äußerungen über Kraus ist insbesondere die Akzentuierung des Persönlichen und der Person, die er vornimmt und die sein 1929/30 ausgearbeitetes Konzept der Kritik wesentlich prägt. Der Benjamin-Forscher Jean-Michel Palmier vermerkt dazu: Die materialistische Interpretation der Werke und ihrer Geschichte ist kein neutraler Akt, sondern fällt selbst mit der Rettung zusammen. Es ist diese persönliche, politische Einbeziehung des Interpreten, die die Kritik, so wie Benjamin sie ins Auge faßt, in radikalen Gegensatz zur universitären Kritik bringt.64

Entscheidend ist auch, wie Benjamin das Polemische und das Politische verknüpft. Die polemische Kritik habe an »politischen Ideen sich auszurichten«, denn: »Je detaillierter das Persönliche hier in den Vordergrund geschoben wird, desto genauer muß die Folie, das Bild der Zeit[,] von der es sich ab-

57 58 59

60 61 62 63 64

Wien/Mariazell/Berlin/1924–1926/198; vgl. auch Christian van der Steeg: 50 Jahre Karl Kraus. Robert Musils Differenzierung Dichtung/Satire, in: Musil-Forum 33 (2013/14), S. 162–176, hier insbesondere S. 170. KA/Lesetexte/Bd. 13 Kritiken/Wiener Theater. Vgl. van der Steeg: 50 Jahre (Anm. 56), S. 165 u. 172 f. Vgl. Gunther Martens: Rhetorik der Evidenz, Schreibweisen der Polemik: Jünger – Kraus – Musil, in: Terror und Erlösung. Musil und der Gewaltdiskurs in der Zwischenkriegszeit. Hg. v. Hans Feger, Hans-Georg Pott u. Norbert Christian Wolf. München 2009 (= Musil-Studien, Bd. 37), S. 43–64, hier S. 48, 55 f. und 60. KA/Lesetexte/Bd. 16 Frühe Hefte 1899–1926/IV . Wien 1918–1926/8. Die zwanzig Werke I (1920)/Wien, März 1920/11; vgl. auch van der Steeg: 50 Jahre (Anm. 56), S. 173. Geoffrey C. Howes: Ein Genre ohne Eigenschaften: Musil, Montaigne, Sterne und die essayistische Tradition, in: Robert Musil. Essayismus und Ironie. Hg. v. Gudrun Brokoph-Mauch. Tübingen 1992 (= Edition Orpheus, Bd. 6), S. 1–11, hier S. 2 f. Andreas Stuhlmann: »Die Literatur – das sind wir und unsere Feinde«. Literarische Polemik bei Heinrich Heine und Karl Kraus. Würzburg 2010, S. 167. van der Steeg: 50 Jahre (Anm. 56), S. 165 u. 170. Palmier: Lumpensammler (Anm. 48), S. 837.

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hebt, zwischen dem Kritiker und seinem Publikum vereinbart sein. Jedes echte Zeitbild ist aber politisch.«65 Das Geschmacksurteil verwirft Benjamin, Apollinaire zitierend, als unerheblich.66 Das Programm der Kritik habe vielmehr »politisch-revolutionär«67 zu sein. Kritik müsse sich »mit der Wahrheit, die sich im Werk verbirgt, solidarisch« erklären, dessen »Wahrheitsgehalt« herausarbeiten, den Benjamin dem »Sachgehalt« gegenüberstellt,68 welcher Gegenstand des Kommentars sei.69 Die »Hoffnung des Marxisten« sei es, so Benjamin in seinen Notizen zur Falschen Kritik, »im Innern des Werkes sich mit dem Blick des Soziologen umzutun«, um wirklich »in das Werk hinein« zu führen, statt nur »Feststellungen an ihm« zu tätigen.70 Dies alles diene dem »Fortleben der Werke«: »Das Gesetz dieses Fortlebens ist die Schrumpfung«, wie Benjamin mit Adorno formuliert.71 Anders als für Kerr oder Polgar hat für Musil und Benjamin Polemik keine unterhaltende Funktion,72 sondern dient einem wirklichen »Ethos«73 des Kritikers, der »Polemiker und Liebender«74 sei, der also aggressive und erotische Anteile in sich vereine.75 Aus diesem Grund stehen beide Kritiker für eine »Rettung der Polemik«76 und für »Parteinahme und Auseinandersetzung«77 , die ihres Erachtens in der zeitgenössischen Kritik fehlen. Die Tendenz zur Politisierung der Kritik, die sich bei Benjamin ausmachen lässt, betraf aber nicht nur das linksbürgerliche Spektrum der Literaturkritik, sondern auch das diesem entgegengesetzte rechtskonservative. In ihrer nationalsozialistischen Spielart, etwa bei Rainer Schlösser und Paul Fechter, dient die Literaturkritik politisch-nationalen Zwecken: »Dichtung steht für den Nationalsozialismus gar nicht primär unter literarischen, sondern fast ausschließlich unter Aspekten der politischen Nützlichkeit und der Gesin65 66 67 68 69 70 71 72 73

74 75 76 77

Benjamin: Falsche Kritik (Anm. 28), S. 176. Vgl. ebd., S. 177. Ebd. Ebd., S. 178. Vgl. Palmier: Lumpensammler (Anm. 48), S. 836–838, und Schmitt-Maaß: Kritischer Kannibalismus (Anm. 37), S. 106. Benjamin: Falsche Kritik (Anm. 28), S. 179. Ebd. Der Verweis auf Adorno findet sich bei Benjamin: Die Aufgabe des Kritikers (Anm. 42), S. 174. »Polemiken müssen sein, zumal in der Zeitung, die ja ihren Lesern Unterhaltung schuldet.« (Alfred Polgar: Leitfaden für Polemiken, in: Polgar: Literatur [Anm. 22], S. 294–297, hier S. 294.) Allerdings nimmt auch die andere Seite Ethos für sich in Anspruch. Vgl. Alfred Kerr: Einleitung zu den Gesammelten Schriften, in: ders.: Gesammelte Schriften in zwei Reihen, Reihe 1, Bd. 1: Das neue Drama. Berlin 1917, S. V–XXII ; Kerr schreibt dort: »Ethos des Kritikers. Er sei vor allem ein Wahrheitssager.« (ebd., S. XII). Streitler: Musil als Kritiker (Anm. 9), S. 260; Herv. im Original. Vgl. auch die Begriffe der ›liebenden‹, der ›tötenden‹ und der ›verzehrenden Kritik‹, in: SchmittMaaß: Kritischer Kannibalismus (Anm. 37), S. 93–105, 106–121 und 122–130. Benjamin: Falsche Kritik (Anm. 28), S. 175. Benjamin: Programm der literarischen Kritik (Anm. 23), S. 164.

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nung.«78 Zum Ideal wurde zwar die »völkische Heimatliteratur« postuliert mit ihrer »epigonalen Auffassung vom Wesen der Dichtung«, ihrer »weltanschauliche[n] Vagheit«, ihrer »emotionale[n] Unbestimmtheit« und ihrer »Zeitfremdheit«, die vom Nationalsozialismus als ästhetisches Vorbild jedoch nicht erst hervorgebracht, sondern einfach übernommen wurde, und so »Wegbereiter und Opfer in einem« war.79 Entscheidend für die Literaturkritik der Nationalsozialisten waren allerdings letztlich nicht ästhetische Maßstäbe, sondern die rassische Herkunft und die politische Gesinnung eines Autors. In der Kritik wird deshalb zwischen systemkonformen und systemfeindlichen Autoren und Texten unterschieden. Was als systemfeindlich empfunden wird, dagegen ist mit aller Schärfe zu polemisieren. Polemik nimmt deshalb auch in den Kritiken der Nationalsozialisten einen wichtigen Stellenwert ein. Überhaupt war der Ton in der Literaturkritik der Zwischenkriegszeit, verglichen mit heutigen Standards, ein wesentlich schärferer. Ein Autor, der damit unmittelbar konfrontiert war, ist Ödön von Horváth. In einem autobiographisch-theoretischen Text mit dem Titel Wenn sich jemand bei mir erkundigt von 1932 schreibt er: Daß ich den Kleistpreis bekommen habe, habe ich aus der Zeitung erfahren. Erst einige Tage später bekam ich die offizielle Mitteilung vom Vorsitzenden der KleistStiftung, Fritz Engel. Ein Teil der Presse begrüßte diese Preisverteilung lebhaft, ein anderer Teil wieder zersprang schier vor Wut und Haß. Das sind natürlich Selbstverständlichkeiten. Nur möchte ich hier auch betonen, daß auch im literarischen Kampfe, bei literarischen Auseinandersetzungen von einer gewissen Presse in einem Tone dahergeschrieben wird, den man nichts [sic] anders als Sauherdenton bezeichnen kann.80

»[L]iterarische[r] Kampf[ ]« und »literarische[ ] Auseinandersetzungen« gehören für Horváth zu den »Selbstverständlichkeiten« der Literaturkritik; was er aber nicht akzeptieren will, ist der Ton »einer gewissen Presse«, der »Sauherdenton«; und damit spricht er sich deutlich gegen eine dem »Gewaltdiskurs«81 der Zeit affine Literaturkritik aus.

78 79 80 81

Rolf Geißler: Dekadenz und Heroismus. Zeitroman und völkisch-nationalsozialistische Literaturkritik. Stuttgart 1964 (= Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Bd. 9), S. 22. Ebd. Ödön von Horváth: Wenn sich jemand bei mir erkundigt, in: ders.: Gesammelte Werke. Bd. 11: Sportmärchen, andere Prosa und Verse. Hg. v. Traugott Krischke unter Mitarbeit v. Susanna Foral-Krischke. Frankfurt a. M. 1988, S. 207–214, hier S. 213 f. Vgl. dazu den Sammelband: Terror und Erlösung. Hg. v. Feger, Pott, Wolf (Anm. 59).

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3. Unter der Gürtellinie – persönliche Kritik Mit der »gewissen Presse« hatte Horváth jedoch immer wieder zu tun. Der Autor, der als »typisch alt-österreichisch-ungarische Mischung«82 böhmische, wienerische, ungarische und kroatische Einflüsse in sich vereinigte, wurde immer wieder Opfer rassistisch motivierter literaturkritischer Angriffe. Wiederholt wird in Besprechungen seiner Stücke auf seine ungarische Herkunft verwiesen, etwa indem ein Kritiker seinen Namen ausdeutscht: »[D]er Name heißt auf deutsch ›Kroate‹«, oder wenn vom »heimatlosen Ausländer Horváth«83 und vom »deutschschreibende[n] Ungar[n]«84 die Rede ist, was noch nicht unbedingt negativ behaftet sein müsste, allerdings bildet – wie Andreas Stuhlmann gezeigt hat – das »Spiel mit dem Namen des Kontrahenten, und somit mit seiner Diskurs-Persona« den »prototypische[n] Kern polemischer Schreibweisen«.85 Überdies wendet der Kritiker der Wiener Zeitung, Hugo Engelbrecht, diesen vermeintlich nur beiläufig und ohne böse Absicht eingestreuten Verweis ins gänzlich Polemische, wenn er Horváth als »Zug’reisten« bezeichnet, der nur oberflächliche und verkitschte Kenntnisse des Wiener Wesens habe und deshalb keine »G’schichten aus dem Wienerwald«86 machen solle. Während es Engelbrecht letztlich nur um eine Verteidigung Wiens und der Wiener gegenüber einem vermeintlich Nicht-Autochthonen geht, schießt sich die Kritik der deutschnationalen Kritiker ganz auf die ungarische Herkunft Horváths ein. So polemisiert etwa Paul Fechter bereits 1929, anlässlich der Uraufführung von Sladek, der schwarze Reichswehrmann, gegen den jungen aufstrebenden Bühnenautor: Ödön Horváth [. . .] ist Ungar. Urteilte man nur nach dieser Fememordkomödie, so müßte man sagen, der sympathischste Zug an diesem Autor ist, daß er sich scheut, in seiner Muttersprache zu dichten. Daß er jedoch unser geliebtes Deutsch zur Herstellung seiner Dramen benutzt, ist nicht edel und bundesbrüderlich von ihm. Denn diese dreiaktige Geschichte von der Schwarzen Reichswehr ist wirklich nicht schön. Sie ist kindisch dramatisierte Schauergeschichte aus dem Feme-Märchenbuch der deutschen Linksparteien – dauernd so dicht an der Grenze kindlicher Komik entlanggedichtet, daß im dritten Akt die Zuschauer in drohender Heiterkeit begannen mitzuspielen.87

Horváths Stück wird zuletzt als »Unsinn« bezeichnet und als linke Tendenzdichtung abgetan, wobei Fechter auch hier keine Gelegenheit zu bösestem 82 83 84 85 86 87

Ödön von Horváth: Fiume, Belgrad, Budapest, Preßburg, Wien, München, in: Horváth: Sportmärchen (Anm. 80), S. 184 f., hier S. 184. Erik Krünes: Die Herren der Kleistpreis-Stiftung haben das Wort. Kleistpreis in unwürdiger Hand: Der heimatlose Ausländer Horváth, in: Berliner illustrierte Nachtausgabe, 3. 11. 1931. Hugo Engelbrecht: Berliner Theater, in: Wiener Zeitung, 7. 11. 1931. Stuhlmann: Literarische Polemik (Anm. 62), S. 32. Engelbrecht: Berliner Theater (Anm. 84). F. [i. e. Paul Fechter]: Kindertheater. Horváth: »Sladek, der schwarze Reichswehrmann«, in: Deutsche Allgemeine Zeitung (Berlin), 14. 10. 1929.

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Sarkasmus auslässt: »[D]ie Linke hat wirklich Pech mit den Leuten, die ihre Politik dichten.«88 In der Schlusspointe nimmt Fechter neuerlich in denunziatorischer Absicht auf die Herkunft des Autors Bezug: »Von Herrn Horváth aber wär’s nett, wenn er vielleicht am Ende doch anfinge, ungarisch zu dichten.«89 Das ist zweifellos der von Andreas Zeising dem deutschnationalen Kritiker attestierte »auffällige[ ] Zug ins Nationalistische« bzw. seine »ins Völkische tendierende Betonung des ›Deutschen‹ als geschichtlicher Wesenheit«.90 Anders gesagt ist das rassistisch und politisch motivierte ätzende polemische Kritik, die zutiefst ins Persönliche geht. Auch anlässlich der Uraufführung von Geschichten aus dem Wiener Wald (1931) am Deutschen Theater Berlin am 2. November 1931 meldete sich Paul Fechter wieder zu Wort. In der Deutschen Allgemeinen Zeitung, die bereits im Verlauf der 1920er Jahre immer stärker »ins rechtskonservative Spektrum abglitt«,91 schreibt er: Wenn man in der letzten Premiere des Deutschen Theaters, wo ein etwas zweifelhafter Herr aus Ungarn, Ödön von Horváth, als Kleistpreisträger debütierte, anwesend war, so hatte man durchaus nicht mehr die Empfindung im deutschen Reich sich aufzuhalten. Man sah auf der Bühne eine schiefe und dumme Karikatur eines Stahlhelm- oder Hitlerjünglings, die einen österreichischen Rittmeister damit attackierte, Österreich hätte den Krieg verloren – worauf dieser entgegnete, wenn Preußen nicht dagewesen wäre, hätte es gar keinen Krieg gegeben. Man höre und staune! Auf diese taktlose Bemerkung eines ausländischen Verfassers erhob sich im Haus ein vergnüglicher Beifall. Das, was sich kein Negervolk ohne Widerspruch nachsagen läßt, wurde hier applaudiert.92

Nicht nur der Angriff auf Horváth, den »zweifelhafte[n] Herrn aus Ungarn«, dessen Darstellung des deutschnationalen Studenten Erich als »schiefe und dumme Karikatur« abgetan wird, fällt hier ins Auge, sondern auch eine generalisierende Polemik Fechters gegen »eine[n] große[n] Teil der Berliner Premierenbesucher«.93 Über diese hatte der Kritiker zu Beginn seiner Besprechung Folgendes vermerkt: Die scharf abfälligen Urteile, die im Reich zuweilen recht summarisch über Berlin gefällt werden, werden gespeist durch ein ganz bestimmtes Berliner Publikum, das zahlenmäßig ein winziges Kontingent der Bevölkerung darstellt, das es jedoch versteht, um so sichtbarer ebenso fatal wie laut allerorts hervorzutreten.94 88 89 90

91 92 93 94

Ebd. Ebd. Andreas Zeising: Revision der Kunstbetrachtung. Paul Fechter und die Kunstkritik der Presse im Nationalsozialismus, in: Kunstgeschichte im »Dritten Reich«. Theorien, Methoden, Praktiken. Hg. v. Ruth Heftrig, Olaf Peters u. Barbara Schellewald. Berlin 2008, S. 171–186, hier S. 174 f. Ebd., S. 173. [Paul Fechter]: Unsere Meinung, in: Deutsche Allgemeine Zeitung (Berlin), 4. 11. 1931. Ebd. Ebd.

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Die Polemik gegen den Autor nimmt hier also ihren Ausgang in jener gegen einen Teil des Publikums, das dessen Erfolg erst möglich gemacht habe. Der spätere ›Reichsdramaturg‹, der deutschnationale Kritiker Rainer Schlösser, spitzt die Anfeindungen Fechters gegen Horváth und das Berliner Publikum weiter zu, wenn er in seiner Polemik mit dem Titel Kleistpreisrummel (1931) im antisemitischen Völkischen Beobachter schreibt: »Der Deutsche denkt, der Jude lenkt.«95 Der »Halbjude« Zuckmayer lenke als Preisrichter des Kleist-Preises »die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf Produkte zumeist jüdischer Autoren«, wofür der Kleist-Preis 1931, zu gleichen Teilen an Ödön von Horváth und Erik Reger verliehen, ein »treffliches Beispiel« sei.96 Weder der Ungar Horváth noch der Rheinländer Reger passen zwar in die Schublade »jüdische[ ] Autoren«, darüber wird aber mit einem relativierend eingestreuten »zumeist« großzügig hinweggesehen. Immerhin ist Horváth als Ungar kein autochthoner Deutscher und damit wohl schon hinreichend suspekt. Um die kleine Ungenauigkeit auszumerzen, muss in der Folge nicht nur der »Halbjude« Zuckmayer bemüht werden, der Sympathien für Horváth hege, sondern auch der jüdische Großkritiker Alfred Kerr, der Horváths Geschichten aus dem Wiener Wald am 3. November 1931 im Berliner Tageblatt einigermaßen hymnisch besprochen hatte; in der Zeitung also, deren Feuilletonleitung Fechter 1937 antreten sollte.97 Die dort von Kerr über Horváth geäußerte Einschätzung – »Einer, der zu uns gehört«98 – legt Schlösser gleichfalls im Sinne der nationalsozialistischen Abstammungslehre aus. Der deutschnationale Kritiker arbeitet in seiner groß angelegten Polemik vorwiegend mit Zitaten, was, wie bereits gezeigt wurde, unmittelbar zur Rhetorik polemischer Kritiken gehört.99 So führt er zunächst Passagen aus Zuckmayers Urteilsbegründung an und versieht dessen Worte in Klammern mit ätzenden Kommentaren. Als Beispiel sei nur der Beginn dieser langen Passage angeführt: »›Horváth‹, begründet Zuckmayer seine Entscheidung, ›scheint mir unter den jungen Dramatikern die stärkste Begabung zu sein.‹ (Der Schein trügt, zuckriger Weinberg!)«100 Über »die weitesten Kreisen unbekannten Meisterwerke des ›jungen Ungarn‹ Horváth« schreibt Schlösser, auch hier zum Teil mit Zitaten arbeitend: Nun, das erste war »Sladek, der schwarze Reichswehrmann« betitelt – was wohl genug besagt. Dünnstes, dümmstes, lebloses, politisch-tendenziöses »Zeittheater«, von keinerlei dramatischem Können angekränkelt, im Gegenteil, von geradezu erR[ainer] S[chlösser]: Der Kleistpreisrummel. Ein Musterbeispiel neudeutscher PropagandaPraktiken, in: Völkischer Beobachter (Berlin), 19. 11. 1931. 96 Ebd. 97 Zeising: Revision der Kunstbetrachtung (Anm. 90), S. 174. 98 Alfred Kerr: Geschichten aus dem Wiener Wald, in: Berliner Tageblatt, 3. 11. 1931. 99 Vgl. die Ausführungen im zweiten Kapitel dieses Beitrags und Scheichl: Polemik (Anm. 1), S. 117. 100 Schlösser: Kleistpreisrummel (Anm. 95).

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barmungswürdiger Hilflosigkeit. So recht eine Offenbarung seiner schönen Seele hat Horváth dann in seiner »Italienischen Nacht« gegeben, einem »Zeitspaß«, den Kerr »himmlisch« fand. Hier tadelt Horváth das Reichsbanner, das ihm, dem Salonkulturbolschewisten, zu wenig aktivistisch ist, wo doch der »Feind« (gemeint ist der Nationalsozialismus) vorgeblich im Dunkeln munkelt. Gottlob, daß ein beherztes Frauensmensch genügt, um die Nationalsozialisten abblitzen zu lassen . . . Kurzum: das Ganze ist ein ebenso fades wie lächerliches Beispiel dafür, »wie der kleine Ödön sich die große deutsche Freiheitsbewegung vorstellt«.101

Schlössers Attacke setzt das ganze rhetorische Spektrum literarischer Polemiken ein: Superlative, Ironie, Schimpfwörter, maximale Verkleinerung des Werks und sogar der Person des Autors durch Ausdrücke wie »[d]ünnstes, dümmstes, lebloses, politisch-tendenziöses ›Zeittheater‹«, »Offenbarung seiner schönen Seele«, »Salonkulturbolschewist« und »der kleine Ödön«. Die mit allen Mitteln der Rhetorik operierende Polemik Schlössers wird jedoch als »Elaborat[ ]«102 einer ausschließlich politisch-rassistisch argumentierenden Ablehnung erkennbar und diskreditiert sich damit selbst. Noch deutlicher äußerte sich derselbe Kritiker im Februar 1933, also kurz nach der Machtübernahme Hitlers, in einem mit Die Sünden des Systemtheaters! betitelten Artikel, wobei die Kritik am angeblichen »Systemtheater« vor allem ein anderes Theater installieren will: Ödön von Horváth besaß die Frechheit, die Nationalsozialisten anzupöbeln. Seine »Italienische Nacht« zeichnet uns als Feiglinge, die durch ein einziges Schimpfwort seitens einer Frau in die Flucht gejagt werden können. Wird sich der Ödön noch wundern! Er verquickte übrigens seinen politischen Unrat mit erotischem.103

Die Drohung »Wird sich der Ödön noch wundern!« kann als »performative[r] Sprechakt[ ]« gedeutet werden, wie er in Polemiken gehäuft vorkommt.104 Schlösser erscheint dabei als eine Art »Schreibtischtäter«,105 der zu gewalttätigen Handlungen gegenüber Horváth geradezu auffordert oder diese androht. Bereits wenige Tage zuvor, am 10. Februar 1933, war Horváth im Hotel Post in Murnau von lokalen Nationalsozialisten tätlich angegriffen worden, nachdem er während der im Rundfunk übertragenen Rede Adolf Hitlers nach der Ernennung zum Reichskanzler »Bemerkungen schlimmster Art«106 geäußert hatte. Die Anfeindungen Schlössers gegenüber Horváth hatten aber, nachdem er zum ›Reichsdramaturgen‹ ernannt worden war, auch noch andere Konsequenzen. Heinz Hilpert, der Regisseur der Uraufführung 101 Ebd. 102 Ebd. 103 Dr. S [i. e. Rainer Schlösser]: Die Sünden des Systemtheaters!, in: Völkischer Beobachter (Berlin), 14. 2. 1933. 104 Martens: Rhetorik der Evidenz (Anm. 59), S. 44. 105 Vgl. Dirk Rose: Zur Einführung: Schreibtischtäter – ein Typus der Moderne?, in: Schreibtischtäter. Begriff – Geschichte – Typologie. Hg. v. Dirk van Laak u. Dirk Rose. Göttingen 2018, S. 11–26, hier S. 12. 106 N. N.: Murnau [Redaktionsnotiz], in: Murnauer Tagblatt – Staffelsee-Bote, 11. 2. 1933.

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von Geschichten aus dem Wiener Wald, wollte nach der Machtübernahme Hitlers Horváths Theaterstücke Glaube Liebe Hoffnung (1933) und Himmelwärts (1934) – letzteres immerhin im gleichgeschalteten Neuen Bühnenverlag erschienen – inszenieren, wurde daran aber von Schlösser höchst persönlich gehindert, der ausrichten ließ, »daß Horváth nicht in Frage käme«.107 Die Polemiken Fechters und Schlössers gegen Horváth gehen zweifellos unter die Gürtellinie. Ihre »Rhetorik der Evidenz«,108 die sich als eine »Form der Depersonalisierung«109 gibt und damit ihren subjektiven Ursprung verschleiert, stützt sich auf krude rassistische und politische Vorurteile und kann deshalb keine literaturkritische Urteilskraft für sich beanspruchen, tut dies aber durch ihre »aggressive[ ] Performanz«110 . Im politisch aufgeheizten und ›gewaltdiskursiven‹111 Klima der 1920er und 1930er Jahre war dies zwar keine Seltenheit, die Schärfe und nationalistische Aversion der Kritiken Fechters und Schlössers waren jedoch schon damals deplatziert.

4. »[D]as dümmste Gebiet der Dichtung« – exemplarische literaturkritische Polemiken Musil ist als Kritiker »sichtlich bestrebt, zu klaren und – wenn notwendig – auch scharfen Urteilen zu kommen. Allerdings verfährt seine Kritik dabei meist relativ argumentativ und reflexiv«.112 Er ist kein subjektiv-willkürlicher, dogmatische Urteile fällender Kritiker, sondern eher ein skeptisch abwägender Literaturanalytiker, der sich einem von ihm als solches erkannten Kunstwerk in demütiger Exegetenmanier nähert, gegenüber schriftstellerischer Massenware aber nicht mit Ironie und teils heftiger Polemik spart. Musil verfasst, legt man die Benjamin’sche Dichotomie zugrunde, sowohl »strategische, polemische« als auch »exegetisch kommentierende Kritik«.113 So folgt etwa in der Besprechung von Franz Molnárs 1921 uraufgeführtem Stück Der Schwan auf eine kurze ironische Inhaltsangabe und ein paar kommentierende Bemerkungen das polemische Resümee: »[D]ie Bühne ist das dümmste Gebiet der Dichtung, wenn nicht von ganz Europa.«114 Auch Musil setzt also mitunter Superlative prägnant und hyperbolisch ein. Seine »argumentativ-ironische«115 Form der Polemik kann insbesondere in jener gegen Anton Wild107 108 109 110 111 112 113

Zit. nach: Michael Dillmann: Heinz Hilpert. Leben und Werk. Berlin 1990, S. 112. Martens: Rhetorik der Evidenz (Anm. 59). Ebd., S. 44. Ebd., S. 64. Vgl. Terror und Erlösung (Anm. 59). Streitler: Musil als Kritiker (Anm. 9), S. 263; Herv. im Original. Benjamin: 〈Antithesen〉(Anm. 33), S. 170. Zu Musil vgl. Streitler: Musil als Kritiker (Anm. 9), S. 256–295. 114 KA/Lesetexte/Bd. 13 Kritiken/Theaterkritiken/Wiener Theaterereignisse. 115 Streitler: Musil als Kritiker (Anm. 9), S. 263.

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gans anlässlich der Uraufführung des ›mythischen Gedichts‹ Kain im Mai 1922 veranschaulicht werden. Und ›anlässlich‹ ist hier der richtige Ausdruck, denn über den Text und seine Aufführung schreibt Musil kaum, stattdessen bietet ihm das Stück ausreichend Gelegenheit, »über das Wesen seines Dichters nachzudenken«,116 wie er gleich zu Beginn festhält. Ähnlich wie in den Kritiken zu Franz Theodor Csokors Die rote Straße und George Bernard Shaws Die heilige Johanna – die Kritiken erschienen 1922 und 1924 – dient Musil der Anlass zu einem großen essayistischen Exkurs; in diesem Fall über die gesellschaftlichen und literaturpolitischen Hintergründe, die einen Autor und Burgtheaterdirektor Wildgans erst möglich machten: »[S]ein Erfolg ist ein Stück deutscher Geistesgeschichte«,117 heißt es am Beginn der Kritik, und da diese Einsicht für Musil so zentral ist, wiederholt er sie am Ende der Kritik noch einmal.118 Die Ironie des Anfangs zieht sich durch den gesamten Text. Musils Polemik arbeitet dabei wiederholt mit Zitaten, etwa wenn er folgende Verse anführt: »›Es kann der Geist im Fertigen von Schuh’n / Tief’res Genügen finden und Bewenden / Als in des Denkens höchsten Gegenständen.‹«119 Freilich bleibt dieses Zitat nicht unkommentiert, sondern Musil holt zu einem förmlichen Rundumschlag – als der Boxer, als der er sich und Ulrich gern inszenierte120 – gegen die Wortwahl des Dichters Wildgans aus: In der Tat ließen sich neun Zehntel von des Meisters Wesen aus diesen drei Zeilen ablesen, ohne sich sonst in das Lebenswerk bemühen zu müssen. Man würde einen gewissen, schlechtweg dichterischen Tonfall feststellen, in dem das Ganze klingt, als ob es »von keinem Geringeren als« gesagt wäre, und man muß sich rechtschaffen anstrengen, um sozusagen dahinter zu kommen. Dann freilich bemerkt man das »Fertigen« und das »Bewenden«, auch die »Gegenstände« entstammen in solchem Zusammenhang dem Kanzleideutsch. Und natürlich findet dieser Fund nicht damit sein Genügen und Bewenden, daß man feststellt, dem Dichter seien ein paar schlechte Ausdrücke in die Feder gerutscht, sondern man muß fragen: Was ist es für ein Mensch, dem im Augenblick höchsten Gefühls (Gedicht!) Kanzleiausdrücke über die Lippen kommen?121

Zum Zitat gesellt sich in dieser Polemik die Herabwürdigung der Person des Autors.122 Das erinnert an Benjamins Diktum: »Je stärker ein Kritiker ist, desto intensiver kann er die ganze Person seines Gegners 〈,〉 bis in die Einzelheiten der Physiognomie herein, verarbeiten.«123 Musil steigert die 116 117 118 119 120

KA/Lesetexte/Bd. 13 Kritiken/Theaterkritiken/»Kain« von Anton Wildgans. Ebd. Vgl. ebd. Ebd. Vgl. Anne Fleig: Körperkultur und Moderne. Robert Musils Ästhetik des Sports. Berlin 2008 (= Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte der germanischen Völker, Bd. 51 [285]), S. 112–120 u. 226–234. 121 KA/Lesetexte/Bd. 13 Kritiken/Theaterkritiken/»Kain« von Anton Wildgans. 122 Vgl. Scheichl: Polemik (Anm. 1), S. 117. 123 Benjamin: Programm der literarischen Kritik (Anm. 23), S. 163.

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rhetorische Invektive noch, wenn er Wildgans vorwirft, vor allem »ewige Wahrheit[en]« zu äußern. Jedoch sei »dieser in hunderttausend Abwandlungen ausgesprochene Gedanke immer richtig gewesen, bis auf diese eine Variante, die ihm der Dichter gegeben hat«.124 In weiterer Folge konstatiert er an Wildgans einen »gewisse[n] Mangel an etwas [. . .], das ich nicht nennen möchte«, und unterstellt ihm, dass er »über Tiefe nicht ganz ausreichend orientiert ist, und ein bedeutender Dichter sollte gerade das sein«. Schließlich resümiert Musil: »Es ist das gewisse Ungewisse, mit dem es der Dichter hat.« Und: »Es fehlt diesem Poeten Besonderheit des Denkens.« Das Geheimnis seines Erfolgs ortet er »zwischen Gartenlaube und Dichtung«, gesteht Wildgans aber immerhin zu, dass er den »›Griff des Dramatikers‹« habe. Doch er relativiert dieses Zugeständnis sofort wieder durch eine Reihe von entlarvenden Zitaten, einen »blütenlesende[n] Griff ins Gesamtwerk«, mit dem Musil nachweist, dass sich alle Bilder und Worte Wildgans’ »als schon fixierte Vorstellungen erkennen [lassen]«. Und deshalb zieht er folgendes, als bildlicher Vergleich formuliertes Fazit: »Aus einer geschickt zugreifenden Hand kann ein berühmter Chirurg werden, aber auch ein guter Raseur. Hier gattet sich mit einem theatralischen Wolfshunger ein Julius-Wolff-Geschmack.«125 Julius Wolff war, wie Adolf Frisé anmerkt, ein »Epigone Viktor von Scheffels«, der »›Butzenscheiben‹-Lyrik« sowie »Versepen aus Geschichte und Sage«126 verfasste; keine Verwandtschaft also, in deren Nähe man gerückt werden möchte. Auf eine ganze Liste von Verfehlungen, die Musil im Weiteren aufzählt, folgt noch ein kurzer Absatz zum eigentlichen Stück, der den Abschluss der umfassenden Demontage Wildgans’ bildet: Um zur Aufführung von »Kain« zurückzukehren ist diesmal mit Ausnahme der höchst verkünderischen Geste von allen diesen Mängeln ein ebenso unauffälliges Fehlen festzustellen wie von Vorzügen. Ein Vakuum, von großen Worten ausgefüllt, die selbstverständlich leer sein müssen, und jene Langeweile, die der durchschnittliche Besucher ernster Theater für die Bedeutung hält.127

So lange und tiefschürfend die Polemik gegen das »Wesen« des Dichters Wildgans war, so kurz fällt die Beurteilung des Kain aus, die nicht ohne Seitenhieb auf den »durchschnittliche[n] Besucher ernster Theater« auskommt. Ein wesentliches Kennzeichen vieler Polemiken Musils ist, dass er durch sie den Anlass der Kritik essayistisch überschreitet und ihn als Nebensächlichkeit gewissermaßen links liegen lässt, um stattdessen Reflexionen über Grundsätzliches und Allgemein-Gültiges zu einem Dichter, zum Literaturund Theaterbetrieb oder zum gesellschaftspolitischen Umfeld anzustellen.128 124 125 126 127 128

KA/Lesetexte/Bd. 13 Kritiken/Theaterkritiken/»Kain« von Anton Wildgans. Ebd. Herausgeberkommentar von Adolf Frisé in: GW II, S. 1868. KA/Lesetexte/Bd. 13 Kritiken/Theaterkritiken/»Kain« von Anton Wildgans. Zum »Essayismus« in der Literatur- und Theaterkritik Musils vgl. Streitler: Musil als Kritiker (Anm. 9), insbesondere S. 231–255.

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Als beispielhaft dafür können auch die Besprechung Das feine Lustspiel (1921) und der Bericht über die Wiener Theatermesse (1924) gelten. Mitunter dient der Anlass aber dazu, pointierte Aperçus zu einzelnen Proponenten des Wiener Literatur- und Theaterbetriebs zu machen, womit Musil im Sog einer literaturkritischen Bewegung agierte, der es vor allem darum ging, neue Literatur in die »weltanschaulichen Auseinandersetzungen der Zeit« einzuordnen, wodurch die Grenzen von Literatur-, Kultur- und Gesellschaftskritik »fließend« wurden.129 Beliebteste Angriffsziele Musils sind der bereits genannte Anton Wildgans und der Dramatiker Hans Müller, in denen Musil ein gefährliches »janusköpfige[s]« Wesen erblickt, das den Wiener Theaterbetrieb beherrsche, von dem die ganze Welt wisse, dass in ihm »immer die Hans-Anton obenauf und zufrieden sind«.130 Musil lässt also keine Gelegenheit für polemische Spitzen aus. All dies dient seiner »Parteinahme und Auseinandersetzung«,131 dem Kampf um das symbolische Kapital im Feld der Literatur und des Theaters, aber auch der Durchsetzung der eigenen ästhetischen Kategorien und damit letztlich der eigenen literarischen Produktion. Ähnlich kämpferisch gebärdet sich Walter Benjamin, von dem abschließend eine exemplarische Polemik vorgeführt werden soll. Es handelt sich um die 1931 entstandene Kritik Baudelaire unterm Stahlhelm, die zeigt, wie für Benjamin »Rettung der Polemik«132 in der Praxis aussieht und wie schlechte Bücher in ihm den polemischen Furor wecken. Benjamin beginnt, Musil vergleichbar, mit einem Bonmot, das in nuce bereits die ganze Besprechung enthält: »Ganz elende Schriften haben mit ganz vorzüglichen dies gemein, ihr Wesen im Sprachlichen vollkommen offenkundig und präsent zu haben.«133 Eine Kritik, die mit dem Ausdruck »[g]anz elende Schriften« beginnt, lässt wenig Zweifel darüber, in welche Richtung sie gehen wird. In der Folge wird Dante als Paradebeispiel für »vorzügliche[ ]« Schriften genannt, während es von Peter Klassen, dem Verfasser des Buches Baudelaire. Welt und Gegenwelt (1931), dem die Rezension gilt, bloß heißt: »So gibt jeder Satz eines Peter Klassen das sprachliche Widerspiel der Rohheit, mit der der Verfasser treibt, was er für Denken hält.«134 Benjamin vermittelt daraufhin mit Zitaten einen Einblick in Klassens Sprache: »Die Klischees gelten dem ›All von Mächten, Schauern, Wuchten‹ als dessen ›ekstatisch-traumhafter Prophet‹ der ›bluthafte Künstlergeist‹ im ›Weiheraum seiner Dichtung‹ thront«.135 Seine Kritik generiert sich damit aus der »Montage« und der »Häufung von Bildern«,136 wobei in die129 130 131 132 133

Pfohlmann: Weimarer Republik (Anm. 11), S. 115 u. 121. KA/Lesetexte/Bd. 12 Essays/1926–1931/Bücher und Literatur I/5. Benjamin: Programm der literarischen Kritik (Anm. 23), S. 164. Benjamin: Falsche Kritik (Anm. 28), S. 175. Walter Benjamin: Baudelaire unterm Stahlhelm, in: ders.: Gesammelte Schriften (Anm. 23). Bd. III . Hg. v. Hella Tiedemann-Bartels. Frankfurt a. M. 1972, S. 303 f., hier S. 303. 134 Ebd. 135 Ebd. 136 Schmitt-Maaß: Kritischer Kannibalismus (Anm. 37), S. 108.

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sem Fall die Bilder von Klassen stammen. Auch ortet Benjamin in dem Buch einen Hass gegen die Franzosen, wohingegen Baudelaires Wesen von Klassen als »›dem deutschen so verwandtes‹« reklamiert werde – eine Deutung, die einen frankophilen Kritiker vom Rang eines Walter Benjamin geradezu in Rage versetzen musste. Entscheidend für seine Wertung ist jedoch nicht die Frankophobie Klassens, sondern dessen Sprache: »[A]usgedrückt ist das in einem Deutsch, aus welchem man mit langen Sätzen in die fremde Sprache flüchtet.«137 Klassen ist für Benjamin letztlich jedoch nur Exempel des »Verfall[s] einer ganzen Schule«, der Schule Stefan Georges, die zwar »in den Schriften eines Hellingrath oder Kommerell doch auch Vorbilder eines in die Sache eingehenden Forschens gegeben«138 habe, an der er letztlich jedoch kein gutes Haar lässt: Der Schwulst, den sich diese Schule geschaffen hat und gegen welchen Marinismus, Euphuismus, Gongorismus hausbackene Varianten einer Umgangssprache scheinen, hat es schwer, gegen das Deutsche sich durchzusetzen. Aber die Mühe ist lohnend. Denn wer würde solche Bücher noch lesen, wenn da statt des ›Lebenstriebs des leibhaften Daseins, des Eros‹ etwa: Liebe, statt der »Schau des Beginnlichen« etwa: Einsicht in den Ursprung stünde, und wenn er unterm »algabalhaft Vornaturischen« oder dem ›weltvernichtenden Geistblicke des vom Mächtewind umschauerten Paria‹ überhaupt sich das mindeste vorstellen könnte.139

Die »gute Kritik« setzt sich laut Benjamin aus »der kritischen Glosse und dem Zitat«140 zusammen: »Man mache sich zur Maxime: Keine Kritik ohne mindestens ein Zitat aus dem Werk, das besprochen wird.«141 Benjamin geht sogar so weit, die »reine Zitatenkritik«142 zu befürworten. Die Klassen-Rezension kann dafür als symptomatisch gelten. Benjamin berauscht sich darin förmlich am Schwulst der Klassen’schen Sprache und zitiert auch in weiterer Folge noch einmal ausgiebig aus dem besprochenen Buch: Daß ein Autor, welcher dergestalt alle Hände voll zu tun hat, überall nach dem Rechten schauen, aus dem Gestaltenden das »Gestalterische«, aus dem Nutzen den »Nutz«, aus der Kraftlosigkeit eine »Kräftelosigkeit«, dafür dann aus der Menschenweisheit eine »Menschweisheit« machen muß, für Baudelaire nicht viel Zeit übrig behält, ist klar.143

Diese Zeilen, mit einer kräftigen Portion Ironie, ja fast schon Sarkasmus formuliert, bereiten das Schlussresümee vor, das schlicht lautet: »Für die Schule, 137 Benjamin: Baudelaire unterm Stahlhelm (Anm. 133), S. 303. 138 Ebd.; vgl. aber Walter Benjamin: Wider ein Meisterwerk, in: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. III (Anm. 133), S. 252–259, wo sich Benjamin an der Sprache Max Kommerells (in seiner Studie Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik. Klopstock, Herder, Goethe, Schiller, Jean Paul, Hölderlin, Berlin 1928), aber auch an dessen Ideologie abarbeitet. 139 Benjamin: Baudelaire unterm Stahlhelm (Anm. 133), S. 303 f. 140 Benjamin: Programm der literarischen Kritik (Anm. 23), S. 162. 141 Ebd., S. 167 (Herv. im Original). 142 Ebd., S. 162. 143 Benjamin: Baudelaire unterm Stahlhelm (Anm. 133), S. 304.

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die ihn [i. e. Klassen] sich zog, hat die letzte Stunde geschlagen.«144 Was Benjamin an Klassen vermisst, nämlich die Tugend eines »in die Sache eingehenden Forschens«145 und damit »Vollständigkeit, Sachlichkeit und Exaktheit«146 hatte er ein Jahr zuvor in der Baudelaire-Biographie François Porchés mit dem Titel Der Leidensweg des Dichters Baudelaire (1930), übersetzt von Clara Stern, gefunden, über die Benjamin schreibt: »Wenn dem Verfasser vorgeschwebt hat, Baudelaires Leben einem möglichst großen Publikum anständig und zugleich auf eine Art, die dessen Anteil erweckt, zu erzählen, so ist ihm das restlos gelungen.«147 So schlicht kann Lob formuliert sein, während Polemiken doch auch die Sprache des Kritikers herausfordern und an ihre Grenzen bringen. Empfehlungen machen tatsächlich den größeren Teil in Benjamins kritischem Werk aus, obwohl er im Programm der literarischen Kritik (1929/30) formuliert: »Die Gefahr im Loben: Der Kritiker bringt sich um seinen Kredit. Jedes Lob ist, strategisch gesehen, eine Blankobürgschaft.«148 Überdies leide nicht nur der Kritiker, sondern auch der Autor unter dem Lob, denn er werde dadurch »kompromittiert«.149 Nicht zuletzt aufgrund seiner gesellschaftskritischen Ambitionen ist Benjamin jedoch letztlich mehr an der Polemik als am Lob gelegen. »Echte Polemik«, heißt es in den Dreizehn Thesen (1928), »nimmt ein Buch sich so liebevoll vor, wie ein Kannibale sich einen Säugling zurüstet.«150 Die Klassen-Rezension hat zweifellos solch kannibalische Züge, und Benjamin partizipiert mit ihr und anderen Polemiken am »[k]ritische[n] Kannibalismus« der Zwischenkriegszeit.151 Wie die genannte Besprechung gezeigt hat, führt er gekonnt und willig auch die scharfe Klinge im »Literaturkampf«.152 Sie ist Ausdruck seiner Forderung nach mehr »Gegnerschaft« und »Deutlichkeit im Verkehr der Schreibenden miteinander«, nach mehr »Ellenbogenfreiheit und Luftraum«.153 Für einen »Mäzen«, der der »deutschen Dichtung« wirklich »aufhelfen« wolle, notiert er aber in einem 1929 verfassten Glossen-Entwurf folgenden ironischen »Vorschlag[ ]«: Erstellung eines Lunaparks des deutschen Schrifttums. Das Terrain braucht nicht groß zu sein, seine Möglichkeiten sind unbeschränkt: Berg- und Talbahn durch den 144 Ebd. 145 Ebd., S. 303. 146 Walter Benjamin: François Porché. Der Leidensweg des Dichters Baudelaire, in: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. III (Anm. 133), S. 218 f., hier S. 218. 147 Ebd. 148 Benjamin: Programm der literarischen Kritik (Anm. 23), S. 164. 149 Ebd., S. 167. 150 Benjamin: Einbahnstraße (Anm. 30), S. 108; vgl. auch Schmitt-Maaß: Kritischer Kannibalismus (Anm. 37), S. 12. 151 Schmitt-Maaß: Kritischer Kannibalismus (Anm. 37); zu Benjamin vgl. ebd., S. 93–150. 152 Benjamin: Einbahnstraße (Anm. 30), S. 108. 153 Walter Benjamin: Tip für Mäzene, in: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. VI (Anm. 23), S. 168 f., hier S. 169; Herv. im Orig.

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deutschen Roman: beginnend in Prager Kafkagrotten, mit jähem Falle in die Ludwig Wolfsschlucht schießen – an Samiel Fischer und dem Freischütz-Hauptmann vorbei〈.〉154

Die meisten in dem Zitat genannten Proponenten des literarischen Feldes, inklusive Benjamin selbst, wurden in den kommenden Jahren von den politischen Entwicklungen ins gesellschaftliche und kulturelle Abseits manövriert. Statt eines avantgardistischen Lunaparks wurden mit den Reichskammern völkisch-nationale Brutstätten für gesinnungstreue Autorinnen und Autoren eingerichtet. Abschließend gilt es festzuhalten: Polemische Schreibverfahren spielten in den Literaturkritiken der Zwischenkriegszeit eine zentrale Rolle, denn das literarische Feld war ähnlich umkämpft wie das politische. Deshalb war »Parteinahme und Auseinandersetzung«155 das Motto der Stunde. Nach dem einfühlenden »Mitschwingen[ ] und Darauflosschwingen[ ]«,156 der »süß-verringelten Manier«157 der impressionistischen Kritik wurde damit das Genre zweifellos wieder bissiger und die Polemik in gewisser Weise ›gerettet‹. Polemik darf zwar ins Persönliche gehen, wie die zu Beginn dieses Aufsatzes angeführten Definitionen und auch die kritischen Konzepte Musils und Benjamins deutlich gemacht haben, doch rassistisch begründete Polemiken wie diejenigen Fechters und Schlössers übertreten Grenzen, die einzuhalten auch für die Kritik der Zwischenkriegszeit geboten war; sie sind nichts anderes als die publizistische Begleitung und Vorbereitung einer massiven Verfolgung und Vernichtung nicht konformer Schreib- und Denkwesen. Zweifellos dienen Polemiken wie diejenigen Schlössers gegen Horváth der politischen Ausgrenzung und der Durchsetzung der eigenen politischen Ziele, während die Polemiken Musils gegen Wildgans oder Molnár vorrangig die Propagierung der eigenen ästhetischen Konzepte befördern sollten und auf die Umverteilung kulturellen Kapitals zielten. Auch Musil verstand sich als Stratege im »Literaturkampf«, wie Benjamin mit Marx formulierte. Während Benjamin jedoch, vor allem in seinen späten Schriften, sozial-revolutionär dachte und schrieb, wollte Musil einem poetologisch-elitären Literaturkonzept zum Durchbruch und zu mehr Breitenwirksamkeit verhelfen. Schlösser und Fechter stehen dem diametral entgegen, indem sie einem völkisch-nationalen Literaturbegriff Vorschub leisteten und in der Kritik vor allem nach nationalen, nicht nach innerliterarischen Gesichtspunkten urteilten. Sowohl Schlösser als auch Musil erfüllen Benjamins Forderung nach einem Programm der Kritik: völkisch-national vs. poetologisch-elitär bzw. ethisch. Bei allen genannten Kritikern spielen polemische Schreibweisen eine tragende Rolle 154 155 156 157

Ebd. Benjamin: Programm der literarischen Kritik (Anm. 23), S. 164. KA/Lesetexte/Bd. 12 Essays/1926–1931/Bücher und Literatur I/5. Polgar: Wiener Feuilleton (Anm. 22), S. 200.

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in ihrem kritischen Werk. Dennoch bestehen kategoriale Unterschiede zwischen einer Polemik aus der Feder Fechters und Schlössers und einer aus jener Musils oder Benjamins. Während die »Rettung der Polemik« in den Kritiken der Letzteren gelingt, diskreditiert sie sich in den Texten der Ersteren als fratzenhafter Ausdruck eines menschenverachtenden Systems.

Isabel Langkabel, Katharina Prager

Karl Kraus’ polemische Praktiken in der Ersten Republik Abstract: Although many researchers have dealt with Karl Kraus’s polemics, these have never been systematically investigated. Numerous studies have been devoted to the question of the extent to which polemics and satire are connected in Kraus’s work. Kraus himself distinguished between the two terms in his work and claimed a special position for his polemics in the German-speaking tradition. With reference to the theories of Sigurd Paul Scheichl, Michael Pollak, and others, this paper shifts attention to Kraus’s polemical practices outside of his texts and proposes a new perspective on Kraus’s polemics as complex »societal happenings« that take place not only in The Torch but also in lecture halls and courtrooms across Central Europe, and appeal to different public spheres.

Der Schriftsteller Karl Kraus, dessen Werk ebenso vielfältig wie umfangreich ist, wird sehr unterschiedlich dargestellt und beschrieben. Das führt etwa dazu, dass er auf der populären Internet-Plattform Wikipedia als »Publizist, Satiriker, Lyriker, Aphoristiker, Dramatiker, Förderer junger Autoren, Sprachund Kulturkritiker sowie vor allem [als] ein scharfer Kritiker der vorherrschenden Presse« bezeichnet wird.1 In vergleichsweise wenigen Fällen hat man Kraus auch als Polemiker apostrophiert. In der wissenschaftlichen Monokultur um Kraus war die Frage, welche dieser Bezeichnungen an erster und damit wichtigster Stelle steht, lange umstritten. Der britische Kraus-Forscher Edward Timms setzte seit den 1980er Jahren Standards, nicht zuletzt durch den Titel seines zweibändigen Grundlagenwerkes zu Kraus, in dem er ihn als Satiriker der Apokalypse bezeichnete.2 Karl Kraus gilt demnach vor allem als »Satiriker«. Das heißt freilich nicht, dass es nicht nach wie vor alternative Perspektiven gibt, die sich auf andere Formen, Genres und Praktiken in Kraus’ Werk konzentrieren und diese in den Mittelpunkt der Betrachtung stellen – etwa seine Sprachkritik, seine Medienanalyse oder seine Polemik. 1986 galten die Kraus’schen Polemiken aus literaturwissenschaftlicher Sicht nach Helmut Arntzen als »bis heute unbewältigt«3 – ein Befund, der u. E. 1 2 3

https://de.wikipedia.org/wiki/Karl_Kraus (aufgerufen am 11. 12. 2020) Vgl. Edward Timms: Karl Kraus. Apocalyptic Satirist. Culture and Catastrophe in Habsburg Vienna. New Haven u. a. 1986; Edward Timms: Karl Kraus. Apocalyptic Satirist. The PostWar Crisis and the Rise of the Swastika. London 2005. Helmut Arntzen: Die Funktion der Polemik bei Karl Kraus, in: Karl Kraus in neuer Sicht/ Kraus in a new perspective. Londoner Kraus-Symposium. Hg. v. Sigurd Paul Scheichl u. Edward Timms. München 1986, S. 46–73, hier S. 48.

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immer noch zutrifft. Die Schwierigkeit bestehe vor allem darin, dass in Polemiken kaum auf den »Allgemeinheitscharakter der Literatur« abzuheben sei.4 Dass das Polemische in den über 22 500 Seiten der Fackel und dem darüber hinausgehenden Druckwerk von Kraus sowie in seinen 700 Vorlesungen nur schwer eindeutig zu bestimmen ist, erschwerte zusätzlich eine grundlegende Auseinandersetzung mit der Polemik bei Kraus. Im Folgenden werden nun die Verfahren seiner Polemik untersucht. Mit Blick auf die Vorlesungen und die Anwaltsakten von Kraus aus der Zeit der Ersten österreichischen Republik, die sein Rechtsanwalt Oskar Samek mit ins New Yorker Exil nahm und die nach seinem Tod 1959 in die Wienbibliothek im Rathaus kamen, sollen neue Sichtweisen auf die Funktionen, Methoden und Praktiken des Polemikers Kraus vorgeschlagen werden.

1. Thesen zur Polemik und Satire bei Karl Kraus 1913 erklärte Kraus in der Fackel: »Ich mache kleine Leute durch meine Polemik so groß, daß sie nachher würdige Objekte für meine Polemik sind und mir kein Mensch einen Vorwurf machen kann.«5 Fünf Jahre später druckte er denselben Aphorismus in seiner Sammlung Nachts wieder ab – durch die Änderung mehrerer Wörter modifizierte er ihn aber: »Ich mache kleine Leute durch meine Satire so groß, daß sie nachher würdige Objekte für meine Satire sind und mir kein Mensch mehr einen Vorwurf machen kann.«6 Der Frage, ob Polemik und Satire bei Kraus »austauschbare Synonyme« seien,7 wie Dietmar Goltschnigg aufgrund der Änderung von »Polemik« zu »Satire« vermutet, oder ob sie zwar untrennbar verbunden, aber doch unterschieden seien, wurde in der Forschung immer wieder nachgegangen. Helmut Arntzen wies als erster darauf hin, dass die »Kraus’sche Polemik [. . .] von der Satire nicht zu trennen« sei.8 Er versuchte, verschiedene »Arten des Polemisierens« und unterschiedliche »Funktionen der Polemik« bei Kraus herauszuarbeiten. Edward Timms wiederum formulierte – daran anknüpfend, dass Kraus selbst darauf bestand, Polemik und Satire zu unterscheiden – folgende Bestimmungen: 4 5 6 7

8

Ebd. Karl Kraus: Nachts, in: Die Fackel (September 1913), Nr. 381–383, S. 69–74, hier S. 71. Karl Kraus: Nachts. Leipzig 1918, S. 35. Dietmar Goltschnigg: Karl Kraus im Urteil literarischer und publizistischer Kritik. Texte und Kontexte, Analysen und Kommentare. Band II . 1945–2016. Berlin 2017, S. 75. Die Änderung von »Polemik« zu »Satire« bedeutet nicht zwingend, dass Kraus diese Wörter als Synonyme verstand, sondern sie kann darauf hindeuten, dass sich seine Auffassung von Polemik in dem Kontext geändert hat. Helmut Arntzen: Karl Kraus und seine Gegner. Zur Funktion der Polemik in seinem Werk, in: Literatur und Kritik 20 (1985), S. 167–187, hier S. 169.

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Polemik erfordert, daß die im Text dargestellte Gestalt »mit der Person kongruent sei« (F 267–268,5). Der Angriff muß auf verifizierbaren Belegen beruhen. Jede Polemik wurzelt somit in einer spezifischen historischen Situation und ist für spätere Leser eher von dokumentarischem als literarischem Interesse. Und zu ihrer Bewertung ist ihre Wirkung in der gegebenen Situation in Rechnung zu stellen. Polemische Kämpfe werden ›gewonnen‹ und ›verloren‹. [. . .] Bei der Satire steht indes nicht mehr der Angriff auf eine einzelne Person im Vordergrund. Der Satiriker schreibt über ein Thema und nicht gegen eine Person. Es mag bei Kraus’ Satiren so aussehen, als handelten sie ebenso wie seine Polemiken von lebenden Zeitgenossen, die namentlich genannt werden. Doch die Gestalten seiner Satire sind keine individuellen Angriffsziele mehr, die um ihrer selbst willen Bedeutung haben. Sie dienen nur als Anreiz für die Phantasie und werden bedeutsam erst durch das, was der Autor aus ihnen macht.9

Die Schwierigkeit, beide Begriffe an einem Kraus’schen Text erfolgreich zu differenzieren, gründet in der von Timms konstatierten außergewöhnlichen Textproduktion bei Kraus. Seine Satire erweise sich »als eine Art des Schreibens, die ihrem Wesen nach schöpferisch oder vielmehr ›nachschöpferisch‹« sei und reale Personen in eine »Dimension des Fiktionalen« projiziere.10 Obwohl seine Satire immer wieder die Kriterien einer Polemik erfüllte, begriff Kraus sich selbst zuallererst als Satiriker sowie als Künstler. Außerdem hob er den genuin literarischen Wert seiner Polemiken hervor.11 Auffällig bleibt, dass Kraus’ Werk auf diese Weise enger mit den historischen Personen und Ereignissen seiner Zeit verbunden ist als das vieler anderer bekannter Satiriker. Kurt Krolop verweist in diesem Kontext darauf, dass der »Stoff der Polemik« »ein gebundenes Objekt« sei, »ein konkreter Sachverhalt, der verändert werden soll«, der »Stoff der Satire dagegen [sei] nicht die Wirklichkeit, sondern die Möglichkeit«.12 Nach Krolop könne die Kraus’sche Satire als »Darstellung des Möglichen im Material des Wirklichen«13 gelten. Man könnte nun einwenden, dass auch in der klassischen Satire oft reale Personen verschlüsselt und fiktionalisiert dargestellt werden. Auch Kraus tut dies etwa in seinem Theaterstück Die Unüberwindlichen (1928). In der Fackel verzichtet er aber anscheinend ganz auf die Verschlüsselung durch Fiktionalisierung und kann dennoch behaupten, dass es ihm nicht um die historischen Personen, sondern um Zeittypen gehe. Es ist also festzuhalten, dass Kraus fast immer an der Schnittstelle von Polemik und Satire arbeitet. Was wäre aber, sehen wir von Kraus einen Moment ab, im Allgemeinen unter ›Polemik‹ zu verstehen? 9 10 11 12 13

Edward Timms: Karl Kraus. Satiriker der Apokalypse. Leben und Werk 1874–1918. Aus dem Englischen v. Max Looser u. Michael Strand. Wien 1995, S. 82. Ebd., S. 82–83. Vgl. etwa Karl Kraus: Der größte Schuft im ganzen Land . . . (Die Akten zum Fall Kerr), in: Die Fackel (September 1928), Nr. 787–794, S. 1–208, hier S. 83. Kurt Krolop: Sprachsatire als Zeitsatire bei Karl Kraus. Neue Studien. Berlin 1987, S. 61. Ebd., S. 63.

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Sigurd Paul Scheichl weist darauf hin, dass Polemik keine Gattung bezeichnet, sondern eine »argumentierende Kritik am Gegner«, bestehend aus »aggressiv formulierte[n] Texte[n] oder Textteile[n], die Bestandteil eines meist personalisierten Streits sind«.14 Scheichl hält fest, dass bei Polemiken oft nur eine Seite des Streits überliefert ist. Er stellt ferner klar, dass sich das polemische Subjekt in einem Text auch als Rolle auffassen lässt15 und dass Polemik stets über die Kontrahenten hinaus »auf das Publikum bezogen [ist], das zum Zeugen der Streitszene gemacht wird«.16 Auch Andreas Stuhlmann hat in seiner umfangreichen Monografie über die literarische Polemik bei Heinrich Heine und Karl Kraus versucht, den Terminus ›Polemik‹ zu fassen und kommt zu dem Schluss, dass Polemik nicht als »übergeordnete Gattung von Texten zu verstehen ist«, sondern polemische Verfahren »in verschiedenen Gattungen aufscheinen«.17 Der historische Begriff ›Polemik‹ hat seinen Ursprung in der Theologie und bezeichnet dort eine »Disziplin, Lehre oder Kunst des richtigen (theologischen oder wissenschaftlichen) Widerlegens und Streitens«;18 er stammt aus einem theoretisch-didaktischen Zusammenhang. Erst im 18. Jahrhundert wurde der Begriff auf andere Kommunikationsbereiche, vor allem die Publizistik, angewandt.19 Walther Dieckmann weist darauf hin, dass der Begriff in der Philologie »kaum als definiertes Fachwort angesehen werden«20 kann, da unterschiedliche Vorstellungen existieren, was Polemik genau bezeichnet. Dass der Terminus ›Polemik‹ so schwer fassbar ist, liegt sicherlich an der Überführung des Begriffs aus dem ursprünglich theologischen in den publizistisch-kommunikativen Bereich. Während die Satire von jeher eine literarische Gattung und daher stets im Bereich der Dichtung angesiedelt war, bezeichnete ›Polemik‹ zunächst nur die Kunst des Widerlegens – erst sehr viel später wurde der Begriff auch als Genre oder praktische Tätigkeit verstanden. Dieckmann bemerkt hierzu, dass einige Autoren ihre Texte als Satire bezeichnen, um sich auf die Freiheit der Kunst berufen zu können. Es handle sich dabei auch um ein taktisches Verfahren, das den »Verdacht des 14 15

16 17 18 19 20

Sigurd Paul Scheichl: [Art.] Polemik, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Bd. III . Gem. mit Georg Braungart u. a. hg. v. Jan-Dirk Müller. Berlin, New York 2007, S. 117–120, hier S. 117. Vgl. ebd. Gerade Kraus’ Selbstinszenierungen wurden auch andernorts vielfach festgehalten, vgl. etwa das ›polemische Ich‹ bei Gunild Feigenwinter-Schimmel: Karl Kraus. Methode der Polemik. Diss. Univ. Basel 1972, oder das ›satirische Ich‹ bei Brigitte Stocker: Rhetorik eines Protagonisten gegen die Zeit. Karl Kraus als Redner in den Vorlesungen 1919 bis 1932. Wien 2013. Scheichl: Polemik (Anm. 14), S. 118. Andreas Stuhlmann: »Die Literatur – das sind wir uns unsere Feinde«. Literarische Polemik bei Heinrich Heine und Karl Kraus. Würzburg 2010, S. 21. Walther Dieckmann: Streiten über das Streiten. Normative Grundlagen polemischer Metakommunikation. Tübingen 2005, S. 9. Vgl. ebd., S. 13. Ebd., S. 23.

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persönlich motivierten Angriffs« abzuwenden versuche.21 Wie Dieckmann hebt auch Gunther Martens zu Recht hervor, dass sich Kraus’ Werk nicht dazu eignet, an ihm den Unterschied von Satire und Polemik aufzuzeigen.22 Er bemängelt zudem, dass in den bisherigen Betrachtungen der polemischen Texte von Kraus ihre konkreten Anlässe und Bezüge zum »gesellschaftlichpolitischen Umfeld«23 zu sehr im Vordergrund stünden. Wie vor ihm schon Sigurd Paul Scheichl hebt er die rhetorischen Strukturelemente der Polemiken hervor. Scheichl und Martens skizzieren als Besonderheiten nicht nur die Kraus’sche Kritik am Sprachgebrauch – teils durch »kommentarloses Zitieren«, teils durch taktische Montage und Häufung der Gegnerdiskurse –, sondern auch seinen Einsatz von Parodie und Ironie bis hin zur auktorialen Eigenprofilierung und zum Appell.24

2. Kraus’ Auseinandersetzung mit und Auffassung von Polemik In der Fackel äußerte sich Kraus sowohl zur Satire als auch zur Polemik; er unterschied dabei zwischen den beiden Termini. Dies zeigt sich nicht nur anhand der anfangs erwähnten Änderung des Wortes »Polemik« in »Satire« in der Sammlung Nachts. Auch in anderen Fackel-Passagen wird schnell klar, dass Kraus die Begriffe keineswegs als Synonyme verstand. Es kann nun nützlich sein, Kraus’ Verständnis von Polemik anhand seiner Äußerungen genauer zu betrachten, da so zumindest die Position des Autors verständlicher wird. Allerdings wollen wir – Dieckmann folgend – die Auffassung des Autors keineswegs als allein maßgebend für die Einordnung seiner Texte verstehen. Immerhin behauptete er: Was »Polemik« ist und was sie soll, weiß ein Autor, der an sich größere Anforderungen stellt als seine Anhänger, besser als man es in Deutschland je gewußt hat, wo literarhistorische Lüge polemische Muster aufzählt, daß sich Gott der Überwinder erbarme, wie Heines gegen Platen und Nietzsches gegen Strauß.25

Kraus hob seine Polemik nicht nur von der deutschsprachigen Tradition, sondern auch von der zeitgenössischen Praxis ab, indem er diese fortwährend 21 22

23 24

25

Ebd., S. 31. Vgl. ebd. sowie Gunther Martens: Zur Rhetorik und Pragmatik des polemischen Gedächtnisses. Am Beispiel von Karl Kraus’ Fackel-Text Der Blitz hat sie getroffen, zerschmettert sind sie, nicht gedacht sollen sie werden. Eine Orgie (1911), in: Sprache und Literatur 39 (2008), H. 1, S. 4–24, hier S. 7. Martens: Rhetorik und Pragmatik (Anm. 22), S. 4. Sigurd Paul Scheichl: Die politischen Polemiken von Karl Kraus. Am Beispiel von »Hüben und Drüben«, in: Staat und Gesellschaft in der modernen österreichischen Literatur. Hg. v. Friedbert Aspetsberger. Wien 1977, S. 45–63, hier S. 53 f.; Martens: Rhetorik und Pragmatik (Anm. 22), S. 22. Karl Kraus: Warum die Fackel nicht erscheint, in: Die Fackel (Juli 1934), Nr. 890–905, S. 1–316, hier S. 99.

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kritisierte. Er warf historischen und zeitgenössischen Schriftstellern vor, eine falsche Vorstellung vom wahren polemischen Schreiben zu haben, und dachte darüber nach, eine Untersuchung zur Polemik im deutschen Sprachraum vorzunehmen: Wenn ich einmal dazugelangte, wollte ich eine Untersuchung anstellen, gleichermaßen aus der Sprachlehre heraus wie aus der Zeiterkenntnis, auf welcher Grundlage tiefster Humorlosigkeit die Auffassung zustandegekommen ist, die man im deutschen Sprachgebiet von Polemik hat, eine Auffassung, so trostlos wie die Polemik selbst, die man da übt und goutiert.26

Im deutschen Sprachraum werde die Polemik als »abwegige[ ] und unschickliche[ ] Betätigung ›großer Geister‹, die ›doch Besseres zu tun hätten‹, als miteinander coram publico zu zanken«,27 missverstanden. Dabei missbilligte Kraus vor allem Beschreibungen wie »Literatengezänk«28 und ›durch den Kakao ziehen‹29 oder aber die Auffassung, mit der Polemik würden lediglich private Dispute in der Öffentlichkeit ausgetragen.30 Theoretisch forderte Kraus von der Polemik, dass sie nicht nur »Meinungsverschiedenheiten zur Sprache bringt, sondern über sie hinaus zur Sprache wird«.31 Praktisch waren ihm hierbei zum einen antike und internationale Vorbilder wertvoller als zeitgenössische deutschsprachige Polemiken – wie Gilbert Carr vielfach nachgewiesen hat.32 Zum anderen geben wohl am ehesten Kraus’ eigene polemische Texte – ihre Besonderheit liegt vor allem im denunzierenden Zitieren des Gegners – eine Vorstellung davon, worauf er konkret abzielte. Kraus war sich dessen bewusst, dass seine Praktiken der Polemik im deutschen Sprachraum ungewöhnlich waren: »Denn das macht ja eben den Unterschied zwischen meiner Polemik und der meiner Gegner, daß die meine schon mit der Zitierung der gegnerischen auskommt.«33 Die Intention dieser Technik besteht darin, dass – nach Kraus – seine Polemik »immer auch schon den Schlag auf die Antwort enthält, die auf sie erfolgt«.34 Kraus provoziert somit nicht nur seinen Gegner zu einer Antwort, sondern die Antwort bestätigt bestenfalls die in der Provokation dargestellte Kritik.35 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35

Karl Kraus: Der größte Schriftsteller im ganzen Land, in: Die Fackel (Dezember 1928), Nr. 795–799, S. 67–104, hier S. 97. Ebd., S. 96. Ebd. Vgl. Karl Kraus: Von der Polemik, in: Die Fackel (Februar 1930), Nr. 827–833, S. 47–52, hier S. 52. Vgl. Karl Kraus: Der größte Schriftsteller im ganzen Land (Anm. 26), S. 96. Ebd., S. 97. Vgl. Gilbert J. Carr: Demolierung – Gründung – Ursprung. Zu Karl Kraus’ frühen Schriften und zur frühen Fackel. Würzburg 2019, S. 169–196. Karl Kraus: Ein Friedmensch (Oktober 1926), in: Die Fackel, Nr. 735–742, S. 70–95, hier S. 93. Karl Kraus: Shakespeare hat alles vorausgewußt (Mai 1925), in: Die Fackel, Nr. 686–690, S. 1– 18, hier S. 11. Vgl. Sigurd Paul Scheichl: Prozesse als Bestandteil des Werks von Karl Kraus – Prozessakten als Quellen zu seinem Wirken. In: Recht – Philosophie – Literatur. Festschrift für Reinhard

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Interessant ist in diesem Zusammenhang Kraus’ 200. Wiener Vorlesung, in der er am 1. Januar 1925 über seine polemische und satirische Schreibweise sprach.36 Den Vorwurf, er sei ein »Niederreißer«, der einen »Lebenskampf« »aus persönlichem Grund zu persönlichem Zweck«37 gegen seine Zeitgenossen führe, sucht er darin zu widerlegen. Seine satirische Methode sei es, real existierende Personen in die »Romanfiguren [s]einer Glossenwelt«38 zu transformieren. Kraus demonstriert diese Schreibweise im Folgenden genauer, indem er sich auf seine Inszenierung einer Figur aus Die letzten Tage der Menschheit, die Kriegsjournalistin Alice Schalek, bezieht: Er habe mit ihren eigenen Worten »den unsagbarsten Schauder, den wir erlebt haben, zur Gestalt«39 gebracht. Gerade an »der Schalek« wird aber sichtbar, wie problematisch es sein kann, wenn Kraus sie als Typus des Kriegsjournalisten (!) zu einem Teil seiner »Glossenwelt« macht und dabei historische Geschlechterhierarchien ausblendet. Eine Kriegsjournalistin, die mehrfach Genderideologien überschritt, war kein Typus und störte Kraus offenbar persönlich in seinem Frauenbild.40 Während Kraus also in dieser Vorlesung beispielhaft auf Objekte seiner Satire und Polemik zurückblickt und seine Verfahren beschreibt, wendet er sich immer wieder an sein Publikum, bezieht es in seine Rede mit ein und verweist dabei auf die Notwendigkeit der »Hörenden«: »Wenn das gedruckte Wort auch ohne Leser würde und wäre, die Hörer gehören zum Vortrag, der ohne sie nicht wäre, nicht wegen des fehlenden Ohrs, sondern wegen des fehlenden Elements.«41 Das fehlende Element meint mehr als nur die Fähigkeit des Hörens, Kraus spielt hier offenbar auf die drei Komponenten einer Polemik an: das polemische Ich (Angreifer), das polemische Objekt (Angegriffener) und die polemische Instanz (Rezipient).42 Wenn der polemische Kampf gewonnen werden soll, kommt dem Publikum eine tragende Rolle zu. Interessanterweise konzentriert Kraus sich im weiteren Verlauf nicht mehr auf die in der Vorlesung Anwesenden, sondern auf jene möglichen Rezipienten, die seine Vorlesungen nie besucht haben: die Journalisten, Literaten und Dichter Wiens. Seine Vorlesungen, vor allem jene, in denen Kraus aus frem-

36 37 38 39 40

41 42

Merkel zum 70. Geburtstag. Hg. von Jan Christoph Bublitz u. a. Berlin 2020, S. 13–22, hier S. 13. Vgl. Karl Kraus: Zweihundert Vorlesungen und das geistige Wien, in: Die Fackel (Januar 1925), Nr. 676–678, S. 47–68. Ebd., S. 50 f. Ebd., S. 51 f. Ebd., S. 52. Margarita Pazi: »Es war die falsche Lanze . . .«. Der Polemiker Karl Kraus, in: dies.: Staub und Sterne. Aufsätze zur deutsch-jüdischen Literatur. Göttingen 2001, S. 128–140, hier S. 129, wirft Kraus vor, dass seine Polemiken zu oft auf persönlichen Motiven beruhten. Und sie ergänzt, dass er seine Irrtümer, die »nicht selten auf subjektiven Ursachen basierte[n]«, nie zugab. Karl Kraus: Zweihundert Vorlesungen und das geistige Wien (Anm. 36), S. 54. Vgl. hierzu auch Dirk Rose: Polemische Transgression. Karl Kraus zwischen Schrift und Aktion, in: Studia theodisca 21 (2014), S. 5–29, hier S. 7 f.

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den Texten rezitiert, seien eine kulturelle Besonderheit, die die Teilnahme an einem »geistige[n] Erlebnis«43 ermögliche. War die Vorlesung noch zu Beginn eine Reflexion seiner polemisch-satirischen Schreibweise, wird sie nun eine Polemik gegen die intellektuelle und künstlerische Öffentlichkeit Wiens. Noch überraschender ist es allerdings, wenn er zum Schluss erneut auf und über das anwesende Publikum zu sprechen kommt: Wenn es überhaupt ein geistiges Wien gäbe, sei es im Saal zum Zeitpunkt des Vortrages versammelt. Mit diesen letzten Sätzen, die sich zu einer Laudatio auf seine ZuhörerInnen steigern, entwirft Kraus ein suggestives Gegenbild zum eingangs erwähnten »Niederreißer«.

3. Abseits der Schriftlichkeit Kraus’ Polemiken waren fast immer in ein »Netz von Texten« eingebunden, die von ihm gesprochen und geschrieben wurden. In dieser Verflechtung von Texten wiederum wurde auf viele weitere Texte (Zeitungen, ältere und neuere Literatur, politische Äußerungen etc.) Bezug genommen. Außerdem gab Kraus ihnen meist ein Leitmotiv – etwa »Hinaus aus Wien mit dem Schuft« im Falle des Zeitungsmoguls Emmerich Békessy, des Herausgebers der Stunde, der Boulevardzeitungen in Österreich einführte.44 Seine Methode bestand – wie schon oben erwähnt – darin, den Gegner vornehmlich zu zitieren, wobei er diese Zitate durch Überführung in den Kontext der Fackel und kommentierende Rahmung gegen ihre Urheber wandte. Sein Anliegen war es, von der ersten bis zur letzten Fackel »die Welt in Ordnung zu bringen«.45 Kraus gab sich damit einen kulturpolitischen Auftrag, der immer wieder auch ein rein politischer wurde. Schon in den ersten Heften der Fackel erklärte er, seine Zeitschrift als Ersatz für die in Österreich fehlende »Popularklage«46 eingeführt zu haben. Besonders in der Zeit der Habsburgermonarchie fand in der Fackel ein fortwährender kulturpolitischer Gerichtsprozess statt, während Kraus vor Gericht kaum Prozesse anstrengte. Erst in der Ersten Republik begann er, die Gerichte fortwährend miteinzubeziehen.47 43 44 45 46

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Karl Kraus: Zweihundert Vorlesungen und das geistige Wien (Anm. 36), S. 68. Vgl. Scheichl: Prozesse als Bestandteil des Werks von Karl Kraus – Prozessakten als Quellen zu seinem Wirken. (Anm. 35), S. 14–16. Ebd., S. 22. Karl Kraus: Eine Taussig-Bahn (Juli 1900), in: Die Fackel, Nr. 46, S. 10–20, hier S. 20; vgl. Reinhard Merkel: Strafrecht und Satire im Werk von Karl Kraus. Frankfurt a. M. 1998. Merkel hat Kraus’ satirisches Verfahren in der Fackel im Zusammenhang mit dem Strafrecht systematisch untersucht. Vgl. Brigitte Stocker: Karl Kraus in der »Sphäre des Rechts«. Zur Bedeutung der Prozessakten der Kanzlei Oskar Samek, in: Geist versus Zeitgeist. Karl Kraus in der Ersten Republik. Hg. v. Katharina Prager. Wien 2018, S. 126–139, hier S. 127.

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In der Fackel gelang es Kraus, sich seine »Fundamente der Kritik« selbst zu erschaffen.48 Bertolt Brecht sprach in diesem Zusammenhang davon, dass Kraus der Aufbau eines »Raumes« gelungen sei, »in dem alles zum Gerichtsvorgang wird«.49 In diesem »Raum« sprachen Angriffe gegen ihn plötzlich für ihn. Diesen seltsamen »Raum« beschrieben andere auch als ›Sphäre‹ oder ›Souveränität‹.50 Brechts Raum-Metapher zeigt eindringlich, wie Kraus für viele als unabhängige intellektuelle Instanz wirken konnte. Hier – umgeben von ›seinen‹ LeserInnen und ZuhörerInnen – wurde die Funktion seines kommentarlosen Zitierens, sein Schweigen und Beharren auf persönlicher Verantwortung verstanden. Hier galt sein »scheinbar interesseloser Kampf um die Wahrheit«,51 den er im Gegensatz zu seinen Gegnern, denen er einen verantwortungslosen Sprachgebrauch vorwarf, mittels eines ausgeprägten Sprachbewusstseins führte. Robert Musil und Elias Canetti haben die problematischen Aspekte dieser Kraus’schen Wirkung hingewiesen, wenn sie von »geistige[r] Diktatorenverehrung«52 oder von Kraus als »Hitler der Intellektuellen«53 sprachen. Mit Helmut Arntzen könnte man jenen, die Kraus als autoritär einstuften, entgegnen, dass er in seinen Polemiken »die prinzipielle Beziehung von Moral und Sprache«54 aufgezeigt habe, indem er die »sprachbewusstlose Rede« durch Zitierung seiner Gegner dokumentierte.55 Arntzen hob hervor, dass für Kraus das Festhalten an historischen Personen ein Festhalten an »persönlicher Verantwortung«56 bedeutet habe und er so bis zuletzt gegen die gesellschaftlichen Entwicklungen hin zur Barbarei des Nationalsozialismus vorgegangen sei.57 Es gibt freilich auch andere Positionen. Dirk Rose schreibt, dass bei Kraus die »mediale Transgression« von der Schrift hin zur Aktion, hin zu gewaltsa48 49 50

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Arntzen: Die Funktion der Polemik (Anm. 3), S. 65. Diese Feststellung ist im Gegensatz zum Konsens, Kraus sei von seinen Angriffsobjekten abhängig, eine positive Beschreibung des Kraus’schen Schreibprozesses. Bertolt Brecht, zit. nach: Kurt Krolop: Vom »Kampfblatt« zur »Kriegsfackel«. Die Werdejahre des »Anti-Mediums«, in: »Was wir umbringen« – »Die Fackel« von Karl Kraus. Hg. v. Heinz Lunzer, Victoria Lunzer-Talos u. Marcus G. Patka. Wien 1999, S. 8–27, hier S. 24. Katharina Prager: »Ich bin ja nur deshalb ein Lump, weil der andere sich ärgert«. Vom Schimpfen, Schmähen und Polemisieren rund um Karl Kraus. Mit neun Schmähbriefen aus dem »Museum der Dummheit«, in: »Erledigungen«. Pamphlete, Polemiken und Proteste. Hg. v. Marcel Atze u. Volker Kaukoreit. Wien 2014, S. 138–171, hier S. 141. Michael Pollak: Aktionssoziologie im intellektuellen Feld. Die Kämpfe des Karl Kraus, in: Streifzüge durch das literarische Feld. Hg. v. Louis Pinto u. Franz Schultheis. Konstanz 1997, S. 235–282, hier S. 252. Robert Musil: Tagebücher. Hg. v. Adolf Frisé. Hamburg 1976, S. 896. Elias Canetti (1934) in: »Aus großer Nähe«. Karl Kraus in Berichten von Weggefährten und Widersachern. Hg. v. Friedrich Pfäfflin. Göttingen 2008, S. 306. Arntzen: Die Funktion der Polemik (Anm. 3), S. 63. Ebd., S. 72. Ebd. Vgl. ebd., S. 70–73.

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men Reaktionen »konzeptionell in [seinem] polemischen Schreiben angelegt sei«.58 Mit Walter Benjamin argumentiert Rose, dass solch eine »transgressive Polemik, die auf physische Reaktionen abzielt«, einer »politischen Handlungslogik vor[arbeitet], bei der die Aktion vollständig an die Stelle der Schrift treten und sie als überflüssig erscheinen lassen kann«.59 Kraus’ Polemik sei von der »radikalen politischen Rhetorik« (des Nationalsozialismus) in den Dienst genommen und zwangsläufig weiterentwickelt worden, folgert Rose und setzt Kraus so in die »methodische Nähe« von Joseph Goebbels.60 Ähnlich sah es 1977 bereits Marcel Reich-Ranicki, der Kraus und den Krausianern vorwarf, durch ihren gnadenlos verfolgenden Hass und ihre Sehnsucht nach einer absoluten Autorität ihr »Scherflein« zum Nationalsozialismus beigetragen zu haben.61 Gegenstimmen – von Friedrich Jenaczek, Helmut Arntzen, Edwin Hartl und Werner Kraft – setzten allerdings weiterhin Kraus’ aufklärerische Funktion dagegen und meinten, dass es gerade die schwache kritische Tradition, die fehlende Wertschätzung für Sprache und Schrift und die Abwehr der Polemik im deutschsprachigen Raum war, auf die der Nationalsozialismus aufbauen konnte.62 Zwischen diesen beiden pointierten Positionen bewegt sich bis heute die Debatte um den Polemiker Kraus. Wie auch immer man sich hier positioniert, es bleibt doch unumstritten, dass es Kraus gelang, eine polarisierende Position im intellektuellen Feld Österreichs einzunehmen, die der Sozialwissenschaftler Michael Pollak als »einzigartig in der Geschichte des Intellektuellen« bezeichnet.63 Michael Pollak interessiert sich bei seiner Frage nach Kraus als »Institution im intellektuellen Leben Wiens« nicht so sehr für die »Rekonstruktion seines theoretischen Denkens« oder einzelner Aussagen, sondern für seine »Rolle« des »Kritikers« oder »Enthüllers« des »intellektuellen Feldes« und seiner »charakteristischen Spielregeln«.64 Für Pollak spricht gerade Kraus’ Gebrauch von Eigennamen, seine persönlichen Polemiken, seine häufig moralisierende Tonart, sämtliche stilistische Eigenarten gegen eine Einordnung als intellektuellen Theoretiker. Seine Schriften legen vielmehr eine Lesart im Sinne der AktionsSoziologie nahe, beispielsweise wenn sie Provokationstechniken verwendeten, die geeignet waren, mit den Spielregeln der Höflichkeit zu brechen [. . .]. Deshalb ist die 58 59 60 61 62 63 64

Rose: Polemische Transgression (Anm. 42), S. 6. Ebd., S. 27. Ebd., S. 23. Dirk Roses Idee von Kraus’ Überschreitung der Schriftlichkeit erweist sich durchaus als produktive Arbeitshypothese, die allerdings auch zu anderen Schlüssen führen kann, die wir weiter unten ausführen. Vgl. Marcel Reich-Ranicki: Karl Kraus, sein Haß, seine Liebe, in: Die Belagerung der Urteilsmauer. Hg. v. Franz Schuh u. Juliane Vogel. Wien 1986, S. 169–178. Prager, Katharina: »Ich bin ja nur deshalb ein Lump, weil der andere sich ärgert« (Anm. 50), S. 139 f. Pollak: Aktionssoziologie im intellektuellen Feld (Anm. 51), S. 235. Ebd., S. 237 u. 275 f.

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bedeutende Zahl an Gerichtsprozessen, die Kraus ausgelöst hat und deren Gegenstand er gewesen ist, nicht isoliert von seinen Schriften zu sehen, da sie ihm als Mittel zur Demonstration und Verifikation seiner Argumente dienten.65

Pollak skizziert nun einerseits Kraus’ »spezifische Position« und die »Exaltierung des individuellen Kampfes« und andererseits die Veränderungen des literarischen Milieus durch den Ersten Weltkrieg und die Erste Republik. Als ausführlicheres Beispiel für die Kraus’sche Praxis einer ›Aktions-Soziologie‹ zieht Pollak dessen fingierte Petitionen an Zeitungsredaktionen aus dem Jahr 1919 heran. Autorinnen und Autoren unterzeichneten diese ›Petitionen‹ und Kraus konnte so ihren intellektuellen Opportunismus aufzeigen.66 Interessant wird es nun, wenn Kraus in seinen Gerichtsprozessen, auf die Pollak nur hinweist, das intellektuelle Feld verlässt. Kraus versuchte schon ab 1910, seine Wirkung zu verstärken und zu erweitern, und begann zu dieser Zeit, aus eigenen sowie fremden Texten zu lesen; diese Vorlesungen wurden rasch zu einem Forum, in dem fast alle Polemiken vor ihrer Publikation in der Fackel vorgetragen wurden.67 Damit blieb er aber noch innerhalb einer Kulturszene und die Spielregeln des Feldes galten auch hier. Das änderte sich jedoch, als er ab 1922 mit seinem Anwalt Oskar Samek in Österreich, Deutschland und der Tschechoslowakei zudem auch jene Personen und Institutionen gerichtlich belangte, gegen die er in der Fackel und in seinen Reden polemisierte. Schließlich appellierte Kraus in der Ersten Republik auch mit Plakaten gegen seine Gegner an eine noch größere Öffentlichkeit als die LeserInnenschaft seiner Zeitschrift sowie das Publikum des Vortragssaales oder des Gerichts. All diese Elemente verbanden sich zu »Happenings mit soziologischem Erkenntniswert« – so umschrieb Scheichl Pollaks Begriff der ›Aktionssoziologie‹, der ihm »schon deshalb angemessen [erscheint], weil in den zwanziger Jahren so gut wie alle großen Polemiken von Kraus [. . .] zuerst ein gesellschaftliches und akustisches Ereignis gewesen sind.«68 In diesen Happenings verließ Kraus nicht nur seinen »Raum«, sondern auch das intellektuelle Feld. Das hatte zur Folge, dass seine Methoden nicht mehr griffen, die Spielregeln sich änderten und die Instanzen im politischstaatlichen Feld auch zu anderen Urteilen kamen als er selbst.

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Ebd., S. 237. Vgl. ebd., S. 257–260. Scheichl: Die politischen Polemiken (Anm. 24), S. 45 f. Sigurd Paul Scheichl: Zur Struktur Krausscher Polemiken – Am Beispiel »Innsbruck und Anderes« (1920), in: Literatur und Kritik 22 (1987), S. 131–140, hier S. 133.

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4. Aus der Fackel in die Gerichts- bzw. Konzertsäle und wieder zurück in die Fackel Systematisch und die einzelnen polemischen Praktiken in Beziehung setzend wurden diese Vorgänge – die man auch als polemische Kämpfe oder Kampagnen von Karl Kraus bezeichnen kann – noch nicht erforscht. Um Kraus’ polemisches Verfahren zu fassen und zu analysieren, hat man sich in der Sekundärliteratur auf eine Vielzahl unterschiedlicher Beiträge und Reden gestützt. Das Spektrum reicht von einzelnen Texten aus polemischen Zusammenhängen (wie Das übervolle Haus jubelt den Helden begeistert zu, die stramm salutierend dankten [1916]69 oder Der Blitz hat sie getroffen, zerschmettert sind sie, nicht gedacht sollen sie werden. Eine Orgie [1911]70 ) über Texte gegen Personen, an denen sich Kraus immer wieder abarbeitete, wie Heinrich Heine, Maximilian Harden, Hermann Bahr oder Felix Salten,71 bis zu politischen Polemiken gegen die Innsbrucker Rechte (INNSBRUCK und Anderes [1920]72 ) oder gegen die österreichische Sozialdemokratie (Hüben und Drüben [1932]73 ). Da sich nicht nur Gegenstand, Inhalt und Form unterscheiden, sondern auch die Zeiträume und Kontexte, in denen Kraus polemisierte, sehr verschieden gelagert sind, ist es kaum möglich, eine Art ›klassische‹ oder ›beispielhafte‹ Polemik bei Kraus zu bestimmen, auch wenn seine Kämpfe gegen Emmerich Békessy oder Alfred Kerr in diesem Zusammenhang wiederholt betrachtet werden. Scheichl analysiert in einem 2020 erschienen Artikel erstmals das juristische Verfahren bei Kraus in Zusammenhang mit dessen Polemiken. Anhand des Prozesses, den der Musikkritiker Paul Amadeus Pisk gegen Kraus geführt hat, wird hier gezeigt, dass die Rechtsakten der Kanzlei Oskar Samek eine zentrale Voraussetzung für solch eine Analyse über die polemischen Verfahren in der Fackel bilden, weil sie neue Perspektiven schaffen.74 Die rund 4000 Seiten umfassenden Handakten der Anwaltskanzlei Samek, die über 200 Streitfälle dokumentieren, sind mit einer Vielzahl von Polemiken – auch weniger bekannten – verbunden. Sie zeigen hinter dem stilisierten satirischen Ich andere Aspekte von Karl Kraus,75 die Beziehung zu seinem Anwalt Samek und nicht zuletzt die Grenzen seiner ethischen Urteile, die oft in seiner Sprachauffassung wurzelten. Juristen beschreiben Kraus als »Person mit übersteigertem

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Vgl. Rose: Polemische Transgression (Anm. 42), S. 17–23. Vgl. Martens: Rhetorik und Pragmatik (Anm. 22). Vgl. Arntzen: Die Funktionen der Polemik (Anm. 3). Vgl. Scheichl: Zur Struktur Krausscher Polemiken (Anm. 68). Vgl. Scheichl: Die politischen Polemiken (Anm. 24). Vgl. Sigurd Paul: Prozesse als Bestandteil des Werks von Karl Kraus – Prozessakten als Quellen zu seinem Wirken (Anm. 35), S. 21. Vgl. ebd., S. 19.

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oder verdichtetem Rechtsbewusstsein (vulgo: Querulant)«.76 Seine polemischen Kämpfe betreffend ist hier noch Neues zu entdecken und die Frage, welche Beispiele man heranzieht, ist nicht immer leicht zu klären. Mit Blick auf Kraus’ Praktiken ist es sicher sinnvoll, von den polemischen Aktionen in der Ersten Republik auszugehen, während der er bereits alle seine wesentlichen Strategien entwickelt und alle nötigen Schauplätze (Fackel, Vortragssaal, Gerichtssaal, Wiens Straßen) dafür geöffnet hatte. Anhand seiner Kampagne gegen den Zeitungsmogul Békessy kann anschaulich illustriert werden, wie die verschiedenen Praktiken immer wieder ineinandergreifen. Es lohnt sich in diesem Zusammenhang, abseits des Textes der Polemiken auch den Ablauf der vielen unterschiedlichen Ereignisse genauer zu betrachten. Im Fall von Békessy umfasst die gegen diesen gerichtete Polemik nach Edward Timms, der immer zuerst dem Lauf der Fackel folgte, »500 Seiten, von der Anklage gegen die ›Metaphysik der Haifische‹ im Oktober 1923 bis zur ›Stunde des Gerichts‹ fast drei Jahre später«.77 Vorerst indirekte Anklagen gegen den neuen Boulevardjournalismus in der Fackel kulminierten im Januar 1924 in dem Text Bekessys Sendung. Sehr vereinzelt trug Kraus diese Texte auch einem Wiener oder Berliner Publikum in seinen Vorlesungen vor – doch zunächst geschah nichts weiter. Erst Ende 1924 erbosten korrupte Verstrickungen der Stunde mit der Nordisch-Österreichischen Bank wie auch die Berichterstattung darüber Kraus erneut derart, dass eine langjährige Kampagne ihren Anfang nahm. Ab Anfang des Jahres 1925 wurden insgesamt zwölf Privatklagen von Karl Kraus gegen die Stunde zunächst einmal juristisch ausgetragen. In den Klagen ging es vorrangig um Mediendelikte, aber auch um Ehrenbeleidigungen, das Urheberrecht und falsche Zeugenaussagen. Vielfach wurde parallel Strafanzeige erstattet. Während sich diese rechtlichen Auseinandersetzungen mit der Stunde bis 1927 hinzogen, begann Kraus systematisch darauf hinzuarbeiten, ihren Herausgeber Békessy auch persönlich vor Gericht zu bringen: 27 Aktenkonvolute aus der Sammlung seines Anwalts Oskar Samek dokumentieren dieses Bemühen.78 Parallel dazu begann Kraus, sein Vorlesungspublikum auf die Kampagne einzustimmen – nur einige Monate, nachdem er in der oben erwähnten 200. Wiener Vorlesung sein Publikum zum »geistigen Wien« erklärt hatte, stimmte dieses mit ihm am 25. Juni 1925 im mittleren Wiener Konzerthaussaal in die Parole der Kampagne ein: »Hinaus aus Wien mit dem Schuft!«79 Der Druck steigerte sich in Texten, weiteren Vorlesungen und Prozessen, die oft aus der Fackel hervor- und wieder in die Fackel eingin76 77 78 79

Gerald Kohl: Erwartungen der (österreichischen) rechtshistorischen Forschung an das Projekt »Legal Kraus« [unveröffentlichtes Manuskript von 2020]. Edward Timms: Karl Kraus. Die Krise der Nachkriegszeit und der Aufstieg des Hakenkreuzes. Aus dem Englischen v. Brigitte Stocker. Weitra 2016, S. 343. Sammlung Prozessakten Oskar Samek – Karl Kraus, in: Wienbibliothek im Rathaus, Handschriftensammlung, ZPH 1545 (digital zugänglich auf: https://www.kraus.wienbibliothek.at). Vgl. Karl Kraus: Hinaus aus Wien mit dem Schuft! (Oktober 1925), in: Die Fackel, Nr. 697– 705, S. 145–176 (gehalten als Vorlesung am 25. Juni 1925).

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gen. Mitte 1926 hatte Kraus sein Netz so eng gespannt und so zahlreiche Allianzen – wenn auch nicht die erhoffte Unterstützung der Sozialdemokratie – geknüpft, dass Békessy als Herausgeber der Stunde zurücktrat und aus Wien floh. Kraus plante in dieser öffentlich ausgetragenen Auseinandersetzung erstmals den Einsatz eines Plakates: Seine Parole »Warnung in letzter Stunde – Der Schuft, den ich aus Wien verjagt habe« sollte im Mai 1927 in Wien plakatiert werden, doch die Wiener Plakatierungs- und Anzeigen-Gesellschaft lehnte die Affichierung des Plakates aus rechtlichen Gründen ab, da sie strafrechtliche Folgen wegen Ehrenbeleidigung befürchtete. In diesem Netz von Praktiken in unterschiedlichen Feldern, in denen die Kämpfe ausgetragen wurden, und Personen, die darin verstrickt waren und/oder als Zeuginnen und Zeugen bzw. Jury dienten, verliert man leicht den Überblick. Eine kleinere polemische Auseinandersetzung aus dem Jahr 1925, die sowohl publizistisch als auch juristisch ausgefochten wurde, kann hier vielleicht anschaulicher illustrieren, wie Fäden zusammen- und wieder auseinanderliefen. Sie begann mit einer Äußerung, die Hans Liebstöckl – ein Redakteur der Stunde – im Café Imperial über das Blatt, für das er arbeitete, getan haben soll und die durch die dort anwesende Alma Pollak an Kraus übermittelt wurde. Kraus druckte die Äußerung, dass die Stunde »ja das reine Banditenblatt geworden« sei, in Entlarvt durch Bekessy im Juli 1925 als Liebstöckl-Zitat ab.80 Liebstöckl schrieb daraufhin am 20. Juli 1925 an Kraus und forderte ihn auf, die beigelegte Berichtigung in der Fackel zu bringen, da er die ihm zugeschriebenen Worte nie geäußert habe. Das Schreiben an Kraus enthielt jedoch auch den Vorwurf, der Fackel-Herausgeber habe die Äußerung zu leichtfertig veröffentlicht. Dies stellte für Kraus und Samek eine Ehrenbeleidigung dar, sofern der Vorwurf im Brief auch öffentlich geäußert worden sei. Kraus ging davon aus, dass dies der Fall war. Liebstöckl erwähnte in dem Brief schließlich, dass das ihm untergeschobene Zitat bei ihm und »[s]einen Freunden« Unmut geweckt habe.81 Außerdem ging Kraus davon aus, dass Liebstöckl den Brief nicht selbst getippt hatte. Samek forderte Liebstöckl daher auf, den Vorwurf der Leichtfertigkeit öffentlich zurückzunehmen.82 Liebstöckls Anwalt, Adalbert Trompeteur, antwortete, dass keine Ehrenbeleidigung vorliegen könne, da Liebstöckl den Brief eigenhändig getippt und ihn auch nicht seinen Freunden gezeigt habe.83 Daraufhin stellte Kraus einen Strafantrag, in dem er forderte, dass der Fall polizeilich überprüft werde. Liebstöckl bestritt, die ihm unterstellten Worte geäußert zu haben, 80 81 82 83

Karl Kraus: Entlarvt durch Bekessy, in: Die Fackel (Juli 1925), Nr. 691–696, S. 68–128, hier S. 112. Hans Liebstöckl an Karl Kraus, 20. 7. 1925, in: Sammlung Prozessakten Oskar Samek – Karl Kraus (Anm. 78), ZPH 1545, Sign. 31. 3. Oskar Samek an Hans Liebstöckl, 28. 7. 1925, in: Sammlung Prozessakten Oskar Samek – Karl Kraus (Anm. 78), ZPH 1545, Sign. 31. 5. Adalbert Trompeteur an Oskar Samek, 30. 7. 1925, in: Sammlung Prozessakten Oskar Samek – Karl Kraus (Anm. 78), ZPH 1545, Sign. 31. 6.

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während andere Zeugen, darunter Alma Pollak, das Gegenteil behaupteten. Das Bezirks-Polizei-Kommissariat Alsergrund stellte schließlich fest, dass der Tatbestand der Ehrenkränkung vorlag, da »der Kläger keinen Grund hatte, an der Richtigkeit der ihm durch eine vertrauenswürdige Person gemachten Mitteilung zu zweifeln«.84 Kraus kam die Angelegenheit mit Liebstöckl am Höhepunkt seines polemischen Kampfes gegen Békessy sicher sehr gelegen. Vom Kaffeehaus über die Fackel und den Gerichtssaal ging der Fall aus den Samek’schen Anwaltsakten mit der Veröffentlichung des Aufsatzes Das reine Banditenblatt wieder in die Fackel ein.85 In einem weiteren Fackel-Text gegen die Stunde setzte Kraus den Ausdruck »Banditenblatt« mit doppelten Anführungszeichen und nahm so Bezug auf diesen Konflikt86 – ob als Eigenzitat (als Verweis auf den Titel Das reine Banditenblatt) oder als Zitat Liebstöckls sei hier dem Publikum überlassen. Auch in den Vorlesungen wurde durch den Vortrag von Bekessys Sendung weiterhin gegen die Stunde polemisiert.87 Gleichgültig, ob die juristischen Auseinandersetzungen wie in diesem Fall zugunsten von Kraus endeten oder nicht, seine Kämpfe vor Gericht wurden auf einem anderen Feld ausgetragen als seine literarischen. Juristische Vorgaben formten seine Klageschriften, pragmatische Überlegungen zu Taktik und Strategie bestimmten (in Absprache mit seinem Anwalt) seine Handlungen und an seine Urteile über Gegner wurden durch Richter, Anwälte und Zeugen nochmals andere Maßstäbe angelegt. Kraus – für seine Anhängerinnen und Anhänger eine Instanz und im literarischen Feld der Kritiker der Spielregeln – konnte sich den Gesetzen des staatlich-politischen Feldes nicht derart verweigern wie den (oft unsichtbaren) Regeln der Kulturszene, die er durch seine Verweigerung zudem oft bloßlegte. Diese knappe Skizze der Verzahnung verschiedener Schauplätze, auf denen Kraus polemisch aktiv wurde, zeigt, dass eine detaillierte Zusammenstellung der unterschiedlichen Praktiken und Aktionen noch vieles eröffnen und erklären würde. Sowohl die bestehenden als auch die gerade im Entstehen begriffenen digitalen Ressourcen88 zu Kraus bieten eine wichtige Grundlage dafür, große Polemiken wie jene gegen Alfred Kerr und die umfangreiche Polemik gegen die Sozialdemokratie, die zu mehreren Prozessen in Kraus’ 84 85 86 87 88

Strafregisterauszug des Bezirkskommissariats Alsergrund, 23. 10. 1925, in: Sammlung Prozessakten Oskar Samek – Karl Kraus (Anm. 78), ZPH 1545, Sign. 31. 15. Vgl. Karl Kraus: Das reine Banditenblatt, in: Die Fackel (Dezember 1925), Nr. 706–711, S. 71– 84. Vgl. Karl Kraus: Die Stunde des Todes, in: Die Fackel (August 1926), Nr. 732–734, S. 1–56, hier S. 40. Vgl. die Vorlesungen vom 1. Januar 1926 sowie vom 12. April 1926 auf https://www.kraus.wienbibliothek.at/der-vorleser (aufgerufen am 21. 12. 2020). Abseits des Austrian Academy Corpus Die Fackel, das auch für die Recherchen zu diesem Artikel wesentlich war, entstehen im Umfeld des Austrian Center for Digital Humanities derzeit folgende digitale Ressourcen zu Kraus: Karl Kraus 1933 (https://kraus1933.ace.oeaw.ac.at/) und Karl Kraus Legal Papers (https://www.oeaw.ac.at/acdh/projects/karl-kraus-legal-papers/).

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letzten Lebensjahren führte, neu zu betrachten und zu analysieren. Mit Blick auf die Kampagnen oder Kämpfe des Karl Kraus als komplexe gesellschaftliche Ereignisse, die sich nicht nur in der Fackel, sondern auch in den Vortragsbzw. Gerichtssälen Mitteleuropas abspielten und an verschiedene Öffentlichkeiten appellierten, führt man die Debatte um den Polemiker Kraus von der reinen Textebene weg. So eröffnen sich neue Untersuchungsperspektiven auf seine Kampfmittel, die zum Sieg führen und die Jury bzw. das Publikum überzeugen sollten.89

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Vgl. Stocker: Rhetorik eines Protagonisten (Anm. 15), S. 28.

Jacques Le Rider

Karl Kraus und Frankreich Von der Distanz zur Freundschaft Abstract: Karl Kraus’s relationship with French culture and political life was distant and critical until World War I. In the Dreyfus affair, the Fackel defended a point of view that French intellectuals such as Charles Péguy interpreted as anti-Dreyfusard. Kraus’s position was modified during the 1920s, when he advocated a rapprochement between Austria and France. His passion for Offenbach’s operettas and the fact that he was invited several times to lecture in Paris and nominated for the Nobel Prize by a committee of French university professors are not the only explanations for his new Francophile attitude. His political commitment opposing the idea of Anschluss of the Austrian Republic to Germany also led him to a new appreciation for French-Austrian friendship.

Während die französische Karl-Kraus-Rezeption in den letzten zwanzig Jahren mehrmals erforscht wurde,1 hat man Kraus’ Beziehung zur französischen Kultur und seine Reaktionen auf das politische Geschehen in Frankreich weniger beachtet.2 Im Folgenden wird versucht, diese Lücke der Kraus-Forschung überblicksartig zu schließen. Dies kann am besten in chronologischer Form erfolgen, da sich Kraus’ Einstellung zu Frankreich zwischen dem Gründungsjahr der Fackel 1899 und den 1920er und 1930er Jahren – das ist unsere These – tiefgreifend verändert hat. In diesem Punkt wie in vielen anderen Bereichen war der Erste Weltkrieg für Karl Kraus ein entscheidender Einschnitt. 1

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Marc Lacheny: Kraus en France. Du »patriote autrichien« au critique des médias, in: Europe 92 (2014), H. 1021, S. 125–149; Marc Lacheny: Petite contribution à l’histoire des relations culturelles franco-autrichiennes au XXe siècle. Karl Kraus et les germanistes français de son temps, in: Österreichisch-französische Kulturbeziehungen 1867–1938. Hg. v. Sigurd Paul Scheichl u. Karl Zieger. Innsbruck 2012, S. 203–221; Jacques Le Rider: Karl Kraus. Phare et brûlot de la modernité viennoise. Paris 2018; Gerald Stieg: »Wir wollen weniger zitiert und mehr gelesen sein«. Karl Kraus in Frankreich, in: Karl Kraus und Die Fackel. Aufsätze zur Rezeptionsgeschichte. Hg. v. Gilbert J. Carr u. Edward Timms. München 2001, S. 206–218; Gerald Stieg: Karl Kraus en France. Histoire d’un accueil mouvmenté, in: Études germaniques 74 (2019), H. 4, S. 759–764. Zu diesem Thema erschienen in den letzten Jahren: Marina Allal: D’Offenbach à Dreyfus. Karl Kraus et Paris, in: Germanica (2008), H. 43, S. 139–150; Edward Timms: Französische Annäherung, in: ders.: Karl Kraus. Die Krise der Nachkriegszeit und der Aufstieg des Hakenkreuzes. Übers. v. Brigitte Stocker. Weitra 2016, S. 84–86 (englisch: Karl Kraus. Apocalyptic Satirist. The Post-War Crisis and the Rise of the Swastika. New Haven, London 2005, S. 56–59); außerdem das folgende Themenheft: Wien–Paris im Lichte der Fackel. Hg. v. Anna-Katharina Gisbertz, Eva-Tabea Meineke u. Jacques Le Rider, in: Études germaniques 71 (2016), H. 3, S. 319–404.

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Jacques Le Rider

Helene Kann, die seit 1904 mit Kraus eng befreundet war und ab 1925 das Kraus-Archiv aufbaute, schreibt in ihren 1944 von einer Basler Zeitung veröffentlichten Erinnerungen an Karl Kraus: Die französische Kultur und Geistesart liebte er sehr, besonders die elegante, geschliffene Höflichkeit der Sprache. Bei einer ihm später sehr befreundeten Literaturhistorikerin [Germaine Goblot] und bei einigen anderen französischen Gelehrten [Marcel Ray, Charles Schweitzer, Charles Andler etc.] fand er in Frankreich tiefergehendes Verständnis für sein Schaffen. [. . .] Französisch verstand er sehr gut, wollte es aber nie sprechen, weil ihm, wie er sagte, der Gedanke unerträglich war, im Sprechen Fehler zu machen.3

In ihrem Brief an Mary Gräfin Dobrženský vom 9. November 1933 teilte Helene Kann diese für unser Thema aufschlussreiche Nachricht mit: »Er rechnet damit Wien ganz zu verlassen und fühlt sich in Paris so heimisch, dass er wohl, wenn es darauf ankommt gern dort leben würde. Er kam jetzt von dort und war vorher an der Riviera. Dort traf er in M[onte] Carlo mit Mechtild[e] L[ichnowsky] zusammen.«4 In der zweiten Oktoberhälfte 1933 hielt sich Karl Kraus in Juan-les-Pins auf. Mechtilde Lichnowsky, die Witwe von Karl Max von Lichnowsky, der während der europäischen Krise vom Juli 1914 als Botschafter des Deutsches Reichs in London vergeblich vor der Gefahr einer Ausdehnung des Konflikts im Falle einer Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien gewarnt hatte, wohnte damals in ihrer schönen Villa am Cap d’Ail, fünfzig Kilometer von Juan-les-Pins entfernt. Schon zwei Jahrzehnte zuvor hatte Karl Kraus mit dem Gedanken gespielt, sich in Paris niederzulassen. Aus München schrieb er am 25. September 1910 an Herwarth Walden: »Ich reise heute abends auf ein paar Tage nach Paris. Ich will sehen, ob ich dort wohnen werde oder in Berlin. Hoffentlich in Berlin. Es ist nur eine letzte Verzweiflung, daß Paris unmöglich ist.«5 Und aus Paris schrieb er auf einer Bildpostkarte, welche das Grab Napoleons im Invalidendom zeigt, am 27. September: »Eine unerträgliche Stadt!«6 Im Jahr zuvor hatten sich Kraus und Walden Ende August für einige Tage in Paris aufgehalten. Anscheinend interessierten sie sich vor allem fürs Varieté: Walden erwähnt das Café des Ambassadeurs und das Café-Concert Alcazar an den Champs-Elysées.7 Kraus spielt seinerseits auf ein von Auguste Bert aufgenommenes Foto der »Indierin«, einer Tänzerin des »Moulin rouge«, an.8 3 4 5 6 7 8

Aus großer Nähe. Karl Kraus in Berichten von Weggefährten und Widersachern. Hg. v. Friedrich Pfäfflin. Göttingen 2008, S. 289. Ebd., S. 301. Feinde in Scharen. Ein wahres Vergnügen dazusein. Karl Kraus – Herwarth Walden. Briefwechsel 1909–1912. Hg. v. George C. Avery. Göttingen 2002, S. 269. Ebd., S. 270. Vgl. ebd., S. 93. Vgl. ebd., S. 46 u. Anm. S. 436.

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Zwischen diesen beiden Aufenthalten in Paris entstand Heine und die Folgen, ein Essay, den Kraus am 3. Mai 1910 zum ersten Mal vorlas. In diesem Text ist von der zerrüttenden Wirkung des Pariser Lebens und der französischen Kultur auf Heines Stil, Denkart und Gesundheit die Rede. Am Anfang seiner literarischen Karriere interessiert sich Kraus nur nebenbei für die französische Kultur. Ihm kommt es vor allem darauf an, sich vom Parisianismus des Jungen Wien und von dessen Propagandisten Hermann Bahr zu distanzieren. Schon 1893 greift er in einem seiner frühesten Aufsätze Bahr an, der »die ›Sensationen‹ und ›Heimlichkeiten‹ des schönen, nervendurchtobten Paris kennen und finden [lernte], daß das ›liebe Wienerisch‹ mit seinen ›weichen, parfumierten Formen‹ auch echtes Pariser Fin-desiècle atme«.9 In der Demolirten Literatur spottet Kraus weiter über »die französirende Art des Meisters«10 und parodiert die schwärmerische Rezension eines Hofmannsthal-Stücks durch Arthur Schnitzler: »Es ist dies die Kunst der Nerven, von den Nerven auf die Nerven, und man muss dabei [. . .] an die psychologie blasée der Stendhal und Huysmans, von den Goncourt’s über Lavedan bis zu Loris und Maurice Barrès [denken]«.11 Gegen den Snobismus des Jungen Wien setzt Kraus das polemische Potential eines französischen Zeitgenossen, Léon Bloy, der 1884 seine furiosen Angriffe gegen die Literaturszene unter dem Titel Propos d’un entrepreneur de démolitions gesammelt herausgab. Die demolirte Literatur ist ein Echo auf Bloy und nicht nur eine Anspielung auf den Abriss des alten Hauses am Michaeler Platz. In Kraus’ nächstem Pamphlet, Eine Krone für Zion vom September 1898, fällt wiederum die Pointe gegen Theodor Herzl, den ehemaligen Korrespondenten der Neuen Freien Presse in Paris auf, der sich vor allem auf die Unterstützung der Londoner, Berliner und Pariser jüdischen Bourgeoisie verlassen hätte. »Der Glaube der Väter lässt es nicht mehr zu, dass der jüdische Weber von Lodz zu den Genossen der Noth stosse, aber eine festgefügte Organisation soll ihn fortan mit den israelitischen Bewohnern der City, der Boulevards, des Thiergartenviertels und der Ringstrasse verbinden. . .«12 Kraus’ Reaktion auf die Dreyfus-Affäre geht ebenfalls auf seine Abneigung gegen den bürgerlichen Liberalismus zurück, den er als die typische politische Einstellung der jüdischen Bourgeoisie und der Feuilletonisten der dreyfusfreundlichen Neuen Freien Presse betrachtet. »Der Landesverräther Zola wird das Geheimnis der ungeahnten Entwicklung Frankreichs ungescheut über die Grenze rufen. Was hilft es, dass der wahre Patriotismus zu 9 10 11 12

Karl Kraus: Zur Ueberwindung des Hermann Bahr [Mai 1893], in: ders.: Frühe Schriften. 1892–1900. Hg. v. Johannes J. Braakenburg. Bd. 1: 1892–1896. München 1979, S. 103–114, hier S. 108 f. Karl Kraus: Die demolirte Literatur [1899], in: ders.: Frühe Schriften. 1892–1900. Hg. v. Johannes J. Braakenburg. Bd. 2: 1987 –1900. München 1979, S. 277–297, hier S. 279. Ebd., S. 280. Karl Kraus: Eine Krone für Zion [31899], in: ders.: Frühe Schriften. Bd. 2 (Anm. 10), S. 298–314, hier S. 301.

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geschlossenen Türen seine Zuflucht nimmt?«, schreibt Kraus.13 Herzl bejubelt am 9. Juni 1899 die Kassation des ersten Urteils gegen Dreyfus im Leitartikel Die Revision in seiner Wochenzeitung Die Welt, muss aber mit Bestürzung die erneute Verurteilung von Dreyfus in Rennes unter dem Titel Fünf gegen zwei in der Welt vom 15. September 1899 kommentieren. Als Anhänger einer Assimilation der Juden, als Feind des Zionismus sowie als Gegner der liberalen Neuen Freien Presse und des Feuilletonisten Theodor Herzl relativiert Karl Kraus die Bedeutung des Falls Dreyfus: [D]ie Frage wird beantwortet werden müssen, wie es möglich war, dass für und gegen die Schuld eines unbedeutenden Menschen, dessen persönliche Qualitäten so gering sind als seine Stellung im gewaltigen Heereskörper Frankreichs, eine Agitation entfesselt werden konnte, die Frankreich drei Jahre lang beunruhigt und die ganze Welt in Mitleidenschaft gezogen hat. Mit der Logik derer, die heute am Zeitungskrieg theilnehmen, soll da nicht gekämpft werden.14

Selbst wenn seine persönliche Voreingenommenheit gegen Dreyfus aus seinen Kommentaren klar hervorgeht, vermeidet es Kraus, auf die Affäre einzugehen und begnügt sich mit einer Satire über die dreyfusfreundlichen journalistischen Berichte vor allem in der Neue Freien Presse. Das definitive Urteil über Dreyfus überlässt er Wilhelm Liebknecht, dem grand old man der deutschen Sozialdemokratie, von dem er im September und Oktober 1899 drei Aufsätze in der Fackel abdruckt.15 Liebknecht beginnt mit dem Bekenntnis: » I c h g l a u b e n i c h t a n d i e U n s c h u l d d e s f r a n z ö s i s c h e n H a u p t m a n n s D r e y f u s . « 16 Er nimmt die französische Militärjustiz in Schutz und behauptet, der Antisemitismus habe bei der Verurteilung von Hauptmann Dreyfus keine Rolle gespielt. »Die antisemitische Bewegung war in Frankreich 1894 sehr schwach«, schreibt Liebknecht, »ihre Träger galten als lächerliche Personen. Seitdem ist sie etwas stärker geworden, aber wesentlich i n f o l g e d e r › C a m p a g n e ‹.«17 Auf welche Informationen, auf welche Beweise stützt sich Liebknecht, um seinen persönlichen Richtspruch zu fällen? Auf intensive Zeitungslektüre . . . Zum ersten Mal in der noch jungen Fackel – und wohl auch zum letz13 14 15

16 17

Karl Kraus: Wiener Chronik [Die Wage, 22. 1. 1898], in: ders.: Frühe Schriften. Bd. 2 (Anm. 10), S. 158–164, hier S. 159 f. Karl Kraus: [Die wackeren Männer], in: Die Fackel (Mitte August 1899), Nr. 14, S. 1–5, hier S. 4 f. Karl Kraus hätte die Artikelfolge Liebknechts in der Fackel nicht abgedruckt, wenn er nicht im Wesentlichen Liebknechts Ansicht geteilt hätte. In seinen Augen war der Antisemitismus keineswegs der entscheidende Faktor in der Dreyfus-Affäre: Im Gegenteil habe der anti-antisemitische Eifer der dreyfusards eine bisher nie dagewesene Welle des Antisemitismus ausgelöst. Vgl. Jacques Le Rider: Karl Kraus und die Dreyfus-Affäre, in: Études germaniques 71 (2016), H. 3, S. 329–357. Wilhelm Liebknecht: Nachträgliches zur »Affaire«, in: Die Fackel (Ende September 1899), Nr. 18, S. 1–10, hier S. 1. Ebd., S. 3.

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ten Mal – wird die Glaubwürdigkeit der Zeitungen so offenherzig proklamiert: [I]m November 1897 musste ich eine viermonatliche Gefängnisstrafe antreten, und nun hatte ich die nöthige Muße. Der Zola-Process fiel in meine Strafzeit, und da ich die Erlaubnis hatte, den ›Temps‹ zu lesen, der alles Material zu Gunsten des Dreyfus mit peinlicher Sorgfalt sammelte und den stenographischen Bericht des ZolaProcesses brachte, so gelangte ich in den Besitz des Materials der »Affaire« und gewann eine ziemlich feste Grundlage des Urtheils. Im Gefängnis liest man genau. Außer dem ›Temps‹ durfte ich noch die ›Kreuzzeitung‹ und die ›Vossische Zeitung‹ lesen.18

Der Intellektuelle nach dem Vorbild von Émile Zola ist für Karl Kraus keine positive Figur.19 Das Bündnis des berühmten naturalistischen Romanciers mit der dreyfusfreundlichen Presse ist nach Kraus’ Auffassung ein Teufelspakt, in dem die Literatur nur verlieren und die schwarze Magie des Journalismus nur gewinnen kann. Am Ende gibt es nur noch eine »Journal-Literatur«,20 die Kraus als ein abscheuliches Unding betrachtet, und einen Autor, der zum Feuilletonisten heruntergekommen ist. Die Aufsätze Liebknechts machten die noch ganz junge Fackel in Paris blitzartig bekannt. Allerdings war es für Karl Kraus fatal, dass er von der nationalistischen, antisemitischen und antirepublikanischen Presse bejubelt wurde. Die Action française von Charles Maurras, La Libre Parole von Edouard Drumont, L’Intransigeant von Henri Rochefort wurden über Nacht zu Anhängern der Wiener Fackel, während die Dreyfusards mit Wut und Entsetzen reagierten. Ein bedeutendes Zeugnis der ablehnenden französischen Rezeption der Aufsätze Liebknechts ist der umfangreiche Band der Cahiers de la quinzaine von Charles Péguy mit dem Titel L’Affaire Liebknecht, der 1900 im ersten Jahrgang der Cahiers erschien. Diese Quelle hat die Kraus-Forschung bisher außer Acht gelassen, weil sie nur jene Reaktionen wahrgenommen hat, über die Kraus selbst in der Fackel berichtet. Kraus hat aber Péguys scharfe Kritik nie erwähnt, obwohl er sie höchstwahrscheinlich kannte. In den französischen Reaktionen auf die von Kraus herausgegebenen Aufsätze Liebknechts wird die Die Fackel immer La Torche genannt, ein Wort, das den Polemiker und Pamphletisten konnotiert, und nicht Le Flambeau, wie man zu sagen pflegt, wenn man Kraus als Aufklärer meint. Charles Péguy 18 19

20

Ebd., S. 6. In diesem Sinne kann man Kraus nach Pierre Bourdieu als den Intellektuellen, der die Figur des Intellektuellen infragestellt, definieren. »Karl Kraus fait une chose assez héroïque qui consiste à mettre en question le monde intellectuel lui-même. Il y a des intellectuels qui mettent en question le monde, mais il y a très peu d’intellectuels qui mettent en question le monde intellectuel« (Pierre Bourdieu: À propos de Karl Kraus et du journalisme, in: Actes de la recherche en sciences sociales [2000], Nr. 131–132, S. 123–126, hier S. 123). Marie-Ève Thérenty: La littérature-journal, in: La Civilisation du journal. Histoire culturelle et littéraire de la presse française au XIXe siècle. Hg. v. Dominique Kalifa u. a. Paris 2011, S. 1509–1521.

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macht auf die unheimliche Verwandtschaft dieses frontalen Angriffs gegen die dreyfusfreundlichen Intellektuellen mit Henri Rocheforts Pamphleten aufmerksam.21 Péguy dachte dabei nicht an Henri Rochefort, den Herausgeber der Zeitschrift La Lanterne, die im Jahre 1868 in der Opposition gegen das Second Empire ein Bombenerfolg und für die Gestaltung der ersten Fackel-Hefte ein Vorbild war. Vielmehr dachte Péguy an den alten Rochefort, der als Herausgeber des Blatts L’Intransigeant in der Zeit der Dreyfus-Affäre zum Nationalisten und Antisemiten geworden war. Diese bedenkliche Entwicklung Henri Rocheforts störte Kraus offenkundig nicht: Er reagierte im Juli 1913 auf einen kritischen Nachruf auf Rochefort in der Neuen Freie Presse mit dem Fackel-Aufsatz Wie Rochefort herunterkam, in dem er den französischen Pamphletisten als Lichtgestalt würdigte.22 In der Zeit von Sittlichkeit und Kriminalität wird der Bezug auf Charles Baudelaire für Karl Kraus wichtig. Als Motto zu seinem Text über den Prozess Riehl vom November 1906 wählt er vier Verse aus den zensierten Gedichten der Fleurs du mal, die er auf Französisch zitiert. Zwar schreibt er dabei den Namen Baudelaire falsch und weicht gravierend vom Original ab (der Anfang des Zitats lautet in der Fackel »Maudit soit à jamais le funeste imbécile«23 statt »Maudit soit à jamais le rêveur inutile«). Immerhin offenbart dieses Motto zum Prozess Riehl Kraus’ lebhaftes Interesse an Baudelaire. Das hat Walter Benjamin festgehalten: »Nur Baudelaire hat so wie Kraus die Saturiertheit des gesunden Menschenverstandes und so wie er den Kompromiss gehasst, den die Geistigen mit ihm schlossen, um im Journalismus ein Unterkommen zu finden.«24 Für Kraus ist es ein Anliegen, sich Baudelaire auf eine originelle Art und Weise anzueignen.25 Die gesamte deutschsprachige Moderne machte Baudelaire zu einer ihrer zentralen Bezugsfiguren. Stefan George, von dessen Erneuerung der poetischen Sprache Kraus immer bemüht war, die eigene Sprachkritik zu differenzieren, war einer der besten Baudelaire-Übersetzer. In Wien schmückte sich Hermann Bahr mit seiner angeblich intimen Kenntnis der Werke des Pariser Dichters. Hugo von Hofmannsthals intensiver Umgang mit Baudelaire wirkt sich noch im Brief des Lord Chandos aus, in dem man 21

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25

Vgl. Charles Péguy: L’Affaire Liebknecht, in: Cahiers de la Quinzaine, Bd. I, 5. 1. 1900, S. 50–130, hier S. 118: »Je ne puis m’empêcher de constater dans ces articles une certaine ressemblance avec cet esprit bien français dont le citoyen Rochefort nous a donné autrefois les meilleurs échantillons et dont ce pauvre Rochefort nous donne à présent la caricature.« Vgl. Karl Kraus: Wie Rochefort herunterkam, in: Die Fackel (Juli 1913), Nr. 378–380, S. 17 f. Karl Kraus: Der Prozess Riehl, in: Die Fackel (13. 11. 1906), Nr. 211, S. 1–28, hier S. 1. Walter Benjamin: Karl Kraus, in: ders.: Gesammelte Schriften. Unter Mitwirkung v. Theodor W. Adorno u. Gershom Scholem hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser. Bd. II .1. Hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a. M. 1977, S. 334–367, hier S. 352. Vgl. Cristiano Bianchi: Karl Kraus als Leser von Charles Baudelaire und Oscar Wilde. Innsbruck 2009.

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einige verkappte Baudelaire-Zitate entdecken kann. Rudolf Kassners Aufsatz Poeta christianissimus. Über Baudelaire erregte 1904 Aufsehen.26 Im ersten Akt der Letzten Tage der Menschheit werden Hugo von Hofmannsthal und Leopold von Andrian im Kriegsfürsorgeamt satirisch dargestellt, wobei Andrian Baudelaire-Gedichte rezitiert. Selbst Stefan Zweig, von Kraus als »Talentchen« lächerlich gemacht, hat 1902 Gedichte von Baudelaire neu übersetzt. Kraus will den französischen Dichter aus diesem in seinen Augen einseitig ästhetischen Rezeptionszusammenhang befreien und sein gesellschaftskritisches Potential betonen. Sein Interesse an Baudelaire beschränkt sich nicht auf die Thematik von Sittlichkeit und Kriminalität. Im Februar 1909 wird folgende Stelle aus Baudelaires Tagebuch-Fragmenten Mon cœur mis à nu in der Fackel zitiert: »Jede Zeitung, von der ersten bis zur letzten Zeile, ist nichts als ein Gewebe von Schrecken [. . .], ein Rausch von allgemeiner Scheußlichkeit. Ich begreife nicht, wie eine reine Hand das anrühren kann, ohne vor Ekel zu zucken!«27 Im November 1917 und im Oktober 1922 setzt Kraus weitere ausgewählte Stellen aus Baudelaires Tagebüchern zur Fortschritts- und zur Heine-Kritik auf das Programm seiner Vorlesungen und zitiert u. a. diese Stelle: »[N]icht eigentlich durch politische Institutionen wird der a l l g e m e i n e R u i n sich manifestieren – oder der a l l g e m e i n e F o r t s c h r i t t : denn auf den Namen kommt mir wenig an. Durch die Entwürdigung der Herzen wird es geschehen.«28 Baudelaires Heine-Kritik im Aufsatz L’école païenne (Die heidnische Schule, 1852) hat Kraus besonders gut gefallen. Dort schreibt Baudelaire: »Das ausbündige Heidentum scheint mir auf einen Menschen hinzuweisen, der Heine und seine von materialistischem Sentimentalismus angefaulte Literatur zu viel gelesen hat und schlecht gelesen hat.«29 Für französische Leser ist der Essay Heine und die Folgen eine schwere Zumutung. Nicht nur, weil man Heinrich Heine als Lyriker und als kritischen Intellektuellen in Frankreich meistens hochgeschätzt hat – das vorhin zitierte Urteil Baudelaires ist eine bemerkenswerte Ausnahme –; auch die Häufung antifranzösischer Stereotypen, die Karl Kraus offenbar als witzig empfindet und so ungehemmt streut wie in den Briefen an Herwarth Walden im gleichen Jahr 1910, macht den Text problematisch: Ohne Heine kein Feuilleton. Das ist die Franzosenkrankheit, die er uns eingeschleppt hat. Wie leicht wird man krank in Paris! Wie lockert sich die Moral des deutschen

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Vgl. Rudolf Kassner: Poeta christianissimus. Über Baudelaire, in: Neue Rundschau 15 (Mai 1904), S. 622–631. Karl Kraus: [In Charles Baudelaires »Tagebüchern«], in: Die Fackel (15. 2. 1909), Nr. 272–273, S. 38. Karl Kraus: Worte von Charles Baudelaire, in: Die Fackel (November 1922), Nr. 601–607, S. 50–54, hier S. 53. Ebd., S. 51.

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Sprachgefühls! Die französische gibt sich jedem Filou hin. [. . .] Jeder hat bei ihr das Glück des Feuilletons. Sie ist ein Faulenzer der Gedanken.30

Ein Grund für Kraus’ Animosität gegenüber der Pariser Kultur in diesem Text ist wohl der Seitenblick auf Hermann Bahr, der den Kulturtransfer zwischen Paris und Wien aktiv betreibt. Schließlich ist und war alle Verquickung des Geistigen mit dem Informatorischen, dieses Element des Journalismus, [. . .] durch und durch heineisch – möge sie auch jetzt dank den neueren Franzosen und der freundlichen Vermittlung des Herrn Bahr ein wenig psychologisch gewendet und mit noch etwas mehr »Nachdenklichkeit« staffiert sein.31

Selbst Jacques Offenbach, jene andere große Figur der deutsch-französischen Kultursynthese im 19. Jahrhundert, die Kraus immer ganz besonders gemocht und geschätzt hat, wird in Heine und die Folgen als Opfer der Pariser Oberflächlichkeit stilisiert. Die hervorragende deutsche Tonkunst Offenbachs wird dem tiefen Niveau seiner »heineisch«-französischen Librettisten entgegengesetzt. »Im Buch der Lieder könnten die Verse von Meilhac und Halévy stehen [. . .]. Offenbach ist Musik, aber Heine ist bloß der Text dazu.«32 Karl Kraus interpretiert Nietzsches Heine-Bewunderung als ein Symptom einer blinden Frankophilie und eines ebenso unbeherrschten Deutschland-Hasses. »Was Nietzsche zu Heine gezogen hat [. . .], kann nur jener Haß gegen Deutschland sein, der jeden Bundesgenossen annimmt.«33 Ein Grund dafür, dass die zeitgenössische französische Literaturproduktion in der Fackel eine untergeordnete Rolle spielte, war Karl Kraus’ Abneigung gegenüber der Gattung Roman. In Sprüche und Widersprüche (1909) findet man folgenden Aphorismus: »Einen Roman zu schreiben, mag ein reines Vergnügen sein. Nicht ohne Schwierigkeit ist es bereits, einen Roman zu erleben. Aber einen Roman zu lesen, davor hüte ich mich, so gut es irgend geht. Wo nehme ich nur all die Zeit her, so viel nicht zu lesen?«34 Im Jahre 1921 bekennt Kraus noch einmal: Da ich infolge einer angeborenen Insuffizienz Romane nicht zu Ende lesen kann, indem ich, der imstande ist, sechzehn Stunden ohne Unterbrechung und ohne Ermüdung zu arbeiten, schon beim geringsten Versuch, mir zu erzählen, daß Walter beim Betreten des Vorzimmers auf die Uhr sah, [. . .] in tiefen traumlosen Schlaf verfalle, so sind mir sicherlich [. . .] zahllose Perlen entgangen [. . .].35 30 31 32 33 34 35

Karl Kraus: Heine und die Folgen, in: ders.: Schriften. Hg. v. Christian Wagenknecht. Bd. 4: Untergang der Welt durch schwarze Magie. Frankfurt a. M. 1989, S. 185–210, hier S. 186. Ebd., S. 191. Ebd., S. 198. Ebd., S. 207. Karl Kraus: Schriften. Hg. v. Christian Wagenknecht. Bd. 8: Aphorismen. Sprüche und Widersprüche. Pro domo et mundo. Nachts. Frankfurt a. M. 1986, S. 119. Karl Kraus: Von Humor und Lyrik, in: Die Fackel (November 1921), Nr. 577–582, S. 41–52, hier S. 47.

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Kraus’ Antipathie gegen Zola geht also nicht nur auf die Dreyfus-Affäre, sondern auch auf seine Geringschätzung der Romanliteratur zurück. Wenn der Name Balzac in der Fackel vorkommt, ist nicht der Romancier gemeint, sondern der Autor der Journalistensatire Monographie de la presse parisienne von 1843, aus der Kraus im Juni 1909 unter dem Titel Der Journalismus einen achtzehn Seiten langen Text exzerpiert.36 Auch der Name Flaubert kommt in der Vorkriegs-Fackel ein paar Mal vor. Doch geht es Kraus nur darum, Max Nordaus banausische Urteile über Flaubert lächerlich zu machen oder die Zeitschrift Pan, deren Verleger Paul Cassirer und deren Herausgeber Alfred Kerr anzugreifen. Das Heft Nr. 6 des Pan war von der Berliner Zensur wegen der Publikation von Auszügen aus Flauberts Berichten von seinen Reisen nach Italien und Ägypten, die als pornographisch eingestuft wurden, verboten worden. In der nächsten Nummer des Pan hatte Kerr für die Pressefreiheit plädiert. Vor dem Gericht hatte sich der Verleger mit dem Argument verteidigt, dass er die gewagtesten Stellen aus Flauberts Tagebüchern vor dem Druck entfernt habe. So wetteifern die Helden der Pressefreiheit mit den Zensoren, indem sie der Zensur durch Selbstzensur vorbeugen, kommentiert Kraus.37 Bei alledem ist von Flauberts Romanen in der Fackel nicht die Rede.38 Die Erfahrung des Ersten Weltkriegs bewirkte bei Kraus eine vor allem ab 1917 wachsende Ablehnung der von den Kriegstreibern beschworenen deutsch-österreichischen Schicksalsgemeinschaft und die Verstärkung seines kulturellen und politischen österreichischen Identitätsgefühls. In diesem Kontext wurde ihm klar, dass Österreich sich stärker an die Romania anlehnen müsste. In diesem Sinne kann man den im Oktober 1917 in der Fackel veröffentlichten Aufsatz Zwischen den Lebensrichtungen verstehen, den Kraus als »ein Schlußwort zum Nachtrag von ›Heine und die Folgen‹ [. . .] für das Werk ›Untergang der Welt durch schwarze Magie‹ [. . .] im Mai 1917« verfasst hatte.39 In diesem kurzen Text vollzieht Kraus eine wahre Kehrtwendung, indem er seine Aussage in Heine und die Folgen korrigiert. Dort war die Rede von [z]wei Richtungen geistiger Unkultur: die Wehrlosigkeit vor dem Stoff und die Wehrlosigkeit vor der Form. Die eine erlebt in der Kunst nur das Stoffliche. Sie ist deutscher Herkunft. Die andere erlebt schon im Stoff das Künstlerische. Sie ist romanischer Herkunft. [. . .] In welcher Hölle will der Künstler gebraten sein? Er möchte doch wohl unter den Deutschen wohnen.40 36 37 38 39 40

Vgl. Honoré de Balzac: Der Journalismus, in: Die Fackel (26. 6. 1909), Nr. 283–284, S. 1–18. Vgl. Jacques Le Rider: La Censure à l’œuvre. Freud, Kraus, Schnitzler. Paris 2015, S. 55 f. Vgl. Walburga Hülk: Phrase und Gemeinplatz – Kraus, Flaubert und der Boulevard, in: Études germaniques 71 (2016), H. 3, S. 359–372. Karl Kraus: Zwischen den Lebensrichtungen, in: Die Fackel (Oktober 1917), Nr. 462–471, S. 76–78, hier S. 76 (Anm.). Karl Kraus: Heine und die Folgen, in: Die Fackel (31. 8. 1911), Nr. 329–330, S. 1–33, hier S. 6.

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Nun aber hat sich Kraus’ Einstellung geändert: »[D]ie Frage, ›in welcher Hölle d e r K ü n s t l e r gebraten sein will‹, [muß] abdanken vor der zwingenden Entscheidung, daß d e r M e n s c h in dieser Hölle nicht gebraten sein will.«41 Die Widersprüche zwischen der Germania als »Partei des Stoffs und des Tiefsinns«, der Romania als »Partei der ornamentalen Form und Seichtigkeit« und Amerika als »Partei des Zwecks[42] und des Utilitarismus« hat Kraus überwunden, seitdem er sich nun vorbehaltslos für die weltbürgerliche »Partei der Menschenwürde« und der Lebensrettung einsetzt. In den Letzten Tagen der Menschheit denunziert Kraus die menschenverachtende nationalistische Aggressivität, die sich im Leitartikel von Moriz Benedikt, dem Chef der Neuen Freien Presse, zur Versenkung des französischen Panzerkreuzers »Léon Gambetta« durch ein österreichisch-ungarisches U-Boot im April 1915 austobte. »[D]ie Fische, Hummern und Seespinnen der Adria haben lange keine so guten Zeiten gehabt wie jetzt. In der südlichen Adria speisten sie fast die ganze Bemannung des ›Leon Gambetta‹«,43 schrieb Moriz Benedikt. Karl Kraus setzt diesen Leitartikel in eine kontrastreiche Parallele mit der Ermahnung zum Frieden durch Papst Benedikt XV., die neben dem Zynismus des Wiener Benedikt bestürzend ohnmächtig wirkt.44 Zwischen französischen und deutschen Kriegsverbrechen macht Kraus keinen Unterschied. In den aufeinander folgenden Szenen »Schlachtfeld bei Saarburg« und »Bei Verdun« werden der deutsche General Ruhmleben, der befohlen hat, »Kriegsgefangene, ob verwundet oder unverwundet, mit Gewehrkolben oder Revolver niederzumachen und Verwundete auf dem Feld zu erschießen«,45 und der französische General Gloirefaisant, der erklärt: »Zu viel Gefangene! Meine Nettoyeurs liegen auf der faulen Haut«46 , gleichermaßen denunziert. Der Verurteilung der schuldigen Eliten unter Absehung von ihrer Nationalität entspricht bei Kraus ein transnationales Solidaritätsgefühl mit den Opfern. Im November 1921 empört er sich in Reklamefahrten zur Hölle über die zynische kommerzielle Ausbeutung der Erinnerungsorte durch die Fremdenverkehrsindustrie, die jetzt für kostengünstige Touren von Verdun bis zu den Schlachtfeldern an der Somme mit Übernachtungen in den besten Hotels wirbt.47 41 42 43 44 45 46 47

Kraus: Zwischen den Lebensrichtungen (Anm. 39), S. 76 f. »Der Angelsachse schützt seinen Zweck, der Romane seine Form gegen den Mischmasch, der das Mittel zum Zweck macht und die Form zum Mittel.« (Ebd., S. 78) Karl Kraus: Schriften. Hg. v. Christian Wagenknecht. Bd. 10: Die letzten Tage der Menschheit. Tragödie in fünf Akten mit Vorspiel und Epilog. Frankfurt a. M. 1986, S. 191. Vgl. ebd., S. 190 f. (I. Akt, Szenen 27 u. 28). Ebd., S. 579 (V. Akt, Szene 14). Ebd., S. 581 (V. Akt, Szene 15). Vgl. Karl Kraus: Reklamefahrten zur Hölle, in: Die Fackel (November 1921), Nr. 577–582, S. 96–98.

Karl Kraus und Frankreich

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Die internationalen Spannungen der Nachkriegszeit machen es dem überzeugten Pazifisten Kraus schwer, ohne Groll der französischen Politik zuzusehen. Im Jahre 1923 schockiert ihn die Besetzung des Ruhrgebiets durch französische und belgische Truppen so sehr, dass er ein Couplet in der Art von Nestroy verfasst, in dem folgende vier Zeilen stehen: Die fraternité, ja die war früher einmal, Und die égalité ist ihnen auch schon egal. Doch halt . . . was die liberté betrifft, sind sie doch noch so frei, Wenn der Nachbar nichts hat, ihn zu führ’n in Sklaverei.48

Ein Jahr später ist dieser Zornausbruch schon vergessen. Ab 1924 beginnt Karl Kraus, in Paris bekannt zu werden. Die von Romain Rolland mitherausgegebene Zeitschrift Europe veröffentlicht den Artikel Chronique Autrichienne. Karl Kraus et sa Fackel von Paul Amann, einem der Übersetzer von Rolland.49 Im März 1925 wird Kraus zu drei Vorlesungen an der Sorbonne eingeladen, die so erfolgreich verlaufen, dass die Veranstalter für die letzten beiden Lesungen vom Hörsaal Michelet in den größeren Hörsaal Turgot ausweichen müssen. Im April 1926 wird er wieder zu drei Vorlesungen an der Sorbonne, diesmal im Hörsaal Descartes, und zu vier Vorlesungen im Théâtre du VieuxColombier eingeladen. Zwischen 1926 und 1930 wird Karl Kraus dank der – aus Wien von Helene Kann und Sigismund von Radecki angeregten – Initiative zahlreicher namhafter Universitätsprofessoren der Sorbonne, die nicht nur Germanisten sind, dreimal für den Nobelpreis für Literatur vorgeschlagen, allerdings erfolglos.50 Ein Grund für die französische Neuentdeckung des Karl Kraus in den 1920er Jahren ist – neben der Bewunderung seines humanistischen Engagements für den Frieden – seine politische Haltung. Die französischen KrausUnterstützer empfanden eine Genugtuung angesichts seiner antipreußischen Gesinnung und seines Eintretens für die politische Selbständigkeit Österreichs, d. h. gegen die Idee eines Anschlusses der Republik Österreich an das Deutsche Reich. In der Zwischenkriegszeit ist es nämlich ein Anliegen der französischen Germanisten und Historiker, Österreichs Eigenart hervorzuheben und die Unterschiede zwischen Wien und Berlin zu betonen. Für Kraus wird diese französische Rezeption umso wichtiger, als er ab 1925 so schlechte Beziehungen zu den Wiener Sozialdemokraten und zur Kunststelle der Stadt Wien unterhält, dass er sich bald als ebenso fremd im eigenen Land stilisiert wie Shakespeares Timon von Athen. Paris bringt also 48 49

50

Karl Kraus: Nestroy-Zyklus, in: Die Fackel (April 1923), Nr. 613–621, S. 42–58, hier S. 55. Paul Amann: Chronique autrichienne. Karl Kraus et sa Fackel, in: Europe, Nr. 19, 15. 7. 1924, S. 372–376. Abgedruckt in: Die Fackel (Dezember 1924), Nr. 668–675, S. 82–85. Zu Paul Amann vgl. Survies d’un juif européen. Correspondance de Paul Amann avec Romain Rolland et JeanRichard Bloch. Hg. v. Claudine Delphis. Leipzig 2009. Vgl. Jacques Le Rider: Karl Kraus. Phare et brûlot de la modernité viennoise. Paris 2018, S. 433; Genaueres in Gösta Werner: Karl Kraus et le prix Nobel, in: Austriaca (1986), H. 22, S. 25–46.

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die willkommene Wiedergutmachung für sein Gefühl, in Wien zum inneren Exil verurteilt zu sein. Im Dezember 1927 wird Kraus noch einmal an die Sorbonne eingeladen und liest einen seiner wichtigsten Texte vor, Der Vogel, der sein eigenes Nest beschmutzt, in dem er folgendes Bekenntnis ablegt: Wäre ich, geartet wie ich bin, im fremden Sprachgebiet geboren, so wären die »Letzten Tage der Menschheit« vielleicht als eine solche Darstellung entstanden, die von den falschen Kunstrichtern als ein ausschließlicher Angriff auf den französischen Militarismus mißverstanden worden wäre, wie sie heute als Dokument des Hasses gegen die sogenannten Zentralmächte verschrien sind. Soll man dem nationalen Kretinismus ernsthaft auch noch über Prozesse der geistigen Natur Rechenschaft ablegen? Wenn er es hören will, so empfange er das Bekenntnis, daß ich kein Vaterland habe außer meinem Schreibtisch, den ich aus irgendwelchen Gründen privater Art nicht in eine Gegend übersiedeln kann, deren Lebensform meinen Nerven tatsächlich genehmer ist und die mir vor allem den wünschenswertesten aller Vorteile bietet: daß ich da immerhin sicherer wäre, wenigstens die Sprache, in der ich denke und der ich darum als einer Herrin diene, nicht prostituiert zu sehen, nicht stündlich in Lettern und Lauten geschändet zu empfangen.51

Dass Kraus bis zuletzt in keiner anderen Sprache beheimatet war als in der deutschen, geht aus der zweisprachigen Fassung seines Schober-Lieds/La chanson de Schober, die im September 1930 in der Fackel abgedruckt wurde, klar hervor. Dieses Lied in offenbachscher Manier nennt Kraus »ein für den Tag verfasstes, aber deutsch gedachtes (und ohne die deutsche Grundlage unverständliches) Couplet«.52 In der Tat ist diese Selbstübersetzung in die Sprache von Meilhac und Halévy völlig misslungen. Warum Kraus in solcher Weise seine schlechte Kenntnis des Französischen bloßgelegt hat, bleibt eine offene Frage. Eine kurze Kostprobe sei hier zitiert: Wenn ein Umsturz in Sicht, ich erfüll’ meine Pflicht. Die Elemente vernicht’ ich bezüglich der Pflicht. Doch wenn einer einbricht, hätt’ ich auch eine Pflicht. Nur erwisch’ ich ihn nicht, wie es wär’ meine Pflicht. Une chutte à percevoir je remplis mon devoir. Etouffer est ma gloire touchant le devoir. Contre les brigands d’autrepart j’aurais aussi un devoir. 51 52

Karl Kraus: Der Vogel, der sein eigenes Nest beschmutzt, in: Die Fackel (Anfang Juni 1928), Nr. 781–786, S. 1–9, hier S. 4. Karl Kraus: Notizen, in: Die Fackel (September 1930), Nr. 838–844, S. 123–133, hier S. 126 (»Vorbemerkung« zum Vorlesungsprogramm vom 23. 4. 1930).

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Mais je viens toujours trop tard malgré le devoir.53

Bemerkenswert ist immerhin, dass Kraus Anfang der 1930er Jahre seine Begeisterung für Offenbach ganz anders artikuliert als in Heine und die Folgen. Damals hatte er den Unterschied zwischen Offenbachs guter deutscher Musik und dessen mittelmäßigen französischen Librettisten hervorgehoben. Jetzt zitiert er den Feuilletonisten Friedrich Uhl, der Offenbach 1859 mit diesen Worten in der Wiener Zeitung charakterisierte: »Durch und durch ein Franzose mit dem gewissen Berlin-Kölner Orient-Ausdruck zum Überfluß«.54 Eines seiner Lieblingswerke ist in dieser späten Periode La Vie parisienne (Pariser Leben), eine opéra bouffe, die raffiniert ironisch mit dem Mythos Paris spielt und aus Kraus’ Sicht zum Kitsch mancher Wiener Operette, die das ›österreichische Antlitz‹ zu zeigen beansprucht, in Kontrast steht.55 1931 wird die Frage des Anschlusses von Österreich an Deutschland aktuell. Das deutsche-österreichische Schober-Curtius-Abkommen über eine Zollunion wird von den Siegermächten als provokative Unterwanderung des im Vertrag von Saint-Germain-en-Laye verbrieften Anschlussverbots aufgefasst und vor allem von Frankreich blockiert. Auf dem Höhepunkt der österreichischen Bankenkrise macht Frankreich im Mai 1931 jede internationale Kredithilfe von dem Verzicht auf das Projekt einer deutsch-österreichischen Zollunion abhängig. Paris will damit seine politische und wirtschaftliche Einflusszone in Zentraleuropa absichern. Die Mehrheit der Österreicher sieht in diesen französischen Plänen nichts als eine Zumutung. Der Sozialdemokrat Otto Bauer, der zu diesem Zeitpunkt noch ein Anhänger des Anschlusses an Deutschland ist, von dem er sich die Stärkung und den Sieg der Sozialdemokraten verspricht, erklärt, Frankreich verletze die nationale Ehre Österreichs und behandle die Alpenrepublik wie eine afrikanische Kolonie. Für Karl Kraus, der ohnehin längst mit den Sozialdemokraten gebrochen hat, ist Bauers 53 54 55

Karl Kraus: Das Schoberlied/La chanson de Schober, in: Die Fackel (September 1930), Nr. 838–844, S. 138–139, hier S. 138. Karl Kraus: Notizen, in: Die Fackel (Dezember 1930), Nr. 845–846, S. 7–20, hier S. 12. Zu Kraus’ lebenslanger leidenschaftlicher Begeisterung für Offenbach, die hier nur als Grundelement seiner Beziehung zur französischen Kultur zur Sprache kommt, vgl. Walter Benjamin: Karl Kraus liest Offenbach, in: Die literarische Welt, 20. 4. 1928; abgedruckt in ders.: Gesammelte Schriften. Unter Mitwirkung v. Theodor W. Adorno u. Gershom Scholem hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser. Bd. IV.1. Hg. v. Tilman Rexroth. Frankfurt a. M. 1972, S. 515–517; Peter Hawig: »Die Offenbach-Renaissance findet nicht statt«. Stationen der Autorinszenierung im Spätwerk von Karl Kraus (1926–1936). Fernwald 2014; Georg Knepler: Karl Kraus liest Offenbach. Erinnerungen. Kommentare. Dokumentationen. Wien 1984; Gesa zur Nieden: »In Paris même malaise«? Karl Kraus’ Paris-Bild im Zusammenhang mit seiner Offenbach-Renaissance, in: Études germaniques 71 (2016), H. 3, S. 373–392; Susanne RodeBreymann: »Gegen die Operettenschande der Gegenwart«. Anmerkungen zu den OffenbachVorlesungen von Karl Kraus, in: Offenbach und die Schauplätze seines Musiktheaters. Hg. v. Rainer Franke. Laaber 1999, S. 85–94.

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Rhetorik unerträglich. »Die nationale Ehre ist das Feld, auf dem die deutschösterreichische Sozialdemokratie, wenn’s gilt, zu leben entschlossen ist, [. . .] seitdem sie ihre verdienstvolle Arbeit zur Überwindung des Krieges beendet hat«.56 Aus Kraus’ kulturpolitischer Perspektive ist Österreich zu diesem Zeitpunkt bereits eine Kolonie. Im Inneren hat es sich von der Macht der Presse kolonisieren lassen, gegen die Kraus zuletzt in seinem Kampf gegen den Zeitungsverleger Imre Békessy 1923 bis 1926 mit dem Schlachtruf »Hinaus aus Wien mit dem Schuft!« Krieg geführt hat. Im Äußeren sehnt sich Österreich Kraus zufolge danach, eine Kolonie des großen deutschen Nachbarn zu werden. Unter diesen Umständen fühlt er sich durch Bauers Protest zur Erklärung herausgefordert, jede Kolonialmacht wäre für Österreich wohltuender als Deutschland: Trifft’s England, soll’s England machen, trifft’s Frankreich, so Frankreich, und ich ließe mich zur Not auch von den Persern verwalten. Kein Zweifel, daß in rein organisatorischen Belangen Deutschland den Vorzug hätte, aber gerade da wäre vielleicht die Gefahr jener Verbindung des Nutzlebens mit dem Geistigen vorhanden, die den Krebs der zentraleuropäischen Kultur bildet. [. . .] Vaterland ist die Summe von Landschaft und Menschentum, von der wir durch Geburt oder Gewöhnung umgeben sind; Staat ist Einmischung in dieses Verhältnis und sein Anspruch auf Beteiligung am Sentiment werde mit jener Kälte abgewiesen, die das Stigma unpatriotischer Gesinnung als geistige Ehre annimmt. [. . .] Was [die Nation] betrifft, so weiß man, daß man doch keineswegs die Macht anderer Entscheidung hätte, wenn Österreich die Wahl bliebe, französische Kolonie zu werden oder Domäne des Bekessy.57

In diesen paradoxen Aussagen erkennt man schon Kraus’ Vorliebe für eine Politik des geringeren Übels, die er ab 1933 mit seiner Parteinahme für die Regierung Dollfuß verfolgen wird, welche er für den letzten Schutzwall gegen Hitler-Deutschland hält. In Hüben und Drüben, einem Text, den Kraus am 29. September 1932 vorlas, kommt noch einmal seine Überzeugung als Österreich-Patriot zum Ausdruck: Ich, der sich einbildet, zur deutschen Sprache annähernd so gute Beziehungen zu unterhalten wie ein Leitartikler der Arbeiter-Zeitung, ja sogar der schlechthin Deutschösterreichischen, habe nie ein Hehl daraus gemacht, daß ich eben im Hinblick auf das Sprachgut einem Anschluß an schießende Koofmichs die Aussicht vorzöge, von Frankreich kolonisiert zu werden [. . .]. Der richtige Anschluß, den ich den deutschen Brudervölkern mein Lebtag gewünscht habe, wäre der an die Sprache, die sie im Munde führen. [. . .] Heimat ist, wo man sich heimisch fühlt; wo man zu Hause ist, ist man es nicht immer; und bestimmt nicht dort, wo der Tod drauf steht, solches zu bekennen!58 56 57 58

Karl Kraus: Die nationale Ehre, in: Die Fackel (Ende Juli 1931), Nr. 857–863, S. 1–4, hier S. 1. Ebd., S. 2–4. Karl Kraus: Hüben und Drüben, in: Die Fackel (Mitte Oktober 1932), Nr. 876–884, S. 1–31, hier S. 12–14.

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In der Dritten Walpurgisnacht, deren Manuskript er im September 1933 abschlossen hat, lehnt sich Kraus noch einmal gegen die Haltung der österreichischen Sozialdemokraten auf, die zwischen den beiden Übeln, dem kleineren schwarzen und dem größeren braunen, nicht wählen wollen, wobei das Stichwort ›französische Kolonie‹ als dritte utopische Option wieder vorkommt: »Wir wollen nicht« den braunen Faszismus, »wir wollen aber auch nicht« den schwarzen. Aber was wir eigentlich wollen, ist noch nicht herausgekommen, und das Fazit ist nur, daß wir uns von diesem vor jenem retten lassen müssen, was wir ja immerhin »wollen«. Denn die Entscheidung, vielleicht doch lieber »eine Kolonie Frankreichs« als eine Preußens zu sein, dessen Sprache schwerer zu verstehen ist, erscheint noch nicht aktuell.59

Im Band der Fackel von Mitte Oktober 1932, der mit Hüben und Drüben beginnt, findet man auch den Aufsatz Subjekt und Prädikat,60 einen weiteren Beitrag zur Sprachkritik, die Kraus gerade in Zeiten akutester politischer Krise für dringend notwendig hielt. Im Zentrum dieses Aufsatzes steht die Diskussion mit dem Romanisten Karl Vossler über einen kleinen Unterschied zwischen der französischen und der deutschen Sprache. »C’est moi« wird durch »Ich bin es«, »C’est toujours Pierre qu’on demande« durch »Immer wird Pierre verlangt« übersetzt, während »c’est nous« durch »Das sind wir« wiederzugeben wäre,61 schreibt Kraus, was nicht wirklich stimmt, denn »Hier sind wir« oder »Wir sind es« wäre eine korrektere Übertragung. Weitere Stellen machen einmal mehr deutlich, wie wenig er mit dem Französischen vertraut war: z. B. schreibt er »c’est moi qui a fait cela« (statt ». . . qui ai fait cela«), und alle Herausgeber seit Philipp Berger, der 1937 die postume Erstausgabe des Bands Die Sprache besorgte, haben diesen kleinen Fehler weitergegeben. Plötzlich geht Kraus zu der Kriegsschuldfrage über: »Der Karnickel hat angefangen!« Ein Musterbeispiel für die Möglichkeit, daß das scheinbare Subjekt, das vortretende und einzig vorhandene Hauptwort, Prädikat ist. Die Antwort auf die Kriegsschuldfrage, welche ja immer eine »eigentliche Frage« ist und immer den »Wer« zum Prädikat hat, wie die Antwort den »Der«. Der Satz bedeutet also: Derjenige, der angefangen hat (und darum totgebissen wurde), ist »der Karnickel« (Prädikat). Im Französischen: c’est le lapin qui a commencé! Es ist der Hase, der den Hund gereizt.62 59 60 61 62

Karl Kraus: Schriften. Hg. v. Christian Wagenknecht. Bd. 12: Dritte Walpurgisnacht. Frankfurt a. M. 1989, S. 258. Karl Kraus: Subjekt und Prädikat, in: Die Fackel (Mitte Oktober 1932), Nr. 876–884, S. 147–192. Dieser Aufsatz wurde in Karl Kraus: Schriften. Hg. v. Christian Wagenknecht. Bd. 7: Die Sprache. Frankfurt a. M. 1987, S. 394–441, aufgenommen. Ebd., S. 410–412. Ebd., S. 433.

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Jacques Le Rider

Davon abgesehen, dass man darüber streiten könnte, ob ein lapin (Kaninchen) das Gleiche ist wie ein Hase (lièvre), was die Leser der Tierfabeln von La Fontaine gewiss in Abrede stellen würden, kann man feststellen, dass Kraus in diesem späten Abschnitt seiner Sprachlehre ein Leitmotiv der Letzten Tage der Menschheit abwandelt. »Mir san ja eh die reinen Lamperln«, sagen im Stück alle Österreicher treuherzig, indem sie die ganze Schuld am Unheil des Weltkriegs auf das Deutsche Reich schieben. 1932 ist eine dritte handelnde Person in die Staatsaktion eingetreten. Neben dem unschuldigen ›österreichischen Antlitz‹ und dem ebenso heiß geliebten wie gehassten deutschen Bruder kommt jetzt der französische Dritte hinzu, hier in der Rolle des Hundes, der das Karnickel zu verschlingen droht. Offenbar hatte Kraus vor dieser Gefahr viel weniger Angst als vor dem Anschluss an Deutschland. Auf der Rückseite des Programmzettels seiner 700. und letzten Vorlesung vom 2. April 1936 im Mittleren Konzerthaussaal stellte Kraus eine beeindruckende Statistik seiner Vorlesungstätigkeit seit 1910 auf: Mehr als die Hälfte der Vorlesungen, genau 414, fanden in Wien statt, 105 in Berlin und 50 in anderen deutschen Städten, 95 in Prag und anderen böhmischen und mährischen bzw. tschechoslowakischen Städten. In dieser statistischen Bilanz fällt auf, dass Kraus zwischen 1925 und 1927 in Paris zehnmal vorgelesen hat. Sonst ist Karl Kraus nie außerhalb des deutschen Sprachraums und ÖsterreichUngarns bzw. der Nachfolgestaaten der Habsburgermonarchie als Vorleser aufgetreten, kein einziges Mal z. B. in England oder in Italien. Während Frankreich und der französischen Kultur vor 1914 in seinem Leben und Schaffen eine eher untergeordnete Bedeutung zukommt, sind sie in den 1920er und 1930er Jahren für ihn wichtig geworden. Nicht nur das Gefühl, in Frankreich jene Anerkennung zu finden, die ihm ab 1925 nach seinem Bruch mit den Wiener Sozialdemokraten im eigenen Land außerhalb seiner unmittelbaren Anhängerschaft versagt blieb, weckte in ihm eine neue Frankophilie. Auch seine Sympathie für das Österreich-Bild vieler französischen Intellektuellen und für die französische Österreich-Politik in den 1920er und 1930er Jahren spielte dabei eine wesentliche Rolle. Das war für einen entschiedenen Gegner des Anschluss-Gedankens wie ihn eine durchaus logische Einstellung.

Thomas Traupmann

Schauplatz der Konfrontation: Karl Kraus’ Schreibtisch im Kriegskontext Abstract: This article explores the multiple meanings of Karl Kraus’s desk. In his work, Kraus self-consciously staged his desk as a place of literary production, but in reality it had many more functions beyond this. From his desk, Kraus participated in a specific field of communication and interaction, playing with both exchange and exclusion, and maintaining selective relations to the »outside world«. Furthermore, this article places Kraus’s study within the context of modern bureaucracy and, by extension, the First World War. It proposes a reading of Kraus’s desk as both the space of his war experience and a space of intellectual warfare. The article concludes by considering Kraus’s lectern, which it examines as an extension of his polemic work.

1. Den Tisch verorten Die Frage nach dem Anfang führt zu einer paradoxen Situation.1 Sie lässt sich streng genommen nur rückblickend stellen, und sie impliziert von jeher eine Markierung: Anfänge sind in einem deiktischen Spannungsfeld angesiedelt (»jetzt«, »damals«, »dort«), folgen aber entgegen der damit bezweckten Festschreibung zugleich einer Logik des Entzugs. Im Fall von Karl Kraus wird die retrospektive Festsetzung noch zusätzlich erschwert. Denn die textuelle Disposition dessen, was als der Materialkomplex der Letzten Tage der Menschheit bezeichnet werden kann, lässt eine Lokalisierung des Anfangs beinahe vergeblich erscheinen.2 Der Titel Die letzten Tage der Menschheit bündelt ein Konvolut textueller Versatzstücke unterschiedlichen Ausprägungsgrades (von der Notiz bis zum Buch),3 das aus Kraus’ Œuvre emergiert und sich wiederum in dieses auflöst. Feste Grenzziehungen verstellen dabei den Blick 1

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Unter besonderer Berücksichtigung des Schreibens verweist auch Hubert Thüring auf das »latente Paradox [. . .], daß der Anfang und das Anfangen erst nachträglich und vielleicht nie endgültig bestimmt werden können« (Hubert Thüring: Anfangen zu schreiben. Einleitung, in: Anfangen zu schreiben. Ein kardinales Moment von Textgenese und Schreibprozeß im literarischen Archiv des 20. Jahrhunderts. Hg. v. H. T., Corinna Jäger-Trees u. Michael Schläfli. München 2009, S. 9–25, hier S. 11). Diese Beobachtung besitzt auch dann noch Gültigkeit – bzw. wird diese Gültigkeit sogar noch unterstrichen –, wenn man eine Unterscheidung zwischen Anfang und Anfangen einzieht, die jener von Text und Schreiben analog gesetzt wird. Vgl. dazu Thüring: Anfangen zu schreiben (Anm. 1), S. 9. Die Rede von unterschiedlichen ›Aggregatzuständen‹ schriftlicher Zeugnisse bei Roland Reuß deutet die Richtung des auch hier virulent werdenden Phänomens an, jedoch bekommt man die Komplexität der Letzten Tage der Menschheit in ihrer Heterogenität mit diesem Instrumen-

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Thomas Traupmann

auf die dynamische Konzeption der Letzten Tage der Menschheit, welche die Setzung eines Anfanges zu verschleiern riskiert und die über das genuin so bezeichnete Material immer schon hinausweist.4 Die Rede vom »vielgestaltigen Weg zur Öffentlichkeit«,5 die Friedrich Achberger anlässlich der Entstehungsgeschichte der Letzten Tage der Menschheit geprägt hat, ist demnach entsprechend ernst zu nehmen. Einkreisen lassen sich allemal mediale oder generisch-formale Verfestigungen.6 Auch einer der frühesten erhaltenen Hinweise auf Kraus’ Arbeit an den Letzten Tagen der Menschheit – wenngleich ohne Nennung dieses Titels7 – und konkret an der dramatischen Form ist in diesem Sinne kein definitiver Anfang. Dieser gleich noch zu rekapitulierende Brief führt jedoch direkt zu Kraus’ Schreibtisch, der im Folgenden im Zentrum der Überlegungen stehen soll. Begreift man den Schreibtisch als den Ort moderner literarischer Produktion schlechthin,8 mögen die von Kraus geschilderten Umstände zunächst relativ unspektakulär und wenig überraschend anmuten. Gleichwohl wird im Einzelnen zu zeigen sein, welche Brisanz damit einhergeht. Jener Brief, den Kraus am 29. Juli 1915 an Sidonie Nádherný von Borutin schickt und der den Hinweis auf seinen Schreibtisch enthält, siedelt Die letzten Tage der Menschheit zwischen Ankündigungs- und Finalisierungsgesten an. Die Eingangspassage berichtet aus der Rückschau noch ohne größere Spezifizierung von »eine[r] Arbeit, immer wieder erst abgeschlossen, wenn morgens um 6 Uhr grad vor meinem Fenster die Opfer vorbeimarschieren« und »deren erster Abschnitt jetzt in drei Tagen und Nächten vollendet wur-

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tarium nicht vollends zu fassen. Vgl. Roland Reuß: Schicksal der Handschrift, Schicksal der Druckschrift. Notizen zur Textgenese, in: Text. Kritische Beiträge 5 (1999), S. 1–25, hier S. 6. Vgl. dazu auch das Promotionsprojekt des Verfassers, das sich ausführlich der Poetik der Letzten Tage der Menschheit widmet. Friedrich Achberger: »Die letzten Tage der Menschheit« von Karl Kraus, in: ders.: Fluchtpunkt 1938. Essays zur österreichischen Literatur zwischen 1918 und 1938. Hg. v. Gerhard Scheit. Wien 1994, S. 59–92 u. 193 f., hier S. 60. So wird etwa auf jenem Sonderheft der Akt-Ausgabe des Dramas, das Vorspiel und ersten Akt umfasst, festgehalten: »Entstanden in den Sommern 1915 bis 1917« (Karl Kraus: Die letzten Tage der Menschheit. Tragödie in fünf Akten mit Vorspiel und Epilog. Vorspiel und I. Akt. Sonderheft der Fackel. Wien 1919, unpag.). In der Entstehungsnotiz ab der Buchausgabe von 1922 wiederum heißt es: »Der erste Entwurf der meisten Szenen ist in den Sommern 1915 bis 1917, das Vorspiel Ende Juli 1915, der Epilog im Juli 1917 verfaßt worden« (Karl Kraus: Die letzten Tage der Menschheit. Tragödie in fünf Akten mit Vorspiel und Epilog. Wien, Leipzig 1922, S. [V]). In beiden Fällen ist damit jedoch noch nichts über die zeitliche Dimension des verwendeten Materials vor der medialen bzw. generischen Transformation gesagt. Erstmals genannt wird dieser, soweit ersichtlich, im Oktober 1915, als der »Monolog des Nörglers« explizit als »Schlußszene eines Aktes« und zur »Tragödie ›Die letzten Tage der Menschheit. Ein Angsttraum‹ « gehörig ausgewiesen und abgedruckt wird (Die Fackel, Nr. 406–412, Okt. 1915, XVII . Jg., S. 166 f.). Vgl. auch Sabine Mainberger: Schreibtischporträts. Zu Texten von Arno Schmidt, Georges Perec, Hermann Burger und Francis Ponge, in: Europa. Kultur der Sekretäre. Hg. v. Bernhard Siegert u. Joseph Vogl. Zürich, Berlin 2003, S. 175–192, hier S. 177.

Schauplatz der Konfrontation: Karl Kraus’ Schreibtisch im Kriegskontext

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de«.9 Dem Brief ist zudem ein drei Tage früher datiertes Tagebuchblatt beigelegt, das zeigt, wie das Schreiben über Die letzten Tage der Menschheit ebenfalls medial gestreut wird. Dieses Tagebuchblatt soll, wie Kraus bemerkt, Auskunft über seine »Verfassung« geben und verweist auf das »Jetzt, während vor meinem Schreibtisch, wie zu ihm hin, der tägliche, unentrinnbare, gräßliche, dem Menschenohr für alle Zeiten angethane Ruf: Extr . . . . e erschallt« (BSN 1, S. 215).10 Am Schreibtisch geht jede Hoffnung, jede Gegen-Handlung, jede (auch gewalttätige) Widerrede im Angesicht des Krieges zunächst fehl: Kein Gedanke, gedacht, gesagt, geschrieen, wäre stark genug, kein Gebet inbrünstig genug, diese Materie zu durchbohren. Muß ich somit nicht, um solche Ohnmacht zu zeigen, darzuthun, was alles ich jetzt nicht kann – wenigstens etwas thun: mich preisgeben? Was bleibt übrig?11 (BSN 1, S. 215, Herv. im Orig.)

Aus der im Tagebuchblatt formulierten »Erschöpfung« sei dann jedoch, wie Kraus in seinem Brief erläutert, 9 10

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Karl Kraus: Briefe an Sidonie Nádherný von Borutin. 1913–1936. A. d. Grundlage d. Ausgabe v. Heinrich Fischer u. Michael Lazarus neu hg. u. erg. v. Friedrich Pfäfflin. 2 Bde. Göttingen 2005, Bd. 1, S. 215, Hervorhebung T. T. (im Folgenden zitiert als »BSN Bandnummer, Seite«). Was hier gleichsam wie ein tabuisierter Begriff auftaucht, lässt vielmehr noch an den Zerfall des Wortes »Extraausgabe« zum Ende des V. Aktes der Buchausgabe der Letzten Tage der Menschheit denken. In der 53. Szene stöhnen die »Gestalten« folgende Zeilen: »– asgabee –! strasgabää –! xtrasgawee –! Peidee Perichtee –! Brichtee –! strausgabee –! Extraskawee –! richtee –! eestrabee –! abee –! bee–!« (Karl Kraus: Die letzten Tage der Menschheit. Tragödie in fünf Akten mit Vorspiel und Epilog. Frankfurt a. M. 152014 [= Schriften, hg. v. Christian Wagenknecht, Bd. 10], S. 669 f. Diese Ausgabe folgt dem Text der Buchausgabe von 1926 und kann als die kanonisierte Fassung gelten. Sie wird im Folgenden zitiert als »LTM« mit Seitenzahl). Zur 54. Szene, dem Abschlussmonolog des Nörglers, siehe weiter unten im Fließtext. Dass der »gräßliche Ruf ›Extraausgabe!‹« (BSN 1, S. 202) in Kraus’ Brief vom 5./6. Juli 1915 an dieselbe Empfängerin als »[e]rster Hinweis auf die Arbeit an dem Drama« (BSN 2, S. 208) zu erachten sein, wie Friedrich Pfäfflin in seinem Kommentar meint, erscheint angesichts der langen Geschichte, die dieses Wort in Kraus’ Œuvre hat, nicht unbedingt plausibel. Zugleich wird hier allerdings einmal mehr die Problematik des Anfangs schlagend. Die »Extraausgabe« ist bereits in frühen Ausgaben der Fackel präsent (vgl. beispielsweise Karl Kraus: Von den Bemühungen des Professors Schenk um die russische Thronfolge, in: Die Fackel, Nr. 9, Juni 1899, I . Jg., S. 14–16, hier S. 16; oder Karl Kraus: Die ›Neue Freie Presse‹ über die Defraudation des Zeitungsstempels, in: Die Fackel, Nr. 35, März 1900, I . Jg., S. 1–9, hier S. 1) und taucht etwa auch in Kraus’ Anrede In dieser großen Zeit auf, die er anlässlich des Kriegsbeginns nachträglich im Dezember 1914 hält (vgl. dazu Karl Kraus: In dieser großen Zeit, in: Die Fackel, Nr. 404, Dez. 1914, XVI . Jg., S. 1–19, hier S. 2 u. 14). In der Fackel von Dezember 1915 druckt Kraus überdies die Blankvers-Dichtung Eeextraausgabeee –! ab, die den besagten Ruf zum »Weltgeräusch« erklärt und auch noch einmal auf die Schreibszene zurückkommt: »Ich sitz’ am Schreibtisch, schreibe dieses Lied, / schließt sich der Vers nicht, hör’ ich draußen: ›– – bäää –‹.« (Karl Kraus: Eeextraausgabeee –!, in: Die Fackel, Nr. 413–417, Dez. 1915, XVII . Jg., S. 1–10, hier S. 7 f.). Unübersehbar ist jedenfalls die enge Verquickung der Extraausgabe mit dem Kriegsgeschehen. Die hier bereits angelegte Unausweichlichkeit und Notwendigkeit wird im Anschluss daran noch deutlicher gemacht: »Der Weg muß gegangen werden«, schreibt Kraus, um in einem Nachsatz einschränkend festzuhalten: »Es wäre aber besser, es geschähe als Plan und nur so, daß auch dies für den einen Menschen geschieht, für den ich lebe und nicht mehr leben will, wenn er glaubt, daß weiteres Stummsein die eigene Menschenwürde gefährdet, daß nicht mehr

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noch ein Funke entsprungen, und es entstand der Plan zu einem Werk, das freilich, wenn es je hervorkommen könnte, gleichbedeutend wäre mit Preisgabe. Gleichwohl und eben deshalb muß es zu Ende geschrieben werden. Der erste Akt, das Vorspiel zu dem Ganzen, ist fertig und könnte für sich bestehen. Zu wem aber wird es dringen? (BSN 1, S. 215, Herv. im Orig.)

Eine Reihe von Aspekten verdiente hier ausgiebigere Beachtung: die ›Erschöpfung‹, die an Kraus’ Schweigen in den ersten Monaten des Krieges erinnert; die »Imperative« einer »Werk-Ideologie«,12 wie sie sich in der Rede vom ›Ende‹ und vom ›Ganzen‹ abzeichnen; der ›Akt‹ als Hinweis auf die dramatische Form; die ›Preisgabe‹, die die Publikation zur Entäußerungshandlung stilisiert und zudem gemeinsam mit dem genannten ›Gebet‹ als Vorwegnahme christlich-messianischer Topoi gelesen werden kann, wie sie die Figur des Nörglers in den Letzten Tagen der Menschheit unter anderem charakterisieren; und nicht zuletzt die drängende Frage am Ende der zitierten Passage, die die Wirkmächtigkeit und Rezeption der Letzten Tage der Menschheit – hier noch als titelloses künftiges ›Werk‹ – fraglich macht. Wichtiger noch als Kraus’ Kommentar erscheint allerdings das Tagebuchblatt selbst: Der Ruf »Extraausgabe«, hier freilich in verknappter Form (»Extr . . . . e«), erschallt diesem Blatt zufolge eben nicht nur »vor« Kraus’ Schreibtisch, sondern »wie zu ihm hin«. Der Schreibtisch – zunächst noch Ort des »Stummsein[s]« (BSN 1, S. 215) – wird somit gleichzeitig zum Ort der Registratur von Stimmen. Anstelle ›durchbohrender‹ Gedanken, die am Schreibtisch entstehen und in denen ein sprachlicher Gewaltakt bereits angelegt ist, ereilt Kraus der Ruf von draußen, der zum Tisch und damit auf die »Bühne der Schreibszene«13 dringt.14 Das im Brief geschilderte Arrangement wird dann im Abschlussmonolog des Nörglers in den Letzten Tagen der

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ertragbar ist diese stille Zeugenschaft von Thaten, nein von Worten, die das Andenken der Menschheit für alle kosmische Zeiten ausgelöscht haben« (BSN 1, S. 215, Herv. im Orig.). Die Zeugenschaft, der Konnex von Taten und Worten, die Auslöschung der Menschheit bzw. ihres Andenkens, die kosmischen Zeiten – sie alle bezeichnen Momente, die direkt in die Programmatik des ›Marstheaters‹ der Letzten Tage der Menschheit führen und insbesondere auch im Vorwort deutlich werden (vgl. LTM, S. 9–11). Eigentümlich bleibt hier die ausweichende Pronominalisierung Nádhernýs von Borutin, jenes »einen Menschen«, dem so viel Wichtigkeit zugeschrieben wird. Diese setzt sich auch im Brief selbst fort, wo Kraus’ Briefpartnerin umständlich als ›der zweite‹, ›er‹ oder ›man‹ tituliert (vgl. BSN 1, S. 216), an keiner Stelle jedoch direkt als ›Du‹ – mit einer Bedingung für das Gelingen brieflicher Ansprache – angesprochen wird. Susanne Lüdemann: Ästhetische Totalität bei Kafka, in: Die Souveränität der Literatur. Zum Totalitären der Klassischen Moderne 1900–1933. Hg. v. Uwe Hebekus u. Ingo Stöckmann. München 2008, S. 149–163, hier S. 149. Christiane Holm: Möbel, in: Handbuch Literatur & Materielle Kultur. Hg. v. Susanne Scholz u. Ulrike Vedder. Berlin, Boston 2018, S. 425–427, hier S. 426. Zur Bühne der Schreibszene vgl. auch Martin Stingelin: ›Schreiben‹. Einleitung, in: »Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Säkulum«. Schreibszenen im Zeitalter der Manuskripte. Hg. v. M. S. München 2004, S. 7–21, insbes. S. 8. Wenige Monate nach dem Tagebuchblatt findet sich in der Fackel von Oktober 1915 innerhalb der Sammlung Nachts ein Aphorismus, in welchem Kraus mit genau dieser Situation koket-

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Menschheit gewissermaßen gedoppelt, wie die entsprechenden Regieanweisungen suggerieren: »Der Nörgler am Schreibtisch. / (Er liest.)«, heißt es eingangs, und in den Abschlussmonolog hinein tönt außerdem der Ruf »– – bee!« zweimal »[v]on draußen, ganz von weitem her« (LTM, S. 670 u. 681). Auch hier taucht also der Ausruf »Extraausgabe« auf, der im Übrigen das Vorspiel und vier der fünf Akte jeweils eröffnet; und auch hier wird er verknappt, gleichsam sprachlich amputiert wiedergegeben. In ihm verdichtet sich der Krieg mit seiner wohl drastischsten Konsequenz, ist er doch, wie der Nörgler formuliert, der »Laut, aus dem zehn Millionen Sterbende mich anklagen, daß ich noch lebe« (LTM, S. 670). Ebenso stellt sich im weiteren Szenenverlauf die Frage nach der Nachwelt und dem potenziellen Rezipient*innen-Kreis, wobei diese Nachwelt mit dem Schreibakt jedoch sogleich suspendiert wird.15 Der Nörgler tritt in diesem Zusammenhang – wie auch in anderen Szenen – als Autor-persona auf, die die Verfasserschaft der Letzten Tage der Menschheit beansprucht: »Ich habe eine Tragödie geschrieben«, lautet seine Rede, und: »Dies ist mein Manifest« (LTM, S. 671 u. 681). Die Schreibtischszene selbst rückt außerdem in die Nähe phonographischer Aufzeichnungstechniken, die erneut auf die Registratur von Stimmen verweisen.16 Nun aber – das ist die entscheidende Differenz zu Kraus’ Brief aus dem Jahr 1915 – durchbohren die Worte die ›Materie‹ des Krieges, und dies in multisensueller Weise: »Ich habe das Wesen gerettet und mein Ohr hat den Schall der Taten, mein Auge die Gebärde der Reden entdeckt und meine Stimme hat, wo sie nur wiederholte, so zitiert, daß der Grundton festgehalten blieb für alle Zeiten« (LTM, S. 681). Der Schreibtisch, und darauf gilt es zurückzukommen, wird damit zu einem Ort der Abrechnung mit den Vergehen des Weltkrieges. Neben dieser prominenten Szene aus den Letzten Tagen der Menschheit sind es insbesondere die Textsorten der Fackel, in denen eine Reflexion über Schreiborte und Schreibszenen stattfindet. Die zentralen Aspekte von Kraus’ Inszenierung seines Arbeitsprozesses hat Irina Djassemy zusammengefasst: die ausgiebige Arbeit zu nächtlicher Stunde, die potenzielle Bedrohung durch den überwältigenden Stoff, die umfangreiche Korrekturtätigkeit sowie die ›äußeren Bedingungen‹ des Schreibens.17 Interessant wird die Frage der In-

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tiert: »Separiertes Zimmer für einen soliden Herrn gesucht, in das der Ruf ›Extraausgabe!‹ nicht dringt« (Die Fackel, Nr. 406–412, Okt. 1915, XVII . Jg., S. 111). »Ich bewahre Dokumente für eine Zeit, die sie nicht mehr fassen wird oder so weit vom Heute lebt, daß sie sagen wird, ich sei ein Fälscher gewesen. Doch nein, die Zeit wird nicht kommen, das zu sagen. Denn sie wird nicht sein« (LTM, S. 671), lässt Kraus den Nörgler bemerken. Vgl. auch Verf.: Echo, Archiv, Artefaktographie. Repräsentationsformen des Krieges in Karl Kraus’ Die letzten Tage der Menschheit, in: Krise. Mediale, sprachliche und literarische Horizonte eines viel zitierten Begriffs. Hg. v. Laura Kohlrausch, Marie Schoeß u. Marko Zejnelovic. Würzburg 2018, S. 205–226, hier S. 209–215. Vgl. Irina Djassemy: Der »Productivgehalt kritischer Zerstörerarbeit«. Kulturkritik bei Karl Kraus und Theodor W. Adorno. Würzburg 2002, S. 345. Der letztgenannte Punkt bleibt bei Djassemy diffus; es bietet sich allerdings an, ihn einerseits auf die Störung von außen hin zu konkretisieren, wie sie bereits in der Briefstelle deutlich wurde, und ihn andererseits auch als

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szenierung nun dort, wo Kraus explizite Situierungen vornimmt. »Between the Study and the Street«18 hat Edward Timms dann auch die beiden Pole von Kraus’ Inszenierungen der Schreibszene angesiedelt. Worauf Timms damit abzielt, ist ein vermeintlicher Wandel in der Kraus’schen Selbststilisierung, der sich ihm zufolge als Bewegung von der poetischen Kontemplation (vor 1914) zum polemischen Engagement (nach 1918) vollziehe.19 Für die Zeit vor 1914 stützt sich Timms vor allem auf einen Aphorismus aus der Sammlung Pro domo et mundo (1911), in dem es heißt: »Die Erlebnisse, die ich brauche, habe ich vor der Feuermauer, die ich von meinem Schreibtisch sehe. Da ist viel Platz für das Leben, und ich kann Gott oder den Teufel an die Wand malen.«20 Ein weiterer, direkt daran anschließender Aphorismus verhandelt auf ähnliche Weise eine Situation der Abschottung als Möglichkeitsbedingung literarischer Produktion: »Um schreiben zu können, muß ich mich den äußeren Erlebnissen entziehen. Der Souffleur« – und die Theatermetaphorik erscheint hier durchaus bedenkenswert – »ist laut genug in meinem Zimmer.«21 Nach 1918 haben sich Timms zufolge diese Verhältnisse verkehrt, heiße es doch in einer Inschrift, die Kraus im Jahr 1920 in der Fackel veröffentlicht: »Ein Kabinett mit Aussicht auf die Gasse ist jenem mit der Aussicht nach dem Hofe doch vorzuziehn!«22 Zusätzlich zur Bedeutung des Hofes als eines Innenhofes inkludiert Kraus’ Diktum ein zeitgenössisches Wortspiel, demzufolge nach dem Zerfall des Habsburgerreiches der Blick weg vom Kaiserhof gelenkt werden soll. Stattdessen kommt die Gasse ins Spiel – als Ort des bewegten Lebens und soziologisch codiert als Zone des ›Niederen‹, aber auch als medialer Raum, der von Presse, Reklame und politischer Propaganda geflutet wird.23 Nun wirkt jedoch nicht bloß die Zäsur, die Timms an den Daten des Ersten Weltkrieges festmachen will, konstruiert, sondern auch generell ist die starre Opposition, auf die er sich stützt, nicht haltbar. Wiederholt kollidiert

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Schauplatz des Körperlichen zu profilieren. Den manischen Korrektor Kraus wiederum thematisieren auch dessen Zeitgenoss*innen ausgiebig in ihren – wohlgemerkt nur allzu oft hagiographisch anmutenden – Erinnerungen. Vgl. überblicksartig die Zeugnisse in: Aus großer Nähe. Karl Kraus in Berichten von Weggefährten und Widersachern. Hg. v. Friedrich Pfäfflin. Göttingen 2 2008, S. 183–193; zum Korrekturprozess vgl. außerdem Christian Wagenknecht: Korrektur und Klitterung. Zur Arbeitsweise von Karl Kraus, in: Karl Kraus. Hg. v. Heinz Ludwig Arnold. München 1975 (= Text + Kritik, Sonderbd. 6), S. 108–115. Edward Timms: Karl Kraus. Apocalyptic Satirist. The Post-War Crisis and the Rise of the Swastika. New Haven, London 2005, S. 123. Vgl. ebd., S. 125. Die Fackel, Nr. 338, Dez. 1911, XIII . Jg., S. 16. Nur am Rande sei hier übrigens bemerkt, dass es in der sog. ›Liebesmahl-Szene‹, der letzten Szene des V. Aktes in den Letzten Tagen der Menschheit, ebenfalls eine Wand ist, auf der sich in kinematographischer Manier eine ganze Reihe von »Erscheinungen« (LTM, S. 710) abzeichnet. Die Fackel, Nr. 338, Dez. 1911, XIII . Jg., S. 16. Karl Kraus: Wohnungswechsel, in: Die Fackel, Nr. 551, Aug. 1920, XXII . Jg., S. 15 f., hier S. 16, Herv. im Orig. gesperrt. Vgl. auch Timms: The Post-War Crisis (Anm. 18), S. 126.

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schon vor 1914 die inszenierte kontemplative Innenschau nicht nur mit der genuinen Materialproduktion, sondern sogar mit anderen Aphorismen innerhalb der besagten Sammlung Pro domo et mundo. Exemplarisch sei bloß auf den folgenden verwiesen: »Wer die Gesichte und Geräusche des Tages sich nicht nahe kommen läßt, dem lauern sie auf, wenn er zu Bette geht. Es ist die Rache der Banalität, die sich in meinen Halbschlaf drängt und weil ich mich mit ihr nicht einlassen wollte, mir die Rechnung zur Unzeit präsentiert.«24 Die Gespenster des Tages kehren also zur Nachtstunde wieder – und damit zur bevorzugten Schreibzeit von Kraus. Relativiert werden muss folglich auch der Befund, wonach der Satiriker »characteristically appears in embattled isolation«.25 Ähnliches gilt auch für die zuvor zitierten Aphorismen, die gar nicht so eindeutig sind, wie Timms dies suggeriert. Denn schon, dass der besagte Souffleur »laut genug« ist, deutet darauf hin, dass angesichts dieser Stimme aus dem Off, die zur Bühne der Schreibszene dringt, bei allen Entzugsphantasien von absoluter Ruhe oder Isolation keine Rede sein kann. Während sich Kraus’ Haltung gegenüber störenden Leser*innen dezidiert und eindeutig gestaltet,26 scheint sich daraus jedoch noch kein allgemeines Gesetz der Störung ableiten zu lassen. Bereits die Wahrnehmung der ›Opfer‹ vor Kraus’ Fenster sowie der Extraausgaben-Ruf in der eingangs zitierten Briefstelle haben darauf verwiesen: Die Arbeit an den Letzten Tagen der Menschheit impliziert zugleich eine Öffnung. Was sich zunächst als Störung geriert – der an den Schreibtisch dringende Ruf mag dies exemplarisch verdeutlichen – und als Hemmnis auftritt, wird in zweiter Instanz ebenfalls zu einer Möglichkeitsbedingung poetischer Produktion. Die Registratur der Stimmen von außen, auf der die Polyphonie der Letzten Tage der Menschheit maßgeblich beruht, bringt eine Umwertung der Störung mit sich: Was Störung war, wird nun Sender, dabei der Logik des bruit parasite folgend, jenes gleichzeitig aus- und eingeschlossenen Dritten, der das »Sein der Relation«27 24 25 26

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Die Fackel, Nr. 300, April 1910, XI . Jg., S. 31. Edward Timms: Karl Kraus. Apocalyptic Satirist. Culture and Catastrophe in Habsburg Vienna. New Haven, London 1986, S. 169. Vgl. dazu insbesondere Kraus’ Antworten des Herausgebers in der Fackel von November 1920. »Die dort [am Schreibtisch, Anm. T. T.] nicht Beschäftigten lassen sich eben deshalb den Entritt [sic] nicht verwehren«, stellt Kraus fest, und im Zusammenhang mit aufdringlichen Leser*innen, »die mich zu kennen vermeinen«, macht er abermals die Forderung nach Isolation stark: »Ich möchte aber meinen Horizont noch mehr einschränken, so sehr, daß er nicht mehr als den Schreibtisch umspannt und zwar einen, auf dem nur von mir Geschriebenes Platz hat. Und ich will mein Lebtag nichts andres schreiben als von mir, in der selbstentäußernden Überzeugung, daß darin mehr von der Welt ausgesagt wäre, als wenn die Wiener Literatur von ihr spricht und handelt. Dazu brauche ich keine Zeitung, keinen Brief, kein Gespräch – keine Vorlage mehr, nur die Vorstellung davon« (Karl Kraus: Antworten des Herausgebers, in: Die Fackel, Nr. 554–556, November 1920, XXII . Jg., S. 29–50, hier S. 34 u. 47). Hier konstituiert sich der Schreibtisch als ein abgeschlossener Raum, der sich in seiner Selbstbezüglichkeit genügt. Michel Serres: Der Parasit. Übers. v. Michael Bischoff. Frankfurt a. M. 1987, S. 120.

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ausmacht. Das Büro respektive der Schreibtisch – etymologisch sind beide ohnehin miteinander verknüpft28 – lässt sich in weiterer Konsequenz auch für Kraus begreifen als »ein Raum, der vielfältigste, wenn auch hochselektive Beziehungen mit seinem Außen unterhält.«29 Timms’ Formulierung »Between the Study and the Street« müsste daher umcodiert und weniger als dichotomische Entgegensetzung denn vielmehr als exakte Lokalisierung eben jenes Zwischenraumes verstanden werden, in dem Kraus mit seinem Schreiben (inter)agiert. Doch auch innerhalb vordergründig (ab)geschlossener Systeme findet ein Austausch statt – zumindest bezieht sich darauf ein weiterer Aphorismus aus der Sammlung Pro domo et mundo: »Ich arbeite Tage und Nächte. So bleibt mir viel freie Zeit. Um ein Bild im Zimmer zu fragen, wie ihm die Arbeit gefällt, um die Uhr zu fragen, ob sie müde ist, und die Nacht, wie sie geschlafen hat.«30 Ein Bild im Zimmer zu fragen, wie ihm die Arbeit gefällt: Damit ist eine Situation umrissen, die direkt in die Wiener Lothringerstraße führt.

2. Arrangements: Kraus’ Arbeitszimmer Kraus’ Wohnung in der Lothringerstraße, die er ab 1912 bis zu seinem Tod 1936 bewohnt, ist jener Schreibort des Autors, der photographisch einigermaßen gut dokumentiert ist. Die Wohnung selbst ist von überschaubarer Größe und nicht für Repräsentationszwecke gedacht: Sie besteht aus Arbeitsraum, Vorzimmer, Schlafzimmer und Küche, und sie besitzt darüber hinaus unter diesen Räumen gelegen einen annähernd gleich großen Bereich, der Kraus als Archiv dient und auch Mitarbeitern zugänglich ist.31 Fünf (und damit die meisten) Photographien haben sich vom Arbeitszimmer erhalten (Abb. 1–3); sie wurden allerdings erst nach Kraus’ Tod von Julius Scherb aufgenommen,32 der damit im Grunde einen »Gedächtnisort« dokumentiert und – wie sich weiter in Anlehnung an Thomas Rahn formulieren lässt – nicht zuletzt über die Inszenierung des leicht schräg nach hinten verrückten Schreibtischstuhls vor 28 29

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Bureau ist »ursprünglich der mit einem besonderen Wollstoff bespannte, also eigens präparierte Schreibtisch« (Friedrich Balke, Bernhard Siegert, Joseph Vogl: Editorial, in: Medien der Bürokratie. Hg. v. F. B., B. S. u. J. V. Paderborn 2016, S. 5–12, hier S. 6). Balke, Siegert, Vogl: Editorial (Anm. 28), S. 6 f. Marlies Tropp zufolge konstituiert sich Kraus’ »Subjekt seines Schreibens« überhaupt erst am nächtlichen Schreibtisch in einem »entrückten Zustand«, der sich für die diskursiven Knotenpunkte öffnet (Marlies Tropp: »Schweigen, Wort und Tat«. Zur Methode der Sprachkritik bei Karl Kraus, in: Die Fremdheit der Sprache. Studien zur Literatur der Moderne. Hg. v. Jochen C. Schütze, Hans-Ulrich Treichel u. Dietmar Voss. Hamburg 1988, S. 84–102, hier S. 95). Die Fackel, Nr. 326–328, Juli 1911, XIII . Jg., S. 47. Vgl. Heinz Lunzer: ›Die Fackel‹: Schreiben und Drucken, in: »Was wir umbringen«. ›Die Fackel‹ von Karl Kraus. Hg. v. H. L., Victoria Lunzer-Talos u. Marcus G. Patka. Wien 1999, S. 74–89, hier S. 88. Vgl. ebd.

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Abb. 1: Die Wohnung von Karl Kraus in der Lothringerstraße 6, Wien. Photographien von Julius Scherb, 1936. Arbeitszimmer. © Wienbibliothek im Rathaus/Imagno/picturedesk.com.

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Abb. 2: Die Wohnung von Karl Kraus in der Lothringerstraße 6, Wien. Photographie von Julius Scherb, 1936. Arbeitszimmer. © Wienbibliothek im Rathaus/Imagno/picturedesk.com.

allem die »Spur einer personalen Abwesenheit« fokussiert.33 Dass von Kraus am Schreibtisch keine Photographie überliefert ist, mag angesichts einer von ihm 1912 verfassten Glosse nicht weiter überraschen, die ohne Seitenhieb auf einen notorischen Antagonisten nicht auskommt: In der Werkstatt den Dichter zu zeigen, ist ein Problem der modernen Photographie. Die meisten widersetzen sich, weil sie sich schämen, in Anwesenheit des Photographen schöpferisch tätig zu sein, oder weil sie es dann einfach nicht könnten. Der Dichter hat am Schreibtisch nichts zu suchen, wenn der Photograph kommt, aber dieser will gerade, daß 33

Thomas Rahn: Der Schreibtisch des Autors in der Fotografie, in: Bildnispolitik der Autorschaft. Visuelle Inszenierungen von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. Hg. v. Daniel Berndt u. a. Göttingen 2018, S. 325–351, hier S. 342.

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Abb. 3: Die Wohnung von Karl Kraus in der Lothringerstraße 6, Wien. Photographien von Julius Scherb, 1936. Arbeitszimmer. © Wienbibliothek im Rathaus/Imagno/picturedesk.com.

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Abb. 4: Karl Kraus in seinem Arbeitszimmer in der Lothringerstraße 6. Photographie von Unbekannt, um 1920/21. In: Aus großer Nähe. Karl Kraus in Berichten von Weggefährten und Widersachern. Hg. v. Friedrich Pfäfflin. Göttingen 22008, S. 164. der Dichter am Schreibtisch sitzt. [. . .] Nur in Ausnahmsfällen hat der Photograph Glück und kriegt den Moment zu fassen, wo die Produktion sich ungestört von der Aufnahme vollzieht. Eine Berliner Zeitschrift hat Herrn Hugo v. Hofmannsthal in seinem Heim vorgeführt. Der Dichter sitzt am Schreibtisch und liest ein Buch.34

Erhalten hingegen hat sich ein Portrait von Kraus, das ihn – vermutlich um 1920/21 – auf dem besagten Schreibtischstuhl sitzend vor seiner Bücherwand ablichtet, den Blick aktiv in die Kamera gerichtet und in einer für seine Selbstinszenierung typisch lässigen Pose (Abb. 4).35 Was die Wohnungsphotographien selbst betrifft, so bergen diese noch eine zusätzliche Crux in sich: Mindestens Kraus’ Arbeitszimmer wurde Anfang der 1930er Jahre in absentia durch den Architekten Karl Jaray renoviert,36 auf den offenbar auch die aus34 35 36

Karl Kraus: In der Werkstatt, in: Die Fackel, Nr. 347–348, April 1912, XIV . Jg., S. 49. Zur Photographie siehe Pfäfflin: Aus großer Nähe (Anm. 17), S. 164. Zur Ikonographie des Autors vor der Bücherwand, die einen seit der Frühen Neuzeit gängigen Typus aktualisiert, vgl. auch Rahn: Der Schreibtisch des Autors (Anm. 33), S. 333 f. Vgl. auch Friedrich Rothe: Karl Kraus. Die Biographie. München 2004, S. 226 f.

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gefeilten Blickachsen zurückgehen. Dass Jaray in die räumliche Disposition und insbesondere punktuell in die Positionierung einzelner Einrichtungsgegenstände eingriff, ist verschiedenen Zeugnissen aus Kraus’ Umfeld zu entnehmen.37 Unabhängig von solchen Ver-Stellungen lassen sich allerdings auch aus den postum angefertigten Photographien einige Schlüsse ziehen: In den Regalen des Arbeitszimmers wird eine Fülle an Manuskripten und Satzkorrekturen – die meisten davon in Papierbögen eingeschlagen – aufbewahrt, die zusammen mit dem genannten Archiv unter der Wohnung, den sich auf dem Sekretär im Schlafzimmer türmenden Blättern38 sowie einem eigenen Raum als ›Briefregistratur‹39 eine beachtliche Menge an losem Papiermaterial ausmachen. Die überschaubare Zahl der Bücher in den Regalen ist nach Gebrauchswert geordnet,40 während in der obersten Reihe darüber Die Fackel in gebundener Form und die Bände von Kraus’ Schriften dominant aufgereiht sind. Markant setzen vier der Photographien außerdem den (von Adolf Loos gestalteten41 ) Schreibtisch in Szene, dessen »Papierlast«42 sich bildet aus Fackel-Heften, Nachschlagewerken, Notizzetteln; aus »Papieren, Zeitungen, Korrekturfahnen und Büchern«,43 wie mit Leopold Liegler, Kraus’ Privatsekretär, bemerkt werden kann. Kraus’ Schreibtisch rückt demnach auch in die Nähe der tabula plena des modernen scripteur, wo die »Übergänge von Schreiben und Lesen sowie von Schreiben und anderen Tätigkeiten des Alltags wie Gastmahl oder Gespräch in intertextuellen und intermedialen Konstellationen greifbar werden«.44 Häufig suggerieren zudem gefüllte Schreibtische in 37

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Vgl. die Erinnerungen Sidonie Nádhernýs von Borutin Ende der 1940er Jahre: »Früher war alles viel persönlicher, von ihm selbst aufgehängt. Ich hatte separate Ehrenstellen. Da kam Jaray u. in seiner Abwesenheit wurde zu seiner Überraschung – u. er änderte dann nichts mehr, um nicht zu kränken – gründlich geputzt, gemalt, umgestellt, neu aufgehängt, Fensterdichtungen angebracht u. s. w.« (Sidonie Nádherný von Borutin, zit. n. Karl Kraus. Eine Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs im Schiller-Nationalmuseum Marbach. Hg. v. Ulrich Ott u. Friedrich Pfäfflin. Marbach am Neckar 21999, S. 23) Explizit erwähnt sie eine andere Positionierung der Büste (das ist der Grabstein-Abguss, von dem noch zu sprechen sein wird) sowie des Diwans. Letzteren benennt auch Leopold Liegler, gemeinsam mit dem ovalen Tisch, der Zahl der Bilder an der Wand sowie der Veränderung einiger kleinerer Artefakte. Abseits davon weicht Lieglers (ebenfalls den 1940er Jahren entstammende) Beschreibung von Kraus’ Wohnung in ihrem Zustand von 1915 nur unwesentlich von den Photographien ab. Vgl. Leopold Liegler: Meine Erinnerungen an Karl Kraus, in: Kraus Hefte 25 (1983), S. 1–18, v. a. S. 11. Vgl. die Abb. bei Ott, Pfäfflin (Hg.): Karl Kraus (Anm. 45), S. 31 f. Vgl. dazu Liegler: Meine Erinnerungen (Anm. 37), S. 10. Vgl. Lunzer: ›Die Fackel‹ (Anm. 31), S. 88. Vgl. Rothe: Karl Kraus (Anm. 36), S. 226. Liegler: Meine Erinnerungen (Anm. 37), S. 11. Ebd., S. 10 f. Die vollständige Passage bei Liegler lautet: »Das [Arbeits-]Zimmer wurde beherrscht von einem riesigen Schreibtisch, dessen Seitenteile immer aufgeklappt waren, über und über mit Papieren, Zeitungen, Korrekturfahnen und Büchern bedeckt. Nur in der Mitte war ein kleiner Raum ausgespart, in dem ein uraltes Tintenzeug mit einem einfachen, schmucklosen Federstiel, wie wir ihn alle in der Volksschule gehabt haben, und eine riesige Aschenschale [. . .] untergebracht waren.« Holm: Möbel (Anm. 13), S. 426.

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der photographischen Inszenierung ein »Ethos des Durcharbeitens« sowie einen Verweis auf das Schreiben als vollumfassende »Lebensform«.45 In jedem Fall aber lässt sich für Kraus’ Schreibtisch-Arrangement bemerken, dass das Durcheinander der Papiere eher auf eine »Poetik des Schreibens statt des Werkes«46 hindeutet, im Rahmen derer die Arbeit an Manuskripten47 im Vordergrund steht, die mit der dennoch angestrebten Fertigstellung von Büchern wiederholt konfligiert. Eingerahmt wird der Raum dann von einer Vielzahl an Photographien und Bildern an den Wänden sowie auf den Schränken und Regalen: »Sie bilden einen Kreis der für Kraus wichtigen Personen, lebender wie toter, wie man ihn selten als rückwärtsgewandt-vergegenwärtigendes Ambiente zu sehen bekommt«.48 Ein Faible für Stücke aus der Vergangenheit, die mit der Schreibszene zumindest vordergründig nichts zu tun zu haben scheinen, verbindet Kraus auch mit Zeitgenossen wie Sigmund Freud – und dessen Sammlung kleiner Antikenstatuetten – oder Peter Altenberg.49 Doch die Bedeutung der Photographien und Bilder für Kraus reicht darüber hinaus. Schon der zuvor zitierte Aphorismus – »ein Bild im Zimmer zu fragen, wie ihm die Arbeit gefällt« – verweist auf einen imaginären Gesprächsraum, der hier etabliert wird. Das Personal der Bilder stützt diese These: Zu sehen sind für Kraus prägende Größen wie Johann Nestroy, seine sog. ›Schüler‹ Franz Grüner und (der im Krieg gefallene) Franz Janowitz, die Künstlerkollegen Arnold Schönberg, Peter Altenberg, Adolf Loos und Frank Wedekind, aber auch Kraus nahestehende Personen wie seine Eltern oder besagte Sidonie Nádherný von Borutin. Eine Vielzahl von (Bild-)Zeugnissen ist schließlich von Annie Kalmar vorhanden, jener jung verstorbenen und von Kraus zutiefst verehrten Schauspielerin – dazu zählt etwa das Bild direkt auf Kraus’ Schreibtisch, aber auch der Abguss von Kalmars Grabstein in einer Ecke des Arbeitszimmers. Mit den Worten von Edward Timms zusammengefasst findet sich hier »no shrine dedicated to vanished cultural formations but an animated theatre of memory«.50 Der Theater-Begriff lässt sich an dieser Stelle durchaus wörtlich nehmen: Das Arbeitszimmer wird zum θέατρον (théatron), zu einem Raum des Schauens (θεᾶσθαι/theâsthai) und zu einem Raum des Dialogischen, einem Raum der imaginären Gespräche – auch verstanden als Gespräche mit den imagines, vielfach als mortifizierte Objekte aufgereiht an den Wänden, die im Angesicht der Schreibszene zu neuem Leben erwachen. Die ›Parerga‹ 45 46 47

48 49 50

Rahn: Der Schreibtisch des Autors (Anm. 33), S. 338 u. 345. Ebd., S. 343. Zu Kraus’ Arbeitsweise vgl. auch Christian Wagenknecht: Schreiben im Horizont des Druckens: Karl Kraus, in: »SCHREIBKUGEL IST EIN DING GLEICH MIR : VON EISEN«. Schreibszenen im Zeitalter der Typoskripte. Hg. v. Davide Giuriato, Martin Stingelin u. Sandro Zanetti. München 2005, S. 183–203. Lunzer: ›Die Fackel‹ (Anm. 31), S. 88. Vgl. Timms: The Post-War Crisis (Anm. 18), S. 123. Ebd.

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der Textproduktion (im Sinne einer »Minimalphänomenologie des Schreibtischs«51 ) sind dementsprechend nicht nur im Schreibtisch und insbesondere im Arrangement der Gegenstände auf seiner Oberfläche zu suchen, sondern umfassen auch das Interieur des Arbeitszimmers, auf das die Schreibszene ausgreift.52 Die Pointe des gesamten Bilderreigens liegt dann freilich darin, dass die Zahl an Abbildungen Annie Kalmars nur mehr von einer weiteren übertroffen wird: nämlich von der Zahl an Abbildungen von Kraus selbst. Auch dies ist über ein bloß quantitatives Faktum hinaus interessant: Denn gemeinsam mit der Anwesenheit der eigenen Schriften, der erwähnten Fackel-Hefte – auch auf dem Schreibtisch –, aber etwa auch gerahmter Vorlesungsprogramme an den Wänden verweist das Arrangement des Arbeitszimmers auf ein Schreiben, das – in durchaus narzisstischer Weise – stets mit der eigenen Person und deren medialer Stabilisierung, vor allem aber mit dem vorangegangenen Werk korrespondiert und damit auf kontinuierliche Fortschreibung ausgerichtet ist. Den vorhandenen Büchern hingegen fehlt, wie angedeutet, ein solcher persönlicher Wert, wie er den Photographien zukommt, beinahe vollständig. In der Forschung wurde Kraus daher nicht nur als reger Benützer fremder (öffentlicher wie privater) Bibliotheken charakterisiert, sondern man hat auch auf eine Art von ›Bürosystem‹, das er etablierte, hingewiesen.53 Kraus schickte Freunde und Mitarbeiter auf die Suche nach Zitaten und für Recherchezwecke aus,54 aber gleichzeitig bedurfte es ebenso »geübter Setzer und Bürokräfte, um unter dem starken Zeitdruck die gestellten Aufgaben (Satz der ›Fackel‹ und der Bücher, Satz der Plakate und Erledigung der Korrespondenz, aber auch eine Menge von einzelnen Kommunikationen technischer Art und der Verwaltung) zu bewältigen«,55 insofern diese den Druck seiner SchreibtischErzeugnisse betrafen. Der Schreibtisch wird dann zum Organisationszentrum einer Mikrobürokratie und zur Schaltzentrale des ›Systems Kraus‹. So verwundert es auch kaum, dass seine Arbeitsweise von zeitgenössischen Stimmen einem strikt getakteten Büroalltag gleichgesetzt wurde – wenn auch mit deutlich verschobenen Arbeitszeiten.56 Eines der ausführlichsten Zeugnisse dazu stammt abermals von Leopold Liegler: 51 52

53 54 55 56

Markus Krajewski: Denkmöbel. Die Tische der Schreiber zwischen analog und digital, in: Archive für Literatur. Der Nachlass und seine Ordnungen. Hg. v. Petra-Maria Dallinger, Georg Hofer u. Bernhard Judex. Berlin, Boston 2018, S. 193–213, hier S. 193. Vgl. auch jene briefliche Äußerung von 7./8. April 1922, in der Kraus das Mobiliar in das Spiel personaler An- und Abwesenheit während der Überarbeitung der Letzten Tage der Menschheit einbezieht: »Oft schaue ich, aus Gewohnheit, nach dem andern Tisch hinüber oder nach dem Divan. Es kommt viel Anregung von dieser Gegend, aber keine Stimme« (BSN 1, S. 621). Vgl. Lunzer: ›Die Fackel‹ (Anm. 31), S. 90. Vgl. ebd., S. 85. Ebd., S. 90. Zu seinem verschobenen Tagesablauf äußert sich Kraus in satirischer Manier bereits 1908. Seine ›verkehrte Lebensweise‹ begründet er damit, dass er der Einteilung der Welt in »Morgenblatt« und »Abendblatt« entgehen wolle: »Und wenn ich erwache, breite ich die ganze papierene Schande der Menschheit vor mir aus, um zu wissen, was ich versäumt habe, und bin glücklich.«

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Für Kraus war der nachmittägige Kaffeehausbesuch die Gelegenheit zum Mittagsmahl, denn er arbeitete nachts bis etwa fünf Uhr früh, legte sich dann bis Mittag schlafen und erschien um drei Uhr nachmittags im Café. So um fünf Uhr ging er nach Hause, weil vor 6 Uhr der Diener von der Druckerei kam, der das Tages-Arbeitspensum der Setzerei und die tagsüber im Verlage eingelaufene Post brachte. Nachdem er noch rasch einen kleinen Imbiß genommen hatte, machte er sich an die Lektüre der Briefe, durchflog angekommene Zeitungen und Zeitschriften und verglich dann die Korrekturen der Druckerei. Gegen acht Uhr ging er in ein Gasthaus, aß dort reichlich: [. . .]. Nach neun Uhr suchte er wieder ein Café auf – ein anderes als jenes am Nachmittag – las dort die Abendblätter und empfing wieder gelegentlich Besuche [. . .]. Im Kaffeehaus blieb er noch bis nach elf Uhr und machte sich dann auf den Heimweg, um bis fünf Uhr früh zu arbeiten. [. . .] Damit ist die Tageseinteilung, an die er sich mit großer Pünktlichkeit hielt, so ziemlich umschrieben.57

Hier wird noch einmal deutlich, mit welchen Interessen man sich bislang Kraus’ Schreibtischtätigkeit gewidmet hat.58 Die nächtliche Arbeit steht einem romantischen Schreibrausch allerdings denkbar fern: Denn obgleich Kraus durchaus vom »wüste[n] Nachtleben am Schreibtisch«59 spricht, wird er zumindest später auf der »Planmäßigkeit und Beherrschtheit«60 seiner Arbeit beharren. Kraus’ Schreiben taktet nicht zuletzt die Botengänge der Druckerei (und vice versa): Morgens holt ein Bote das Geschriebene der Nacht ab; abends bringt dieser wiederum die davon angefertigten Druckfahnen respektive Bürstenabzüge.61 Dennoch kokettiert Kraus ständig mit

57 58

59 60

61

(Karl Kraus: Lob der verkehrten Lebensweise, in: Die Fackel, Nr. 257–258, Juni 1908, X. Jg., S. 10–14, hier S. 11) Die »Welt, die zwischen Morgen- und Abendblatt lebt«, ist ein Topos, der bis in die erste Fackel-Ausgabe im Jahr 1899 zurückführt (Karl Kraus: Die Vertreibung aus dem Paradiese, in: Die Fackel, Nr. 1, April 1899, I . Jg., S. 12–23, hier S. 12). Liegler: Meine Erinnerungen (Anm. 37), S. 9 f. Unergiebig bleibt Richard Schuberths »Versuch, den Widerspruch von Apollinischem und Dionysischem, Selbstbe- und -entgrenzung, Trockenheit und Feuchte in Karl Kraus’ Werk und Leben aufzulösen«, der zum Schreibtisch abgesehen von mancher Kraus’schen Selbstaussage nichts beizutragen hat und sich wiederholt in nicht haltbaren Behauptungen erschöpft (Richard Schuberth: Karl Kraus, der Schreibtisch und die Wanduhr, in: Im Rausch des Schreibens. Von Musil bis Bachmann. Hg. v. Katharina Manojlovic u. Kerstin Putz. Wien 2017, S. 326–339, hier S. 327). Karl Kraus: Innsbruck, in: Die Fackel, Nr. 531–543, April 1920, XXII . Jg., S. 1–206, hier S. 111. So berichtet es Helene Kann (zit. n. Pfäfflin [Hg.]: Aus großer Nähe [Anm. 17], S. 191). Kann übernimmt hier wortgleich einen Topos, den Kraus in seinem Beitrag Warum die Fackel nicht erscheint aus dem Jahr 1934 selbst auslegt (vgl. Karl Kraus: Warum die Fackel nicht erscheint, in: Die Fackel, Nr. 890–905, Juli 1934, XXXVI. Jg., S. 1–315, hier S. 37). Vgl. Lunzer: ›Die Fackel‹ (Anm. 31), S. 90. Vgl. auch die Schilderung bei Liegler: Meine Erinnerungen (Anm. 37), S. 10: »Was Kraus in der Nacht geschrieben hatte, fand der Druckereidiener früh morgens, sorgfältig in ein oder mehrere Umschläge verpackt, im Vorzimmer der Krausschen Wohnung, zu der er einen Schlüssel hatte, auf einem Sessel liegend vor. Diese Manuskripte und Korrekturen wurden dann tagsüber in der Druckerei bearbeitet und kamen abends vor sechs Uhr wieder mit der Tagespost zurück.« Kraus besaß darüber hinaus ein Druckprivileg: Seine Aufträge hatten üblicherweise Vorrang und die Setzer sowie die Drucker und ihre Maschinen standen (fast) permanent zu seiner Verfügung. Vgl. auch Lunzer: ›Die Fackel‹ (Anm. 31), S. 99–101.

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der Möglichkeit der Verausgabung, soll er doch selbst bekundet haben, dass sein Schreiben »pausenlos fort[geht] bis zur völligen Erschöpfung«.62 Sigismund von Radeckis Einschätzung, dass Kraus am Schreibtisch »lebte«,63 verdeutlicht, wie erfolgreich dessen Strategien der Selbstinszenierung waren. Am Schreibtisch sitzt allerdings nicht nur der Autor Kraus. Vielmehr müssen ebenso die bereits genannten komplementären Rollen von Bürokrat und Schreiber, aber vor allem der ›Schreibtischtäter‹ Kraus in den Blick genommen werden.

3. Schreibtischpraktiken Für Kraus ist der Schreibtisch der Ort der Kriegserfahrung: Schließlich ist der Krieg, wie er ihn rezipiert – in Form von Presse, Reklame, Aktenstücken etc. – immer schon ein bereits vertexteter. Ähnlich wie bei Kafka funktioniert der Schreibtisch bei ihm als »Schaltstelle[ ] zu außerliterarischen Diskursen und Schreibtechniken«,64 und er wird, wie ausgeführt, zum Empfangs- bzw. Aufzeichnungsort stilisiert und damit zu einem Kreuzungspunkt der Diskurse. Im Gegensatz allerdings zu frühen Bemerkungen in der Fackel, denen zufolge die Blätter quasi wie ›von selbst‹ auf den Schreibtisch flattern oder gewirbelt werden,65 wird die aktive Registratur am Schreibtisch in den Jahren des Ersten Weltkrieges und danach – insbesondere im Umfeld der Letzten Tage der Menschheit – immer mehr zu einer Kampfansage. Damit verschiebt bzw. erweitert sich, wie noch ausführlicher zu zeigen sein wird, zugleich der Funktionszusammenhang von Kraus’ Schreibtisch. Nun gilt auch für diesen, dass er eines jener »missachteten Zentren von Netzwerken« bildet, »die sich als Texte manifestieren«.66 Zugespitzt formuliert fungiert der Schreibtisch als das ›mediale Apriori‹ der Textproduktion schlechthin;67 etwas distinkter medial gefasst kann er rekurrierend auf Walter Seitter als Ort der Gegenwärtigkeit respektive der Präsentation von Material verstanden werden.68 Mit dieser Funktion gehen unterschiedliche Handlungs62 63 64 65 66 67 68

So zumindest überliefert es Sigismund von Radecki (zit. n. Pfäfflin [Hg.]: Aus großer Nähe [Anm. 17], S. 186). Radecki, zit. n. Pfäfflin (Hg.): Aus großer Nähe (Anm. 17), S. 186, Herv. im Orig. Friedrich Balke, Joseph Vogl u. Benno Wagner: Einleitung, in: Für Alle und Keinen. Lektüre, Schrift und Leben bei Nietzsche und Kafka. Hg. v. dens. Zürich, Berlin 2008, S. 7–18, hier S. 14. Vgl. Karl Kraus: Antworten des Herausgebers, in: Die Fackel, Nr. 8, Juni 1899, I . Jg., S. 23 f., hier S. 23; sowie Karl Kraus: Das Jubiläumstheater, in: Die Fackel, Nr. 146, Nov. 1903, III . Jg., S. 10–21, hier S. 11. Krajewski: Denkmöbel (Anm. 51), S. 196. Vgl. ebd. Vgl. Walter Seitter: Physik der Medien. Materialien, Apparate, Präsentierungen. Weimar 2002, S. 77. Seitter, dem man dabei wie in manch anderem Punkt nicht zwingend folgen muss, nennt dies auch die »eigentliche[ ] Medienfunktion« des Tisches.

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Abb. 5: Karl Kraus: Mit der Uhr in der Hand. Eigenhändiges Manuskript, 1916, 2 Bl., hier Bl. 2. Wienbibliothek im Rathaus, Handschriftensammlung, H. I. N. 169779.

optionen einher: Eine davon ist die Selektion – was auf den Tisch kommt, wird von anderen Dingen abgesetzt und vor allem auf eine Verkehrs- bzw. Kommunikationsfläche gebracht.69 Eine andere stellt die Gruppierung dar, und damit jener ›Verbund‹,70 der aus der Anordnung der Dinge auf dem Tisch resultiert, aus denen sich dann wiederum eine oder auch keine Interferenz ergeben kann. Für Kraus ist dies insbesondere jene erwähnte Ansammlung von Papieren, Notizzetteln, Korrekturfahnen, Fackel-Heften, Büchern, Zeitungen und Zeitungsausschnitten auf seinem Schreibtisch. Eben dieses Material wird 69 70

Vgl. ebd., S. 77–79. Vgl. ebd., S. 77. Für einen solchen Verbund wäre entsprechend auch ein Prinzip der ›Konsignation‹ zu veranschlagen (vgl. dazu Jacques Derrida: Mal d’archive. Une impression freudienne. Paris 1995, S. 14).

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Abb. 6: Karl Kraus: Manuskript zur Akt-Ausgabe der Letzten Tage der Menschheit, 3. Akt. Österreichische Nationalbibliothek, Literaturarchiv, Cod. Ser. n. 19270, Bl. 9a.

damit zugleich in einen bestimmten Operations- respektive Aktionsraum eingefügt. Seitter spricht diesbezüglich auch von der Annäherung der Dinge an die »Augen-Hand-Zone«,71 die sich als konstitutive Voraussetzung für das »Hybrid aus Schreibsubjekt und Schreibobjekt«72 am Schreibtisch fassen lässt. Ohnehin ist Kraus’ Lesen in der Regel auch ein fortwährendes (Re-)Agieren mit der Hand, mithin ein Manöver.73 Außerdem speist sich sein Schreiben 71 72 73

Ebd., S. 69. Krajewski: Denkmöbel (Anm. 51), S. 197 f. Zum Zusammenhang von Manier, Manöver, Manipulation und Manuskript vgl. auch Jacques Derrida: Maschinen Papier. Das Schreibmaschinenband und andere Antworten. Hg. v. Peter Engelmann. A. d. Französischen v. Markus Sedlaczek. Wien 2006, S. 143.

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häufig aus einer »antithetical disposition«74 gegenüber dem vorliegenden Material, und die entsprechenden Gruppierungen auf dem Tisch eröffnen eben eine solche Möglichkeit von Konfrontation. Ein Blick in das Nachlassmaterial erweist sich darüber hinaus als aufschlussreich für die Frage nach den relationalen Zusammenhängen auf Kraus’ Schreibtisch – schließlich finden sich in den Manuskripten wiederholt Schriftverläufe, die als Effekte des angefüllten Schreibtisches mit seinem eng begrenzten Schreibraum zu deuten sind: Sie folgen entsprechend der notwendigen Drehung des Blattes (Abb. 5, 6).75 Dies führt im Übrigen zu den oben genannten Parerga der Schreibszene zurück, denn hier, im eingegrenzten Beobachtungsraum auf dem Schreibtisch, wird noch deutlicher als an den im Raum verteilten Artefakten, inwiefern das Verhältnis der Dinge zueinander Kraus’ Schreiben bedingt bzw. beeinträchtigt. In der Terminologie Bruno Latours gesprochen wirken auf dieses Schreiben demgemäß verschiedene Akteure ein, mit denen je spezifische ›Aktionsprogramme‹76 einhergehen (können). Beim zweiten der beiden Blätter (Abb. 6) bedient sich Kraus nachweislich der Praktik des Abschreibens: Er überträgt Teile von Alice Schaleks Feuilleton Kriegsbilder in Tirol mit der Feder wörtlich in die Rede seiner Dramenfigur, wobei die Vorlage eine gewisse Schreibbewegung forciert und sich die Schrift im Verfahrensverlauf in der rechten unteren Ecke des Blattes nachgerade zusammendrängt. Von hier aus lassen sich dann auch sekretariale Einsprengsel in Kraus’ Poetik verfolgen, bildet doch die Kehrseite der genieästhetischen Autorschaftskonzeption »ein unaufhörliches Aufschreiben, Abschreiben, Verzeichnen, Registrieren und Archivieren.«77 Kraus als Schreiber wird damit zu einer Vermittlungsfigur: Es sind »geborgte Reden, durchgestrichene Ichs und die vielen Stimmen der Anderen«,78 die einer solchen Poetik zugrunde liegen. Das Freisetzen von Produktivkräften ist damit allerdings keineswegs ausgeschlossen. Denn es wäre zu kurz gegriffen, das Abschreiben bloß als direkte, unverfälschte Übertragung einer Text-Entität in eine andere zu erachten. Es kehrt vielmehr die Materialität und Zeichenhaftigkeit der Schrift hervor und verweist auch insofern auf einen prozessualen Vertextungsvorgang, als es gerade die ›Störungen‹ sind, die es brisant machen. 74 75

76 77 78

Timms: Culture and Catastrophe (Anm. 25), S. 45. Abb. 5 zeigt einen frühen Entwurf des Textes Mit der Uhr in der Hand, den Kraus in der Fackel von Januar 1917 (vgl. Die Fackel, Nr. 445–453, Jan. 1917, XVIII . Jg., S. 150) bzw. im dritten Band der Worte in Versen (vgl. Karl Kraus: Gedichte. Frankfurt a. M. 1989 [= Schriften, hg. v. Christian Wagenknecht, Bd. 9], S. 120) abdruckt und den er für die Szene des Nörglers im Vortragssaal (V/26 der Akt-Ausgabe), über die weiter unten noch zu sprechen sein wird, wieder aufgreift. Vgl. Bruno Latour: Der Berliner Schlüssel, in: ders.: Der Berliner Schlüssel. Erkundungen eines Liebhabers der Wissenschaften. A. d. Französischen v. Gustav Roßler. Berlin 1996, S. 37– 51, hier S. 47. Bernhard Siegert, Joseph Vogl: Vorwort, in: Europa. Kultur der Sekretäre. Hg. v. dens. Zürich, Berlin 2003, S. 7–9, hier S. 7. Ebd., S. 8 f.

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Dies können etwa Kopierfehler sein oder auch schlicht und einfach das selbstständige Fortschreiben der Abschrift, wenn Kraus – wie im vorliegenden Fall – von der Vorlage ab einer gewissen Stelle abweicht und eigenen Text zu produzieren beginnt.79 Direkt an die Handlungsoption der Gruppierung lassen sich zwei weitere anschließen: Hinlegungsmöglichkeit und Entfernungsmöglichkeit, die beide auf eine grundsätzliche Mobilität des Materials verweisen.80 Eine solche Mobilität muss unter Umständen jedoch überhaupt erst hergestellt werden, und eine Möglichkeit dafür, auf die Kraus zurückgreift, ist der Einsatz der Schere. Diese dient der Herstellung kleiner, dynamischer Einheiten, die im Gegensatz zur großformatigen vollständigen Zeitung der Zirkulationsfläche des Schreibtisches angepasst sind und die sich dort miteinander verschalten lassen. Allerdings ist der Schnitt auch ein Verfahren der Ökonomisierung: Er funktioniert schneller als das Abschreiben und ist damit noch geeigneter, die Schreibtischpraktiken an den Maschinenrhythmus, nach dem das Pressewesen getaktet ist,81 anzunähern. Zugleich ist das Schneiden eine Schreibtischtätigkeit, die der Domäne der Büroarbeit zugerechnet werden kann: Kraus’ poetische Verfahren finden sich in unmittelbarer Nähe zu den Tätigkeiten der Zeitungsausschnittbüros wieder, die ab Ende des 19. Jahrhunderts aufkommen – namentlich spielt das Wiener Büro Observer in diesen Zusammenhängen eine wichtige Rolle für Kraus. Autor- respektive Verfasserschaft ist damit kein singulärer Akt mehr: Schon das Vorgehen der Zeitungsausschnittbüros verweist auf ein arbeitsteiliges Verfahren,82 und auch der Materialkomplex der Letzten Tage der Menschheit lässt sich mit einer Goethe’schen Wendung als Ergebnis eines ›Kollektivwesens‹83 lesen, das (textuelles) ›Fremdes‹ und ›Eigenes‹ vereint. Die Kollektivstiftung, die sich hierbei vollzieht, kann jedoch kaum als harmonische oder egalitäre erachtet werden, sondern deutet vielmehr auf eine hierarchisch konzipierte Zusammensetzung und mithin auf ein collectif involontaire hin. Eine originäre Autorschaftsvorstellung muss dennoch notwendigerweise prekär erscheinen. In diesem Sinne lässt sich mit Juliane Vogel auch von einer »negative[n] Figur der Autorschaft« sprechen, die – zunächst, wie man ergänzen muss – »von der Produktion von Origina79 80 81 82 83

En détail dazu siehe Verf.: Nachschrift. Karl Kraus’ Poetik des Sekundären, in: Duplikat, Abschrift & Kopie. Kulturtechniken der Vervielfältigung. Hg. v. Jörg Paulus, Andrea Hübener u. Fabian Winter. Wien u. a. 2020, S. 261–278, v. a. S. 268–274. Vgl. Seitter: Physik der Medien (Anm. 68), S. 78. Vgl. Reiner Niehoff: Die Herrschaft des Textes. Zitattechnik als Sprachkritik in Georg Büchners Drama »Danton’s Tod« unter Berücksichtigung der »Letzten Tage der Menschheit« von Karl Kraus. Tübingen 1991, S. 218. Vgl. Juliane Vogel: Kampfplatz spitzer Gegenstände. Schneiden und Schreiben nach 1900, in: Konstellationen – Versuchsanordnungen des Schreibens. Hg. v. Helmut Lethen, Annegret Pelz u. Michael Rohrwasser. Göttingen 2013, S. 67–81, hier S. 74. Vgl. Johann Wolfgang Goethe: Die letzten Jahre. Briefe, Tagebücher und Gespräche von 1823 bis zu Goethes Tod. Teil III : Vom Dornburger Aufenthalt 1828 bis zum Tode. Hg. v. Horst Fleig. Frankfurt a. M. 1993, S. 521 f.

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len Abstand nimmt, um stattdessen in die Texte anderer einzugreifen«.84 Das Schneiden gleicht entsprechend einem aggressiven Gewaltakt: Es kann verstanden werden als Herrschaftspraktik85 sowie als Praktik der Intervention, die »Kommunikations- und Materialunterbrechungen«86 erzeugt und somit in die copia der Rede eingreift. Kraus’ Schreibtisch wird zum ›Kampfplatz spitzer Gegenstände‹87 – während bei Vogel dieser Kampfplatz allerdings als Ort der Auseinandersetzung zwischen Schere und Schreibfeder gedacht ist, gehen diese beiden bei Kraus ein Bündnis ein und bilden gemeinsam die Basis einer destruktiven Poetik.

4. Kampfzone Schreibtisch Der Schreibtisch als Ort der materialen Mobilmachung und der Austragung von papiernen Gefechten verweist allerdings noch auf eine darüber hinausreichende Kampfzone, die zurück in das Figurenensemble der Letzten Tage der Menschheit führt. Auch abseits des besagten Nörgler-Abschlussmonologs ist das Material voll von Schreibszenen, Schriftstücken und Schreiberfiguren: Kanzlei- und Bureauzimmer; Hauptquartiere; das Militärkommando; PresseRedaktionen; Kriegsfürsorgeamt, Kriegsarchiv und Kriegspressequartier; die Briefzensur; diverse Ministerien; das Arbeitszimmer des österreichischen Kaisers; sogar der Mittagstisch bei Paul von Hindenburg und Erich Ludendorff – sie alle bezeichnen Orte, an denen Schreibtischtäter88 potenziell ihr Unwesen treiben. Was damit in den Letzten Tagen der Menschheit verhandelt wird, ist nicht zuletzt eine Verschiebung, auf die Cornelia Vismann aufmerksam gemacht hat: Denn so wie der Erste Weltkrieg in mehrerlei Hinsicht eine Zeit radikaler technologischer Neuerungen darstellt – und Kraus wird nicht müde, das zu kritisieren –, gilt das auch für die Verwendung des Schreibtisches. Der »Technik-Transfer des Ersten Weltkrieges« mündet direkt in die Büroreformen der 1920er Jahre, die in der »Vision vom bürokratisierten Militär«, wie sie etwa Alfred von Schlieffen vertritt, vorweggenommen werden.89 Dessen Ausführungen zufolge befindet sich der Feldherr 84 85 86 87 88

89

Juliane Vogel: Materialbeherrschung und Sperrgewalt. Der Herausgeber Karl Kraus, in: Die Souveränität der Literatur. Zum Totalitären der Klassischen Moderne 1900–1933. Hg. v. Uwe Hebekus u. Ingo Stöckmann. München 2008, S. 459–471, hier S. 460. Vgl. ebd., S. 461. Ebd., S. 460. So lautet der Titel von Juliane Vogels gleichnamigem Aufsatz (Anm. 82). Wie Dirk van Laak festhält, ist spätestens mit dem Ersten Weltkrieg jenes »komplexe Beziehungsgefüge zwischen Schreiben und Tun«, das später den Begriff des Schreibtischtäters definieren wird, »voll ausgeprägt« (Dirk van Laak: Schreibtischtäter – eine vorläufige Bilanz, in: Schreibtischtäter. Begriff – Geschichte – Typologie. Hg. v. D. v. L. u. Dirk Rose. Göttingen 2018, S. 297–312, hier S. 298). Cornelia Vismann: Akten. Medientechnik und Recht. Frankfurt a. M. 2 2001, S. 271.

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weiter zurück in einem Hause mit geräumigen Schreibstuben, wo Draht- und Funkentelegraph, Fernsprech- und Signalapparate zur Hand sind [. . .]. Dort, auf einem bequemen Stuhle vor einem breiten Tisch hat der moderne Alexander auf einer Karte das gesamte Schlachtfeld vor sich, von dort telephoniert er zündende Worte und dort empfängt er die Meldungen der Armee- und Korpsführer, der Fesselballons und der lenkbaren Luftschiffe [. . .].90

Ein derartiges Phantasma vom »Schlachtfeld-Büro«,91 wie Max Weber es 1922 charakterisieren wird, ruft auch Kraus in seiner essayistischen Polemik gegen die Kriegstechnologie auf, die im Mai 1918 unter dem Titel Das technoromantische Abenteuer in der Fackel erscheint und in der gleichsam Schlieffens ›zündende Worte‹ in ihrer finalen Konsequenz gedacht werden: Denn wenn man die menschliche Stimme, also auch das Kommando, auf Entfernungen wie Berlin-Wien übertragen kann, warum sollte es der Technik, die das Wunder von heute zur Kommodität von morgen macht, nicht möglich sein, einen Apparat zu erfinden, durch den es mittelst einer Druck-, Umschalte- oder Kurbelvorrichtung einem Militäruntauglichen gelingen könnte, von einem Berliner Schreibtisch aus London in die Luft zu sprengen und viceversa?92

Mit den Heeres-Schreibtischen eng verflochten sind die Schreibtische der Journalist*innen und Literaten, die sich in den Dienst der habsburgischen Propaganda stellen und durch ihren »Feuilletonismus der Glorie«93 an der Austreibung der Vorstellungskraft beteiligen, wodurch ihnen Kraus zufolge ein wesentlicher Anteil an der Kriegsschuld anzulasten sei.94 Über diejenigen, die ihren Kriegsdienst in den Propagandainstitutionen ableisten, äußert sich Kraus bereits im Dezember 1915 in seinem Fackel-Beitrag Geteilte Ansichten über die Kriegsberichterstattung in eindeutiger Weise.95 Mit Blick auf 90 91 92 93

94

95

[Alfred Graf von Schlieffen:] Der Krieg in der Gegenwart, in: Deutsche Revue. Eine Monatsschrift 34 (1909), H. 1, S. 13–25, hier S. 18. Vismann: Akten (Anm. 89), S. 271. Karl Kraus: Das technoromantische Abenteuer, in: Die Fackel, Nr. 474–483, Mai 1918, XX . Jg., S. 41–45, hier S. 43. Karl Kraus: Literaten unterm Doppelaar, in: Die Fackel, Nr. 457–461, Mai 1917, XIX . Jg., S. 22– 25, hier S. 25. Unter Berufung auf Die letzten Tage der Menschheit wird Kraus auch Mitte der 1930er Jahre noch einmal betonen: »[M]achen wir uns doch mit Papier nichts vor, was wir uns nicht vorstellen können; und erkennen wir, daß es ein Leichtes ist, vom Schreibtisch aus Schmierbüchsen zum Losgehn zu bringen.« (Kraus: Warum die Fackel nicht erscheint [Anm. 60], S. 236). Es ist hier nicht der Ort, Kraus’ weithin bekannte Pressekritik näher auszuführen. Vgl. dazu die grundlegenden Ausführungen bei Helmut Arntzen: Karl Kraus und die Presse. München 1975; den profunden neueren Überblick bei Djassemy: Productivgehalt (Anm. 17), S. 220–277; sowie für das frühe Œuvre Gilbert Carr: Demolierung Gründung Ursprung. Zu Karl Kraus’ frühen Schriften und zur frühen Fackel. Würzburg 2019, S. 431–463. Vgl. Karl Kraus: Geteilte Ansichten über die Kriegsberichterstattung, in: Die Fackel, Nr. 413– 417, Dez. 1915, XVII . Jg., S. 32–36, hier S. 33: »Man weiß, daß die freiwillig untauglichen Angehörigen des journalistischen Gewerbes, zu denen sich auch ein paar mittelmäßige, aber sonst gesunde Malermeister gesellt haben, bei Kriegsbeginn eingefangen und in einen abgesonderten Raum gesperrt wurden, der Kriegspressequartier heißt, ein Raum, dessen Zugang nur den

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den Ort der Täterschaft präzisiert er seine Kritik zehn Jahre nach Ende des Ersten Weltkrieges, als er in der Fackel die Akten zum ›Fall Kerr‹, seiner gerichtlichen Auseinandersetzung mit Alfred Kerr über dessen Kriegsgedichte, veröffentlicht: Wir wollen nicht darüber sprechen, ob die Bereitschaft bei Kriegsausbruch, also zu einer Zeit, wo eine ziemlich geringe Vorstellung jener Kriegsrealität verbreitet war, die weiterhin doch Gedichte ermöglichte, etwa auch noch die Lust zu persönlicher Aktivität sagen wir 1917 verbürgt hat und ob nicht der Schreibtisch als Deckung für ein kriegerisches Fühlen um diese Zeit schon vielfach dem Schützengraben vorgezogen wurde.96

Dezidiert fällt auch Kraus’ Urteil über die Rolle der Presse im Kriegskontext in der bereits erwähnten Anrede In dieser großen Zeit aus: »Sie erhebt nicht nur den Anspruch, daß die wahren Ereignisse ihre Nachrichten über die Ereignisse seien, sie bewirkt auch diese unheimliche Identität, durch welche immer der Schein entsteht, daß Taten zuerst berichtet werden, ehe sie verrichtet werden«.97 Zu jenem Typus von Schreibtischtäter, »von dessen Schreibtisch die Befehlsgewalt ausgeht«, und zu jenem, »der als logistischer ›Helfer‹ die Durchführung dieser Befehle organisiert«, gesellt sich in diesem Sinne ein dritter Typus, der diejenigen umfasst, »welche diese Ereignisse schreibend kommentieren bzw. sie in einem propagandistischen Sinne ›herbeischreiben‹«.98 Voraussetzung für letzteren ist freilich, wie Sarah Mohivon Känel herausgearbeitet hat, eine »behauptete Analogie zwischen Krieg, Schreibinhalt, Schriftsteller und Schrift«, die »eine Aufhebung der [. . .] Differenz zwischen Schreiben und Handeln, Denken und Ausführen, Dichten und Kämpfen [impliziert].«99 Sobald nun allerdings Kraus die Protagonist*innen an den Schreibtischen der Propagandamaschinerie in den Blick nimmt, findet eine Umwertung vom ›Schreibtischkämpfer‹ zum ›Schreibtischtäter‹ statt,100 und die Bestrafung der »Kriegsschreiber nach dem Krieg« imaginiert er noch vor dem offiziellen Kriegsende in der gleichnamigen Abhandlung in der Fackel: Eine allseitige Friedensbedingung wird den Tag festsetzen müssen, an welchem gleichzeitig in sämtlichen Staaten auf offenem Markt vor den auf Tribünen sitzenden dort Unbeschäftigten gestattet ist, während wieder die unentbehrliche ›Literatur‹ im Kriegsarchiv sitzt und einige [. . .] sogar auf freiem Fuß schreiben und Deutschland zu Studienzwecken und auf Staatskosten, das heißt für mein Geld, bereisen dürfen.« 96 Karl Kraus: Der größte Schuft im ganzen Land . . . , in: Die Fackel, Nr. 787–794, Sept. 1928, XXX . Jg., S. 1–208, hier S. 30. 97 Kraus: In dieser großen Zeit (Anm. 10), S. 8 f. 98 Dirk Rose: Zur Einführung. Schreibtischtäter – ein Typus der Moderne?, in: Schreibtischtäter (Anm. 88), S. 11–26, hier S. 12. 99 Sarah Mohi-von Känel: Schreibtischkämpfer, Schreibtischtäter. Formen und Ambivalenzen sprachlicher Kriegsführung im Ersten Weltkrieg, in: Schreibtischtäter (Anm. 88), S. 145–178, hier S. 150. 100 Vgl. ebd., S. 163.

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Invaliden die Kriegslyriker und alle, die mit dem Wort zur Tat geholfen haben, dadurch von ihr befreit waren und ihre schmähliche Rettung nicht allein mit dem Ruin anderer erkauft, sondern noch mit Gewinn belohnt sahen, zusammengetrieben und ausgepeitscht werden.101

Wie im bisherigen Verlauf deutlich wurde, stellt der Schreibtisch ein ›belastetes‹ Möbel im Kriegskontext dar. Von hier aus ist nun noch einmal nach Kraus’ eigener Schreibtischtätigkeit zu fragen: Denn auch er attackiert vom Schreibtisch aus. Dieser ist für ihn eben nicht nur ein Ort der Kriegserfahrung, sondern im selben Maße einer der angewandten Kriegsführung, und dies über die spezifischen, oben geschilderten Praktiken hinaus. Er ist der Ausgangspunkt der Kraus’schen Gegenangriffe sowie der sprachlichen Vernichtung seiner Gegner*innen – bereits Walter Benjamin hat zu Kraus resümiert: »Wer ihm in den Arm läuft, ist schon gerichtet: sein Name selber wird in diesem Mund zum Urteil.«102 Der Schreibtisch kann mithin als Ort der Gerichtsbarkeit gelten, und er ist jener Schauplatz, an dem Kraus das Zitat der Verfügungsgewalt der Zitierten entreißt und damit einen Herrschaftsanspruch etabliert, innerhalb dessen das Zitat gegen die Zitierten aussagt.103 Die bereits thematisierte diskursive Registratur wird damit zu einer gewaltsamen Form von Archivierung,104 die sich in die autoritäre Orchestrierung105 von Stimmen im Nachdruck – sei es in der Fackel, sei es in den Letzten Tagen der Menschheit – übersetzt. Kraus’ Schreibtisch gestaltet sich zuletzt als das Kontrollzentrum eines privaten Feldzuges gegen die Kultur und Gesellschaft seiner Zeit, und Kraus selbst wird damit zum Schreibtischtäter, der ergänzend zu den drei genannten Typen schon insofern als vierter Typus zu verstehen ist, als sich seine Täterschaft keinem Staatsapparat unterordnet – so stellt es zumindest Kraus’ im Rahmen einer Lesung der Letzten Tage der Menschheit geäußertes »Bekenntnis, daß ich kein Vaterland habe außer meinem Schreibtisch«, dar.106 Noch 1930, als er die Bühnenfassung der Letzten Tage der Menschheit anfertigt und sich ein letztes Mal für die Arbeit an diesem Materialkomplex an den Schreibtisch begibt, wird er dementsprechend bemerken: »Der Entschluß [der Anfertigung dieser Fassung, Anm. T. T.] bekundet, ungeachtet aller Hindernisse der theatralischen Ausführung, den Willen des Autors, den Krieg gegen den Krieg und gegen die Mächte, die ihn ermöglicht, herbei101 Karl Kraus: Die Kriegsschreiber nach dem Krieg, in: Die Fackel, Nr. 474–483, Mai 1918, XX . Jg., S. 156–158, hier S. 157, im Orig. gesperrt. 102 Walter Benjamin: Kriegerdenkmal, in: ders.: Einbahnstraße. Berlin 1928, S. 50 f., hier S. 51. 103 Vgl. Cornelia Vismann: Karl Kraus: Die Stimme des Gesetzes, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 74 (2000), H. 4, S. 710–724, hier S. 720. 104 Zu Kraus’ unterschiedlichen Strategien der Archivierung vgl. auch Verf.: Echo, Archiv, Artefaktographie (Anm. 16), S. 215–223. 105 Vgl. Gilbert Carr: Figures of Repetition: Continuity and Discontinuity in Karl Kraus’ Satire, in: Modern Language Review 102 (2007), S. 768–780, hier S. 770. 106 Karl Kraus: Der Vogel, der sein eigenes Nest beschmutzt, in: Die Fackel, Nr. 781–786, Juni 1928, XXX . Jg., S. 1–9, hier S. 4.

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geführt und erklärt haben, fortzusetzen«.107 Die Kampfansage aktualisiert die etymologische Tiefenschicht der Polemik (πόλεµος/pólemos) und macht Kraus’ Schreibtisch auch in diesem Sinne zu einem Schauplatz der Konfrontation. Dass die zuletzt zitierte Äußerung zuerst auf einem Vorlesungsprogramm publiziert wird, deutet jedoch bereits an, dass der Austragungsort der Kraus’schen Auseinandersetzung noch in einen anderen Rahmen (und, wie hier zu ergänzen wäre, auch in ein anderes θέατρον) überführt wird.

5. Coda: Kraus am Vortragstisch Kraus’ oben zitierte Vorstellung seiner Schreibtischtäter-Gerichtsbarkeit sollte sich nicht realisieren, wie sein Kriegssegen aus dem Jahr 1925 verdeutlicht: Mein Vorschlag, nach Friedensschluß die Kriegsliteraten einzufangen und vor den Invaliden auszupeitschen, ist unerfüllt geblieben [. . .]. Immerhin sollte man jetzt [. . .] wenigstens die Einrichtung haben, daß sie gezwungen sind, an jedem Jahrestag des Kriegsbeginns sich von mir vorlesen zu lassen, was sie damals geschrieben haben.108

Bereits vor der Anfertigung der Bühnenfassung der Letzten Tage der Menschheit dient die Vorlesung Kraus als Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln. In ihrer Funktion als Substitut der Auspeitschung wird auch sie in die Nähe eines Gewaltaktes gerückt, was für die Funktionsweise des Vortragstisches noch eigens zu bedenken sein wird. Zunächst allerdings gilt es festzuhalten, dass Kraus grundsätzlich mit der Austauschbarkeit von Schreibtisch und Vortragstisch respektive Podium spielt. Beide werden – freilich in satirischer Manier – mit einem Heimatbegriff aufgeladen,109 beide zu exklusiven Fluchtorten stilisiert,110 und Sidonie Nádherný von Borutin wird Kraus’ Vorlesungen rückblickend überhaupt als dessen »Ersatz für den Schreibtisch« bezeichnen.111 Ein Blick in die Manuskripte der Akt-Ausgabe der Letzten Tage der Menschheit verleitet zu einem ähnlichen Befund. Die spätere Szene V/26 wird handschriftlich mit folgender Regieanweisung eingeleitet: 107 Karl Kraus: Notizen und Glossen, in: Die Fackel, Nr. 834–837, Mai 1930, XXXII . Jg., S. 15–40, hier S. 20. 108 Karl Kraus: Kriegssegen, in: Die Fackel, Nr. 706–711, Dez. 1925, XXVII . Jg., S. 29–42, hier S. 42. 109 Vgl. Karl Kraus: Das kulturelle Niveau, in: Die Fackel, Nr. 820–826, Okt. 1929, XXXI . Jg., S. 146–148, hier S. 148. An früherer Stelle sind es noch Schreibtisch und Bett, die zur ›Heimat‹ auserkoren werden (vgl. Karl Kraus: Aus Kindern werden Erwachsene, in: Die Fackel, Nr. 640– 648, Jan. 1924, XXV . Jg., S. 127–133, hier S. 133). 110 Vgl. Karl Kraus: Madame l’Archiduc in Prag, in: Die Fackel, Nr. 885–887, Dez. 1932, XXXIV . Jg., S. 34–44, hier S. 40. 111 Sidonie Nádherný von Borutin zit. n. Pfäfflin: Aus großer Nähe (Anm. 17), S. 220.

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Monolog des Nörglers Der Nörgler (am Schreibtisch)112

In der Druckfassung lautet die Regieanweisung jedoch »Wiener Vortragssaal«,113 was gleichsam mit der durch Nádherný von Borutin suggerierten Verschiebung in Kraus’ eigener Praxis korreliert. Konsequenterweise wird mit dieser Verschiebung weg vom Schreibtisch und hin zum Vortragssaal die handschriftliche Bemerkung »Draußen, ganz von weitem her, der Ruf: – – bee!«114 gerade nicht übernommen. Schon zu Beginn seiner Vorlesungstätigkeit, die offiziell 1910 einsetzt,115 zeichnet sich bei Kraus jedenfalls eine Liaison von Schrift und Darbietung, von geschriebenem und gesprochenem Wort ab, die sich in einem Aphorismus der Sammlung Pro domo et mundo verdichtet findet: »Wenn ich vortrage, so ist es nicht gespielte Literatur. Aber was ich schreibe, ist geschriebene Schauspielkunst.«116 Kein ›Spielen‹, sondern ein Aufrechterhalten der Deklamationskunst des 19. Jahrhunderts ist Kraus’ Credo, mit dem er sich gegen den zeitgenössischen Theaterbetrieb richtet und seinem Vorlesen zugleich eine anachronistische Note verleiht.117 Entsprechend ist dieses von einem spezifischen Minimalismus geprägt: von geringer ›Theatralität‹, überschaubarem Einsatz der Gestik und spartanisch eingerichteter Bühne.118 Die Absage an visuelle Mittel – schon 1916 formuliert der Vorleser Kraus den Plan, ein »dekorationsfreies Shakespeare-Theater ins 112 Österreichische Nationalbibliothek, Sammlung von Handschriften und alten Drucken, Cod. Ser. n. 19272, Bl. 60. 113 Karl Kraus: Die letzten Tage der Menschheit. Tragödie in fünf Akten mit Vorspiel und Epilog. IV . und V . Akt. Sonderheft der Fackel. Wien [1919], S. 492. Dramaturgisch ist diese Szene dort mit der vorhergehenden Szene V/25 abgestimmt, die im »Berliner Vortragssaal« spielt (ebd., S. 491). 114 Österreichische Nationalbibliothek, Sammlung von Handschriften und alten Drucken, Cod. Ser. n. 19272, Bl. 60. 115 Für einen Überblick über Kraus’ Vorlesungen von 1910 bis 1936 vgl. Christian Wagenknecht: Die Vorlesungen von Karl Kraus. Ein chronologisches Verzeichnis, in: Kraus Hefte 35–36 (1985), S. 1–30, der Kraus’ frühe Rezitationen aus den 1890er Jahren sowie die Radioaufnahmen zu Beginn der 1930er Jahre allerdings ausspart; sowie die ausführliche, von Katharina Prager erstellte Materialsammlung Karl Kraus online (siehe https://www.kraus.wienbibliothek.at/dervorleser, aufgerufen am 27. 07. 2019). 116 Karl Kraus: Pro domo et mundo, in: Die Fackel, Nr. 336–337, Nov. 1911, XIII . Jg., S. 40–42, hier S. 41. 117 Vgl. dazu auch Brigitte Stocker: Rhetorik eines Protagonisten gegen die Zeit. Karl Kraus als Redner in den Vorlesungen 1919 bis 1932. Wien, Berlin 2013, S. 189–191. Zu den Korrelationen von Satire und Theaterpraxis bei Kraus vgl. überdies Eiji Kouno: Die Performativität der Satire bei Karl Kraus. Zu seiner »geschriebenen Schauspielkunst«. Berlin 2015, S. 140–177. 118 Vgl. Gunther Martens: Karl Kraus on Stage. Between Text and Theatricality, in: Orbis Litterarum 71 (2016), H. 1, S. 33–52, hier S. 36 u. 41–46. Auch Friederike Hagel, einer Augenzeugin der Vorlesungen, zufolge »genügte Kraus der kleine Raum zwischen Tisch und Stuhl als Szene durchaus« (Friederike Hagel: Der Vorleser Karl Kraus, in: Kraus Hefte 37 (1986), S. 1–5, hier S. 1). Sie bemerkt aber auch, dass Kraus in späteren Jahren vermehrt kleinere Requisiten verwendet, die sich im Rahmen der Tisch-Szene bedienen lassen (vgl. ebd., S. 3).

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Leben zu rufen«,119 das auf das spätere Theater der Dichtung120 vorausweist – geht dabei einher mit einer Aufwertung der stimmlichen Qualitäten. Ein solches Primat der Stimme legt es auch nahe, die oben genannte Präsentation – im Sinne einer Medienfunktion des Tisches – für die Vorlesesituation noch einmal anders zu fassen, bietet doch der Vortrag die Möglichkeit, den Texten eine andere Form von Gegenwärtigkeit zu verleihen, wie Brigitte Stocker ausdifferenziert: Während die Wirkung des geschriebenen Textes sich nach seiner vermeintlichen Fixierung der Kontrolle durch den Autor weitestgehend entzieht, kann die Rezeption des gesprochenen Textes ad hoc beobachtet und gelenkt werden. Für Kraus hatte das gesprochene Wort eine weitaus stärkere Wirkungsweise als das geschriebene. Der flüchtige gesprochene Text galt ihm durch die Elemente des Vortrags als in höherem Maße fixiert als der gedruckte.121

Zugleich geht die Möglichkeit der Präsentation soweit, dass im Rahmen des Theaters der Dichtung, das neben den eigenen Schriften mit wenigen Ausnahmen nur Texte von Toten darbietet, ebendiese Toten von Kraus prosopopoietisch auf die Bühne geholt werden können. ›Dekorationsfrei‹ ist dann auch die Gestaltung des Vortragstisches selbst: Im Gegensatz zur tabula plena des Schreibtisches wird bei diesem nämlich gleichsam tabula rasa gemacht. Von einer simplen ›Ersatzfunktion‹ des Vortragstisches für den Schreibtisch wird man also nicht uneingeschränkt sprechen können. Kraus geht es im Wesentlichen darum, Unnötiges zu vermeiden, das beim Vorlesen vom Text selbst ablenken könnte, weswegen er auf einem schlichten, beinahe asketischen Arrangement beharrt.122 Ihm selbst zufolge soll nicht einmal ein Wasserglas auf dem Tisch stehen.123 Das bestätigen auch ein Tonfilm von Kraus als Vorleser aus dem Jahr 1934,124 in dem nur Bücher und Brille auf dem Tisch zu liegen kommen, sowie die zwei Jahre zuvor heimlich aufgenommenen Photographien einer Kraus’schen Leseszene.125

119 Karl Kraus: Notizen, in: Die Fackel, Nr. 426–430, Juni 1916, XVIII . Jg., S. 40–55, hier S. 47 f. 120 Mit diesem ab 1924 etablierten Vortragsformat verwehrt und widersetzt sich Kraus definitiv den neuen theatralisch-dramaturgischen Spielarten der 1920er Jahre. Vgl. dazu überblicksartig Jens Malte Fischer: Karl Kraus. Studien zum »Theater der Dichtung« und Kulturkonservatismus. Kronberg i. Ts. 1973. 121 Stocker: Rhetorik eines Protagonisten (Anm. 117), S. 244. 122 Vgl. ebd., S. 57 f. 123 Vgl. Karl Kraus: Das Mangobaumwunder, in: Die Fackel, Nr. 668–675, Dez. 1924, XXVI . Jg., S. 88–93, hier S. 90. 124 Zum Video vgl. https://www.kraus.wienbibliothek.at/der-vorleser/film (aufgerufen am 26. 07. 2019). 125 Zu den Photographien vgl. Heinz Lunzer: Theater, Vorlesungen, »Theater der Dichtung«, in: »Was wir umbringen«. ›Die Fackel‹ von Karl Kraus. Hg. v. H. L., Victoria Lunzer-Talos u. Marcus G. Patka. Wien 1999, S. 140–157, hier S. 148.

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Was das Podium darüber hinaus in gewisser Hinsicht vom Schreibtisch abgrenzt, ist dessen spezifisches (Re-)Aktionspotenzial. Während, wie Dirk Rose jüngst gezeigt hat, Kraus’ Polemik sogar dort, wo sie den ›bloßen‹ Text zu überschreiten versucht, häufig den medialen Bedingungen der Schriftkommunikation verhaftet bleibt,126 wird mit den Vorlesungen dezidiert »die Grenze von Schrift und Aktion konsequent performativ unterlaufen«.127 Walter Benjamin hat überhaupt erst im »Ineinandergreifen von mündlicher und schriftlicher Ausdrucksform« bei Kraus das völlige Ausschöpfen der »polemischen Möglichkeiten« geortet.128 Mit Blick auf den Schreibtisch lässt sich umso deutlicher zeigen, dass Kraus mit seinem Auftritt als Vorleser einen erweiterten Aktionsraum für sich eröffnet. Dass es damit zugleich zu einer Verlagerung der Kriegsführung an einen anderen Tisch kommt, suggerieren bereits die kurz skizzierten polemischen Zusammenhänge. Um Kontrollgewalt (insbesondere über setting, Raum und Publikum) und die Bewahrung einer grundlegenden Unnahbarkeit geht es freilich auch bei dieser zusätzlichen Tisch-Szene,129 weswegen es durchaus naheliegt, den Lesetisch als »eine Art Bollwerk zwischen Kraus und den Zuhörern« zu begreifen.130 Ein solches Kontrollregime bringt es mit sich, dass auch die Interaktion mit dem Publikum üblicherweise nur einseitig funktionieren kann,131 und es führt außerdem dazu, dass sich Schreibtisch und Vorlesetisch in letzter Instanz doch wieder näherstehen, als es mancher Unterschied nahelegen mag. Denn der Vorlesetisch fungiert ebenfalls als eine Art von Kommandozentrum, von dem aus sich Kraus – wenn auch nunmehr unter verschobenen Vorzeichen – in der Orchestrierung übt: Ganz in diesem Sinne äußert er sich bereits Mitte der 1910er Jahre mehrfach dazu, dass es ihm als Vorleser darum gehe, das Publikum als homogene, willige Masse zu konstituieren, was laut Kari Grimstad auf eine prototypische demagogische Situation verweise.132 Aus diesen Voraussetzungen erklärt sich auch Elias Canettis Befund, wonach »es Karl Kraus gelungen war, eine Hetzmasse aus Intellektuellen zu bilden, die sich bei jeder Lesung zusammenfand und so lange akut bestand, bis das 126 Vgl. Dirk Rose: Polemische Transgression. Karl Kraus zwischen Schrift und Aktion, in: Studia theodisca XXI (2014), S. 5–29, hier S. 11. 127 Ebd., S. 21. Zur performance des Vorlesers Kraus vgl. auch Kouno: Die Performativität der Satire (Anm. 117), insbes. S. 223–236. 128 Walter Benjamin: Karl Kraus, in: ders.: Gesammelte Schriften II . 1. Hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a. M. 1977, S. 334–367, hier S. 338. 129 Vgl. dazu auch Stocker: Rhetorik eines Protagonisten (Anm. 117), S. 61. 130 Sandra Rühr: »Man muß lesen, nicht hören, was geschrieben steht.« Dispositive der Lesungen von Karl Kraus zu Beginn des 20. Jahrhunderts, in: Archiv für Geschichte des Buchwesens 69 (2014), S. 135–149, hier S. 142. 131 Zu den kleinen Lizenzen (Zischen, Applaudieren), die Kraus dem Publikum zugesteht, vgl. Stocker: Rhetorik eines Protagonisten (Anm. 117), S. 60 f. 132 Vgl. Kari Grimstad: Masks of the Prophet. The Theatrical World of Karl Kraus. Toronto u. a. 1982, S. 131–133. Zum diversen und wechselnden Verhältnis von Vortragendem und Publikum vgl. auch Stocker: Rhetorik eines Protagonisten (Anm. 117), S. 58–71.

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Opfer zur Strecke gebracht war.«133 Mit einer solchen Instrumentalisierung ist die polemische Konfrontation respektive Aus-Einander-Setzung (das, was Benjamin ein »Verspeisen des Gegners«134 nennt) keineswegs mehr länger der Schauplatz eines Einzelkämpfers, sondern sie wird vielmehr in ein nachgerade mystisches Gemeinschaftserlebnis überführt. Kriegsführung ist zuletzt und entgegen allen Alleinstellungsproklamationen von Seiten Kraus’ eben doch ein kollektiver Akt, der die Tisch-Szene von beiderlei Art auf die ›große‹ Bühne eines übergeordneten Gewaltzusammenhanges hievt.

133 Elias Canetti: Karl Kraus, Schule des Widerstands [1965], in: ders.: Das Gewissen der Worte. Frankfurt a. M. 112005, S. 42–53, hier S. 44. 134 Benjamin: Karl Kraus (Anm. 128), S. 355.

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»Urlaub vom Leben« Zu einem Ausgangs- und Endpunkt von Robert Musils Mann ohne Eigenschaften Abstract: This essay shows to what extent the notion of »Lebensurlaub«, of a »holiday from life«, in Musil’s The Man Without Qualities not only forms the starting point but also a common theme in and possible end point of the novel’s plot. Since the novel is known to have remained unfinished, this essay takes into account preliminary drafts and variants of the manuscript alongside the official published version. Using the digital Klagenfurter Edition, it explores the terminological and conceptual environment of the »Lebensurlaub« and interprets these findings in the light of recent research on the novel. Finally, it places these findings within a broader network of associations between idleness, leisure, and mysticism in Musil’s novel.

»Selbstmord oder . . finden; 1 Jahr Urlaub vom Leben, zu diesem Zweck, d. i. Ausgangssituation A’s«, lautet eine Notiz in Robert Musils Nachlass,1 wo auch seine »Überlegung« dokumentiert ist, diesen »Urlaub vom Leben stärker [zu] betonen«, ohne dabei den Suizidbeschluss des Romanhelden zu begründen (MoE, S. 1830 f.). Während der Arbeit an seinem Mann ohne Eigenschaften ändert Musil zwar mehrfach den Namen des Protagonisten, nicht aber dessen erwähnte Ausgangssituation: Aus Achilles bzw. Anders wird Ulrich, der sich zu Beginn der Handlung ebenfalls in einer existenziellen Krise befindet. Hatte er zuvor versucht, als Soldat, Ingenieur und Mathematiker »ein bedeutender Mann zu werden« (MoE, S. 35), muss Ulrich angesichts hochtrabender Sportberichte, in denen von genialen Fußballspielern und Rennpferden die Rede ist, einsehen, dass »Genie [. . .] nur noch der Gebrauch sein kann, den man von ihm macht« (MoE, S. 47).2 Der Beschluss, »sich ein Jahr Urlaub von seinem Leben zu nehmen, um eine angemessene Anwendung seiner Fähigkeiten zu suchen«, wird dadurch begünstigt, dass Ulrich des »Geldverdienens« nicht bedarf (MoE, S. 47). Ist die monetäre Lage demnach 1 2

KA/Transkriptionen/Mappe VII/17/23. Zum satirischen Charakter und zur Ideengeschichte von Musils Genie-Konzeption vgl. Jochen Schmidt: Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750–1945. Bd. 2: Von der Romantik bis zum Ende des Dritten Reichs. Darmstadt 1985, S. 278–298; darüber hinaus und mit anderen Akzenten Wendelin Schmidt-Dengler: Das geniale Rennpferd – Musil und der Wiener Kreis. Zu einer seltsamen Form von Wahlverwandtschaft, in: studi germanici N. S. XLII (2004), H. 3, S. 475–484.

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beneidenswerterweise gesichert, bleibt doch das Ziel dieser längeren Auszeit erklärungsbedürftig. Bereits Musils Formulierung erscheint ungewöhnlich, denn »Urlaub« wird allgemeinsprachlich anders verstanden. Das Grimmsche Wörterbuch bestimmt diesen als »scheiden aus einem bestimmten dienst oder rechtsverhältnis, einem verhalten der treue, pflicht u. dgl.« und als »›die möglichkeit, nach belieben zu verfahren‹«; im altertümlichen Sinne kann »Urlaub« außerdem ein Synonym für »Sterben« sein.3 Diese durchaus unterschiedlichen Semantiken finden sich allesamt aufeinander bezogen in Musils Roman wieder: Ulrich lässt seine Fähigkeiten und das Leben insgesamt ruhen, nimmt beliebige Möglichkeiten wahr und ist sogar gewillt, sich zu »töten, wenn das Jahr seines Lebensurlaubs ohne Ergebnis verstreiche« (MoE, S. 599). Sein Urlaub entbindet ihn also nicht nur von bisherigen Aufgaben und Pflichten, sondern wird selbst zur neuen Aufgabe à tout prix, denn es geht für ihn um Leben und Tod. Wie in der eingangs zitierten Mappen-Notiz bleibt die Alternative zum Suizid jedoch offen, wenngleich latent gegeben als die »eine Frage«, die nach Ulrichs Überzeugung »das Denken wirklich lohne«,4 nämlich »die des rechten Lebens« (MoE, S. 255). In hermeneutischer und ethischer Hinsicht erscheint es daher geboten, den »Urlaub vom Leben« genauer zu bestimmen, zumal Musils Formulierung in Zeiten der Corona-Pandemie neue Aktualität erlangt.5 Der vorliegende Beitrag schließt in Bezug auf Thema und Epoche an eigene Studien zu Muße und Müßiggang in der Moderne an,6 in denen versucht wird, zwischen beiden Konzepten zu unterscheiden, um in Musils Sinne »Beiträge zur geistigen Bewältigung der Welt« zu leisten (GW II, S. 942). Dieses Erkenntnisinteresse ist wort- und begriffsgeschichtlich fundiert, kultur3

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Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. Bd. 24. Bearbeitet v. Karl Euling. Leipzig 1936. München 1984, Sp. 2466–2477, hier Sp. 2473 u. 2475. – Als Beispiel für die erwähnte altertümliche Wortbedeutung vgl. Johann Gottfried Herders Formulierung »urlaub[ ] aus dem leben«, die sich auf Petrarcas Tod bezieht (zit. nach ebd.). Zu Ulrichs Denkweise vgl. Olav Krämer: Denken erzählen. Repräsentationen des Intellekts bei Robert Musil und Paul Valéry. Berlin, New York 2009 (= spectrum Literaturwissenschaft/ spectrum Literature, Bd. 20), S. 230–290 (Kap. 3.7). So konstatiert Anna-Lena Scholz zu Recht: »Nicht für alle sind die Wochen der Isolation ein ›Urlaub vom Leben‹ (Musil), nicht alle treffen die Folgen des Virus gleichermaßen.« Ob jedoch »[n]iemand [. . .] so viel Freiheit [hat], den Lebensplan spontan umzuschreiben, wie die fast drei Millionen Studierenden« und »[k]einer [. . .] so viel fachliches Wissen und intellektuelle Unabhängigkeit wie die Hunderttausenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler [bündelt]«, bliebe zu diskutieren (Anna-Lena Scholz: Die Super-Zivis. Studierende und Professoren könnten in der Corona-Krise ganz besonders helfen – mit einem Solidarsemester, in: Die Zeit, 26. 3. 2020, Nr. 14, https://www.zeit.de/2020/14/solidarsemester-coronavirus-hochschulen). Vgl. Muße und Moderne. Hg. v. Tobias Keiling, Robert Krause u. Heidi Liedke. Tübingen 2018 (= Otium, Bd. 10); außerdem meine Habilitationsschrift: Muße und Müßiggang im Zeitalter der Arbeit. Zu einer Problemkonstellation der deutschen und französischen Literatur, Kultur und Gesellschaft im ›langen‹ 19. Jahrhundert. Berlin 2021 (= Schriften zur Weltliteratur, Bd. 11).

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und ideengeschichtlich ausgerichtet und im Umfeld interdisziplinärer Verbundforschung situiert, namentlich des Freiburger Sonderforschungsbereichs »Muße«. Dass sich dieser nach zwei Förderperioden (2013–2020) in seiner Abschlussphase befindet,7 lädt dazu ein, Grundannahmen zu bilanzieren und nach der Übertragbarkeit wesentlicher Analysekategorien zu fragen. Im Folgenden gilt es zu zeigen, inwiefern der »Urlaub vom Leben« nicht nur die Ausgangssituation, sondern auch einen ›roten Faden‹ und möglichen Endpunkt der Romanhandlung bildet. Da Musils Mann ohne Eigenschaften bekanntlich unabgeschlossen geblieben ist, sind die Vorstufen und Varianten miteinzubeziehen. Angesichts dieser Materialfülle und zahlreicher thematisch relevanter Kontexte sowie einschlägiger Studien kann nur kursorisch vorgegangen werden. Zuerst wird auf Grundlage der Klagenfurter Robert-Musil-Ausgabe das terminologisch-konzeptuelle Umfeld des ›Lebensurlaubs‹ sondiert, um die Befunde sodann im Lichte der Forschung zu prüfen. Schließlich wird exemplarisch der Zusammenhang von Müßiggang, Muße und Mystik in Musils Mann ohne Eigenschaften skizziert. Damit oszilliert der Beitrag, durchaus passend zum Philosophen und Schriftsteller Robert Musil, zwischen philosophischer Begriffsarbeit auf der einen und besserem Verständnis des Mann ohne Eigenschaften auf der anderen Seite und verbindet die präsentierten Befunde mit Ausblicken auf Forschungsdesiderate.

1. Aus dem Urlaubsumfeld: zu einigen Belegstellen in der Klagenfurter Ausgabe Die digitale Klagenfurter Ausgabe verzeichnet die Formulierung »Urlaub vom Leben« zweimal, an den bereits zitierten Stellen aus dem Nachlass und dem publizierten ersten Band des Mann ohne Eigenschaften; das Wort »Urlaub« ist dort allein 50-mal nachzuweisen, zumeist in Musils Briefwechseln und Mappen. Dazu kommen zahlreiche Erwähnungen komplementärer Begriffe wie »Muße« (18-mal) und »Müßiggang« (22-mal) sowie der Adjektive »müßig« und »untätig« (jeweils 50-mal). Die folgende, wohl auf 1901 zu datierende Passage aus Musils schwarzem Heft »Essays«, das autobiographische Dokumente enthält, charakterisiert besonders treffend seinen intellektuellen Werdegang im Zeichen der Muße: »Man stelle sich den Helden dieser Gedanken als einen Mann vor, welcher das Gymnasium durchlaufen« und »dann Technik studiert hat, sein Wissen durch philosophische Studien ergänzte«, »aber [. . .] dann Ingenieur wurde«, der »Muße für etwas philosophische Studien hat [. . .] und eigentlich ein Philosoph oder Dichter sein möchte, weshalb er weder von der Philosophie, noch von der Dichtung, noch von seinem 7

Vgl. http://www.sfb1015.uni-freiburg.de/de (aufgerufen am 21. 3. 2020).

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Beruf ›befriedigt ist‹« bzw. »viel hält«, »wie das ja bei den meisten Menschen so ist«.8 Erinnert sei nur an einige Stationen in Musils Ausbildung, zuerst am Realgymnasium in Steyr, an Militär-Realschulen und an den Technischen Hochschulen Brünn und Stuttgart, wo er Maschinenbau studierte, sodann an sein Studium der Philosophie und der experimentellen Psychologie in Berlin und an die Promotion mit dem erkenntnistheoretischen Beitrag zur Beurteilung der Lehren Machs (1908), ebenso an Musils unterschiedliche berufliche Tätigkeiten in den Vor- und Nachkriegsjahren als Ingenieur, Bibliothekar, Zeitschriftenredakteur, Soldat, Beamter im österreichischen Außenministerium und psychologischer Berater im dortigen Heeresministerium, als Feuilletonist und Essayist und schließlich als freier Schriftsteller.9 Sein Werdegang und sein vielfältiges Œuvre dokumentieren, dass Musil, trotz zitierter Skepsis, sowohl Dichter als auch philosophisch ambitioniert war, und zwar in eigenwilliger Verbindung und auf eigenständige Weise.10 Ähnlich unbefriedigt von der Philosophie, zumindest der systematisch-logischen, ist sein Romanprotagonist Ulrich. Er hält Philosophen für »Gewalttäter«, die sich mittels eines Systems »die Welt [. . .] unterwerfen« (MoE, S. 253). Wer »die Wahrheit« wolle, werde »Gelehrter«, wer »seine Subjektivität spielen lassen« wolle, werde »vielleicht Schriftsteller«; wer jedoch etwas wolle, »das dazwischen liegt«, so wie Ulrich, huldige der »Utopie des Essayismus« (MoE, S. 254 u. 247). Inwieweit dieser Essayismus auf Friedrich Nietzsches Experimentalphilosophie zurückgeht, wurde bereits vielfach gezeigt,11 hingegen bleiben Muße und Müßiggang als Facetten von Musils intensiver Nietzsche8 9 10

11

KA/Transkriptionen/Heft 25/3. Vgl. detailliert Karl Corino: Robert Musil. Eine Biographie. Reinbek b. Hamburg 2003. Das Verhältnis von Literatur und Philosophie bei Musil ist ein eigenes interdisziplinäres Forschungsfeld. Vgl. Sophie Djigo: La Raison vivante. Robert Musil et la vérité romanesque. Préface de Jacques Bouveresse. Paris 2013; Christine Mondon: Écritures romanesques et philosophie. Hermann Broch, Hermann Hesse, Thomas Mann, Robert Musil. Bordeaux 2011; JeanPierre Cometti: Musil philosophe. L’utopie de l’essayisme. Paris 2001; Jacques Bouveresse: La voix de l’âme et les chemins de l’esprit. Dix études sur Robert Musil. Paris 2001; Sabine A. Döring: Ästhetische Erfahrung als Erkenntnis des Ethischen. Die Kunsttheorie Robert Musils und die analytische Philosophie. Paderborn 1999 (= Explicatio); Gunther Martens: Ein Text ohne Ende für den Denkenden. Zum Verhältnis von Literatur und Philosophie in Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften. Frankfurt a. M. u. a. 1999 (= Europäische Hochschulschriften. Reihe 1: Deutsche Sprache und Literatur, Bd. 1716); Harald Haslmayr: Die Zeit ohne Eigenschaften. Geschichtsphilosophie und Modernebegriff im Werk Robert Musils. Wien u. a. 1997 (= Literatur in der Geschichte. Geschichte in der Literatur, Bd. 44); Ralf Bohn: Transversale Inversion. Symptomatologie und Genealogie des Denkens in der Philosophie Robert Musils. Würzburg 1988 (= Epistemata. Reihe Literaturwissenschaft, Bd. 33); Robert Musil – Literatur, Philosophie, Psychologie. Internationales Robert-Musil-Sommerseminar 1983. Hg. v. Josef Strutz u. Johann Strutz. München 1984 (= Musil-Studien, Bd. 12); Marie-Louise Roth: Ethik und Ästhetik. Zum theoretischen Werk des Dichters. München u. a. 1972. Vgl. exemplarisch Hans-Joachim Pieper: Musils Philosophie. Essayismus und Dichtung im Spannungsfeld der Theorien Nietzsches und Machs. Würzburg 2002; Wolfgang Rzehak: Musil und Nietzsche. Beziehungen der Erkenntnisperspektiven. Frankfurt a. M. u. a. 1993 (= Europäische Hochschulschriften. Reihe 1: Deutsche Sprache und Literatur, Bd. 1363),

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Rezeption noch herauszuarbeiten: »Nietzsche (›notwendiger Sklavenstand der Mehrheit, um den wenigen Muße zu schaffen‹)«,12 lautet ein thematisch einschlägiges Exzerpt Musils für seinen 1935 gehaltenen Pariser Vortrag beim Internationalen Schriftsteller-Kongress für die Verteidigung der Kultur. An Nietzsches Lob der Muße und des Müßiggangs, etwa an sein Plädoyer »Zu Gunsten der Müssigen« in Menschliches, Allzumenschliches,13 erinnert auch Musils Argumentation, »ein gewisser Müßiggang« sei »edel«, denn »[o]hne ihn« könne »die Welt nicht vernünftig arbeiten«.14 Um »vernünftig arbeiten« zu können, muss man zumindest phasenweise innehalten, aus der nahezu allenthalben herrschenden Geschäftigkeit ausscheren und sich stattdessen auf die eigenen Anliegen und Ziele besinnen. Dieser Besinnung dient im Mann ohne Eigenschaften der »Urlaub vom Leben«,15 der als Umschlag von Aktivität in Passivität typisch für eine bestimmte Lebensphase sei: A’s ›Aktivität‹ [bzw.] ›Tatkraft‹ [. . .] war auf dem Punkt, einem ›passiven‹ [bzw.] ›untätigen‹ [. . .] Verhalten platzzumachen. Fast alle Männer kommen zwischen dem 30. u. 40ten. Jahr auf diesen Punkt; sie werden dann aber von außen gestützt, durch die Ergebnisse ihres Lebens, u. bemerken es nicht. Sie haben Anschluß an irgendetwas u. vermeiden es dadurch, den Eindruck der Unentschlossenheit, des Zweifels u. der Unmännlichkeit zu machen. Die zeitgenössische Betriebsamkeit ist z. T. nichts anderes als die Flucht vor der Auseinandersetzung mit sich selbst.16

Die beschriebene Veränderung erscheint als Midlife-Crisis avant la lettre. Bereits in den 1920er Jahren thematisiert Musil damit ein Phänomen, das der kanadische Psychoanalytiker Elliott Jaques 1965 erstmals auf den Begriff bringt; Jaques bezeichnet damit eine drastische, vielfach um das 35. Lebensjahr auftretende Verhaltensänderung von Individuen.17 Beide gehen von Literatur aus, Musil von seinem Romanhelden, Jaques u. a. von Dante und Goethe; beide generalisieren die detektierten Krisen und situieren sie zeitlich nahezu identisch; und beide sehen einen, freilich partiell unterschiedlichen, Zusam-

12 13

14 15 16 17

S. 32–35; Charlotte Dresler-Brumme: Nietzsches Philosophie in Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften. Eine vergleichende Betrachtung als Beitrag zum Verständnis. Wien u. a. 2 1993 (= Literatur in der Geschichte. Geschichte in der Literatur, Bd. 13), S. 57–66; Renate von Heydebrand: Die Reflexionen Ulrichs in Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften. Ihr Zusammenhang mit dem zeitgenössischen Denken. Münster 1966 (= Münstersche Beiträge zur deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 1), S. 61 f. KA/Transkriptionen/Mappe VI/1/121. Vgl. Friedrich Nietzsche: Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. Bd. 2: Menschliches, Allzumenschliches I und II . München u. a. 1988, § 284, S. 232. – Zu diesem Aphorismus und seinen Kontexten vgl. Martin Jörg Schäfer: Ein »edel Ding um Musse und Müssiggehen« und Nietzsches Metaphorologie der Arbeit, in: Muße und Moderne (Anm. 6), S. 61–74. KA/Transkriptionen/Mappe VII/15/84. KA/Transkriptionen/Mappe VII/17/23. KA/Transkriptionen/Mappe VII/3/39, mit Auflösung der diakritischen Zeichen meinerseits. Vgl. Elliott Jaques: Death and the Mid-life Crises, in: The International Journal of PsychoAnalysis 46 (1965), H. 4, S. 502–514.

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menhang mit dem Tod. Gründet die Midlife-Crisis laut Jaques’ Theorie in der Einsicht in die eigene Endlichkeit, ist der Suizid für Musils Romanhelden eine mögliche Antwort auf die Lebenskrise. Indem Anders bzw. sein Nachfolger Ulrich »Urlaub vom Leben« nimmt, entzieht er sich äußerlich stabilisierenden Bindungen und der »zeitgenössischen Betriebsamkeit«, besinnt sich stattdessen auf sich selbst und frönt der Untätigkeit. Inwiefern ein solches Verhalten dominanten Männerbildern widerspricht, wie Musils Aufzeichnung nahelegt, wäre im Lichte aktueller Gender-Studies in den Literatur-, Kultur- und Geschichtswissenschaften eigens herauszuarbeiten.18 Hier gilt es indes, den Forschungsstand zu Formen der Untätigkeit in Musils Mann ohne Eigenschaften zu rekapitulieren und weiterführende Hinweise zu geben.

2. Forschungsstand: zur Deutung von Untätigkeit, Muße und Müßiggang in Musils Mann ohne Eigenschaften Bereits 1963 hat Wolfdietrich Rasch auf die Konzepte vita contemplativa und vita activa in Musils Roman hingewiesen.19 Die erste systematische Untersuchung bietet Heinrich Puppes 1991, als erster Band der von Marie-Louise Roth begründeten Saarbrücker »Beiträge zur Robert-Musil-Forschung und zur neueren österreichischen Literatur« erschienene Dissertation zu »Muße« und »Müßiggang« im Mann ohne Eigenschaften.20 Dieser Pionierarbeit liegt ein doppelter Ansatz zugrunde: Textimmanente Analysen werden durch Vergleiche mit anderen Romanen der Klassischen Moderne, mit Joris-Karl Huysmans’ À Rebours, Arthur Schnitzlers Der Weg ins Freie und Thomas Manns Zauberberg, kontextualisiert. Puppe rekurriert zwar eingangs auf Ralf Dah18

19 20

Auf Musils Bedeutung für die Gender-Studies und auf die methodologischen Konsequenzen weist Peter C. Pohl hin: Konstruktive Melancholie. Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften und die Grenzen des modernen Geschlechterdiskurses. Köln u. a. 2011 (= Literatur – Kultur – Geschlecht. Große Reihe. Bd. 61), S. 30–40 u. 380–386. Ebenfalls einen diskursanalytischen, wissenspoetologisch erweiterten Ansatz verfolgt Florian Kappeler: Situiertes Geschlecht. Organisation, Psychiatrie und Anthropologie in Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften. München 2012 (= Musil-Studien, Bd. 39). Die Repräsentationen der Geschlechterrollen im werk- und kulturgeschichtlichen Kontext untersucht Ulrich Boss: Männlichkeit als Eigenschaft. Geschlechterkonstellationen in Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften. Berlin, Boston 2013 (= Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur, Bd. 134). – Aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive vgl. Susanne Schmidt: Midlife crisis. The feminist origins of chauvinist cliché. Chicago 2020. – Einblick bietet Schmidts Beitrag im Deutschlandfunk: https://www.deutschlandfunk.de/midlife-crisis-geschichte-eines-missverstandenen-konzepts.1184.de.html?dram:article_id=421293 (aufgerufen am 29. 9. 2020). Wolfdietrich Rasch: Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, in: Der deutsche Roman. Vom Barock bis zur Gegenwart. Struktur und Geschichte. Bd. 2. Hg. v. Benno von Wiese. Düsseldorf 1963, S. 361–419, hier S. 400 f. Vgl. Heinrich Puppe: Muße und Müßiggang in Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften. St. Ingbert 1991 (= Beiträge zur Robert-Musil-Forschung und zur neueren österreichischen Literatur, Bd. 1).

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rendorfs Konzept des Homo sociologicus, das individuelle Eigenschaften über gesellschaftliche Rollen erklärt,21 grenzt seine eigene Vorgehensweise sodann jedoch dezidiert von literatursoziologischen Untersuchungen, namentlich von denjenigen Hartmut Böhmes, ab.22 Besonders diskutabel ist Puppes begrifflich-phänomenales »Vorverständnis« von »Muße und Müßiggang« als »einer länger andauernden verhaltensbeliebigen, das heißt rollenlosen Zeit, die mit einer inneren Aktivität ausgefüllt ist«, »begrenzt von bloßer Faulheit auf der einen Seite und der Funktionalisierung der Muße als Regenerationszeit zwischen der Hauptsache Arbeit auf der anderen Seite«.23 »Muße« und »Müßiggang« werden hier umstandslos enggeführt und einerseits von »Faulheit« und andererseits von »Regenerationszeit«, das heißt Erholung zwecks weiterer Arbeit, unterschieden. Wer sich für Binnendifferenzen interessiert, wird lediglich auf einen Essay Gert Mattenklotts verwiesen.24 Theoretisch akzentuiert Puppe also Temporalstrukturen und innere Tätigkeiten, in der Analysepraxis jedoch ebenso den urbanen Raum, nämlich die Darstellung Wiens.25 Dass Theorie und Praxis derart auseinanderklaffen, lässt das zitierte Vorverständnis ergänzungsbedürftig erscheinen. Neben der Freizeit gehört auch der Freiraum zum Urlaub. Puppes Ansatz, Vorgehensweise und Schlussfolgerungen sind durchaus zu kritisieren. Seine Beobachtung eines »abwertenden Gebrauchs von Muße und Müßiggang« im Mann ohne Eigenschaften betrifft vorwiegend das Adjektiv »müßig«,26 das auf beide Begriffe und Phänomene verweisen kann, weniger die besagten Substantive selbst. Handeln die Wien-Kapitel im Roman zwangsläufig vom »Müßiggang in der Großstadt«?27 Oder gibt es womöglich auch »urbane Muße« in der Moderne?28 Um diese Fragen zu beantworten, 21

22

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Ebd., S. 18. – Puppe begründet diese theoretischen Anleihen damit, dass sich Ralf Dahrendorf selbst schon explizit auf den »Dichter Musil« und auf die soziologische Relevanz des Mann ohne Eigenschaften bezieht: Vgl. Ralf Dahrendorf: Homo sociologicus. Ein Versuch zur Geschichte, Bedeutung und Kritik der Kategorie der sozialen Rolle. Opladen 151977 (= Studienbücher zur Sozialwissenschaft, Bd. 20), S. 80. Vgl. Puppe: Muße und Müßiggang (Anm. 20), S. 51; dort auch die Abgrenzung von Hartmut Böhme: Anomie und Entfremdung. Literatursoziologische Untersuchungen zu den Essays Robert Musils und seinem Roman Der Mann ohne Eigenschaften. Kronberg i.Ts. 1974 (= Skripten Literaturwissenschaft, Bd. 9). Puppe: Muße und Müßiggang (Anm. 20), S. 3. Vgl. Gert Mattenklott: Faulheit, in: ders.: Blindgänger. Physiognomische Essais. Frankfurt a. M. 1986, S. 43–71. Der Raum wird indes zusammen mit der Zeit zu den »Kategorien des Romans« gezählt (Puppe: Muße und Müßiggang [Anm. 20], S. 55) und findet im Fortgang der Untersuchung, im Hinblick auf die dargestellte Großstadt, Beachtung; vgl. ebd., S. 114–160 u. 182–187. Ebd., S. 4. Ebd., S. 114–160. So der Titel einer internationalen und interdisziplinären Tagung, die von 2. bis 4. 5. 2019 in Freiburg stattfand und deren Beiträge bereits erscheinen sind: Urbane Muße. Materialitäten, Praktiken, Repräsentationen. Hg. v. Peter Philipp Riedl, Tim Freytag u. Hans W. Hubert. Tübingen 2021 (= Otium, Bd. 19).

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bleibt Begriffsarbeit zu leisten. Puppes terminologische Laxheit im Umgang mit Quellen- und Analysebegriffen kontrastiert mit seiner forcierten Unterscheidung zwischen dem Müßiggänger und dem »benachbarten Typ des Dandies«, der, anders als ersterer, »ein Lebensprogramm« verfolge.29 Auf ein solches Programm zielt zweifelsohne Ulrichs Frage nach dem »rechten Leben« ab (MoE, S. 255), doch ausgerechnet ihn deutet Puppe als »reflexive[n] Müßiggänger«.30 Puppes »begriffliche Ungenauigkeit« wurde bereits von Irmgard Honnef-Becker beanstandet;31 die Rezensentin gebraucht indes selbst, womöglich nur referierend, »Muße« und »Müßiggang« synonym.32 Entscheidend sei »aber letztlich die Frage, ob Muße und Müßiggang wirklich zu den zentralen Kategorien des Romans zählen«, was die Rezensentin in Zweifel zieht. Indem sich Puppe »ein peripheres Thema gewählt« habe, sei er »auch nur zu peripheren Resultaten [ge]kommen«.33 Dieses harsche Urteil mag der Grund gewesen sein, dass sich die Musil-Forschung erst Jahrzehnte später wieder auf Muße und Müßiggang im Mann ohne Eigenschaften besann. In einem 2014 erschienenen, komparatistisch ausgerichteten Aufsatz hat Jonathan Kassner unter Rekurs auf die poststrukturalistischen Theorien Lacans und Derridas »Aporien des Müßiggangs bei Musil und Proust« aufgezeigt.34 Während seines »Sabbatjahrs« fröne Ulrich einem »ausgedehnten Müßiggang«, der »eng mit der Suche nach dem richtigen Leben verknüpft« und insofern »als philosophisch zu bezeichnen«, aber als »Lebensurlaub zumindest zweischneidig« sei;35 denn Ulrich und seine Schwester Agathe schwankten zwischen Lebensbejahung und -verneinung, wie Musil besonders in dem Kapitel »Atemzüge eines Sommertages« vorführe.36 Dieser Fokus ist erhellend: Erinnert sei nur daran, wie Agathe nach einem Gespräch mit ihrem Bruder davonläuft und »aus dem Leben gehn« will (MoE, S. 962). Musils Formulierung zeigt, wie eine Bewegungsform, die auch im Kompositum 29

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Puppe: Muße und Müßiggang (Anm. 20), S. 20. – Dass gerade »Muße und Müßiggang als Inszenierung des Dandys« gelten können, zeigt mit Blick auf Charles Baudelaire, Thomas Mann und Sebastian Horsley der gleichnamige Aufsatz von Anne Kristin Tietenberg, in: Ökonomie des Glücks. Muße, Müßiggang und Faulheit in der Literatur. Hg. v. Mirko Gemmel u. Claudia Löschner. Berlin 2014, S. 185–202. – In weiterer Perspektive vgl. außerdem Hiltrud Gnüg: [Art.] Dandy, in: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Hg. v. Karlheinz Barck, Martin Fontius, Friedrich Wolfzettel u. Burkhart Steinwachs. Stuttgart, Weimar 2000–2010, Bd. 1, S. 814–831. Puppe: Muße und Müßiggang (Anm. 20), S. 182–187. Irmgard Honnef-Becker: [Rez. zu:] Heinrich Puppe: Muße und Müßiggang, in: Musil-Forum 17/18 (1991/1992), S. 349–352, hier S. 351. Vgl. ebd., S. 349. Ebd., S. 351 f. Jonathan Kassner: Aus dem Leben gehen. Aporien des Müßiggangs bei Musil und Proust, in: Ökonomie des Glücks (Anm. 29), S. 203–223. Ebd., S. 203 u. 205. Vgl. ebd.

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»Müßiggang« enthalten ist, in Todesnähe führt.37 Im Folgenden schwankt das Geschwisterpaar zwischen Thanatos und Eros, die 20 Druckfahnenkapitel lassen keine klare Richtung erkennen und wurden in der Forschung dementsprechend unterschiedlich beurteilt: Ernst Kaiser und Eithne Wilkins deuten sie als Erfüllung,38 die Stimmung der »nature morte« (MoE, S. 1167)39 akzentuiert hingegen Wolfdietrich Rasch.40 Dass die »Atemzüge eines Sommertags« als Gartenidylle angelegt sind,41 verweist zudem auf eine lange, thematisch einschlägige Tradition; denn in literarischen Idyllen werden seit dem 18. Jahrhundert anschaulich Arbeit, Muße und Müßiggang kontrastiert.42 Zu denken ist etwa an Jean-Jacques Rousseaus Les rêveries du promeneur solitaire (1782) und Friedrich Schlegels Idylle über den Müßiggang aus der Lucinde (1799). Musil dürfte beide Werke gekannt haben, übertrug er doch Teile aus Schlegels Fragmenten in seine Nachlassnotizen und verbrachte seine letzten Lebensjahre in Genf, der Stadt Rousseaus, wo er bis zu seinem Tod an den »Atemzügen eines Sommertags« arbeitete, dessen Varianten mit Blick auf Muße und Müßiggang textnah zu vergleichen wären. Dabei wäre vom Begriff der »Kontemplation« auszugehen, der in den ersten, ab 1938 entstandenen Entwürfen explizit Gesprächsgegenstand zwischen Ulrich und Agathe ist (vgl. MoE, S. 1325). Im Kapitelentwurf in korrigierter Reinschrift erfährt man indes nur durch den Erzähler, dass Ulrich einen bestimmten Menschentypus, den »Orientalisch-Unfaustischen«, als »kontemplativ« bezeichnet: »Vielleicht prägte sich in diesem Kontemplativen, und zumal in Gemeinschaft mit dem Appetithaften als seinem Gegenteil, ein Hauptunterschied des Lebens aus. Das zog Ulrich lebhafter an als ein Lehrbegriff«, denn ihm »war klar, daß die beiden Arten des Menschseins, die dabei auf dem Spiel standen, nichts anderes bedeuten konnten als einen Mann ›ohne Eigenschaften‹« (MoE, S. 1239). Diese an den »geschichtlichen Abriß der Gefühlspsychologie« (MoE, S. 1138) anschließenden Gegensätze werden sodann in der letzten Vorstufe zur Reinschrift wieder aufgenommen (vgl. MoE, S. 1246–1249), wo zur allgemein gebräuchlichen Rede von einem »Kreislauf des Lebens« Ul37 38 39 40 41 42

Kassner, der Musils Formulierung als Obertitel wählt, interessiert sich weniger für diese wortund begriffsgeschichtliche Nähe als für die »allegorische Qualität« von Agathes Spaziergang (ebd.). Vgl. Ernst Kaiser, Eithne Wilkins: Robert Musil. Eine Einführung in das Werk. Stuttgart 1962 (= Sprache und Literatur, Bd. 4), S. 226–259, insbes. S. 255–259. Vgl. in intermedialer Perspektive Rebekka Schnell: Natures mortes. Zur Arbeit des Bildes bei Proust, Musil, W. G. Sebald und Claude Simon. Paderborn 2016, S. 115–178. Wolfdietrich Rasch: Der Mann ohne Eigenschaften. Eine Interpretation des Romans, in: Robert Musil. Hg. v. Renate von Heydebrand. Darmstadt 1982 (= Wege der Forschung, Bd. 588), S. 54–119, hier S. 109. Vgl. Kassner: Aus dem Leben gehen (Anm. 34), S. 205; Marie-Louise Roth: Robert Musil im Schatten fremder Städte. Gartenidyllik oder letzter Protest?, in: Literatur und Kritik (1980), H. 149/150, S. 532–541. Zu diesem Themenfeld vgl. Jan Gerstner: Idyllische Arbeit und tätige Muße. Transformationen um 1800, in: Muße und Moderne (Anm. 6), S. 7–18.

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richs »recht gewagte[s] Bild von einem Kreislauf des Gefühls« tritt, der in der »Allgegenwart des Fühlens, [. . .] zumal in seinem Verhältnis zum Handeln«, die Geschwister gedanklich umtreibt (MoE, S. 1249). Weitere thematisch einschlägige Einsichten bieten neuere textgenetische Zugänge. So hat Walter Fanta in seinen Arbeiten zum Finale des Mann ohne Eigenschaften u. a. 320 Nennungen von »Kontemplation« und »kontemplativ« nachgewiesen und gezeigt, welch »erweiterten semantischen Gehalt« Musil dem Wort gibt: »Als Gegenbegriff zu ›Tätigkeit‹, ›Aktion‹, ›Erregtheit‹, dem ›Appetetiven‹ bezeichnet ›Kontemplation‹ ›Entmächtigung‹ und ›Liebe‹ statt ›Leidenschaft‹« und markiert »die vom Triebzusammenhang gereinigte Liebe«.43 »Das Kontemplative ist mit der ›Utopie des kontemplativen Lebens‹ assoziiert«, zeitweilig »eine der Teleologien des Romans, einer der imaginären Flucht- und Mündungspunkte«; doch werde »in den letzten Entwürfen«, etwa im Kapitel »Gespräche über Liebe«, »der teleologischen Funktion der Kontemplation eine Absage erteilt«, bilanziert Fanta.44 Ebenfalls textgenetisch verfährt Johanna Bückers topologische Studie zum Zusammenhang von »Meer« und »anderem Zustand«; untersucht werden hier Genese und Struktur eines Leitmotivs in Musils Novelle Die Versuchung der stillen Veronika und im Mann ohne Eigenschaften.45 Für beide Texte erscheint die Chiffre »tätig-untätig« von »kompositorischer Wichtigkeit«, ist sie doch verknüpft mit anderen prominenten Begriffspaaren, etwa Genauigkeit und Seele oder Liebe und Gewalt.46 Als dialektischer Gegensatz von Tätigkeit und Untätigkeit werden die Liebesgeschichte Ulrichs und Agathes, ihre Stimmungen und die Gefühlspsychologie (mit tätigen und untätigen Gefühlsanteilen) in den Nachlasskapiteln verständlicher,47 die »Atemzüge eines Sommertags« können als eines »der wichtigsten Kapitel für die Darstellung der kontemplativen Liebe und des anderen Zustands« gelten.48 Musil beschäftige »sich weniger mit einem absoluten Primat der Kontemplation«, die »die Erkenntnisfähigkeit der tätigen Verstandeskraft außer Kraft setzt, sondern mit möglichen Synergien zwischen tätigem und untätigem Leben, 43 44 45 46 47

48

Walter Fanta: Krieg. Wahn. Sex. Liebe. Das Finale des Romans Der Mann ohne Eigenschaften von Robert Musil. Klagenfurt 2015, S. 352. Ebd. Vgl. Johanna Bücker: Das Meer und der andere Zustand. Genese und Struktur eines Leitmotivs bei Robert Musil. Paderborn 2016 (= Musil-Studien, Bd. 45). Ebd., S. 117. Zur Liebesgeschichte Ulrichs und Agathes vgl. exemplarisch: Thomas Pekar: Die Sprache der Liebe bei Robert Musil. München 1989 (= Musil-Studien, Bd. 19), S. 265–298; zu Musils Gefühlspsychologie im zeitgenössischen Kontext und ihrer philosophiehistorischen Stellung vgl. Döring: Ästhetische Erfahrung als Erkenntnis des Ethischen (Anm. 10). – Die ästhetische Kategorie der Stimmung wurde bislang nur in Musils Frühwerk systematisch untersucht, namentlich von Sergej Rickenbacher: Wissen um Stimmung. Diskurs und Poetik in Robert Musils Die Verwirrungen des Zöglings Törleß und Vereinigungen. Paderborn 2015 (= Musil-Studien, Bd. 43). Bücker: Das Meer und der andere Zustand (Anm. 45), S. 121.

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welche für eine neue Form des Geistes und damit auch eine neue Epistemologie fruchtbar gemacht werden können«, resümiert Bücker.49 Wie man sich diese Synergien zwischen vita activa und vita contemplativa und ihre intellektuellen Auswirkungen zu denken hat, könnte »eine intertextuelle Erweiterung oder auch interdisziplinäre Öffnung« der Toposanalyse auf andere Wissenskontexte zeigen.50 In propädeutischer Absicht sind dafür nun einige Ansatzpunkte im Mann ohne Eigenschaften aufzuzeigen.

3. »Absicht auf Dauerferien«: Müßiggang, Muße und Mystik Von Beginn an erscheint der Mann ohne Eigenschaften als aktiv und passiv zugleich. Bei seinem ersten Auftritt im Roman, in Kapitel zwei, erwägt er angesichts der »Geschwindigkeiten«, »Winkel« und »lebendigen Kräfte vorüberbewegter Massen« draußen auf der Straße, »welche ungeheure Leistung schon ein Mensch vollbringt, der gar nichts tut«; »der Mann ohne Eigenschaften war augenblicklich ein solcher Mensch«, ergänzt der Erzähler (MoE, S. 12). Die geschilderte Rechentätigkeit und die benannte Untätigkeit des Protagonisten kontrastieren ebenso miteinander wie sein »achselzuckend[es]« Abwenden vom Beobachterposten am Fenster mit dem »schnellen und heftigen Schlag« auf einen »Boxball« (MoE, S. 13). Die vermeintlichen Widersprüche sind Programm: Der Mann ohne Eigenschaften ist nicht festzulegen, sondern bleibt offen für alles Mögliche, wozu passt, dass er erst später, in Romankapitel fünf, namentlich genannt wird (vgl. MoE, S. 18). Ulrich weiß: »›Man kann tun, was man will‹; [. . .] ›es kommt in diesem Gefilz von Kräften nicht im geringsten darauf an‹« (MoE, S. 13). Dieser Einsicht sind nicht nur physikalische Beobachtungen und Berechnungsversuche, sondern auch praktische Wohn- und Einrichtungsexperimente vorangegangen, die allesamt der gleichen Logik folgen und auf das gleiche Ergebnis hinauslaufen: Anfängliche Aktivität kippt in Passivität, jedwedes Handeln ist selbst beliebig und müßig. So wählt Ulrich bewusst ein »kleines Palais«, weil sich dieses Domizil von gewöhnlichen Wohnungen unterscheidet; auch setzt er tatkräftig an, »seine zukünftigen Möbel eigenhändig zu entwerfen«, ersinnt dabei jedoch stetig neue Alternativen, beginnt »zu träumen, statt sich zu entschließen« und überlässt schließlich »die Einrichtung seines Hauses einfach dem Genie seiner Lieferanten« (MoE, S. 20 f.). Ulrichs Möglichkeitssinn, das Bewusstsein, dass alles, was ist, ebenso gut auch ganz anders sein könnte (vgl. MoE, S. 16), drückt 49 50

Ebd. David Wachter: [Rez. zu] Johanna Bücker: Das Meer und der andere Zustand, in: Musil-Forum 35 (2017/2018), S. 312–314, hier S. 314. – Anzumerken bleibt, dass die Verfasserin zumindest einige Hinweise, etwa auf Thomas von Aquins Ausführungen zur Kontemplation (Summa theologica, II–II, Frage 179 u. 180) und Hannah Arendts Vita activa, gibt. Vgl. Bücker: Das Meer und der andere Zustand (Anm. 45), S. 122–125.

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sich erst in essayistischen Betrachtungen, Handlungs- und Umgangsweisen aus,51 mündet aufgrund von deren Beliebigkeit aber letztlich konsequent in Untätigkeit. Im Verlauf der Romanhandlung führt Ulrichs Passivität verschiedentlich zu Vorwürfen aus seinem sozialen Umfeld, die terminologische und phänomenale Differenzierungsversuche, aber auch wiederkehrende Todesandeutungen nach sich ziehen. So bezichtigt ihn Clarisse nicht nur, »ebenso passiv wie Walter« zu sein, sondern fordert ihren genialischen, zunehmend antriebslosen und eifersüchtigen Ehemann sogar auf, Ulrich umzubringen – wohl wissend, dass es kaum dazu kommen dürfte, hätten doch beide Jugendfreude »nicht die rechte Energie« (MoE, S. 355). Im weiteren Gespräch unterscheidet Ulrich »zwei Arten«, den »passiven Passivismus« Walters und seinen eigenen »aktiven«, den er definiert als das »Warten eines Gefangenen auf die Gelegenheit des Ausbruchs« (MoE, S. 356).52 Weist Ulrichs Bild dem bzw. den Untätigen noch indirekt einen Ort zu, nämlich das Gefängnis, beschimpft ihn Clarisse daraufhin explizit als »große[n] Verbrecher« und als »Teufel« (MoE, S. 357), was intratextuell auf den dritten Romanteil mit dem Titel »Ins tausendjährige Reich (Die Verbrecher)« vorausdeutet. Dass die Passivität derart inkriminiert und diabolisiert wird, hat Tradition. Hinweise bieten die Stichworte von Graf Leinsdorfs Sekretär zur geistigen Fundierung der »Parallelaktion«: Es war diesmal etwas aus Joh. Gottl. Fichte, das er in den »Reden an die deutsche Nation« aufgetrieben hatte und für sehr geeignet hielt. »Zur Befreiung von der Erbsünde der Trägheit« las er vor [. . .]. Er hatte die Worte Trägheit, vorkonstruieren und Kirche betont, Se. Erlaucht hatte wohlwollend zugehört, ließ sich das Buch zeigen, aber schüttelte dann den Kopf. »Nein, [. . .] das Buch wäre schon gut, aber diese protestantische Stelle mit der Kirche geht nicht!« (MoE, S. 87)

Hier ausgerechnet Fichtes Reden an die deutsche Nation heranzuziehen,53 um den österreichischen Patriotismus zu stärken, ist hochgradig ironisch; sollten dessen seit Dezember 1807 in Berlin gehaltene Vorlesungen doch angesichts der französischen Besatzung das deutsche Nationalgefühl und den deutschen Nationalstaat befördern. Praktische Forderungen, insbesondere nach allgemeiner Wehrpflicht und Nationalerziehung, überlagern darin 51

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Zu »Möglichkeitssinn und Essayismus« vgl. den gleichnamigen Überblicksartikel von Birgit Nübel, in: Robert-Musil-Handbuch. Hg. v. B. N. u. Norbert Christian Wolf. Berlin, Boston 2016, S. 719–725; außerdem Norbert Christian Wolf: Kakanien als Gesellschaftskonstruktion. Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts. Wien u. a. 2011 (= Literaturgeschichte in Studien und Quellen, Bd. 20), S. 199–257 (Kap. 3.2: »Essayismus und Möglichkeitssinn«). Inwiefern der »aktive Passivismus« Ulrichs Habitus charakterisiert und sich in Musils Roman manifestiert, untersucht aus entfremdungstheoretischer Perspektive Dagmar Herwig: Der Mensch in der Entfremdung. Studien zur Entfremdungsproblematik anhand des Werkes von Robert Musil. München 1972, S. 127–144, insbes. S. 128 f. u. 143 f. Vgl. Johann Gottlieb Fichte: Reden an die deutsche Nation. Mit einer Einleitung hg. v. Alexander Aichele. Hamburg 2008.

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Fichtes willensmetaphysische Spekulationen. Dass sich seine Reden nach kritischer Prüfung Graf Leinsdorfs nicht als intellektuelles Waffenarsenal der k. u. k.-Monarchie eignen, hat konfessionelle Gründe: Dem österreichischen Katholizismus wäre Fichtes Protestantismus nicht zuzumuten. Dessen Verdikt der »Erbsünde der Trägheit« zitierend, ruft Musils Roman prominente sündentheologische Traditionen auf. Zu erinnern ist zum einen an die acedia, die als »bedrückende Traurigkeit« (»quaedam tristitia aggravans«) laut Thomas von Aquins Summa theologica (1267–1273) zu den Peccata capitalia gehört, und zum anderen an das bekannte Sprichwort »Müßiggang ist aller Laster Anfang«, das auf Bertholds von Regensburg ebenfalls im 13. Jahrhundert gehaltene Predigten zurückgeht und sich u. a. in Joachim Heinrich Campes Wörterbuch der deutschen Sprache (1809) wiederfindet.54 »Müßiggang« wird dort bestimmt als »der Zustand, da man müßig geht, d. h. unthätig, unbeschäftigt ist, da man thätig, beschäftigt sein sollte; besonders der Zustand, da man müßig gehet weil man faul ist, keine Lust zu arbeiten hat«.55 Campe zufolge ist es nicht die Untätigkeit als solche, die den Müßiggang ausmacht; bei diesem handelt es sich genauer um eine bedingte und situative Untätigkeit, die akuten Anforderungen zuwiderläuft und insbesondere der anliegenden Arbeit widerstrebt. Die Arbeit erscheint mithin als Antonym zum Müßiggang und die Faulheit als dessen Grund oder gar Synonym. Auch im Deutschen Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm wird der Müßiggang als »verweilen in unbeschäftigtheit«, und zwar, ebenso wie der »Müsziggänger«, »gewöhnlich im tadelnden sinne« gefasst.56 Damit korrespondiert Musils Wortgebrauch im Kapitelentwurf »zu dem jungen Sozialisten Schmeißer«. Bezeichnenderweise billigt es Ulrich nicht nur, dass ihn Schmeißer, der als Gärtnersohn mit in seinem Haus wohnt und sich das Studium selbst finanzieren muss, geringschätzig »als einen reichen Müßiggänger« ansieht; sondern »das Experiment der Untätigkeit« versetzt Ulrich auch »manchmal vor sich selbst in diesen Anschein« (MoE, S. 1454). Diese okkasionelle Selbstwahrnehmung und Ulrichs »Vergnügen« an der Provokation des politisch und literarisch ambitionierten, verbissenen Studenten führen zu einem rhetorischen Schlagabtausch über bürgerliche Ideologie und »Soziale Frage, die das eins und alles Schmeißers bildet«, Ulrich hingegen als eine »unterlassene Antwort« erscheint, was ihm den Vorwurf einbringt: »Menschen wie Sie kommen nicht zum Handeln, weil sie die Wahrheit nicht wollen!« (MoE, S. 1456 f.) Warum das trotz philosophischem und monetä54

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Dort heißt es: »wan müezekeit ist aller sünden muoter« (Berthold von Regensburg: Vollständige Ausgabe seiner Predigten. Mit Anmerkungen v. Franz Pfeiffer. Bd. 1. Berlin 1965, S. 481). – Zur Wirkungsgeschichte vgl. Ludwig Völker: Langeweile. Untersuchungen zur Vorgeschichte eines literarischen Motivs. München 1975, S. 113. Wörterbuch der deutschen Sprache. Veranstaltet u. hg. v. Joachim Heinrich Campe. Dritter Teil. Braunschweig 1809, S. 374. Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. Bd. 12. Bearbeitet v. Moritz Heyne. Leipzig 1885, Sp. 2779.

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Robert Krause

rem Vermögen so sei und weshalb er den Hausherren als Klassenfeind nicht umbringe, beantwortet Schmeißer, der »Revolutionär, der keine Revolution machen [will]«, indes nicht (MoE, S. 1455). Eine Erklärung wäre im fraglichen Wahrheitskonzept zu suchen: Der ›Wille zur Wahrheit‹ gilt Nietzsches Zarathustra vielmehr als »ein Wille zur Macht«;57 von Nietzsches Gedanken beeinflusst, vermeidet Ulrich ideologische Festlegungen und ein Engagement im Dienste vorgeblicher Wahrheit. Im Gegensatz zu ihm ist der »Königskaufmann« und »Großschriftsteller« Arnheim überzeugt, dass »der denkende Mensch immer zugleich auch ein handelnder sein müsse« (MoE, S. 380, 428 u. 382). Eine weitere Erklärung für Ulrichs Untätigkeit ist in der »vergessenen, überaus wichtigen Geschichte mit der Gattin eines Majors« zu suchen (MoE, S. 120). In einer Vorstufe des gleichnamigen Kapitels begegnen sich A. und die ältere Gattin eines Militärkameraden zufällig während des Urlaubs in einem Badeort,58 im publizierten Romantext zieht sich der junge, liebeskranke Ulrich auf eine idyllische Mittelmeerinsel zurück. Seine brieflichen Digressionen führen »von seiner Liebe und allerhand durch sie eingegebenen Gedanken« immer mehr zu Impressionen der mediterranen Landschaft und kulminieren schließlich in mystisch-religiösen Schilderungen (MoE, S. 124). Ulrich wacht mit der Sonne auf, betrachtet die arbeitenden Fischer und deren Siedlungen, erklimmt einen der Steinhügel oder »legt sich am Inselrand zwischen die Gesellschaft von Meer, Fels und Himmel« (MoE, S. 125). Es herrscht eine Alleinheit, »genau so, wie es die von der Mystik der Liebe ergriffenen Gottgläubigen beschrieben haben«: Ulrich ist »übervoll von klaren Gedanken« und »ins Herz der Welt geraten«, Größenunterschiede und Bedeutungen, Kausal- und Identitätsverhältnisse sind gleichermaßen aufgehoben, alles breitet sich in stetig neuen Kreisen aus, »wie wenn ein Strahl ohne Ende in ein Wasserbecken fällt« (MoE, S. 125). »[E]ben das [. . .] und sonst nichts«, beschreibt Ulrich auch in langen, niemals abgesandten Briefen, deren Erwähnung von Seiten des Erzählers poetologisch zu verstehen ist (MoE, S. 125). Denn die hier vorliegenden narrativen Ausschweifungen und der Unwille, einen fertigen Text herauszugeben, zeigen pars pro toto Musils Probleme beim Abschluss seines Romans. Ulrichs Digressionen dokumentieren nicht nur die »Schwierigkeiten eines Müßiggängers beim Schreiben eines Briefes«,59 sondern auch die schwerlich begreif- und vermittelbare Präsenzerfahrung einer mystischen Alleinheit. Dem hier erstmals im Roman auftretenden »anderen Zustand« eignen also spezifische Wahrnehmungsweisen sowie eigene Raumund Zeitstrukturen, er erscheint als mystisch-ekstatische Erfahrung und Form 57 58 59

Friedrich Nietzsche: Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. Bd. 4: Also sprach Zarathustra I–IV . München u. a. 1999, S. 146. Vgl. KA/Transkriptionen/Mappe VII/9/124. Kassner: Aus dem Leben gehen (Anm. 34), S. 221.

»Urlaub vom Leben«

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der Depersonalisierung.60 Bekanntlich hat sich Musil dabei an mystischen Traditionen, vor allem an Meister Eckharts unio mystica mit Gott und an den von Martin Buber herausgegebenen Ekstatischen Konfessionen,61 orientiert.62 Dass diese Traditionen oftmals eigene Muße-Konzepte und Praktiken kannten, zeigen unlängst erschienene Studien der Mediävistik und Theologie.63 Vor diesem Hintergrund bliebe der mystische »andere Zustand« in Musils Werk nochmals neu als Form der Muße zu entdecken und zwischen Tradition und Innovation einzuordnen. Ansatz- und Vergleichspunkte bieten die Strukturmerkmale und Erscheinungsformen beider Zustände: Ähnlich wie im »anderen Zustand« durchdringen sich auch in Muße-Zuständen Raumund Zeiterfahrungen, »Muße« kann als »gelegenheit, freie zeit etwas zu thun« und zugleich als »gegebene[r] raum, spielraum« begriffen werden, verbindet also Freizeit und Freiraum.64 Aufzugreifen wären überdies verstreute 60

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Zum ›anderen Zustand‹ vgl. den Überblicksartikel von Martina Wagner-Egelhaaf, in: RobertMusil-Handbuch (Anm. 51), S. 710–712, sowie David Wachter: Konstruktionen im Übergang. Krise und Utopie bei Musil, Kracauer und Benn. Freiburg i. Br. u. a. 2013 (= Litterae, Bd. 194), S. 128–150 (Kap. II . 4: »Entgrenzung und Erlösung im ›anderen Zustand‹«); außerdem die älteren Studien von Heribert Brosthaus: Struktur und Entwicklung des »anderen Zustands« in Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 39 (1965), S. 388–440, und Ulrich Karthaus: Der andere Zustand. Zeitstrukturen im Werke Robert Musils. Berlin 1965 (= Philologische Studien und Quellen, Bd. 25), die ausführlich die veränderten Raum-Zeit-Erfahrungen des ›anderen Zustands‹ berücksichtigen. Meister Eckhart: Die deutschen und lateinischen Werke. Abteilung I: Die deutschen Werke. Hg. u. übers. v. Josef Quint. Bd. 1. Stuttgart, Berlin 1958; Martin Buber: Werkausgabe. Im Auftrag der Philosophischen Fakultät der Heinrich Heine Universität Düsseldorf und der Israel Academy of Sciences and Humanities hg. v. Paul Mendes-Flohr, Bernd Witte. Bd. 2,2: Ekstatische Konfessionen. Hg., eingeleitet u. kommentiert v. David Groiser. Gütersloh 2012. Vgl. Dietmar Goltschnigg: Mystische Tradition im Roman Robert Musils. Martin Bubers Ekstatische Konfessionen im Mann ohne Eigenschaften. Heidelberg 1974 (= Poesie und Wissenschaft, Bd. 34), insbes. S. 152 f.; Jochen Schmidt: Ohne Eigenschaften. Eine Erläuterung zu Musils Grundbegriff. Tübingen 1975 (= Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte, Bd. 13), S. 48–53; Martina Wagner-Egelhaaf: Mystik der Moderne. Die visionäre Ästhetik der deutschen Literatur im 20. Jahrhundert. Stuttgart 1989, S. 108–147; Harald Gschwandtner: Ekstatisches Erleben. Neomystische Konstellationen bei Robert Musil. München 2013 (= MusilStudien, Bd. 40). Vgl. Burkhard Hasebrink: Zwischen Skandalisierung und Auratisierung. Über gemach und muoze in der höfischen Epik, in: Muße im kulturellen Wandel. Semantisierungen, Ähnlichkeiten, Umbesetzungen. Hg. v. B. H. u. Peter Philipp Riedl. Berlin, Boston 2014, S. 107–130; ders.: Die Anthropologie der Abgeschiedenheit. Urbane Ortlosigkeit bei Meister Eckhart, in: Anthropologie der Theorie. Hg. v. Thomas Jürgasch u. Tobias Keiling. Tübingen 2017 (= Otium, Bd. 6), S. 191–208; ders.: Otium contemplationis. Zu einer Begründungsfigur von Autorschaft im Legatus divinae pietatis Gertruds von Helfta, in: Muße und Gesellschaft. Hg. v. Gregor Dobler u. Peter Philipp Riedl. Tübingen 2017 (= Otium, Bd. 5), S. 291–316; außerdem Anna Keiling: Muße in mystischer Literatur. Paradigmen geistig tätigen Lebens bei Meister Eckhart. Tübingen 2019 (= Otium, Bd. 11). Grimm: Deutsches Wörterbuch. Bd. 12 (Anm. 56), Sp. 2771. – Nach einer Konzentration auf Räume und Räumlichkeit der Muße in der ersten Förderphase fokussiert der Freiburger Sonderforschungsbereich während seiner zweiten Förderphase diese Raumzeitlichkeit der Muße.

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Hinweise aus der älteren und neueren Musil-Forschung: So bemerkt bereits Heribert Brosthaus in der Liebesgeschichte Ulrichs und Agathes auch die Konfrontation mit »deren Gegenprinzip, dem wachen Gesetz des Handelns«;65 und laut Johanna Bücker bildet der »andere Zustand« für Musil den »Zugang zu einer unmittelbaren, kontemplativen Wahrheit« und bleibt damit »die Lebensutopie«.66 Wahrheitsschau und Lebensvorstellung finden ihren Ausdruck in der mystische Rede von einer »ungeheuren Ruhe, die den Leidenschaften entrückt ist. Einem Stummwerden. Einem Verschwinden der Gedanken und Absichten« (MoE, S. 753). Ulrich schlägt hingegen während der »heilige[n] Gespräche« mit seiner Schwester ein erfrischend konkretes Bild vor, nämlich eine »Bank im Gebirge«, wo »irgendein Kanzleirat in fabrikneuen Lederhosen sitzt« und »den reellen Gehalt des Lebens, das sich auf Urlaub befindet«, vertrete; was heiße, dass ihm sein sonstiger Lebensinhalt »›fern‹ und ›eigentlich unwichtig‹ [. . .]« erscheine, woraufhin Agathe hinzufügt, dies sei »eine Ferialstimmung« (MoE, S. 767).67 Ihr Bruder erkennt darin wohlgemerkt nichts weniger als »die Wahrheit« und ergänzt seinerseits: [D]er Mensch hat zwei Daseins-, Bewußtseins- und Denkzustände und bewahrt sich vor einem tödlichen Gespensterschreck, den ihm das einflößen müßte, auf die Weise, daß er die einen für den Urlaub von den anderen hält, für ihre Unterbrechung, Ruhe oder irgendetwas an ihnen, das er zu kennen glaubt. Mystik dagegen wäre verbunden mit der Absicht auf Dauerferien. (MoE, S. 767)

Diese Intention würde der imaginäre Kanzleirat, ja die Mehrheit der Menschen, strikt ablehnen; anders die Geschwister Ulrich und Agathe, die sich der Mystik des »anderen Zustands« und der Utopie des »kontemplativen Lebens« hingeben68 und damit zeigen, dass Muße und Müßiggang keineswegs peripher, sondern vielmehr zentral für den Mann ohne Eigenschaften sind.

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Brosthaus: Struktur und Entwicklung des »anderen Zustands« (Anm. 60), S. 438. Bücker: Das Meer und der andere Zustand (Anm. 45), S. 126. Diese Stimmung und der »Urlaub vom Leben« überhaupt würden »Ulrich vollständig von der Pflicht [befreien], Imitation lebensweltlichen Lebens zu sein«, argumentiert Richard David Precht; er bezeichnet die Chiffre des Lebensurlaubs als »Metapher für Ulrichs literarische Existenz« und als »literarischen Ausnahmezustand« und akzentuiert damit die literarisch-philosophische Selbstreferenzialität von Musils Roman (Richard David Precht: Die gleitende Logik der Seele. Ästhetische Selbstreflexivität in Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften. Stuttgart 1996, S. 246 f.). KA/Transkriptionen/Mappe II/2/6.

Hans Ulrich Gumbrecht

Frau mit Eigenschaften1 Seit Mitte des vergangenen Jahrhunderts hat sich Der Mann ohne Eigenschaften von Robert Musil im Bildungswissen als Äquivalent zu James Joyces Ulysses, Marcel Prousts À la recherche du temps perdu, João Guimarães Rosas Grande Sertão: Veredas oder Stefano D’Arrigos Horcynus Orca etabliert. Das Buch gilt als eine der großen, an emblematische Orte gebundenen Erzählungen, die ihren nationalen Sprachen neue ästhetische und intellektuelle Dimensionen gegeben haben. Doch obwohl Musil den Lesern zunächst weniger Lektüre-Anstrengungen zuzumuten scheint als Joyce, Proust oder D’Arrigo, ist sein Text im Status eines Geheimtipps hängen geblieben. Er heimst allenthalben und immer noch Prädikate anspruchsvoller Höchstschätzung ein, aber kaum je Reaktionen in begeisterten Tonlagen. Schon Walter Benjamin spielte in seinem Brief an Gershom Scholem vom 23. Mai 1933 auf diesen Eindruck mit der Formel an, dass sein Zeitgenosse Musil »klüger ist als ers nötig hat.«2 Und so lässt der Mann ohne Eigenschaften über gut fünfzehnhundert (zum Teil postum erschienene) Seiten eine opulente Beschreibung der Wiener Oberschicht von 1913 mit gelegentlich aufleuchtenden philosophischen Kommentaren übergehen in immer abstraktere Gespräche zwischen den Geschwistern Ulrich und Agathe, für deren Liebesgeschichte nie eine existentielle oder literarische Lösung in Sicht kommt. Als Literaturlehrer habe ich mich stets auf verlorenem Posten gefunden mit den leidenschaftlichen Versuchen, Musils Fragment meinen Studenten schmackhaft zu machen. Seit den siebziger Jahren schon verblasste rasch das Interesse an den Welten der Habsburger Doppelmonarchie. Eine Generation später überraschte mich in einem kalifornischen Seminar zum Mann ohne Eigenschaften die geschlossene Enttäuschung junger Frauen über den Roman und vor allem ihre Antipathie gegenüber Agathe, die mich selbst – trotz ihres etwas altertümlich klingenden Namens – besonders fasziniert. Deshalb kam fast ein Gefühl der Rechtfertigung auf, als ich vor einem Jahr entdeckte, dass der Penguin-Verlag und die New York Review of Books gerade unter dem Titel Agathe, or The Forgotten Sister und Musils Namen einen Verschnitt aus Passagen um meine Lieblingsgestalt veröffentlicht hatten. Ganz allein war ich also nicht mit der Begeisterung für Agathe. Anscheinend provoziert der Kon1 2

Eine leicht veränderte Fassung dieses Texts erschien am 24. September 2020 in der Neuen Zürcher Zeitung, S. 28. Walter Benjamin: Briefe I . Hg. v. Gershom Scholem u. Theodor W. Adorno. Frankfurt a. M. 1966, S. 575.

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Hans Ulrich Gumbrecht

trast zwischen den beiden Geschwistern im Roman mittlerweile auch eine Geschlechterdifferenz bei den Leser-Reaktionen. Gemeinsam könnten die beiden Kontraste Musils Werk neue Sichtbarkeit in einer Gegenwart verschaffen, die Konsens über den rechtlichen Grundsatz der Geschlechtergleichheit erlangt hat – und sich deshalb Experimente mit Bildern des Unterschieds leisten kann. Musils außergewöhnliche Frauen-Gestalt wird allerdings nicht aufgrund von Auslegungen im historischen Kontext inspirierend, sondern in der vom Text ermöglichten Projektion prägnanter Vorstellungen, die ihre eigene Subjektivität (hier die Subjektivität eines alternden Mannes) und ihre Ausrichtung auf Fragen unserer Zeit eingestehen. Denn um Prägnanz seiner fiktionalen Gestalten ging es dem Autor gerade nicht. Stattdessen baute er den Roman um Ulrich als den »Mann ohne Eigenschaften« auf und brachte damit einige Bedingungen aus dem eigenen Leben zur Konvergenz. Sohn eines in den erblichen Adelsstand erhobenen Professors, glänzt er als Mathematiker, philosophischer Gesprächspartner und Liebhaber, dem alle sozialen Rollen und Kreise verfügbar sind, so wie auch der Professorensohn Musil als Offizier, Ingenieur, akademischer Philosoph oder Redakteur der »Neuen Rundschau« seine Mitwelten in Wien und Berlin beeindruckt hatte. »Ohne Eigenschaften« bleibt der Protagonist, weil er zwar alle denkbaren Eigenschaften als Möglichkeit besitzt, aber nicht die Energie, um sich auf einige von ihnen festzulegen. Mit Eleganz und im Abstand der Gefühle nimmt Ulrich an der Vorbereitung einer Selbstfeier des kaiserlichen und königlichen Reichs teil, zu der es nie kommen wird, und bildet dabei anstelle eines Helden-Profils seinen »Möglichkeitssinn« aus: das heißt die Fähigkeit, stets in Denk-Alternativen gegenüber den bestehenden Wirklichkeiten zu leben. Musil hat im Möglichkeitssinn wohl auch den Entwurf einer Existenzform für die 1920er Jahre gesehen, als rivalisierende Ideologien sich zu tödlicher Konsequenz formierten. Ein kurzes Jahrhundert später, in Gesellschaften, die mit dem Überschuss an individuell zur Verfügung stehenden Möglichkeiten als einem Hauptproblem kämpfen, löst sich die Attraktivität jenes Profils auf. Zu sehr erinnert uns Ulrich an Freunde oder Kollegen von heute, die ihre Männlichkeit zugleich einklammern und mit verbundenen Augen unter allzu vielen Alternativen suchen. Das »Schweben« im Zusammensein, die »hermaphroditische« Komplementarität und selbst die »geschwisterliche« Beziehung, das ganze Repertoire von Begriffen und Bildern also, mit denen er die Liebe zu Agathe auf Möglichkeits-Distanz hält, hat auch einen Ort in den quälend unverbindlichen Gesprächen der Paartherapien von heute. Immer wieder schiebt sich dieser Blick Ulrichs vor Agathe als einzige Figur der zweiten Romanhälfte mit – potentiell – prägnanten Eigenschaften. Einerseits beschwört er sie in nüchtern-genauen Worten herauf: »Agathes Haar war heller als seines, aber von der gleichen duftigen Trockenheit der Haut, die er als das einzige an seinem eigenen Körper liebte. Ihre Brust ging

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nicht in Brüsten verloren, sondern war schlank und kräftig, und die Glieder seiner Schwester schienen die lang-schmale Spindelform zu haben, die natürliche Leistungsfähigkeit mit Schönheit vereint.« (MoE, S. 676) Doch andererseits schlägt das aufscheinende Profil für Ulrich kaum je in die Konkretheit von Eigenschaften um. Agathe bleibt eine bloße Möglichkeit: »Ihre Bewegungen waren bald Knie, bald zarter Finger, bald Widerspenstigkeit einer Locke. Das einzige, was man davon sagen konnte, war: es sei da. Es war da, wo zuvor nichts gewesen war« (MoE, S. 897). Dabei liefert die Seite für Seite spärlicher werdende Handlung durchaus Bilder, die ein Leser unserer Gegenwart zur Vorstellung von Agathe als faszinierender Frau mit Eigenschaften zusammenfügen kann. Etwa ihre Freude an kantigen Widersprüchen. Dass sie »ein wenig Tennis« spielt (MoE, S. 676), erfährt Ulrich kurz nach der ersten Begegnung im Erwachsenenalter bei der Beerdigung des gemeinsamen Vaters, und dass sie ihren Mann Hagauer, einen aufstrebend-modernen Pädagogen, »sechs zu null« schlägt (MoE, S. 704). Trotzdem verabscheut sie Sport (vgl. MoE, S. 676). Von Hagauer will sie sich möglichst bald und ohne Konsequenzen scheiden lassen, doch mit kalligraphischem Spezialtalent löscht sie eine Passage zu seinen Gunsten im Testament des Vaters, und plötzlich ereignet sich dann »leicht und leise« der Satz: »Ich möchte Hagauer umbringen« (MoE, S. 742). Obwohl nichts Agathe mehr langweilt als die moralisierenden Reden des Gatten, besucht sie mehrfach Lindner, seinen verwitweten und erzkonservativen Kollegen, um sich – ohne Erfolg – von seinen ethischen Grundsätzen überzeugen zu lassen. Dabei bespielt sie keinesfalls jene Bühne, welche ihre Zeit mit geballtem Pomp ausstaffiert hatte: »Denn sie hatte wenig Begabung zur Untreue bewiesen: Liebhaber kamen ihr, sobald sie sie erst kennen gelernt hatte, nicht bezwingender vor als Gatten« (MoE, S. 728). Eine Frau mit soviel Unabhängigkeit »verabscheute die weibliche Emanzipation geradeso, wie sie das weibliche Brutbedürfnis mißachtete« (MoE, S. 727). Würden Feministinnen von heute diese doppelte Distanz durchgehen lassen? Statt Impulse so wie ihr Bruder im Status von Möglichkeiten zu halten, vergisst oder verkörpert Agathe sie und weigert sich, ihnen die übergeordneten Perspektiven von Prinzipien oder notwendigen Absichten zu geben. Impulse werden in Agathes Gegenwart zu Gesten ohne nötige Vorgeschichten oder Konsequenzen: »Ich habe immer ohne Sinn gehandelt, das macht mich nur unglücklich.« (MoE, S. 737) Man kann diese Eigenschaft »Gelassenheit« nennen und als Gegenschwung zur Prinzipienreiterei oder zur Obsession langfristigen Planens schätzen, die sich auch in den alltäglichen Folgen von Gender-Diskussionen festgesetzt haben, wenn Identitäten zur Verpflichtung und zu Programmen der Selbstgestaltung werden. Allerdings gibt es im Deutschen eine Tendenz, Gelassenheit ausgerechnet als männliche Tugend von »Anmut« als zentraler weiblicher Eigenschaft abzusetzen. Dieser Kontrast gewann Autorität mit dem Gebrauch der beiden

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Hans Ulrich Gumbrecht

Begriffe bei Heinrich von Kleist, Martin Heidegger und zuletzt Hans Blumenberg. Erstaunlicherweise nahmen sie ein kulturelles Klischee auf, das – wie zum Beispiel auch Ulrich – Männlichkeit mit Reflexion und Weiblichkeit mit körperlicher Präsenz verbindet. Agathes Gelassenheit hingegen stelle ich mir als bewussten Verzicht auf exzessives Nachdenken vor, zu dem als zweite Eigenschaft Anmut als Bereitschaft für die plötzliche Präsenz von Ereignissen gehört. So verliert sich eine Frau mit Eigenschaften weder in Prinzipien noch in Unverbindlichkeit, weder in Reflexion noch in flacher Dauer-Anmut. Es gefällt Agathe, sich ohne Naivität vom Impuls plötzlicher Gesten hinreißen zu lassen. »Wollen wir nicht jeder etwas Schönes auf einen Zettel schreiben und ihm das in die Tasche stecken?«, fragt sie ihren Bruder vor dem Leichnam des nie geliebten Vaters. (MoE, S. 706) Dann bückt sie sich, streift »ein seidenes, breites Strumpfband [. . .] vom Bein [. . .], hob die Prunkdecke und schob es dem Vater in die Tasche« (MoE, S. 707). Schon mit achtzehn Jahren hatte sie »einen Mann geheiratet, der nur um wenig älter war als sie selbst« (MoE, S. 756) und auf einer ekstatischen Reise, mit der ihr gemeinsames Leben beginnen sollte, an Typhus starb. Seither will Agathe ausersehen sein, »etwas Ungewöhnliches und Andersgeartetes zu erleben«, und bleibt offen, »einstweilen [. . .] alles mit sich geschehen zu lassen, ohne es gleich zu überschätzen« (MoE, S. 728). Die in der Konvergenz von Gelassenheit mit Anmut erlebten Impulse des Ungewöhnlichen und Andersgearteten aktivieren im Fall von Agathe eine besondere Stärke. Diese Stärke zeigt sich in einer Offenheit für die Intensitäten der Umwelt. »[E]inzig und allein nach dem Zeichen«, ob »seine Nähe [sie] steigen oder sinken macht« (MoE, S. 770), lebt Agathe und liebt Ulrich »in einer so schamlosen Weise, wie man das Leben liebt.« (MoE, S. 966) Gelassenheit, Anmut und Kraft als Eigenschaften von Frauen in einer Gegenwart und Zukunft, wo neue Unterschiede zwischen den Geschlechtern aus ihrer Gleichheit entstehen? Männer werden darüber nicht zu entscheiden haben. Immerhin können wir uns nach einem Leben sehnen, das plötzlichen Intuitionen seine Wachheit schenkt.

Rosmarie Zeller

Nachruf auf Philippe Jaccottet (1925–2021) Philippe Jaccottet, der Übersetzer Musils, ist am 24. Februar 2021 gestorben. 1925 im waadtländischen Moudon als Sohn eines Tierarztes geboren und in Lausanne aufgewachsen, hat Philippe Jaccottet an der Universität Lausanne Philosophie und griechische sowie deutsche Philologie studiert und bereits 1946 das Studium abgeschlossen. Wie er in einem Interview erklärte, wollte er nicht unterrichten. Der in Lausanne ansässige Verlag Mermod bot ihm an, Thomas Manns Tod in Venedig, der bisher schlecht übersetzt worden sei, ins Französische zu übertragen. Das war der Anfang einer langen Übersetzertätigkeit, die Jaccottet zunächst in Paris begann und ab 1953 in Südfrankreich, in Grignan, fortsetzte. 1957 kam der erste, 1958 der zweite Band der Übersetzung des Mann ohne Eigenschaften im renommierten Verlag Seuil heraus. Dank Jaccottet konnten die Franzosen Musil überhaupt erst entdecken, und sie waren so begeistert vom Reichtum dieses Textes, dass der Verlag Jaccottet beauftragte, auch die anderen Werke Musils ins Französische zu übertragen. So erschienen in den sechziger Jahren Übersetzungen des Törleß (1960), der Schwärmer (1961), der Drei Frauen und der Vereinigungen (1963), des Nachlaß zu Lebzeiten (1965). Alle diese Übersetzungen erlebten mehrere Auflagen. Als die Tagebücher und Briefe in der Frisé-Ausgabe herauskamen, wurde Jaccottet vom Verlag gebeten, auch diese zu übersetzen, was ihm aber keine Freude machte; ihm fehlte bei diesen Texten das Dichterische. Und genau dies macht die Qualität von Jaccottets Übersetzungen aus: Hier übersetzt ein Dichter und nicht ein Literaturwissenschaftler andere Dichter.1 Man kann nur staunen, wenn man bedenkt, dass Jaccottet gerade einmal 32 Jahre alt war, als ihm das Meisterwerk der Übersetzung des Mann ohne Eigenschaften gelang. Was Jaccottet als Übersetzer geleistet hat, zeugt von seiner großen Sensibilität für den richtigen Ausdruck. Peter Utz sagte von dieser Musil-Übersetzung, die man in keinem Moment als Übersetzung empfinde, sie verhalte sich zum Original wie Agathe zu Ulrich, sie sei eine Schwester des Originals.2 1 2

Einige Interviews mit Jaccottet sind auf Youtube publiziert worden. Für die Übersetzungen ist am aufschlussreichsten das der Buchhandlung L’arbre à lettre: https://www.youtube.com/ watch?v=436KBTpddMI (aufgerufen am 15. 4. 2021). Vgl. Peter Utz: Anders gesagt = autrement dit = with other words. München 2007, S. 287, 294. Vgl. auch ders.: Fremde Gefühle in fremden Sprachen. Der Mann ohne Eigenschaften im Licht seiner englischen und französischen Übersetzungen, in: Robert Musil. Ironie, Satire, falsche Gefühle. Hg. von Kevin Mulligan u. Armin Westerhoff. Paderborn 2009, S. 173–186.

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Rosmarie Zeller

Übersetzen war zu Jaccottets Brotberuf geworden, eine Bezeichnung, die Peter Handke zurecht auf Grund ihres unschönen Beiklangs als unpassend kritisierte,3 denn Jaccottets Übersetzungen zeugen von derselben Sorgfalt im Umgang mit der Sprache wie seine Gedichte und Prosatexte. Der eigentliche Beruf von Philippe Jaccottet war das Schreiben, vor allem das Schreiben von Gedichten, aber auch von Prosatexten; er verfasste auch eine Art Poetik La promenade sous les arbres (1957). Ab dem Alter von dreizehn Jahren habe er Gedichte geschrieben, erzählte er in einem Interview.4 Er war ein großer Bewunderer des Westschweizer Autors Gustave Roud (1897–1976), mit dem er ebenso befreundet war wie mit Francis Ponge (1899–1988). Alle Kritiker sind sich einig, dass die Poesie von Jaccottet durch Genauigkeit, durch die Suche nach dem richtigen Ausdruck für das Gefühl, das Gesehene, das Erlebte, das er wiedergeben will, charakterisiert ist. Immer wieder wird auch seine große Einfachheit hervorgehoben. Wer könnte seine Poesie besser beschreiben als Peter Handke, der mit Peter Hamm, Alfred Kolleritsch und Michael Krüger zur Jury gehörte, die 1988 Jaccottet den Petrarca-Preis zuerkannte? Er sieht in Jaccottet einen »Diener des Sichtbaren«, was sich im »Sich-nicht-Einmischen in den Gegenstand«, im »Gewährenlassen, Zur-Geltung-Bringen« äußere. Die Gedichte zeigten den Gegenstand, die Natur, das Licht, aber gäben niemals ein Psychogramm des Autors. Vielleicht habe das, meint Handke, auch mit Jaccottets schweizerischer Herkunft zu tun und vergleicht ihn mit zwei anderen Schweizern: mit Ludwig Hohl, der den »schreiberischen ›Übermut‹« verworfen habe, und mit Robert Walser.5 Zu dieser Charakterisierung passt, dass Jaccottet nicht zuletzt deshalb von Paris weggezogen sei, weil er – nicht selbstsicher genug – gefürchtet habe, im unruhigen intellektuellen Betrieb von Paris unterzugehen. Jaccottet, der so viele Autoren aus dem Griechischen, Italienischen, Spanischen und sogar Russischen übersetzt hat, wurde selbst in zahlreiche Sprachen übersetzt und auch in weit entfernte wie ins Japanische oder Chinesische. Seine Gedichte figurieren in Frankreich auf der Liste der Prüfungsstoffe und seine Werke wurden – höchste Auszeichnung für einen Autor – in die Bibliothèque de la Pléiade aufgenommen. Und so wurden ihm auch zahlreiche literarische Preise zuerkannt: 1981 der Gottfried KellerPreis, 1988 der Petrarca-Preis; 2004 erhielt er das Goncourt-Adrien Bertrand-Stipendium für Poesie, 2010 den Großen Schillerpreis der Eidgenossenschaft, 2014 den Schweizer Grand Prix Literatur, 2018 den hochdotierten Prix Cino del Duca der Académie Française, der vor ihm zum Beispiel an 3 4 5

Vgl. die Laudatio von Peter Handke auf Philippe Jaccottet. Peter Handke: Langsam im Schatten: der Dichter Philippe Jaccottet. https://www.petrarca-preis.de/philippe-jaccottet (aufgerufen am 15. 3. 2021). Vgl. Philippe Jaccottet. Portrait d’un poète. Radio Télévision Suisse 1975. https://www.youtube.com/watch?v=Q5K49JbRYgU (aufgerufen am 15. 3. 2021). Handke: Langsam im Schatten: der Dichter Philippe Jaccottet (Anm. 3).

Nachruf auf Philippe Jaccottet (1925–2021)

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Jorge Luis Borges oder an den Nobelpreisträger Patrick Mondiano verliehen wurde. Seine literarischen Werke wie auch seine Übersetzungen bleiben uns erhalten. »Musil en France« – das heißt auch: Musil übersetzt durch Philippe Jaccottet.

Florence Vatan

Nachruf auf Jacques Bouveresse (1940–2021) Jacques Bouveresse wurde am 20. August 1940 in Épenoy (Doubs) in eine Bauernfamilie mit neun Kindern geboren. Er starb am 9. Mai 2021 im Alter von 80 Jahren in Paris. 1961 trat er in die École Normale Supérieure ein, wo er 1965 das Staatsexamen in Philosophie bestand und 1975 seine Dissertation über Wittgenstein verteidigte. Mit Ausnahme von vier Jahren an der Universität Genf als außerordentlicher und dann ordentlicher Professor (1979–1983) verbrachte er seine gesamte Karriere am Fachbereich Philosophie der Universität Paris I Panthéon-Sorbonne, bevor er 1995 als Professor an das Collège de France berufen wurde, wo er den Lehrstuhl für Philosophie der Sprache und des Wissens schuf. Seit 2010 war er Honorarprofessor am Collège de France. Von den frühen 1970er Jahren an, als das Werk Ludwig Wittgensteins in Frankreich noch wenig bekannt war, trug Bouveresse als Spezialist für Sprachphilosophie zu dessen Verbreitung bei. Er machte die angelsächsische analytische Philosophie ebenso bekannt wie die österreichische philosophische Tradition von Bernard Bolzano über Franz Brentano und Ludwig Boltzmann bis zum logischen Empirismus des Wiener Kreises. Die Beschäftigung mit wenig bekannten Autoren war für ihn eine Möglichkeit, eine intellektuelle Tradition zu fördern, die in Frankreich lange Zeit von der Aura und der Vorherrschaft der deutschen Philosophie wie des Idealismus, Nietzsches, der Phänomenologie oder Heideggers verdunkelt war. Bezogen auf Frankreich stand Bouveresse in der rationalistischen Tradition, die von Philosophen wie Jean Cavaillès, Jules Vuillemin und Gilles-Gaston Granger verkörpert wurde. In Anbetracht seiner philosophischen Interessen wäre es verlockend, Jacques Bouveresse den in ihrem Fachgebiet eingeschlossenen Spezialisten anzunähern, deren Grenzen Musil ironisch aufzeigte. Das hieße jedoch, den Umfang und die Vielfalt von Bouveresse’ Arbeit zu ignorieren, die phänomenale Gelehrsamkeit, von der sie zeugt, und die unermüdliche Energie, mit der er Nebenwege erforschte und Entdeckungen machte: J’ai été constamment hanté par le désir de faire reconnaître des auteurs ignorés, sousestimés, négligés ou honorés seulement du bout des lèvres. [. . .] J’ai passé, pour ma part, beaucoup de temps à essayer de réhabiliter des vaincus de diverses sortes. La cause des vainqueurs m’intéresse en général assez peu.1 1

Jacques Bouveresse: Le Philosophe et le réel. Entretiens avec Jean-Jacques Rosat. Paris 1998, S. 247 f. »Ich war besessen vom Wunsch, Anerkennung für unbekannte, unterbewertete, vernachlässigte oder nur schwach geehrte Autoren zu erwirken. [. . .] Ich habe viel Zeit damit

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Neben den oben genannten Denkern hat sich Bouveresse auch mit Frege, Russell, Gödel, Leibniz, Nietzsche und Lichtenberg sowie zahlreichen Schriftstellern darunter Karl Kraus, Paul Valéry und Gottfried Keller beschäftigt. Als großer Musikliebhaber veröffentlichte er auch mehrere Bände über die Beziehung zwischen Musik und Philosophie. Während er oft über die Bemerkung Ulrichs zur Einengung nachdachte – wie »ein begabter junger Mensch [. . .] sich zu einem gewöhnlichen alten Menschen einengt« (MoE, S. 50) –, hörte er selbst nie auf, das Spektrum seiner Erkundungen zu erweitern, denn das Alter schaffte es nicht, seine Neugier, seine Kompromisslosigkeit und sein ethisches Engagement zu dämpfen. Vor allem aber ist Jacques Bouveresse einer der scharfsinnigsten und genauesten Leser von Musils Werk, dessen Tiefe und Reichtum er seit Ende der 1970er Jahre in Frankreich bekannt gemacht hat. Wenn Philippe Jaccottet sagte, dass er durch den gedämpften Ton von Musils Prosa angezogen wurde,2 so wurde Jacques Bouveresse von der intellektuellen Kraft eines Autors verführt, den er »un authentique philosophe« (einen authentischen Philosophen) zu nennen pflegte.3 Damit wendet er sich von der Tendenz ab, die in Musil nur einen ironisch-melancholischen Vertreter des habsburgischen Mythos sah wie zum Beispiel Claudio Magris. Weit davon entfernt, der letzte Repräsentant eines blutleeren Kakaniens zu sein, entpuppte sich Musil in Bouveresse’ Augen als ein Autor, dessen Denken nichts von seiner lebendigen Kraft und seiner großen Aktualität verloren hat. Er verkörperte intellektuelle Lebendigkeit in ihrer edelsten Form. Für Bouveresse war die Lektüre von Musil eine Entdeckung, die ihn zu interessieren nie nachgelassen hat. Seine Essays über Musil – größtenteils erschienen in La voix de l’âme et les chemins de l’esprit, einem Werk, das Texte versammelt, die zwischen 1978 und 1997 veröffentlicht oder geschrieben wurden – behandeln so unterschiedliche Themen wie Musils Verhältnis zur wissenschaftlichen Erkenntnis, seine Kritik an Oswald Spengler, die Frage nach dem Schicksal Europas, den historischen Determinismus, das Unbehagen an der Moderne, den Möglichkeitssinn und den Essayismus. Im Jahr 1993 veröffentlichte Bouveresse Robert Musil. L’homme probable, le hasard, la moyenne et l’escargot de l’histoire, eine wichtige Studie über Musils Geschichtsauffassung, seinen Rückgriff auf Statistik und das probabilistische Denken sowie über seine Positionen zur heiklen Frage von Zufall und Determinismus. Auch hier folgt er nicht der Mode, sondern unterscheidet sorgfältig zwischen Musils vorsichtigem Denken und der modischen und oberflächlichen Faszination für Zufalls- und Chaostheorien.

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verbracht, die Besiegten zu rehabilitieren. Die Sache der Sieger interessierte mich im Allgemeinen wenig.« (Übersetzung R. Z.) Vgl. Philippe Jaccottet: Elements d’un songe. Paris 1961, S. 21. Jacques Bouveresse: La voix de l’âme et les chemins de l’esprit. Dix études sur Robert Musil. Paris 2001, S. 13.

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Der Eifer, mit dem Jacques Bouveresse Musils Werk bekannt machte, deutet darauf hin, dass Musil für ihn weit mehr war als ein einfaches Studienobjekt. In der Tat war Musil ein Denker, der ihn auf seinem persönlichen Weg immer wieder begleitete. Musil war eine Art idealer Gesprächspartner, ein Begleiter bei seinem intellektuellen Abenteuer und ein unvergleichliches Vorbild, in dem er viele seiner eigenen Werte und Anliegen wiederfand. Musils Mann ohne Eigenschaften war sein Lieblingsbuch,4 das er intensiv las und zu dem er immer wieder zurückkehrte, wobei er nicht zögerte – wenn nötig – eigene Übersetzungen vorzuschlagen, um den Gedanken des Autors so genau wie möglich wiederzugeben. Musils Bedeutung ist für ihn so groß, dass es schwierig ist, einen Text oder ein Interview zu finden, in dem Bouveresse sich nicht auf ihn bezieht und damit seine tiefe Verbundenheit mit dem Romancier offenbart. Was sind die Gründe für diese lebenslange Beschäftigung mit Musil? In erster Linie war Musil in seinen Augen durch seine Strenge, seine Wachsamkeit, seine entmystifizierende Klarheit, seine Praxis des Essayismus und seine Erkundung von Möglichkeiten ein Beispiel intellektueller Redlichkeit und Courage. Als Verfechter der »kleinen Schritte« anstelle übereilter Synthesen verkörpert er eine Allianz aus Vorsicht und Kühnheit, in der die dominierenden Merkmale der österreichischen philosophischen Tradition zum Ausdruck kommen: das Bemühen um Klarheit, die Vorliebe für spezifische Probleme und Teilaspekte, die bewusste Einnahme eines naiven Standpunktes, die Verwendung von Beispielen, die Methode der Variation und die Anprangerung von Unsinn und Geschwätz. Im Gegensatz zu den Predigern des Niedergangs wie Spengler oder den spirituellen Führern, die Mystik auf billige Art anboten, versuchte Musil einen positiven Beitrag zur Lösung der Probleme seiner Zeit zu leisten, ohne dabei die Schwierigkeiten und Grenzen eines solchen Unterfangens aus den Augen zu verlieren. Anstatt den Sirenen des Irrationalismus nachzugeben und dem Intellekt den Krieg zu erklären, forderte er mehr intellektuelle Disziplin. Er wählte den schwierigeren Weg. Dieser ausgeprägte Sinn für intellektuelle Verantwortung ist auch in Musils Weigerung spürbar, sich rhetorischer Wendigkeit zu bedienen, sich in Illusionen zu flüchten oder sich hinter entschiedenen Überzeugungen zu verstecken: Musil est l’un des rares auteurs qui me donnent l’impression d’être toujours parfaitement honnête. Avec la plupart des autres, il y a toujours un moment où vous vous dites: »Mais là, il s’est facilité les choses, il n’est pas allé jusqu’au bout, il a sciemment ou inconsciemment omis des éléments qu’il aurait fallu prendre en considération.«5 4 5

Bouveresse: Le Philosophe et le réel (Anm. 1), S. 29. Ebd. »Musil ist einer der wenigen Autoren, welche mir den Eindruck machen, dass sie immer vollkommen aufrichtig sind. Bei den meisten andern gibt es immer einen Moment, wo man sich sagt: ›Hier hat er sich die Sache einfach gemacht, er ist nicht bis ans Ende gegangen oder

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Letzteres lässt sich von Musil kaum sagen, denn sein Vorgehen ist immer subtil und nuanciert. Bouveresse teilte mit Musil das Ethos und den besonnenen Rationalismus des Mannes der Wissenschaft und vertrat eine »induktive Demut« (MoE, S. 1919), die auf die Komplexität der Tatsachen und Situationen achtet und weit entfernt ist vom Narzissmus des schöpferischen Aktes. Ebenso fand er sich in Musils Ablehnung von Zugeständnissen und in seinem grundlegenden Misstrauen gegenüber intellektuellen Moden wieder, deren Wert auf einem Effekt der Werbung oder des Marktes gründet. Er bewunderte auch, wie Musil seine Marginalität akzeptierte. Obwohl Musil unter seiner relativen Unbekanntheit litt, blieb er seinem Projekt trotz aller Hindernisse und Schwierigkeiten bis zum Schluss treu. Musil war ein Kampfgefährte und ein Gegenmittel, das Bouveresse mobilisierte, um seine eigenen Kämpfe gegen intellektuelle Hochstapelei, philosophische Engstirnigkeit, Seilschaften, den wachsenden Einfluss der Medien sowie den Kommerz und die Rituale der Anerkennung, die jeden kritischen Sinn ersticken, zu führen. Seine Angriffe richteten sich vor allem gegen die Postmoderne, eine in seinen Augen suspekte Kombination aus Philosophie und Literatur, in der der Glanz der Rhetorik und die stilistische Augenwischerei Vorrang vor der Suche nach der Wahrheit hatten. Die kritische Diagnose, die Musil in den zwanziger und dreißiger Jahren der Lebensphilosophie und den Vertretern des Irrationalismus entgegenstellte, gilt laut Bouveresse auch heute noch: Weit davon entfernt, Neues und Originelles zu leisten, bleibe die Postmoderne abhängig von der Moderne, die sie zu bekämpfen vorgibt, und ist Teil des Problems, anstatt Lösungen anzubieten. Wenn Musils Leidenschaft für Genauigkeit nach Bouveresse das Gegenteil von postmoderner Selbstgefälligkeit und Verwirrung ist, ist sie auch das Werk eines herausragenden Schriftstellers mit einer virtuosen Beherrschung der Ironie und der »Kunst der Formulierung«.6 Bouveresse konnte nicht anders, als sich vor einem Autor zu verneigen, der fähig war, die unübertreffliche Formulierung zu finden: »la formule insurpassable qui dit les choses infiniment mieux qu’on ne se sent en mesure de le faire soi-même«; das zeige »de la façon la plus éclatante et aussi parfois la plus déprimante la superiorité de l’écrivain sur le simple philosophe.«7 Être capable de penser à un niveau comparable à celui de Musil et de le faire dans une écriture à la fois aussi superbe et aussi parfaitement maîtrisée que la sienne est

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hat wissentlich oder unwissentlich Elemente ausgelassen, die man hätte berücksichtigen müssen.‹« (Übersetzung R. Z.) Bouveresse: La voix de l’âme (Anm. 3), S. 81. Ebd., S. 81–82: »die unübertreffliche Formulierung zu finden, die die Dinge unendlich besser sagt, als man sich selbst in der Lage fühlt, sie zu sagen«; das zeige »die Überlegenheit des Schriftstellers über den einfachen Philosophen auf die eindrucksvollste und manchmal auch auf die deprimierendste Weise« (Übersetzung R. Z.).

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un idéal qu’il n’est pas donné à tout le monde d’approcher et qui ne l’a été que très rarement dans la littérature du XXe siècle et peut-être même de tous les temps.8

Musil nimmt, wie wir sehen, einen wichtigen Platz in Bouveresse’ Pantheon ein. Er war für ihn ein »außerordentlicher Denker und Schriftsteller in Bezug auf seine Intelligenz und Subtilität«, ein »moderner Weiser«,9 ein intellektueller Held, ein einsamer Kämpfer, der umso bewundernswerter war, als er keine Kompromisse bei ethischen und ästhetischen Prinzipien einging, die seinem Werk zugrunde liegen. Bouveresse – der sich auch der Ironie und vor allem der Satire bediente – trug die Fackel Musils auf seine Weise weiter: Wie dieser zeichnete er sich durch intellektuelle Integrität aus, durch sein Bestreben, Betrügereien und Illusionen zu entlarven, durch seinen Geist der Strenge und durch sein Streben nach Genauigkeit. Der kontinuierliche Dialog, den er mit dem Musil’schen Denken aufrechterhalten hat, ist eine lebendige Hommage an einen Autor, der ihn anregte und für den er mehr als andere getan hat, um dessen anregende Kraft bekannt zu machen. Zusammen mit Philippe Jaccottet und Jean-Pierre Cometti gehört Jacques Bouveresse zur Gemeinschaft jener, die sich als vorbildliche Vermittler mit bewundernswertem Engagement den Herausforderungen des Musil’schen Werkes gestellt und ihre vielfältigen Talente und Qualitäten eingesetzt haben, um dessen Brillanz zum Leuchten zu bringen. Übersetzung von Rosmarie Zeller

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Ebd., S. 81–82. »Fähig zu sein, auf einem Musil vergleichbarem Niveau denken zu können und dies in einer ebenso großartigen wie perfekt beherrschten Sprache zu tun, ist ein Ideal, dem sich nicht jeder nähern kann und das in der Literatur des 20. Jahrhunderts und vielleicht aller Zeiten nur sehr selten erreicht worden ist.« (Übersetzung R. Z.) Ebd., S. 80–81.

Rezensionen

Jorge Estrada: Experiencing Ethics with Sterne and Musil. A Relentless Character Construction. Berlin, Boston: Walter de Gruyter 2020 (= spectrum Literaturwissenschaft/spectrum Literature, Bd. 67). 342 pp. € 99,95. This is an unusual volume, and also a valuable one. It has something to say. One of the tasks of this review is to help the reader assess how the audience for Jorge Estrada’s ambitious volume is best imagined and what kind of attention to it might be required. A clue is provided in the index to the volume. No proper names appear, only concepts. There are only 19 main terms listed, starting with »agency« and »causality«, the first two entries, and featuring such headings as »experiencing«, »lead a life«, »practical field«, and »transcendental«. Assembling an index, of course, is one of the last tasks that fall to an editor or author after a book has been completed. While it cannot be discounted that this modest index was put together in haste, the sparse list of terms in the index already indicates that the author was aiming at a philosophical investigation of unusual proportions – one eschewing traditional philosophical approaches to ethics. In a study that intends to be neither fish nor flesh, then, we encounter several entries in the index devoted to discussion about »indeterminateness« (»indeterminacy« would have been a better term), »intelligibility«, and »immanence«. These are grounding terms in Estrada’s vocabulary for a philosophical project that, in its very conception, intends to swim against the tide of both pragmatic discourse (only two page references listed against the term »rationality«) and factually informed »scientific« realism (captured, where at all, only by way of the term »experiencing«). In carrying out such an inquiry, Musil’s novel Der Mann ohne Eigenschaften is, as it were, made to measure, for this novel is composed of the very stuff of philosophical indeterminacy. That Sterne’s Life and Opinions of Tristram Shandy, an 18th century text that complicates and debunks Enlightenment rationalism, should also appear in the analysis alongside Musil’s novel (or, if Sterne’s text was the prior commitment, how it came about that Musil was led into the fray), might be put down to the domain of comparative literature, which appears to have provided a home born of necessity for this doctoral project. It is to be noted in this context that Sterne and Musil are less »compared« than chosen and enlisted from a restricted range of high-calibre candidates in the emerging period of modernity whose work could illumine

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the real interest of this project – the question, namely, of what ethics is, or, even better, how ethics should be understood today. The answer to these questions, predictably, turns out to be complicated. But so much at least can be said up front: the decision to move against rationally pragmatic discourse is a foundational commitment of Estrada’s study. Estrada finds instead that »irrationality [. . .] [is] the key piece of the praxis puzzle« (p. 123). By this he means that ethics (the »praxis puzzle«) must be reconceived as a post-rational discourse, which is to say, a discourse that does not require, nor can be derived from, forms of propositional thought. While a considerable amount of work is needed to provide subtlety and underpinning for this non-standard premise – work, where it is done, that is mostly relegated to footnotes, some of which are quite lengthy – the key »take-away« from Estrada’s argument is that ethics must be seen in the final analysis to be metaphysical, »idealistic« and sometimes even counter-factual in nature, even though it is also »practical« in its first orientation. Kant saw this mixture of metaphysics and praxis, it is true, and discussed ethics in his second Critique as a species of practical reason. But the »categorical imperative« Kant identified as a key to (his) ethics has gesturally rational overtones (however soft-pedalled in some recent Kant scholarship), and thus does not solve the »praxis puzzle« in any satisfactory way, especially if to live a life, as Musil foresaw and Sterne arguably understood as well, is also, at times, to experience life irrationally. In moving outside the strict confines of Kant’s moral universe (see p. 50–53), then, Estrada’s turn to suitably credentialed »high« literature represents a significant move for philosophy, though it seems less notable for literary styles of thought that have long since factored in the need for such a move (or its equivalent) and might now no longer recall what all the fuss was about. But Estrada, coming from philosophy, is right, I believe, to make a fuss. He does so, in the beginning, by pointing to the philosophically suggestive value of the »digressive« excursions of Sterne and Musil. His aim is to disarm rationalist positions, arm irrational turns of mind and feeling, and, on the basis of a decentralizing literature that works with »diverse images and their symbolic orders« (p. 152), get at ethics from another side. From this point of Estrada’s study – about halfway through the analysis after most of the building blocks of the non-standard philosophical approach to ethical truth have been heaved into place – the discussion no longer strikes the well-informed Musil or Sterne scholar as particularly new. But there is something fresh and uncommon about it, or, rather, something arresting but long-neglected, and that something concerns the introduction of a strong hermeneutic line into the argument leading back to Gadamer’s hermeneutics. While it is beyond the scope of this review to indicate all the nuances here or explain why a proper justification of them is needed for certain audiences, suffice it to say that the parameters of Estrada’s inquiry over its final stretches are established through

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exemplary acts of reading, which involve close attention to a »potentially understandable being« (p. 265) as well as a preparedness, as Estrada impressively puts it, to »[savor] the indeterminateness of a language dipped in tradition [. . .] [that] allows us to carry on an endless conversation« (p. 266). We seem close to Musil’s utopia of the anderer Zustand at this point. Definitionally, we have also arrived at a conception of Musil’s enabling signature concept of Möglichkeitssinn, approaching it, in this case, from the other – philosophical – side. A note of caution, nevertheless, is called for. Readers will occasionally stumble over formulations that reveal the many encounters of a multilingual scholar working with various tongues and through layers of competing disciplinary codes. There are several typographical errors. The arrangement of the chapters, despite the attempt to supply a »road-map« at the beginning, reveals the heuristic choices of the author, but seems a touch arbitrary and unobvious in places. The index is highly idiosyncratic and would benefit from the addition of proper names. Scholarship on Musil and Sterne has been cherrypicked rather than systematically evaluated. There is too much reliance on the Moosbrugger sections in Der Mann ohne Eigenschaften to carry the burden of the »comparison« across from Sterne to Musil. Greater awareness of Musil scholarship would have eased the burden here and, following its cues, deepened the argument in places. But these objections are trif"|ling in the scheme of things. Estrada’s study of Sterne and Musil reveals an exciting mind at work – one not content to accept anything about the ethical status quo, and one also intent on doing a lot of hard work to establish and justify a fresh approach to ethics. This approach needs awareness of philosophical disputation to indicate its true value and cogency. Estrada’s overall achievement – as it properly is of Sterne and Musil too – is to have cleared a space for alternative thinking about ethics, since, at bottom, he, along with Sterne and Musil, demand that modern ethics be made to accord with a larger, less bloodless, more playful, inquisitive and intuitive, and above all more »narratively« informed experience of what it means to be a human being today. Tim Mehigan

Bernadette Appel: Robert Musil und Amos Gitaï. Die Ethik des Möglichkeitssinns. Berlin u. a.: Peter Lang 2019 (= LiteraturFilm, Bd. 12). 442 S. € 79,95. Robert Musil gehört aufgrund der Spezifik seines Schreibens nicht zu den besonders häufig verfilmten Autoren der Literaturgeschichte. Im Robert-MusilHandbuch finden sich im Artikel zum Thema »Mediale Rezeption« natürlich die erfolgreiche Verfilmung des Romans Die Verwirrungen des Zöglings

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exemplary acts of reading, which involve close attention to a »potentially understandable being« (p. 265) as well as a preparedness, as Estrada impressively puts it, to »[savor] the indeterminateness of a language dipped in tradition [. . .] [that] allows us to carry on an endless conversation« (p. 266). We seem close to Musil’s utopia of the anderer Zustand at this point. Definitionally, we have also arrived at a conception of Musil’s enabling signature concept of Möglichkeitssinn, approaching it, in this case, from the other – philosophical – side. A note of caution, nevertheless, is called for. Readers will occasionally stumble over formulations that reveal the many encounters of a multilingual scholar working with various tongues and through layers of competing disciplinary codes. There are several typographical errors. The arrangement of the chapters, despite the attempt to supply a »road-map« at the beginning, reveals the heuristic choices of the author, but seems a touch arbitrary and unobvious in places. The index is highly idiosyncratic and would benefit from the addition of proper names. Scholarship on Musil and Sterne has been cherrypicked rather than systematically evaluated. There is too much reliance on the Moosbrugger sections in Der Mann ohne Eigenschaften to carry the burden of the »comparison« across from Sterne to Musil. Greater awareness of Musil scholarship would have eased the burden here and, following its cues, deepened the argument in places. But these objections are trif"|ling in the scheme of things. Estrada’s study of Sterne and Musil reveals an exciting mind at work – one not content to accept anything about the ethical status quo, and one also intent on doing a lot of hard work to establish and justify a fresh approach to ethics. This approach needs awareness of philosophical disputation to indicate its true value and cogency. Estrada’s overall achievement – as it properly is of Sterne and Musil too – is to have cleared a space for alternative thinking about ethics, since, at bottom, he, along with Sterne and Musil, demand that modern ethics be made to accord with a larger, less bloodless, more playful, inquisitive and intuitive, and above all more »narratively« informed experience of what it means to be a human being today. Tim Mehigan

Bernadette Appel: Robert Musil und Amos Gitaï. Die Ethik des Möglichkeitssinns. Berlin u. a.: Peter Lang 2019 (= LiteraturFilm, Bd. 12). 442 S. € 79,95. Robert Musil gehört aufgrund der Spezifik seines Schreibens nicht zu den besonders häufig verfilmten Autoren der Literaturgeschichte. Im Robert-MusilHandbuch finden sich im Artikel zum Thema »Mediale Rezeption« natürlich die erfolgreiche Verfilmung des Romans Die Verwirrungen des Zöglings

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Törleß (unter dem Titel Der junge Törless, 1966) durch Volker Schlöndorff, außerdem zwei Filme nach dem Theaterstück Die Schwärmer sowie der Film Désengagement (dt. Trennung, 2007) des israelischen Regisseurs Amos Gitaï, in dessen Nachspann Robert Musil als Einflussquelle ausdrücklich gedankt wird.1 Nun widmet sich eine umfangreiche Studie von Bernadette Appel nicht nur den Beziehungen zwischen diesem Film und Musils Hauptwerk, sondern den gesamten Verbindungslinien zwischen den künstlerischen Arbeiten des Autors und des Filmemachers. Gitaï befasse sich in seinem filmischen Œuvre, so Appel, »äußerst kritisch mit der komplexen Situation des israelisch-palästinensischen Konflikts« (S. 12); »Schnittstellen« der von Musil im Mann ohne Eigenschaften dargestellten kakanischen Gesellschaft im Nationalitätendilemma »mit der ebenso gespaltenen israelisch-palästinensischen Gesellschaft« würden von ihm »in vielfältiger Form aufgegriffen und weitergedacht« (S. 143). Appels Untersuchung betrachtet die Filme Gitaïs nicht als Einzelwerke, sondern als »miteinander verwobene, immer wiederkehrende und untereinander kommunizierende Motivkomplexe« (S. 76), für deren Verständnis eine »systematische Untersuchung des Musil’schen ›Möglichkeitsdenkens‹« erhellend sei (S. 14). Der israelische Regisseur beziehe sich – abgesehen von (eher wenigen) direkten Referenzen – in seiner Arbeit, so ihre These, »bewusst auf den Schriftsteller Musil«, indem er dessen »Möglichkeitssinn« als »erkenntnistheoretische Kategorie« für sein eigenes künstlerisches Projekt fruchtbar mache (S. 120). In diesem Sinn unternimmt es Appel, den Musil’schen »Möglichkeitssinn« als »eigenständige, literaturwissenschaftlich, philosophisch und medientheoretisch relevante Denkfigur« herauszustellen, die in Gitaïs Werk als »zentrale erkenntnistheoretische, Figurenzeichnung, Handlungslogik und Erzählstrukturen bestimmende Kategorie« fungiere (S. 22). Dabei dürfe man die Filme Gitaïs »keineswegs als klassische ›Verfilmungen‹ des Musilschen Romans« missverstehen; es handle sich vielmehr um »eigenständige Werke, die mit dem Musilschen Werk in eine Art Dialog treten«. In seinem Rahmen gehe das »Möglichkeitsdenken« seiner Struktur nach »in unterschiedlichste zeitliche, räumlich-nationale, politische, kulturelle und narrative Kontexte« ein (S. 120). In Anlehnung an Uwe Wirth schlägt Appel zum Verständnis der bestehenden Verbindung zwischen den beiden künstlerischen Schaffenskomplexen ein Modell der »hypertextuellen Aufpfropfung« vor (S. 127) – es bestehe keine eindeutige Richtung der Übertragung (vom Text zum Film), sondern das »vorliegende Geflecht« zeichne sich dadurch aus, dass beide Werke »eng miteinander verwachsen« seien und »aneinander weiterwachsen« (S. 128). 1

Vgl. Andrea Gnam: Mediale Rezeption, in: Robert-Musil-Handbuch. Hg. v. Birgit Nübel u. Norbert Christian Wolf. Berlin, Boston 2016, S. 855–865, hier S. 860–864.

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Nach einer kurzen Vorstellung der beiden Protagonisten ihrer Studie analysiert Appel in drei großen Kapiteln (mit den Leitbegriffen »Erstarrung und Lösen«, »Aufbruch und Bewegung«, »Verschmelzung und Trennung«) sowohl Musils Mann ohne Eigenschaften als auch die wichtigsten Filme Gitaïs, wobei zahlreiche Sequenzen daraus im Detail beschrieben werden. Dabei spielt der bereits genannte Film Désengagement erwartungsgemäß eine zentrale Rolle; dazu kommen aber auch Spielfilme wie Devarim (1995), Yom Yom (1998), Free Zone (2005), Ana Arabia (2013), Tsili (2014) und Le dernier jour d’Yitzhak Rabin (2015) sowie Dokumentarfilme wie die Trilogie House/La Maison (1980), Une maison à Jerusalem (1998) und News from Home/News from House (2006) oder À l’ouest du Jourdain (2017). Désengagement sei nicht zuletzt in seiner inhaltlichen Struktur, so Appel, an Musils veröffentlichter Romanversion orientiert, wo der Tod des Vaters (der auch bei Gitaï im Mittelpunkt steht) den »Abschied von einer alten Welt« markiere (S. 187). Eine signifikante Übersetzungsszene in Gitaïs Film weise mit ihren nahezu wörtlichen Zitatübernahmen eine besondere Nähe zu Musils Romanvorlage auf. Appel arbeitet die Parallelen zum Kapitel »Sie tun Unrecht« aus dem dritten Teil des Mann ohne Eigenschaften im Detail heraus (vgl. S. 217–219), sie macht aber auch deutlich, dass das gesamte filmische Werk Gitaïs durch eine »Vielzahl an Synchronisations- und Übersetzungsmomenten« geprägt sei (S. 216). Auch die Fortsetzung dieser Sequenz – mit weiteren Übernahmen aus Musils Roman (Schlussteil des Kapitels »Agathe ist wirklich da«) – wird im Kontext der filmischen Umsetzung des Musil’schen »anderen Zustands« im Detail analysiert (vgl. S. 332–335). Einen Schwerpunkt der Studie bildet die Untersuchung des jeweiligen Umgangs mit dem Phänomen des Raumes. In einer ausführlichen Analyse stellt Appel heraus, wie der ausgebildete Architekt (und Architektensohn) Amos Gitaï – ähnlich Musil – Gebäude und Baustile mit Denk- und Lebenskonzepten in Verbindung bringt. Ein instruktives Beispiel dafür bildet die oben genannte Dokumentarfilmtrilogie, in der über einen längeren Zeitraum hinweg die Geschichte eines Hauses in Jerusalem geschildert wird, wobei dessen wechselnde palästinensische und israelische »Besitzer und Besetzer« eine »Art Mikrokosmos für die Geschichte Jerusalems« ergeben, geprägt von »Enteignung, Vertreibung und dem Scheitern eines friedlichen zwischenmenschlichen Zusammenlebens« (S. 229). Dem fest im Boden verankerten Gebäude stehen in diesen Filmen immer auch mobile Behausungen gegenüber, die einem »vom Territorium losgelösten Heimats- und Identitätsbegriff« entsprechen (S. 241). Als verbindendes Motiv vieler Filme Gitaïs arbeitet Appel »dasjenige des ziellosen Umherwanderns« heraus (S. 156). Fast alle seiner Filme seien als »Roadmovie« angelegt (S. 259). Das »Motiv der Bewegung« sei sowohl für Musil als auch für Gitaï von zentraler Bedeutung, da es »aus den erstarrten Normvorstellungen des ›Seinesgleichen‹« hinausführe (S. 277) und auf eine

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»Auflösung und Reformulierung von Nationalitäts-, Identitäts- und Beziehungskonzepten« ausgerichtet sei (S. 281). Zahlreiche Protagonisten Musils und Gitaïs würden als »Nomaden« charakterisiert, die »niemals ankommen, ihre eigenen Karten schreiben«, somit auch über »keinen territorial gebundenen Heimat- oder Identitätsbegriff verfügen« (S. 26). Appel bezieht sich hier auf Arbeiten des französischen Philosophen Gilles Deleuze, in denen dieser ein »multiperspektivisches, dynamisches Modell des Werdens« entwickelt habe, das sich von »essentialistischen Seinsauffassungen und kategorialen, statischen Begriffsordnungen« abwendet (S. 83). Musil und Gitaï, so die Autorin, experimentieren jeweils mit spezifischen Repräsentationsmodellen, die ihren theoretischen Konzeptionen adäquat seien. Musil finde seine diesbezügliche Ausdrucksform v. a. im hinlänglich analysierten »essayistischen Schreiben« (S. 301). Auch Gitaï entwerfe und praktiziere Darstellungstechniken, die ihn als »essayistischen Filmemacher« herausstellen (S. 302). Seine Filme würden ein »hybrides Feld« entfalten, in dem die jeweiligen »Versatzstücke aus Perspektive, Kameraführung, Licht, Ton, Text, Ort und Figuren in einer beweglichen, niemals statischen und sich beständig verändernden Form ineinander verwoben« seien (S. 91). Die Autorin bespricht ausführlich die von Gitaï eingesetzte Plansequenz als filmisches Verfahren, das durch seine »Modi des Wiederholens und Kreisens, des gleichzeitigen Voranschreitens und Zurückgehens«, durch »Wiederaufnahmen derselben Fragen in neuen Kontexten und ihre Konfrontation mit immer neuen Denkansätzen« (S. 105) die Basis dafür schaffe, »alte Wahrnehmungsmuster aufzubrechen und neue Perspektiven zu ermöglichen« (S. 99). Als Beispiel nennt Appel den in einer einzigen Einstellung gedrehten Film Ana Arabia (vgl. S. 322). Zu erwähnen seien jedoch auch die für Gitaï charakteristischen »Travellings«, eine Technik, bei der sich die Kamera »mit dem zu filmenden Objekt mitbewegt, sich beispielsweise auf es zubewegt, es verfolgt, umkreist und dabei – im Gegensatz zum Schwenk – ihren Standort verlässt« (S. 23). Außerdem arbeite der Regisseur mit »Diskontinuitäten zwischen Ton- und Bildspur«, um auf diese Weise die »Eigenständigkeit der beiden Reizquellen« zu betonen (S. 254). Und er setze eine »multiperspektivische Kamera« ein (S. 320), besonders deutlich in Ana Arabia, einem Film, der die Geschichten und Sichtweisen einer Anzahl an Personen jüdischer und arabischer Herkunft wiedergibt, wobei die Kamera »in fließenden Bewegungen mannigfaltige Widersprüche zu einem dichten Netz aus Unverbundenem« verwebe (S. 275). Die beschriebenen filmischen Verfahrensweisen lassen sich nach Appel als »strukturelle Übersetzung des Musilschen ›Möglichkeitssinns‹ in die Erzählformen des Films« verstehen (S. 23 f.). In Anknüpfung an Gitaïs »sichtbare Kamera«, so die Autorin am Ende ihrer Studie, könne man den »Möglichkeitssinn« seinerseits als Medium beschreiben, das »zwischen den vielfältigen ›wirklichen‹ und ›möglichen‹ Weltentwürfen« vermittle und »als dynami-

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sches Medium des ›Werdens‹ dabei ohne letztgültige Repräsentation und damit Festschreibung« auskomme, weil es darauf verzichte, »letztgültig abzubilden«. Analog zur Kamera Gitaïs würden dem »im Sinne des ›Möglichkeitssinns‹ Denkenden und Handelnden« auf diese Weise »die Vermitteltheit, die Perspektivengebundenheit und der Entwurfscharakter seiner Sichtweise« deutlich (S. 389). So könne man Erkenntnisse aus der Analyse des Schaffens von Amos Gitaï, die aus Anlass des Transfers Musil’scher Gedanken ins Medium des Films durchgeführt wurde, auf die Wahrnehmung von Musils Œuvre rückübertragen. Die »Systematik des ›Möglichkeitsdenkens‹« stelle sich, so gesehen, als »eigenständiger theoretischer Referenztext« heraus, in dem ein eigener Lösungsvorschlag für die »Suche nach, den Umgang mit und die Repräsentationsmöglichkeiten von mannigfaltigen, wandelbaren und perspektivenabhängigen Wissensbeständen« sowie die »Frage nach der Wahrhaftigkeit all dessen, was der Mensch wahrzunehmen scheint«, ausgearbeitet werde (S. 383). Dabei betont Appel für beide Künstler, dass die aus dem »Möglichkeitssinn« abgeleitete Denkweise zwar einerseits die »Grundfesten der rationalistischen Wissenschaftskultur«, die »ausschließlich auf Gesetzmäßigkeit, Wiederholbarkeit, Regelmäßigkeit und datenbasierter Repräsentation« beruhe, in Zweifel ziehe, andererseits jedoch deren Prinzipien keineswegs »zugunsten eines der Beliebigkeit verdächtigen Relativismus« aufgeben wolle (S. 22). Appels Studie enthält neben der fortlaufenden Bezugnahme auf die jeweils relevanten Aspekte Musil’schen Schreibens und Denkens eine ganze Reihe genauer Nachzeichnungen von Sequenzen aus Gitaïs Filmen, die einen erhellenden Einblick in Spezifik und Intentionen seines filmischen Schaffens vermitteln. Dabei ließe sich kritisch anmerken, dass sich die gesamte Untersuchung im Sinne ihrer Lesbarkeit und Stringenz wohl noch hätte straffen lassen – so fällt auf, dass nicht nur manche Zitate im Verlauf des Textes mehrmals ausführlich wiedergegeben sind, sondern sogar ganze Sätze der Autorin, über das Buch verteilt, gleichlautend wiederholt werden. Der Hinweis auf gewisse Redundanzen der sprachlichen Darstellung soll jedoch den Wert dieser Studie über einen im deutschsprachigen Raum nur wenig bekannten Filmemacher und seine Beziehung zu Robert Musil nicht grundsätzlich schmälern. Manfred Mittermayer

Mariaelisa Dimino, Elmar Locher, Massimo Salgaro (Hg.): Oberleutnant Robert Musil als Redakteur der Tiroler Soldaten-Zeitung. München: Wilhelm Fink 2019 (= Musil-Studien, Bd. 46). 342 S. € 79,–. Der Sammelband, der Beiträge einer 2015 von der Universität Verona veranstalteten Tagung versammelt, leuchtet das Umfeld der Tiroler Soldaten-

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sches Medium des ›Werdens‹ dabei ohne letztgültige Repräsentation und damit Festschreibung« auskomme, weil es darauf verzichte, »letztgültig abzubilden«. Analog zur Kamera Gitaïs würden dem »im Sinne des ›Möglichkeitssinns‹ Denkenden und Handelnden« auf diese Weise »die Vermitteltheit, die Perspektivengebundenheit und der Entwurfscharakter seiner Sichtweise« deutlich (S. 389). So könne man Erkenntnisse aus der Analyse des Schaffens von Amos Gitaï, die aus Anlass des Transfers Musil’scher Gedanken ins Medium des Films durchgeführt wurde, auf die Wahrnehmung von Musils Œuvre rückübertragen. Die »Systematik des ›Möglichkeitsdenkens‹« stelle sich, so gesehen, als »eigenständiger theoretischer Referenztext« heraus, in dem ein eigener Lösungsvorschlag für die »Suche nach, den Umgang mit und die Repräsentationsmöglichkeiten von mannigfaltigen, wandelbaren und perspektivenabhängigen Wissensbeständen« sowie die »Frage nach der Wahrhaftigkeit all dessen, was der Mensch wahrzunehmen scheint«, ausgearbeitet werde (S. 383). Dabei betont Appel für beide Künstler, dass die aus dem »Möglichkeitssinn« abgeleitete Denkweise zwar einerseits die »Grundfesten der rationalistischen Wissenschaftskultur«, die »ausschließlich auf Gesetzmäßigkeit, Wiederholbarkeit, Regelmäßigkeit und datenbasierter Repräsentation« beruhe, in Zweifel ziehe, andererseits jedoch deren Prinzipien keineswegs »zugunsten eines der Beliebigkeit verdächtigen Relativismus« aufgeben wolle (S. 22). Appels Studie enthält neben der fortlaufenden Bezugnahme auf die jeweils relevanten Aspekte Musil’schen Schreibens und Denkens eine ganze Reihe genauer Nachzeichnungen von Sequenzen aus Gitaïs Filmen, die einen erhellenden Einblick in Spezifik und Intentionen seines filmischen Schaffens vermitteln. Dabei ließe sich kritisch anmerken, dass sich die gesamte Untersuchung im Sinne ihrer Lesbarkeit und Stringenz wohl noch hätte straffen lassen – so fällt auf, dass nicht nur manche Zitate im Verlauf des Textes mehrmals ausführlich wiedergegeben sind, sondern sogar ganze Sätze der Autorin, über das Buch verteilt, gleichlautend wiederholt werden. Der Hinweis auf gewisse Redundanzen der sprachlichen Darstellung soll jedoch den Wert dieser Studie über einen im deutschsprachigen Raum nur wenig bekannten Filmemacher und seine Beziehung zu Robert Musil nicht grundsätzlich schmälern. Manfred Mittermayer

Mariaelisa Dimino, Elmar Locher, Massimo Salgaro (Hg.): Oberleutnant Robert Musil als Redakteur der Tiroler Soldaten-Zeitung. München: Wilhelm Fink 2019 (= Musil-Studien, Bd. 46). 342 S. € 79,–. Der Sammelband, der Beiträge einer 2015 von der Universität Verona veranstalteten Tagung versammelt, leuchtet das Umfeld der Tiroler Soldaten-

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Zeitung (ab August 1916 Soldaten-Zeitung) aus, welche die Germanistik nur darum interessiert, weil Robert Musil von Oktober 1916 bis April 1917 deren Schriftleiter war. Ein Teil der Artikel widmet sich dem Inhalt und der äußeren Gestaltung der (Tiroler) Soldaten-Zeitung sowie ihrer ideologischen Ausrichtung. Andere befassen sich mit Robert Musil als Autor von Artikeln des Periodikums. Mariaelisa Dimino beschreibt den Aufbau und die einzelnen Rubriken und ihre Veränderungen von der Tiroler Soldaten-Zeitung, bei der vor allem die Verteidigung Tirols im Mittelpunkt stand und die primär der Unterhaltung diente, zur Soldaten-Zeitung, die die Angehörigen der ganzen Südwestfront ansprechen sollte. Die Zeitung verfolgte das Ziel, mit ihren Beiträgen das Staatsbewusstsein zu stärken und allen staats- und armeefeindlichen Strömungen eine Absage zu erteilen (vgl. S. 42). Dass die Tiroler Soldaten-Zeitung auch ein weiteres Publikum erreichen wollte, zeigt Harald Gschwandtner, indem er die Quellen im Wiener Kriegsarchiv und Pressemeldungen zur Kriegsausstellung im Prater von 1916 untersucht, wo eine »Felddruckerei« inmitten von anderen Attraktionen der Tiroler Soldaten-Zeitung Aufmerksamkeit verschaffte. Dass es sich dabei um eine Art Parallelaktion handelte, zeigt sich daran, dass die Tiroler Soldaten-Zeitung von der Produktion ihrer Schwester in Wien keine Notiz nahm. Während die Tiroler Soldaten-Zeitung den Ruf eines künstlerisch hochwertigen Mediums hatte, bereitete man in Bozen eine Zeitung vor, die vor allem, wie Dimino gezeigt hat, die Einheit des Staates stärken sollte. Mehrere Aufsätze befassen sich mit der Frage der Autorschaft Robert Musils. Die Forschung hat bisher meist ohne wissenschaftliche Kriterien und philologische oder historische Argumente, allein nach dem Gefühl eine wechselnde Zahl – die Anzahl reicht von drei (Karl Dinklage) bis 38, ja 165(!) (Regina Schaunig) – von Artikeln der (Tiroler) Soldaten-Zeitung Robert Musil zugeschrieben. Massimo Salgaro, Simone Rebora, Gerhard Lauer und J. Berenike Herrmann – die letzteren zwei sind Spezialisten für die computergestützte Analyse von Texten – untersuchen das Textkorpus auf linguistische Merkmale hin, die eine Zuschreibung zu Musil mehr oder weniger wahrscheinlich machen. Es ist hier nicht der Ort, die völlig transparent gemachte Auswahl des Textkorpus und die angewendeten Analyse-Methoden, die für die stilometrische Analyse erprobt sind, zu diskutieren. Interessant für die Musil-Forschung ist, dass bei dieser Gelegenheit ein Autor zum Vorschein kommt, der nicht so leicht von Musil zu unterscheiden ist wie andere: Es handelt sich um Albert Ritter, der nachweislich und entgegen den Behauptungen von Regina Schaunig (vgl. S. 88) Mitglied der Redaktion war.2 Die 2

Roman Urbaner: ». . . daran zugrunde gegangen, daß sie Tagespolitik treiben wollte«? Die (Tiroler) Soldaten-Zeitung 1915–1917, in: eForum zeitGeschichte (2001), H. 3/4, http://www. eforum-zeitgeschichte.at/3_01a8.pdf, S. 16, hat bereits auf eine mögliche Mitarbeit Ritters hingewiesen.

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Analyse kommt zum Ergebnis, dass Musil mit höherer Wahrscheinlichkeit der Autor von Texten ist, die 1916 erschienen sind, ab 1917 ist er nicht mehr der wahrscheinlichste Autor. Aus dem Set von 28 Texten ist Musil für 14 Texte der wahrscheinlichste Autor. Erstaunen mag die Musil-Forschung, dass ein Titel wie »Herr Tüchtig und Herr Wichtig«, der als besonders typisch für Musil galt, mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht von ihm stammt. Die Verfasser des Artikels weisen darauf hin, dass die Untersuchungen weitergetrieben werden müssten (vgl. S. 102). Für die Musil-Forschung scheint mir relevant zu sein, dass große Vorsicht geboten ist bei der Zuschreibung der Texte. Hier bedauert man, dass der Sammelband keinen Aufsatz über die Produktionsbedingungen der (Tiroler) Soldaten-Zeitung enthält. Die Soldaten hatten sicher keine Schreibmaschinen zur Verfügung. Hat man die Manuskripte in die Druckerei geliefert oder musste man sie auf der Schreibmaschine abtippen? Welche Mitarbeiter gab es in der Redaktion, welche Mitarbeiter außer Musil haben Texte geschrieben, wie genau gestaltete sich die Arbeit der Redaktoren? Hatte Musil überhaupt Zeit, öfter als ab und zu einen Artikel zu schreiben? Es ist unvermeidlich, dass nach dieser kritischen Analyse die nachfolgenden Autoren und Autorinnen in dem vorliegenden Band an diesen Ergebnissen gemessen werden. Massimo Salgaro widmet sich dem Ghostwriter Albert Ritter, der für die (Tiroler) Soldaten-Zeitung eine wichtigere Rolle gespielt hat, als man bisher angenommen hat. Christoph Hoffmann (»Von Ing. Dr. phil. Robert Musil, Fachbeirat im Bundesministerium für Heerwesen«) und Regina Schaunig (»Musil als Feldliterat«) widmen sich der Autorkonzeption. Hoffmann legt anhand des nach dem Krieg entstandenen Aufsatzes Psychotechnik und ihre Anwendungsmöglichkeit im Bundesheere überzeugend dar, dass man einen Text, der in einem bestimmten Umfeld zu einem bestimmten Zweck geschrieben wurde, nicht einfach mit dem literarischen Werk in Relation setzen kann, ohne auf die Produktionsbedingungen Rücksicht zu nehmen, was mutatis mutandis natürlich auch für die Beiträge in der (Tiroler) Soldaten-Zeitung gilt. Hoffmann plädiert dafür, Musils schriftstellerische Produkte nicht einfach als in einem »natürlichen Zusammenhang« stehend zu verstehen, sondern die jeweiligen Schreibpositionen zu klären. Demgegenüber versucht Regina Schaunig, Musils Schreiben im Krieg nochmals als »Dichtung« zu interpretieren und zu zeigen, dass Musil nie Abstand genommen habe von jener Auffassung, die er im Krieg vertreten habe. Obwohl die Autorin Foucault zitiert, hält sie an einem fixen Autorbild fest. Der Aufsatz von Massimo Libardi und Fernando Orlandi über »Die Soldaten-Zeitung als Übungsplatz für den Mann ohne Eigenschaften« läuft insofern ein bisschen ins Leere, als die beiden Forscher, die Kritik des stilometrischen Aufsatzes nicht berücksichtigend, wieder 38 Texte der (Tiroler) Soldaten-Zeitung Musil zuschreiben und dabei überzeugt sind, dies mit inhaltlichen Kriterien wie dem Fehlen einer österreichischen Kultur, man-

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gelndem Staatssinn usw. tun zu können (vgl. S. 165). Kein einziger Aufsatz in dem Band greift den von Michel Foucault eingeführten Begriff des Diskurses auf, der in diesem Fall erhellend sein könnte, und dies, obwohl sich mehrere Aufsätze auf Foucaults Aufsatz Was ist ein Autor? beziehen. Was die Autorinnen und Autoren nämlich als inhaltliche Kriterien, die für Musil als Verfasser sprechen sollten, aufzählen, sind nichts anderes als Bestandteile eines Diskurses, der in der (Tiroler) Soldaten-Zeitung und vielleicht auch in anderen Publikationen stattfand. Musil greift bekanntlich solche Diskurse im Mann ohne Eigenschaften auf und an. Es zeigt sich hier einmal mehr, dass es nützlich wäre, Musil nicht nur mit Musil zu erklären, sondern weitere Kontexte zu berücksichtigen. Dazu würden wir vor allem eine Sachverhalte kommentierende Ausgabe benötigen. In diesem Zusammenhang wäre es vielleicht auch nützlich, wenn die Musil-Forschung endlich Abschied nähme von der falschen Bezeichnung »Tagebücher« für die zahlreichen Notizhefte und Aufzeichnungen Musils. Die meisten dieser Aufzeichnungen sind keine Tagebücher,3 sondern Notizbücher, und man müsste zudem bedenken, dass er sich vielleicht auch Stellen aus der Soldaten-Zeitung notiert hat, die nicht von ihm stammten, die ihm aber typisch für gewisse Geisteshaltungen schienen und die er später für seine literarischen Werke verwenden wollte. Walter Fanta beschäftigt sich mit dem Fragment »Der kleine Napoleon« und dessen Beziehung zur militärischen Realität in Bozen. Der Aufsatz von Ivana Z. Bogdanovič, welcher sich noch einmal dem Problem widmet, dass Musil in der (Tiroler) Soldaten-Zeitung Artikel schrieb, die nicht mit unserem Bild von ihm übereinstimmen, hat leider nur das Niveau einer Seminararbeit und bringt weder methodisch noch inhaltlich Neues. Auch Salvatore Pappalardo scheinen die Ergebnisse der stilometrischen Analyse nicht zu kümmern, ohne Diskussion greift er auf inhaltliche Kriterien zurück und weist alle Texte, die sich gegen den Irredentismus wenden, Musil zu. Hier zeigt sich, welche Vorteile eine Diskursanalyse hätte: Wir greifen in solchen Texten einen Diskurs, den Musil im Mann ohne Eigenschaften dann destruiert oder mindestens diskutiert. Aus Übereinstimmungen zu schließen, die Texte stammten deswegen von Musil, ist methodisch mehr als fragwürdig. Wie man dieser Falle entgehen kann, zeigt Karl Corino, der übrigens als einziger von Lauer und Co. dafür gelobt wird, dass er nur einen einzigen Text der Soldaten-Zeitung, der nachweislich von Musil stammt, diesem zuweist (vgl. S. 75). Corino spricht in seinem Beitrag »Robert Musil und die tschechoslowakische Irredenta in der Soldaten-Zeitung und in der Heimat« immer vom Text oder vom Autor – und nicht von Musil. Zugleich zeigt er, wie auch die folgenden Beiträger, welche Informationen zur Zeitgeschichte man den Beiträgen der (Tiroler) Soldaten-Zeitung entnehmen kann, wie die Publikation auf gewisse politische Verhältnisse reagierte. Micaela Latini widmet sich den 3

Siehe die Bemerkung von Ivana Z. Bogdanovič, S. 195.

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Fotografien in der (Tiroler) Soldaten-Zeitung, welche das ersetzen müssten, was man eigentlich nicht beschreiben kann. Elmar Locher befasst sich mit »Geld – Kriegsanleihe und Ökonomie in der Tiroler Soldaten-Zeitung«. Er zeigt, mit welcher Metaphorik die Rezipienten dazu veranlasst werden sollten, dem Staat Geld zur Verfügung zu stellen. Aldo Venturelli wendet sich einer Diskussion um Walther Rathenau in der Soldaten-Zeitung zu. Sigurd Paul Scheichl befasst sich schließlich mit den Tiroler Autoren, die Artikel für das untersuchte Periodikum geschrieben haben. Sein Beitrag hätte eigentlich nicht an das Ende des Bandes, sondern in den Kontext des stilometrischen Artikels und den von Salgaro über Albert Ritter gehört. Er zeigt jedenfalls, dass es mehr Autoren als Musil gab, die Artikel in der (Tiroler) Soldaten-Zeitung geschrieben haben. Das Verdienst des Bandes ist es, das Phänomen (Tiroler) Soldaten-Zeitung genauer in den Blick genommen und dieses nicht nur im Hinblick auf Musil untersucht zu haben. Etwas schade ist es, dass Vertreterinnen und Vertreter der Medien- bzw. Zeitungswissenschaft fehlen, die etwas zu den Produktionsbedingungen hätten beitragen können. Als Ergebnis der Untersuchungen möchte man die Hoffnung formulieren, dass die Musil-Forschung künftig etwas vorsichtiger umgeht mit der Zuschreibung von Texten aus der (Tiroler) Soldaten-Zeitung, auch wenn dies im Fall der vorliegenden Publikation noch keine Früchte getragen hat, und dass sie sich bewusst ist, auch wenn dies in unserem moralisierenden Zeitalter etwas seltsam klingen mag, dass ein Autor verschiedene Rollen einnehmen kann – und dass nicht immer alles, was er in gewissen Funktionen schreibt, seiner innersten Überzeugung entsprechen muss. Rosmarie Zeller

Anja Gerigk: Kulturromane. Narrative Kulturologie von Goethe bis Musil. Wien u. a.: Böhlau 2019. 243 S. € 35,–. »Der moderne Roman erlangt seine Modernität in erheblichem Maße über die gattungseigene Kulturreflexion« (S. 17), so lautet eine Ausgangsthese, mit der die Münchner Literaturwissenschaftlerin Anja Gerigk in ihre Untersuchung des ›Paradigmas‹ (ein Begriff, dem sie meist gegenüber ›Gattung‹ oder ›Texttyp‹ den Vorzug gibt) vom ›Kulturroman‹ startet. Die Zielsetzung dieser Studie ist der Musil-Forschung durch die speziellen Herausforderungen vertraut, die Musil als moderner Autor an die Literaturgeschichte stellt: soll der ›Kulturroman‹ doch in eine literaturgeschichtliche Lücke stoßen, die sich am Gegenstand der klassischen Moderne zwischen einem »avancierten« und einem eher »traditionsnahen« (S. 75) Erzählen auftue. Das verheißt Anschlussfähigkeit für Probleme, die nicht nur Musil selbst, sondern auch die Musil-Forschung angetrieben haben. Gerigks Studie verspricht ein litera-

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Fotografien in der (Tiroler) Soldaten-Zeitung, welche das ersetzen müssten, was man eigentlich nicht beschreiben kann. Elmar Locher befasst sich mit »Geld – Kriegsanleihe und Ökonomie in der Tiroler Soldaten-Zeitung«. Er zeigt, mit welcher Metaphorik die Rezipienten dazu veranlasst werden sollten, dem Staat Geld zur Verfügung zu stellen. Aldo Venturelli wendet sich einer Diskussion um Walther Rathenau in der Soldaten-Zeitung zu. Sigurd Paul Scheichl befasst sich schließlich mit den Tiroler Autoren, die Artikel für das untersuchte Periodikum geschrieben haben. Sein Beitrag hätte eigentlich nicht an das Ende des Bandes, sondern in den Kontext des stilometrischen Artikels und den von Salgaro über Albert Ritter gehört. Er zeigt jedenfalls, dass es mehr Autoren als Musil gab, die Artikel in der (Tiroler) Soldaten-Zeitung geschrieben haben. Das Verdienst des Bandes ist es, das Phänomen (Tiroler) Soldaten-Zeitung genauer in den Blick genommen und dieses nicht nur im Hinblick auf Musil untersucht zu haben. Etwas schade ist es, dass Vertreterinnen und Vertreter der Medien- bzw. Zeitungswissenschaft fehlen, die etwas zu den Produktionsbedingungen hätten beitragen können. Als Ergebnis der Untersuchungen möchte man die Hoffnung formulieren, dass die Musil-Forschung künftig etwas vorsichtiger umgeht mit der Zuschreibung von Texten aus der (Tiroler) Soldaten-Zeitung, auch wenn dies im Fall der vorliegenden Publikation noch keine Früchte getragen hat, und dass sie sich bewusst ist, auch wenn dies in unserem moralisierenden Zeitalter etwas seltsam klingen mag, dass ein Autor verschiedene Rollen einnehmen kann – und dass nicht immer alles, was er in gewissen Funktionen schreibt, seiner innersten Überzeugung entsprechen muss. Rosmarie Zeller

Anja Gerigk: Kulturromane. Narrative Kulturologie von Goethe bis Musil. Wien u. a.: Böhlau 2019. 243 S. € 35,–. »Der moderne Roman erlangt seine Modernität in erheblichem Maße über die gattungseigene Kulturreflexion« (S. 17), so lautet eine Ausgangsthese, mit der die Münchner Literaturwissenschaftlerin Anja Gerigk in ihre Untersuchung des ›Paradigmas‹ (ein Begriff, dem sie meist gegenüber ›Gattung‹ oder ›Texttyp‹ den Vorzug gibt) vom ›Kulturroman‹ startet. Die Zielsetzung dieser Studie ist der Musil-Forschung durch die speziellen Herausforderungen vertraut, die Musil als moderner Autor an die Literaturgeschichte stellt: soll der ›Kulturroman‹ doch in eine literaturgeschichtliche Lücke stoßen, die sich am Gegenstand der klassischen Moderne zwischen einem »avancierten« und einem eher »traditionsnahen« (S. 75) Erzählen auftue. Das verheißt Anschlussfähigkeit für Probleme, die nicht nur Musil selbst, sondern auch die Musil-Forschung angetrieben haben. Gerigks Studie verspricht ein litera-

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turgeschichtliches Instrument, das in der Lage ist, prinzipiell jede narrative (Roman-)Form zu erfassen, ohne dass Romane (oder gar einzelne Textpassagen innerhalb formal heterogener Romane, ließe sich ergänzen) ›nur‹ aufgrund formaler Abweichungen durchs Raster fallen (vgl. S. 76). Zweifellos ein würdiges Anliegen, bedenkt man, dass in der Forschung zur klassischen Moderne durchaus noch die – nie ganz befriedigende – Notlösung vorkommen kann, dass ein Werk quasi seitenweise mal ›noch‹ der ›Moderne‹, mal ›schon‹ der ›Postmoderne‹ zugerechnet wird, mit anschließender Auszählung, wer gewonnen hat. Wie sieht nun das Raster ›Kulturroman‹ aus? Die Studie beginnt mit einer bewusst kontraintuitiven Paarung: Goethes Wahlverwandtschaften einerseits, Stifters Nachsommer andererseits. Dies dient Gerigk dazu, eine typologische Differenz zu konstruieren: Von einer »Startdifferenz« (S. 34) Natur–Kultur ausgehend, sieht die Autorin im jüngeren Roman Stifters eine Form narrativer Kulturreflexion verwirklicht, die sie die »normativ-deskriptive« (S. 69) nennt – zum Beleg werden die vielfältigen Sammeltätigkeiten im Nachsommer angeführt, die die Erzählsubstanz der Kulturreflexion ausmachten. Dem älteren Roman Goethes hingegen diagnostiziert sie eine eigentlich ›modernere‹, nämlich »operativ-universelle [. . .] Kultur-Signatur[ ]« (ebd.), die sich in der narrativen Gestaltung von »Prozess und Eigengesetzlichkeit« und »unvorhersehbare[n] Dynamiken« im Gegensatz zu Stifters »Stillstand und Verdinglichung« (S. 62) niederschlage (im späteren Verlauf zum epischen Prinzip der »Liminalität« theoretisch ausgebaut; vgl. S. 258 f.). Diese beiden in den Romanen Goethes und Stifters isolierten ›Signaturen‹ – auf der Ebene der Kulturreflexion wie auf der Ebene der Narration – sind es nun, auf die das Raster des Kulturromans angepasst sein soll. Wobei es aber nicht darum geht, Texte zusammenzustellen, die entweder dem einen oder dem anderen Modell folgen: Im Raster sollen stattdessen nur diejenigen Romane hängenbleiben, die beide ›Signaturen‹ in »Kopräsenz und Konkurrenz« (S. 69) erzählen. Ein paradigmatischer Kulturroman präsentiert seine Kulturdiskurse demzufolge, »als hätte jemand Wahlverwandtschaften und Nachsommer in einem geschrieben« (S. 78). Als Beispiele dienen der Studie Canettis Blendung, Döblins Die drei Sprünge des Wang-lun, Manns Zauberberg, Musils Mann ohne Eigenschaften, Müllers Tropen, Rilkes Malte Laurids Brigge, Brochs Tod des Vergil sowie Jahnns Perrudja und Fluß ohne Ufer. Angesichts eines solchen Textkorpus überrascht nicht, dass die 243-seitige Studie keine umfassenden Neuinterpretationen vorlegen will, sondern Schlaglichter setzt. Für den Mann ohne Eigenschaften heißt das, dass hier Aspekte der narrativen Konstruktion beleuchtet werden, die im Einzelnen durchaus bekannt sind, für die Untersuchung aber den (neuen) Zweck der Zuschreibung zum ›Kulturroman‹ erfüllen. Die Studie postuliert eine dialektische Kulturreflexion in der Parallelaktion einerseits, der »Gedankenarbeit« Ulrichs anderer-

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seits (S. 111). Wie Manns Castorp resümiert Musils Stumm von Bordwehr kulturelle Verhältnisse aus buchhalterisch zusammengetragenen gesellschaftlichen Widersprüchen, mit denen er zwar nicht zufrieden ist, die er aber auch nicht zu synthetisieren vermag (vgl. S. 112). Das entsprechende Versanden der Parallelaktion verwirft dann »nicht nur das Streben nach einer universellen und unverwechselbaren Idee, es widerlegt zugleich eine finalisierte Art und Weise, Kultur zu erzählen bzw. das Problem durch Reflexion zu bewältigen« (S. 114; vgl. auch S. 133 ff.), also die zuvor am Nachsommer isolierte ›Kultur-Signatur‹. Dem gegenüber stehen auf der Seite der ›operativen Signatur‹ etwa die Figur Moosbruggers und der gesamte Komplex zum ›aZ‹, der sich aus Musils eigentümlicher Metaphorik speist (beispielhaft wird hierfür auch die Darstellung des Stadtverkehrs im ersten Kapitel herangezogen; vgl. S. 138). Für die Autorin verwirklichen sich durch die narrative Integration dieser Figuren und Versprachlichungstechniken die paradigmatische Kopräsenz und Konkurrenz ihrer ›Kultur-Signaturen‹, die den Mann ohne Eigenschaften zum beispielhaften Kulturroman machen, der somit, wenn nicht den cultural turn der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, so doch wenigstens dessen »Werkzeuge« (S. 228) schon einmal narrativ ausbreitet. Ein potentieller Gewinn für die Musil-Forschung wird weniger in diesen knappen Befunden zu suchen sein als in einer möglichen Vergleichsebene zu den anderen behandelten Texten, insbesondere den bislang seltener zum Vergleich herangezogenen (wie denen Jahnns). Eine Wegleitung hierfür bieten Ausführungen zu »liminalen und transgressiven« Erzählmustern (S. 215) und eine angenehm ausführliche Abgrenzung von berühmten Texten, die Kultur thematisieren, die die Autorin aber gerade nicht zum Paradigma zählt. Diesen Ausführungen zu Brochs Schlafwandlern und Manns Josephs-Tetralogie, die sie aufgrund ungenügender ›epischer Integration‹ (vgl. S. 206) der ›Essayistik‹ bzw. ›Mythologie‹ aus dem Korpus ausschließt, muss man in der Sache nicht unbedingt zustimmen, aber sie verhelfen dem gemeinten ›Kulturroman‹ zu klareren Konturen. Diese in der Abgrenzung erreichte Klarheit vermisst man bisweilen in der Zuschreibung. Gewisse Anstrengungen verlangt es, der Autorin über Personifizierungen und (gelegentlich schiefe) Bilder hinweg zu folgen, die sie einer schlichteren Darstellung ihrer Thesen und Schlüsse vorzieht. Eine »Serie von Zufällen« spielt hier »analytischer Betrachtung in die Hände« (S. 130); das analytische »Vorhaben« ist auf etwas »bedacht« (S. 77), ein »Erzählexperiment« führt seinen »folgenreichste[n] Schachzug« durch (S. 83), ein »Fenster schließt sich zunehmend« (S. 24), ein »Faktum« bildet eine »flächige Kontinuität, aus der das formale Gespür der Gattung für mehr als einen konzeptuellen Umschwung herausragt« (S. 224), man stolpert fast über »Verschränkung[en] mit metaphorisch zentrierenden Vermittlungswegen« (S. 200) und über Sätze wie: »Die Ausgestaltung der parallelen und konkurrierenden Theoreme wie Narrative zur ›Kultur‹ veranschaulicht demnach erstaunlich treffsicher die epochale Formationsthese

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des gesamten Paradigmas« (S. 130 f.) oder »[w]ährend der letzte Anhaltspunkt zu erwarten war, rechnet der nächste mit einem Überraschungseffekt« (S. 23). Diese sprachliche Schicht, in der Anhaltspunkte mit Überraschungseffekten rechnen, verschleiert die Argumentation der Studie eher, als sie zu vermitteln. Gleichwohl liegen mit den Schlaglichtern auf narrative »Transgression« (vgl. v. a. S. 90 ff.) bzw. epische »Liminalität« (vgl. v. a. S. 158 ff.) und mit den beiden wohlbekannten Vorgänger-Idealtypen Wahlverwandtschaften und Nachsommer nun zweifellos Ansatzpunkte für fruchtbare, vielversprechende Relektüren moderner Romane vor. Der interpretatorische Gewinn des ›Kulturromans‹ für Musils Werk wird sich erst in einer noch zu leistenden (evtl. vergleichenden) Neuinterpretation wirklich zeigen können. Eine solche hat die vorliegende Studie nicht angestrebt, ihr aber ein willkommenes Fundament gelegt. Florens Schwarzwälder

Ludwig Laher: Wo nur die Wiege stand. Über die Anziehungskraft früh verlassener Geburtsorte. Salzburg, Wien: Otto Müller 2019. 104 S. € 17,–. Obschon Robert Musils Geburtshaus in der Nähe des Klagenfurter Bahnhofs heute ein Museum sowie das Robert-Musil-Institut beherbergt, an dem u. a. seit vielen Jahren die digitale Edition seines Werkes betreut wird: Kärnten und seine Landeshauptstadt Klagenfurt haben im Leben des Schriftstellers kaum eine Rolle gespielt. Der am 6. November 1880 geborene Sohn von Alfred und Hermine Musil verließ Stadt und Geburtshaus bereits im Spätsommer 1881 im Schlepptau seiner Eltern in Richtung Komotau (heute Comutov) in Nordböhmen, wo der Vater für ein Jahr als Direktor der maschinentechnischen Schule tätig war. Die nächsten Stationen in Musils Kindheit waren Steyr und Brünn. »Leider überliefert«, so sein Biograph Karl Corino, »Musil keinerlei Details über seine früheste Lebenszeit – sowohl sein erstes Jahr in Klagenfurt als auch das folgende in Komotau [. . .] verfielen der üblichen Amnesie.«4 – Nur bei seltenen Gelegenheiten ist Musil später auf seine Geburtsstadt zurückgekommen. Ende der 1920er Jahre notiert er im Arbeitsheft 28 unter dem Stichwort »Zeitgenosse«: »Ich bin am . . .. geboren, was nicht jeder von sich behaupten kann. Auch der Ort war ungewöhnlich: Kl.[agenfurt] in K.[ärnten]; 4

Karl Corino: Robert Musil. Eine Biographie. Reinbek b. Hamburg 2 2005, S. 27. – In der MusilBiographie von Oliver Pfohlmann ist gar zu lesen, Musil sei zwar »in Klagenfurt geboren; zur Welt kam er jedoch erst in Komotau und im oberösterreichischen Steyr« (Oliver Pfohlmann: Robert Musil. Reinbek b. Hamburg 2012, S. 11 f.). Pfohlmann greift damit eine Wendung auf, die Musil selbst im Arbeitsheft I festgehalten hat: »Geboren in Steyr. Eigentlich nicht ganz. Aber im Zeitalter der Versetzungen, Geschäftsaufenthalte udgl. werden viele anderswo geboren als sie auf die Welt kommen« (Tb I, S. 316). Auf diese Stelle bezieht sich auch Ludwig Laher im rezensierten Buch (vgl. S. 41).

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des gesamten Paradigmas« (S. 130 f.) oder »[w]ährend der letzte Anhaltspunkt zu erwarten war, rechnet der nächste mit einem Überraschungseffekt« (S. 23). Diese sprachliche Schicht, in der Anhaltspunkte mit Überraschungseffekten rechnen, verschleiert die Argumentation der Studie eher, als sie zu vermitteln. Gleichwohl liegen mit den Schlaglichtern auf narrative »Transgression« (vgl. v. a. S. 90 ff.) bzw. epische »Liminalität« (vgl. v. a. S. 158 ff.) und mit den beiden wohlbekannten Vorgänger-Idealtypen Wahlverwandtschaften und Nachsommer nun zweifellos Ansatzpunkte für fruchtbare, vielversprechende Relektüren moderner Romane vor. Der interpretatorische Gewinn des ›Kulturromans‹ für Musils Werk wird sich erst in einer noch zu leistenden (evtl. vergleichenden) Neuinterpretation wirklich zeigen können. Eine solche hat die vorliegende Studie nicht angestrebt, ihr aber ein willkommenes Fundament gelegt. Florens Schwarzwälder

Ludwig Laher: Wo nur die Wiege stand. Über die Anziehungskraft früh verlassener Geburtsorte. Salzburg, Wien: Otto Müller 2019. 104 S. € 17,–. Obschon Robert Musils Geburtshaus in der Nähe des Klagenfurter Bahnhofs heute ein Museum sowie das Robert-Musil-Institut beherbergt, an dem u. a. seit vielen Jahren die digitale Edition seines Werkes betreut wird: Kärnten und seine Landeshauptstadt Klagenfurt haben im Leben des Schriftstellers kaum eine Rolle gespielt. Der am 6. November 1880 geborene Sohn von Alfred und Hermine Musil verließ Stadt und Geburtshaus bereits im Spätsommer 1881 im Schlepptau seiner Eltern in Richtung Komotau (heute Comutov) in Nordböhmen, wo der Vater für ein Jahr als Direktor der maschinentechnischen Schule tätig war. Die nächsten Stationen in Musils Kindheit waren Steyr und Brünn. »Leider überliefert«, so sein Biograph Karl Corino, »Musil keinerlei Details über seine früheste Lebenszeit – sowohl sein erstes Jahr in Klagenfurt als auch das folgende in Komotau [. . .] verfielen der üblichen Amnesie.«4 – Nur bei seltenen Gelegenheiten ist Musil später auf seine Geburtsstadt zurückgekommen. Ende der 1920er Jahre notiert er im Arbeitsheft 28 unter dem Stichwort »Zeitgenosse«: »Ich bin am . . .. geboren, was nicht jeder von sich behaupten kann. Auch der Ort war ungewöhnlich: Kl.[agenfurt] in K.[ärnten]; 4

Karl Corino: Robert Musil. Eine Biographie. Reinbek b. Hamburg 2 2005, S. 27. – In der MusilBiographie von Oliver Pfohlmann ist gar zu lesen, Musil sei zwar »in Klagenfurt geboren; zur Welt kam er jedoch erst in Komotau und im oberösterreichischen Steyr« (Oliver Pfohlmann: Robert Musil. Reinbek b. Hamburg 2012, S. 11 f.). Pfohlmann greift damit eine Wendung auf, die Musil selbst im Arbeitsheft I festgehalten hat: »Geboren in Steyr. Eigentlich nicht ganz. Aber im Zeitalter der Versetzungen, Geschäftsaufenthalte udgl. werden viele anderswo geboren als sie auf die Welt kommen« (Tb I, S. 316). Auf diese Stelle bezieht sich auch Ludwig Laher im rezensierten Buch (vgl. S. 41).

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verhältnismäßig wenig Menschen kommen dort zur Welt.« (Tb I, S. 681)5 Ingeborg Bachmann (1926–1973) war zu diesem Zeitpunkt zwar bereits am Leben, von der späteren Karriere der damals Zweieinhalbjährigen konnte Musil freilich noch nichts ahnen; Udo Jürgens (1934–2014), ein weiterer berühmter Kärntner, erblickte erst einige Jahre später das Klagenfurter Licht der Welt. Auf den Ort seiner Geburt hat der Mensch keinen Einfluss, trotzdem bleibt man ihm zeitlebens über behördliche Dokumente verbunden, findet ihn in jeder noch so kurz gehaltenen biographischen Notiz verzeichnet. Die Heimatorte später berühmt gewordener Töchter und Söhne wiederum stehen vor der Herausforderung, sich zum Umstand, dass eine Künstlerin, ein Schriftsteller oder eine Wissenschaftlerin in der Stadt geboren wurde, adäquat zu verhalten, auch wenn die biographische Beziehung, wie im Falle Musils, eine überaus lockere ist. In seinem Essay Wo nur die Wiege stand widmet sich der oberösterreichische Autor Ludwig Laher der seltsamen »Anziehungskraft früh verlassener Geburtsorte«, um einen kritischen Blick auf die Gedenk- und Gedächtniskultur des 20. und 21. Jahrhunderts zu werfen. Gleich eingangs stellt Laher provokant die beiden nicht weit voneinander gelegenen Orte Marktl und Braunau am Inn einander gegenüber: Hier kam 1927 Joseph Ratzinger, der einstige Papst Benedikt XVI ., dort 1889 Adolf Hitler zur Welt. Was die beiden Männer Laher zufolge verbinde, sei nicht nur die geographische Nähe ihrer Geburtsorte, sondern auch, dass ihre Eltern »nicht den geringsten Bezug zu Braunau und Marktl, ja überhaupt zur gesamten Region« hatten, »in der sie vorübergehend ihren Wohnsitz nahmen« (S. 16). Die heutige Situation unterscheidet sich freilich diametral: Während es in Marktl, das Ratzinger bereits im Kleinkindalter verließ, heute »Papstbier« und »Benediktschnitten« zu erwerben, »Benediktweg« und »Benediktrundtour« zu bewältigen gibt (S. 17 f.), werden in Braunau seit Jahrzehnten heftige Diskussionen über die künftige Nutzung des Hitler-Geburtshauses geführt. Für die im oberösterreichischen Innviertel, an der Grenze zu Deutschland gelegene Stadt erweist sich das Geburtshaus des Diktators als »offensichtliche[r] Mühlstein« im Prozess der Selbstfindung und Selbstdefinition (S. 63). Es ist ein grundlegendes Unbehagen über den öffentlichen Umgang mit den Geburtsorten berühmter Personen, dem Laher in der Folge mit wechselnder Detailverliebtheit Ausdruck verleiht. Der Kult, der mit dem »Wiegen- und Windelbonus« (S. 51) landauf, landab getrieben werde, ist ihm ein Dorn im Auge, und er erkundet die Untiefen, die sich dabei zwischen lieu de mémoire und Vermarktung auftun. Wie ist die »auratische Qualität von Geburtsorten« (S. 31) zu beurteilen, und wo handelt es sich zuallererst um »künstlich auratisierte[ ] Ort[e]« (S. 53)? Selbst in jenen Museen an »bloßen Windelor5

Vgl. auch die Einträge in den beiden »Curriculum vitae« überschriebenen Texten in GW II, S. 948–951.

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ten bedeutender Zeitgenossen«, die museumspädagogisch ambitioniert sind, werde, so Laher, kaum reflektiert, dass die entsprechenden Orte »für die darin Geborenen ohne wirkliches Gewicht, oft sogar vollkommen konturlos geblieben sind« (S. 35 f.). In Lahers kursorischem Panorama taucht neben Johann Sebastian Bach, Georg Büchner, Paul Celan, Albert Einstein, Martin Luther (der in seiner früh verlassenen Geburtsstadt Eisleben auch starb) und Rosa Luxemburg zwischenzeitlich auch Robert Musil auf (vgl. S. 39–42). »Ich selbst bin in Klagenfurt geboren worden. / Meine Kindheit habe ich in Steyr verbracht und ihre Mundart ist das gröbste Oberösterreichisch gewesen, das man sich nur wünschen mag. [. . .] Aber keines der Bundesländer legt Wert beansprucht mich für sich.« (Tb I, S. 921) Der bittere Pessimismus, der sich in Musils Mitte der 1930er Jahre formulierter Notiz ausdrückt, ist heute nicht mehr angebracht: Das Bundesland Kärnten und seine Hauptstadt Klagenfurt führen den Namen des Schriftstellers mit Stolz in der Rubrik der ›bedeutenden Söhne‹, obgleich die tatsächliche biographische Beziehung zwischen Ort und Person eine vergleichsweise zarte ist. Dass man Musil 2017 vonseiten der Stadtgemeinde als »Klagenfurts Aushängeschriftsteller« für sich reklamierte, hält Laher mit süffisantem Spott fest (S. 40). Einen ›echten‹ Kärntner wird man Musil jedenfalls schwerlich nennen können. Ähnliches gilt für andere Autorinnen und Autoren, gestaltet sich die Verbindung zwischen Geburtsort und Lebenswelt doch je unterschiedlich eng; von Elfriede Jelinek als einer steirischen Autorin zu sprechen, ergäbe, obwohl sie 1946 in Mürzzuschlag geboren wurde, wenig Sinn. »Kopfschütteln, Schmunzeln und ungläubiges Staunen sind in den meisten Fällen durchaus angemessene Reaktionen auf diese unterhaltsame Beispielrevue des Umgangs mit objektiv letztlich unbedeutenden, weil im Wickelalter verlassenen oder gar falschen Geburtsstätten von Trägern großer Namen.« (S. 58) Der durch Romane wie Herzfleischentartung (2001) und Bitter (2014) bekannte Schriftsteller nähert sich dem Thema seines schlanken Essays sachkundig und mit dem Auge für skurrile Details. Wirklich überzeugen kann sein »abwechslungsreiche[r] Streifzug durch früh verlassene Windelorte« (S. 10) freilich nicht. Allzu belehrend fallen einige Passagen aus, die zwar fehlende Akkuratesse und Aufrichtigkeit im Umgang mit den Biographien großer Töchter und Söhne kritisieren, aber, zumal im Kontext aktueller Diskussionen über Erinnerungsorte, keine Alternativen für eine umsichtigere, adäquatere Beschäftigung mit der Thematik formulieren. Manchen »Exkurs in riskante Gefilde« (S. 81) hätte der Autor im Sinne der Gesamtarchitektur des Essays streichen, dafür an anderen Stellen die jeweiligen historischen und regionalen Charakteristika präziser herausarbeiten können. Zuletzt weist der Text auch stilistisch einige Unsauberkeiten auf, etwa wenn Laher ins komische Fach wechselt und statt vom Geburtsort einer Person vom »schnell wieder verlassenen Anlegeort mütterlicher Brüste« (S. 94) schreibt oder kurz zuvor

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die sprachlichen Bilder aus der Balance geraten: »Der mitunter völlig zufällige, unmittelbar darauf für immer verlassene und scheinbar folgenlose Geburtsboden haftet einem eben lebenslang an und kann entscheidendes Gewicht in die Waagschale werfen.« (S. 85) Wer wirft, wer haftet? Lahers Kritik richtet sich gegen die touristische Vermarktung von Geburtsorten, die im Leben der dort Auf-die-Welt-Gekommenen kaum eine Rolle gespielt haben, er nimmt aber zugleich daran Anstoß, dass die tatsächlichen Geburtshäuser von Johann Sebastian Bach oder Paul Celan nicht entsprechend gewürdigt werden. Musils »Klagenfurter Kinderstube«6 spielt dabei nur eine Nebenrolle – im Kontext »früh verlassener Geburtsorte« wurde an den Verfasser des Mann ohne Eigenschaften aber bisher, soweit ich sehe, noch nicht erinnert. Harald Gschwandtner Julia Maas: Dinge, Sachen, Gegenstände. Spuren der materiellen Kultur im Werk Robert Walsers. Paderborn: Wilhelm Fink 2019 (= Robert WalserStudien, Bd. 2). 247 S. € 54,–. Wird Asche angeblasen, so ist nicht das Geringste an ihr, das sich weigerte, augenblicklich auseinanderzufliegen. Asche ist die Demut, die Belanglosigkeit und die Wertlosigkeit selber, und was das Schönste ist, sie ist selber durchdrungen von dem Glauben, daß sie zu nichts taugt. Kann man haltloser, schwächer und armseliger sein als Asche? Wohl nicht leicht. Gibt es ein Ding, das nachgiebiger und duldsamer sein könnte als sie? Nicht gut. Asche kennt keinen Charakter, und von jeder Art Holz ist sie weiter entfernt als die Niedergeschlagenheit vom Übermut.7

Das ist das erste Walser-Zitat, das nach der Durststrecke der theoretischen Einleitung in Julia Maas’ Freiburger Dissertation (Freiburg i. Br.) erscheint (S. 32) und den Gegenstand, dem diese gilt, lebendig und gegenwärtig macht. Die Einleitung hatte beim Autor, genauer: bei der Autor-Legende vom armen Dichter begonnen, der nur über einen höchst eingeschränkten persönlichen Besitz verfügte, besonders in seinen letzten Lebensjahren in der Nervenklinik in Herisau. Dies habe zur Annahme geführt, Walsers Interesse an materiellen Dingen sei gering gewesen. Diesem Trugschluss tritt die Studie entgegen, indem sie einen breiten Fächer von Texten und Textstellen präsentiert und kommentiert, in denen »Dinge, Sachen, Gegenstände« eingehend in den Blick genommen werden. Jene, die dem Trugschluss anhingen, müssten damit ein für alle Mal eines Besseren belehrt sein, und die andern staunen über die Fülle des Materials und die reichen Bezugsnetze, die es zusammenhalten. 6 7

Corino: Robert Musil (Anm. 4), S. 26. Robert Walser: Sämtliche Werke in Einzelausgaben. Hg. v. Jochen Greven. Bd. 16. Frankfurt a. M. 1985–1986, S. 328; künftig zitiert mit der Sigle SW .

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die sprachlichen Bilder aus der Balance geraten: »Der mitunter völlig zufällige, unmittelbar darauf für immer verlassene und scheinbar folgenlose Geburtsboden haftet einem eben lebenslang an und kann entscheidendes Gewicht in die Waagschale werfen.« (S. 85) Wer wirft, wer haftet? Lahers Kritik richtet sich gegen die touristische Vermarktung von Geburtsorten, die im Leben der dort Auf-die-Welt-Gekommenen kaum eine Rolle gespielt haben, er nimmt aber zugleich daran Anstoß, dass die tatsächlichen Geburtshäuser von Johann Sebastian Bach oder Paul Celan nicht entsprechend gewürdigt werden. Musils »Klagenfurter Kinderstube«6 spielt dabei nur eine Nebenrolle – im Kontext »früh verlassener Geburtsorte« wurde an den Verfasser des Mann ohne Eigenschaften aber bisher, soweit ich sehe, noch nicht erinnert. Harald Gschwandtner Julia Maas: Dinge, Sachen, Gegenstände. Spuren der materiellen Kultur im Werk Robert Walsers. Paderborn: Wilhelm Fink 2019 (= Robert WalserStudien, Bd. 2). 247 S. € 54,–. Wird Asche angeblasen, so ist nicht das Geringste an ihr, das sich weigerte, augenblicklich auseinanderzufliegen. Asche ist die Demut, die Belanglosigkeit und die Wertlosigkeit selber, und was das Schönste ist, sie ist selber durchdrungen von dem Glauben, daß sie zu nichts taugt. Kann man haltloser, schwächer und armseliger sein als Asche? Wohl nicht leicht. Gibt es ein Ding, das nachgiebiger und duldsamer sein könnte als sie? Nicht gut. Asche kennt keinen Charakter, und von jeder Art Holz ist sie weiter entfernt als die Niedergeschlagenheit vom Übermut.7

Das ist das erste Walser-Zitat, das nach der Durststrecke der theoretischen Einleitung in Julia Maas’ Freiburger Dissertation (Freiburg i. Br.) erscheint (S. 32) und den Gegenstand, dem diese gilt, lebendig und gegenwärtig macht. Die Einleitung hatte beim Autor, genauer: bei der Autor-Legende vom armen Dichter begonnen, der nur über einen höchst eingeschränkten persönlichen Besitz verfügte, besonders in seinen letzten Lebensjahren in der Nervenklinik in Herisau. Dies habe zur Annahme geführt, Walsers Interesse an materiellen Dingen sei gering gewesen. Diesem Trugschluss tritt die Studie entgegen, indem sie einen breiten Fächer von Texten und Textstellen präsentiert und kommentiert, in denen »Dinge, Sachen, Gegenstände« eingehend in den Blick genommen werden. Jene, die dem Trugschluss anhingen, müssten damit ein für alle Mal eines Besseren belehrt sein, und die andern staunen über die Fülle des Materials und die reichen Bezugsnetze, die es zusammenhalten. 6 7

Corino: Robert Musil (Anm. 4), S. 26. Robert Walser: Sämtliche Werke in Einzelausgaben. Hg. v. Jochen Greven. Bd. 16. Frankfurt a. M. 1985–1986, S. 328; künftig zitiert mit der Sigle SW .

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Die Studie weist Walser einen Platz neben anderen, anerkannten Ding-Dichtern der Zeit – Rilke, Hofmannsthal, Musil – zu. Ihn zeichne aus, dass er sich auf einfache Gebrauchsgegenstände beschränke und nicht Dinge erfinde, wie dies Kafka mit der »berüchtigten Spule Odradek« (S. 221) in Die Sorge des Hausvaters tut. Solcherlei werde bei Walser anhand der unnötigen Gegenstände sogar ironisiert, deren Erfindung Tobler (im Roman Der Gehülfe) in den Ruin treibt. Der Einstieg mit der Biographie passt dazu, dass die Studie durchgängig mit einem sehr personalisierten Autor-Bild operiert und an Stellen »Robert Walser« schreibt, wo in einer beflissenen Studentenarbeit noch brav »der Erzähler« oder »die Schreiberfigur« stehen würde. Die Verfasserin beruft sich denn auch nicht auf ein literaturwissenschaftliches Methodenparadigma, sondern auf die Akteur-Netzwerk-Theorie, die von den Soziologen Michel Callon, John Law und Bruno Latour begründet wurde. Wenn Julia Maas den Text Asche, Nadel, Bleistift, Zündhölzchen von 1915 an den Anfang der Arbeit mit Walsers Texten stellt, dann sichert sie sich nicht nur mit einem besonders charmanten Prosastück die Aufmerksamkeit ihrer Leserinnen und Leser, sondern lenkt diese auch auf die Produktion Walsers aus den Jahren 1913–1921. In dieser »Bieler Zeit« entstanden auffallend viele Texte, in denen Gegenstände nicht bloß vorkommen, sondern eigentliches Thema sind. Sensibilisiert durch Francis Ponges ProsaskizzenBand von 1942, Le parti pris des choses, hatte Jochen Greven ihnen in der ersten Walser-Gesamtausgabe eine eigene Rubrik eingeräumt.8 Er gab ihnen die problematische Bezeichnung »Sachtexte« (unter einem solchen stellt man sich auf Anhieb eher das Gegenstück eines »literarischen« Textes vor), die Julia Maas jedoch, als Hommage an den Vater der Robert-Walser-Philologie, übernimmt. Anhand der Auslassungen zum Zündhölzchen, die den Beispieltext abschließen (er setzt die Ursache hinter die Konsequenz, die Asche), wird die Grundthese des ersten, mit »Dienende Dinge« überschriebenen Teils der Arbeit exponiert: Robert Walser betrachte seine Gegenstände immer vor dem Hintergrund ihrer dienenden Funktion. Dem Zündhölzchen wird nämlich geradezu pathetisch nachgerühmt, dass es sich seinem Zweck opfere und seine Aufgabe in dem Moment erfülle, »wo es im Eifer erglüht, zu dienen und seine Pflicht und Schuldigkeit zu tun« (SW 16, S. 330). Damit wird ein Topos der frühen Walser-Forschung wiederbelebt: die »Dieneridee«, die eine freilich mit einem Fragezeichen versehene Kapitelüberschrift sogar als Walsers »Lebensthema« in Erwägung zieht (S. 58). Dinge, deren dienende Funktion nicht ersichtlich ist, unterstellt Julia Maas der »Dieneridee«, indem sie sie als »Dinge außer Dienst« apostrophiert – die dienenden Dinge schlössen eben auch ihr Gegenteil ein (S. 218). Walsers Dingtexten wird eine »soziale Ethik« unterstellt, »der zufolge es keine wirklich unnützen Elemente in einer Ge8

Vgl. Robert Walser: Das Gesamtwerk. Hg. v. Jochen Greven. Bd. VI : Phantasieren. Prosa aus der Berliner und Bieler Zeit. Genf, Hamburg 1966, S. 403.

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meinschaft gibt« (S. 128). Diese These wird in einem speziell anregenden Kapitel entwickelt (I .3), das den Arrangements von Dingen gewidmet ist. Diese kämen bei Walser zusammen: »erstens im Koffer, zweitens im Schaufenster sowie auf dem Markt und drittens unter der Einwirkung von Sonne, Regen und Schnee.« (S. 101) Das Lob des Dieners ist nach der Einschätzung Dieter Borchmeyers, der – wie Karl Wagner und Lukas Rüsch – in den 1980er Jahren eine Monographie über die Diener-Thematik bei Robert Walser veröffentlicht hat, ein »absichtlich anachronistische[r] Widerspruch zu einem System depersonalisierter, versachlichter Dienstleistungen«.9 Mit dem Befund des Anachronistischen ist Julia Maas nicht einverstanden. Sie teilt mit der neueren Walser-Forschung seit der wegweisenden Studie von Peter Utz über Walsers »Jetztzeitstil«10 das Bedürfnis, nachzuweisen, wie sehr der Dichter auf der Höhe seiner Zeit stand. (Es lohnte sich der Frage nachzugehen, was an Walsers Werk die Interpreten drängt, ihm mit diesem Nachweis zu Hilfe zu kommen.) Julia Maas tut es anhand von zwei Exkursen: Im einen wird postuliert, dass Walsers Konzeption vom ›dienenden Diener‹ viel eigenwilliger gewesen sei als die nur vermeintlich modernere der Zeit, die an den Dienern das Subversive, das »Störpotenzial« (S. 73). In einem zweiten Exkurs wird »das einzige Konzept zur Gegenständlichkeit vorgestellt, das in der Philosophie des frühen 20. Jahrhunderts ganz neu ansetzt und für die jüngere Forschung zur materiellen Kultur wie kaum ein anderes fruchtbar gemacht wurde – und mit dem auch Walsers dienende Dinge aufzuschlüsseln sind: Martin Heideggers Konzept vom Zeug« (S. 68). Der Philosoph exemplifiziert das (seine Schollenverbundenheit betonend) mit den Schuhen einer Bäuerin, die im Gebrauch von dieser gar nicht mehr bemerkt werden. Mit dem »Zuhandenen« bestimmt Julia Maas nicht nur den Grundtenor von Walsers Deutung der evozierten Gegenstände, sondern – stillschweigend – auch die literarische Funktion dieser Evokationen. Sie wehrt sich gegen die Annahme, Walsers Texte dienten die Dinge lediglich als Vorwand, um in Gang zu kommen. Peter von Matt formulierte diese Idee so: »Um die schwebende Musikalität eines Stücks Prosa zu gewinnen, braucht es zwar ein Sujet, aber dazu genügt tatsächlich das nächstbeste Etwas. Je belangloser der Anlass, umso rascher schreibt sich der Text in seine herrliche Freiheit.«11 Unter der Parole »Wider die Beliebigkeit« wird dieser »Grundkonsens« (S. 4) mit Verve zurückgewiesen und aufgezeigt, wie lohnend es ist, die Texte inhaltlich ernst zu nehmen. 9 10 11

Dieter Borchmeyer: Dienst und Herrschaft. Ein Versuch über Robert Walser: Tübingen 1980 (= Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte, Bd. 26), S. 25. Peter Utz: Tanz auf den Rändern. Robert Walsers »Jetztzeitstil«. Frankfurt a. M. 1998. Peter von Matt: Wie weise ist Walsers Weisheit?, in: Robert Walsers ›Ferne Nähe‹. Neue Beiträge zur Forschung. Hg. v. Wolfram Groddeck, Reto Sorg, Peter Utz u. Karl Wagner. München 2007, S. 35–47, hier S. 45.

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Dass vor allen anderen Ding-Texten Walsers derjenige über die Asche zitiert wird, lässt dem Zweifel Raum, dass die »Dieneridee« in allen Fällen der Schlüssel für die Deutung von Walsers »Sachtexten« und der Dingpassagen sei. Dienen und Widerstandslosigkeit ist zweierlei. Die Passage lenkt die Aufmerksamkeit auch gleich auf ein Verfahren, das Walser bei der Darstellung von Dingen immer wieder verwendet: die Personifikation (genau beschrieben werden diese kaum je). Es kommt auch beim Streichhölzchen zum Zug, das in einem, auf dem Buchumschlag abgebildeten, unveröffentlichten Entwurfsmanuskript gar explizit als »Persönchen« bezeichnet wird (S. 36). Über Funktion und Effekt dieses Verfahrens bleibt uns Julia Maas eine Auskunft schuldig. Prosastücke werden auch nie in ihrer Integralität gewürdigt, was bei Texten, die nicht selten nach drei Sätzen gerade das Gegenteil von dem behaupten, was eben vorgebracht wurde, nicht ohne Risiko ist. Es wäre unfair, den Vorwurf auch auf die Behandlung der Romane auszuweiten. Wenn aber Simon aus Geschwister Tanner in seiner Rolle als vollkommen seiner Aufgabe hingegebener Diener ins Spiel gebracht wird, dann müsste zumindest erwähnt werden, dass er sich dieser Rolle auch immer wieder mit triumphierender Geste entledigt. Ein zweiter, etwas kürzerer Teil der Arbeit geht nicht mehr den Deutungshorizonten, sondern Walsers Gegenständen nach, die in drei Klassen unterteilt werden: Kleidungsstücke, Speisen und Gegenstände des Interieurs. Unter letzteren wird dem Schreibpult des Dichters besondere Aufmerksamkeit geschenkt und dabei noch einmal T. S. Eliots »Konzept des objective correlative« aufgegriffen, das einer bestimmten Gemütslage konkrete Gegenstände, Situationen oder Handlungssequenzen zuordnet (S. 55). Als Modell für die Funktion von Dingen im Symbolgefüge eines literarischen Textes und für das Verhältnis von Dingen und Figuren spielt das Konzept in der ganzen Studie eine wichtige Rolle. Die Beobachtungen zu den drei Gegenstandsgruppen führen auch zum Schluss, dass ihre unterschiedliche Behandlung beim frühen, mittleren und späteren Walser erlaube, den Schaffensphasen deutlichere Konturen zu verleihen. »Kämpferische Manöver von Erzählern und Figuren gegen die andrängende Dingwelt, sowohl gegen Kleiderofferten als auch gegen den Zwang, zu essen, sei er nun anthropologischen oder sozialen Ursprungs, werden in den späten Texten kaum noch ausgeführt. Sie weichen Szenarien der Aussöhnung.« (S. 219) Wie das bei neueren Studien oft der Fall ist, beruft sich auch diejenige von Julia Maas auf einen ›turn‹ und zwar den »material turn« (S. 18). In der Literaturwissenschaft wurde davon erst zögernd Notiz genommen. Julia Maas’ Studie zeugt von der Fruchtbarkeit des neuen Paradigmas, zeigt aber auch auf, dass es noch einiger Adaptation bedarf, bis das Untersuchungsdispositiv auf die Eigenheiten des Anwendungsfeldes Literatur ganz abgestimmt ist. Die Arbeit überzeugt durch eine klare Sprache, eine immer nachvollziehbare Argumentation sowie den anregenden Einbezug mannigfaltiger Kon-

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texte. Das Register der darin untersuchten oder erwähnten Texte Robert Walsers belegt, dass die Ambition, die »Gesamtheit der Ding- und Figurenszenen« im Schaffen des Dichters in den Blick zu nehmen, ernsthaft verfolgt wurde. Die Studie setzt dem enormen Materialreichtum aber dezidierte Ordnungs- und Deutungsangebote gegenüber. Damit bezieht sie in der RobertWalser-Debatte unerschrocken Position und bereichert diese mit ihren pointierten, bisweilen überraschenden Thesen. So nimmt sie auch in Kauf, dass der Leserin/dem Leser dabei klar wird, die ›Dinge‹ manchmal anders zu sehen. Die Entschiedenheit der Befunde ist mit einem Verfahren des selektiven Zitats erkauft. Walsers Ambivalenzen, zu denen jüngst ein Sammelband erschien,12 wird kaum Rechnung getragen. Vielmehr zeichnet die Studie auf neue und bedenkenswerte Weise von Walser das Bild eines Autors, dem man trauen und dessen Aussagen man wörtlich nehmen darf, eines Autors, der nicht einfach ein anmutiger literarischer Spieler ist, sondern mit Nachdruck seine Positionen, eine Ethik vertritt, einer, der mit beiden Beinen auf dem Boden der Realität, der materiellen Welt steht. Dominik Müller Marjorie Perloff: Ironie am Abgrund. Die Moderne im Schatten des Habsburgerreichs: Karl Kraus, Joseph Roth, Robert Musil, Elias Canetti, Paul Celan und Ludwig Wittgenstein. Aus dem amerikanischen Englisch v. Matthias Kroß u. Georg Hauptfeld. Wien, Hamburg: Edition Konturen 2019. 192 S. € 29,80. Das 2016 im Original erschienene Buch Marjorie Perloffs liest sich wie ein typisches Alterswerk – die 1931 in Wien geborene Jüdin, die im amerikanischen Exil ein Leben lang ihre Tätigkeit als Literaturprofessorin hauptsächlich der Avantgardelyrik widmete, blickt hier in einer Art Synthese auf die Literatur jener Kultur zurück, aus der sie stammt: die post-habsburgische, deutschsprachige Kultur Zentral- und Osteuropas in der Zwischenkriegszeit. Die Identitäts- und Heimatlosigkeit, die sie den überwiegend jüdischen Trägern dieser Kultur attestiert, dürfte auch die als Gabriele Mintz geborene Autorin, die in den USA sich selbst in einer anderen Sprache neu erfinden musste, kennengelernt haben – diese Transformation und die persönliche und intellektuelle Prägung durch die Wiener Kultur hat sie schon 2004 in ihrer Selbstbiographie, The Vienna Paradox, dargestellt. In einem Punkt unterscheidet sich ihr Hintergrund aber von den im Ironie am Abgrund behandelten Autoren: Diese sind nämlich alle nicht in Wien, sondern an der Peripherie des ehemaligen Habsburgerreichs geboren, mit 12

Vgl. Robert Walsers Ambivalenzen. Hg. v. Kurt Lüscher, Reto Sorg, Bernd Stiegler u. Peter Stocker. Paderborn 2018 (= Robert Walser-Studien, Bd. 3).

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texte. Das Register der darin untersuchten oder erwähnten Texte Robert Walsers belegt, dass die Ambition, die »Gesamtheit der Ding- und Figurenszenen« im Schaffen des Dichters in den Blick zu nehmen, ernsthaft verfolgt wurde. Die Studie setzt dem enormen Materialreichtum aber dezidierte Ordnungs- und Deutungsangebote gegenüber. Damit bezieht sie in der RobertWalser-Debatte unerschrocken Position und bereichert diese mit ihren pointierten, bisweilen überraschenden Thesen. So nimmt sie auch in Kauf, dass der Leserin/dem Leser dabei klar wird, die ›Dinge‹ manchmal anders zu sehen. Die Entschiedenheit der Befunde ist mit einem Verfahren des selektiven Zitats erkauft. Walsers Ambivalenzen, zu denen jüngst ein Sammelband erschien,12 wird kaum Rechnung getragen. Vielmehr zeichnet die Studie auf neue und bedenkenswerte Weise von Walser das Bild eines Autors, dem man trauen und dessen Aussagen man wörtlich nehmen darf, eines Autors, der nicht einfach ein anmutiger literarischer Spieler ist, sondern mit Nachdruck seine Positionen, eine Ethik vertritt, einer, der mit beiden Beinen auf dem Boden der Realität, der materiellen Welt steht. Dominik Müller Marjorie Perloff: Ironie am Abgrund. Die Moderne im Schatten des Habsburgerreichs: Karl Kraus, Joseph Roth, Robert Musil, Elias Canetti, Paul Celan und Ludwig Wittgenstein. Aus dem amerikanischen Englisch v. Matthias Kroß u. Georg Hauptfeld. Wien, Hamburg: Edition Konturen 2019. 192 S. € 29,80. Das 2016 im Original erschienene Buch Marjorie Perloffs liest sich wie ein typisches Alterswerk – die 1931 in Wien geborene Jüdin, die im amerikanischen Exil ein Leben lang ihre Tätigkeit als Literaturprofessorin hauptsächlich der Avantgardelyrik widmete, blickt hier in einer Art Synthese auf die Literatur jener Kultur zurück, aus der sie stammt: die post-habsburgische, deutschsprachige Kultur Zentral- und Osteuropas in der Zwischenkriegszeit. Die Identitäts- und Heimatlosigkeit, die sie den überwiegend jüdischen Trägern dieser Kultur attestiert, dürfte auch die als Gabriele Mintz geborene Autorin, die in den USA sich selbst in einer anderen Sprache neu erfinden musste, kennengelernt haben – diese Transformation und die persönliche und intellektuelle Prägung durch die Wiener Kultur hat sie schon 2004 in ihrer Selbstbiographie, The Vienna Paradox, dargestellt. In einem Punkt unterscheidet sich ihr Hintergrund aber von den im Ironie am Abgrund behandelten Autoren: Diese sind nämlich alle nicht in Wien, sondern an der Peripherie des ehemaligen Habsburgerreichs geboren, mit 12

Vgl. Robert Walsers Ambivalenzen. Hg. v. Kurt Lüscher, Reto Sorg, Bernd Stiegler u. Peter Stocker. Paderborn 2018 (= Robert Walser-Studien, Bd. 3).

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Ausnahme Ludwig Wittgensteins, der aber als Jude, so Perloff, »niemals ein wirklicher Insider im Wien des Fin de Siècle und der Zeit danach« (S. 9) sein konnte. Letzteres ließe sich allerdings diskutieren, denn wie die ›Austromoderne‹ der Zeit nach 1918 war auch die Wiener Moderne der Jahrhundertwende im hohen Maße durch jüdische Künstler und Intellektuelle geprägt. Aber der Unterschied, der für die (Syn-)These Perloffs ganz zentral ist, ist der Umstand, dass diese Autoren nicht nur geographisch gesehen am Rande geboren und aufgewachsen waren – Musil in Klagenfurt und dem tschechischen Brno, Kraus in Böhmen, Roth in Galizien, Celan in der Bukowina und Canetti im heutigen Bulgarien –, sondern auch am Abgrund jener alten Welt, die durch den Ersten Weltkrieg in die Brüche ging. Im Originaltitel Edge of Irony sind beide Bedeutungen enthalten: das Verhältnis der Peripherie zum Zentrum und der politische und kulturelle Abgrund, der sich ab 1914 auftut. So ist die von Perloff als ›Austromoderne‹ bezeichnete Literatur »vor allem in Bezug auf ihre besondere Stellung zum Ersten Weltkrieg« (S. 14) definiert, dessen Ausgang für Österreich und die deutschsprachigen Autoren der ehemaligen Doppelmonarchie traumatischer gewesen sei als der Untergang des Hohenzollernreiches für die Deutschen. Denn über das politische Chaos und die wirtschaftliche Not hinaus bedeutete der Erste Weltkrieg für Österreich und die deutschsprachigen (und zugleich multilingualen) Autoren, die von den Rändern des aufgelösten Habsburgerreiches stammten, einen Identitätsverlust, der sich für viele als unüberwindbar erwies. Der Identitätsbruch wurde natürlich für die hier behandelten, überwiegend jüdischen Autoren durch den grassierenden Antisemitismus und das vielen dadurch aufgezwungene Exil nur noch verstärkt. Auch Wittgenstein, mit dessen Leben und Werk Perloff sich einleitend, abschließend und immer wieder begleitend in den Kapiteln zu den übrigen Autoren auseinandersetzt, wird als ein immer schon sich selbst und der deutschen Sprache Entfremdeter gesehen. Obwohl Wittgenstein 1929 freiwillig nach Cambridge übersiedelte und in England schon längst große Anerkennung und Unterstützung genoss, wurde er nie in der englischen Sprache und in den sozialen Spielregeln ganz heimisch. Die Darstellung Wittgensteins bei Perloff erinnert an Thomas Bernhards Skandaldrama Heldenplatz (1988), bei dem dieser als Vorbild für die Figur des Professors Josef Schuster diente, den radikal heimatlosen jüdischen Träger der Wiener Kultur, der es weder in Wien noch im englischen Exil aushält und seine Heimat nur durch ihre Negation definieren kann. Neben der Auseinandersetzung mit den Folgen des Ersten Weltkriegs und die Erfahrung des Exils werden als bestimmende Merkmale dieser austromodernen Literatur zwei weitere, mit diesen Umständen aber auch gegenseitig sich verbindende, durchgängige Züge hervorgehoben: Ironie und ein besonderes, gesteigertes Sprachbewusstsein. Letzteres wird wie so oft zuvor durch die Mehrsprachigkeit als Kondition und Normalität in diesem Kulturraum erklärt, die natürlich auch im Zusammenhang mit der Multikon-

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fessionalität und Multi- bzw. Transkulturalität sowohl individuelle als auch kollektive Identitäten komplex, hybrid und fließend werden ließ. Die hier behandelte Auswahl von Autoren, die als exemplarisch für die eigentümliche Besonderheit der österreichischen Literatur in ihrer ganzen Breite von Gattungen und Formen gelten sollen, hatten alle Deutsch als Schriftsprache, während sie mündlich auch andere Sprachen des Reiches beherrschten, wie Jiddisch, Tschechisch, Russisch, Polnisch, Ladino und Bulgarisch. So wurde als »Mutter- oder Wahlsprache [. . .] das Deutsche für die Autoren der Austromoderne in hohem Masse selbstreflexiv – mehr ein Gegenstand der Betrachtung als ein Kommunikationsmittel.« (S. 24) Zum Ausdruck kommt diese Sprachreflexion z. B. in der Sprachphilosophie Wittgensteins, im Dokumentarismus und der Medienkritik Karl Kraus’, in der Wortlosigkeit der Gefühle bei Roth, im Versuch, das Unaussprechbare durch das Schweigen der Sprache auszudrücken, bei Celan. Für Canetti wird die Sprache zum Zaubermittel, mit dem man aus Welten hinaus, in andere hineintreten und sogar neu geboren werden kann; mit denen man wie Kraus seine Zuhörer verzaubern und ein Gespür für »akustische Masken« (S. 135) vermitteln kann. Im Kapitel über Musil fällt die Analyse der Sprachreflexion jedoch etwas zu kurz aus, trotz eingehender Behandlung des Essayismus und der Ironie in Der Mann ohne Eigenschaften, der hier als einziges Werk Musils besprochen wird. Dass die Sprache auch die Grenzen der Welt des Subjekts absteckt (ein zentraler Gedanke Wittgensteins) und somit das Leben präformieren kann, wenn man deren Grenzen nicht bewusst zu sprengen versucht, ist nicht nur eine zentrale Pointe bei Musil, die hier vermisst wird, sondern auch ein gemeinsamer Zug der Nachfolgegeneration, ebenfalls alle aus der österreichischen Provinz stammend: Bernhard, Bachmann, Handke und Jelinek. Der gemeinsame Zug der Ironie, den Perloff als ein Hauptmerkmal der Literatur der Austromoderne hervorhebt, ließe sich wohl auch durch die Distanz zur eigenen Identität und Sprache erklären, die von der besonderen Mischung sprachlicher und kultureller Codes befördert wurde, obwohl dies im Buch nicht explizit reflektiert wird. Perloff verbindet die Ironie mit einer charakteristischen Zurückhaltung und Skepsis dieser Literatur gegenüber Ideologien und Gewissheiten. Die Ironie ist hier also vor allem eine Figur der Desillusion, ein Mittel der Analyse, womit »Diagnose an die Stelle von Weltbildern« tritt (S. 29). Daher sind auch für Perloff die »fraglichen Texte – seien es Romane, Essays, Gedichte, Theaterstücke oder Memoiren – [. . .] bewusst oder unwissentlich, unter dem Vorzeichen Wittgensteins verfasst worden, dem es als Philosoph bei seinen Untersuchungen mehr um den Prozess als um das Ergebnis ging und der Gewissheit als Feind betrachtete.« (S. 29) Perloff wird nicht müde, in dieser Hinsicht den Unterschied zur Kultur der Weimarer Republik zu betonen, die v. a. durch Brecht und die Intellektuellen der Frankfurter Schule verkörpert wird. So heißt es im Canetti-Kapitel, wo der Abscheu Canettis gegenüber der materialistischen Amoralität der Drei-

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groschenoper und ihres selbstzufriedenen Publikums bei der Premiere 1928 geschildert wird: »Canettis ›Deutsch‹ ist nicht das des Berlin der Weimarer Republik. Der doktrinäre Marxismus eines Brecht kann in seinen Augen neben der hoch individuellen und lebhaften Vision eines Karl Kraus nicht bestehen. Geschlossene Systeme sind der Feind; schließlich zeigt die Sprache, ob nun gesprochen oder geschrieben, immer wieder überraschende Öffnungen.« (S. 125) Die Blüte der Weimarer Kultur geht mit einem »starken Übergewicht der politischen und sozialen Theorie über die Literatur« einher (S. 25), und sowohl die radikalen, systematischen Analysen Heideggers als auch die »Forderung der Frankfurter Schule nach einer neuen politischen und sozialen Ordnung musste den Autoren der Austromoderne fremd bleiben« (S. 28). Perloff zieht in diesem Zusammenhang Musils Begriff des Möglichkeitssinns heran, der als ein »Echo der Sätze Wittgensteins im ›Tractatus‹« gelesen wird: »Alles, was wir sehen, könnte auch anders sein« (5.634) oder auch »Der Sinn der Welt muss außerhalb ihrer liegen. In der Welt ist alles wie es ist, und geschieht alles, wie es geschieht« (6.41). Unter solchen Vorzeichen bedeutete Veränderung nicht politische Revolution, nicht Veränderung der sozialen oder politischen Verhältnisse, sondern Veränderung des Bewusstseins. (S. 15 f.)

Man mag zustimmen, dass das Verhältnis der österreichischen Literatur zum Diskurs des Politischen tendenziell anders – distanzierter ist als in Deutschland, es ist jedoch auch bedenklich, wenn die Kultur der Weimarer Republik in dieser Weise mit radikalem bzw. marxistischem Denken gleichgesetzt wird und die beiden Kulturen weiterhin als diametrale Gegensätze stilisiert werden (das hat ja Tradition), was bei allen Unterschieden wohl der Komplexität der literarischen Landschaft nicht gerecht wird. Marjorie Perloffs Thesen zur Eigenart der österreichischen Literatur sind zwar nicht neu – sie folgen einer Linie, die von Claudio Magris (auf den immer wieder Bezug genommen wird) über Alan Janik und Stephen Toulmin, Katherine Arens und viele andere bis heute von Literatur- und Kulturwissenschaftlern verfolgt wird. Durch eine kleine Verschiebung im Fokus und der Zusammenstellung gelingt es ihr aber, Zusammenhänge zwischen kulturellen Konstellationen, geschichtlicher Entwicklung und Merkmalen der österreichischen Literatur wie Ironie, Sprachreflexion und Abneigung gegenüber theoretischen Gewissheiten überzeugend deutlich zu machen. Die Frage ist jedoch, an welche Leser im deutschsprachigen Publikum das Buch appellieren wird. Leser, die in den Werken der behandelten Autoren einigermaßen versiert sind, könnte die Vorgehensweise stören, in den jeweiligen Einzelporträts die Autoren fast ausschließlich durch ein Hauptwerk zu präsentieren, aus dem dafür ausgiebig zitiert wird. Außerdem sind die Autorenporträts stark biographisch ausgerichtet, was im Falle Celans z. B. bedeutet, dass seine Beziehung zu Ingeborg Bachmann (sowie zu den anderen Frauen seines Lebens: Ruth Lackner, Brigitta Eisenreich und seiner französi-

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schen Ehefrau Gisèle) ganz im Zentrum der Darstellung steht. Man gewinnt dabei fast den Eindruck, bei den Gedichtsammlungen Celans aus den 1950er Jahren handele es sich vor allem um Liebeslyrik. Dementsprechend werden Bachmann und Celan in der zweiten Hälfte des Kapitels mit gesteigerter Intimität nur noch »Paul« und »Ingeborg« benannt. Andere könnten sich aber gerade über die leserfreundliche Vermittlung komplexer Fragestellungen freuen, und Lesern mit wenigen Vorkenntnissen über die Epoche und die einzelnen Autoren bietet das Buch Perloffs einen klugen Einstieg – a good read. Birthe Hoffmann

Mareike Schildmann: Poetik der Kindheit. Literatur und Wissen bei Robert Walser. Göttingen: Wallstein 2019. 497 S. € 59,90. »Aber ich bitte, zu bedenken, daß meine Hand daran nichts geändert hat«13 – fordert, bittet der fiktive Herausgeber im Vorwort zu den gesammelten Aufsätzen eines Schülers namens Fritz Kocher. Es braucht jemand, der die Texte von der Mutter erbittet, sammelt und druckt, denn: »Der Knabe, der diese Aufsätze geschrieben hat, ist kurz nach seinem Austritt aus der Schule gestorben.«14 Walsers Erstlingswerk Fritz Kocher’s Aufsätze aus dem Jahr 1904 bildet einen Anfang in vielerlei Hinsicht. Zum ersten Mal maskiertes Sprechen, zum ersten Mal gleich zu Beginn ein Abschied (»Adieu, mein Kleiner! Adieu Leser!«15 ). Zum ersten Mal und von da an unaufhörliche Verunsicherung, wie für Robert Walser typisch, denn – wer spricht hier wirklich? Mareike Schildmann widmet sich in ihrer umfassend recherchierten und dichten Studie Poetik der Kindheit der Kindheit als Topos im erzählenden Werk Robert Walsers. Ihr analytischer Blick richtet sich auf die Kinder, auf Walsers Kinder-Figuren, auf die unkindlichen Kinder und die kindlichen Erwachsenen. Unter einem wissenshistorischen Ansatz versammelt sie eine reiche Menge an Material, um in Summe einen Diskurs zu rekonstruieren, dem auch Robert Walser sich nicht entziehen konnte. Überzeugend zeichnet Schildmann die Ausprägungen des Kindlichen, wie es sein soll oder darf, vor allem auf institutioneller Ebene, aber auch von Seiten der Wissenschaften. Mit hohem Problembewusstsein beobachtet sie die Topoi des Kindlichen, der Kindheit bzw., mit Walser gesprochen, des »Kindheitlichen« aus unterschiedlichen Perspektiven und wissenschaftlichen Disziplinen und veranschaulicht 13 14 15

Robert Walser: Kritische Ausgabe sämtlicher Drucke und Manuskripte. Hg. v. Wolfram Groddeck u. Barbara von Reibnitz. Bd. I.I : Fritz Kocher’s Aufsätze. Hg. v. Hans-Joachim Heerde, Barbara von Reibnitz u. Matthias Sprünglin. Basel, Frankfurt a. M. 2010, S. 9. Ebd. Ebd.

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schen Ehefrau Gisèle) ganz im Zentrum der Darstellung steht. Man gewinnt dabei fast den Eindruck, bei den Gedichtsammlungen Celans aus den 1950er Jahren handele es sich vor allem um Liebeslyrik. Dementsprechend werden Bachmann und Celan in der zweiten Hälfte des Kapitels mit gesteigerter Intimität nur noch »Paul« und »Ingeborg« benannt. Andere könnten sich aber gerade über die leserfreundliche Vermittlung komplexer Fragestellungen freuen, und Lesern mit wenigen Vorkenntnissen über die Epoche und die einzelnen Autoren bietet das Buch Perloffs einen klugen Einstieg – a good read. Birthe Hoffmann

Mareike Schildmann: Poetik der Kindheit. Literatur und Wissen bei Robert Walser. Göttingen: Wallstein 2019. 497 S. € 59,90. »Aber ich bitte, zu bedenken, daß meine Hand daran nichts geändert hat«13 – fordert, bittet der fiktive Herausgeber im Vorwort zu den gesammelten Aufsätzen eines Schülers namens Fritz Kocher. Es braucht jemand, der die Texte von der Mutter erbittet, sammelt und druckt, denn: »Der Knabe, der diese Aufsätze geschrieben hat, ist kurz nach seinem Austritt aus der Schule gestorben.«14 Walsers Erstlingswerk Fritz Kocher’s Aufsätze aus dem Jahr 1904 bildet einen Anfang in vielerlei Hinsicht. Zum ersten Mal maskiertes Sprechen, zum ersten Mal gleich zu Beginn ein Abschied (»Adieu, mein Kleiner! Adieu Leser!«15 ). Zum ersten Mal und von da an unaufhörliche Verunsicherung, wie für Robert Walser typisch, denn – wer spricht hier wirklich? Mareike Schildmann widmet sich in ihrer umfassend recherchierten und dichten Studie Poetik der Kindheit der Kindheit als Topos im erzählenden Werk Robert Walsers. Ihr analytischer Blick richtet sich auf die Kinder, auf Walsers Kinder-Figuren, auf die unkindlichen Kinder und die kindlichen Erwachsenen. Unter einem wissenshistorischen Ansatz versammelt sie eine reiche Menge an Material, um in Summe einen Diskurs zu rekonstruieren, dem auch Robert Walser sich nicht entziehen konnte. Überzeugend zeichnet Schildmann die Ausprägungen des Kindlichen, wie es sein soll oder darf, vor allem auf institutioneller Ebene, aber auch von Seiten der Wissenschaften. Mit hohem Problembewusstsein beobachtet sie die Topoi des Kindlichen, der Kindheit bzw., mit Walser gesprochen, des »Kindheitlichen« aus unterschiedlichen Perspektiven und wissenschaftlichen Disziplinen und veranschaulicht 13 14 15

Robert Walser: Kritische Ausgabe sämtlicher Drucke und Manuskripte. Hg. v. Wolfram Groddeck u. Barbara von Reibnitz. Bd. I.I : Fritz Kocher’s Aufsätze. Hg. v. Hans-Joachim Heerde, Barbara von Reibnitz u. Matthias Sprünglin. Basel, Frankfurt a. M. 2010, S. 9. Ebd. Ebd.

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somit die für Walsers Schreiben relevanten Aspekte des Diskurses: Gehorsam, Frühreife, Zerstreutheit, Übung, Prüfung und Test, also die Kollisionen von Disziplinierung und Freiheit in vielen Bereichen des Lebens und in unterschiedlichen Formationen der Literatur, den Gattungen. Je umfassender uns in der Studie der herrschende Diskurs vorgeführt wird, desto stärker fragen wir uns: Robert Walser – also doch ganz und gar ein Kind seiner Zeit? Die berühmte These Walter Benjamins aufgreifend und zugleich konterkarierend (vgl. S. 28), vermag Schildmann zu zeigen, was für Walsers heutiges Bild noch immer nötig ist zu betonen: Sein formvollendeter Umgang mit Sprache bedeutet keine voraussetzungslose und blinde Privilegierung der spielerischen Darstellung auf Kosten der Sache. Um das zu zeigen, muss man gegebenenfalls sogar das Was gegenüber dem Wie analytisch überbetonen, denn die Vorurteile bei Walser, dem Spaziergänger, dem Schwimmer, dem Kranken, dem Kind, sind präsent. In sieben Abschnitten durchschreitet die Autorin die disziplinübergreifenden Bereiche des Wissens um das Kind und die für es bemessene Zeit, »Kindheit« genannt, um dabei permanent die beschriebene Fach- und Formensprache der empirischen Wissenschaften (Pädagogik, Psychologie, Medizin) mit der spezifischen Ausprägung des Kindlichen in der Prosa Walsers zu vergleichen. Die besondere Perspektive der sich konsolidierenden Wissenschaften in Bezug auf das Kind, die Schildmann detailliert nachzeichnet, gibt einen interessanten Blick frei auf das, was gemeinhin auch als Moderne gilt, in deren Kontext wiederum Walser gesehen wird, doch so eingebettet konnte sein Werk selten sichtbar werden. Der Zugriff der Institution auf das Individuum, nicht nur auf das Kind, ist für Walser auf vielen, sowohl inhaltlichen als auch formalen Ebenen relevant und in dieser umfassenden Durchdringung mitunter auch entscheidend. Unter Fokussierung klug gesetzter Schwerpunkte baut Schildmann ein dichtverzweigtes Netzwerk, das die diskursive Ambivalenz der Walser’schen Kindheitsfigurationen lesbar macht. Ausgehend von der Beschreibung historischer, ästhetischer und pädagogischer Legitimationsversuche in der Abgrenzung »kindlicher« und »unkindlicher«, also »erwachsener« Formen, unter dem Primat der potentiellen »Bildsamkeit« (Kap. I) betrachtet, wendet sich die Autorin den Gegenkonzepten zu, sowohl den politischen und ideologischen als auch den ästhetischen und poetischen (Kap. II). Der Körper wird hier zunehmend ins Treffen geführt, wie die Ausführungen zu vitalistischen Diskursen (Lebensreformbewegung, Verjüngung, Sport) deutlich machen. Kapitel III widmet sich dem Entwicklungsbegriff und den Attributen der Frühreife und Zurückgebliebenheit, wie sie in der Engführung von Kind, Wunderkind und Genie oft aufgerufen, aber kaum so eingehend erforscht wurden. Von Abweichung und Devianz handelt auch das IV . Kapitel, das über die Beschäftigung mit Aufmerksamkeitsstörungen und der vielzitier-

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ten »Kopflosigkeit« des Gehülfen den Weg zu den letzten drei Kapiteln ebnet, die nun vollends das Pathologische im Diskurs des Kindlichen für poetologische Fragen aufbereiten: Während das genealogische Moment in der Beschäftigung mit dem Kind sowohl für die Gattung (Kap. V) als auch für das Schreiben selbst fruchtbar gemacht werden kann, mündet Schildmanns Arbeit in produktionsästhetische Überlegungen (Kap. VI), die Walsers Auseinandersetzung mit Institutionen und Normen (auch jenen der Gattungen) mit den ästhetischen Anforderungen und didaktischen Elementen des zeitgenössischen Schreibunterrichts in Verbindung bringen. Das Spiel mit ästhetischen Gelingensbedingungen und dem operationalisierbaren Wissen der Lehre beschreibt eine Spannung, mit der Walser kokettiert, die einerseits ästhetisch-stilistischen Reiz entfaltet, andererseits aber auch Fehler und Korrekturimpulse als Konsequenz provoziert. Im VII . Kapitel rückt schließlich der Wahnsinn in den Vordergrund. Hier wird die normierende Macht des Diskurses beschrieben, insbesondere in der Psychiatrie, die durch die Diagnose des deplatzierten »Kindlichen« (zur falschen Zeit, an falscher Stelle) die Infantilität zur Anomalie erklärt, um den sanktionierenden Eingriff mit dem Versprechen auf Besserung und Heilung zu rechtfertigen. Schildmann hat also mit der Kindheit und all ihren Formationen und Implikationen ein Alleinstellungsmerkmal in Walsers Werk aufgegriffen, das sich vom Anfang bis zum Ende, von »Fritz Kocher« bis hin zum »Räuber« finden lässt und Bedeutung beansprucht. Diesem Anspruch auf Bedeutung, den der literarische Text im Umgang mit dem Thema der Zeit generiert, hat Schildmann in ihrer Studie Ausdruck verliehen und dabei nicht zuletzt seine unabdingbare Relevanz profiliert. Damit leistet sie einen wichtigen Beitrag zur wissensgeschichtlichen Einbettung von Walsers Werk. Zugleich versucht sie über die Darstellung des Diskurses innerhalb und außerhalb des literarischen Textes dessen Poetik zu erhellen. Das führt uns zu einer Reihe von Problemen, die weniger Schildmanns Verdienst schmälern, als sie uns die Komplexität von Walsers Texten umso deutlicher vor Augen führen. Die daraus entstehenden Schwierigkeiten betreffen das Verhältnis, in welches der beschriebene Diskurs und die mit dem Wissen ihrer Zeit explizit in Konfrontation geratenen literarischen Texte zueinander treten; wie sich Poetik und Diskurs im Sprechen über ihre Zusammenführung zueinander verhalten. Und hier behauptet sich nun doch wieder das Wie, das Benjamin im Schreiben selbst verortet, gegen das diskursive Was, denn die herausgegriffene Aussage kann nicht unabhängig von der Form, in der die Aussagen getroffen wurden, gelesen werden. Das Problem besteht darin: Wie zitiert Walser den Diskurs? Der Drehund Angelpunkt der Wechselwirkungen zwischen Diskurs und Poetik liegt im Walser’schen Zugriff auf die Topoi seiner Zeit. Die Formen des Zugriffs zeigt Mareike Schildmann. Die Art des Zugriffs, die wieder als Produkt übergeordneter, poetologischer Entscheidungen entsteht (allem voran die in

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so vielfältiger Hinsicht unsichere Erzählperspektive der Walser-Texte, seien das Fritz Kocher’s Aufsätze, die Tagebuchaufzeichnungen eines Jakob von Gunten, die Geschichte des Gehülfen oder der Roman des Räubers), bleibt problematisch. In der analytischen Hinwendung zu Walsers Poetik wird die Untersuchung unentwegt von einer stärkeren, übergeordneten Kraft eingeholt, die den forschenden Zugriff auf Walsers literarischen Zugriff auf den Diskurs relativiert. Die Wurzeln dieser Kraft sind dort zu suchen, wo die Poetik als System an ihre selbst- und fremdgesetzten Grenzen stößt und sich selbst zu befragen und beobachten beginnt, nämlich in der Poetologie Walsers. Denn es sind nie nur diese einzelnen Figuren und Rollen, die sprechen, sondern dabei ist immer auch die Stimme, die sie führt; anwesend sind die Stimmen, auf die sie replizieren, die durch sie hindurch sprechen, auf die sie hören, die sie zitieren, ohne uns im Einzelnen mitzuteilen, ob affirmativ oder in kritischer Distanz. Dieses Problem betrifft das Herz der Walser’schen Poetologie. Es ist unlösbar, und in dieser Unlösbarkeit produktiv und lebendig, darum können wir im Sprechen über Literatur nicht aufhören darüber – und über Walser – zu sprechen. Walser führt uns die Positionen des Sprechens vor, ohne sie zu verorten; auch ohne dass wir sie verorten können, das betrifft auch unsere eigene Position im Sprechen über den Text. Wer spricht hier, wenn Walsers Kinder als »Variante[n] des subalternen und minoritären Personals« (S. 16) bezeichnet werden, wenn Entwicklung ab- und Zukunftslosigkeit ausgesprochen, gleichsam diagnostiziert wird? – Der referierte Diskurs oder doch der Diskurs selbst, dessen Normierungskraft in die unausgesprochenen, aber doch präsenten Maßstäbe der Lektüre hineinwirkt. Sie zeigen sich im Urteilen über die Verfasstheit der Figuren. Jakob [von Gunten] wird somit zum Stichwortgeber all jener Figuren Walsers, deren vermeintliche Zurückgebliebenheit, Dummheit und Kindlichkeit als Symptome einer Entwicklungskrise beschrieben werden, deren erstes Zeichen die kindliche Frühreife darstellt. Indem sie Alter und Kindheit – zwei substantiell verschiedene Phasen der menschlichen Entwicklung – in sich vereinen, setzten Walsers unkindliche Kinder und kindliche Erwachsene das Konzept einer kontinuierlichen Entwicklung außer Kraft. [. . .] In Silvi, Jakob oder Fritz Kocher gedeiht nichts mehr, sprießt kein Samenkorn auf: Ihr Wesen erscheint bereits in jungen Jahren gleichermaßen festgesetzt wie unberechenbar, wunsch- und charakterlos und damit auch – ohne Zukünftigkeit. (S. 178)

Walsers Figuren, zum Teil missachtet und misshandelt, haben etwas zu sagen. (Man denke an Silvi im Gehülfen, deren Name von der züchtigenden Magd ebenso verunstaltet wird wie der Körper des Kindes, für den Marti an so vielen Stellen nicht wagt, aufzustehen und zu sprechen, es aber schließlich doch tut.) Dieses Faktum darf nicht durch eine, wenngleich auch referierte Diagnose übergangen werden, denn durch ihre Widersetzlichkeit wirken die Figuren auf den Diskurs zurück, den wir zuerst an ihnen ablesen wollten.

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Die unkindlichen Kinder und kindlichen Erwachsenen zeigen es vor: Jede Feststellung gerät durch die Konfrontation mit ihrem Gegenteil ins Wanken, dadurch wird sie vermeintlich, scheinbar, auch assoziativ und produktiv. Schildmann ist sich der speziellen Situation bewusst (vgl. S. 38 u. 444), und dennoch klingen viele ihrer Feststellungen wie Diagnosen, die Ambivalenz als Phänomen zwar wahrnehmen, aber nicht in den höheren Rang einer dialektischen Denkfigur überführen. Doch eben diese Bewegung ist es, die das paradoxale Verhältnis, das hinter der Ambivalenz wirkt, letztlich adelt. Man muss bei Walser die Scheinbarkeit beim Wort nehmen. Diese fehlende Aufhebung diagnostizierter Oppositionen (etwa der ›Frühreife‹ und ›Altklugheit‹ Fritz Kochers) in einem übergeordneten Dritten führt dazu, Walsers Kunstfertigkeit notorisch zu unterschätzen: »Der Leser kann und will das Schreiben des Schülers Fritz Kocher nicht wörtlich nehmen, es wirkt, freiwillig oder unfreiwillig, komisch.« (S. 186) Nur so ist zu erklären, dass das Komische zwar als Effekt des Ironischen wahrgenommen wird, aber gleichermaßen gewollt oder ungewollt erscheinen kann, also nicht als berechnetes, eben Schwanken hervorrufendes Kalkül, das den wechselnden Allianzen zwischen der Figurenrede und den sie umschwirrenden Stimmen zugrunde liegt. Schildmanns Studie vermag unmissverständlich zu zeigen, was an Ideologie und Zeitgeist von außen auf Walsers Texte wirkte. Man wird in Zukunft nicht umhinkommen, diese Erkenntnis in die Betrachtung des Werks aufzunehmen. Wichtig ist sie aber auch darum, weil sie einlädt, zu Walsers aufgerufenen Texten permanent und unermüdlich zurückzukehren; nämlich zu seinen Absätzen und Sätzen, bis hin zum einzelnen Wort, zum Kind. Zu Silvi, dem Kind, das als »verschuggt« gilt – aber auch zu dem Knaben, der nach dem Austritt aus der Schule verstorben ist und eventuell in anderer Form weiterlebt, vielleicht als erwachsener Wunsch, zugleich klein und groß zu sein, der durch den Text des Kindes hindurch- und mitspricht, auch ohne dass fremde Hände etwas daran geändert haben. Kira Kaufmann

Bastian Strinz: Robert Walsers Prosastücke im Lichte Friedrich Nietzsches. Ein poetologischer Vergleich. Berlin, Boston: Walter de Gruyter 2019 (= Textologie, Bd. 5). 229 S. € 99,95. Nietzsches Allgegenwart nach der Jahrhundertwende hat auch auf das Werk Robert Walsers abgefärbt. Ja, Walser erscheint gewissen Zeitgenossen wie eine Art Anti-Nietzsche: für Max Brod ist Walser »endlich, endlich die Reaktion auf Nietzsche, die Entspannung der Seele« (zit. S. 6 f.). Dabei ist es jedoch schwierig, über einzelne konkrete Anspielungen in Walsers Texten hinaus eine vertiefte Auseinandersetzung Walsers mit Nietzsches Werk aus-

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Die unkindlichen Kinder und kindlichen Erwachsenen zeigen es vor: Jede Feststellung gerät durch die Konfrontation mit ihrem Gegenteil ins Wanken, dadurch wird sie vermeintlich, scheinbar, auch assoziativ und produktiv. Schildmann ist sich der speziellen Situation bewusst (vgl. S. 38 u. 444), und dennoch klingen viele ihrer Feststellungen wie Diagnosen, die Ambivalenz als Phänomen zwar wahrnehmen, aber nicht in den höheren Rang einer dialektischen Denkfigur überführen. Doch eben diese Bewegung ist es, die das paradoxale Verhältnis, das hinter der Ambivalenz wirkt, letztlich adelt. Man muss bei Walser die Scheinbarkeit beim Wort nehmen. Diese fehlende Aufhebung diagnostizierter Oppositionen (etwa der ›Frühreife‹ und ›Altklugheit‹ Fritz Kochers) in einem übergeordneten Dritten führt dazu, Walsers Kunstfertigkeit notorisch zu unterschätzen: »Der Leser kann und will das Schreiben des Schülers Fritz Kocher nicht wörtlich nehmen, es wirkt, freiwillig oder unfreiwillig, komisch.« (S. 186) Nur so ist zu erklären, dass das Komische zwar als Effekt des Ironischen wahrgenommen wird, aber gleichermaßen gewollt oder ungewollt erscheinen kann, also nicht als berechnetes, eben Schwanken hervorrufendes Kalkül, das den wechselnden Allianzen zwischen der Figurenrede und den sie umschwirrenden Stimmen zugrunde liegt. Schildmanns Studie vermag unmissverständlich zu zeigen, was an Ideologie und Zeitgeist von außen auf Walsers Texte wirkte. Man wird in Zukunft nicht umhinkommen, diese Erkenntnis in die Betrachtung des Werks aufzunehmen. Wichtig ist sie aber auch darum, weil sie einlädt, zu Walsers aufgerufenen Texten permanent und unermüdlich zurückzukehren; nämlich zu seinen Absätzen und Sätzen, bis hin zum einzelnen Wort, zum Kind. Zu Silvi, dem Kind, das als »verschuggt« gilt – aber auch zu dem Knaben, der nach dem Austritt aus der Schule verstorben ist und eventuell in anderer Form weiterlebt, vielleicht als erwachsener Wunsch, zugleich klein und groß zu sein, der durch den Text des Kindes hindurch- und mitspricht, auch ohne dass fremde Hände etwas daran geändert haben. Kira Kaufmann

Bastian Strinz: Robert Walsers Prosastücke im Lichte Friedrich Nietzsches. Ein poetologischer Vergleich. Berlin, Boston: Walter de Gruyter 2019 (= Textologie, Bd. 5). 229 S. € 99,95. Nietzsches Allgegenwart nach der Jahrhundertwende hat auch auf das Werk Robert Walsers abgefärbt. Ja, Walser erscheint gewissen Zeitgenossen wie eine Art Anti-Nietzsche: für Max Brod ist Walser »endlich, endlich die Reaktion auf Nietzsche, die Entspannung der Seele« (zit. S. 6 f.). Dabei ist es jedoch schwierig, über einzelne konkrete Anspielungen in Walsers Texten hinaus eine vertiefte Auseinandersetzung Walsers mit Nietzsches Werk aus-

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zumachen. So ist es bisher bei wenigen entsprechenden Arbeiten geblieben, darunter auch vom Unterzeichnenden, die aber eher Walsers Verhältnis zur Nietzsche-Rezeption seiner Zeit als zu Nietzsche selbst galten. Bastian Strinz nimmt sich nun vor, darüber hinaus in Walsers Werk poetologische Entsprechungen zur Poetologie Nietzsches aufzuspüren. Es geht ihm also um eine Form der »Intertextualität«, die aber als solche wiederum neu zu bestimmen ist. Denn schon Nietzsche selbst betreibt eher als eine konkrete, zitierende Auseinandersetzung mit seinen Referenztexten eine »Allusionsartistik«, nach einem Begriff von Christian Benne (zit. S. 23), die subjektiv und interpretationsabhängig bleibt. Eine solche »Allusionsartistik« muss man auch für Walsers Verhältnis zu Nietzsches Werk ansetzen, wenn man innere Zusammenhänge zwischen den beiden Werken aufzeigen möchte, denn eine konkrete, eingehende Nietzsche-Lektüre ist von Walser nicht bezeugt und nachweisbar. Dies trotz der Nähe von Veröffentlichungen von und zu Nietzsche, die sich in jenen Zeitschriften finden, in denen Walser auch publiziert, wie der Insel oder Die neue Rundschau. Solche konkreten Textkonstellationen nennt Strinz »Paralleldrucke« (S. 14), auch wenn der Begriff editionsphilologisch anders belegt ist. Sie zeigen in der Tat, dass Walsers Texte Wand an Wand zur Nietzsche-Euphorie seiner Zeit erscheinen. Dass darüber hinaus ein Zusammenhang von Walser mit Nietzsche besteht, der in den Kern beider Werke, in deren Poetologie hineinführt, das ist die ambitiöse Grundthese von Strinz. Dazu arbeitet er zunächst an Nietzsches Jenseits von Gut und Böse und Menschliches, Allzumenschliches die Vermischung der Erzählinstanzen, die Metalepsen und die Aufschiebung von Bedeutungsfestschreibungen heraus (S. 31). Analoge Verfahren findet er in Walsers Sechs kleine Geschichten, die in der Zeitschrift Insel erstpubliziert wurden (S. 32 ff.), besonders in Von einem Dichter. Daraus wird jedoch gleich eine intertextuelle Abhängigkeit abgeleitet: Die nach Walsers Texten in der Insel publizierten Nietzsche-Auszüge Umwertung aller Werte werden – trotz der chronologischen Unstimmigkeiten, die dem Verfasser bewusst sind (S. 34) – zum »intertextuellen Prätext« (S. 36) erklärt. Aus den Ähnlichkeiten zwischen Nietzsche und Walser werden unter der Hand direkte Abhängigkeiten. Bei Fritz Kocher’s Aufsätzen, Walsers erster Buchpublikation, erfasst das Spiel mit der Herausgeberfiktion und den Autorinstanzen das ganze Buch. Das wird hier im Anschluss an die Forschung ausführlich referiert. Dass dadurch »Irritationen und Widersprüchlichkeiten« entstehen, ist offensichtlich (S. 49); dafür, dass diese aber »mit dem poetologischen Verfahren Nietzsches interferieren« (ebd.), bleibt das Kapitel die konkreten Belege schuldig. Bei Walsers Spaziergang lässt sich Nietzsches Begriff von den »Gangarten des Denkens« an sich produktiv mit Walsers Verfahren des schreibenden Spazierens und Abschweifens konstellieren und assoziieren. Zur viel gedeuteten,

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rätselhaften Figur des »Riesen Tomzack«, der als »Übermensch« auch eine Figuration Zarathustras ist, kann Strinz einige neue Facetten hinzufügen: der »Schmerz« und vor allem der »Blitz«, unter dem die »Zarathustra-Miniatur«, wie Strinz sie nennt (S. 67), im Spaziergang einschlägt. Dieser Begegnung wird zu Recht die Begegnung mit dem »Mann in ungezügeltem Aufruhrzustand« in der Erzählung Hans zur Seite gestellt, als »Zarathustra-Miniatur II«. Sie verdiente allerdings eine textgenauere Untersuchung. Auch die weitere Kontextualisierung beider Szenen vermag nicht ganz zu überzeugen, so etwa beim Spaziergang der Verweis auf den Krieg, der im ganzen Text präsent ist und nicht erst an seinem Ende ausbricht (S. 107). Interessant dagegen der Hinweis auf den Roman Hans der Träumer von Rudolf Huch (1903), in dem gewisse Züge von Walsers späterer Erzählung Hans ausgemacht werden können – dass dieser Autor mit Mehr Goethe schon 1899 eine eigene Nietzsche-Polemik vorgelegt hat, hätte Strinz vermutlich noch als Argument nutzen können. In dieses Kapitel eingeschachtelt wird ein Exkurs zu Walsers späteren Unterhaltung des Gutmütigen mit dem Dämonischen, die in das NietzscheJahr 1925 (dem 25. Todestag) fällt: originell, allerdings nicht völlig plausibel, wie dies mit Zarathustras Unterhaltung mit dem »Feuerhund« parallelisiert wird. Doch klar ist, dass sich das Spiel mit Erzählinstanzen, Metalepsen und selbstreflexiven Schlaufen in Walsers Berner Zeit radikalisiert, vor allem in den Mikrogramm-Entwürfen, die im zweiten Teil der Arbeit ins Zentrum rücken. Dem allein jedoch eine spezifische Nietzsche-Nähe abzugewinnen, ist weniger evident. So wird ein Mikrogramm zu Prosper Merimée zwar einleuchtend auf sein Spiel mit den narrativen Instanzen und möglichen Textanfängen hin befragt. Doch ein solches Spiel ließe sich auch in vielen weiteren Mikrogrammen beobachten. Gewiss: Die »Gangart« des Textes etwa wird hier mit dem Satz »Gut, nur sorgsam weiter. Nur nicht gesprengt« (zit. S. 119) poetologisch kommentiert. Nur lässt sich aus dieser – auf eine berndeutsche idiomatische Formel zu beziehenden – Mahnung zur Langsamkeit kaum auf »Sprengen« »im reittechnischen Wortsinn« und gar auf nietzscheanischen »Sprengstoff« schließen, wie dies der Verfasser in einer Fußnote versucht (ebd.). Der direkte Nietzsche-Bezug wirkt hier ziemlich gezwungen. Zum Räuber-Roman (Strinz nennt ihn, um die Gattungsfrage nicht zu präjudizieren: »Räuber-Text«) tritt die Untersuchung mit der (etwas umständlich formulierten) These an, »dass die Texte Walsers, insbesondere der Räuber, ausgehend vom Fokus auf Nietzsches Subjektkritik mit der Poetologie seiner Texte als ästhetischer Vollzug dieser interferieren« (S. 124). Tatsächlich scheint die Subjektkritik Nietzsches wie eine Wurzel jener pluralen Subjektivität, jener Stimmenvielfalt und Polyphonie, welche mit den Mikrogrammen auch den Räuber charakterisieren (S. 125). Auch für die episodenhafte, abschweifende »Gangart« des Romans kann man sich auf Nietzsche beziehen, ebenso wie für die metaleptischen Wechsel der Ebenen, oder für den Sprung zwischen einer Autor- und einer textinternen Rezensenten-Instanz.

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Diese narrativen Techniken hat die Forschung zum Roman jedoch schon eingehend herausgearbeitet, und sie sind nicht Nietzsches Privileg. Längst vorher hat sie etwa auch ein Jean Paul praktiziert, den man hier ebenso gut zum poetologischen Paten erklären könnte, oder Tieck, dessen Gestiefelter Kater denn auch als »Prätext« beigezogen wird – allerdings nicht für den Räuber-Roman selbst (S. 138). Ohnehin springt die eklektische Deutung immer wieder zu anderen, scheinbar »ähnlichen« Stellen in Walsers früherem Werk und flicht dabei gelegentlich auch gleich Nietzsche-Zitate mit ein (so S. 135). Die Suche nach Prätexten, etwa aus dem Bereich des Liebesromans, bricht schließlich bei der allzu kühnen Parallelisierung des Eingangssatzes mit dem von Kafkas Process-Roman ab (S. 141), während die – an sich bekannte – Referenz auf C. F. Meyers Schuss von der Kanzel in eine Fußnote verbannt wird (S. 141 f.). Produktiver ist die Untersuchung der »Subjekts-Vielheit«, wie sie Nietzsche in Jenseits von Gut und Böse bezeichnet (zit. S. 162 u. ö.), bei Walser am Motiv des Spiegels, wie es auch im Räuber-Roman auftritt. Auch hier springt der Verfasser aber schnell zu Parallelstellen aus früheren Werken Walsers zurück, die dann gleich auch mit Nietzsche-Stellen konstelliert werden. Dagegen scheint ihm Walsers 1925, im Entstehungsjahr des Räubers, in verschiedenen Zeitungen publizierter Text Der Spiegel offenbar entgangen zu sein – er hätte vielleicht die etwas vage Argumentation zu den beiden Spiegel-Stellen im Roman noch stützen können. Mit August Klingemanns Nachtwachen (S. 150) verweist er hier erneut, an sich völlig zu Recht, auf jene Poetologie der Romantik, die für die von ihm anvisierten Phänomene bei Walser deutlichere und explizitere Referenzen sind als Nietzsche. Erstaunlich und unverständlich jedoch, dass ausgerechnet jene Stelle des Romans, an der sich der Räuber nach seinem skandalösen Beifall zur Rathenau-Ermordung explizit auf Nietzsche beruft, nicht analysiert wird. Sie hätte auch im Zusammenhang der Frage nach der Überkreuzung von Zuschauen und Mithandeln eine Bedeutung. Diese wird anhand der von Jochen Greven herausgearbeiteten Selbstreferenz des Blickens bei Walser auf die Geburt der Tragödie bezogen, an welcher laut Nietzsche der »Urkünstler der Welt« durch seine Fähigkeit charakterisiert wird, wie ein Bild aus einem Märchen die Augen drehen und sich selbst anschauen zu können; »jetzt ist er zugleich Subject und Object, zugleich Dichter, Schauspieler und Zuschauer« (zit. S. 143 u. 151). In der Tat eine Formulierung, die wie auf Walser zugeschnitten scheint. Trotz solcher konstellativer Engführungen wirkt die Deutung des Räubers aus der Nietzsche-Optik wenig schlüssig. Sie wehrt sich sicher zu Recht, und mit Nietzsche im Rücken, gegen totalisierende Formulierungen, die diesen »Text« eindeutig als Roman festschreiben wollen. Auch eine Deutung als »Nietzsche-Glosse«, welche der Verfasser in Anlehnung an Rudolf Bohren diskutiert, wäre in der Tat wohl zu eindimensional. Doch den Beweis für die These, dass der Roman zwingend als ein »ästhetischer Vollzug« von Nietzsches Poetologie verstanden werden muss, kann er damit nicht erbringen.

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Das letzte Kapitel konzentriert sich auf Walsers »Prager Texte«. Damit meint er jene Feuilletons, die Walser in den deutschsprachigen Presseorganen von Prag zwischen 1925 und 1937 publizieren konnte. Diese Textgruppe, auch wenn sie als solche nur schwer abzugrenzen ist, radikalisiert tatsächlich, was Walser bereits früher auszeichnet: Die Pluralität der narrativen Instanzen führt hier gelegentlich bis zu einer »Dissoziierung« des Ichs, zu kaleidoskopischen Strukturen und zu einem »diegetischen Fragmentcharakter« (S. 163 f.). Dies wird jedoch nicht an konkreten Textbeispielen veranschaulicht. Die Arbeit greift vielmehr zu anderen Autoren aus dem Umkreis des Expressionismus, für die sie einen »gemeinsamen Bezug auf die Subjektivismuskonzeptionen Nietzsches und Kierkegaards« in Anspruch nimmt (S. 166). An Texten von Paul Adler oder Hans Natonek zeigt Strinz die Übergänglichkeiten der dargestellten Sinnestäuschungen in den Wahnsinn und in pathologische Formen der Ich-Dissoziation. Daraus ergeben sich einige interessante Analogien zu Texten Walsers, auch wenn über diese indirekte Kette noch kein direkter Bezug von Walser zu Nietzsche herzustellen ist. Dies gilt auch für die Kategorie der »Unverständlichkeit«, wie sie Nietzsche etwa in der Fröhlichen Wissenschaft provokativ für sich in Anspruch nimmt (zit. S. 186) – Moritz Baßler hatte sie schon 1994 produktiv für die Prosa von Walsers Generation ins Spiel gebracht. Doch statt einer Auseinandersetzung mit diesem Begriff läuft die Arbeit in Einzelbeobachtungen zu Texten von Paul Adler aus. Am Ende gibt es keine Schlussfolgerung, keine Bilanz, sondern nur das Postulat, dass weitere »Prätexte« Nietzsches und Walsers auszumachen wären. Den Begriff »Prätext« braucht der Verfasser hier wie schon früher synonym zu »Vergleichstexte« (S. 195), obschon genau darin ein methodisch entscheidender Unterschied liegt: Ist die behauptete Nähe von Walser zu Nietzsche eine der direkten intertextuellen Abhängigkeit oder entsteht sie erst in der Vergleichskonstruktion? Die Arbeit verwischt diesen Unterschied immer wieder, wenn sie zwischen Nietzsche und Walser hin und her springt. Das macht die Lektüre recht schwierig und manchmal schwer nachvollziehbar. Vielleicht liegt darin das versteckte Eingeständnis, dass es eben höchstens im – nietzscheanisch inspirierten? – Sprung möglich ist, zwischen den beiden letztlich doch so unterschiedlichen Autoren und Werken zu vermitteln. Es charakterisiert zwar das Problem recht gut, welches sich Bastian Strinz vornimmt, dass er in seinem Versuch, Nietzsche und Walser einander näher zu rücken, fast inflationär auf das Wort »ähnlich« zurückgreifen muss, doch kann dieses dafür noch keine befriedigende analytische Antwort geben. Peter Utz

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Miriam Annabelle Wray: Ornament und Mode bei Kafka, Broch und Musil. Literatur- und kulturwissenschaftliche Perspektiven auf das Fin de Siècle in Wien. Bielefeld: transcript 2019 (= Lettre). 191 S. € 74,99. Im Rahmen der Suche nach einem neuen, umfassenden Stil nimmt das Ornament am Ende des 19. Jahrhunderts eine zentrale Rolle ein, da es als reinste Verkörperung des Stils gilt. In diesem Sinne lässt sich der Ornamentdiskurs, wie er von Owen Jones, Gottfried Semper, Alois Riegl, John Ruskin, Wilhelm Worringer und Adolf Loos in kunst- und kulturtheoretischer Hinsicht geführt worden ist, als ein Feld deuten, innerhalb dessen zentrale Fragen der Moderne früh diskutiert wurden.16 In Ablehnung des maschinell massenproduzierten Ornaments erfuhr das künstlerische Ornament seit Mitte des 19. Jahrhunderts zunächst eine Aufwertung und avancierte zum Vehikel ästhetischer Reformen in Architektur, Malerei, Kunstgewerbe und Kleidung. Als Ausdruck menschlicher Kreativität (Jones), im Sinne eines Kunst- und Epochensymbols (Semper, Riegl), als Träger ethischer Prinzipien (Ruskin) wie mit seinem Drang zur Abstraktion (Worringer) gelingt es im Jugendstil, das Ornament aus seiner dienenden Funktion als eine die Schönheit eines Gebäudes, Möbelstücks oder Kleides lediglich unterstützende Ergänzung partiell zu befreien. Das gattungsübergreifende und gattungsverbindende Ornament wirkt so zugleich als Motor im Prozess einer Enthierarchisierung der Künste, von dem sich v. a. die Vormachtstellung der Architektur bedroht sah.17 Auch vor diesem Hintergrund einer neuerlichen Austarierung der Kräfteverhältnisse im Feld der Künste ist Adolf Loos’ berühmte Kampfschrift Ornament und Verbrechen (1908) zu verstehen. Indem das Ornament hier (wie auch in Loos’ vorgeblicher Revisionsschrift Ornament und Erziehung von 1924) als feminin und sinnlich, modisch-wechselhaft, primitiv und uneuropäisch verunglimpft wird, weist Loos den Verzicht auf das Ornament nun als prägendstes Merkmal einer funktionalen Moderne aus. Miriam Annabelle Wrays Studie, die auf ihrer 2018 von der Harvard University angenommenen Dissertation basiert, widmet sich diesem spannenden kulturwissenschaftlichen Diskursfeld. Deutlicher als bislang geschehen, möchte sie es an den Bereich des Textilen und der Bekleidung anbinden (wie schon bei Semper vorgesehen) und in literaturwissenschaftlicher Hinsicht auf dafür signifikante Texte von Grete Meisel-Hess (v. a. Fanny Roth und Die Intellektuellen), Franz Kafka (v. a. Der Verschollene), Hermann Broch (Die Schlafwandler) und Robert Musil (v. a. Der Mann ohne Eigenschaften) ausweiten. Das gelingt der Autorin leider nicht immer überzeugend, was v. a. an ihrer assoziativen, sprunghaften und häufig verkürzenden, z. T. wider16 17

Vgl. Debra Schafter: The Order of Ornament, the Structure of Style. Theoretical Foundations of Modern Art and Architecture. Cambridge 2003. Vgl. María Ocón Fernández: Ornament und Moderne. Theoriebildung und Ornamentdebatte im deutschen Architekturdiskurs (1850–1930). Berlin 2004.

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sprüchlichen Argumentation liegt, die es auch der Rezensentin erschwert, einen konzisen Überblick der einzelnen, sich teilweise wiederholenden Detailbeobachtungen zu liefern. Zunächst referiert Wray die einschlägigen, oben genannten Positionen aus Kunst- und Architekturgeschichte (S. 12–31), bezieht dazu aber auch Aspekte des kolonialen Seidenhandels, der ostjüdischen Textilindustrie und des jüdisch dominierten, Shmate genannten Handels mit gebrauchten Textilien und Stoffresten ein (S. 41–52). Insbesondere die drei männlichen Autoren Kafka, Broch und Musil verfügten durch familiäre, freundschaftliche und berufliche Kontakte über Kenntnisse in den Bereichen von Textilproduktion, Handel mit Seide und Galanteriewaren sowie Modejournalismus, was in ihre Texte eingegangen ist, während bei Meisel-Hess eher ein intratextuelles Zusammenspiel ihrer emanzipatorischen Essays und Romane zu den Themen Ehe, Mutterschutz und weibliche Sexualität im Spiegel des Kleidungsverhaltens ihrer fiktionalen Femmes fragiles und Femmes émancipées zu beobachten ist (S. 52–72). Wray erweitert ihren Fokus zudem auf Siegfried Kracauers Vorstellung vom Ornament der Masse (1927), das in den geometrisch rhythmisierten Massenchoreographien der Tiller (Revue-)Girls aus der Unterhaltungsindustrie die kapitalistischen Produktionsverhältnisse der Fließbandarbeit widerspiegelt (S. 26–29). Diesen Aspekt entdeckt die Autorin im Anschluss an Mark Andersons Studie Kafka’s Clothes. Ornament and Aestheticism in the Habsburg Fin de Siècle (1992) v. a. in der Anfangsszene von Kafkas fragmentarischem Amerika-Roman Der Verschollene (1911–1914). Bei seiner Ankunft in New York, wo ihn die Freiheitsstatue statt mit ihrer Fackel mit einem Schwert in der Hand begrüßt, kann sich Karl Roßmann nicht in die tayloristisch gedeutete Bewegungsform des modernen Hafenverkehrs einfügen, da er im Unterschied zur Masse der anderen Reisenden zunächst ohne seinen Regenschirm als Gehstock und ohne Koffer unter das Schiffsdeck zurück muss: »Das modische Equipment, mit welchem Karl ausgerüstet ist, ähnelt insofern den Badehosen [!] der Tiller Girls, als es Karl in ein tayloristisches Bewegungsschema einfügen soll« (S. 34); das »Schwert als ornamentale Bestückung« negiere das amerikanische Freiheitsversprechen und beschreibe somit »auch die Idee des Ornaments als Ausgeburt des tayloristischen Systems« (S. 92). Der Begriff des Ornaments ist bei Wray also weit gefasst, reicht von seiner ursprünglichen Bedeutung als ein sich meist wiederholendes, oft abstrahiertes Muster mit symbolischer Funktion, z. B. an Gebäuden, Gegenständen oder bei der ornamentalen Bedruckung von Textilien (etwa bei den »ornamental versetzten Rauten« [S. 171] des androgynen Pierrotkostüms der Geschwister Agathe und Ulrich in Musils Mann ohne Eigenschaften), über Stickereien, Borten, Schleifen und Knöpfe an der getragenen bzw. beschriebenen Kleidung, autonomen Kleidungsaccessoires und Gegenständen wie Schmuck,

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Fellkappe, Hut, Bambusstock oder Schwert bis hin zu Körperteilen (Nase) und ganzen Körpern in selbst Ornamente formender Bewegung mit symbolischer Aussagekraft. Was als Perspektivengewinn intendiert war, gerät so schnell zur Beliebigkeit, indem beinahe alles zu einem Ornament stilisiert werden kann, wie es bei den Textinterpretationen leider auch geschieht. Ebenso wenig klar konturiert ist der im Titel genannte Begriff der Mode. Auch er eignet sich wie das Ornament als Reflexionsmedium des Modernisierungsprozesses.18 Gerade im Wechsel der Mode, ihrer Kontingenz und scheinbaren Dysfunktionalität, wie Birgit Nübel dies, ausgehend von Beobachtungen Georg Simmels, schon für die Figuration ›Mode‹ in Musils fragmentarischem Roman Der Mann ohne Eigenschaften (1930–1932) festgestellt hat,19 liegen zudem Anschlussmöglichkeiten, aber auch Unterschiede zum Ornament. Das mag ein Grund für die Verkopplung beider Begriffe in Wrays Studie gewesen sein, genauer erläutert wird es nicht. Stattdessen erscheint hier nahezu jedes Kleidungsstück, vom Reformkleid bis zur Uniform, als Mode, wird Mode also geradezu zum Synonym für Kleidung. Damit gerät die Argumentation unweigerlich in Widersprüche zum Ornamentdiskurs des Jugendstils, der – wie schon sein Name sagt – in erster Linie ein Stildiskurs war. Er wollte sich programmatisch von den Modewechseln und -auswüchsen seiner Zeit abgrenzen, auch wenn seine Erzeugnisse schließlich selbst zu Modeerscheinungen wurden.20 Besonders deutlich zeigt sich das in Wrays Auseinandersetzung mit Brochs Ornamentreflexionen in seiner Schlafwandler-Trilogie (1930–1932), welche v. a. im dritten Teil, 1918 Huguenau oder die Sachlichkeit, an die zeitsignatorischen Ornamentthesen von Semper, Riegl und Loos anknüpfen. In den dazu von der Autorin zitierten Broch-Stellen wird der Begriff des (Epochen-)Stils am Beispiel dezidiert überzeitlicher und antimodischer, da an Formen vormodischer Standes- und Berufskleidung anschließender Traditionen wie Ornat, Uniform und Livree mit ihrer ästhetisch und sozial strukturierenden Ornamentik starkgemacht, um gerade von hier aus den Zerfall der Werte in einer modern-sachlichen und damit ornamentlosen Zeit zu konstatieren. Wray hingegen beschreibt dies in ihren anschließenden Deutungsversuchen mit dem dazu in deutlichem Gegensatz stehenden Begriff der Mode.21 Das verunklart nicht nur Brochs Argumentation, sondern führt auch zu unfreiwillig paradoxen Wortschöpfungen wie der Unterscheidung 18 19

20 21

Vgl. Julia Bertschik: Mode und Moderne. Kleidung als Spiegel des Zeitgeistes in der deutschsprachigen Literatur (1770–1945). Köln u. a. 2005. Vgl. Birgit Nübel: Mode, in: Robert-Musil-Handbuch. Hg. v. B. N. u. Norbert Christian Wolf. Berlin, Boston 2016, S. 648–656, hier S. 653 f.: »Der Wechsel der Mode ersetzt das Identitätsgefühl des modernen Individuums [. . .]. Die moderne Mode wird zur Eigenschaft ohne Mensch.« Vgl. Bertschik: Mode und Moderne (Anm. 18), S. 91–101. Vgl. v. a. S. 32 u. 132 f.: »Das Ornament in der Architektur scheint [bei Broch] von ›jeglicher Zweckform‹ losgelöst zu sein, obgleich es auch ›zur Formel‹ für einen Epochenstil wird. Mode

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zwischen »ziviler und uniformer Mode« (S. 35). Aber auch der nicht näher beschriebene Koffer Roßmanns ist bei Kafka eigentlich weniger »modische[s] Equipment« (S. 34) als existentieller Archetyp, insbesondere wenn Wray später von der »Identität des Wanderers« als einer »existentielle[n] Fragestellung in Kafkas Texten« spricht, die einem »tayloristischen Bewegungsgefüge entgegengesetzt« sei (S. 109). Neben einem kurzen Blick auf Musils Grigia (1924) interessiert Wray an dessen Mann ohne Eigenschaften abschließend v. a. das Verhältnis von Identität, Sprache, Ornament und Kleidung (S. 137–173). So, wie es sich z. B. an den Frauenfiguren Leona im »Bild eines gefräßigen Löwenfells [!]« als »Einverleibung des Ornamentalen« (S. 178), Bonadea (Symbiose aus Namen und Kleidung), Clarisse (Diskurs Nietzsche contra Wagner) und Rachel (historisch-jüdische Bezüge zu Kleidung, Schneiderarbeiten und Lesen) darstelle. Als dafür paradigmatisch interpretiert Wray gleich zweimal (S. 36 f. u. 142 f.) Szenen aus Musils Anfangskapitel »Eine Art Einleitung«: In der Erwähnung der Wäschemonogramme der beiden namenlosen Zeugen des Verkehrsunfalls sieht sie, wie »das Individuum durch seinen Eigennamen und durch die ornamentale Bestickung seiner Initialen zur Welt der Sprache gebracht ist« (S. 36); im Öffnen und Schließen des Rocks des Unfallopfers durch die umstehenden Passanten hingegen einen Versuch seiner gesellschaftlichen Wiederbelebung (S. 37). Die unendlichen Möglichkeiten der Raum-, Wohn- und Selbstgestaltung lieferten Ulrich, dem Mann ohne Eigenschaften, schließlich äußere Hülsen, die »nicht Ausdruck einer eigenen Identität, sondern eines [Identitäts-]Diskurses sind« (S. 147). Im Texte und Textilien auch formalästhetisch verbindenden »Verknoten und Verflechten von Diskursen, die sich de-komponieren lassen, jedoch als Telos den Diskurs selbst setzen«, sieht die Autorin daher, für die Musil-Forschung weniger überraschend,22 das Charakteristikum eines »Erzählteppich« seines essayistischen Romanfragments, das »im ›Fortwursteln‹ zu enden scheint« (S. 178). Eine stärkere Einbindung formalästhetischer Aspekte des Textilen und v. a. des Ornamentalen hätte man sich auch für die anderen Texte gewünscht, etwa bezüglich der sich in Parallelgeschichten auflösenden Romanform von Brochs Huguenau oder die Sachlichkeit oder der täuschenden perspektivischen Verzerrungen und Verschiebungen in Kafkas Der Verschollene. Stattdessen begnügt sich Wray hier mit kurzen Hinweisen auf die Schreibstile von Kafka (»asketisch[ ]«, S. 40) und Broch (»essayistisch und melodramatisch«, S. 40).

22

und Ornamentik erscheinen in der Frage um eine Loslösung von jeglicher Zweckform komplex.« Vgl. etwa Walter Moser: Diskursexperimente im Romantext. Zu Musils Der Mann ohne Eigenschaften, in: Robert Musil. Untersuchungen. Hg. v. Uwe Baur u. Elisabeth Castex. Königstein i. Ts. 1980, S. 170–197.

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Ihr eigener Stil sowie der Aufbau ihrer Arbeit spiegeln dagegen leider die anfangs erwähnten Argumentations- und Begriffsschwächen wider, was bei der Lektüre irritiert und diese erschwert. So sind die einleitenden Bemerkungen zum strukturellen Aufbau des Buches (Kap. 2.4) beispielsweise erst nach zwei bereits detailliert ins Thema einsteigenden Kapiteln über verschiedene Ornamenttheorien angeordnet (2.2 u. 2.3). Dadurch kommt es zu der etwas absurden Situation, dass in der einleitenden Vorausschau auf das Kommende, die zudem schon mit einzelnen (später erneut aufgenommenen) Textinterpretationen aufwartet, die vorangegangenen Ornamentkapitel bereits resümiert werden müssen (S. 32 f.; die wohl später vorgenommene Nummerierung der vorangestellten Danksagung führt hier außerdem zu einer falschen Kapitelzählung). Häufig liest man grammatikalisch und logisch unstimmige Sätze, wie »Das Ornament und das Kuriose sind Schauplatz der Spannungen von dem Ich und seiner äußeren Nachahmung zu Beginn des 20. Jahrhunderts« (S. 76), die einen ratlos machen. Teilweise fehlen Anführungszeichen zur Kennzeichnung von Textzitaten (z. B. S. 67 f.), finden sich Tautologien (»minutiös genau«, S. 93) oder divergierende bzw. falsche Schreibungen von Wörtern (Reflektion/Reflexion). Das recht schmale, »Bibliografie« genannte Literaturverzeichnis (S. 179–191) gliedert sich darüber hinaus in zwei Teile, dessen erster neben den Quellen irritierenderweise auch schon ein paar (wohl als besonders relevant erachtete) Titel der Sekundärliteratur auflistet, während der zweite lediglich eine »Auswahl sachverwandter Sekundärliteratur« bietet. Das führt dazu, dass einige der im Buch genutzten Titel der Forschungsliteratur doppelt, andere hingegen gar nicht aufgeführt und dadurch nur schwer auffindbar sind. Dies alles ist schade, und man hätte sich eine intensivere Betreuung der Arbeit und des Manuskripts gewünscht, da so der Zugang zu einem interessanten Themenkomplex eher verstellt als eröffnet wird. Julia Bertschik

Andreas Blödorn, Christof Hamann, Christoph Jürgensen (Hg.): Erzählte Moderne. Fiktionale Welten in den 1920er Jahren. Göttingen: Wallstein 2018. 442 S. € 39,90. Vorliegender Band ist eine Festschrift für Michael Scheffel zum 60. Geburtstag. Dass dies im Titel nicht ersichtlich ist, bedeutet eine Aufwertung: Nicht die Person, sondern ein Forschungsschwerpunkt des Geehrten steht im Mittelpunkt der Betrachtung. Es sind besonders zwei von Scheffels Forschungsfeldern, die für diesen Band von Bedeutung sind: die Erzähl- und die Schnitzler-Forschung – bekanntlich leitet Scheffel zusammen mit Wolfgang Lukas das Forschungsprojekt »Arthur Schnitzler: Digitale historisch-kritische Edi-

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Ihr eigener Stil sowie der Aufbau ihrer Arbeit spiegeln dagegen leider die anfangs erwähnten Argumentations- und Begriffsschwächen wider, was bei der Lektüre irritiert und diese erschwert. So sind die einleitenden Bemerkungen zum strukturellen Aufbau des Buches (Kap. 2.4) beispielsweise erst nach zwei bereits detailliert ins Thema einsteigenden Kapiteln über verschiedene Ornamenttheorien angeordnet (2.2 u. 2.3). Dadurch kommt es zu der etwas absurden Situation, dass in der einleitenden Vorausschau auf das Kommende, die zudem schon mit einzelnen (später erneut aufgenommenen) Textinterpretationen aufwartet, die vorangegangenen Ornamentkapitel bereits resümiert werden müssen (S. 32 f.; die wohl später vorgenommene Nummerierung der vorangestellten Danksagung führt hier außerdem zu einer falschen Kapitelzählung). Häufig liest man grammatikalisch und logisch unstimmige Sätze, wie »Das Ornament und das Kuriose sind Schauplatz der Spannungen von dem Ich und seiner äußeren Nachahmung zu Beginn des 20. Jahrhunderts« (S. 76), die einen ratlos machen. Teilweise fehlen Anführungszeichen zur Kennzeichnung von Textzitaten (z. B. S. 67 f.), finden sich Tautologien (»minutiös genau«, S. 93) oder divergierende bzw. falsche Schreibungen von Wörtern (Reflektion/Reflexion). Das recht schmale, »Bibliografie« genannte Literaturverzeichnis (S. 179–191) gliedert sich darüber hinaus in zwei Teile, dessen erster neben den Quellen irritierenderweise auch schon ein paar (wohl als besonders relevant erachtete) Titel der Sekundärliteratur auflistet, während der zweite lediglich eine »Auswahl sachverwandter Sekundärliteratur« bietet. Das führt dazu, dass einige der im Buch genutzten Titel der Forschungsliteratur doppelt, andere hingegen gar nicht aufgeführt und dadurch nur schwer auffindbar sind. Dies alles ist schade, und man hätte sich eine intensivere Betreuung der Arbeit und des Manuskripts gewünscht, da so der Zugang zu einem interessanten Themenkomplex eher verstellt als eröffnet wird. Julia Bertschik

Andreas Blödorn, Christof Hamann, Christoph Jürgensen (Hg.): Erzählte Moderne. Fiktionale Welten in den 1920er Jahren. Göttingen: Wallstein 2018. 442 S. € 39,90. Vorliegender Band ist eine Festschrift für Michael Scheffel zum 60. Geburtstag. Dass dies im Titel nicht ersichtlich ist, bedeutet eine Aufwertung: Nicht die Person, sondern ein Forschungsschwerpunkt des Geehrten steht im Mittelpunkt der Betrachtung. Es sind besonders zwei von Scheffels Forschungsfeldern, die für diesen Band von Bedeutung sind: die Erzähl- und die Schnitzler-Forschung – bekanntlich leitet Scheffel zusammen mit Wolfgang Lukas das Forschungsprojekt »Arthur Schnitzler: Digitale historisch-kritische Edi-

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tion (Werke 1905 bis 1931)«. Arthur Schnitzler, mit dem sich vier Beiträge beschäftigen, ist hier dementsprechend am stärksten vertreten. Da bei einer Festschrift nicht nur das Thema, sondern auch das Netzwerk der ForscherInnen, die mit dem Adressaten verbunden sind, zu berücksichtigen ist, wirken die Beiträge heterogen. Der einzige klare Orientierungspunkt ist der Zeitraum der 1920er Jahre. Die in diesem Zeitraum beobachteten Phänomene umspannen verschiedene Medien und Genres. Wenn die, exklusive der Einleitung, insgesamt 24 Beiträge in die Sektionen »Erzählen in der deutschsprachigen Literatur der Moderne«, »Erzählen in der internationalen Literatur der Moderne« und »Mediale Aspekte des Erzählens in der Moderne« unterteilt sind, so geht es dabei weder durchwegs um Erzählungen oder um das Erzählen, noch ist die Frage geklärt, was unter »Moderne« zu verstehen sei. Denn der Band suggeriert, dass die 1920er Jahre im Zentrum der Moderne stünden. Das zu behaupten, ist gewiss nicht abwegig, doch die in der Einleitung angesprochene Komplexität und Ambivalenz der Moderne »zwischen den Polen Provokation und Institution« (S. 11, die Herausgeber zitieren hier Sabina Beckers und Helmuth Kiesels Einleitung zum 2007 erschienenen Band Literarische Moderne) ist so allgemein, dass sie sich zur Charakterisierung jeder beliebigen Epoche (Barock, Aufklärung, Sturm und Drang, Klassik, Romantik etc.) eignete. »Moderne« erscheint hier gewissermaßen als »semantischer Universalsack« (H. M. Enzensberger), in dem alles Mögliche untergebracht werden kann. Zerrissenheit und Fragmentierung wären Metaphern, in denen sich die Härte und Schärfe der diese Epoche kennzeichnenden Brüche deutlicher artikulieren. Genauer geht die Einleitung auf Formen des Erzählens ein und kann dabei auf wichtige Arbeiten Michael Scheffels wie etwa seine Formen selbstreflexiven Erzählens (1997) rekurrieren. Narratologische Fragestellungen zeichnen auch eine Reihe von Beiträgen aus, deren Erkenntnisgewinn unzweifelhaft ist. Susanne Catrein und Christof Hamann zeigen in ihrem Aufsatz über Robert Walsers Seeland eine Form des Erzählens, das weitgehend auf Handlung verzichtet und stattdessen die optische Wahrnehmung ins Zentrum rückt, sodass sich »kohärente Handlungsfolgen in eine kontingente Serie von Einzelbildern« (S. 32) auflösen. Hans-Harald Müller demonstriert in seiner präzisen narratologischen Analyse von Leo Perutz’ Roman Der schwedische Reiter, wie hier ästhetische, auf narratologischer Selbstreflexivität beruhende Ordnungsprinzipien mit moralischen Kategorien kollidieren. Besonders aufschlussreich ist Roy Sommers Auseinandersetzung mit den narratologischen Konzepten der ›Stimme‹. Sommer setzt sich mit rezenteren erzähltheoretischen Ansätzen auseinander, die in bestimmten Fällen zum einen auf eine Erzählerfigur bzw. auf das Erzählen als kommunikativen Akt verzichten zu können glauben, zum anderen die von der klassischen Erzähltheorie als unüberwindbar aufgefasste Grenze zwischen Autor und Erzähler in Frage stellen. Damit verbindet sich in der rhetorischen Theorie des Erzählens eine

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Kritik an einem wichtigen Aspekt der strukturalen Erzähltheorie, wonach den Figuren und der Figurenrede keine Bedeutung für den Erzählakt zukomme, da sie Teil der erzählten Welt und deshalb nicht dem discourse, dem ›Wie‹, sondern der story, dem ›Was‹ der Erzählung zugeordnet werden. Dieser Kritik steht Roy Sommer mit Sympathie gegenüber: »Anstatt als Fokalisierungsinstanzen nur sehen oder wahrnehmen zu können, sollen [die Figuren] künftig auch selbst erzählend die Stimme erheben können.« (S. 250) Im Übrigen plädiert er für eine »narratologische Artenvielfalt« (S. 249), wobei der Wert des jeweiligen Ansatzes an seinem heuristischen Nutzen zu messen sei. Neben solchen narratologisch ausgerichteten spielen in vorliegendem Band Beiträge, die sich stärker mit gattungstheoretischen und -historischen Themen befassen, eine Rolle. Jacques Le Rider relativiert Karl Kraus’ Aversion gegen Romane, indem er die epische Qualität seiner Letzten Tage der Menschheit hervorhebt und damit auf die Durchlässigkeit der Gattungsgrenzen hinweist. Für Gabriele Sander ist Marieluise Fleißers Erzählzyklus Ein Pfund Orangen und neun andere Geschichten (1929), in dem sich die Muster des (Anti-)Märchens und der Fallgeschichte überkreuzen und verschränken, beispielhaft für einen spielerischen und ironischen Umgang mit Gattungskonventionen. Mit einer Autorin, die der Verfasser anachronistisch der »zweiten Phase der Moderne« (S. 310) zuordnet, beschäftigt sich Rüdiger Zymner, nämlich mit Willa Cather. Ihren Roman The Professor’s House (1925) betrachtet er in einem close reading als Beispiel eines, wie Cather ihn selbst nennt, »Novel Démeublé«, der dem Muster des realistischen Romans des 19. Jahrhunderts einen verknappten, prägnanten »imaginativen Realismus« (S. 311) entgegenstellt. Ein besonderes Genre, das in der Zeit zwischen den Weltkriegen aufkam, untersucht in der dritten Sektion Stephan Brössel, nämlich die Filmromane von Arnold Höllriegel. So verdienstvoll die Erinnerung an diesen weitgehend vergessenen Autor sein mag, zeigt sich in diesem Aufsatz eine auch für andere Beiträge bezeichnende Schwäche des Bandes: Die Fokussierung auf einen einzelnen Autor vernachlässigt den Kontext. Die vom Verfasser ausgeblendeten zeitgenössischen Filmerzählungen von Otto Soyka, Luigi Pirandello, Arnolt Bronnen, Joseph Roth u. v. a. m. bezeugen, dass es sich hier um ein epochentypisches Subgenre handelt – darauf hat etwa schon Andrea Capovilla in ihrer Studie Der lebendige Schatten (1994) hingewiesen. Eine solche Kontextualisierung erscheint relevanter als die Subsumierung unter den vagen Kategorien des Neuen oder Avantgardistischen, wie sie der Verfasser in einem kurzen Nachspann unternimmt. Wie bereits erwähnt, bildet das Werk Arthur Schnitzlers einen weiteren Schwerpunkt des Bandes. Dass dies nicht nur mit der Ehrung Michael Scheffels zu begründen ist, liegt auf der Hand. Die Herausgeber verweisen zu Recht auf die Vielfalt der Erzählformen, mit denen Schnitzler gerade auch in seinem Spätwerk experimentiert hat. Wolfgang Lukas’ Beitrag zu Schnitzlers Casa-

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nova-Werken ist allerdings mehr stoff- und motivgeschichtlich ausgerichtet: Im Zentrum des Interesses stehen die Figur des Abenteurers, der Generationen- und Geschlechterkonflikt sowie das Verhältnis zwischen individuellem Leben und kollektivem »Lebensstrom« (S. 186). Mit einer weniger bekannten Erzählung Schnitzlers, dem 1932 postum erschienenen Letzten Brief eines Literaten, befasst sich der Beitrag von Christian Belz. Auch hierbei handelt es sich nicht um eine narratologische Analyse, vielmehr untersucht der Verfasser Schnitzlers Typologie des Dichters und des Literaten, die dieser 1927 in Der Geist im Wort und der Geist in der That. Vorläufige Bemerkungen zu zwei Diagrammen entwarf. Vor dieser Folie erscheint Schnitzlers Erzählung als Kritik an einer durchaus zeittypischen wertenden, ›dünkelhaften‹ Dichotomie zwischen den beiden Typen. Der dritte Beitrag zu Schnitzler stammt von Arne Karsten. Er rekonstruiert hauptsächlich aus Schnitzlers Tagebüchern die Biographie von Stephanie Bachrach, die, wie Karsten überzeugend darlegt, ein Vorbild für die Figur des Fräulein Else (1924) bildete. Dabei fällt eine signifikante Verschiebung der zeitlichen Parameter auf: Während der Bankrott von Bachrachs Vater auf das Jahr 1905 fällt und langfristig den Suizid der Tochter 1917 mitbedingt zu haben scheint, sind es die Erfahrungen der Kriegsund Nachkriegsinflation, die in Schnitzlers 1896 spielende Erzählung einfließen. Mit einer speziellen textgenetischen und mediengeschichtlichen Frage beschäftigt sich der vierte der Schnitzler gewidmeten Beiträge. Kristina Fink, die an der erwähnten, von Wolfgang Lukas und Michael Scheffel besorgten digitalen historisch-kritischen Schnitzler-Edition mitarbeitet, präsentiert die Ergebnisse einer genauen Untersuchung und Datierung der Typoskripte von Flucht in die Finsternis und Fräulein Else. Mit einem Seitenhieb gegen die Wiener Edition, welche die Wiedergabe und Analyse der maschinenschriftlichen Typoskripte vernachlässigt habe, plädiert die Verfasserin dafür, im Rahmen einer ›Schreibforschung‹ die (oft handschriftlich korrigierte) Maschinenschrift genauso wichtig zu nehmen wie die Handschrift. Ebenso wie dieser fällt auch Michael Tötebergs stärker literatursoziologisch und gattungsgeschichtlich ausgerichteter Beitrag zu deutschsprachigen Drehbuchautoren der Zwischenkriegszeit in den dritten, den ›medialen Aspekten des Erzählens‹ gewidmeten Abschnitt des Bandes. Das Drehbuch wird dabei, mit einem Ausdruck von Kurt Tucholsky, als »Industriegattung« (S. 395), als eine Gebrauchsform verstanden, die sich ganz in den Dienst des Regisseurs und der Filmproduktion zu stellen hat und für die der »künstlerische Ehrgeiz« (S. 407) eines Dichters abträglich ist. Ein Gewinn wäre es, wenn die durchaus überzeugenden Argumente zusätzlich durch Zitate aus den Drehbüchern unterstützt, gewissermaßen durch ›O-Ton‹ veranschaulicht würden. Um die Intermedialität von Literatur und Film, konkret um das Wechselverhältnis zwischen Norbert Jacques’ Roman Dr. Mabuse, der Spieler (1921) und Fritz Langs gleichnamiger Verfilmung (D 1922), geht es in Andreas Blödorns Beitrag. Anhand der Figur des ›beobachteten Beobachters‹

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demonstriert er, wie sich zugleich die beiden Medien Film und Literatur gegenseitig ›beobachten‹. Wie Blödorn in Anschluss an Käte Hamburger und Michael Scheffel argumentiert, kann die epische Fiktion »die Innensicht [. . .] aus der Außensicht erfahrbar machen« (S. 415), sodass im Roman die Innensicht des Staatsanwalts, der als Instanz einer Beobachtung zweiter Ordnung auftritt, ihrerseits »aus der erzählerischen Außensicht imaginativ mitvollzogen« (S. 416) wird. Im Unterschied zum Roman könne der Film »Figuren nur von außen zeigen« (S. 422): Die Kamera könne im Stummfilm zwar den Wahrnehmungsstandpunkt der Figuren, ihren ›Blick‹ übernehmen, aber nicht das Figurenwissen zeigen – dieses werde im Stummfilm durch die Zwischentexte vermittelt. In diesen werde die Romanerzählung in Dialoge verwandelt. Film und Roman, so Blödorn, kompensieren ihre jeweiligen Defizite durch Anleihen beim konkurrierenden Medium: der Film durch theatrale Inszenierungen, der Roman durch abrupte Perspektivenwechsel und ›filmische‹ Montagetechnik, mit denen Effekte einer Dynamisierung erzeugt werden, während der Film solche Beschleunigung »durch Beleuchtungswechsel und schnelle Bewegungsabläufe wie Verfolgungsjagden nicht nur mittelbar zu erzählen, sondern [. . .] unmittelbar zu zeigen« (S. 422) vermag. Der letzte Aufsatz in vorliegendem Band beschäftigt sich mit einer Kunstform, die Text und Musik verbindet: dem Schlager. Obwohl Christoph Jürgensen seinen Beitrag mit einem Resümee der von Adorno in dessen Einleitung in die Musiksoziologie geführten Polemik gegen den Schlager beginnt, blendet er in seiner Analyse den musikwissenschaftlichen Aspekt weitgehend aus. Es geht ihm in erster Linie um die Schlagertexte, die er in drei Phasen einteilt: Die erste, Anfang der 1920er Jahre, durchziehen ein kolonialistischer Diskurs und »Restbestände wilhelminischer Superioritätsgefühle« (S. 435) – begriffen als aggressive Gegenbewegung zur Nachkriegsdepression. Die zweite, Mitte der 1920er Jahre, ist zwar ebenso von einem Wunscherfüllungsprogramm geprägt, aber die Sehnsucht nach der Ferne kann nun entsprechend den mit dem wirtschaftlichen Aufschwung verbundenen realen Reisemöglichkeiten entspannter auftreten – dem ironisch gegen die Adorno’sche Abwertung gerichteten, von G. G. Gervinus entlehnten Diktum Jürgensens zufolge befindet sich der Schlager nun »auf einer heiteren Höhe mit sich selbst versöhnt« (S. 437). Die letzte Phase markiert sodann die Selbstreflexion des Schlagers, in dem seine Topoi – »Ferne, Abenteuer und Liebe« (S. 439) – aufgegriffen und parodistisch unterminiert werden. Der Schlager erweist sich so als ein kultur- und mentalitätsgeschichtlich äußerst aufschlussreiches Phänomen. Wer sich von diesem Band eine Systematik des modernen Erzählens erwartet, wird enttäuscht. Im Gegenzug belohnt er uns mit einer Fülle von bislang vernachlässigten Einzelheiten und konkreten Erkenntnissen. Die Vielfalt der Methoden, der An- und Einsichten, die in diesem Rahmen nur an einigen Beispielen aufgezeigt werden konnte, erzeugt ein schillerndes Mosaik –

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und die Lust, ihm weitere Steinchen hinzuzufügen. Die spannungsgeladene Dynamik und die traumatischen Brüche, welche dieses Jahrzehnt charakterisieren, sind wohl in der Zersplitterung adäquater zu erfassen als in einem vereinheitlichenden Panorama. Roland Innerhofer

Matthias Bock: Figurationen des Augenblicks. Zur Ästhetik fetischistischer Anschauung in Literatur und Psychoanalyse. Freiburg i. Br. u. a.: Rombach 2018 (= Litterae, Bd. 234). 313 S. € 58,–. Literatur – selbst ein kulturtheoretisches Wissen generierend – prägt, wie Matthias Bock in seiner diskursübergreifenden Studie Figurationen des Augenblicks nachweist, das psychoanalytische Verständnis von Fetischismus als ästhetisches Phänomen der Moderne maßgeblich. Angesichts dieser Erkenntnis einer Untersuchung zur Ästhetik fetischistischer Anschauung, so der Untertitel, der das Forschungsdesiderat pointiert benennt, stellt sich die Frage, wie die Forschung zur Psychoanalyse ihren Fetischismus-Begriff bisher ohne Robert Musil, Thomas Mann u. a. bestimmen konnte. Bocks »Konzeptualisierung einer Ästhetik des Fetischismus« (S. 10) zielt darauf, ein Modell »ästhetischen Erlebens im Fetischismus« (S. 9) zu entwickeln, welches der ModerneForschung neue Perspektiven eröffnet, insofern die fetischistischen Beziehungskonstellationen der Figuren in den untersuchten Texten, wie Bock zeigt, das reflexive Moment der Moderne maßgeblich mit konstituieren. Es ist das Verdienst der Studie, die dichotome Gegenüberstellung von fetischisiertem Objekt und fetischisierendem Subjekt aufzubrechen, indem sie zeigt, wie das Begehrte nicht nur angesehen wird, sondern selbst – in einem Moment (schöpferischer) Selbst-Reflexion zwischen den Figuren – zurückblickt. Das zentrale Anliegen besteht darin, die Dynamik von Perspektiv- und Blickwechseln zwischen fetischisierten Körpern literarischer Figuren, die als Projektionsfläche ästhetischer Augenblicke der Moderne analysiert werden, beschreibbar zu machen. In einem umfangreichen Kapitel zu Robert Musil stellt Bock unter Bezugnahme auf den Essay Ansätze zu neuer Ästhetik (1925) sowie am Beispiel der Figurenpaarungen Ulrich/Agathe und Törleß/Basini heraus, dass der Figurenkörper im Zuge einer projektiven Spiegelung nach Lacan im ›anderen Zustand‹ als fetischisiertes (Kunst-)Objekt ›verlebendigt‹ werde (vgl. S. 169). In theoretischer Hinsicht bestimmt Bock den Fetischismus-Diskurs als ›entsexualisierte‹ (vgl. S. 13) »Kategorie der Kulturanalyse« (S. 28) im Spannungsfeld von Literatur und Psychoanalyse auf der Grundlage von Freud und Lacan. Ein Zusammenhang zwischen Projektion, Subjektspaltung und Fetischismus wird hergestellt: Indem das Subjekt verdrängte Wünsche auf

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und die Lust, ihm weitere Steinchen hinzuzufügen. Die spannungsgeladene Dynamik und die traumatischen Brüche, welche dieses Jahrzehnt charakterisieren, sind wohl in der Zersplitterung adäquater zu erfassen als in einem vereinheitlichenden Panorama. Roland Innerhofer

Matthias Bock: Figurationen des Augenblicks. Zur Ästhetik fetischistischer Anschauung in Literatur und Psychoanalyse. Freiburg i. Br. u. a.: Rombach 2018 (= Litterae, Bd. 234). 313 S. € 58,–. Literatur – selbst ein kulturtheoretisches Wissen generierend – prägt, wie Matthias Bock in seiner diskursübergreifenden Studie Figurationen des Augenblicks nachweist, das psychoanalytische Verständnis von Fetischismus als ästhetisches Phänomen der Moderne maßgeblich. Angesichts dieser Erkenntnis einer Untersuchung zur Ästhetik fetischistischer Anschauung, so der Untertitel, der das Forschungsdesiderat pointiert benennt, stellt sich die Frage, wie die Forschung zur Psychoanalyse ihren Fetischismus-Begriff bisher ohne Robert Musil, Thomas Mann u. a. bestimmen konnte. Bocks »Konzeptualisierung einer Ästhetik des Fetischismus« (S. 10) zielt darauf, ein Modell »ästhetischen Erlebens im Fetischismus« (S. 9) zu entwickeln, welches der ModerneForschung neue Perspektiven eröffnet, insofern die fetischistischen Beziehungskonstellationen der Figuren in den untersuchten Texten, wie Bock zeigt, das reflexive Moment der Moderne maßgeblich mit konstituieren. Es ist das Verdienst der Studie, die dichotome Gegenüberstellung von fetischisiertem Objekt und fetischisierendem Subjekt aufzubrechen, indem sie zeigt, wie das Begehrte nicht nur angesehen wird, sondern selbst – in einem Moment (schöpferischer) Selbst-Reflexion zwischen den Figuren – zurückblickt. Das zentrale Anliegen besteht darin, die Dynamik von Perspektiv- und Blickwechseln zwischen fetischisierten Körpern literarischer Figuren, die als Projektionsfläche ästhetischer Augenblicke der Moderne analysiert werden, beschreibbar zu machen. In einem umfangreichen Kapitel zu Robert Musil stellt Bock unter Bezugnahme auf den Essay Ansätze zu neuer Ästhetik (1925) sowie am Beispiel der Figurenpaarungen Ulrich/Agathe und Törleß/Basini heraus, dass der Figurenkörper im Zuge einer projektiven Spiegelung nach Lacan im ›anderen Zustand‹ als fetischisiertes (Kunst-)Objekt ›verlebendigt‹ werde (vgl. S. 169). In theoretischer Hinsicht bestimmt Bock den Fetischismus-Diskurs als ›entsexualisierte‹ (vgl. S. 13) »Kategorie der Kulturanalyse« (S. 28) im Spannungsfeld von Literatur und Psychoanalyse auf der Grundlage von Freud und Lacan. Ein Zusammenhang zwischen Projektion, Subjektspaltung und Fetischismus wird hergestellt: Indem das Subjekt verdrängte Wünsche auf

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einen anderen Körper als fetischistisches Objekt projiziere, komme es in einem plötzlichen, spiegelbildlichen Perspektivwechsel zu einer (Ab-)Spaltung des Subjekts von sich selbst, das wiederum mit dem idealisierten Objekt der Begierde eins zu werden strebe. Die Stärke der Studie liegt darin, dass sie mit Freud über Freud hinausdenkt, das heißt mit anderen Worten: methodisch konsequent psychoanalytisch argumentiert sowie ›klassische‹ Paradigmen der Psychoanalyse wie die Kastrationsangst des männlichen Kindes angesichts der Penislosigkeit der Frau mit Freud referiert, gleichzeitig aber Freud weiterdenkt, indem sie den »performative[n] Blickakt als Moment der Subjektspaltung« (S. 15, Herv. i. Orig.), mithin als performativ-ästhetische Inszenierung eines als ideal konstruierten Augenblicks, in den Mittelpunkt der Betrachtung rückt: »Den Analysefokus auf die Dynamik unbewusster Vorgänge« und die Materialisierung verdrängter Wünsche »zu legen, bedeutet [. . .], das fetischisierte Objekt aus dem starren Korsett des Kastrationskomplexes [. . .] zu lösen« (S. 45). Denn in den Augenblicken fetischistischer Anschauung verkehre sich die Hierarchie zwischen dem projizierenden Subjekt und dem Objekt der Faszination, sodass das angeschaute Objekt in einem Moment plötzlicher, unheimlicher Verlebendigung als ›ganzer‹ – nicht auf einzelne, als Fetisch fungierende Körperteile reduzierter – Figurenkörper erscheine. Diese ambivalenten Wechselspiele zwischen Subjekt und Objekt, Auge und Blick, Eigenem und Fremdem, Fixierung und Dynamisierung, Spaltung und Ganzheit, Zeigen und Verschleiern bestimmt Bock als Figurationen – ein soziologisches Konzept von Norbert Elias, welches binäre Denkschemata sowie Macht- und Hierarchiestrukturen auflöst.23 In die Literaturwissenschaft findet das Konzept der Figuration Eingang, insofern damit die »relationale Anordnung« verschiedener Konstruktionen zueinander als »Verhältnis dynamischer Interaktionsstrukturen«24 beschrieben wird. Die theoretische Verbindungslinie, die Bock zwischen dem Projektions- und dem Figurationsbegriff zieht, ermöglicht eine produktive Eingrenzung und Präzisierung des Fetischismusbegriffs, der dem eher weit gefassten Verständnis von Hartmut Böhme in seinem Standardwerk Fetischismus und Kultur (2006) entgegengesetzt wird. Beginnend beim antiken Gradiva-Relief, welches auf den Protagonisten in Wilhelm Jensens gleichnamiger Erzählung einen anziehenden Reiz ausübt und von Freud in seinem Aufsatz Der Wahn und die Träume in W. Jensens ›Gradiva‹ (1907) metatextuell kommentiert wird, über E. T. A. Hoffmanns Der Sandmann (1816) und Heinrich von Kleists Der Findling (1811), bis hin 23 24

Vgl. Norbert Elias: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. [1939] Bd. 1: Wandlungen des Verhaltens in den weltlichen Oberschichten des Abendlandes. Frankfurt a. M. 21976, bes. S. LXVIII . Birgit Nübel, Anne Fleig: Figurationen der Moderne – Mode, Sport, Pornographie: Einleitung, in: Figurationen der Moderne – Mode, Sport, Pornographie. Hg. v. B. N. u. A. F. München 2011, S. 9 f.

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zu Robert Musils Die Verwirrungen des Zöglings Törleß (1906) und Thomas Manns Tod in Venedig (1912) stehen einerseits kanonische Texte der Literatur und Psychoanalyse im Mittelpunkt der Studie. Andererseits erweist es sich als ebenso produktiv wie innovativ, den Fetischismus-Begriff durch Prosa-Texte »von Autorinnen aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bzw. der Gegenwartsliteratur« (S. 30, Herv. i. Orig.) – zu nennen sind hier Elfriede Jelineks Klavierspielerin (1983) und Judith Hermanns Erzählung Fetisch (2016) – einer kritischen Re-Lektüre zu unterziehen. Matthias Bocks Studie differenziert in einer gelungenen, systematisch an inter- wie metatextuellen Verbindungslinien orientierten Analyse verschiedene Konstellationen von Augenblicken: Der ›numinose‹ respektive ›göttliche‹ Augenblick etwa wird von Bock als durch den Diskurs des tabuisierten Unheimlichen, Rätselhaften und Geheimnisvollen geprägt skizziert. So verehre beispielsweise die Figur Elvire aus Kleists Findling das Ritterbild in ihrer Schlafkammer heimlich, da dieses als »Projektionsfläche« (S. 103, Herv. i. Orig.) für Elvires latenten Wünsche bzw. als »Substitut für ein nicht vorhandenes Liebesobjekt« (S. 102) fungiere, das nicht eigentlich den Ritter Colino, sondern ein »›inzestuöse[s]‹ Begehren« (S. 109) gegenüber dem Adoptivsohn Nicolo adressiere. Der ›liminale‹ Augenblick wiederum erweise sich mit der Begrifflichkeit Victor Turners als Schwellenmoment, in dem eine fluide Transformation in eine neue Lebensphase erfolge, die zunächst krisenbesetzt und bedrohlich anmute. Indem Bock dieses kulturtheoretische Paradigma an Freuds Fetischismus-Theorie rückbindet, wird deutlich, dass insbesondere der Moment vor dem Wechsel in einen ›anderen Zustand‹ als Fetisch fixiert wird. Beispielhaft zeigt Bock dies an Leopold von Sacher-Masochs Venus im Pelz (1870), wenn die steinerne Statue zunächst als fixiertes Fetischobjekt fungiere, schließlich aber in einen hybriden Zustand der Verlebendigung gelange und damit den männlichen Herrschaftsansprüchen wie Schöpferfantasien entspräche: »Er [i. e. der männliche Protagonist] tritt sozusagen als ›Inszenator‹ eines spezifischen Frauenbildes auf und wird somit zum Schöpfer seines Idols.« (S. 133, Herv. i. Orig.) Bocks Analyse changiert insgesamt zwischen durchaus klassisch psychoanalytischen Deutungsmustern (Verdrängung, Projektion, Fixierung, Kastrationsangst, Traumabewältigung), intermedialer Bildtheorie und einem implizit gesetzten gendertheoretischen Interesse an (hegemonialen) Körper- und Geschlechtskonstruktionen. Dabei werden die Abhandlungen zur Psychoanalyse, die selbst Gegenstand der Untersuchung sind, stets im Wechsel mit der Erzähltextanalyse verhandelt. Die enge Verbindung zwischen psychoanalytischer Theorie und narratologischer Textanalyse, die die einzelnen Kapitel der Studie durchzieht, erweist sich insbesondere in Bezug auf die Bildtheorie Lacans als überaus gelungen. Denn die Augenblicke fetischistischer Anschauung haben gemeinsam, dass in ihnen – im Wechselspiel zwischen Auge und Blick – alle beteiligten Instanzen letztlich zu einem visuellen Referenzpunkt,

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zu einem Bild avancieren, das zwischen fixiertem Objekt der Betrachtung und dynamisiertem Subjekt des Betrachtens oszilliert. Das heißt laut Bock, dass auch die betrachtende Instanz, vom Objekt der Betrachtung angeblickt, selbst zum Bild erstarre – Bock spricht von ›fesselnder‹ Anziehungskraft (vgl. S. 136, Herv. i. Orig.). Aus gendertheoretischer Perspektive schließt sich hier durchaus die Frage an, inwiefern Machtverhältnisse und Hierarchien im Moment der fetischistischen Anschauung eine Festigung erfahren oder ob die – mit Lacan häufig als spiegelbildlich ›ideal‹ (vgl. S. 157) oder ›reizend‹ (vgl. S. 36 f.) – skizzierten Augenblicke die Möglichkeit der Auflösung und kritischen Reflexion geschlechtlicher Binarismen beinhalten. Es sind dies Aspekte, auf die Bocks Studie immer wieder indirekt Bezug nimmt, die allerdings bisweilen von dem sehr präsenten psychoanalytischen Begriffsrepertoire überlagert sind und erst in dem ebenso wichtigen wie gelungenen Kapitel VI zur »Performativität des Augenblicks« mit Jelinek explizit fokussiert werden. Bock selbst konstatiert, dass der Fokus auf das Verhältnis von Geschlecht und Macht »in den vorangegangenen Textanalysen immer schon präsent war, wenngleich er nicht explizit benannt wurde« (S. 225). Zu Beginn der Studie eignet sich Bock die Lacan’sche Kategorie des »Begehrens« (die allerdings erst in dem späteren Kapitel »Im Zeichen des Phallus« begrifflich bestimmt und im Kapitel »Körperöffnungen« methodisch-kritisch reflektiert wird) in der etwas vereinfachten Frage: »Was begehrt die Frau?« an und kennzeichnet Gustav Klimts Gemälde Adele Bloch-Bauer I (1907) als »Sinnbild weiblicher Sehnsucht« (S. 118). Mit der Theorie Judith Butlers, auf die Bock erst relativ am Ende der Studie Bezug nimmt, wird jedoch deutlich, dass eben diese vermeintliche Sehnsucht die »Konstruktion eines körperlichen Geschlechtsideals darstellt«, welches den »ausschließlich ›männlichen‹ Betrachtern« (S. 225) zum Machterhalt dient. Das Begehren ›der Frau‹ entspricht dann nicht so sehr einem »emanzipatorischen Zweck« (S. 156) als vielmehr, wie Bock im Kapitel zur Performativität richtig folgert, der Reproduktion »eines männlichen Weiblichkeitsbildes« (S. 229). Die durchgängige Verwendung der Kategorie des Begehrens erweist sich vor dem Hintergrund einer stringenten psychoanalytischen Methodik als folgerichtig, führt die weiblichen Figuren jedoch immer wieder auf einen Mangel und eine Sehnsucht nach Anerkennung zurück, die sie als defizitär ausweisen (vgl. S. 256). Wenn Bock am Ende seiner vielschichtigen interdiskursiven Studie, die sich den Schnittstellen von Literatur und Kunst, Textualität und Bildlichkeit besonders widmet, den Fetisch als »Perpetuum mobile der Moderne« (S. 282) bestimmt, so könnte diese Annahme einer anhaltenden Rezeptionsgeschichte fetischistischer Anschauung noch durch einen weiteren Text untermauert werden. Marlene Streeruwitz’ Roman Kreuzungen. (2008), der nicht nur als Metatext zu Thomas Manns Tod in Venedig fungiert, sondern auch Lacans Spiegelstadium kritisch reflektiert, stellt nicht Weiblichkeit, sondern Männlichkeit als Maskerade vor. Der auf Macht fixierte Protagonist, der das Geld

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zum Fetisch erhebt, läuft wie Gustav von Aschenbach durch Venedig und spiegelt sich selbst beständig narzisstisch.25 Matthias Bocks theoretische Konzeptualisierung einer Ästhetik fetischistischer Anschauung ist kulturanalytisch von großer Bedeutung, zeigt sie doch, wie die »tiefgreifende Verbundenheit« zwischen dem Subjekt und den »Objekten seiner Umwelt« (S. 268) eine produktive (Nicht-)Identität und Differenz erzeugt, die der von Norbert Elias postulierten monadischen Distanzierung Rechnung trägt, ohne sie zu perpetuieren. Die vom Subjekt selbst konstruierte Welt blickt – in einem plötzlichen Moment ästhetischer Anschauung – zurück; tut sie dies nicht, setzt sich der in der Moderne beginnende Prozess der Entfremdung fort. Mandy Dröscher-Teille

Vera Kaulbarsch: Untotenstädte. Gespenster des Ersten Weltkriegs in der literarischen Moderne. Paderborn: Wilhelm Fink 2018 (= Periplous. Münchner Studien zur Literaturwissenschaft). 434 S. € 79,90. Der Erste Weltkrieg war die Kehrseite der technisch-industriellen Modernisierung. Er hat nicht nur Millionen Menschen das Leben gekostet, sondern auch vielfältige Spuren in den westlichen Metropolen hinterlassen. Schließlich stellte er eine traumatische Zäsur dar und durchzog als verstörende Leerstelle die urbanen Lebenswelten. Die Lücken, welche die abwesenden Toten hinterließen, blieben in der Zwischenkriegszeit so irritierend gegenwärtig wie die Paradigmen manipulierter Wahrnehmung, die den Frontkämpfer in eine hochgerüstete und zugleich prekäre Reaktionsmaschine verwandelt hatten. Diese Verbindung von tödlicher Gewalt, technisiertem Maschinenkörper und gespenstischem Nachleben der Toten prägte nicht nur wissenschaftliche Diskurse, sondern auch literarische Texte der 1920er und 1930er Jahre, die sich mit den europäischen Großstädten ihrer Zeit auseinandersetzen. So lautet jedenfalls die Grundannahme von Vera Kaulbarschs Münchener Dissertationsschrift. Aus ihrer Forschungsperspektive werden Berlin, Paris und London als »Untotenstädte« (so der Haupttitel) kenntlich, als Orte für »Gespenster des Ersten Weltkriegs in der literarischen Moderne« (so der Untertitel). Das »Untote« ergibt sich aus Kaulbarschs Sicht aus der unheimlichen Präsenz von Abwesenden, die in entstellter Form die Gegenwart heimsuchen. Ihre These lautet, dass die urbanen Räume zwischen den Weltkriegen Zonen der Grenzüberschreitung bildeten. Indem sich die Unterscheidung 25

Vgl. Mandy Dröscher-Teille: Die Ewigkeit des Geldes. Kapitalismuskritik, Kulinaristik und Kunst in Marlene Streeruwitz’ Roman Kreuzungen (2008), in: Erzähltes Geld. Finanzmärkte und Krisen in Literatur, Film und Medien. Hg. v. Karsten Becker. Würzburg 2020 (= Konnex, Bd. 29), S. 107–124.

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zum Fetisch erhebt, läuft wie Gustav von Aschenbach durch Venedig und spiegelt sich selbst beständig narzisstisch.25 Matthias Bocks theoretische Konzeptualisierung einer Ästhetik fetischistischer Anschauung ist kulturanalytisch von großer Bedeutung, zeigt sie doch, wie die »tiefgreifende Verbundenheit« zwischen dem Subjekt und den »Objekten seiner Umwelt« (S. 268) eine produktive (Nicht-)Identität und Differenz erzeugt, die der von Norbert Elias postulierten monadischen Distanzierung Rechnung trägt, ohne sie zu perpetuieren. Die vom Subjekt selbst konstruierte Welt blickt – in einem plötzlichen Moment ästhetischer Anschauung – zurück; tut sie dies nicht, setzt sich der in der Moderne beginnende Prozess der Entfremdung fort. Mandy Dröscher-Teille

Vera Kaulbarsch: Untotenstädte. Gespenster des Ersten Weltkriegs in der literarischen Moderne. Paderborn: Wilhelm Fink 2018 (= Periplous. Münchner Studien zur Literaturwissenschaft). 434 S. € 79,90. Der Erste Weltkrieg war die Kehrseite der technisch-industriellen Modernisierung. Er hat nicht nur Millionen Menschen das Leben gekostet, sondern auch vielfältige Spuren in den westlichen Metropolen hinterlassen. Schließlich stellte er eine traumatische Zäsur dar und durchzog als verstörende Leerstelle die urbanen Lebenswelten. Die Lücken, welche die abwesenden Toten hinterließen, blieben in der Zwischenkriegszeit so irritierend gegenwärtig wie die Paradigmen manipulierter Wahrnehmung, die den Frontkämpfer in eine hochgerüstete und zugleich prekäre Reaktionsmaschine verwandelt hatten. Diese Verbindung von tödlicher Gewalt, technisiertem Maschinenkörper und gespenstischem Nachleben der Toten prägte nicht nur wissenschaftliche Diskurse, sondern auch literarische Texte der 1920er und 1930er Jahre, die sich mit den europäischen Großstädten ihrer Zeit auseinandersetzen. So lautet jedenfalls die Grundannahme von Vera Kaulbarschs Münchener Dissertationsschrift. Aus ihrer Forschungsperspektive werden Berlin, Paris und London als »Untotenstädte« (so der Haupttitel) kenntlich, als Orte für »Gespenster des Ersten Weltkriegs in der literarischen Moderne« (so der Untertitel). Das »Untote« ergibt sich aus Kaulbarschs Sicht aus der unheimlichen Präsenz von Abwesenden, die in entstellter Form die Gegenwart heimsuchen. Ihre These lautet, dass die urbanen Räume zwischen den Weltkriegen Zonen der Grenzüberschreitung bildeten. Indem sich die Unterscheidung 25

Vgl. Mandy Dröscher-Teille: Die Ewigkeit des Geldes. Kapitalismuskritik, Kulinaristik und Kunst in Marlene Streeruwitz’ Roman Kreuzungen (2008), in: Erzähltes Geld. Finanzmärkte und Krisen in Literatur, Film und Medien. Hg. v. Karsten Becker. Würzburg 2020 (= Konnex, Bd. 29), S. 107–124.

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von Abwesenheit und Anwesenheit, von Vergangenheit und Gegenwart, von Eigenem und Fremdem, von Innen und Außen sowie von Leben und Tod ins Amorphe verwischte, verwandelten sich die Großstädte in irritierende Schwellenräume. Dafür zeugen aus Kaulbarschs Sicht wahrnehmungspsychologische, medizinische und medientechnische Diskurse in gleichem Maße wie die Psychoanalyse, aber auch ein okkultistisches Interesse für Gespenster, das im vielfach besprochenen ›Tischerücken‹ seine berühmt-berüchtigte Praxis entfaltete. Dementsprechend geht es der Autorin darum, die Verbindung von Stadt, Kriegsfront und Séance in einer gespenstischen Moderne herauszuarbeiten, die maßgeblichen Wissensformationen analytisch nachzuzeichnen und deren Spuren in literarischen Texten von Alfred Döblin, Louis Aragon, André Breton und Hilda Doolittle nachzuverfolgen. Kaulbarsch verknüpft diskursanalytische Zugänge mit literaturwissenschaftlichen Textanalysen. Diese methodische Kopplung spiegelt sich in der Anlage der Arbeit. Der erste wissenshistorische Teil zielt darauf ab, zunächst die Verbindung von »Großstadt und Schlachtfeld« in diskursiven Formationen der Nachkriegszeit aufzuzeigen und daraufhin die »gespenstischen Unterseiten der Moderne« nachzuverfolgen. In einem ersten Schritt widmet sich die Autorin so unterschiedlichen Phänomenen wie Schwäche, Schock, Lärm oder Sinnestraining, die als grundlegende Diskursfiguren in zahlreichen Wissensdisziplinen verhandelt wurden und eine »gegenseitige Beeinflussung und Überkreuzung von Wahrnehmungsparadigmen« (S. 83) erkennen lassen. In einem zweiten Schritt richtet sie den Blick auf den spiritistischen Gespensterglauben der Zwischenkriegszeit und überlegt, inwiefern dieser als »Reaktion auf den verletzlichen modernen Körper« (S. 96) gelesen werden kann, sodass sich die »Séance als Uminszenierung der traumatischen Zusammenstöße mit der Moderne« (ebd.) erweist. Was den zeitgenössischen Diskurs über die sogenannte »railway spine« (als reale oder eingebildete Traumatisierung durch Eisenbahnfahrten) mit Tischerücken verbindet, ist aus Kaulbarschs Sicht die Vorstellung poröser Körper, in denen sich die Grenzen von Innen und Außen sowie von Gegenwärtigem und Vergangenem zu liminalen Erfahrungen der »Ortlosigkeit« (S. 105) auflösen. Das Spektrum der Gegenstände reicht hier von spiritistischen Vorstellungen bei Frontsoldaten über Séance-Berichte Thomas Manns und Alfred Döblins bis hin zu Denkfiguren unsicherer Grenzen in Sigmund Freuds Jenseits des Lustprinzips. Auf diesen diskursanalytischen Teil folgen drei weitere Kapitel, die den Blick auf die urbanen Räume von Berlin, Paris und London in literarischen Werken richten. Im ersten und mit knapp 70 Seiten längsten dieser Teile geht es um die Frage, wie der Hintergrund des Kriegs in Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz den Berliner Raum heimsucht. Hier interessiert sich Kaulbarsch für Zwischenräume von Innen und Außen oder Schwellenfiguren von Belebtem und Unbelebtem, in denen sich so disparate Gegenstände wie Modepuppen im Warenhaus, Wachsfiguren oder verstörend präsente Weltkriegs-

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tote miteinander verbinden, sodass Berlin zur unheimlichen Großstadt wird. Zudem wird untersucht, wie Kriegspathologien Franz Biberkopfs Selbst- und Weltwahrnehmung prägen und in welchen Bildern der Berliner Untergrund als »Zwischenzustand des Untoten« (S. 225) auf die Schützengräben der Westfront verweist. Diese Fragen adressiert sie, indem sie ein »motivisches Netz der Grenzüberschreitungen« (S. 231) rekonstruiert und untersucht, welche Entgrenzungsbewegungen Berlin in Döblins Blick zum liminalen Raum machen. In den beiden folgenden Teilen weitet Kaulbarsch ihren komparatistischen Blick auf Paris aus und widmet sich surrealistischen Topographien in Louis Aragons Paysan de Paris sowie André Bretons Nadja. Hier interessiert sich die Autorin u. a. dafür, wie mediale Umbrüche oder psychiatrische Diskursformationen der Hysterie in literarische Texte einwandern und zu fiktionalen Wahnvorstellungen und Schreibweisen der Halluzination werden. Auch dabei geht es um die verstörende Gegenwart des Kriegs in einer westlichen Metropole: »Paris, das sollen die folgenden Lektüren zeigen, wird zu einem unsicheren Traumort für die Surrealisten, in den sich Zeichen von Gewalt enigmatisch einschreiben, wobei das Verhältnis zur Geschichte der Industrialisierung, und damit auch zum Krieg, eine wichtige Rolle spielt.« (S. 275) So geht es etwa darum, in der porösen Materialität von Innen und Außen bei Aragon die Pariser Passage als gespenstischen Raum zu entziffern, Entgrenzungsbewegungen in Meeresbildern aufzuzeigen oder zu untersuchen, wie belebte Statuen an den Weltkrieg erinnern, indem sie als »lebende Leichen« und zugleich als »tödliche Gefahr« (S. 313) erscheinen. Der Pariser Raum wird aus dieser Perspektive zur »Gespensterlandschaft« (S. 324), in der sich unheimliche Halluzinationen mit Revolutionsphantasien kreuzen. Das letzte Analysekapitel geht dann mit London zur dritten europäischen Metropole über. In H. D.s (Hilda Doolittles) erst spät erschienenem Roman Bid Me to Live erscheint London als Raum für »die Zersetzungsbewegung eines unendlich scheinenden Krieges, der sich in die Körper der Zurückgebliebenen hineinfrisst und festsetzt.« (S. 353) In diesem Kapitel geht es um Wiederholungsschleifen in der Selbstwahrnehmung der Protagonisten, um Bilder der Zerstückelung, in denen vormals intakte Körpergrenzen sich auflösen, sowie um Szenarien der Verschüttung im Untergrund. Vor diesem Hintergrund erscheinen die Protagonisten als zersplitterte Subjekte, »eingeschlossen in die Endlosigkeit des Krieges« (S. 379). Mit Untotenstädte legt Vera Kaulbarsch eine überzeugende Arbeit vor. Auf eindrucksvolle Weise zeichnet sie nach, in welchen unterschiedlichen Figurationen der Weltkrieg die westlichen Metropolen der Zwischenkriegszeit geprägt hat. Besonders interessant erscheint ihre Aufmerksamkeit für Schwellenräume und Entgrenzungsbewegungen: In solchen diskursiven wie literarischen Tendenzen geht die unheimliche Präsenz des Krieges weit über rein motivische Referenzen oder explizite Themen wie Maschinenkörper,

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Tod oder Gewalt hinaus. Allerdings führt das weite Spektrum der Phänomene dazu, dass der Kriegsbezug nicht immer in gleichem Maße evident bleibt. Zudem kann Kaulbarsch nicht ganz vermeiden, dass sich die Studie in der Vielzahl der untersuchten Gegenstände zersplittert. In methodischer Hinsicht überzeugt, dass sich die Autorin dafür entschieden hat, diskursanalytische Zugänge mit literaturwissenschaftlichen Verfahren zu verbinden. Allerdings würde man sich gelegentlich präzisere Textanalysen wünschen, in denen Gesamtkomposition wie narrative Verfahren der untersuchten Romane noch genauer mitbedacht würden. Mitunter könnte auch der sprachliche Ausdruck sorgfältiger sein – Formulierungen wie »den Diskurs einer ›seelenlosen‹ Moderne in Anschlag bringen« (S. 14) klingen holprig. Diese Einwände ändern allerdings nur wenig am positiven Gesamteindruck der Arbeit, die einen ganz eigenen Blick auf Literatur und Kultur der Zwischenkriegszeit wirft und dabei zu hochinteressanten, weitgehend überzeugenden Ergebnissen kommt. David Wachter Paul Keckeis: Robert Walsers Gattungen. Göttingen: Wallstein 2018. 342 S. € 29,90. Robert Walsers Werk bildet das zeitgenössische Gattungsrepertoire fast in seiner gesamten Breite ab und zeichnet sich dabei, wie in der Forschung häufig kommentiert wird, durch eine gewisse Nonchalance im Umgang mit Gattungskonventionen aus.26 Die Bedeutung, die Gattungen für Walsers Schreiben in seinen produktions- ebenso wie rezeptionsästhetischen Aspekten zukommt, ist nun erstmals Gegenstand einer monographischen Untersuchung geworden, die sich durch eine bemerkenswerte Umsicht im methodischen Zugriff und einen Reichtum an Lektüren auszeichnet. In seiner Dissertation widmet sich Paul Keckeis Walsers Umgang mit Gattungen weniger aus einem Interesse an dem üblicherweise als subversiv interpretierten Bruch mit – in solchen Fällen notwendig systematisch normativ gedachten – Gattungskonventionen, sondern richtet die Aufmerksamkeit auf die Bedeutung, die Gattungen gleichsam diesseits der Gattungstheorie für Walsers Schreiben zukommt. »Die Gattungen«, so stellt Keckeis gleich zu Beginn klar, »sind hier nicht bloß ex post von Bedeutung, als theoretische oder analytische Kategorien, sondern geben Auskunft darüber, wie die zentralen Dimensionen dieses Werks: literarische Produktion und gesellschaftliche Position, ästhetische Innovation und literarischer Markt, Konvention und Kreativität, miteinander verbunden sind.« (S. 9) 26

Vgl. Martin Jürgens: Fern jeder Gattung, nah bei Thun. Über das mimetische Vergnügen in der Sprache Robert Walsers am Beispiel von »Kleist in Thun«, in: Robert Walser. Hg. v. KlausMichael Hinz u. Thomas Horst. Frankfurt a. M. 1991, S. 87–100, hier S. 87.

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Tod oder Gewalt hinaus. Allerdings führt das weite Spektrum der Phänomene dazu, dass der Kriegsbezug nicht immer in gleichem Maße evident bleibt. Zudem kann Kaulbarsch nicht ganz vermeiden, dass sich die Studie in der Vielzahl der untersuchten Gegenstände zersplittert. In methodischer Hinsicht überzeugt, dass sich die Autorin dafür entschieden hat, diskursanalytische Zugänge mit literaturwissenschaftlichen Verfahren zu verbinden. Allerdings würde man sich gelegentlich präzisere Textanalysen wünschen, in denen Gesamtkomposition wie narrative Verfahren der untersuchten Romane noch genauer mitbedacht würden. Mitunter könnte auch der sprachliche Ausdruck sorgfältiger sein – Formulierungen wie »den Diskurs einer ›seelenlosen‹ Moderne in Anschlag bringen« (S. 14) klingen holprig. Diese Einwände ändern allerdings nur wenig am positiven Gesamteindruck der Arbeit, die einen ganz eigenen Blick auf Literatur und Kultur der Zwischenkriegszeit wirft und dabei zu hochinteressanten, weitgehend überzeugenden Ergebnissen kommt. David Wachter Paul Keckeis: Robert Walsers Gattungen. Göttingen: Wallstein 2018. 342 S. € 29,90. Robert Walsers Werk bildet das zeitgenössische Gattungsrepertoire fast in seiner gesamten Breite ab und zeichnet sich dabei, wie in der Forschung häufig kommentiert wird, durch eine gewisse Nonchalance im Umgang mit Gattungskonventionen aus.26 Die Bedeutung, die Gattungen für Walsers Schreiben in seinen produktions- ebenso wie rezeptionsästhetischen Aspekten zukommt, ist nun erstmals Gegenstand einer monographischen Untersuchung geworden, die sich durch eine bemerkenswerte Umsicht im methodischen Zugriff und einen Reichtum an Lektüren auszeichnet. In seiner Dissertation widmet sich Paul Keckeis Walsers Umgang mit Gattungen weniger aus einem Interesse an dem üblicherweise als subversiv interpretierten Bruch mit – in solchen Fällen notwendig systematisch normativ gedachten – Gattungskonventionen, sondern richtet die Aufmerksamkeit auf die Bedeutung, die Gattungen gleichsam diesseits der Gattungstheorie für Walsers Schreiben zukommt. »Die Gattungen«, so stellt Keckeis gleich zu Beginn klar, »sind hier nicht bloß ex post von Bedeutung, als theoretische oder analytische Kategorien, sondern geben Auskunft darüber, wie die zentralen Dimensionen dieses Werks: literarische Produktion und gesellschaftliche Position, ästhetische Innovation und literarischer Markt, Konvention und Kreativität, miteinander verbunden sind.« (S. 9) 26

Vgl. Martin Jürgens: Fern jeder Gattung, nah bei Thun. Über das mimetische Vergnügen in der Sprache Robert Walsers am Beispiel von »Kleist in Thun«, in: Robert Walser. Hg. v. KlausMichael Hinz u. Thomas Horst. Frankfurt a. M. 1991, S. 87–100, hier S. 87.

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Indem Keckeis sich analytisch an »Walsers Gattungen« heranwagt, sagt er gleichzeitig einer von ihm konstatierten literaturwissenschaftlichen Schwäche den Kampf an, nämlich einem verkürzten Gattungsverständnis: Weil sich literarische Texte – und Walsers Werke sind hier paradigmatisch – der eindeutigen gattungstheoretischen Klassifizierung widersetzen, werde die Kategorie Gattung häufig selbst grundsätzlich infrage gestellt. Keckeis bringt demgegenüber ein anderes Verständnis von Gattungstheorie und literaturwissenschaftlicher Praxis in Stellung: »Wo sich die Gattungstheorie aber nicht darauf verpflichten lässt, systematisch kohärente Definitionen von Textklassen bereitzustellen, entdeckt sie lebendige Formen von Generizität, die an der Wirklichkeit der Gattungen keinen Zweifel lassen.« (S. 10) Sein eigener Ansatz in der Arbeit an und mit Walsers Texten sieht vor, die Relevanz der Gattungskategorie ohne Rückgriff auf systematisch-typologische Konzepte aus den Texten selbst heraus zu entwickeln, um aufzuweisen, »dass Walser hinsichtlich seines Gebrauchs der Gattungen immer auch Theoretiker seiner selbst ist.« (S. 13) Keckeis’ Erkenntnisinteresse gilt also Walsers eigenem Interesse an Gattungen und dem Beleg seiner These, dass die Gattung als die zentrale Kategorie des walserschen Werks auszumachen sei. In einem ersten Schritt zeigt Keckeis, dass die Gattungen immer schon ein Paradigma der Walser-Rezeption waren, indem er die Orientierung an Gattungsbegriffen schon der frühen literaturwissenschaftlichen Rezeption Walsers aufweist und den ambivalenten Status des Feuilletons diskutiert. Besonders wertvoll dabei ist, dass er nicht allein die Relevanz der Gattungen für Walsers Werk aus der Forschungsdiskussion rekonstruiert, sondern auch die jeweils zugrunde gelegten Gattungsbegriffe in durchaus kritischer Absicht in den Blick rückt. Ausgehend von Robert Musils Bemerkung über »die Sonderart Walsers«, die »nicht geeignet ist, einer literarischen Gattung vorzustehen«,27 erprobt Keckeis ein Verständnis von Gattungen sowohl für die literarische Produktion als auch Rezeption, das weit über die eng definierten Begriffe der Gattungsbefürworter oder -gegner hinausgeht und Gattungen vielmehr als offene, elaborierte und immer Ausarbeitung und Anverwandlung fordernde Möglichkeiten insbesondere der modernen Literatur fasst. Das zweite Kapitel widmet sich der produktionsästhetischen Relevanz der Gattungen bei Walser. Viele frühe Texte Walsers schreiben sich – etwa als Gedichte, Märchen oder fingierte Schulaufsätze – in normierte Gattungen ein, und Keckeis’ Interesse gilt der Frage, wie sie sich ins Verhältnis zur strengen Gattungskonvention setzen. Es geht dabei um die Erkundung des Verhältnisses von Konvention und Kreativität, und Keckeis argumentiert – hier überzeugend an Überlegungen von Roland Barthes und Jonathan Culler anschließend – für Gattungskompetenz als Voraussetzung literarischer 27

Robert Musil: Literarische Chronik, in: Die neue Rundschau 25 (1914), S. 1166–1172, hier S. 1169.

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Kreativität. Dies weist er in verschiedenen Lektüren früher Texte Walsers auf, die er weniger mit Blick auf die teils ja durchaus komplexe Frage nach ihrer Gattungszugehörigkeit untersucht als vielmehr mit einem Interesse an »jenen Momenten, in welchen die Texte ihre eigene Generizität thematisieren.« (S. 75) So zeigt er beispielsweise am Märchendramolett Aschenbrödel (1901) die Neubelebung der Märchengattung auf, die ganz wesentlich davon abhängt, »das Märchen von jenen Herrschaftsnormen zu befreien, die der Gattung auch durch die Grimm’sche Bearbeitung eingeschrieben wurden.« (S. 105) Fritz Kocher’s Aufsätze (1904) liest er entgegen der kanonischen Interpretation weniger als Subversion durch Affirmation, als eine Übererfüllung der Vorschriften der Aufsatzdidaktik, sondern vielmehr als »literarische Restituierung des rhetorischen Fundaments« (S. 126), mithin als eine Thematisierung eines Formwissens, das als »Stil« eine sowohl literarische als auch gesellschaftliche Sprechweise meint. Die Möglichkeiten generischen Schreibens, so lautet Keckeis’ Pointe, werden bei Walser im Verbund mit den Möglichkeiten der Subjektkonstitution erkundet, die beide allein im Rahmen literarischer bzw. gesellschaftlicher Konventionen stattfinden. Hierin liegt für Keckeis die Bedeutung der Gattungen für Walsers Schreiben, denn gerade ihre Thematisierung lenke die Aufmerksamkeit auf »jene Ausdrucks- und Bedeutungsmöglichkeiten [. . .], die nicht allein durch den einzelnen, alleinstehenden Text evoziert werden, sondern erst in einem Ensemble von Texten lesbar und hörbar werden.« (S. 130) Im dritten Kapitel seiner Studie beschäftigt sich Keckeis mit Walsers Beitrag zur poetologischen Diskussion des Romans. Um 1900 findet, während der Roman bereits unbestritten den Buchmarkt dominiert, eine intensive Debatte sowohl um die poetologische Tradition als auch die Zukunftsträchtigkeit der Gattung statt, in deren Kontext Walsers Romanproduktion steht. Auch in diesem Teil findet Keckeis ein gutes Gleichgewicht zwischen der für die Kontextualisierung notwendigen Rekonstruktion der zeitgenössischen Debatte und der detaillierten Lektüre walserscher Werke: Nach einer vor allem auf Fragen der Gattungstradition fokussierten Rekonstruktion der Romandiskussion wendet sich das Kapitel der Untersuchung der drei Berliner Romane Walsers zu, Geschwister Tanner (1907), Der Gehülfe (1908) und Jakob von Gunten (1909), und interessiert sich konsequent und ausschließlich für jene Aspekte der Romane, durch die sie Anteil an den zeitgenössischen Fragen der Gattung haben. Dabei liest er sie zielgerichtet und derart ›stark‹, dass er schlussfolgern kann, Walsers Romane realisierten Möglichkeiten der Gattung, die in ihrer Komplexität literarische Wege antizipierten, »die sich theoretisch erst ex post abzeichnen sollten.« (S. 181) Besonders aufschlussreich nicht allein in Hinblick auf Keckeis’ Interesse an Walsers Umgang mit Gattungskonventionen, sondern auch bezogen auf die walsersche Poetologie allgemeiner ist das vierte Kapitel der Studie, das Walsers »minoritäre Poetik« in den Blick nimmt. In Anlehnung an Deleu-

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zes und Guattaris in Auseinandersetzung mit Kafkas Notizen entwickelte Konzeption der »kleinen Literatur«, also die Idee einer kleinen Einschreibung in große literarische und politische Zusammenhänge, entwirft Keckeis seine These, dass auch bei Walser »die großen Zusammenhänge konstitutiv für das Kleine [sind].« (S. 219) Damit ist die produktionsästhetische Relevanz des zeitgenössischen Gattungssystems für Walser angesprochen, wobei Keckeis nicht allein der Übersetzung der kleinen Form vom Feuilleton ins Buch nachspürt, sondern vor allem auch den Umgang Walsers mit der Literaturgeschichte, die ja eine Geschichte der ›großen‹ Literatur ist, diskutiert. So liest er etwa seine zahlreichen Dichterportraits kanonisierter Autoren als Erkundungen des hierarchisierten literarischen Systems und beleuchtet Walsers Tendenz, mit ab- oder außenseiterischen Positionen zu sympathisieren. Dies ist keine neue Einsicht, doch gelingt Keckeis auch an dieser Stelle, durch die Verknüpfung von kontextualisierenden und im engen Sinne interpretatorischen Darlegungen, seine Argumentation zum Umgang Walsers mit Gattungen voranzutreiben. Den Abschluss bildet im fünften Kapitel eine alles Vorhergehende pointiert zusammenführende Untersuchung des walserschen Spätwerks. Keckeis’ Analyse gipfelt hier in eine argumentative Volte, die den krassen Wandel in der Rezeption Walsers vom Außenseiter zu Lebzeiten zum postumen Status als Klassiker der Moderne in den Texten selbst antizipiert sieht. Keckeis weist auf, wie Walser sich in seinem Spätwerk – und insbesondere in den zu Lebzeiten unveröffentlichten Texten des ›Bleistiftgebiets‹ – über die zeitgenössischen Rezeptionsbedingungen hinwegsetze und ein ideales Publikum adressiere, das trotz der medialen Fragmentierung seiner Textproduktion, der (vermeintlichen) Kurzlebigkeit des Feuilletons und der mangelnden Verfügbarkeit seiner Bücher sein Œuvre genau kenne. Walser entwickle, so erklärt Keckeis unter Rückgriff auf den Begriff Steffen Martus’, in seinen späten Texten eine Form von »Werkpolitik«,28 deren zentrales Instrument die Gattungen seien. Gerade weil Walser die Erfahrung machen musste, dass die Marginalisierung seiner Produktion eine Folge der zeitgenössischen Gattungshierarchie war, habe seine »Gattungsarbeit« zuletzt dem Versuch gegolten, »sein Werk anschlussfähig zu machen für eine Lektüre, in der die Fragmentarisierung seines Werks nicht nur als Effekt von Produktions- und Distributionsbedingungen erscheint, sondern als ästhetisches Programm lesbar und vor allem die enge Verwandtschaft zwischen seiner feuilletonistischen Produktion und seinen Romanen sichtbar wird.« (S. 270) Die Konsequenz, mit der sich Keckeis der Erkundung der Bedeutung der Gattungen für Walsers Werk widmet, zahlt sich aus: Die Studie besticht nicht durch neue Interpretationen von oder theoretische Zugänge zu Walsers 28

Steffen Martus: Werkpolitik. Zur Literaturgeschichte kritischer Kommunikation vom 17. bis zum 20. Jahrhundert mit Studien zu Klopstock, Tieck, Goethe und George. Berlin, New York 2007.

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Texten, sondern durch den stringenten Nachvollzug des Interesses an Gattungen, das sich in den Texten selbst aufweisen lässt, sowie durch die Erläuterung der verschiedenen Bedeutungsdimensionen von Gattungen für Walsers Schreiben im zeitgenössischen Literatursystem. Wie gewinnbringend und sicherlich auch für die weitere Forschungsdiskussion förderlich ein offener Gattungsbegriff ist, hat Keckeis jedenfalls bewiesen. Ergiebig sind in seiner Studie nämlich nicht die vielen Lektüren einzelner Texte je für sich genommen, sondern das übergreifende Argument, zu dessen Beleg sie dienen und das darauf abzielt, Walsers Werk insgesamt als groß angelegte Gattungsarbeit zu verstehen. Diese Gattungsarbeit in ihren unterschiedlichen Facetten und Bedeutungsdimension für alle Aspekte des literarischen Schreibens Walsers aufzuzeigen, ist das Verdienst dieser Studie, die kleinschrittige Lektüren und einen umsichtigen Umgang mit Forschungsliteratur zu Walser und den Traditionen und Theorien einzelner Gattungen verbindet. Luisa Banki Stefan Keppler-Tasaki: Alfred Döblin. Massen, Medien, Metropolen. Würzburg: Königshausen & Neumann 2018 (= Rezeptionskulturen in Literatur- und Mediengeschichte, Bd. 14). 326 S. € 39,80. Mit seiner Untersuchung der Beziehungen, in denen Werke Alfred Döblins zu den Komplexen Massenkultur, Massenmedien und Massengesellschaft stehen, hat Stefan Keppler-Tasaki einen der reichhaltigsten und faszinierendsten Beiträge zur Döblin-Forschung der letzten Jahre geleistet. In zehn Kapiteln, denen teilweise Artikel zugrunde liegen, die seit 2008 in Zeitschriften und den zweijährlichen Döblin-Kolloquiums-Bänden erschienen sind, bietet seine Studie wertvolle Einsichten in folgende Themenbereiche: die Orientierung am Kino als Darstellungsmedium in Döblins Frühwerk (inkl. der Theaterstücke, die er zwischen 1905 und 1930 verfasst hat); Döblins Mitarbeit an Hörspiel- und Filmentwürfen, insbesondere während seiner einjährigen Anstellung bei MGM in Los Angeles vom Oktober 1940 bis zum Oktober 1941; und das Motiv der Massenzugehörigkeit, wie es sich in den autobiographischen Schriften Döblins gelegentlich meldet. In einem kurzen »Rückblende« betitelten Kapitel werden die Befunde abschließend zusammengefasst. In einer Reminiszenz, auf die Keppler-Tasaki (S. 98) hinweist, spricht Hermann Kesten von der »volkspädagogische[n] These«, die Döblin »einmal in Berlin« verfochten habe, man müsse »heutzutage [. . .] der Massenkultur ein Opfer bringen und freiwillig das Niveau der Belletristik senken«.29 Unklar bleibt dabei, auf welche öffentliche Stellungnahme Döblins Kesten hier Bezug nimmt. Keppler-Tasaki zeigt aber, wie stark Döblins Werk schon in seinen 29

Hermann Kesten: Lauter Literaten. Wien 1963, S. 409.

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Texten, sondern durch den stringenten Nachvollzug des Interesses an Gattungen, das sich in den Texten selbst aufweisen lässt, sowie durch die Erläuterung der verschiedenen Bedeutungsdimensionen von Gattungen für Walsers Schreiben im zeitgenössischen Literatursystem. Wie gewinnbringend und sicherlich auch für die weitere Forschungsdiskussion förderlich ein offener Gattungsbegriff ist, hat Keckeis jedenfalls bewiesen. Ergiebig sind in seiner Studie nämlich nicht die vielen Lektüren einzelner Texte je für sich genommen, sondern das übergreifende Argument, zu dessen Beleg sie dienen und das darauf abzielt, Walsers Werk insgesamt als groß angelegte Gattungsarbeit zu verstehen. Diese Gattungsarbeit in ihren unterschiedlichen Facetten und Bedeutungsdimension für alle Aspekte des literarischen Schreibens Walsers aufzuzeigen, ist das Verdienst dieser Studie, die kleinschrittige Lektüren und einen umsichtigen Umgang mit Forschungsliteratur zu Walser und den Traditionen und Theorien einzelner Gattungen verbindet. Luisa Banki Stefan Keppler-Tasaki: Alfred Döblin. Massen, Medien, Metropolen. Würzburg: Königshausen & Neumann 2018 (= Rezeptionskulturen in Literatur- und Mediengeschichte, Bd. 14). 326 S. € 39,80. Mit seiner Untersuchung der Beziehungen, in denen Werke Alfred Döblins zu den Komplexen Massenkultur, Massenmedien und Massengesellschaft stehen, hat Stefan Keppler-Tasaki einen der reichhaltigsten und faszinierendsten Beiträge zur Döblin-Forschung der letzten Jahre geleistet. In zehn Kapiteln, denen teilweise Artikel zugrunde liegen, die seit 2008 in Zeitschriften und den zweijährlichen Döblin-Kolloquiums-Bänden erschienen sind, bietet seine Studie wertvolle Einsichten in folgende Themenbereiche: die Orientierung am Kino als Darstellungsmedium in Döblins Frühwerk (inkl. der Theaterstücke, die er zwischen 1905 und 1930 verfasst hat); Döblins Mitarbeit an Hörspiel- und Filmentwürfen, insbesondere während seiner einjährigen Anstellung bei MGM in Los Angeles vom Oktober 1940 bis zum Oktober 1941; und das Motiv der Massenzugehörigkeit, wie es sich in den autobiographischen Schriften Döblins gelegentlich meldet. In einem kurzen »Rückblende« betitelten Kapitel werden die Befunde abschließend zusammengefasst. In einer Reminiszenz, auf die Keppler-Tasaki (S. 98) hinweist, spricht Hermann Kesten von der »volkspädagogische[n] These«, die Döblin »einmal in Berlin« verfochten habe, man müsse »heutzutage [. . .] der Massenkultur ein Opfer bringen und freiwillig das Niveau der Belletristik senken«.29 Unklar bleibt dabei, auf welche öffentliche Stellungnahme Döblins Kesten hier Bezug nimmt. Keppler-Tasaki zeigt aber, wie stark Döblins Werk schon in seinen 29

Hermann Kesten: Lauter Literaten. Wien 1963, S. 409.

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frühen Stadien von Merkmalen des damals wohl einflussreichsten Trägers der Massenkultur – des Kinos – geprägt war. Damit ist keine bloße Tendenz zur »Bilderzählung« gemeint, wie sie Döblin später in Der Bau des epischen Werks beschworen hat,30 sondern Effekte, die sich am ehesten im Medium des Films realisieren ließen. Aspekte einer Kinoästhetik sieht Keppler-Tasaki bereits im Dramolett Lydia und Mäxchen (1905) am Werk, sowohl in der Bemühung von Gespenstererscheinungen als auch in der nicht weniger gespenstischen Rolle, die solchen Objekten wie Stuhl, Spind und Kandelaber zugewiesen wird. Auch die erzählerische Radikalität von Wadzeks Kampf mit der Dampfturbine (entst. 1914, ersch. 1918) setzt Keppler-Tasaki zum Teil mit kinematischen Kunstgriffen in Verbindung: So kommt der recht plastischen äußerlichen Beschreibung der Figuren von Wadzek und seiner Frau eine eigentümliche »Gegenständlichkeit« (S. 49) zu, während Wadzeks Wahrnehmung der eigenen »Durchlöcherung« gegen Ende des Romans sogar ausdrücklich im Bild einer zerrissenen Kinoleinwand konkretisiert wird.31 Auch die – stellenweise markante – Anlehnung an filmische Darstellungstechniken in Döblins Theaterstücken Lusitania (1920) und Die Ehe (1930) wird klar herausgestellt. Besonders intensiv beschäftigt sich Keppler-Tasaki mit Döblins Mobilisierung verschiedener Medien in der Zeit nach der Veröffentlichung von Berlin Alexanderplatz (1929). Sowohl die Entstehung der Hörspiel- und Drehbuchfassungen von Döblins bekanntestem Roman als auch seine spätere, bisher unterbeleuchtete Arbeit an Filmentwürfen in Hollywood wird eingehend besprochen. So erfährt man, wie stark Döblin in der Phase vor dem Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg an der Vorarbeit zu den probritischen Propagandafilmen Mrs. Miniver und – in noch höherem Maße, auch wenn sein Name in den Credits fehlte – Random Harvest beteiligt war. (Beide Filme wurden 1942 fertig.) Gut ein Fünftel des Bandes ist aber der Kontextualisierung und Interpretation von zwei weiteren Filmentwürfen gewidmet, die als Neuigkeiten gelten müssen: Sie sind beide 2015 in dem von KepplerTasaki herausgegebenen Dramen-Band der neuen Döblin-Werkausgabe bei Fischer zum ersten Mal veröffentlicht worden.32 Der eine heißt Queen Lear, schöpft zum Teil aus einer 1892 in New York uraufgeführten jiddischen Umarbeitung von King Lear durch Jakob Gordin und bietet eine heitere Fassung von Shakespeares Tragödie, in der – so Keppler-Tasaki (S. 198) – auch »die älteste nachweisbare Entstehungsschicht« von Döblins 1945/1946 entstandenem Hamlet-Roman zu sehen ist. Im anderen, der den Titel Der Ausreißer 30 31 32

Alfred Döblin: Der Bau des epischen Werks, in: ders.: Schriften zu Ästhetik, Poetik und Literatur. Hg. v. Erich Kleinschmidt. Olten, Freiburg i. Br. 1989, S. 215–245, hier S. 225. Alfred Döblin: Wadzeks Kampf mit der Dampfturbine. Hg. v. Anthony W. Riley. Olten 1982, S. 346. Alfred Döblin: Die Geschichte vom Franz Biberkopf/Dramen/Filme. Hg. v. Stefan KepplerTasaki. Frankfurt a. M. 2015, S. 544–568 (Queen Lear) u. S. 569–600 (Der Ausreißer).

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trägt, sieht Keppler-Tasaki einerseits Anklänge an die Biographie von Döblins Vater sowie Motive aus dem Tramp-Film von Charlie Chaplin, auf dessen Mitwirkung Döblins Projekt wohl zugeschnitten war; andererseits erblickt er darin auch eine finstere und mit sexuellen Andeutungen beladene Evokation von bekannten Aspekten japanischer Kultur, die bestimmt gegen die in Hollywood geltenden Tabus verstoßen hätte. Besonders im Falle letzteren Textes bietet Keppler-Tasaki auf der Grundlage der eigenen wohlfundierten Japan-Kenntnisse eine recht informative Analyse von Döblins Beitrag zur antijapanischen Propaganda sowie der dabei mitschwingenden Sympathien für China, die sich an Döblins 1942 in englischer Sprache erschienener Konfuzius-Auswahl wie auch an seinem frühen Roman Die drei Sprünge des Wanglun (entst. 1912, ersch. 1915) ablesen lassen. Etwas diffuser nimmt sich der dritte Komplex aus, aber aus verständlichen Gründen: Hier geht es – grob gesprochen – um die Rückbindung der Thematik an die Biographie Döblins, die bekanntlich so facettenreich ist wie die Zeiten, die er durchlebte. So begegnen wir abwechselnd und je nach Umständen (1) dem begeisterten Großstädter, der in den 1920er Jahren und auch später dem Lokalpatriotismus provinzieller Schriftsteller eine anders konzipierte Vorstellung von ›Heimat‹ entgegenstellte; (2) dem bereits in der frühesten Phase der Weimarer Republik von der Parteipolitik Enttäuschten, der im Proletariat 1920 weniger eine soziopolitische Kategorie als vielmehr »eine neue Rasse, eine neue Lebendigkeit«33 sieht, in der Zeit um 1930 jedoch wiederholt und dringend vor der Bedrohung der Gesellschaft durch irregeführte Massen warnt; (3) dem um gesellschaftliche Wirkung Bemühten, dem die persönliche Wirksamkeit in Hollywood – und nicht nur dort – dauernd verwehrt blieb; sowie (4) dem nach dem Erfolg von Berlin Alexanderplatz auf Internationalisierung Eingestellten, dessen Kosmopolitismus jedoch zeitlebens an die eigenen frühen Erfahrungen in Berlin gebunden blieb. Wenn Keppler-Tasaki in dieser Hinsicht gelegentlich etwas deutlicher auf die historischen Kontexte hätte hinweisen können, so ist dieser Mangel durch das Kapitel über Döblins bedeutendste autobiographische Publikation, Schicksalsreise (ersch. 1949), mehr als aufgewogen. Die »Reise«, um die es geht, wurde bekanntlich von dem Durchbruch der deutschen Armee in Nordfrankreich im Sommer 1940 und der dadurch angeregten Massenflucht aus Paris ausgelöst, von der Döblin, seine Frau Erna und der jüngste Sohn, Stefan, mitgerissen wurden: »Jetzt waren wir Masse«, heißt es an einer frühen Stelle des Berichts.34 Sie führte aber auch über die Wahrnehmung des gekreuzigten Christus 1940 in der Kathedrale zu Mende als – in Keppler-Tasakis Worten (S. 215) – »der Schmerzensmann, der Enteignete und Geschlagene aus dem Volk« zu Döblins Konversion im November 1941, mit den anderen nach 33 34

Alfred Döblin: Republik, in: ders.: Schriften zu Politik und Gesellschaft. Hg. v. Heinz Graber. Olten 1972, S. 117–126, hier S. 125. Alfred Döblin: Schicksalsreise. Hg. v. Anthony W. Riley. Solothurn, Düsseldorf 1993, S. 37.

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Amerika hinübergeretteten Familienmitgliedern zusammen, zum Katholizismus. Bei Keppler-Tasaki wird der Entstehungsprozess von Schicksalsreise unter Beachtung der handschriftlichen Umarbeitungen mit sicherer Hand rekonstruiert und die Form der Religiosität, zu der sich Döblin aufgrund seiner angesammelten Lebenserfahrungen bekannte, erhellend charakterisiert. Wertvoll ist auch die Feststellung, das Buch sei, wie Döblins Reise in Polen (1925), »grundlegend ein Text über ein [sich selbst beobachtendes] Ich auf der Fahrt, in Bewegung, im Übergang« (S. 232) – was u. a. impliziert, dass Döblin aus den geschilderten Erlebnissen als ein Geänderter hervorgegangen sei. An einigen wenigen Stellen könnte man sich vielleicht wünschen, es würde etwas deutlicher zu erkennen gegeben, ob es sich bei der Massenhaftigkeit, der in den angeführten Döblin-Zitaten das Individuelle gegenübergestellt wird, um Erscheinungen der Menschengesellschaft oder aber der Naturwelt handelt. Insgesamt ist das Buch jedoch elegant geschrieben, gelegentlich mit feinem Witz gewürzt, und die Verzahnung mit der neuesten wie der altbewährten Sekundärliteratur zu Döblin ist gut besorgt. Von den Ergebnissen von Keppler-Tasakis Untersuchungen wird die Döblin-Forschung noch lange zehren können. David Midgley

Uta Klein: Liebe als Folgeproblem von Individualität in der Literatur um 1900. Hofmannsthal – Schnitzler – Musil. Aachen: Shaker 2018. 294 S. € 49,80. Der Anspruch der vorliegenden Arbeit, die als Dissertation an der Universität München entstand, ist kein geringer: Es geht um Liebe – und zwar gleich bei drei Autoren, bei Hugo von Hofmannsthal, Arthur Schnitzler und Robert Musil, deren umfangreiche Werke von diesem Thema bekanntlich nur so durchsetzt sind. Der etwas sperrige Titel, Liebe als Folgeproblem von Individualität in der Literatur um 1900, grenzt diese uferlos erscheinende Liebesthematik etwas ein, will er doch einen Grundwiderspruch benennen, der in dieser Literatur verhandelt wird – und den die Verfasserin, Uta Klein, als »die Paradoxie« versteht, »moderne Individuen und Liebende gleichermaßen« (S. 5) zu sein. Die fortschreitende Ausprägung von Individualität in dieser Zeit geschah allerdings gerade vor dem Hintergrund eines Ich-Zerfalls. Diese Doppelbewegung wird auf den Begriff der »selbstbezüglichen Kontingenz« (S. 8) gebracht, was heißt, dass das Ich sich zwar gesteigert herausbildet, aber, je den Umständen entsprechend, auch ein ganz anderes Ich hätte werden können (man denke hier nur an Musils unnachahmliches, von der Verfasserin allerdings

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Amerika hinübergeretteten Familienmitgliedern zusammen, zum Katholizismus. Bei Keppler-Tasaki wird der Entstehungsprozess von Schicksalsreise unter Beachtung der handschriftlichen Umarbeitungen mit sicherer Hand rekonstruiert und die Form der Religiosität, zu der sich Döblin aufgrund seiner angesammelten Lebenserfahrungen bekannte, erhellend charakterisiert. Wertvoll ist auch die Feststellung, das Buch sei, wie Döblins Reise in Polen (1925), »grundlegend ein Text über ein [sich selbst beobachtendes] Ich auf der Fahrt, in Bewegung, im Übergang« (S. 232) – was u. a. impliziert, dass Döblin aus den geschilderten Erlebnissen als ein Geänderter hervorgegangen sei. An einigen wenigen Stellen könnte man sich vielleicht wünschen, es würde etwas deutlicher zu erkennen gegeben, ob es sich bei der Massenhaftigkeit, der in den angeführten Döblin-Zitaten das Individuelle gegenübergestellt wird, um Erscheinungen der Menschengesellschaft oder aber der Naturwelt handelt. Insgesamt ist das Buch jedoch elegant geschrieben, gelegentlich mit feinem Witz gewürzt, und die Verzahnung mit der neuesten wie der altbewährten Sekundärliteratur zu Döblin ist gut besorgt. Von den Ergebnissen von Keppler-Tasakis Untersuchungen wird die Döblin-Forschung noch lange zehren können. David Midgley

Uta Klein: Liebe als Folgeproblem von Individualität in der Literatur um 1900. Hofmannsthal – Schnitzler – Musil. Aachen: Shaker 2018. 294 S. € 49,80. Der Anspruch der vorliegenden Arbeit, die als Dissertation an der Universität München entstand, ist kein geringer: Es geht um Liebe – und zwar gleich bei drei Autoren, bei Hugo von Hofmannsthal, Arthur Schnitzler und Robert Musil, deren umfangreiche Werke von diesem Thema bekanntlich nur so durchsetzt sind. Der etwas sperrige Titel, Liebe als Folgeproblem von Individualität in der Literatur um 1900, grenzt diese uferlos erscheinende Liebesthematik etwas ein, will er doch einen Grundwiderspruch benennen, der in dieser Literatur verhandelt wird – und den die Verfasserin, Uta Klein, als »die Paradoxie« versteht, »moderne Individuen und Liebende gleichermaßen« (S. 5) zu sein. Die fortschreitende Ausprägung von Individualität in dieser Zeit geschah allerdings gerade vor dem Hintergrund eines Ich-Zerfalls. Diese Doppelbewegung wird auf den Begriff der »selbstbezüglichen Kontingenz« (S. 8) gebracht, was heißt, dass das Ich sich zwar gesteigert herausbildet, aber, je den Umständen entsprechend, auch ein ganz anderes Ich hätte werden können (man denke hier nur an Musils unnachahmliches, von der Verfasserin allerdings

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nicht erwähntes Beispiel von dem bei den Menschenfressern aufwachsenden zarten Rilke, der dann aber auch ein guter Menschenfresser geworden wäre). Zur Stabilisierung dieser differenziert-fragilen Ich-Konstruktion werde dann Liebe gesucht, allerdings immer weniger gefunden, was die Verfasserin zu der von ihr so genannten ›Hauptthese‹ bringt, dass nämlich »die Liebeskonzeption in der Literatur um 1900 zwischen Sehnsucht und Skepsis angesiedelt« (S. 9) sei. Aus diesen Grundüberlegungen ergibt sich folgerichtig der übersichtliche Aufbau des Buches, welches aus zwei Teilen besteht: Der erste thematisiert die Konstitutionsbedingungen ›moderner Individualität‹ und der zweite diejenigen ›moderner Intersubjektivität‹. Zum ersten Teil: In Verbindung von soziologischen und historischen Ansätzen (Niklas Luhmann und Thomas Nipperdey sind hier leitende Autoren) skizziert Klein ein Bild moderner Individualität um 1900. Der Wegfall umfassender »Stabilisierungsmechanismen« (S. 27), wofür die Religion als Beispiel genannt wird, und eine zunehmende Wissenschaftsskepsis habe zum Entstehen von »öffentliche[n] Ganzheitsinseln« geführt (S. 27), die diese Stabilisierung verbürgen und Sinnfragen beantworten sollten; Beispiele einer solchen ›Ganzheitsinsel‹ waren die Lebensreformbewegung oder der Vegetarismus. Vor diesem Hintergrund fungierte die Frau als Repräsentantin des Ganzen »im Sinne eines kontingenzfreien Raumes« (S. 40). Diese Sichtweise wurde jedoch gegen Ende des 19. Jahrhunderts vor allem durch die Frauenbewegung aufgekündigt. Die Verfasserin diskutiert anschließend zwei Beispiele aus dieser Zeit, nämlich Helene Böhlaus Roman Das Halbtier und Lou AndreasSalomés Aufsatz Der Mensch als Weib. An diesen Texten werde deutlich, dass das ehemals sich ergänzende Verhältnis zwischen dem Mann, der für die heterogene, funktional-differenzierte Welt stehe, und der Frau, die das homogene ›Heim‹ vertrete, nun aufgekündigt werde: Frauen werden in dieser Hinsicht wie Männer, d. h. ausdifferenzierte Individuen, wodurch sich eine neue »Doppelgeschlechtlichkeit des Individualitätsproblems« (S. 66) ergebe. Um dieses Kapitel abzuschließen und Probleme von Individualität und selbstbezüglicher Kontingenz weiter zu vertiefen, werden von der Verfasserin ergänzend Hofmannsthals berühmter Chandos-Brief (1902) und Hermann Bahrs Aufsatz Das unrettbare Ich (1904) referiert. Im zweiten Teil, in dem ›moderne Intersubjektivität‹ thematisiert wird, geht Klein zunächst von der durch Luhmann gewonnenen Leitdifferenz von unpersönlichen und persönlichen Beziehungen aus. Letztere sind u. a. durch kommunikative Offenheit bestimmt und haben zur Jahrhundertwende die Funktion, »das sich selbst kontingent gewordene Ich als Ganzes zu kommunizieren« (S. 103). Dies geschehe besonders in der Innerlichkeit von Zweierbeziehungen, die einerseits das moderne Individuum zusammenhalten und integrieren, andererseits aber auch Konflikt- und Desintegrationsmomente in sich tragen.

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Bevor die Verfasserin zur Liebesthematik ihrer drei Autoren kommt, erläutert sie noch zwei traditionelle Liebessemantiken des 18. Jahrhunderts, nämlich das enthusiastische Liebeskonzept am Beispiel von Goethes Werther (1774) und das romantische Liebeskonzept anhand von Schlegels Lucinde (1799). Der Hauptunterschied von beiden Konzepten liege in der Sichtweise auf Sprache: Im enthusiastischen Konzept sei Sprache »gegenüber der Potentialität des Individuums mangelhaft« (S. 118); gesucht werde demgegenüber ein ›Ganzes‹, welches zwar nie gefunden werde, welches sich aber in der körperlichen Kommunikation (etwa in der körperlichen Harmonie, die Werther im Tanz mit Lotte findet) andeute. Demgegenüber sei eine funktionierende sprachliche Kommunikation, die sich in Strömen von Reden zwischen den beiden Liebenden zeige, Voraussetzung für das romantische Liebeskonzept. Gerade diese funktionierende sprachliche Kommunikation könne aber in der Liebessemantik um 1900 nicht mehr als »selbstverständlich vorausgesetzt werden« (S. 127) – Inkommunikabilität werde entdeckt. Im Anschluss an diese beiden traditionellen Liebessemantiken konstruiert Klein ihr Modell der Liebeskonzeption um 1900, indem sie die aus diesen Semantiken gewonnenen ›Unmöglichkeiten‹ zusammenführt: die enthusiastische Sehnsucht nach Einheit mit der Skepsis, die sich mit der durch Krisen erschütterten Sprache verbindet – dies sei also die Liebessemantik der Jahrhundertwende. Damit hat die Verfasserin ihr Modell gewonnen, um nun – endlich, möchte man hinzufügen – ihre drei Autoren in den Blick zu nehmen. Zunächst geht es um Hofmannsthals Erzählung Erlebnis des Marschalls von Bassompierre (1900), wo sich zwar ein Paar als »Wir-Einheit in der Abgrenzung« (S. 139) von der Welt findet, aber an einer großen Sprachlosigkeit leidet, was Klein zu folgendem Ergebnis in Hinsicht auf diese Erzählung bringt: »Die Möglichkeit der Erfahrung von Ganzheit überhaupt bleibt damit zwischen Unmittelbarkeit und Kommunikation hängen.« (S. 144) In Schnitzlers Einakterzyklus Anatol (1893) ist der Titelheld von einer »bleibende[n] Einheitssehnsucht« (S. 146) erfüllt, die er auch nicht in der Ehe, der »absurdeste[n] der Illusionen«,35 die er am Ende des Zyklus eingeht, erfüllen kann. In der Komödie Zwischenspiel (1906) stellt Schnitzler dann ein Paar vor, welches selbst die Regeln seiner Ehe bestimmt, zu denen auch der einvernehmliche Beschluss der Trennung gehört. Allerdings bleibe – so Klein – der mit dem Ehepartner bzw. der Ehepartnerin verbundene »Exklusivitätsanspruch« (S. 187), der dem »Individualitätspotential« (S. 197) entgegenlaufe (insofern sich der mögliche Erfahrungsraum des modernen Individuums auf die ganze Welt bezieht und eben nicht nur auf diesen einen Partner bzw. diese eine Partnerin), in Schnitzlers Komödie erhalten. Der Grund dafür ist der, dass die Ehe in eine privilegierte Freundschaftsbeziehung überführt werde, in 35

Arthur Schnitzler: Anatol. Anatol-Zyklus, Anatols Größenwahn, Das Abenteuer seines Lebens. Texte und Materialen zur Interpretation. Hg. v. Ernst L. Offermanns. Berlin 1964, S. 178.

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der der partnerbezogene Exklusivitätsanspruch weitergeführt wird. Schnitzler könne also auch keine Lösung anbieten. Die Verfasserin zieht daraus den Schluss, dass beide, Hofmannsthal und Schnitzler, zeigen, dass »das Ziel der Liebenden aus dem Paradoxon [besteht], grundsätzlich Unvereinbares zu vereinbaren« (S. 198), nämlich ihre modernen Individualitätsansprüche mit den Grenzen moderner Intersubjektivität. Klein sieht nun in Musils beiden Novellen der Vereinigungen (1911) und in Das verzauberte Haus (1908) Lösungsversuche in Hinsicht auf dieses Problem, wenn nicht auf lebenspraktischem, so doch wenigstens auf einem abstrakten Niveau. Im Verzauberten Haus werde Viktoria, die Protagonistin, als modernes Individuum konzipiert, die durch ihr ödes Alltagsleben entfremdet und entindividualisiert worden sei. Ihr Körper sei ihr »als die einzige Möglichkeit zu einer adäquaten Kontaktaufnahme mit der Außenwelt« (S. 207) geblieben. Dann tritt ein Mann in ihr Leben, den Klein als ihren »Geliebten« bezeichnet, obwohl Viktoria ihm ja im Eingangsdialog der Novelle ausdrücklich ihre Liebeserklärung verweigert. Durch diesen Mann finde bei ihr »so etwas wie eine ›Erweckung‹ statt, ein Rückruf ins Leben und eine (Wieder-) Individualisierung.« (S. 210) Die Verfasserin sieht einen ihr in gewisser Weise unerklärlichen Widerspruch zwischen der Liebe Viktorias zu dem Mann und ihrer Weigerung, ihm diese auch zu erklären. Man könnte allerdings bezweifeln, ob dies wirklich eine ›Liebe‹ ist. Der Mann droht wegen dieser Weigerung mit Abreise und Selbstmord, was Viktoria nicht davon abhält, ihm ihre Liebe explizit – mit einem gewissermaßen schallenden ›Nein‹ – nicht zu erklären. In Musils Text ist davon die Rede, dass dieses ›Nein‹ »wie mit der Peitsche« (GW II, S. 141) gesprochen sei. Klein schreibt dazu wenig instruktiv: »Viktoria liebt den ›Mann‹ und besteht auf der Weigerung, welchen Grund sie auch immer haben mag.« (S. 213) Für wichtiger als diesen Grund hält es die Verfasserin allerdings, dass hier bei Musil die beiden Pole von Liebe und Weigerung eine gleich große Bedeutung haben. Viktoria glaubt nun, dass sich dieser von ihr also nicht geliebte Mann umbringen wird, was ihn dann allerdings in den Geliebten verwandeln würde. Die Verfasserin bemerkt völlig zu Recht, dass die erste Du-Anrede Viktorias an ihn (der allerdings nicht anwesend ist) in dem Satz »Du bist tot« auftaucht. In dem toten (bzw., wie sich später herausstellen wird, nur totgeglaubten) Geliebten sehe Viktoria nun »sowohl Einheitssehnsucht als auch Individualitätsanspruch erfüllt« (S. 223). Der Brief des Mannes, dass er sich nicht umgebracht habe, stürzt Viktoria wieder in ihr ödes Alltagsleben zurück; jetzt bleibt ihr nur noch ihr Körper, den sie dem Oberleutnant Demeter in einer sexuellen Vereinigung gleichsam ›überlässt‹. Eine ähnliche Konstellation findet sich in Musils Novelle Die Versuchung der stillen Veronika, von der Das verzauberte Haus die erste Fassung ist. Im Unterschied zur früheren Fassung findet jetzt keine sexuelle Vereinigung der

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Protagonistin, die nun Veronika heißt, mit Demeter statt. Hier besteht auch ausdrücklich Liebe zwischen Veronika und dem Mann, der nun auch einen Namen, Johannes, hat. Bei ihrer Interpretation folgt Klein streckenweise Fred Lönker,36 der bereits davon sprach, dass besonders Veronika eine unklare Einheitssehnsucht habe, die sich auch nicht gut kommunizieren lasse, was Klein dazu bringt, in Hinsicht auf dieses Paar von einer »nicht funktionierende[n] Kommunikation« zu sprechen, die an der Stelle einer »verwirklichte[n] Einheitssehnsucht« (S. 250) stehe. Dies führe dann auch zur Trennung der Liebenden, womit Kleins Interpretation dieser Novelle abbricht, obwohl sie ja noch nicht einmal ihre Mitte erreicht hat. Abschließend und als conclusio untersucht die Verfasserin Musils Novelle Die Vollendung der Liebe unter dem Gesichtspunkt der Aufhebung der bisherigen Paradoxien. Diese Geschichte integriere nun das von den Liebesbeziehungen ausgeschlossene Individualitätsmoment durch die Konstruktion einer glücklichen Liebe, die sich durch Untreue vollende. Claudine trete durch ihre Abreise und die Trennung von ihrem Mann »aus einer höchst persönlichen, intimen Welt in eine unpersönliche Umwelt« (S. 256) ein. Diese Reise und ihr Ehebruch bedeuten die Schließung der minimalen »Kommunikationslücke« (S. 263), die sich zwischen ihrem Mann und ihr aufgetan hat. Trotz dieser Lücke bestehe zwischen beiden ein Einheitsgefühl, das Gefühl einer Wir-Einheit. Als in dieser Einheit einzigartig individualisierte Person gibt sich Claudine einem fremden Mann, einem namenlos bleibenden Ministerialrat, sexuell hin, um so, in Kleins Interpretation, eine »›Alleinheit‹ mit dem Leben« (S. 270) bzw. eine »maximale Entgrenzung« (S. 272) zu erfahren. So gelingt ihr eine Verbindung der Paradoxien, eine Verbindung von Individualisierung und Entgrenzung, was Klein aber »nur in der Poesie« (S. 274) für möglich hält. Versucht man diese Arbeit insgesamt zu bewerten, so besteht die grundlegende Problematik wohl darin, dass die Verfasserin einen sehr hohen Abstraktionsgrad ihrer Forschungsfrage gewählt hat, um die unterschiedlichen Texte der drei Autoren, die sie untersucht, zusammenzubringen. Dieser hohe Abstraktionsgrad, d. h. die These, dass die literarische Liebeskonzeption um 1900 zwischen Sehnsucht und Skepsis angesiedelt sei, steht natürlich in Gefahr, trivial zu klingen. Welche Liebe läge nicht zwischen diesen beiden Polen? Unter Vermeidung aller abweichenden Bedeutungsmöglichkeiten konstruiert die Verfasserin aus Texten der Autoren ein Modell, welches aus den widersprüchlichen (›paradoxen‹) Elementen Skepsis (bei Hofmannsthal) und Sehnsucht (bei Schnitzler) besteht, um letztendlich in einem Text Musils ›aufgehoben‹ zu werden. Zweifellos ist es mutig, ein solches ›Gesamtpaket‹ vorzulegen; ob dies allerdings für die stark spezialisierte Hofmannsthal-, Schnitzler- und Mu36

Vgl. Fred Lönker: Poetische Anthropologie. Robert Musils Erzählungen Vereinigungen. München 2002 (= Musil-Studien, Bd. 30).

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sil-Forschung auch von Nutzen sein mag, muss bezweifelt werden, zudem auch die Erkenntnisse dieser Forschungen nur sehr sporadisch berücksichtigt werden. Thomas Pekar Norbert Christian Wolf: Revolution in Wien. Die literarische Intelligenz im politischen Umbruch 1918/19. Wien u. a.: Böhlau 2018. 364 S. € 29,–. Rechtzeitig zu den Zentenarfeiern der Republik erschien dieser Band, der zum ersten Mal den Versuch unternimmt, den epochalen Einschnitt des Kriegsendes von 1918, den Zerfall der k. k. Donaumonarchie und die unterschiedlich wahrgenommenen revolutionären Begleitumstände dieser Implosion systematisch aus dem Blickwinkel literarischer Kommentierung sowie aus jenem zeitgenössischer publizistisch-intellektueller Debatten in Augenschein zu nehmen. Den Auftakt bilden die unter dem Titel Leben in dieser Zeit erschienenen Erinnerungen von Manès Sperber, welche mit sozialpsychologisch geschultem Blick eine Urszene dieser Implosion, d. h. die einer Kastration vergleichbare Deklassierung eines befehlsgewohnten Herren-Offiziers-Typus zu einer sprachlosen, vor der Menge flüchtenden Durchschnittsexistenz aus dem Gedächtnis nachzeichnet. Das ›glanzlose Finale‹ (Wendelin SchmidtDengler) der Zweig’schen ›Welt von Gestern‹, deren Säulen, Balken und Verstrebungen Ende Oktober 1918 in sich zusammenbrachen und im Zuge dieses Prozesses bislang stabile Dimensionen des Räumlichen und Zeitlichen, auf Ewigkeit angelegte Hierarchien und Ordnungen außer Kraft setzten, konnte gar nicht anders als den Wahrnehmungsapparat der literarisch-publizistischen Intelligenz herauszufordern und anzuregen, dies allerdings in einer doch merkwürdigen Weise: Neben mitunter rascher Verdrängung der Mitwirkung Einzelner an exponierteren Projekten, etwa jenem der ›Roten Garde‹, oder bald einsetzender ironisch-sarkastischer Verfremdung gelang es den schreibend-räsonierenden Protagonisten nicht, den allenthalben sprießenden Elan der Umbruchsmonate als ein nachhaltiges Revolutionsnarrativ in die Literaturgeschichte einzuschreiben. Vielmehr haben nicht wenige Texte aus jener Zeit in geradezu paradoxer Manier den Anfang der 1960er Jahre konstruierten wirkungsmächtigen wie reduktionistischen Narrativen, insbesondere jenem vom »Staat, den keiner wollte« (Hellmut Andics) sowie vom »Habsburgischen Mythos« (Claudio Magris), den Boden bereitet. Gegen diese zu Masternarrativen aufgestiegenen Deutungen führt dieses Buch zu Recht die fiebrigschillernde Vielstimmigkeit jener Umbruchsperiode ins Treffen, der erstmals angemessener Raum zugestanden wird, ohne ihre Textlandschaft von vornherein als marginal abzustempeln. Zu dieser Vielstimmigkeit zählen einerseits publizistische Texte, die aus dem Geschehen heraus zu ihm Stellung beziehen, Tagebucheintragungen, die subjektive Wahrnehmungsfelder zum Teil unge-

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sil-Forschung auch von Nutzen sein mag, muss bezweifelt werden, zudem auch die Erkenntnisse dieser Forschungen nur sehr sporadisch berücksichtigt werden. Thomas Pekar Norbert Christian Wolf: Revolution in Wien. Die literarische Intelligenz im politischen Umbruch 1918/19. Wien u. a.: Böhlau 2018. 364 S. € 29,–. Rechtzeitig zu den Zentenarfeiern der Republik erschien dieser Band, der zum ersten Mal den Versuch unternimmt, den epochalen Einschnitt des Kriegsendes von 1918, den Zerfall der k. k. Donaumonarchie und die unterschiedlich wahrgenommenen revolutionären Begleitumstände dieser Implosion systematisch aus dem Blickwinkel literarischer Kommentierung sowie aus jenem zeitgenössischer publizistisch-intellektueller Debatten in Augenschein zu nehmen. Den Auftakt bilden die unter dem Titel Leben in dieser Zeit erschienenen Erinnerungen von Manès Sperber, welche mit sozialpsychologisch geschultem Blick eine Urszene dieser Implosion, d. h. die einer Kastration vergleichbare Deklassierung eines befehlsgewohnten Herren-Offiziers-Typus zu einer sprachlosen, vor der Menge flüchtenden Durchschnittsexistenz aus dem Gedächtnis nachzeichnet. Das ›glanzlose Finale‹ (Wendelin SchmidtDengler) der Zweig’schen ›Welt von Gestern‹, deren Säulen, Balken und Verstrebungen Ende Oktober 1918 in sich zusammenbrachen und im Zuge dieses Prozesses bislang stabile Dimensionen des Räumlichen und Zeitlichen, auf Ewigkeit angelegte Hierarchien und Ordnungen außer Kraft setzten, konnte gar nicht anders als den Wahrnehmungsapparat der literarisch-publizistischen Intelligenz herauszufordern und anzuregen, dies allerdings in einer doch merkwürdigen Weise: Neben mitunter rascher Verdrängung der Mitwirkung Einzelner an exponierteren Projekten, etwa jenem der ›Roten Garde‹, oder bald einsetzender ironisch-sarkastischer Verfremdung gelang es den schreibend-räsonierenden Protagonisten nicht, den allenthalben sprießenden Elan der Umbruchsmonate als ein nachhaltiges Revolutionsnarrativ in die Literaturgeschichte einzuschreiben. Vielmehr haben nicht wenige Texte aus jener Zeit in geradezu paradoxer Manier den Anfang der 1960er Jahre konstruierten wirkungsmächtigen wie reduktionistischen Narrativen, insbesondere jenem vom »Staat, den keiner wollte« (Hellmut Andics) sowie vom »Habsburgischen Mythos« (Claudio Magris), den Boden bereitet. Gegen diese zu Masternarrativen aufgestiegenen Deutungen führt dieses Buch zu Recht die fiebrigschillernde Vielstimmigkeit jener Umbruchsperiode ins Treffen, der erstmals angemessener Raum zugestanden wird, ohne ihre Textlandschaft von vornherein als marginal abzustempeln. Zu dieser Vielstimmigkeit zählen einerseits publizistische Texte, die aus dem Geschehen heraus zu ihm Stellung beziehen, Tagebucheintragungen, die subjektive Wahrnehmungsfelder zum Teil unge-

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schützt abstecken wie z. B. Musils ›Revolutionstagebuch‹, Briefe u. ä. m. – Texte, die im ersten Teil des Buches präsentiert und einer eingehenden Kontextualisierung unterzogen werden. Andererseits exploriert Wolf, vor dem Hintergrund von Hayden Whites Thesen zur Poetologie der Geschichtsschreibung, am zeitgenössischen literarischen Korpus sowie an nachträglich entstandenen Texten autobiographischer Grundierung wie z. B. Franz Bleis Erzählung eines Lebens (1930), Robert Neumanns Ein leichtes Leben (1963) und vor allem Franz Werfels Roman Barbara oder die Frömmigkeit (1929), nicht nur memoriale, sondern auch kulturideologische Facetten jener Vielstimmigkeit – Gegenstand des zweiten Teils –, um anhand der gewählten »Erzählkonventionen« darzulegen, »wie Geschichte narrativ gestaltet wird« (S. 24). Den Auftakt zum ersten Teil bilden Zeitungsberichte über die Mobilisierung und (Selbst-)Organisierung von Soldatenräten seit Ende Oktober 1918 in Wien, an denen Schriftsteller medienwirksam teilnahmen, allen voran Egon Erwin Kisch, flankiert von einer Gruppe rund um Franz Blei, aus der schon vor dem offiziellen Ende des Krieges die mythenumrankte wie dämonisierte ›Rote Garde‹ hervorging. Als zunächst autonom agierende, am bolschewistischen Modell orientierte, de facto aber in die sozialdemokratisch geführte ›Volkswehr‹ integrierte Formation, die sich zudem nach einem Aushandlungsprozess mit dem Provisorischen Staatsrat nur auf vereinsrechtlicher Basis konstituieren konnte, eine austriakische Konstellation par excellence, zog sie nicht nur die Aufmerksamkeit der Presseberichterstattung auf sich, insbesondere konservativer wie z. B. des Fremden-Blatt oder der Reichspost, sondern verkörperte in gewisser Weise auch die – minoritär gebliebene – Sehnsucht nach revolutionärer Aktion angesichts einer zunehmend reformerisch-etatistisch verwalteten Umbruchsdynamik. Diese ungewöhnliche, wenn nicht einzigartige Differenz- und Gemengelage im Vergleich zu Deutschland oder Ungarn vermochte anfangs zwar einigen Druck auf die sozialpolitische Reformarbeit der Regierungskoalition auszuüben, verpuffte allerdings mit dem gescheiterten Putschversuch vom Juni 1919 nachhaltig, um einer Praxis Raum zu geben, die Kisch bereits ab Ende 1918 in programmatischen Beiträgen in Organen wie Der freie Arbeiter als perfide antirevolutionäre Doppelstrategie unter Verwendung revolutionsähnlicher Rhetorik an den Pranger gestellt hatte. Indem Wolf die programmatischen Befunde und Reflexionen von Kisch über die sich verengenden Spielräume konkreten revolutionären Handelns mit entsprechenden Passagen aus den Erinnerungen von Julius Deutsch konfrontiert, wird deutlich, wie intensiv sich revolutionäre Erwartungshaltungen, aufkommende Desillusion und gegenläufige politische (Kalmierungs-)Strategien an den zeitgenössischen Schnittflächen von literarischer Praxis und politischem Kalkül bzw. Handeln überlappten. Ihnen war mit plakativer Berufung auf Marx und Engels wohl auch deshalb nicht beizukommen, weil sie sich wechselseitig kommentierten, mitunter auch desavouierten und somit das Rollenprofil zahlreicher literarisch-intellektueller Akteure als tendenziell

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labiles mitkonturierten. Vor diesem Textfeld-Spektrum, das in der Literaturgeschichtsschreibung lange als wenig relevant ausgeklammert blieb, eröffnet die vorliegende Arbeit höchst lesenswerte Zugänge zur Einschätzung mitunter enigmatisch, mitunter beiläufig wirkender Notizen eines Schriftstellers und Analytikers wie Robert Musil. Dessen bereits erwähntes, freilich auch Episode gebliebenes ›Revolutionstagebuch‹ speist sich wesentlich aus der geradezu akribischen kritischen Lektüre von Beiträgen der Arbeiter-Zeitung sowie unmittelbarem Miterleben, um in verdichteter wie ironisch-abrechnender Form in die nachfolgende essayistische Produktion Eingang zu finden: in die Abrechnung mit Oswald Spengler in Geist und Erfahrung (1921) wie in den Essay Das hilflose Europa (1922). Ausdruck findet dies z. B. in der Klage über die Parlamentarisierung der Revolution und dem Fehlen klarer Ordnungsbegriffe, hinter denen eine Kompromittierung der anfangs revolutionären Umgestaltungsparolen der Sozialdemokratie durch Zwänge der Realpolitik (Koalitionsrücksichten) durchscheine, oder, wie es im BuridanEssay anklingt, in gefährlich anmutenden Rückbesinnungen auf Konstrukte à la österreichische Kultur in ihrer zeitgenössischen Mésalliance aus Bahr, Kralik, Kernstock und der Neuen Freien Presse kippe. Wolf verweist in diesem Zusammenhang auf den »topischen« Charakter der Desillusionierung zeitgenössischer Intellektueller (S. 56 f.), die in der etatistischen Bürokratisierung des revolutionären Anspruchs auch die Spielräume je eigener Beteiligung – oft imaginierte, oft anlassbezogen inszenierte, etwa bei Franz Werfel oder Albert Paris Gütersloh, und nur selten in begleitenden Projekten, z. B. in der »Utopiewerkstatt« des zeitgenössischen Aktivismus mitaufgehobenen, d. h. der auch in Wien wirksamen Achse Kurt Hiller–Robert Müller als radikalbürgerliche Alternative zur ›Roten Garde‹ – dahinschwinden sahen. Und er verweist, mit Bezugnahme auf eine Einschätzung durch Oskar Maurus Fontana, auf die produktive Anverwandlung dieser Erfahrung in der »sozioanalytischen Wahrnehmungsweise« Musils, etwa in der ironisch grundierten Engführung von Geist und Bürokratie, von Möglichkeits- und Wirklichkeitssinn in seinem späteren Roman Der Mann ohne Eigenschaften. Zu diesem haben die Revolutionsmonate 1918/19 immerhin einige Entwurfsszenarien geliefert, womit die vordergründig marginal wirkenden Revolutionsbeobachtungen etwa im Hinblick auf den Habitus der Musil aus dem Kriegspressequartier wie aus privaten Kontakten gut bekannten Kollegen Kisch und Werfel, zu denen die Arbeit wenig bekannte Referenztexte beisteuert, eine nachhaltigere, für das Gesamtwerk nicht unerhebliche konzeptuelle Relevanz erhalten. Mit anderen Worten: Zeitgenössische publizistische wie briefliche Zeugnisse (auch polemischen Zuschnitts) rund um die ›Rote Garde‹, die aktivistische ›Katakombe‹ und die ihnen zuordenbaren Protagonisten, sowie das ›Revolutionstagebuch‹ Musils, Werfels Barbara-Roman und spätere autobiographische Retrospektiven anderer Akteure treten in ein wechselseitig erhellendes, frappierendes Spannungs- und Rezeptionsverhältnis (unter Einschluss der Resonanz in der

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Berliner Tagespresse), das dem ›glanzlosen Finale‹ doch mehr Strahlkraft (aber auch eine kulturpsychologisch spannende Desillusions-Falltiefe) zugesteht, als dies die festgezurrte Literatur- und Geschichtsschreibung der österreichischen Revolution bislang gewillt oder imstande war zuzubilligen. Im Besonderen scheint dies auf das gleichermaßen schillernd-ambivalente wie vorprogrammiert-erfolglose Verhältnis zwischen Kisch und der ›Roten Garde‹ im Zuge seiner Rückzugsbewegungen im Frühjahr 1919 zuzutreffen, das einlässlich wie aus verschiedenen Wahrnehmungsoptiken nachgezeichnet wird (S. 168 ff.). Im zweiten Teil fokussiert Wolf, kontrastierend wie komplementär, auf die Revolutionswahrnehmung der tendenziell un- bzw. wenig an ihr beteiligten Schriftsteller wie Arthur Schnitzler, Karl Kraus, Albert Paris Gütersloh u. a. m. und setzt sich mit dem literarischen Potenzial der darauf Bezug nehmenden, in verschiedenen Verdichtungsstufen vorliegenden Texte bzw. Textbausteine auseinander. Schnitzlers bekannte Revolutions- und zugleich auch Bolschewismus-Angst, seine tiefe Verunsicherung angesichts kolportierter sozialer Umsturzszenarien und seine pointiert-überzeichnete Charakterisierung der zwischen Aktivismus, Anarchismus und ›Roter Garde‹ positionierten literarischen Akteure – »ein Gemisch von literarischen Judenbuben, Raubgesindel und Idioten« (5. 2. 1919) –, generierte bekanntlich keinen apokalyptischen Warn-Text, sondern bezeichnenderweise einen – dem Tagebuch anvertrauten – dramolettartigen Sketch, in dem sich das Komisch-Operettenhafte der Wiener Revolution und damit, so Wolf, ihre »fehlende Revolutionstauglichkeit« als strukturelles Muster »anschaulich in Szene setzt« (S. 187). Kraus steuerte mit Literatur oder Man wird doch da sehn eine ›magische Operette‹ über Blei, Gütersloh sowie deren revolutionär exaltierten Freundeskreis rund um die gemeinsam redigierte Zeitschrift Die Rettung bei, deren Maxime »Es lebe der Kommunismus und die katholische Kirche« (S. 197 f.) wilden Zuschreibungen Tür und Tor öffnete, und, eher unbeabsichtigt, Nachahmungstäter und Verschwörungsautoren auf den Plan rief. Der übelste unter ihnen war wohl Karl Paumgartten, der 1924 den (nobel) der Satire zugeordneten Roman Repablick vorlegte, der über weite Strecken krakeelend-diffamierend, aber auch rassistisch-untergriffig seinen Geifer über das Umsturzbzw. Revolutionsgeschehen und dessen Akteure ausschüttete. Literarisch anspruchsvollere Gestaltungen, wie z. B. Werfels Zeitroman Barbara oder die Frömmigkeit (1929), den Wolf zu Recht als einen der bedeutendsten Revolutionsromane jener Zeit rehabilitiert, taten sich erstaunlich schwer, dieser Diskreditierung, die Ende der 1920er Jahre vor dem Hintergrund der innenpolitischen Polarisierung verstärkt einsetzte, wirksam entgegenzutreten. Trotz präziser Nähe zum historischen Geschehen, zu dessen medialer Begleitung und massenpsychologisch eingängiger Inszenierung sowie deren fiktional schlüssiger Aufbereitung, die z. B. dem im Text als Ronald Weiß porträtierten Egon Erwin Kisch ehrliche Bewunderung abnötigte, stieß der Roman

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in der Kritik letztlich nicht auf jene Resonanz, die sich Werfel erhofft hatte. Kaum ein Text hat die »Aufbruchsstimmung der Revolutionstage« (S. 248), auch die Not der Massen, die Rhetorik mancher Protagonisten und die oft rätselhaften Verschlingungen von Theatralik und Hysterie authentischer ins Bild gesetzt, weshalb das finale Hineingleiten in eine selbstentlastende Fluchtund Abwehrhaltung überraschte wie irritierte und den hohen Anspruch in ein zwiespältiges Licht rückte. Letzteres traf freilich auch auf eine Reihe anderer Romane zu, die in der Arbeit nicht behandelt werden (konnten), von denen hier nur einer in Erinnerung gerufen werden soll: auf Sintflut, Robert Neumanns gewaltigen, auch von Stefan Zweig hochgeschätzten Roman der Inflation, der zeitgleich zu Werfel in den rumorenden, fiebrigen Bauch der Revolution und insbesondere in deren grelle, die Folgegeschichte der Ersten Republik prägende, alle Wert- und Moralbegriffe deregulierende Inflationsjahre eintaucht. Wolfs genaues, faszinierend organisiertes close reading eines Textpools von über einhundert publizistischen Zeugnissen aus der Mitte der ›akut revolutionären Situation‹ (Hans Hautmann) sowie einer repräsentativen Auswahl literarischer Reflexionen und Erinnerungstexte setzt jedenfalls neue Maßstäbe im Umgang mit dem intrikaten Verhältnis von Geschichte und Literatur, von Wirklichkeitsmodellierung und komplementär-chiffriertem Möglichkeitsdenken. Primus Heinz Kucher

Benedikt Wolf: Penetrierte Männlichkeit. Sexualität und Poetik in deutschsprachigen Erzähltexten der literarischen Moderne (1905–1969). Köln u. a.: Böhlau 2018 (= Literatur – Kultur – Geschlecht. Studien zur Literatur- und Kulturgeschichte, Bd. 72). 449 S. € 60,–. Sebastian Zilles: Die Schulen der Männlichkeit. Männerbünde in Wissenschaft und Literatur um 1900. Köln u. a.: Böhlau 2018 (= Literatur – Kultur – Geschlecht. Studien zur Literatur- und Kulturgeschichte, Bd. 71). 378 S. € 60,–. Männlichkeit im Jahre 2020 steht im Kontext des antifeministischen Backlash einer neuen Rechten – bei gleichzeitigem Fortbestehen männerbündischer Elemente in der gesellschaftlichen Mitte wie etwa an der Universität. In einer solchen Situation lohnt ein nicht verklärender Blick in die Geschichte, für den sich eine historisch fundierte literaturwissenschaftliche Männlichkeitsforschung als prädestiniert erweisen könnte: Welche Vorbilder, aber auch Alternativen für Männlichkeit lassen sich innerhalb historischer Organisationsformen und Institutionen, Narrative und Figuren ausmachen? Zwei neue Dissertationsschriften zur literarischen Moderne, die 2018 in der Reihe Literatur – Kultur – Geschlecht des Böhlau-Verlages erschienen sind, bie-

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in der Kritik letztlich nicht auf jene Resonanz, die sich Werfel erhofft hatte. Kaum ein Text hat die »Aufbruchsstimmung der Revolutionstage« (S. 248), auch die Not der Massen, die Rhetorik mancher Protagonisten und die oft rätselhaften Verschlingungen von Theatralik und Hysterie authentischer ins Bild gesetzt, weshalb das finale Hineingleiten in eine selbstentlastende Fluchtund Abwehrhaltung überraschte wie irritierte und den hohen Anspruch in ein zwiespältiges Licht rückte. Letzteres traf freilich auch auf eine Reihe anderer Romane zu, die in der Arbeit nicht behandelt werden (konnten), von denen hier nur einer in Erinnerung gerufen werden soll: auf Sintflut, Robert Neumanns gewaltigen, auch von Stefan Zweig hochgeschätzten Roman der Inflation, der zeitgleich zu Werfel in den rumorenden, fiebrigen Bauch der Revolution und insbesondere in deren grelle, die Folgegeschichte der Ersten Republik prägende, alle Wert- und Moralbegriffe deregulierende Inflationsjahre eintaucht. Wolfs genaues, faszinierend organisiertes close reading eines Textpools von über einhundert publizistischen Zeugnissen aus der Mitte der ›akut revolutionären Situation‹ (Hans Hautmann) sowie einer repräsentativen Auswahl literarischer Reflexionen und Erinnerungstexte setzt jedenfalls neue Maßstäbe im Umgang mit dem intrikaten Verhältnis von Geschichte und Literatur, von Wirklichkeitsmodellierung und komplementär-chiffriertem Möglichkeitsdenken. Primus Heinz Kucher

Benedikt Wolf: Penetrierte Männlichkeit. Sexualität und Poetik in deutschsprachigen Erzähltexten der literarischen Moderne (1905–1969). Köln u. a.: Böhlau 2018 (= Literatur – Kultur – Geschlecht. Studien zur Literatur- und Kulturgeschichte, Bd. 72). 449 S. € 60,–. Sebastian Zilles: Die Schulen der Männlichkeit. Männerbünde in Wissenschaft und Literatur um 1900. Köln u. a.: Böhlau 2018 (= Literatur – Kultur – Geschlecht. Studien zur Literatur- und Kulturgeschichte, Bd. 71). 378 S. € 60,–. Männlichkeit im Jahre 2020 steht im Kontext des antifeministischen Backlash einer neuen Rechten – bei gleichzeitigem Fortbestehen männerbündischer Elemente in der gesellschaftlichen Mitte wie etwa an der Universität. In einer solchen Situation lohnt ein nicht verklärender Blick in die Geschichte, für den sich eine historisch fundierte literaturwissenschaftliche Männlichkeitsforschung als prädestiniert erweisen könnte: Welche Vorbilder, aber auch Alternativen für Männlichkeit lassen sich innerhalb historischer Organisationsformen und Institutionen, Narrative und Figuren ausmachen? Zwei neue Dissertationsschriften zur literarischen Moderne, die 2018 in der Reihe Literatur – Kultur – Geschlecht des Böhlau-Verlages erschienen sind, bie-

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ten kontrastierende, doch sich ergänzende Möglichkeiten, die (Literatur-) Geschichtsschreibung von Männlichkeiten im 21. Jahrhundert einen guten Schritt voranzubringen. Männlichkeit wird dabei aus zwei Perspektiven betrachtet: Richtet sich Sebastian Zilles’ Interesse auf deren Verdichtung durch ›Schulung‹ in homosozialen Institutionen, so steht bei Benedikt Wolf ihre Verflüssigung mittels Figuren der analen Penetration auf dem Programm. Identifiziert Zilles diskursive und narrative Muster männerbündischer Institutionen und deren literarische Brechungen, so fokussiert Wolf heteronormative Zeichenordnungen und deren penetrative Störung. Zilles’ Studie zu den Schulen der Männlichkeit versteht sich als literaturwissenschaftlicher Beitrag zur Männerbundforschung, der den Fokus auf die institutionelle Reproduktion von Männlichkeit einerseits und deren (kritische) Darstellung in literarischen Texten andererseits legt. Im einleitenden Kapitel (S. 13–19) verortet sie sich unter anderem als »Vorgeschichte« (S. 17) von Klaus Theweleits gerade neu aufgelegten Männerphantasien (1977/ 2019). Nach einem Forschungsüberblick zu Männlichkeit, gender-orientierter Narratologie und Männerbünden im 2. Kapitel (S. 21–45) widmet sich das 3. Kapitel (S. 47–153) ausführlich der Geschichte und den Narrativen von Männerbünden anhand von Texten aus einer Vielfalt humanwissenschaftlicher Disziplinen: Anknüpfend an zeitgenössische Diagnosen einer angeblichen ›Verweiblichung der Kultur‹ und einer ›Krise der Männlichkeit‹ sowie an das Narrativ eines ›Geschlechterkampfes‹ (S. 61 ff.) werden demnach mit der Propagierung homosozialer Organisation Versuche einer Remaskulinisierung unternommen. Der Männerbund wird damit als eine Reaktion auf das Narrativ einer Vorherrschaft des Weiblichen in der Gegenwart (S. 68 ff.) gedeutet. Als Voraussetzung des Männerbund-Diskurses wird die (kritische) Rezeption von Johann Jakob Bachofens Schrift Das Mutterrecht (1861) insbesondere durch den Ethnologen Heinrich Schurtz begriffen, der den Begriff des Männerbundes im Jahre 1902 einführt. Bachofens »männliche Erfolgsgeschichte in drei Akten« (S. 94), in der sich Männer innerhalb einer mythischen Historie langer Dauer vom Weiblichen lösen müssen, entspricht bei Schurtz ein biographisches Modell der radikalen Abgrenzung von Weiblichkeit mittels Initiationsriten – von der ›Knabenweihe‹ angeblich ›primitiver‹ Völker bis zur Mensur im Deutschen Reich (S. 96). In der Rezeption von Schurtz wird sodann eine Linie aufgezeigt, die über den Mythos eines ekstatischen ›Germanentums‹ schließlich den Nationalsozialismus legitimierte (S. 105 ff.). Eine ganz entscheidende Wende erfahre der theoretische Diskurs des Männerbundes beim Sexualwissenschaftler Hans Blüher, welcher die (anti-)bürgerliche Jugendbewegung als so fundamental deutsch wie grundlegend homosexuell versteht, indem er die Homoerotik zur gemeinschaftsstiftenden, ja staatsbildenden Kraft überhöht (S. 115, 125) und damit die homophobe Grundierung homosozialer Institutionen auf die Probe stellt. Nicht von ungefähr sollte

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Blühers (Homo-)Sexualisierung, Maskulinisierung und Germanisierung von Jugendbünden später in Robert Musils Mann ohne Eigenschaften Anlass zur Karikatur der antisemitischen Figur des Hans Sepp bieten. Tatsächlich war es Blüher, wie Zilles überzeugend herausarbeitet, bereits lange vor dem Aufkommen des Nationalsozialismus eindeutig um die Exklusion von Juden sowie die Reterritorialisierung von Frauen in Haushalt und Familie zu tun (z. B. S. 128, 133 f.). Von dieser so genauen wie übergreifenden Geschichte der Theorie und der Narrative des Männerbundes wünschte man sich allein, der Narrativbegriff wie auch der Zusammenhang von diskursanalytischem und narratologischem Zugriff der Analyse würde noch deutlicher: Wenn eine chronologische Betrachtung von theoretischen Einzeltexten, wie sie Zilles praktiziert, die grundlegenden Produktions- und Darstellungsverfahren des Objektes ›Männerbund‹ (= Diskurs) und die Subjekt- und Erzählpositionen, von denen aus über diesen gesprochen werden kann, herausarbeiten soll, so wären diese stärker systematisierend in ihrem Zusammenhang vor Augen zu führen. Auf ihrer Basis erfolgt schließlich, wie im 4. Kapitel (S. 155–162) erläutert, die Analyse von vier literarischen (Prosa-)Texten der Autoren Robert Musil, Heinrich und Thomas Mann sowie Franz Werfel, welche – so die These – die Reproduktion von Männlichkeit in drei männerbündischen Institutionen (Kadettenanstalt, Studentenverbindung, Militär) sowohl repräsentieren als auch in Frage stellen. Das 5. Kapitel (S. 163–220) zu Musils Verwirrungen des Zöglings Törleß (1906) liefert mit der so präzisen wie für die übergreifende Fragestellung relevanten narratologischen Analyse der räumlichen Struktur des Internats und seiner ›Wegstrecken‹ zu anderen Punkten der »sexualisierte[n] Topografie« (S. 174) des Romans einen gelungenen Einstieg. Aufgezeigt wird, wie eine apersonale Form institutioneller Herrschaft bei Musil die Bedingungen nicht nur der disziplinatorischen Mann-Werdung von Adoleszenten reflektiert, sondern mit der ›roten Kammer‹ zugleich einen »Gegenort« (S. 192) inszeniert. Innerhalb dieser Konstellation werden Formen der Männlichkeit nicht nur performiert, sondern – etwa über die auch für männliche Figuren charakteristische Weiblichkeit (S. 197, 203, 209) – auch subvertiert. Zilles legt resümierend den Schwerpunkt auf das Moment der homosozialen Reproduktion von Männlichkeit, wodurch der Törleß als Darstellung einer »Vorgeschichte des Faschismus« (S. 191) im Sinne Theweleits erscheint. Im Anschluss daran wäre zu fragen, ob sich gerade anhand des Protagonisten nicht auch Ansätze einer alternativen Männlichkeit aufzeigen ließen, die homosexuelle Erfahrungen, feminisierende Phantasien und nicht zuletzt die Wahrnehmung der eigenen Mutter als sexuelles Wesen zu integrieren vermag und damit im diametralen Gegensatz zur Freikorps-Literatur steht. Hat die Bedeutung der Kadettenanstalten seit Musils Zeiten abgenommen, so sind Studentenverbindungen als gleichsam untote Institutionen für

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die Reaktivierung faschistischer Bewegungen und Parteien auch im 21. Jahrhundert konstitutiv geblieben. Dies verleiht Zilles’ Analyse der Mechanismen der Männer-Bildung im Verbindungswesen in den Romanen Der Untertan von Heinrich Mann (1914/1918) und Doktor Faustus seines Bruders Thomas (1947) im 6. Kapitel Aktualität (S. 221–301). Anhand des Untertan wird dabei besonders auf die »Mannwerdungserzählung« (S. 233) des Protagonisten Diederich Heßling fokussiert, dessen Zeichnung als »weicher Mann« (S. 233) weder durch Verbindungsrituale des exzessiven Bierkonsums und der Mensur noch durch Praktiken der militärischen Musterung und des Duells überwunden wird: Seine Mann-Werdung scheitert. Wie er es im Verlauf des Romans gleichwohl schafft, durch politisches Taktieren mit opportunistischen Liberalen und Sozialdemokraten der Männerbündelei zum historischen Aufstieg zu verhelfen, wird von Zilles detailliert herausgearbeitet. In einem Exkurs zum Verbindungswesen im erst 1947 publizierten Doktor Faustus wird hingegen genauer auf die Konsequenzen der männerbündischen Subjektformung reflektiert, die im Nationalsozialismus zu Tage traten. Im kürzeren 7. Kapitel (S. 303–334) wird am Beispiel von Franz Werfels Novelle Nicht der Mörder, der Ermordete ist schuldig (1919) anhand der Institutionen von Kadettenanstalt und Armee militärische Männlichkeit diskutiert, die auch im Vater des Protagonisten personifiziert ist. Dieser wird eine alternative männerbündische Organisation in Form eines anarchistischen Geheimbundes entgegengesetzt, dem von Zilles vielleicht etwas vorschnell eine angebliche Nähe zu faschistoiden Männlichkeitskonzepten unterstellt wird (S. 332). Trotz solch punktueller Einwände liegt hier zweifellos eine profunde Studie zur historischen Theoretisierung und Darstellung männerbündischer Institutionen vor. Obgleich dabei theoretisches Wissen eindeutig im Vordergrund steht, wird über die Praktiken und Rituale der Männlichkeitsschulung eine Verbindung zur sozialen Praxis hergestellt; interessant wäre dabei gewesen, das im Männerbunddiskurs verschiedentlich herausgestellte spezifisch Deutsche (vgl. bereits S. 13) noch genauer zu konturieren. Auch die Analyse narrativer Muster überzeugt, auch wenn diese vielleicht abschließend stärker systematisiert hätten werden können. Das resümierende 8. Kapitel (S. 335–339) ist äußerst knapp und wiederholt im Wesentlichen Ergebnisse der Textanalysen. Die Gliederung der Literaturanalysen anhand der Institutionen erscheint zwar plausibel, erlaubt aber trotz einer Fülle gekonnter Querverweise nur schwer eine Systematisierung der Ergebnisse. Stärker als dem Zusammenhang historischer Institutionen, Diskurse und Narrationen widmet sich Benedikts Wolf Geschichte von Poetiken der Penetrierten Männlichkeit dem Zusammenspiel von heteronormativen Ordnungen, Körpern und Zeichen. Ging es bei Zilles um die Stählung von Männerkörpern, so zeigt Wolf deren Penetrabilität auf. Das Buch ist so prägnant und verständlich wie dramaturgisch gewandt geschrieben und garantiert so

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trotz des hohen theoretischen Reflexionsniveaus eine lustvolle Lektüre. In der Einleitung (S. 13–52) wird die Arbeitshypothese, penetrierte Männlichkeit fungiere als Störung der heteronormativen wie der semiotischen Ordnung (S. 17, 20, 389), anhand des grotesken Textes Der Schmarotzer von Salomo Friedländer (Pseudonym Mynona) pointiert entfaltet. Sodann werden die historischen Voraussetzungen von Homosexualitätskonzepten innerhalb des Untersuchungszeitraums rekonstruiert, welcher zwischen Sigmund Freuds Neukonzeptualisierung passiver analer Penetration 1905 und der weitgehenden Entkriminalisierung der letzteren in der BRD 1969 angesiedelt ist. Die Studie orientiert sich in einem Theoriekapitel (S. 53–82) an Freuds produktiver Trennung von (historisch gleichwohl häufig miteinander identifizierter) analer Penetration und Homosexualität, »von Objektwahl und Praxis« (S. 56). Die folgenden Kapitel gliedern sich anhand von vier rhetorischen Figuren (Allusion, Ironie, Metapher, Metonymie) und somit einer nicht expliziten, sondern ästhetisch modellierten Darstellung penetrierter Männlichkeit (S. 51 f.). Neben heute weniger im Fokus der Literaturwissenschaft stehenden Texten (u. a. von Felix Rexhausen, Otto Julius Bierbaum und Arnolt Bronnen) werden kanonische Prosatexte von Autoren (wie auch bei Zilles ausschließlich Männern) der literarischen Moderne untersucht: Thomas Mann, Robert Musil, Franz Kafka, Hubert Fichte und Hans Henny Jahnn. Im 1. Kapitel (S. 83–114) wird zunächst am Beispiel homosexueller Belletristik im frühen 20. Jahrhundert (insb. der Sammlung Das erotische Komödiengärtlein, 1920, und Karl Eskes Erzählung Roupy, 1924) als Strategie der Darstellung von passivem Analverkehr bei Männern die Anspielung verhandelt, die – anders als zeitgenössische wissenschaftliche Texte (S. 85) – anale Penetration nicht explizit anspreche, sondern durch Interpunktionszeichen markiert ausspare oder durch indexikalische Zeichen, Soziolekte oder Zoten andeute (S. 93–103). Als Gegenbeispiel dient der satirische und explizit pornographische Pseudo-Ratgeber Die Sache von Felix Rexhausen aus dem Jahr 1969. Dem entspricht die grundlegende historische These des Buches, dass erst nach 1968 eine explizite Darstellung von penetrierter Männlichkeit verbreitet möglich wurde. In jedem Kapitel stammt ein Text aus der Zeit vor dem Nationalsozialismus und einer aus der danach (S. 49), wobei der Zeitraum 1933–1945 auch in Ermangelung von Texten ausgespart bleibt, die Wolf auf eine weitgehende Verdrängung und Denunzierung rezeptiven Analverkehrs nicht nur im Nationalsozialismus, sondern auch in der Exilliteratur zurückführt (S. 410). Das 2. Kapitel (S. 115–181) behandelt Tropen der Ironie und Strategien der Maskerade penetrierter Männlichkeit in Otto Julius Bierbaums Roman Prinz Kuckuck. Leben, Taten, Meinungen und Höllenfahrt eines Wollüstlings (1906– 1908) und Thomas Manns Romanfragment Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull (1922/1937/1954). Wurde Bierbaums Roman in der (überschaubaren) Forschung bislang kaum auf Fragen der Sexualität bezogen, so wird er hier in erster Linie als Geschichte einer Wendung der Hauptfigur Henry Fe-

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lix sowie seines Antagonisten Karl Kraker zur Homosexualität gelesen; als besonders gelungen kann dabei die Deutung geschlechtlicher Symbole als Maskeraden gelten (S. 142 f., 149 f.). Die These ist, dass Homosexualität bei Bierbaum ironisiert und denunziert wird, indem sie etwa im Fall des ansonsten heterosexuellen Protagonisten als Auswuchs einer Hypersexualisierung erscheint, die mit der jüdischen Herkunft seiner promisken Mutter assoziiert wird und somit als antisemitische Ironie gelesen werden muss (S. 138 f., 157). Ganz im Gegensatz zu einer solch denunzierenden Ironie spricht Wolf im Falle von Thomas Manns notorisch unzuverlässig erzählendem Hochstapler Felix Krull von einer karnevalesken Struktur dramatischer Narration (S. 167), in der eine grundsätzliche Vertauschbarkeit von sexuellen Rollen deren ironische Denaturalisierung bewirke (S. 181). In schlagender Weise exemplifiziert wird diese These anhand der Episode mit Madame Houpflé, in der »mit dem Phantasma männlicher Rezeptivität in der heterosexuellen Konstellation zugleich das Phantasma der penetrierenden Frau auf[scheint]« (S. 174). Die anale Penetration von Männern durch Frauen belegt einmal mehr die Arbitrarität einer generellen Verknüpfung dieser Praktik mit Homosexualität. Das 3. Kapitel (S. 182–270) widmet sich Metaphern penetrierter Männlichkeit in Erziehungsinstitutionen am Beispiel von Musils Törleß (1906) sowie Hubert Fichtes Roman Das Waisenhaus (1965), der zur Zeit des Höhepunkts nationalsozialistischer Herrschaft 1942/1943 spielt, wenn auch nur einen Zeitraum von wenigen Sekunden umfasst. Die grundlegende These zu Musil ist, dass die beiden Stränge des Romans, Wissen und Sex, sich ergänzen und somit »Törleß’ epistemologisches Problem als sexuell und sein sexuelles Problem als epistemologisch zu lesen« sei (S. 199), wobei die Verbindung zwischen beidem metaphorisch hergestellt werde (S. 201 f.). Während die im Roman omnipräsenten Türen und Tore plausibel als Metaphern analer Penetration bestimmt werden können (S. 214 ff.), scheint mir insgesamt die Anspielung (S. 219, 226) bei Musil die zentralere Operation der Darstellung von Analsex zu sein und die Deutung des Kürzels B. als analer Signifikant (S. 221 f.) in logisch eher unsichere Gefilde zu weisen; etwas salopp ausgedrückt: Nur weil alle einen Hintern haben, muss das ihnen gemeinsame Zeichen nicht auf diesen deuten. Kaum herumkommen werden künftige Forschungen jedoch um die These, dass Sex und Erkenntnis für Törleß aufeinander verweisen, insofern »nicht der mystische Gegenstand dem Scheitern der Sprache vorgängig ist, sondern [. . .] umgekehrt eine sozial erzeugte Sprachlosigkeit den Gegenstand erst als mystisch konstituiert« (S. 227). Und dieser Gegenstand ist im Törleß, wie Wolf klar belegt, penetrierte Männlichkeit. In Fichtes polyphon montiertem Roman Das Waisenhaus hingegen wird der jüdische Protagonist Detlev über Kippbilder (Puppenauge/Vogelkot, S. 242), Metaphern (etwa dem Anus als Lindenblatt, S. 249) sowie dem als Concetto (einer verblüffenden Analogie von Disparatem) gedeuteten Ausdruck ›flicken‹ (S. 266–268) mit analer Sexualität konfrontiert. Diese Figuren werden als Subversion des im Inter-

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nat herrschenden nationalsozialistischen sowie katholischen Sprachterrors begriffen (S. 237). Kapitel 4 (S. 271–350) untersucht Wunden als Metonymien der Penetration von Männerkörpern in Franz Kafkas kurzer Erzählung Ein Landarzt (1918) und Hans Henny Jahnns Novelle Die Nacht aus Blei (1956), die 1952 im Zusammenhang mit dem zu Lebzeiten unveröffentlichten Romanprojekt Jeden ereilt es entstand, das im folgenden Kapitel diskutiert wird. Der Tendenz der Forschung, Kafkas rätselhafte Erzählung mittels interpretatorischer Verrenkungen allein auf heterosexuelles Begehren zu beziehen, wird hier ausgehend von der zentralen Bedeutung einer Bettszene zweier Männer in der Erzählung widersprochen (S. 280). Diese wird unter Verweis auf Tempuswechsel und dramatische Elemente nicht als Teil eines Traums, sondern als Hochzeitsritual gedeutet (S. 293 f.), während die Wunde des kranken Knaben als Metonymie einer Rosette verstanden wird (S. 298 f.). Die der konzisen Lektüre folgende abschließende These, der »leere Raum der unbedruckten Seite nach dem Punkt des letzten Satzes« sei »das messianisch erwartete Ende der Geschichte«, während im »weißen Raum der unbedruckten Seite [. . .] der ›wirkliche Ausnahmezustand‹« im Sinne Walter Benjamins hergestellt würde (S. 305), gehört allerdings wohl ins Reich der Spekulation: Endet zwar Kafkas Geschichte unzweifelhaft nach dem letzten Punkt, so fällt es mir schwer, den Sprung zu Benjamins Messianismus nachzuvollziehen. Anders als Kafkas Erzählung wird Jahnns Die Nacht aus Blei tatsächlich als Traum des Protagonisten verstanden, wobei die gleichfalls durch Tempuswechsel gekennzeichnete Erzählung analog zu Kafka in der Erzählung einer Verwundung kulminiert, die als metonymische Darstellung analer Penetration, in diesem Fall eines Faustficks (S. 339), gelesen wird. Da sich explizite Darstellungen penetrierter Männlichkeit jenseits der Pornographie im untersuchten Zeitraum Wolf zufolge sehr viel seltener finden, schließt die Studie mit einem kürzeren 5. Kapitel (S. 351–388) zu Arnolt Bronnens Septembernovelle (1923) und Jahnns Romanfragment Jeden ereilt es, das – Wolfs historischer These entsprechend – 1951 entstand, doch erst postum im Jahre 1968 publiziert werden konnte. Bronnens Novelle steht der bei Theweleit untersuchten Freikorps-Literatur nahe und wird hier konsequent im Rekurs auf Hans Blüher als männerbündische Funktionalisierung von Homosexualität gelesen (S. 357, 362, 369; vgl. dazu auch Zilles), welche der Frau nur bedarf, um sie zugunsten gewaltförmig sexualisierter Männlichkeit zu exkludieren. In klarem Gegensatz dazu steht Jahnns postum publiziertes Fragment im Zeichen einer »Regel vom Loch« (S. 381), welche die Penetration unabhängig von sexueller Ausrichtung und geschlechtlicher Identität ermöglicht (S. 383) und dabei den Anus gegenüber anderen Partialen nicht privilegiert (S. 387). Hierbei wird auch deutlich, dass der Anus in der Analyse selbst nicht zum zweiten Phallus gerät, auf den alle Zeichen und Partiale verweisen. Die

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Freisetzung dieser von identitären Zwängen scheint mir auch als utopischer Fluchtpunkt der Studie dem anhand Kafkas angeführten Messianismus der leeren Seite überlegen zu sein. Gelegentliche Überspitzungen der Interpretation, zu denen auch die o. g. Deutung des Signifikanten B. gehört, hängen möglicherweise mit dem stetigen Rekurs auf die Psychoanalyse gerade in ihrer Lacan’schen Variante zusammen, über deren Bedeutung für die konkrete Textanalyse sich, so bekanntlich etwa am Beispiel Musils (S. 190), trefflich streiten lässt. Damit ist allerdings auch schon das einzige grundlegendere Problem der erkenntnisreichen Arbeit angesprochen. In einem Fazit-Kapitel (S. 389–414) erfolgt eine Systematisierung ihrer Ergebnisse entlang der Achsen ›(un-)konventionelle Konnotationen‹ (z. B. Schmerz/Lust, Aktivität/ Passivität, S. 391, 394), Minorisierung/Universalisierung, Diskursivierung/Somatisierung sowie Stabilisierung/Kritik/Transformierung. »Die literarische Gestaltung penetrierter Männlichkeit trifft in den Kern des heteronormativen Geschlechterverständnisses« (S. 414) – diesem Resümee wäre hinzuzufügen: Sie trifft zugleich ins Herz der Philologie, indem sie so exakte wie komplexe neue Erkenntnisse zu zentralen Texten der literarischen Moderne zu Tage fördert. Die beiden Studien von Zilles und Wolf könnten zur Inspiration künftiger Forschung als komplementäre Teile begriffen werden. Werden sexuelle und zumal homosexuelle Beziehungen auch bei Zilles als Moment homosozialer Institutionen angesprochen, so bleibt ein ›closest reading‹ der Formen ihrer Darstellung Wolf überlassen. Die semiotische und poetologische Lektüre könnte hingegen durch eine stärkere Berücksichtigung der soziohistorischen Kontexte und institutionellen Praktiken produktiv erweitert werden. Florian Kappeler

Niklas Bender: Die lachende Kunst. Der Beitrag des Komischen zur klassischen Moderne. Freiburg i. Br.: Rombach 2017 (= Litterae, Bd. 223). 562 S. € 64,–. Eine konservative Studie zur transformativen Potenz des Komischen – die Habilitationsschrift von Niklas Bender begreift weder die transgressive Komik noch den ästhetischen Modernismus als radikalen Bruch, sondern als Freiheit zur Umgestaltung tradierter Formen und Stoffe. Das vorwiegend romanistische Korpus umfasst Drama, Lyrik und Epik der Epoche von ca. 1900 bis 1960. Dabei ergänzen bildkünstlerische oder filmische Einzelfälle (Max Ernst, Pier Paolo Pasolini) die Textanalysen; komparatistisch wird jene Auswahl zudem durch englischsprachige Romane (James Joyce, Flann O’Brien) wie durch ein Gastspiel deutscher Erzählprosa (Günter Grass). Die herme-

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Freisetzung dieser von identitären Zwängen scheint mir auch als utopischer Fluchtpunkt der Studie dem anhand Kafkas angeführten Messianismus der leeren Seite überlegen zu sein. Gelegentliche Überspitzungen der Interpretation, zu denen auch die o. g. Deutung des Signifikanten B. gehört, hängen möglicherweise mit dem stetigen Rekurs auf die Psychoanalyse gerade in ihrer Lacan’schen Variante zusammen, über deren Bedeutung für die konkrete Textanalyse sich, so bekanntlich etwa am Beispiel Musils (S. 190), trefflich streiten lässt. Damit ist allerdings auch schon das einzige grundlegendere Problem der erkenntnisreichen Arbeit angesprochen. In einem Fazit-Kapitel (S. 389–414) erfolgt eine Systematisierung ihrer Ergebnisse entlang der Achsen ›(un-)konventionelle Konnotationen‹ (z. B. Schmerz/Lust, Aktivität/ Passivität, S. 391, 394), Minorisierung/Universalisierung, Diskursivierung/Somatisierung sowie Stabilisierung/Kritik/Transformierung. »Die literarische Gestaltung penetrierter Männlichkeit trifft in den Kern des heteronormativen Geschlechterverständnisses« (S. 414) – diesem Resümee wäre hinzuzufügen: Sie trifft zugleich ins Herz der Philologie, indem sie so exakte wie komplexe neue Erkenntnisse zu zentralen Texten der literarischen Moderne zu Tage fördert. Die beiden Studien von Zilles und Wolf könnten zur Inspiration künftiger Forschung als komplementäre Teile begriffen werden. Werden sexuelle und zumal homosexuelle Beziehungen auch bei Zilles als Moment homosozialer Institutionen angesprochen, so bleibt ein ›closest reading‹ der Formen ihrer Darstellung Wolf überlassen. Die semiotische und poetologische Lektüre könnte hingegen durch eine stärkere Berücksichtigung der soziohistorischen Kontexte und institutionellen Praktiken produktiv erweitert werden. Florian Kappeler

Niklas Bender: Die lachende Kunst. Der Beitrag des Komischen zur klassischen Moderne. Freiburg i. Br.: Rombach 2017 (= Litterae, Bd. 223). 562 S. € 64,–. Eine konservative Studie zur transformativen Potenz des Komischen – die Habilitationsschrift von Niklas Bender begreift weder die transgressive Komik noch den ästhetischen Modernismus als radikalen Bruch, sondern als Freiheit zur Umgestaltung tradierter Formen und Stoffe. Das vorwiegend romanistische Korpus umfasst Drama, Lyrik und Epik der Epoche von ca. 1900 bis 1960. Dabei ergänzen bildkünstlerische oder filmische Einzelfälle (Max Ernst, Pier Paolo Pasolini) die Textanalysen; komparatistisch wird jene Auswahl zudem durch englischsprachige Romane (James Joyce, Flann O’Brien) wie durch ein Gastspiel deutscher Erzählprosa (Günter Grass). Die herme-

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neutische Beweisführung zielt darauf, das Profil der klassischen Moderne im Hinblick auf die lachende Avantgarde zu relativieren. So schlicht die Frage einleitend gestellt wird, so vermittelt sie dennoch ohne theoretische Umstände den von Bender praktizierten Zugang. Es soll darum gehen, »welche komischen Mittel in der modernen Kunst wie zum Einsatz kommen« (S. 13). Solch ein technisches Verständnis verzichtet auf Begriffsbildung, um stattdessen die gegebenen ästhetischen Kategorien analytisch in Gebrauch zu nehmen. Als epochentypisch gelten jene Gestaltungsweisen, die entweder an die Grenzen komischer Wirkung führen (Groteskes, Monströses, Absurdität) oder intertextuell ansetzen wie z. B. parodistische Verfahren. Entscheidungen, die im Vorfeld getroffen werden, umreißen den Horizont der Arbeit. Reagiert Komik in erster Linie auf die Verluste und Neueroberungen einer als bekannt vorausgesetzten Moderne oder hat sie ihren eigenen Anteil an der Modernisierung der Künste? Angesichts seines Titels zielt der »Beitrag« auch auf den Nachweis der zweiten, stärkeren These. Dazu gibt es in der jüngsten Forschung spezialisierte Vorstöße und vergleichsfördernde Sammelbände,37 aber noch keine monographische Zusammenführung in ganzer Breite von Gattungen und Medien. Bender legt eine pragmatische Definition zugrunde: ›Komisch‹ erscheint das künstlerisch Dargebotene immer dann, wenn Normverletzung, Inkongruenz und – mit Karlheinz Stierle – ästhetisch distanzierende »Enthebung« (S. 33) zusammentreffen. Der Stand der Reflexion entspricht den bereits im Verbund von ›Poetik und Hermeneutik‹ entwickelten Denkfiguren.38 Fachgemäß wird die Nachfolge von Anthropologie und Rezeptionsästhetik angetreten, theoretisch aktuellere Modellierungen sind hingegen vollkommen außer Acht gelassen. Infolgedessen besteht keine Möglichkeit, die strategische Position der Komik in ihrem Verhältnis zur sozialen Kommunikation zu bestimmen und daraus herzuleiten, weshalb sie das Selbstverständnis der Avantgarden mitgeprägt hat. Diese Ebene wäre eventuell geeignet, die Beobachtungen aller Teil-Kapitel zu übersteigen oder stärker systematisch zu integrieren, als es in der Schlussbetrachtung geschieht. Aus der durchgehaltenen Logik von Autorität und Angriffsfläche folgen jene drei Traditionsmächte, nach denen die Lektüren ihre Schwerpunkte setzen: »Staat, Religion und Kultur« (S. 69). Dieser Dreiklang beruft sich historisch auf Jacob Burckhardts Weltgeschichtliche Betrachtungen (1868), was den thematisch paradoxen Konservatismus der Herangehensweise unterstreicht. 37

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Vgl. Avantgarde und Komik. Hg. v. Ludger Scherer u. Rolf Lohse. Amsterdam, New York 2004 (= Avant Garde Critical Studies, Bd. 16); Oliver Ruf: Ästhetisches Lachen. Die Kultur des Komischen in Kunsttheorie und künstlerischer Praxis der Avantgarde, in: Das Komische in der Kultur. Hg. v. Hajo Diekmannshenke, Stefan Neuhaus u. Uta Schaffers. Marburg 2015, S. 46–68. Vgl. Das Komische. Hg. v. Wolfgang Preisendanz u. Rainer Warning. München 1976 (= Poetik und Hermeneutik, Bd. 7).

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Dass die gruppierten Spielfelder des Komischen trotzdem produktiv sein können, beweist der vielseitige Hauptblock (II .). Betrachtet werden JesusBilder in Dichtung, Malerei und Film: Christus als Flugzeug-Metapher in Apollinaires Gedicht Zone, die parodistische Verklärung des Ulysses-Helden Leopold Bloom zur Erlösergestalt; der versohlte Heiland von Max Ernst, d. h. dessen surrealistische Parodie des Altmeisterlichen mit dem vielsagenden Titel La Vierge corrigeant l’enfant Jésus devant trois témoins: André Breton, Paul Éluard et le peintre; ferner die von Oskar Matzerath zum Trommler belebte Jesus-Statue und schließlich der groteske »Film über das Drehen von Jesusfilmen« (S. 362), Pasolinis La Ricotta. Bemerkenswert ist nun, dass die blasphemischen Energien, welche die Werke entfalten, keineswegs primär den Status der religiösen Ikonographie betreffen, sondern sich auf die Programmatik der modernistischen Strömungen zurückwenden, auf den Anspruch z. B. der Futuristen, den Umgang mit ihren künstlerischen Medien von Grund auf zu erneuern. ›Korrigiert‹ wird also die totale Absage an traditionelle Formen, um vielmehr in deren komischer Bearbeitung eine unverbrauchte Verbindung des Alten mit dem Neuen herzustellen. Auf dieser Linie gewinnt Benders Argumentation am meisten Kohärenz. Apollinaires Kombination aus freien und gebundenen Versen gipfelt in der komisch unstimmigen Metapher vom himmelwärts strebenden ChristusAeroplan; esoterische Probleme der Autorschaft sowie die Kluft zwischen höchster Kunst und banalem Leben erreichen bei Joyce ihre Lösung, indem die Schreibweise selbst zwischen prophetischer Transzendenz und sinnlicher Alltagswelt und Sprache vermittelt. Grass scheint seine Profanierung des Jesusknaben auch deshalb zu inszenieren, um in post-avantgardistischen Zeiten die sakralisierende Pose eines Künstler-Messias ironisch einnehmen zu können. Bender betont indessen eher die ästhetische Verwandlungslehre, wonach die Begegnung mit dem entweihten Gottessohn eine »mythische Weltsicht« (S. 358) für den auf Modernität verpflichteten Geschichtsroman revitalisiert. Pasolinis ›Leben Jesu‹ lenkt den Blick auf das Meta-Setting des Film-Genres oder der Regisseur-Figur, ebenso auf mediale Techniken des Tempos und der Tonspur, mit denen die Zwangsläufigkeit der trotz aller Herabsetzung sich vollziehenden Passion gebrochen wird. Dieselbe Komik hintertreibt den ästhetizistischen Purismus ohne soziales Korrektiv (vgl. S. 386). Sämtliche Exempel durchzieht eine Unterscheidung, die von Bender nirgends eingeführt wird, seine Erkenntnisse aber deutlicher markiert und begründet hätte. Es interagieren nämlich nicht nur das kulturelle Erbe und der Modernismus, sondern auch die Programme der Avantgarden mit der jeweiligen Ausführung komisierender Performativität. Dabei fällt auf, dass etwa im Ulysses bereits das Material für die sublimen Sequenzen der Parodie performativ verfasst ist: religiöse Rituale oder formelhafte sprachliche Abläufe. Komische Verfahren greifen bestens gerade dort, wo Mechanismen oder Routinen zu finden sind. Die lachende Kunst schaltet sich in derartige laufende

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Prozesse ein, um unerwartete Anschlüsse zu ermöglichen. Diese irritierende und zugleich kommunikative Funktion macht sie komisch. Fragen, die im theoretischen Modus oder in Form von Manifesten nicht unbedingt adressierbar sind, gelangen so zur Darstellung bzw. kommen im sozial-medial definierten Rahmen zur Verhandlung. Der Grund, weshalb vor allem das Jesus-Kapitel überzeugt, ist daher weder die ›Fallhöhe‹ für Normverletzung und Inkongruenz noch das Traditionsgewicht. Entscheidend ist der quasi-rituelle Vorgang, der sich komisch verfremden lässt: sei es die Züchtigung eines festen Bildmotivs (Ernsts ›Madonna mit Kind‹) oder die umfunktionierte Liturgie in der BlechtrommelSzene oder poetische Litaneien bei Joyce. Die zweite günstige Bedingung kann man darin vermuten, dass Religion als solche von den Wertmaßstäben und Debatten der Avantgarde hinreichend abgegrenzt ist. Im Vergleich dazu bietet das anschließende »Kultur«-Kapitel (III .) über metafiktionale Verwicklung von Künstler-Figuren und Autor-Instanzen womöglich nicht genügend Abstand zur selbstreflexiven Kommunikation von Kunst. An Flann O’Briens At Swim-Two-Birds bestätigt sich, dass Grundsätzliches zum Thema Fiktion und Autorschaft spielerisch vorgeführt wird und direkt aus der komischen Praxis hervorgeht. Figuren verschiedener Erzählebenen diskutieren bzw. realisieren »die poetologischen Konsequenzen der Eigenschaften des Ich-Erzählers. Jugendliche Eitelkeit und plagiierende Faulheit treiben, folgerichtig entwickelt, erstaunliche Blüten: Sie führen zu einer modernistischen Poetik.« (S. 455) Die Artistik der Metalepsen und Genre-Parodien zeigt revidierte Ambitionen einer »Literatur im Zeitalter von Massenmedien« (S. 471). Mit jener Tendenz liest die letzte Analyse auch Raymond Queneaus abstürzenden bzw. aus dem Roman fliehenden Ikarus (Le Vol d’Icare) als Parodie auf die Frühphase des Modernismus (vgl. S. 511). Das Kapitel zum »Staat« (I .) durchläuft einen »Parcours der MacbethAdaptionen« von Alfred Jarrys Ubu roi und Filippo Tommaso Marinettis Le Roi Bombance bis zu Eugène Ionescos Macbett. Offenkundig wird, dass die Verkürbissung (Seneca) – so die Physis des Königs und vulgäre Sprachkomik bei Jarry – des tragischen Helden auf die Dramenform übergreift. Daraus entsteht ein schockierendes sowie zum Lachen herausforderndes Theater des Monströsen, Grotesken und Absurden. Bender stellt überdies fest, dass der transgressive Gestus, der hier für das Komische einsteht, zuerst an Shakespeares Vorlage hemmungslos ausagiert wird, sich aber im Laufe der Epoche »erschöpft« (S. 214). »Die Moderne als politisches und als ästhetisches Projekt« (ebd.) kann einer allmählichen Selbstkritik nicht entgehen und bedient sich dazu der Komik. Trotz ihrer Dialektik der ›Bewahrung‹ eröffnet Die lachende Kunst breit gestreute Einblicke in die katalytische Innovationskraft der komisch eingesetzten Praktiken. Zusätzlich deckt sie auf, dass die mitunter pompöse und

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autoritäre Avantgarde, die von Bender in ihre Gruppen (z. B. Oulipo) und historischen Stadien ausdifferenziert wird, zu sich selbst Distanz gewinnt, indem sie eigene oder fremde Traditionsbestände ironisiert, parodiert, persifliert, grotesk abwandelt etc. Allerdings muss man solche anregenden Perspektiven aus einer Fülle von Nebeninteressen und philologischer Kleinarbeit z. T. selbst heraussuchen. Das Gerüst der Studie bildet ein wertgestützter Kulturbegriff über alle drei Sektionen Staat – Religion – Kultur/Kunst hinweg. Darauf wird auch die Konzeption des Komischen ausgerichtet. Weil dieses Festhalten an Wertordnungen und ihren Verbindlichkeiten gar nicht reflektiert wird, kann keine Alternative innerhalb der klassischen Moderne in Erscheinung treten. Dazu wäre es nötig, über die nützlichen Selbstbeschränkungen des Vorhabens hinauszudenken. Anja Gerigk

Jacques Bouveresse: Le Mythe moderne du progrès. La critique de Karl Kraus, de Robert Musil, de George Orwell, de Ludwig Wittgenstein et de Georg Henrik von Wright. Marseille: Agone 2017 (= Cent milles signes). 128 S. € 9,50. Das dünne Büchlein (die 100 000 Zeichen – »Cent milles signes« – sind wörtlich zu nehmen) des renommierten Philosophen und Musil-Forschers39 Jacques Bouveresse (*1930) ist aus einem Vortrag über den finnischen Philosophen Georg Henrik von Wright (1916–2003) und Ludwig Wittgenstein hervorgegangen. Bouveresse reflektiert darin über den Begriff des Fortschritts. In einem ersten Kapitel umkreist er das Problem ausgehend von Zitaten von Karl Kraus. Dieser stellt fest, dass Fortschritt ein Standpunkt ist und nicht eine Bewegung. Von Wright wiederum betont, Fortschritt sei ein Werturteil. Und auch wenn die Postmoderne skeptisch ist gegenüber dem Fortschritt, wurde das Wort nie so häufig gebraucht wie heute. Von Musil verwendet Bouveresse ein Zitat, in welchem dieser feststellt, dass es viele Fortschritte im Einzelnen gibt, aber keinen im Gesamten (vgl. GW II, S. 582 f.). Um das Einzelne kümmert sich die Wissenschaft, aber für das Ganze haben wir keine Instrumente, es sind meistens nur rhetorische oder sprachliche Mittel, die es erlauben, vom Ganzen zu reden. Fortschritt impliziert Technik, Wissenschaft, impliziert aber auch alle negativen Auswirkungen auf die Menschheit. Von Wright strebt einen entmythisierten Rationalismus an, welcher sich vom »Mythos des Fortschritts« befreit hat. Dieser besteht darin, dass man glaubt, dass 39

Vgl. Jacques Bouveresse: L’Homme probable. Robert Musil, le hasard, la moyenne et l’escargot de l’Histoire. Combas 1993; ders.: La Voix de l’âme et les chemins de l’esprit. Dix études sur Robert Musil. Paris 2001.

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autoritäre Avantgarde, die von Bender in ihre Gruppen (z. B. Oulipo) und historischen Stadien ausdifferenziert wird, zu sich selbst Distanz gewinnt, indem sie eigene oder fremde Traditionsbestände ironisiert, parodiert, persifliert, grotesk abwandelt etc. Allerdings muss man solche anregenden Perspektiven aus einer Fülle von Nebeninteressen und philologischer Kleinarbeit z. T. selbst heraussuchen. Das Gerüst der Studie bildet ein wertgestützter Kulturbegriff über alle drei Sektionen Staat – Religion – Kultur/Kunst hinweg. Darauf wird auch die Konzeption des Komischen ausgerichtet. Weil dieses Festhalten an Wertordnungen und ihren Verbindlichkeiten gar nicht reflektiert wird, kann keine Alternative innerhalb der klassischen Moderne in Erscheinung treten. Dazu wäre es nötig, über die nützlichen Selbstbeschränkungen des Vorhabens hinauszudenken. Anja Gerigk

Jacques Bouveresse: Le Mythe moderne du progrès. La critique de Karl Kraus, de Robert Musil, de George Orwell, de Ludwig Wittgenstein et de Georg Henrik von Wright. Marseille: Agone 2017 (= Cent milles signes). 128 S. € 9,50. Das dünne Büchlein (die 100 000 Zeichen – »Cent milles signes« – sind wörtlich zu nehmen) des renommierten Philosophen und Musil-Forschers39 Jacques Bouveresse (*1930) ist aus einem Vortrag über den finnischen Philosophen Georg Henrik von Wright (1916–2003) und Ludwig Wittgenstein hervorgegangen. Bouveresse reflektiert darin über den Begriff des Fortschritts. In einem ersten Kapitel umkreist er das Problem ausgehend von Zitaten von Karl Kraus. Dieser stellt fest, dass Fortschritt ein Standpunkt ist und nicht eine Bewegung. Von Wright wiederum betont, Fortschritt sei ein Werturteil. Und auch wenn die Postmoderne skeptisch ist gegenüber dem Fortschritt, wurde das Wort nie so häufig gebraucht wie heute. Von Musil verwendet Bouveresse ein Zitat, in welchem dieser feststellt, dass es viele Fortschritte im Einzelnen gibt, aber keinen im Gesamten (vgl. GW II, S. 582 f.). Um das Einzelne kümmert sich die Wissenschaft, aber für das Ganze haben wir keine Instrumente, es sind meistens nur rhetorische oder sprachliche Mittel, die es erlauben, vom Ganzen zu reden. Fortschritt impliziert Technik, Wissenschaft, impliziert aber auch alle negativen Auswirkungen auf die Menschheit. Von Wright strebt einen entmythisierten Rationalismus an, welcher sich vom »Mythos des Fortschritts« befreit hat. Dieser besteht darin, dass man glaubt, dass 39

Vgl. Jacques Bouveresse: L’Homme probable. Robert Musil, le hasard, la moyenne et l’escargot de l’Histoire. Combas 1993; ders.: La Voix de l’âme et les chemins de l’esprit. Dix études sur Robert Musil. Paris 2001.

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Fortschritt ewig und unbegrenzt, dass er etwas Natürliches und Notwendiges sei (S. 72). In seinem Buch stellt Bouveresse Fragen wie: Sind die Kritiker des Fortschritts seine Feinde? Zu diesen Kritikern gehört zum Beispiel Wittgenstein, der vielen als konservativ gilt, der aber weder die alte Zeit herbeisehnt noch an eine glänzende Zukunft glaubt. In diesem Zusammenhang kommt Bouveresse auf Kakanien zu sprechen, indem er sich fragt, warum Kakanien so viele Intellektuelle fasziniert hat. Er sieht im Österreich der Jahrhundertwende zugleich ein Modell des Widerstands gegen die Moderne und, wie von Wright bemerkt, mit seiner Auflösung der Grenzen, seiner Mischung von Sprachen und Nationalitäten zugleich ein Sinnbild der Moderne. Wittgenstein hingegen war der Meinung, dass man nicht in einem solchen Zustand zwischen Vergangenheit und Zukunft leben könne. In Wittgenstein sieht er einen, der dieselbe Position wie er, Bouveresse, vertritt, nämlich, dass der Schaden, den der technische Fortschritt anrichtet, nicht durch kosmetische Maßnahmen korrigiert werden kann, sondern dass es dazu eine radikale Einstellungsänderung und eine strenge und wirkungsvolle Art von Weisheit und Maß im Umgang mit der Natur und den natürlichen Ressourcen braucht (vgl. S. 69). Im nächsten Abschnitt legt er von Wrights Kritik am »Mythos des Fortschritts« dar. Von Wright betont, dass die Rationalität die technischen Errungenschaften ermöglicht hat, aber er ist nicht sicher, dass der Mensch auch eine natürliche Disposition hat, die ihn dazu bringt, die biologischen Bedingungen zu beachten. Wir seien an einem Punkt angelangt, an dem man sich fragen kann, ob die Folgen der Rationalität, nämlich die Domination der Natur, die das Wohl der Menschen garantieren soll, nicht in Widerspruch zu eben diesem Wohl geraten (vgl. S. 79). Im letzten Kapitel fragt Bouveresse sich, was man für die Sache des Fortschritts tun könne. Es geht in diesem Abschnitt hauptsächlich um den Begriff der »Postmoderne« und die ewige Diskussion, ob die Moderne vorbei und die Postmoderne etwas Neues oder nur ein Symptom der Krankheit »Moderne« sei. Hier kommt nochmals Musil ins Spiel; er habe, schreibt Bouveresse, alle Phänomene, die heute als Charakteristika der Postmoderne beschrieben werden, meisterhaft analysiert. Er habe diese keineswegs als Elemente einer neuen Epoche gesehen, sondern als Symptome der Unschlüssigkeit und der Widersprüche, in denen die Moderne gefangen ist und aus welchen sie sich nicht befreien kann (vgl. S. 101 f.). Die Antwort auf die Frage, was man für den Fortschritt tun könne, lautet: Nicht an den »Mythos Fortschritt« glauben, sondern wirklich vorwärts marschieren. Der Fortschritt bestehe nicht darin, zu glauben, dass alle Krankheiten geheilt werden können, er bestehe vielmehr darin, die menschliche Endlichkeit und damit den Tod anzuerkennen. Wenn Bouveresse in diesem Buch anhand zahlreicher Zitate seine große Belesenheit in der deutschen Literatur und Philosophie beweist, so ist es doch kein Buch über die Literatur, sondern ein philosophisches Buch, in dem sich

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der Autor nicht scheut, Stellung zu beziehen zu Fragen, die die Gegenwart beschäftigen. Rosmarie Zeller Clemens Peck, Norbert Christian Wolf (Hg.): Poetologien des Posturalen. Autorschaftsinszenierungen in der Literatur der Zwischenkriegszeit. Paderborn: Wilhelm Fink 2017. 393 S. € 54,–. Der vorliegende Band versammelt Beiträge aus der im Jahre 2012 am Stefan Zweig Centre Salzburg abgehaltenen Konferenz »›Aufgeschirrt für diese Welt‹: Inszenierungen von Autorschaft in der Literatur der Zwischenkriegszeit«. Mit dem Phänomen der Autorschaft sowie dem Selbstinszenierungskonzept hat sich die literaturwissenschaftliche Forschung in den letzten Jahren immer wieder beschäftigt. Theoretische Ausgangspunkte dabei sind u. a. die Arbeiten Gérard Genettes und Pierre Bourdieus. Unter Autorschaftsinszenierung sind die (para)textuellen, diskursiven und nonverbalen Praktiken (Auftritte, Portraits) zu verstehen, die als »Markierung und Sichtbar-Machen einer sich abgrenzenden, wiedererkennbaren Position innerhalb des literarischen Feldes« dienen.40 Ausgangspunkt des Sammelbandes – wie bereits der Titel vermuten lässt – ist vor allem der von Jérôme Meizoz im Anschluss an Bourdieus HabitusKonzept geprägte Begriff des Posturalen. Mit posture ist die Rolle bzw. Haltung gemeint, die von einzelnen Akteuren strategisch und symbolisch im literarischen Feld eingenommen wird. In der ausführlichen Einleitung betonen die Herausgeber Clemens Peck und Norbert Christian Wolf die persönlichen und auktorialen Aspekte der Selbstdarstellungspraktiken, denn mit der posture »erspielt oder erstreitet [ein Autor] seine Position im literarischen Feld über verschiedene Modi der Darstellung seiner selbst« (zit. nach S. 18). Die heuristische Funktion des Posturalen bietet also die Möglichkeit, formale (gattungsspezifische und stilistische) sowie auktoriale Aspekte zu analysieren. Der Begriff selbst verfügt über eine gewisse Flexibilität und erscheint »als historisch je eigene, fragile Vermittlungsfunktion zwischen Text und Feld, Autorschaft und Habitus« (S. 18). Für Peck und Wolf ist diese historische Verortung des posture-Begriffs von besonderer Relevanz. Um die Gefahr von historischen Verallgemeinerungen von Autorschaftskonzepten und -modellen zu vermeiden, ist den Herausgebern daran gelegen, »die spezifische Ästhetik und Performanz des auktorialen Selbstentwurfs mit der Diskurs-, Medien- und Sozialgeschichte 40

Christoph Jürgensen, Gerhard Kaiser: Schriftstellerische Inszenierungspraktiken – Heuristische Typologie und Genese, in: Schriftstellerische Inszenierungspraktiken. Typologie und Geschichte. Hg. v. C. J. u. G. K. Heidelberg 2011, S. 9–32, hier S. 10.

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der Autor nicht scheut, Stellung zu beziehen zu Fragen, die die Gegenwart beschäftigen. Rosmarie Zeller Clemens Peck, Norbert Christian Wolf (Hg.): Poetologien des Posturalen. Autorschaftsinszenierungen in der Literatur der Zwischenkriegszeit. Paderborn: Wilhelm Fink 2017. 393 S. € 54,–. Der vorliegende Band versammelt Beiträge aus der im Jahre 2012 am Stefan Zweig Centre Salzburg abgehaltenen Konferenz »›Aufgeschirrt für diese Welt‹: Inszenierungen von Autorschaft in der Literatur der Zwischenkriegszeit«. Mit dem Phänomen der Autorschaft sowie dem Selbstinszenierungskonzept hat sich die literaturwissenschaftliche Forschung in den letzten Jahren immer wieder beschäftigt. Theoretische Ausgangspunkte dabei sind u. a. die Arbeiten Gérard Genettes und Pierre Bourdieus. Unter Autorschaftsinszenierung sind die (para)textuellen, diskursiven und nonverbalen Praktiken (Auftritte, Portraits) zu verstehen, die als »Markierung und Sichtbar-Machen einer sich abgrenzenden, wiedererkennbaren Position innerhalb des literarischen Feldes« dienen.40 Ausgangspunkt des Sammelbandes – wie bereits der Titel vermuten lässt – ist vor allem der von Jérôme Meizoz im Anschluss an Bourdieus HabitusKonzept geprägte Begriff des Posturalen. Mit posture ist die Rolle bzw. Haltung gemeint, die von einzelnen Akteuren strategisch und symbolisch im literarischen Feld eingenommen wird. In der ausführlichen Einleitung betonen die Herausgeber Clemens Peck und Norbert Christian Wolf die persönlichen und auktorialen Aspekte der Selbstdarstellungspraktiken, denn mit der posture »erspielt oder erstreitet [ein Autor] seine Position im literarischen Feld über verschiedene Modi der Darstellung seiner selbst« (zit. nach S. 18). Die heuristische Funktion des Posturalen bietet also die Möglichkeit, formale (gattungsspezifische und stilistische) sowie auktoriale Aspekte zu analysieren. Der Begriff selbst verfügt über eine gewisse Flexibilität und erscheint »als historisch je eigene, fragile Vermittlungsfunktion zwischen Text und Feld, Autorschaft und Habitus« (S. 18). Für Peck und Wolf ist diese historische Verortung des posture-Begriffs von besonderer Relevanz. Um die Gefahr von historischen Verallgemeinerungen von Autorschaftskonzepten und -modellen zu vermeiden, ist den Herausgebern daran gelegen, »die spezifische Ästhetik und Performanz des auktorialen Selbstentwurfs mit der Diskurs-, Medien- und Sozialgeschichte 40

Christoph Jürgensen, Gerhard Kaiser: Schriftstellerische Inszenierungspraktiken – Heuristische Typologie und Genese, in: Schriftstellerische Inszenierungspraktiken. Typologie und Geschichte. Hg. v. C. J. u. G. K. Heidelberg 2011, S. 9–32, hier S. 10.

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literarischer Autorschaft engzuführen und die solchermaßen vor einer konkreten historischen Folie sichtbar werdenden spezifischen Figurationen und Handlungen zu differenzieren« (S. 13). Die Auswahl des Zeitraumes der Zwischenkriegszeit lässt sich literarisch-soziologisch begründen, denn gerade in Zeiten des ökonomischen, kulturellen und sozialen Umbruchs wird das Spannungsverhältnis zwischen dem literarischen Feld und externen Instanzen besonders sichtbar, und so werden auch im Literatursystem selbst neuartige Autorschafts- und Inszenierungsmöglichkeiten erzeugt. Die einzelnen Beiträge bieten repräsentative Beispielsfälle, die sich meistens kanonisierten (Thomas Mann, Robert Musil, Arthur Schnitzler, Bertolt Brecht, Rainer Maria Rilke) neben einigen verhältnismäßig wenig bekannten (Joe Lederer, Isaac Schreyer) Figuren im Literaturbetrieb widmen. Viele Beiträge befassen sich explizit mit den von Meizoz (und ferner von Bourdieu sowie Stephen Greenblatt) konzipierten Autorschafts- und Selbstinszenierungspraktiken. Dies ergibt breitgefächerte Ansätze: In Betracht gezogen werden Auftritte, Portraits, Reden, Epi-, Peri- und Paratexte; ein Abschnitt setzt sich auch mit gattungsspezifischen Elementen auseinander. Zwar werden in der Einleitung vergleichende Fragestellungen angesprochen, aber die Beiträge selbst gehen nicht darauf ein, sondern betonen die Individualität der einzelnen Akteure. Somit bleibt diese vergleichende Perspektive im Sammelband eher implizit. Der Band ist in sechs Teile gegliedert. Den Auftakt bilden unter dem Titel »Spiel und Selbstreferenz« zwei Beiträge zum Thema des Spielerischen bei Thomas Mann und Arthur Schnitzler. Alexander Honold untersucht bei Mann das Problem des erfolgreichen Erstlingwerks, das die Vorstellungen von Autorschaft zu bestimmen droht, und verfolgt die Frage, wie die Figurationsarbeit der Autorschaft sich gerade in und zwischen Manns Texten abspielt. Besonders erhellend ist der Beitrag von Marie Kolkenbrock, die anhand einer (Re-)Lektüre von Arthur Schnitzlers Traumnovelle seine spielerische Autorschaftsinszenierung zusammen mit der Städte-Dichotomie Wien–Berlin neu kontextualisiert. Im zweiten Teil, »Antagonismus«, werden auktoriale Positionsnahmen und Praktiken besprochen, die einer oppositionellen Haltung zum literarischen Feld entspringen. Bei Bertolt Brecht wird laut Uta Degner eine Vorstellung von Autorschaft entworfen, die die Verbundenheit des Schriftstellers mit seiner Zeit betont. Für die Kunst – so Brecht – ist keine autonome Existenz im herkömmlichen Sinne möglich, sondern sie bleibt im Zeitalter des Kapitalismus immer ein ökonomisches Produkt. Einerseits lässt sich Brecht auf den Kapitalismus ein und weiß damit zu provozieren, andererseits erstrebt er ästhetische Autonomie innerhalb des kapitalistischen Systems. Im Werk Gottfried Benns erblickt Thomas Wegmann einen Habitus, der aus der Spannung zwischen Benns Faszination für das Aristokratische und seiner Selbststilisierung als Außenseiter hervorgeht. Der Beitrag von Norbert Christian Wolf ist

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besonders hervorzuheben: Bei Robert Musil identifiziert er mit Bourdieu eine paradoxe Struktur, da Musil dem Bild des ›reinen‹ Schriftstellers im Subfeld der eingeschränkten literarischen Produktion entspricht, dessen konsequente Durchsetzung des eigenen Autonomieanspruchs dazu führt, dass er Anerkennung von bereits berühmt gewordenen Konkurrenten anstrebt. Musil selbst klagt über das Ausbleiben einer längerfristigen Wirkung – »Es fehlt ihm [i. e. einem großen Dichter] das soziale Gewicht« (GW II, S. 959). Ernst Jünger schließlich – so Herwig Gottwald – bedient sich heteronomer, wenn nicht widersprüchlicher, Vorstellungen von Autorschaft, um sich im literarischen Feld der Zwischenkriegszeit zu positionieren. Im dritten Teil wird der Versuch unternommen, im Zusammenhang mit dem Konstrukt der ›Neuen Frau‹ und im Zeitalter der Neuen Sachlichkeit die Möglichkeiten weiblicher Autorschaft zu prüfen. Am Beispiel der wenig bekannten Autorin Joe Lederer stellt Evelyne Polt-Heinzl in ihrem Beitrag die Frage nach dem Anspruch auf Anerkennung unter Autorinnen, deren Selbstpositionierungen durch weitgehend männlich geprägte Rollenbilder eingeschränkt werden. Alexander M. Fischer legt den Schwerpunkt auf die spielerischen Paratexte und Auftritte Irmgard Keuns, mit deren Hilfe sie sich innerhalb des Diskurses der ›Neuen Frau‹ situiert, und die dazu beitragen, »dass sie mit ihrer eigenen Person für die Relevanz ihres Werkes einzustehen vermag« (S. 176). Im vierten Teil rücken hauptsächlich gattungstheoretische Fragestellungen in den Vordergrund. Bei Hofmannsthal ist, wie Werner Michler akribisch darstellt, die Frage der Form von besonderer Brisanz: »Die Koordination von künstlerischer Form, ›In-der-Welt-sein‹ im Sinn der Passung von Habitus und Habitat und Verhalten, [. . .] der Aufbau eines inneren Erzeugungsprinzips von kulturellen und sozialen Handlungen [. . .] und damit die Passung von ›Kunst‹ und ›Leben‹, das alles kann als Hofmannsthals Lebensthema angesprochen werden.« (S. 206) Thomas Hübel bezieht sich auf die Epitexte Alexander Lernet-Holenias, um seine posture näher zu erläutern, und zeigt damit auf, wie sich Lernet-Holenia zeitbedingt zwischen den Polen autonomer und heteronomer bzw. kommerzieller literarischer Produktion bewegt. Anhand einer Lektüre von Robert Walsers zu Lebzeiten unveröffentlichten Texten des Bleistiftgebiets sowie des Romans Jakob von Gunten stellt Paul Keckeis fest, wie Autorschaft »nie bloß als letzter Ort des (schöpferischen) Subjekts, sondern immer auch als diskursive Konstruktion im Prozess literarischer Kommunikation [erscheint].« (S. 243) Im fünften Teil steht das Verhältnis zwischen »Ethos und Marke« zur Debatte, das eine ausgeprägte mediale Dimension aufweist. Wie Daniela Strigl überzeugend darlegt, ist bei Stefan Zweig eine ambivalente Haltung zur eigenen aggressiven Markenbildung nachzuweisen. Durch eine Analyse der polemischen und satirischen Schriften sowie öffentlichen Reden Karl Kraus’ kommt Sigurd Paul Scheichl zu der Schlussfolgerung, »dass man bei der Un-

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tersuchung dieses Werks ohne Blick auf die empirische Person Kraus nicht auskommt« (S. 295) – und auf Meizoz bezogen lässt sich Kraus’ Autor-Rolle nur mit den verbalen Aspekten des Posturalen in Verbindung setzen. Die sozialen und kulturellen Phänomene der Massengesellschaft in der Moderne (u. a. Reklame, Psychologie, Sexualwissenschaft) werden in Clemens Pecks Beitrag über das Konstrukt des Autors als Therapeut bei Hugo Bettauer besonders deutlich. In der ausführlichen Darstellung des literarischen und publizistischen Werks wird gezeigt, wie die Autorschaft Bettauers vor allem im publizistischen Feld in der Zeitschrift Er und Sie. Wochenschrift für Lebenskultur und Erotik zum »Label – mehr Institution, denn Autorenperson« (S. 309) – wird, da keine biographischen Informationen zu Bettauer selbst in dieser Zeitschrift erschienen. Dabei wird die Redaktionstätigkeit Bettauers zur Beratungstätigkeit: Bettauer fungiert als Therapeut, um die Lebensprobleme der Leserinnen und Leser »ganz im Sinne Freuds« (S. 309) durchzuarbeiten. Im letzten Teil, »Tradition und Weihe«, werden hauptsächlich religiös geprägte sowie traditionell-konservative Autorschaftsmodelle behandelt. Martina King schreibt über die Semantik und Soziologie von inspirierter Autorschaft bei Rainer Maria Rilke, der in seiner Selbstinszenierung als DichterProphet – im Gegensatz zu Brecht – auf einem stark autonomen Kunstverständnis beharrt, und diese ritualistische Selbststilisierung wird durch das mediale Gebilde einer »Jüngergemeinde« (S. 329) bzw. eines Netzwerks aus ausgewählten Verehrerinnen und Verehrern ermöglicht. Dieter Burdorf stellt anhand der Korrespondenz zwischen Rudolf Borchardt und Rudolf Alexander Schröder die These auf, dass sich deren Autorkonzepte erst durch die Gegenüberstellung der im Briefwechsel artikulierten Selbstbilder und die Analyse öffentlicher Selbstinszenierungen genauer bestimmen lassen. Zum Abschluss des Bandes rekonstruiert Armin Eidherr das Dichterverständnis von Isaac Schreyer, verortet dessen Autor-Habitus im Kontext des in der Sprache eingebetteten kabbalistischen Systems und stellt damit fest, dass »Autorschaft [. . .] ausschließlich als textuelle Inszenierung zu verstehen [ist], die erst auf der Bühne des kabbalistischen Systems sichtbar wird« (S. 384). Zielen die Herausgeber des vorliegenden Bandes auch nicht darauf ab, Autorschaftsmodelle bzw. den posture-Begriff neu zu definieren, liefern die Aufsätze gerade mit der Fokussierung auf das Posturale einen aufschlussreichen und nuancierten Beitrag zum bereits umfassend erforschten Feld der Autorschaftsinszenierungen und -praktiken. Somit wird die Leistungsfähigkeit und Vielschichtigkeit des posture-Begriffs für die aktuelle Autorschaftsdebatte in der Literaturwissenschaft verdeutlicht. Joanna Raisbeck

Anschriften der Beiträgerinnen und Beiträger Prof. Dr. Hans-Georg von Arburg Université de Lausanne Section d’allemand Quartier UNIL-Chamberonne Bâtiment Anthropole 4066 CH–1015 Lausanne

PD Dr. Anja Gerigk Ludwig-Maximilians-Universität München Institut für Deutsche Philologie Schellingstr. 3, RG D–80799 München

[email protected]

[email protected]

Dr. Luisa Banki Bergische Universität Wuppertal Fakultät für Geistes- und Kulturwissenschaften Allgemeine Literaturwissenschaft/ Neuere deutsche Literaturgeschichte Gaußstr. 20 D–42119 Wuppertal [email protected]

Dr. Harald Gschwandtner Weizensteinerstraße 21/9 A–5020 Salzburg [email protected]

Prof. Dr. Hans Ulrich Gumbrecht Peter Coutts Circle Stanford, CA 94305 USA [email protected]

PD Dr. Julia Bertschik Freie Universität Berlin Institut für Deutsche und Niederländische Philologie Habelschwerdter Allee 45 D–14195 Berlin [email protected]

Prof. Dr. Birthe Hoffmann University of Copenhagen Department of English, Germanic and Romance Studies Emil Holms Kanal 6 DK–2300 København [email protected]

Dr. Mandy Dröscher-Teille Leibniz Universität Hannover Deutsches Seminar Königsworther Platz 1 D–30167 Hannover [email protected]

Prof. Dr. Alexander Honold Universität Basel Deutsches Seminar Nadelberg 4 CH–4051 Basel [email protected]

400

Anschriften der Beiträgerinnen und Beiträger

Prof. Dr. Roland Innerhofer Universität Wien Institut für Germanistik Universitätsring 1 A–1010 Wien [email protected]

Dr. Florian Kappeler Georg-August-Universität Göttingen Seminar für Deutsche Philologie Käte-Hamburger-Weg 3 D–37073 Göttingen [email protected]

Mag. Kira Kaufmann Universität Wien Institut für Germanistik Universitätsring 1 A–1010 Wien [email protected]

PD Dr. Robert Krause Albert-LudwigsUniversität Freiburg Deutsches Seminar Platz der Universität 3 D–79085 Freiburg [email protected]

Prof. Dr. Primus Heinz Kucher Universität Klagenfurt Institut für Germanistik Universitätsstr. 65–67 A–9020 Klagenfurt [email protected]

Prof. Dr. Jacques Le Rider Ecole pratique des hautes études Section des sciences historiques et philologiques rue de Milan F–75009 Paris [email protected]

Prof. Dr. Gunther Martens Ghent University Faculty of Arts and Philosophy Department of Literary Studies Blandijnberg 2 B–9000 Gent [email protected]

Prof. Tim Mehigan PhD University of Queensland School of Languages and Cultures St. Lucia, Qld 4072 Australia [email protected]

Prof. David Midgley St John’s College Cambridge CB2 1TP United Kingdom [email protected]

Dr. Manfred Mittermayer Literaturarchiv Salzburg Forschungszentrum von Universität, Land und Stadt Salzburg Residenzplatz 9/2 A–5020 Salzburg

Isabel Langkabel, M. A. Ludwig Boltzmann Institute for Digital History (LBIDH) Hofburg, Batthyanystiege A–1010 Wien

[email protected]

[email protected]

[email protected]

Dr. Dominik Müller Chemin du Fosseau 12 CH–1245 Collonge-Bellerive

Anschriften der Beiträgerinnen und Beiträger

Prof. Dr. Barbara Neymeyr Universität Klagenfurt Institut für Germanistik Universitätsstr. 65–67 A–9020 Klagenfurt

Dr. Florens Schwarzwälder Universität Bern Institut für Germanistik Länggassstr. 49 CH–3000 Bern 9

[email protected]

[email protected]

Prof. Dr. Birgit Nübel Leibniz Universität Hannover Deutsches Seminar Königsworther Platz 1 D–30167 Hannover

Dr. Nicole Streitler-Kastberger Karl-Franzens-Universität Graz Franz-Nabl-Institut für Literaturforschung Elisabethstr. 30 A–8010 Graz

[email protected]

Prof. Dr. Thomas Pekar Gakushuin University Department of German Studies 1-5-1 Mejiro, Toshima-ku JPN–171-8588 Tokyo [email protected]

DDr.in Katharina Prager Wienbibliothek im Rathaus Felderstraße 1 A–1082 Wien [email protected]

Dr. Joanna Raisbeck University of Oxford St Hilda’s College Cowley Place Oxford, OX4 1DY United Kingdom

401

[email protected]

PD Dr. Daniela Strigl Universität Wien Institut für Germanistik Universitätsring 1 A–1010 Wien [email protected]

Thomas Traupmann M. A. Universität Zürich Deutsches Seminar Schönberggasse 9 CH–8001 Zürich [email protected]

Prof. Dr. Peter Utz Chemin du Mont-Tendre 11 CH–1007 Lausanne [email protected]

[email protected]

Prof. Dr. Dirk Rose Universität Innsbruck Institut für Germanistik Innrain 52 A–6020 Innsbruck

Prof. Dr. Florence Vatan University of Wisconsin-Madison Department of French and Italian Van Hise Hall Linden Dr USA–Madison, WI 53706

[email protected]

[email protected]

402

Anschriften der Beiträgerinnen und Beiträger

Prof. Dr. Juliane Vogel Universität Konstanz Fachbereich Literaturwissenschaft Universitätsstraße 10 D–78457 Konstanz

Prof. Dr. Norbert Christian Wolf Universität Wien Institut für Germanistik Universitätsring 1 A–1010 Wien

[email protected]

[email protected]

Dr. David Wachter Freie Universität Berlin Peter Szondi-Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft Habelschwerdter Allee 45 D–14195 Berlin

Prof. Dr. Rosmarie Zeller Universität Basel Deutsches Seminar Nadelberg 4 CH–4051 Basel

[email protected]

[email protected]

Siglen GW 1–9: Robert Musil: Gesammelte Werke in neun Bänden. Hg. v. Adolf Frisé. Reinbek b. Hamburg 1978. [Zitiert als GW mit arabischer Bandzählung]

Bd. 1–5: Bd. 6: Bd. 7: Bd. 8: Bd. 9:

Der Mann ohne Eigenschaften Prosa und Stücke Kleine Prosa. Aphorismen. Autobiographisches Essays und Reden Kritik

GW I–II : Robert Musil: Gesammelte Werke in zwei Bänden. Hg. v. Adolf Frisé. Reinbek b. Hamburg 1978. [Zitiert als GW mit römischer Bandzählung]

Bd. I : Bd. II :

Der Mann ohne Eigenschaften Prosa und Stücke. Kleine Prosa. Aphorismen. Autobiographisches. Essays und Reden. Kritik

MoE: Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Hg. v. Adolf Frisé. Neu durchgesehene und verbesserte Ausgabe. Reinbek b. Hamburg 1978 u. ö. [Seitenidentisch mit den Bänden 1–5 der Gesammelten Werke] Tb I–II : Robert Musil: Tagebücher. 2 Bde. Hg. v. Adolf Frisé. Reinbek b. Hamburg 1983 [1. Auflage 1976]. Bd. I : Bd. II :

Tagebücher Anmerkungen. Anhang. Register

Br I–II : Robert Musil: Briefe 1901–1942. 2 Bde. Mit Briefen v. Martha Musil, Alfred Döblin, Efraim Frisch, Hugo von Hofmannsthal, Robert Lejeune, Thomas Mann, Dorothy Norman, Viktor Zuckerkandl u. a. Hg. v. Adolf Frisé. Unter Mithilfe v. Murray G. Hall. Reinbek b. Hamburg 1981. Bd. I : Bd. II :

Briefe 1901–1942 Kommentar. Register

KA : Robert Musil: Klagenfurter Ausgabe. Kommentierte digitale Edition sämtlicher Werke, Briefe und nachgelassener Schriften. Mit Transkriptionen und Faksimiles aller Handschriften. Hg. v. Walter Fanta, Klaus Amann, Karl Corino. Klagenfurt 2009.

Redaktioneller Hinweis Die Zusendung von Manuskripten wird an folgende Anschriften erbeten:

Musil-Forum c/o Prof. Dr. Rosmarie Zeller Universität Basel Deutsches Seminar Nadelberg 4 CH–4051 Basel Schweiz [email protected] c/o Univ.-Prof. Dr. Norbert Christian Wolf Universität Wien Institut für Germanistik Neuere deutsche Literatur Universitätsring 1 A–1010 Wien Österreich [email protected]

Redaktion Musil-Forum Dr. Thomas Hübel Universität Wien Institut für Germanistik Neuere deutsche Literatur Universitätsring 1 A–1010 Wien Österreich [email protected]

Register Abraham a Sancta Clara 69 Adler, Alfred 61 Adler, Paul 349 Adorno, Theodor W. 96, 170, 213, 358 Albrecht, Andrea 154 Alexander von Makedonien 281 Allesch, Johannes von 21, 137 Altenberg, Peter 272 Amann, Klaus 1, 253 Anderson, Mark 351 Andics, Hellmut 378 Andler, Charles 244 Andreas-Salomé, Lou 374 Andrian, Leopold von 249 Apollinaire, Guillaume 213, 391 Appel, Bernadette 320–323 Aragon, Louis 364 f. Arburg, Hans-Georg von V Arendt, Hannah 299 Arens, Katherine 340 Aristoteles 201 Arntzen, Helmut 70, 227 f., 235 f. Auerbach, Erich 90 Bach, Johann Sebastian 332 f. Bachmann, Ingeborg 331, 339–341 Bachofen, Johann Jakob 383 Bachrach, Stephanie 357 Bahr, Hermann 33, 60, 238, 245, 248, 250, 374, 380 Ball, Hugo 45 Balzac, Honoré de 251 Barner, Wilfried 18 Barrès, Maurice 245 Barthes, Roland 367 Baßler, Moritz 349 Baudelaire, Charles 223 f., 248 f., 296 Bauer, Otto 255 f. Becher, Johannes R. 57 Becker, Sabina 355 Beethoven, Ludwig van 74 Behne, Adolf 114 f.

Békessy, Imre 69, 234, 238–241, 256 Belz, Christian 357 Bender, Niklas 389–393 Benedikt, Moriz 252 Benjamin, Walter 37, 43, 48, 73, 80, 204–213, 219 f., 222–226, 236, 248, 283, 287 f., 305, 342 f., 388 Benn, Gottfried 57, 396 Benne, Christian 346 Berger, Philipp 257 Berghahn, Klaus L. 17 Berman, Russel A. 206 Bernhard, Thomas 12, 140, 338 f. Beroldingen, Nora von 131 Bert, Auguste 244 Berthold von Regensburg 301 Bertram, Ernst 101 Bettauer, Hugo 211, 398 Bierbaum, Otto Julius 386 f. Blei, Franz 21, 36, 65, 68 f., 163, 379, 381 Bleuler, Eugen 86 f., 162 Blödorn, Andreas 357 f. Bloy, Léon 245 Blüher, Hans 383 f., 388 Blumenberg, Hans 202, 308 Boccaccio, Giovanni 101, 105 Bock, Matthias 359–363 Bodmer, Johann Jakob 26 Böhlau, Helene 374 Böhme, Hartmut 295, 360 Bölsche, Wilhelm 156, 158, 165 Bogdanovič, Ivana Z. 326 Bohren, Rudolf 348 Boltzmann, Ludwig 158, 312 Bolzano, Bernard 312 Bonacchi, Silvia 24 Bonatz, Paul 121 Borchardt, Rudolf 17, 398 Borchmeyer, Dieter 335 Borges, Jorge Luis 311 Borgia, Cesare 178

406 Bourdieu, Pierre 24, 84, 247, 395–397 Bouveresse, Jacques 158, 193, 312–316, 393 f. Brecht, Bertolt 112, 209, 235, 339 f., 396, 398 Breitinger, Johann Jakob 26 Bremer, Kai 38 Brentano, Franz 312 Breton, André 364 f. Breuer, Ingo 99 Breuer, Marcel 119 f. Breuer, Stefan 171 Broch, Hermann 2, 12, 20, 36, 109, 206, 328 f., 350–353 Brod, Max 345 Brössel, Stephan 356 Bronnen, Arnolt 356, 386, 388 Brosthaus, Heribert 304 Brüggemann, Heinz 116 Buber, Martin 303 Büchner, Georg 332 Bücker, Johanna 298 f., 304 Bühler, Benjamin 152 Burckhardt, Jacob 390 Burdorf, Dieter 398 Busch, Walter 99 Buschbeck, Erhard 60, 63 Butler, Judith 362 Caesar, Gaius Iulius 39 Callon, Michel 334 Campe, Joachim Heinrich 301 Canetti, Elias 2, 68, 139 f., 235, 287, 328, 338–340 Capovilla, Andrea 356 Carr, Gilbert 232 Cassirer, Ernst 15 Cassirer, Paul 251 Cather, Willa 356 Catrein, Susanne 355 Cavaillès, Jean 312 Celan, Paul 332 f., 338–341 Celan-Lestrange, Gisèle 341 Chaplin, Charlie 372 Chiesa,Giacomo della (= Benedikt XV.) 252 Coetzee, John Maxwell 146 Cometti, Jean-Pierre 316 Corino, Karl 31, 326, 330

Register

Csokor, Franz Theodor 29, 220 Culler, Jonathan 367 Cyrano de Bergerac 40 f. D’Annunzio, Gabriele 33 D’Arrigo, Stefano 305 Dahrendorf, Ralf 294 f. Dante Alighieri 222, 293 Darwin, Charles 136, 138, 140, 151, 156–159 Dath, Dietmar 163 Defoe, Daniel 91 f. Degner, Uta 396 Deleuze, Gilles 322, 368 Della Santa, Luigi 30 f. Demandt, Alexander 178 Derrida, Jacques 296 Deutsch, Julius 379 Dewey, John 154 Dieckmann, Walther 230 f. Dimino, Mariaelisa 324 Dinklage, Karl 29, 324 Djassemy, Irina 263 Dobrženský, Mary Gräfin 244 Döblin, Alfred 328, 364 f., 370–373 Döcker, Richard 115 Dollfuß, Engelbert 256 Doolittle, Hilda 364 f. Dostojewskij, Fjodor M. 78, 92 Dreyfus, Alfred 243, 245–248, 251 Drumont, Edouard 247 Ebner-Eschenbach, Marie von 107 Eckermann, Johann Peter 102 Eckhart, Meister 303 Ehrenstein, Albert 56 f., 59 f., 65 Eichendorff, Joseph von 153 Eidherr, Armin 398 Einstein, Albert 332 Einstein, Carl 57 Eisenreich, Brigitta 340 Elias, Norbert 139, 360, 363 Eliot, T. S. 336 Engel, Fritz 214 Engelbrecht, Hugo 215 Engels, Friedrich 92, 379 Enzensberger, Hans Magnus 355 Ernst, Max 389, 391 f. Ernst, Paul 33

Register

Eske, Karl 386 Estrada, Jorge 317–319 Fanta, Walter 298, 326 Fechter, Paul 204–206, 213, 215–217, 219, 225 f. Feuchtwanger, Lion 37 Fichte, Hubert 386 f. Fichte, Johann Gottlieb 300 f. Fink, Kristina 357 Fischer, Alexander M. 397 Fischer, Jens Malte 47 Fischer, Samuel 225 Flaubert, Gustave 251 Fleißer, Marieluise 356 Fontana, Oskar Maurus 207, 380 Foucault, Michel 149 f., 325 f. Fraueneder, Hildegard 18 Frege, Gottlob 313 Freud, Sigmund 11, 61, 70, 86, 136, 272, 359–361, 364, 386, 398 Friedländer, Salomo 386 Frisé, Adolf 75, 137, 197, 221 Gadamer, Hans-Georg 318 Galtung, Johan 24 Gauß, Karl-Markus 57–59 Gehlen, Arnold 155, 191, 195 Genette, Gérard 395 George, Stefan 33, 57, 61, 70, 223, 248 Gerber, Gustav 201 Gerigk, Anja 327 f. Gervinus, Georg Gottfried 358 Giedion, Sigfried 116, 119, 133 Gitaï, Amos 320–323 Goblot, Germaine 244 Goebbels, Joseph 236 Gödel, Kurt 313 Gödicke, Stéphane 61 Goethe, Johann Wolfgang von 6, 15, 57, 60, 102, 104, 168, 173, 184–186, 193, 279, 293, 328, 375 Goldschmidt, Harry 74 Goll, Yvan 57 Goltschnigg, Dietmar 228 Goncourt, Edmond und Jules de 245 Gordin, Jakob 371 Gottschall, Rudolf 105 Gottsched, Johann Christoph 3, 26

407 Gottwald, Herwig 397 Gould, Stephen Jay 157, 159 f. Gracián, Baltasar 40 Granger, Gilles-Gaston 312 Grass, Günter 389, 391 Greenblatt, Stephen 396 Greven, Jochen 334, 348 Grimm, Jacob 301, 368 Grimm, Wilhelm 301, 368 Grimstad, Kari 287 Grogger, Paula 12 Grolmann, Adolf von 104 f., 107 Grosz, George 52 Grüner, Franz 272 Gschwandtner, Harald V, 1, 95, 324 Guattari, Félix 369 Günther, Agnes 33 Gürtler, Christa 18 Gütersloh, Albert Paris 57, 380 f. Gundolf, Friedrich 169 Haeckel, Ernst 158, 164 Haecker, Theodor 17 Hagel, Friederike 285 Hahn, Marcus 162 Hake, Thomas 145 f. Halévy, Ludovic 250, 254 Hamann, Christof 355 Hamburger, Käte 358 Hamm, Peter 310 Handke, Peter 95, 310, 339 Harden, Maximilian 212, 238 Harnack, Adolf 141 Hart, Heinrich und Julius 97 Hartl, Edwin 236 Hašek, Jaroslav 81 Haug, Wolfgang Fritz 81 Hauptmann, Gerhart 225 Haussmann, Raoul 52 Hautmann, Hans 382 Heartfield, John 38, 41–43, 52–55 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 91, 185 Hegemann, Werner 121 Heidegger, Martin 111, 308, 312, 335, 340 Heider, Fritz 143 Heine, Heinrich 7, 20, 68, 107, 230 f., 238, 245, 249 f.

408 Hellingrath, Norbert von 223 Helmholtz, Hermann von 158 Henninger, Peter 101 Heraklit 111 Herder, Johann Gottfried 14–16, 154, 193, 290 Hermann, Judith 361 Herrmann, J. Berenike 324 Herzfelde, Wieland 52 Herzl, Theodor 245 f. Hesse, Hermann 20, 74 Hesse, Ninon 74 Heyne, Christian Gottlob 37 Heyse, Paul 99, 101, 105, 107 Hilberseimer, Ludwig 118 f., 133 Hildebrandt, Kurt 169 Hiller, Kurt 35, 380 Hilpert, Heinz 218 Hindenburg, Paul von 280 Hitler, Adolf 61, 68, 73, 161 f., 218 f., 235, 256, 331 Höch, Hannah 52 Hölderlin, Friedrich 57 Höllriegel, Arnold 356 Hoffmann, Christoph 325 Hoffmann, E. T. A. 360 Hofmannsthal, Hugo von 86, 202, 245, 248 f., 270, 334, 373–377, 397 Hohl, Ludwig 310 Honnef-Becker, Irmgard 296 Honold, Alexander 396 Horsley, Sebastian 296 Horthy, Miklós 63 Horváth, Ödön von 204, 206, 214–219, 225 Huch, Rudolf 347 Hübel, Thomas V, 397 Humboldt, Alexander von 154 Humboldt, Wilhelm von 154 Hutto, Daniel 143 Huysmans, Joris-Karl 245, 294 Innerhofer, Roland 152 Ionesco, Eugène 392 Iser, Wolfgang 191, 195 Jaccottet, Philippe 309–311, 313, 316 Jacobsen, Jens Peter 20 Jacques, Norbert 357

Register

Jahnn, Hans Henny 328 f., 386, 388 Jakobson, Roman 11 James, William 154 Janik, Alan 340 Janowitz, Franz 272 Jaques, Elliott 293 f. Jaray, Karl 270 f. Jarry, Alfred 392 Jaspers, Karl 170 Jauß, Hans Robert 96 Jean Paul 57, 59 f., 62, 348 Jelinek, Elfriede 140, 332, 339, 361 f. Jenaczek, Friedrich 236 Jensen, Wilhelm 360 Jones, Owen 350 Joyce, James 74, 305, 389, 391 f. Jünger, Ernst 139, 397 Jürgens, Udo 331 Jürgensen, Christoph 358 Jung, Carl Gustav 61 Kafka, Franz 225, 275, 334, 348, 350 f., 353, 369, 386, 388 f. Kaiser, Ernst 297 Kalmar, Annie 272 f. Kann, Helene 244, 253, 274 Kant, Immanuel 11, 15 f., 18, 91, 169 f., 318 Karsten, Arne 357 Kassner, Jonathan 296 f. Kassner, Rudolf 249 Kaulbarsch, Vera 363–366 Keckeis, Paul 366–370, 397 Keller, Gottfried 20, 99, 313 Keppler-Tasaki, Stefan 370–373 Kernstock, Ottokar 380 Kerr, Alfred 21, 63, 65, 69, 71, 162, 209, 213, 217 f., 238, 241, 251, 282 Kerschensteiner, Georg 154 Kesten, Hermann 370 Keun, Irmgard 397 Key, Ellen 22 Keyserling, Eduard von 165 Kiefer, Sascha 98 Kierkegaard, Søren 349 Kiesel, Helmuth 355 King, Martina 398 Kisch, Egon Erwin 379–381 Kittler, Friedrich 153

Register

Klages, Ludwig 171 f., 190 Klassen, Peter 222–224 Klein, Uta 373–377 Kleist, Heinrich von 308, 360 f. Klimt, Gustav 362 Klingemann, August 348 Klopstock, Friedrich Gottlieb 57 Koebner, Thomas 170, 178 Köhler, Wolfgang 136–138, 141 f., 146, 154, 160, 162 Koffka, Kurt 137, 141 Kokoschka, Oskar 57 Kolkenbrock, Marie 396 Kolleritsch, Alfred 310 Kommerell, Max 223 Kopernikus, Nikolaus 169 f. Kracauer, Siegfried 351 Kraft, Werner 236 Kralik, Richard 380 Kramer, Olav 140 Kraus, Karl 6 f., 12, 17, 26, 28, 33, 38, 41–43, 47–52, 55–71, 78, 139 f., 161 f., 211 f., 227–288, 313, 338–340, 356, 381, 393, 397 f. Kretschmer, Ernst 162 Krolop, Kurt 229 Krüger, Michael 310 Kucher, Primus-Heinz 172, 193 Kuh, Anton 56, 65, 67–70 Kulka, Georg 56–63, 67, 70 f. La Fontaine, Jean de 258 Laak, Dirk van 280 Lacan, Jacques 296, 359, 361 f., 389 Lackner, Ruth 340 Laher, Ludwig 330–333 Lang, Fritz 357 Lasker-Schüler, Else 57 Latini, Micaela 326 Latour, Bruno 278, 334 Laube, Heinrich 11 Lauer, Gerhard 324, 326 Lautenschlager, Karl 121 Lavedan, Henri 245 Law, John 334 Lazarsfeld, Sofie 156 Le Corbusier 114–116, 121 f., 125–129, 131, 133 Le Rider, Jacques 356

409 Lederer, Joe 396 f. Leibniz, Gottfried Wilhelm 168, 313 Lernet-Holenia, Alexander 397 Lessing, Gotthold Ephraim 3, 14–16, 21, 25, 28 Lewontin, Richard 157 Lexer, Matthias 4 Lherman, Jo 21, 35 Libardi, Massimo 325 Lichnowsky, Karl Max von 244 Lichnowsky, Mechtilde 244 Lichtenberg, Georg Christoph 313 Lichtenstein, Alfred 57 Lidth de Jeude, E. van 135 Liebknecht, Wilhelm 246 f. Liebstöckl, Hans 240 f. Liegler, Leopold 271, 273 Link, Jürgen 11 Locher, Elmar 99, 327 Lönker, Fred 377 Loos, Adolf 115 f., 271 f., 350, 352 Ludendorff, Erich 280 Ludwig, Emil 37 Luhmann, Niklas 374 Lukács, Georg 90–94, 96 f., 107 f., 170 Lukas, Wolfgang 354, 356 f. Luther, Martin 332 Luxemburg, Rosa 332 Maas, Julia 333–336 Mach, Ernst 1, 136, 157 Magris, Claudio 313, 340, 378 Mahembe, Sultan 127 f. Mann, Heinrich 33, 70, 384 f. Mann, Thomas 9 f., 12, 20, 67, 72, 74, 100 f., 138, 170–175, 294, 296, 309, 328 f., 359, 361 f., 364, 384–387, 396 Marcovaldi, Annina 33 Marcovaldi, Gaetano 31 Marinetti, Filippo Tommaso 172, 392 Marlitt, Eugenie 20 Martens, Gunther 26, 28, 63, 70, 212, 231 Martus, Steffen 369 Marx, Karl 136, 209, 225, 379 Matt, Peter von 9 f., 18, 25, 27 f., 117, 125, 335 Mattenklott, Gert 295 Maurras, Charles 247

410 Mauthner, Fritz 78 Meilhac, Henri 250, 254 Meinong, Alexius 143 Meisel-Hess, Grete 350 f. Meister-Zeyen, Ilse 132 Meizoz, Jérôme 395 f., 398 Mendelssohn Bartholdy, Felix 153 Merimée, Prosper 347 Merkel, Reinhard 234 Metz, Bernhard V Meyer, Alfred Richard 131 Meyer, Conrad Ferdinand 99, 348 Michler, Werner 397 Millenkovich, Max von 11 Mohi-von Känel, Sarah 282 Molnár, Franz 219, 225 Mondiano, Patrick 311 Moritz, Karl Philipp 11 Müller, Hans 222 Müller, Hans-Harald 355 Müller, Herta 42 Müller, Robert 21, 33, 164, 328, 380 Münsterberg, Hugo 154 Musil, Alfred 330 Musil, Hermine 330 Musil, Martha 16, 31, 33 Musil, Robert V, 1–4, 7–22, 24 f., 28–31, 33–37, 56, 60–65, 67–70, 72–90, 93 f., 99–101, 103–112, 114, 116–119, 121, 123–128, 131–146, 148–167, 170–184, 186–200, 202–208, 210– 213, 219–222, 225 f., 235, 289–298, 300–306, 309, 311–334, 338–340, 350–353, 359, 361, 367, 373, 376 f., 379 f., 384, 386 f., 389, 393 f., 396 f. Mussolini, Benito 189 Nádherný von Borutin, Sidonie 262, 271 f., 284 f. Napoleon I. 244, 326 Natonek, Hans 349 Nestroy, Johann 61, 253, 272 Nettelhorst, Leopold von 131, 134 Neumann, Robert 379, 382 Newton, Isaac 186 Nietzsche, Friedrich 7, 14, 22, 57, 85– 87, 136, 166–168, 171, 173, 178, 185 f., 188 f., 195–202, 231, 250, 292 f., 302, 312 f., 345–349, 353

Register

Nipperdey, Thomas 374 Nordau, Max 251 Nübel, Birgit 163, 300, 352 O’Brien, Flann 389, 392 Oertel, Max Joseph 145 Oesterle, Günter 18, 163 Offenbach, Jacques 243, 250, 255 Orlandi, Fernando 325 Ozenfant, Amédée 127 f. Palmier, Jean-Michel 212 Pappalardo, Salvatore 326 Pasolini, Pier Paolo 389, 391 Paumgartten, Karl 381 Pawlow, Iwan Petrowitsch 143 Peck, Clemens 395, 398 Péguy, Charles 243, 247 f. Peirce, Charles Sanders 158 Perloff, Marjorie 337–341 Perutz, Leo 355 Petrarca, Francesco 290 Pfäfflin, Friedrich 261 Pfohlmann, Oliver 207, 330 Pfungst, Oskar 138, 143 Pirandello, Luigi 356 Piscator, Erwin 119 f. Pisk, Paul Amadeus 238 Platen, August Graf von 20, 231 Platon 95 Plessner, Helmuth 111 Poe, Edgar Allan 38, 41–46, 48 f., 55 Pohl, Peter C. 294 Polgar, Alfred 11, 41, 208, 213 Pollak, Alma 240 f. Pollak, Michael 227, 236 f. Polt-Heinzl, Evelyne 397 Ponge, Francis 310, 334 Porché, François 224 Prager, Katharina 285 Precht, Richard David 304 Proust, Marcel 74, 296, 305 Puppe, Heinrich 294–296 Queneau, Raymond 392 Quintilianus, Marcus Fabius 39 Racine, Jean 16 Radecki, Sigismund von 253, 275

Register

Rahn, Thomas 266 Rasch, Wolfdietrich 294, 297 Rathenau, Walther 10, 12, 19, 171 f., 203, 327, 348 Ratzinger, Joseph 331 Ray, Marcel 244 Rebora, Simone 324 Reger, Erik 217 Reich-Ranicki, Marcel 236 Reuß, Roland 259 Rexhausen, Felix 386 Rickert, Heinrich 180 Rieger, Stefan 152 Riegl, Alois 350, 352 Riehl, Wilhelm Heinrich 248 Rilke, Rainer Maria 57, 155, 196, 328, 334, 374, 396, 398 Ritter, Albert 324 f., 327 Rochefort, Henri 247 f. Rode, Walther 56, 65–67, 69 f. Röttgers, Kurt 22, 35 Rohner, Ludwig 28 Rolland, Romain 63, 253 Rosa, João Guimarães 305 Rose, Dirk 7, 235 f., 287 Rostand, Edmond 40 Roth, Joseph 338 f., 356 Roth, Marie-Louise 294 Rothe, Katja 152 Roud, Gustave 310 Rousseau, Jean-Jacques 297 Rüsch, Lukas 335 Ruskin, John 350 Rußegger, Arno 149 Russell, Bertrand 313 Saar, Ferdinand von 107 Sacher-Masoch, Leopold von 361 Salgaro, Massimo 324 f., 327 Salten, Felix 68, 238 Samek, Oskar 228, 237–241 Sander, Gabriele 356 Schaffner, Jakob 34 Schaffnit, Hans Wolfgang 146 Schalek, Alice 233, 278 Schaunig, Regina 324 f. Scheffel, Joseph Victor von 221 Scheffel, Michael 354–358

411 Scheichl, Sigurd Paul 5 f., 18, 26, 204 f., 227, 230 f., 237 f., 327, 397 Scheler, Max 155 Scherb, Julius 266–269 Scherchen, Hermann 16 Schildmann, Mareike 341–343, 345 Schiller, Friedrich 6 f., 16, 174 f., 182 Schlegel, Friedrich 14, 17, 19 f., 37, 210, 297, 375 Schlieffen, Alfred von 280 f. Schlöndorff, Volker 320 Schlösser, Rainer 204–206, 213, 217– 219, 225 f. Schmidt-Dengler, Wendelin 59, 378 Schmitt, Carl 68 Schnitzler, Arthur 48, 70, 245, 294, 355– 357, 373, 375–377, 381, 396 Schönberg, Arnold 272 Schönherr, Karl 9, 33 Scholem, Gershom 305 Scholz, Anna-Lena 290 Schopenhauer, Arthur 173, 198, 200 f. Schreyer, Isaac 396, 398 Schröder, Rudolf Alexander 398 Schuberth, Richard 274 Schultze-Naumburg, Paul 114, 121 Schurtz, Heinrich 383 Schweitzer, Charles 244 Sciacchitano, Antonello 160 Seitter, Walter 275, 277 Semper, Gottfried 350, 352 Seneca, Lucius Annaeus 392 Shakespeare, William 162, 253, 371, 392 Shaw, George Bernard 220 Simmel, Georg 105, 352 Skinner, Burrhus Frederic 142 f., 154, 161 Sommer, Roy 355 f. Sonnenschein, Hugo 57, 65 Soyka, Otto 356 Spengler, Oswald 10, 12, 17, 19, 21, 33, 35, 70, 166–195, 197–199, 203, 313 f., 380 Sperber, Manès 378 Spoerhase, Carlos 38, 41, 43 Sprenger, Ulrike 40 Stauffer, Hermann 4, 17 Stendhal 91, 245 Stenzel, Jürgen 7–9, 26 f., 106

412 Stern, Clara 224 Sterne, Laurence 317–319 Stierle, Karlheinz 390 Stifter, Adalbert 102, 328 Stocker, Brigitte 286 Stoessl, Otto 99 Storm, Theodor 97 Stramm, August 57 Strauß, David Friedrich 231 Streeruwitz, Marlene 362 Strigl, Daniela 397 Strinz, Bastian 346 f., 349 Stuhlmann, Andreas 212, 215, 230 Stumpf, Carl 94, 137, 140 f., 179 Sudermann, Hermann 21, 36 Symons, Julian 44 Tau, Max 98 Thaler, Richard 150 Theweleit, Klaus 383 f., 388 Thomas von Aquin 299, 301 Thüring, Hubert 259 Tieck, Ludwig 348 Timms, Edward 50, 227–229, 239, 264– 266, 272 Tischel, Alexandra 146 Tobisch-Labotýn, Lotte 60 Töteberg, Michael 357 Tolstoi, Lew N. 90–93 Toulmin, Stephen 340 Trakl, Georg 57, 60 Traub, Hans 47 f., 50 Traupmann, Thomas 49, 51 Troeltsch, Ernst 170 Trompeteur, Adalbert 240 Tucholsky, Kurt 69, 357 Turner, Victor 361 Uhl, Friedrich 255 Ullmann, Walter (s. a. Lherman, Jo) 21 Utz, Peter 309, 335 Valéry, Paul 313 Venturelli, Aldo 327 Viertel, Berthold 61 Vismann, Cornelia 280 Voegelin, Eric 15

Register

Vogel, Juliane 163, 279 f. Vossler, Karl 257 Vrba, Elisabeth S. 159 Vuillemin, Jules 312 Wagner, Karl 335 Wagner, Richard 353 Walden, Herwarth 244, 249 Walser, Robert 310, 333–337, 341–349, 355, 366–370, 397 Watson, John B. 154 Weber Henking, Irene V Weber, Max 281 Wedekind, Frank 272 Wegmann, Thomas 396 Weinrich, Harald 202 Weiß, Ronald 381 Werfel, Franz 7, 10, 19, 21, 57, 70, 212, 379–382, 384 f. Wertheimer, Max 137, 141 White, Hayden 379 Wiese, Leopold von 15 Wildgans, Anton 12, 19, 21, 29, 33, 36, 70, 219–222, 225 Wilkins, Eithne 297 Windelband, Wilhelm 180 Wirth, Uwe 42, 320 Wittgenstein, Ludwig 78 f., 312, 338– 340, 393 f. Wolf, Benedikt 383, 385–389 Wolf, Friedrich August 37 Wolf, Norbert Christian V, 93, 379– 382, 395 f. Wolfenstein, Alfred 57 Wolff, Julius 221 Wolff, Ludwig 225 Worringer, Wilhelm 350 Wray, Miriam Annabelle 350–353 Wright, Georg Henrik von 393 f. Zeising, Andreas 216 Zilles, Sebastian 383–386, 388 f. Zörgiebel, Karl Friedrich 53 f. Zola, Émile 91 f., 245, 247, 251 Zuckmayer, Carl 217 Zweig, Stefan 12, 37, 249, 378, 382, 397 Zymner, Rüdiger 356