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German Pages 350 [356] Year 2008
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Musil-Forum Studien zur Literatur der klassischen Moderne
Im Auftrag der Internationalen Robert-Musil-Gesellschaft herausgegeben von Matthias Luserke-Jaqui und Rosmarie Zeller
Band 27 · 2001/2002
Walter de Gruyter · Berlin · New York
Redaktionelle Mitarbeit: Dr. Nikola Roßbach
0 Gedruckt auf säurefreienm Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt. ISBN 3-11-017406-5 ISSN 1016-1333 Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. © Copyright 2003 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Satz: Greiner & Reichel, Köln Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Berlin
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Vorbemerkung der Herausgeber Mit diesem Band stellt sich das Musil-Forum, das bereits in seinem 27. Jahrgang erscheint, mit einem neuen Profil, einem neuen Verlag und mit neuen Herausgebern vor. Zukünftig sollen drei Schwerpunkte im Musil-Forum. Studien zur Literatur der klassischen Moderne Berücksichtigung finden: Zum einen werden einschlägige wissenschaftliche Beiträge zum Werk des österreichischen Schriftstellers Robert Musil (1889–1942) zum Druck gebracht, zum anderen werden wissenschaftliche Reflexionen zur Literatur der österreichischen Moderne vorgetragen und schließlich werden wissenschaftliche Abhandlungen über die deutschsprachige und europäische Literatur der klassischen Moderne zur Diskussion gestellt. Ein Forum für Studien zur Literatur der klassischen Moderne herauszugeben heißt, den zugrunde liegenden Begriff von Moderne in aller Kürze zu umreißen. Dabei müssen selbstredend Einschränkungen formuliert werden: – Die zeitliche Eingrenzung dessen, was ›klassische Moderne‹ meint, orientiert sich dabei an den Lebensdaten Robert Musils, umfasst also den Zeitraum moderner Literatur in etwa zwischen 1880 und 1930. Natürlich sind diese Daten nur äußerlich, sie sollen aber markieren, dass die deutschsprachige Literatur der klassischen Moderne eingebettet ist in einen europäischen Kontext und Beiträge zu Huysmans, Proust oder Joyce im MusilForum ebenso willkommen sind wie zu Hofmannsthal, Schnitzler, den Brüdern Mann, Döblin, Einstein, Benn, Robert Walser und vielen anderen. Das Musil-Forum lädt daher ausdrücklich zur Überschreitung des Horizontes deutschsprachiger Literatur im Kontext der europäischen Diskussion um eine literarische Moderne ein. – Wir verstehen den Begriff der ›klassischen Moderne‹ als komplementär zu einem Begriff der avantgardistischen Moderne. ›Klassische Moderne‹ negiert also keineswegs Innovation als technisches Schreibverfahren. – Der Verzicht auf narrative Stringenz, der zunehmende Ich-Verlust – man denke an Machs berühmte Formel vom Ich, das »unrettbar« sei –, die Einsicht in die Unmöglichkeit einer epischen Bewältigung lebensweltlicher Komplexität, die Infragestellung geltender Normen – all das spiegelt sich in den Texten der klassischen Moderne wider. Wichtig sind uns dabei Momente der Kontinuität und Diskontinuität von Moderne, die in jeweils un-
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Vorbemerkung der Herausgeber
terschiedlichen Blickwinkeln reflektiert, mit unterschiedlichen methodischen Ansätzen erschlossen und in je unterschiedlichen thematischen Gruppierungen in den einzelnen Beiträgen figuriert werden sollen. Es geht bei der Literatur der klassischen Moderne – um ein Wort Robert Musils zu variieren – um Themen und Strategien, um Methoden und Medien der literarischen Bewältigung der Welt. Dafür will das neue Musil-Forum für Wissenschaft und Forschung ein Forum zum Gedankenaustausch sein. Darmstadt, Basel im Frühjahr 2003
Matthias Luserke-Jaqui Rosmarie Zeller
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Inhalt Vorbemerkung der Herausgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufsätze Erich Kleinschmidt: Literatur als Experiment. Poetologische Konstellationen der ›klassischen Moderne‹ in Deutschland . . . . . . . . . . Stephan Dietrich: Die Domestizierung des Wilden. Figurationen des Primitivismus-Diskurses in der Weimarer Republik . . . . . . . . . . . . Hans Krah: ›Nur ein Druck auf den Knopf‹. Zur Genese einer Denkfigur im ästhetischen Diskurs des frühen 20. Jahrhunderts . . . . . . . Carsten Zelle: Konstellationen der Moderne. Verstummen – Medienwechsel – literarische Phänomenologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Karin Tebben: »Traum wird Leben, Leben Traum.« Arthur Schnitzlers Die Toten schweigen (1897) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ariane Martin: Pierrot als Femme fatale? Zu den Fassungen und Deutungen von Frank Wedekinds »Lulu«-Dramenkomplex in kulturwissenschaftlicher Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gerhard Sauder: George Saiko: Der Mann im Schilf (1955) . . . . . . . . Michael Hofmann: Musil und Lyotard: Der Mann ohne Eigenschaften und die Postmoderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Heinz J. Drügh: Im Textlabor. Der deskriptive Dialog mit dem Bildmedium in Robert Musils Fliegenpapier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rosmarie Zeller: Grenztilgung und Identitätskrise. Zu Musils Törleß und Drei Frauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jürgen Daiber: Individualpsychologische Diagnose und literarische Therapie: Zum Symptom der Schreibhemmung bei Robert Musil Walter Fanta: Die Spur der Clarisse in Musils Nachlass . . . . . . . . . . . Rosemarie Zeller: Nachruf auf Adolf Frisé (1910–2003) . . . . . . . . . . . Catherine Janssen, Johanna May, Nikola Roßbach: Robert Musil Bibliographie 1994–2001 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Rezensionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 Liste der eingesandten Bücher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 Anschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345
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Vorbemerkung der Herausgeber
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Literatur als Experiment. Poetologische Konstellationen der ›klassischen Moderne‹ in Deutschland Der Begriff des Experiments ist der vormodernen Literatur fremd. Sein methodischer Ort ist seit Roger Bacon die empirische Erprobung eines theoretisch postulierten Sachverhalts im Kontext der Erfahrungs- bzw. Experimentalwissenschaften.1 Das erschien vor allem mit einer literarischen Praxis unvereinbar, die auf eine nachahmend angelegte Regelpoetik reflektierte. Aber auch deren genieästhetische Verabschiedung löste die Literatur nicht vom Prinzip normativer Produktionsregeln. Erst die Frühromantiker proklamieren eine »Erfindungskunst«,2 die kombinatorische Darstellung in Analogie zum naturwissenschaftlichen Experimentieren andenkt. Im weiteren Verlauf bleibt das für die literarische Praxis weitgehend folgenlos. Erst in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts setzt eine mentale Rezeption experimenteller Verfahren durch die Literatur wieder ein, wobei weniger die literarische Gestaltungsweise als der funktionale Diskursort des Experimentellen eine Rolle spielt.3 1 Der aktuell praktizierte Begriff der Erfahrungswissenschaft nimmt auf, dass bis in die Renaissance hinein lat. experimentum als ›Versuch‹ bedeutungsidentisch mit experientia gewesen ist, das seinerseits dann aber auch metonymisch schon im klassischen Latein zur ›Erfahrung‹ wird. Vgl. J. Ritter (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Basel 1972, Bd. 2, S. 868 (Artikel ›Experiment‹ von G. Frey). Vgl. zur Entwicklung auch Lorenz Diefenbach: Glossarium latino-germanicum mediae et infimae latinitatis. ND Darmstadt 1997, S. 218, s. v. experimentum mit der Glossierung ›Erfahrung‹, aber auch ›Erkenntnis‹. – Das 19. Jahrhundert bevorzugte den Begriff der Experimentalwissenschaft. Vgl. charakteristisch um 1900 dazu: Meyers Großes Konversationslexikon. Leipzig, Wien 1905, Bd. 66, S. 220. 2 Vgl. dazu Novalis: Das allgemeine Brouillon, in: Ders.: Schriften. Hg. von Paul Kluckhohn, Richard Samuel. Stuttgart 1968, Bd. 3, S. 387, Nr. 648: »Eine sichtbare Architektonik – und Experimentalphysik des Geistes – eine Erfindungskunst der wichtigsten Wort und Zeichen Instrumente lässt sich hier vermuthen.« 3 Die Forschungslage zum Experimentellen in der Literatur hat noch zu keiner Zusammenfassung von Geschichte und Begriff geführt. Vgl. dazu zuletzt Georg Jägers Ar-
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Er steht in bewusster Opposition zum jeweils Geläufigen und Bewährten, an dessen Stelle der ›Versuch‹ tritt. Ob er erfolgreich und überzeugend ist, bleibt offen. Das Experiment steht gerade nicht für den Gewinn einer Festschreibung, mag die provisorische Installierung auch u. U. wirkungsgeschichtlich eine Vorbildfunktion entfalten. Diese wäre ein Zufallsprodukt, kein Ergebnis experimenteller Intention. Insofern ›beweist‹ das literarische Experiment auch im Gegensatz zum naturwissenschaftlichen nichts. Es bleibt ästhetische Verausgabung. Emile Zolas Erfindung des Experimentalromans (le roman expérimental)4 versuchte noch der Literatur einen äquivalenten Status zu den Naturwissenschaften und ihrer am Experiment orientierten Heuristik zu verschaffen.5 Dahinter steht zunächst gar keine eigentlich schreibexperimentelle Praxis. Zolas Romanexperiment ist rein inhaltlich begründet. Es geht um einen ideellen Habitus, der Leben und seine romanhafte Beschreibung zur soziologischen bzw. sozialpsychologischen Versuchsanordnung für einen Beobachter, den Leser, aufgewertet sehen will. Der Experimentbegriff wird metaphorisch den als methodisch überlegen angesehenen Naturwissenschaf-
tikel ›Experimentell‹ in: Klaus Weimar u. a. (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Berlin, New York 1997, Bd. 1, S. 546–548 (mit einer Auswahl der älteren Literatur). Nicht dort aufgeführt an forschungsgeschichtlich seinerzeit relevanten Arbeiten sind: Fritz Martini: Wagnis der Sprache. Stuttgart 1954; Helmut Motekat: Experiment und Tradition. Bonn 1962; Alfred Liede: Dichtung als Spiel. Berlin 1963, 21992; Hans Schwerte: Der Begriff des Experiments in der Dichtung, in: Reinhold Grimm, Conrad Wiedemann (Hg.): Literatur und Geistesgeschichte. Festgabe für H. O. Burger. Berlin 1968, S. 387–405; Siegfried J. Schmidt (Hg.): Das Experiment in Literatur und Kunst. München 1978; an neueren Arbeiten kommen hinzu: Hans O. Horch: Artikel ›Experiment‹, in: Dieter Borchmeyer, Viktor Zˇmegacˇ (Hg.): Moderne Literatur in Grundbegriffen. Frankfurt a. M. 1987, S. 127 ff.; Reinhard Döhl: Experiment und Sprache, in: Rüdiger Krüger (Hg.): Ist zwîvel herzen nâchgebûr: Günter Schweikle zum 60. Geburtstag. Stuttgart 1989, S. 351–374; aktuell als ›work in progress‹ (Stand Sept. 2002) Reinhard Döhl: Möglichkeiten, Umfang und Wurzeln experimenteller Literatur, Kunst und Musik im 20. Jahrhundert. Ein Projekt, unter: http://www.netzliteratur.net/experiment. 4 Vgl. Emile Zola: Le roman expérimental (1879). Hg. von G. Charpentier. Paris 1881. Zola stützt sein Konzept auf die experimentelle Physiologie in der Medizin seiner Zeit. 5 Auch die Poetologie der ›Moderne‹ entwickelt direkte Bezüge zwischen avancierter Schreibweise und (z. B. biologischem) Experiment. Vgl. dazu etwa Gottfried Benn, der die Genese eines Gedichts in Entsprechung zu den (Amphibien-)Keimexperimenten des Zoologen Hans Spemann (1869–1941) sehen will. Vgl. Gottfried Benn: Natur und Kunst, in: Ders.: Sämtliche Werke. Hg. von G. Schuster. Stuttgart 1989, Bd. 4, S. 360 f., hier S. 360.
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ten einschließlich Psychologie und Medizin entlehnt, um so auch für die Literatur einen ›fortschrittlichen‹ Denkstil und ein daraus resultierendes Werkverständnis reklamieren zu können. Dies geschieht vor dem Hintergrund, dass auch von ›biopoetologisch‹ orientierten Naturwissenschaftlern wie Wilhelm Boelsche her »jede[r] poetische[n] Schöpfung« der Status eines »einfache[n], in der Phantasie durchgeführten Experiments« zugebilligt wird.6 Literatur rückt damit in die Nähe des naturwissenschaftlichen Gedankenexperiments, wie es vor allem der Physiker Ernst Mach um 1900 methodisch favorisierte.7 Für die ideelle Rahmung von Literatur als Experiment wird in jedem Fall der Ort in der Lebenspraxis8 bedeutsam, sei es, dass Schreiben immer auch ein soziales Handlungsmodell darstellt, sei es, dass man Poesie als Medium der Phantasie zur anthropologischen Ausstattung zählt. Der gedankliche Querungsweg Nietzsches überrascht dann nicht mehr, wenn er in der Morgenröthe (1881) das Experiment als die neue condition humaine verkündet: »Wir sind Experimente«,9 heißt es da. Und in der Genealogie der Moral (1887) heißt es schon autoaggressiv, dass wir mit uns »experimentiren […], wie wir es uns mit keinem Thiere erlauben würden, und schlitzen uns vergnügt und neugierig die Seele bei lebendigem Leibe auf«.10 Das menschliche Leben wird zum experimentellen Entwurf gemacht: »Experimental-Philosophie, wie ich sie lebe«,11 nimmt konsequent der späte Nietzsche für sich in Anspruch. So wird dem, was ursprünglich distanziertes Kognitionsinstrument war, jene radikale Nähe und existenzielle Verbindlichkeit verschafft,
6 Vgl. Wilhelm Boelsche: Die naturwissenschaftlichen Grundlagen der Poesie. Prolegomena einer realistischen Ästhetik. Tübingen 1976, S. 7. 7 Vgl. Rudolf Eisler: Handwörterbuch der Philosophie. Berlin 1913, S. 215. 8 Der begriffliche Gebrauch von Experiment für ›soziales (Versuchs-)Handeln‹ lässt sich schon im 18. Jahrhundert belegen. Vgl. Georg Christoph Lichtenberg: Sudelbücher II, in: Ders.: Schriften und Briefe. Hg. von Wolfgang Promies. München 1971, Bd. 2, S. 428 (K 159), bezogen auf die Wiedereinführung der »christlichen Religion« in Frankreich nach der revolutionären Abschaffung: »welches kostbare Experiment«. Vgl. auch ebd., Bd. 1, S. 899 (L 322): »Experimental-Politik, die französische Revolution.« 9 Vgl. Friedrich Nietzsche: Morgenröthe. Gedanken über die moralischen Vorurteile, in: Ders.: Kritische Studienausgabe [= KSA]. Hg. von G. Colli, M. Montinari. München 21988, Bd. 3, S. 274,24 (V, § 452). Vgl. auch ebd., S. 294,26 ff. (V, § 501): »wir dürfen mit uns selber experimentiren! Ja die Menschheit darf es mit sich!« 10 Vgl. Nietzsche, KSA Bd. 5, S. 357,31 ff. 11 Vgl. Nietzsche, KSA Bd. 13, S. 492,16[32] vom Sommer 1888.
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auf der dann ideell in der ›Moderne‹ auch die Literatur einen Experimentstatus beanspruchen kann.12 Das operative Konzept, »mit Gedanken zu experimentieren«, ist schon aufklärerischer Provenienz, wie es sich bei Lichtenberg programmatisch formuliert findet.13 Ähnlich verfährt die »physikalische Kunstlehre« des Novalis, der den »Erfindungsgeist neuer Experimente« genieästhetisch figuriert und ihn sogar zu »romantisiren und popularisiren« gewillt ist.14 Dahinter steht die zugleich philosophische wie poetische Überzeugung, dass »Alles […] zum Experiment« werden kann, denn »das Geheimniß des Experimentirens« liege wesentlich darin, Realität »in Experimente und Begriffe [zu] verwandeln«.15 Der derart aufgerufene metamorphotische Prozess, dem poetischen Gestaltungsvorgang analog, reflektiert darauf, dass dem Experiment eine verändernde Kraft innewohnt, die funktional der Phantasie nahe steht. Das Experiment ist als naturwissenschaftlich wie poetisch eingesetztes Instrument Erfindungskunst. Für die Literatur soll gelten: »Experimentiren mit Bildern und Begriffen im Vorstellungs Vermögen ganz auf eine dem physikalischen Experimentiren analoge Weise. Zusammen Setzen. Entstehn lassen –.«16 Lichtenberg wie Novalis sahen im Experiment weniger ein Medium der Approbation als eines der spielerischen Kreativität. Diese frühe kulturtheoretische Rezeption des Experimentaldenkens naturwissenschaftlicher Provenienz rückt den Aspekt der inspirierten und inspirierenden Innovation und Invention17 ins Zentrum experimenteller Produktion. Er kehrt auch im literarischen Experimentbegriff der ›Moderne‹ als konstante Idee wieder, ohne
12 Er geht weit über jenen älteren »Experiment«-Begriff hinaus, wie ihn sich um 1800 noch Fichte als ein philosophisches Beobachtungsmilieu denkt. Vgl. Johann G. Fichte: Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre [1797], in: Ders.: Werke. Hg. von Immanuel H. Fichte. Berlin 1971, Bd. 1, S. 454: »Er [sc. der Philosoph] stellt ein Experiment an. Das zu untersuchende in die Lage zu versetzen, in der bestimmt diejenige Beobachtung gemacht werden kann, welche beabsichtigt wird, ist seine Sache.« Die intellektuelle Mobilisierbarkeit bringt zwar auch schon ein dynamisches Moment ins Spiel, belässt dieses aber noch in der Sphäre stillstellender intellektueller Erschließung. 13 Vgl. Lichtenberg: Sudelbücher II, S. 454 (K 308): »Ein bequemes Mittel mit Gedanken zu experimentieren ist, über einzelne Dinge Fragen aufzusetzen.« 14 Vgl. Novalis: Das allgemeine Brouillon, in: Ders.: Schriften, Bd. 3, S. 256, Nr. 89. 15 Vgl. Novalis: Das allgemeine Brouillon, S. 391, Nr. 657. 16 Vgl. Novalis: Das allgemeine Brouillon, S. 443, Nr. 911. 17 Vgl. zum Erfindungsaspekt auch Novalis: Das allgemeine Brouillon, S. 435, Nr. 863: »Experimentiren ist gewissermaßen nichts, als calculiren. (Aller Calcül ist Analytisch – inventorisch).«
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dass dabei wissenschaftstheoretische Implikate eine größere Rolle spielten. Das ästhetische Experiment selbst wird zum Gegenstand wissenschaftlicher Reflexion, wie Gustav Theodor Fechners Forschungen zur ›experimentalen Ästhetik‹ (1876) dies richtungsweisend belegten.18 Die Aneignung des Experiments durch die Literatur um 1900 steht folglich auf einer doppelten Grundlage. Auf der einen Seite liegt zunächst nur eine metaphorische Aneignung vor, um neue operative Rahmungen für eine ›progressive‹ und zugleich kreative Literaturpraxis zu gewinnen. Auf der anderen Seite stehen fundamentale Funktionsansprüche und Leistungsprofile zur Debatte, die im literarischen Experimentieren eine Grundform intellektueller Aneignung von Welt und Sprache sehen. Das literarische Experiment wird dadurch zum Teil des ganzheitlichen Lebensprozesses, den es anregt und trägt. Konkrete Folge dieses Ansatzes ist eine radikal mit der Tradition brechende Poetologie ›absoluter‹ Dichtung, die im literarischen Werk nicht mehr die Repräsentation eines wahrnehmenden Ich sieht, sondern einen autonomen, sprachlich verfassten Experimentierraum. Carl Einsteins Roman Bebuquin (1906/09), der schon im ›sprechenden‹ Titel Buch/Schmöker von Beb kryptoform solche Auflösung schlüsselt,19 oder Paul Adlers Psychiatrieroman Nämlich (1915), der über seine ›namenlose‹ Titelfigur den Verlust von Welt und Begriffen thematisiert,20 sind Beispiele einer experimentellen Erzählpoetik der ›Moderne‹, die das Berichtsgeschehen sprachlich entidentifizierend auflösen. »Das haltlose Licht tropfte auf die zart markierte Glatze eines jungen Mannes, der ängstlich abbog, um allen Überlegungen über die Zusammensetzung seiner Person vorzubeugen.«21 Solche Sätze (aus der Eingangspassage des Bebuquin) illustrieren den Ansatz einer autopoetischen und autonomen Sprachästhetik, die Aussagen jenseits einer normativen Satzlogik bildet. Im Falle Einsteins heißt dies nach späterer Selbstaussage, ein Verbum zu benutzen, »das dem optischen Eindruck ganz zuwiderläuft«.22 Licht tropft nicht.
18 Vgl. die zusammengefassten Studien in: Gustav Theodor Fechner: Vorschule der Ästhetik. ND Hildesheim 1978, bes. Teil 1, S. 184 ff. (u. a. zum Begriff). 19 Der Streit um den Titel hat die Forschung beschäftigt. Vgl. Nachwort zu Carl Einstein: Bebuquin. Hg. von Erich Kleinschmidt. Stuttgart 21995, S. 73 f., Anm. 16. 20 Vgl. dazu Erich Kleinschmidt: Schreiben auf der Grenze von Welt und Sprache. Die radikale Poetik in Paul Adlers Nämlich (1915), in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 73 (1999), S. 457–477. 21 Vgl. Einstein: Bebuquin, S. 3 (Kap. 1). 22 Vgl. als theoretische Äußerung dazu den Brief Carl Einsteins vom Juni 1923, in: Carl Einstein/Daniel-Henry Kahnweiler: Correspondance 1921–1939. Hg. von Lilian Meffre. Marseille 1993, S. 138–148, hier S. 145.
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Die Wirklichkeit ist keine außerhalb des Textes mehr, die mimetisch und wahrscheinlich zu reproduzieren wäre. Zur Realität ist allein das sprachliche Konstrukt mit seiner operativen Gestaltungskraft geworden. Der Text funktioniert nicht als deskriptive Objektivierung, er ist die Sache selbst. Seine Gestaltung bedarf dann nicht mehr der identitätslogischen Begründung und Kausalisierung, sondern kann sich davon lösen. Der Modus des Aussagesatzes entzieht sich der Realisierungskontrolle. Er konturiert nur noch seine eigene Logik. Deren Einschätzung im ›normalen‹ Sinn liefe auf Unsinn, Irrsinn oder Phantastik hinaus. Narrativ entsteht daraus eine sich zersplitternde Darstellung, die inkohärent, assoziativ und disparat wirkt. Das ist kein Unvermögen. Es ist, wie im Falle von Hugo Balls (erst aus dem Nachlass publiziertem) Roman Tenderenda der Phantast,23 Programm mit teils ästhetischer, teils aber auch kultur- und gesellschaftskritischer Intention. Die Welt erscheint derart, dass sie nicht mehr zum Maßstab für die Literatur genommen werden kann. Ihr angemessen erscheint nur noch ihre narrative Irrealisierung. Was die Prosa einer expressionistischen Avantgarde vorführt, beginnt zuvor schon in der Lyrik. Arno Holz’ »Lyrikon«-Projekt Phantasus (ab 1898), das eine ganz von »Form-Notwendigkeit« bestimmte »Wortkunst«24 installiert, beruht auf der Annahme, dass das Dichter-Ich sich »in die heterogensten Dinge und Gestalten zerlege«.25 Der ›projizierte‹26 Text ist dann der Versuch einer Rekonfiguration, die für sich als ›Welt‹ besteht. Die experimentelle Seite dieser Poetologie, die vom Autor als »Revolution der Lyrik«27 im Kontext einer avantgardistischen »Erschütterungswelle«28 verstanden sein wollte, setzt auf die typographische Evidenz einer mittelachsig gesetzten Zeile unterschiedlicher Länge zwischen einer und fünfzig Silben. Holz verstand die Zeile als rhythmische Einheit,29 deren Mittelachsigkeit sich allerdings nicht akustisch, sondern nur visuell erschließt.
23 Erstdruck hg. von Annemarie Schütt-Hennings, Zürich 1967; verbesserte, kritische Edition hg. von R. Meyer, J. Schütt, Innsbruck 1999. 24 Vgl. Arno Holz: Idee und Gestaltung des Phantasus, in: Ders.: Werke. Hg. von Wilhelm Emrich, Anita Holz. Neuwied, Berlin 1962, Bd. 5, S. 86–109, hier S. 88, 87, 86. 25 Vgl. Holz: Idee und Gestaltung des Phantasus, S. 88. 26 Vgl. Holz: Idee und Gestaltung des Phantasus, S. 93, zu Holz’ Bezeichnung seiner Gedichte als »Projektionen«. 27 Vgl. Holz: Idee und Gestaltung des Phantasus, S. 98. 28 Vgl. zum Begriff und zur Einschätzung Arno Holz: Die neue Form und ihre bisherige Entwicklung, in: Ders.: Werke, Bd. 5, S. 110–137, hier S. 136. 29 Vgl. Holz: Idee und Gestaltung des Phantasus, S. 92: »Die letzte Einheit meiner ›Rhythmik‹ ist eine ungleich differenziertere [sc. als der Versfuß]: die Zeile.«
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Holz selbst kontaminiert das, will er doch das durch »diese ›unsichtbare Mittelachse‹ erzeugte ›sichtbare Etwas‹« als »das Ohrbild eines Gedichtes«, als seine »typographische Musik« verstanden wissen.30 »Aug und Ohr« sollen medial und in der Funktion einer produktions- wie rezeptionsästhetischen Kontrolle harmonisiert werden.31 Das Konzept ist ein Kopfprodukt, das nicht funktioniert, aber gerade dadurch eine phantasmatische Dimension einer experimentellen Poetik offen legt, die ästhetisch stets auf einen Überschusscharakter abzielt. Holz markiert sie in dem über viele Jahre hinweg anlagernden Erweiterungsprozess seines Phantasus, der schließlich auf eine monströse Entgrenzung mit »Riesensätz[en]« von bis zu »2516 Zeilen über mehr als 70 Seiten«32 hinweg hinausläuft. Das ist weder lesbar noch hörbar, wohl aber ideell zu projizieren als ›absolute‹ Dichtung. Deren Potential liegt wesentlich in einer intensiven sprachschöpferischen Arbeit, die eine (von der Forschung völlig unterschätzte) intertextuelle Dokumentarebene nahezu aller Textsorten aus mündlich und schriftlich konventionalisierter Sprache mit exzentrischen Neuwortbildungen (»meine Eskapade ins Ultraüberkandidelttraumblaue«)33 verknüpft. Das Ergebnis ist ein artifiziell verdichteter ›Sprachroman‹, aber auch ›Stimmenroman‹, der keine Handlung aufweist und kaum von einem Ich erzählt, dafür aber als ein umfassendes Ideenlaboratorium über das Verhältnis von Sprache und Welt funktioniert. Arno Holz findet und erfindet zugleich Realität als Sprache, deren »Begriffswerte« ihn ein wortrhythmisches »Zahlengesetz« postulieren ließen.34 Solche Entdeckung gehört zum Experiment, besagt in seinem substantiellen Anspruch aber eher wenig. Das weiterführende Moment solcher »Begriffswerte« ist ihr generativer Charakter. Der Phantasus wird zur kreativen ›Sprachmaschine‹, die »sich selbst schafft«.35 Der Autor erscheint so als kompetenter ›Installateur‹, der etwas zu bewegen verstehen mag, aber sich letztendlich als entmächtigt erfährt. Wie im experimentellen Roman der Avantgarde bleiben im lyrischen »Rhythmikon«36 Spuren personaler Existenz im Worttext erhalten, der jene artefaktisch stillstellt, um sie zugleich in reine Sprache, in Wortbewegung aufzulösen. Unwillen, definitiv über das
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Vgl. Holz: Idee und Gestaltung des Phantasus, S. 94. Vgl. Holz: Idee und Gestaltung des Phantasus, S. 95. Vgl. Holz’ Selbstaussage in Holz: Idee und Gestaltung des Phantasus, S. 103. Vgl. Arno Holz: Phantasus. Leipzig 1916, S. 142. Vgl. Holz: Die neue Form und ihre bisherige Entwicklung, S. 129. Vgl. Holz: Die neue Form und ihre bisherige Entwicklung, S. 134: »So wird man zum Geschöpf seines eigenen Werkes, das sich selbst schafft […].« 36 Vgl. Holz: Phantasus, S. 143.
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auktoriale Ich zu schreiben, mündet in das Modell entgrenzter Sprachfluktuation. Arno Holz orientiert sich dabei nicht an der französischen Leitavantgarde des 19. Jahrhunderts (Baudelaire, Rimbaud, Mallarmé) und deren ›absoluter‹ Sprachbewegung. Die poetische Entrealisierung des Gegenständlichen bleibt bei ihm begrenzt. Im Detail ist die Wirklichkeit sprachlich durchaus referentiell präsent. In den ausufernden Anlagerungen geht dieser Sachbezug indes für den Leser verloren. Die konkreten Anhalte verlieren sich in den textuellen Überschichtungen derart, dass am Ende allein das Wortkunstwerk mit seiner »autonome[n] Stiltechnik (ohne Fesselung von Inhalt)«37 übrig bleibt. Es folgt ästhetischen Regeln und Ansprüchen von Wortschönheit, Rhythmus und Klang, die jede Inhaltlichkeit verschwimmen lassen. Das Medium Sprache wird in seiner exzessiven Entbindung primär. Der von den Wörtern und Sätzen transportierte Sinn verliert sich. Holz’ Ansatz berührt sich, ohne konform zu sein, mit der Poetik der französischen Symbolisten, die in den Wörtern Potenzen freigelegt sehen wollten, »die mehr vermögen als der Gedanke«.38 Arno Holz ging theoretisch nicht so weit, entwickelte aber auf seinem eigenen, zeitlebens umstrittenen Weg eine wortgenetische Anlagerungspoetik. Sie entfaltete ihre literarische Wirkung weniger direkt als mittelbar. Die experimentelle Sprachpoetik der frühen deutschen ›Moderne‹ mit ihrer semantischen und syntaktischen Technik der geöffneten Assoziationsräume ist insgesamt ohne ihn nicht denkbar. Auch Christian Morgenstern gehört zu deren Vätern aus dem Schreibhabitus der Groteske. Sein Gedicht Das große Lalula,39 dieser neben Paul Scheerbarts Kikakokú (1897)40 historische Initiationstext der Lautpoesie (1905), lässt sich phänomenologisch als literarisches Gegenstück zu den experimentalphonetischen Versuchen der Wahrnehmungspsychologie um 1900 einordnen,41 doch trifft dies nur bedingt die Tiefenstruktur. Der dem 37 Vgl. dazu Alfred Döblin: Vom alten zum neuen Naturalismus. Akademie-Rede über Arno Holz [1930], in: Ders.: Schriften zu Ästhetik, Poetik und Literatur. Hg. von Erich Kleinschmidt. Olten, Freiburg 1989, S. 263–270, hier S. 269. 38 Vgl. dazu (bezogen auf Mallarmé) Hugo Friedrich: Struktur der modernen Lyrik. Hamburg 1956, S. 80. 39 Vgl. Christian Morgenstern: Gesammelte Werke. Hg. von Margareta Morgenstern. München 1965, S. 226 f., bzw. ders.: Werke und Briefe. Hg. von Maurice Cureau. Stuttgart 1990, Bd. 3, S. 61. 40 Vgl. Paul Scheerbart: Ich liebe dich. Mit 66 Intermezzos. Ein Eisenbahnroman [1897], in: Ders.: Gesammelte Werke. Hg. von U. Kohnle. Linkenheim 1986, Bd. 1, S. 567. 41 Vgl. dazu Friedrich Kittler: Aufschreibesysteme 1800/1900. München 1987.
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Textexperiment wie allen Galgenliedern integral angefügte ›Kommentar‹ eines fiktiven »Jeremias Müller, Dr. phil., Privatgelehrter« darf nicht übersehen werden. Morgenstern erläutert den »Gesang«, dem angeblich bisher »viel zuviel unterlegt« worden sei, als Kryptogramm eines Schachendspiels. Das Ziel der Kombination von Lautgedicht und Entschlüsselung zielt mehr auf eine Heuristik des Grotesken, die ernsthafte mit paradoxen Zugängen mischt und dadurch auch die Philologie der Kommentierung provoziert. Die nachträgliche Lesbarkeit eines zunächst unlesbaren Lauttextes zu entwerfen, der trotz formaler Nachahmung eines Satzbildes weder Grammatik noch Rhetorik kennt, wird als Spiel mit der Kontingenz offen gelegt. Die nachträgliche Einführung eines explizit figuralen Sinns, der Schachkonstellation, dient der hermeneutisch subversiven Enthüllung, dass Lesen von Zufällen des Gelingens abhängt. Die Gewissheit, dass Lektüre Sinn aufdeckt, wird so infrage gestellt. Das Lautgedicht erlaubt keine kognitive Kontrolle von Textintentionalität mehr, es ist der ›reine‹ Zeichentext, als dessen noch weiter getriebenes Muster auch Morgensterns Fisches Nachtgesang42 mit seinen stummen, nur noch mit Strich und Bogen platzhalterisch markierten Lautketten anzusehen ist. Das »tiefste deutsche Gedicht«, so der äußerst verknappte, ironische Kommentarzusatz, überschreitet jede humane Sprachgrenze. Es endet nicht im Schweigen, es ist Schweigen und damit der denkbar absolute Text. Schon diese wenigen Beispiele früher dichterischer Experimente in der ›klassischen‹ Moderne verweisen darauf, dass es nicht genügt, in ihnen nur eine spielerische Intention zu sehen. Immer ergeben sich auch theoretische Implikate, die weitere Perspektiven eröffnen. Das literarische Experiment ist, wenn es sich nicht ohnehin theoretischer Konzeptionalität verdankt, zumeist eine Herausforderung für die Texttheorie. Beide Rahmungen bilden für eine experimentelle Produktion und die zugehörige Rezeption eine wichtige Basis, geht es doch um die überprüfbare Konstitution von Literatur im Hinblick auf spezifische Elemente und Darstellungsweisen. Das literarische Experiment begründet den Schreibtisch als ›Werkstatt‹ oder ›Labor‹, in denen vor allem gegen das gängige »Kommunikationsgemurmel«43 Front gemacht wird. Der Ansatz zielt auf antikonventionalistische Innovation und Schärfung des Sprach- und Textbewusstseins.
42 Vgl. Morgenstern: Gesammelte Werke, S. 125, bzw. ders.: Werke und Briefe, Bd. 1, S. 65. 43 Vgl. zum kritischen Begriff (im Kontext der Lautpoesie) Siegfried J. Schmidt: Lauter Laute, in: Welt auf tönernen Füßen. Die Töne und das Hören. Hg. von der Kunstund Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland. Bearb. von Uta Brandes. Göttingen 1994, S. 285–289, hier S. 287.
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Schwierig ist dabei die Eingrenzung dessen, was man als ›experimentell‹ einzuschätzen hat und was von der ohnehin sich vollziehenden literarischen Evolution abzugrenzen wäre. Einfach alle innovativen Textformen der verschiedenen Avantgarden für experimentell zu erklären, hilft wenig weiter, weil gerade auch der Avantgardebegriff trotz seiner literaturhistorischen Pragmatik mehr als diffus erscheint.44 Es reichte aber auch nicht, nur die radikalen sprachexperimentellen Versuche der lautpoetischen oder wort- und satzdestruierenden45 Ausrichtung zum Maßstab zu erheben, wenn auch hier noch am ehesten eine definitorische Evidenz zu herrschen scheint. Sie sind indes nur zugespitzte Lösungsfälle innerhalb eines grundsätzlichen Paradigmenwechsels in der literarischen Sprachauffassung der ›Moderne‹. Die experimentelle Dimension der Literatur in der ›Moderne‹ gründet auf dem schon von Roman Jakobson 1921 und damit zeitgenössisch (im futuristischen Umfeld) analytisch beobachteten Umbruch, dass die literarische Semiotisierung, die Wortkunst, in der ›Moderne‹ von Sachvorstellungen zu Wortvorstellungen wechselt.46 Nicht mehr die Realien bestimmen, wie dies die ältere Poetik ansetzt, die Wörter und damit die Texte. Vielmehr gilt nun, dass die Bezeichnungskraft von den Wörtern selbst ausgeht. Das provokante Beispiel für diesen Wandel ist das Passepartout-Wort DADA , das 1916 in Zürich, wie auch immer, kreiert wurde. Es verdeutlicht den Ansatz,47 dass nicht die Welt die Sprache konditioniert, sondern dass sich die Sprache eine reale wie phantastische Welt erst erschafft. Die Radikalität von DADA besteht für den Stichwortgeber Hugo Ball in seinem Manifest darin, keine Wörter zu benutzen, »die andere erfunden haben«, sondern nur eigene: »ich will meinen eigenen Unfug, und Vokale und Konsonanten dazu, die ihm entsprechen.«
44 Vgl. dazu zuletzt Jost Hermand: Können Sezessionen Avantgarden sein?, in: Hartmut Kircher, Maria Ktanska, Erich Kleinschmidt (Hg.): Avantgarden in Ost und West. Literatur, Musik und Bildende Kunst um 1900. Köln, Weimar, Wien 2002, S. 1–11. 45 Die »Preisgabe des Satzes dem Wort zuliebe« (Hugo Ball: Die Flucht aus der Zeit. München, Leipzig 1927, S. 102) geht innerhalb der Avantgarden des frühen 20. Jahrhunderts auf T. F. Marinetti und damit den italienischen Futurismus zurück, der mit einer eher technizistischen Ausrichtung »parole in libertà« proklamierte. Die deutsche ›Wortkunst‹ setzte demgegenüber auf einen ›magischen‹ Anspruch: »Die magisch erfüllte Vokabel beschwor und gebar einen neuen Satz« (Ball, ebd., S. 102). 46 Vgl. dazu zusammenfassend A. Hansen-Löwe: Entfaltung, Realisierung (bezogen auf Roman Jakobsons ›Neueste russische Poesie‹), in: Aleksandar Flaker (Hg.): Glossarium der russischen Avantgarde. Graz, Wien 1989, S. 188–211. 47 Vgl. Hugo Ball: Manifest zum 1. Dada-Abend in Zürich 1916, in: Paul Pörtner (Hg.): Literaturrevolution 1910–1925: Dokumente, Manifeste, Programme. Darmstadt 1960–1961, Bd. 2, S. 477.
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Allein das hieße, »das Wort selber zur Sache« werden zu lassen,48 um dadurch auch darauf zu verzichten, »aus zweiter Hand zu dichten«.49 Die radikale Folgerung aus solcher alle Intertextualität unterlaufenden Neogenese legt den völligen Verzicht auf eine Semiotisierung nahe, da für Neuworte und Neusätze kein Lexikon existiert. Entsprechend heißt es im Manifest Dada von Tristan Tzara 1918 ganz konsequent für das Schibboleth-Wort dieser antinormativen und damit auch antibürgerlichen Poetik: »DADA BEDEU TET NICHTS .«50 Es ist die Negativität, die Abwesenheit von Sinn »in Wortspiele[n] und grammatikalischen Figuren«,51 die den äußersten Wortuniversalismus entbindet. Dass dies die einem sinnbehafteten Textbegriff verpflichteten Zeitgenossen irritierte, darf nicht verwundern. In der Wortkunst-Theorie der ›Moderne‹ bedeutet dies provokative Konzept DADA s indes einen Sonderweg. Die Veränderung der Sprachauffassung begründet ansonsten eine durchaus figural ›beredte‹, innovative Literaturpraxis. Sie entgegenständlicht jedoch die dichterische Darstellung zugunsten einer eigenen Sprachwirklichkeit. Es ist ein Vorgang, wie er analog im bildkünstlerischen Kubismus auftritt, der die traditionelle Bildsprache des Raumes aufhebt, um über eine eigene Formsprache einen neuen »Bildkörper«52 zu konstituieren. Es hat bei Carl Einstein53 oder Max Jacob54 Versuche gegeben, das bildnerische, raumbezogene Moment des Kubismus auf die Literatur und damit in ein an Zeitwahrnehmung gebundenes Medium zu übertragen. Unabhängig davon, ob man deshalb schon von einem ›kubistischen Roman‹ sprechen kann oder soll, lässt sich hier ein wichtiger theoretischer Hintergrundansatz literarischer Experimentalität erkennen. Er zielt darauf, im Text »Sprache der Form der Erlebnisse anzupassen, wie man im Kubism ein bestimmtes, entscheidendes Raumgefühl übersetzte«.55 Die Eigenwirklichkeit eines sprachgenerierten Textes wird so zum verdichteten Programm.
48 Vgl. alle Zitate Ball: Manifest zum 1. Dada-Abend, S. 478. 49 Vgl. Ball: Die Flucht aus der Zeit, S. 102. 50 Vgl. Tristan Tzara: Manifest Dada 1918, in: Pörtner: Literaturrevolution, S. 478–485, hier S. 479. 51 Vgl. Ball: Die Flucht aus der Zeit, S. 158 (im Kontext der Definition von »Dadaist«). 52 Vgl. zum Begriff Carl Einstein: Die Kunst des 20. Jahrhunderts. Berlin 21928, S. 57. 53 Vgl. als theoretische Äußerung den Brief Carl Einsteins vom Juni 1923, in: Einstein/ Kahnweiler: Correspondance, S. 139 ff. zur Frage eines ›kubistischen‹ Schreibens. 54 Ansprüche auf einen »Cubisme littéraire« erhoben in Frankreich schon 1917 Frédéric Lefèvre und 1922 Max Jacob als »littérateur cubiste«. Vgl. die Belege im Ausstellungskatalog: Max Jacob et Picasso. Paris 1994, S. 187 und S. 188, Anm. 43. 55 Vgl. Max Jacob et Picasso, S. 142.
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Als narratives ›Textzeit‹-Experiment kann in diesem Zusammenhang für Deutschland der vergessene DADA -Roman Melchior Vischers (1895–1975) Sekunde durch Hirn von 1919 gelten.56 Der »unheimlich schnell rotierende Roman« (Untertitel), ein explizit an den Bebuquin Carl Einsteins anschließendes »astronomisches Punktierbuch«,57 entfaltet »molluskenhaft« (und damit in einem Modell narrativer Entlinearisierung) die ›Lebensgeschichte‹ des »Stukkatörs« Jörg Schuh während dessen Fall vom Gerüst im 40. Stock eines Wolkenkratzers als ›Sprachfilm‹ zwischen Wahrnehmungs- und Erinnerungsreflexen: Kroloscho su krolo su su suuuuu huih – – – iiihh! die Ewigkeit! In die Ewigkeit! Fahr mr Euer Gnadn? Grüßte spiegliger Zylinder gelbblauen Mannes einladend, billig, der Kilometer drei Halsbrüche und neun Tode. Ich bin Ekstatiker aufm Kubus, im letzten Leben war ich Mathematikprofessor und da auf der großen Milchstraßn bin ich jetzt Droschkenkutscher. Also farn mr Euer Gnadn? – Nein ich danke, ich nehme prinzipiell nur Taxameter! – aber ich hab Gummireifen an den Radln, oh Marke »Gigant«. – Gehns in ein Bordell! – Bittäähh!58
Die ironisch als »guter Blödsinn« signalisierte Erzählung, die »in fünfzig Jahren oder in fünfzig Minuten« zur »apodiktische[n] Weisheit« werden kann,59 dient in einer entfesselten, z. T. collagierenden und lautpoetischen Sprachprojektion dazu, ein ›Erlebnis‹ nicht nur traditionell zu beschreiben, sondern es textuell als eine (im Sinne Carl Einsteins) metalogische Totalität umzusetzen, »die Eindrücke nicht hinnimmt, sondern verarbeitet«.60 Dabei sind wesentliche Elemente eines »konstruktiven Romans« festzustellen.61 Die Art der »Wortverbindung«62 mit ihrem gestalterischen Universalismus schafft experimentell einen veränderten Literaturmodus eigener Gesetzlichkeit. Der Ansatz, den Sekunde durch Hirn wie schon der Bebuquin durchspielt, läuft auf die Schaffung von sprachlich evozierten Vorstellungsund Empfindungsfeldern hinaus. Ein Lösungsmodell ist dabei die Optisie56 Erstdruck Hannover: Paul Steegemann Verlag o. J. [1919], danach Faksimile-Druck Berlin 1963; Neudruck: Melchior Vischer: Sekunde durch Hirn. Der Hase. Hg. von P. Engel. Frankfurt a. M. 1988, S. 5–64 (mit problematischem Neusatz, da die originale Druckanordnung Teil des Vischer’schen Textkonzepts gewesen ist). 57 Vgl. Vischer: Sekunde durch Hirn, S. 3 bzw. S. 7 (Neudruck). 58 Vgl. Vischer: Sekunde durch Hirn, S. 5 bzw. S. 10. 59 Vgl. Vischer: Sekunde durch Hirn, S. 3 bzw. S. 8. 60 Vgl. Einstein/Kahnweiler: Correspondance, S. 146. 61 Zum ›konstruktiven Roman‹ (im Kontext der russischen Avantgarde der zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts) vgl. Aleksandar Flaker: Der konstruktive Roman, in: Ders.: Glossarium der russischen Avantgarde, S. 308–318. 62 Vgl. Einstein/Kahnweiler: Correspondance, S. 147.
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rung des Textes, sei es über wortsemantische Strategien, sei es sogar über die Typographie. Entsprechend endet Sekunde durch Hirn: Nun kommt der Strich. Furchtbar schräg und plötzlich, der Strich. Erst einer quer —, dann einer |, gibt zusammen, o schwinget ihr Rauchfässer ein + 63
Die Finalität eines ›erzählten‹ Lebens mündet in der graphischen Symbolik reinen Zeichens, dessen scheinbar aufgerufener Vorstellungskomplex unterlaufen wird. Was als symbolisches Sterbekreuz erscheint, ist im Text auf das technische Produkt einer linearen Kreuzungsfigur zu reduzieren. Das Textexperiment findet zur Abstraktion seiner eigenen Medialität. Dass die Wörter wie Dinge behandelt, ›realisiert‹ werden64 und »die Wirklichkeit der Dichtung […] die Wortfolge«65 allein ist, illustriert Gottfried Benns spätes Gedicht Verlorenes Ich (1943) noch in Fortsetzung der sprachpoetischen Umbruchslinie der klassischen ›Moderne‹ virtuos: Verlorenes Ich, zersprengt von Stratosphären, Opfer des Ion – : Gamma-Strahlen-Lamm – Teilchen und Feld – : Unendlichkeitschimären auf deinem grauen Stein von Notre-Dame.66
Hier wird nichts mehr beschrieben, sondern der Text generiert unter Auflösung seiner ›Wörtlichkeit‹ einen Ausdruckszustand, der die Verlorenheit des artikulativen Subjekts in sprachliche Dinglichkeit um- und aussetzt. Das Gedicht initiiert über Wortkomplexe ›freie‹ Imaginationen, die mit keiner existenziellen Wirklichkeit mehr zu korrelieren sind. Sie entwickeln ein ›Eigenleben‹, so dass »die Worte« im Einlösungssinne von Richard Huelsenbecks Dadaistischem Manifest (1918) geradezu »zu Individuen« werden.67 Die rezeptive Wahrnehmung gelingt nicht mehr über eine lexikalische Identifikation, sondern folgt einer ›atmosphärischen‹, von Intensität be63 Vgl. Vischer: Sekunde durch Hirn, S. 49 bzw. S. 64. 64 Vgl. Gottfried Benn: Lyrik, in: Ders.: Sämtliche Werke. Hg. von G. Schuster. Stuttgart 1989, Bd. 4, S. 356: »Für ihn [sc. den Lyriker] ist das Wort real und magisch, ein moderner Totem.« 65 Vgl. Einstein/Kahnweiler: Correspondance, S. 146. 66 Vgl. Benn: Sämtliche Werke, Bd. 1, S. 205. 67 Vgl. Pörtner: Literaturrevolution, Bd. 2, S. 486–489, hier S. 488 im Kontext der Bestimmung des »statische[n] Gedicht[s]«. Bemerkenswert ist, dass Benn seine erste nach 1945 erschienene Gedichtsammlung Statische Gedichte (1948) benannte, ohne dass dieser DADA-Bezug für den Titel die Forschung näher beschäftigt hat. Vgl. die Ausgabe Wiesbaden: Limes 1948, S. 47 Verlorenes Ich.
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herrschten Bestimmung, die sich zwischen Verstehen und dessen Scheitern im paradoxen Modus einer abwesenden Anwesenheit von Sinn bewegt. Das lyrische Wort »ist Existenz an sich, Ausdruck, Miene, Hauch«.68 Aus der Sicht des Autors Benn findet der dichterische Prozess programmatisch in einem expliziten Experimentalort statt, dem »Laboratorium für Worte«. Dort ist es möglich, »Stimmungen und Erkenntnisse« in »Worten auszudrücken, die es noch nicht gibt«, mag dies auch »Studienräte, Irrenärzte, Sprachreiniger und Politiker« aufregen.69 Der frühe Prosatext Benns Das letzte Ich von 1920 verfährt schon ebenso experimentell, wie dies seine Eingangspassage ausweist: »Jetzt wird die Insel blühn, dachte er, nun liegt ein Glück im Meer, ein Rauch über einem Riff von Flammen. Sie steigt gesäugt, von der erstandenen Flut in Rosenfalken, sie stößt ins Blau, sie hat Blüten wie Frucht und Blüten wie Stein, geädert oder marmorweiße.«70 Das ist angesichts der semantischen Aporien nicht zu ›verstehen‹, dennoch geht von der Formulierung ein sujetrealisierendes Wissen aus, dessen aufgeladene Unschärfen auszureizen die experimentelle, entgegenständlichte Schreibweise Benns ausmacht. Im Rückblick sah er im Text eine Vorwegnahme des späteren surrealistischen Avantgardismus,71 dessen Schreibpoetik in der Tat kaum anders verfährt. Benn steht allerdings weniger dem dogmatischen Surrealismus Bréton’scher Prägung nahe als den pluralen Positionen einer Experimentalliteratur, wie sie sich um die Pariser Avantgarde-Zeitschrift ›Transition‹ (1927–1938), das »International Quarterly for Creative Experiment« (Untertitel),72 entwickelte. Primär auf englischsprachige Werkkomplexe wie die Gertrude Steins und James Joyce’ ausgerichtet, erschienen hier auch Texte von Hans Arp, Carl Einstein, Kurt Schwitters und Gottfried Benn. Dies publizistische Forum bündelt erstmals systematisch ein poetologisches Verständnis, das auch begrifflich konsequent auf ein experimentelles Schreiben setzt. Es unterscheidet sich von den Aufbrüchen der älteren Avantgarden durch das Bewusstsein eines Kalküls, das auf gesellschaftliche Implikate zunehmend verzichtet. Wesentliche Experimentalposen der klassischen Moderne 68 69 70 71
Vgl. Benn: Lyrik, S. 356. Vgl. Benn: Lyrik, S. 355. Vgl. Benn: Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 120–126, hier S. 120. Vgl. Gottfried Benn: Briefe an F. W. Oelze 1950–1956. Hg. von H. Steinhagen, J. Schröder. Wiesbaden, Stuttgart 1980, S. 21: »[…] dass einiges von dem, was dann später als Surrealismus, Joyce, auch Existentialismus in die Öffentlichkeit drang, schon Anfang der 20. Jahre bei mir in Andeutungen und Bruchstücken vorhanden war.« 72 Vgl. Dougald McMillan: Transition 1927–1938. The History of a Literary Era. London 1975 (mit Bibliographie).
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hingegen sind einem revolutionären, kulturkritischen Pathos verpflichtet. Die politische Dimension ist aber auch hier, wie das Beispiel DADA vor allem zeigt, diffus. Immerhin kann man aber in allen ›modernen‹ Poetologien des Experiments einen gemeinsamen Faktor wahrnehmen, dass Schreiben als Ausdruck und Bestandteil eines eigenen wie fremden existentiellen Umbruchs und der darin manifesten Krisen eine Rolle spielt. Es muss nicht unbedingt das zivilisationskritische Pathos vom »Zusammenbruch der Menschheit«73 sein, dem die Dichtung antworten sollte, aber in dem gesellschaftlichen Verweigerungsmoment, das jede experimentelle Textproduktion beinhaltet, steckt der Impuls des Angriffs auf Gegebenheiten. Die Gegengeste ist wichtig und leitend. Mittel solcher Distanzierung ist die Lösung aus einem sozialen Konventionalismus, der auch und gerade Sprach- und Literaturformen betrifft. Der gestalterische Antrieb, ihn aufzubrechen, trägt wesentlich zu den experimentellen Schreibweisen der ›klassischen Moderne‹ bei. Das ›Experiment‹ gründet stets auf dem Wunsch nach Andersheit, der zugleich das Moment eigener Ursprungslosigkeit, des An-archen,74 einfließen lässt und konturiert. Anders zu sein schließt den Willen nach anderer Rede ein, die sich zugleich der sozialen Vereinnahmung zu entziehen versucht. Als sprachliche Disziplinierung konkretisiert, bedeutet sie die Unterwerfung unter die textuellen Regeln der Repräsentation. Will man diese vermeiden, so muss man die Möglichkeit der rezeptiven Vergegenwärtigung unterlaufen, die zugleich immer eine Vergegenständlichung darstellt. Dazu dienen die defigurativen und desemiotischen Strategien der experimentellen ›Moderne‹. Die »chaotische Zerschmetterung der Sprache«75 ist deshalb kein Unterfangen einer plakativen Kraftgeste. Sie gehört in den teils reflektierten, teils unbewussten Zusammenhang der textuellen Nichtaffirmation eines schon geläufig Gegebenen, der »großen Auslieferung« Walter Serners.76 Der textexperimentelle Prozess zielt dabei, wie Julia Kristeva für Mallarmé gezeigt hat, auf eine doppelte Aufhebung der thetischen Sprachordnung. Sie greift sowohl die Denotation, die Setzung des Objekts, als auch den Sinn, die Setzung
73 Vgl. Kurt Pinthus (Hg.): Menschheitsdämmerung. Berlin 1920, S. X. 74 Das griechische Adjektiv ôÓ·Ú¯Ô˜ hat neben der Bedeutung ›ohne Anführer‹ (zu àÓ·Ú¯›· ›Herrschaftslosigkeit‹) die Grundsemantik ›ohne Anfang‹. Vgl. Franz Passow: Handwörterbuch der griechischen Sprache. Leipzig 51841, Bd. 1, S. 197. 75 Vgl. Pinthus: Menschheitsdämmerung, S. XIV. 76 Vgl. Walter Serner: Letzte Lockerung. manifest dada, in: Pörtner: Literaturrevolution, Bd. 2, S. 494–500, hier S. 499.
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des aussagenden Subjekts, an.77 Auf diese Weise entsteht ein neues Zeichensystem, dass in seiner Bedeutung nicht mehr nur den einen ›wahren‹ Aussageort (dóxa) mit klarer Gegenstandskonnotation kennt. Vielmehr splittert es diesen auf und erzeugt eine semiotische Streuung, die über die sprachstrukturell geläufigen Verschiebungs- und Verdichtungsmodelle von Metonymie und Metapher hinausgeht. »Der lebendige Gedanke der Rose in Gelb ist das Eigenverkehrsproblem einer wechselnden Ondulation im Aroma des Duftes der festen Spitzigkeit ihrer Dornen.«78 Solche Entgrenzung lässt keine ›Wörtlichkeit‹ und Sinnführung mehr zu, doch bleibt der Eindruck einer semantischen Grundbewegung erhalten. Der aus einem dadaistischen Text Raoul Hausmanns von 1919 entnommene Beispielsatz erscheint als Reliktspur sinnvoller Rede, verwandt den Texten von Geisteskranken. Aber anders als bei diesen der Fall ist, entspringt er einem Kalkül, das zeitgenössisch noch nicht adäquat theoretisierbar war, sondern sich einem eher vortheoretischen Äußerungshabitus gewollter ›Störung‹ verdankt. Ernst genommen spielen aber sprachphilosophische und sprachpsychologische Erklärungsdimensionen hier hinein. Die experimentelle Satzform unterläuft die symbolische Ordnung der Sprache, auf der unsere Kommunikation fußt, und verwirft damit deren thetische Praxis in einem doppelten, gegenläufigen Modus. Zum einen ahmt sie das Thetische nach, obwohl sie es zugleich destruiert. Zum anderen illustriert sie die Unmöglichkeit des Thetischen, obwohl sie es synthetisiert. Damit erfolgt keine einfache Aufhebung, sondern ein Akt der Überschreitung, der das Thetische auflöst, ohne es aufzugeben.79 Der ›Unsinn‹ verlässt zwar die Sinnsphäre, erinnert in seiner Abweichung aber stets eine nicht mehr anerkannte Ordnung. In der Unlesbarkeit bleibt das Geheimnis einer Schrift verborgen. Das begründet auch, weshalb etliche poetologische Profile der experimentellen ›Moderne‹ auf magische und kryptische Textvorstellungen zurückgreifen. In dieser Ansatzlinie der ›lesbaren Unlesbarkeit‹ sind die meisten experimentellen Unterfangen der ›klassischen Moderne‹ bei erheblichen Unterschieden in Stil und Konsequenz zu sehen. Auch ein Text wie der von Hans Arp gehört hierher und erlaubt weitere Anschlüsse:
77 Vgl. Julia Kristeva: La révolution du langage poétique. Paris 1974, S. 58, dt. Die Revolution der poetischen Sprache. Frankfurt a. M. 1974, S. 67. 78 Satz aus Raoul Hausmanns Schulze philosophiert (1919), hier zitiert nach Pörtner: Literaturrevolution, Bd. 2, S. 507–509, hier S. 508. 79 Vgl. hierzu Kristeva: Révolution/Revolution, S. 68 bzw. dt. S. 78 f.
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weh unser guter kaspar ist tot. wer trägt nun die brennende fahne im zopf. wer dreht die kaffemühle. wer lockt das idyllische reh. auf dem meer verwirrte er die schiffe mit dem wörtchen parapluie und die winde nannte er bienenvater. weh weh weh unser guter kaspar ist tot. heiliger bimbam kaspar ist tot. Die heufische klappern in den glocken wenn man seinen vornamen ausspricht darum seufze ich weiter kaspar kaspar kaspar […].80
Eine ›logische‹ Wahrnehmung solcher Sprache ist gezwungen, sie als sinnwidrige, desorientierte Rede einzuordnen. Die normativen Grenzen einer gegenständlichen Verortung sind in Frage gestellt. Das hindert indes nicht die Grundlinien thetischer Produktion, die Strukturbeziehungen der Sprache weiterhin zu gebrauchen, nur dass sie im Formulierungsprozess aufgerieben werden und zerfallen. Gerade in dieser Labilität, der ›Ungereimtheit‹ liegt jedoch der Reiz. Vertraute Versatzstücke, identifizierbarer Wortsinn geraten durch phantasmatische, wort- und syntaxinduzierte Einbrüche in Fluss, oszillieren zwischen Sinn und Unsinn und vernetzen sich zu dem, was Arp als »Wortträume und Schwarze Sterne«81 projiziert. Die Heterogenität der Diktion verhindert eine kohärente Vergegenwärtigung. Der Text unterläuft jeden semantischen Zusammenschluss, den er strukturell ›vergessend‹ agiert, und provoziert so das Nachdenken über sein Misslingen. Damit vermittelt Arp, dass die Abwesenheit bzw. Übertretung diskursiver Ordnung produktiv entbunden und erfahren werden kann. Es entsteht ein Modus ›anderen‹ Sprechens, der die thetische Gewissheit des Bezeichneten wie die verantwortende Position des aussagenden Subjekts außer Kraft setzt. Arps Kaspar, der im Namen den einem besonderen Redestatus verpflichteten Harlekin und das von Sprachlosigkeit geschlagene Findelkind Hauser aufruft, ist die poetische Kunstfigur, die auf solche Verfremdung ›antwortet‹. Er agiert im Gedicht vor seinem beklagten Tode und folgender (Sprach-)Metamorphose (»warum bist du ein stern geworden oder eine kette aus wasser an einem heißen wirbelwind […]«) als derjenige, der alles zu benennen, in Gang zu setzen und zu deuten vermag, was inexistent (»die kompasse […] der schiebkarren«) und unverständlich ist (»die monogramme in den sternen«).82
80 Vgl. Hans Arp: Gesammelte Gedichte. Zürich, Wiesbaden 1963, Bd. 1: Gedichte 1903–1939, S. 25. 81 Titel der Auswahl Hans Arps aus seinen Gedichten 1911–1952, Wiesbaden 1953 (darunter auch eine veränderte Fassung des Kaspar-Textes). 82 Vgl. Arp: Gesammelte Gedichte, S. 25.
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Der experimentelle Text liefert seine poetologische Figuration ›beredt‹ mit. Das Kunstwerk integriert (u. U. bis zur völligen Substitution) den »Prozeß« seiner »eigenen Hervorbringung«.83 So erscheint das Was und das Wie der Darstellung in integrativer Präsenz, die zugleich immer eine Abwesenheit (»kaspar ist tot«) wesentlich mit einschließt. Das Werk lebt in der bewussten Divergenz von Phrasierung und Löschung, weil im Sinne der zentralen Werkpoetik der ›Moderne‹ von Maurice Blanchot »jedes seiner Momente alle anderen verneint«.84 Arp reflektiert dieses inverse Transpositions-Verhältnis in der ironischen Gebärde der Schlusszeile des Kaspar-Gedichts, in der ein Bezug zur Existenzialität durchgestrichen wird: »Das ist kein trost und schnupftabak für einen totenkopf«. Hierdurch nimmt Arp poetologisch auf, dass kein emphatischer und identifikatorischer Trost mehr aus dem dichterischen Text zu schöpfen ist, in dessen Wörtern und Sätzen sich ein mit der Welt tauschender Wortsinn verloren hätte. Darin artikuliert sich keine Krise der Literatur. Arp wie andere textexperimentelle Avantgardisten der ›klassischen Moderne‹ reagieren nur auf ein ›mortifikatorisches‹ Grundproblem aller Textualität. Es besteht darin, dass Wörter die Dinge, von denen sie sprechen, als lebendige Wirklichkeit ›töten‹. Insofern ist Sprache, um Blanchots poetologisch provokante These aufzurufen, ein »Mord« (assassinat).85 Denotierende Worttexte wie die von Arp, Einstein, Benn usw. unterlaufen diesen Modus und nehmen damit den Tod, die Erfahrung und Gewissheit der Endlichkeit aus dem Sprachakt heraus. Das tilgt zwar auch den Sinn, dessen Verbindlichkeit an der Erfahrung einer existenziellen Auslöschung hängt, erhellt aber die ursprüngliche Eigenkraft der Wörter als ›Dinge‹. Sie sind wieder Teil der Welt wie andere Dinge auch und nicht nur deren zeichenhafte Vergegenwärtigung. In ihrer Dinglichkeit werden sie nicht als Medien einer immer deutenden Machtrepräsentanz der Wirklichkeit bedeutsam, sondern sie ergeben eine eigene, der Bemächtigung sich entziehende Realität und lösen sich so auch vom Autor und seiner Verfügung. Die Oberflächenwahrnehmung literarischer Experimente in der ›klassischen Moderne‹ sieht zunächst nur ein spielerisches, scheinbar unverbindliches Moment. Die tiefenstrukturell möglichen Implikate bleiben unerkannt und deshalb undiskutiert. Der rezeptiven Funktion dieser Texte in ihrer dem
83 Vgl. Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. Hg. von Gretel Adorno, Rolf Tiedemann. Frankfurt a. M. 1970, S. 46. 84 Vgl. Maurice Blanchot: Die Literatur und das Recht auf den Tod [1947]. Berlin 1982, S. 43 (»[…] mais que chaque moment de lui-même nie tous les autres«, ebd., S. 42). 85 Vgl. Blanchot: Die Literatur und das Recht auf den Tod, S. 78 bzw. S. 79.
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Sinndeutungszwang entkleideten Autonomie schadet dies wenig, wollen sie doch verschlossene Phänomene ohne Verweischarakter sein. Dass sie auch auf- und anschließbar sind, dass ihren Schreibweisen komplexe texttheoretische und sprachphilosophische Konzepte zugrunde liegen, lassen zum Teil schon zeitgenössische Diskurse, wenn oft auch nur verschwommen, erkennen. Erst die im weiteren 20. Jahrhundert entwickelten Theoriepotentiale, die auch auf die Herausforderungen literarischer Experimentalität reagieren, eröffnen Einblicke in deren Schreibdispositivität. Die Textexperimente der ›Moderne‹ haben Theoriediskurse induziert, die umgekehrt wiederum dazu beitragen, deren Potential analytisch einzuholen. Die charakteristische Nähe von Schreibweise und Theorie in der ›Moderne‹ bildet sich wesentlich im experimentellen Status heraus, der Öffnungen schafft. Diese beziehen sich nicht nur auf den Modus von Schriftlichkeit. Er bleibt zunächst noch sehr wichtig. Im Kontext typographischer Gestaltung ist es so möglich, nach dem Vorbild von Mallarmés 1897/1914 publiziertem Un coup de Dés (Ein Würfelwurf)86 eine Poetik der ›weißen‹ Aussparung, des »signifikativen Schweigen[s]«87 zu konturieren, wo über die Textanordnung bewusst gemacht wird, dass Bedeutung erst zwischen der Schrift und dem sie umgebenden Blattraum entsteht. Aber auch die gesamtkunstwerkliche Verbindung von Text mit Illustrationen88 initiiert eine neue Wahrnehmung des Druckraums. Immerhin findet von der typographischen Rekonfiguration89 86 Vgl. Stéphane Mallarmé: Œuvres complètes. Hg. von H. Mondor, G. Jean-Aubry. Paris 1945 (Pléiade), S. 457–477 und Kommentar S. 1581–1583. Mallarmé entwirft einen Textdruck, der die typographische Verteilung (»espacement de la lecture) unter ästhetischer Berücksichtigung von schwarzer Schrift und weißer Umgebungsfläche innovativ gegenüber der geläufigen Gedichtanordnung regelt. Der ›leere‹ Papierraum soll mit der Intensität der Dichtung korrespondieren. Mallarmé strebt ein simultanes Bild der Buchseite an (»une vision simultanée de la page«). Vgl. zu den Zitaten das Vorwort/Préface zum Text, in: Stéphane Mallarmé: Sämtliche Dichtungen. München 1992, S. 222 f. Eine anspruchsvolle deutschsprachige Typographie des Textes hg. von M.-L. Erlenmeyer. Olten, Freiburg i. Br. 1966 (Walter-Druck Bd. 10). 87 Vgl. Mallarmé: Œuvres, S. 872: »signifikatif silence qu’il n’est pas moins beau de composer« bezogen auf Poes Gedichte, die sich im »l’espace« verbergen, »qui isole les strophes et parmi le blanc du papier«. 88 Vgl. zum Material Lothar Lang: Expressionistische Buchillustration in Deutschland 1907–1927. Leipzig 1975. 89 Vgl. zu typographischer Experimentalität der Avantgarde auch die Beispiele in Apollinaires Calligrammes, z. B. Du Coton dans les oreilles, in: Guillaume Apollinaire: Œuvres poétiques. Hg. von M. Adéma, M. Décaudin. Paris 1956 (Pléiade), S. 287. Hugo Ball druckt sein dadaistisches ›Stiftungsgedicht‹ Die Karawane multitypographisch in Kleinbuchstaben mit jeweils einer anderen Schriftform je Zeile. Vgl. Hugo Ball: Gesammelte Gedichte. Hg. von Annemarie Schütt-Hennings. Zürich 1963, S. 28
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aus die Einführung von (häufig dann auch collagierter) Schrift in die Bildende Kunst der ›Moderne‹ statt.90 Doch bildet sich daneben als wichtiger Wirkungsstrang eine Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten oraler Performanz aus. Mündliche Textexperimente werden wichtig. Überlegungen (etwa Raoul Hausmanns) zu einer optophonetischen Notation (»musikalische Schrift«) vermittels der typographischen Präsentation durch »größere oder kleinere, dickere oder dünnere Buchstaben« entstehen.91 Das konkrete Forschungsdefizit für die Frühphase besteht trotz der grundsätzlichen Verfügbarkeit von Aufzeichnungsmedien darin, dass ein originaler Eindruck mangels erhaltener Tonaufnahmen davon nicht oder nur als seltener Ausnahmefall wie im Falle von Kurt Schwitters Ursonate (1926/1932)92 zu gewinnen und zu diskutieren ist. Allerdings muss man den Blick nicht allein auf eine ›historische‹ Aufführungspraxis richten, für die eine zeitgenössische Notationspraxis93 weitgehend fehlt, experimentelle Texte der ›klassischen Moderne‹ sind immer auch eine Herausforderung für Neuinterpretationen. Schon im lautpoetischen Bereich, erst recht im sonstigen Produktionsfeld erweisen sich diese, legt man die überlieferten Eindrücke von Zeitgenossen zugrunde, anders orientiert als die historische Vortragspraxis. Diese muss, dem allgemeinen rhetorischen Sprechstil der Zeit entsprechend, zumeist noch stark pathetisiert gewesen sein. Das hinderte deren für das Publikum provokanten Charakter nicht. Walter Mehring erinnert sich an Abende im Berliner ›Sturm‹-Kreis um Herwarth
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(nur Text), als Faksimile-Abbildung in Hans Arp, Richard Huelsenbeck, Tristan Zara: Dada. Geschichte der Gründer. Zürich 1957, S. 43. Vgl. auch das »poème objet« von Futuristen und Dadaisten. Vgl. als Überblicksarbeiten Wolfgang M. Faust: Bilder werden Worte. München 1977; Samson D. Sauerbier: Wie die Bilder zur Sprache kommen. Ein Struktur-Modell der Text-Bild-Beziehungen, in: Kunstforum International 37 (1980), S. 12–30 und ders.: Zwischen Kunst und Literatur. Übersicht über Text-Bild-Beziehungen. Beispiele für eine Typik, in: Ebd., S. 31–95; bedingt noch einschlägig Heinz H. Mann: Wörter und Texte in den Bildkünsten. Vier Studien zum Verhältnis von Sprache und bildender Kunst. Bamberg 1999, hier S. 377–410 (zu Marcel Duchamp). Vgl. dazu die Nachweise bei Michael Lentz: Lautpoesie/musik nach 1945. Wien 2000, Bd. 2, S. 842 ff. Inspiriert haben dürfte ihn dazu das Karawane-(Laut-)Gedicht Hugo Balls, das über einen variablen Letternsatz eine Vortragsmodellierung nahe legt. Vgl. die (auch typographisch besonders gestaltete) Druckfassung von 1932 in: Kurt Schwitters: Das literarische Werk. Hg. von Friedrich Lach. Köln 1973, Bd. 1, S. 214–242. Es existiert eine Tonaufnahme (z. T. auch als Film) von Schwitters selbst aus dem Jahr 1930, zugänglich seit 1993 als CD bei Wergo (6304–2). Schwitters versuchte noch in den 30er Jahren für die Ursonate eine Notenschrift zu entwickeln. Vgl. K. Lauch, in: Schwitters: Das literarische Werk, S. 311. Zur Notationsproblematik vgl. Michael Lentz: Lautpoesie/musik, Bd. 2, S. 832 ff.
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Walden, »bei denen Dr. Blümners und meine Rezitationen der AugustStramm-Werke in Gejohl und Gelächter endeten«.94 Das in allen Kunstbereichen der frühen ›Moderne‹ gegen eine bildungsbürgerliche, ›saturierte‹ Ästhetik gerichtete Selbstverständnis der Avantgarden erstreckte sich im Modus der »Störung« auf Produktion und Vermittlung gleichermaßen. Es ging dabei stets um die Markierung einer Konventionsgrenze, die von den Akteuren prinzipiell überschritten werden wollte und deren gelungene Übertretung von einem bewusst herausgeforderten Publikum in der Regel durch skandalisierende Gegenreaktionen bestätigt wurde. Das schließt gegenläufig auch den (eher kleinen Kreis) der Zustimmenden ein. Provokation und Experiment sind vielfach aufeinander bezogen, wenn auch nicht unbedingt. Experimentelles Schreiben blieb zeitgenössisch oft auch kryptoform und einer verspäteten Aufnahme oder Entdeckung vorbehalten, dann zumeist beraubt ihrer verstörenden Impulse, weil inzwischen literaturgesellschaftlich Gewöhnung eingetreten war. Zur Tragik, aber auch Spezifik des Experiments gehört, dass es dem Gesetz der literarischen Evolution folgend ›normal‹ wird. Wo einmal Provokation war, schleicht sich Akzeptanz ein, die bei größerem Rezeptionsverzug mit Wirkungslosigkeit einhergehen kann. Das Experiment funktioniert in seiner Zeitgebundenheit literaturgesellschaftlich nicht mehr oder zumindest anders als ursprünglich kalkuliert. Darin steckt jedoch ein Forschungsdilemma. Ob eine ›Authentizität‹ experimenteller Literaturproduktion überhaupt gegeben und entsprechend zu rekonstruieren ist, bleibt strittig. Jedes Experiment setzt spezifische Rahmungen voraus, deren Qualität und Funktion nur bedingt eindeutig zu historisieren sind, weil die phänomenalen Parameter nicht ohne weiteres als theoretische Substrate zeitgenössisch zu unterstellen sind, sondern sich erst von heute her als formulierbar ergeben. Schon die als für die ›Moderne‹ charakteristisch vereinnahmten Leittheoreme von Sprachskepsis und Sprachkrise illustrieren dies. Sie stellen strukturierende Zuordnungsphänomene dar, deren synchrone Impulskraft nicht ohne weiteres für die gesamte Produktion der ›klassischen Moderne‹ als konkret gegeben unterstellt werden kann. Hugo Balls ›dadaistisches‹ Romanprojekt Tenderenda der Phantast (1914/22) ist in seiner Initialisierung deshalb schwer einzuordnen. Steht das sinnauflösende, artistische Sprachspiel im Vordergrund dieses experimentellen »phantastischen Roman[s]«95 oder hat man in ihm das Modell einer sub94 Zitiert nach der Dokumentensammlung von P. Raabe (Hg.): Expressionismus. Aufzeichnungen und Erinnerungen von Zeitgenossen. Olten, Freiburg 1965, S. 119. 95 So Ball: Die Flucht aus der Zeit, S. 124.
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til verschlüsselten und innovativ konturierten Autobiographie nebst ihren Stationen zu sehen?96 Im ersten Fall läge der Akzent klar auf einer sprachdestruktiven, provokativen Wortpoetik. Im zweiten Fall diente die antikonventionalistische Sprachauflösung des Textes mehr der Verschleierung einer gezielt abgedrängten Identitätsstiftung: Entsinnung als deskriptive Dysfunktion. Derart betrachtet, wäre ein Antagonismus bei gleicher Auflösung des Sprachumgangs anzusetzen. Er bliebe unentscheidbar. Aber es ließe sich auch behaupten, dass beide Befunde sich gar nicht ausschließen, versteht man sie als nebeneinander wirksame, vernetzte Intensitäten. Sie ergäben dann als jeweils gewählte Auflagen der Interpretation unterschiedliche Rahmungen, die der Spracharbeit differente Funktionen zuordneten. Das führt dazu, das ›Angebot‹ des Textes, ironisch zum »Grandhotel der Metaphysik«97 paralysiert, letztlich als offen, weil plural motiviert zu betrachten und ihm keine ›authentische‹ Lesart z. B. sprachkrisenhafter Provenienz auferlegen zu können. Die Herausforderung Balls und der mit Textualität experimentierenden ›Moderne‹ liegt darin, dass sie den Leser wie den Interpreten dazu zwingen, die eingeschriebene Diffusität des literarischen Experiments aushalten zu lernen und ihre funktionale Offenheit nicht nachträglich durch strukturelle Auflagen unterlaufen zu wollen. Was verstehbar und beschreibbar ist, betrifft die Machart, den Umgang mit den sprachlichen Ausdruckselementen, nicht aber deren sinnstiftende Funktion, weil diese in der Schwebe bleibt wie der ›Name‹ Tenderenda, der Bedeutungspotentiale des ›Strebens‹ (zu lat. tendere) anzitiert, ohne sie ›wirklich‹, d. h. morphologisch präzise verortbar, anbieten zu können. Ähnlich diffus ist die Morphologie des Namens bezogen auf das Geschlecht seines Trägers. Die Endung auf -a suggeriert Weiblichkeit, Titel und Text selbst verweisen klar auf einen männlichen Titelhelden. Überschichtende ›Wörtlichkeiten‹ bestimmen hier wie insgesamt Balls über mehr als ein Jahrzehnt hinweg vorangetriebenes, z. T. dann dadaistisch involviertes Romanexperiment, dessen ›phantastische‹ Qualifikation auf intellektuelle Subversion hinausläuft. Sie besteht darin, dass sich das Medium Sprache verselbstständigt als ein zwar assoziierbares, aber thematisch inkonsistentes Gewirr von Wörtern, Sätzen und Sequenzen, die den Charakter von sich überlagernden Stimmen
96 Vgl. zuletzt als Monographie Claudia Rechner-Zimmermann: Die Flucht in die Sprache. Hugo Balls »Phantastenroman« im kulturgeschichtlichen Kontext zwischen 1914 und 1920. Marburg 1992. 97 Vgl. Hugo Ball: Tenderenda der Phantast. Hg. von Raimund Meyer, Julian Schütt. Innsbruck 1999, S. 27.
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oder von aus dem Zusammenhang gelösten Textausschnitten haben. Damit ist das poetologische Gestaltungsprinzip schon umrissen. Es geht um eine intelligibel willkürliche Segmentierung und Rekonfiguration, die Sinnanlagerungen ermöglicht, ohne aber eine verbindliche Sinnzentrierung anzustreben. Es ist das Prinzip, das neben vielen anderen vor allem Kurt Schwitters als MERZ programmatisch entworfen und gesamtkunstwerklich konzipiert hat, indem er der Sprachcollage die Bilddimension, ja dann sogar Bühnenund Architekturraum (MERZ bau98) radikal und letztlich abstrakt hinzufügte: »Ich habe Gedichte aus Worten und Sätzen so zusammengeklebt, daß die Anordnung rhythmisch eine Zeichnung ergibt. Ich habe umgekehrt Bilder und Zeichnungen geklebt, auf denen Sätze gelesen werden sollten.«99 Die Elemente der Gestaltung erscheinen als eine Art Treib- oder Ansammlungsgut, das seine ›Ordnung‹ dem Zufall einer ›findenden‹ Verfügbarkeit wie der Verfügung verdankt. Das entstandene Kunstwerk ist folglich auch nicht mehr auktorial geschaffen zu denken, denn auch sein Gestalter ist selbst immer schon »Teil« und »Material«.100 Die experimentelle Linie der ›Moderne‹ ist eine ästhetisch zentral von der Materialität her kommende und begründete Praxis, sei es Sprache, Bild oder Klang. Auf Laut- bzw. Buchstabenebene macht das Anagramm dies am besten anschaulich, dieses inspirierte Spiel mit einer elementaren und zugleich universalen Textualität, lässt sich das Anagramm doch als produktive Allform, als Letternkasten der Textkomposition verstehen.101 Jeder Text, sei er
98 Vgl. zum Projekt des in Hannover zwischen ca. 1923 und 1936 entstandenen, im Krieg zerstörten MERZbaus von Schwitters Dietmar Eiger: Der MERZbau, in: Kurt Schwitters 1887–1948. Ausstellung zum 99. Geburtstag. Sprengel-Museum Hannover 4.2.-20.4.1986. Frankfurt a. M., Berlin 1986, S. 248–254 (mit Abb.); zu seiner Rekonstruktion vgl. Harald Szeemann: Die Geschichte der Rekonstruktion des MERZbaus (1980–1983), in: Ebd., S. 256–258. 99 Vgl. Kurt Schwitters: Merz, in: Ders.: Das literarische Werk. Hg. von Friedrich Lach. Köln 1981, Bd. 5, S. 74–82, hier S. 79. 100 Vgl. Schwitters: Merz, S. 82: »Schaffen können wir es [sc. das Merzgesamtkunstwerk] nicht, denn auch wir würden nur Teile, und zwar Material sein.« 101 Die Vorstellung geht schon auf Jean Paul zurück. Vgl. Monika Schmitz-Emans: Zwischen weißer und schwarzer Schrift. Edmond Jabès’ Poetik des Schreibens. München 1994 (mit weiterer Literatur). Vgl. als Beispiel für eine phantasierte Produktionsästhetik des signifikativen Experiments den Beleg in Jean Pauls Titan, wo »jede Taste […] eine Schriftpunze, das Klavier ein Letternkasten« werden kann. Vgl. Jean Paul: Werke. Hg. von Norbert Miller. München 41980, Bd. 3, S. 183. Anschließbar wäre auch der »Buchstabe« als »geistige Münze-Chiffern« bei Novalis: Das allgemeine Brouillon, in: Ders.: Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs. Hg. von Hans Joachim Mähl, Richard Samuel. München 1978, Bd. 2, S. 476, Nr. 31.
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sinnzentriert oder sinnsprengend, kann als das Ergebnis eines anagrammatischen Schreibmodus projiziert werden. Das faszinierte nicht nur Textmystiker mit ihren hieroglyphischen Träumen und Projektionen, sondern gerade auch die literarischen Experimenteure mit ihrer anthropologischen Tendenz zur Bastelei (bricolage). Was ergibt ein elementares anagrammatisches102 Bestands-Corpus wie ANNA ? Es vermittelt zunächst seine retrograde Austauschbarkeit als Palindrom, aber auch die repetetive Umordnung NANA . Beide Figurationen produzierten weibliche Namen trivialer oder dann auch literarischer Provenienz, was für die drei noch weiter möglichen anagrammatischen Vertauschungen NNAA , AANN und ANAN alles nicht gälte und sie deshalb wenig attraktiv macht. Die disseminative ›Mechanik‹ der Konfiguration erzeugt also Anlagerungsfähiges wie Blindes, was die literarischen ›Produkt‹-Anteile ›Autor‹ und ›Leser‹ ins Spiel bringt. Sie füllen das Angebot im einen Falle in Richtung ›Lesbarkeit‹ auf, im anderen Fall bleibt es stumm. Ein memorial überkodiertes Strukturprinzip generiert den Auffüllwert eines Buchstabenspiels, aus dem heraus der motivatorische Weg zu einem Gedicht über eine palindromisch definierte Namensfigur nicht weit ist. Diese materielle Experimentalsituation entbindet Kurt Schwitters’ grotesk-ironisches Liebesgedicht An Anna Blume (um 1919):103 »Weißt Du es Anna, weißt Du es schon, / Man kann Dich auch von hinten lesen.« In einem zweiten Schritt wird dies morphologische Lautphänomen im parodistischen Modus (»ich liebe Dir!«) auf eine personale Identität rückgelesen, ohne dann doch mehr zu sein als eine Art ›grammatisches‹ Subjekt, das man formularmäßig ›deklinieren‹ kann, indem Sätze und Satzfragmente anlagernd durchgespielt werden. Die anagrammatische Buchstabenvorgabe wird so einerseits realisiert, andererseits wiederum neuerlich materialisiert. Dieser Prozess lässt sich mehrfach wiederholen, wie die zitathafte ›VerMERZ ung‹ des Gedichts durch Schwitters selbst in seinem im ›Sturm‹ 1921 publizierten Manifesttext Aufruf zeigt.104 Das im Experiment gewonnene, ›markierte‹ Material wird weiteren, erneut offenen Experimentalschritten unterworfen. Die Schreibgenese folgt dabei der stets gegebenen Sprachbewegung von Bahnung, Stasierung und Auflösung. Grundcode und Sprachspiel verschlin-
102 Zur komplexen, hier nicht näher diskutierbaren Poetologie des Anagramms vgl. den differenzierten Artikel ›Anagramm‹ von Anselm Haverkamp, in: Karlheinz Barck u. a. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Stuttgart, Weimar 2000, Bd. 1, S. 133–152. 103 Vgl. Schwitters: Das literarische Werk, Bd. 1, S. 58 f. 104 Vgl. Schwitters: Das literarische Werk, Bd. 1, S. 60–63 (als verkleinertes Faksimile des Originaldrucks).
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gen sich in einem Modus heteronomer Autonomie. Die Wahrnehmung von sprachlicher Elementarität bei gleichzeitiger Einführung komplexer, bis in die reine Abstraktion führender Neufiguration begründet Experimentalität als schwebende Mischung von ausflutender Destruktion und sich darüber einstellender Konstruktion. Das Vertraute ist noch als ›ent-setztes‹ Material da, ohne dass das aus ihm gewonnene Neue und Unbekannte schon gültig ›gesetzt‹ wäre. Das literarische Experiment ist den Modi des Eintritts wie des Aufschubs gleichermaßen verhaftet: Es geschieht, ohne in einen Status, gültig zu sein, eintreten zu wollen. Seine Verfassung bewegt sich in der Nähe jener unabgeschlossenen, unabschließbaren ›works in progress‹, denen sich die Produktionsästhetik der ›Moderne‹ so oft sehr bewusst verpflichtet und ausgeliefert sieht. Im experimentellen Text vollzieht sich eine kulturelle Praxis, die den Akt performativer Setzungen, wie sie ›normale‹ Sprechakte erzeugen, unterläuft und damit auch das Prinzip von stiftender Autorität aushebt. An ihre Stelle tritt ein kulturelles ›Handeln‹, das Ordnungskategorien und Intentionen bewusst vermeidet zugunsten einer Genese des Sich-Öffnens, der »Entlassung«.105 Dem steht der Charakter experimenteller Provokation nicht entgegen, er illustriert sogar die Disposition, ist doch die gestalterische Herausforderung des Textversuchs auf Offenheit gerichtet, der Eingrenzung, der Definition entzogen. Es kommen »Methoden« zum Tragen, »deren sachliches Ergebnis« man »nicht absehen kann«.106 Das Experiment ereignet sich, ohne dass Auswirkung und umrissener Abschluss intentional wie rezeptiv feststehen. Dahinter steckt keine proklamative Attitüde, sondern ein Sachverhalt gesellschaftlichen Handelns. Auf ihn hat der Sozialphilosoph Castoriadis verwiesen. Er machte deutlich, dass jedes Tun »in seinem Wesen verkannt« sei, »wenn man nicht sieht, daß es ein Sein-lassen ist, und wenn man es statt dessen einzelnen Bestimmungen [wie gut oder böse] unterordnet, die von diesem Tun erst hervorgebracht werden«.107 Das literarische und künstlerische 105 Vgl. zu diesem Modell Andreas Hetzel: Zwischen Poiesis und Praxis. Elemente einer kritischen Theorie der Kultur. Würzburg 2001, S. 273 ff. unter dem von Werner Hamacher eingeführten Begriff des »Afformativ«, der sich theoretisch auf Denkkonstellationen W. Benjamins in seiner ›Kritik der Gewalt‹ bezieht. Vgl. Werner Hamacher: Afformativ, Streik, in: Christian L. Hart-Nibbrig (Hg.): »Was heißt Darstellen?« Frankfurt a. M. 1994, S. 340–371. 106 Vgl. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 43. Vgl. auch ebd., S. 63: »[…] daß die Gebilde Züge enthalten sollen, die im Produktionsprozeß nicht absehbar sind.« 107 Vgl. Cornelius Castoriadis: Gesellschaft als imaginäre Institution. Entwurf einer politischen Philosophie. Frankfurt a. M. 1990, S. 287.
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Experiment funktionalisiert diese These, die keinen traditionellen Seinsbegriff der Bestimmtheit mehr akzeptiert, sondern auf einen setzt, der sich abschließender Bestimmung versagt. Der Überschusscharakter des Ästhetischen, wie ihn die ›Moderne‹ in erklärt experimenteller wie nichtexperimenteller Literatur und Kunstproduktion intensiv reklamiert, lässt sich so auch handlungstheoretisch einholen. Damit fällt dem literarischen Experiment in der ›Moderne‹ auch ein Moment von Zufälligkeit, von Kontingenz zu, das immer auch das Risiko möglichen Scheiterns beinhaltet. Dieses betrifft das experimentelle Ereignis, aber auch die in ihm involvierte Subjektivität von Produzenten und Rezipienten. Sie erleben den experimentellen Äußerungsakt nicht nur als ein formal Fremdes, sondern spezifisch auch als ein Befremdendes, d. h. als ein »Ichfremdes«108 mit teilweise verstörenden Effekten von Verlorenheit und Desorientierung. Solcher Erfahrung steht indes eine andere der Öffnung und Bereicherung der Ichs gegenüber, die mit einer Textsphäre der Überschreitung konfrontiert werden. Für die expressionistischen Sprachtheoretiker konkretisierte sich solche Konstellation im Durchstoßen grammatischer Sprache und ihrer kausalen Aussagelogik. Indem man beides suspendierte, wollte man, so die These, eine »neue Sprache« ohne die Zwänge konventioneller Syntax gewinnen: »Sie wird Musik und Gebärde sein, vielleicht einmal Tanz und Weissagung:«109 Es ist die metaphorische Projektion von Möglichkeiten, über die dem Ich eine entgrenzte, artikulative Freiheit jenseits der vertrauten Verhältnisse zwischen Sprache und Nutzern gewährt wird. Solch experimentelles Dispositiv dient einem Erleben, das konstruktive Verfremdung sucht, um sich zwischen bewusster Artikulation und unbewusster Hingabe ›neu‹ zu finden. Das literarische Experiment macht deutlich, dass sich in der ›Moderne‹ konstruktive Modellierung mit kontingenter Produktivität in eigenartiger und charakteristischer Weise verbindet und ergänzt. Das Kalkül der experimentellen Erprobung enthält beide Aspekte ästhetischen Gewinns, wobei sich Autorschaft einem subjektzentrierten Werkdiskurs gleichermaßen zu entziehen versucht. Eine konstruktivistische Textproduktion projiziert einen entsubjektivierten, weil überindividuell begründeten Schreibvorgang, ebenso, wie dies auf andere Weise auch die zufällige Textgenese erreicht. Das Schnittfeld beider schöpferischer Generierungen läuft auf eine depersonale ›Technik‹ des Materialumgangs hinaus. Das Werk soll nicht mehr als Ergeb108 Zum Begriff vgl. Adorno: Ästhetische Theorie, S. 64. 109 Vgl. Oswald Pander: Revolution der Sprache [1918], in: Pörtner: Literaturrevolution, Bd. 2, S. 233–235, hier S. 234.
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nis von Entscheidungen verstanden sein, sondern mit Hilfe eines ›technischen‹ Aufzeichnungskalküls, einer Methode der erfassenden Deskription. Es geht darum, schreibende wie rezipierende Subjekte in Stand zu setzen, sich narrativen Abläufen konfrontiert und ausgeliefert zu sehen. Alfred Döblin entwickelt hierzu eine radikale Romanpoetik in seinem Berliner Programm von 1913.110 Er fordert dort die »Entäußerung« des Autors gegenüber dem sich ereignenden Text: »ich bin nicht ich, sondern die Straße, die Laternen, dies und dies Ereignis.«111 Solches Verschwinden der Autorschaft im Erzählvorgang nähert den Roman einem naturwissenschaftlichen Experimentalgeschehen und seinen Protokollierungstechniken ohne analytischen ›Kommentar‹ an. Entsprechend fordert Döblin eine Narration, die »entseelte Realität« vermittle. Sie soll als reiner »Ablauf« von vorüberziehendem Geschehen erscheinen. Der Romantext wird zur ›Oberfläche‹ einer Aufzeichnungsprojektion: »Die Fassade des Romans kann nicht anders sein als aus Stein oder Stahl, elektrisch blitzend oder finster; sie schweigt.«112 Das formale Modell dieser Romanpoetik ist unverkennbar das neue Medium Film, worauf Döblin explizit in der Benennung seiner Darstellungsweise als »Kinostil« verweist: »in höchster Gedrängtheit und Präzision hat ›die Fülle der Gesichte‹ vorbeizuziehen«, so dass im Ergebnis »das Ganze […] nicht erscheinen [darf] wie gesprochen sondern wie vorhanden«.113 Die Anspielung auf das Kino dient hier nicht zur Begründung einer ›filmischen Schreibweise‹, wie immer wieder von der Forschung behauptet wurde. Das ›Kino‹ verhilft Döblin nur zu einer avancierten Metapher, um einen Stilgestus des Erzählens zu charakterisieren, der »nicht mehr den Erzählenden und seine Subjektivität ins Spiel bringt«.114 Das Leitbild für diesen Schreibanspruch holt sich das Berliner Programm ganz woanders her. Es ist (mit autobiographischem Hintergrund des Dr. med. Döblin) die Psychiatrie, die »sich auf die Notierung der Abläufe, Bewegungen« beschränkt, »mit einem Kopfschütteln, Achselzucken für das Weitere und das ›Warum‹ und ›Wie‹«.115 Der ›neue‹ Roman Döblin’scher Prägung erzählt nicht kausal dis-
110 Vgl. Erich Kleinschmidt: Depersonale Poetik. Dispositionen des Erzählens bei Alfred Döblin, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 26 (1982), S. 383–401. 111 Vgl. Alfred Döblin: An Romanautoren und ihre Kritiker. Berliner Programm, in: Ders.: Schriften zur Ästhetik, Poetik und Literatur, S. 119–123, hier S. 122. 112 Vgl. Döblin: An Romanautoren und ihre Kritiker, S. 121, 574. 113 Vgl. Döblin: An Romanautoren und ihre Kritiker, S. 121 bzw. S. 122. 114 Vgl. dazu Erich Kleinschmidt: Zwischenwege. Döblin und die Medien Film, Rundfunk und Fotographie, in: Wirkendes Wort 2001, S. 401–419, hier S. 404. 115 Vgl. Döblin: An Romanautoren und ihre Kritiker, S. 121.
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ponierend und kommentierend, er notiert »Abläufe«, ohne dass der Autor und seine subjektiven Vorgaben ins Spiel kommen dürfen. Das Schreibexperiment psychiatrischer Diskursivität wird hier installiert, als dessen Dokument der China-Roman Döblins Die drei Sprünge des Wang-lun (1912–13)116 gilt. Das noch radikalere Beispiel solchen Notat-Erzählens ist ein ganz knapper, universal als »Roman« betitelter Text aus dem Nachlass Döblins,117 der die Geschichte einer Stadt am Meer zwischen Seuche und Überflutung in verdichteter Intensität erklärungslos ›skizziert‹. Es geht um ›Bilder‹ voll Stimmung und Atmosphäre, die in einem »steinernen Stil«118 blockartig geschichtet vermerkt werden. Ein kleiner Ausschnitt, der Bedrohung suggeriert, sei zitiert: Es ist nicht die Unendlichkeit. Es ist sehr eng. Niedrig. Es führt nicht weg. Wo ihr das Meer seht, habt das Gefühl des Dräuens, des Näherrückens. Eine finstere hinterlistige Stirn. Eisern. Und es kommt nicht. Es hält nur gespannt. Es lupft nur von Zeit zu Zeit eine Seige [= flacher Kahn] näher. Es lauert. Ein Gurren dringt herüber. Eine Unendlichkeit des Heranrückens, Dräuens.119
Die Qualität dieses ›Sprachfilms‹ besteht gerade nicht in einer entgrenzten Semiotisierung. Döblin setzt zwar auf überraschende, antikonventionalistische Effekte, doch sind sie das Ergebnis eines disziplinierten Umgangs mit Sprache, mit der er wie ein Chemiker mit seinen Stoffen umgehen will: »sie müssen sauber, rein sein, bestimmbar quantitativ und qualitativ.«120 Das ›Sprachlabor‹ versucht sich den Verfahrensregeln des naturwissenschaftlichen Labors anzunähern, um eine neue »Sprachwerdung eigentümlicher Situationen und Personen« zu erreichen.121 Döblin will sich bei dieser seiner ›experimentellen‹ Spracharbeit der behutsamen Beobachtung eines »Naturforschers« verpflichtet sehen, der »dem
116 Das Datum bezieht sich auf die Niederschrift, die parallel zur Arbeit Döblins als gerade erst niedergelassener Nervenarzt in Berlin erfolgte. Der Autor fand zunächst keinen Verleger, so dass der Roman erst Anfang 1916 bei S. Fischer erscheinen konnte. 117 Vgl. Erich Kleinschmidt: Roman im »Kinostil«. Ein unbekannter »Roman«-Entwurf Alfred Döblins, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 63 (1989), S. 574–586, der Romantext S. 583–586. 118 Zum Begriff vgl. Döblin: An Romanautoren und ihre Kritiker, S. 122 (als Zweitbegriff für »Kinostil«). 119 Vgl. Kleinschmidt: Roman im »Kinostil«, S. 583. 120 Vgl. Alfred Döblin: Über Roman und Prosa [1917], in: Ders.: Kleine Schriften I. Hg. von Anthony W. Riley. Olten, Freiburg 1985, S. 226–232, hier S. 229. 121 Vgl. zum Begriff Döblin: Über Roman und Prosa, S. 230.
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Leben seiner Figuren wie […] dem Spiel zarter, scheuer Tiere« folgt.122 Das beinhaltet den Verzicht auf sprachmächtige ›Gestaltung‹. Für Döblin muss der Romanautor »vor allem schweigen können«.123 Er hat sich in seiner herkömmlichen Artikulationsherrschaft ganz zurückzunehmen und einem Sprachfluss anzuvertrauen, um sich in »den sehr konkreten Vorgang«, um den es jeweils geht, verwandeln zu können.124 Aus der Abwesenheit eines Ausdruckswillens entsteht so das Modell einer beobachtenden, sprachinduktiven Narration, deren pragmatische Heimat Naturforschung und Psychiatrie sind. Der verstörenden Realität der Welt wird dabei probend eine ›negative‹ Sprache abgewonnen, denn »es giebt keine Sprache, es giebt nur Sachen und Vorstellungen«.125 Die experimentellen Poetologien der ›klassischen Moderne‹ in Deutschland bewegen sich in einem Spektrum von Spracharbeit, die sich in erster Linie dem Literatursystem, aber dann auch der Gesellschaft gegenüber kritisch verhält. Artistischen Modellen der Sprachfindung auf der Basis konventionell noch anschließbaren Ausdrucks stehen radikalere Verfahren der Sprachzertrümmerung im Hinblick auf Syntax, Morphologie und damit auch Semantik gegenüber. Produktions- und wirkungsästhetische Anliegen spielen in allen Fällen eine Rolle, doch unterscheiden sie sich im tragenden Modus der Kommunikation. Sprachdestruktive Ansätze richten sich auf einen entsemantisierten Globaleindruck ganzheitlichen Erlebens, teils sehr ernsthafter, deiktischer Zielsetzung, teils aber auch mit der spielerischen Geste der Unsinnspoesie ausgestattet. Zwischen den Intentionen sind die Grenzen fließend.126 Das andere Lager der wortsemantisch experimentierenden Texte setzt grundlegend auf eine ›neue‹ Lektürepraxis. In beiden Gruppen spielen Grenzerfahrungen und dann auch Grenzüberschreitungen eine wichtige Rolle, die nicht nur die aktivierte Sprache selbst reflektieren, sondern auch ihr Nichtfunktionieren, ihre Abwesenheit und ihr Schweigen. Experimentelles Schreiben in der ›Moderne‹ versucht dies durch das Prinzip reiner, ›absoluter‹ Form anzugehen, wo bis in die Typographie hinein der Vorstellungsraum zwischen den Zeichen, das Nichtgesagte und Nichtsagbare, aber auch das Ausgegrenzte des Wahns127 oder die 122 123 124 125
Vgl. Döblin: Über Roman und Prosa, S. 227. Vgl. Döblin: Über Roman und Prosa, S. 227. Vgl. Döblin: Über Roman und Prosa, S. 228. Vgl. Alfred Döblin: Stilistisches [um 1914], in: Ders.: Kleine Schriften I, S. 218–220, hier S. 219. 126 Vgl. zur materiellen Kontur Harald Henzel: Literatur an der Grenze zum Spiel. Eine Untersuchung zu Robert Walser, Hugo Ball und Kurt Schwitters. Würzburg 1992. 127 Vgl. zum Interesse an psychiatrischer Literatur in der ›Moderne‹ z. B. Walter Benja-
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ekstatische Verrückung zur eigenen Wertigkeit aufsteigen. Ihre spielerisch freie Ausformung ist eine Lautkunst, in der ›Rede‹ sich universal als Alltext artikuliert. Neben dieser weitestgehenden Lösung entsteht eine experimentelle Literatur der Polyvalenz, die im texttheoretischen Referenzgefüge von Form und Inhalt auflösende Bewegungen anregt und modelliert. Dabei geht es neben Eingriffen in ein traditionelles Literatursystem um die Rolle und Funktion der Sprache, die in eine gleitende Verfasstheit gerät,128 sei es auf der Ebene der Signifikanten, sei es bei den Signifikaten. Selbst deren funktionale Tauschbarkeit wird zu Möglichkeit und Thema. Die geordnete Welt der Texte und ihres Mediums erscheint so zur Disposition gestellt. Darum ging es im Literarischen wie Künstlerischen der ›klassischen Moderne‹: Produktiv Möglichkeiten des Ausdrucks zu erproben, ohne von Lösung und ästhetischem Gelingen überzeugt zu sein. Wichtig war zunächst das offene Angebot, nicht das Versprechen auf abschließende Gültigkeit. Immer etwas Ungewisses zu versuchen charakterisiert den Impuls, der diese heftige Phase kulturellen Experimentierens bestimmt.
min: Bücher von Geisteskranken. Aus meiner Sammlung [1928], in: Ders.: Gesammelte Schriften. Hg. von Tilman Rexroth. Frankfurt a. M. 1972, Bd. 4,2, S. 615–619. Zum wissenschaftsgeschichtlichen Dispositiv dahinter vgl. jetzt Torsten Hahn, Jutta Person, Nicolas Pethes (Hg.): Grenzgänge zwischen Wahn und Wissen. Zur Koevaluation von Experiment und Paranoia 1850–1910. Frankfurt a. M., New York 2002. 128 Vgl. dazu ausführlich Erich Kleinschmidt: Gleitende Sprache. München 1992.
Die Domestizierung des Wilden
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Stephan Dietrich
Die Domestizierung des Wilden. Figurationen des Primitivismus-Diskurses in der Weimarer Republik Im Oktober 1921 verabschiedet Iwan Goll die expressionistische Avantgarde und begrüßt als deren Todesboten emphatisch den Urmenschen: »Der Urmensch, mit dem dunklen Jahrhundertblut und den unheimlichen Augen tritt aus den Urwäldern des Äquators heraus und aus den Steppen des Pols: mit Mond- und Sonnengeheimnissen. Er tanzt über die Meridiane des Globus.«1 Der Auftritt des tanzenden Wilden markiert zu Beginn der 20er Jahre die lang ersehnte Befreiung von der – so Goll – kalten Intellektualität und den gekünstelten Ekstasen der Expressionisten. Der Wilde, durch Jahrhunderte hinweg Sinnbild der Hoffnung auf Heilung einer kultur- und zivilisationskranken Welt durch Rückkehr zu ihren vermeintlich gesunden Instinkten, ist auch in der Moderne treuer Begleiter kunstprogrammatischer Diskurse. Im Primitivismus wird er zum zentralen Element im Schnittpunkt von theoretischen und literarischen Auseinandersetzungen. Wenn im Folgenden die literarischen Entwürfe der vermeintlichen Abwesenheit von Konstrukten wie Zivilisation oder Kultur bei Menschen nicht-weißer Hautfarbe in Texten von Autoren weißer Hautfarbe im Zentrum stehen, so soll es dabei nicht um die bisher in der Forschung zum Thema vorherrschende Frage gehen, wie realitätsnah diese Entwürfe sind und ob sie stereotyp oder klischiert sind.2 Denn es versteht sich von selbst, dass diese literarischen Repräsentationen des Wilden nicht im mimetischen Sinne re-
1 Iwan Goll: Der Expressionismus stirbt [1921], in: Thomas Anz, Michael Stark (Hg.): Expressionismus: Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1910–1920. Stuttgart 1982, S. 108 f., hier S. 109. 2 Vgl. stellvertretend für viele Amadou Booker Sadji: Das Bild des Negro-Afrikaners in der Deutschen Kolonialliteratur (1884–1945): Ein Beitrag zur literarischen Imagologie Schwarzafrikas. Berlin 1985; Wolfgang Bader, János Riesz (Hg.): Literatur und Kolonialismus I. Frankfurt a. M., Bern 1983.
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alistisch sind, dass sie von gängigen Stereotypen und Gemeinplätzen determiniert, dass sie fiktiv sind. Es geht vielmehr um das Problem, wie sich solche fiktiven Entwürfe in Texten manifestieren, welche literaturspezifischen Varianten dabei im Austausch mit anderen am Diskurs beteiligten Medien geprägt werden und in welcher Weise gerade der Wilde in fiktionaler Literatur als ein Motiv verstanden werden kann, das sich – jenseits aller mimetischen Intentionen – für unterschiedliche Instrumentalisierungen anbietet: z. B. als der über die Meridiane tanzende Expressionismus-Austreiber. Iwan Goll jedenfalls konnte sich fünf Jahre nach dem eingangs zitierten Text in geradezu prophetischer Weise bestätigt fühlen. Die Wilden waren in der Tat zur großen Mode eines europamüden Europas geworden und Goll verkündete in einem Text mit dem Titel Die Neger erobern Europa: »Aber die Hauptrolle hat das Negerblut inne, langsam fallen seine Tropfen über Europa. Ein längst vertrocknetes Land atmete kaum mehr. Ist das vielleicht die Wolke, die so schwarz am Horizont aussieht, deren befruchtende Güsse aber so weiß schimmern können?«3 Goll wusste dabei sehr wohl, dass es weniger eine Eroberungsleistung seiner ›Neger‹ selbst als vielmehr das europäische Bedürfnis nach ihnen war, das diese ›schwarze Wolke‹ hervorgebracht hatte. Seine polemische Frage an den zivilisierten Kontinent lautete konsequent: »Brauchen die Neger uns? Oder brauchen nicht eher wir sie?«4
1. »Vielleicht haben wir auch Negerblut in uns«:5 Projektionen der literarischen Avantgarde Dass der Wilde erst zum Ende des expressionistischen Jahrzehnts – wie von Iwan Goll beschworen – aus dem Urwald tritt und tanzend die falschen Götter austreibt, trifft nicht zu. Bereits für die expressionistische Avantgarde war der Primitivismus von entscheidender Bedeutung. Will man die unterschiedlichen Ausprägungen, die der Diskurs in der Literatur der 20er und 30er Jahre erfahren hat, verstehen, so ist es unerlässlich, zunächst seine Entwicklung im vorangehenden Jahrzehnt zumindest schlaglichtartig zu beleuchten.
3 Iwan Goll: Die Neger erobern Europa [1926], in: Anton Kaes (Hg.): Weimarer Republik: Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1918–1933. Stuttgart 1983, S. 256–258, hier S. 258. 4 Goll: Die Neger erobern Europa, S. 258. 5 Robert Müller: Tropen: Der Mythos der Reise: Urkunden eines deutschen Ingenieurs: Herausgegeben von Robert Müller Anno 1915. Hg. von Günter Helmes. Paderborn 1990, S. 200.
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Die wichtigste Verlautbarung der literarischen Avantgarde zum Thema ist Carl Einsteins Buch Negerplastik aus dem Jahr 1915.6 Einstein präsentiert hier einen kurzen Text, der afrikanische Skulpturen und Masken in einer eigenwilligen Deutung für das avantgardistische Projekt requiriert, und stellt diesem eine Reihe von 119 Abbildungen solcher Kunstwerke zur Seite. Die Abbildungen haben keine Legende, es werden keinerlei Angaben zu Herkunft, Darstellungsgegenstand oder dergleichen gemacht: Die Negerplastik soll rein aus sich selbst wirken. Dies ist nur konsequent, denn schließlich besteht das eigentlich Radikale an Einsteins Ausführungen zur Negerplastik im Verzicht auf eine kausale Argumentation. Seine Ausgangsthese übernimmt Einstein von Wilhelm Worringer, der in seiner einflussreichen Dissertation über Abstraktion und Einfühlung (zuerst 1908) das »Kunstwollen«7 der primitiven Urvölker als Drang zur Abstraktion identifizierte und damit den wirkmächtigen Konnex zwischen primitiver Kunst und abstrakter Moderne herstellte. Worringer allerdings versuchte noch gut historistisch und eurozentristisch, »den Stil der höchsten Abstraktion, der […] den Völkern auf ihrer primitivsten Kulturstufe zu eigen«8 sei, psychologisch zu erklären. Er sah den »kausale[n] Zusammenhang […] zwischen primitiver Kultur und höchster, reinster gesetzmäßiger Kunstform«9 in der Hilflosigkeit des Wilden seiner Umwelt gegenüber, in seiner »geistigen Raumscheu«.10 Der Wilde tendiert demzufolge zur Abstraktion, »weil er so verloren und geistig hilflos zwischen den Dingen der Außenwelt steht«.11
6 Carl Einstein: Negerplastik [1915], in: Carl Einstein: Werke. Bd. 1: 1908–1918. Hg. von Rolf-Peter Baacke, Jens Kwasny. Berlin 1980, S. 245–273. Vgl. dazu v. a. Klaus H. Kiefer: Carl Einsteins Negerplastik: Kubismus und Kolonialismus-Kritik, in: Bader, Riesz: Literatur und Kolonialismus, S. 233–249; Moritz Baßler: Das Bild, die Schrift und die Differenz: Zu Carl Einsteins Negerplastik, in: Christoph Brecht, Wolfgang Fink (Hg.): »Unvollständig, krank und halb?« Zur Archäologie moderner Identität. Bielefeld 1996, S. 137–153; Wolfgang Struck: Allegorische Musealisierung: Carl Einsteins afrikanische Mythologie, in: Eva Horn, Manfred Weinberg (Hg.): Allegorie: Konfigurationen von Text, Bild und Lektüre. Opladen, Wiesbaden 1998, S. 261–273. 7 Wilhelm Worringer: Abstraktion und Einfühlung: Ein Beitrag zur Stilpsychologie [1908]. Amsterdam 1996. Den Begriff des Kunstwollens hatte Worringer von dem Wiener Kunsthistoriker Alois Riegl übernommen. 8 Worringer: Abstraktion, S. 51. 9 Worringer: Abstraktion, S. 51 f. 10 Worringer: Abstraktion, S. 49. 11 Worringer: Abstraktion, S. 52.
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An diese Inanspruchnahme des Wilden für die Positionierung abstrakter Kunst knüpft Einstein mit seiner Negerplastik an, verzichtet indes auf Erklärungsversuche. Der Clou seiner ›Argumentation‹ besteht in der Eingangsbehauptung, man wisse überhaupt nichts vom ›Neger‹ im Allgemeinen und seiner Kunst im Speziellen. Die Kenntnisse seien vielmehr »im ganzen gering und unbestimmt«,12 und es sei gar »ziemlich hoffnungslos«,13 einen Versuch zu wagen, wie ihn Einsteins Text scheinbar darstellt. Damit ist zunächst der Goll’schen Behauptung von der Negermode als primär europäischem Bedürfnis widersprochen – ihre ganze Wirkung und Faszination wird der Negerplastik selbst zugeschrieben: »Der üblichen Verständnislosigkeit des Europäers für afrikanische Kunst entspricht die stilistische Kraft derselben«.14 All dies sieht auf den ersten Blick wie ein zurückhaltendes Werben um Aufgeschlossenheit gegenüber einem ungewohnten und unverstandenen Gegenstand aus. Solche Bescheidenheit seinen Lesern gegenüber indes war Einsteins Sache nicht, im Gegenteil: Gerade durch das Postulat der völligen Unkenntnis ihrer Bedingungen wird die Negerplastik bei ihm aus den lästigen historischen und kunstwissenschaftlichen Traditionen, wie sie Worringer herzustellen versucht hatte, entlassen; sie wird damit frei für die neue semantische Besetzung, die Einstein ihr zuschreibt: Sie kann als ›reine‹ Kunst rezipiert werden. Carl Einstein macht die Negerplastik zum Transportmittel des Traums der expressionistischen Avantgarde: Sie erscheint bei ihm als das ganz Andere, Neue, Sinn- und Bedeutungsfreie, »als absolute Kunst«.15 »Das Werk als Gottheit ist frei und losgelöst von jeglichem«,16 schreibt Einstein, und indem er das primitive Kunstwerk solchermaßen aller Kontexte entkleidet – es »bedeutet nichts, es symbolisiert nicht«17 –, profiliert er die Negerplastik als neues Paradigma, ja als Urgrund der abstrakten, absoluten, avantgardistischen Kunst: »was hier [in Europa] als Abstraktion erscheint, ist dort unmittelbar gegebene Natur.«18
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Einstein: Negerplastik, S. 246. Einstein: Negerplastik, S. 247. Einstein: Negerplastik, S. 248. Baßler: Das Bild, die Schrift und die Differenz, S. 144; vgl. auch Moritz Baßler: Die Entdeckung der Textur: Unverständlichkeit in der Kurzprosa der emphatischen Moderne 1910–1916. Tübingen 1994; Moritz Baßler, Christoph Brecht, Dirk Niefanger, Gotthart Wunberg: Historismus und literarische Moderne. Mit einem Beitrag von Friedrich Dethlefs. Tübingen 1996. 16 Einstein: Negerplastik, S. 251. 17 Einstein: Negerplastik, S. 253. 18 Einstein: Negerplastik, S. 251.
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Damit gelingt Einstein eine Umdeutung des Primitiven zur Projektionsfläche der bedeutungsfreien und unverständlichen Avantgarde des Expressionismus. Die Lektüre seines Buches verdeutlicht, dass dies wenig damit zu tun hat, wie der Wilde und seine Kunst tatsächlich sind: Der Primitivismus der Avantgarde ist »eine Konstruktion mit Begriffen«.19 Es spielt keine Rolle, ob und welche reale Substanz diesen Begriffen zugrunde liegt, wichtig ist ihre Dienstbarkeit für Aussagen im Rahmen eines Diskurses. Und für diesen Diskurs bietet sich der Wilde deshalb an, weil er seit jeher als die tabula rasa europäischen Denkens gilt. Einsteins Behauptung, man wisse nichts über den Primitiven und seine Kunst, ist also im Kontext ihrer Zeit unmittelbar evident und überzeugend. Denn im Primitivismus-Diskurs der Avantgarde der 10er Jahre geht es nicht primär um den Wilden und seine Kunst als solche;20 es geht auch nicht um den »Vermittlungszusammenhang ›Kolonialismus‹«;21 – es geht vielmehr darum, geeignete Aussagemodi für das Geschichtslose, Unsagbare, für das Neue schlechthin zu finden. Dies freilich ist – eine bekannte Paradoxie des avantgardistischen Denkens – nichts Neues. Zu erinnern wäre in diesem Zusammenhang etwa an das Bild, das Hegel vom afrikanischen Kontinent entwarf: Jenes eigentliche Afrika ist, soweit die Geschichte zurückgeht, für den Zusammenhang mit der übrigen Welt verschlossen geblieben; es ist das in sich gedrungene Goldland, das Kinderland, das jenseits des Tages der selbstbewußten Geschichte in die schwarze Farbe der Nacht gehüllt ist. […] Was wir eigentlich unter Afrika verstehen, ist das Geschichtslose und Unaufgeschlossene, das noch ganz im natürlichen Geiste befangen ist […].22
Einstein und seine Zeitgenossen erarbeiten sich in den 10er Jahren den typologischen Nexus von Primitivität, Wildheit, Unverständlichkeit und Abs-
19 Joachim Schultz: Wild, irre und rein: Wörterbuch zum Primitivismus der literarischen Avantgarden zwischen 1900 und 1940. Gießen 1995, S. 10. 20 Als Vorwurf gegen Einstein gewendet, wäre diese Aussage sicherlich unzutreffend: Gerade er legt größtes Gewicht auf die Kunstwerke selbst. Dafür sprechen in Negerplastik das Text-Bild-Verhältnis (23 gegenüber 111 Seiten) wie auch der Umstand, dass der Textteil in der Erstausgabe nur wie ein Vorwort römisch paginiert ist, der Bildteil hingegen mit Seite 1 beginnt (vgl. die Erstausgabe: Carl Einstein: Negerplastik. Mit 119 Abbildungen. Leipzig 1915). 21 Dessen konsequente Ausblendung durch Einstein konstatiert Kiefer: Carl Einsteins Negerplastik, S. 235. 22 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte [1822 ff.]. Hg. von Eva Moldenauer, Karl Markus Michel. Frankfurt a. M. 1970, Bd. 12, S. 120 und S. 129.
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traktion – und das meint für die Dichtung zugleich: gesteigerter Poetizität. Vereinfacht lassen sich die Austauschprozesse zwischen kunsttheoretischem und literarischem Diskurs so darstellen, dass der Abstraktion als leitendem Telos der bildenden Kunst die programmatische Unverständlichkeit und der Verzicht auf die primäre Referenz des sprachlichen Zeichens auf Seiten der Literatur korrespondieren.23 Der Reiz des Fremden nun besteht – so Einstein – gerade darin, dass es unerklärlich und unverständlich ist. Identifiziert man folglich die Unverständlichkeit als eines der Kernziele avantgardistischer Literatur der 10er Jahre, so bieten sich Wilde und Primitive – neben anderen Schwer- oder Unverständlichen wie etwa Irren, Träumenden etc. – als deren Vehikel besonders an: »Der oder das Fremde wird zur Allegorie der Poesie« schlechthin.24 Literarische Zeugnisse des Wilden und Primitiven im Kontext programmatischer Unverständlichkeit finden sich in Werken von zahlreichen Autoren der Avantgarde der 10er Jahre – zu nennen wären etwa Benn, Einstein, Iwan Goll, Däubler, Klabund, Lasker-Schüler, Scheerbart u. a. Besonders aufschlussreich ist in dieser Hinsicht das Werk des Wiener Expressionisten Robert Müller, der in drei Romanen den Wilden in für die literarischen Paradigmen der Zeit indizierender Weise in den Mittelpunkt der Darstellung gerückt hat. Am Beginn von Müllers literarischem Schaffen steht der Roman Tropen (1915), die Geschichte des deutschen Ingenieurs Hans Brandlberger und seiner missglückten Schatzsuche im brasilianischen Urwald. Die Erzählung dieser Schatzsuche gibt für Müllers Roman allerdings nur den eher nebensächlichen Plot ab: Die Suche bleibt erfolglos und gerät über weite Strecken des Romans aus dem Blick; stattdessen treten andere Elemente in den Vordergrund des Textes. So verarbeitet Müller in Tropen anhand ausgiebiger Reflexionen eine Vielzahl von zeitgenössischen Diskursen, zu deren prominentesten – motiviert durch den Handlungsraum – der Primitivismus gehört. Darüber hinaus stellt Müllers Text eine groß angelegte Allegorie der Aporien modernistischen Erzählens dar, in der die Widersprüchlichkeiten des avantgardistischen Projektes ausgelotet und in paradoxalen Textverfahren virtuos reflektiert werden.25
23 Vgl. Baßler: Entdeckung der Textur; zum Verhältnis von Kunsttheorie und Dichtung ebd., S. 39–59. 24 Vgl. das Lemma ›Unerklärlich, Unverständlich‹, in Schultz: Wild, irre und rein, S. 197 f. 25 Vgl. zum Folgenden Stephan Dietrich: Poetik der Paradoxie: Zu Robert Müllers fiktionaler Prosa. Siegen 1997, S. 17–91.
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Die exponierte Stellung des Urwalds und seiner Bewohner in Tropen hat einen literaturprogrammatischen Impetus: Sie dient zur Kritik an der exotistischen Literatur der Jahrhundertwende und des Impressionismus. Müller setzt Wildnis und Wilde gezielt ein, um in seinem expressionistischen Roman die vermeintlich obsolete Eindrucksschilderung der Impressionisten mit dem neuen Typus des primitivistischen Übermenschen zu konfrontieren und an dessen Beschreibung neue Textverfahren des Expressionismus zu erproben. Dies geschieht u. a. in ausführlichen Schilderungen des Urwalds und der Physiognomien seiner Bewohner.26 Müllers Roman liefert ferner reichhaltige Belege für die enge Verzahnung von primitivistischer bildender Kunst und Literatur, wie z. B. in der Reflexion Brandlbergers über die Werke des indianischen Schildermalers Kelwa: Ich begann dieses wilde Künstlergemüt zu begreifen. […] Eines der Gemälde duftete von Liebespracht und Lustaufwand, und ein Hundevieh lief darauf hinzu und schnupperte flüchtig zu dem Paare. Dieser Hund war das Hündischeste, das je an Hundetum geleistet worden war, er war hündischer denn je ein Hund, er war die reine Genießlichkeit, die je zu Verkörperung gelangt ist. Er bestand aus fünf braunen Pinselstrichen, vier Beinen und einem Rückgrat, und schließlich einer langen Schnauze. In dieser Schnauze lag ein ganzes Hundeleben.27
In dieser Schilderung primitiver Kunst offenbart sich die Doppelbödigkeit von Müllers Roman im Hinblick auf das hier zu diskutierende Thema: Abstraktion (fünf braune Pinselstriche) sowie Reinheit und Absolutheit des Wesens (das Hündische schlechthin) dokumentieren einerseits den von Worringer und Einstein mit Nachdruck propagierten Zusammenhang von Avantgardismus und Primitivismus. Andererseits jedoch ist das Sprachspiel des kunsthistorischen Diskurses, aus dem sich dieser Konnex herschreibt, in der offensichtlichen Übertreibung des Duktus bei Müller ironisch gebrochen, ja es wird geradezu persifliert. Müllers Text hält auf diese Weise die Schwebe zwischen dem Anschluss an die primitivistische Avantgarde und der kritischen Befragung ihrer Positionen. Dies lässt sich mit weiteren Beispielen belegen. So führt etwa eine Bestandsaufnahme der Aussagen des Textes über das Verhältnis von Wilden und Europäern in ähnlicher Weise zu Widersprüchlichkeiten und Unstimmigkeiten: Brandlberger schwankt zwischen höhnischem Spott über die kulturlosen Wilden und dem deprimierenden Gefühl der eigenen Unterlegenheit: »Ich beuge mich vor der überlegenen Bildung dieser Wilden, vor dem Geiste, der in der Ausgelassenheit ihres
26 Vgl. z. B. Müller: Tropen, S. 94 f. 27 Müller: Tropen, S. 56.
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Geschmackes steckt. Ich schwöre die [sic] Kultur des deutschen Bürgers ab.«28 Müller erster Roman ist insofern ambig, als er ein komplexes Wechselspiel von Wertungen des Wilden etabliert und durchhält: Er schreibt in seinen Reflexionen gegen die europäische Wildenbegeisterung an und leugnet den ästhetischen Wert jeglicher Exotik. Jedoch bedient er sich des zeitgemäßen Reizes, den diese Exotik auf sein Publikum ausübt, nur zu gern. Trotz solcher Widersprüche allerdings bleibt für den Roman in der Summe die wesentliche Verknüpfung von Primitivismus und Abstraktion als leitender Diskurs zu konstatieren; es bleibt das Motiv der Hoffnung, angesichts einer übersättigten europäischen Kultur mögen die Primitiven des Urwalds zur Bildung eines neuen Menschentypus beitragen, dessen profiliertester Repräsentant in Tropen, der Amerikaner Jack Slim, denn auch die Vermutung äußert: »Vielleicht haben wir auch Negerblut in uns.«29 Nachfolgende Erzähltexte Müllers indes erweisen, dass es bei dieser vorwiegend ästhetisch-poetologischen und avantgardistischen Instrumentalisierung des Wilden nicht bleibt. Die zeittypischen Veränderungen des primitivistischen Diskurses lassen sich gut an der weiteren Entwicklung von Müllers Werk ablesen.30 Die Novelle Das Inselmädchen (1919) nimmt im Gegensatz zu Tropen eine dezidiert kolonialkritische Perspektive ein und konzentriert sich auf das problematische Verhältnis der unterdrückten Ureinwohner einer tropischen Insel zu den gelangweilten Vertretern ihrer Kolonisationsbesatzung. Der Roman Der Barbar (1920) schließlich vollzieht den Schritt hin zur Reflexion der medialen Bedingtheiten von literarischen Entwürfen eines neuen Menschentypus: Der Wilde selbst (in diesem Falle ein aus Osteuropa nach Amerika eingewanderter »Barbar«) ist, obgleich zentrales Thema, im Roman über weite Strecken als Figur nicht mehr präsent, sondern wird nur mehr in den Spiegelungen seiner unterschiedlichen fiktionalen und medialen Repräsentationen konstruiert. Der Wilde und seine vermeintliche Primitivität dienen der künstlerischen Avantgarde der 10er Jahre mithin als Projektionsobjekte für die Etablierung eines neuen Kunstideals, das vor allem durch Abstraktion, Unverständlichkeit und die Reflexion auf die Materialität des Kunstwerks geprägt ist. Aus diesem Grunde finden sich Wildheit und Primitivität dort, wo sie als Motiv avantgardistischer Kunst begegnen, stets mit Techniken formaler Innovation gekoppelt. 28 Müller: Tropen, S. 52. 29 Müller: Tropen, S. 200. 30 Vgl. dazu v. a. das Exotismus-Kapitel in Dietrich: Poetik der Paradoxie, S. 92–132.
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2. »Hilflos negert der Unoriginelle«:31 Popularisierung des Diskurses 1920–1933 Die Gültigkeit dieser avantgardistischen Positionen war nur von begrenzter Dauer. Bereits um 1920 wandelt sich die Struktur des primitivistischen Diskurses erheblich – ein Wandel, der als Signatur auch den späteren Werken der Avantgardisten selbst eingeschrieben ist. Einstein etwa veröffentlicht 1921 das Buch Afrikanische Plastik, das er mit einer Klage über die Modeerscheinung Primitivismus eröffnet: »Hilflos negert der Unoriginelle« im Kulturbetrieb. Trotz dieser Kritik bleibt Einsteins eigenes Verfahren von den Folgen der modischen Popularisierung nicht unangetastet: Zwar hält er an seiner These von der historischen Unerschlossenheit Afrikas fest und gesteht »die Schwierigkeiten ein«, die man nach wie vor damit habe, »afrikanische Kunst zu erklären«.32 Doch während er diese Schwierigkeiten noch 1915 ignoriert und für die emphatische Setzung seiner eigenen ›Negerplastik‹ produktiv gemacht hatte, versucht er sie sechs Jahre später zu überwinden. Deutlich belegen das die ausführlichen Erläuterungen zu geographischer Einordnung und kultischen Funktionen der Kunstwerke, mit denen die Abbildungstafeln in Afrikanische Plastik versehen sind. Es leitet den Autor nunmehr der »Wunsch, daß kunstgeschichtliches Untersuchen afrikanischer Plastik und Malerei beginne«.33 Baßler schreibt über das Schicksal der absoluten Semiotik des primitiven Kunstwerks: Die alsbald einsetzende Konjunktur afrikanischer Plastik in Ethnologie und Kunsthandel aber blieb – wen wundert’s? – von dem hier [in Negerplastik] entwickelten semiotischen Konzept unberührt […]; während Kunsthändler wie Paul Guillaume sich an der neuen Welle eine goldene Nase verdienten, mußte Picasso, einer der Entdecker, die Sache bereits wieder verleugnen, um Avantgarde zu bleiben: »Die Negerkrise ist genauso langweilig geworden wie Mallarmés Japonismus«. Der Avantgardist langweilt sich, wo keine ästhetische Differenz zum Zeitgeschmack mehr reizt.34
31 Carl Einstein: Afrikanische Plastik [1921], in: Carl Einstein: Werke. Bd. 2: 1919–1928. Hg. von Marion Schmid. Berlin 1981, S. 62–144, hier S. 62. 32 Einstein: Afrikanische Plastik, S. 63. 33 Einstein: Afrikanische Plastik, S. 62. 34 Baßler: Das Bild, die Schrift und die Differenz, S. 152; das Picasso-Zitat aus einer Umfrage von 1920 (vgl. William Rubin: Primitivismus in der Kunst des 20. Jahrhunderts. München 1984, S. 169). Vgl. ergänzend Kiefer: Carl Einsteins Negerplastik, S. 245, mit Blick auf die zeitlich parallele Entästhetisierung und Politisierung des Kolonialismus-Diskurses.
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Und dieser Zeitgeschmack ist in den 20er Jahren ein stark popularisierter Primitivismus. Die Kunst der Primitiven teilt das Schicksal so mancher ästhetischen Errungenschaft der expressionistischen Avantgarde: Sie wird zum populären Unterhaltungsgut und sinkt – nach Kandinskys genetischem Modell der Kulturentwicklung35 – von der ›Spitze des geistigen Dreiecks‹ in die unteren Regionen ab. Nach wie vor ist der Wilde, bedingt durch die relative Assoziationsfreiheit, die er als kulturelles Konstrukt gewährt, Objekt multipler Einschreibungen und Instrumentalisierungen. Diese jedoch erfolgen nun in anderer Weise und dienen anderen Zwecken als noch in den 10er Jahren: Der Wilde wird in der Post-Avantgarde nicht länger als völlig leere, nahezu beliebig neu besetzbare Projektionsfläche verwendet, sondern man macht nun auch den Versuch, sich seiner historischen und gesellschaftlichen Realität zu nähern. Damit tritt zugleich seine Funktion für die Entwicklung formaler Innovationen in den Hintergrund. Die Modeerscheinung Primitivismus nimmt in den 20er Jahren vielfältige Erscheinungsformen an, die vom Kunstgewerbe über Museumsausstellungen und Filme bis zu den Tourneen von Revuegruppen und zur Jazz- und Tanzbegeisterung in Europa reichen.36 In der Folge verliert die Literatur ihre Position als zentrales Vermittlungsmedium des Primitiven. Neue Medien wie Photographie und Film, vor allem aber auch Musik und Tanz treten an ihre Stelle und erreichen ein weitaus breiteres Publikum. Dies nun versucht die Literatur dadurch zu kompensieren, dass sie ihre Verpflichtung auf die sperrige und rezeptionsfeindliche Abstraktion und Unverständlichkeit aufgibt. Damit aber begibt sie sich weitgehend der Möglichkeiten genuin literarischer Entwürfe des Wilden und tritt in einen Konkurrenzkampf mit den neuen Massenmedien, in dem sie ohne ihr Proprium avancierter Fiktionalität und sprachlicher Innovation nicht bestehen kann. Die Literatur über den Wilden wird in den 20er Jahren von einem vorgeordneten bildspendenden zu einem nachgeordneten bildverarbeitenden Medium, das weder die Breitenwirkung z. B. des Films noch ihr einstiges Sinnstiftungspotenzial mehr erreicht. Die Auswirkungen der Popularisierung des Primitivismus lassen sich am besten ex negativo an lamentierenden Einlassungen kulturphilosophischer Provenienz studieren. Denn ebenso, wie von kulturphilosophischer und -politischer Seite in der Weimarer Republik gegen Massenkultur und Ameri-
35 Vgl. Wassily Kandinsky: Über das Geistige in der Kunst [1910]. Bern 10o. J. 36 Vgl. Reinhard Wegner: Der Exotismus-Streit in Deutschland: Zur Auseinandersetzung mit primitiven Formen in der Bildenden Kunst des 20. Jahrhunderts. Frankfurt a. M. 1983, S. 3.
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kanismus gewettert wird,37 registriert man auch das Vordringen des Wilden in das Bewusstsein der Öffentlichkeit mit Missfallen. Selbst dort, wo Einzelne der Entwicklung scheinbar aufgeschlossen gegenüberstehen, erweist ein genauerer Blick, dass sich auch in solchen Fällen das Vorurteil der vermeintlichen Kulturlosigkeit des Wilden hartnäckig hält – allen Bemühungen der Avantgarde zum Trotz. So erscheint etwa 1922 in der Neuen Rundschau ein kleiner Text von Hermann Hesse mit dem Titel Exotische Kunst. Hesse äußert sich hier nicht grundsätzlich ablehnend über die Modeerscheinung Primitivismus, sondern vermittelt zunächst den Eindruck einer umsichtigen und moderaten Duldung einer notwendigen und nicht aufzuhaltenden Entwicklung. Er versäumt jedoch nicht, die Beliebtheit primitiver Kunst mit dem Hinweis auf allgemeine Krisen- und Untergangssymptome der europäischen Kultur zu erklären, das Fremde also mit einer kriseologischen Deutung einzuholen und damit im Wertungssystem der eigenen Kultur zu verankern. Die Mode Negerkunst sei, so Hesse, deutliches Symptom dafür, dass das gegenwärtige Kultursystem in Auflösung begriffen sei: »In Zeiten solcher Untergangsstimmungen kommen stets seltsame neue Götter auf, die mehr wie Teufel aussehen, das bisher Vernünftige wird sinnlos, das bisher Verrückte wird positiv, wird hoffnungsvoll, scheinbar wird jede Grenze verwischt.«38 Wenngleich Hesse diesen Prozess als unabänderlich deutet, geht damit keine positive Wertschätzung primitiver Kunst einher. Im Gegenteil: Das auf den ersten Blick aufgeschlossene Urteil offenbart dem aufmerksamen Leser einen überheblichen Blick in den Abgrund der Kulturlosigkeit: »Sie [die exotischen Künste] zeigen Europa sein Gegenbild, sie atmen Anfang und wilde Zeugungskraft, sie riechen nach Urwald und Krokodil. Sie führen zurück in Lebensstufen, in Seelenlagen, die wir Europäer scheinbar längst ›überwunden‹ haben.«39 In solchen Formulierungen erweist sich die Position Hesses gegenüber dem von ihm vorgeblich »mit Innigkeit begrüßte[n]«40 Sieg der wilden Exotik als eurozentristischer Überlegenheitsgestus.41 37 Vgl. Kaes: Weimarer Republik, S. 240–286. 38 Hermann Hesse: Exotische Kunst, in: Die Neue Rundschau 33 (1922), S. 335 f., hier S. 336. 39 Hesse: Exotische Kunst, S. 336 (Hervorhebung S. D.). 40 Hesse: Exotische Kunst, S. 335. 41 Hesse übrigens zählte 1915 zu den Rezensenten von Einsteins Negerplastik. Auch in der Rezension offenbart sich eine äußerst zwiespältige Haltung dem Phänomen Primitivismus gegenüber: »Wir haben das Recht, diese Kunst abzulehnen, sie als fremd und störend zu empfinden; aber wir haben kein Recht, sie nicht als Kunst, nicht als notwendig und in sich tief begründet und wertvoll anzuerkennen« (Hermann Hesse:
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Sehr viel eindeutiger noch geht Theodor Lessing vor, wenn er sich 1928 Gedanken über ein Phänomen macht, das im Kontext der Popularisierung des Primitivismus eine eigene Untersuchung wert wäre: den ungemeinen Erfolg von Josephine Baker in Europa.42 Auch Lessing begreift die Baker als Signum des Untergangs europäischer Kultur und bringt dabei den Topos der europäischen Kulturkrankheit auf den Punkt: »Die weißhäutige Zivilisationsmenschheit in Europa-Amerika ist krank. Ihre Krankheit aber heißt: Kultur«.43 Für den primitivistischen Diskurs paradigmatisch sind dabei die Vergleiche, deren sich Lessing in seiner Beschreibung bedient und die sich nicht wesentlich von jenen Hesses unterscheiden: Betrachtest du unbefangen diese Josephine Baker, so tauchen vor dir auf: fremde Tier- und Pflanzenwelten, eher australische, malaiische als afrikanische. […] Du träumst von dem fernen Tangata, träumst von den Mädchen, welche Gauguin malte […]. Sie erinnert (die Musen mögen diesen Vergleich verzeihen) an meine liebe Freundin, an Missi, eine Schimpansin im Zoologischen Garten […].44
Kein Wunder, dass diese kulturpessimistische Interpretation den Philosophen ins Leid seiner selbst gefertigten Melancholie entlässt: »Ich aber, abseits sitzend auf meinem Stein, verhülle die Augen und erkenne: Wozu philosophieren?«45 Die Texte Hesses und Lessings sind insbesondere aufgrund der Analogien, mit deren Hilfe sie eine Beschreibung des Wilden zu leisten versuchen, exemplarisch für die Wandlung des primitivistischen Diskurses von einem offenen Textsystem avantgardistischer Prägung zu einer klischierten Form stereotyper Zuschreibungen. An dieser Stelle jedoch ist ein Einspruch methodologischer Art erforderlich: Untersuchungen, die wie diese eher das Typische eines Phänomens als dessen punktuelle Repräsentationen zum Gegenstand haben, müssen dominante Fäden eines diskursiven Netzes stärker akzentuieren und dagegen weniger repräsentative Verzweigungen vernach-
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Die Plastik der Neger, in: Hermann Hesse: Die Welt im Buch: Leseerfahrungen II: Rezensionen und Aufsätze aus den Jahren 1911–1916. Hg. von Volker Michels. Frankfurt a. M. 1998, S. 473–475, hier S. 475). Vgl. z. B. die Biographie von Phyllis Rose: Josephine Baker oder Wie eine Frau die Welt erobert: Biographie. Übersetzt von Liselotte Julius. Wien, Darmstadt 1990; ferner Hans Ulrich Gumbrecht: 1926: Ein Jahr am Rand der Zeit. Übersetzt von Joachim Schulte. Frankfurt a. M. 2001. Theodor Lessing: Josephine [1928], in: Theodor Lessing: »Ich warf eine Flaschenpost ins Eismeer der Geschichte«: Essays und Feuilletons 1923–1933. Hg. von Rainer Marwedel. Darmstadt, Neuwied 1986, S. 219–223, hier S. 221. Lessing: Josephine, S. 220. Lessing: Josephine, S. 222.
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lässigen. Dadurch ist hier ein Bild entstanden, das die Verabschiedung avantgardistischer Positionen mit der Popularisierung und Stereotypisierung des Primitivismus in den 20er Jahren engführt. Der Redlichkeit halber ist der Hinweis fällig, dass sich zur gleichen Zeit auch Texte finden, die nicht in dieses Bild passen, sondern belegen, dass erstens die Position, die oben am Beispiel Einsteins dargelegt wurde, fortwirkte und dass zweitens auch die Avantgarde sich oftmals nur mittels simplifizierender Stereotypen und Gemeinplätze dem fremdartigen Phänomen des Wilden zu nähern vermochte. Ein Beispiel ist der nicht gerade als Anti-Avantgardist bekannt gewordene Herausgeber des Sturm, Herwarth Walden. Er veröffentlicht 1926 in seiner Zeitschrift einen Text mit dem Titel Zur Kunst der Neger und Südseeinsulaner, in dem er nicht nur die Struktur von Einsteins Negerplastik kopiert – drei Seiten Text gegenüber zwölf Seiten mit unkommentierten Abbildungen46 –, sondern auch im Wesentlichen die Zuschreibungen aus Negerplastik bekräftigt und den Wilden nochmals im Rahmen einer Ironisierung des zeitgenössischen Kulturbetriebs als Urbild der Avantgarde, ja des Künstlertums schlechthin profiliert: »Kein Speer, kein Kamm, kein Teller, kein Schurz, der nicht ein Kunstwerk ist«.47 Doch auch Walden führt die europäische Kulturkrankheit ins Feld und schließt mit der Hoffnung, »daß die Europäer auch einmal die Augen öffnen und sehen lernen wie Wilde und Kinder sehen«.48 Auch die Avantgarde also arbeitet an der Popularisierung des Diskurses mit, und dies sowohl in qualitativer als auch in quantitativer Hinsicht: Durch die ubiquitäre Verwendung in ihren Texten wird der Wilde »ein Gemeinplatz der Avantgarde«,49 dessen bereits vorhandene Zuschreibungen in den 20er Jahren nur mehr zementiert werden. Diese Zuschreibungen zeichnen sich durch immer wiederkehrende Oppositionen und Analogien aus, die das Bild des fremden Wilden mit dem Vertrauten in Beziehung setzen. Die am häufigsten verwendeten Oppositionen sind etwa Krankheit vs. Gesundheit, Kultur vs. Natur, Entfremdung vs. Ursprünglichkeit sowie Kompliziertheit vs. Einfachheit und Reinheit. In gleicher Weise vorhersehbar sind die Analogien: Der Wilde wird wahlweise wie ein Kind, wie ein Tier, wie ein Jude oder wie ein Irrer dargestellt. Besonders der letztgenannte Vergleich war für die Avantgarde von Bedeutung, da auch die Sprache des Irren als schwer oder
46 Lediglich das Herkunftsland des abgebildeten Kunstwerks wird in der Bildlegende genannt. 47 Herwarth Walden: Zur Kunst der Neger und Südseeinsulaner, in: Der Sturm 17 (April 1926), S. 18–31, hier S. 28. 48 Walden: Zur Kunst der Neger, S. 29. 49 Schultz: Wild, irre und rein, S. 141.
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unverständliche einen nahe liegenden Bezugsrahmen für die Entwicklung ihrer neuen literarischen Verfahren darstellte. Die Analogie von Primitivität und psychischer Devianz war durch Sigmund Freuds 1913 erschienenes Buch Totem und Tabu populär geworden, dessen Untertitel »Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker« lautete und mit dem Freud ein Angebot der Psychoanalyse an die Adresse der aktuellen Erforschung primitiver Kulturen formulierte.50 Die inflationäre Verwendung der genannten Oppositionen und Analogien ist wesentliches Kennzeichen der Repräsentation des Wilden in der Literatur der 20er Jahre und zugleich Indiz für ein Phänomen, das ich als die Domestizierung des Wilden bezeichnen möchte. Der Umstand, dass das exotische Primitive zur alltäglichen Realität in den europäischen Städten und zu einem gewichtigen Faktor ihrer Unterhaltungsindustrien geworden ist, macht die Auseinandersetzung mit ihm für die Literatur zwar aus Gründen der Zeitgemäßheit wünschenswert, fordert jedoch nicht länger ihr innovatives Potenzial heraus.
3. Exemplarische Textanalysen Generell stehen in den 20er Jahren andere Fragen und Probleme im Mittelpunkt der maßgeblichen literarischen Auseinandersetzungen, als dies zur Zeit der Avantgarde der Fall war. Stichworte wie ›Politisierung der Literatur‹, die Herausbildung neuer Literaturformen wie Reportage und Hörspiel, der Publikumsbezug und die Stellung des Schriftstellers in der Öffentlichkeit markieren das literarische Feld der Neuen Sachlichkeit. Von diesen Entwicklungen bleibt die Literatur des Primitivismus jedoch merkwürdig unberührt. Die literarisch-ästhetischen Innovationen der Neuen Sachlichkeit (Essayismus, Reportage- und Montageliteratur etc.) werden nicht von solchen Autoren geleistet, die sich thematisch dem Primitiven zuwenden. Auch die literarischen Konstruktionen des Wilden stehen zwar im Zeichen einer Wendung gegen die Schreibweisen der Avantgarde, doch sind sie weniger durch formale oder mediale Neuerungen als vielmehr durch die Rückkehr zu traditionellen literarischen Verfahren charakterisiert. Neben der Rückkehr zu prä-avantgardistischen Schreibweisen ist die Primitivismus-Literatur der 20er Jahre noch durch eine zweite Auffälligkeit ge-
50 Vgl. Sigmund Freud: Totem und Tabu: Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker [1913]. Frankfurt a. M. 1991.
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kennzeichnet: die Rückkehr zur Historie. Damit wird der zuvor im Diskurs dominierenden synchronen Fremdheit ein Moment der Diachronie an die Seite gestellt, das zwar einerseits zu grundsätzlich anderen Diskursausprägungen und Leitmotiven führt, andererseits aber immer noch wesentlich auf die Vorgängerliteratur bezogen bleibt, da es die von ihr geprägten Stereotypen übernimmt und im Sinne einer in der Regel politischen Aussage spezifisch transformiert. Zentrales Thema ist dabei die Kolonisation Südamerikas, insbesondere die Eroberung Mexikos durch Cortez im frühen 16. Jahrhundert. Dieses Thema hat – denkt man an den Topos des ›Edlen Wilden‹ – in der Literaturgeschichte eine lange Tradition.51 Die aus seiner Wahl resultierenden Figurenkonstellationen sind für die Zeitgenossen in erster Linie deshalb interessant, weil die Konfrontation der europäischen Eroberermacht mit der zuvor unangetasteten südamerikanischen Kultur eng mit der Ausbildung dieses Topos verknüpft ist, der sich als Allegorie politischer und sozialer Machtverhältnisse geradezu aufdrängt.52 Im Mittelpunkt stehen in den einschlägigen Texten zumeist die moralische Verworfenheit der Europäer und die Opferrolle der (vermeintlich primitiven, tatsächlich aber moralisch überlegenen) Wilden.
3.1. Jakob Wassermann: Das Gold von Caxamalca Jakob Wassermann, 1873 geboren, zählte im Alter zu den Großschriftstellern der Weimarer Republik. 1926 wurde er in die Sektion Dichtkunst der Preußischen Akademie der Künste aufgenommen, seine Etzel Andergast-Bücher waren Bestseller. In den 20er Jahren entwickelte Wassermann ein starkes Interesse an historischen Eroberern und Entdeckern, das u. a. in eine Columbus-Biographie (1929) mündete. In diesem Kontext ist auch seine Erzählung Das Gold von Caxamalca situiert, die zuerst 1923 erschien53 und die Eroberung Perus durch die Spanier im Jahre 1532 zum Gegenstand hat. Als Erzähler figuriert ein ehemaliger Soldat, in der Erzählgegenwart zum Mönch konvertiert, der die Geschehnisse im Rückblick vermittelt. Berichtet wird, wie die Spanier unter Führung des Generals Pizarro in Peru einmar-
51 Vgl. die knappe Darstellung in Elisabeth Frenzel: Stoffe der Weltliteratur: Ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte. Stuttgart 81992, S. 525–533. 52 Vgl. dazu Urs Bitterli: Die ›Wilden‹ und die ›Zivilisierten‹: Grundzüge einer Geistesund Kulturgeschichte der europäisch-überseeischen Begegnung. München 21991. 53 Die Publikation erfolgte in der Neuen Rundschau. Als Buch wurde die Erzählung erst 1928 veröffentlicht.
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schieren, die Einwohner brutal unterwerfen, sich der Reichtümer des Landes bemächtigen und schließlich dessen Herrscher ermorden. Als Vorwand für die Unterwerfung dient die Christianisierung Ungläubiger; tatsächlich jedoch geht es um materielle Bereicherung, um Raub und Ausbeutung: Geblendet von dem unvorstellbaren Reichtum an Gold, den sie in Peru vorfinden, schrecken die Kolonisateure vor keinen Grausamkeiten zurück. Die Opposition von vermeintlicher Missionsarbeit und tatsächlicher Ausbeutung beherrscht den Text von Anfang an, etwa wenn der spanische General seine Soldaten zu motivieren versucht: »Er rief ihren Ehrgeiz an und versprach ihnen unerhörte Reichtümer; indem er, wie schon so oft, das Unternehmen als Kreuzzug gegen die Ungläubigen darstellte, entfachte er den verlöschenden Funken der Begeisterung aufs neue.«54 Dass es sich bei den Eingeborenen um »Ungläubige« handelt, die aus der Sicht der Europäer als wild und zivilisationslos erscheinen, dient diesen als Alibi für ihr rücksichtsloses Vorgehen. Genau diese fadenscheinige Legitimation wird jedoch durch den Erzähler, dem moralisch-didaktischen Impetus des Textes entsprechend, fortwährend unterlaufen. So erscheint das peruanische Urvolk als Träger einer unvorstellbar reichen Kultur: Das erste Vordringen in das Lager des Inka-Fürsten Atahuallpa offenbart eine hoch entwickelte Zivilisation – es ist die Rede von »kunstreiche[n] Goldverzierungen« der Tempelsäulen, von kupfernen Wasserleitungen und von prunkvoller Kleidung.55 Der Erzähler erstaunt ehrfürchtig angesichts dieses »bisher gering geschätzten Volkes«. Es beweise »eine Zucht und Gesittung«, »die einen ungleich höheren Kulturzustand verrieten als alles, was wir in den Gegenden der Küste erfahren hatten«.56 Wichtiger noch als diese prosperierende Kultur ist der Umstand, dass die Peruaner eine Gesellschaftsform herausgebildet haben, die den westlichen Zivilisationen weit überlegen ist und den von den Spaniern vorgeschützten christlichen Idealen sogar besser zu entsprechen scheint als die der Europäer. Es handelt sich um eine Art absolutistischen Sozialismus in einem Land, das zugleich seinem Herrscher gehört und doch Gemeingut ist: »Niemand hatte Eigentum, alles gehörte allen, und alles, nicht nur das Land allein, war Eigentum des Inka, dieses Wesens von himmlischem Ursprung.«57 Als Folge der unübersehbaren Insignien von Kultur und Zivilisation stellt sich dem Erzähler die rhetorische Frage nach der Wildheit dieser Wilden: 54 55 56 57
Jakob Wassermann: Das Gold von Caxamalca: Erzählung [1923]. Stuttgart 1953, S. 9. Wassermann: Gold, S. 5. Wassermann: Gold, S. 8. Wassermann: Gold, S. 15.
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Da entstand nun die zweifelvolle Frage, ob das Wildheit oder Entwicklung war, Form eines barbarischen und kindlichen Daseins oder eines fortgeschrittenen und höheren. Durfte man es verabscheuen und infolgedessen vernichten, oder war es zu schonen, vielleicht sogar zu preisen als ein Zustand menschlichen Zusammenlebens, der zu wünschen war? Es konnte nicht ohne Belang für uns sein, ob wir rohe und stumpfe Sklaven vor uns hatten, Werkzeuge eines Tyrannen von einer beispiellosen Machtgewalt, oder edlere und reinere Geschöpfe als die der christlichen Welt.58
Obgleich der Erzähler seine Unentschiedenheit in dieser Frage betont, gibt seine Erzählung selbst eine eindeutige Antwort. Den grausamen Ereignissen um die Gefangensetzung und Ermordung des Inka stehen die absolute Bedeutungslosigkeit des Goldes für die Indianer und ihre stoische Friedfertigkeit gegenüber; die graduelle Versetzung der Spanier in einen irrsinnigen Goldrausch wird durch das Konzept der Eigentumslosigkeit bei den Indianern konterkariert: »Das Unfaßliche, quälend in seiner Seltsamkeit, war, daß den Menschen hier das Gold, letztes Ziel und heißestes Begehren aller übrigen Menschheit, nichts bedeutete.«59 Wassermanns Erzählung entwirft den edlen Wilden als Muster von kindlicher Unschuld und Reinheit und konzentriert dessen Charakterzüge prototypisch in der Figur des Inka-Herrschers Atahuallpa. Der missbrauchte Fürst wird im Gestus höchster moralischer Überlegenheit präsentiert: Stets bewahrt er Ruhe und Gelassenheit, ist schweigsam und kommentiert die Vorgänge um seine Person nur mit einem überlegenen Lächeln.60 Seine spärlichen Bemerkungen zur Goldgier der Eroberer werden als »kindlich-schaurige[ ] Worte« apostrophiert.61 Gelähmt wird der stoische Atahuallpa lediglich – in einer Art reverser exotistischer Denkfigur – von der Fremdheit des spanischen Wesens, dessen »unbegreiflich fremde Seele«62 er mit ethnologischer Neugier zu begreifen versucht. Freilich ohne Erfolg – von der Gewalt und Gier der Spanier erschüttert, »senkte sich die unermeßliche Melancholie über ihn, die sein Herz und seinen Arm lähmte und geschehen ließ, was uns so rätselhaft war: daß er sich ohne Widerstand in sein Schicksal ergab«.63 Atahuallpa ist zugleich der Schlüssel zur Erzählung selbst. Der Erzähler hat sich nicht umsonst nach den geschilderten Vorfällen von der Welt abge-
58 59 60 61 62 63
Wassermann: Gold, S. 15 f. Wassermann: Gold, S. 12. Vgl. etwa Wassermann: Gold, S. 6 f. und S. 39. Wassermann: Gold, S. 43. Wassermann: Gold, S. 43. Wassermann: Gold, S. 37.
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kehrt und ist Mönch geworden, in der Hoffnung auf einen »besseren Stern« als diesen »von Gott verstoßen[en]«.64 Die wesentliche Erkenntnis von der »Nichtigkeit alles Habens und der Ewigkeit alles Seins«,65 die den didaktischen Impuls von Wassermanns Text ausmacht, hat der Erzähler aus seiner Beobachtung des Inka-Fürsten gewonnen. So betont er mehrfach, dass seine Seele traumhaft mit derjenigen Atahuallpas verschmelze, die er »wie eine höhere Stimme und wie etwas, das Gewissenslast und Trauer verursacht«, empfinde.66 Der Erzähler macht sich im Verlauf der geschilderten Ereignisse zunehmend die Perspektive Atahuallpas zu eigen, dessen inneres Leben ihm »nach und nach zur Vision« wird.67 In diesem Zusammenhang ist auch die sprachliche Annäherung zwischen Erzähler und Inka-Fürst von Bedeutung: Nicht allein, dass Atahuallpa die Sprache der Eroberer lernt68 und der Erzähler Atahuallpas eigene Landessprache zu verstehen beginnt;69 vielmehr sind die beiden auch im Schweigen eins: Der wiederholt akzentuierten Schweigsamkeit des Fürsten korrespondiert ein sprachlicher Defekt des Erzählers, mit dem dieser seine eigene Zurückhaltung angesichts der schrecklichen Vorfälle begründet: »Ich war meiner ganzen Natur nach zum schweigenden Zuschauer bestimmt; ich bin ein Stotterer; ich bin es auch innen; damals war mir das Wort noch weniger gegeben als heute, und was ich sah und empfand, rann erst durch viele Kanäle, bevor es in mein Bewußtsein und in das Licht des Herzens trat.«70 Wenn Schweigsamkeit und Stottern das Funktionieren einer mündlichen Tradierung beeinträchtigen, von der insbesondere die autochthone Kultur geprägt ist, dann bedeutet dies zwangsläufig eine Aufwertung der schriftlichen Überlieferung. Auf die Wichtigkeit der Schrift reflektiert Wassermanns historische Erzählung bereits mit ihrem ersten Satz, in dem eine übergeordnete Erzählinstanz den Bericht des Erzählers als schriftliches Dokument kenntlich macht: »Das Folgende wurde niedergeschrieben von dem Ritter und nachmaligen Mönch Domingo de Soria Luce in einem Kloster der Stadt Lima, wohin er sich, dreizehn Jahre nach der Eroberung des Landes Peru, zur Abkehr von der Welt begeben hatte.«71 Der Rekurs auf die Schrift erfolgt sodann im Rahmen der Erzählung in dem Moment, in dem Atahuallpa die Aussichtslosigkeit 64 65 66 67 68 69 70 71
Wassermann: Gold, S. 62. Wassermann: Gold, S. 62. Wassermann: Gold, S. 33. Wassermann: Gold, S. 37. Wassermann: Gold, S. 46. Wassermann: Gold, S. 43. Wassermann: Gold, S. 49. Wassermann: Gold, S. 3 (Hervorhebung S. D.).
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seiner Situation einsieht.72 Nachdem der stolze Fürst ein erstes und letztes Mal um sein Leben gefleht hat und nicht erhört wurde, äußert er als letzten Wunsch, vom Erzähler das Wunder der Schrift demonstriert zu bekommen. Er bittet ihn, ein Wort auf seinen Fingernagel zu schreiben, das alle Anwesenden ablesen und ihm ins Ohr flüstern sollen, um damit, bei Übereinstimmung der Resultate, die Funktionalität der Schriftkultur zu bestätigen. Zum Erstaunen des Inka-Fürsten gelingt der Versuch. Das Wort, das der Erzähler auswählt, lautet »Crux«. Damit wird das Experiment jedoch nur scheinbar zur Szene einer zynischen Erniedrigung des Inka, indem die Insignie des christlichen Glaubens, unter dessen Diktat er schuldlos zu sterben hat, in seinen Körper eingeschrieben wird. Denn zum einen bleibt der Körper des Opfers dabei unversehrt – der Erzähler ritzt sich selbst die Haut auf und schreibt das Wort mit seinem eigenen Blut. Zum anderen wird die potenzielle Demütigung des Inka dadurch ironisch unterlaufen, dass unter allen Spaniern ausgerechnet General Pizarro der Schrift ebenso wenig mächtig ist wie Atahuallpa – er kann das Wort nicht lesen. Die Szene profiliert also einerseits die Funktion der Schrift als Speichermedium von Information und damit als notwendige Bedingung für die Vermittlung des Schicksals von Atahuallpa durch die Erzählerfigur und schließt andererseits mit Pizarro den Hauptverantwortlichen für die Grausamkeit als Analphabet von dieser Kulturleistung aus. Die Figur des Wilden erweist sich in Wassermanns didaktischer Erzählung als Träger einer denkbar schlichten moralischen Botschaft, die gegen eine Akkumulation materieller Reichtümer um jeden Preis argumentiert. Ihr Wirkungspotenzial gewinnt die Figur dabei gerade aus dem Umstand, dass sie in dieser Funktion konträr zu den anti-zivilisatorischen Konnotationen eingesetzt wird, die sich allgemein mit ihr verbinden.
3.2. Gerhart Hauptmann: Der Weiße Heiland Eine vergleichbare Funktion übernimmt der vermeintlich Wilde in der »Dramatischen Phantasie«, die Gerhart Hauptmann 1920 unter dem Titel Der Weiße Heiland publizierte. Wie Wassermann zählte auch der gut zehn Jahre ältere Hauptmann zu den maßgeblichen Repräsentanten der literarischen Kultur in der Weimarer Republik. Bereits 1912 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet, war Hauptmann ebenfalls Mitglied der Sektion für Dichtkunst der Preußischen Akademie der Künste und zeitweise sogar im Gespräch für das
72 Wassermann: Gold, S. 53 f.
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Amt des Reichspräsidenten. Sein Drama Der Weiße Heiland hat, wie Wassermanns Erzählung, die Kolonisation Südamerikas zum Gegenstand, doch widmet sich Hauptmanns Text der Unterwerfung Mexikos durch Cortez’ Truppen in den Jahren 1519–1521. Parallelen bestehen damit nicht nur zu Wassermann, sondern auch zu Eduard Stuckens 1918–1922 in vier Bänden veröffentlichtem Erfolgsroman Die Weißen Götter.73 Hauptmanns Drama schildert in elf Szenen die Konfrontation zwischen spanischen Eroberern und Azteken (die bei Hauptmann Tolteken heißen).74 Cortez und seine Truppen marschieren in die Stadt Temixtitlan ein, nutzen die gutgläubige Gastfreundschaft der Eingeborenen aus, setzen den Azteken-Kaiser Montezuma gefangen und begehen ein grausames Massaker. Dem sich anschließenden Kampf gegen die Eingeborenen entkommen die Spanier nur mit knapper Not, Montezuma hingegen fällt ihm zum Opfer. Hauptmann perspektiviert diese Ereignisse auf ihre Schicksalhaftigkeit hin; die mythologische Dimension dominiert das Drama von Anfang an. Bereits die erste Szene liefert eine messianische Heilserwartung als Hintergrund des aztekischen Glaubens: Der Mythos, den Montezuma offenbar nicht zum ersten Mal von seinem Priester zu hören verlangt (»Sprich mir von dem weißen Gotte, / Priester! Ich will jene Mär / wieder hören! Welche, weißt du.«75), besagt, der Gott der Azteken habe sich nach Installierung seiner Herrschaft in die Sonne zurückgezogen und verheißen, nach 3.000 Jahren zurückzukehren, um sein Volk zu erlösen. Diese Vorgabe bestimmt das Drama in dreierlei Hinsicht. Erstens ist von Belang, dass der Gott weißhäutig ist und seine Rückkehr (immer) unmittelbar bevorsteht: DER PRIESTER Die Zeit sei nah, glauben wir, der Wiederkehr, wo zum andern Mal die Gottheit mit dem Goldhelm niedersteiget, Himmelsfarbe in den Augen, weißen Glanz im heil’gen Antlitz, golden flüssiger Strahl ihr Haar.76
73 Eine direkte Beeinflussung der beiden Texte ist jedoch aus chronologischen Gründen auszuschließen; vgl. dazu Roy C. Cowen: Hauptmann-Kommentar zum dramatischen Werk. München 1980. 74 Zu Hauptmanns Quellen vgl. Eberhard Hilscher: Gerhart Hauptmann: Leben und Werk. Mit bisher unpublizierten Materialien aus dem Manuskriptnachlaß des Dichters. Berlin 21990. 75 Gerhart Hauptmann: Der Weiße Heiland: Dramatische Phantasie. Berlin 1920, S. 9. 76 Hauptmann: Der Weiße Heiland, S. 10.
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Angesichts dieses Gottesbildes ist nicht nur der Unterschied der Hautfarbe als Leitdifferenz des Dramas etabliert – Montezuma empfindet sich und sein eigenes Volk aufgrund der dunklen Haut als »häßlich« und Ekel erregend.77 Die Vorstellung des Sonnengottes sorgt vielmehr dafür, dass Montezuma die spanischen Eindringlinge für Gesandte des Gottes, ihren Anführer Cortez hingegen für den Gott selbst hält.78 Zweitens sind an dem aztekischen Mythos die engen Parallelen zum christlichen Glauben beachtenswert, die im Laufe des Dramas immer weiter ausgebaut, mit anderen Mythen vermengt werden und so der Rückführung des Geschehens auf einen mythischen Urgrund einen universalen Geltungsanspruch verleihen. Trägt bereits die Verheißung von der Rückkehr des Sonnengottes deutlich messianische Züge, so wird insbesondere bei der Zusammenkunft von Gelehrten und Priestern im Tempel des Kriegsgottes ein ganzer Schöpfungsmythos ausführlich erläutert, der ein Paradies, die Vertreibung aus demselben sowie eine Sintflut kennt.79 Die Kombination unterschiedlichster mythologischer Versatzstücke geht so weit, dass Montezuma auch Zuschreibungen, die aus griechischen Sagen vertraut sind, wie etwa Anspielungen auf Ikarus / Phoenix80 und Apollo,81 mühelos in das so entstehende Amalgam einbringen kann. Als strukturelles Moment macht sich das Stück diesen universalen mythischen Urgrund dort zunutze, wo es um die jeweilige Handlungsmotivation geht. Während nämlich die Azteken ihren Heilsbringer erwarten, sind die Eroberer, wie in Wassermanns Text auch, im Zeichen des Kreuzes auf Kriegszug, was auf beiden Seiten Missverständnisse provoziert. Das Verhältnis zwischen den beiden Kulturen und damit das Fortschreiten der Dramenhandlung ist geprägt von gegenseitigem Erstaunen über den Glauben der jeweils Anderen und von der pragmatischen Bereitschaft, kleinere Umdeutungen im Selbst- und Fremdbild vorzunehmen, wo sie nötig werden: PATER OLMEDO Solche Mythen sind sehr seltsam. ALLE Seltsam, seltsam, solche Mythen!
77 Vgl. Hauptmann: Der Weiße Heiland, S. 10 f. 78 Hauptmann ist bemüht, auch die Haarfarbe entsprechend auf die Bühne zu bringen – so heißt es in einer Regieanweisung zur Figur Pedro de Alvarado, dieser sei »siebenundzwanzigjährig, mit langem Blondhaar, wie Milch und Blut, von außerordentlicher Kraft, Kühnheit und Schönheit« (S. 33); und auch Cortez wird als »Weiß von Antlitz, weiß von Locken« (S. 52) beschrieben. 79 Vgl. Hauptmann: Der Weiße Heiland, S. 89 ff. 80 »Mächtig ist der Flug des Kondors. / Und er schraubt sich bis zur Sonne, / taucht hinein und brennt zur Asche« (Hauptmann: Der Weiße Heiland, S. 117). 81 »Hast du nicht selbst zugegeben, / daß sie [die Spanier] Donnerer, Fernhintreffer, / ja auch Fernhinwisser sind?« (Hauptmann: Der Weiße Heiland, S. 53).
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Stephan Dietrich PATER OLMEDO Dieser Heide, dieser Wilde, er erwartet seinen Heiland. nun – und bringen wir ihn nicht? […] Spricht man ihm vom Auferstandnen, denkt er an Fernando Cortez: nun, Fernando Cortez bringt ja den auferstandnen Jesus – groß ist dieser Irrtum nicht.82
Doch nicht nur den Azteken unterlaufen solche Verwechslungen – auf der Gegenseite werden spanische Soldaten von der geplanten Tempelschändung nur dadurch abgehalten, dass sie eine Darstellung von »Cihua-coatl, der mexikanischen Schmerzensmutter«, fälschlicherweise für die Muttergottes halten und darin ein mirakulöses Zeichen für die weltweite Verbreitung des Christentums sehen.83 Drittens aber bestimmt die aztekische Verheißung das Drama aufgrund ihrer unbedingten Gültigkeit. Montezuma lässt sich durch keinerlei Einwände von seinem Glauben an Cortez als göttlichen Wiederkehrer abbringen, verzichtet auf die gebotene Vorsicht den Spaniern gegenüber und deutet infolge seiner Verblendung die Absichten der Eroberer völlig falsch. Wenn er die Warner aus seinem Gefolge als »Toren« bezeichnet, die ein »Irrwahn blind macht«,84 so erkennt er erst bei seiner Gefangensetzung durch Cortez, dass dieser Irrwahn just in der falschen Deutung der Verheißung bestand und ihn selbst geblendet hat. Darin wird Montezuma zur tragischen Hauptfigur des Stückes, deren wiederholt akzentuierte Einsamkeit, deren traumhafte Wahrnehmung der Realität, vor allem aber deren Opfer des eigenen Lebens am Schluss sie zur Postfiguration Christi macht – ein Vergleich, den Montezuma selbst in seiner Klagerede gegen die Spanier bemüht: »Waffenlos, wie dieser Heiland, / liebend kam ich euch entgegen. / […] Doch zum Lohn für Lieb und Glauben / schloß man mich mit Eisenringen«.85 Es lässt sich eine Vielzahl von Verbindungslinien zwischen Wassermanns Erzählung und Hauptmanns Drama ziehen, die weit über die Ähnlichkeiten zwischen den ermordeten Herrschern der autochthonen Reiche hinausgehen. Auch bei Hauptmann sind die Eingeborenen Vertreter einer hochstehenden Kultur,86 die von den Eroberern unter dem Vorwand der Christiani82 83 84 85 86
Hauptmann: Der Weiße Heiland, S. 76. Vgl. Hauptmann: Der Weiße Heiland, S. 104 f. Hauptmann: Der Weiße Heiland, S. 27. Hauptmann: Der Weiße Heiland, S. 149. Vgl. dazu insbesondere die Schilderung der Stadt Temixtitlan durch Pedro de Alvarado (Hauptmann: Der Weiße Heiland, S. 67 ff.).
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sierung, tatsächlich aber aus Goldgier zerstört wird. Ebenso ist bei Hauptmann dieser Reichtum den Eingeborenen höchst gleichgültig.87 Und auch in Hauptmanns Drama werden mit den Wilden letztlich die edleren und aufrichtigeren Charaktere zu Opfern der Zivilisation. Folgerichtig wird, wie im Gold von Caxamalca, so auch im Weißen Heiland unablässig die Frage nach dem Wechselverhältnis von Wildheit und Zivilisiertheit thematisiert. So äußert Cortez beim Einmarsch in die Stadt: »Nennst du diese Leute wild? / Welch ein Glanz und welch ein Reichtum!«;88 auf der anderen Seite begründet Montezumas Sohn seine Verweigerungshaltung gegenüber den spanischen Befehlen mit der Aussage, er wolle sich nicht so weit erniedrigen, »die Gebote dieser Wilden / zu erfüllen«.89 Im Hinblick auf die beiden untersuchten Texte stellt sich die Frage, warum hier erstens der Wilde in historischem Gewand vorgeführt wird und warum zweitens die Tragik und Schicksalhaftigkeit des Geschehens im Mittelpunkt stehen. Zur zweiten Frage ist zu bemerken, dass hierfür sicher auch Erwägungen der Handlungsführung und des Plottings verantwortlich sind, dass vor allem aber die Intention der Texte dahin geht, die Unterworfenen als Opfer darzustellen. Dennoch ist Riesz zuzustimmen,90 wenn er kritisch bemerkt, dass Termini wie ›tragisch‹ oder ›schicksalhaft‹ im Zusammenhang mit der Darstellung kolonialistischer Vorgänge selbst entgegen der Absicht der Sprechenden eine entschärfende Wirkung hätten. Zur ersten Frage ist zu beachten, dass die Popularität des historischen Sujets auf der Beschäftigung mit neu edierten Quellen beruhen mag (Hauptmanns Lektüre der 1907 in deutscher Sprache erschienenen Berichte von Cortez an Karl V. ist belegt91). Darüber hinaus aber reflektieren Wassermann und Hauptmann in ihren Texten das Bewusstsein einer kulturellen Konfrontation zwischen Wildheit und Zivilisation, die im Europa dieser Zeit erstmals zu einer weithin sichtbaren Realität geworden war, in historischer Perspektive und vergegenwärtigen ihre Wurzeln im Medium jener Europäer, die zum ersten Mal mit Wilden konfrontiert waren. Es geht also um den Entwurf von Urszenen einer Gegenwartserfahrung, der durchaus von einem moralischen Impetus getragen wird. Auffällig ist dabei in beiden Fällen der dezidierte Anti-Avantgardismus: Auf die Wilden zu setzen bedeutete für die Avantgarde, wie bei Einstein
87 88 89 90
Vgl. Hauptmann: Der Weiße Heiland, S. 79. Hauptmann: Der Weiße Heiland, S. 58. Hauptmann: Der Weiße Heiland, S. 178. Vgl. Jánosz Riesz: Zehn Thesen zum Verhältnis von Kolonialismus und Literatur, in: Bader, Riesz: Literatur und Kolonialismus, S. 9–26, hier S. 16 f. 91 Vgl. Friedhelm Marx: Gerhart Hauptmann. Stuttgart 1998, S. 186.
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gesehen, noch die Entscheidung für Ursprünglichkeit und gegen die Geschichte. Der Rekurs auf die historische Dimension des Primitivismus korreliert hingegen mit der Popularisierung des Diskurses und zugleich mit der schwindenden Aktualität avantgardistischer Positionen. Die entschiedene Abkehr von der emphatischen Moderne zeigt sich bei Hauptmann etwa in Form der strikt durchgängigen 4-hebigen Trochäen, die dem Drama »eine gewisse Monotonie«92 verleihen und einen Klassizismus in Szene setzen, in dessen Folge Montezuma in Schiller’scher Manier als eine Art aztekischer Wallenstein auftritt: MONTEZUMA […] Doch nun laß uns schweigen, denn des Geschickes Ratschluß steht unabwendbar in den Sternen. GUATEMOZIN Welcher Ratschluß? MONTEZUMA Frag nicht weiter!93
Die Wilden Hauptmanns und Wassermanns sind Edelleute in entfernten Gegenden, die als Träger des moralischen Gewissens und der christlichen Sendung ihrer Texte fungieren; für beide Texte gilt, was Alfred Kerr über Hauptmann anlässlich des Weißen Heilands bemerkt hat: »Sein Wilder ist Christ; seine Christen sind Wilde.«94
3.3. Claire Goll: Der Neger Jupiter raubt Europa Wie kein anderer deutschsprachiger literarischer Text der 20er Jahre versammelt Claire Golls 1926 erschienener Debütroman die Elemente des popularisierten Primitivismus-Diskurses in Europa. Im Gegensatz zu den oben verhandelten Aktualisierungen historischer Stoffe handelt es sich um einen dezidierten Zeitroman: Golls Der Neger Jupiter raubt Europa spielt weder in vergangenen Jahrhunderten noch fernab der Zivilisation, sondern entwirft ein Panorama des Wilden in den europäischen Metropolen der 20er Jahre – der Text befindet sich gewissermaßen auf dem Höhepunkt der Wilden-Mode in Europa. Der aus Französisch-Guinea stammende Jupiter Djilbuti hat es in Paris bis zum Kabinettchef im Kolonialministerium gebracht. Er lernt die junge Schwedin Alma Valery kennen, die beiden verlieben sich ineinander
92 Marx: Gerhart Hauptmann, S. 190. 93 Hauptmann: Der Weiße Heiland, S. 183. 94 Alfred Kerr: Kritischer Vorklang, in: Die Neue Rundschau 31 (1920), S. 1081–1088, hier S. 1086.
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und heiraten. Die Beziehung lebt anfänglich vom Reiz der Gegensätzlichkeit. Die Anziehung aber schlägt schnell in Kälte und schließlich blanken Hass um, der auf Almas Seite von den Demütigungen durch die Gesellschaft und von den fremden Gewohnheiten ihres Mannes genährt wird, auf Jupiters Seite von Besitzgier und Eifersucht. Auch ein gemeinsames Kind kann die Beziehung nicht retten – Alma verliebt sich schließlich in einen anderen (weißen) Mann, der betrogene Jupiter rächt sich durch den Mord an seiner Frau. Golls Roman setzt das modische Interesse am Wilden und Primitiven in Europa voraus. Das wesentliche Verdienst des Textes besteht darin, nahezu alle signifikanten Aspekte des zeitgenössischen Diskurses zu bündeln und sämtliche Zuschreibungen und Redeweisen, die er ausgebildet hat, zu dokumentieren. Man könnte in dieser Hinsicht von Der Neger Jupiter als einem Archivroman des Primitivismus-Diskurses der 20er Jahre sprechen. Bereits auf den ersten Seiten werden die gängigsten Diskurspartikel ausgebreitet:95 Der Wilde inmitten der zivilisierten Gesellschaft stellt sich für die europäische Wahrnehmung als durch seine Hautfarbe besonders auffällig markiert dar; als Fetisch oder Maske; als musikalisch und tanzbegeistert. Erwähnung finden ferner die angebliche Ununterscheidbarkeit der Schwarzen im Hinblick auf ihr Aussehen sowie die Differenzen bzw. Übereinstimmungen zwischen Jupiters (im Rahmen der Fiktion) realer Erscheinung und der für die Europäer weitaus besser vertrauten Vermittlung des Wilden als Jahrmarktsattraktion oder Gegenstand ethnographischer Dokumentarfilme im Kino.96 Während Goll so einerseits den primitivistischen Diskurs aus europäischer Perspektive umfassend in ihren Text einarbeitet, schafft sie andererseits ein Gegengewicht, indem sie in die Narration auch die Perspektive Jupiters selbst einzuspeisen versucht. Wiederholt geht der Erzähler auf die Leiden des schwarzen Außenseiters in Paris ein und beschreibt die Wirkung der Schmähungen und Demütigungen, die Jupiter zu ertragen hat: etwa sein Bedürfnis, durch Beeinflussung der Raumbeleuchtung und die Auswahl seiner Kleidung die Wirkung seiner Hautfarbe abzuschwächen, die panische Angst vor Beschimpfungen wie »Schmutziger Neger«97 oder vor den verletzenden Kommentaren der Umstehenden, wenn er sich mit seiner Frau in der Öffent-
95 Zu einer Rekonstruktion der zeitgenössischen Bezüge vgl. Joachim Schultz: Das Afrika- und ›Neger‹-Bild in den Werken von Claire und Ivan Goll, in: Roger Bauer, Douwe Fokkema (Hg.): Space and boundaries in literature. München 1990, S. 341–348; zum Bewusstsein des Textes, sich einem Modethema zu widmen, vgl. Claire Goll: Der Neger Jupiter raubt Europa: Roman [1926]. Berlin 1987, S. 66. 96 Vgl. Goll: Der Neger Jupiter, S. 7–15. 97 Goll: Der Neger Jupiter, S. 77.
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lichkeit zeigt.98 Gegen Ende des Romans erfährt Jupiter dergleichen Diskriminierungen selbst von Seiten Almas. Um ihn zu demütigen, besucht sie mit ihm einen Jahrmarkt, auf dem in einer Bude die Attraktionsveranstaltung »Negro Down« präsentiert wird: Zwei riesige Neger saßen nackt, nur mit einer Badehose und einer Gummimütze bekleidet, auf zwei Sprungbrettern, in einem Käfig der über einem mit schmutzigem Wasser gefüllten Bassin angebracht war. Die Sprungbretter standen rechts und links in Verbindung mit einem Knopf, den man aus einem gewissen Abstand mit Holzbällen zu bewerfen hatte. Traf man, so senkte sich das Brett mechanisch und warf einen der Neger ins Wasser.99
In dieser makabren Unterhaltungsform kristallisiert sich das rassistische Vergnügen der Europäer an den Wilden. Jupiter – gezwungen, seine Frau »mit Leidenschaft an dem lebenden Massacrespiel teilnehmen« zu sehen – ist selbst die Zielscheibe der Würfe: »Sie warf nach Jupiter. Und sie traf ihn mitten ins Herz.«100 Ein weiterer Aspekt der Darstellung der psychologischen Situation des Schwarzen in Europa ist die wiederholte Akzentuierung von Jupiters verzweifelten Assimilierungsversuchen. Er ist bemüht, sich in Kleidung, Aussehen und Verhalten den Europäern anzupassen, durchaus mit dem Ehrgeiz, »zu den mondänen Erscheinungen gezählt zu werden«.101 Er eignet sich die europäische Kultur an und unterdrückt seine eigene Individualität so weit wie möglich, was sich u. a. in seinem ubiquitären Einsatz von geflügelten Worten aus der europäischen Geistesgeschichte manifestiert: Zu jeder Gelegenheit hat er »das nötige Zitat aus einer pedantisch geordneten Vorratskammer«102 parat; die »Zitierwut« wird geradezu als sein »Steckenpferd« bezeichnet.103 Dadurch wird ein eigentümliches Wechselverhältnis diskursiver Fremdzuschreibungen etabliert: Denn während sich einerseits der Primitive in Gestalt Jupiters die europäische Kultur als Arsenal von Klassiker-Zitaten aneignet, ist er andererseits – als literarische Figur – selbst ein Zitat, eine Aktualisierung aus einem Archiv kultureller Fremdbilder, auf das der Roman z. B. durch den Hinweis auf Jahrmärkte, Boxkämpfe, Kinofilme oder Jazz-Veranstaltungen rekurriert.104 98 99 100 101 102 103 104
Vgl. Goll: Der Neger Jupiter, S. 87–93. Goll: Der Neger Jupiter, S. 121. Goll: Der Neger Jupiter, S. 122. Goll: Der Neger Jupiter, S. 30. Goll: Der Neger Jupiter, S. 31. Goll: Der Neger Jupiter, S. 21. Vgl. zu diesem Aspekt der Zitathaftigkeit des Primitiven mit Bezug auf die bildende Kunst Hans-Jürgen Heinrichs: Fenster zur Welt: Positionen der Moderne. Frankfurt a. M. 1989, S. 188.
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Der psychologisierende Zugriff des Textes auf seine Hauptfigur legt die Vermutung nahe, Der Neger Jupiter greife korrigierend in die europäischen Vorstellungen vom Wilden ein, indem mit der Individualisierung eines Wilden qua Schilderung seiner Psyche gegen haltlose Stereotypen angeschrieben wird. Man könnte dies als literarische Umsetzung des ethnologischen Verfahrens der teilnehmenden Beobachtung bezeichnen. Eigenartigerweise aber sprechen die Textbefunde eine andere Sprache: Entgegen dieser Vermutung nämlich ist nicht nur die Figurenrede, sondern auch diejenige des Erzählers durch den massiven Einsatz obsoleter Klischees gekennzeichnet. So bedient sich der Erzähler in der Beschreibung Jupiters wiederholt der aus dem zeitgenössischen Diskurs bekannten Analogien und vergleicht dessen Verhalten mit demjenigen von Kindern, Tieren oder Juden.105 Darüber hinaus kommentiert er das Denken und Handeln der Titelfigur in generalisierender Weise mit klischierten Versatzstücken aus dem eurozentristischen Primitivismus-Diskurs: Wo Jupiter nicht die Wahrheit spricht, heißt es »Die Phantasie des Negers verleitet ihn zur Lüge«;106 wo er versucht, Alma zu imponieren, ist von der »kindische[n] primitive[n] Eitelkeit des Negers« die Rede;107 wo er Ereignisse symbolisch deutet, vom »primitivsten Aberglauben« der Schwarzen.108 So steht dem Bemühen um Individualisierung der Figur Jupiters immer wieder ihre forcierte Typisierung, ja ihre Stilisierung zum Prototypen des Wilden entgegen. Nicht nur die Figuren des Romans, sondern auch der heterodiegetische Erzähler bedient sich pauschaler Vorurteile. Es ist wichtig zu beachten, dass es sich bei den genannten Beispielen nicht nur um Erzählerkommentare aus der Außenperspektive handelt. Der Erzähler verfügt zwar einerseits konsequent über den primitivistischen Diskurs und verwaltet dessen Partikel auktorial. Andererseits aber hat er zugleich eine gleitende Funktion und ist durchaus auch mit personalen Eigenschaften ausgestattet. Und bezeichnenderweise wird Jupiters Innenperspektive mit genau den gleichen – von heute her muss man wohl sagen: rassistischen – Typisierungen dargestellt, wie sie von den überheblichen Romanfiguren geäußert werden. Wenn Jupiter sich z. B. bei seiner Hochzeit mit Alma in einer katholischen Kirche wiederfindet, heißt es zur Frage seiner Religion: War er ein Heide? Hatte er nicht die Religion gewechselt, so oft man es von ihm verlangt hatte? Er war zuerst Muselmann gewesen, wie die meisten seines Stam-
105 106 107 108
Vgl. z. B. Goll: Der Neger Jupiter, S. 17, 26, 30 et passim. Goll: Der Neger Jupiter, S. 24. Goll: Der Neger Jupiter, S. 19. Goll: Der Neger Jupiter, S. 14.
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Damit besteht das wichtigste Deutungsproblem von Golls Roman in der Frage, wie der Stellenwert dieser Erzähler-Entgleisungen einzuschätzen ist. Natürlich geht es in der oben zitierten Passage und zahlreichen ähnlichen auch darum, die Phantasielosigkeit der europäischen Kultur bloßzustellen; diese Beobachtung jedoch lässt den Widerspruch zwischen angestrebter Individualisierung auf der einen und klischeehafter Typisierung auf der anderen Seite unangetastet. Die vorliegenden Analysen des Textes vermögen in dieser Hinsicht nicht recht zu überzeugen, denn weder wird man sich vorbehaltlos der These anschließen können, im Roman werde die »Fadenscheinigkeit und Unhaltbarkeit der Klischees entlarvt«,110 noch handelt es sich gar um die »Warnung vor einer Eroberung Europas, d. h. der Zivilisation durch die Wildnis aufgrund einer gefährlichen Neugierde, die das Primitive im Zivilisierten wachrütteln könnte«.111 Auch Strucks Bemerkung, der Roman sei nicht viel mehr als ein Beispiel dafür, wie sich »die Suche nach einem authentischen Afrika im Dschungel der Mode verliert«,112 greift zu kurz, denn Golls Text setzt diese Mode ja bereits voraus und verfügt offensichtlich über sie. All dies läuft auf die methodisch heikle Frage nach der Intention des Romans hinaus. Freilich muss der Stellenwert biographistischer Argumente stets höchst suspekt bleiben – dennoch: Vermag man sich bei allem, was über Claire und Iwan Golls Begeisterung für afrikanische Kunst bekannt ist, bei ihren Bemühungen, sie in Europa zugänglich zu machen, Texte zu übersetzen, Anthologien herauszugeben etc., vorzustellen, dass hier eine Diskreditierung des exotischen Primitiven ernsthaft intendiert ist? Wohl kaum. Da jedoch die Erzählerfigur an keiner Stelle des Romans eine Distanzierung durch eine übergeordnete narrative Instanz erfährt und Jupiter zudem im Rahmen der erzählerischen Leserlenkung nie zum wirklichen Sympathieträger avanciert, verbleibt der Roman letztlich in einer ambivalenten Schwebe. Die einzig plausible These zu deren Auflösung lautet, dass er einen Beleg für die 109 Goll: Der Neger Jupiter, S. 44 f. 110 Rita Mielke: Nachwort, in: Goll: Der Neger Jupiter, S. 147–152, hier S. 151. 111 Simo: Die gefährliche Faszination der Wildnis: Zu Claire Golls Roman Der Neger Jupiter raubt Europa, in: Acta Germanica 25 (1997), S. 207–218, hier S. 217. 112 Struck: Allegorische Musealisierung, S. 267.
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Übermacht des Populärdiskurses der Zeit darstellt – eine Übermacht, die selbst noch einem in bester Absicht individualisierenden Text generalisierende Stereotypen einschreibt. Es bleibt festzuhalten, dass eine große Zahl von Elementen aus dem zeitgenössischen Diskurs in Golls Roman aufgegriffen und spezifisch transformiert wird. Als Beispiel für die Funktionsweise dieses Austauschprozesses zwischen Diskurs und literarischem Text kann eine Arbeit dienen, die der Archäologe Otto Hauser 1921 unter dem Titel Urmensch und Wilder. Eine Parallele aus Urwelttagen und Gegenwart veröffentlicht hat. Der Text präsentiert spekulative Belege für die These, anhand der aktuell noch beobachtbaren primitiven Völker lasse sich der prähistorische Urzustand der Menschheit rekonstruieren. Das Buch ist für die literarische Verarbeitung des Diskurses in mancherlei Hinsicht erhellend – so auch für Golls Text und insbesondere für dessen Titel, wenn Hauser im Kapitel über den Familienbegriff schreibt: »Jüngere Männer vermögen sich bei den Australiern und bei manch anderen, noch auf gleicher tiefer Kulturentwicklungsstufe stehenden Naturvölkern ein Weib nur durch Raub zu verschaffen, durch Raub, dessen Folge meist erbitterte Kämpfe sind.«113 Goll vermischt diese und ähnliche Urvölker-Mythen mit Versatzstücken aus der griechischen Mythologie (Jupiters/Zeus’ Raub der Europa), aber auch aus der europäischen Literatur, wie der wiederholte und im Rahmen der Eifersuchtshandlung nahe liegende Rekurs auf Shakespeares Othello zeigt. In dieser synkretistischen Kombination und in seiner diskursarchivierenden Funktion erweist der Roman seine Spezifik. Seine repräsentative Signifikanz aber liegt darin begründet, dass er die Situation des Primitiven in der europäischen Großstadt der 20er Jahre in den Mittelpunkt stellt: Domestiziert und zur vermeintlichen Selbstverständlichkeit geworden, ist er in seiner gescheiterten Assimilierung der sichtbare Beleg für eine europäische Wahrnehmung des Fremden, die ihn sich als Unter-haltungsobjekt – »Negro Down«! – dienstbar macht, im Wesentlichen jedoch nach den gleichen Mustern verfährt, die bereits die Entdeckungsreisenden der frühen Neuzeit herausgebildet hatten.
4. Summa Die massive Präsenz des Primitiven in den Medien der 20er und frühen 30er Jahre bleibt auch für die Literatur nicht folgenlos. Der von der Avantgarde 113 Otto Hauser: Urmensch und Wilder: Eine Parallele aus Urwelttagen und Gegenwart. Berlin 1921, S. 140.
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geführte Primitivismus-Diskurs erfährt dabei eine Simplifizierung und Popularisierung, deren Auswirkungen sich wie folgt zusammenfassen lassen: Wo Wildheit von der Avantgarde als Text präsentiert wurde, wird sie nunmehr bevorzugt im Text repräsentiert. Die Variationsbreite reicht von Aktualisierungen historischer Stoffe, die die Wilden als christliche Edelleute erscheinen lassen, bis zur begeisterten oder kritischen Darstellung des Primitiven und seiner Kultur in der Gegenwart der europäischen Großstädte. In der Summe sind die Texte dadurch gekennzeichnet, dass der Wilde nicht länger – wie noch in den 10er Jahren – aufgrund seiner Fremdheit für neue Zuschreibungen fruchtbar gemacht wird; vielmehr bedient sich nun auch die Literatur der gängigen populären Stereotypen. Verantwortlich dafür ist nicht zuletzt der didaktische und auf die Vermittlung von Aussagen zielende Impetus der Texte. Der Wilde erscheint in der Mehrzahl der Fälle als Träger einer (kultur-)kritischen Botschaft und ist als solcher mit Eigenschaften ausgestattet, die die Texte aus den übrigen am Diskurs beteiligten Medien gewinnen. Damit hat sich die Literatur in ein Konkurrenzverhältnis zu diesen Medien begeben, zu denen insbesondere die Unterhaltungskultur zu zählen ist, aber auch Wissenschaften wie Ethnographie, Volkskunde etc. oder die Photographie.114 Ethnographische Wissenschaften und Photographie jedoch verfolgen mimetische Ziele, d. h. sie dienen im Primitivismus – zumindest dem ersten Anschein nach – dem Zweck, den Wilden so zu zeigen, wie er mutmaßlich ist. Sie sind demnach gehalten, in ihren Konstruktionen des Primitiven eine Objektivität vorzutäuschen, die sie just aufgrund der evidenten Konstruiertheit ihrer Begriffe und Bilder nicht erreichen können – sie müssen also, um glaubwürdig zu sein, ihre Konstruktionen verleugnen.115 Demgegenüber besteht der potenzielle Vorteil der Literatur darin, das Fiktive ihrer Konstruktionen offen legen und reflektieren zu können. Ihr kreatives Potenzial liegt darin begründet, dass sie sich von der Illusion, den Primitiven illusionsfrei einfangen zu können, verabschieden darf. Stattdessen könnte sie ihn in einem produktiven Modus des Fiktiven präsentieren. Da indes die Literatur des Primitivismus in den 20er Jahren auf diesen Vorteil zugunsten der Vermittlung von Botschaften verzichtet, begibt sie sich in Legitimierungsnö-
114 Vgl. u. a. Brian V. Street: The savage in literature: Representations of ›primitive‹ society in English fiction 1858–1920. London, Boston 1975. 115 Vgl. dazu in Bezug auf die Photographie Thomas Theye: Optische Trophäen: Vom Holzschnitt zum Foto-Album: Eine Bildgeschichte der Wilden, in: Thomas Theye (Hg.): Wir und die Wilden: Einblicke in eine kannibalische Beziehung. Reinbek bei Hamburg 1985, S. 18–95; Michael Wiener: Ikonographie des Wilden: Menschen-Bilder in Ethnographie und Photographie zwischen 1850 und 1918. München 1990.
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te, denn sie hat nun nicht viel mehr zum Diskurs beizutragen als die Perpetuierung von bereits in anderen Medien festgeschriebenen Formationen. Für das Gesamtbild kommt erschwerend hinzu, dass selbst in der Literatur nicht die behandelten Dramen und Romane kanonisierter Autorinnen und Autoren dominant sind, sondern der Wilde vorwiegend Gegenstand von viel gelesener Unterhaltungsliteratur ist. Die zahllosen Texte dieser Sparte gehören im Wesentlichen zur Literatur des Kolonialismus (ein Zusammenhang, der hier ausgespart werden musste).116 Überhaupt liegt in dem Verweis auf die koloniale Unterhaltungsliteratur nur ein Indiz dafür vor, wie breit das Spektrum der primitivistischen Roman- und Dramenliteratur der 20er Jahre noch über den hier verhandelten Kontext hinausgeht. Zu diesem Spektrum zählt beispielsweise nicht nur der zu zweifelhaftem Ruhm gelangte Roman Volk ohne Raum (1926) von Hans Grimm, sondern auch – um einige Linien wenigstens abschließend anzudeuten – der dem gleichen politischen Lager wie Grimm zuzuordnende Hans Friedrich Blunck, der 1938 im ersten Teil seiner Urvätersaga unter dem Titel Börr der Jäger mit der Erzählung von Urzeit-Abenteuern eine diachrone Wildheit inszenierte, um einen nordischen Heldenmythos zu stiften. Ferner zählen dazu auch vergessene literarhistorische Kuriositäten, wie etwa das 1933 erschienene Drama Der Wilde des Wiener Schriftstellers Richard von Wiesenau, das einen in der Wildnis verschollen geglaubten und zum Wilden gewordenen verlorenen Sohn in die eigene Familie zurückführt und den Diskurs aus populärmedizinischer Perspektive beleuchtet. Der erwähnte Legitimierungsdruck gegenüber den Populärwissenschaften wird in einem Vorwort manifest, in dem ein »Dr. W. Vycichl« »die in dem Stück verwendete Negersprache«, deren sich der Rückkehrer zunächst bedient, mit linguistischen Argumenten absichert.117 Hier wie in den ausführlicher behandelten Beispielen zeigt sich, dass die forcierte Instrumentalisierung des Primitiven als Vehikel von Botschaften (Wassermann, Hauptmann) seine Spezifik und damit auch die Selektion des Motivs zweifelhaft erscheinen lassen, agieren doch diese Wilden wie Idealfiguren im Einklang mit den europäischen Werten ihrer Autoren, so dass sich die Frage stellt, welcher Wert der Fremdheitserfahrung überhaupt zukommt, mit der
116 Vgl. zur Orientierung Thomas Bleicher: Das Abenteuer Afrika – zum deutschen Unterhaltungsroman zwischen den Weltkriegen, in: Bader, Riesz: Literatur und Kolonialismus, S. 251–290; für den französischen Sprachraum Joachim Schultz: Der französische Kolonialroman in der Konzeption von Marius-Ary Leblond: Einflüsse – Manifeste – Beispiele: 1900–1930, in: Bader, Riesz: Literatur und Kolonialismus, S. 199–231. 117 Richard von Wiesenau: Der Wilde: Schauspiel in drei Akten. Wien 1933, S. 4.
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hier operiert wird. »Allein«, und das wusste schon Montaigne, »was? Sie tragen keine Hosen«.118
118 Michel de Montaigne: Von den Cannibalen, in: Ders.: Essais [1580]. Übersetzt von Johann Daniel Tietz [1753 f.]. Zürich 1992, Bd. 1, S. 362–387, hier S. 387.
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›Nur ein Druck auf den Knopf‹. Zur Genese einer Denkfigur im ästhetischen Diskurs des frühen 20. Jahrhunderts Die Floskel ›auf Knopfdruck‹ ist eine, die heutzutage fast inflationär gebraucht wird, wenn es darum geht, einem Verfahren Eigenschaften zuzusprechen wie ›Effizienz‹, ›Schnelligkeit‹, ›Einfachheit in der Bedienung/Anwendung‹, wenn Verfahren als unaufwendig, ohne Anstrengung, ohne Zeitverlust, ohne lange Wege und ohne nötigen Sachverstand und Eigenleistung zu bewerkstelligen gesetzt werden. Davon kann man sich überzeugen, recherchiert man im Internet oder im Bibliotheksverbund: Mit der Suchmaschine finden sich Einträge wie »Einkaufserlebnis auf Knopfdruck«, »Spaß per Knopfdruck – mit der Intel PC -Kamera« oder auch »Kreativität auf Knopfdruck«; der Suchbegriff führt zu Werken wie »Per Knopfdruck an die Börse: Aktiengeschäfte mit PC , Fax und Telefon« oder »Sales man plus. Verkaufserfolge auf Knopfdruck«.1 Diese Funde verweisen sowohl auf die implizierte Qualität einer generell positiven Vorstellungsdimension als sie auch zumeist die Herkunft und reale Grundlage, auf der diese Versprechungen basieren, verdeutlichen: Computertechnik. Um diese Redeweise geht es nun nicht, zumindest nicht primär. Es geht stattdessen um denjenigen Vorstellungshorizont, der, wie ich meine, bis Ende der 80er Jahre das kulturelle Bewusstsein geprägt hat, wenn vom ›Druck auf den Knopf‹ die Rede war; eine Vorstellungsdimension, die von der heutigen vollständig verdrängt und überlagert zu sein scheint. Dokumentiert ist sie etwa im Titelbild der Zeitschrift Titanic vom Oktober 1986.
1 Die Beispiele sind mittlerweile Legion. Die Bahn wirbt mit »Fahrkarte auf Knopfdruck«, in den Kieler Nachrichten vom 31.8.02 ist von »Orgasmen auf Knopfdruck« zu lesen, die Passauer Neue Presse betitelt einen Bericht über den Malteser Hilfsdienst mit »Rettung auf Knopfdruck« (20.4.02).
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Gemeint ist also die Vorstellung einer staatlich-institutionell organisierten Massenvernichtung, einer Weltveränderung durch militärische Zerstörung, dimensioniert als Katastrophe globalen Ausmaßes, verankert in technisch bedingten Weltuntergangsszenarien, das Bild kollektiver Ängste existenziellen Ausmaßes. Diese Koppelung von Knopfdruck und Vernichtungsmaschinerie dominiert als Denkfigur2 und universelles Bild den kulturellen Diskurs bis in die späten 80er Jahre – und sie ist als diese kollektive Semantik seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts etabliert.3 Bereits Romane unmittelbar nach 1945 2 Der Begriff ›Denkfigur‹ wird in Anlehnung an Carl Wege: Buchstabe und Maschine. Beschreibung einer Allianz. Frankfurt a. M. 2000, verwendet. Als Denkfigur bezeichnet werden solche Konstellationen, in denen Wissen aus einem Spezialbereich, hier der Technik, ins Allgemeinwissen eingehen; zu beschreiben versucht wird also ein Element der ›Welt der Technik-Vorstellungen‹, die sich von der Welt der technischen Artefakte ›emanzipiert‹; vgl. zu dieser Konzeption Harro Segeberg: Literarische Technik-Bilder. Studien zum Verhältnis von Technik- und Literaturgeschichte im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Tübingen 1987. Zu den Begriffen ›Wissen‹ und ›Diskurs‹ im hier gebrauchten Verwendungskontext vgl. allgemein Michael Titzmann: Kulturelles Wissen – Diskurs – Denksystem. Zu einigen Grundbegriffen der Literaturgeschichtsschreibung, in: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 94 (1989), S. 47–61. 3 Wenngleich es freilich daneben auch den Knopfdruck als Vorläufer der heutigen Verwendung gibt. Diese Verwendung ist aber kulturell/kollektiv/symbolisch vom Knopfdruck als Bild von Vernichtung überlagert und nur sporadisch in Spezialdis-
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beziehen sich auf dieses Bild als Veranschaulichung, verwenden es in der Argumentation und zeigen so, dass die Auslösung einer als global gedachten Katastrophe4 mit dem Knopfdruck in Verbindung gebracht ist und dieser als diese Denkfigur ohne Erläuterungs- oder Erklärungsbedarf fertig zur Verfügung steht. Als Beispiele mögen Ernst von Khuons Helium von 1949 oder Freder van Holks Die Erde brennt von 1951 dienen. In diesen Weltuntergangsfiktionen ist der Knopfdruck im obigen Sinne bereits in der Argumentation eingebürgert, sei es als Statement: Der moderne Mensch ist mündig. Sagen wir ihm doch die Wahrheit, die da lautet: Du stehst auf einer Insel von Schießbaumwolle. Ein Druck auf den Knopf, und diese Insel mit allem, was auf ihr lebt, ist gewesen, zerblasen zu einer Gaswolke, einem Glutnebel im Weltenraum.5
oder als narrative Inszenierung: Professor Davertshoven will eine Katastrophe herbeiführen. Mesonsk ist offenbar startbereit. Ein Druck auf einen Knopf, und in absehbarer Zeit ist auch das letzte atmende Geschöpf zerstäubt. Das dürfen wir als Tatsache nehmen. Wir haben diesen Knopfdruck zu verhindern.6
Das eingangs skizzierte Merkmalsbündel für die Verwendung als positive Redeweise, wie sie heute vorherrscht und wie sie sich werbewirksam nutzen und dem Produkt als Zusatznutzen inkorporieren lässt, ist inhaltlich dabei erstaunlicherweise durchaus das Gleiche, auch wenn dieses eine radikale Umbewertung erfahren hat. Fehlender Sachverstand etwa ist nun nicht mehr ein problematischer Faktor, sondern kann gerade durch den Knopfdruck ausgeglichen werden.
kursen und Spezialdisziplinen, also in Nischen, zu finden. So preist etwa die von der Hauptberatungsstelle für Elektrizitätsanwendung herausgegebene Broschüre: Drinnen und Draußen. Informationen für die Landwirtschaft, 3/1972, Knopfdruck-Verfahren bei der Schweinemast an. Edward de Bono: Die 4 richtigen und die 5 falschen Denkmethoden. München 1991, sieht im Knopfdrücken allgemein ein historisch zentrales Prinzip, das dem elektrisch-elektronischen Zeitalter geschuldet ist: »Der Übergang von der Ursache-Wirkung-Sehweise zur Knopfdruck-Sehweise könnte sehr wohl die wichtigste kulturelle Veränderung im Denken seit vielen hundert Jahren gewesen sein« (S. 48). 4 Oder einer, die sich zu einer solchen globalen ausweiten kann. Vgl. zu diesem Kontext allgemein Hans Krah: Die Narration vom Ende. Weltuntergangsszenarien in Literatur und Film ab 1945. Habil.-Masch. Kiel 2000. 5 Ernst von Khuon: Helium. München 1949, S. 63, Hervorhebung H. K. 6 Freder van Holk: Die Erde brennt. Berlin-Grunewald 1951, S. 126, Hervorhebung H. K.
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I. Technisches Substrat dieser Vorstellung ist allerdings der Klingelknopf,7 der, wie der umfangreiche Eintrag »Läutwerke, elektrische« in Meyers Konversationslexikon von 1889 zeigt, explizit mit dem Druck auf den Knopf verbunden ist.8 Dagegen ist etwa in M. Burstyns (ein »k. und k. Marine-ElektroOberingenieur«) Elektrotechnischer Unterricht und Anleitung zum Betriebe elektrischer Anlagen insbesondere auf Kriegsschiffen. Lehrbuch für Unterofficiere, Pola 1892, im Kapitel »Elektrische Zündung« (S. 105) nichts von Knöpfen zu lesen; hier sind es »Abfeuerungstaster« (S. 107, Hervorhebung H. K.), die es zu drücken gilt. Der Knopf ist zunächst also einer Technik zugehörig, die harmlos und friedlich einerseits, unscheinbar, alltäglich, normal andererseits ist. Und als solcher ist er auch nicht von besonderem ästhetischen Interesse. So erscheint ein Druck auf den Knopf in Texten der 20er Jahre, die explizit technische Utopien verhandeln, etwa im Gebiet der Raumfahrt, dementsprechend nur marginal, ohne Zusammenhang mit der jeweils vorgestellten exzeptionellen technischen Innovation und genau in dem privat-alltäglichen, individuellen Kontext, in den er bei Meyer situiert ist. Einige Beispiele: In Otto Willi Gails Der Schuss ins All von 1925, in dem es um die Vorstellung der Raumfahrt auf den Grundlagen von Oberths Rückstoßprinzip geht,9 wird der Knopf ein 7 Der Knopf als technisches Detail dürfte überhaupt erst in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts in den Texten zu beobachten sein. In den Technikbildern der Romantik, etwa E. T.A. Hoffmanns, scheint er vollständig zu fehlen. In Grabbes Hannibal von 1836 wird etwa auf eine Springfeder gedrückt, wenn sich die Räume verändern und Falltüren u.Ä. zum Vorschein kommen sollen. 8 Meyers Konversations-Lexikon. Eine Enzyklopädie des allgemeinen Wissens. 4. Aufl. Leipzig 1889, S. 572–576. Es handelt sich um einen fünf Spalten umfassenden, mit etlichen Schemata versehenen, Informationsüberfluss bietenden Artikel. Unter Fig. 6 heißt es: »Ein Gehäuse T von Holz oder Porzellan enthält in seinem Inneren, auf einer isolierenden Grundplatte befestigt, zwei federnde Metallstücke p und g, welche mit den Zuleitungsdrähten a und c in Verbindung stehen und durch einen Druck auf den Knopf p' miteinander in Berührung gebracht werden können« (S. 574). 9 Zitiert nach: Otto Willi Gail: Der Schuss ins All. München 1979. Hermann Oberth hatte 1923 mit seiner Schrift Die Rakete zu den Planetenräumen das Rückstoßprinzip wiederentdeckt, die Möglichkeit der Fortbewegung im luftleeren Raum bewiesen und damit die Vorstellung der Raumfahrt aus einem utopischen Bereich in den des technisch Realisierbaren verschoben. Vgl. dazu Hans Krah: ›Der Weg zu den Planetenräumen‹. Die Vorstellung der Raumfahrt in Theorie und Literatur der Frühen Moderne, in: Christine Maillard, Michael Titzmann (Hg.): Literatur und Wissenschaften 1890–1930. Stuttgart 2002, S. 111–164.
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einziges Mal erwähnt, wenn Geheimrat Heyse in seinem Privatbüro eben »auf den Knopf der elektrischen Klingel« (S. 23) drückt; in Bruno H. Bürgels Der Stern von Afrika von 1920, ebenfalls eine Raumfahrtfiktion, wird der Knopf in der zukünftigen Welt des Jahres 3000 wiederum nur einmal verwendet, bei der Beschreibung eines privaten Anrufbeantworters.10 Bei der Beschreibung der technischen Apparate in den Raumschiffen selbst kommt dagegen ein Knopf als Bedienungsvorrichtung nicht vor, hier dominieren jeweils Hebel, Schalter, Steuer- und Schwungräder, Richtkreisel und Ähnliches.11
10 Es heißt: »Mit einem Satz war der Ingenieur aus dem Bett. Er trat an den Apparat, drückte den Knopf des Fernsprechphonographen, der statt seiner die Meldung entgegengenommen hatte.« (Bruno H. Bürgel: Der »Stern von Afrika«. Berlin 1920, S. 132) 11 In Otfrid von Hansteins Mond=Rak I. Eine Fahrt ins Weltall, Stuttgart 1929, ist eine Ausnahme zu konstatieren, als in der Rakete zum Bedienen des ›Rollos‹, das den Lichteinfall reguliert, auf Knöpfe gedrückt wird: »Er drückte auf einen Knopf. Auf der rechten Seite des Luftschiffes schoben sich die außen angebrachten Berylliumplatten von den dicken Glasscheiben der Fenster und in demselben Augenblick flutete eine solche Menge unendlich grellen Lichtes herein, daß sie die Augen schließen und Egon tastend einen anderen Knopf drücken und die Fenster wieder verdunkeln mußte« (ebd., S. 51). Interessant und in der Gesamtargumentation stimmig ist dieser Text dennoch. Denn sobald sich diese technische Spielerei als relevant für das Überleben erweist, also zur positiven Technik, die das Raumschiff auszeichnet, wird, verschwindet der Knopf als Benennung. Als das Fenster zerbricht und nur das geistesgegenwärtige Schließen des ›Rollos‹ die Besatzung retten kann, heißt es nun: »Mit raschem Griff drückte er auf einen Hebel und ließ die Metallplatten vor das geborstene Fenster niederfallen« (ebd., S. 119, Hervorhebung H. K.). Eine Ausnahme liegt ebenfalls in Ernst Panhans’ Der schwarzgelbe Weltbund. Zukunftsbilder des drohenden Zusammenstoßes der Rassen und Planeten, Hamburg 1924, vor, wenn hier die Rakete zum Mars mit einem Knopfdruck gezündet wird: »Ich werde nun auf diesen elfenbeinernen Knopf drücken und eine Verbindung herstellen zwischen den Platten und dem Geschosse« (S. 34). Dieser »leise […] Druck auf den weißen Knopf« (S. 36) und damit der Start hat aber zuerst unmittelbare Folgen: »Ein furchtbares Erdbeben erschüttert die ganze Welt, fordert unzählige Opfer und zerstört ganz Virginien.« Zudem führt dieser Knopfdruck dann mittelbar zur globalen Katastrophe, da das Geschoss den Mars aus seiner Bahn reißt und auf die Erde stürzen lässt. Die Ausnahme ist also nur scheinbar eine Ausnahme, da sie sich zum einen in den sich in den 20er Jahren entwickelnden Bildzusammenhang einfügt, zum anderen, wie bereits die Modellierung der Rakete als Geschoss zeigt (siehe Krah: Planetenräume), in einen Technikkontext gestellt ist, bei dem die Technik als solche nicht interessiert, Raumfahrt als Hybris gesetzt wird und noch eine spezifische Technikvorstellung dominiert, wie im Text etwa sowohl an der Korrelation mit den Rassen als auch an der Identifizierung des Wissenschaftlers als Antichrist zu zeigen ist; eine Vorstellungsdimension, die sich im Laufe der 20er Jahre verändern wird (siehe unten). Deutlich wird mit diesen singulären Beispielen, wenn den Texten solche Korrelationen ›unterlaufen‹, dass der
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Wie kommt es also, dass ein harmloser und unscheinbarer Knopf zur Leitmetapher des Weltuntergangs wird und ins Zentrum eines Technikdiskurses rückt? Wie kommt es, dass der Knopfdruck zum Weltuntergang auf Bestellung mutiert, dass er eine Transformation der Welt bewirkt und damit, erzähltheoretisch gesprochen, den Status eines Metaereignisses12 inkorporiert? Was ich im Folgenden darlegen will, ist der Versuch, mit Hilfe einer Spurensuche der Genese dieser Denkfigur nachzugehen. Wie hat sie sich ausgebildet und wie konnte sie sich ausbilden – dazu will ich versuchen, einige Thesen zu formulieren.13 Damit vernetzt soll dieser Geneseprozess als Hintergrundwissen fungieren, das zum adäquaten Verständnis eines Textes beitragen kann, zu dessen Interpretation und Positionierung. Dieser Text trägt den Titel Nur ein Druck auf den Knopf und ich werde ihn in einem zweiten Teil ins Zentrum meiner Ausführungen stellen. Zunächst sei in einem ersten Teil eine Reihe von Beispielen, literarischer und filmischer Provenienz, kurz skizziert, die für den Kontext zu sensibilisieren vermögen. In Fritz Langs Film Dr. Mabuse, der Spieler von 1922 spielt der Druck auf einen Knopf an einer Stelle eine Rolle, die über die Funktion als reiner Klingelknopf, die im Film ebenso zu sehen ist, hinausgeht. In einem illegalen Spielcasino kann der Croupier den Spieltisch bei Bedarf, also bei einer Raz-
Knopf die jeweils ›gewünschte‹ Semantik zu unterstützen und in das Bild des jeweils zu inszenierenden Positiv-/Negativkontextes zu passen scheint. 12 Vgl. zur Terminologie etwa Hans Krah: Räume, Grenzen, Grenzüberschreitungen. Einführende Überlegungen, in: Ders. (Hg.): Räume, Grenzen, Grenzüberschreitungen. Bedeutungs-Welten in Literatur, Film und Fernsehen. Tübingen 1999, S. 3–12. 13 Der grundlegende und übergeordnete Kontext, in den diese Überlegungen zu situieren sind, ist selbstverständlich der der Technik und der ihrer zeitgenössischen Vorstellungen und Diskussion. Zur mittlerweile umfangreichen Forschungsliteratur, die den Technikdiskurs in diesem Zeitraum in vielen verschiedenen Aspekten und Facetten untersucht (und dies zumeist auf äußerst anregende, interessante und erkenntnisreiche Weise), siehe einführend Wege: Buchstabe und Maschine, S. 7–41. Verwiesen sei auch auf die verschiedenen Beiträge zum Thema von Harro Segeberg (Anm. 2) und auf den von Wolfgang Emmerich und Carl Wege herausgegebenen Sammelband: Der Technikdiskurs in der Hitler-Stalin-Ära. Stuttgart, Weimar 1995. Auf den Knopfdruck wird, soweit ich die Forschung übersehe, bislang nicht eingegangen. Wege etwa zitiert zwar eine Passage aus Bernard von Brentanos Rezension von Ruttmanns Film Berlin. Die Sinfonie der Großstadt, in der dieser den elektrischen Knopf als Auslösemechanismus thematisiert, Wege schenkt dem aber nur als »Ursprungsmythos vom ›ersten Knopfdruck‹« Beachtung (Wege: Buchstabe und Maschine, S. 53). Mein Beitrag ist als Spurensuche zu sehen und als der Versuch, diesen Funden und Überlegungen eine Ordnung zu geben. Um bei dieser Suche nach den symbolischen Qualitäten des Knopfdrucks fündig zu werden, bietet es sich an, vorrangig Technikutopien und phantastische Texte zu betrachten.
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zia, zum Verschwinden und stattdessen eine Bühne mit einer Tänzerin zum Erscheinen bringen. Diese Verwandlung des Raumes geschieht über den visuell vorgeführten Druck auf den Knopf. Dieser ist also eine Operation, die den Raum, die vorgeführte Welt in toto verändert. Der Druck auf den Knopf zaubert eine neue Realität herbei und schafft als Illusion eine andere Wirklichkeit, die allerdings im Spieler- und Halbweltmilieu und damit im kriminellen Kontext situiert sowie wesentlich mit dem Normverstoß des illegalen Spiels verbunden ist. In der 13-teiligen Science-Fiction-Serie Flash Gordon (Regie: Frederick Stephani) von 1934, in der der Protagonist Flash Gordon die Erde retten muss, die durch Kaiser Ming vom Planeten Mongo bedroht wird, findet sich der Knopfdruck, was die Bewegungstechnik im Raumschiff anbelangt, nicht. So viele Handgriffe an Bord des Raumschiffes auch zu betätigen sind – wie immer wieder in Großaufnahmen visualisiert wird –, es sind Hebel, Schalter und Räder, kein Knopf (Gleiches gilt für die verschiedenen Apparaturen in den diversen Laboratorien). Ein Druck auf einen Knopf kommt dennoch vor, in einem anderen Kontext: Dale Arden, Freundin von Flash, wird von den Vogelmännern gefangen genommen und zu deren König Vulcano gebracht. In dessen Thronsaal, der zugleich Schlafzimmer ist, will sich Vulcano »allein mit ihr beschäftigen«, wie er formuliert. Um Dale ihre von ihm abhängige Situation vorzuführen – und eine ›Alternative‹ zur drohenden Vergewaltigung –, öffnet er durch den Druck auf einen Knopf eine zuvor nicht sichtbare Tür. Zum Vorschein kommt der Bär Urso. Dale springt entsetzt zurück (Ende der Folge). Es handelt sich also um den Kontext einer lebensbedrohlich erscheinenden Gefährdung, die durch eine Raumerweiterung, das Öffnen der Wand, herbeigeführt wird. In den 20er Jahren, so kann resümiert werden, gibt es offensichtlich noch kein homogenes, verfestigtes Bild des Knopfdrucks als eines relevanten, institutionell-organisierten Vorgangs der Vernichtung. Gleichwohl wird er bereits vereinzelt und eher kontingent in diesen Zusammenhang gestellt.14 14 Ein Film, der hier als Beispiel zu erwarten gewesen wäre, bedient sich allerdings nicht dieser Denkfigur. In Fritz Langs Metropolis werden zwar verschiedene Technikkonzeptionen vorgeführt, ein Druck auf den Knopf findet sich signifikanterweise nicht, zumindest nicht als diskrete Handlung. Die Masse der Arbeiter steht an Maschinen, die der Technik einer Dampfmaschine nachgebildet und in der keine Knöpfe zu bedienen sind. Der Knopf ist nur in einer Variante in dieser Welt vorhanden, und zwar nicht als singulärer Knopf, sondern in den semantischen Rahmen des ›Schaltbretts‹ integriert. Dieses, das Schaltbrett, ist selbst eine signifikante Denkfigur im Technikdiskurs der Frühen Moderne, vgl. etwa Wege: Buchstabe und Maschine, S. 80 ff. Diese Technik ist in Metropolis zudem eine, die nur auf den Raum ganz oben, das Büro
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Deutlich zu sehen ist dies in Reinhold Eichackers utopisch-technischem Roman Die Fahrt ins Nichts, München, Leipzig 1924. Hier scheint eine Beliebigkeit in der Wahl des Begriffs, womit eine technische Apparatur ausgelöst wird, vorzuherrschen. Ein ganzes Spektrum an Möglichkeiten des Ausdrucks findet sich, Taster, Schalter, Hebel: Er drückte auf einen elektrischen Taster. […] Durch einen Hebel schaltete er die elektrische Heizung ein […] Werndt drückte kurz auf einen Schalter. […] Ihre Hände machten mechanische Griffe an Hebeln und Schaltern. (Ebd., S. 55 ff., Hervorhebung H. K.) Hier haben sie den Hebel für den Anlasser. […] Er drückte den Hebel herab. […] Da drückte Werndt langsam den Taster nach unten […] Durch eine Drehung des Schalters konzentrierte er plötzlich die unendlichen Energien seiner künstlichen Blitze […] Seine Hand lag druckbereit auf dem Hebel des neuen Ventiles […] Da riß Werndt schnell den Hebel zur Linken nach unten. (Ebd., S. 83 ff., Hervorhebung H. K.)
Der Text bedient sich, geht es um die Beschreibung eines positiven Experiments durch das Genie Walter Werndt, für die die beiden obigen Zitate stehen, tatsächlich mehr oder weniger beliebig der drei Ausdrücke ›Taster‹, ›Schalter‹, ›Hebel‹, eine sekundäre Bedeutungszuweisung lässt sich nicht erkennen. Eine solche wird aber dennoch in Abgrenzung generiert. Denn trotz der scheinbaren Beliebigkeit, worauf man drückt, wird in den ersten beiden Versuchen, die in den obigen Textstellen wiedergegeben sind, bei der Beschreibung der Apparaturen nie auf einen Knopf gedrückt. Dieser wird nur ein einziges Mal im gesamten Text bei der Benennung verwendet und zwar an signifikanter Stelle: dann nämlich, wenn sich die Antagonisten des Experiments bemächtigen: Jetzt, in vier Stunden, um zwei Uhr fünfzehn Minuten, drückt Professor Cachin in deinem Laboratorium auf den Knopf, der deine elektrischen Ströme regiert. Um zwei Uhr fünfzehn Minuten beginnt er das große Experiment. (Ebd., S. 123, Hervorhebung H. K.)
Nur in diesem Kontext wird nun unauffälligerweise, unmarkiert vom Druck auf einen Knopf gesprochen – zudem in der Rede und aus der Perspektive
von Joh Fredersen, beschränkt ist und eine moderne Technik bezeichnet, die als solche für Entfremdung steht und somit eine moderne Gefahr darstellt. Der Knopf im Schaltbrett ist darüber hinaus in seinem Gebrauch institutionalisiert, sein Betätigen stellt also kein situatives Ereignis, etwas Außergewöhnliches dar, sondern ist systemisch bedingt und konstitutives Raummerkmal. Rotwang, der Erfinder, drückt dagegen auf keinen Knopf, so viele Handgriffe er ansonsten auch ausführen mag.
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der Schurken; es spricht die Oberschurkin, die Herrin der Inder. Dieser Knopfdruck führt nicht wie die ersten beiden Versuche auf den Weg zu Erkenntnis und zur Lösung der Welträtsel, sondern zur Katastrophe: Dann wird das Nihilium […] mit Radiumkräften und vielen Milliarden von Volt sich vollsaugen, sich selbst, das Meteor, das Laboratorium und alles, was in ihm noch lebend und tot ist, in viele Billionen Korpuskel zersprengen, und all unser Hoffen im Weltall zerstäuben …! (Ebd., S. 128 f.)15
Diese Antizipation realisiert sich dann allerdings nicht vollständig, da die Katastrophe eine lokale bleibt und nur die Schurken selbst trifft. Am elaboriertesten lassen sich im folgenden und spätesten Beispiel, Ernst Lubitschs Film Ein himmlischer Sünder von 1943, abstrahierbare Merkmale des Knopfdrucks erkennen: In einer modernen Hölle – übersichtlich, großzügig, aufgeräumt, fast leer an Interieur – entledigt sich der moderne Teufel (im Anzug) mit Hilfe eines Knopfdrucks eines ›Delinquenten‹: Eine ältliche Dame, die nicht glauben will, dass sie nach ihrem Leben in die Hölle soll, begehrt Zutritt zum Büro des Teufels, unterbricht diesen im Gespräch mit dem Protagonisten des Films, der sich als früherer Bekannter herausstellt. Als beide in Jugenderinnerungen schwelgen und die Dame ihren Rock hebt, um ihre Beine zu zeigen, wird es dem Teufel zu viel. Er drückt auf einen Knopf auf seinem Schreibtisch, worauf sich der Boden unter der Dame öffnet und diese in den Untergrund verschwindet. Nicht um eine wohl überlegte, lang durchdachte Entscheidung handelt es sich, sondern diese erfolgt einfach so, aus aktuellem Anlass, aus einem Gefühl verärgert, gestört zu sein. Die Bereinigung der ›peinlichen‹ Situation ist dafür eine prompte, unmittelbare und effiziente, eine Lösung auf ganzer Linie, die nichts mehr von der Störung oder dem, was daran erinnern könnte, übrig lässt. Der Knopf dient dazu, sich eines störenden Zwischenfalls ohne Aufhebens zu entledigen und zur Tagesordnung zurückzukehren, wozu nur minimaler Einsatz bei maximaler Wirkung vonnöten ist. Der Druck auf den Knopf ist zudem eine rationale Tat, bei der klar ist, was passieren wird, bei der Zufall und Kontingenz ausgeschlossen sind. Das Opfer ist unvorbereitet, ahnt nicht, was kommen wird, kann keine Einwände machen und hat auch
15 Hier in der Rekapitulierung dessen, was geschehen wird, wenn Professor Cachin auf den Knopf drückt, wird sprachlich signifikanterweise nicht auf den Knopf gedrückt. In Werndts Rede heißt es: »im gleichen Zehntausendstel jener Sekunde, da Cachin den Schalter der Ströme herabdrückt« (ebd., S. 128, Hervorhebung H. K.). Der Ausdruck ›Knopf‹ bleibt der Fremdperspektive – und diese ist eine kriminelle, weltbedrohende – vorbehalten.
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keine Zeit dazu. Denn die Wirkung erfolgt unmittelbar, Ursache und Wirkung als kausale Relation eines Nacheinanders scheinen in Simultaneität aufzugehen. Die Ursache ist gleichzeitig die Wirkung, dies kommt einer Aufhebung von Kausalität gleich. Eine Sicht, die dem Knopfdruck eine quasi magische Qualität einverleibt: In der Hölle als einem nicht-menschlichen, über-menschlichen Raum ist das Verfahren denn auch möglich und plausibel. Und derjenige, der den Knopf drückt, braucht sich selbst um die Folgen nicht zu kümmern: Ausgelöst wird der Knopf von einem, den es selbst nicht betrifft. Die Situierung in der Hölle macht deutlich, dass dies eine Wesenheit ist, die eigentlich kein Mensch sein kann; der Knopfdruck ist dem Teufel vorbehalten. Die Abbildung Ronald Reagans, der sich auf dem Titanic-Titelblatt freudig zeigt, endlich eine passende Verwendung für Bücher gefunden zu haben, dürfte sich in ihrem Bedeutungsspielraum auf diese Vorstellungsdimensionen beziehen lassen. Eines ist den skizzierten Filmausschnitten zudem gemeinsam: In allen Beispielen scheint sich eine Geschlechterspezifikation zu formieren: Männer können auf den Knopf drücken – und die Frauen müssen ›tanzen‹.
II .
Die kurze Erzählung Nur ein Druck auf den Knopf von Leo Perutz, die zunächst am 1. 1. 1930 in der Vossischen Zeitung in Berlin erschien und dann im gleichen Jahr in die Novellensammlung Herr, erbarme dich meiner aufgenommen und dort publiziert wurde, ist in meinem Kontext bereits durch den Titel signifikant. Sie ist darüber hinaus ein entscheidender Baustein, der eine zentrale Position innerhalb der Genese einnimmt, indem er die Konzeption der Denkfigur vorbereitet wie verdichtet. Die Erzählung Nur ein Druck auf den Knopf ist als Dialog zu denken, als unmittelbare Gesprächssituation zwischen Lukacz Aladar, dem Protagonisten, und einem Gegenüber, im Text gekennzeichnet als »Maschinen-Ingenieur von Kovacz und Laszlo«.16 Als Sprechzeitpunkt ist in etwa die Gegenwart anzunehmen, die späten 20er Jahre also, so kann aus Textdaten erschlossen werden. Der Sprechort ist explizit bestimmt. Es ist die obere Stadt von New York, die Dreiundneunzigste Straße. Aladar und sein Gegenüber kennen sich von früher aus Europa, aus Kecskemet, sind sich zufällig 16 Zitiert nach Leo Perutz: Nur ein Druck auf den Knopf, in: Ders.: Herr, erbarme dich meiner. Reinbek bei Hamburg 1985, S. 151–160, hier S. 151. Im Folgenden zitiert unter Angabe der Seite direkt nach dem Zitat.
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nach längerer Trennung begegnet, worauf Aladar seine Lebensgeschichte berichtet. Der Dialog, als der das Gespräch zu rekonstruieren ist, ist nur scheinbar ein Dialog: Denn im Text wiedergegeben sind nur diejenigen Anteile des Dialogs, die von Aladar stammen. Gegeben ist damit nur ein Ich-Sprecher, Aladar. Sein Gesprächspartner ist als Redender ausgeblendet, seine Präsenz selbst ist nur aus den Reaktionen von Aladar implizit zu erschließen, so wenn dieser auffordert: »So, und jetzt erzähle weiter« (S. 151). Diese Aufforderung ist allerdings nicht ganz ernst zu nehmen und verdeutlicht als ironische Pointe ein zentrales Merkmal der Unterhaltung: Dem, dass der Maschinen-Ingenieur formal nicht zu Wort kommt, entspricht, dass es auch inhaltlich nur wenige Stellen gibt, an denen ein Eingriff des Gesprächspartners in die Gesprächsführung überhaupt erkennbar wäre. Aladar führt also letztlich einen Monolog und lässt seinem Gesprächspartner keinen sprachlichen Raum. Diese spezifische Erzählsituation hat zur Folge, dass die einzige Instanz, die die Wahrhaftigkeit dessen, was berichtet wird, garantieren kann, Aladar selbst ist. Nur seine Rede ist gegeben, außerhalb dieser subjektiven Rede gibt es nichts, an der sie sich messen könnte oder müsste. Dies ist für das Folgende von Bedeutung, geht es doch um eine Geschichte, die einen solchen Klassifikator der Realität dringend benötigen würde.17 Stützen kann man sich bei der Frage nach dem Realitätsstatus der in der Rede erzählten Geschichten somit nur auf die Rede selbst: auf ihre Modalitäten einerseits, aus denen sich selbstreflexiv Zweifel ergeben, und auf die kulturellen Referenzen andererseits, die in diesen Geschichten als Bezug zur außersprachlichen Realität angeboten werden. Dass Aladar der Einzige ist, der redet, lässt sich zudem inhaltlich interpretieren: Denn wie aus der Vorgeschichte zu erfahren ist, ist Aladar jemand, der die Rolle des Zuhörers innehat, jemand, der selbst nicht mitreden kann. Der Text führt in seiner Verfasstheit als monologischer Redefluss also vor, dass mit Aladar eine Veränderung stattgefunden hat. War er in der Vergangenheit Zuhörer, so ist er nun Erzähler geworden. Nicht nur dieses Indiz erlaubt den Versuch, die Erzählung insgesamt als Selbstfindungsgeschichte zu lesen. Vorgeführt wird ein Prozess der Personwerdung, dessen Verlaufsstruktur sich grob skizziert aus der Phase a) der nicht-bewussten Defizienz, b) des Be17 Siehe einführend zu den Konzeptionen eines Phantastischen Hans Krah, Marianne Wünsch: Phantastisch/Phantastik, in: Karlheinz Barck u. a. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Stuttgart, Weimar 2002, Bd. 4, S. 798–814.
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wusstwerdens der Defizienz und der Setzung eines Ziels, c) des Weges zu diesem Ziel und schließlich d) des Gelingens dieses Prozesses als Selbstfindung und Leben oder des Scheiterns als Selbstverlust und Nicht-Leben zusammensetzt.18 Aladar stammt aus sozial niedrigem Milieu, im (Ersten Welt-)Krieg ist er »gewöhnliche Ordonnanz« (S. 153). Er hat keine Schulen besucht und musste mit vierzehn Jahren ins Geschäft, wie er resümiert, weist also einen Mangel an Bildung und Kultur auf. Auslösendes Ereignis, das diesen Mangel bewusst werden lässt und das gleichzeitig auch den Katalysator darstellt, diesen Mangel zu beheben, ist seine Heirat mit der Tochter eines Hofrates, »erstklassige Familie« (S. 154). Während sich seine Frau mit Dr. Keleti, einem Bekannten, über alles Mögliche unterhalten kann, kann Aladar nur staunend zuhören: »stundenlang konnte ich zuhören, wenn sie mit dem Doktor Keleti über Probleme sprach –, Renaissance, Atavismus, Kommunismus –, ganz klein kam ich mir vor, oft war ich wie vor den Kopf geschlagen« (S. 154). ›Mitreden zu können‹ ist als wesentliches Merkmal der Person gesetzt, das zur Konstituierung des Ichs und seines Selbstwertgefühls, zu einer Selbstfindung notwendig ist. Aladar versucht deshalb, und wird von seiner Frau dazu gedrängt, sich dieses fehlende Wissen anzueignen. Er versucht, Bildung nachzuholen, wozu er seine Abende nutzt: Zuerst also in die Oper, Abend für Abend, dann die Shakespearedramen und die Stücke von Molnar und Trios und Kammermusik und Beethoven und Vorträge im Volksbildungshaus und Vorträge im wissenschaftlichen Klub – […] Jahre hindurch, bei jedem Wetter, habe ich an meiner Bildung gearbeitet. (S. 154)
Diese Bildungsarbeit wird weit vorangetrieben und ist fast abgeschlossen, bis sich eine Wissenslücke quasi als Extrempunkt zu erkennen gibt: Und einmal war die Rede von indischer Philosophie – Astralleib, Seelenwanderung, Materialisation und ich fragte, was das denn sei, Materialisation, ich hörte damals diesen Ausdruck zum erstenmal. – ›Siehst du‹, sagte meine Frau –, ›da sind noch Lücken, fertig bist du noch lange nicht. Okkultismus gehört auch zur Bildung.‹ (Ebd.)
Um diese Lücke zu füllen, wird Aladar zu einer spiritistischen Sitzung geschickt, die nicht nur den zentralen Teil der Erzählung bildet, sondern für die Erzählung, für den Akt des Erzählens selbst, einen besonderen Status besitzt: [Forts.] Und am nächsten Abend schickte sie mich hinüber nach Ofen in eine Villa, und als Einführung gab sie mir eine Karte ihres Vaters, des Hofrates, mit, denn 18 So wie dies Marianne Wünsch als elaborierte Weg-Ziel-Struktur und zentrales Erzählmodell der Frühen Moderne bestimmt hat; siehe dies.: Die Fantastische Literatur der Frühen Moderne. München 1991, S. 227–246.
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die Leute waren sehr exklusiv – ein privater Zirkel, der okkulte Sitzungen veranstaltete. Vierzehn Personen, darunter zwei Professoren der Universität, und dann das Medium, eine ältere Dame. […] Und dann begannen sie mit dem Programm. Zuerst etwas, das sie den ›Rapport‹ nannten. Einer von den Gästen, ein Offizier, verlangte, daß das Medium einen Brief herbeischaffen solle, den er zu Hause in sein Schreibtischfach verschlossen hatte. Bitte – der Brief lag eine Minute später auf dem Tisch. Ob es gerade dieser Brief aus dem Schreibtischfach war, das weiß ich nicht, ich habe auch keine Ahnung, wie er auf den Tisch gekommen ist – es war ziemlich dunkel im Zimmer. Taschenspielerei, wie? Ich habe solche Sachen schon öfters in Varietés gesehen, aber dort bringen sie die Piecen mit mehr Witz, und in den Varietés hieß es Amüsement, und hier nannten sie’s Bildung. Gut. Dann kam die Elevation – auch ein Trick! Und dann erschienen die Geister. Jawohl, die Geister. Sie bildeten sich, hinter einem Vorhang, aus irgendeiner Masse, Hekto – ganz richtig, Ektoplasma nannten sie’s. Zuerst also Julius Cäsar, glattrasiert. Komisch, ich habe mir Julius Cäsar immer mit einem Schnauzbart vorgestellt – du auch? Er war aber glatt rasiert. Was er sagte, weiß ich nicht, er sprach Lateinisch – gehört, bitte schön, Lateinisch auch zur Bildung? Englisch, Französisch, meinetwegen sogar Rumänisch, man kann manchmal auch Rumänisch brauchen, aber mit wem, bitte schön, soll ich Lateinisch sprechen? Der Universitätsprofessor versuchte es, aber Julius Cäsar verstand ihn nicht. Nach ihm kam eine Person, die tanzte – nun, ich habe schon besser tanzen gesehen. (S. 154 f.)
Aladar ist, wie aus diesem Bericht vom Ablauf der Séance unschwer hervorgeht, ein »›zweifelndes‹ Element« (S. 156). In der Folge bekommt er vom Hausherrn, der ihn von der Ernsthaftigkeit der Geschehnisse überzeugen will, die Gelegenheit, selbst zu bestimmen, welcher Geist erscheinen soll: Er darf den Namen eines Verstorbenen wählen. Aladar wählt Dr. Keleti, seinen guten Bekannten, wie er ihn bezeichnet. Nach etlichen Mühen und unter großen Anstrengungen des Mediums erscheint der Geist Dr. Keletis wirklich, was nun in zweifacher Hinsicht ein fantastisches Ereignis darstellt: Zum einen als ›normale‹ Materialisation, zum anderen aber auch insofern, als Dr. Keleti der Überzeugung Aladars nach noch unter den Lebenden weilt, als er ihn zitieren lässt.19 Wessen Geist erscheint, so setzt es die okkulte Theorie des Textes,20 der ist tot. Und dies trifft zu, insofern Keleti, wie Aladar später erfährt, wirklich ge19 »Er ist nicht tot, aber wenn er tot wäre –. Immer ging mir das durch den Kopf: Wenn dieser Keleti tot wäre! Ich konnte von dem Gedanken nicht loskommen. Warum – das weiß ich nicht. Und plötzlich hörte ich mich laut und deutlich sagen: Der selige Doktor Maurus Keleti, Advokat, Juliusstraße 17« (S. 156). 20 Die Darstellung der Séance im Text ist damit keine Episode oder eine unmittelbare Adaption kultureller Modelle, sondern ist in der Aufnahme im literarischen Text
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storben ist. Gesetzt wird, dass der Tod Keletis durch das Medium hervorgerufen wurde: Das ist die Geschichte. Verstehst du, was geschehen ist? Er lebte und dennoch mußte er kommen, das Medium wollte es. Das Medium rief ihn, es zwang ihm die Seele aus dem Körper, es ließ nicht nach. Und er mußte dem stärkeren Willen gehorchen und sterben, damit sein Geist sich dort oben in der Ofner Villa manifestieren konnte. (S. 159)
Das ist die Geschichte – heißt es als Quintessenz und damit wird auf den Stellenwert, den die Séance im Textganzen hat, verwiesen. Sie erweist sich nicht als Episode auf dem Weg zu Bildung, sondern dient als Erklärung für den tatsächlich eingetretenen, plötzlichen und unerwarteten Tod von Dr. Keleti. »Das ist die Geschichte«, heißt es, es ist die Geschichte einer Erklärung und hierfür wird das okkulte Geschehen funktionalisiert. Diese Erklärung des Todes von Dr. Keleti wird im Text nun nicht einfach stehen gelassen, sondern ist in einen zweifachen Erklärungskontext gestellt. Zum einen lässt der Text implizit durch seine Struktur zu, diesem Erklärungsangebot andere zu kontrastieren. Da Keleti, wie aus einigen Indizien erschlossen werden kann, ein Verhältnis mit der Frau Aladars hatte, ist die Vermutung, das Aladar Keleti aus Eifersucht ermordet hat, durchaus plausibel. So ist das Gerücht, dass Aladar Keleti erschossen hat, in der Welt des Textes denn auch verbreitet: Die Leute sagen – die Leute reden viel. Daß ich den Doktor Keleti erschossen habe – sagen sie. Warum sollte ich ihn erschossen haben? Aus welchem Anlaß? – Und ich lebe jetzt in New York, weil ich eben in New York lebe, und wenn es mir paßt, werde ich nach Budapest zurückgehen. – Meine Frau? Nein, die ist nicht hier. Du wirst es ohnehin erfahren – wir leben nicht mehr miteinander. Sie hatte ihre Neigungen und ich hatte die meinen – es hat sich eben im Laufe der Jahre gezeigt, daß wir nicht recht zueinander passen. (S. 159 f.)
Gerade diese Informationen am Ende des Textes – Aladar ist nach New York ausgewandert und lebt von seiner Frau getrennt – sprechen als Indizien für
funktional und spezifisch transformiert. Denn die zeitgenössische okkulte Theorie kennt durchaus den Fall, bei dem ein Lebender sich materialisieren kann, durch die Trennung des Astralleibes vom Körper, die Citation, wie sie du Prel und Kiesewetter beschreiben (vgl. die Zusammenfassung in Wünsch: Fantastische Literatur, S. 101). Daran stirbt man also nicht. Die Auslegung im Text, dass dem der Tod folgen müsste, also die durchaus drastischen Konsequenzen und Folgen solcher Sitzungen, ist reines Textkonstrukt. Es verdeutlicht, dass das Thema als Material verwendet wird und es nicht um die Darstellung und Vermittlung dieses Themas an sich geht.
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eine solche Lesart. In dieser Lesart ist das fantastische Erklärungsangebot nochmals textintern funktionalisiert, da es die Rechtfertigungsstrategie Aladars wäre, die er sich zurechtgelegt hat, um von den eigentlichen Geschehnissen abzulenken. Zum anderen führt Aladar selbst explizit einen zweiten Erklärungskontext ein, um dem Maschinen-Ingenieur das, was passiert ist, begreiflich zu machen. Es ist dies der Vergleich, der durch den Titel signalisiert wird – ›Nur ein Druck auf den Knopf‹. Mit diesem Ausdruck vergleicht Aladar die Geschehnisse bei der Séance mit einem anderen Kontext, der die Abberufung Keletis verdeutlichen soll. Aladar erzählt eine Geschichte aus seiner Vergangenheit, eine reale Geschichte, so ist gesetzt, etwas, was sich wirklich zugetragen hat, um mit diesem Bild seinem Gesprächspartner den Sachverhalt klarzumachen: »Der Knopf – das ist nur ein Bild, damit ich dir die Sache klarmache« (S. 153). Die Geschichte geht wie folgt: Im Krieg also war ich Ordonnanz in Pola. Und da gab es oben im Hafenkommando ein Zimmer – auf dem Tisch lag der Hafenplan, und in dem Plan waren die Minen eingezeichnet, und über jeder Mine war ein Knopf, wenn man auf den drückte – elektrischer Kontakt! Und oben war so eine Art Camera obscura, die warf das Bild des Hafens auf den Tisch, das lebendige Bild: Man konnte alles sehen, was draußen vorging, man sah die Kräne arbeiten und die Schiffe ein- und auslaufen, ganz klein – so klein –, man konnte genau sehen, ob das Schiff sich über einer Mine befand. Ich kam diesem Tisch nicht in die Nähe, ich hatte Angst, und ich habe immer den Offizier bewundert, daß es ihm niemals in den Fingern zuckte, daß er nie in Versuchung kam, auf den Knopf zu drücken und zu sehen, wie alles in die Luft geht, das Schiff, die Ladung, der Kapitän. Eine teuflische Erfindung, dieser Tisch! Man muß nicht zielen, man braucht nur auf den Knopf zu drücken, weiter nichts. – Ich habe einmal auf den Knopf gedrückt. Nicht in Pola, nein, viel später, in Budapest – aber ich muß dir die Geschichte von Anfang an erzählen. (S. 153 f., Hervorhebung H. K.)
Im Text ist unhinterfragbar gesetzt, dass diese Vergleichsebene auf realen Erfahrungen und Kenntnissen von Aladar beruht, seinen Kriegserlebnissen. Ein Zweifel schließt sich mit der Selbstverständlichkeit, mit der von dieser Episode erzählt wird, aus. Doch wie verhält sich diese Glaubwürdigkeit, wird textexternes, kulturelles Wissen einbezogen? Aladar setzt, dass es diese Konstruktion in Pola während des Ersten Weltkriegs gab, er referiert also auf die Realität des Vergangenen. Gerade mit dieser räumlichen Situierung ist aber ein Anknüpfungspunkt gegeben, über den Text hinauszuschauen und auf historische Erkundung zu gehen. Pola ist nicht irgendein Hafen, sondern österreichischer Hauptmarinestützpunkt, und vermag als dieser zentrale historische Ort über seine Nennung hinaus zusätzliches Wissen über sich auf-
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zurufen. So macht die Bedeutung Polas die Ausrüstung mit solch einer Technik zunächst ja durchaus glaubhaft. Visualisiert man sich allerdings den Plan des Hafens von Pola aus der Zeit des Ersten Weltkriegs,21 mag allein dessen weiträumige Dimensionierung einen ersten Zweifel erwecken, ob vom Hafenkommando aus ein solcher Überblick über die Hafenanlage wirklich möglich ist. Und sie ist es nicht. Hauptargument ist aber, dass die geschilderte Konstruktion zu dieser Zeit technisch nicht möglich ist, insbesondere die Kombination der ferngesteuerten Minen mit der Videoüberwachung des Hafens, so plausibel dies aus heutiger Sicht erscheinen mag und wenngleich es in dieser Zeit durchaus bereits erste Versuche und Experimente auf diesem Gebiet gab – eine praktische Anwendung lag in weiter Ferne.22 Dies hängt vor allem damit zusammen, dass diese Konstruktion, so plausibel sie geschildert wird, gerade militärisch gesehen unzulänglich und ineffektiv ist, da ihr ein wesentlicher Faktor fehlt: Als »Camera obscura« (S. 153) ist sie grundlegend von Sichtbedingungen und Sichtverhältnissen abhängig, somit maximal eingeschränkt bei Tag und Licht verwendbar; was sie grundlegend entbehrt, um sie funktionsfähig zu machen, ist die Radartechnik, die es in den 20er Jahren noch nicht gibt.23 Das Bild ist also selbst nur ein Bild, das Aladar nicht real erlebt haben kann,24 das nicht real möglich und somit selbst wiederum eigentlich fantas-
21 Ein solcher Plan findet sich in: Die »Tegetthoff«-Klasse. Österreich-Ungarns größte Schlachtschiffe. Hg. von der »Arbeitsgemeinschaft für österreichische Marinegeschichte« von Wladimir Aichelburg, Lothar Baumgartner, Franz Ferdinand Bilzer, Georg Pawlik, Friedrich Prasky und Erwin Sieche. München 1981, S. 98 f. 22 Sie wird erst in den 60er Jahren mit der Radartechnik realisiert werden. Siehe hierzu auch Thomas Müller, Peter-Michael Spangenberg: Fern-Sehen – Radar – Krieg, in: Martin Stingelin, Wolfgang Scherer (Hg.): HardWar, SoftWar: Krieg und Medien 1914 bis 1945. München 1991, S. 275–302. 23 So war, um diese theoretischen Ausführungen mit einer nun wirklich realen Episode zu unterstützen, der Hafen Pola im Ersten Weltkrieg leider nicht mit solch einer Erfindung ausgerüstet oder zumindest war sie ohne praktischen Nutzen. Denn um 2.00 Uhr am 1. November 1918 drangen die italienischen Marineoffiziere Raffaele Rosetti und Raffaele Paolucci auf einem B/57-Torpedo, den Rosetti zu einem Trägerfahrzeug für Torpedoreiter umgebaut hatte, in den Kriegshafen Pola ein, überwanden die Netzsperre, passierten die an den Bojen liegenden Schiffe, erreichten das Flottenflaggschiff Viribus Unitis, befestigten einen Sprengkörper an der Backbordseite und versenkten das Schiff nach einigen Komplikationen im Hafen. Die vollständige Kontrolle über den Hafen, die das Bild im Text vermuten lässt, war also mitnichten gegeben. Angaben entnommen dem Buch: Die »Tegetthoff«-Klasse, S. 96 ff. 24 Wo Aladar so etwas gesehen haben könnte, so ließe sich spekulieren, als »lebendiges Bild«, wie es heißt, ist im Kino, also nur als Fiktion der Medien-Realität.
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tisch ist. Zu erklären versucht wird also das eine fantastische Bild durch ein anderes fantastisches, das, womit erklärt wird, ist selbst mindestens genauso fragwürdig und erklärungsbedürftig wie das zu Erklärende selbst.25 Im Kontext der Genese der Denkfigur ist aber zu schließen, dass, unabhängig von einer realen Referenz, die Semantik dieser Vorstellung bereits einleuchtend sein muss, dass sie also als geeignet erscheint, das, was sie vermitteln soll, auch tatsächlich zu vermitteln. Als ausgeführte und an ein Bild gebundene Denkfigur vermag sie der Interpretation der Ereignisse das Kondensat zu liefern, mit dem die spezifischen Merkmale der Interpretation zu transportieren sind, so etwa das Gefühl der Angst und der Macht zugleich. Ich komme darauf zurück. Zu beantworten ist noch die Frage, wie der Verlauf von Aladars Lebensgeschichte hinsichtlich des Prozesses der Selbstfindung zu interpretieren ist, ob dieser Versuch als geglückt oder ob er als gescheitert angesehen werden muss. Diese Frage des Scheiterns ist nicht ganz einfach zu klären. Denn einerseits kann sein Raumwechsel vom ›gebildeten‹ Europa ins ›kulturlose‹ Amerika als Flucht gedeutet werden, die belegt, dass der beabsichtigte Aufstieg bezüglich der Bildung nicht geglückt ist, was sich auch in der Trennung von seiner Frau dokumentiert. Vor der Folie und Gültigkeit dieses Weltbildes ist Aladar gescheitert, diese Ziele sind eindeutig nicht erreicht. Andererseits kann das Geschehen auch so gedeutet werden, dass sich Aladar von diesen Zwängen befreit hat, dass er also das, was er nicht ist, ein Gebildeter im obigen Sinne, auch gar nicht mehr zu erreichen versucht. Das zuerst gesetzte Ziel stellt sich dann als Irrweg, als Umweg heraus, das lediglich der Erkenntnis seines eigentlichen Potentials und seiner eigentlichen Ziele dient. Dieser Deutung dienen die Textdaten, dass Aladar in Amerika wirtschaftlich erfolgreich ist, er arbeitet für eine »ganz große Gesellschaft, kolos-
25 Dies ist eine typische Konstellation dessen, was bei Perutz ›fantastisch‹ heißen kann. Nicht, wie in der Fantastik üblich, ein eigentlich fantastisches Ereignis/Phänomen ist erklärungsbedürftig, sondern mit Hilfe eines solchen wird ein anderes, als unerklärlich gesetztes Phänomen erklärt (Vertauschung der Argumentation). Es wird erst ein Erklärungsbedarf erzeugt, der dann aufgelöst wird. Während normalerweise ein fantastisches Phänomen eine Erklärung verlangt, ist bei Perutz die Ebene der Erklärung und des Bedarfs einer Erklärung vorgelagert, die dann ein Geschehen erst zum fantastischen macht. Siehe Hans Krah: Fantastisches erzählen – fantastisches Erzählen. Die Romane Leo Perutz’ und ihr Verhältnis zur fantastischen Literatur der Frühen Moderne, in: Hans Krah, Claus-Michael Ort (Hg.): Weltentwürfe in Literatur und Medien. Phantastische Wirklichkeiten – realistische Imaginationen. Kiel 2002, S. 235–257.
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sales Unternehmen, hundertsiebzig Millionen Dollar« (S. 151), und einen materiellen/ökonomischen Aufstieg geschafft hat, und dies symbolisiert sich topographisch, da er sich in New York in der oberen Stadt, getrennt von seinen Landsleuten, bewegt. Es geht ihm gut, er ist mit sich zufrieden – und er kann, wie eingangs konstatiert wurde, nicht nur mitreden, sondern eigene Geschichten erzählen. Ist die erste Deutung, die des Scheiterns, auf der Ebene der Gültigkeit des Weltmodells situiert, das von Europa und der Wertvorstellung der klassischen Bildung geprägt ist, so ist die zweite einem Paradigmenwechsel analog: Die Ereignisstruktur findet nicht in der Welt, sondern als Metaereignis mit der Welt statt – und würde eine Ablösung solcher Wertvorstellungen implizieren.
III .
In einem dritten, abschließenden Teil möchte ich versuchen, die Befunde auszuwerten und einige Thesen zu den Voraussetzungen, unter denen sich das Bild herauskristallisiert, zu liefern. Erstens führt der Text eine Substitution von Diskursen vor. So sehr beide Erklärungsvarianten nicht-realistische sind, so unterscheiden sie sich doch grundlegend hinsichtlich ihrer sie konstituierenden Prämissen: Okkultismusphantasien – die Séance – werden durch Technikphantasien – den Tisch im Hafenkommando – abgelöst. Der Technik wird dabei die gleiche Funktionalität als Bedürfnisbefriedigung – hinsichtlich Welterklärung und Weltinterpretation – zugesprochen. Gleichzeitig dürfte durch diese Oszillation der Diskurse die okkult-magische Qualität auf diese Technik abfärben und sich als intrinsisches Merkmal übertragen. Zweitens etabliert der Text die Koppelung des Knopfdrucks mit Militärwesen und Krieg, sogar mit Weltkrieg, also mit Vernichtung und Vernichtungsmaschinerie, hier konkretisiert in den Minen. Drittens ergibt sich aus diesen beiden Punkten eine damit verbundene zweite Substitution: Denn abgelöst wird dabei auch die durch ein weibliches Medium vermittelte (und durch die Frau von Aladar erst initiierte) Tötungshandlung durch ein männlich-solitär dominiertes Aktionsmodell, dem insbesondere auch ein Monopol zur Vernichtung zuzukommen scheint. Ein weiblicher Anteil am Geschehen – es heißt: »das Medium wollte es. Das Medium rief ihn, es zwang ihm die Seele aus dem Körper« (S. 159) – wird im Bild des Knopfdrucks hinsichtlich des Aspekts des Agens umgedeutet und damit hinsichtlich einer Verinnerlichung überlagert:
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Ohne jeden Haß, nur aus einem inneren Zwang, den ich mir heute selbst nicht erklären kann, hab ich auf den Knopf gedrückt – und irgendwo in einem anderen Zimmer, in einem ganz anderen Stadtteil, ist der Doktor Keleti tot in seinen Lehnstuhl gefallen. (S. 153, Hervorhebung H. K.)
Die ursprüngliche Distanz, die, bedingt durch die mediale Vermittlung, im ersten Fall gegeben ist, wird zur Unmittelbarkeit auf der Handlungsebene, gleichzeitig wird Distanz, »in einem anderen Zimmer, in einem ganz anderen Stadtteil«, auf anderer Ebene neu installiert. Aus dieser Distanz scheint viertens zu resultieren, dass im Modell des Knopfdrucks das Moment eines imaginierten Darüberstehens zu inszenieren ist. Es wird eine topologische Grenze installiert und für die Weltstrukturierung relevant gesetzt, die es ermöglicht, nicht selbst involviert zu sein, nicht gleichrangig wie die anderen mit zur Welt zu gehören, sondern qua Panoramablick und göttlicher Perspektive den anderen entrückt zu sein. Aladars Raumwechsel, die Betonung der Dimension ›oben‹ und letztlich auch sein Berufswechsel lassen sich in diesem Kontext deuten. Letzterer symbolisiert diese Distanzierung, wenn er vom Geschäft mit Ölen und Fetten zur Vertretung von Lebensversicherungen wechselt. Aladar, der eigentlich Teil der dargestellten Welt ist, löst sich aus diesem System heraus und positioniert sich darüber. Die Frage, ob er bei seinem Selbstfindungsprozess ›Leben‹ erreicht oder ›Nicht-Leben‹, ist damit insofern zu modifizieren, als keine dieser Lösungen für ihn Gültigkeit besitzt, da sich das Problem als solches erübrigt hat: Er steht darüber.26 Diese positive Qualität der Allmachtsphantasie kann sich fünftens im Bild des Knopfdrucks aber auch leicht in das Gegenteil verwandeln, je nachdem, wer als Auslösender fungiert. Wenn Aladar am Ende räsoniert: Aber ist der Gedanke nicht schrecklich, daß jedem von uns in jedem Augenblick das gleiche geschehen kann? – Wie die Schiffe, die arglos über die Minen fahren – und es braucht nur jemand auf den Knopf zu drücken … (S. 159),
dann fokussiert er nun in der Anonymisierung der Macht im ›jemand‹ auf die Erkenntnis, dass der Knopfdruck kein elitäres Konzept an sich ist. Eine spezifisch personale Bindung aufgrund inhärenter, exzeptioneller Merkmale des auslösenden Individuums ist eben nicht gegeben, sondern gerade durch die Einfachheit der Bedienung zugunsten einer prinzipiellen Beliebigkeit des handelnden Subjekts ausgeschlossen: Jeder ist dazu fähig, jeden kann es treffen.
26 Vgl. zu dieser Konstellation allgemein zu Perutz Krah: Fantastisches Erzählen, S. 248 ff.
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In dieser Verwendung des Knopfdrucks wird sechstens deutlich, welcher Umgang mit dem Knopf in Perutz’ Text vorbereitet ist und etabliert wird: Während bei Eichacker etwa der Knopfdruck mehr oder weniger zufällig als sprachlicher Ausdruck im narrativen Geschehen unterläuft, ist er bei Perutz explizit und bewusst als Bild inszeniert und damit in einen verallgemeinerbaren, repräsentativen Kontext gestellt. »Der Knopf – das ist nur ein Bild«, heißt es, damit wird eine metatheoretische Rede installiert, die diesen Gebrauchskontext erst explizit erläutert. Der Text Nur ein Druck auf den Knopf bildet damit hinsichtlich der Genese der Denkfigur eine Gelenkstelle. Einerseits wird der Knopfdruck als Vergleich und Deutungsmuster etabliert und dies impliziert notwendigerweise eine gewisse Bekanntheit und Vertrautheit, zumindest hinsichtlich der einzelnen Komponenten des Bildes. Andererseits kann dieses Bild im kulturellen Kontext noch nicht so weit gefestigt sein, dass es nicht gleichzeitig im Text erläutert werden müsste. Welche Vorstellung aufgerufen werden soll, dies kann im kulturellen Bewusstsein noch nicht selbstverständliches Wissen sein.27 Was mit dem Bild gemeint ist und wofür es als Vergleich stehen soll, dies ist ja gerade Zentrum des Textes, muss selbst erst erklärt und eingeführt werden. Siebtens und letztens: Der zentrale Diskurs in Nur ein Druck auf den Knopf ist der der Bildung. Bildung ist das strukturierende Merkmal der dargestellten Welt, an dem Figuren gemessen werden, das Merkmal, das – zumindest im vorgeführten öffentlichen Diskurs – entscheidend für ihre Positionierung in der Welt ist.28 Doch welches Konzept von Bildung verbirgt sich dahinter? Wenn Aladar formuliert: »alles, was ich heute weiß, und du kannst mit mir, bitte sehr, über alles mögliche sprechen – Napoleon, Wagneropern, Botanik, Jahreszahlen, Schopenhauer, Rokoko – was du willst –« (S. 153), und dies als die »ganze Bildung« (ebd.) apostrophiert, dann lässt sich damit (und mit den anderen Stellen im Text, in denen Bildung in ihren Inhalten expliziert wird) schließen, dass mit Bildung auf das Konzept eines umfangreichen, auf Ganzheitlichkeit ausgerichteten Wissens Bezug genommen wird, das, insofern es auf Vollständigkeit ausgerichtet ist, ein statisches Fundament im Sinne der Abgeschlos-
27 Siegfried Kracauer, der 1930 eine ausführliche Rezension zu der Novellensammlung Herr, erbarme dich meiner schreibt, übergeht diese Ebene, wie die gesamte Erzählung, denn auch vollständig – Indiz für eine – noch – fehlende Bewusstheit dieses immerhin titelgebenden Konzeptes. 28 »[V]ielleicht hätte er etwas weniger mit seiner Bildung großtun sollen« (S. 153), resümiert Aladar über Keleti, als er überlegt, was er gegen Keleti hätte gehabt haben können, um ihn auszuwählen.
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senheit dessen, was dazugehört, besitzt. Ein Konzept, dessen Wurzeln im Bildungsbürgertum des 19. Jahrhunderts liegen dürften, bei dem die Kenntnis heterogener Einzelelemente dominiert und bei dem Bildung als Fundus fungiert. Aufgerufen wird das Modell einer klassischen Bildung, freilich im Zerrbild einer Universalgelehrsamkeit, die nur mehr einer Salon-Konversation dient. Aladars Weg lässt sich dann auch als Abkehr von dieser Weltsicht verstehen. Substituiert wird ein Weltbild, das durch humanistische Tradition und idealistisches Ganzheitsdenken geprägt ist, durch eines, in dem Technik, Moderne und Fortschritt dominieren. Was im Text angedeutet, aber offen gelassen wird, vor allem in einer Perutz-typischen Enthaltsamkeit, was eine ideologische Bewertung anbelangt, ist die Verabschiedung einer traditionellen Weltsicht, der eine wissenschaftlich-technische gegenübersteht und die insbesondere mit der Aufwertung von Technik einhergeht. Nicht zufällig wird mit Amerika als Auswanderungsort Aladars auch das Schlagwort des ›Amerikanismus‹ aufgerufen.29 Ein solcher Paradigmenwechsel wird im zeitgenössischen Kontext massiv propagiert und ein solcher vollzieht sich auch in den späten 20er Jahren – und dies scheint mir mit zentraler Denkhintergrund für die Etablierung des Knopfdrucks zu sein. Etwa Mitte der 20er Jahre setzt sich ein neues Verständnis von Technik durch, wie sowohl an den Technikvorstellungen in literarischen Texten, vor allem in literarischen Technikutopien,30 als auch im theoretischen Diskurs zu sehen ist. Zu nennen wäre etwa Friedrich Dessauers Philosophie der Technik von 1927, in der mit Kant’schen Kriterien eine durch Kant geprägte Weltsicht überwunden wird und die Technik als »viertes Reich« von allen konkreten Rechtfertigungszwängen und Skeptizismen befreit wird.31 29 Vgl. dazu etwa Frank Trommler: Amerikas Rolle im Technikverständnis der Diktaturen, in: Emmerich, Wege: Technikdiskurs, S. 159–174. 30 Dieser Paradigmenwechsel ist etwa anhand der Raumfahrtliteratur der 20er Jahre zu sehen; siehe Krah: Raumfahrt. 31 Friedrich Dessauer: Philosophie der Technik. Bonn 1927, S. 32 ff. So, wie es später immer noch Vertreter/Ausläufer idealistischer/skeptizistischer Konzeptionen gibt (etwa Karl Jaspers), so gibt es bereits früher Befürworter der Technik. Gemeint ist hier aber nicht die Debatte um Technikbegeisterung – einsetzend etwa um 1900 – und Technikkritik – etwa in der Folge des Ersten Weltkriegs –, sondern die sich vollziehende Autonomisierung der Technik vom Gegenstand einer Debatte an sich zur unhinterfragbaren, anderen gesellschaftlichen Diskursen übergeordneten Conditio sine qua non. Die Durchsetzung dieses Status als dominante Standardposition im Denksystem – dies ist es, dessen Beginn ich Ende der 20er Jahre ansetze und was etwa mit Karl Aloys Schenzingers Wissenschaftsromanen Mitte der 30er Jahre seinen Ab-
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Abgelöst wird dabei die Vorstellung von der Technik als prinzipiell ambivalent bis negativ, die für Vermassung, Entfremdung, Kapital und Großindustrie steht, als diesseitige Hölle Nicht-Leben und Versklavung repräsentiert und in die der Mensch involviert ist, insofern er als Gegner der Maschine mit dieser übermächtig erscheinenden und verselbstständigten Handlungsmacht um seine Existenzbedingungen zu kämpfen hat. Diese Technikvorstellung spiegelt sich im Bild der Maschine, die vitalistisch als Ungeheuer, als Moloch dämonisiert ist, ein Technikbild, das insbesondere Texte des Expressionismus prägt,32 wie etwa Ernst Tollers Die Maschinenstürmer, und das sich etwa in der literarischen Vorlage zum FritzLang-Film Metropolis von 1927, Thea von Harbous gleichnamigem Roman von 1926, mehr noch als in der filmischen Adaption als dominantes artikuliert. Eine Technikvorstellung, der eine idealistische Anthropologie zugrunde liegt. Im Maschinen-Ingenieur, der im Perutz’schen Text als Mittler und Wanderer zwischen den Welten fungiert33 und rekurrent als Maschinen-Ingenieur tituliert wird, ist diese Vorstellungsdimension als Spur vorhanden; mit dem – ebenfalls als kulturelles Schlagwort erkennbaren – Ingenieur ist aber auch die Instanz expliziert, die sie zu bändigen vermag. Vor der Folie des neuen Technikverständnisses, das Technik prinzipiell positiv setzt, ist nun die Funktion des Knopfes zu bestimmen. Dieser ist dezidiert kein vitalistisches Bild, gehört keiner vitalistischen Vorstellungswelt von Technik an, sondern ist als Bild in diesem neuen, modernen Technikverständnis zu verorten. Dies scheint – mit dem Wissen, dass der Knopfdruck eine dezidiert negative Technik ist – ein Widerspruch zu sein. Doch dem ist
schluss findet. So sehr in/ab den 50er Jahren Technik Diskursgegenstand wird, so doch immer nur als spezifische Technik und immer nur hinsichtlich bestimmter Kategorien (siehe hierzu auch Hans Krah: Atomforschung und atomare Bedrohung. Literarische und [populär-]wissenschaftliche Vermittlung eines elementaren Themas 1946–1959, in: Michael Titzmann [Hg.]: Technik als Zeichensystem in Literatur und Medien. Tübingen 2002, S. 83–114). Erst in den späten 70er/frühen 80er Jahren scheint es hier eine wesentliche Veränderung im Denken zu geben (vgl. Krah: Narration). 32 Siehe etwa Karl Leydecker: Die Technik im Drama des Expressionismus, in: Titzmann: Technik als Zeichensystem, S. 73–81. Auch das Bild des Gleisdreiecks, das Wege als zentrale Denkfigur der Zeit beschreibt (Wege: Buchstabe und Maschine, S. 55 ff.), gehört eindeutig in den Kontext eines solchen vitalistischen Technikdiskurses. 33 So hält er sich etwa einerseits in Amerika auf, verfügt aber andererseits auch über Wissen über den Okkultismus – er verbessert Aladar, der fälschlicherweise von Hektoplasma statt von Ektoplasma spricht – und damit über ›Bildung‹.
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nicht so: Ist es zunächst die Maschine, die an sich negativ oder ambivalent ist, kondensiert und entvitalisiert sich diese im Übergang der Paradigmen zum Knopf. Durch diese ›Verkleinerung‹ ist es nicht mehr die Maschine an sich, die dem Menschen gegenübersteht, sie verschwindet aus dem Blickfeld, wird unsichtbar – Lubitschs Hölle mag dies verdeutlichen. Der Mensch kann sich stattdessen für sich – im Bild – die Position des Darüberstehens reservieren. In der Auslöserfunktion ist die Dominanz über die Maschine gewahrt, so ist evident gesetzt, die Maschine ist damit domestiziert34 und Komplexität ist reduziert. Zugleich wird der Knopf zum Sündenbock stilisiert, der die ›Sünden‹ der Technik auf sich zieht und es mit dieser Strategie ermöglicht, Technik an sich von negativen Implikationen zu reinigen. So wie vor dieser Folie der Hebel als bewusster Regress auf ein mechanisches Technikbild zum positiven Gegenentwurf semantisiert wird,35 weist der Knopf eine inkorporierte Negati-
34 Diese Vorstellung, der die Ambivalenz und Faszination des Machtausübens eigen ist, kann sich so lange halten, bis die ›Maschine‹ von einer anderen Maschine substituiert wird, dem Computer. Etwa ab den 60er Jahren ist die Vorstellung des Knopfdrucks mit der Computertechnik verbunden, wie K. H. Scheers Die Großen in der Tiefe von 1961 und, sarkastisch überspitzt, die Knopfdruckzentrale in Mordecai Roshwalds Level 7 von 1960 zeigen, und verliert damit ihre Ambivalenz, was den Aspekt des Darüberstehens und Agens ausmacht, also ihre inkorporierte Machtposition. Der Mensch wird dann zum Knöpfedrücker degradiert, nun hat wieder die Maschine, konkretisiert im Computer, die Herrschaft übernommen. Siehe zu diesen beiden Texten en détail Krah: Narration. 35 Der Hebel, dem die Raumkoordinaten ›nach oben/unten, nach links/rechts, nach vorn/hinten‹ eingeschrieben sind, korrespondiert mit dem zentralen Paradigma ›Bewegung‹, während der Knopfdruck ›unbeweglich‹ macht. Hierin dürfte sich die zentrale Differenz zwischen Knopfdrücken und Hebelbewegen manifestieren. Der Hebel steht für das positive, einfache Bedienen. Er symbolisiert, obwohl auch er für die Entkoppelung von Ursache und Wirkung steht, eine solche Beziehung, insofern er als mechanische Tätigkeit eine solche mise-en-abyme repräsentiert. Er stellt gerade nicht eine Einweg-Operation dar, sondern bleibt in der Kontrolle und Abhängigkeit des ihn in alle Richtungen bewegen könnenden Menschen. Diesem kann damit eine zwar minimale, aber vorhandene körperliche Aktivität zugesprochen werden, die für die Positivbewertung unumgänglich zu sein scheint. Vgl. in diesem Kontext auch das Beispiel von Hanstein in Anm. 11. Dass dem Hebel positive Qualitäten zugeschrieben werden, zeigt sich im folgenden Beispiel an der Metaphorisierung des eigentlich vorhandenen Knopfes. Im Kapitel »Die Hand am Angsthebel« ist zu lesen: »Frank Bormanns Hand umklammerte den Druckknopf, der die Rettungsrakete auslöste – der ›Angsthebel‹, wie ihn die Astronauten nennen, mit dem sie ›aussteigen‹ können, falls der Start mißglücken sollte« (Kurt Vethake: Mit der Apollo-Rakete zum Mond. Göttingen 1969, S. 124).
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vität auf, sein Erscheinen ist Indikator für eine per se negativ zu bewertende Anwendung von Technik.36 Dafür, diese Sündenbockfunktion zu übernehmen, ist der harmlose Knopf deshalb prädestiniert, und ich komme zum Ursprung, dem Klingelknopf zurück, da er zum einen in besonderem Maße für die Entkoppelung von Ursache und Wirkung stehen mag. Der Meyer’sche Lexikoneintrag macht in seiner Ausführlichkeit, in seinem Anliegen, dieses Verhältnis en détail nachvollziehbar zu machen, deutlich, dass die Bewusstheit um eine solche Koppelung gefährdet zu sein scheint. Dieses Fehlen von Verständnis, wie es funktioniert, bei gleichzeitigem Wissen über das Missverhältnis zwischen Aktion und dem, was sich damit auslösen lässt, eben, dass es funktioniert, dürfte sowohl Faszination als auch eine Beunruhigungsqualität bedingen. Zum anderen und insbesondere steht der Knopfdruck als Signalgeber für eine per se und primär semiotische Operation. Der Druck auf den Knopf löst ein Geräusch aus, das als bedeutungstragend zu interpretieren ist, mit dem sich ein Subjekt bewusst bemerkbar macht und das als dieses Geräusch auch nicht zurückgenommen werden kann. Wie also der Klingelknopf bereits zeigt, ist der Knopfdruck dezidiert eine Einweg-Anlage. Das Signal kann nicht mehr zurückgenommen werden, was passiert, wenn der Knopf gedrückt ist, ist irreversibel: Rudolf Davertshoven ist nichts als kalter, fanatischer Haß, als er sich abstemmt und an die Wand neben seinem Schreibtisch tritt. Da ist eine Stahltür eingelassen, hinter der ein einziger Knopf sitzt. […] Der Druck auf den Knopf schließt nur einen schwachen Stromkreis, aber im Stromkreis sitzt ein Relais, mit dem ein stärkerer Kreis verbunden ist. Dann kommt Relais hinter Relais. Dieser eine Knopfdruck genügt, um die ganze Anlage in Betrieb zu setzen. […] Niemand kann die Anlage betreten, niemand den Anstoßstrom unterbrechen. Ein Knopfdruck, und die Rache an Dahlien ist vollzogen.37
Das Merkmal des ›Nicht-mehr-beeinflussen-Könnens‹ ist dem Knopf ab ovo inhärent. Und insofern das Klingeln per se kein Selbstzweck ist, sondern auf
36 Ein Beispiel: In Otfrid von Hansteins technischer Utopie Elektropolis. Die Stadt der technischen Wunder von 1930 ist der Knopfdruck nur im Kontext des (technisch realisierten) Gedankenlesens und damit des Eindringens in eine andere Person gegeben. Dies ist aber eine Anwendung, die im Text deutlich als abweichender Einsatz von Technik markiert ist – eben auch gestützt durch die Bedienungsvorrichtung ›Knopf‹. Die positive Technik ist an Schalter und Hebel gebunden, daneben wird auch das Schaltbrett (vgl. Anm. 14) ›zitiert‹. 37 Holk: Erde, S. 113, Hervorhebung H. K.
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andere Sachverhalte verweist, andere Handlungen auszulösen vermag und somit wesentlich Zeichen ist, plausibilisiert dieser Ursprung, warum dem Knopfdruck in der Folge seine zusätzliche symbolische Qualität eingeschrieben werden kann.38
38 Als Phasen des Diskurses ließen sich also erkennen: die 20er Jahre als Phase der Kontingenz und des Aufbaus von Merkmalsbündeln, dann die Phase der Etablierung der Denkfigur, die noch mit Ambivalenz/Allmachtsvorstellungen korreliert, dann ab Ende der 50er Jahre die Bindung an den Computer und die Reduzierung des menschlichen Anteils, dann die 90er Jahre. Diese letzte, radikale Umbewertung dürfte sich der Verbindung mit anderen Kontexten und Anwendungsbereichen verdanken: Voraussetzungen und Faktoren sind das Durchsetzen der Computertechnik als unthematisierter Grundlage im kulturellen Denken, die Irrelevanz bzw. die Möglichkeit des Ausblendens des Kontextes der globalen Katastrophe und damit die Lösung von diesem Kontext, und die Aufwertung des Alltags zur emphatischen Kategorie – Aspekte, die Mitte der 80er Jahre noch nicht gegeben sein dürften.
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Konstellationen der Moderne. Verstummen – Medienwechsel – literarische Phänomenologie* für Emilio Bonfatti Es gibt ein Lied von der französischen Sängerin Dalida, in dem die leeren Versprechungen und Treueschwüre der Männer beklagt werden: Was die Männer sagen, seien alles nur leere Worte. Man kennt das Lied: »parole, parole, parole«. Dieser Refrain könnte auch als Motto für die Grundkonstellation der Literatur am Beginn der künstlerischen Moderne um 1900 stehen. Die Erfahrung, dass die bürgerliche Bildungssprache mit ihrer Trinität des Schönen, Wahren und Guten abgegriffenen Münzen gleiche, »die«, mit Nietzsche zu reden, »ihr Bild verloren haben«,1 das Gefühl, dass bloße Worthülsen aus dem Mund fallen, wenn man ihn aufmacht, das Bewusstsein, dass der Wortschatz entleert ist und nichts mehr besagt, ist zu Beginn des 20. Jahrhunderts unter Intellektuellen und Schriftstellern ubiquitär (Fritz Mauthner, Ludwig Wittgenstein, Karl Kraus). Sprachkrise und Sprachkritik, so ist zu Recht festgehalten worden, stehen am Beginn der Moderne und beides wird ihre weitere Geschichte dauerhaft begleiten.2 * Der Text geht auf einen Vortrag am Dipartimento di Lingue e Letterature AngloGermaniche der Università degli Studi di Padova am 17. April 1996 zurück. Eine Kurzfassung davon, die auf dem X. Internationalen Germanistenkongreß (Sektion 12: Die Wiener Moderne. Betreut von Marijan Bobinac, Wendelin Schmidt-Dengler), Wien, 11. bis 16. Sept. 2000, vorgestellt wurde, erschien in: Peter Wiesinger (Hg.): »Zeitenwende – Die Germanistik auf dem Weg vom 20. ins 21. Jahrhundert«. Akten des X. Internationalen Germanistenkongresses Wien 2000. Bern u. a. 2002 (= Jahrbuch für Internationale Germanistik. Reihe A: Kongreßberichte, 58), Bd. 6, S. 461–469. Der Vortragsgestus wurde für die Druckfassung beibehalten. 1 Friedrich Nietzsche: Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne [entst. 1873; ED 1903], in: Ders.: Werke in drei Bänden. Hg. von Karl Schlechta. 6., durchges. Aufl. München 1969, Bd. 3, S. 309–322, hier S. 314. 2 Vgl. Rolf Grimminger: Der Sturz der alten Ideale. Sprachkrise, Sprachkritik um die
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Sprachkrise und Industrialisierung von Zeitungs-, Zeitschriften- und Buchwesen sind komplementäre Prozesse. Die drucktechnische, sozusagen ›altmediale‹ Inflationierung des Worts wird von einem zweiten, ›neumedialen‹ Prozess überlagert: Telefon (1876/77), Grammofon (1887), drahtlose Nachrichtenverbindung (1897) trennen das Wort ab und machen es unabhängig von der körperlichen Präsenz eines Sprechers; Fotografie (Daguerreotypie 1838, Zelluloidfilm 1887) und schließlich der Film (Gebrüder Lumière, 1895) scheiden Physiognomie und Bewegung ab von der Anwesenheit eines Leibes. Kurz: Die Entwertung des Wortes und die damit verbundene Trennung von Sprache und Körper bezeichnen die tieferen, mediengeschichtlichen Ursachen der am Ende des 19./Anfang des 20. Jahrhunderts u. a. in Philosophie und Literatur zum Austrag kommenden Sprach-, Kulturund Wahrnehmungskrise. Und umgekehrt: Führen die genannten Entwicklungen vom Körper fort, bringen ihn die Künstler wieder ins Spiel. Auf die mediale Entwertung des Wortes und dessen massenhafte Verbreitung um 1900 reagieren die Schriftsteller mit Verstummen, Kunstarten- bzw. Medienwechsel oder einer neuen, literarischen Phänomenologie, d. h. mit künstlerischen Formen, von denen sie glauben, Präsenz, Authentizität oder Dingwelt kontrafaktisch zur Sprachkrise gleichwohl unverstellt zur Darstellung bringen zu können. Ob ein solcher unverstellter Ausdruck authentischen Bei-sich-Seins in der Kunst möglich ist, will ich vorab nicht entscheiden. Ich möchte die Frage weder besserwisserisch aus der Sicht heutiger Texttheorie verneinen noch aus der Erfahrung einer sich emphatisch zur Geltung bringenden realen Gegenwart im künstlerischen Werkvollzug bejahen. Den Streit zwischen Jacques Derrida, der dafür optiert, dass es ein Text-Äußeres nicht gibt,3 und George Steiner, der gegen das sekundäre Gerede die theophane Qualität des großen, d. h. auratischen Kunstwerks aufbietet4 –, diesen Streit möchte ich
Jahrhundertwende, in: Rolf Grimminger, Jurij Murasov, Jörn Stückrath (Hg.): Literarische Moderne. Europäische Literatur im 19. und 20. Jahrhundert. Reinbek bei Hamburg 1995, S. 169–200. 3 Die textualistische Formel »Il n’y a pas de hors-texte« (Jacques Derrida: Grammatologie [frz. 1967]. Frankfurt a. M. 1983, S. 274) verbindet sich konsequent mit der antiaisthetischen Aussage: »I don’t believe there is any perception«. (Ders.: Structure, Sign, and Play in the Discourse of the Human Sciences [Vortrag, Baltimore, 1966], in: Richard Macksey, Eugenio Donato, René Girard [Hg.]: The Structuralist Controversy. Baltimore, London 1972, S. 247–264 und 265 ff. [Diskussion], hier S. 272) 4 George Steiner: Von realer Gegenwart. Hat unser Sprechen Inhalt? [Real Presences. London 1989]. Mit einem Nachwort von Botho Strauß. München 1990.
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aus heuristischen Gründen unentschieden lassen, um nicht vorab die Sicht auf die Problemlage um 1900 gänzlich zu verstellen. Vor diesem Hintergrund möchte ich meine These entfalten. Sie hat zwei Teile: 1.) Die Literatur der Moderne ist eine Literatur hart am Rand des Verstummens. 2.) Um nicht zu verstummen, wechseln die Schriftsteller um 1900 ihr Medium. Die Autoren stehen gewissermaßen vor einem Paradox: Ihr Verstummen muss stets ein Medium finden, in dem es sich artikulieren kann – dieses Paradox erweist sich als künstlerischer Impuls, der beiden Stilrichtungen der künstlerischen Moderne – der klassischen und der experimentellen – zu Grunde liegt.5 Am Ursprung der ästhetischen Moderne steht der Medienwechsel aus der Furcht vor dem literarischen Verstummen. Diese Konstellation werde ich zunächst am Beispiel von Hofmannsthal näher beleuchten (I). Danach (II ) wird nur wenig Zeit bleiben, eine Reihe von künstlerischen Bewegungen, die mit dem ästhetischen Aufbruch in die Moderne um 1900 assoziiert werden, auf diese Ausgangskonstellation zu beziehen, nämlich (1) die Futuristen mit ihrer tabula-rasa-Poetik, (2) die Materialkultur der Dadaisten sowie (3) die literarische Phänomenologie Rilkes und seiner formalistischen und strukturalistischen Adepten bis heute.
I. Zunächst zu Hofmannsthal: Sein Chandos-Brief6 ist ein Datum der Sprachkrise und stets als Dokument der Moderne im engen Sinne aufgefasst worden. In dem fingierten privaten Raum des Textes lässt Hofmannsthal einen 26-jährigen, aufgrund seiner Werke gefeierten Schriftsteller, den jungen Lord Chandos, einen Antwortbrief an Francis Bacon schreiben. Darin entschuldigt sich der junge Autor gegenüber dem Begründer des modernen naturwissenschaftlichen Denkens für seinen Verzicht auf Fortsetzung seiner bisherigen literarischen Betätigung. Die Erosion der Semantik wird in der Mitte des Briefes in eine ubiquitäre Zerfallsmetaphorik gefasst, die um organisches Verfaulen und anorganischen Rost organisiert ist. Die abstrakten Worte, so
5 Der denkbare Einwand, klassische und experimentelle Moderne trenne die Erfahrung des Kriegs, geht fehl: Tatsächlich erscheinen Marinettis Manifest des Futurismus in Paris 1909, d. h. vor dem libysch-italienischen Krieg, die einschlägigen Programmschriften der Russen seit Dezember 1912. 6 Hugo von Hofmannsthal: Ein Brief [1902], in: Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe, Bd. 31: Erfundene Gespräche und Briefe. Hg. von Ellen Ritter. Frankfurt a. M. 1991, S. 45–55; im Folgenden zit. mit Seitenangaben in () im Text.
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heißt die viel zitierte Passage, mit der der Chandos-Brief zum Hauptzeugen der Sprachkrise zur Jahrhundertwende avanciert ist, zerfielen »im Munde wie modrige Pilze« und diese Anfechtung breitete sich aus »wie ein um sich fressender Rost« (49). Das ist gut erforscht und soll hier weiter nicht interessieren. Wichtig ist mir nicht die sprachkritische Mitte des Briefs, sondern die Ich-Dissoziation am Anfang und die Ästhetik des Augenblicks am Schluss. Die moderne Zeit macht den Menschen sich fremd. Der Text inszeniert die Dekomposition des neuzeitlichen Subjekts als Rückblick des Lords auf sein bisher vorgelegtes, Erwartungen weckendes Werk. Das Ich der Moderne ist sich seiner selbst nicht mehr sicher. Es bildet nicht länger ein autobiografisches Kontinuum, sondern zerfällt in untereinander fremde Stationen. Raffiniert weiß Hofmannsthal diesen Rückblick auf die frühe Werkfolge als ein zunehmendes Fremdwerden zu steigern: »Kaum weiß ich«, lässt Hofmannsthal Lord Chandos an Bacon schreiben, »ob ich noch derselbe bin […]; bin denn ich’s, der nun Sechsundzwanzigjährige, der mit neunzehn jenen ›neuen Paris‹, jenen ›Traum der Daphne‹, jenes ›Epithalamium‹ hinschrieb […]? Und bin ich’s wiederum«, heißt es in der rhetorischen Steigerungskette weiter, »der mit dreiundzwanzig […] jenes Gefüge lateinischer Perioden fand […]. Und konnte ich, wenn ich anders derselbe bin, alle Spuren und Narben dieser Ausgeburt meines angespannten Denkens so völlig aus meinem unbegreiflichen Innern verlieren, daß mich […] der Titel jenes kleinen Traktats fremd und kalt anstarrt […]«. (45 f.)7 Diese Steigerung, die Zeitfluss als Fremdwerden markiert, führt zu einer Klimax, die das Ich als einen ›Abgrund‹ beschreibt, der es zerreißt. An Bacon gerichtet schreibt Chandos: »Mein Inneres aber muß ich Ihnen darlegen, eine Sonderbarkeit, eine Unart, wenn Sie so wollen eine Krankheit meines Geistes, wenn Sie begreifen sollen, daß mich ein ebensolcher brückenloser Abgrund von den scheinbar vor mir liegenden literarischen Arbeiten trennt, als von denen, die hinter mir sind und die ich, so fremd sprechen sie mich an, mein Eigentum zu nennen zögere«. (46) Einer der fremd gewordenen Werkpläne, die Chandos’ Verstummen zum Fragment macht, wird im Anschluss näher beschrieben. Hofmannsthal lässt den Schriftsteller ironischerweise über einem Projekt verstummen, das den
7 »Wir sind mit unsrem Ich von Vor-zehn-Jahren nicht näher, unmittelbarer eins als mit dem Leib unserer Mutter«, heißt es bei Hofmannsthal 1894 drastisch; in: Ders.: Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden. Hg. von Bernd Schoeller in Beratung mit Rudolf Hirsch. Frankfurt a. M. 1979–1980, Bd. 10, S. 376.
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Titel »Nosce te ipsum« (47) tragen sollte. Der Titel signalisiert mit dem Aufruf des delphischen Orakels den Grundpfeiler neuzeitlicher Anthropologie.8 Dass der Autor über einem Werk verstummt, das die Kant’sche Frage »Was ist der Mensch« (46)9 beantworten sollte, signalisiert das Scheitern neuzeitlicher Ich-Konzeption. Das Ich ist nicht der Ort der Selbsterkenntnis, sondern vielmehr der Brennpunkt der Täuschung. Auf das neuzeitliche ›je pense, donc je suis‹ antwortet der moderne Schriftsteller gegenläufig mit Ich-Dissoziation. In dem Maße, wie es sich seiner selbst zu versichern versucht – dazu diente die erwähnte rhetorische Steigerungskette –, wird es sich fremd. Der ›Rost‹ am Ich ist die Zeit. Daher entwirft der dritte Briefteil (50–55) eine rurale, d. h. antimoderne Utopie einer anderen Zeitlichkeit – die Zeit »gute[r] Augenblicke« (50). Mit ihrer Umschreibung sucht Hofmannsthal eine ›unnennbare‹ Zeit außerhalb der Zeit zu evozieren. Es sind die ›bedeutungslosen‹ Dinge, die »alltäglichen« Gebrauchsgegenstände des einfachen Lebens, an deren Anblick sich »plötzlich« (50 u. ö.) Sinnhaftigkeit entzündet – eine »Gießkanne«, eine »Egge« auf dem Feld, ein »Hund« in der Sonne. Dort, wo – bezogen auf die Sprachkrise des mittleren Briefteils (47–50) – noch keine soziale Semantik Fuß gefasst hat, findet Hofmannsthal Sinn. Mobilisiert wird das ganze Vokabular einer Ästhetik des Erhabenen, um dem Leser zu signalisieren, dass in diesen Zeitsprüngen die soziale Semantik zerreißt und Sinninseln einer anderen Ordnung aufgesprengt werden. Dass eine solche insbesondere von Karl Heinz Bohrer für die Literatur des 20. Jahrhunderts herausgestellte ›Ästhetik des Plötzlichen‹10 seit jeher in der Ästhetikgeschichte mit der Kategorie des Erhabenen kodiert worden ist, soll hier nicht thematisiert werden. Noch der Topos der Unsagbarkeit, den Hofmannsthal vielfach zur Umschreibung der ›guten Augenblicke‹ variiert, par-
8 Vgl. Thomas Müller: Rhetorik und bürgerliche Identität. Studien zur Rolle der Psychologie in der Frühaufklärung. Tübingen 1990, S. 9 ff. 9 Immanuel Kant: Logik-Jäsche, in: Ders.: Kant’s Schriften. Hg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 1923, Bd. 9, S. 1–87, hier S. 25: Die Fragen, die die Philosophie stellt, sind die Folgenden: »1) Was kann ich wissen? 2) Was soll ich thun? 3) Was darf ich hoffen? 4) Was ist der Mensch? Die erste Frage beantwortet die Metaphysik, die zweite die Moral, die dritte die Religion und die vierte die Anthropologie. Im Grunde könnte man aber alles dieses zur Anthropologie rechnen, weil sich die ersten drei Fragen auf die letzte beziehen.« 10 Vgl. Karl Heinz Bohrer: Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins. Frankfurt a. M. 1981; ders.: Das absolute Präsens. Die Semantik ästhetischer Zeit. Frankfurt a. M. 1994.
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tizipiert an der Tradition des Sublimen, insofern Pseudo-Longin eingeschärft hatte, dass »das Schweigen […] erhabener [ist] als alles was Rede wird«.11 Diesen Augenblicken verleiht Hofmannsthal ein eigentümliches Pathos. Sie werden von ihm zu Zeitpunkten ›profaner Offenbarung‹ (Walter Benjamin) überhöht. Es sind Momente der »vollste[n] erhabenste[n] Gegenwart« (51), die jenen, der die »unbegreifliche Auserwählung« (50) erfährt, mit einer »jäh steigenden Flut göttlichen Gefühles« (50) erfüllt. In solchen Augenblicken lässt Hofmannsthal Chandos von der »Gegenwart des Unendlichen« bzw. des »Wundervollen« »durchschauer[n]« (52). Keine Entzweiung, wie im ersten Teil des Briefes thematisiert, kein Zerfall wie im sprachkritischen zweiten, sondern »wortlose[s], schrankenlose[s] Entzücken« (53), keine parzellierenden Grenzen, sondern »Hinüberfließen« (51), »durchwebende Harmonie« (52) und ein »ahnungsvolles Verhältnis[ ] zum ganzen Dasein« (52). Die üblichen Dualismen der Neuzeit – Verstand/Gefühl, Subjekt/Objekt, res cogitans/res extensa – sind in diesen Augenblicken suspendiert. In der von Hofmannsthal imaginierten ›Punktzeit‹12 herrscht synästhetische Einheit: Wir fangen an, »mit dem Herzen zu denken« (52), und wissen nicht, ob diese sonderbaren Zufälle »dem Geist oder dem Körper« (52) zuzurechnen sind. Vor allem aber geschieht, was hier geschieht, zufällig. Der Zeitsprung bei Hofmannsthal ereignet sich ohne eigenes Dazutun. Die ›guten Augenblicke‹ gleichen »sonderbaren Zufällen« (52). Es handelt sich um ›Momente‹, die herbeizuführen »auf keine Weise in meiner Gewalt steht« (50). Der Schriftsteller sucht ein Medium, in dem er dieses »primäre Erlebnis«13 – das, was Freud den ›Primärvorgang‹14 nennt – zur Darstellung bringen kann: ein Denken, von dem Hofmannsthal am Schluss des Chandos-Briefes sagt, es finde in einem Material statt, das »unmittelbarer, flüssiger, glühender […] als
11 Pseudo-Longinos: Vom Erhabenen. Griechisch und Deutsch. Hg. von Reinhard Brandt. [1. Aufl. 1966] Darmstadt 1983, Abschn. 9.2, S. 43. 12 Vgl. Peter Gendolla: Zeit. Zur Geschichte der Zeiterfahrung. Vom Mythos zur ›Punktzeit‹. Köln 1992, S. 69 ff. 13 Hugo von Hofmannsthal: Aufzeichnungen aus dem Nachlaß 1911: Aussee, 25. VIII. – Hemmung, in: Ders.: Gesammelte Werke, Bd. 10, S. 508–510, hier S. 509. 14 Sigmund Freud: Die Traumdeutung [1900]. Frankfurt a. M. 1991, S. 576 ff. Vgl. ders.: Formulierungen über die zwei Prinzipien des psychischen Geschehens [1911], in: Ders.: Studienausgabe, Bd. 3: Psychologie des Unbewußten. 2., korr. Aufl. Frankfurt a. M. 1975, S. 15–24. Vgl. Harold Bloom: Freud and the Sublime. A Catastrophe Theory of Creativity, in: Ders.: Agon. Towards a Theory of Revisionism. Oxford 1982, S. 90 ff. Lust- und Realitätsprinzip werden als zwei Formen der künstlerischen Produktivität verstanden – der Anschluss an Nietzsches Dualität apollinisch/dionysisch und die ganze Hydra einer ›Doppelten Ästhetik‹ ist offenkundig.
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Worte« sei (54). Dies sei eine Sprache, »in welcher die stummen Dinge […] sprechen« (54). Die ›guten Augenblicke‹ bleiben »wortlos« (53) und »unnennbar« (54). Rückblickend hat Hofmannsthal diese Momente im Blick auf ihre eigentümliche Zeitstruktur als Situationen eines »Mystikers ohne Mystik« bezeichnet und sie hinsichtlich der Sprachproblematik mit einem »anständigen Schweigen« verbunden.15 Beides zeugt von dem Wunsch nach ›unvermittelter Vermittlung‹ unter den Bedingungen moderner Zeitlichkeit – ein widersprüchliches Unterfangen. Es ist dem Chandos-Brief als das Formproblem eines performativen Widerspruchs insofern eingeschrieben, als er mehr als zehn Seiten lang vom »Verstummen« spricht bzw. schreibt. Hofmannsthal verwickelt sich in den Widerspruch, der sich zwischen der Botschaft, die er mitteilen will, und der Form, die seine Botschaft, um mitgeteilt werden zu können, notwendig annehmen muss, auftut. Stets muss das Verstummen des Schriftstellers ein Medium finden, in dem es sich artikuliert – das ist die Konstellation des modernen Schriftstellers um 1900. »The art of our time is noisy with appeals for silence. […] One recognizes the imperative of silence, but goes on speaking anyway«,16 hat Susan Sontag diesen gegenläufigen Vorgang kommentiert. So schnell, wie die moderne Ästhetik der Stille von ihr abgefertigt wird, möchte ich nicht sein. Susan Sontags Verdikt mag den Symbolisten Maurice Maeterlinck (1862–1949) treffen, den die Brüchigkeit des Dialogs zum »drame statique« und zur Kooperation mit Debussy treibt. Seine Überlegungen zur Stille im Essay Le Silence (1896) sind vergleichsweise einfach, wenn er das Sprichwort ›Sprechen ist Silber, Schweigen ist Gold‹ dahingehend kommentiert, »ou comme il vaudrait mieux le dire: La parole est du temps, le silence de l’éternité«.17 Maeterlincks
15 Hofmannsthal: Ein Brief, Varianten und Erläuterungen, S. 295. Zum Mystik-Kontext der literarischen Moderne siehe: Martina Wagner-Egelhaaf: Mystik der Moderne. Die visionäre Ästhetik der deutschen Literatur im 20. Jahrhundert. Stuttgart 1989. 16 Susan Sontag: The Aesthetics of Silence [1967], in: Dies.: Styles of Radical Will. New York 1969, S. 3–34, hier S. 12. Dass gerade die Parteigänger des Schweigens erbarmungslose Schwätzer seien (»both intimates of silence, are both such obsessive babblers«), sagt Ihab Hassan: The Literature of Silence. From Henry Miller to Beckett & Burroughs, in: Encounter 28/1 (1967), S. 74–82, hier S. 74. Vgl. Christiaan L. HartNibbrig: Rhetorik des Schweigens. Versuch über den Schatten der literarischen Rede. Frankfurt a. M. 1981, bes. S. 154–167, sowie die reichen bibliographischen Angaben zu einer Poetik des Schweigens bei Volker Roloff: Reden und Schweigen. Zur Tradition und Gestaltung eines mittelalterlichen Themas in der französischen Literatur. München 1973, bes. S. 7–19. 17 Maurice Maeterlinck: Le Silence, in: Ders.: Le Trésor des Humbles [1896]. Paris 1949,
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Schwärmen für das Schweigen ist als Beispiel dafür angeführt worden, dass sich alle skeptischen Einwände gegen die Sprache in dem Maße selbst widerlegen, wie sie in der Sprache Gestalt und damit Überzeugungskraft gewinnen müssen. Hofmannsthal ist demgegenüber genauer an den künstlerischen Produktionsbedingungen von ›Ewigkeit‹ unter Bedingungen der Moderne interessiert: Medien der Unmittelbarkeit, die ein ›anständiges Schweigen‹ jenseits der Sprache zu artikulieren verstünden, hatte er bereits zuvor thematisiert. Die Frage, warum das Publikum so großes Interesse an dem Schauspieler Mitterwurzer nehme, führt unmittelbar vor die Sprachproblematik. Die soziale Semantik der Gegenwart erscheint als ein komplexes Lügensystem, das einen »tiefen Ekel« vor dem Wort erzeuge. Gezielt wird auf eine soziale Konstruktion von ›Wirklichkeit‹, an der Mediensystem, Bildungswesen, Bürokratie und Positivismus der Wissenschaften beteiligt sind. Hofmannsthals Mitterwurzer-Rezension von 1895 wird von einer semiotischen Dichotomie strukturiert, in der »Erlebnis« gegen »Bücher«, »Dinge« gegen »Worte«, »Welt« gegen »das Hörensagen«,18 kurz: Signifikate gegen Signifikanten ausgespielt werden. Das sprachliche Zeichen ist zwar beliebig, aber, hat Saussure in seinen Genfer Vorlesungen ab 1906 stets betont, das heiße nicht, dass sie veränderlich seien. Vielmehr ist die Sprache ein soziales System, »dem man wirklich unterworfen ist« und in das »das Individuum in passiver Weise einregistriert« wird.19 Das, was Saussure die ›Einregistrierung‹ und ›Unterwerfung‹ des Einzelnen unter das soziale System der Sprache (›langue‹) nennen wird, hatte Hofmannsthal in der Mitterwurzer-Rezension ins literarische Bild gesetzt und der – so das Diktum Roland Barthes’ – ›faschistischen Sprache‹ die Unmittelbarkeit eines ›anständigen Schweigens‹ gegenübergestellt: »[…] die Worte haben sich vor die Dinge gestellt. Das Hörensagen hat die Welt verschluckt. […] Wenn wir den Mund aufmachen, reden immer zehntausend Tote mit«.20 Die soziale Dimension der Semantik ist immer schon da. Deswegen komme es für den Künstler darauf an, die »Beredsamkeit das Schweigen« zu lehren. Gegen die semantische Unterwerfung des Einzelnen durch arbiträre, d. h. sozial vereinbarte Zeichen mobilisiert Hofmannsthal
S. 9–20, hier S. 10. Gegenüber Maeterlincks sprachlichem Aufwand für das Schweigen vgl. die Skepsis bei Roloff: Reden und Schweigen, S. 7. 18 Hugo von Hofmannsthal: Eine Monographie. »Friedrich Mitterwurzer« von Eugen Guglia [1895], in: Ders.: Gesammelte Werke, Bd. 8, S. 479–483. 19 Ferdinand de Saussure: Grundfragen der Allgemeinen Sprachwissenschaft [frz. 1906–1911; ED 1916]. 2. Aufl. Berlin 1967, S. 83 und 16. 20 Hofmannsthal: Eine Monographie, S. 479 f.
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die individuelle Dimension der natürlichen, d. h. motivierten Zeichen, d. h. all jene Künste, »die schweigend ausgeübt werden: die Musik, das Tanzen und alle Künste der Akrobaten und Gaukler«. (265) Hofmannsthals Poetik des Verstummens impliziert den Medienwechsel vom Wort zum Körper, den eine Reihe seiner nach 1902 entstehenden Werke vollziehen. Mit dem Medienwechsel einher geht die Auflösung des traditionellen Autorbegriffs – Ausdruckstanz, Film, Oper oder Festspiel verlangen nach Formen künstlerischer Zusammenarbeit, etwa mit der Tänzerin Grete Wiesenthal, dem Regisseur Mauritz Stiller, dem Komponisten Richard Strauss oder dem Theatermann Max Reinhardt bei Hofmannsthal, oder sei es mit Picasso, Erik Satie und Diaghilews »ballets russes« im frühen Mimodrama Jean Cocteaus (Parade, 1917).21 Die Vielzahl dieser Experimente, die der Beredsamkeit des Schweigens eine Form zu geben versuchen, d. h. im Anschluss an die eben entwickelte Problematik insbesondere die Rolle des Tanzes als ästhetische Alternative zu Sprache und Wortkunst herausstellen und künstlerisch ausprobieren, ist relativ wenig bekannt.22 Der Tanz wird integraler Bestandteil des Werks: Neben dem christlich geprägten Totentanz u. a. im Jedermann (1911) ragt vor allem der stumme, mänadische Tanz am Schluss von Elektra (1904) heraus: Elektras »Schweig, und tanze« ist der Imperativ, der aus der ChandosProblematik von Verstummen und Medienwechsel eine doppelte Konsequenz zieht: Das Drama von 1904 leitet die Kooperation mit Richard Strauss ein (ab 1906, UA der Oper Elektra 1909) und eröffnet zugleich eine Reihe von theoretischen und praktischen Arbeiten zu Tanz und Pantomine, die schließlich zur Zusammenarbeit mit der Tänzerin Grete Wiesenthal in Amor und Psyche (ED 1911) und in der von Mauritz Stiller anschließend verfilmten Pantomime Das fremde Mädchen (ED 1911 bzw. 1913) führen. Zugleich entstehen eine Reihe gattungsmäßig ganz unterschiedlicher Texte, in denen sich Hofmannsthal theoretisch des Tanzes versichert, insbesondere seiner kultischen Gebundenheit: Der Text Die unvergleichliche Tänzerin (1906) ist eine Besprechung indischer Tempeltänze der amerikanischen Tänzerin Ruth St.
21 Vgl. Jürgen Grimm: Das avantgardistische Theater Frankreichs 1895–1930. München 1982, S. 104 ff. 22 Vgl. Wolfram Mauser: Hofmannsthals Triumph der Zeit. Zur Bedeutung seiner Ballett- und Pantomimen-Libretti, in: Hofmannsthal-Forschungen 6 (1981), S. 141–148; Gabriele Brandstetter: Der Traum vom anderen Tanz. Hofmannsthals Ästhetik des Schöpferischen im Dialog Furcht, in: Freiburger Universitätsblätter 112 (Juni 1991), S. 37–58; dies.: Tanz-Lektüren. Körperbilder und Raumfiguren der Avantgarde. Frankfurt a. M. 1995.
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Denis; das Hetärengespräch Furcht (1907) zielt auf die Konfrontation des klassischen mit einem anderen, archaischen Tanzmodell; die ebenfalls an Lukian anknüpfende Schrift Über die Pantomime (1911) stellt an dem »stummen Schauspiel […] zeremoniösen Gebarens« heraus, dass hierin gelingt, was Chandos in der Wortkunst versagt blieb – die Erfüllung des delphischen Gebots »›Erkenne dich selbst‹«.23 (Die Dimensionen von Mythos, Ritual und Opfer werden auch später stets den sentimentalischen Wunsch nach einer Rebarbarisierung der Kunst entzünden. Strawinsky, Cocteau, Artaud, Mnouchkine oder Pasolini – stets maskiert Dionysos nachklassisch sich mit ethnologischem Material.) Das genannte Textkorpus ist zu umfangreich, um es hier noch einer ausführlichen Lektüre unterziehen zu können. Stets bleiben die Texte, und zwar bis in Hofmannsthals frühe Filmtheorie, die der kurze Beitrag Der Ersatz für die Träume von 1921 entwirft, auf die eben entworfene Grundkonstellation bezogen. Stets zielt er auf die kommentarlose »Unmittelbarkeit« der Darstellung, die »Blitz«-artig, »unerwartet«, »plötzlich da« ist, »ungeheuer«, »außerordentlich«, »großartig«, »elementar« wirkt und deswegen »undefinierbar«, »unbeschreiblich«, »unvergleichlich« ist.24 Stets muss die dreifaltige Topik von Erhabenheit, Plötzlichkeit und Unsagbarkeit herhalten, um z. B. die stumme Beredsamkeit von Ruth St. Denis zu umschreiben oder den Wechsel des Textes zur Szene, d. h. den Schritt vom Verstummen zum Tanz, zu markieren. »[…] alles ist ihnen [den fremden, barbarischen Tänzerinnen] unsagbar. Und dann tanzen sie«.25 Was bleibt, ist Szenenanweisung … Gesucht wird im Tanz, der das Körpermedium ins Spiel bringt, eine nicht-arbiträre Zeichenrelation, d. h. eine Signifikanz, die nicht auf sozialer Konvention und nicht auf zeitlicher Verkettung beruht, sondern die motiviert und zeitlos ist. Gegenüber Grete Wiesenthal kommentiert Hofmannsthal seine Notation zur gemeinsam erarbeiteten Pantomime Amor und Psyche: »Das sind Worte. Sie übersetzen sichs in eine bessere Materie«. Dass das sprachliche Zeichen ein Wert ist, der »lediglich differentiell und negativ« ist, d. h., »daß es in der Sprache nur Verschiedenheiten« (»que des différences«) gibt,26 fasst Hofmannsthal in eine Warnung, die die Kunst der Wiesenthal ex
23 Hugo von Hofmannsthal: Über die Pantomime [1911], in: Ders.: Gesammelte Werke, Bd. 8, S. 502–505, hier S. 505. 24 Hugo von Hofmannsthal: Die unvergleichliche Tänzerin [1906], in: Ders.: Gesammelte Werke, Bd. 8, S. 496–501. 25 Hugo von Hofmannsthal: Furcht. Ein Dialog [1907], in: Ders.: Sämtliche Werke., Bd. 31, S. 118–125, hier S. 124. 26 Saussure: Grundfragen, S. 144 und 143.
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negativo herausstellen soll: »Die Worte verwirren und gehen von einem Ding zum anderen / hinüber; sie sind gefährlich, weil sie ohne Selbst sind / und aus sich herausschweifen«.27 Gerade der Grund, weshalb Saussure die Pantomime als eine auf völlig natürlichen Zeichen beruhende Ausdrucksform in seinem Semiologie-Projekt allenfalls am Rande hatte berühren wollen,28 macht sie für die Künstler zur gleichen Zeit im höchsten Maße attraktiv: Im Unterschied zum traditionellen, klassischen Ballett galt die im Zuge der FreienTanz-Bewegung um 1900 reaktivierte Pantomime nicht als System beliebiger Zeichen. Gegenüber den ›falschen‹ Bewegungen des europäischen Balletts seien die Bewegungen des freien, pantomimischen Tanzes – schwärmt Hofmannsthal in seiner Charakteristik der von Ruth St. Denis aufgeführten Tempeltänze – »richtig«. Sie sind natürlich, motiviert und unmittelbar, kurz: Sie folgen »innere[r] seelische[r] Notwendigkeit«, die, wie profiliert wird, »keine Vermittlung sucht, keine Brücke«.29 Im Tanz, zumal in den rituellen Tänzen der zeitlich fernen Antike – Elektra – oder des räumlich fernen Ostasiens – Ruth St. Denis – glaubt Hofmannsthal ein Medium der Unmittelbarkeit gefunden zu haben: einen Modus, der ein Sich-Haben jenseits des zeitlichen Prinzips von Hoffnung oder Furcht vergegenwärtigt. Selbst gegenüber dem Kino, dessen luzide herausgestellte Hypermedialität doch nur die Zitatkultur übertrumpft,30 aus der der Zeitsprung augenblickshaft erlösen sollte –, selbst gegenüber dem Massenmedium ist er geneigt, sich zu versöhnen, weil dessen »Bilder stumm« und daher fähig sind, den »unzähligen Hunderttausenden in den finsteren Sälen« eine »fortwährende Gegenwart fühlbar zu machen«,31 wie sie sonst nur dem Erwachsenen im Nacht- oder dem Kinde im Tagtraum möglich sind. Während die »Branntweinschänke« für die Masse den Ort bloßer Flucht bezeichnet, ihr im Vortragssaal bzw. Parteilokal mit der Sprache dagegen das Werkzeug der Gesellschaft entgegentritt, das sie
27 Hugo von Hofmannsthal an Grete Wiesenthal [12. Dez. 1910]; zit. Leonhard M. Fiedler, Martin Lang (Hg.): Grete Wiesenthal. Die Schönheit der Sprache des Körpers im Tanz. Salzburg, Wien 1985, S. 99. 28 Saussure: Grundfragen, S. 79 ff. 29 Hofmannsthal: Die unvergleichliche Tänzerin, pass. 30 Hugo von Hofmannsthal: Der Ersatz für die Träume [1921], in: Ders.: Gesammelte Werke, Bd. 9, S. 141–145, hier S. 144: »[…] auf dem Film aber fliegt indessen in zerrissenen Fetzen eine ganze Literatur vorbei, nein, ein ganzes Wirrsal von Literaturen, der Gestaltenrest von Tausenden von Dramen, Romanen, Kriminalgeschichten; die historischen Anekdoten, die Halluzinationen der Geisterseher, die Berichte der Abenteurer; aber zugleich schöne Wesen und durchsichtige Gebärden; Mienen und Blicke, aus denen die ganze Seele hervorbricht.« 31 Hofmannsthal: Der Ersatz für die Träume, S. 143.
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zum Anhängsel der Maschinerie erniedrigt, lässt Hofmannsthal das Kino als Ort einer legitimen Kompensation durchaus gelten. Es bietet sozusagen das Richtige im Falschen, insofern die Bedürfnisse der Massen hier immerhin zum Ausdruck, freilich nicht zu ihrem Recht kommen.
II .
Ich breche hier ab und skizziere kursorisch, wie Avantgarde und literarische Phänomenologie auf die herausgestellten Grundkonstellationen bezogen werden können. Als tertium comparationis gilt es den Sachverhalt zu erfassen, dass stets ein Modus gesucht wird, der Vorgängigkeit sozialer Semantik zu entkommen, sei es, dass das Kontinuum der Zeit aufgesprengt wird, wie eben an Hofmannsthals Beispiel interpretatorisch erschlossen, sei es, dass die Tradition schlicht weggesprengt wird, wie es die Italiener und Russen in ihren futuristischen Manifesten lustvoll ausphantasieren, sei es schließlich, dass in einer Art phänomenologischer Reduktion die Semantik eingeklammert wird, um ein Neues Sehen zu üben. Zu nennen ist 1.) die Geste des großen Traditionsbruchs im italienischen und russischen Futurismus, der der überlieferten Semantik und deren Institutionen den Krieg erklärt, den lateinischen Satz sprengt, die Lehrer und Professoren ausrottet und die Bibliotheken in Brand steckt. Wie bei Hofmannsthal ist bei Marinetti die Vergangenheit »gänzlich erschöpft«,32 so dass ihre Semantik zunächst einmal abgeräumt wird. Es sind die Institutionen kultureller Memoria sowie deren Agenten, denen der Garaus gemacht werden soll. Was ist die Kultur? – ein »großer Markt der Trödler«. Was passiert mit den kulturellen Archiven und Speichern? – »Wir wollen die Museen, die Bibliotheken zerstören […]. Steckt doch die Bibliotheken in Brand!« (200) Was tun mit Professoren, Archäologen und Antiquaren? Von diesem »Krebs […] wollen […] wir Italien […] befreien« (175 f.). Aus dem libysch-italienischen Krieg 1911/12 gebiert Marinetti das Lautgedicht. Die Onomatopoetik des Gefechts, Artilleriefeuer und Maschinengewehr, bilden den Ausgangspunkt seiner Lautpoesie im Text Bataille: »toumbtoumb alarme […] mitrailleuses tataratataratatara […] toumbtoumb« (dtsch.: »bumbum […] tatatata […] pink
32 Filippo Tommaso Marinetti: Manifest des Futurismus [frz. 1909; dt. 1912]; zit. Peter Demetz: Worte in Freiheit. Der italienische Futurismus und die deutsche literarische Avantgarde (1912–1934). Mit einer ausführlichen Dokumentation. München, Zürich 1990, S. 172–178, hier S. 176.
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pum pank«).33 Die Gewaltphantasie des tabula-rasa-Programms, die »Befreiung des Wortes« (parole in libertà) durch die »Zerstörung der Syntax« öffnet den Raum für weitere avantgardistische Experimente, nämlich: 2.) z. B. für die »Materialkultur« (Wladimir Tatlin) der Dadaisten, die die Semantik der Worte und Sätze abräumt, die Literatur mit der Schere zerschneidet und sie collagierend und montierend hin zu anderen Künsten und Medien erweitert. Die Bedeutung des Textes wird zerstört, um seine Materialität hervortreten zu lassen. Man denke an die Anweisung Tzaras Pour faire un poème dadaïste (1920): »Prenez un journal. / Prenez des ciseaux / […]«. Kurt Schwitters (1887–1948) bezeichnet den von Tzara beschriebenen Vorgang des kreativen Zusammenstoßes von Zeitung und Schere als »Entformelung« bzw. »Entformung«,34 die, Hugo Ball nach, aufgrund der »durch den Journalismus verdorbene[n] Sprache«35 notwendig wurde. Bruitismus, d. h. Klanggedicht, und Lettrismus, d. h. Bildgedicht, befreien das Wort von seinem Sinn zugunsten von Laut und Musik bzw. Graphik und Malerei. 3.) die ›dingfestmachende‹, sich an der Skulptur Rodins und der Malerei Cézannes orientierende Poetik eines »sachlichen Sagens« etwa bei Rilke. Mit dem Versuch, einen künstlerischen Modus zu finden, so zu schreiben, wie Cézanne malt, geht das Programm eines ›Neuen Sehens‹ einher. Die »kolossale Wirklichkeit«, mit der 1907 die Malerei Cézannes konfrontiert, führt Rilke zur Überzeugung, dass das Dichtwerk deutungslose »Dingwerdung« (für »réalisation«) werden müsse. Die Voraussetzung für die »Sachlichkeit« der Kunst sieht Rilke in einem »unbeherrschten Schauen«, d. h. in einem Schauen, das nicht von einem subjektiv gestaltenden Willen beherrscht wird. Solches Schauen sei vielmehr ein äußerstes Gesammeltsein, in welchem sich der Schauende ganz nach außen kehrt und sich in vorbehaltloser, gewissermaßen willentlich willenloser Hingabe wie ein offenes Gefäß verhalte, in das die Dinge einströmen könnten.36 33 Filippo Tommaso Marinetti: Supplement zum technischen Manifest der Futuristischen Literatur [frz. 1912; dt. 1913]; zit. Demetz: Worte in Freiheit, S. 200–208, hier S. 204 ff. (Bataille. Poids + Odeur / Schlacht. Gewicht + Geruch). 34 Kurt Schwitters: [Die Bedeutung des Merzgedankens in der Welt, 1923], in: Ders.: Das literarische Werk. Hg. von Friedhelm Lach. Köln 1981, Bd. 5: Manifeste und kritische Prosa, S. 133 f. 35 Hugo Ball: Die Flucht aus der Zeit [1927]. Luzern 1946, S. 100. Ähnlich schon Hugo von Hofmannsthal: Poesie und Leben (Aus einem Vortrage), in: Ders.: Der Brief des Lord Chandos. Schriften zur Literatur, Kultur und Geschichte. Hg. von Mathias Mayer. Stuttgart 2000, S. 36–44, hier S. 39: »Die Zersetzung des Geistigen in der Kunst ist in den letzten Jahrzehnten von den Philologen, den Zeitungsschreibern, und den Scheindichtern gemeinsam betrieben worden«. 36 Vgl. Rainer Maria Rilke: Briefe über Cézanne. Hg. von Clara Rilke. Wiesbaden 1952,
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Eine solche Befreiung der Wahrnehmung von vorgestanzten Schablonen hat Intellektuelle und Künstler unterschiedlicher Disziplinen und Couleurs nach 1900 gefesselt: etwa auch die russischen Formalisten mit ihrem Programm einer Entautomatisierung der Wahrnehmung, bei der dem bloßen Wiedererkennen (»uznavanie«) das Sehen (»videnie«) emphatisch entgegengestellt wird. Viktor Sˇklovskij (1893–1984) führt das Prinzip ›Rilke‹ und das Konzept ›Futurismus‹ zusammen. Er zielt auf »novoe videnie« durch »priem ostranenija«, d. h. auf ein Neues Sehen durch den Kunstgriff der Verfremdung bzw. des Seltsammachens. Ich nenne es das WVS -Modell: Wiedererkennen – Verfremdung – Neues Sehen.37 In die gleiche Richtung, die ich der philosophischen Wurzeln bei Husserl wegen als »literarische Phänomenologie« bezeichne, zielen insbesondere auch französische Schriftsteller, seien es Dichter wie Francis Ponge (1899–1988), der 1942 emphatisch von einer Parteinahme für die Dinge – »Parti pris des choses« – spricht,38 seien es Schriftsteller um den experimentellen Nouveau Roman, die, wie z. B. Alain RobbeGrillet (*1922), eine »Schule des Blicks« einfordern, um die Dinge von der Tyrannei der Sinnsysteme zu befreien und in ihrer »unmittelbaren Wirklichkeit« vor Augen zu stellen,39 oder seien es Texttheoretiker wie Roland Barthes, der nicht müde wird, der alltäglichen Mythologie bzw. Ideologie die widerständige Sprache der Dichtung gegenüberzustellen, weil nur sie die Sache selbst erfasst: »elle [la poésie] seule saisit la chose même«.40 Als AntiSprache ist die Dichtung für Barthes ein sensitives Analogon zum Schwei-
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pass. Herman Meyer: Rilkes Cézanne-Erlebnis [1952/54], in: Ders.: Zarte Empirie. Studien zur Literaturgeschichte. Stuttgart 1963, S. 244–286, bes. S. 248–264. Mit der Formel, dass bei Rilke »eine Lyrik statt einer Philosophie« da sei, hat Käte Hamburger (Die phänomenologische Struktur der Dichtung Rilkes, in: Dies.: Philosophie der Dichter. Novalis, Schiller, Rilke. Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1966, S. 179–275, hier S. 180) herausgestellt. Zu Rilkes Beschreibungen von Cézannes Gemälden vgl. Martina Dobbe: Wie sollte einer von Farben sprechen können? Die Farbe und die Sprache in Rilkes Briefen über Cézanne, in: Diagonal 1992/2 (Thema: Farben), S. 74–84. Viktor Sˇklovskij: Die Kunst als Verfahren [russ. 1916]; zit. Jurij Striedter (Hg.): Russischer Formalismus. Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa [zuerst 1971]. München 51994, S. 3–35, bes. S. 13 ff. Vgl. Renate Lachmann: Die ›Verfremdung‹ und das ›Neue Sehen‹ bei Victor Sˇklovskij, in: Poetica 3 (1970), S. 226–249. Francis Ponge: Im Namen der Dinge. Mit einem Nachwort von Jean-Paul Sartre [frz. 1942/1944]. Frankfurt a. M. 1973. Alain Robbe-Grillet: Dem Roman der Zukunft eine Bahn [frz. 1956], in: Ders.: Argumente für einen neuen Roman. Essays [frz. 1963]. München 1965, S. 15–23. Roland Barthes: Mythologies. Paris 1957, S. 119 ff.; vgl. ders.: Mythen des Alltags [frz. 1957; dt. 1964]. Frankfurt a. M. 61981, S. 117 ff.
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gen, wodurch sie »zum Sinn der Dinge selbst« (»au sens des choses même«) gelange, d. h. zu den natürlichen Eigenschaften der Dinge, die außerhalb eines semiologischen Systems liegen: »On retrouve ici le sens, [tel que l’entend Sartre,] comme qualité naturelle des choses, située hors d’un système sémiologique […]«.41 Auf den Ort der Dinge außerhalb des semiotischen Zwangs, zielen, sehe ich richtig, alle hier skizzierten Spielarten künstlerischer Moderne. Daher am Schluss die Gegenprobe: Wenn es stimmt, dass die Literatur der Moderne unter dem Druck zu verstummen das Medium wechselt, findet dann, in Umkehrung meiner These, die Literatur des Postmodernismus zur Literatur zurück? Die Konstellation der Postmoderne ist Hofmannsthals Chandos-Brief durchaus vergleichbar. John Barth schreibt 1967 über The literature of exhaustion. Erneut ist die Literatur am Endpunkt ihrer Möglichkeiten angelangt. Die Moderne ist auf fatale Art ›alt‹ geworden. Die Avantgarde und ihr ›ewiger‹ Dadaismus, gegen die Tradition zu rebellieren, hat sich totgelaufen. Während jedoch Chandos verstummt und sein Autor das Medium wechselt, weil die literarischen Formen erschöpft sind und sich die Bedeutungen der Worte entleert haben, wechselt der postmoderne Autor die Ebene und spricht auf einer Metaebene weiter. Genauer: Der postmoderne Autor nimmt den performativen Widerspruch der modernen Literatur, dass das Verstummen stets ein Medium finden muss, in dem es sich artikuliert, bewusst in eigene Regie. Den heroischen Impuls der Moderne nach ›unvermittelter Vermittlung‹ hat die Postmoderne als Illusion durchschaut. Mit Blick auf die Erzählungen des Argentiniers Jorge Luis Borges entwickelt John Barth die Beobachtung, dass eine Möglichkeit, mit dem Ende der Literatur umzugehen, diejenige ist, daraus Literatur zu machen. Auf diese Weise entstehen, und nun zitiere ich wörtlich, »novels which imitate the form of the Novel, by an author who imitates the role of Author«.42 Nach dem Verstummen in der Moderne hat die Literatur in der Postmoderne zur Rede zurückgefunden. Lesen Sie Eco: Statt »parole in libertà« wieder »parole, parole, parole«.
41 Barthes: Mythologies, S. 220, Barthes gibt als Sartre-Bezug »Saint Genet, p. 283« an. Der Versuch, diese Angabe anhand Sartres Groß-Essay über Genet, der 1952 als erster Band von dessen Werkausgabe erschienen war, zu verifizieren, blieb erfolglos. Die Formulierung ›Analogon zum Schweigen‹ rekurriert auf Barthes’ Feststellung: »notre poésie moderne s’affirme toujours comme […] une sorte d’analogue spatial, sensible, du silence.« (Ebd., S. 220) 42 John Barth: The literature of exhaustion, in: Atlantic Monthly, Aug. 1967; zit. Marcus Klein (Hg.): The American Novel Since World War II. New York 1969, S. 267–279.
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»Traum wird Leben, Leben Traum.« Arthur Schnitzlers Die Toten schweigen (1897) Horst-Jürgen Gerigk gewidmet Die Geschichte, die Arthur Schnitzler erzählt, ist so simpel wie abwegig: Eine junge verheiratete Frau trifft sich mit ihrem Liebhaber. Das Treffen scheint überschattet von unterschiedlichen Vorstellungen der Beziehung; sie fürchtet, von Passanten erkannt zu werden, ihm ist das gleichgültig; ihr reichen die wenigen gemeinsamen Stunden, er leidet darunter. Die gemeinsame Fahrt in der Kutsche endet an einer Brücke, die über die Donau führt. Hier kommt es zu einem Gespräch, das den Konflikt offenbart. Franz drängt auf Entscheidung, entweder soll Emma bereit sein, den Ehemann zu verlassen, oder er selbst sagt Adieu. Durch zärtliche Versprechen weiß Emma ihren Liebhaber dazu zu bewegen, wieder in die Kutsche zurückzukehren, doch im Moment der Annäherung verunglückt diese. Emma findet sich unverletzt mit dem toten Franz neben der umgestürzten Kutsche wieder. Als der Kutscher versucht, Hilfe zu holen, stiehlt sich die junge Frau aus Furcht vor Entdeckung davon. Zu Hause angelangt gelingt es ihr, die Fassade vor dem heimkehrenden Gatten zu wahren, sie schläft aber bei Tisch erschöpft ein und murmelt im Schlafe »die Toten schweigen«. Der Gatte, misstrauisch geworden, leitet ein offenes Gespräch ein, das Emma, des Lügens müde, bereit ist anzunehmen. Die Toten schweigen markiert einen Wendepunkt im Werk Arthur Schnitzlers von der typologisierenden Bestandsaufnahme menschlicher Verhaltensformen (beispielsweise in Schweigen) hin zur dezidierten Diagnose seelischer Mechanismen.1 Noch 1927 differenziert Arthur Schnitzler drei Typen des Schriftstellers – den Historiker, den Naturforscher und den Pro-
1 Wolfgang Lukas: Das Selbst und das Fremde. Epochale Lebenskrisen und ihre Lösungen im Werk Arthur Schnitzlers. München 1996, im Besonderen S. 16 ff.
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pheten – und lässt keinen Zweifel daran,2 welchem er sich selbst zurechnet, denn »es gibt auch dichterische Begabungen (besonders solche mit vorwiegend psychologischer Einstellung), die der Geistesfassung nach dem Typ Naturforscher […] angehören«.3 Schon Zeitgenossen Schnitzlers merken kritisch an: »[Dass] Medizin und Dichtung sich in ihm wundersam verknüpfen, ist uns bis zum Unwohlsein von den Feuilletonisten auseinandergesetzt worden«.4 Die neuere Forschung konstatiert eine hauptsächlich im dramatischen Werk sich zeigende »präpsychologisch-naturalistische« Frühphase. Ihr folgt eine »psychologisch-lebensideologische« Phase, die mit der »Entdeckung des unbewußten Potentials« einhergeht. Um 1897 setzt demnach eine zunehmende Subjektivierung bzw. Psychologisierung der Figuren ein, die auf Schnitzlers Kenntnis des herrschenden Diskurses psychischer Mechanismen und von Freuds und Breuers Studien zur Hysterie hindeuten. Schnitzlers Verständnis der menschlichen Psyche berücksichtigt eine äußere wie eine innere Realität, die äußere als Bindung an ökonomisch bedingte Lebensumstände und gesellschaftliche Normen, die innere als Einheit von Veranlagung, internalisierten Werten, Triebfixierungen, Selbstentwürfen, Verdrängungsmechanismen und Sublimierung. Das ist das weite Feld, auf dem der Dichter seine Experimente durchführen kann: »Die Begrenzungen zwischen Bewußtem, Halbbewußtem und Unbewußtem so scharf zu ziehen, als es überhaupt möglich ist, darin wird die Kunst des Dichters vor allem bestehen.«5 Doch worauf es dem therapeutischen Skeptiker6 als Schriftsteller ankommt, ist dies: »zu wissen, welche Entwicklungsmöglichkeiten in einem Einzelfall vorhanden sind; zu fühlen, wann der Augenblick gekommen ist, eine dieser Möglichkeiten in Wirklichkeit überzuleiten […]«.7 Bewusstseinsprozesse werden dort initiiert, wo das Individuum zur Auseinandersetzung mit
2 So bei Michael Worbs: Nervenkunst. Literatur und Psychoanalyse im Wien der Jahrhundertwende. Frankfurt a. M. 1983, S. 197. 3 Arthur Schnitzler: Aphorismen und Betrachtungen, Bd. II: Der Geist im Wort und der Geist in der Tat. Bemerkungen und Aufzeichnungen. Hg. von Robert O. Weiss. Frankfurt a. M. 1993, S. 33. 4 Karl Kraus: »Schnitzler-Feier«, in: Die Fackel, 14/351–353 (1912), S. 77–88, hier S. 79. 5 Arthur Schnitzler: Psychologische Literatur, in: Ders.: Aphorismen und Betrachtungen, S. 454 f. 6 »Therapeutischer Skeptizismus« heißt hier »verantwortliche Vorsicht« und nicht pessimistischer Verzicht. Dirk von Boetticher: Meine Werke sind lauter Diagnosen. Über die ärztliche Dimension im Werk Arthur Schnitzlers. Heidelberg 1999, S. 65 f. 7 Arthur Schnitzler: Aphorismen und Betrachtungen. Frankfurt a. M. 1967, S. 114.
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der Gesellschaft gezwungen und zum Handeln angestiftet wird. Dabei werden die psychischen Prozesse, die zwischen trieborientiertem Wunsch und gesellschaftlichen Restriktionen fluktuieren, geschlechtsspezifisch ausgelegt. Prinzipiell ist festzuhalten, dass das Verhalten der Schnitzler’schen Männerfiguren eine Auffassung des Selbst spiegelt, die weniger von Freud als vielmehr – wesentlich später – von Heinz Kohut vertreten wird: Dem Selbst ist das Triebgeschehen als sekundär integriert. Ist das Selbst indifferent und neigt es zum Selbstbetrug, so bleibt auch das Sexualverhalten unbestimmt und wechselhaft. Die Bindungslosigkeit der »Helden« korrespondiert mit ihrer generellen »Freiheit«: Von traditionellen Wertmaßstäben entbunden, ist auch das Triebverhalten nicht mehr durch gesellschaftliche Normen gesteuert, zumal die biologischen Konsequenzen in typischer Verantwortungslosigkeit abgetan werden können. Die Frauenfiguren unterscheiden sich grundlegend von denen der Männer. Sehr viel stärker eingebunden in ein traditionelles Rollenverständnis, bleibt ihr Sexualverhalten weitgehend den gesellschaftlichen Normen unterworfen. Internalisiert ist der bekannte Dualismus von Ehefrau/Mutter und Geliebter mit dem entsprechend anhängigen Verhaltenskodex. Beide Varianten weiblicher Existenz ebnen den Weg zur Triebbefriedigung – sanktioniert oder nicht. Was allerdings als Bedingung immer vorausgesetzt wird, ist die Liebe: Liebe als Voraussetzung zur Ehe und als Entschuldigungstopos nichtehelicher Leidenschaft, Liebe als bürgerliche Praxis und bürgerliche Fiktion. Während die Männer den Wechsel der Partnerinnen bewusst vollziehen und ihn unbewusst immer wieder zum Schutze des Selbst legitimieren, ist das Liebesverlangen der Frauen an die Vorstellung der Individualliebe geknüpft; Frauenfiguren wie Berta (Frau Berta Garlan), Beate (Frau Beate und ihr Sohn), Leopoldine (Spiel im Morgengrauen) und Else (Fräulein Else) zeigen das eindrucksvoll: Gefühle sind nicht nur zugelassen, sondern werden erwartet; sich Hingeben ist Ausdruck weiblicher Liebesbereitschaft. In den überwiegenden Fällen werden die Frauen aber erstens nur als Objekte wahrgenommen, die es zu besitzen gilt, und zweitens existieren keine zur Liebe fähigen Männer. Obwohl die Protagonisten die Wahrheit ahnen, halten sie zäh an der Illusion fest, es gäbe sie. Die Desillusionierung erschüttert nicht nur das Männerbild, sondern auch das Selbstverständnis. Dadurch sind ihre Grenzen zum Bewusstsein durchlässiger, die Erkenntnis ist immer schon durch eine gefühlsmäßige Wahrheit vorbereitet. Die Toten schweigen bedient dieses Muster nicht, im Gegenteil. Wir sehen hier einen Liebhaber, der es »ernst meint« und der seine Gefühle offiziell leben möchte. Auf den ersten Blick ist das Seelenleben Emmas geprägt vom Widerstreit des Realitätsprinzips mit dem Lustprinzip. Spielt sie in der Öf-
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fentlichkeit die Rolle der Ehefrau und Mutter, ist sie heimlich die Geliebte eines anderen Mannes. Auf den zweiten Blick ist Emmas Dilemma jedoch vielschichtiger. Sie leidet unter einem doppelten Verrat, dem des Gatten und des Liebhabers. Ihre Angst vor Entdeckung spiegelt insofern keine äußere Notlage, sondern eine innere. Weder ist Emma geneigt den Ehemann zu verlassen, noch ist sie bereit dem Liebhaber zu folgen. Sie »verrät« auch diesen, weil sie fürchten muss, er werde das Verhältnis dem Ehemann offenbaren. These meiner folgenden Betrachtungen ist: Was innerfiktional als sonderbar konstruierte Geschichte anmutet – Treffen, Unglück, Flucht –, ist vom außerfiktionalen Standpunkt aus betrachtet als Gedanken- und Traumspiel zu deuten, das dem Handeln, dem Geständnis, vorausgeht.8 Es ist »Freitag – Sitzung des Professorenkollegiums –« (159),9 heißt es gleich zu Beginn, eigentlich jener Abend, an dem sich Emma zu einem heimlichen Rendezvous mit Franz fortstehlen kann. Doch Emma bleibt zu Hause. Nun muss sie die Repressalien des enttäuschten Liebhabers fürchten, dessen Hoffnung auf eine gemeinsame Flucht sie zerstört. Als sie einschläft, verweben sich im Traum das sexuelle Begehren nach dem Liebhaber und die Furcht vor seinen Forderungen, die Angst vor Entdeckung des Verhältnisses und der Wunsch, es aufzugeben. Das Unglück, das innerfiktional dem Schicksal zuzurechnen ist, also der Unachtsamkeit des betrunkenen Kutschers, den durch den Sturm erregten Pferden, dem Schotterhaufen, der zufällig am Wege liegt, ist vom außerfiktionalen Standpunkt aus betrachtet als »Resultat delegierter Kreativität«10 zu entschlüsseln. Emma phantasiert den Tod des Liebhabers, weil sie die Beziehung zu ihm beenden möchte, ohne Repressalien befürchten zu müssen, denn »Tote schweigen«. Mit Horst-Jürgen Gerigk heißt das: »Die Logik der Dichtung ist hier die Logik der dargestellten Subjektivität.«11 Emma flieht nach Hause, nicht weil sich das Unglück ereignet hat und sie unentdeckt bleiben möchte, sondern das Unglück ist eine Fiktion innerhalb der Fiktion, damit Emma unerkannt in ihren häuslichen Frieden zurückkehren kann.12 8 Meine Interpretation erfolgt auf der Basis der Überlegungen von Horst-Jürgen Gerigk zur »poetologischen Differenz«. Horst-Jürgen Gerigk: Lesen und Interpretieren. Göttingen 2002. 9 Arthur Schnitzler: Die Toten schweigen, in: Komödiantinnen. Erzählungen 1893–1898. Frankfurt a. M., S. 159–177. 10 Vgl. Gerigk: Lesen und Interpretieren, S. 24 f.: »Wir haben es also mit einem Sonderfall von Fiktion zu tun, der allerdings durchaus häufig vorkommt, mit einer Fiktion innerhalb der Fiktion, die gleichsam vor unseren Augen entworfen ist.« 11 Gerigk: Lesen und Interpretieren, S. 25. 12 Vgl. Gerigk: Lesen und Interpretieren, S. 25: »Wer die poetologische Differenz denkt,
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Eine intensive Auseinandersetzung mit der Verstrickung von Leben und Traum enthält auch Schnitzlers Tagebuch. »Traum wird Leben, Leben Traum«,13 heißt es unmittelbar vor der Niederschrift von Die Toten schweigen. Und wenig später: »Denn daß ihm alles Leben in gewissen Momenten als Stoff erscheint, macht den Künstler, das ganze Leben ist, wird Stoff.«14 Persönlich ist Schnitzler in einer prekären Situation, seine langjährige Geliebte, Marie Glümer, erwartet ein Kind – und sie erwartet letztlich auch, dass Schnitzler die Verantwortung übernimmt und sie heiratet. Doch der vierunddreißigjährige Autor konstatiert: »Erwartungsaffecte ruiniren das Leben am stärksten.«15 Mit der Einsicht um die »Wahrheit«, wie es um die eigene Disposition bestellt ist, der ein »Harem«16 wesentlich zuträglicher erscheint als die Vorstellung einer Ehe, die ihn »mit Grausen«17 erfüllt, geht das schlechte Gewissen einher. Als das Kind bei der Geburt stirbt, plagen Schnitzler Schuldgefühle, den Tod durch Interesselosigkeit gegenüber Mutter und Ungeborenem verursacht zu haben. Vorangegangene Wunschträume, sich im Fall einer »natürlichen« Lösung der Verantwortung entziehen zu können, mögen eine Rolle für ein tief sitzendes Schuldgefühl gespielt haben, das schließlich nach literarischer Verarbeitung drängt. Noch zehn Jahre später wird die Problematik in Der Weg ins Freie wieder aufgenommen. Auch in Die Toten schweigen ist ein latenter Tötungswunsch enthalten. Gleichwohl Eros Emmas Begehren von Franz diktiert, ist Thanatos präsent, weil es auch hier die »Erwartungseffecte« sind, die das Leben der jungen Frau zu ruinieren drohen.18 Das Verlangen Emmas, zu Beginn der Erzählung
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wird also jeden innerfiktionalen Sachverhalt auf ein zweifaches Weil ansehen: ein innerfiktionales Weil und ein außerfiktionales Weil. Für den Leser wird das außerfiktionale Weil erst ersichtlich, nachdem das innerfiktionale Weil nachvollzogen worden ist.« Arthur Schnitzler: Tagebuch 1893–1902. Wien 1989, S. 234 (22. Januar 1897). Schnitzler: Tagebuch, S. 240 (4. März 1897). Schnitzler: Tagebuch, S. 234 (23. Januar 1897). Schnitzler: Tagebuch, S. 246 (6. Mai 1897). Schnitzler: Tagebuch, S. 246 (7. Mai 1897). Ich stimme nicht mit Micke überein, der das tragische Unglück als Exemplifikation der Freud’schen Eros-Thanatos-Thematik liest. Die Theorie ignoriert, dass der Konflikt, den Emma austrägt, keineswegs ein Konflikt von Liebe und Gesellschaft ist, sondern in Emma selbst begründet ist, die zwar die sexuelle Begegnung wünscht, nicht aber die von Franz verbalisierten Konsequenzen ziehen will. Vgl. Micke: »Emma und Franz scheinen auf der Suche nach einer inneren Wirklichkeit zu sein, die ihre Liebe legitimiert. Dabei sehen sie sich einem ›Kampf‹ ausgesetzt: Die im ›Über-Ich‹ Gestalt gewordenen einengenden Ansprüche der gesellschaftlichen Wirklichkeit stehen ihren Sehnsüchten, die mit dem im ›Es‹ gebündelten Trieben eine Verbindung eingegangen sind, gegenüber. Das zwischen den beiden Parteien vermitteln-
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durch ihren hingebungsvollen Kuss thematisiert, wird durch den verbalisierten Besitzanspruch von Franz abgetötet. Der Abschied vom Ehemann, den Franz erwartet, wird auf der Ebene des Gedankenspiels, das in einen Traum abgleitet, in den gewünschten »anderen Abschied«,19 wie die Erzählung ursprünglich heißen sollte, verwandelt. Die Geschichte führt mitten in die Beziehung hinein. In knapper szenischer Präsentation sehen wir Franz in einer Nebenstraße auf die Geliebte warten. Eine unwirtliche Atmosphäre herrscht, es ist Herbst. Zwar hat es aufgehört zu regnen, aber es ist stürmisch und bereits früh dunkel. Den Liebhaber fröstelt, zudem ist er sich Emmas Kommens nicht sicher: »›Noch eine halbe Stunde‹, sagte er zu sich, ›dann kann ich gehen. Ah, ich wollte beinahe, es wäre so weit.‹« (159) Emma kommt zu Fuß, sinnbildlich: Sie ist unterwegs. Gerigks Überlegungen zu »Haus und Weg als [den] Schauplätze[n] des erlebten Raums«20 folgend, lässt sich die Szene symbolisch so deuten, dass Emma das schützende Zuhause verlassen hat, ohne eigentlichen Ersatz in der Obhut des Liebhabers zu finden. Franz drängt sie, in die Kutsche einzusteigen, die er für das Schäferstündchen bereitstellt: »Ist das dein Wagen?« »Ja.« – »Ein offener?« »Vor einer Stunde war es noch so schön.« (160)
Die außerfiktional vorgegebene symbolische Lesart wird durch die innerfiktional herrschende Paradoxie unterstrichen. Denn zuvor wurde ja berichtet, dass der Regen gerade aufgehört hatte, als Franz auf dem Trottoir auf Emma
de ›Ich‹ findet nicht die Kraft, sich entschieden gegen die Außenwelt zu behaupten. Es erlaubt den Bedürfnissen nur eine momentane Befriedigung, wobei es sich der Außenwelt, die zwar Moral beansprucht, selbst aber lügenhaft ist, anpaßt, deren Wesen kopiert. Dadurch erfährt die tatsächlich vorhandene Sehnsucht nach Liebe, nach dem Wirken des ›lebensbewahrenden Eros‹, eine Schwächung, was eine Schwächung des Eros selbst bedeutet. Und in eben diesem Moment zeigt der Aggressions- bzw. Destruktionstrieb, versinnbildlicht in der mythologischen Figur des Thanatos, seine Stärke.« (Norbert Micke: »Der Tote auf meinem Schoß« – zur dramatisch-analytischen Darstellung des Eros/Thanatos-Motivs in Arthur Schnitzlers Erzählung Die Toten schweigen, in: Eros und Thanatos. Erzählungen zwischen Jahrhundertwende und Erstem Weltkrieg. Hg. von Klaus Lindemann, Norbert Micke. Paderborn 1996, S. 33–52, hier S. 38). 19 Schnitzler: Tagebuch. Am 22.3.1897 wird vom Beginn des »andern Abschieds« berichtet (S. 242), am 2.5.1897 (S. 246) von der Korrektur. Im Oktober 1897 erscheint das Werk. 20 Gerigk: Lesen und Interpretieren, S. 93 ff.
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wartete. Weder war es – auf der Handlungsebene des Textes – also »vor einer Stunde noch so schön« noch ist seine Wahl eines offenen Wagens angesichts des stürmischen und regnerischen Wetters zweckdienlich. Vielmehr ist der offene Wagen als Wunsch zu lesen, die Beziehung zu Emma »offen« zu leben. Doch wie wenig Wunsch und Realität kompatibel sind, zeigt der Kutscher, dem die erotische Stunde anvertraut werden soll; er muss in betrunkenem Zustand aus dem Gasthaus gerufen werden und tritt seinen Dienst nur sehr zögerlich an. Das Ziel, das ihm zugerufen wird, »›Prater – Lusthaus‹«, unterstreicht die Absicht die jungen Mannes: Öffentlichkeit und Begehren. Emmas Neigungen dagegen können sich nur in der »dunkle[n] Praterallee« (161) entfalten, erst da ist sie bereit, den Geliebten zu umarmen – und ihn zur Kursänderung in die noch dunklere Reichsstraße, also in die Heimlichkeit, zu bewegen. Der Klage von Franz, ihr in der Öffentlichkeit nur Incognito begegnen zu können, begegnet Emma mit Achselzucken, die Liebe zu Franz scheint erloschen – oder es hat sie nicht gegeben:21 Jetzt umarmte Emma plötzlich mit beiden Armen den Geliebten. Er schob leise den Schleier zurück, der ihn noch von ihren Lippen trennte, und küßte sie. »Endlich bin ich bei dir!« sagte sie. »Weißt du denn wie lange wir uns nicht gesehen haben?« rief er aus. »Seit Sonntag.« »Ja, und da auch nur von weitem.« »Wieso? Du warst ja bei uns.« »Nun ja … bei euch. Ah, das geht so nicht fort. Zu euch komm ich überhaupt nicht wieder. Aber was hast du denn?« »Es ist ein Wagen an uns vorbeigefahren.« (161)
Der Halt auf der Brücke markiert die anstehende Entscheidung. Unter dem Paar befindet sich der Strom, der sich in »unbestimmte Grenzen hin« ausbreitet, Symbol der Lust, des Rausches und der Ewigkeit, aber auch der Ungewissheit des sich Verlierens. Aus völliger Dunkelheit taucht in dieser Szene der Bahnzug auf, der sowohl die bedrohliche, Gefahr bringende Komponente durch den ihn begleitenden Donner unterstreicht22 als auch die Hoffnung einer Reise vom Dunklen ins Licht durch die vorbeieilenden hell beleuchteten Fenster anklingen lässt. Genau diese Hoffnung spricht Franz an, ohne bei Emma Resonanz zu finden: 21 Vgl. hier Rolf Allerdissen: Arthur Schnitzler. Impressionistisches Rollenspiel und skeptischer Moralismus in seinen Erzählungen. Bonn 1985, S. 241. 22 Schnitzlers Tagebuch gibt vielfach die Bewunderung für Hauptmann wieder. Anzunehmen ist, dass er mit Hauptmanns Bahnwärter Thiel (1888) vertraut war und der Szene der intertextuelle Bezug abzulesen ist.
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Nach langem Schweigen sagte Franz: »Wir sollten fort.« »Freilich«, erwiderte Emma leise. »Wir sollten fort«, sagte Franz lebhaft, »ganz fort, mein’ ich …« »Es geht ja nicht.« »Weil wir feig sind, Emma; darum geht es nicht.« »Und mein Kind?« »Er würde es dir lassen, ich bin fest überzeugt.« »Und wie?« fragte sie leise … »Davonlaufen bei Nacht und Nebel?« »Nein, durchaus nicht. Du hast nichts zu tun, als ihm einfach zu sagen, daß du nicht länger leben kannst, weil du einem anderen gehörst.« »Bist du bei Sinnen, Franz?« (163 f.)
Franz’ Vorschlag, »ihm«, dem Ehemann, das Verhältnis zu offenbaren, empfindet Emma als unmittelbare Bedrohung. Insofern bekommt das »andere« Ufer, das die Richtung der Flucht angibt, jetzt eine veränderte Konnotation, es bedeutet für Emma den Weg »ins Finstere«, in »Abgründe« (164). Gleichwohl ist im Traum das erotische Interesse Emmas an Franz vorhanden, aber kaum durch Liebe begründet, wie er offenbar glaubt. Ihr Wunsch nach Dunkelheit, um dort dem Verbotenen Raum zu geben, korrespondiert nicht mit dem Wunsch Franz’ »der Helligkeit« zuzustreben. Benennt er das strahlende Prag als mögliches Ziel einer gemeinsamen Flucht, verfolgt Emma lediglich die Dunkelheit als Ziel ungestörter sexueller Erfüllung: Sie zog ihn zu sich herab und küßte ihn lang. »Wohin kämen wir«, fragte sie dann, »wenn wir hier immer weiterführen?« »Da geht’s direkt nach Prag, mein Kind.« »So weit nicht«, sagte sie lächelnd, »aber noch ein bißchen weiter da hinaus, wenn du willst.« Sie wies ins Dunkle. (165)
Unterschiedliche Einschätzungen derselben Situation, wie beispielsweise des sonntäglichen Sehens »aus der Ferne« während eines Festes, das ihr genügte, ihm missfiel, zeigen, dass Emmas Bedürfnis nach einem Liebesabenteuer mit dem Wunsch nach einer dauerhaften Beziehung seitens Franz kollidiert.23 Beide von ihm unterbreiteten Lösungsvorschläge wirken auf Emma bedrohlich, die »ironisch« vorgetragene Möglichkeit einer Auflösung der Beziehung und diejenige, sich dem Gatten der Geliebten zu offenbaren.24 Die Atmosphäre kündet von drohendem Unheil: Sturm (Sinnbild der Gefühlser23 Die typische Bindungsunfähigkeit des Schnitzler’schen Mannes trifft hier nicht zu. Gerade diese Abweichung unterstützt die folgende Interpretation der Erzählung als Tagtraum Emmas. 24 Insofern ist es abwegig, dem Paar die Sehnsucht nach einem »umfassenden Glück« zu unterstellen. Vgl. Micke: »Der Tote auf meinem Schoß«, S. 36.
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regung), ein betrunkener Kutscher (Sinnbild des Vertrauensverlusts), der Halt auf der Brücke (Sinnbild des Uferlosen), der Blick in den Abgrund (Sinnbild des Bodenlosen). Am Meilenstein (!) kommt es zu einem Verkehrsunfall, der das Gefühl von Raum und Zeit durcheinander wirbelt. Assoziativ ist er durch die Zärtlichkeit des Paares an die Vorstellung des »Lusttodes« geknüpft:25 Emma stieg ein, nach ihr Franz. Der Kutscher hieb mit der Peitsche drein; wie rasend flogen die Pferde über die aufgeweichte Straße hin. Aber die beiden im Wagen hielten sich fest umarmt, während der Wagen sie hin und her warf. »Ist das nicht auch ganz schön«, flüsterte Emma ganz nahe an seinem Munde. In diesem Augenblick war ihr, als flöge der Wagen plötzlich in die Höhe – sie fühlte sich fortgeschleudert, wollte sich an etwas klammern, griff ins Leere: es schien ihr, als drehe sie sich mit rasender Geschwindigkeit im Kreise herum, so daß sie die Augen schließen mußte – und plötzlich fühlte sie sich auf dem Boden liegen, und eine ungeheure schwere Stille brach herein, als wenn sie fern von aller Welt und völlig einsam wäre. (165)
Lesen lässt sich der Verkehrs-un-fall als »Fall, der nicht vorkommen sollte, weil er das normale Funktionieren des aufrechten Gangs unterbricht: als Störung. Aufstieg und Niedergang werden zu Metaphern des Positiven und Negativen. So wird das Oben positiv besetzt, das Unten negativ«.26 Emma befindet sich demzufolge nach dem Fall ganz unten, im Graben nämlich. Der topographische Hinweis kennzeichnet nicht nur auf gesellschaftlicher Ebene die potentiellen Folgen des Ehebruchs, sondern darüber hinaus auch auf der Ebene des (illegitimen) Liebesideals den Liebesverrat. Als realistischer Effekt des Traumes leitet er jene Grenzsituation ein, aus der die Lösung des Problems hervorgehen kann. Als Emma sich auf dem Boden wiederfindet (nach dem Liebesgenuss eben auch auf dem Boden der Tatsachen), tritt die »traumhafte« Lösung des Verhältnisses ans Licht. Der Liebhaber hat nach dem sexuellen Akt – er liegt auf dem »Schoß« Emmas – kaum mehr Bedeutung, die Furcht vor seinen uneinlösbaren Forderungen gewinnt die Oberhand und diktiert den Tötungswunsch. »Und es durchschauerte sie. Sie fühlte nun mehr: ein Toter. Ich und ein Toter, der Tote auf meinem Schoß. Und mit zitternden Händen rückte sie den Kopf weg, so daß er wieder auf den Boden zu liegen kam.« (168) Gerade diese Szene enthält mehrere implizite Hinweise auf die Lesart des Geschehens als Traum. Emma meint beispielsweise nichts sehen zu können,
25 So auch Micke: »Der Tote auf meinem Schoß«, S. 37. 26 Gerigk: Lesen und Interpretieren, S. 103.
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erkennt aber dennoch Details; sie wird von Angst überflutet und schreit, hört aber ihr Schreien nicht. In aller Klarheit taucht jedoch das »plötzliche« Bild des Verkehrsunfalls wieder auf, der sie in den »Graben« beförderte. Unterstrichen wird der traumhafte Vorgang durch die Reaktion des Kutschers. Zunächst diagnostiziert er den Tod des Liebhabers, dann aber stammelt er einen Satz, der für eine Interpretation der Situation auf realistisch-psychologischer Basis unsinnig wäre: »Wir müssen halt weg, bis wer kommt«. Diese Aussage ist nur im Hinblick auf Emmas innere Verfassung adäquat, da sie es ist, die ein Interesse daran haben muss, unerkannt zu bleiben. Und tatsächlich spricht der Kutscher nur ihre unbewusste Bedrängnis aus, die nun zu einer klarsichtigen Konkretisierung der Angst werden kann: »Er redete noch weiter, ohne daß Emma seine Worte auffaßte; aber währenddem war es ihr, als käme sie zur Besinnung, und sie wußte, was zu tun war.« (167) Das Gefühl »entsetzlicher Verlassenheit«, das sich einstellt, wird gemildert durch das Licht der Laterne, Symbol für Leben und Hoffnung, »[u]nd plötzlich hatte sie das Gefühl, als wenn sie erwachte« (169). Emma nimmt die eigene Unversehrtheit im doppelten Sinne wahr, als körperliche und als überstandene Bedrohung durch das Verhältnis. Das stiftet die Möglichkeit der Selbstrettung durch Flucht und liefert die Energie, aus der Erstarrung heraus zur Aktivität zu finden. Als Reaktion folgt die Bewegung aus der Finsternis der Heimlichkeit hinein »in das Licht, in den Lärm, zu den Menschen« (170), weg vom Toten, weg von der Möglichkeit der Entdeckung, die ihren gesellschaftlichen Tod bedeuten würde: »Nur hier nicht entdeckt werden. Das ist ja das einzige Wichtige, nur auf das und auf gar nichts anderes kommt es an – sie ist ja verloren, wenn ein Mensch erfährt, daß sie die Geliebte von …« (169 f.) Der Erzählduktus passt sich dem Geschehen an. Die relativ starre szenische Bildfolge (beispielsweise erinnert die Situation, wie Emma den Toten in ihrem Schoß hält, unwillkürlich an ein Standbild) mündet in ein erregtes getriebenes Erzählen, das die psychische Not Emmas unterstreicht. Gefühle von Scham ob der eigenen Feigheit und Freude über die Rettung bestätigen die Ambivalenz der Eingangsszene. Hier handelt es sich um einen Wunschtraum mit dem Ziel der Befreiung. Die vom Selbsterhaltungstrieb und vom schlechten Gewissen gleichermaßen freigesetzte Energie spiegelt sich im Folgenden in einem geradezu atemberaubenden Tempo.27 Dennoch werden in der diffusen Hektik, in der sich Assoziation an Assoziation reiht, 27 Auf den Perspektivenwechsel von einer distanzierten Beobachtung des Geschehens vor dem Unfall bis zur völligen Innensicht nach dem Unfall hat von Wiese aufmerksam gemacht. Benno von Wiese: Die deutsche Novelle von Goethe bis Kafka. Düsseldorf 1962, Bd. II, S. 261–279, hier S. 262.
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sowohl die Angst vor dem Liebhaber als auch die Angst vor Entdeckung miteinander verknüpft und münden schließlich in die »wilde Freude« (172), der Gefahr entronnen zu sein. Dominant wird der den Tötungstraum motivierende Wunsch: »zu Hause in Sicherheit zu sein« (173). Implizit enthält das eheliche Zuhause (im Gegensatz zum offenen Wagen, aus dem sie herausgeschleudert wurde und in Todesgefahr geriet) die Bedeutung des Schutzes vor Gefährdung. Gerigk argumentiert hier mit Jaspers Begriff des »Gehäuses« als »Halt im Begrenzten«: Einen Weg gehen, heißt das Haus verlassen. Unterwegs in der Welt gibt es, biblisch gesprochen, keine ›bleibende Statt‹. […] Denn alles Wohnen ist bedroht durch die ›Grenzsituation‹. Das Haus ist der Schutz gegen alle möglichen Gefahren. Der Weg ist schutzlos. Auf dem Weg setzt sich der Mensch der Gefahr aus. Der Weg geht ins Offene, das zwischen Aufbruch und Ankunft liegt.28
Das Unbewusste Emmas strebt nun zurück in das Zuhause als Fluchtpunkt, als Rettung vor dem Unbegrenzten und Unsicheren: Alles andere ist ihr gleichgültig. Im Augenblick, da sie sich entschlossen hat, den Toten allein auf der Straße liegen zu lassen, hat alles in ihr verstummen müssen, was um ihn klagen und jammern wollte. Sie kann jetzt nichts mehr empfinden als Sorge um sich. Sie ist ja nicht herzlos … o nein! … sie weiß ganz gewiß, es werden Tage kommen, wo sie verzweifeln wird; vielleicht wird sie daran zugrunde gehen; aber jetzt ist nichts in ihr als die Sehnsucht, mit trockenen Augen und ruhig zu Hause am selben Tisch mit ihrem Gatten und ihrem Kinde zu sitzen. (173)
Bemerkenswert ist hier, dass der Tote, der nach dem geträumten Unfall im Graben liegt, sich in Emmas Vorstellung nun auf der Straße findet, auf der er zu Beginn der Erzählung auf die Geliebte wartet. Gekennzeichnet ist die Textpassage des Weiteren von der Überlagerung verschiedener zusammenhanglos durcheinander wirbelnder Traumebenen. Einmal sieht sich Emma in einer Kutsche, die sie nach Hause trägt, und da ist »ihr plötzlich, als könne alles, was sie in den letzten Stunden durchlebt, gar nicht wahr sein«. Kurz darauf ist ihr »plötzlich […], als sitze sie neben ihm [dem Liebhaber im Krankenwagen, K. T.] und fahre mit« (174). Dann wieder schreit sie auf, weil sie den Unfall wieder durchlebt und fürchtet, aus der Kutsche geschleudert zu werden. Unbewusst gelangt Emma in ihrem Traum dorthin, wohin es sie zieht, nach Hause. Stand die Zeit still während des Traums, war sie außer Kraft gesetzt oder raste davon, dann taucht sie nun wieder auf als Zeitpunkt, der besondere Bedeutung hat: Um zehn Uhr kehrt der Gatte heim und Emma
28 Gerigk: Lesen und Interpretieren, S. 93.
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muss, bevor sie ihm begegnet, sich zuvor nur noch von dem an ihr klebenden »Schmutz« befreien.29 Die beschmutzten Kleider wird sie daher »wohl im Schrank« verbergen (174). Also wird noch einmal vorgeführt, dass es sich um ein Geschehen handelt, das dem Gedankenspiel »was wäre wenn« zuzuordnen ist. Die signifikante Struktur der Textpassage ist als unmittelbarer Ausdruck der Bewusstseinslage der Figur dicht unter der Bewusstseinsschwelle zu verstehen: »Wie ein böser Traum erscheint es ihr … unfaßbar als Wirkliches, Unabänderliches.« (174) Die Wirklichkeit des Traums ist suggestiv. Seine innere Logik erschließt sich nur, wenn er von Anfang an als solcher gelesen wird. So wird bereits das Treffen mit dem Liebhaber ausphantasiert und atmosphärisch angereichert mit einer ebenso unheilschwangeren wie erwartungsfrohen Stimmung. Emma hat sich diese Szene so vorgestellt, Franz hat vergeblich im Sturm auf sie gewartet. Wie ein Treffen verlaufen wäre, kann vorhergesagt werden, ebenso wie der Druck, den der Liebhaber ausüben wird. Seltsam fremd und irrational scheinen die Dialoge.30 Über den Tagtraum schläft die junge Frau ein und gestattet sich im Traum die zärtliche Begegnung im Fiaker. Der Sturz ins Bodenlose, Leere, Dunkle ist somit Metapher für den Geschlechtsakt – eingekleidet in die zuvor phantasierten, aber realistischen Bilder – und eben-
29 Auch Emmas Namensschwester klebt noch Dreck an den Stiefeln, als Flaubert sie aus den Armen des Liebhabers nach Hause schickt. Einen Hinweis auf die Parallelität der Motive gibt Barbara Surowski: Flaubertsche Motive in Schnitzlers Novelle Die Toten schweigen, in: Orbis litterarum 40 (1985), S. 372–379. 30 Das bestätigt eine rein strukturalistisch angelegte Analyse dieser Novelle. Vgl. Ralf Marzinek: Das Problem der Sprache in Arthur Schnitzlers Novelle: Die Toten schweigen. Zur erzählerischen Vermittlung des Figurenbewußtseins, in: Das magische Dreieck. Polnisch-deutsche Aspekte zur österreichischen und deutschen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. Hg. von Hans-Ulrich Lindken. Frankfurt a. M. 1992, S. 29–47. Allerdings ist der Interpretation der erzähltechnischen Bestandsaufnahme nicht zuzustimmen. Im ersten szenischen Teil ist die Erzählerfigur nicht einwandfrei zu orten, verfügt aber über Detailkenntnisse, es herrscht eine einfache Syntax vor mit häufiger Verwendung des Personalpronomens und gelegentlicher Innenperspektivierung – freilich immer dann, wenn Emma ihre (zu erwartenden) eigenen Gefühle während des geplanten Treffens und seine Erwartungshaltung wiedergibt. Im zweiten Teil wechselt der Autor zwischen dem so genannten stream of consciousness und erlebter Rede. Marzinek übersieht, dass hier keineswegs eine mangelhafte Durchformung des Erzählten vorliegt, sondern eine adäquate Wiedergabe der Traumsegmente, also der manifesten Trauminhalte, die sich an die zuvor im Wachzustand phantasierte Szenerie binden und jenen Ebenen des Traums, welche die Emma dominierenden Angstgefühle wiedergeben. Insofern ist auch der Wechsel vom Präsens zum Imperfekt nicht einer Unaufmerksamkeit Schnitzlers zuzurechnen, sondern Resultat einer bewussten Durchformung.
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so gewünscht wie gefürchtet. Diese Bilder schaffen Raum für die Manifestation des Tötungswunsches gegenüber dem lästig gewordenen Liebhaber und damit für die mögliche Rückkehr ins häusliche Glück. Erst das Läuten der Türglocke beendet den Traum, an den aber wiederum das anknüpft, was die während des Nachtmahls einschlummernde Frau träumt; ein paranoider Traum, der die Rückkehr und Rache des (selbstverständlich nicht wirklich) toten Geliebten beinhaltet und somit die potentielle reale Gefahr beschreibt: Eine unsägliche Müdigkeit überkommt sie – sie kann sich nicht beherrschen, sie fühlt, daß der Schlummer über sie kommt; sie schließt die Augen. Plötzlich schießt ihr die Möglichkeit durch den Sinn, an die sie seit dem Augenblick, da sie sich aus dem Graben erhoben hat, nicht mehr gedacht. Wenn er nicht tot wäre! Wenn er … Ah nein, es war kein Zweifel möglich … Diese Augen … dieser Mund – und dann … kein Hauch von seinen Lippen. – Aber es gibt ja den Scheintod. Es gibt Fälle, wo sich geübte Blicke irren. Und sie hat gewiß keinen geübten Blick. Wenn er lebt, wenn er schon wieder zu Bewußtsein gekommen ist, wenn er sich plötzlich mitten in der Nacht auf der Landstraße allein gefunden … wenn er nach ihr ruft … ihren Namen … wenn er am Ende fürchtet, sie sei verletzt … wenn er den Ärzten sagt, hier war eine Frau, sie muß weiter weggeschleudert worden sein. Und … und … ja, was dann? Man wird sie suchen. Der Kutscher wird zurückkommen vom Franz Josefsland mit Leuten … er wird erzählen … die Frau war ja da, wie ich fortgegangen bin – und Franz wird ahnen. Franz wird wissen … er kennt sie ja so gut … er wird wissen, daß sie fortgelaufen ist, und ein gräßlicher Zorn wird ihn erfassen, und er wird ihren Namen nennen, um sich zu rächen. Denn er ist ja verloren …
Ein Alptraum fürwahr, der Emma aufschreien lässt. Denn eben dieser »scheintote« Liebhaber, der ganz real sich rächen wird, ist es, der Emmas Psyche bedroht. Er lässt sich nicht als »böser Traum« abtun und drängt an die Oberfläche des Bewusstseins:31 Und während sie die Lippen ihres Mannes auf ihrer Stirne fühlt, denkt sie: freilich … ein böser Traum. Er wird es niemandem sagen, wird sich nie rächen, nie … er ist tot … er ist ganz gewiß tot … und die Toten schweigen. »Warum sagst du das?« hört sie plötzlich die Stimme ihres Mannes. Sie erschrickt tief. »Was hab ich denn gesagt?« Und es ist ihr, als habe sie plötzlich alles laut erzählt … als habe sie die ganze Geschichte dieses Abends hier bei Tisch mit-
31 Insofern ist hier eine Abgrenzung gegen das Theorem der Psychoanalyse auch gar nicht nötig, wie Cook sie vornimmt. Das Mittelbewusstsein zeichnet sich ja gerade durch die prinzipielle Abrufbarkeit seiner Inhalte in das Bewusstsein aus. William K. Cook: Isolation, Flight and Resolution in Arthur Schnitzlers Die Toten schweigen, in: Germanic Review 50/3 (1975), S. 213–226, hier S. 223.
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geteilt … und noch einmal fragt sie sich, während sie vor seinem entsetzten Blick zusammenbricht: »Was hab’ ich denn gesagt?« »Die Toten schweigen«, wiederholt ihr Mann langsam. »Ja …« sagt sie, »ja …« Und in seinen Augen liest sie, daß sie ihm nichts mehr verbergen kann, und lange sehn die beiden einander an. »Bring den Buben zu Bett«, sagte er dann zu ihr; »ich glaube, du hast mir noch etwas zu erzählen …« »Ja«, sagte sie. Und sie weiß, daß sie diesem Manne, den sie durch Jahre betrogen hat, im nächsten Augenblick die ganze Wahrheit sagen wird. (177)
Der Traum, in dem der »Tötungswunsch« gegenüber dem Geliebten ausgelebt wird, entlastet also nicht, weil das Problem nicht allein psychischer Natur ist, sondern durchaus konkret: Es ist zweifelhaft, ob der zu allem entschlossene Geliebte sich ohne weiteres »töten« lässt. Erst in der Beichte, in der Flucht nach vorn, kann die Gefahr gebannt werden und ergibt sich die Möglichkeit einer Lösung. Denn auch diese Ehe enthält mehr als die Wahrheit eines jahrelangen Betrugs, denn im Traum »weiß [Emma] ganz gut, daß sie nicht aus Pflichtgefühl so gehandelt« (172) hat, als sie den Liebhaber im Stich lässt. Worin immer diese »Liebe« bestanden hat – Abenteuerlust, Eitelkeit, sexuelles Amüsement –, das Durchleben im Traum und Tagtraum bringt die Wahrheit vom Dunklen ans Licht: Liebe war es nicht. Insofern birgt der Hinweis auf die große »Ruhe«, die nach dem Entschluss, sich ihrem Mann zu offenbaren, über sie kommt, die Möglichkeit eines Neubeginns. In Die Toten schweigen stellt Schnitzler das Subjekt in eine Entscheidungssituation,32 in der es die Möglichkeiten seines Handeln durchdenkt und sinnvoll beurteilt – im Traum, der die Wahrheit der Gefühle greifbar macht im Bild.33 Ergebnis ist: Die nicht erfüllbaren Ansprüche des Geliebten wirken erdrückend wie ein Alptraum. Eine sinnvolle Lösung ist für Emma 32 Im Rahmen dieser Entscheidungsmöglichkeit konstituiert sich die Identität des Menschen. »Überwiegt dagegen die Fremdbestimmung, so schrumpft notwendig die zur Herausbildung wie zur Bewahrung von Identität unerläßliche Verbindung von psychischer Konsistenz und Flexibilität, die Fähigkeit, an der eigenen psychischen Struktur nicht nur starr festzuhalten, sondern auch dynamisch, durch Verarbeitungen von Veränderungen, sie zu bewahren.« (Hartmut Scheible: Arthur Schnitzler. Figur – Situation – Gestalt, in: Ders. (Hg.) Arthur Schnitzler in neuer Sicht. München 1981, S. 12–33, hier S. 28). 33 Dieses wörtlich zu nehmende »vor Augen führen« der Realität hat therapeutische Effekte, die auch durch Nebenfiguren geleistet werden können (im Fall Berta Garlans beispielsweise Frau Rupius). Vgl. Horst Thomé: Autonomes Ich und »Inneres Ausland«. Studien über Realismus, Tiefenpsychologie und Psychiatrie in deutschen Erzähltexten 1848–1914. Tübingen 1993, S. 671.
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das Geständnis, das die Möglichkeiten von Versöhnung und Vergebung einschließt. Voraussetzung ist ein neues Selbstwertgefühl, der Schritt des Mit-sich-selbst-einig-seins. Im Unterschied zu den männlichen Figuren des Werkes wird die Einsicht im Fall Emmas nicht durch pathogene Schutzmechanismen vereitelt, die als »Abwehr der Selbsterkenntnis« fungieren und aufrichtige Interaktionen verhindern.34 Dennoch ist das Ende der Erzählung offen. Ob die Wahrheit über das etablierte verlogene Wertesystem der bürgerlichen Ehe triumphieren wird, steht ebenso in Frage wie in der dreißig Jahre später entstandenen Traumnovelle. Zumindest impliziert das »lange Ansehen voneinander« in Die Toten schweigen Einverständnis und die Bereitschaft, es zu versuchen. Insofern könnte die letzte Szene der Traumnovelle als Fortführung des Gesprächs gedeutet werden, das nach dem Zubettbringen des Buben zwischen Emma und ihrem Gatten stattfindet: Sie lächelte und nach kurzem Zögern erwiderte sie: »Dem Schicksal dankbar sein, glaube ich, daß wir aus allen Abenteuern heil davongekommen sind – aus den wirklichen und den geträumten.« »Weißt du das auch gewiß?« fragte er. »So gewiß, als ich ahne, daß die Wirklichkeit einer Nacht, ja daß nicht einmal die eines ganzen Menschenlebens zugleich auch seine innerste Wahrheit bedeutet.« »Und kein Traum«, seufzte er leise, »ist völlig Traum.« Sie nahm seinen Kopf in beide Hände und bettete ihn innig an ihre Brust. »Nun sind wir wohl beide erwacht«, sagte sie – »für lange.« Für immer wollte er hinzufügen, aber noch ehe er die Worte ausgesprochen, legte sie ihm einen Finger auf die Lippen und, wie vor sich hin, flüsterte sie: »Niemals in die Zukunft fragen.« (87 f.)35
Wunsch, Tagtraum, Traum und Tagesgeschehen der Romanfigur Emma verbinden sich zu einer Wirklichkeit. Und wie Fridolins Wille in der Traumnovelle, »Ich will dir alles erzählen« (87), weder den Anspruch auf absolute Wahrheit noch die Hoffnung auf Absolution bedeutet, so ist Emmas Geständnis die Voraussetzung einer glücklichen Lebensgemeinschaft. Das Erzählverfahren exemplifiziert dabei Schnitzlers Vorstellung von den drei Stufen psychischen Geschehens, die das eigentliche Problem – die Beziehung zum Liebhaber – durchläuft: vom Mittelbewusstsein, das mit Unbewusstem angereichert ins Bewusstsein dringt. Dass das Unbewusste aggressive Impulse speichert, die sich erst in der assoziativen Verbindung mit dem »Verkehrs34 Vgl. hierzu Thomé: Autonomes Ich, S. 633. 35 Arthur Schnitzler: Traumnovelle. Frankfurt a. M. 2000. Erstmals 1925 veröffentlicht, Buchausgabe 1926.
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unfall« in das Mittelbewusstsein schieben, ist deutlich zu sehen. Ebenso überzeugend tritt die Akzentuierung des individuellen Konflikts hervor. In Emmas Mittelbewusstsein herrschen chaotische Zustände, die von zwei sich widersprechenden Komponenten hervorgerufen werden, dem Bedürfnis nach sexuellem Abenteuer und dem nach ehelicher Sicherheit. Die Diagnose der Wiener Gesellschaft (die zweifellos in der Angst vor dem »Gerede der Leute« wiederkehrt) tritt in dieser Erzählung hinter die Prägnanz der Diagnose des komplizierten psychischen Apparates zurück.
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Pierrot als Femme fatale? Zu den Fassungen und Deutungen von Frank Wedekinds »Lulu«-Dramenkomplex in kulturwissenschaftlicher Perspektive Frank Wedekinds »Lulu«-Dramenkomplex, Anfang der 1890er Jahre konzipiert und bis 1913 immer wieder umgearbeitet, vielfach auf die Bühne gebracht, verfilmt, vertont und unzählige Male kommentiert, gehört mit der so genannten Doppeltragödie Erdgeist und Die Büchse der Pandora zu den berühmtesten Stücken der klassischen Moderne. Zugleich gehört dieser Dramenkomplex zu den beinahe sprichwörtlichen Zeugnissen des literarisch reflektierten Sexualdiskurses, den Michel Foucault in Sexualität und Wahrheit beschrieben hat. Nicht von ungefähr hat die Gender-Forschung mit ihrem Interesse an der Konstruktion von Geschlecht Wedekinds Text und seine Heldin Lulu längst als ergiebigen Untersuchungsgegenstand entdeckt. Fragen nach der kulturellen Konstruktion von Geschlecht, dies sei generell bemerkt, implizieren per se eine kulturwissenschaftliche Perspektive, auch wenn sie sich sprachtheoretisch oder psychoanalytisch interessiert erklären.1 Überblickt man jedenfalls die inzwischen beachtlich angewachsene Sekundärliteratur zu Wedekinds Text, dann fällt ein Stichwort zur Lulu-Figur immer wieder: das Stichwort ›Femme fatale‹.2 1 So z. B. die Arbeiten von Johanna Bossinade: Prolegomena zu einer geschlechtsdifferenzierten Literaturbetrachtung. Am Beispiel von Wedekinds »Lulu«-Dramen, in: Jahrbuch für internationale Germanistik 25/1 (1993), S. 97–120; Wedekinds »Monstretragödie« und die Frage der Seperation (Lacan), in: Ortrud Gutjahr (Hg.): Frank Wedekind. Würzburg 2001 (= Freiburger literaturpsychologische Gespräche. Jahrbuch für Literatur und Psychoanalyse, Bd. 20), S. 143–162. 2 Die sehr zahlreichen Studien zu Wedekinds »Lulu«-Text können hier nicht aufgeführt werden. Stattdessen sei darauf hingewiesen, dass in Darstellungen zur Femme fatale die Lulu-Figur meist schon in den Einleitungen als Beispiel für diesen Typus genannt wird. Vgl. Hans-Joachim Schickedanz: Femme fatale. Ein Mythos wird entblättert. Dortmund 1983, S. 7; Helmut Kreuzer (Hg): Don Juan und Femme fatale.
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Diesen Begriff von verhängnisvoll fataler Weiblichkeit gilt es trotz seines hohen Bekanntheitsgrades gleich vorab genauer zu klären. Carola Hilmes hat in ihrer Studie über die Femme fatale eine »Minimaldefinition« für jenen Typus der dämonischen Verführerin, der sich in der Kultur des Fin de siècle als Projektionsfigur bedrohlicher Sexualität bekanntlich größter Beliebtheit erfreute, angeboten; dieser »Minimaldefinition« zufolge »ist die Femme fatale eine meist junge Frau von auffallender Sinnlichkeit, durch die ein zu ihr in Beziehung geratender Mann zu Schaden oder zu Tode kommt«.3 Darüber hinaus aber ist am imaginierten Wunsch- und Angstbild der männermordenden ›belle dame sans merci‹, wie die Femme fatale auch genannt wird, unbedingt das diabolische Element der Kaltblütigkeit oder kalkulierten Berechnung im Tun hervorzuheben. Ist Lulu eine Femme fatale? Ja, sicher, so könnte man einerseits denken, denn Lulu wird doch stets wie selbstverständlich als Paradebeispiel für diesen Frauentypus der Jahrhundertwende angeführt. Nein, so könnte man andererseits vermuten, denn das Fragezeichen stellt die allgemeine Annahme doch wohl in Frage und impliziert ein wahrscheinliches Nein. Die Frage, ob es sich bei der Lulu-Figur um eine Femme fatale handelt oder nicht, ist alles in allem keineswegs kurzerhand mit ja oder nein zu beantworten. Schon hier sei gesagt: Beide Antworten sind möglich, je nachdem, welche der Fassungen von Wedekinds inzwischen zuverlässig ediertem Text4 man zugrunde legt, je nachdem auch, ob man mehr an der textinternen Motivstruktur interessiert ist oder mehr an der Rezeption dieses Textes, die sich allmählich verselbstständigte. Die Frage also, ob es sich bei Lulu um eine Femme fatale handelt oder nicht, lässt sich adäquat nur dann beantworten, wenn man die verschiedenen Fassungen miteinander vergleicht. Bei dieser kulturwissenschaftlichen Frage nach Formen imaginierter Weiblichkeit spielt zugleich aber auch die Rezeption eine Rolle, die diversen Kommentare vor dem Hintergrund der zeitgenössischen, den Sexualdiskurs betreffenden Normen einschließlich der Reaktionen Wedekinds hierauf. Der kulturwissenschaftliche Aspekt gewinnt noch stärker an Kontur, wenn man das in Wedekinds Text bekanntlich zenMünchen 1994, S. 13; Jürgen Blänsdorf (Hg.): Die femme fatale im Drama. Heroinen – Verführerinnen – Todesengel. Tübingen, Basel 1999, S. 14. 3 Carola Hilmes: Die Femme fatale. Ein Weiblichkeitstypus in der nachromantischen Literatur. Stuttgart 1990, S. 10. 4 Frank Wedekind: Werke. Darmstädter Ausgabe. Kritische Studienausgabe. Hg. von Hartmut Vinçon. Darmstadt 1996, Bd. 3. Im Folgenden zitiert als StA. Bd. 3/I enthält unter anderem die Textfassungen Die Büchse der Pandora (1894), Der Erdgeist (1895), Erdgeist (1913) sowie Die Büchse der Pandora (1903, 1913), Bd. 3/II enthält den Kommentar.
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trale Motiv des Pierrot entsprechend berücksichtigt, denn dann gilt es zugespitzt zu fragen: Ein Pierrot als Femme fatale? Bevor nun – versetzt mit Bemerkungen zum Pierrot-Motiv – die Textgeschichte in ihren Grundlinien mit den wesentlichen Fassungen und den sich daraus ergebenden Deutungen vorgestellt sowie die grobe Handlungsstruktur zusammenfassend in Erinnerung gerufen wird, um dann entsprechende Schlussfolgerungen für Wedekinds »Lulu«-Dramenkomplex zu formulieren, sei mit einer kleinen Collage von Kommentaren zur Lulu-Figur die Wahrnehmung der Zeitgenossen um 1900 illustriert: Lulu sei »das Weib, das männermordende, zerstörende, ewig reizende Geschlecht«5 – sie sei »eine Personifikation der Sünde, die inkarnierte Anarchie, ein weiblicher Don Juan, ein erotischer Würgeengel« von »ursprünglicher Zerstörungssucht«6 – es handle sich um den »im Weibe verkörperten Dämon, der wie eine Naturgewalt, jenseits von Gut und Böse, von Recht und Unrecht, bezaubert, zerstört, vernichtet«7 – Lulu sei »das fleischgewordene Verhängnis der Männer«8 – sie sei »das Prinzip des Weibes, das seit Weltbeginn der Urfeind des Mannes ist, und ihn mit zwingender Naturnotwendigkeit zu beherrschen, knechten und zu vernichten strebt«.9 Auf weitere Beispiele kann verzichtet werden, deren Reihe mit der Rede von der Zerstörerin und Verderberin beliebig fortzusetzen wäre. Eines jedenfalls dürfte klar sein: Wedekinds Lulu-Figur wurde zeitgenössisch als Femme fatale wahrgenommen. Sehen dies nun heutige Interpreten ebenso? Hier bietet sich ein widersprüchliches Bild. Die Ansichten der neueren Forschung darüber, ob in Wedekinds Lulu-Figur der Typus der Femme fatale gestaltet ist, könnten kaum weiter auseinander gehen. In der Regel wird in ihr mit durchaus guten Gründen eine Femme fatale par excellence gesehen. »Die bekannteste Femme fatale-Gestalt der deutschen Literatur des Fin de siècle heißt Lulu. Mit dieser Figur schafft Wedekind eine Neuprägung des Motivs der dämonischen Verführerin.«10 Mit diesen Worten hat Carola Hilmes Lulu als raffinierten Vamp und moderne Hetäre beschrieben. Oder auch Ortrud Gutjahr sieht (in der Nachfolge von Silvia Bovenschens Überlegungen zur inszenierten Weiblichkeit) in ihrem viel zitierten Aufsatz Lulu als Prinzip in Wedekinds Figur eine Femme fata-
5 Hans Pauli (Neue deutsche Rundschau, 1896), zitiert nach StA, Bd. 3/II, S. 1109 f. 6 Leo Berg (Der Übermensch in der modernen Litteratur, 1897), zitiert nach StA, Bd. 3/II, S. 1111. 7 Heinrich Hart (Der Tag, 1902), zitiert nach StA, Bd. 3/II, S. 1119. 8 Hans Trog (Neue Zürcher Zeitung, 1907), zitiert nach StA, Bd. 3/II, S. 1129. 9 Julius Kapp (Frank Wedekind, 1909), zitiert nach StA, Bd. 3/II, S. 1130 f. 10 Hilmes: Die Femme fatale, S. 155.
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le, wenn auch als homogenes Konstrukt von Fremdperspektiven, womit der inflationär verbreitete dämonische Frauentypus der Jahrhundertwende kritisch reflektiert werde, indem er bewusst inszeniert sei.11 In der Figur Lulu seien sogar »alle Kennzeichen fataler Weiblichkeit ins Extrem überzeichnet«, hat Urte Helduser ausgeführt, und somit sei die »zeitgenössische Vorstellung von der Femme fatale […] durch ihre Überzeichnung in der Figur Lulus parodiert«.12 Gegen die recht verbreitete Interpretation, in Lulu habe man eine exemplarische Femme fatale vor sich, sind allerdings mit ebenfalls guten Gründen auch konträre Stimmen zu vernehmen. Elke Austermühl etwa, Mitherausgeberin der Darmstädter Wedekind-Ausgabe, hat nachdrücklich formuliert: »Die Deutung Lulus als einer für die Jahrhundertwende charakteristischen femme fatale-Figur im Sinne der Wildeschen Salomé« sei »nicht haltbar«.13 Und auch Ruth Florack, eine der besten Kennerinnen des »Lulu«-Dramenkomplexes, hat in ihrer eindrucksvollen Studie Wedekinds »Lulu« – Zerrbild der Sinnlichkeit ausdrücklich betont, dass Wedekinds Tragödie sich »ganz im Gegensatz zu den Geschichten der Femme fatale« darstellt und auch seine Heldin »durchaus nicht dem spezifischen Bild der Femme fatale entspricht«.14 Wie diese widersprüchlichen Stellungnahmen der Forschung zustande kommen, ist leicht erklärt. Ob man die Figur der Lulu als Femme fatale deutet oder eben gerade nicht, liegt einzig und allein daran, welche Fassung des Stücks der Interpretation zugrunde liegt. Daher gilt es nun, kursorisch auf die komplizierte Textgeschichte einzugehen, auf die wichtigsten Textzeugen, die in der Darmstädter Wedekind-Ausgabe dokumentiert sind: auf die noch immer fast unbekannte Urfassung und die aus ihr erwachsenen berühmten Umarbeitungen Der Erdgeist mitsamt Prolog sowie Die Büchse der Pandora, die zusammen gelegentlich und alles andere als korrekt unter dem Titel Lulu gehandelt werden. Zunächst zur Urfassung. Während seines Aufenthaltes in Paris in den Jahren 1892 bis 1894 hat Wedekind ein fünfaktiges Stück geschrieben, das
11 Vgl. Ortrud Gutjahr: Lulu als Prinzip. Verführte und Verführerin in der Literatur um 1900, in: Irmgard Roebling (Hg.): Lulu, Lilith, Mona Lisa… Frauenbilder der Jahrhundertwende. Pfaffenweiler 1989, S. 45–76. 12 Urte Helduser: »Maskerade« als »weibliche Natur«. Literatur und Geschlechterdiskurs um 1900, in: Der Deutschunterricht 52/2 (2000), S. 15–26, hier S. 25 f. 13 Elke Austermühl: Frank Wedekind, in: Hartmut Steinecke (Hg.): Deutsche Dichter des 20. Jahrhunderts. Berlin 1994, S. 43–58, hier S. 48. 14 Ruth Florack: Wedekinds »Lulu«. Zerrbild der Sinnlichkeit. Tübingen 1995, S. 52.
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den Titel Die Büchse der Pandora trägt, versehen mit der Gattungsbezeichnung Eine Monstretragoedie. Die Veröffentlichung dieses Manuskripts wurde fast ein Jahrhundert lang unterdrückt. Erst 1988 konnte es (in Theater heute) veröffentlicht werden, 1990 dann in historisch-kritischer Ausgabe.15 Wer sich unter den Interpreten unabhängig von späteren Fassungen auf diese Pariser Urfassung bezieht, auf die Monstretragödie (was soviel meint wie »Schauerdrama« in Analogie zu Schauerroman),16 kann in der zur Intrige und jeder Berechnung völlig unfähigen Heldin, der jedes Kalkül abgeht, keine Femme fatale erkennen. Die wenigen Interpreten, die sich mit der Urfassung befasst haben, sehen in ihr »ein konstantes Element kindlicher Freude am Spiel«,17 eine Figur voll Vitalität und Naivität, die arglos Rollenvorgaben übernimmt, eine Figur, in der die Utopie von »Lebensintensität in zweckfreier und augenblickserfüllter sinnlicher Begegnung«18 angelegt ist. Aber die Monstretragödie ist dennoch keine Kritik an einer repressiven Sexualmoral, der als Gegenbild mit dieser Heldin eine freie Sexualität gegenübergestellt wäre, denn Lulu ist eine Kunstfigur und kein Charakter, der psychologisch gedeutet werden könnte. Sie ist ein »lebenstolles Kunstgebilde«,19 im Grunde also ein Oberflächen-Arrangement, das als handlungsauslösender Faktor die anderen Figuren, die allesamt mehr oder weniger komisch gebrochene Typen darstellen, in Bewegung bringt. Thema von Wedekinds ursprünglichem Stück ist die von Foucault beobachtete Diskursivierung der Sexualität, nicht die Repression von Sexualität. Wedekinds Monstretragödie, montiert aus heterogenen Versatzstücken von trivialliterarischen Mustern über diverse Realitätsbezüge bis hin zur Mythologie, gestaltet sich als radikale Kritik an der verwalteten Sinnlichkeit und instrumentalisierten Sexualität, als Bruch also mit dem herrschenden Sexualdiskurs. Die turbulente Handlung sei kurz zusammengefasst:
15 Frank Wedekind: Die Büchse der Pandora. Eine Monstretragödie. Historisch-kritische Ausgabe der Urfassung von 1894. Hg., kommentiert und mit einem Essay von Hartmut Vinçon. Darmstadt 1990 (= Pharus, Bd. 3). 16 Vgl. Erläuterung »Monstretragoedie«, in: StA, Bd. 3/II, S. 1053, und »Schauerdrama«, in: StA, Bd. 3/II, S. 1071. 17 Jörg Schönert: »Lulu regained«: Überlegungen zur Lektüre von Frank Wedekinds »Monstretragödie« (1894), in: Frank-Rutger Hausmann (Hg.): Literatur in der Gesellschaft. Festschrift für Theo Buck zum 60. Geburtstag. Tübingen 1990, S. 183–193, hier S. 187. 18 Ruth Florack: Frank Wedekind: Lulu, in: Dramen des 20. Jahrhunderts. Interpretationen. Stuttgart 1996, Bd. 1, S. 7–24, hier S. 16. 19 Florack: Wedekinds »Lulu«, S. 82.
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Im ersten Akt wird Lulu von dem Maler Schwarz auf Wunsch ihres kunstverständigen Gatten, des betagten Obermedizinalrates Dr. Goll, als Pierrot porträtiert. Dieses Porträt bietet den Anlass einer ausführlichen Unterhaltung des Künstlers mit dem einflussreichen Chefredakteur Dr. Schöning. Allein mit seinem Modell, stellt der Maler Lulu nach und Dr. Goll, der überraschend hinzukommt, trifft der Schlag: eine Art Unfall, der erste Tote. In diesem Akt ist Lulu erotisch konnotiertes Objekt kunstsinniger Männer mit ihren prometheischen Phantasien. Im zweiten Akt ist Lulu mit Schwarz verheiratet – ohne Wissen des selbstgefälligen Malers großzügig finanziert von Schöning, dessen Geliebte sie heimlich ist. Als Schwarz von Schönings Rolle erfährt, schneidet er sich »mit dem Rasiermesser den Hals durch«:20 ein Selbstmord, der zweite Tote. Dieser Akt liest sich wie eine Persiflage auf ein naturalistisches Ehedrama. Im dritten Akt führt Lulu als Gattin von Schöning ein aufwendig mondänes Leben und unterhält unter anderen mit dem jungen Schriftsteller Alwa, Schönings Sohn aus erster Ehe, ein Verhältnis. Schöning beobachtet ein têteà-tête Lulus mit Alwa, zeigt sich, will Lulu zum Selbstmord mit seinem Revolver zwingen und wird mit eben diesem Revolver erschossen, wobei nicht ganz eindeutig ist, ob Lulu oder Alwa den Schuss abgegeben hat: jedenfalls ein Mord, der dritte Tote. Im vierten Akt bewegt Lulu sich in Paris, wohin sie mit Alwa geflohen ist, in zwielichtigen Halbweltkreisen und droht schließlich durch den erpresserischen Zuhälter Casti-Piani verraten zu werden, da sie es verweigert, sich in dessen Luxusbordell in Kairo zu prostituieren. Der Akt schließt mit der überstürzten Flucht von Lulu und Alwa aus Paris. In diesem Akt geht es um den Zusammenhang zwischen Liebe und Geld, hintergründig auch thematisiert in den Börsenspekulationen um die Jungfrauaktien (Aktien zum Projekt einer Zahnradbahn auf der Jungfrau, dem dritthöchsten Gipfel der Finsteraarhorngruppe im Berner Oberland). Die Beziehungen zwischen Mann und Frau jedenfalls werden verhandelt wie diejenigen von Waren und ihrem Preis. Im fünften Akt haust Lulu in London mit dem heruntergekommenen Alwa und dem schäbigen Vagabunden Schigolch in armseligsten Verhältnissen in einem Dachverschlag und geht – von Schigolch nachdrücklich dazu angehalten – als Straßendirne der Prostitution nach. Zwischenzeitlich taucht die aus besseren Zeiten bekannte lesbische Gräfin Geschwitz überraschend mit dem Pierrot-Bild, das Lulu bis nach Paris begleitet hatte, in der Dachkammer auf. Alwa wird in diesem Schlussakt von einem der Freier erschla-
20 StA, Bd. 3/I, S. 206.
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gen: »Ä Liach lit do in«,21 wie der nächste Freier, ein Schweizer, dann gleich entsetzt feststellen muß – fast en passant also der vierte und letzte tote Mann im Stück. Bis hierhin gestaltet sich das überdeutlich Melodramatisches zitierende Stück mit der unwahrscheinlichen Häufung schauriger Momente und der jedes Pathos verhindernden komisch inadäquaten Reaktionen der Figuren auf die Todesfälle bis hin zu den witzig nummernhaften Auftritten der Freier im Londoner Elendsquartier als eine Szenerie des Clownesken. Warum aber hat der Verfasser dann von einem »großen Trauerspiel«22 gesprochen? In einer Szene fehlen die Komödienelemente: bei der das Stück abschließenden Ermordung und Verstümmelung Lulus durch Jack, the Ripper. Hier gilt es, einige Worte zum durchgängig präsenten Motiv des Pierrot zu sagen, in dessen Kostüm Lulu porträtiert ist, womit sie in einem Bild festgehalten wird, das bis zum grausigen Ende eine Rolle spielt. Abgesehen vom tragischen Schluss scheint eine Clowns- oder Narrenfigur wie der Pierrot in der clownesken Szenenfolge, als die sich die Urfassung von Wedekinds Stück darstellt, als passendes Gestaltungselement durchaus plausibel. Pierrot23 ist zunächst eine dumm-dreiste Dienerfigur aus der Pariser Comédie italienne, die ihren Ursprung in der Commedia dell’arte hat. Der Dummkopf Pierrot bildet eine Gegenfigur zum gescheiten Harlekin. Es handelt sich bei dieser Clownsfigur um eine Art Hanswurst in sackartigem weißen Kostüm und weißer Maske. Während diese komische Figur lange Zeit als nur derb, obszön und ungehobelt galt, wird dem Pierrot im Verlauf des 19. Jahrhunderts zunehmend Sensibilität unterstellt. Die Semantik des Pierrot, gleichgültig ob diese Clownsfigur nun mehr grobschlächtig oder mehr empfindsam konturiert ist, wirft die Frage auf: Ein Pierrot als Femme fatale? Wohl kaum. Schon der an dem übermäßig weiten, schlotternden Kostüm ablesbare Mangel an einer mit ›Weiblichkeit‹ konnotierten erotischen Ausstrahlung spricht gegen eine solche Deutung dieser Figur. Wenn Lulu in der Monstretragödie und auch in allen späteren Fassungen als Pierrot ins Bild gefasst ist, dann bietet das männliche Kostüm, in dem die Heldin steckt, allenfalls einen erotischen Reiz im Androgynen, eine Erotik jenseits der Geschlechterdifferenz. Als Kunstfigur wird sie in das Stück eingeführt, als ein Stück Kunst, indem sie zu Beginn im Pierrot-Bild präsentiert wird, bevor sie als handelnde Figur in Erscheinung tritt. Dieses Bild durchzieht leitmotivisch den ganzen
21 StA, Bd. 3/I, S. 301. 22 Frank Wedekind an Arnim Wedekind (Paris, 8.11.1892), in: StA, Bd. 3/II, S. 837. 23 Vgl. Erläuterung »Pierrot«, in: StA, Bd. 3/I, S. 1062–1064.
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Text in allen Fassungen – ungeachtet der noch zu erörternden Abweichungen, was die Deutung der Heldin als Femme fatale betrifft. Gleich in der ersten Szenenanweisung ist es präsent, um sogleich zum Gesprächsthema zwischen dem Maler Schwarz und Schöning, der in späteren Fassungen Schön heißt, und insgesamt zum leitenden Thema des ersten Akts zu werden. Auch im zweiten Akt, als Lulu mit dem Maler des Bildes verheiratet ist, meldet die Szenenanweisung in identischem Wortlaut durch alle Fassungen die Präsenz des Porträts am Ort der Handlung: in einem kleinen, aber eleganten Salon hängt »über dem Kamin in prachtvollem Brokatramen Lulus Bild als Pierrot«.24 Entsprechendes gilt für den Akt, als Lulu nach dem Selbstmord des Porträtmalers die Gattin Schönings bzw. Schöns ist. Am Ort der Handlung, nun in einem monumental ausgestatteten Saal, steht »auf einer decorativen Staffelei Lulu’s Bild als Pierrot, in antiquisiertem Goldramen«.25 Auch in Paris, wohin Lulu nach dem Tod ihres dritten Gatten geflohen war, gehört das Porträt laut Szenenanweisung zur Ausstattung des nun immerhin noch geräumigen Salons mit einem »Kamin in weißem Marmor, darüber Lulus Bild als Pierrot in schmalem Goldrahmen in die Wand eingelassen.«26 Im letzten Akt von Urfassung und Umarbeitungen dann, im Elendsquartier in London, beschreibt die Szenenanweisung zwar detailliert die ärmliche Dachkammer mit der zerrissenen grauen Matratze in der Ecke, mit dem wackeligen Blumentisch, auf dem von einer qualmenden Petroleumlampe spärlich beleuchtet eine Whiskyflasche steht, und erwähnt neben weiterem Sperrmüll sogar, dass es regnet und daher die Diele unter Wasser steht. Aber das Pierrot-Bild fehlt. Nichtsdestoweniger wird es im Verlauf dieses Schlussaktes von der Gräfin Geschwitz, die es in Paris aus dem Rahmen herausgetrennt hatte, herbeigebracht. Das Porträt Lulus als Pierrot begleitet sie jedenfalls vom Anfang des Stücks bis zum grausigen Ende, vom Aufstieg in immer größeren Luxus bis zum Absturz ins Elendsquartier, wo die Heldin vor ihrem Bildnis den Tod findet. In der Forschung finden sich sehr unterschiedliche Ansätze, das PierrotMotiv zu erklären. Es ist zum Beispiel als Verkleidung Lulus und somit als »kunstvolle[s] Vexierspiel« Wedekinds gedeutet worden: das Pierrot-Kostüm als »Kostüm der Narretei« habe für Lulu die Eigenschaft »des Verbergens der Gestalt«,27 so wie Giacomo Casanova anlässlich eines Maskenballs
24 25 26 27
StA, Bd. 3/I, S. 176. Sperrung original. Vgl. StA, Bd. 3/I, S. 341 und S. 424. StA, Bd. 3/I, S. 207. Sperrung original. Vgl. StA, Bd. 3/I, S. 383 und S. 461. StA, Bd. 3/I, S. 233. Sperrung original. Vgl. StA, Bd. 3/I, S. 496 und S. 570. Erhard Weidl: Lulu’s Pierrot-Kostüm und die Lüftung eines zentralen Kunstgeheimnisses, in: Editio 2 (1988), S. 90–110, hier S. 107.
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das Kostüm des Pierrots gewählt habe. Oder das weiße Kostüm ist im Gegenteil als mit Lulu identisch gesehen worden: ihr »weisses Kleid« sei ein »leere[r] Zeichenträger«,28 ein »Oberflächenzeichen«29 für männliche Projektionen, gestalte sich doch »im Frauenbild der Jahrhundertwende der weibliche Körper durch Annullierung verrätselt«.30 Außerdem hat man darauf hingewiesen, »that both Lulu and Pierrot suggest an ultimately indeterminate sexuality«, und entsprechend »[t]he latent androgyny of Lulu«31 herausgestellt. Darüber hinaus hat die Forschung die Quellen und Anregungen für das Pierrot-Motiv detailliert ermittelt32 – beispielsweise die Pantomime Lulu von Félicien Champsaur (Uraufführung 1888 im Pariser Nouveau Cirque, Drucke im gleichen Jahr) um eine »clownesse danseuse«, den Roman La femme-enfant (1891) von Catulle Mendès, in dem die Hauptfigur Lili sich als Pierrette verkleidet, oder den Roman Loulou (1883) von Louis de Gramont, dessen Handlung sich um ein Porträt der Titelheldin dreht, nicht zuletzt Signor Dominos Abhandlung Der Cirkus und die Cirkuswelt (1888) mit den Ausführungen zum Pierrot, die Wedekind nachweislich kannte, oder schließlich die diversen Pierrot-Darstellungen in der Bildenden Kunst. Überhaupt ist der Pierrot Gegenstand nicht nur der Literatur, sondern verschiedener, gerade visueller Künste, was seiner Präsenz in der europäischen Kultur um 1900 und ihrem Bildgedächtnis einigen Nachdruck verleiht. Räumt man der kulturellen Präsenz und der kulturgeschichtlichen Dimension des Pierrot, mit der Wedekind zweifellos vertraut war, besonderes Gewicht ein, dann bietet das Pierrot-Motiv grundsätzlich zwei Deutungsperspektiven: der Pierrot als ursprünglich dumm-dreiste Dienerfigur und Hanswurst verweist einerseits auf undomestizierte Gegenwelten wie den Bereich des Komischen und Plebejischen, der Pierrot in seiner später nobilitierten Gestalt verweist andererseits auf den Bereich des Artifiziellen und Kultivierten. Während die nicht als Femme fatale zu identifizierende Lulu der Monstretragödie über die Figur des Pierrot mit seinem erwähnten Bedeu-
28 Peter Utz: Was steckt in Lulus Kleid? Eine oberflächliche Lektüre von Wedekinds Schauerdrama, in: Wolfram Malte Fues, Wolfram Mauser (Hg.): »Verbergendes Enthüllen«. Zu Theorie und Kunst dichterischen Verkleidens. Festschrift für Martin Stern. Würzburg 1995, S. 265–276, hier S. 266. 29 Utz: Was steckt in Lulus Kleid?, S. 268. 30 Utz: Was steckt in Lulus Kleid?, S. 275. 31 Naomi Ritter: The Portrait of Lulu as Pierrot, in: Frank Kieser, Reinhold Grimm (Hg.): Frank Wedekind Yearbook 1991. Bern, Berlin, Frankfurt a. M., New York, Paris 1991, S. 127–140, hier S. 130 f. 32 Vgl. Florack: Wedekinds »Lulu«, S. 15–56. Vgl. StA, Bd. 3/II, S. 963–970.
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tungsspektrum in die eine oder andere Richtung durchaus sinnvoll gedeutet werden könnte, wirft die Clownsfigur in den späteren Fassungen, von denen jetzt die Rede sein soll, interpretatorische Probleme auf, weil sie sich nicht mit dem Typus der Femme fatale verträgt. Bei den späteren Fassungen handelt es sich um Anpassungen an den Publikumsgeschmack und um Einschränkungen aus Rücksicht auf die Theaterzensur. Dies muss nicht unbedingt als Geschichte der Korruption eines Textes verstanden, sondern kann durchaus als produktiver Prozess aufgefasst werden. So schägt zum Beispiel Claudia Liebrand vor, »zögerliche Verlagschefs, einschreitende Zensoren, konservatives Publikum« als produktive »Text-Generatoren zu sehen«.33 Bedenken des einen Skandal fürchtenden Verlegers haben Wedekind jedenfalls dazu bewogen, zunächst einen Teil der Urfassung – die ersten drei Akte der Monstretragödie – zu einem selbstständigen neuen Stück in vier Akten umzuarbeiten. Im Jahr 1895 erschien unter dem Titel Der Erdgeist (versehen mit dem Zusatz »Bühnenmanuscript«) die Erstausgabe dieses Stücks. Während die ersten beiden Akte dieser Tragödie auf den Akten I und II der Urfassung basieren, in denen die beiden ersten Ehemänner Lulus zu Tode kommen (zunächst Dr. Goll, dann der Maler Schwarz), kam der dritte Akt neu hinzu, der das Verhältnis Lulus zu ihrem dritten Ehemann Schön (wie Schöning jetzt heißt) und zu dessen Sohn Alwa weiter entfaltet. Der vierte und letzte Akt basiert wiederum auf dem dritten Akt der Urfassung, in welchem der dritte Gatte Lulus stirbt. Während aber uneindeutig war, wer Schöning erschossen hat, ist die Mörderin Schöns nun eindeutig Lulu. Es ist, wie gesagt, nicht der grobe Handlungsverlauf, der den Erdgeist, wie das Stück ohne bestimmten Artikel von der zweiten Auflage 1903 bis zur Ausgabe letzter Hand 1913 dann heißt, von der Urfassung unterscheidet, sondern die Differenz besteht darin, wie die Handlung in Szene gesetzt und wie die Figuren charakterisiert sind. Lulu nämlich setzt hier im Unterschied zur Urfassung ihre Erotik kalkuliert als Mittel zum Zweck ein. Sie bedient sich der Intrige und zeichnet sich durch Gefühlskälte und Berechnung aus. Zweifellos handelt es sich bei der Lulu des Erdgeist um eine Femme fatale, was die zahlreichen Interpreten, die sich auf dieses Stück beziehen, dazu veranlasst hat, die Heldin auch als solche zu identifizieren. Auch die oben zitierten zeitgenössischen Stimmen beziehen sich auf die Lulu des Erdgeist. In Anpassung an den Publikumsgeschmack hat Wedekind seine Heldin im Erdgeist in den im Fin de siècle verbreiteten und als Deutungsfolie des ›Weibli-
33 Claudia Liebrand: Noch einmal: das wilde, schöne Tier Lulu. Rezeptionsgeschichte und Text, in: Gutjahr: Frank Wedekind, S. 179–194, hier S. 182.
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chen‹ allgemein akzeptierten Typus der Femme fatale verpackt, er hat sie verkleidet in eine Verführerin und Verderberin mit drei Männern auf dem Gewissen. Der an Öffentlichkeitswirkung interessierte Dramatiker hat sich bei der Umarbeitung des ersten Teils der Monstretragödie in Der Erdgeist an gängige Publikumserwartungen angepasst, weil er sein Stück auf der Bühne sehen wollte. Zur Uraufführung 1898 in Leipzig hat er einen bis heute rezeptionsleitenden Prolog geschrieben, der einige Aufmerksamkeit verdient. Dieser Prolog, der sich als fester Bestandteil von Erdgeist-Inszenierungen etablierte und »die Fiktion eines übergreifenden Kommunikationszusammenhangs zwischen Sprecher und Publikum«34 herstellt, spielt nämlich dezidiert auf das Bild der Femme fatale an. »Hereinspaziert« lädt ein marktschreierischer Tierbändiger das hochverehrte Publikum mit Zimbelklängen und Paukenschlägen ein in die Manege, das »wahre Tier, das wilde, schöne Tier« zu besichtigen, und er hat außer Tiger, Bär, Affe oder Kamel auch die Schlange zu bieten: He, Aujust! bring mir unsre Schlange her! (Ein schmerbäuchiger Arbeiter trägt die Darstellerin der Lulu in ihrem Pierrotkostüm aus dem Zelt und setzt sie vor dem Tierbändiger nieder.) Sie ward geschaffen, Unheil anzustiften, Zu locken, zu verführen, zu vergiften – Zu morden, ohne daß es einer spürt.35
Eine Femme fatale: das scheint allein mit dem Signalwort ›Unheil‹ in der Verbindung mit ›Verlockung‹ und ›Verführung‹ sehr eindeutig. Das zum Klischee Verderben bringender ›Weiblichkeit‹ geronnene Symbol der Schlange, das traditionelle Symbol für Falschheit und Verführung zum Bösen – offensichtlich ist es das Bild der Femme fatale, das hier evoziert werden soll. Eine solche für die Jahrhundertwende typische Femme fatale hat beispielsweise der Maler Franz von Stuck in seinem bekannten Bild Die Sünde mit der symbolträchtigen Schlange um den weißen Frauenleib auf die Leinwand gebracht. Der Prolog des Erdgeist partizipiert an dieser deutlichen Bildersprache. Plakativ hat Wedekind, der als früherer Werbechef der Suppenfirma Maggi Werbestrategien geschickt einzusetzen wusste, das populäre dämonische Weiblichkeitsimago als Reklame für sein Stück funktionalisiert – mit einigem
34 Hartmut Vinçon: »Prolog ist herrlich!« Zu Frank Wedekinds Konzept dramaturgischer Kommunikation, in: Euphorion 95/1 (2001), S. 69–82, hier S. 77. 35 StA, Bd. 3/I, S. 403 ff. Sperrung original. Vgl. StA, Bd. 3/I, S. 315 f.
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Franz von Stuck: Die Sünde (1893)
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Erfolg. Der nachträglich zum Stück entstandene Prolog zum Erdgeist – sicher »einer der berühmtesten Werbespots der Weltliteratur«36 – wurde und wird in der oberflächlich angebotenen Lesart bevorzugt als Interpretationsvorgabe für die Lulu-Figur genommen. Nicht weiter erwähnt wurde in den diversen Deutungen allerdings, dass Lulu im Prolog ausdrücklich in einem Pierrot-Kostüm hereingetragen wird, in einem für eine Femme fatale äußerst unpassenden Clownskostüm also, das im Widerspruch steht zur Ikonographie der Femme fatale, die im Text nun derart präsent ist. Offensichtlich hat Wedekind mit der optischen Präsentation, mit der clownesken Kostümierung seiner Figur als eine Art Hanswurst, den hinsichtlich des dämonischen Frauentypus eindeutigen Text unterwandert. Dies gilt übrigens auch, wenn man die andere Bedeutungsnuance des Pierrot in Betracht zieht, das Artifizielle dieser Figur, die als Kunstprodukt in ihrer Passivität wohl kaum die aktiv kalkulierende Verführerin verkörpert. Diese doppelte Optik wird augenfällig, wenn man sich die Photographie aus dem Jahr 1902 vergegenwärtigt, die eine Szene aus dem Prolog zur Berliner Erdgeist-Inszenierung festhält und Frank Wedekind als Tierbändiger, vor allem aber Gertrud Eysoldt als Lulu im weißen sackartigen Pierrot-Kostüm zeigt. Wenn man sich diese Photographie ansieht, fragt man sich: Diese Clownsfigur soll eine Femme fatale sein? Dieses im festen Griff des Dompteurs alles andere als gefährlich wirkende Wesen in seiner geschlechtsindifferenten Bekleidung soll eine männerverderbende ›Schlange‹ sein? Die Schlange aber steht nicht nur plakativ als allgemeines Symbol für Sünde und damit für das populäre Weiblichkeitsimago Femme fatale, sie steht zugleich in Friedrich Nietzsches Also sprach Zarathustra für die ewige Wiederkunft (die Schlange, die sich in den Schwanz beißt, als Kreissymbol). Diese Bedeutungsebene dürfte in den Zarathustra-Bezügen37 der Monstretragödie angelegt gewesen sein, eine Bedeutungsebene, die versteckt, weil im Erdgeist nicht mehr problemlos erkennbar, die plakative Bedeutung der Schlange im Prolog unterwandert, auch wenn das Publikum dies kaum bemerkt haben dürfte. Der Text des Prologs, so ist anzunehmen, ist in der populären Lesart rezipiert worden. Dass in dieser Lesart Text und Bild zur Lulu-Figur im Prolog nicht recht zueinander passen, mag der Grund dafür sein, dass schon zeitgenössisch in manchen Inszenierungen auf das Clownskostüm verzichtet wurde. Otto Falckenberg etwa ließ in seinem Textbuch Lulu zur Bühneneinrichtung von 36 Rolf Kieser: Werbestrategien im Werk Frank Wedekinds, in: Text + Kritik 1996, H. 131/132: Frank Wedekind, S. 15–31, hier S. 15. 37 Vgl. Hartmut Vinçon: Lulus Maske: »Sie tanzt den Übermenschen.«, in: Wedekind: Die Büchse der Pandora. Eine Monstretragödie, S. 221–232.
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Gertrud Eysoldt als Lulu in der Erdgeist-Inszenierung am Kleinen Theater, Berlin 1902 (Regie: Richard Vallentin)
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Wedekinds Stück die Heldin im Prolog »im Kostüm einer Schlangendame«38 herumtragen – die Schlange als das übliche Symbol für Eva und den biblischen Sündenfall, mithin im passenden Kostüm unzweideutig auf das Bild der fatalen Verderberin verweisend und ohne irritierende Zwischentöne durch eine Clownsfigur. Sogar in der ausführlichen Gesprächsszene zwischen Schön und Schwarz zu Beginn des eigentlichen Stücks, die sich in Wedekinds Text ganz um das Pierrot-Motiv dreht, ist das Pierrot-Kostüm in Falckenbergs Textbuch durch ein »revuemässige[s] Tanzkostüm« ersetzt, welches Lulu auf dem »Kostümbild«39 trage – eine auf die erotische Libertinage des Künstlerlebens zielende Banalisierung der erotisch aufreizenden Femme fatale im Hinweis auf die Revue als Welt des Flitters und falschen Scheins. Wenn Lulus Porträt bei Falckenberg eine Revuetänzerin zeigt, dann ist die Vieldeutigkeit des ursprünglichen Pierrot-Kostüms doch erheblich zugunsten einer recht eindimensionalen Tingeltangel-Erotik beschnitten. Nichtsdestoweniger aber ist auch die Lulu in Wedekinds Dramentext, im Erdgeist, in Anpassung an eine Mode um 1900 ganz Femme fatale und damit »eine epigonale Nummer«,40 wie Ruth Florack treffend festgestellt hat. Schwierigkeiten mit der Zensur sind für diesen ersten Teil der Doppeltragödie kaum zu verzeichnen. Spätestens die Premiere des Erdgeist 1902 in Berlin, in der Gertrud Eysoldt von der Kritik hochgelobt in der Rolle der Lulu als raffinierte Verführerin reüssierte, wie überhaupt der Theatererfolg des Stücks im Kaiserreich taten ein Übriges, um das Bild von Lulu als Inkarnation einer Femme fatale zu verbreiten. Ganz anders, nämlich von der Zensur unterdrückt und folglich ohne größeres Publikum, sieht es mit der Umarbeitung des verbleibenden Teils der Urfassung aus, mit der Tragödie zweiter Teil, die unter dem ursprünglichen alten Titel Die Büchse der Pandora, aber nun als Tragödie in drei Aufzügen, zunächst 1902 in der Zeitschrift Die Insel vorabgedruckt wurde und 1903 dann als Buchausgabe erschien. Ergänzt um einen neuen ersten Akt, der das Verhältnis zwischen Lulu und Alwa weiter entfaltet, basieren die Akte II und III auf den Akten IV und V der Monstretragödie. Die Uraufführung 1904 in Nürnberg in geschlossener Veranstaltung zieht ein polizeiliches Verbot weiterer Aufführungen nach sich. Auf Initiative von Karl Kraus werden 1905 in Wien immerhin zwei geschlossene Vorführungen realisiert. Im Grunde aber kann der Dramatiker seinen heiklen Text fast nur in Autorlesungen einem 38 Lulu. Schauspiel in sieben Bildern von Frank Wedekind. Autorisierte Bühneneinrichtung von Otto Falckenberg. Berlin o. J., S. 7. 39 Lulu. Schauspiel in sieben Bildern von Frank Wedekind, S. 10. 40 Florack: Wedekinds »Lulu«, S. 210.
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begrenzten Publikum präsentieren. Die Büchse der Pandora gehört zu den Stücken, die am stärksten von der Zensurpraxis im Kaiserreich betroffen waren, und dies gilt außer für das Bühnenstück auch für die Buchpublikation, wie der langwierige Pandora-Prozess gegen Autor und Verleger wegen Verbreitung ›unzüchtiger Schriften‹ belegt.41 Die Umgehung der Zensur war für den Verfasser nun Anlass weiterer Überarbeitungen des inkriminierten Stücks – bis hin zu einer Vereinigung der Doppeltragödie zu einem einheitlichen Ganzen durch Kompilation des Erdgeist mitsamt Prolog mit der Büchse der Pandora. Bei diesem Stück, das 1913 unter dem Titel Lulu herauskam, handelt es sich um alles andere als um eine Restitution der Pariser Urfassung, was schon der veränderte Schluss verrät, der im Unterschied zu den diversen Fassungen der Büchse der Pandora die wüste Todesszene Lulus mit Jack, the Ripper vermeidet. Was nun die Unterschiede zwischen der Monstretragödie und der Umarbeitung zur dreiaktigen Pandora angeht, so gerät letztere zu einem »Panoptikum der Perversionen«,42 zu einem Sammelsurium devianten Sexualverhaltens, wie es in dem Wedekind bekannten auflagenstarken Lehrbuch Psychopathia sexualis des Psychiaters Richard von Krafft-Ebing klassifiziert ist. Wedekinds Heldin nämlich erscheint nun anders als in der Urfassung als kaltherzige Nymphomanin, die von Anfang an wie alle die anderen Figuren des Stücks die Spielregeln egoistischer Selbstbehauptung beherrscht und emotionslos klug kalkuliert. Damit gestaltet sich Die Büchse der Pandora nicht als Kritik an der instrumentalisierten Sexualität wie in der Urfassung, nicht als Bruch mit dem herrschenden Sexualdiskurs, sondern als Teil davon. Die Heldin erscheint nun als perverse Verbrecherin, die – zugespitzt gesagt – ihr gerechtes Ende findet. So deutete der einflussreiche Berliner Publizist Maximilian Harden in seinem Wochenblatt Die Zukunft die Lulu dieses Stücks als zerstörerische Kraft, die selbst zerstört wird, ihre Ermordung durch Jack, the Ripper als »Adams Rache«.43 Auch sein Kritikerkollege Karl Kraus sah in seiner in der Fackel publizierten Einleitung zur erwähnten Wiener Inszenierung in Lulu mit der Bezeichnung »Allzerstörerin« eine Femme fatale, auch wenn er meinte, dass die Heldin »zur Allzerstörerin wurde«, weil sie »von allen zerstört ward«.44
41 Vgl. StA, Bd. 3/II, S. 1146–1183. 42 Florack: Wedekinds »Lulu«, S. 225. 43 Maximilian Harden: Theaternotizen, in: Die Zukunft 42/18 (1903), S. 205–208, hier S. 206. 44 Karl Kraus: Die Büchse der Pandora, in: Die Fackel 7/182 (1905), S. 1–14, hier S. 2.
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Die von Kraus initiierte Wiener Aufführung ist übrigens interessant, was die Wandlungen oder Facetten des Typus der Femme fatale angeht. Tilly Newes nämlich, Wedekinds spätere Ehefrau, spielte in Die Büchse der Pandora die Rolle der Lulu und kreierte einen naiven Typus, der dann in Erdgeist-Inszenierungen mehr und mehr Beifall findet und durch die Rolleninterpretationen von Tilla Durieux und Maria Orska weiter entfaltet wird. In der Autobiographie von Tilly Wedekind, die den Titel Lulu. Die Rolle meines Lebens trägt, heißt es darüber: »Tatsächlich war ich genau der Typ, den Wedekind sich für die Rolle gedacht hatte: jung, naiv und doch voll Erotik – eine Mischung, für die viele Männer etwas übrig haben.«45 Von des »Lasters Kindereinfalt«,46 so die Formulierung im Prolog zum Erdgeist, sprach Wedekind selbst. Der Erfolg des Kindlichen ist jedoch lediglich als kleine typologische Verschiebung des zeitgenössischen Geschmacks am Pikanten zu werten, am Prinzip der Femme fatale ändert auch die Variante der gefährlichen Femme enfant nichts. Wedekind jedenfalls hat seine Lulu-Figur in der Monstretragödie nicht als Femme fatale konzipiert, aber er hat diesen Typus seiner Figur in den Umarbeitungen aus Wirkungserwägungen heraus unterlegt. Angesichts des Erfolgs von Erdgeist nahm er dennoch indirekt Stellung gegen die Interpretation seiner Lulu als Femme fatale: Mit Staunen sah ich welch eine Art von Drama ich geschrieben hatte. […] was hatte ich vor Augen? Lulu war raffiniert. […] Lulu war Salome. […] Etwas bewußteres und ausgeklügelteres als die Berliner Lulu von damals kann ich mir überhaupt nicht vorstellen. […] Natürlich freute ich mich darüber, daß meine Arbeit wie ein Handschuh auch umgekehrt noch leidlich Figur machte.47
Auch umgekehrt noch leidlich Figur – nur umgestülpt steht Lulu also als Femme fatale da. Offenbar hatte der Verfasser selbst die als Pierrot präsentierte Figur seiner Lulu also nicht auf der Folie der Femme fatale imaginiert, nahm sie als solche aber nun hin, wobei er selbst an dieser Interpretation nicht ganz unschuldig war. Von ihm selbst mit den Umarbeitungen angelegte Missverständnisse hat er billigend in Kauf genommen und der Erfolg des Erdgeist war ihm recht. Was den anderen Teil der so genannten Doppeltragödie angeht, war seine Anpassungsbereitschaft weniger erfolgreich. Aber auch hier kritisierte Wedekind, dass er »als ein unbarmherziger Weiberinquisitor, als misogyner Teufelsbeschwörer verschrien«48 worden sei. Dies zielt nun 45 46 47 48
Tilly Wedekind: Lulu. Die Rolle meines Lebens. München, Bern, Wien 1969, S. 44. StA, Bd. 3/I, S. 405. Sperrung original. StA, Bd. 3/II, S. 1225. Frank Wedekind: Albert Steinrück, in: Frank Wedekind: Werke in drei Bänden. Hg. von Manfred Hahn. Berlin, Weimar 1969, Bd. 3, S. 221 f., hier S. 221.
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auf die Rezeption der Büchse der Pandora, wobei diese Deutung zwar ebenfalls nicht durch die Urfassung, dafür aber durch die Umarbeitung nahe gelegt ist. Diese Zusammenhänge lassen sich nur dann erkennen, wenn man das an der Geschichte der Lulu-Figur vorgeführte Thema des Dramenkomplexes – den Sexualdiskurs – in seinen verschiedenen Realisationen anhand der Textgeschichte verfolgt, also an den verschiedenen Fassungen nachvollzieht. Als Schlussfolgerung bleibt also zunächst unter literaturwissenschaftlicher Perspektive festzuhalten: Der »Lulu«-Dramenkomplex besteht aus zwei grundsätzlich zu unterscheidenden Textbereichen. Zum einen ist da die Urfassung, die Monstretragödie. Es ist dies, emphatisch gesprochen, der wahre Text, der wilde Text, der schöne Text, um die Worte aus dem Prolog zum Erdgeist hier abgewandelt zu benutzen. Zum anderen sind da die häufig interpretierten Umarbeitungen dieser Urfassung, Erdgeist und Die Büchse der Pandora, zwei Stücke, die oft als von Wedekind intendierter gültiger Text gelesen wurden. Angesichts der Textgeschichte jedoch verbietet es sich, sie immanent zu befragen, sondern es sollten im Rekurs auf die Urfassung Fragen nach Autorstrategien und also Fragen nach dem gerade hier spannenden Verhältnis zwischen Produktion und Rezeption diskutiert werden. Zudem lässt sich an Wedekinds Dramenkomplex die Relevanz von Editionsphilologie im Umgang mit Texten gut transparent machen, denn je nach Fassung ergeben sich unterschiedliche Interpretationen. Darüber hinaus legen die Irritationen, die das Pierrot-Motiv in den Text bringt, sowie eine dem Erkenntnisinteresse der Gender-Forschung verpflichtete Fragestellung wie diejenige nach imaginierter Weiblichkeit in den Fassungen des »Lulu«-Dramenkomplexes eine weitere, kulturwissenschaftlich orientierte Schlussfolgerung nahe: Der Text reflektiert nicht nur den Sexualdiskurs als statisches Gebilde, sondern er macht auch dessen Wandlungsfähigkeit und Facettenreichtum transparent. Es bietet sich unter dieser Perspektive mit Blick auf die wirkungsgeschichtliche Dynamik an, die Rezeption dieses von daher selbst sehr flexiblen Textes – genauer: der Figur der Lulu – über den unmittelbar zeitgenössischen Kontext hinaus zu verfolgen und auf andere Medien bis hin zu den Verfilmungen und neueren Bühneninszenierungen auszudehnen. Ob das geschlechtsindifferente Motiv des Pierrot überhaupt noch eine Rolle spielt und wenn ja, welche, wäre hierbei besonders interessant.
George Saiko: »Der Mann im Schilf« (1955)
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George Saiko: Der Mann im Schilf (1955) Saiko war zu Lebzeiten in der literarischen Szene wenigen Kennern bekannt; das Lesepublikum in Österreich oder Deutschland nahm ihn kaum zur Kenntnis. Seine Romane – Auf dem Floß (1948) und Der Mann im Schilf (1955) – verkauften sich schlecht, so dass Saiko am 14. März 1950 an den Limes Verlag schreiben musste: Mit der Abgabe der Restauflage von »Auf dem Floß«, 1948 in diesem Verlag erschienen an ein Groß-Antiquariat wäre der Roman also endgültig zu Grabe getragen. Nach 15 Jahren Schreibverbot wieder der erste Schritt in die Öffentlichkeit – und dieses Fiasko! Aber der Schaden des Autors, dieses ideelle und materielle ›Verlustgeschäft‹, pflegt ja nicht diskutiert zu werden.1
Saiko wurde 1892 in Nordböhmen als Sohn wohlhabender Eltern geboren, studierte nach dem Besuch des Humanistischen Gymnasiums in Komotau Psychologie, Philosophie, Archäologie und Kunstgeschichte in Wien. Er versuchte sich als Schauspieler in St. Petersburg, diente einige Wochen als »Einjährig-Freiwilliger« im Ersten Weltkrieg und war dann im Kriegsarchiv tätig. Er konnte ausgedehnte Reisen nach England, Frankreich und Italien unternehmen, promovierte über den frühbarocken Palastbau in Wien und arbeitete finanziell unabhängig als Privatgelehrter und Kunsthistoriker. Aufsätze zur Modernen Kunst veröffentlichte er in englischen Fachzeitschriften. Nach dem ›Anschluss‹ erhielt er Schreibverbot. Er wurde Angestellter der Graphiksammlung Albertina in Wien. Während der Kriegs- und Nachkriegszeit gelang es ihm, die Sammlung vor Zugriffen zu bewahren. In seiner Funktion als Bergungsleiter und seit 1945 provisorischer Leiter hat er sich große Verdienste erworben. 1950 musste er aus diesem Amt nach einem Prozess mit seinen Vorgesetzten ausscheiden. Er lebte unter schwierigen Bedin-
1 George Saiko: Briefe. Hg. von Adolf Haslinger unter Mitarbeit von Regina Slawitschek. Salzburg, Wien 1992 (= Sämtliche Werke in fünf Bänden, Bd. V), S. 247.
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gungen als freier Schriftsteller. Kurz vor seinem Tod (23.12.62) wurde ihm 1962 der Große Österreichische Staatspreis verliehen.2 Wendelin Schmidt-Dengler urteilte noch 1987: »Saiko galt und gilt als die unbekannte Größe der österreichischen Literatur aus der jüngeren Vergangenheit.«3 In dem Jahrzehnt eines wachsenden literarischen Ruhmes, den nicht zuletzt rezensierende Schriftstellerkollegen beförderten, hatte es Saiko keineswegs leicht, angesichts konventioneller ästhetischer Einstellungen positiv beurteilt zu werden. Eine der ersten ausführlichen Würdigungen schrieb 1963 Janko Musulin. Anlässlich der Verleihung des Staatspreises an Saiko stellte er fest, diese Gestalt sei bisher völlig im Dunkeln geblieben. In seinen beiden Romanen liege eine Diskrepanz zwischen Handlung und Inhalt vor. Er belaste durchweg die Handlungsfundamente zu sehr. Saiko sei »das seltene Beispiel einer großen Begabung, die selbst in der späten Phase die adäquate Ausdrucksform nicht finden kann, mit aller Kraft um sie kämpft und Großes schaffen würde, so er sie fände.«4 In den letzten Jahren hat sich eine Neuwertung von Saikos Lebenswerk angebahnt. Dabei spielte gewiss eine wichtige Rolle, dass zum ersten Mal sein Gesamtwerk in fünf Bänden, hg. von Adolf Haslinger (Residenz Verlag 1985–1992), überschaubar gemacht wurde. Sowohl der Erzähler als auch der Kunsthistoriker und Essayist sind für manche Überraschungen gut. Dietmar Goltschnigg bemerkte 1988, Saiko habe mit seinem Roman Der Mann im Schilf eine »scharfsinnige Analyse der krisengeschüttelten Ersten Republik Österreich« dargeboten, die ›Anfälligkeiten‹ gerade auch »der Intellektuellen für faschistische Tendenzen« aufgezeigt und erst durch diese Aufklärungsarbeit »die österreichische Identitätsfindung in der Zweiten Republik konstruktiv-kritisch vorbereitet«.5 Bereits 1982 hatte Barbara Frischmuth Saikos Roman in diesem Sinne für sich entdeckt. Über den Mann im Schilf schrieb sie in einem Aufsatz Zur Identität Österreichs:
2 Vgl. die Artikel über Saiko von Robert Mühlher (Lexikon der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Begründet von Hermann Kunisch, neu bearb. und hg. von Herbert Wiesner. München 1981, S. 431) und Johann Sonnleitner (Literatur Lexikon. Hg. von Walther Killy. Gütersloh, München 1991, Bd. 10, S. 111 f.) 3 Wendelin Schmidt-Dengler: Rez. von: George Saiko: Drama und Essays. Hg. von Adolf Haslinger. Salzburg, Wien 1986 (= Sämtliche Werke in fünf Bänden, Bd. IV), in: Literatur und Kritik 211/212 (Februar/März 1987), S. 183. 4 Janko Musulin: George Saiko, in: Schriftsteller der Gegenwart. Deutsche Literatur. Dreiundfünfzig Porträts. Hg. von Klaus Nonnenmann. Olten, Freiburg i. Br. 1963, S. 267–274, hier S. 274. 5 Dietmar Goltschnigg: Die Darstellung des Faschismus im österreichischen Nachkriegsroman – am Beispiel von George Saikos Der Mann im Schilf, in: Modern Austrian Literature 21/2 (1988), S. 41–54, hier S. 51.
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Es handelt sich bei diesem Buch meines Wissens um die einzige, wirklich literarische Auseinandersetzung mit dem Juliputsch 1934. Ort der Handlung ist das Salzkammergut, an einem Punkt nahe der deutschen Grenze. Für mich hat dieses Buch deshalb so enorme Bedeutung, weil es mir über die Bewohner der Region, aus der ich stamme, das klar gemacht hat, was ich, als von dort stammend, aus eigener Kraft kaum hätte sehen können. Es gilt aber auch hierbei größten Wert darauf zu legen, daß die Auseinandersetzung sich nicht in Mentalitätsfragen verstrickt, sondern ein bestimmtes Verhalten auf Grund der historischen und gegenwärtig wirkenden Gegebenheiten zu analysieren. […] Dieses Buch hat mir einen tiefen Einblick in sogenannte ›österreichische‹ Verhaltensweisen ermöglicht, die ich und meine Generation als zirkulierende Klischeevorstellungen übernommen habe, ohne genau zu wissen, worauf zum Beispiel jene sprichwörtliche Scheu vor der Verantwortung, Dumpfheit und Opportunismus zurückgingen.6
Hans Wolfschütz hat die Ursache für die schwierige und verzögerte Rezeption von Saikos Werk auch im »ungebrochenen Weiterwirken« des Widerstands gegen eine Aufklärung der Vergangenheit gesehen. Saiko habe sich »als einer der ersten in der österreichischen Nachkriegsliteratur« diesem »ungeheueren Verdrängungsprozeß« »vehement entgegengestellt«.7 Angesichts der überwiegend politischen und mentalitätsgeschichtlichen Lektüren darf die ästhetische Wertung von Saikos Werk nicht vergessen werden. Sie hat sofort nach Erscheinen des ersten Romans 1948 eingesetzt. Hermann Broch schrieb damals: »Ich halte diesen Roman für eine ganz außerordentliche und starke Leistung von bleibendem Wert, eine künstlerische Weiterführung der Linie über Kafka und Musil hinaus.«8 Saiko wird unter Kennern seit den fünfziger Jahren immer wieder in dieser Reihe von bahnbrechenden Romanschriftstellern der Moderne gesehen. Zu Kafka und Musil wird Broch gezählt; aus der angelsächsischen Tradition erinnert die Literaturkritik an die von Saiko mehrfach genannte Vorbildlichkeit von Joyce und Faulkner. Die Berufung auf Joyce war in der Nachkriegszeit alles andere als selbstverständlich. Für Doderer war der »Salzburger Schnürlregen der Assoziationen bei James Joyce«9 eine Spätform des Romans – für Saiko be-
6 Barbara Frischmuth: Zur Identität Österreichs, in: Für und wider eine österreichische Literatur. Hg. von Kurt Bartsch, Dietmar Goltschnigg, Gerhard Melzer. Königstein i. Ts. 1982, S. 70–78, hier S. 74 f. 7 Hans Wolfschütz: George Saiko, in: Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Hg. von Heinz Ludwig Arnold. 19. Nlg./48. Nlg. 1985/1994, S. 9. 8 Zit. nach der Rezension von Auf dem Floß, Zürich 1970, durch Johannes Hösle, in: Literatur und Kritik 54/55 (Mai/Juni 1971), S. 285–289, hier S. 285. 9 Heimito von Doderer: Grundlagen und Funktionen des Romans. Nürnberg 1959, S. 36.
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deutete Ulysses einen Anfang und die Aufforderung zur Erneuerung der Gattung. In der Geschichte des österreichischen Romans der fünfziger Jahre rechnet Walter Weiss Saikos Werk zu den Späthervorbringungen und Spätwirkungen und nennt ihn zusammen mit Joseph Roth und Fritz von Herzmanovsky-Orlando, Albert Paris Gütersloh und Albert Drach.10 Von George Saiko stammt eine der originellsten Äußerungen über das Verhältnis von Roman und Film. Der 1955 geschriebene Aufsatz hätte es verdient, in die Sammlungen theoretischer Äußerungen zum Roman aufgenommen zu werden. Wie der Romanautor ist allerdings auch der Theoretiker kaum bekannt geworden. Saiko hält die Rede von der Dauerkrise des Romans für wenig gerechtfertigt und angesichts der Medienkonkurrenz nicht für geboten, dem Roman oder anderen Kunstformen das nahe Ende zu prophezeien. Der Roman bleibe mit Sicherheit eine Kunstform, die auch in der Zukunft als Möglichkeit menschlicher Erkenntnis große Entwicklungsmöglichkeiten habe. »Jeder Roman ist ein Stück angeschaute Welt, vom Zentrum eines Betrachters her entworfen, in dem ganz bestimmte Grundvorstellungen, Haltungen, Erwartungen, Befürchtungen höchst affektiver Natur wirksam sind.«11 Nach Saikos Verständnis ist der Roman eine Erkenntnis- und Darstellungsmöglichkeit, die Probleme und Konflikte »dort beginnen läßt, wo die rationalen Momente der Welterfassung zu Ende sind, wo der Bereich des Irrationalen – und damit der Anspruch des Dichterischen – anhebt«.12 Seine großen Modelle sind die Romane von James Joyce und Hermann Broch. Sie haben die Freud’sche Psychoanalyse rezipiert, von dieser Position aus den Roman verändert und als Form wesentlich modernisiert. Saiko weiß sehr wohl, dass die Aufnahmebereitschaft für den Roman rückläufig ist. Er führt dies auf die Veränderungen der Wirtschaftsverhältnisse und der neu aufsteigenden Schichten zurück, die andere Formen des Bildungsinteresses entwickelten. Schrift werde in unseren Wahrnehmungen immer mehr durch das visuelle Moment verdrängt. »In unserer ganzen Kultur scheint eine große Verlagerung der Hauptakzente vom Diskursiven weg und zum Visuellen hin zu gehen. Man hat in diesem Zusammenhang bereits von einem allgemeinen
10 Walter Weiss: Die Literatur der Gegenwart in Österreich, in: Die deutsche Literatur der Gegenwart. Aspekte und Tendenzen. Hg. von Manfred Durzak. Stuttgart 1971, S. 386–399, hier S. 389. 11 George Saiko: Roman und Film, Die Formen unserer Weltinterpretation. Prinzipielles zum Deutschen Aspekt, in: Ders.: Drama und Essays, S. 229–245, hier S. 231. 12 Saiko: Roman und Film, S. 231.
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Schwinden unserer Vorstellungsfähigkeit gesprochen und auch hier eine Krise von fundamentaler Bedeutung […] ausgerufen.«13 Die Dominanz des Visuellen in der Kunst habe sich bereits auf zwei Gebieten negativ ausgewirkt, nämlich in der Malerei und in der Epik. Saiko erläutert den Aspekt in der Malerei nur kursorisch, während er sich der Epik ausführlicher zuwendet. Die Funktion des Films wird ohne Negativwertung reflektiert. Einen Ausweg habe Broch durch seine »Flucht in wissenschaftliche Tätigkeit« gesucht. Der theoretische Ansatz habe sich in seinen Essays, aber auch in seiner Epik nach dem Vorbild von Joyce geäußert. Das große Verdienst des Ulysses bestehe darin, dass er auf die traditionelle Umweltschilderung und Handlungsführung mit Hilfe der üblichen Psychologie verzichtet und stattdessen seinen Roman auf dem Prinzip der Assoziation von Vorstellungen, Gedanken und Affekten aufgebaut habe. Die moderne Epik versuche, das Aussagbare in Richtung auf das Vor- und Unbewusste zu erweitern. Saiko hat eine der Grundlagen seines Schreibens in der Freud’schen Psychoanalyse gefunden. Damit kann er der Überflutung durch das Visuelle eine Entdeckung des sprachlich noch nicht zur Darstellung Gebrachten entgegensetzen. Er gehört zu den Schriftstellern, die sich die Darstellung des Vor- und Unbewussten zum Ziel gesetzt haben, die den sprachlichen, den diskursiven Ausdruck als ihr wesentliches Gestaltungsmedium betrachten, die den Umkreis des Aussagbaren aus dem Seelischen erweitern wollen und es als Aufgabe des Dichterischen proklamieren, neue seelische Möglichkeiten zu erkennen und zu verbinden, neue Formen und Varianten des Erlebens, ja des Menschseins zu erfinden.14
Aus der philosophischen Kritik an einer angeblich ›objektiven Welt‹ legitimiert Saiko den Rückzug von der traditionellen epischen Deskription. Alles ›Sichtbare‹ sei durch Affekte und Stimmungen »gefärbt und geformt«.15 Saiko erweist sich als origineller Schüler Musils, wenn er dessen Standpunkt gegenüber Thomas Mann aufgreift, dass dem Roman Handlungsstrukturen und Schilderungen genommen werden sollten. Eine Auflösung der Romantextur in »intellektuelle und lyrische Reflexion«16 sei das Ziel des modernen Romans. Im Mann ohne Eigenschaften sei dies in manchen Kapiteln vollendet erreicht worden. Saiko spricht von einem neuen Realismus des »inwendigen Menschen« und gebraucht dafür die Bezeichnung ›magischer Realismus‹: »Sein uner13 14 15 16
Saiko: Roman und Film, S. 233. Saiko: Roman und Film, S. 236. Saiko: Roman und Film, S. 237. Saiko: Roman und Film, S. 238.
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schöpfliches Thema sind die affektiven Vorstellungen und ihre Verbindungen, das Triebhafte, die subjektiven Symbolbildungen, kurz die vor- und unbewussten, eigentlich gestaltenden Kräfte, die im Dasein des einzelnen eine so entscheidende Rolle spielen.«17 Die nicht allzu intensive Diskussion über den Begriff ›magischer Realismus‹ hat meist zu negativen Bewertungen geführt. Saiko versteht darunter vor allem den »Herrschaftsbereich des Diskursiven«, lagert ihm allerdings gelegentlich Elemente des Surrealismus an. Wenn auch sein spezifischer Begriff von ›Realismus‹ dank seiner Selbstdeutungen noch praktikabel wäre, so erweist sich das Attribut ›magisch‹ im Blick auf das erzählerische Werk als inadäquat.18 Auf der Suche nach ›magischen‹ Elementen in dem hier zu interpretierenden Roman finden sich nur marginale Passagen (die magische Kraft des Herzens eines Neugeborenen, der Heilzauber, der von bestimmten Bäumen und Segenssprüchen ausgeht), die den Begriff nicht rechtfertigen. Wenig überzeugend klingt heute auch Saikos Charakteristik des Films als visuelles Medium par excellence. Was hätte Saiko erst zu der entfalteten und teilweise völlig uferlos gewordenen Bildflut des Fernsehens gesagt? Offenbar war die Erfahrung des Autors mit bedeutenden Filmen beschränkt. Sonst hätte er mit Sicherheit auch die Nähe zum Epischen gesehen. Gerade die großen Regisseure der letzten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts haben die Affinität zum erzählenden Text gesucht und durch ihre Regiearbeit selbst realisiert. Wie so oft widerspricht auch dieser Autor in seinen theoretischen Überlegungen seiner eigenen Praxis. Die Komposition des Romans Der Mann im Schilf ist ohne die Vorbildlichkeit der filmischen Schnitttechnik kaum denkbar. Überdies fügt der Erzähler in nahezu allen Kapiteln nicht allzu breit ausgeführte, aber in der Wortwahl sehr kunstvolle Landschaftsevokationen ein, die dem Visuellen keinen geringen Tribut zollen. Auch in den Details der Personendeskription wird dem Sichtbaren und der Physiognomik bis hin zu den unterschiedlichen Fingerkuppen verschiedener Akteure einige Bedeutung eingeräumt. Insofern ist der referierte Aufsatz nur partiell als theoreti-
17 Saiko: Roman und Film, S. 241. 18 Vgl. die ausführlichere Diskussion über den Begriff ›magischer Realismus‹ bei Christina Mayr: Historisch-zeitkritische und psychoanalytische Dimensionen im Werk von George Saiko unter besonderer Berücksichtigung seines Romanes Der Mann im Schilf. Diss. (Masch.) Innsbruck 1978, S. 1–25. Eine differenzierte Darstellung – ohne spezielle Referenz auf Saiko – bei Michael Scheffel: Magischer Realismus. Die Geschichte eines Begriffes und ein Versuch seiner Bestimmung. Tübingen 1990, und Doris Kirchner: Doppelbödige Wirklichkeit. Magischer Realismus und nicht-faschistische Literatur. Tübingen 1993.
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sches Manifest Saikos zu betrachten. Mit Recht hat Gudrun Brokoph-Mauch festgestellt. Der Mann im Schilf sei geradezu ein Paradebeispiel dafür, wie sehr der Roman für eine Verbindung vom Diskursiven und Visuellen geeignet und wie einträglich diese Verbindung für die Erweiterung der seelischen Ausdrucksmöglichkeiten ist. Der ständige Wechsel von Dialogen, die nicht nur das Gesagte, sondern auch das Nicht-Gesagte, Beinahe-Gesagte, Gedachte, Gefühlte sowie die dazu gehörige Mimik und Gestik liefern und oft im Unvollendeten, Angedeuteten steckenbleiben, mit der bildhaft gestalteten Szene, die in den meisten Fällen das Unbewußte der sprechenden und räsonierenden Person aufdeckt, macht den Roman erst zu dem Kunstwerk, das er ist.19
Wäre Saikos theoretische Positionsbestimmung tatsächlich auch das Modell seines Schreibens, so müssten die psychischen Prozesse völlig dominieren. Dies ist allerdings nur in einem beschränkten Maße der Fall. Saiko folgt keineswegs dem Musil’schen Stil des theoretischen und essayistischen Schreibens, aber er reduziert es auch nicht auf Introspektion, sondern wechselt durchaus zwischen Innen- und Außenperspektive.20 Deshalb lässt sich auch ein Plot des Romans konstruieren, wenngleich die Handlungsfäden ständig abgeschnitten werden und viele Zusammenhänge erst nach einigen Kapiteln in ihrem Zusammenhang, gelegentlich auch undeutlich, erkennbar werden. Die Neigung zur Ellipse, zum Anakoluth und zur Anspielung auf bislang nicht Erzähltes macht es dem Leser schwer. Saiko kann jedoch auf einen durch den Leser rekonstruierbaren Zusammenhang nicht ganz verzichten. Mit Recht beruft er sich ja auf die These, dass jeder Roman »ein Stück angeschaute Welt« sei, vom »Zentrum eines Betrachters her entworfen«.21 Vielleicht lässt sich der von Saiko scheinbar dekonstruierte und vom Leser doch auch wieder zu konstruierende Zusammenhang am besten als ein Netz-System denken, das auch die Vielfalt der historischen, politischen, sozialen und erotischen Verflechtungen repräsentiert.22 Sir Gerald, ein englischer Archäologe und Grabungsleiter auf Kreta, seine Frau Loraine und Robert, Assistent und Mitarbeiter Sir Geralds, ein Öster-
19 Gudrun Brokoph-Mauch: George Saiko: Der Mann im Schilf, in: George Saikos magischer Realismus. Zum Werk eines unbekannten großen Autors. Hg. und eingel. von Joseph P. Strelka. Bern usw. 1990, S. 59–67, hier S. 65 f. 20 Vgl. Michael Jakob: Musil und Saiko. Ein Vergleich, in: George Saikos magischer Realismus, S. 13–27, hier S. 25. 21 George Saiko: Roman und Film, S. 231. 22 Vgl. Zsuzsa Széll: Das Netz und der Fang. Weltsicht und Darstellung bei George Saiko, in: George Saikos magischer Realismus, S. 45–56, hier S. 50.
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reicher, kehren nach zweijähriger Abwesenheit nach Österreich zurück. Die Grabungen auf Kreta auf der Suche nach Monumentalplastiken im spätminoischen Palastbau haben sie ergebnislos beendet. Das englische Paar möchte nur für kurze Zeit in Österreich Station machen. Robert hofft, in Salzburg seine Verlobte Hanna zu treffen. Sie ist nicht am Bahnhof. Die eigentümlichen Verhältnisse – am Bahndamm war schon überall Militär und Miliz zu sehen – scheinen das erhoffte Wiedersehen zu verhindern. Im Hotel, in dem sich das englische Paar einquartiert hat, trifft Robert seinen Bruder Felix, einen ehemaligen Rittmeister, der mit den Nationalsozialisten zusammenarbeitet. Robert trifft sich mit Hanna in einem Dorf in der Nähe der bayerischen Grenze. Dort quartieren sie sich in einer Pension ein. Die politischen Verhältnisse werden immer undurchschaubarer. Das Dorf wird von Miliz gestürmt, obwohl es niemand verteidigt. Nur eine Hakenkreuzfahne hängt vom Kirchturm herab. Ein Aufständischer hat sich auf der Flucht vor den Gendarmen in das Uferschilf des Sees geflüchtet und wird tagelang gesucht. Robert überredet Gerald und Loraine zu einigen Tagen gemeinsamen Aufenthalts am See. Der Minister Cölestin trifft in einem späteren Kapitel auf seinen Bruder Florian, der hier ein Gasthaus besitzt und an dem Ferienort auch Landwirtschaft betreibt. Er unterhält gute Beziehungen mit dem Ministerialrat Mostbaumer, der nach außen hin die Regierung vertritt, insgeheim aber mit den aufständischen Nationalsozialisten paktiert. Mostbaumer wird in der zweiten Romanhälfte zur zentralen Figur, der schließlich den Rittmeister Felix wegen seiner unentschiedenen Haltung umbringt. Hanna ist die Einzige, die immer wieder auf eine Entscheidung drängt. Sie bringt das englische Paar und Robert am Ende so weit, dass sie bei einer fingierten Segelpartie den Mann im Schilf befreien wollen. Hanna fährt den Fluchtwagen an das Seeufer und wird erschossen. Der Mann im Schilf ist nicht gefunden worden. Gewiss ist diese Handlungsskizze mangelhaft. Es fehlen natürlich die zahlreichen assoziativen Handlungselemente, die vor allem in Rückblicken im Gespräch zwischen Robert und Loraine über die zwei Jahre auf Kreta rekapituliert werden. Zahlreiche Details sind hier ebenfalls außer Acht gelassen worden. In solcher Verkürzung der Handlungsstruktur könnte der Anschein entstehen, als handle es sich um eine weitgehend politische und den Ereignissen vom Juli 1934 in Österreich folgende Darstellung.23 Der Anteil der ›griechischen‹ Szenen ist in der ersten Romanhälfte nicht unerheblich, obwohl 23 Vgl. Dietmar Goltschnigg: Die Darstellung des Faschismus im österreichischen Nachkriegsroman – am Beispiel von George Saikos Der Mann im Schilf, in: Modern Austrian Literature 21 (1988), S. 41–54; David S. Low: Austrofaschismus – A Freudi-
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keine Ausgewogenheit von Vergangenheit und Gegenwart angestrebt wurde. Saiko hat seinen Roman erstaunlich symmetrisch komponiert. Es gibt zehn mit römischen Zahlen nummerierte Kapitel. Dazu kommen am Anfang, in der Mitte und am Ende mit den Namen von Männern überschriebene Kapitel: Kleon, Gerald und Robert. Das erste Kapitel, das den Namen eines griechischen jungen Mannes trägt, den Loraine für sich gewinnt, rekonstruiert weitgehend die Lebensverhältnisse auf Kreta. Die Bedeutung von ›Archäologie‹ für den Roman insgesamt ist in den letzten Interpretationen öfter hervorgehoben worden.24 Sie darf zweifellos mit der Konnotation von ›Ausgrabung‹ bei Freud, mit dem Forschen nach den Schichten des Vor- und Unbewussten in Verbindung gebracht werden. Sigmund Freud hat selbst seine ausführlichste Literaturinterpretation einer Erzählung von Wilhelm Jensen (Gradiva. Ein pompejanisches Phantasiestück) gewidmet. Seine Deutung beruht auf der zentralen Funktion des archäologischen Denkens in der Psychoanalyse. Saiko hat diesen wichtigen Text Freuds mit Sicherheit gekannt und wählt die Szenen auf Kreta und die späteren Rekonstruktionen als Instrumente einer immer weiter differenzierten Erinnerung und kritischen Erfahrung der vergangenen Jahre.25 Archäologie heißt für die Protagonisten des Romans auch: Distanz zur Gegenwart, Solipsismus der fixen Ideen, der Unentschiedenheit und der erotischen Wirren. Dieser Vergangenheitsrekonstruktion wird die fatale und kaum durchschaubare Gegenwart des nationalsozialistischen Putschs in Österreich mit allen Formen von verdeckter und offener Gewalt kontrastiert. Die mit Namen überschriebenen Kapitel haben eine weitere Funktion im Romangewebe: Sie markieren Stationen oder Phasen der Sexualität in der Romanhandlung, die sich weitgehend auf Loraine und die Männer, nur marginal auf Roberts Freundin Hanna bezieht. Die einzelnen Personen werden immer wieder neu im Verhältnis zu Loraine oder Hanna bestimmt, während in der zweiten Romanhälfte die Protagonisten des Putschs in den Vordergrund treten.
an Perspective: George Saiko’s Novel Der Mann im Schilf, in: Monatshefte 81 (1989), S. 199–212. 24 Vgl. Mayr: Historisch-zeitkritische und psychoanalytische Dimensionen im Werk von George Saiko, S. 145 ff. und Dietmar Goltschnigg: Die Darstellung des Faschismus, S. 44 f. Siehe auch Hartmut Steinecke: Zwischen Tagtraum und Wirklichkeit in George Saikos Poetik und Der Mann im Schilf, in: George Saikos magischer Realismus, S. 35–44. 25 Vgl. Sigmund Freud: Der Wahn und die Träume in W. Jensens Gradiva. Mit dem Text der Erzählung von W. Jensen. Hg. von Bernd Urban, Johannes Cremerius. Frankfurt a. M. 1981.
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Saiko hat die archaischen Elemente seines Romans vor allem mit der fixen Idee des Archäologen Gerald verbunden, der die zweijährige Grabungskampagne mit dem Ziel organisiert hatte, nach den Ausgrabungen minoischer Palastkultur auch die von ihm vermuteten dazugehörigen Großplastiken zu entdecken. Gewiss werden auch Ansichten der kretischen Landschaft, der Vegetation und des Meeres in die Erzählung integriert. Aber nur in zwei Szenen verwendet Saiko auch mythische Muster des Erzählens: zum einen in der als Opfer zu verstehenden Tötung der Eselstute Cora, die im Dreieck zwischen Kleon, Agamemnon und Loraine eine Ersatzfunktion zugewiesen bekommt. Nachdem Loraine das Tier für sich gewonnen hat und nun auch den Eseltreiber Agamemnon in ihrem Zimmer empfängt, vollzieht Kleon mit einem mehrfach bedeutsamen Messer eine Art Opferung des Tieres vor der Schwelle zu Loraines Zimmer. Später wiederholt sich ein eigentümliches Tieropfer, wenn Mostbaumer bei einem Rückblick auf seine Kindheit erzählt, wie er die Mutter in einem geradezu klassischen ödipalen Verhältnis für sich gewinnen wollte: Eine aus dem Nest gefallene Schwalbe tötet der Junge, indem er einen Pflasterstein auf den kleinen Vogel fallen lässt. Als ›Sündenbock‹, auf den die sich bekämpfenden ›Parteien‹ des Putschs ihre Untaten abladen können, lässt sich schließlich der ›Mann im Schilf‹ verstehen, den niemand zu Gesicht bekommt. Es würde zu weit führen, in diesem Zusammenhang die häufigen Substitutionen zu nennen, die Saiko durchaus freudianisch in seine Romane einfügt. Im Sinne einer psychoanalytischen Interpretation sind auch neuerdings die Formen der politischen Gewalt im Kontext der Putschszenen analysiert worden.26 Nach dem Vorbild von Klaus Theweleits Männerphantasien (1977/78) wird das Syndrom der »psychischen Ambivalenzen« und der »österreichische[n] Doppelgleisigkeit«27 am Beispiel einiger Hauptfiguren interpretiert. Es gibt in der Tat auch in Saikos Roman eine Reihe von Zügen, die Theweleit in der Freikorps-Literatur der zwanziger Jahre im »soldatischen/ faschistischen Mann« entdeckt hat. Die Psychostruktur des Faschismus lässt sich in allen Gesellschaftsschichten bis hin zu hohen Ministerialbeamten und Ministern beobachten. In der Tat gehört es zu den Eigentümlichkeiten der zweiten Hälfte des Romans, dass Spielarten brutaler Gewalt, aber auch Reflexionen über die moralische Rechtfertigung politisch motivierter Gewalt-
26 Vgl. Dietmar Goltschnigg: Trauerarbeit versus Verdrängung. George Saikos Roman Der Mann im Schilf, in: Akten des VII. Internationalen Germanisten-Kongresses, Göttingen 1985. Kontroversen, alte und neue. Hg. von Albrecht Schöne. Tübingen 1986, Bd. 10, S. 123–129. 27 George Saiko: Der Mann im Schilf. Roman. Frankfurt a. M. 1979, S. 275.
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tätigkeit eine große Rolle spielen. Mit erstaunlichem Differenzierungsvermögen vermag Saiko eine Typenreihe im Kontext des Austro-Faschismus zu konstruieren: Vom ständigen Zögern und der schwankenden Positionsbestimmung des Rittmeisters Felix bis hin zu Mostbaumers kurz angebundener Brutalität, einem blanken Dezisionismus, hinter dessen Begründung Formulierungen von Carl Schmitt hörbar sind. Gerade in der Figur Mostbaumers werden durch den Rückgang in die Privatsphäre seiner Ehe und seiner Euthanasie-Tötung des Schwiegervaters Facetten der Gewaltbereitschaft beleuchtet. Die Gewaltstruktur des Buches erstreckt sich auch auf die für einen von Freud herkommenden Erzähler obligatorischen erotischen und sexuellen Szenen. Hier überwiegen wieder die auf jede Spielart von Zärtlichkeit verzichtenden gewaltsamen und besitzergreifenden Formen von Sexualität. Wegen einer ausführlicher dargestellten Vergewaltigungsszene (es ist nicht die einzige des Buches) wurde die Erstausgabe des Romans 1955 im Marionvon-Schröder-Verlag gekürzt veröffentlicht. Obwohl in den Gesprächen zwischen Robert, Loraine und Hanna immer wieder von der schwierigen Liebe zwischen ihnen die Rede ist, beschränkt sich der Erzähler auf eine Szene authentischer körperlicher Beziehung zwischen Robert und Hanna nach dem Bad im See. Saiko erweist sich als ein Meister im Erzählen gestörter Liebesbeziehungen. Die Sprachskepsis, die ihn leitet, verhindert immer wieder klare Entscheidungen für- oder gegeneinander. Für einen Erzähler ist die Distanz zur Sprache und ihrer Mitteilungskraft erstaunlich: »Die wesentlichen Entscheidungen brauchen keine einsichtsvolle Auseinandersetzung, überhaupt keine Worte. Sie vollziehen sich ganz von selber, fast ohne unser Zutun. Plötzlich liegt das Ergebnis auf der flachen Hand, klar, unwiderleglich. Man sitzt noch miteinander im Boot und hat die Trennung bereits hinter sich.«28 »Quälend, über jedem Zweifel gewiß: die Unmöglichkeit, sich mit dem Letzten und Innersten ihr verständlich zu machen.«29 Ein eindrucksvolles Beispiel für die von zahlreichen Hemmungen und Hindernissen gestörte Beziehung zwischen Robert und Hanna findet sich im zweiten Kapitel des Romans. Es ist vom ersten Wiedersehen der beiden nach zweijähriger Trennung die Rede: Er stand da, auch seinerseits ein wenig überrascht. Erst nachher wurde ihm bewußt, daß sie die Arme ausgebreitet hatte, um ihn zu umfangen, aber er hatte sich nicht gerührt, nicht einmal den Mund aufgetan. Sie griff in die Luft, und als sie den Arm sinken ließ, fand sie seine Hand, die noch auf der Türklinke lag. Ehe er sich versah, hatte sie sich darüber gebeugt und sie geküßt, weil sonst nichts da war, das 28 Saiko: Der Mann im Schilf, S. 129. 29 Saiko: Der Mann im Schilf, S. 312.
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sich ihr dargeboten hätte. Beider Verlegenheit wurde davon nicht geringer, und durch seine tastende Befangenheit hindurch, bei aller Scham, die dunkel und heftig in ihm aufbrannte, war ihm zunächst, als enthielte die Situation ihre ganze Beziehung, wie sie geworden war und von jetzt ab sein würde, ohne daß einer von beiden imstande wäre, sie zu ändern. Auch was sie einander sagten, würde nur dazu dienen, jene Szene immer von neuem zu wiederholen.30
An dieser Passage lässt sich das Agieren des allwissenden Erzählers im Detail beobachten. Mehr als der traditionelle auktoriale Erzähler kennt er bei seinen Figuren alle psychischen und affektiven Regungen, die nicht immer auch mit Mimik oder Gestik korrelieren. Erstaunlich sind auch die zeitlichen Verschiebungen, mit welchen psychische Detailprozesse erzählt werden (»Erst nachher wurde ihm bewußt …«). Erstaunlich ist auch die Extension, die er in einer forcierten Bedeutungserweiterung einer winzigen Szene verleihen kann (»als enthielte die Situation ihre ganze Beziehung, wie sie geworden war und von jetzt an sein würde«.) Die Introspektion des Erzählers bezieht sich nicht nur auf Vergangenes, sondern reicht bis in die Zukunft (»jene Szene immer von neuem zu wiederholen«). Diese eigentümliche Erzähltechnik Saikos verdiente eine umfassendere Untersuchung, in der auch die Konstruktion des Erzählers selbst zu berücksichtigen wäre. In den bisher vorliegenden Analysen des Romans ist merkwürdigerweise die mehrfach eingefügte Landschaftsevokation kaum berücksichtigt worden. Alle Passagen, die vor allem Ansichten des Sees und der Alpenkette dahinter gewidmet sind, zeichnen sich durch eine höchst differenzierte Wortwahl aus. Hier verrät sich in positivstem Sinne die Sensibilität des professionellen Kunsthistorikers Saiko. Er begnügt sich allerdings nicht damit, im Sinne des traditionellen europäischen Landschaftsbildes der großen Möglichkeiten zwischen Poussin, Lorrain und Caspar David Friedrich oder Turner, Slevogt und Kokoschka ›stille‹ Landschaftsbilder in Sprache zu fassen. Die besten Landschaftspassagen in diesem Roman zeichnen sich durch die in ihnen herrschende Bewegung aus. Das Getriebenwerden der Wolken, der sich verändernde Dunst am Horizont oder die Schraffur von Regengüssen gehören zu den ausgezeichneten Möglichkeiten seiner Kunst. Die Handlungselemente am See werden zusätzlich ständig grundiert durch ein kaum je aussetzendes Geräusch, das der Aufprall von Windböen auf den Schilfmassen am Ufer hervorbringt. Dadurch entsteht eine Art von ›Filmmusik‹, die den gewalttätigen und kriegerischen Charakter der Ereignisse zusätzlich versinnlicht. In Briefen hat Saiko seinen zweiten Roman mehrfach charakterisiert:
30 Saiko: Der Mann im Schilf, S. 54.
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Was den neuen Roman angeht: es ist im Grunde wieder ein psychologischer Roman, er spielt im faschistischen Österreich vor 1938. Nicht der übliche AntiNazi-Roman, wo die schwarzen (oder vielmehr braunen) Schafe den weißen Schafen gegenübergestellt werden, sondern es wird gezeigt, wie dieses autoritäre System die Ventile zu allem Bösartigen und Destruktiven öffnet und wie sogar das weißeste Schäfchen sein kleines Ventil hat.31
In einem späteren Schreiben an seinen neuen Verlag muss Saiko bereits über das ausbleibende Echo in der Presse klagen: Dieser Roman (Der Mann im Schilf, G. S.) ist schon dadurch im höchsten Maße bemerkenswert, daß er sich – zum ersten Mal innerhalb des deutschen Sprachgebietes – rücksichtslos das Thema stellt, die internen Machtkämpfe zwischen dem an Mussolini orientierten Austro-Faschismus und dem deutschen Nationalsozialismus in Österreich darzustellen, zu zeigen, wie zwei gegen einander gerichtete Gruppenideologieen schließlich zur völligen Auflösung jeder Art Rechtszustandes führen und in die nackte Bestialität münden. Das Buch hat in Österreich größte, zum Teil nur schlecht kaschierte Empörung hervorgerufen. Die Einmaligkeit der damaligen Ereignisse verliert jedoch nie ihre allgemein-bedrohende Möglichkeit in den Zeiten verlorener Mitten. Der Mann im Schilf, der zum Sündenbock, zum Phantom wird, auf das alle ihre Schuld abwälzen, ist eine Mahnung, die eigene Haltung zu verantworten, nicht nur in Österreich.32
Beide Selbstdeutungen legen den Akzent auf die Qualität des Romans als Werk der Zeitgeschichte und der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. Von den formalen und theoretischen Ambitionen (zum Beispiel Inspiration durch die Psychoanalyse oder durch die europäische Romanmoderne von Joyce und Musil über Broch und Faulkner) ist keine Rede. Saiko hatte ja die bisher vorliegenden Besprechungen im Blick und klagte über das Ausbleiben von Rezensionen in allen großen Blättern. Wahrscheinlich erhoffte er sich einen Brief an die entsprechenden Redaktionen, in welchem die von Saiko stammenden Formulierungen hätten verwendet werden sollen. Angesichts eines drohenden Misserfolgs und weitgehender Nichtbeachtung musste er mit den stofflichen Elementen seines Romanes werben. Die Betonung des Experimentalcharakters seines Romans hätte die Redaktionen in den fünfziger Jahren wohl noch weniger zu einer eingehenden Besprechung motivieren können.
31 Brief an den Verleger Niedermayer (Limes Verlag), 20. Oktober 1949. Zit. nach George Saiko: Briefe, S. 246. 32 Brief an den Marion-von-Schröder-Verlag, 13. Mai 1956. Zit. nach Saiko: Briefe, S. 280.
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Michael Hofmann
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Musil und Lyotard: Der Mann ohne Eigenschaften und die Postmoderne1 Musils großer Roman gilt als einer der Schlüsseltexte der epischen Moderne, gewinnt aus heutiger Sicht aber gerade deshalb ein besonderes Interesse, weil er mit den Mitteln der Literatur eine scharfe Kritik der Ideologien und Pseudo-Doktrinen formuliert, die gerade für eine problematische Moderne charakteristisch sind. Wenn wir uns daran gewöhnt haben, unseren Horizont als postmodern zu bezeichnen, wenn wir unsere Zeit aus einer Distanz zu den Utopien einer bereits historisch gewordenen Moderne verstehen, dann muss es möglich sein, eine Beziehung zwischen Musils Projekt und unserer Situation herzustellen. In diesem Zusammenhang ist mit dem französischen Philosophen Jean-François Lyotard, von dessen Bestimmungen zur Postmoderne die folgenden Überlegungen ausgehen, nachdrücklich darauf hinzuweisen, dass die Beziehung zwischen der Moderne und Postmoderne – auch wenn die Begriffe es anzuzeigen scheinen – keineswegs als die einer zeitlichen Folge zu verstehen ist. Die Postmoderne lässt sich vielmehr in ihrer Ausprägung bei Lyotard als eine kritische Reflexion der Grundlagen und Grenzen der Moderne auffassen. Die Postmoderne denken bedeutet in diesem Sinne die Moderne »redigieren«, wie Lyotard selbst erklärt: Die Postmoderne ist keine neue Epoche, sondern das Redigieren einiger Charakterzüge, die die Moderne für sich in Anspruch genommen hat, vor allem aber ihrer Anmaßung, ihre Legitimation auf das Projekt zu gründen, die ganze Menschheit durch die Wissenschaft und Technik zu emanzipieren. Doch dieses Redigieren ist, wie gesagt, schon seit langem in der Moderne selbst am Werk.2 1 Überarbeitete und erweiterte Fassung meines Aufsatzes: L’homme sans qualités de Robert Musil et la condition postmoderne, in: Sources. Revue de la Maison de la Poésie (1999), S. 134–149. 2 Jean-François Lyotard: Die Moderne redigieren, in: Ders.: Das Inhumane. Plaudereien über die Zeit. Hg. von Peter Engelmann. Wien 1989, S. 51–69, hier S. 68. (Die deutschen Übersetzungen der Texte Lyotards sind nicht mit dem Ziel abgefasst, elegantes und klares Deutsch zu schreiben; sie sollen vielmehr die Terminologie Lyo-
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Wir können ergänzen: Sie ist vor allem in der modernen Kunst und Literatur im Gange, die von ihrem eigenen Selbstverständnis her eine immanente Kritik der Grundlagen der Moderne darstellen.3 Im Folgenden soll es deshalb darum gehen, einige wichtige Aspekte von Musils Roman in der Perspektive und in der Terminologie des postmodernen Denkens ›neu zu schreiben‹ (wie ich anstelle von »redigieren« zur Wiedergabe des französischen »réécrire« lieber formulieren würde). Eine kohärente und klare Perspektivierung der Intentionen dieses postmodernen Denkens hat Lyotard in seinem Bericht Das postmoderne Wissen (französische Fassung 1979, erste deutsche Übersetzung 1982) geleistet, von dem die folgenden Darlegungen ausgehen. Wenn hier die Aktualität von Musils Denken und die Gegenwärtigkeit seines literarischen Projekts behauptet werden, so ist mit dieser These weder ein unreflektierter Anachronismus noch ein willkürlicher Vergleich verbunden, sondern wir ziehen die Konsequenzen aus der quasi-dialektischen Beziehung zwischen der Moderne und der Postmoderne.4 Dieser Beitrag möchte sich an einer Diskussion beteiligen, in der es um die Grundlagen einer neuen Erkenntnistheorie und Ethik in einer Zeit des Legitimationsverlusts der ›großen Erzählungen‹ geht. Die zu belegende These dieses Beitrags behauptet eine Analogie zwischen wichtigen Tendenzen von Musils Denken und den Grundlagen der Postmoderne. Musil als Epiker der Moderne konstatiert wie die Philosophie der Postmoderne eine Krise des modernen Denkens und Wissens. Lyotard spricht von einer »ehrenwerten« Postmoderne – und um diese geht es hier, nicht um ein frivoles Denkspiel, das jede Art der Philosophie und des rationalen Denkens für obsolet erklärt – und er diagnostiziert bei dieser einen Verlust an Vertrauen gegenüber den »großen Erzählungen«, das heißt den philosophischen Systemen und den ideologischen Modellen, die den Anspruch erheben, im Hinblick auf den historischen Prozess und die gesellschaftlichen, politischen und erkenntnistheoretischen Antagonismen einen tards in einer Art Kunstsprache fast unmittelbar reproduzieren. Das Ergebnis dieser Bemühungen kann vom sprachlichen Gesichtspunkt her keinesfalls überzeugen. Ich zitiere dennoch nach den deutschen Übersetzungen, weil deren Terminologie in der deutschen Diskussion fast immer zugrunde liegt. Nur offensichtliche Übersetzungsfehler werden hier korrigiert.) 3 Dass die postmoderne Philosophie gewissermaßen die Konsequenzen aus der Kritik der Moderne zieht, die bereits innerhalb der modernen Kunst formuliert wird, zeigt sehr plausibel im Anschluss an Lyotard Wolfgang Welsch: Die Geburt der postmodernen Philosophie aus dem Geist der modernen Kunst, in: Ders.: Ästhetisches Denken. Stuttgart 1990, S. 79–113. 4 Vgl. Albrecht Wellmer: Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne. Vernunftkritik nach Adorno. 4. Auflage. Frankfurt a. M. 1990.
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totalisierenden Sinn zu stiften. Der Zusammenhang zwischen dieser fundamentalen Kritik an den »großen Erzählungen« und dem Denken Musils ist evident: Sowohl der Epiker der Moderne als auch der Philosoph der Postmoderne gehen von einer Analogie aus zwischen der Struktur der Narration und der Struktur der großen philosophischen Systeme und der herrschenden Ideologien, die den Diskurs der Moderne bestimmen. Wenn man bedenkt, dass beide, Musil wie Lyotard, Affinitäten zur Philosophie Wittgensteins aufweisen, so kann diese Analogie kaum überraschen; dieser gemeinsame Bezug kann aber sehr wohl die Analyse plausibel machen, die hier versucht werden soll. Der erste Teil dieses Aufsatzes verdeutlicht die Eigenschaften des narrativen Wissens, die von Musil und Lyotard hervorgehoben werden, indem beide davon ausgehen, dass die Erzählung in ihrer traditionellen Form in der Lage ist, eine ›objektive‹ Ordnung zu stiften, die innerhalb einer Gemeinschaft auf einem allgemeinen Konsens beruht. Während Musil im Rahmen eines poetologischen Kontexts argumentiert, unterstreicht Lyotard die soziale Bedeutung der Erzählung; beide sind sich aber darin einig, dass die erzählerische Ordnung die Funktion hat, dem Verhalten des Individuums und den sozialen Institutionen eine Legitimität zu verschaffen. Im zweiten Teil dieses Beitrags gehen wir auf die so genannten »Meta-Erzählungen« (Lyotard) ein, das heißt auf die philosophischen und ideologischen Diskurse des modernen Denkens, denen die Funktion zukommt, den historischen, politischen, wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Betätigungen der Menschen eine Legitimation zu verschaffen, die aber in ihrer Form und Struktur nicht der Logik der erwähnten Bereiche entsprechen, sondern der Logik des Erzählens. Es lässt sich zeigen, dass Musil in seinem Roman Der Mann ohne Eigenschaften die Krise dieser »Meta-Erzählungen« beschreibt und dass er den Versuch reflektiert, die ›klassischen‹ Meta-Erzählungen durch Ideologien zu ersetzen, die nicht in der Lage sind, die Erwartungen zu erfüllen, die man in sie setzt. Die Krise der Meta-Erzählungen führt nach Lyotard – wie der dritte Teil dieses Aufsatzes zeigen wird – zu einer problematischen Konsequenz, die als der Versuch der Moderne bezeichnet werden kann, ihre Legitimität durch die Performanz, die Leistungsfähigkeit und Intensität des Auftretens zu erlangen. Im Zeitalter der digitalen Informationssysteme ersetzt der technokratische Geist der modernen Gesellschaft, die sich im Übergang zur totalen Informationsgesellschaft befindet, das Kriterium der Wahrheit oder der moralischen Würde durch das der Effizienz und bezieht seine Legitimation aus der Leistungsfähigkeit seiner Verfahren und seiner Produkte. In Musils Roman ist diese Tendenz bereits manifest; der ökonomische und technische Erfolg erweist sich als bedeutender und mächtiger als das Denken und die
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Handlungen der traditionellen Institutionen und Autoritäten der »kakanischen« Monarchie. Im vierten Teil dieses Artikels ist zu belegen, dass sowohl die postmoderne Wissenschaft als auch Musil in seiner Utopie des Essayismus einen Ausweg aus dieser Krise skizzieren, der sowohl die Schwäche der traditionellen Legitimationssysteme als auch die Banalität des technokratischen Geistes zu überwinden vermag. Das postmoderne Denken gewinnt einen positiven Bezug zu der »Paralogie«, welche die Entwicklung der Wissenschaften kennzeichnet; es interessiert sich für die offenen Systeme und wendet sich gegen die Monotonie einer mechanistischen, positivistischen und rein instrumentellen Vernunft. Musils Protagonist Ulrich – so lässt sich zeigen – ist als ein Vorläufer dieses experimentellen Geistes anzusehen, der zu den herausragenden Kennzeichen einer »ehrenwerten« Postmoderne gehört. Schließlich ist im fünften Teil dieses Beitrags darauf zu verweisen, dass das Interesse an den Lücken der geschlossenen Systeme eine Einstellung fördert, die sich mit Phänomenen befasst, die sich einem bornierten Rationalismus entziehen. Musils Reflexionen über den »anderen Zustand« entsprechen in dieser Hinsicht den Beschreibungen Lyotards, die sich um die Begründung einer neuen Ästhetik des Erhabenen bemühen. Ein anderes Ergebnis von Musils epischem Projekt kann eine neue Art der Erzählung sein, bei dem sich die fiktive Darstellung eines Geschehens in einer experimentellen und »induktiven« Einstellung mit der vertiefenden und kritischen Reflexion einer Logik der Darstellung dieses Geschehens verbindet. Eine ähnliche narrativreflexive Strategie findet sich in der postmodernen Erzählweise eines begabten Schülers von Musil, und zwar in den Romanen Milan Kunderas, der aus einem der Länder der untergegangenen kakanischen Monarchie stammt und der in der Tradition von Musils Epik schreibt. Die »postmoderne« Perspektive, um die wir uns hier bemühen, kann demnach die Aktualität von Musils Denken und Schreiben belegen.5 Musil
5 Vgl. zu einem aktuellen Überblick über die Musil-Forschung Tim Mehigan: Robert Musil. Stuttgart 2001. Den Bezug von Musils Roman zur Theorie des Wissens bei Lyotard erläutert Hans-Joachim Völse: Im Labyrinth des Wissens. Zu Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften. Wiesbaden 1990, S. 241–298. Vgl. als neuere Studien zur Stellung von Musils Roman zum philosophischen Diskurs Sabine A. Döring: Ästhetische Erfahrung als Erkenntnis des Ethischen. Die Kunsttheorie Robert Musils und die analytische Philosophie. Paderborn 1999, und Hans-Joachim Pieper: Musils Philosophie. Essayismus und Dichtung im Spannungsfeld der Theorien Nietzsches und Machs. Würzburg 2002. Grundlegend zur Frage des Verhältnisses zwischen dem Diskurs der Physik und dem literarischen Diskurs des Mannes ohne Eigenschaften Christian Kassung: EntropieGeschichten. Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften im Diskurs der modernen Physik. München 2001.
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hat die Krise der Moderne reflektiert und nach literarischen und philosophischen Strategien gesucht, um diese Krise zu überwinden. Indem er dies getan hat, hat er uns Vorschläge gemacht, die es genau zu prüfen lohnt.
I Das Wissen des Erzählers Um die modernen Denkformen und ihre kritische Reflexion im postmodernen Geiste bestimmen zu können, bezieht sich Lyotard zunächst auf eine eher vormoderne Art der Kommunikation, auf die Erzählung und das mit ihr verbundene Wissen, deren Bedeutung – wie zu zeigen sein wird – in den Kontexten der Moderne nicht unterschätzt werden darf. Lyotards Ausgang von der »Pragmatik des narrativen Wissens« verdeutlicht auch die Berechtigung, im Falle von Musils Roman eine Analogie zwischen den Formen des wissenschaftlichen, philosophischen und ideologischen Wissens und der Literatur herzustellen. Wie expliziert Lyotard die Funktion des narrativen Wissens, das heißt die Funktion der Erzählung in einer vormodernen Konstellation? Die Erzählungen, so erläutert er, »geben entweder gesellschaftlichen Institutionen ihre Legitimität (Funktion der Mythen) oder repräsentieren positive oder negative Integrationsmodelle (glückliche oder unglückliche Helden) in etablierte Institutionen (Legenden, Märchen)«.6 Im Gegensatz zu den wissenschaftlichen und philosophischen Formen des Wissens funktioniert das narrative Wissen nach Lyotard auf verschiedenen Diskursebenen zugleich: Zum zweiten gestattet die narrative Form, im Unterschied zu entwickelten Formen des Wissensdiskurses, innerhalb ihrer selbst eine Pluralität an Sprachspielen: In die Erzählung fügen sich zwanglos sowohl denotative Aussagen, etwa über den Himmel, die Jahreszeiten, die Flora und Fauna, als auch deontische, die vorschreiben, was bezüglich derselben Referenten oder der Verwandtschaft, des Unterschieds der Geschlechter, der Kinder, der Nachbarn oder Fremden usw. zu geschehen hat […]. Die Kompetenzen, deren Kriterien die Erzählung liefert oder anwendet, sind dort also miteinander in einem dichten Geflecht – jenem der Erzählung – vermischt und zu einer Gesamtperspektive geordnet, die diese Art des Wissens charakterisiert.7
6 Jean-François Lyotard: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht. Deutsche revidierte Fassung. Hg. von Peter Engelmann. Wien o. J. [1984], S. 68. 7 Lyotard: Das postmoderne Wissen, S. 68 f.
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Das narrative Wissen beruht auf einer besonderen Beziehung zwischen dem Erzähler, seinen Zuhörern und dem Gegenstand der Erzählung. Die Sprechakte des narrativen Wissens werden […] nicht nur vom Sprecher, sondern auch vom Angesprochenen und ebenso vom Dritten, von dem die Rede ist, ausgeführt. Das Wissen, das sich aus einem solchen Dispositiv ergibt, […] läßt klar erkennen, wie die Tradition der Erzählungen gleichzeitig jene von Kriterien ist, die eine dreifache Kompetenz definieren, Sagen-Können, Hören-Können, Machen-Können, in der sich die Beziehungen der Gemeinschaft zu sich selbst und zu ihrer Umgebung einspielen. Das, was mit den Erzählungen überliefert wird, ist die Gruppe pragmatischer Regeln, die das soziale Band ausmachen.8
Die Reflexionen Ulrichs, des Mannes ohne Eigenschaften, beziehen sich genau auf diese Logik des narrativen Wissens und betonen dabei die Funktion dieses Wissens im alltäglichen Leben. Die Identität eines Bewusstseins, die Zuweisung von Eigenschaften an eine Person, die Idee der Einheit eines Lebens und einer Biographie werden noch in der Konstellation der Moderne auf eine Kohärenz gegründet, die der Einheit des narrativen Wissens entspricht. Eine der berühmtesten Passagen von Musils Romans verdeutlicht in eindrucksvoller Weise, dass Ulrich gerade deshalb zu einem Mann ohne Eigenschaften geworden ist, weil die Logik des narrativen Wissens für ihn keine Gültigkeit mehr hat: […] fiel ihm ein, daß das Gesetz dieses Lebens, nach dem man sich, überlastet und von Einfalt träumend, sehnt, kein anderes sei als das der erzählerischen Ordnung! Jener einfachen Ordnung, die darin besteht, daß man sagen kann: »Als das geschehen war, hat sich jenes ereignet!« Es ist die einfache Reihenfolge, die Abbildung der überwältigenden Mannigfaltigkeit des Lebens in einer eindimensionalen, wie ein Mathematiker sagen würde, was uns beruhigt; die Aufreihung alles dessen, was in Raum und Zeit geschehen ist, auf einen Faden, eben jenen berühmten »Faden der Erzählung«, aus dem nun also auch der Lebensfaden besteht. […] und das wäre schwer zu begreifen, wenn dieser ewige Kunstgriff der Epik, mit dem schon die Kinderfrauen ihre Kleinen beruhigen, diese bewährteste »perspektivische Verkürzung des Verstandes« nicht schon zum Leben selbst gehörte. […] Und Ulrich bemerkte nun, daß ihm dieses primitiv Epische abhanden gekommen sei, woran das private Leben noch festhält, obgleich öffentlich schon alles unerzählerisch geworden ist und nicht einem »Faden« mehr folgt, sondern sich in einer unendlich verwobenen Fläche ausbreitet. (MoE 650)
8 Lyotard: Das postmoderne Wissen, S. 71 f.
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Die Überwindung der Logik des narrativen Wissens vollzieht sich im Innern des epischen Projekts der Moderne und in dem Bewusstsein, dass die durchschnittlichen und naiven Konzepte vom Leben und von der menschlichen Existenz immer noch einer Logik folgen, die ihre Berechtigung verloren hat. In Musils Mann ohne Eigenschaften unterstreicht die Ironie des Erzählers die Ambivalenz dieses Scheiterns der Erzählungen, die in der Lage waren, der menschlichen Existenz eine Legitimation zu geben. Walter Benjamin, der Zeitgenosse Musils, hat in seinem berühmten Essay Der Erzähler die dramatischen Konsequenzen dieses Scheiterns der Erzählungen hervorgehoben. Dieses Scheitern ist auch für Benjamin die Grundlage jeder Reflexion über die moderne Literatur, wobei er betont, dass der Erste Weltkrieg einen wesentlichen Einschnitt darstellte, der mit der Unmöglichkeit persönlicher Erfahrung im technisierten und anonymen Kampf auch das Ende des Erzählens besiegelte. Wenn der Erzähler pragmatisches Wissen zu vermitteln wusste, dann ist das Ende des Erzählens Ausdruck einer fundamentalen Entfremdung, die zum Stigma der Moderne wird: Das alles deutet auf die Bewandtnis, die es mit jeder wahren Erzählung auf sich hat. Sie führt, offen oder versteckt, ihren Nutzen mit sich. Dieser Nutzen mag einmal in einer Moral bestehen, ein andermal in einer praktischen Anweisung, ein drittes in einem Sprichwort oder in einer Lebensregel – in jedem Fall ist der Erzähler ein Mann, der dem Hörer Rat weiß. Wenn aber »Rat wissen« heute altmodisch im Ohre zu klingen anfängt, so ist daran der Umstand schuld, daß die Mitteilbarkeit der Erfahrung abnimmt. Infolgedessen wissen wir uns und andern keinen Rat. […] Die Kunst des Erzählens neigt ihrem Ende zu, weil die epische Seite der Wahrheit, die Weisheit, ausstirbt. Das aber ist ein Vorgang, der von weit her kommt. […] Vielmehr ist es nur eine Begleiterscheinung säkularer geschichtlicher Produktivkräfte, die die Erzählung ganz allmählich aus dem Bereich der lebendigen Rede entrückt hat und zugleich eine neue Schönheit in dem Entschwindenden fühlbar macht.9
II Die modernen Erzählungen von der Legitimierung des Wissens
Das Scheitern der Erzählung und des narrativen Wissens, das Musil und Benjamin aus dem Blickwinkel der Moderne beschreiben und das Lyotard in postmoderner Perspektive reflektiert, führt zu einer Krise des menschlichen
9 Walter Benjamin: Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows, in: Ders.: Illuminationen. Ausgewählte Schriften I. Frankfurt a. M. 1982, S. 385–410, hier S. 388.
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Wissens und Handelns und diese Krise ist eines der Hauptthemen des Romans Der Mann ohne Eigenschaften. Wenn wir Lyotards Konzeption folgen, so müssen wir festhalten, dass die Krise des narrativen Wissens keinesfalls einen endgültigen Abschied von den Erzählungen bedeutet. Im Gegenteil, ein Blick auf die Geschichte des menschlichen Wissens kann uns darüber belehren, dass die Philosophen häufig auf Erzählungen zurückgegriffen haben, wenn sie versuchten, das menschliche Wissen zu legitimieren und den Handlungen des Menschen einen Sinn zu geben: Tatsache ist, daß der platonische Diskurs, der die Wissenschaft inauguriert, nicht wissenschaftlich ist, und zwar insoweit er sie zu legitimieren beabsichtigt. Das wissenschaftliche Wissen kann weder wissen noch wissen machen, daß es das wahre Wissen ist, ohne auf das andere Wissen – die Erzählung – zurückzugreifen, das ihm das Nicht-Wissen ist; andernfalls ist es gezwungen, sich selbst vorauszusetzen, und verfällt so in das, was es verwirft, die Petitio principii, das Vorurteil.10
Die Moderne benutzt nun aber ihrerseits Formen des narrativen Wissens in einer ähnlichen Weise, um den Institutionen und den Handlungen der modernen Staaten und Gemeinschaften eine Legitimation zu geben, die sie im Mittelalter besaßen, aber mit den Modernisierungsprozessen der Neuzeit verloren haben. »Die Erzählung hört auf, ein Lapsus der Legitimation zu sein. […] Das Wissen der Erzählungen kehrt ins Abendland zurück, um der Legitimierung der neuen Autoritäten eine Lösung zu bringen.«11 In der Terminologie Lyotards, die eine weite Verbreitung erfahren hat, heißen die totalisierenden historischen Diskurse, die das menschliche Wissen und die historische Praxis totalisieren, »große Erzählungen« oder »Meta-Erzählungen«. Im Groben unterscheidet Lyotard zwei Versionen dieser »Erzählungen von der Legitimation des Wissens«:12 – die politische Version: Die Menschheit oder das Volk wird als Held der Freiheit und als Subjekt der Emanzipation betrachtet; der Fortschritt dieser Emanzipation legitimiert den Fortschritt des Wissens; diese Version entspricht dem Denken der Aufklärung und der politischen Handlung, wie sie sich modellhaft in der Französischen Revolution manifestiert; – die philosophische Version dieser Erzählung: Vorgestellt wird die universelle Geschichte des Geistes: »der Geist ist ›Leben‹, und dieses ›Leben‹ ist die Präsentation und Formulierung dessen, was sie [recte: es] selbst ist. Ihr [recte: sein] Mittel ist die geordnete Erkenntnis aller ihrer Formen in
10 Lyotard: Das postmoderne Wissen, S. 90 f. 11 Lyotard: Das postmoderne Wissen, S. 92. 12 Vgl. Lyotard: Das postmoderne Wissen, S. 96–111.
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den empirischen Wissenschaften.«13 Diese Version entspricht dem spekulativen Idealismus und der Geschichtsphilosophie Hegels sowie des ganzen deutschen Idealismus und dem Bildungskonzept der Humboldt’schen Universität. Für das zwanzigste Jahrhundert diagnostiziert Lyotard ein Scheitern der emanzipatorischen und idealistischen Diskurse und das Auftauchen einer Vielzahl ideologischer Diskurse, wobei der Ausdruck »ideologisch« sich hier darauf bezieht, dass das emanzipatorische Subjekt des ersten Diskurstyps und der Geist des zweiten durch andere Inhalte ersetzt werden. Lyotard erwähnt ausdrücklich die Rektoratsrede Martin Heideggers aus dem Jahre 1933 und stellt die These auf, dass die Annäherung des Existenzphilosophen an die Ideologie des Nationalsozialismus dadurch zustande kam, dass die Erzählungen von der Rasse, vom Volk als Nation und von der Arbeit die idealistische Erzählung vom Geist ersetzt haben. Mit dieser Beschreibung nähern wir uns Musils Roman, dessen satirische Wucht gegen die Ideologien gerichtet ist, die Musil als »Pseudo-Systeme« bezeichnet und die wir in der Terminologie Lyotards als pseudo-totalisierende Doktrinen bezeichnen können, deren Funktion es ist, die Meta-Erzählungen abzulösen, die ihre Glaubwürdigkeit verloren haben. Die »Parallelaktion« mit ihrer Suche nach der unauffindbaren »großen Idee« ist das klassische Beispiel eines verzweifelten, aber vergeblichen Versuchs, der Politik und den Institutionen der österreichisch-ungarischen Monarchie eine ›spirituelle‹ Legitimation zu geben. Der Romanprotagonist Arnheim vertritt demgegenüber die Pseudo-Synthese zwischen Industrie und Geist und zeigt sich somit als der Vertreter einer Karikatur der idealistischen Meta-Erzählung. So artikuliert er den Optimismus der idealistischen Geschichtsphilosophie, wenn er erklärt: »in der Weltgeschichte geschieht nichts Unvernünftiges.« (MoE 174) Die fiktive Romanhandlung entlarvt in unzweideutiger Weise die ökonomischen Interessen, die hinter den idealistischen und ›spirituellen‹ Aussagen des preußischen Industriellen nur notdürftig verborgen sind, wie der Erzähler vermerkt: »Die eigentliche Schwierigkeit im Dasein eines Großschriftstellers entsteht erst dadurch, daß man im geistigen Leben zwar kaufmännisch handelt, aber aus alter Überlieferung idealistisch spricht, und diese Verbindung von Handel und Idealismus war es auch, die in Arnheims Lebensbemühungen eine entscheidende Stelle innehatte.« (MoE 432) Arnheim
13 Lyotard: Das postmoderne Wissen, S. 103 (der Sinn entstellende Übersetzungsfehler wurde korrigiert).
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gibt sich als ein Vertreter einer konservativen Zivilisationskritik, indem er die Notwendigkeit unterstreicht, ein einigendes Prinzip zu finden, das den Handlungen des Menschen und den Institutionen der modernen Gesellschaften einen Sinn verleiht: Bleibt die Kunst. Wahrhaftig, sie wäre es, die am ersten die Einheit des Daseins und seine innere Ordnung spiegeln müßte. Aber wir kennen doch das Bild, das sie heute bietet. Allgemeine Zerrissenheit; Extreme ohne Zusammenhang. Dem neuen, mechanisierten Gesellschafts- und Gefühlsleben haben bereits im Anfang Stendhal, Balzac und Flaubert die Epopöe geschaffen, das Dämonium der Unterschichten haben Dostojewski, Strindberg und Freud aufgedeckt: wir heute Lebenden haben das tiefe Gefühl, daß in alledem nichts mehr für uns zu tun übrig ist. (MoE 197)
Die »ideologische« Lösung Paul Arnheims besteht darin, dass er in seinem Denkmodell das totalisierende Konzept der idealistischen Meta-Erzählung, das spekulativ war, aber dennoch einer gewissen Form der Rationalität entsprach, durch eine irrationalistische Konzeption ersetzt, in deren Zentrum vage Begriffe wie »Herz« und »Willen« auftauchen: »Die Zivilisationsfrage ist nur mit dem Herzen zu lösen. Durch das Auftreten einer neuen Person. Durch das innere Gesicht und den reinen Willen. Der Verstand hat nichts anderes zuwege gebracht, als die große Vergangenheit bis zum Liberalismus abzuschwächen.« (MoE 198) Arnheims Denken geht es also darum, ökonomische Effizienz mit einem Irrationalismus zu verbinden, der ›tief‹ sein soll und der auf imaginäre Weise die Widersprüche und Antagonismen des modernen Denkens zu eliminieren sucht. Eine solche Pseudo-Synthese ist in Musils Augen das Symptom einer Krise des Denkens, das sich den Tendenzen der Moderne anzupassen sucht. Eine zweite Pseudo-Synthese wird uns mit der Figur des Hans Sepp vorgestellt; sie ist nationalistisch und rassistisch. Als die Sonne des alten europäischen Idealismus zu verlöschen begann und der weiße Geist sich verdunkelte, wurden viele Fackeln von Hand zu Hand gereicht – Ideenfackeln; weiß Gott, wo sie gestohlen oder erfunden worden waren! – und bildeten da und dort den auf und nieder tanzenden Feuersee einer kleinen Geistesgemeinschaft. So war in den letzten Jahren, ehe der große Krieg die Folgerung daraus zog, unter jungen Menschen auch viel von Liebe und Gemeinschaft die Rede, und besonders die jungen Antisemiten im Haus des Bankdirektors Fischel standen im Zeichen alles umfassender Liebe und Gemeinschaft. (MoE 482)
Diese Konzepte sind das Ergebnis, so erläutert uns der an Nietzsches »Genealogie« und Entlarvungspsychologie geschulte Erzähler, einer problematischen Sublimierung einer körperlichen, sexuellen Liebe (so dass wir im Sin-
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ne Nietzsches von einer »Genealogie des Ressentiments« sprechen können): »Denn sie küßten einander; sie erklärten in der Liebe das grobe Gefühl des sich im Körper krümmenden Ichs zwar für ebenso niedrig wie ein Magenkrümmen, aber ihre Glieder kümmerten sich nicht ganz um die Anschauungen der Seelen und preßten sich auf eigene Verantwortung aneinander.« (MoE 561) Ulrich enthüllt gegenüber dem Paar Hans und Gerda die »Wahrheit« ihres Begehrens, indem er die Idee eines »anderen Zustands« vorweg nimmt, die nach dem Programm des Romans eine legitime Form darstellt, mit der man in außergewöhnlichen Augenblicken die Widersprüche der Moderne überwinden kann: »Ich würde Gerda in die Arme schließen, alle Bedenken meiner Vernunft entfernen und die Arme so lange geschlossen halten, bis unsere Körper entweder zu Asche zerfallen oder der Verwandlung des Sinns folgen und sich in sich selbst umkehren, wie wir uns das eben nicht vorstellen können.« (MoE 562) Die Figuren Paul Arnheim und Hans Sepp vertreten ideologische Positionen, die zur Vorgeschichte des Nationalsozialismus gehören und die in der Perspektive des Romans fehlgeleitete Reaktionen auf die Krise der Moderne darstellen: Der Deutsche der dreißiger Jahre, der glaubte, seine Verwurzelung in rückwärts gewandten Orientierungen zu finden (Rasse, Nation, Religion, Simplizität und antike Formen, einfache Güte), war in Musils Augen nur ein Symptom für das, was der Mensch im Zeitalter der glorreichen Eroberungen von Wissenschaft und Technik geworden ist. Der Irrtum des modernen Menschen besteht gerade darin, dass er immer noch den alten großen Systemen vertraut, die mit monistischen Konzepten das Leben organisieren.14
III Die Krise der Meta-Erzählungen und die
»Legitimierung durch die Performativität« Eine Reaktion auf die Krise der modernen Meta-Erzählungen, durch die unsere Zeit geprägt ist, besteht darin, das Scheitern der historischen Denksysteme zu akzeptieren und den ökonomischen, technischen und wissenschaftlichen Erfolg als die einzige Legitimation unserer Tätigkeiten anzusehen: »das einzige, worum es geht, ist die Macht«, es bildet sich »das technische Spiel, dessen Kriterium lautet: effizient/ineffizient«.15 Die Legitimierung mensch14 Jacques Dugast: Robert Musil, L’homme sans qualités. Paris 1992, S. 75 (Übersetzung des Verfassers). 15 Lyotard: Das postmoderne Wissen, S. 125.
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licher Anstrengungen liegt damit in dem Erfolg der Prozeduren eines gegebenen Systems, was in Lyotards Perspektive den Erfolg der Systemtheorie Niklas Luhmanns erklärt. Im Mann ohne Eigenschaften hat Musil bereits diese Tendenz der neuen Legitimierung durch die äußerliche Leistung beschrieben, indem er die Ablösung des traditionellen »kakanischen« Denkens durch eine ökonomische und rein instrumentelle Konzeption von Rationalität akzentuiert, die alle Bereiche des menschlichen Lebens umfasse: und so […] könnte man heute schon alle Beziehungen von der Liebe bis zur reinen Logik in der Sprache von Angebot und Nachfrage, Deckung und Eskompte ausdrücken […]. Also mußte der Kaufmann, der des Großen so wenig entbehren will wie eines Kompasses, den demokratischen Kunstgriff anwenden, die unmeßbare Wirkung der Größe durch die meßbare Größe der Wirkung zu ersetzen. Groß ist nun, was für groß gilt; allein das heißt, daß letzten Endes auch das groß ist, was durch tüchtige Reklame dafür ausgeschrien wird, und es ist nicht jedermann gegeben, diesen innersten Kern der Zeit ohne Beschwernis zu schlucken, und Arnheim hatte viele Versuche darüber angestellt, wie das zu machen sei. (MoE 432 f.)
Der Neoliberalismus, der unsere Zeit der Globalisierung dominiert, kündigt sich bereits in dem ›Gebet‹ Arnheims an, einem Musterbeispiel für Musils Ironie, in dem die christliche Religion mit der ökonomischen Ordnung identifiziert wird: »Der Kapitalismus, als Organisation der Ichsucht nach der Rangordnung der Kräfte, sich Geld zu verschaffen, ist geradezu die größte und dabei noch humanste Ordnung, die wir zu Deiner Ehre haben ausbilden können; ein genaueres Maß trägt das menschliche Tun nicht in sich!« (MoE 508) Es spricht für die Weitsicht von Musils Ironie, dass diese Worte, die Arnheim, ohne zu erröten, an Gott richtet, sicherlich auch von George W. Bush gesprochen werden könnten …
IV Die »Paralogie« der modernen Wissenschaften und Ulrichs Essayismus
Nach Lyotard identifiziert sich die ehrenwerte Postmoderne keineswegs mit dieser Apologie unserer aktuellen Wirklichkeit, sondern ersetzt den quasireligiösen Glauben an die Gesetze des Marktes und der ökonomisch-technokratischen Rationalität durch eine Haltung, die sich für die Brüche in den geschlossenen Systemen interessiert, für all das, was nicht durch eine abstrakte und mechanische Norm determiniert ist. So entwirft die postmoderne Wissenschaft die Theorie ihrer eigenen Evolution als diskontinuierlich, katastrophisch, nicht zu berichtigen, paradox. Sie verändert
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den Sinn des Wortes Wissen, und sie sagt, wie diese Veränderung stattfinden kann. Sie bringt nichts Bekanntes, sondern Unbekanntes hervor. Und sie legt ein Legitimationsmodell nahe, das keineswegs das der besten Performanz ist, sondern der als Paralogie verstandenen Differenz.16
Im Zentrum des postmodernen Denkens ist also die Idee eines instabilen oder offenen Systems zu erkennen: Insoweit die Wissenschaft differenzierend ist, stellt sie in ihrer Pragmatik das Anti-Modell des stabilen Systems dar. Jede Aussage ist festzuhalten, sobald sie einen Unterschied zum Bekannten erhält, sobald sie argumentier- und beweisbar ist. Sie ist ein Modell eines ›offenen Systems‹, in welchem die Relevanz der Aussage darin besteht, ›Ideen zu veranlassen‹, das heißt andere Aussagen und andere Spielregeln.17
Die Entwicklung der modernen Wissenschaften bestärkt Lyotard in seiner Wendung gegen eine bornierte Rationalität und in seiner Option für die vieldimensionale Logik des Unvorhergesehenen und des Überraschenden. Es ist evident, dass Ulrichs Plädoyer für das »PDUG «, das »Prinzip des unzureichenden Grundes«, als ein Vorläufer solcher Modelle anzusehen ist. Dieses Prinzip versucht Ulrich dem bornierten liberalen Bankier Leo Fischel zu erklären: »in unserem wirklichen, ich meine damit unserem persönlichen Leben und in unserem öffentlich-geschichtlichen geschieht immer das, was eigentlich keinen rechten Grund hat.« (MoE 134) Das Entscheidende ist für Musil aber die Frage nach der angemessenen Reaktion auf diese Erfahrung des Scheiterns im Hinblick auf das Prinzip des zureichenden Grundes. Im Gegensatz zu den irrationalistischen Ideologien, die von Arnheim und Sepp repräsentiert werden – Musil sieht sie als PseudoSysteme an und wir können sie mit Lyotard als illegitime Erben der Meta-Erzählungen bezeichnen –, bedient sich Musil weiterhin der Vernunft, um das Schicksal der Rationalität zu analysieren. »Das Scheitern der Vernunft als Prinzip verhindert nicht den Rückgriff auf die Vernunft als Mittel«18 – diese Formel des französischen Schriftstellers Jean-Louis Poitevin verdeutlicht in eindrücklicher Weise, dass Musils Denken in voller Übereinstimmung mit der Aufklärung, etwa mit Denkern wie Lessing und Diderot, die Vernunft als ein kritisches und selbstkritisches Werkzeug verwendet.
16 Lyotard: Das postmoderne Wissen, S. 173. 17 Lyotard: Das postmoderne Wissen, S. 185. 18 Jean-Louis Poitevin: La cuisson de l’homme. Essai sur l’œuvre de Robert Musil. Paris 1996, S. 241 f. (Übersetzung des Verfassers).
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In der Utopie des Essayismus, die für Musils Protagonisten Ulrich von zentraler Bedeutung ist, spielt die Idee eines offenen Systems, das alle Dimensionen intellektueller Energie bindet, eine entscheidende Rolle. Der Text des Romans spricht von einem »unendliche[n] System von Zusammenhängen, in dem es unabhängige Bedeutungen, wie sie das gewöhnliche Leben in einer groben ersten Annäherung den Handlungen und Eigenschaften zuschreibt, überhaupt nicht mehr gab; das scheinbar Feste wurde darin zum durchlässigen Vorwand für viele andere Bedeutungen« (MoE 251). Die Kreativität und die Flexibilität des Denkens sind also die Voraussetzungen für eine angemessene Reflexion der empirischen Welt. Das experimentelle Denken ist nicht wie das traditionelle auf ein stabiles System bezogen, das sich durch die Wiederholbarkeit und die Vorhersehbarkeit seiner Elemente auszeichnet;19 es unterhält vielmehr eine privilegierte Beziehung zum Unerwarteten, zu den vermeintlichen Ausnahmen von der Regel – einer Regel, die nur der Ausdruck eines faulen Denkens ist, das man für das tägliche Leben vielleicht brauchen mag, das aber den Bedürfnissen und Erfordernissen eines »Mannes ohne Eigenschaften« keinesfalls entspricht. Der Geist des Experimentellen kennzeichnet aber nicht nur ein neues Denken, sondern auch das Handeln und die Moral. Die traditionelle Moral als ein geschlossenes System von Vorschriften, die nur normierte und wiederholbare Handlungen betreffen, müsste durch eine Ethik ersetzt werden, die sich für die Grenzfälle des menschlichen Verhaltens interessiert. »Die Moral im gewöhnlichen Sinn war für Ulrich nicht mehr als die Altersform eines Kräftesystems, das nicht ohne Verlust an ethischer Kraft mit ihr verwechselt werden darf.« (MoE 251) Die gewöhnlichen Menschen sind darauf angewiesen, sich auf die narrative Ordnung zu stützen, auf die Idee eines »Fadens« des Lebens, der im Bereich des menschlichen Handelns einem stabilen System entspricht. Mit dieser Charakterisierung des gewöhnlichen Lebens ist auch im Sinne Musils keine Geringschätzung verbunden; vielmehr zeigt sich die Herausforderung eines neuen Denkens und einer neuen Ethik gerade in der Schwierigkeit, mit einem Modell des Denkens und Handelns zu brechen, das Orientierung und Stabilität vermittelt. Von »Systemen des Glücks und Gleichgewichts« handelt insofern nicht zufällig das 109. Kapitel des Romans, in dem der Erzähler erklärt: Und um das zuwege zu bringen [ein ›normales‹ Leben auf dem Planeten Erde, M. H.], gebraucht nicht nur jeder Mensch seine Kunstgriffe, der Idiot ebensogut
19 Vgl. Jacques Bouveresse: L’homme probable. Robert Musil, le hasard, la moyenne et l’escargot de l’histoire. Paris 1993, S. 155–159.
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wie der Weise, sondern diese persönlichen Systeme von Kunstgriffen sind auch noch kunstvoll eingebaut in die moralischen und intellektuellen Gleichgewichtsvorkehrungen der Gesellschaft und Gesamtheit, die im Größeren dem gleichen Zweck dienen. (MoE 527)
Ein kritisches Denken, wie es Ulrich zu praktizieren sucht, geht demgegenüber von der Grunderfahrung aus, dass die geschlossenen Systeme einer kasuistischen Moral in der Welt des zwanzigsten Jahrhunderts völlig unangemessen geworden sind; dass »von allen Systemen, die wir errichtet haben, keines das Geheimnis der Ruhe besitzt« (MoE 592). So orientiert sich das experimentelle und essayistische Denken Ulrichs am Modell des offenen Systems: »er glaubte wie ein Rechner an sie [an überlieferte Geschichten wie die vom ›Sündenfall‹, M. H.] der das System seiner Gefühle vor sich liegen hat und daraus, daß sich kein einziges rechtfertigen läßt, auf die Notwendigkeit schließt, eine phantastische Annahme einzuführen, deren Beschaffenheit sich ahnungsweise erkennen läßt.« (MoE 874 f.) In diesem Kontext öffnet sich der subtile Rationalismus Musils der romantischen und symbolistischen Vorstellung von einer geheimen Korrespondenz der Dinge und er erlaubt seinem Protagonisten Ulrich das Abenteuer der Träume und der bedingungslosen Liebe, das sich im »anderen Zustand« manifestiert. Der Erzähler erklärt: »Das Gleichnis dagegen ist die Verbindung der Vorstellungen, die im Traum herrscht, es ist die gleitende Logik der Seele, der die Verwandtschaft der Dinge in den Ahnungen der Kunst und Religion entspricht« (MoE 593). Musils berühmte Formel der »gleitenden Logik der Seele« bedeutet keine Öffnung gegenüber einem überbordenden Irrationalismus; selbst im nicht mehr Darstellbaren, das im Roman durch die Liebe zwischen Bruder und Schwester allegorisch dargestellt wird, ist die Vernunft nicht völlig ausgeschlossen; sie behält vielmehr eine elementare Funktion in der kritischen Reflexion des Erfahrenen, das sich dennoch einem unmittelbaren Ausdruck im Denken und in der Sprache entzieht. So geht das Plädoyer für das experimentelle Denken und die offenen Systeme in eine Konfrontation mit einem Jenseits der rationalen Repräsentation einher. Auch in diesem Punkt berührt sich Musils Projekt mit Lyotards Version der Postmoderne, die in einer neu konzipierten Ästhetik des Erhabenen ebenfalls den Versuch erkennen lässt, das nicht mehr Ausdrückbare indirekt zur ›Sprache‹ kommen zu lassen.20 Gerade an der bildenden Kunst der Mo-
20 Vgl. Jean-François Lyotard: Das Erhabene und die Avantgarde, in: Merkur 424 (1984), S. 151–164.
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derne demonstriert Lyotard dabei die Entwicklung, die der vermeintlich obsoleten Kategorie des Erhabenen zu der Aktualität verhilft, die ihr in der Diskussion zur Postmoderne zukommt.21 Wie die Ästhetik Adornos kann auch Musils Idee eines anderen Zustands als eine Spielart der Ästhetik des Erhabenen verstanden werden, wenn diese nicht wie in einem traditionellen Verständnis als Mimesis des Numinosen konzipiert wird, sondern als der indirekte Bezug auf ein Abwesendes, das als Garant eines umfassenden Sinns gesucht, aber nicht im Sinne eines Besitzes aufgefunden wird.22
V Eine neue Form des Erzählens: Musil und Kundera Der »andere Zustand« erweist sich somit als ein Symptom, das die Grenzen der geschlossenen Systeme veranschaulicht; die Beziehung zwischen Ulrich und Agathe ist ein Phänomen, das der Legitimation durch Meta-Erzählungen und Ideologien entbehrt, das vor allem den tradierten Normen der Moral und der Konventionen widerspricht, das nicht kommunizierbar, aber gegenüber den Reflexionen des Romans offen ist, das eine Erfahrung darstellt, in deren Dynamik sich die betroffenen »Subjekte« verlieren. Dabei handelt es sich weder um eine »Synthese« der im Roman repräsentierten Konflikte noch um den »Zielpunkt« der Romanhandlung, sondern um einen Grenzfall, einen »Versuch« im Spannungsfeld der »induktiven Gesinnung«. In ähnlicher Weise geht die postmoderne Philosophie Lyotards von einer Theorie des Wissens in eine Ästhetik des Erhabenen über, die in Beziehung zu setzen ist zum »Widerstreit«, das heißt zu den nicht auflösbaren Konflikten, in die sich die menschliche Gesellschaft und die menschliche Vernunft notwendig verwickeln. Musil bleibt aber Epiker; trotz der essayistischen Anteile seines Werkes geht es ihm nicht um die Begründung einer neuen Philosophie, sondern um die Frage nach einer neuen Form des Erzählens nach dem Ende der traditionellen Erzählung. Die Verbindung von Fiktion und Reflexion, die Musils Epik kennzeichnet, kann auch als ein Modell für bestimmte Formen des postmodernen Erzählens verstanden werden. Der Tscheche Milan Kundera steht in der »kakanischen« Tradition Musils und er stellt sich in seinem Roman Die Unsterblichkeit (1990) unmittelbar in die Nachfolge Musils: 21 Vgl. Christine Pries (Hg.): Das Erhabene. Zwischen Grenzerfahrung und Größenwahn. Weinheim 1989. 22 Vgl. Wolfgang Welsch: Adornos Ästhetik: eine implizite Ästhetik des Erhabenen, in: Ders.: Ästhetisches Denken, S. 114–156.
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Es gibt keinen Romancier, der mir teurer wäre als Robert Musil. Er starb eines Morgens, als er Hanteln stemmte. Wenn ich das tue, beobachte ich ängstlich meinen Puls und fürchte mich vor dem Tod, denn mit den Hanteln in den Händen zu sterben wie der von mir verehrte Autor, wäre in seiner Epigonalität derartig unglaublich, kraß und fanatisch, daß mir dies augenblicklich eine lächerliche Unsterblichkeit garantieren würde.23
Auch Kunderas Text changiert in brillanter Weise zwischen Narration und Reflexion und wie Musils Roman enthält er seine eigene Poetik, die mit ihrem Anklang an den Mann ohne Eigenschaften das Bewusstsein von der Krise des traditionellen Erzählens übernimmt und weiterführt: So sind die Ereignisse synchronisiert. Immer, wenn etwas am Ort Z passiert, passiert etwas an anderen Orten A, B, C, D, E. »Und gerade in dem Moment, als …« ist eine der Zauberformeln aller Romane, ein Satz, der uns behext, wenn wir Die drei Musketiere lesen, den Lieblingsroman von Professor Avenarius, zu dem ich zur Begrüßung sagte: »Gerade in dem Moment, wo du ins Becken steigst, hat die Heldin meines Romans endlich den Zündschlüssel herumgedreht, um nach Paris zurückzufahren.«24
Kundera geht in der Tradition Musils von der ambivalenten Einsicht in das Scheitern der traditionellen Narration aus; seine Grunderfahrung ist insbesondere im Hinblick auf die Erfahrungen mit dem stalinistischen Gesellschafts- und Denkmodell das Versagen der Meta-Erzählungen und Ideologien unseres Jahrhunderts. Mit einem ironischen Bezug zu den Grundlagen der romantischen Ironie bekräftigt Kundera die Fortführung eines neuen Typs der Narration, der nicht mehr den Anspruch hat, die menschliche Erfahrung in einer totalisierenden Synthese zusammenzufassen. In dieser neuen Form des Erzählens geht es vielmehr darum, in einem ständigen Hin und Her zwischen Fiktion und Reflexion einen Zusammenhang herzustellen zwischen dem individuellen Erleben und einer selbstkritischen Rationalität, die kein dogmatisches Prinzip vertritt, sondern die als Werkzeug einer antidogmatischen Reflexion auftritt und dabei ständige Bewegung und Veränderung zu repräsentieren sucht. In diesem Sinne hat Musils moderne Epik einer postmodernen Philosophie und Literatur den Weg gewiesen und Musil kann als moderner Romancier immer noch als Zeitgenosse unserer Epoche gelten.
23 Milan Kundera: Die Unsterblichkeit. Aus dem Tschechischen von Susanna Roth. München, Wien 1990, S. 69 (die Interpunktion folgt dem Text der Übersetzung). 24 Kundera: Die Unsterblichkeit, S. 274.
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Im Textlabor. Der deskriptive Dialog mit dem Bildmedium in Robert Musils Fliegenpapier »Blätter aus dem Nachtbuche des monsieur le vivisecteur«1 – so lautet die Überschrift von Robert Musils frühestem Tagebuchheft, dessen Aufzeichnungen im Jahr 1899 beginnen. Die mit diesen Worten eingenommene Pose wirkt nicht eben wenig prätentiös und so liegt die Vermutung nahe, dass es sich im Fall dieses Tagebuchs eher um einen poetischen als um einen welthaltigen oder Authentizität verbürgenden Text handelt. Die vorgebliche vivisektorische Distanz und analytische Präzision, die ›naturwissenschaftliche Kälte‹, ist gleichwohl zu einer Art Markenzeichen von Musils Texten geworden. Prototypisch entwirft das Tagebuch eine entsprechende Erzählsituation am Beispiel einer in Kristall eingeschlossenen Mücke: Mir fällt eine Mücke ein, die ich einmal in einem Bergkrystall internirt gesehen habe. Mücken sind mir aus irgendeiner ästhetischen Veranlagung, die ich noch nicht der Controle des Verstandes unterzogen habe etwas das mein – sagen wir Schönheitsgefühl – beleidigt. Anders jene die ich damals unter dem Krystall sah. Sie verlor durch ihre Einschließung in einem fremden Medium jenes Detaillirte, gewissermaßen Mücken-Persönliche und erschien mir nur als dunkle Fläche mit zarten angehängten Gebilden.2
Die Mücke interessiert den Erzähler also nicht in vivo, wo sich ihre ›persönlichen‹ Eigenschaften im Detail verlieren und infolgedessen darstellerisch nicht begreifen lassen, sondern in vitro, eingeschlossen in ein fremdes Medium, durch das sich eine klare und deutliche Außenansicht des Präparats zu ergeben scheint. Wissenschaftsgeschichtlich rekurriert dieses erzählerische Bekenntnis zu Neutralität und Objektivität auf den Siegeszug des Empirismus in den Naturwissenschaften seit dem frühen 18. Jahrhundert, in dessen 1 Robert Musil: Tagebücher. Hg. von Adolf Frisé. 2. Aufl. Reinbek bei Hamburg 1983, S. 1. 2 Musil: Tagebücher, S. 1.
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Verlauf anstelle des Buchwissens genaues Hinsehen: das Experiment, zur maßgeblichen Bewährungsprobe von Hypothesen erklärt wurde. Nicht nur die Methodik des Untersuchens selbst änderte sich dabei entscheidend; der Positivismus, der in Form des Historismus im 19. Jahrhundert auch in den historisch-philologischen Wissenschaften Einzug hielt, forderte zudem modifizierte Strategien für die sprachliche Darstellung des Erforschten: Textverfahren, die »das empirisch erhobene Material korrekt repräsentier[en]«3 und so auf die »genaue[ ] Faktenwahrnehmung« mit der »schreibtechnischen Fähigkeit [zu] genauer Beobachtung«4 antworten. Und die Literatur, an erster Stelle (jedoch nicht ausschließlich) der Naturalismus, reagiert darauf, indem auch sie jenen »Experimentcharakter«5 für sich in Anspruch nimmt, für den die Einleitungssätze zu Musils Tagebuch ein gutes Beispiel geben. Damit ist der wissenschafts- und literaturgeschichtliche Hintergrund skizziert, vor dem das Textverfahren von Robert Musils 1914 in einer ersten Fassung unter dem Titel Römischer Sommer (Aus einem Tagebuch) veröffentlichter und 1936 in die Sammlung Bilder aus dem Nachlaß zu Lebzeiten aufgenommener Prosaminiatur Das Fliegenpapier zu verstehen ist.6 Ich werde die für diesen Text kennzeichnende Technik der Deskription im Folgenden aber nicht als literarischen Reflex eines epistemologischen und entsprechenden methodologischen Wandels in den Wissenschaften lesen. Die Beschreibung – so möchte ich in meiner Analyse zeigen – erweist sich darüber hinaus vielmehr als ein zentrales poetologisches Verfahren der Moderne, und zwar insofern, als sie die mimetisch-realistischen Ansprüche von 3 Moritz Baßler, Christoph Brecht, Dirk Niefanger, Gotthart Wunberg: Historismus und literarische Moderne. Mit einem Beitrag von Friedrich Dethlefs. Tübingen 1996, S. 71. 4 Gotthart Wunberg: Unverständlichkeit: Historismus und literarische Moderne, in: Hofmannsthal-Jahrbuch 1 (1993), S. 309–350, hier S. 316. Eine entscheidende Rolle bei diesem Shift von wissenschaftlicher Methodik zum Textverfahren hat das von Rudolf Virchow entwickelte anatomische Protokoll gespielt. Vgl. Baßler u. a.: Historismus, S. 73. Christoph Hoffmann: ›Der Dichter am Apparat‹: Medientechnik, Experimentalpsychologie und Texte Robert Musils 1899–1942. München 1997, S. 37–40. 5 Wunberg: Unverständlichkeit, S. 316. 6 Im Tagebuch zwischen 1916 und 1918/19 firmiert die Textsammlung Bilder noch unter dem Arbeitstitel »Tierbuch« (Musil: Tagebücher, S. 340). Schon das frühe Tagebuchheft 4 aus der Zeit der Jahrhundertwende dokumentiert Musils Beschäftigung mit biologischer Fachliteratur (vgl. Musil: Tagebücher, S. 13) und ein Nachtrag zum Tagebuchheft 5 vom Beginn der 1910er Jahre belegt Musils Interesse für Brehm’s Tierleben (Musil: Tagebücher, S. 972), diesen für die Zusammenführung von Naturwissenschaftsprosa und Literatur im Allgemeinen, für die Engführung von »Beschreibungs- und Erzählverfahren« (Baßler u. a.: Historismus, S. 86) im Speziellen so bedeutenden Text.
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Narrationen unterläuft, ein Unternehmen, das nicht zuletzt als intermedialer Dialog mit dem Bildmedium, im Falle des Fliegenpapiers: dem Film, realisiert wird. Scheinbar emotionslos, mit kalten Augen,7 schildert Das Fliegenpapier das mehrtägige Sterben einer Fliege auf einem Fliegenpapier. Schon der erste Abschnitt schwört den Text auf einen überaus nüchternen Ton ein: Das Fliegenpapier Tangle-foot ist ungefähr sechsunddreißig Zentimeter lang und einundzwanzig Zentimeter breit; es ist mit einem gelben vergifteten Leim bestrichen und kommt aus Kanada (F 476).8
Diese Sätze beschreiben offensichtlich den Aufbau eines Versuchs. Als weiteres Indiz für das damit angezeigte positivistische Programm kann das Lexem ›Tangle-foot‹ gelten, entspricht der Text mit dessen Verwendung doch einer einschlägigen, beispielsweise bei dem Anatomen Jakob Henle (1809–1885) nachzulesenden Forderung an (Natur-)Wissenschaftsprosa, der zufolge im Sektionsprotokoll »nicht Definitionen, sondern Nomina propria [zu verwenden und] um so willkommener [seien], je weniger sich ein bestimmter Begriff an dieselben knüpft«.9 Diese Anweisung impliziert freilich ihrer Idee nach keine Loslösung des Bezeichnenden vom Bezeichneten, sondern beabsichtigt die »Vereindeutigung der einzelnen sprachlichen Zeichen«,10 die auf diese Weise möglichst frei von »unreflektierten Vorannahmen« der unwissenschaftlichen Lebenswelt bleiben sollen. Transponiert in einen literarischen Text, bewirkt dieses Verfahren jedoch das Gegenteil der positivistischen Absicht und lässt die Interpreten bemerken, dass die vermeintlich »gesicherte[ ] technische[ ] Aussage« dadurch »leise exotisch gefärbt wird«.11 7 Vgl. dazu: Gert Mattenklott: Der übersinnliche Leib. Beiträge zur Metaphysik des Körpers. Reinbek bei Hamburg 1982, S. 47–77. 8 Ich zitiere Das Fliegenpapier nach der Ausgabe: Robert Musil: Prosa und Stücke. Kleine Prosa, Aphorismen. Autobiographisches. Essays und Reden. Kritik. Gesammelte Werke. Hg. von Adolf Frisé. Reinbek bei Hamburg 1978, Bd. 2, S. 476 f. im laufenden Text mit der Sigle ›F‹ und der nachfolgenden Seitenzahl. 9 Jakob Henle: Medizinische Wissenschaft und Empirie, zit. nach Baßler u. a.: Historismus, S. 71. 10 Baßler u. a.: Historismus, S. 71. 11 Victor Lange: Musils Das Fliegenpapier, in: Renate von Heydebrand (Hg.): Robert Musil. Darmstadt 1982, S. 450–461, hier S. 452. Dass das Lexem ›Tangle-foot‹ gleichsam zuviel kulturelle Energie akkumuliert, um in klinisch-steriler Isolation für sich stehen bleiben zu können, lässt sich auch mit einem Blick in Murrays und Bradleys um 1910 erschienenen Teilband des New English dictionary on historical principles
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Die vermeintlich positivistische Exaktheit des Textverfahrens wird ferner durch die Vokabel »ungefähr« relativiert. Warum, so ist zu fragen, mutet der Text dem Leser Zahlen wie 21 und 36 zu, die der im Dezimalsystem üblichen Praxis des Auf- bzw. Abrundens zuwiderlaufen, wenn diese doch bloß ungefähr stimmen?12 Das Genauigkeitspathos wird also mit durchaus ironischen Untertönen versehen, der naturwissenschaftliche Gestus eher zitiert oder simuliert als ungebrochen verwirklicht.13 Das Interesse von Musils kurzem Prosatext besteht nicht darin, der Literatur mittels der Adaptation positivistischer Methodenideale zur mimetischen Nachbildung oder Abspiegelung von Realität zu verhelfen. Vielmehr teilt Das Fliegenpapier jene Faszination, die im Zusammenhang der empiristischen Wissenschaftsrevolution für die Verfahren der Wahrnehmung sowie ihrer Medien, nicht zuletzt aber auch für das keineswegs bloß sekundäre Speichermedium Text entstanden ist. Wenn Musils Prosaminiatur ein Labor darstellt, dann ein solches, in dem Zeichenpraktiken sowohl im Bereich des Visuellen als auch des Geschriebenen auf dem Prüfstand stehen. Freilich handelt es sich dabei nicht um eine semiotische Fragestellung um ihrer selbst willen, sondern das Reflexionspotential des Textverfahrens lässt sich insofern näher kennzeichnen, als mit ihm zur Debatte gestellt wird, wie und mit welchen Chancen in der Moderne Erzählen (noch) möglich, wie dasselbe »vom Kinderfrauenberuf zu emanzipieren« ist.14 bekräftigen. Dort wird nämlich unter dem Stichwort ›Tanglefoot‹ neben der Wortbedeutung »That which tangles or entraps the foot« eine semantische Weiterung aus dem US-amerikanischen Slang benannt: »an intoxicating beverage, esp. Whiskey«, wodurch das Lexem »vergiftet« aus Musils Text motiviert sein könnte. Liest man weiter in besagtem Dictionary, so trifft man auf ein entsprechendes Zitat aus der Ausgabe der Daily News vom 11. April 1900: »The poisonous ›Cape smoke‹, or tanglefoot, which they [soldiers] get in too great abundance out here«. Die Assoziation Whiskymissbrauch – Soldaten lässt sich ihrerseits in Verbindung mit dem Militär- bzw. Kriegsaspekt von Musils Text bringen (vgl. auch Anm. 56). 12 Vgl. auch Annette Fuchs: ›Augen-Blicke‹: Zur Kommunikationsstruktur der ›Bilder‹ in Robert Musils Nachlaß zu Lebzeiten, in: Der Deutschunterricht 40 (1988), S. 66–79, hier S. 69. 13 Dass es Musil nicht um »das veristische, gar wissenschaftliche Protokoll eines realen Vorgangs von biologischem Interesse« bzw. um »positivistische Abbildgenauigkeit« geht, betont auch Thomas Hake: ›Gefühlserkenntnisse und Denkerschütterungen‹. Robert Musils Nachlaß zu Lebzeiten. Bielefeld 1998, S. 22. Die biologische Kompetenz eines Literaten auf fast kuriose Weise zu überschätzen scheint mir dagegen Ewout van der Knaap, wenn er Musil Erkenntnisse der Biologie vorwegnehmen sieht, die erst mehr als 50 Jahre nach seinem Text gemacht wurden (Ewout van der Knaap: Musils filmischer Blick. Notsignale auf dem Fliegenpapier, in: Poetica 30 [1998], S. 165–178, hier S. 170 f. 14 Robert Musil: Über Robert Musil’s Bücher [Januar 1913], in: Ders.: Prosa und Stücke, S. 999.
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Irgendwann mag ja vielleicht das Erzählen einfach eines starken begriffsarmen Menschen reaktives Nocheinmalbetasten guter und schrecklicher Geister von Erlebnissen gewesen sein, unter deren Erinnerung sein Gedächtnis sich noch krümmte, Zauber des Aussprechens, Wiederholens, Besprechens und dadurch Entkräftens. Aber seit dem Beginn des Romans halten wir nun schon bei einem Begriff des Erzählens, der daher kommt. Und die Entwicklung will, daß die Schilderung der Realität endlich zum dienenden Mittel des begriffsstarken Menschen werde, mit dessen Hilfe er sich an Gefühlserkenntnisse und Denkerschütterungen heranschleicht […].15
Konsequenterweise inszeniert schon der zweite Satz des Fliegenpapiers eine Verschiebung der Erzählsituation, den Wechsel von einem rein beschreibenden zu einem deskriptiv-narrativen Mischverfahren: Wenn sich eine Fliege darauf [= auf dem Fliegenpapier, H. D.] niederläßt – nicht besonders gierig, mehr aus Konvention, weil schon so viele andere da sind – klebt sie zuerst nur mit den äußersten, umgebogenen Gliedern aller ihrer Beinchen fest (F 476).
Der Einschub durchbricht die beschreibende Außenansicht, das neutrale Erzählen, zugunsten eines auktorialen Erzählerkommentars, der sich nicht damit begnügt, »Surrogate der sinnlichen Eindrücke«16 zu liefern, wie Henle für das naturwissenschaftliche Vorgehen fordert. Stattdessen werden die von Henle abgelehnten »Kausalbeziehungen«17 zur Erklärung des Tableaus angeboten, die sich darüber hinaus der spekulativen Introspektion in das Seelenleben des Insekts verdanken. Dadurch bringt der Erzähler sich weit stärker als Vermittler des Dargestellten zur Geltung als im Beschreibungsverfahren zugelassen ist, sucht dieses doch seine vermeintliche Objektivität gerade dadurch zu erzielen, dass es die Suggestion eines erzählerlosen Berichts erweckt. Der Fortgang des Textes gibt das Beschreiben denn auch vorübergehend ganz zugunsten einer ins Register des Unheimlichen wechselnden Narration auf: Eine ganz leise, befremdliche Empfindung, wie wenn wir im Dunkel gingen und mit nackten Sohlen auf etwas träten, das noch nichts ist als ein weicher, warmer, unübersichtlicher Widerstand und schon etwas, in das allmählich das grauenhaft Menschliche hineinflutet, das Erkanntwerden als eine Hand, die da irgendwie liegt und uns mit fünf immer deutlicher werdenden Fingern festhält (F 476).
Der mit ›wie‹ eingeleitete Vergleich in diesem Passus führt zunächst von der Geschichte der sterbenden Fliege, dem Plot des Textes, weg und erweckt 15 Musil: Über Robert Musil’s Bücher, S. 997. 16 Henle: Medizinische Wissenschaft, S. 71. 17 Baßler u. a.: Historimus, S. 71.
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beim Leser durch den Wechsel in die erste Person Plural den Eindruck, in das Geschilderte einbezogen zu sein. Zudem spiegelt der modale Sprung vom (alp-)träumerisch wirkenden Konjunktiv in den Indikativ den Erkenntnisprozess, von dem der Text handelt. Dabei bleibt die Bedeutung der metaphorischen Formulierung vom »Erkanntwerden als eine Hand« (F 476) in einer merkwürdigen Schwebe. Diese ist ebenso in dem Sinn zu verstehen, dass die Fliege dasjenige, was sie festhält, als eine Hand identifiziert, wie auch anders, wonach die Erkenntnis der Fliege (genitivus objectivus) als Fixierung durch eine Hand beschrieben wird. Im einen Fall ist die Fliege also Subjekt, im anderen Objekt der Erkenntnis. Mit dieser Ambivalenz im discours des Textes kristallisiert sich das zentrale Problem des Fliegenpapiers heraus: der reflexive Blickwechsel zwischen wahrnehmendem Subjekt und Darstellungsmedium. Im Bereich der histoire deuten sich derweil die schlimmen Konsequenzen dieses Prozesses für die Fliege an, und zwar zunächst ausgehend von einer intertextuellen Referenz der Formel »befremdliche Empfindung«. Diese lässt nämlich an jene »fremde Fühlung« denken, von der Goethes Gedicht Selige Sehnsucht18 spricht und die für einen nach Kerzenlicht begierigen Schmetterling tödlich endet. Mit Goethes lyrisch inszeniertem Insektensterben wird eine Tradition disponibler Bildversatzstücke aufgerufen, aus der sich der reflexive Gehalt von Musils Text: das Nachdenken über bildliche wie textuelle Darstellungsverfahren, über das Verhältnis von Welt und Text, über Erzählen und Beschreiben speist.19 Zunächst ist da jene emblematische Insekten-pictura zu nennen, auf die sich Goethes Gedicht (mit veränderter subscriptio) bezieht (Abb. 1).20 Auf dieser sind Mücken und Schmetterlinge zu sehen, die in eine Kerzenflamme fliegen, während neben dieser Szenerie ein geflügelter Amor hockt. In der 18 Johann Wolfgang Goethe: Selige Sehnsucht, in: Ders.: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche, I. Abt., Bd. 3/1: West-Östlicher Diwan, Teil 1. Hg. von Hendrik Birus. Frankfurt a. M. 1994, S. 24 f. 19 Der offensichtliche Bezug eines weiteren insektenmörderischen Goethe-Gedichts zum Fliegenpapier ist bereits bemerkt worden: »Sie saugt mit Gier verrätrisches Getränke / Unabgesetzt, vom ersten Zug verführt; / Sie fühlt sich wohl und längst sind die Gelenke / Die zarten Beinchen schon paralysiert / Nicht mehr gewandt die Flügelchen zu putzen, / Nicht mehr geschickt das Köpfchen aufzustutzen, / Das Leben so sich im Genuß verliert. / Zum stehen kaum wird noch das Füßchen taugen; / So schlürft sie fort und, mitten unterm Saugen, / Umnebelt ihr der Tod die tausend Augen« (in: Goethe: Sämtliche Werke, I. Abt., Bd. 2: Gedichte 1800–1832. Hg. von Karl Eibl. Frankfurt a. M. 1988, S. 544). Vgl. Lange: Musils Fliegenpapier, S. 450–461. 20 Arthur Henkel, Albrecht Schöne (Hg.): Emblemata. Handbuch zur Sinnbildkunst des XVI. und XVII. Jahrhunderts. Stuttgart 1967, S. 911.
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zugehörigen subscriptio wird die Verderblichkeit der Liebessehnsucht angeprangert. Eine für Musils Text signifikante Umbesetzung erfährt dieselbe Szenerie, wenn der Amor in einem weiteren Emblem aus dem Tableau getilgt und die Anziehung der Flamme auf die Insekten nun als gefährliche Kriegsbegeisterung interpretiert wird (Abb. 2):21
21 Henkel, Schöne: Emblemata, S. 910 f.
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»Die Falter«, lautet die subscriptio dieses Emblems in der Übersetzung von Henkel und Schöne, »verbrennen sich in der Kerzenflamme: so möchte derjenige in die Schlacht stürmen, der nicht weiß, wie verderbenbringend der Krieg ist«. Bei Musil findet sich eine weit lakonischere Verknüpfung dieser Versatzstücke: »Ende Juli. Eine Fliege stirbt: Weltkrieg«,22 heißt eine der Varianten des im Fliegenpapier verhandelten Sujets aus einem zwischen 1915 und 1920 erschienenen Tagebuch Musils. Nicht von ungefähr korrespondiert der Text also ferner mit Vanitas-Stillleben, bei denen freilich weniger der weltanschauliche als der medienreflexive Aspekt im Vordergrund steht. Denn neben (erlöschenden) Kerzen und anderen einschlägigen Symbolen wie Totenschädeln, fauligen Früchten, Stundengläsern, Seifenblasen, rauchenden Pfeifen und eben: Insekten sind auf diesen in aller Regel auch Bücher zu sehen.23 Ein Exemplar von letztgenannten findet sich denn auch auf einem weiteren Insektenemblem: Dieses zeigt ein Buch, auf dem eine Fliege sitzt und sich, wie man aus der subscriptio lernt, partout nicht vertreiben lassen will (wenn man so will: das Komplement zum Fliegenpapier, welches das Insekt daran hindert, wegzufliegen) (Abb. 3).24
22 Musil: Tagebücher, S. 309 (vgl. genauer dazu Anm. 56) 23 Vgl. Claus Grimm: Stilleben: Die niederländischen und deutschen Meister. Stuttgart 1988, S. 84. 24 Henkel, Schöne: Emblemata, S. 944 f.
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Tritt neben die erbaulich-moralisierende Perspektive ein mehr und mehr naturwissenschaftliches Interesse, wie es sich etwa in Maria Sibylla Merians Insektenbuch Metamorphosis Insectorum Surinamensium aus dem Jahr 1705 dokumentiert, dann werden einerseits die Versatzstücke dieser Tableaus der Hinfälligkeit zu Zeichen für die emphatische Annahme uminterpretiert, dass die Natur beseelt ist,25 und – für unseren Zusammenhang entscheidend – andererseits naturwissenschaftliche Forschung und ästhetische Darstellung offensiv miteinander verklammert.26 Dem künstlerischen Schaffen, dem naturgetreuen Abbilden und Beschreiben, geht dabei ein akribisches Beobachten, Züchten und Präparieren der Insekten voraus. Und es bedarf nur der Aufnahme dieser Verfahrenstechniken durch einen Dichter vom Rang Barthold Hinrich Brockes’, um die Engführung von Wahrnehmen, Beschreiben und Dichten zum Schauplatz einer durch und durch reflektierten Medienkonkurrenz zu machen: Die kleine Fliege Neulich sah ich, mit Ergetzen, Eine kleine Fliege sich, Auf ein Erlen-Blättchen setzen, Deren Form verwunderlich Von den Fingern der Natur, So an Farb’, als an Figur, Und an bunten Glantz gebildet. Es war ihr klein Köpfgen grün, Und ihr Cörperchen vergüldet, Ihrer klaren Flügel Par, Wenn die Sonne sie beschien, Färbt’ ein Roth fast wie Rubin, Das, indem es wandelbar, Auch zuweilen bläulich war. Liebster GO tt! wie kann doch hier Sich so mancher Farben Zier Auf so kleinem Platz vereinen,
25 Vgl. dazu das Nachwort von Helmut Deckert zu: Maria Sibylla Merian: Das Insektenbuch. Metamorphosis Insectorum Surinamensium (1702). Frankfurt a. M. 1991, S. 131–152. 26 Bestiarien sind zur Entstehungszeit des Fliegenpapiers geradezu wieder en vogue. So erscheint 1919 Guillaume Apollinaires Bestiaire ou cortège d’Orphée und für Franz Bleis Großes Bestiarium der Literatur (1924) hat Musil selbst drei Beiträge verfasst (vgl. Roger Willemsen: Robert Musil. Vom intellektuellen Eros. München 1985, S. 90).
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Und mit solchem Glantz vermählen, Daß sie wie Metallen scheinen! Rief ich, mit vergnügter Seelen. Wie so künstlich! fiel mir ein, Müssen hier die kleinen Theile In einander eingeschrenckt, Durch einander hergelenckt, Wunderbar verbunden seyn! Zu dem Endzweck, daß der Schein Unsrer Sonnen und ihr Licht, Das so wunderbarlich-schön, Und von uns sonst nicht zu sehn, Unserm forschenden Gesicht Sichtbar wird’, und unser Sinn, Von derselben Pracht gerühret, Durch den Glantz zuletzt dahin Aufgezogen und geführet, Woraus selbst der Sonnen Pracht Erst entsprungen, der die Welt, Wie erschaffen, so erhält. Und so herrlich zubereitet. Hast du also, kleine Fliege, Da ich mich an dir vergnüge, Selbst zur GO ttheit mich geleitet.27
Schon mit dem ersten Verb stellt das Gedicht sein eigentliches Thema heraus: das Sehen. Allerdings verhandelt Brockes’ Poem das Visuelle nicht als altvertrautes Phänomen, sondern betreibt zum einen die virtuose Feier des Gesichtssinns, die »Farb« und »Glantz« des Wahrgenommenen durch eine ganze Palette von Adjektiven darbietet. Zum anderen wird der Sehvorgang aber auch regelrecht analysiert, und zwar in Termini, die mit ihren Implikationen eher an das Schriftmedium denn an den vermeintlich instantanen und unmittelbaren Gesichtssinn denken lassen. Sehen wird als dynamischer, »wandelbar[er]« und – aufgrund der Tatsache, dass das »wunderbarlich-schön[e]« Sonnenlicht nur indirekt, gespiegelt am Insektenleib, wahrgenommen wird – nicht zuletzt als vermittelter Prozess dargestellt. Man kann also mit Fug und Recht behaupten, dass Brockes’ Gedicht zum Ziel habe, »seine Leser die Welt neu sehen [zu] lehren«28 oder anders: »die künstlerische Technik des Se27 Bartold Heinrich Brockes: Die kleine Fliege, in: Ders.: Irdisches Vergnügen in Gott. Naturlyrik und Lehrdichtung. Ausgew. und hg. von Hans-Georg Kemper. Stuttgart 1999, S. 23 f. 28 Hans-Georg Kemper: Naturlyrik, in: Brockes: Irdisches Vergnügen, S. 15.
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hens in eine[ ] Reihe mit dem Schreiben und Lesen«29 zu stellen. Dass davon nicht nur die Reflexion der Wahrnehmungsleistung, sondern umgekehrt auch das Nachdenken über Verfahren der Textproduktion wie -rezeption profitiert, lässt sich schließlich an Gottfried Kellers am Brockes’schen Schreibgestus orientiertem Gedicht Die kleine Passion ablesen: Die kleine Passion Der sonnige Duft, Septemberluft, Sie wehten ein Mücklein mir auf’s Buch, Das suchte sich die Ruhegruft Und fern vom Wald sein Leichentuch. Vier Flügelein von Seiden fein Trug’s auf dem Rücken zart, Drin man im Regenbogenschein Spielendes Licht gewahrt! Hellgrün das schlanke Leibchen war, Hellgrün der Füßchen dreifach Paar, Und auf dem Köpfchen wundersam Saß ein Federbüschchen stramm; Die Äuglein wie ein goldnes Erz Glänzten mir in das tiefste Herz. Dies zierliche und manierliche Wesen Hatt’ sich zu Gruft und Leichentuch Das glänzende Papier erlesen, Darin ich las, ein dichterliches Buch; So ließ den Band ich aufgeschlagen Und sah erstaunt dem Sterben zu, Wie langsam, langsam ohne Klagen Das Tierlein kam zu seiner Ruh. Drei Tage ging es müd und matt Umher auf dem Papiere; Die Flügelein von Seide fein, Sie glänzten alle viere. Am vierten Tage stand es still Gerade auf dem Wörtlein »will!« Gar tapfer stand’s auf selbem Raum; Hob je ein Füßchen wie im Traum; Am fünften Tage legt es sich; 29 Martina Wagner-Egelhaaf: Gott und die Welt im Perspektiv des Poeten. Zur Medialität der literarischen Wahrnehmung am Beispiel Barthold Hinrich Brockes, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 71 (1997), S. 183–216, hier S. 186 f.
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Doch noch am sechsten regt es sich; Am siebten endlich siegt’ der Tod, Da war zu Ende seine Not. Nun ruht im Buch sein leicht Gebein, Mög’ uns sein Frieden eigen sein!30
Neben dem Beobachten, dem Sehen, fällt Lesen als zentrales Lexem von Kellers Gedicht ins Auge; die Mücke hat sich dasselbe Buch zum tödlichen Ruheplatz erlesen, in dem das lyrische Ich liest. Dieses freilich verschiebt seine Aufmerksamkeit von den Schriftzeichen des Textes zu den Figurationen der sterbenden Mücke – Lesen, Beobachten und Beschreiben werden also im Gedicht aufs Engste miteinander verbunden und diese écriture-lecture bedeutet eine entscheidende Modifikation des mit dem Gedicht aufgerufenen Topos vom Buch der Natur. Denn die Mücken werden in der Kleinen Passion zwar als »natürliche Zeichen« (signa naturalia) eingeführt, als Zeichen, die nach Augustinus’ Definition »ohne Absicht und ohne etwas anderes bedeuten zu wollen außer ihrer eigenen Natur noch etwas anderes erkennen lassen« (sine voluntate atque ullo appetitu significandi praeter se aliquid aliud ex se cognosci faciunt), erscheinen aber der Logik des Tableaus zufolge viel eher als »gegebene« (data)31 oder, moderner ausgedrückt, als willkürliche, konventionelle Zeichen. Insgesamt betrachtet, lösen die intertextuellen Referenzen von Musils Fliegenpapier den Leserblick somit von den narrativen, im Syntagma vorwärts drängenden Elementen und verweisen ihn auf die Gemachtheit aus anderer Literatur: auf eine Latenz, die als paradigmatische Reihe absenter Texte zu verstehen ist.32 Indem dieses Verfahren als Hemmschuh der Diegesis funktioniert, den Leser vom Erzählten abschweifen lässt, bringt es aber nur 30 Gottfried Keller: Die kleine Fliege, in: Ders.: Sämtliche Werke. Bd. 1: Gedichte. Hg. von Kai Kauffmann. Frankfurt a. M. 1995, S. 686 f. 31 Augustinus: Vier Bücher über die christliche Lehre (De doctrina Christiana), in: P. Sigisbert Mitterer (Hg.): Des heiligen Kirchenvaters Aurelius Augustinus ausgewählte praktische Schriften homiletischen und katechetischen Inhalts. München 1925, S. 50. Lateinische Belege aus: Patrologiae Cursus Completus, Ser. lat. 34, (Augustinus Bd. 3,1), S. 36. 32 Mit dieser Überlegung beziehe ich mich auf Michel Riffaterres Essay La syllepse intertextuelle (Poétique 1979, S. 496–501). »Le texte littéraire«, schreibt Riffaterre dort, »n’est donc pas simplement un ensemble de lexèmes organisés en syntagmes, mais un ensemble de présuppositions d’autres textes« (S. 496). Den semantischen Effekt dieser Text-Text-Beziehungen bezeichnet Riffaterre nicht mit dem üblichen Terminus sens, sondern mit Julia Kristevas Alternativbegriff signifiance, der eine nicht stillzustellende Dynamik, ein »engendrement illimité et jamais clos« (Julia Kristeva: La révolution du langage poétique. Paris 1974, S. 15) andeutet: »La signifiance«, führt
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umso deutlicher die Selbstreflexivität von Musils Text zu Tage. Vermerkt dieser, die Fliege habe sich nur »aus Konvention« (F 476) auf dem Fliegenpapier niedergelassen, so ist diese Reminiszenz an die stattliche Reihe literarischer Fliegentode vor allem als selbstreferentielles Signal zu lesen, mit dem die Aufmerksamkeit auf die literarischen Darstellungstechniken wie auch auf den medienanalytischen Anspruch des Textes gelenkt wird. Das poetologische Programm des Fliegenpapiers wird dabei sehr bewusst gegen den locus classicus der Beschreibungskritik, Lessings Traktat Laokoon, entfaltet, dessen Hauptforderung der literarischen Mimesis gilt: »Der Poet«, schreibt Lessing, habe die Ideen, die er in uns erwecket, so lebhaft [zu] machen, daß wir in der Geschwindigkeit die wahren sinnlichen Eindrücke ihrer Gegenstände zu empfinden glauben, und in diesem Augenblicke der Täuschung, uns der Mittel, die er dazu anwendet, seiner Worte bewußt zu sein aufhören.33
Durch den Dialog mit Brockes’ und Kellers Gedichten staut Musils Text hingegen den diegetischen Sog in vergleichbarer Weise wie in seinen deskriptiven Passagen und exponiert stattdessen seine Darstellungsmittel,34 lässt den Riffaterre aus, »résulte des rapports entre [des] mots et des systèmes verbaux extérieurs au texte« (Riffaterre: La syllepse, S. 496). 33 Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon oder über die Grenzen von Malerei und Poesie, in: Ders.: Werke und Briefe. Bd. 5/2: Werke von 1766–1769. Hg. von Wilfried Barner. Frankfurt a. M. 1990, S. 124, Hervorhebung H. D. 34 »La narration«, argumentiert Gérard Genette in seinen Ausführungen über die Frontières du récit (in: Ders.: Figures II: Essais. Paris 1969, S. 49–69) zunächst ganz in Lessings Sinn, »s’attache à des actions ou des événements considérés comme purs procès, et par là même elle met l’accent sur l’aspect temporel et dramatique du récit; la description au contraire, parce qu’elle s’attarde sur des objets et des êtres considérés dans leur simultanéité, et qu’elle envisage les procès eux-mêmes comme des spectacles, semble suspendre le cours du temps et contribue à étaler le récit dans l’espace« (S. 59). Genettes Bewertung dieses Phänomens erweist sich jedoch als konträr zu Lessing, nennt er doch im Unterschied zur Narration, die »plus active« sei, die Beschreibung »plus contemplative et donc, selon un équivalence traditionelle, plus ›poetique‹« (S. 60). – Ganz anders sieht das bekanntlich Georg Lukács in seinem 1936, dem Erscheinungsjahr von Musils Nachlaß zu Lebzeiten, verfassten Traktat Erzählen oder beschreiben?: »Aber das intensive Leben der Gegenstände? Aber die Poesie der Dinge? Die dichterische Wahrheit dieser Beschreibungen? Solche Fragen könnten uns Verehrer der naturalistischen Methode entgegenhalten. Diesen Fragen gegenüber muß man auf die Grundfragen der epischen Kunst zurückgehen. Wodurch werden die Dinge in der epischen Poesie poetisch? Ist es wirklich wahr, daß eine noch so virtuose, das technische Detail einer Erscheinung, des Theaters, der Markthalle, der Börse usw. noch so genau berücksichtigende Beschreibung die Poesie des Theaters oder der Börse wiedergibt? Wir erlauben uns, daran zu zweifeln. […] Das Theater oder die
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Leser genauso wenig von der Betrachtung seiner Machart loskommen wie das Fliegenpapier die Fliege: »Ich höre in jedem Worte den arbeitenden Dichter, aber das Ding selbst bin ich weit entfernet zu sehen«.35 Die Pointe von Lessings Äußerung – dieser richtet sie als Invektive an die Adresse von Albrecht von Hallers ›schilderungssüchtigem‹36 Gedicht Die Alpen – kann man (in Verkehrung ihrer ursprünglichen Intention) als poetologischen Clou von Musils Textverfahren begreifen. Das Fliegenpapier führt die Auseinandersetzung mit Lessing dabei nicht nur implizit, sondern auch ganz offen ironisch, indem es den Todeskampf des Insekts in seinen extremen Momenten vorführt. Hält Lessing im Zusammenhang mit der Diskussion über den Schrei des leidenden Laokoon einen Augenblick nur dann für darstellungstauglich, wenn dieser der Einbildungskraft noch Spielraum zur Entfaltung lässt – wozu sich »kein Augenblick […] weniger« eignet als »die höchste Staffel […] eines Affects«, weil »über ihr […] weiter nichts«37 ist –, so präsentiert Musils Text die Fliege in »der äußersten Anstrengung« und fügt süffisant hinzu, dass dabei das Insekt »im sportlichen Ausdruck […] wahrer« sei »als Laokoon« (F 476). Es bleibt also festzuhalten, dass das Fliegenpapier seinen initialen deskriptiven Gestus dazu nutzt, um seine eigenen Verfahren nachhaltig in den Vordergrund zu spielen. Die Beschreibung steht, ungeachtet ihrer Geste szientifischer Präzision, nicht für gelingende Mimesis, nicht für die zielgerichtete Hinführung des Textes zu einer gesicherten Botschaft. Das Fliegenpapier fordert vielmehr ein Leseverhalten, das sich nicht naiv dem diegetischen Fluss des Textes anvertraut, sondern auf jene Momente achtet, die sich dieser TextFinalität in den Weg stellen: auf Glieder einer – wie Roland Barthes formuliert – »aspektuel[ ] durative[n], aus einer schwankenden Folge von Stasen bestehende[n] Achse«, welche die »eigentliche[ ] chronologische[ ] – oder diachronische[ ] oder diegetische[ ] – Achse« der »narratio« kreuzt.38
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Börse ist ein Knotenpunkt menschlicher Bestrebungen, ein Schauplatz oder ein Schlachtfeld der kampfvollen Wechselbeziehungen der Menschen zueinander. Und nur in diesem Zusammenhang, nur indem das Theater oder die Börse die menschlichen Beziehungen vermitteln, indem sie als unerläßliche konkrete Vermittlung für konkrete menschliche Beziehungen erscheinen, werden sie in der Vermittlungsrolle, durch die Vermittlungsrolle dichterisch bedeutsam, poetisch« (Georg Lukács: Erzählen oder beschreiben? Zur Diskussion über den Naturalismus und Formalismus, in: Ders.: Probleme des Realismus I. Neuwied 1971, S. 197–242, hier S. 221 f.). Lessing: Laokoon, S. 126. Vgl. Lessing: Laokoon, S. 15. Lessing: Laokoon, S. 32. Roland Barthes: Die alte Rhetorik, in: Ders.: Das semiologische Abenteuer. Frankfurt a. M. 1988, S. 15–101, hier S. 84.
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Einmal mehr verfolgt Musil diese Strategie mit dem wohl auffälligsten stilistischen Merkmal seiner Kurzprosa: mit jenen Vergleichsreihen, die – ähnlich wie die skizzierten Intertexte – ein Paradigma äquivalenter Ausdrucksmöglichkeiten, von denen üblicherweise nur eines ausgewählt wird, auf die syntagmatische Achse abbilden.39 Mehr als zwanzig Vergleiche drängen sich auf den knapp zwei Druckseiten des Textes, oft zu regelrechten Blöcken aneinander geschmiedet: »So liegen sie [= die Fliegen, H. D.] da. Wie gestürzte Aeroplane, die mit einem Flügel in die Luft ragen. Oder wie krepierte Pferde. Oder mit unendlichen Gebärden der Verzweiflung. Oder wie Schläfer« (F 477). Fast wie bei einer Diashow oder – medienhistorisch korrekter gesagt – bei einem Laterna magica-Vortrag40 bremst der Text mit dieser eigenwilligen Vergleichsreihe sein Erzähltempo ab. Die präsentierten Bilder verketten sich nicht zu einem konsistenten Textfluss,41 sondern lenken den Aspekt auf das medientheoretische Kernstück von Musils Textverfahren, die Schnittstelle zwischen Text und Bild. Gegen das Vorurteil des common sense, dem zufolge Bilder ein-leuchten, begriffslose Sinn-Präsenz offerieren, hebt das Fliegenpapier hervor, dass die Vertextung von bildlichen Tableaus ganz im Gegenteil der gediegenen Entfaltung von Sinn zuwiderlaufen kann. Bildlichkeit impliziert für Musil das Fehlen eines geregelten Syntagmas, einer eindeutigen Leserichtung, so dass sich auf der Bildfläche unendliche Verkettungsmöglichkeiten der Zeichen ergeben. Genau diesen Aspekt der Bildsemiotik hat Musil im Auge, wenn er anlässlich der Neuveröffentlichung seiner beiden Novellen Vereinigungen äußert: »Der Fehler dieses Buchs ist, ein Buch zu sein. Daß es einen Einband hat, Rücken, Paginierung. Man sollte zwischen Glasplatten ein paar Seiten
39 Vgl. dazu Jakobsons bekannte Überlegung: »Die Selektion vollzieht sich auf der Grundlage der Äquivalenz, der Ähnlichkeit und Unähnlichkeit, der Synonymie und Antinomie, während der Aufbau der Sequenz auf Kontiguität beruht«. »Die poetische Funktion projiziert« nun, so Jakobson weiter, »das Prinzip der Äquivalenz von der Achse der Selektion auf die Achse der Kombination«, eine Operation, durch welche die »Spürbarkeit der Zeichen« erhöht wird (Roman Jakobson: Linguistik und Poetik, in: Ders.: Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921–1971. Hg. von Elmar Holenstein, Frankfurt a. M. 1979, S. 83–121, hier S. 93 u. 95). 40 Vgl. dazu Joachim Paech: Literatur und Film. Stuttgart 1988, S. 10 (vgl. auch Anm. 49). 41 Es würde sich allerdings auch lohnen, jene Bildspender von Musils Vergleichen, die Ewout van der Knaap mit den Schlagwörtern »Militarismus und Futurismus, Primitivismus, Neue Sachlichkeit und Sport« (van der Knaap: Musils filmischer Blick, S. 166) umreißt, in einem analytischen Gang auch ins kulturelle Paradigma des Textes näher zu beleuchten.
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davon ausbreiten u. sie von Zeit zu Zeit wechseln. Dann würde man sehen, was es ist – – –«.42 Dieser Gedanke ist medientheoretisch im Hinblick auf eine implizite Fotografiedebatte in Musils Texten aktualisiert worden. Auf der Tatsache, dass sich die Zeichen des fotografierten Bildes nicht sukzessive in die Zeitlichkeit verlieren, dass sie vielmehr nebeneinander stehen bleiben statt nacheinander zu verschwinden, beruht, wie Martina Wagner-Egelhaaf formuliert, ein »der [naturalistischen] Intentionalität zuwiderlaufender Effekt« der Fotografie.43 Auf den Film, den bevorzugten bildlichen Dialogpartner der modernistischen Literatur, trifft diese Einschätzung freilich prima facie nicht zu. Denn der kinematographische Illusionismus kommt durch nichts anderes als einen technisch implementierten Bilderfluss zustande, in dem 24 Bilder pro Sekunde an den Zuschauern vorbeirauschen, ohne dass sie die Übergänge zwischen denselben wahrnehmen oder den visuellen Strom anhalten könnten. Dennoch erweist sich die Kinematographie als entscheidende poetologische Anregung von Musils Text. Dieser rückt nämlich die Verfahren des Films gegenläufig zu ihrer (Re-)Produktionslogik in den Blick und nutzt dies zu einer antimimetischen Pointe.44 So widmet sich das Fliegenpapier an seinem Ende in einer mikroskopischen Großaufnahme einem augenähnlichen Organ am Leib der Fliege, das in seiner Funktionsweise an ein Kameraobjektiv erinnert: Und nur an der Seite des Leibs, in der Gegend des Beinansatzes, haben sie irgend ein ganz kleines, flimmerndes Organ, das lebt noch lange. Es geht auf und zu, man kann es ohne Vergrößerungsglas nicht bezeichnen, es sieht wie ein winziges Menschenauge aus, das sich unaufhörlich öffnet und schließt (F 477, Hervorhebung H. D.).
Diese Makroaufnahme des Fliegenkörpers ist in ihrer Wirkung mit jener medial bewirkten Wahrnehmungsveränderung zu vergleichen, die Musil in dem Text Triëdere im Hinblick auf den Fernrohrblick skizziert hat: »Man sieht Dinge immer mitsamt ihrer Umgebung an und hält sie gewohnheitsmäßig für das, was sie darin bedeuten. Treten sie aber einmal heraus, so sind sie unverständlich und schrecklich, wie es der erste Tag nach der Weltschöpfung gewesen sein mag, ehe sich die Erscheinungen aneinander und an uns ge-
42 Musil: Tagebücher, S. 347. 43 Martina Wagner-Egelhaaf: ›Wirklichkeitserinnerungen‹. Photographie und Text bei Robert Musil, in: Poetica 23 (1993), S. 217–256, hier S. 239. 44 Zur Verbindung des Fliegenpapiers mit dem Diskurs über den Film vgl. auch van der Knaap: Musils filmischer Blick, S. 172–176.
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wöhnt hatten«.45 Der verfremdete Blick auf das ›Kameraobjektiv‹ am Fliegenleib betont also nicht bloß allgemein »die Beziehung des beobachteten Gegenstandes zum menschlichen Beobachter«,46 sondern stilisiert das Wahrnehmungsobjekt selbst buchstäblich zum Reflex medial ermöglichter Schaulust, wie sie sich zu Musils Zeiten am prominentesten in der Kinematographie präsentiert. Dabei wird die Aufmerksamkeit auf die filmische Verfahrensweise gelenkt, die zu verbergen gerade die Absicht der üblichen Projektionsverfahren ist: »Flimmern«, erläutert Christoph Hoffmann, entsteht bei der Abblendung des Bildes während des Filmtransports. Bemerkbar werden die Helldunkel-Schwankungen, wenn die kritische Frequenz unterschritten wird, bei der die Erregungskurven der positiven Nachbilder auf der Retina sich optimal überlagern. Um das Flimmern zu vermeiden, sind bei den damals noch nicht sonderlich intensiv strahlenden Projektionslampen etwa 70 Expositionen pro Sekunde nötig, technisch möglich waren um die Jahrhundertwende aber maximal 30–35 Expositionen pro Sekunde.47
Musils Text macht das »flimmernde[ ] Organ« der Kinematographie hingegen zu seiner poetologischen Leitmetapher und setzt damit auf einen unerwünschten Effekt aus den Kindertagen der bewegten Bilder, der medientechnisch während der Textgeschichte des Fliegenpapiers – von der ersten Tagebuchnotiz aus dem Jahr 1913 bis zur Buchveröffentlichung im Nachlaß zu Lebzeiten (1936) – überwunden worden ist, gelingt es dem »Kino« doch »mit fortschreitender Technik« mehr und mehr, seine – so Musil ironisch – »Liebe zum Dasein«, d. h. seinen Illusionismus zu perfektionieren.48 Das Fliegenpapier tut hingegen sein literarisch Bestes, um das Flimmern als Illusionsstörung am Leben zu erhalten, das Tempo so weit zu drosseln, dass die dargestellten Gegenstände wieder fremd werden.49
45 Robert Musil: Triëdere, in: Ders.: Prosa und Stücke, S. 520 f. 46 Lange: Musils Fliegenpapier, S. 457. 47 Christoph Hoffmann: ›Heilige Empfängnis‹ im Kino. Zu Robert Musils Die Verwirrungen des Zöglings Törleß (1906), in: Michael Wetzel (Hg.): Der Entzug der Bilder: Visuelle Realitäten. München 1994, S. 193–211, hier S. 209. 48 Musil: Triëdere, S. 522. 49 Neben dem Flimmern als unerwünschtem Effekt der Kinematographie könnte man in diesem Zusammenhang auch die um 1900 populären so genannten »Reihenfilme« nennen, die – wie Joachim Paech ausführt – »szenische[ ] Tableau[s] wie im Theater« präsentierten, wobei keine Einstellung eine »direkte Verbindung zu den benachbarten Einstellungen« aufwies (Paech: Literatur und Film, S. 9 f.). Einer weiteren Form dieser frühen massenmedialen Bilderreihen, die des Bewegungseffekts ermangeln, setzt Walter Benjamin in seiner Berliner Kindheit um neunzehnhundert ein Denkmal, dem Kaiserpanorama: »Musik, die Reisen mit dem Film so erschlaffend macht, gab es
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Nimmt man unter diesem Aspekt noch einmal die angesprochene Vergleichskette vor (»So liegen sie da. Wie gestürzte Aeroplane, die mit einem Flügel in die Luft ragen. Oder wie krepierte Pferde. Oder mit unendlichen Gebärden der Verzweiflung. Oder wie Schläfer« [F 477]), dann drängt sich für die darin vollzogene Reihenbildung eine Lesart auf, nach der sie als metapoetischer Blick auf die Illusionsverfahren des Films verstanden werden kann. »Der Film, das bewegte Bild«, resümiert Gotthart Wunberg das gängige Knowhow über dessen Verfahren, »entsteht bekanntlich durch die Aneinanderreihung isolierter, voneinander nur wenig unterschiedener Bilder, deren Verhältnis zueinander nicht verändert wird. Auf diese Weise ergibt sich auf der Leinwand für den Betrachter (der Schein der) Bewegung«.50 Überträgt man dieses Verfahren jedoch auf einen literarischen Text, so ist der Effekt keineswegs illusionistisch: »Nicht beliebige Anhäufung, sondern geordnete garantiert die angestrebte Bewegung; Reihung eben. Daß die Sequenz die Partikeln nicht anders als durch diese selbst miteinander verbindet, ist Voraussetzung. Dieses filmische Phänomen korreliert direkt dem der ›asyndetischen Reihung‹ in der Literatur«.51 Und diese zeichnet, so Wunberg weiter, verantwortlich für die so genannte »Lexemautonomie«,52 also für jenen modernistischen Effekt, der die Wörter aus dem Textzusammenhang herausspringen lässt und ihnen zu Lasten der Narration Eigengewicht verleiht. Mit der zur Debatte stehenden Vergleichsreihe aus dem Fliegenpapier wird dieser Effekt gewissermaßen wieder auf den Film zurückgeblendet, in-
im Kaiserpanorama nicht. Mir schien ein kleiner, eigentlich störender Effekt ihr überlegen. Das war ein Klingeln, welches wenige Sekunden, ehe das Bild ruckweise abzog, um erst eine Lücke und dann das nächste freizugeben, anschlug« (Walter Benjamin: Berliner Kindheit um neunzehnhundert [Fassung letzter Hand], in: Ders.: Gesammelte Schriften. Hg. von Rolf Tiedemann, Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt a. M. 1989, Bd. VII.I, S. 388). Das literarische Interesse an nur mangelhaft illusionistischen Vorformen des Kinos ist natürlich immer ein Interesse pro domo. Denn – so Friedrich Kittlers bekannte These – in Sachen Mimesis kann die Literatur nicht mit der »triumphalen Konkurrenz« des Illusionsmediums Kino mithalten (Friedrich Kittler: Aufschreibesysteme, S. 312 ff. u. ö.). Was bleibt ihr also anderes übrig, als sich auf ihre eigenen Verfahren zu konzentrieren und – so ließe sich anschließen – zugleich diejenigen der Kinematographie entgegen ihrem illusionären Anspruch ins Bewusstsein zu rücken? 50 Wunberg: Unverständlichkeit, S. 342. 51 Wunberg: Unverständlichkeit, S. 342. 52 Wunberg: Unverständlichkeit, S. 341; vgl. auch Baßler u. a.: Historismus, S. 4 f., 140 f.
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dem sie jenen Aspekt des Filmmaterials sichtbar macht, den die Projektionstechnik mit einer Umlaufblende, dem so genannten Malteserkreuz, unsichtbar zu machen sucht, die schwarzen Balken, welche die Filmbilder in schöner Einförmigkeit voneinander trennen. In vergleichbarem Sinne funktioniert nämlich das polysyndetische »oder«, das beim Lesen des Fliegenpapiers zum Einhalten zwingt und den parzellierten Eindruck des Textes verstärkt. Man kann den Film, den Wunberg gemessen am Anspruch modernistischer Literatur als »regressiv« begreift, weil er »die Lexemautonomie rückgängig«53 mache, also durchaus auch – wie Musil – gegen seine Illusionsverfahren lesen, beispielsweise in Einzelaufnahmen zerlegen,54 ein Unterfangen, das schon dem Erzähler der Verwirrungen des Zöglings Törleß aus Unbehagen an der kinematographischen Illusion vorgeschwebt hat: Nie ›sah‹ er [= Törleß, H. D.] Basini irgendwie in körperlicher Plastik und Lebendigkeit irgendeiner Pose, nie hatte er eine wirkliche Vision: immer nur die Illusion einer solchen, gewissermaßen nur die Vision seiner Visionen. Denn immer war es in ihm, als sei soeben ein Bild über die geheimnisvolle Fläche gehuscht, und nie gelang es ihm im Augenblicke des Vorganges selbst, diesen zu erhaschen. Daher war beständig eine rastlose Unruhe in ihm, wie man sie vor einem Kinematographen empfindet, wenn man neben der Illusion des Ganzen doch eine vage Wahrnehmung nicht loswerden kann, daß hinter dem Bilde, das man empfängt, hunderte von – für sich betrachtet ganz anderen – Bildern vorbeihuschen.55
53 Wunberg: Unverständlichkeit, S. 343. Dem lässt sich freilich entgegenhalten, dass der frühe Film noch keineswegs von realistischen Narrationen, sondern von semantisch überaus instabilen Attraktionswerten dominiert gewesen ist, eine Tradition, die sich – so Tom Gunning – als untergründige Praktik bis in heutige Tage fortsetzt (Tom Gunning: The Cinema of Attractions, in: Thomas Elsaesser [Hg.]: Early Cinema: space, frame, narrative. London 1990, S. 156–161, hier S. 157). 54 Dies ist auch das Verfahren, das Roland Barthes in seiner Analyse einiger EisensteinStills wählt: Roland Barthes: Der dritte Sinn. Forschungsnotizen über einige Fotogramme S. M. Eisensteins, in: Ders.: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn: Kritische Essays III. Aus dem Französischen von Dieter Horning. Frankfurt a. M. 1990, S. 47–66, hier bes. S. 64 ff. 55 Robert Musil: Die Verwirrungen des Zöglings Törleß, in: Ders.: Prosa und Stücke, S. 90 f. Zu Recht hebt Volker Mergenthaler hervor, dass diese »Einschätzung des Erzählers […] gewissermaßen transzendental [ein] stete[s], die Illusionierung aufschiebende[s] Bewußtsein der ›Wahrnehmung‹« wachhält, weshalb »ein Anschein von Plastizität […] und ›Lebendigkeit‹ gewährenden ›unmittelbaren‹ Bildeindrücken […] nicht zustande« kommt (Volker Mergenthaler: Sehen schreiben – Schreiben sehen. Literatur und visuelle Wahrnehmung im Zusammenspiel. Tübingen 2002, S. 310). Mergenthaler schließt daraus, dass »die Kinematographie« als »Reflexionsfigur poe-
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Die Zerlegung des Bilderflusses fußt dabei auf jener Textstrategie, mit welcher der narrative Fortlauf gebremst und annähernd in ein deskriptives Standbild sistiert wird. Gegen die poetologischen Postulate aus Lessings Laokoon präsentiert das Fliegenpapier seine Protagonisten denn auch »in einer ungünstigen Lage fixiert«, durch die »ihre Bewegungen […] unnatürlich« (F 477) werden. Entsprechend dehnt der Text mittels sukzessiver Sprungraffung das Sterben der Fliegen auf mehrere Tage: »Noch am nächsten Tag wacht manchmal eine [Fliege, H. D.] auf, tastet eine Weile mit einem Bein oder schwirrt mit dem Flügel. Manchmal geht solch eine Bewegung über das ganze Feld« (F 477).56 Und das wenn nicht Widernatürliche, so doch zumintologische Funktion« übernimmt, deren Akzent auf Des-Illusionierung liegt (ebd., S. 315). 56 Nicht umsonst erinnert die Vokabel »Feld« dabei an ein Schlachtfeld. Paul Virilio hat darauf hingewiesen, dass »Schlachtfeld« und »Wahrnehmungsfeld […] von Anfang an« miteinander zusammenhängen, dass »die Kinematik und die Kriegsfliegerei und der von ihr bewirkte Zusammenbruch des räumlichen Kontinuums und der atemberaubende Fortschritt der Kriegstechnologien seit 1914 die alte homogene Sicht buchstäblich zum Platzen gebracht und zur Heterogenität der Wahrnehmungsfelder geführt« haben (Paul Virilio: Krieg und Kino. Logistik der Wahrnehmung. Frankfurt a. M. 1994, S. 35). Virilios Theorie findet eine erstaunliche biographische Entsprechung bei Musil. Denn dieser befindet sich als Soldat während der Isonzoschlachten des Ersten Weltkriegs, wie Christian Rogowski formuliert, nicht nur im »Mittelpunkt der Weltgeschichte«, sondern auch am »Rand der Filmgeschichte«, werden diese Schlachten doch aus Propagandagründen ausgiebig im Dokumentarfilm festgehalten (Christian Rogowski: ›Ein andres Verhalten zur Welt‹. Robert Musil und der Film, in: Sprachkunst 23 [1992], S. 105–118, hier S. 108. Vgl. ferner: Helmut Korte: Der Krieg und das Kino: Von Weihnachtsglocken [1914] bis Gewehr über! [1918], in: Ders., Werner Faulstich [Hg.]: Fischer Filmgeschichte. Band 1: Von den Anfängen bis zum etablierten Medium 1895–1924. Frankfurt a. M. 1994, S. 315). Das Martialische im Fliegenpapier stellt sich bei einem Blick auf die Entstehungsgeschichte des Textes interessanterweise als eine Art nachträgliche Besetzung heraus. Denn die erste Fassung des Textes stammt aus dem römischen Tagebuchheft mit der Nummer 7, das aus der Zeit zwischen März 1913 und Januar 1914 stammt (Musil: Tagebücher, S. 284 f.). Im Heft I des Tagebuchs, das während der Isonzoschlachten entsteht, findet sich dann eine Notiz, die auf das ›Ur-Fliegenpapier‹ Bezug nimmt: »Ende Juli. Eine Fliege stirbt: Weltkrieg« (Musil: Tagebücher, S. 309). Und im einzigen erzählenden Text, den Musil für die Soldaten-Zeitung verfasste – deren Redakteur er von 1916 bis 1917 war – findet sich ebenfalls eine Reminiszenz an den Krieg als Wahrnehmungstableau: »Für den nächsten Tag wurde der Angriff festgesetzt. […] Artillerie begann langfingrig hinzutasten; um 10 Uhr vormittags fällt ihr Chor ein und das Wirkungsschießen beginnt; die ersten Infanterielinien lösen sich aus Busch und Stein, verschwinden, das Gelände beginnt von ihnen zu flimmern, füllt sich mit etwas unruhig Unwahrnehmbaren« (Robert Musil: Aus der Geschichte eines Regiments, zit. nach: Karl Corino: Robert Musil. Leben und Werk in Bildern und Texten. Reinbek bei Hamburg 1988, S. 246, Hervorhebung H. D.). Ohne deren medienhistorischen
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dest Ungewöhnliche und Verstörende dieses Prozesses wird durch die bemerkenswerte Fortführung unterstrichen: »dann sinken sie alle noch ein wenig tiefer in ihren Tod« (F 477). Die Pointe von Musils literarischer Etüde über Beschreibung und Kino – so lässt sich resümieren – besteht darin, dass der Naturalismus der kinematographischen Bewegungserzeugung durch die literarische Umsetzung der filmischen Simulationstechniken unterlaufen wird. Bei diesem Unternehmen wird das Syntagma bzw. der Bilderfluss in Einzelteile zerlegt. Der medientheoretische wie narratologische Fluchtpunkt dieser Operation ist mit Musils – von Béla Balász’ filmtheoretischer Schrift Der sichtbare Mensch angeregten – Ansätzen zu neuer Ästhetik aus dem Jahr 1925 zu bestimmen: Abgezielt wird auf eine »Sprengung des normalen Totalerlebnisses«,57 eine Zergliederung jener durch bewegte Bilder implementierten »Verbindung und Verarbeitung der Eindrücke«, mit welcher der Film »scheinbar stärker als jede andere Kunst an die billigste Rationalität und Typik gekettet«58 ist. Die aus dieser Auflösung resultierenden Einzelbilder sind für sich genommen dagegen nie »restlos zu beschreiben«,59 stehen also paradigmatisch für »die ganze Unendlichkeit und Unausdrückbarkeit, welche alles Daseiende hat – gleichsam unter Glas gesetzt dadurch, daß man es nur sieht«.60 Auf diese Weise profitiert nicht nur der Film von der semiologischen Reflexivität der Sprache, umgekehrt wird auch der Film für den Text, für das Erzählen, zum »Spekulationsterrain«,61 zu einem »unerwartete[n] Paradigma […] für die Kritik der Literatur«.62 Robert Musils Fliegenpapier bestätigt mithin die These des Kunsthistorikers Jonathan Crary, »daß die meisten weitverbreiteten Mittel, ›realistische‹ Effekte in der Sehkultur der Massen zu erzeugen, […] tatsächlich auf einer radikalen Abstraktion und Neustrukturierung der optischen Erfahrung fußten«,63 und führt darüber hinaus vor, wie sich diese visuellen Verfahren als Modell für eine avanciert moderne Prosa nutzen lassen. In diesem anti-naturalistischen Geschäft erweist sich die janusköpfige Des-
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Aspekten nachzugehen, verweist auch Thomas Hake: ›Gefühlserkenntnisse und Denkerschütterungen‹ (S. 42 f.) auf die Kriegsmetaphorik von Musils Text. Robert Musil: Ansätze zu neuer Ästhetik: Bemerkungen über eine Dramaturgie des Films, in: Ders.: Prosa und Stücke, S. 1145. Musil: Ansätze zu neuer Ästhetik, S. 1148. Musil: Ansätze zu neuer Ästhetik, S. 1149. Musil: Ansätze zu neuer Ästhetik, S. 1148 (vgl. auch Anm. 42). Musil: Ansätze zu neuer Ästhetik, S. 1145. Musil: Ansätze zu neuer Ästhetik, S. 1138. Jonathan Crary: Techniken des Betrachters. Sehen und Moderne im 19. Jahrhundert. Dresden 1996, S. 20.
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kription als entscheidende Initiatorin, wird ihr empiristischer Eifer doch – wie schon Lessing gezeigt hat – von einer Selbstbezüglichkeit ihrer Verfahren konterkariert. Man kann daher die These, dass sich die Beschreibung von Lessings Kritik niemals »ganz zu erholen vermochte«,64 so nicht unterschreiben. Ihre – mimetisches Interesse am visuellen Eindruck suggerierenden, im Kern aber antimimetischen – Verfahren machen die Deskription vielmehr zu einer für die Moderne, insbesondere für die Erkundung der Schnittstelle zwischen Film und Literatur, überaus attraktiven Darstellungsform.
64 Inka Mülder-Bach: Im Zeichen Pygmalions. Das Modell der Statue und die Entdeckung der »Darstellung« im 18. Jahrhundert. München 1998, S. 109.
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Grenztilgung und Identitätskrise. Zu Musils Törleß und Drei Frauen Im Folgenden sollen Musils Erzählungen in ihrem Bezug zum Literatursystem der Moderne analysiert und interpretiert werden, dies mag auf den ersten Blick ein unnötiges Unternehmen sein, ist es doch unbestritten, dass Musils Erzählungen zur Moderne gehören, auch wenn von »geschwächter Moderne« die Rede ist.1 Auch wurde schon mehrfach auf das Problem der Identitätskrise hingewiesen.2 Andererseits kursieren so viele Auffassungen von dem, was Moderne sei, wozu eine unhistorische Benjamin-Rezeption, eine verkürzte Rezeption der Schriften von Foucault und der grenzenlose Dekonstruktivismus das ihre beigetragen haben. Gemeinsam ist diesen Richtungen, dass sie nicht historisch arbeiten, was sich schon daran zeigt, dass gewisse Autoren so weit gehen, Musil für die Postmoderne zu reklamieren, wie wenn es möglich wäre, dass ein Autor aus dem historischen System, dem er nun einmal notgedrungen angehört, aussteigen könnte und sich in ein anderes zu seiner Zeit noch gar nicht bestehendes System integrieren könnte.3 Andere wiederum setzen die Moderne bereits im 18. Jahrhundert an, was wenig erhellend ist. Dies alles wird möglich, weil die Kriterien für die Epochenzuordnung äußerst vage und vor allem so beschaffen sind, dass sie nicht zu einer aussagekräftigen Abgrenzung zu anderen Epochen führen, zudem findet gerade bei den Richtungen, welche sich als diskursanalytisch verstehen, 1 So z. B. Christian Dawidowski: Die geschwächte Moderne. Robert Musils episches Frühwerk im Spiegel der Epochendebatte. Frankfurt a. M. 2000. 2 Siehe z. B. Martin Siegel: Identitätskrise als Beziehungskonflikt: Robert Musils Erzählungen vor dem Problem gefährdeter Intersubjektivität. St. Ingbert 1997, wo aber nicht eigentlich die Identitätskrise analysiert wird. 3 Selbstverständlich heißt das nicht, dass man einen Autor nicht immer wieder neu und aktualisierend lesen kann, aber zwischen einer solchen Lektüre und einer das Bedeutungspotential rekonstruierenden wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Text wäre zu unterscheiden. Siehe U. Ecos Unterscheidung von »Gebrauch des Textes« und »Interpretation des Textes«, in: Umberto Eco: Die Grenzen der Interpretation. München 1990, insbesondere S. 35 ff.
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keine Unterscheidung zwischen künstlerischen und philosophischen Ausdrucksformen statt, auf die es Musil gerade ankam.4 Dass es möglich ist, epochale semantische Strukturen in der Terminologie der Literaturwissenschaft zu beschreiben, zeigen die Arbeiten von Marianne Wünsch und Michael Titzmann. Auf der Grundlage eines quantitativ großen Materials beschreiben sie epochenspezifische semantische Strukturen. Sie fragen nach der semantischen Konstruktion von Welten und den in ihnen handelnden Personen. In ihrer Untersuchung Vom späten »Realismus« zur »Frühen Moderne« stellt Marianne Wünsch eine Reihe von Transformationen zwischen Realismus und Moderne fest, welche die Konstruktion der Figur und das Normensystem betreffen.5 Wurde im Realismus das Nicht-Bewusste und Nicht-Moralische aus der Person ausgegrenzt, werden in der Frühen Moderne die unbewussten und unrealisierten Bestandteile der Person zentral, zu welchen auch Normverletzungen gehören. Ja, es können auch psychopathologische Sachverhalte dargestellt werden, welche im Realismus aus der Literatur ausgegrenzt wurden. Auffällig gerade auch im Hinblick auf Musil ist, dass in der Epoche der Moderne die Identität des Individuums am Ende der Jugendphase nicht festgelegt ist, sondern dass das Individuum als Potentialität konzipiert wird, aus der immer neue Existenzen generiert werden können. Dies kann andererseits zum Verlust der Identität bzw. der Verunsicherung oder Ungewissheit von Ich-Grenzen führen.6 Grenzziehung bzw. Grenztilgung wird von Titzmann als zentral für die Literatursysteme des Realismus bzw. der Moderne betrachtet. Grenzziehung bzw. Grenztilgung wird von Titzmann als zentral für die Literatursysteme des Realismus bzw. der Moderne betrachtet.7 Sich auf Lotman beziehend, der ein Ereignis als Überschreitung einer Grenze zwischen zwei semantischen Räumen definiert, stellt Titzmann
4 Kennzeichnend für die Art von Kriterien, die verwendet werden, scheint mir die im Gefolge der Benjamin-Interpretation hochgespielte Figur des Flaneurs zu sein, der seinerseits nie in seinen epochenspezifischen Kontext gestellt wird, er ist ja selbst nur wieder ein Produkt der epochalen Strukturen, und zum andern zur Analyse der meisten Texte der Moderne nichts hergibt. Ähnlich ist der Moderne-Begriff Baudelaires, wie er von H. R. Jauß lanciert wurde, wenig erhellend für die konkrete Analyse semantischer Strukturen. 5 Marianne Wünsch: Vom späten Realismus zur »Frühen Moderne«: Versuch eines Modells des literarischen Strukturwandels, in: Michael Titzmann (Hg.): Modelle literarischen Strukturwandels. Tübingen 1991, S. 187–203. 6 Wünsch: Vom späten Realismus, S. 193. 7 Michael Titzmann: ›Grenzziehung‹ vs. ›Grenztilgung‹. Zu einer fundamentalen Differenz der Literatursysteme ›Realismus‹ und ›Frühe Moderne‹, in: Hans Krah, ClausMichael Ort (Hg.): Weltentwürfe in Literatur und Medien. Phantastische Wirklich-
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für den Realismus Konstanz der Grenzziehung fest, während die Frühe Moderne keine oppositionellen disjunkten semantischen Räume mehr kennt, sondern diese durch eine Weltstrukturierung ersetzt, welche auf graduellen Unterschieden beruht und damit auch eine klare Grenzziehung verhindert. Die Auseinandersetzung mit Grenzen, das Überschreiten von Grenzen bzw. das Tilgen von Grenzen sieht Titzmann als zentral für die Literatur der Frühen Moderne: Um ein Experiment mit sich selbst handelt es sich aber in all diesen Fällen, wo das Subjekt, zufällig oder gewollt, die Grenzen in sich, die Grenzen gegen sein eigenes Unbewusstes und sein unrealisiertes Potenzial tilgt und sich auf einen Prozess der Selbstfindung und Selbstverwirklichung jenseits des tradierten Wert- und Normensystems einlässt: und damit um das Metaereignis einer Umstrukturierung der ideologischen Ordnung der Welt.8
Musil sieht die Auflösung des Festen, das Erproben von immer neuen Konstellationen und Möglichkeiten geradezu als Aufgabe der Dichtung: Während sein [des Dichters] Widerpart das Feste sucht und zufrieden ist, wenn er zu seiner Berechnung so viel Gleichungen aufstellen kann, als er Unbekannte vorfindet, ist hier von vornherein kein Ende. Die Aufgabe ist: immer neue Lösungen, Zusammenhänge, Konstellationen, Variable zu entdecken, Prototypen von Geschehensabläufen hinzustellen, lockende Vorbilder, wie man Mensch sein kann, den inneren Menschen erfinden.9
Musils Gedanken kreisen dabei auch immer um die spezifische Rolle der Literatur. Er hat immer wieder betont, dass die Literatur auf die Probleme der Zeit andere Antworten gibt als die Wissenschaft, die Philosophie oder die essayistische Abhandlung und dass sie dadurch insbesondere auch andere Erkenntnisse zu vermitteln vermag.10 Kunst kann durch ihre spezifischen Mittel wie die Betonung der Konnotation auf Kosten der Denotation und die Erzeugung von Vieldeutigkeit feste Bedeutungsstrukturen aufbrechen. In Überlegungen zur poetischen Kraft eines Satzes von Hamsun in einem Tagebuchein-
keiten und realistische Imagination. Festschrift für Marianne Wünsch. Kiel 2002, S. 181–209. Siehe auch Michael Titzmann: Das Konzept der ›Person‹ und ihrer ›Identität‹ in der deutschen Literatur um 1900, in: Manfred Pfister (Hg.): Die Modernisierung des Ich. Studien zur Subjektkonstitution in der Vor- und Frühmoderne. Passau 1989, S. 36–52. 8 Titzmann: Grenzziehung, S. 197. 9 Robert Musil: Gesammelte Werke. Hg. von Adolf Frisé. Reinbek bei Hamburg 1978, Bd. II, S. 1029. 10 Siehe etwa die Überlegungen zu Essay und Kunst in Profil eines Programms, GW II, S. 1317.
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trag von 1910 bemerkt Musil, dass »der Associationskreis« des Originalsatzes durch seine Explikation dieses Satzes nicht erschöpft wird, und er stellt zusammenfassend fest: »Diese Erklärung setzt voraus, daß die specif. über das Begriffliche hinausgehende Wirkung des dichterischen Satzes auf mitschwingenden Associationen, Anklängen, Halb- und Vierteltönen ruht.«11 Es stellt sich also die Frage, wie Musil die semantische Welt seiner Erzählungen strukturiert, wobei jetzt schon angemerkt werden kann, dass das Problem von Grenze und Grenztilgung bis in die Wortwahl bzw. bis in die Metaphern hinein präsent ist.
Törleß und die Auflösung der Grenzen Die Auflösung klarer Grenzziehungen steht im Mittelpunkt der »Verwirrungen«, die Törleß ergreifen. Gerade weil sich die scheinbar festen Grenzen zwischen dem Guten und Bösen, dem Erlaubten und Unerlaubten, aber auch dem Endlichen und Unendlichen auflösen, gerät Törleß in Verwirrung. Törleß erzählt die Geschichte von Grenzüberschreitungen eines Ichs, das seine eigenen Grenzen nicht kennt. Wie in allen seinen Erzählungen gibt Musil für etwas, was ein Epochenphänomen ist, eine Art realistische Motivation, indem er einen Adoleszenten zum Helden wählt,12 dessen Leben noch nicht gefestigt ist, der sich aber nach Festigkeit sehnt: »Dann sehnte er sich danach, endlich etwas Bestimmtes in sich zu fühlen; feste Bedürfnisse, die zwischen Gutem und Schlechtem, Brauchbarem und Unbrauchbarem schieden.«13 Das heißt nichts anderes, als dass er Grenzen ziehen möchte zwischen semantischen Welten, die so einfach nicht mehr abzugrenzen sind. Die erste Episode, die dies vorführt, ist jene mit Bozˇena, welche auf die Verhältnisse im Hause Beinebergs anspielt, wo ein Cousin Beinebergs Mutter den Hof gemacht haben soll. Durch diese Anspielungen wird Törleß dazu veranlasst, an seine eigene Mutter zu denken und sie mit Bozˇena in Beziehung zu bringen, was ihn verunsichert. Musil stellt das hier noch in einer weit realistischeren Ma-
11 Robert Musil: Tagebücher. Hg. von Adolf Frisé. Reinbek bei Hamburg 1983, Bd. 1, S. 219. 12 Der Aspekt des Törleß als Schulroman wird hier nicht berücksichtigt. Siehe dazu Matthias Luserke: Schule erzählt. Literarische Spiegelbilder im 19. und 20. Jahrhundert. Göttingen 1999. 13 Musil: Törleß, GW II, S. 42.
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nier dar als später in Drei Frauen, indem der Erzähler zunächst erklärend von den »Grenzen des Bewußtseins« spricht und dann das Wort an den reflektierenden Törleß abgibt: Es war ihm nur so durch die Grenzen des Bewußtseins geschossen – blitzschnell oder undeutlich weit – am Rande – nur wie im Fluge gesehen – kaum ein Gedanke zu nennen. […] Warum ist es nicht wie durch einen Abgrund zum Ausdruck gebracht, daß hier gar keine Gemeinsamkeit besteht? […] Dieses Weib ist für mich ein Knäuel aller geschlechtlichen Begehrlichkeiten; und meine Mutter ein Geschöpf, das bisher in wolkenloser Entfernung, klar und ohne Tiefen, wie ein Gestirn jenseits alles Begehrens durch mein Leben wandelte ….14
Hier wird auf kürzestem Raum die ganze Problematik sowohl der Personenkonstitution wie der Weltordnung thematisiert. Etwas, das sich an den Grenzen des Bewusstseins abspielt, das eigentlich gar nicht gedacht werden dürfte, dringt an die Oberfläche, nämlich die Einsicht, dass die Grenze zwischen der die geschlechtliche Begehrlichkeit repräsentierenden Bozˇena, die räumlich im Schmutz der Erde angesiedelt ist, und seiner als Gestirn entfernt am Himmel lokalisierten Mutter nicht existiert, dass es keinen Abgrund gibt zwischen den moralischen Normen und dem Normverstoß, ein Bild, das auch in Tonka wieder auftreten wird. Noch am selben Abend wird Törleß ein zweites Mal mit der Tatsache der Grenzverschiebung konfrontiert, als er von Basinis Diebstahl erfährt, der ja dann seine Fortsetzung in den Vorgängen in der Dachkammer findet. Was Törleß derart irritiert, ist, dass innerhalb der geordneten und moralischen Welt des Internats solche Verstöße gegen die ethischen Normen stattfinden, was Musil in räumlicher Metaphorik ausdrückt: Dann war es auch möglich, daß von der hellen, täglichen Welt, die er bisher allein gekannt hatte, ein Tor zu einer anderen, dumpfen, brandenden leidenschaftlichen, nackten, vernichtenden führe. Daß zwischen jenen Menschen, deren Leben sich wie in einem durchsichtigen und festen Bau von Glas und Eisen geregelt zwischen Bureau und Familie bewegt, und anderen, Herabgestoßenen, Blutigen, ausschweifend Schmutzigen, in verwirrten Gängen voll brüllender Stimmen Irrenden, nicht nur ein Übergang besteht, sondern ihre Grenzen heimlich und nahe und jeden Augenblick überschreitbar aneinanderstoßen ….15
Diese Erfahrung führt zu einer Erweiterung des Bewusstseins, in welches das vorher Ausgegrenzte einfließt, was einmal mehr in räumlicher Metaphorik
14 Musil: Törleß, GW II, S. 32 f., Hervorhebung R. Z. 15 Musil: Törleß, GW II, S. 46 f., Hervorhebung R. Z.
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ausgedrückt wird: »die verschwiegenen Verstecke« werden »aufgestoßen«, diesen Regungen wird mit »einem Schlage ein Tor zum Leben« aufgerissen: Inneres und Äußeres vermischen sich.16 Das Leben, das Törleß hier entdeckt, ist ein intensives oder gesteigertes Leben, das im Gegensatz steht zum eintönigen, mechanischen Leben der Schule.17 Der türlose Törleß, wie sein Name gedeutet wurde,18 entdeckt ein Tor nach dem andern, was seine Verwirrung erhöht, bis es zu einer eigentlichen Identitätskrise kommt im Zusammenhang mit den sexuellen Erlebnissen mit Basini, wo Törleß sich »verzweifelt an den Gedanken« klammert: »Das bin nicht ich! … nicht ich! … Morgen erst werde ich es sein! … Morgen …«,19 und später sagt er zu Basini: »Das war nicht ich … Ein Traum …«20 Dass diese Identitätskrise nachts auftritt und mit einem Traum assoziiert wird, später auch mit Tollheit oder Wahnsinn,21 ist ein Rückgriff auf die literarische Bildlichkeit der Romantik, die in einer Zeit, wo für die neuen Erkenntnisse der Entgrenzung des Individuums noch keine neuen literarischen Mittel zur Verfügung standen22 und andererseits die realistischen Vorstellungen ausgedient hatten, als Reservoir diente. Bereits in Törleß wird ein in den Drei Frauen konstitutiv werdender Gegensatz zwischen der »realen, festen sonnenbeschienenen Welt«,23 die mit dem Vernünftigen gleichgesetzt wird, und einer Welt, welche mit dem Traum, mit dem sich der Vernunft Entziehenden assoziiert wird, aufgebaut. Es ist typisch für die semantischen Konstruktionen der Literatur der Frühen Moderne, dass es keinen scharfen Gegensatz von »vernünftig« und »unvernünftig« mehr gibt, sondern dass es graduelle Unterschiede auf der Skala zwischen Vernunft und Nicht-Vernunft sind. Musil wird es später das NichtRatioïde nennen, was nicht einfach mit ›Nicht-rational‹, ›wider die Vernunft‹
16 »Empfindungen, die von außen einfielen und Flammen, die ihnen von innen entgegenloderten.« (Musil: Törleß, GW II, S. 110) 17 Zum intensiven Leben siehe Titzmann: Grenzziehung, S. 192. 18 Lars W. Freij: ›Türlosigkeit‹. Robert Musils Törleß in Mikroanalysen mit Ausblicken auf andere Texte des Dichters. Stockholm 1972. 19 Musil: Törleß, GW II, S. 108. 20 Musil: Törleß, GW II, S. 123. 21 »Es kam wie eine Tollheit über Törleß, Dinge, Vorgänge und Menschen als etwas Doppelsinniges zu empfinden.« (Musil: Törleß, GW II, 64) Etwas später meint Törleß: »Ich muß krank sein – wahnsinnig.« (Ebd., S. 88) 22 Döblin wird in Romanen wie Wallenstein und Berlin Alexanderplatz mit der Vervielfachung der Stimmen und Sprachen neue Mittel in den Roman einführen, die aber eigentlich erst in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts zum Tragen kommen. 23 Musil: Törleß, GW II, S. 51.
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gleichgesetzt werden darf. Dieses Phänomen wird in Törleß am Beispiel der imaginären Zahlen vorgeführt, die »jenseits des Verstandes« liegen, wie es heißt. Törleß irritiert, dass am Anfang und am Ende richtige Zahlen stehen, dass dazwischen aber etwas ist, was er mit einer Brücke vergleicht, von welcher nur die Anfangs- und Endpfeiler vorhanden sind »und die man dennoch so sicher überschreitet, als ob sie ganz dastünde«.24 In einer andern Auseinandersetzung mit Beineberg meint er: »Die Vorstellung des Irrationalen, des Imaginären, der Linien, die parallel sind und sich im Unendlichen – also doch irgendwo – schneiden, regt mich auf.«25 Das Wesen des Irrationalen und Imaginären ist es nicht, wie man meinen könnte, nicht-real zu sein, sondern zugleich real und imaginär oder rational und irrational zu sein. Auch diese Erfahrung wird als Entgrenzung beschrieben: In meinem Kopfe war vordem alles so klar und deutlich geordnet; nun aber ist mir, als seien meine Gedanken wie Wolken, und wenn ich an die bestimmte Stelle komme, so ist es wie eine Lücke dazwischen, durch die man in eine unendliche, unbestimmbare Weite sieht.26
Sowohl Beineberg wie die Lehrer meinen, Törleß habe Probleme, die auf dem Gebiet der Religion und des Glaubens liegen. So meint Beineberg, Törleß spreche wie ein Pfarrer, ausgerechnet der Mathematik-Lehrer hält ihn dazu an, einfach zu glauben,27 und als Törleß im Schlussverhör erklärt: »Ich sagte, daß es mir an diesen Stellen scheine, wir könnten mit unserem Denken allein nicht hinüberkommen, sondern bedürften einer anderen, innerlicheren Gewißheit, die uns gewissermaßen hinüberträgt,«28 greift sofort der Religionslehrer ein. Die Religion hat nicht die Lösung für die Probleme von Törleß, aber die Lösung liegt in der Richtung, für die auch die religiösen Vorstellungen stehen. Das wird in Tonka auch offensichtlich, wo dieselbe religiöse Terminologie verwendet wird. In der Person von Beineberg wird eine weitere Variante dieser Suche im Gebiet des Nicht-Rationalen eingeführt, die östliche Philosophie und Religion mit ihren Meditationsriten, auch Beinebergs Hypnoseversuch muss als Versuch interpretiert werden, die verlorene Einheit der Seele wiederzufinden. In Musils Augen ist dies, das zeigt der Verlauf der Erzählung, ein inadäquater, aber deswegen nicht völlig falscher Versuch, denn Beineberg geht es um etwas Ähnliches wie Törleß. An solchen Stellen
24 25 26 27 28
Musil: Törleß, GW II, S. 74. Musil: Törleß, GW II, S. 81. Musil: Törleß, GW II, S. 81 f., Hervorhebung R. Z. Musil: Törleß, GW II, S. 77. Musil: Törleß, GW II, S. 135.
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wird deutlich, wie sehr Musil nicht in Oppositionen, sondern in graduellen Unterschieden denkt, was im Mann ohne Eigenschaften dazu führt, dass Ulrich nicht das Privileg der Wahrheit hat.29 Wenn der Direktor im Schlussverhör ungeduldig herausplatzt: »Nun dann sagen Sie uns doch endlich klipp und klar, […] was es gewesen ist,«30 so macht Musil dem Leser31 noch einmal klar, dass man es so klipp und klar eben nicht sagen kann, dass die Erzählung allein die adäquate Form ist, um diese beunruhigende Erfahrung der Entgrenzung des Ichs und der Welt darzustellen. Allerdings ist in den Augen Musils das Individuum nur überlebensfähig, wenn es ihm gelingt, die Krise des Identitätsverlustes zu überwinden und eine neue um die Erfahrung des Nicht-Ratioïden erweiterte Identität zu finden. Von Törleß heißt es am Ende zusammenfassend: »Er wußte nun zwischen Tag und Nacht zu scheiden.« Die Erlebnisse werden als »schwerer Traum« bezeichnet, der »verwischend über diese Grenzen hingeflutet« war. Das Wissen, »daß fiebernde Träume um die Seele schleichen, die feste Mauern zernagen und unheimliche Gassen aufreißen«, bereichert ihn.32
Varianten von Grenzüberschreitungen Was im Törleß als Pubertätskrise eines Jugendlichen dargestellt wird, wird in Drei Frauen als Erfahrung auch erwachsenen Männern zugeschrieben, was die Aussage von Wünsch bestätigt, dass sich das »Subjekt der Moderne als Potentialität« erfährt.33 Damit stellt sich aber ein neues Problem, welches Musil bis ans Ende seiner Schriftsteller-Karriere beschäftigen wird, wie kann man in der Realität leben, wenn man sich selbst als ein Subjekt erfährt, das immer auch anders könnte. In Drei Frauen bricht die Erzählung jeweils dort ab, wo das Subjekt entweder seine Identität ganz verloren hat oder ein neues Ich gefunden hat. Wie es sich mit diesem Ich lebt, wird nicht mehr gezeigt, das wird Musil erst im Mann ohne Eigenschaften literarisch erforschen. Das Problem, welches sich in Drei Frauen stellt, ist, was geschehen muss, damit das Subjekt seine Potentialität entdeckt. Es muss zunächst einmal aus seiner
29 Es gehört ja zur Grundstruktur des Mann ohne Eigenschaften, dass man keine reinen semantischen Oppositionen erstellen kann. 30 Musil: Törleß, GW II, S. 135. 31 Wenn ich hier und im Folgenden vom Leser spreche, meine ich den Modell-Leser im Sinne von Umberto Eco (Die Grenzen der Interpretation). 32 Musil: Törleß, GW II, S. 140, Hervorhebung R. Z. 33 Wünsch: Vom späten Realismus, S. 191.
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gewohnten Umgebung herausgenommen werden, es muss sich in einer Phase befinden, wo sich die festen Überzeugungen und Lebensformen gelockert haben. Der Einleitungssatz zu Grigia könnte für alle drei Novellen gelten: »Es gibt im Leben eine Zeit, wo es sich auffallend verlangsamt, als zögerte es weiterzugehn oder wollte seine Richtung ändern. Es mag sein, daß einem in dieser Zeit leichter ein Unglück zustößt.«34 Diese Zeit ist für Homo die Trennung von seiner Frau und seinem Kind, von denen er früher nie getrennt gewesen war, für den namenlosen Helden von Tonka ist es das Militärjahr, »denn niemals ist man so entblößt von sich und seinen eigenen Werken wie in jener Zeit des Lebens, wo eine fremde Gewalt alles von den Knochen reißt«.35 Für Ketten endlich ist es das Ende jenes Krieges gegen den Bischof, den er von seinen Vorfahren geerbt hat und der seinem Leben Sinn gab. Er ist dadurch so verletzbar geworden, dass ein Fliegenstich genügt, um ihn beinahe sterben zu lassen. Das sind die äußeren Anlässe, es gibt aber auch solche, die in der Person selbst liegen, so hat Homo, schon bevor er in das Tal fährt, die Erfahrung der »Selbstauflösung« gemacht. Er erkennt, dass die Liebe zu seiner Frau, von der er vorher nie getrennt gewesen war, trennbar geworden ist. Nicht zufällig braucht der Erzähler den Vergleich mit einem Stein, in den Wasser sickert und der sich auf diese Weise langsam aufspaltet. Der Stein steht für das Feste, für das, was sich nicht verändert, was aber auch in seiner Erstarrung leblos ist. Homo nimmt also die Einladung zur Goldgräberexpedition in einem Moment an, wo er sich bereits in einem Zustand der Auflösung oder jedenfalls der Verletzlichkeit befindet. Sie ist vielleicht auch die Voraussetzung dafür, dass er sich überhaupt auf die in den Bereich der Abenteuer gehörende Goldgräberexpedition einlässt. Die Grenztilgung, die hier stattfindet, wird auf der narrativen Ebene als Eindringen in eine fremde Welt beschrieben. Diese wird einerseits durch die geographische Entfernung, andererseits durch die zeitliche Entfernung charakterisiert, es ist ein früherer Zustand der Welt, der sich in dem abgelegenen Tal teilweise erhalten hat. Die Dörfer sehen aus wie Pfahlbaudörfer, die Frauen haben zwar Kleider aus billigen Kattundrucken an, diese erinnern aber an alte Muster. Es ist eine uneigentliche Welt, in der die Menschen keine Beziehung zu ihren Ursprüngen und den Elementen ihrer Herkunft mehr haben.36 Zugleich hat diese Welt auch Züge des Märchenhaften und des Abenteuers.
34 Musil: Grigia, GW II, S. 234. 35 Musil: Tonka, GW II, S. 270. 36 Im Mann ohne Eigenschaften wird eine solche Welt mit dem Ausdruck »seinesgleichen geschieht« bezeichnet.
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Homo gerät in einen »Märchenwald von alten Lärchenstämmen«37 und die Bauern bringen »unheimlich schöne [… ] Märchengebilde« von Bergkristallen und Amethysten von den Bergen herunter. Das Aussehen der Gegend wird als »fremd vertraut« bezeichnet, womit deutlich gemacht wird, dass die Grenze zwischen »fremd« und »vertraut« ebenso getilgt ist wie die zwischen der Realität und dem Abenteuer oder die zwischen alt und modern.38 In dieser Welt fällt auch eine weitere Grenze, die zwischen Mensch und Tier, nicht zufällig nennt Homo Grigia nach ihrer Kuh, bei der Heuernte werden die Frauen mit dem Pillendreher verglichen. Vielleicht müsste man diese Grenze auch anders benennen: als Grenze zwischen Kultur und Natur, wobei die letztere vom Text als »unmenschlich« charakterisiert wird.39 Den Reiz von Grigia macht gerade ihre Mischung aus Natur – sie wird mit einem giftigen Pilzchen verglichen – und Kultur aus: Homo staunt, »weil sie so sehr einer Frau glich. Man würde ja auch staunen, wenn man mitten im Holze eine Dame mit einer Teetasse sitzen sähe«.40 Auch die andern Frauen verfügen über »eine so vorzüglich und leidenschaftlich gespielte Leidenschaft, daß diese Theaterechtheit auf sechzehnhundert Meter Höhe ihn sehr verwirrte«.41 Die Tilgung von Grenzen führt einerseits zur Verwirrung, andererseits hat sie die Intensivierung des Lebens zur Folge, so dass das Leben im Tal als »heller und würziger« erscheint.42 Die Auflösung von Homos Identität macht ihn durchlässig für das Eindringen fremder Lebenserscheinungen, die ihm aber »kein neues, von Glück ehrgeizig und erdfest gewordenes Ich« geben, sondern ihm das Gefühl vermitteln, dass er bald sterben werde.43 Der Erzähler erklärt: »Sein altes Leben war kraftlos geworden; es wurde wie ein Schmetterling, der gegen den Herbst zu immer schwächer wird.«44 Das alte kraftlose Leben bewirkt nun keineswegs die Kraftlosigkeit Homos, sondern im Gegenteil eine Art Genesung, er wird mit einem Lahmen verglichen, der die Krücken fortwirft und einen gesteigerten Zustand der Gesundheit findet.45 Die Zeit der Heuernte,
37 Musil: Grigia, GW II, S. 240. 38 Musil: Grigia, GW II, S. 235. Die Blumen werden mit Talern verglichen, die da ausgeschüttet worden waren (ebd., S. 236). Es ist vom Goldgräberleben die Rede, von einer für »ihn bestimmten Zauberwelt« (ebd., S. 241). 39 Musil: Grigia, GW II, S. 245. 40 Musil: Grigia, GW II, S. 246. 41 Musil: Grigia, GW II, S. 239. 42 Musil: Grigia, GW II, S. 240. 43 Musil: Grigia, GW II, S. 248. 44 Musil: Grigia, GW II, S. 248. 45 Musil: Grigia, GW II, S. 248.
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die er mit Grigia verbringt, wird als »Hochzeitstage und Himmelfahrtstage« bezeichnet, es handelt sich um eine Zeit intensiven Lebens, das durch eine Art Zeitenthobenheit charakterisiert ist, denn Homo verliert die zeitliche Orientierung, ja, er weiß manchmal nicht mehr, ob dies alles Wirklichkeit oder nur Spiel ist, Realität und Imagination geraten durcheinander.46 Was hier dargestellt wird, ist ein langer Prozess der Selbstauflösung, der sich in der Schlussszene in der Höhle nochmals verlangsamt. Titzmann schreibt, dass die Grenze zwischen Leben und Tod zwar in den Texten der Moderne erhalten bleibe, da diese Grenzüberschreitung irreversibel sei, dass es aber »Prozesse der kontinuierlich-graduellen, quasi infinitesimalen Annäherung an den Tod« gebe.47 Genau dies können wir hier beobachten. Von dem Augenblick an, wo Homo in der ekstatischen Szene im Wald »sich selbst aus den Armen genommen« vorkommt, ist er auf dem Weg zur Selbstauflösung. »Aber er hatte sein Leben außer Kraft gesetzt.«48 Sein altes Leben, die alte Ordnung der Dinge, die er ursprünglich nicht verlassen wollte, ist wertlos geworden, aber es ist keine neue Ordnung an deren Stelle getreten, denn selbstverständlich sind weder die Hochzeitstage mit Grigia noch das Goldgräberleben eine Alternative zu Homos altem Leben.49 Dass er am Schluss nach einem letzten Stelldichein mit Grigia in einer Höhle den Ausweg aus dieser nicht mehr findet oder nicht mehr finden will, ist eine äußerliche Begründung für den Tod, die man als eine Referenz an die realistische Erzählweise interpretieren kann: In Wirklichkeit stirbt er an der Unfähigkeit, das neue die Grenzen tilgende abenteuerliche Leben und sein altes Leben in Einklang zu bringen bzw. ein neues Leben zu finden, das die Elemente des abenteuerlichen Lebens integrieren würde. Das Identitätsproblem wird in der Portugiesin gleich im ersten Satz gestellt, indem die Familie des Helden zwei Namen hat, einen deutschen und einen italienischen. »Sie hießen in manchen Urkunden delle Catene und in andern Herren von Ketten«,50 sie leben in zwei Kulturen, in der deutschen und der italienischen. Der Name ist durchaus sprechend: sie »fühlten sich nirgends
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Musil: Grigia, GW II, S. 240. Titzmann: Grenzziehung, S. 191. Musil: Grigia, GW II, S. 240. Siehe Titzmann: Grenzziehung, S. 197. »Das Metaereignis führt im Falle des Misslingens – dann also, wenn die denkbare neue Weltordnung für das Subjekt nicht lebbar ist – zum Selbstverlust; sie würde, wenn das Subjekt, wie vielleicht Musils Claudine, damit leben kann, zur Selbstverwirklichung führen.« 50 Musil: Portugiesin, GW II, S. 252.
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hingehören als zu sich«, das heißt, sie sind alle Glieder einer Kette und als solche definiert. Jeder einzelne macht, was alle vor ihm auch so gemacht haben, sie führen Krieg und sie holen sich ihre Frauen von weit her. Der Herr von Ketten, der der Held der Erzählung ist und immer mit dem deutschen Namen genannt wird, holte sich seine Frau aus Portugal. Sie bleibt ihm auf eine Weise fremd, die nicht nur mit ihrer ethnischen Fremdheit zusammenhängt, sondern auch damit, dass sie sich auf Bücher und vielleicht auf Zauberei versteht, während Ketten ganz unintellektuell zu sein scheint. Aber auch Ketten bleibt der Portugiesin fremd. Diese Erzählung ist die einzige der drei, in der wir auch einiges aus der Perspektive der Frau erfahren. Für sie ist Ketten mit dem Wilden, der Natur, dem Wolf assoziiert, er hat also jene Eigenschaften, die in den beiden andern Erzählungen den Frauen zukommen. Dass gerade dieser Herr von Ketten im Gegensatz zu seinen Vorgängern in eine Identitätskrise gerät, hat nicht nur damit zu tun, dass unter seiner Herrschaft der Krieg zu Ende ist, sondern auch mit einer Neigung zum Fremden, Unheimlichen. Der Krieg gehört zur Welt der Kausalität und Vernunft: »Befehlen ist klar; taghell, dingfest ist dieses Leben […]. Das andere aber ist fremd wie der Mond. Der Herr von Ketten liebte dieses andere heimlich. Er hatte keine Freude an Ordnung, Hausstand und wachsendem Reichtum.«51 Obwohl Ketten dieses andere heimlich liebt, das im Text mit dem Geist und mit der italienischen Namensform assoziiert ist,52 will er es in seinem Wesen nicht zulassen, sondern flieht sozusagen vor seiner Identität in den Krieg: »sein wahres Wesen war etwas, auf das man wochenlang zureiten konnte, ohne es zu erreichen.« Er bleibt immer nur kurz bei seiner Frau: »Wäre er einmal länger geblieben, hätte er in Wahrheit sein müssen, wie er war. Aber er erinnerte sich, niemals gesagt zu haben, ich bin dies oder ich will jenes sein, sondern er hatte ihr von Jagd, Abenteuern und Dingen, die er tat, erzählt.« 53 Im Augenblick, wo dieses Tun nicht mehr möglich ist, weil der Krieg mit dem Bischof zu Ende ist, gerät er in eine tiefe Krise, denn nun hat ihm das Leben sein Ziel genommen: »was noch zu tun blieb im Leben dieses Ketten, war runden und ordnen, ein Handwerker- und kein Herrenziel.«54 Nun müsste sich Ketten ein eigenes Ziel setzen, denn er kann sich nicht mehr an das von
51 Musil: Portugiesin, GW II, S. 259. 52 »[D]enn so wie jedes wohlgebaute Ding Geist hat, […] hatten ihn auch die Catene.« (Musil: Portugiesin, GW II, S. 258); »in den Stirnen saß die Gewalt der Catene« (ebd., S. 259). 53 Musil: Portugiesin, GW II, S. 258. 54 Musil: Portugiesin, GW II, S. 260.
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seinen Vorfahren überkommene halten. Er müsste sich identifizieren, müsste sagen, »ich bin dies«.55 Die Diskrepanz zwischen der Bagatelle eines Insektenstichs und der Lebensgefährlichkeit der daraus resultierenden Infektion ist ein ironischer Wink Musils, hier eine realistische Motivation liefern zu müssen für etwas, das außerhalb solcher Motivationen liegt. Die Identitätskrise wird in diesem Fall auf der narrativen Ebene als Krankheit dargestellt, die zur äußeren Schwäche führt, bis hin zu körperlichen Veränderungen wie dem Phänomen, dass Kettens Kopf kleiner geworden ist. Ketten erlebt eine Aufspaltung der Person in einen Körper und ein Bewusstsein, das diesen Körper als fremd empfindet. Dies führt zur Vorstellung, dass »der Herr von Ketten und seine mondnächtige Zauberin« aus ihm herausgetreten seien und sich entfernt hätten: »er sah sie noch, er wußte, mit einigen großen Sprüngen würde er sie danach einholen, nur jetzt wußte er nicht, war er schon bei ihnen oder noch hier.«56 Auch hier stellt Musil wiederum den Prozess der Annäherung an den Tod als zunehmende Selbstentfremdung dar. Aber Ketten beschließt in einer Situation, die der Homos in der Höhle vergleichbar ist, zu leben: »Dann kam der Tag, an dem er mit einemmal wußte, daß es der letzte sein würde, wenn er nicht allen Willen zusammennahm«.57 Als erstes lässt er den Wolf töten, den die Portugiesin gezähmt hatte und den man als eine Art Stellvertreter von Ketten interpretieren muss.58 Wenn er ihn töten lässt, ist das ein Zeichen, dass er sein altes, wildes Leben ablegen will. Es heißt denn auch, dass er wie ein »Hund im Gras lag«, also wie die gezähmte Variante des Wolfs.59 Auch hier wird also die Grenze zwischen Mensch und Tier getilgt, was in der gotteslästerlichen Bemerkung der Portugiesin am Ende nochmals deutlich wird: »Wenn Gott Mensch werden konnte, kann er auch Katze werden.«60 Schon vorher hieß es vom langsamen Sterben der Katze: »An einem Menschen würde man dieses Hinschwinden nicht so seltsam empfunden ha-
55 Musil: Portugiesin, GW II, S. 260. Zu diesem Problem siehe die aus sprachtheoretischer Perspektive geschriebene Interpretation von Hermann Bernauer: Weshalb wird Ketten von einer Fliege gestochen? Zur Deixis in Musils Portugiesin, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 66 (1992), S. 733–747. 56 Musil: Portugiesin, GW II, S. 262. 57 Musil: Portugiesin, GW II, S. 262. 58 »Sie liebte diesen Wolf, weil seine Sehnen, sein braunes Haar, die schweigende Wildheit und Kraft der Augen sie an den Herrn von Ketten erinnerten.« (Musil: Portugiesin, GW II, S. 260) 59 Musil: Portugiesin, GW II, S. 263. 60 Musil: Portugiesin, GW II, S. 270.
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ben, aber an dem Tier war es wie eine Menschwerdung.« Ketten kommt es vor, als sei sein eigenes Schicksal »in diese vom Irdischen schon halb gelöste Katze übergegangen«.61 Die Tötung des Wolfs kann man auch als Tat interpretieren und als Elimination des Stellvertreters, als erste Stufe der Genesung, die zu seiner Wiedereinsetzung als Herr führen soll. Unterdessen ist ein zweiter Rivale in der Gestalt des Jugendgeliebten der Portugiesin aufgetaucht, doch in Bezug auf ihn kann sich Ketten nicht zur Tat entschließen, die ihm früher so selbstverständlich war, »allzu langsam kehrte das Leben in ihn wieder; er konnte die zweite Stufe der Genesung nicht finden«.62 Eines Tages jedoch weiß er, was er machen muss, um gesund zu werden, sich einen Knabentraum erfüllen, nämlich die steile Wand unter dem Schloss emporklettern. »[E]s war ein unsinniger und selbstmörderischer Gedanke,« sagt der Erzähler.63 Er tut also etwas, das nicht in den Bereich der Rationalität gehört, wie sein Krieg gegen den Bischof, sondern unsinnig ist, aus dem Bereich der Wunder64 und des Irrationalen stammt wie die Zeichen, die die Portugiesin an seinem Bett anbrachte, als er verletzt nach Hause kam, oder wie die kleine Katze. In diesem Kampf mit dem Tod kehrt das Leben in Ketten zurück und er findet einen Teil seiner alten Identität wieder: »Mit der Kraft war die Wildheit wiedergekehrt«, also jene Wildheit, die ihn ausmacht und die die Portugiesin ja liebte.65 Musil braucht hier das Modell der Wiedergeburt, um den Akt der Selbstfindung darzustellen, ein in der Literatur der Frühen Moderne häufig auftretendes Modell, wo der Held durch einen metaphorischen Tod hindurch muss, um zum eigentlichen Leben zu finden.66 Ketten hat denn auch mit dem Erklettern der Mauer den Tod überwunden, und indem er ihn überwunden hat, hat er seine eigene Burg, deren Herrschaft ihm während der Krankheit abhanden gekommen ist, wie ein Eroberer von außen bezwungen: Er ist jetzt wieder Herr in seiner Burg. Bezeichnenderweise ist er jetzt auch bereit, den Rivalen, den jungen Portugiesen, umzubringen und damit die Ordnung in seinem Hause wiederherzustellen. Dies ist jedoch nicht mehr nötig, denn der Portu61 62 63 64
Musil: Portugiesin, GW II, S. 267. Musil: Portugiesin, GW II, S. 265. Beachte den Ausdruck »Leben«. Musil: Portugiesin, GW II, S. 268. »Ihm war zu Mut, es müßte ein Wunder geschehn.« (Musil: Portugiesin, GW II, S. 265) 65 Musil: Portugiesin, GW II, S. 269. 66 Siehe Marianne Wünsch: Das Modell der »Wiedergeburt« zu neuem Leben in erzählender Literatur 1890–1930, in: Karl Richter (Hg.): Klassik und Moderne. Die Weimarer Klassik als historisches Ereignis und Herausforderung im kulturgeschichtlichen Prozess. Festschrift für Walter Müller-Seidel. Stuttgart 1983, S. 379–408.
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giese ist weg, die Portugiesin ist aber, entgegen Kettens Erwartung, noch da. Ketten ist damit wieder, wie am Schluss festgestellt wird, ein Glied der Catene geworden und hat nach der Entfremdung zu sich selbst und in die Reihe der Vorfahren zurückgefunden, aber er hat das Fremde in seine Persönlichkeit integriert, indem er es, das er heimlich liebte, durch die unsinnige Besteigung der Felswand gewissermaßen öffentlich gemacht, nach außen getragen hat. Für ihn wird nun wie früher für die Portugiesin der Ausdruck »Teufel« gebraucht.67 Die Tat nähert ihn der Portugiesin an, darum ist sie auch noch da, auf der andern Seite hat er jene Wildheit zurückerlangt, um derentwillen sie ihn geheiratet hat.68 Musil hat diese Variante einer Identitätskrise und Identitätsfindung im Mittelalter angesiedelt, dies erlaubt ihm, das Irrationale, dem die Männer in diesen drei Erzählungen in Gestalt der Frauen begegnen und das die Krise hervorruft, in der Gestalt des »Märchenhaften« direkt darzustellen: Die Welt, in der die Portugiesin spielt, ist märchenhaft, die Portugiesin kann zaubern, Zeichen anbringen, die Religion spielt noch eine Rolle, gehört zur dargestellten Welt, alles Dinge, die in einer modernen Welt nur metaphorisch dargestellt werden könnten. Für Tonka wählt Musil eine weder geographisch noch zeitlich entfernte Welt. Tonka spielt ganz in der dem Leser vertrauten Welt der Gegenwart und der Großstadt. Der Held in Tonka hat keinen Namen, nicht einmal einen Gattungsnamen wie Homo oder Ketten, und er ist der jüngste der drei Helden. Als wir ihn kennen lernen, hat er noch nicht einmal das Studium abgeschlossen, er hat seine Karriere noch vor sich und wird als ein vielseitig Begabter charakterisiert, der sich taub stellte gegen alle Fragen, »die nicht klar zu lösen sind, ja er war […] ein fanatischer Jünger des kühlen, trocken phantastischen, Bogen spannenden neuen Ingenieurgeistes«.69 Er wird von allen drei Männern auf der Textoberfläche als der modernste dargestellt, obwohl in der semantischen Tiefenstruktur alle drei Männer moderne Subjekte sind. Das Fremde begegnet N. in Gestalt von Grenzüberschreitungen moralischer und gesellschaftlicher Normen und in der Form von Gefühlen, welche Güte und Einfachheit repräsentieren. Tonka stammt aus einer Familie, in der die Gren67 »Unten ankommen konnte nur ein Toter, und die Wand hinauf nur der Teufel.« (Musil: Portugiesin, GW II, S. 269); »es begann sich die Legende zu bilden, daß er sich […] dem Teufel verschrieben habe […], der in Gestalt einer schönen fremden Frau auf seiner Burg weile.« (Ebd., S. 258) 68 Kurt Krottendorfer interpretiert den Schluss negativ (vgl. Kurt Krottendorfer: Versuchsanordnung. Das experimentelle Verhältnis von Literatur und Realität in Robert Musils Drei Frauen. Wien u. a. 1995, S. 188 f.). 69 Musil: Tonka, GW II, S. 283.
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ze zwischen dem, was richtig und gut, und dem, was falsch und böse ist, verwischt ist. Tonka wächst bei einer Tante auf, zu der Kusine Julie zu Besuch kam. »Er wunderte sich ja darüber, daß man sich mit Kusine Julie an einen Tisch setzen […] konnte, denn sie war doch eine Schande.«70 Ähnlich selbstverständlich verkehrt man mit den Frauen aus der Strafanstalt, welche an den Waschtagen im Hause arbeiten und am selben Tisch essen, auch das im selben Haus gelegene Bordell wird schweigend geduldet. Es »fehlte also die Kluft; man konnte hinüber«, heißt es in einer Raum-Metapher, die die Grenztilgung thematisiert.71 So ist es denn nicht weiter erstaunlich, dass N. nicht weiß, wie er das Verhalten von Tonka bewerten soll, wenn er sich fragt, ob »etwas, das weder sprechen kann noch ausgesprochen wird […] gut, wertlos oder bös« ist.72 Für N. ist das Verhalten von Tonka umso befremdlicher, als er aus einer gutbürgerlichen Familie stammt, in der man keinen solchen Umgang pflegt, in der man »Grundsätze« hat und »gesellschaftliche Haltung«73 und weiß, was richtig und falsch ist. Nicht zufällig ist N.s Mutter eine Offizierstochter, welche »von Ehr- und Charaktervorstellungen gehalten« wird und »Festigkeit der Grundsätze« besitzt.74 Jemand, der wie Tonka ohne weiteres einem Menschen folgt wie ein Tier, »wäre ihnen als ein Wesen erschienen, das sich in einem wilden Urzustand ohne Moral befindet«.75 Musil verwendet hier einmal mehr die Bildlichkeit des Tiers, um das, was hier der »wilde Urzustand« genannt wird, gegen die Welt der Zivilisation, die in Tonka mit den Werten der bürgerlichen Gesellschaft und der Stadt gleichgesetzt wird, abzugrenzen. Was zunächst wie das Liebesverhältnis von Sohn aus gutem Hause mit dem Dienstmädchen aussieht, erhält in dem Augenblick eine ganz andere Qualität, als Tonka schwanger wird und an einer Krankheit erkrankt, die vermuten lässt, dass er nicht der Vater des Kindes ist. Die »normale« Lösung des Problems, die auch vom Text erwähnt wird, wäre, dass N. in dieser Situation Tonka verlassen würde. N. dagegen verlässt sie nicht, sondern gerät in eine tiefe Krise, denn er will die einzig wahrscheinliche, der Vernunft entsprechende Möglichkeit, nämlich, dass er »weder der Vater von Tonkas Kind noch der Urheber ihrer Krankheit war«, nicht akzeptieren.76 Was hier die Krise ausgelöst hat, ist die Konfrontation mit einer Welt, »die
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Musil: Tonka, GW II, S. 270. Musil: Tonka, GW II, S. 271. Musil: Tonka, GW II, S. 280. Musil: Tonka, GW II, S. 282. Musil: Tonka, GW II, S. 283. Musil: Tonka, GW II, S. 283. Musil: Tonka, GW II, S. 288.
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den Begriff Wahrheit nicht kennt. Das war die Welt des Gesalbten, der Jungfrau und Pontius Pilatus«, es ist die Welt der Märchen, des Aberglaubens, des Irrationalen.77 In diesem Fall werden nicht eigentlich die Grenzen getilgt – es kommen keine solchen Metaphern vor –, sondern es wird neben der »normalen« Welt eine andere Welt angenommen, zu der Tonka gehört und in der andere Regeln gelten. Im Gegensatz zu Grigia und der Portugiesin, wo die Welt der bürgerlichen Normen einem früheren zeitlichen Zustand entspricht, den der Held zur Zeit der Erzählung hinter sich gelassen hat, baut Musil in Tonka ein Nebeneinander von zwei Welten auf, in welchen N. abwechslungsweise und doch gleichzeitig lebt: Am Tag geht er wie alle andern auch »nur den größeren Wahrscheinlichkeiten nach«. In dieser Welt verfolgt er seine wissenschaftlichen Projekte. »Handel und Wandel ruhen darauf, daß man nicht mit allen Möglichkeiten zu rechnen braucht, weil die äußersten praktisch nicht vorkommen«, erklärt der Erzähler.78 Im äußeren Leben hat er Erfolg, seine bürgerliche Person festigt sich.79 Am Abend dagegen lebt er in der Welt jener äußersten Möglichkeiten, mit denen man normalerweise nicht zu rechnen braucht, in der Welt des Unwahrscheinlichen, aber Möglichen. So beginnt er in der Pferdelotterie zu spielen, denn es ist zwar sehr unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich, dass man gewinnen kann. Er wird auch sonst abergläubisch: »Er wurde in der Folge recht abergläubisch; der Mensch in ihm, der abends Tonka abholte, wurde es, während der andere wie ein Gelehrter arbeitete.« 80 Diese Aufspaltung macht sich auch in einer Veränderung des Äußern bemerkbar, er meint nämlich, dass er, wenn er sich nicht rasiere, mehr Glück habe, und so lässt er sich einen Bart wachsen, wird also äußerlich gesehen entstellt wie der Herr von Ketten.81 Dem entspricht, dass er mit Tonka in schlechten Restaurants essen muss, dass er in gesellschaftlichen Kreisen verkehrt, die ihm nicht angemessen sind. Aber wenn er nicht mehr bei der Arbeit ist, entsteht in seinen Träumen eine andere Welt, in der andere Zusammenhänge und Normen herrschen, die ihren Sinn nicht immer freigeben.82 Wie Törleß versucht auch N. diese Erfahrungen schriftlich niederzulegen, sie dichterisch zu umschreiben, weil ihnen letztlich nur so beizukommen ist, in Briefen an seine Mutter, die vom Erzähler als »unsinnige Antworten« bezeichnet werden.
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Musil: Tonka, GW II, S. 274. Musil: Tonka, GW II, S. 288. Musil: Tonka, GW II, S. 299. Musil: Tonka, GW II, S. 294. »Der Bart entstellt ihn.« (Musil: Tonka, GW II, S. 295) In den nicht abgeschickten Briefen an seine Mutter schreibt er: »Ist das Geographie
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Ab und zu macht sich N. klar, dass diese Welt seine eigene innere Welt ist, so wie auch Tonka mindestens teilweise eine Projektion von N. ist. Musil hat in dieser Erzählung über weite Strecken die Form der PsychoErzählung gewählt und zum Teil eine Erinnerungsperspektive eingeführt, die alles in der Schwebe lässt.83 So wissen wir als Leser nicht, wer Tonka wirklich ist, ob sie letztlich nicht vielleicht jenes gewöhnliche Mädchen ist, für das N.’s Familie sie hält, oder ob sie ein geheimnisvolles Wesen ist, für das N. sie hält. Tonka habe furchtbar gelogen und habe nur eine Lebedame werden wollen, sagte ihm einmal ein anderes Mädchen im Traum, vielleicht ist dies die Wahrheit.84 Auf dem Höhepunkt der Krise verändert sich auch die Welt um ihn her, seine Umgebung erscheint ihm »unendlich und sinnlos«, er hat den Glauben an die Dinge verloren, er sieht »die Welt nicht [mehr] mit den Augen der Welt« an und so zerfällt sie in »sinnlose Einzelheiten«, ihr fehlt das Oben und Unten,85 damit verschwindet jede Art von räumlicher Orientierung, es entsteht ein Chaos. Das sind alles Eigenheiten der Welt, die in Grigia und der Portugiesin der fremden Welt von Anfang an eigen sind,86 während dies in Tonka ein Effekt des veränderten Blicks, der veränderten Einstellung ist, ein Ausdruck dafür, dass N.’s Grundsätze ins Wanken geraten sind, weil er ahnt, dass man vielleicht »anders durch die Welt gehen [kann] als am Faden der Wahrheit«.87 So wird auch die Grenze zwischen Wahrheit und allem, was Nicht-Wahrheit ist, Lüge, Märchen, Glauben und Aberglauben, zeitweise verwischt. Diese fremde Welt, mit der N. konfrontiert ist, ist hier im Gegensatz zu den beiden andern Erzählungen ganz ins Innere der Figur verlegt. So be-
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oder Botanik oder Nautik? Das ist ein Gesicht, das ist etwas, das da ist, einzig und allein und ewig da ist, und deshalb gleichsam nicht da ist. Oder was ist das?« (Musil: Tonka, GW II, S. 297) Leider wurde in der Musil-Forschung die für die komplexen Erzählstrukturen erhellende Terminologie von Dorrit Cohn nicht rezipiert, was zu inadäquaten Beschreibungen der von Musil verwendeten narrativen Mittel führt. Dorrit Cohn: Transparent Minds. Narrative Modes for Presenting Consciousness in Fiction. Princeton 1978. Musil: Tonka, GW II, S. 304. Musil: Tonka, GW II, S. 298. Siehe z. B. die Erfahrung von Homo auf dem Schaukelstuhl, wo ein »auf- und niederwallendes Gewirr von Ranken« entsteht (Musil: Grigia, GW II, S. 235). Oder die Schilderung von Kettens Heimat aus der Perspektive der Portugiesin: »Es war eine Welt, die eigentlich keine Welt war. […] aber da sie das Geheimnis sah, fand sie es über alles Erwarten häßlich und mochte fliehn.« (Musil: Portugiesin, GW II, S. 255) Musil: Tonka, GW II, S. 298.
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schäftigt sich N. ständig mit der Frage, wie man sich Tonka gegenüber richtig verhalten soll, und er erwägt, dass er bedingungslos an sie glauben müsste, also so wie man in religiösem Kontext glaubt, doch das tut er nicht: »Denn er glaubte ihr bloß so, daß er nicht länger ungläubig und böse gegen sie sein konnte, aber nicht so, daß er für alle Folgen daraus auch vor seinem Verstand einstehen wollte.« Und der Erzähler kommentiert: »Es hielt ihn heil und an der Erde fest, daß er das nicht tat.«88 N. hat zwar einen Zustand der Entfremdung erlebt, der ihn auch der Wirklichkeit zu entfremden droht. Er hat aber einen andern Weg gewählt als Homo, dessen Ich gerade diese Erdenfestigkeit verloren hat und der einmal bezeichnenderweise mit einem Heiligen verglichen wird, der zum Himmel fährt.89 N. dagegen hat dem Verstand nie völlig abgesagt, er ist ja am Tag immer seiner beruflichen Tätigkeit nachgegangen, hat sich auch in den ihm vertrauten Räumen bewegt und so kann er ins Leben zurückkehren, als Tonka stirbt. Schon als Tonka ins Spital kommt, schneidet er sich den Bart ab und ist »wieder mehr er selbst«.90 Er macht sich bewusst, dass er geändert worden ist, dass er aber doch noch immer »er selbst« ist. Tonka, so wird dies hier dargestellt, hat Fähigkeiten in ihm geweckt, die ihm zuvor nicht bewusst waren, ja, die er geradezu geleugnet hat, die aber in ihm als Potentialität angelegt waren. Nicht zufällig heißt es denn auch einmal, dass das Kinderherz in ihm aufglühte, »für das Großmut, Güte und Glauben noch nicht Pflichten sind, um die man sich nicht kümmert, sondern Ritter in einem Zaubergarten der Abenteuer und Befreiungen«.91 Das Abenteuer, das Homo in Form der Goldgräberei und Ketten in seinem Kampf mit dem Bischof und im Erklettern der Wand zu bestehen hat, ist in der modernen Welt N.s nicht mehr real, sondern nur noch als literarische Metapher vorhanden, so wie auch die Veränderung der Welt auf die veränderte Wahrnehmung zurückgeht und nicht objektiv vorhanden ist wie in den beiden andern Erzählungen. Allerdings wird auch bei Homo die Wahrnehmungsperspektive betont, wenn es heißt: »Das alles bemerkte Homo zum erstenmal in seinem Leben.«92 N. ist es wie Ketten gelungen, das Fremde, jene äußersten Möglichkeiten, die praktisch nicht vorkommen, zu integrieren, ohne schizophren
88 Musil: Tonka, GW II, S. 304. Vgl. auch: »Er hielt sich noch an der Erde fest« (ebd., S. 305). 89 Vom Heu, auf dem die Begegnungen stattfinden, heißt es: »Man liegt schräg, und fast senkrecht wie ein Heiliger, der in einer grünen Wolke zum Himmel fährt.« (Musil: Grigia, GW II, S. 249) 90 Musil: Tonka, GW II, S. 303. 91 Musil: Tonka, GW II, S. 300. 92 Musil: Tonka, GW II, S. 243.
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oder wahnsinnig zu werden. Ich halte deshalb sowohl den Schluss der Portugiesin wie jenen von Tonka für positiv, für die Darstellung einer gelungenen Selbstfindung, in der die fremden Bestandteile in die Person integriert werden.93
Schluss Musil stellt in allen hier untersuchten Erzählungen eine Identitätskrise dar, die dadurch entsteht, dass die Männer in sich Seiten entdecken, die vorher verdeckt waren, die aber einmal in der Kindheit vorhanden waren bzw. für Törleß erst zum Leben erweckt werden. Das Mittel dieser Entdeckung ist eine Normverletzung, vorwiegend im Bereich der sexuellen Normen, die sich in Form verbotener sexueller Beziehungen im Törleß, ehelicher Untreue oder der vom Bürgertum nicht akzeptierten Verbindung auf der narrativen Ebene manifestiert bzw. im Falle des Herrn von Ketten durch die Heirat mit einer Frau, die Kennzeichen einer Zauberin hat. Das Andere, das Fremde wird im Text mit Ausdrücken wie ›märchenhaft‹, ›Nacht‹, ›wider die Vernunft‹, ›Geheimnis‹, ›Zauber‹ bezeichnet und häufig mit der Nacht korreliert, während die Vernunft, die Wirklichkeit, die Kausalität mit dem Tag korreliert ist. Die Begegnung mit dem Fremden stellt alle Arten von Grenzziehungen in Frage, jene zwischen Natur und Kultur, jene zwischen den bürgerlichen Normen und ihrer Überschreitung, jene zwischen Rationalität und Imagination, zwischen Vernunft und Aberglauben bzw. Glauben. Gelingt es den Helden nach der Krise, die im Falle von Kettens die Form des metaphorischen Todes, im Falle von N. die Form der äußersten Entfremdung, der körperlichen Entstellung und des Verkehrens in unpassenden gesellschaftlichen Gruppen annimmt, einen neuen Sinn zu finden, leben sie nachher um die Erfahrung dieser durch Normüberschreitungen gekennzeichneten Welt des anderen bereichert weiter, während Homo, der offenbar keinen neuen Sinn finden konnte, im märchenhaften Tal sterben muss. In allen Erzählungen gilt, was Wünsch in ihrem Aufsatz feststellt, dass das alte Normsystem noch besteht und dass seine Transformation nur am Einzelfall ausprobiert wird, dass aber nicht generell ein neues Normsystem installiert wird. Musils Erzählungen brechen immer dort ab, wo der Held eine neue Identität gefunden hat bzw. das Fremde integriert hat. Sie zeigen bezeichnenderweise nicht, wie es sich mit dieser neuen Identität weiter lebt. Das Problem, wie man an-
93 Vgl. dagegen Krottendorfer: Versuchsanordnung.
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ders leben kann, wird Musil in weit größerem Ausmaß noch im Mann ohne Eigenschaften beschäftigen, aber er hat dieses Problem auch dort nicht gelöst, auch wenn er dort in der Realisierung eines anderen Lebens weiter gegangen ist als in Törleß und Drei Frauen. Die Analyse hat gezeigt, dass Musil die für die Moderne durch Normverlust, Grenztilgung und die dadurch entstehenden Identitätskrisen gekennzeichneten zentralen Welt- und Subjektstrukturen aufgreift und ihre Möglichkeiten literarisch exploriert. In seiner Darstellungsweise erprobt er ebenfalls neue Möglichkeiten: Der Gebrauch, den er vom Mittel der Verfremdung sowohl auf der Ebene der dargestellten Welt wie des sprachlichen Ausdrucks macht, zeigt, dass er weit entfernt ist von der realistischen Schreibweise, die es auf Wiedererkennen und nicht auf Erkennen der Welt angelegt hat.94 Ein Vergleich mit den gleichzeitigen Erzählungen von Schnitzler und Thomas Mann beispielsweise zeigt bei aller Übereinstimmung in Fragen der Figurenkonzeption und der Normüberschreitungen doch die radikale Modernität der Musil’schen Texte, die den Leser nicht mehr in der bekannten Welt und bei bekannten Vorstellungen abholen, sondern ihm eine verfremdete Welt darstellen.
94 In der Forschung gelten die literarischen Verfahren Musils in diesen Erzählungen, die man aus einem unerfindlichen Grund »frühe Erzählungen« nennt – Musil war ja immerhin bei ihrer Publikation schon 44 Jahre alt – als altmodisch realistisch, ein Urteil, das mir auf einem zu oberflächlichen Realismusbegriff zu beruhen scheint. Siehe zum Stand der Forschung zusammenfassend Matthias Luserke: Robert Musil. Stuttgart 1995, S. 58 f.
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Jürgen Daiber
Individualpsychologische Diagnose und literarische Therapie: Zum Symptom der Schreibhemmung bei Robert Musil I »So werde ich mir mein Manuskript um den Hals binden und in die Donau gehn können«1 – Die äußeren, begleitenden Faktoren der Schreibhemmung Im Musil-Archiv Klagenfurt findet sich ein so genannter Waffenpass, am 6.10.1936 ausgestellt von der Bundes-Polizeidirektion Wien. Der Pass berechtigt seinen Inhaber, Robert Musil, »zum Tragen […] einer Handfeuerwaffe unter 18 cm Länge«.2 Musil hatte mit der Beantragung des Passes die Voraussetzungen geschaffen, den Zeitpunkt seines Todes selbst zu bestimmen. Die drohende Ohnmacht dem eigenen Ende gegenüber fühlt er wenige Monate zuvor in aller Deutlichkeit. In einem Wiener Freibad unweit seiner Wohnung jenseits des Donaukanals erleidet der Dichter am 20. Mai 1936 beim Schwimmen einen Schlaganfall und entrinnt nur knapp dem Tode durch Ertrinken. Bruno Fürst, ein Freund, zieht den Bewusstlosen im letzten Augenblick aus dem Wasser. Es ist anzunehmen, dass Musil fortan fest entschlossen ist, dem drohenden Verlöschen der eigenen Existenz nicht länger passiv gegenüberzustehen. Der Gedanke an den Freitod ist dem Autor des Mannes ohne Eigenschaften indes seit längerem vertraut. Er fußt in seinem Kern weniger auf der Angst vor Krankheit und körperlichem Zerfall. Vielmehr wird das Versagen des Leibes von Musil als somatische Konsequenz einer über mehr als ein Jahrzehnt währenden psychischen Zermürbung begriffen. 1 Musil in einem Brief an Franz Blei vom 31. Mai 1931, in: Robert Musil: Briefe 1901–1942. Hg. von Adolf Frisé. Reinbek bei Hamburg 1981, S. 518. 2 Vgl. Karl Corino: Robert Musil. Leben und Werk in Bildern und Texten. Hamburg 1988, S. 428.
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In dem Fragment Vermächtnis I aus dem Jahre 1932 bekennt Musil, dass die Tatsache, »in einem völlig absoluten Sinn kein Geld« zu besitzen, ihn »in den letzten Jahren einige Male in die nächste Nähe des Suicide«3 gebracht habe. Der Geldmangel hängt mit der ausgeübten Profession zusammen. Musil notiert 1923, da er als Vizepräsident dem Schutzverband deutscher Schriftsteller vorsteht: Vor allen Dingen mache man sich eines klar: das Elend, das die deutschen Dichter leiden, ist keine wohlwollende Übertreibung vorsorglicher Freunde […] Am Rand, am äußersten Rand leben sie! In einer Lage von so unerträglicher Ungewißheit und Unwürdigkeit, daß kaum einer noch schaffen kann. Angeklammert an eine Existenz, die niemals einem anderen begabten Mann genügen würde […] in jeder Sekunde kann sich ereignen, dass einer hinabgerissen wird. Will man auf die Sensation des ersten Selbstmords warten?4
Wenn es am Ende des Textes dann heißt, »man kann mit wenigen Ausnahmen behaupten, daß es den Besten am schlechtesten geht«,5 so wird deutlich, dass Musil auch vom persönlichen Schicksal spricht. Das Bewusstsein des eigenen schriftstellerischen Ranges bleibt dem Dichter zeitlebens unangetastet. Was bei Robert Musil dagegen Schritt für Schritt schwindet, ist die Hoffnung, in diesem Range von der Mitwelt nur in Ansätzen jemals erkannt oder gar gewürdigt zu werden.6 Den Glauben an die eigene künstlerische Privilegiertheit destruiert ein Alltagsleben, welches für den aus bildungsbürgerlichen Verhältnissen stammenden und bis zum 30. Jahr von väterlichen Zuwendungen abhängigen Musil zahllose Demütigungen bereithält. Anfangs werden diese Demütigungen durch einen Schutzwall aus Arroganz und Exklusivität abgefedert, eine innere Haltung, die man mit einem Terminus Alfred Adlers als Königskinder-Syndrom bezeichnen könnte. Das Tagebuch des 29jährigen vermerkt bereits: Ein Fleischhauer mietet ein Zimmer, das ich mir nicht leisten kann. Ich mache mir nichts daraus. Plötzlich fällt mir auf: Die ungeheure Geduld mit der wir uns gefallen lassen, aus einer geistigen Oberschicht zu Parias herabgedrückt zu werden.7
3 Robert Musil: Gesammelte Werke in neun Bänden. Hg. von Adolf Frisé. Reinbek bei Hamburg 1978, Bd. 7, S. 952 (Sigle: GW). 4 Robert Musil: Wie hilft man Dichtern?, in: GW, Bd. 8, S. 1112 f. 5 Musil: Wie hilft man Dichtern?, S. 1114. 6 Vgl. hierzu Hertwig Gradischnig: Das Bild des Dichters bei Robert Musil. München, Salzburg 1976, S. 10–66. 7 Robert Musil: Tagebücher. Hg. von Adolf Frisé. Reinbek bei Hamburg 1976, S. 404.
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Es ist nur der Anfang. Nachdem ihm eine Stelle als Fachbeirat im Amt für Heereswesen nach 2 Jahren 1922 gekündigt wird, müssen Musil und seine Frau Martha ab 1923 bis zum Zeitpunkt von Musils Tod 1942, also neunzehn unsichere Jahre lang, von den knappen Erträgen der literarischen Arbeit und zuletzt ausschließlich von den privaten Zuwendungen der Freunde und privater Förderkreise existieren. Statt in den bourgeoisen Restaurants Berlins und Wiens findet Musil sich auf diese Weise ab 1919 als Kostgänger in Mensen wieder, die von adeligen Damen zur Unterstützung notleidender Intellektueller eingerichtet worden sind. Statt eines äußeren materieller Sorgen ledigen Lebens sind die Tagebücher über ein Jahrzehnt hinweg gesättigt mit Eintragungen über Geldnot, Schlaflosigkeit und zunehmende seelische Erschöpfung.8 Musil, der in keiner Weise zu jenen Menschen zu gehören scheint, die Unordnung und Unsicherheit in ihrem äußeren Leben ohne innere Verletzung integrieren, erkennt die existenzielle Bedrohung, vermag jedoch nicht angemessen auf sie zu reagieren. So lehnt der knapp 40-jährige noch im Jahre 1919 nicht zum ersten Mal eine Beamtenstelle im Staatsamt für Heereswesen im Range eines Obersten ab, wohl wissend, dass er damit die letzte Möglichkeit vergibt, sich in einen Status wirtschaftlicher Sicherheit zu bringen.9 Weshalb mutet sich Robert Musil all dieses zu? Der Grund liegt ohne Zweifel in jenen 11 000 Blättern, die in teils bedenklichem Zustand – schlechte Papierqualität, Bleistiftaufzeichnungen, die mehr und mehr verblassen – in der Österreichischen Nationalbibliothek Wien bis heute zu besichtigen sind. Am Ende kreisen all diese Blätter trotz divergierender Themenstellungen in monomanischer Fixiertheit um einen einzigen Text, immerzu auf der Suche nach einer Textur, die ihrer Struktur nach niemals ein Ende findet und die Robert Musil Zeit seines Lebens bedrängen wird. Wo beginnt dieses Netzwerk? Und inwiefern spiegelt sein Labyrinth die Verfasstheit seines Schöpfers wieder? 8 So vermerkt das Tagebuch am 22. März 1929 mit selbstverletzender Ironie: »Wir sind ohne Bedienung. Das Wasser wieder abgesperrt. […] Ich putze wundervoll Schuhe.« In: Musil: Tagebücher, S. 691 f. 9 Musils Entscheidung im Jahre 1903, den Beruf des Ingenieurs zugunsten eines erneuten Studiums nicht auszuüben, sowie sein Verzicht auf die angebotene Möglichkeit zur Habilitation zugunsten des freien Schriftstellerberufs im Jahre 1908 gehören ebenfalls in diese Linie der Verweigerung. Vgl. zu weiteren Details Wilfried Berghahn: Robert Musil. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Hamburg 1973, S. 74.
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In Vermächtnis II , einer Fragment gebliebenen Aufzeichnung aus dem Jahre 1932, blickt der 52-jährige Robert Musil auf den Beginn jenes Romans zurück, an dem er gerade schreibt und dessen Prozess der Niederschrift wieder einmal ins Stocken geraten ist. Sein Verfasser sieht sich erneut »so aller Möglichkeiten des Gelderwerbs entblößt, daß ich nur von dem Ertrag meiner Bücher lebe«.10 Eben jenes Buch, an welchem er sitzt, welches ihm besagten Gelderwerb sichern könnte und auf welches sein Verleger Rowohlt händeringend wartet, vermag Musil aber nicht zu schreiben. Ein circulus vitiosus an gegenseitiger Hemmung von Geist und Materie, der sich bis zum Tode Musils erhalten wird, hatte sich etabliert: Musil bekommt keine Vorschüsse mehr, weil er die zugesagten Kapitel des Romans nicht liefert, und er liefert die zugesagten Kapitel des Romans nicht, weil er keine Vorschüsse mehr bekommt. Das Tagebuch vermerkt: Ich schlafe zu kurz. Ich weiß nicht, warum es mir nicht gelingt zu schreiben. Es ist wie verhext. Bald werde ich auch wieder wegen des Geldes nicht weiter wissen; es erscheint mir unausweichlich […] Und ich fühle mich schon lange mürbe.11
Den Beginn des Romans Der Mann ohne Eigenschaften, von dem hier die Rede ist und dessen Produktion im Jahre 1932 wieder einmal ins Stocken gerät, datiert Musil selbst im Vermächtnis auf das Jahr 1904. Dort heißt es: Das Buch, das ich jetzt schreibe, reicht mit seinen Anfängen beinahe, wenn nicht ganz in die Zeit zurück, wo ich mein erstes Buch schrieb [Die Verwirrungen des Zöglings Törleß; Niederschrift 1903/1905]. Es hätte mein zweites Buch werden sollen. Ich hatte aber damals das richtige Gefühl, ich könne es noch nicht fertigbringen. Ein Versuch, den ich machte, die Geschichte dreier Personen zu schreiben, in denen Walter, Clarisse und Ulrich deutlich vorgebildet sind, endete nach einigen hundert Seiten in nichts. Ich war angeregt zu schreiben, wußte aber nicht, wozu ich es tun sollte.12
Die Entstehung des Romans Der Mann ohne Eigenschaften gestaltet sich nicht nur an ihrem Ursprung schwierig. Ihre Geschichte ist en détail von der 10 GW, Bd. 7, S. 953. 11 Musil: Tagebücher, S. 1001. Das abgebrochene und nicht-publizierte Vermächtnis IFragment wird noch expliziter: »Ich habe kein Geld […] Ich habe im absoluten Sinn kein Geld. Ich bemerke, während ich das niederschreibe, daß diese Tatsache, die ich bisher nach Möglichkeit zu verheimlichen suchte, obwohl sie mich in den letzten Jahren einigemal in die nächste Nähe des Suicide gebracht hat, auch im Allgemeinen gar nicht ohne Wichtigkeit ist […] Es ist die gleiche Art, wie wenn man an einem Seil über einem Abgrund hängt. Für kühne Menschen vielleicht ein Kitzel; durch zehn Jahre etwas, das alle Nerven zermürbt.« In: GW, Bd. 7, S. 952. 12 GW, Bd. 7, S. 953.
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Musil-Forschung mit zum Teil widersprüchlichen Ergebnissen rekonstruiert worden.13 Da der Roman Fragment geblieben ist, bleiben Schlussfolgerungen über Ausgang, Kapitelfolge, Gesamtumfang und möglichen Abschluss des Textes ungesichert.14 Im April 1928 erscheint das erste Kapitel des Romans unter dem Namen Kakanien in der Zeitschrift Der Tag. Im Oktober 1930 folgt der erste Band des Romans, bestehend aus 123 Kapiteln, die in zwei Teile gegliedert sind. Das Buch ist ein hymnischer Erfolg bei der Kritik. Etwa 200 Rezensionen erscheinen, begünstigt auch durch Musils 50. Geburtstag und die Platzierung des Romans im Weihnachtsgeschäft.15 Was ausbleibt, sind die Leser. Was aus 13 Vgl. Götz Müller: Zur Entstehungsgeschichte von Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften, in: Zeitschrift für Deutsche Philologie 98 (1979), S. 524–543; Adolf Frisé: Von einer »Geschichte dreier Personen«. Zum Der Mann ohne Eigenschaften, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 26 (1982), S. 428–444; Helmut Arntzen: Musil-Kommentar zu dem Roman Der Mann ohne Eigenschaften. München 1982, S. 30 f. Auf die editionsphilologische »Verwirrung«, die bis heute um die vorliegende Fassung des Romans herrscht, sei an dieser Stelle nur kurz verwiesen. 1943 veröffentlichte Martha Musil nach dem Tode ihres Mannes im Selbstverlag einen dritten Band zum Mann ohne Eigenschaften. Die Zusammenstellung der Kapitelfolgen durch Musils Witwe ist umstritten und beruht auf jenen nachgelassenen Druckfahnenkapiteln und Entwürfen zu den Reinschriftkapiteln, an denen Musil selbst bis zu seinem Tode 1942 gearbeitet hatte. Die Neuausgabe Adolf Frisés des Romans im Jahre 1952 berücksichtigt jene Druckfahnenkapitel nicht und wurde durch Bausinger (1964) zu Recht einer kritischen editionsphilologischen Diskussion unterzogen. 1978 veröffentlichte Frisé eine Neuausgabe des Mannes ohne Eigenschaften, welche die Monita berücksichtigt. Ihr folgte im Jahre 1981 noch einmal eine Sonderausgabe, die »unbemerkt gebliebene wie neu unterlaufene Fehler« der 78er Ausgabe korrigieren will sowie »Hinweise und Informationen, wie sie sich unterdes ergaben, noch eingearbeitet« hat (MoE, S. 2157). Diese Sonderausgabe muss momentan als Textgrundlage gelten, die jedoch das Desiderat einer historisch-kritischen Ausgabe des Romans nicht verbergen kann. Vgl. Wilhelm Bausinger: Studien zu einer historisch-kritischen Ausgabe von Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften. Hamburg 1964; Matthias Luserke: Robert Musil. Stuttgart, Weimar 1995, S. 84 ff. 14 Was wir wissen ist, dass Musil nach dem abgebrochenen Anfang im Jahre 1904 sich ab 1915 wieder mit dem Mann ohne Eigenschaften befasst. Er variiert unterschiedliche Textblöcke und Inhalte – Der Anarchist, Panama, Der Spion, Der Erlöser –, die in eine Roman-Vorstufe namens Die Zwillingsschwester münden, urplötzlich aber ab dem Jahr 1927 wie aus dem Nichts unter dem Romantitel Der Mann ohne Eigenschaften gebündelt werden. Philologisch einen wichtigen Schritt nach vorne machte die Musil-Forschung mit der CD-ROM Nachlassdokumentation Musils, die Aspetsberger/Eibl/Frisé besorgten. Vgl. Robert Musil: Der literarische Nachlaß. Hg. von Friedrich Aspetsberger, Karl Eibl, Adolf Frisé. Reinbek bei Hamburg 1992. 15 Etwa 150 Rezensionen haben sich in Musils Nachlass erhalten. Vgl. dazu Hedwig Wieczorek-Mair: Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften in der zeitgenössi-
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der Perspektive Musils ebenfalls weiterhin ausbleibt und die Fortsetzung des Mannes ohne Eigenschaften unter einen ungünstigen Stern stellt, ist das Geld.16 Folgt man den nackten Fakten, erscheint im Dezember 1932 der zweite Band des Mannes ohne Eigenschaften, bestehend aus dem in 38 Kapiteln gegliederten Dritten Teil Ins Tausendjährige Reich. Obwohl Musil bis zuletzt unentwegt am Roman arbeitet, kommt die geplante Zwischenfortsetzung des zweiten Bandes nicht mehr zustande.17 Bei seinem Tode im Jahre 1942 hinterlässt Robert Musil vierzehn weitere Kapitel, die als Fortsetzung jener achtunddreißig Kapitel des 1932 erschienenen zweiten Bandes dienen sollten. Robert Musil macht in seinen letzten zehn Lebensjahren also lediglich 1 1/2 Kapitel, das entspricht etwa 20–30 Schreibmaschinenseiten, des Mannes ohne Eigenschaften druckfertig. Diese extreme Zurückhaltung in puncto Publikation steht in umgekehrt proportionalem Verhältnis zum realen Umfange von Musils Produktion. Musil ist ein Schriftsteller mit ausgeprägtem Arbeitsethos18 und geradezu militärischer Disziplin in puncto Zeitmanagement. So
schen Kritik, in: Uwe Baur, Elisabeth Castex (Hg.): Robert Musil. Untersuchungen. Königstein i. Ts. 1980, S. 10–30. 16 Vgl. hierzu den Brief an den Freund Johannes von Allesch, vom 9.05.1930: »… Da der jetzt abgelieferte Erste Teil […] 800 Maschinenseiten stark ist, hatte ich erwartet, von Rowohlt für den zweiten Teil neues Geld zu bekommen. Aber er war dazu nur in ganz ungenügendem Maß zu bewegen; immer verschanzt hinter kaufmännische Berechnungen, deren letzter Sinn ist, daß er kein Vertrauen in den Absatz hat, obgleich er den künstlerischen Wert nach dem Urteil seines Lektors hochhob. Ich habe den Eindruck, daß er, wenn kein Erfolg kommt, nicht mehr weiter will, und von den Bedingungen, unter denen ich weiter arbeiten muß, kann ich nur sagen, daß sie unmöglich sind.« In: Musil: Briefe, S. 463. 17 1938 erscheint noch zu Lebzeiten Musils das letzte Kapitel aus dem Roman namens Mondstrahlen bei Tage in der Zeitschrift Maß und Wert. Danach stockt die Publikation endgültig. Musils Roman verstummt für die Öffentlichkeit. Die Produktion indes geht weiter, sie reißt bis zum Ende nicht ab. Sukzessive verbreitert sich der Graben zwischen effektiver Produktion und überlebensnotwendiger Publikation. In den letzten Jahren wird er zum Abgrund, der den Schreibenden in seine Tiefen hinabreißt. 18 In einem Interview mit der Zeitschrift Literarische Welt äußert sich Musil nach seinen Arbeitszeiten befragt (»Arbeiten Sie zu bestimmten Stunden oder Tageszeiten? Zwingen Sie sich zur Arbeit, auch wenn Sie keine Lust haben? Brechen Sie ab, auch wenn Sie Lust haben, weiterzuarbeiten?«) wie folgt: »9–12.30; 16–19 Uhr; manchmal auch noch abends. Zwinge mich unter Umständen. Breche nicht ab, auch bei äußerem Zwang. Halte es aber für richtiger, die Arbeit mehr zusammenzudrängen und durch stark ausgefüllte Pausen zu unterbrechen; wünsche mich in diesem Sinn umzustel-
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entstehen Tausende von Manuskriptseiten, die der Autor in den Roman zu integrieren gedenkt, welche dort jedoch niemals erscheinen. Es handelt sich um Notate aus Tageszeitungen und Sonntagsbeilagen, Exzerpte aus wissenschaftlichen Arbeiten, die Musil für seinen Roman studiert, Reflexionen zu einem philosophischen Problem, das zum Bestandteil der Heiligen Gespräche zwischen Ulrich und Agathe werden soll, Varianten und Abervarianten zu bereits bestehenden Kapiteln, die Musil im Extremfall mehr als 20-mal umschreibt.19 Der Roman ist bei solcher Obsession fürs Detail von vorneherein dazu verdammt, Torso zu bleiben. Es ist nicht so, dass Musil dieses offenkundige Missverhältnis zwischen Absicht und Ausführung verborgen bliebe. Er weiß nur zu genau um seine skrupulöse Versponnenheit, sein spekulatives Zögern. Er fühlt allzu schmerzlich seine Unfähigkeit, zu einem Abschluss zu gelangen. Immer wieder ermahnt er sich in den Tagebüchern, die aus der Flut der Gedanken resultierende Ausdruckswut einzudämmen: Die Teilprobleme, wie sie zwischen Ulrich und Agathe auftauchen, schraube sie auf ihre Kleinigkeit zurück! […] Denkerisch sind diese Teilprobleme nicht mehr als Mosaikstücke. Können also nicht mehr sein als Teile der Erzählung eines Erlebnisses. Lasse dich gedanklich nicht zu sehr mit ihnen ein.
Die Selbstermahnung bleibt indes vergeblich. Bereits 1910, während der Niederschrift des Novellenbandes Vereinigungen, hatte Musil die für ihn extrem bedrückende Erfahrung machen müssen, von einem einmal begonnenen Stoff nicht ablassen zu können.20 Schon damals ahnt er, dass seine Unfähigkeit, der überbordenden Assoziationsflut mittels der Sprache Gestalt und
len.« In: GW, Bd. 7, S. 945 f. Musil behält den täglichen Arbeitsrhythmus indes bis zu seinem Tode bei. 19 GW, Bd. 7, S. 946. 20 Robert Musil legt 1936 den inneren Prozess, der zur »Katastrophe« der Vereinigungen führte, post festum vor sich selbst offen: »Ich war von einer literarischen Zeitschrift aufgefordert worden, eine Erzählung zu veröffentlichen. Meine Absicht war, mir schnell und ohne viel Bemühen eine Gelenkprobe zu geben und die übliche galante Erzählung ein wenig im Sinn irgendwelcher Gedanken, die mich gerade beschäftigten, zu spiritualisieren. Das sollte mich 8 bis 14 Tage kosten. Was daraus wurde, war […] daß ich an zwei Novellen 2 1⁄2 Jahre, und man kann sagen: beinahe Tag und Nacht, gearbeitet habe. Ich habe mich seelisch beinahe für sie zugrunde gerichtet, denn es streift an Monomanie, solche Energie an eine schließlich doch wenig fruchtbare Aufgabe zu wenden […], und ich habe das immer gewußt, aber ich wollte nicht ablassen [sic]. Hier liegt also entweder eine persönliche Narretei vor oder eine Episode von mehr als persönlicher Wichtigkeit.« In: GW, Bd. 7, S. 969.
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Begrenzung verleihen zu können, »eine Episode von mehr als persönlicher Wichtigkeit«21 sein könnte.
II »Im Hause des Gehenkten spricht man nicht vom Strick!« –
Die Schreibhemmung und das Scheitern ihrer individualpsychologischen Therapie In der Tat: Das Problem ist »von mehr als persönlicher Wichtigkeit«. Es gerät für Musil zur Frage der Existenz. Und: Die Episode bleibt keine Episode. Die Suche nach dem angemessenen Schreibmodus reflektiert – so meine These – bei Musil nachhaltig die Suche eines angemessenen Existenzmodus. Wie bei kaum einem anderen Autor vor und nach ihm ist bei Robert Musil die Frage des Lebens eine Frage des Schreibens. Zunächst aus – wie gezeigt – rein praktischen Gründen. Dort wo die Schrift versiegt, versiegt die einzige Einkommensquelle und mit ihr die einzige Möglichkeit, sich die materiellen Bedingungen als Basis des Lebens zu schaffen. Der Fall indes liegt bei Musil in Wahrheit wesentlich komplizierter. Noch einmal bewusst vereinfacht gefragt: Weshalb verabschiedet sich Musil nicht von jenem absoluten Anspruch des Schreibens, jenem Schreibmodus, dessen Exaktheitsideal um jeden Preis den bis in die feinste Verästelung des Labyrinths der Gedanken reichenden Ausdruck sucht? Weshalb richtet er sich um dieses Ideals willen physisch und psychisch zugrunde? Dass diesem Problemfeld an der Basis neurotische Strukturen unterliegen könnten, vermutet nicht zuletzt Musil selbst. Am 28. April 1930, auf dem Höhepunkt der Endredaktion des ersten Bandes des Mannes ohne Eigenschaften und bereits seit zwei Jahren von immerzu wiederkehrenden Schreibhemmungen geplagt, protokolliert Musil unter »dem Eindruck meine Hemmungen könnten doch in die Psychoanalyse fallen«, in seinem Tagebuch einen Traum: (Ich sehe soeben, daß ich einen naiv-drastischen Traum, den ich vor einiger Zeit hatte, als ich von den nervösen Herzzuständen beunruhigt wurde, nicht eingetragen habe: Ich gehe mit Martha [Musils Frau] und einem Herrn in einen Wald. Klettere auf einen glatten Baum mit weit auseinanderstehenden starken Ästen. Produziere mich ein wenig. Klettere höher, als ich es vorhatte, verleitet von dem Gelingen; oder richtiger gesagt, die durchkletterte Strecke wächst heimtückisch; es stellt sich auf einmal heraus, daß ich viel zu hoch bin für meine Möglichkeiten,
21 GW, Bd. 7, S. 969.
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ich traue mich nicht mehr zurück u. bekomme einen Angstanfall mit starkem Herzklopfen. Am Schluß, wahrscheinlich den Traum im Erwachen prüfend, stelle ich fest: der Baum war eine Buche (Buch!) und der Herr mein Jugendfreund Herzfeld (Herzfehler!).)22
Die Analyse des Traums wirft keine allzu großen Schwierigkeiten auf, da Musil seine Interpretation gleich mitliefert. Das Ersteigen des Baumes lässt beim Kletterer ein Gefühl der Überforderung entstehen, auf welches dessen Körper reagiert. Der Baum, auch hier ist Musil explizit, steht für den Roman Mann ohne Eigenschaften, dessen stockende Produktion seinen Autor in jener Phase de facto in einen Zustand nervöser Erschöpfung katapultiert hat. Die Symptome dieser Erschöpfung äußern sich in gesteigerter Ermüdung, Reizbarkeit, Schlafstörungen, unregelmäßiger Verdauung und einer Neurasthenie des Herzens. Bedingt durch die Herzneurasthenie war der Dichter im Februar 1929 auf offener Straße zusammengebrochen. Obwohl die ärztliche Diagnose Musil vordergründig eher beruhigt, 23 kehrt das Geschehene bei ihm nun im Traum wieder. Die Krise, um die es hier geht, und deren physische und psychische Symptome bereits in die Phase der Niederschrift des Novellenbandes Vereinigungen zurückreichen,24 setzt für den Mann ohne Eigenschaften spätestens im Frühjahr 1928 ein.25 22 Musil: Tagebücher, S. 715. 23 Siehe dazu den Brief Musils an Franz Blei vom 13. Februar 1929: »Ich hatte am Abend Ihrer Abreise noch eine zweite Attacke und bin mir plötzlich auf der Straße abhanden gekommen, es war sehr peinlich; zum Glück war es nachts, und war Martha dabei, aber ich bin seither den Eindruck noch nicht ganz losgeworden. Ich habe mich dann eingehend untersuchen lassen: es hat nichts ernstes auf sich und ist bloß eine neurasthenia cordis. Aber das Heilmittel ist augenblicklich unerschwinglich: für einige Wochen die Sorgen und Mißstimmungen loswerden.« In: Musil: Briefe, S. 441. Vgl. zu Musils körperlicher Verfassung während der Entstehung des Romans die detailreiche Studie von Karl Dinklage: Entstehung und Drucklegung des Mann ohne Eigenschaften in psychologischer Sicht, in: Robert Musil – Literatur, Philosophie, Psychologie (Musil-Studien, Bd. 12). Hg. von Josef Strutz, Johann Strutz. München, Salzburg 1984, S. 58–72. 24 Karl Corino verweist darauf, dass sich Robert Musil bereits im Jahre 1916 aufgrund »schwerer neurasthenischer Erscheinungen depressiver Art« im Reservespital in Innsbruck behandeln lassen musste. Vgl. Corino: Robert Musil, S. 241 f. 25 Ein Indiz dafür ist der Brief, den Martha Musil am 5. März 1929 an den gemeinsamen Freund Johannes von Allesch richtet: »Es ist, seit wir uns zuletzt sahen, Robert leider gar nicht gut gegangen; zu viel Arbeit, Sorgen, Nikotinvergiftung, und aus alledem ein nervöser Zusammenbruch. Er hätte ausspannen und sich am Land erholen sollen, aber wollte und konnte beides nicht. Doch geht es ihm jetzt wieder besser und der
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Musil erleidet zu jenem Zeitpunkt inmitten der Produktion des Romans eine so schwere Schreibhemmung, dass die Arbeit für einige Monate vollkommen aussetzt. Der Dichter verhängt seinen Schreibtisch mit Decken, umschreitet ihn Tag für Tag, dabei bis zu 80 Zigaretten rauchend, ohne eine einzige Zeile produzieren zu können.26 Dem ins Vertrauen gezogenen Schriftstellerkollegen Oskar Maurus Fontana nennt Robert Musil als Ursachen der Schreibkrise Unzufriedenheit mit dem Erreichten, Zweifel über die Fortführung, Unentschlossenheit, welchen der möglichen Wege er in der Fortführung des Romans weiterverfolgen solle, und auch die Unüberschaubarkeit der Gesamtkonzeption, namentlich in ihren Zusammenhängen und Verflechtungen von Entwicklung des Geschehens und Entwicklung des Gedanklichen.27
Dies mag, was die spezifischen Problemstellungen des Romans angeht, zutreffen, tangiert aber die Komplexität von Musils Produktionshemmung nur am Rande. In Wahrheit ist Musils Schreibkrise so komplett, sind die mit ihr gekoppelten Zustände nervöser Erschöpfung so gravierend, dass sich der Autor ab 1928 auf Vermittlung von Béla Balász bei dem Adler-Schüler Dr. Hugo Lukács in individualpsychologische Behandlung begeben muss. Lukács ermuntert Musil zu einer Selbstanalyse, mit deren Hilfe er zunächst einmal die Mechanismen von dessen Schreibblockade zu Tage zu fördern gedenkt. Es geht bei dieser individualpsychologischen Psychotechnik – wie Corino28 zu Recht bemerkt hat – im Kern um die Initiation eines Selbstheilungsvorgangs. Eingeleitet wird dieser Selbstheilungsvorgang im Sinne Adlers durch Durchbrechung des pathologisch verfestigten Selbstbewertungssystems des Patienten.29 Dieses System ist im Falle Musils auf den ersten Blick dergestalt konzi-
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erste Teil des Romans wird schon abgeschrieben, während er gleichzeitig die letzte Überarbeitung macht.« In: Musil: Briefe, S. 442. Vgl. zu dieser Arbeitsstörung Musils Johannes Cremerius: Robert Musil: Das Dilemma eines Schriftstellers vom Typus »poeta doctus« nach Freud, in: Psyche 33 (1979), S. 733–772. Oskar Maurus Fontana: Erinnerungen an Robert Musil, in: Robert Musil. Leben, Werk, Wirkung. Hg. von Karl Dinklage. Wien 1960, S. 336. Karl Corino: Ödipus oder Orest? Robert Musil und die Psychoanalyse, in: Vom Törleß zum Mann ohne Eigenschaften (Musil-Studien, Bd. 4). Hg. von Uwe Baur, Dietmar Goltschnigg. München, Salzburg 1973, S. 123–237, hier S. 196. Corinos Arbeit bietet bis heute die profundeste literaturpsychologische Studie zu Musil. Die von Lukács angewandte individualpsychologische Technik orientierte sich eng an der Psychotechnik Hugo Münsterbergs, die Musil selbst in einer Broschüre des österreichischen Bundesheeres für militärische Zwecke dargestellt und aufbereitet hatte. Vgl. Corino: Ödipus oder Orest?, S. 196.
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piert: Musil gerät beim Schreiben in den Teufelskreis miteinander »konkurrierender Zielvorstellungen«. Diese konkurrierenden Zielvorstellungen schließen sich – was ihre Realisation durch die Schrift angeht – gegenseitig aus. Gleichzeitig jedoch vermag der Schreibende von keiner dieser Zielvorstellungen zu lassen. So entsteht ein Teufelskreis, den Musil mittels verschiedenster Analogien ins Blickfeld zu bekommen sucht. Der Dichter vergleicht seinen Zustand beim Schreiben mit dem Kofferpacken zu Beginn einer Reise, »wenn ich […] beim Einpacken die Hände niederlegte und mich nicht entschließen konnte, womit ich anfangen sollte«.30 Oder aber er bekennt von sich: »Ich habe das Gefühl, einen Schwarm, eine Wolke von Möglichkeiten im Kopf zu haben, u. gleiche einem Mann der einen Ballen verschnüren will, der größer ist als er.«31 Was diese »Wolke von Möglichkeiten«, sprich: die miteinander konkurrierenden und sich gegenseitig hemmenden Zielvorstellungen auslöst, vermag Musil ihre Ursachen nur mittels ständig neu erzeugter Analogien bildhaft zu umkreisen: Es scheint eine Verwandtschaft zu bestehn zwischen dem Bergschwindel u. der Arbeitshemmung. In beiden Fällen stellt sich die Vorstellung ein: du kommst über dieses Stück nie hinweg. Diese Vorstellung wirkt ihrerseits lähmend. Manchmal ist sie auch bei der Arbeit von einer physischen Sensation (einem inneren Schmerz, vielleicht schmerzende Verwirrung) begleitet.32
Lukács’ Analyse sucht nun einerseits den Charakter dieser Lähmung genauer zu bestimmen – hierzu dient wie gesagt die Aufforderung an den Autor zur Selbstdiagnose seiner Arbeitshemmung. Andererseits zielt die individualpsychologische Technik darauf ab, durch die Entwicklung so genannter »Leitvorstellungen« die durch die miteinander konkurrierenden Zielvorstellungen erfolgte Spaltung aufzuheben. Denn diese sind es ja letztlich, die zu einer Stockung des Schreibprozesses führen. In Musils Nachlass findet sich unter dem Titel Technik sub specie Lukács ein Dokument jener Selbstanalyse, das die eingeschlagene Strategie wiedergibt. Es wird aufgrund seiner Wichtigkeit für das Folgende in extenso gegeben: Haupterscheinung: 2 konkurrierende Zielvorstellungen; Lähmung. Unterdrückung der einen anscheinend unmöglich; schwierige Verschmelzung.
30 Musil: Tagebücher, S. 682. 31 Musil: Tagebücher, S. 715 f. 32 Musil: Tagebücher, S. 714.
Individualpsychologische Diagnose und literarische Therapie Gewöhnlich:
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I. Die ursprüngliche Zielvorstellung
II . Aus herangezogenem Notenmaterial bildet sich konkurrierende Teilzielvorstellung.
III . Breite. Langeweile. Immer länger werden. Gewöhnliche Lösung: Einen oder einige Tage warten; die determinierende Kraft schwächt sich ab. Ein neuer Gedanke schafft eine Umgruppierung. Oder umgekehrt, eine Umgruppierung führt auf einen neuen Gedanken. Wichtiges wird plötzlich unwichtig u. fällt weg. Es entsteht immer zuviel Theorie und Essay
Danach wird die Eintragung zweispaltig, ganz so, als wolle Musil auch die in seinem Innern konkurrierenden Stimmen über die Eidetik des Schriftbilds sichtbar machen: Wenn Du weißt, was du willst, so kannst du. Du kannst immer wissen, was du willst.
Wie u[nd] warum habe ich mir diese Unmöglichkeit konstruiert?
Es muß sein, aber es langweilt mich. Ich Bleibe zum Schluß in lauter Mußsein-Sachen stecken.
Es geht einfach nicht mehr weiter. Die Maschine bleibt stecken. Nicht zu sehen, weshalb. Was zu tun wäre, ist noch ganz klar. Aber es erscheint lustlos, ›irgendwie schlecht‹. Man will etwas im Traum u. kann kein Glied regen: mit dieser
Militär hat Zeit; das ewige Warten, die Zigarette. Das uneigentliche Tun. Nie beim Schreiben das Gefühl tua res Agitur Gedrosselte Persönlichkeit
Sich für nichts entscheiden können: die Verantwortung nicht übernehmen:
Ohnmacht ist der Zu– stand verwandt; und was man, etwas einseitig, nach den Fällen der neurot. Charaktereffekte – die Feigheit des Neurotikers nennt, auch seine ›Entmutigung‹ sind sie nicht mit der Panik, dem Alb solcher Träume nahe verwandt?
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Wichtigstes Erfordernis: eine Leitvorstellung (sowohl fürs Schreiben wie fürs Verstehen nötig). U[nd] zw[ar] im Ganzen wie im Einzelnen. ›Was ist denn eigentlich der Inhalt?‹ – Diese Frage drückt eigentlich das ganz berechtigte Bedürfnis danach aus. Eine Leitvorstellung muß einfach u[nd] drastisch sein, sonst taugt sie nichts.33
Die Tiefe der Introspektion beeindruckt. Musil macht sich, wie von Lukács angeregt, auch unmittelbar daran, derartig »einfache und drastische Leitvorstellungen« zu formulieren, die den Fortgang seines Romans befördern sollen.34 So heißt es etwa in der Tagebucheintragung vom 28.04.1930 zum Roman: »Beim Schreiben schwieriger Partien zuerst das Leichte in Schlagworten, die Knoten- und Übergangsstellen aber ausführlich und richtig machen, um nicht schon ermüdet zu ihnen zu kommen.«35 In einer weiteren Leitvorstellung verordnet Musil sich: »Nie etwas zu Ende entwerfen, sondern immer einen Schritt über das Ende hinaus, in das Nächste hinein. Tue ich das nicht, so stopft sich zwischen Anfang und Ende zuviel und tendiert in die Breite.« Immer wieder findet sich bei Musil als Leitvorstellung: »Ich muß mir die Aufgabe erleichtern, sie teilen! Eins nach dem andern. Es ist bei allen Dingen so. Ich muß wahrscheinlich gar keine sachlich richtige Disposition machen, sondern bloß eine Disposition über mich treffen! Die Aufgabe in Teilaufgaben zerlegen.«36 Analog: Nun hat aber Ordnen auch noch einen zweiten Wert, außer Ablenkung und Beruhigung, und ist der für sie eigentlich bezeichnende: ich habe ihn auf die Formel divide et impera gebracht oder vulgärer eins nach dem andern und nicht drängeln! Es ist vielleicht gar nicht richtig, wenn ich von Ambivalenzen spreche, obgleich es wie eine Ambivalenz aussieht, wenn mir mehrerlei einfällt und ich mich für keines entschließen kann.37
33 Robert Musil: Tagebücher. Anmerkungen, Anhang, Register. Hg. von Adolf Frisé. Reinbek bei Hamburg 1976, S. 1182 f. 34 Wilkins und Kaiser haben zu Recht konstatiert, dass der Dichter während der individualpsychologischen Analyse bei Lukács große Aktivität im Hinblick auf die Entwicklung derartiger »Leitvorstellungen« bei der Produktion des Mannes ohne Eigenschaften entwickelt. Vgl. Ernst Kaiser, Eithne Wilkins: Robert Musil. Eine Einführung in das Werk. Stuttgart 1962, S. 141 ff. 35 Musil: Tagebücher, S. 716. 36 Musil: Tagebücher, S. 716. 37 Musil: Tagebücher, S. 715.
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Musil ist wie kaum ein anderer Autor dazu in der Lage, den eigenen schriftstellerischen Produktionsprozess einer schonungslosen Analyse zu unterwerfen. Allein: die gesteigerten psychologischen Kenntnisse lösen seine inneren Widersprüche und Zerrissenheit nicht auf. Die hartnäckige, von Musil über Monate praktizierte Selbstanalyse jedes einzelnen Details im Schreibverfahren erzeugt zwar eine Art Phänomenologie der Blockade bis in die kleinsten Verästelungen des psychischen Labyrinths hinein, eine Beseitigung der Beschwerden allerdings erreicht sie in jener Phase nicht. Dies hat zum einen damit zu tun, dass Musils Verhältnis zum psychotherapeutischen Prozess von einer Haltung geprägt ist, die einmal treffend als »stabilisierte Ambivalenz«38 bezeichnet worden ist. Besagte Ambivalenz ist schmerzlich: Einerseits lässt sich für Musil am Höhepunkt der Krisis in den Jahren 1929/30 nach monatelanger Schreibblockade und zahllosen gescheiterten Versuchen einer Selbstdisziplinierung der »Eindruck« nicht mehr abwehren, »meine Hemmungen könnten doch in die Psychoanalyse fallen«.39 Musil muss mit anderen Worten akzeptieren, dass seiner Schreibhemmung mehr als nur ein nervöser Erschöpfungszustand zugrunde liegt, welcher sich mit ein wenig Muse und Entspannung beheben ließe. Er ahnt, dass sich in seinem Innern eine sehr komplexe Neurose formiert hat, deren er aus eigener Kraft nicht mehr Herr zu werden vermag. Andererseits lässt sich die Tatsache, dass sich der Autor angesichts seiner Skepsis gegenüber psychoanalytischen Verfahren an diesem Punkt in individualpsychologische Behandlung begibt, nur als Ultima ratio Schritt begreifen. Denn was Musil am »Weltschlüsselklub«40 Psychoanalyse und ihren Ablegern offenkundig abstößt, ist deren Absolutheitsanspruch, mit der eigenen Theorie das dominierende Erklärungsmodell der menschlichen Psyche bereitzustellen. In diesem Zusammenhang mokiert Musil sich vor allem über Symbolüberinterpretationen41 und Fehldeutungen42 Freud’scher Provenienz.43 38 39 40 41
Corino: Ödipus oder Orest?, S. 228. Musil: Tagebücher, S. 715. Musil: Tagebücher, S. 225. Vgl. etwa die Tagebucheintragung Musils vom Herbst 1939: »Unterschiede zwischen dem frei sich bildenden schöpferischen und dem, das unter dem Zwang einer Idee entsteht, dem psychoanalytischen, z. B. in einem Brunnenrand die Vulva zu sehen.« In: Robert Musil: Tagebücher, Aphorismen, Essays und Reden. Hg. von Adolf Frisé. Hamburg 1955, S. 401. 42 Bevorzugtes Ziel des Musil’schen Spottes ist der Freud’sche Ödipuskomplex. Musil hält vor allem jenen von Freud zur seelischen Konstanten erhobenen Teil des Ödipus-Mythos für absurd, der den Wunsch nach sexueller Vereinigung des Kindes mit dem gegengeschlechtlichen Elternteil, sprich: der Mutter, betrifft. Musil widmet dem Thema 1931 die kurze Glosse Der bedrohte Ödipus und vermerkt im Tagebuch zur
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Viel wichtiger allerdings für das eigene Krankheitsbild ist ein anderer Punkt: Musil begreift dichterischen Schaffens- und psychoanalytischen Verstehensprozess letztlich als miteinander konkurrierende Unternehmungen. Dies führt zwangsläufig bei ihm als Autor zu Sicherungstendenzen gegenüber der »finster drohende[n] und lockende[n] Nachbarmacht Psychoanalyse«.44 Der Schriftsteller Musil wird dabei nicht müde, in immer neuen Formulierungen die Autonomie der dichterischen Produktion gegenüber jeglicher Psychologie zu betonen.45 Er lässt – nicht zuletzt auch geprägt sexuellen Reifung des heranwachsenden Jungen: »Dem steht nun die unsexuelle Körperlichkeit der Mutter entgegen. Die voluminöse und nicht verklärte Form. Der Geruch der älteren Haut. Ist das nicht ein höchst ärgerliches und herausforderndes Hindernis. Stellt sich nicht statt Ödipusempfindungen eine gereizte Ablehnung ein? […] Es ist das Gegenteil der Psychoanalyse. Nicht Gegenstand des Begehrens ist die Mutter, sondern Hindernis der Stimmung und Stimmungsentkleidung jedes Begehrens, falls der Zufall dem jungen Mann eine sexuelle Möglichkeit bietet.« In: Musil: Tagebücher, Aphorismen, Essays, S. 426 f. 43 Musil beschäftigt sich etwa ab 1905/06 mit der Psychoanalyse. Er liest 1913 nachweislich Freuds Studien über Hysterie, zu denen sich bereits 1904 ein Verweis in den Tagebüchern zu Hermann Bahrs Dialog vom Tragischen findet (Musil: Tagebücher, S. 37 f.). Belegt ist weiterhin Musils Lektüre von Freuds Über einen besonderen Typus von Objektwahl beim Mann aus dem Jahre 1910 und der Studie Psychopathologie des Alltagslebens aus dem Jahre 1914. In jener Phase rezipiert Musil auch die Studie des Freud-Schülers Otto Rank, Das Inzest-Motiv in Sage und Dichtung, eine Arbeit, die im Jahre 1912 erschienen war. Anfang der 30er Jahre folgen dann während der Niederschrift des Mannes ohne Eigenschaften die Lektüre von Freuds Das Unbehagen in der Kultur, Bruchstücke einer Hysterie-Analyse und Zur Einführung in den Narzißmus. In jene letzte Lektüre-Phase mischen sich auch Äußerungen, in denen Musil seine einseitig kritische Sichtweise – wohl bedingt durch die eigene Therapieerfahrung – modifiziert. So vermerkt das Tagebuch im Jahre 1941: »Die Psychoanalyse hat bewirkt, daß über das Sexuelle (das bis dahin der Romantik und der Niedrigkeit überlassen war) gesprochen werden könne: das ist ihre ungeheure zivilisatorische Leistung. Daneben mag es sogar unwichtig erscheinen, welchen Wert (Richtigkeit) sie als Psychologie hat.« In: Musil: Tagebücher, Aphorismen, Essays, S. 573. Vgl. zur Auseinandersetzung Musils mit der Psychoanalyse Peter Henninger: Der Buchstabe und der Geist. Unbewußte Determinierung im Schreiben Robert Musils. Frankfurt a. M. 1980, S. 161–189; Hildegard Lahme-Gronostaj: Einbildung und Erkenntnis bei Robert Musil im Verständnis der »Nachbarmacht« Psychoanalyse. Würzburg 1991, S. 13 ff.; Sabine Kyora: Psychoanalyse und Prosa im 20. Jahrhundert. Stuttgart 1992, S. 162–239. 44 Vgl. Corino: Ödipus oder Orest?, S. 181. 45 Eine Schlüsselpassage findet sich zu diesem Punkt bei Musil in Theoretisches zu dem Leben eines Dichters, einem 1935 verfassten und Fragment gebliebenen Vorwort zum Nachlaß zu Lebzeiten. Dort heißt es: »Länger haftete mir der Ruf des Psychologen an. Ich habe mich von Anfang an gegen ihn gewehrt […] Denn was an einer Dichtung für Psychologie gilt, ist etwas anderes als Psychologie, so wie eben Dichtung etwas anderes als Wissenschaft ist […] Ich glaube, die Unterscheidung wird sogar heute
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durch das eigene Studium der experimentellen Psychologie – in einem sehr eingeschränkten Sinne Psychologie nur dort als Psychologie gelten, wo sie empirische Wissenschaft ist. Dies verlangt, dass jede Beobachtung, um im Sinne Musils als psychologisches Faktum gelten zu können, in ein Erklärungsmuster eingebettet werden muss, welches einem strikten Ursache-Wirkungs-Prinzip folgt.46 Exakt auf diese Kausalität jedoch lassen sich seelische, innerpsychische Prozesse dem Glauben Musils nach nicht verpflichten. Die Darstellung menschlichen Verhaltens innerhalb der Kunst allein auf derartige psychologische Fakten zu gründen, gleicht einem berühmten Ausspruch Musils nach dem Unterfangen, »die Landschaft im Wagen zu suchen«.47 Psychologische Data sind für den Schriftsteller Musil nur eines von vielen Gestaltungsmitteln, deren sich der Dichter bedient. Profunderes Erfassen komplexer psychischer Handlungen entsteht im Sinne Musils letztlich jedoch nur dort, wo Verstandes- und Gefühlsordnung, Ratioïdes und NichtRatioïdes,48 Empirisches und sich empirischem Zugriff Entziehendes zugleich vom Dichter ins Blickfeld genommen werden. Dieses Terrain aber ist […] das Heimatgebiet des Dichters, das Herrschaftsgebiet seiner Vernunft. Während sein Widerpart [der Psychologe] das Feste sucht und zufrieden ist, wenn er zu seiner Berechnung so viel Gleichungen aufstellen kann, als er Unbekannte vorfindet, ist hier von vorneherein der Unbekannten, der Gleichungen und der Lösungsmöglichkeiten kein Ende. Die Aufgabe ist: immer neue Lösungen, Zusammenhänge, Konstellationen, Variable zu entdecken, Prototypen von Geschenoch nicht genug beachtet und z. B. fast jedes Mal außer acht gelassen, wenn sich Forscher auf Dichter berufen, als sollten ihnen diese das Material oder eine fertige Vorstufe liefern. Die Unterscheidung selbst ist einfach: Dichtung vermittelt nicht Wissen und Erkenntnis. Aber: Dichtung benutzt Wissen und Erkenntnis. Und zwar von der inneren Welt natürlich genau so wie von der äußeren.« In: GW, Bd. 7, S. 967. 46 Siehe zu diesem Punkt: Jürgen Daiber: Experimentalphysik des Geistes. Novalis und das romantische Experiment. Göttingen 2001, S. 13 ff. 47 Vgl. Robert Musil: Skizze der Erkenntnis des Dichters, in: GW, Bd. 8, S. 997; vgl. zum Verhältnis von Dichtung und Psychologie in diesem Zusammenhang auch die Studie von Fred Lönker: »Die Landschaft nicht im Wagen suchen«. Der frühe Musil und die Psychologie, in: Scientia Poetica 1 (1997), S. 183–205. 48 Die Termini des Ratioïden und Nicht-Ratioïden entfaltet Musil in der 1918 entstandenen Studie Skizze der Erkenntnis des Dichters. Das Ratioïde umfasst bei Musil »roh umgrenzt – alles wissenschaftlich Systematisierbare, in Gesetze und Regeln Zusammenfaßbare«, mithin jene Objektwelt, deren Analyse der Sphäre der Naturwissenschaften unterliegt. Das Nicht-Ratioïde umfasst im Sinne Musils »das Gebiet der Werte und Bewertungen, das der ethischen und ästhetischen Beziehungen, das Gebiet der Idee«. Jene Bereiche unterliegen nicht naturwissenschaftlichem Zugriff, sondern reichen an die Sphäre von Dichtung und Religion. Vgl. Skizze der Erkenntnis des Dichters, in: GW, Bd. 8, S. 1025–1030.
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hensabläufen hinzustellen, lockende Vorbilder, wie man Mensch sein kann, den inneren Menschen erfinden […] Psychologie gehört in das ratioïde Gebiet und die Mannigfaltigkeit ihrer Tatsachen ist auch gar nicht unendlich, wie die Existenzmöglichkeit der Psychologie als Erfahrungswissenschaft lehrt. Was unberechenbar mannigfaltig ist, sind nur die seelischen Motive und mit ihnen hat die Psychologie nichts zu tun.49
Musils Dilemma besteht nun darin, dass er diese für seinen schriftstellerischen Produktionsprozess gültige Maxime radikal auch auf den eigenen psychologischen Heilungsprozess anwendet. Anstatt die Komplexität seiner Neurose als Zusammenspiel heterogener seelischer Variablen zu akzeptieren, beharrt er auf einer einseitigen Rationalisierung seiner neurotischen Schreibhemmung. Was er am psychoanalytischen Prozess an sich duldet, ist lediglich eine Konstatierung der Hemmung, mittels einer »schematischen und stark abstrahierenden Apperzeptionsweise«, was sich wie gezeigt im Erstellen von Richtlinien und Leitvorstellungen niederschlägt. Musil protokolliert diese psychischen »Fakten« und schreibt sie in einem quälend langen Prozess der Selbstanalyse auf Hunderten von Blättern nieder. Exakt eine solch schematische Analyse kommt im Sinne Adlers den Widersprüchen und Spannungen, denen jedes Individuum als leiblich-seelisch-soziale Einheit im Zuge einer Neurose ausgesetzt ist, nicht auf die Spur. Sie dokumentiert vielmehr durch ihre »neurotische Sicherungstendenz« laut Adler recht eigentlich erst die Fehlhaltung des neurotisch Disponierten, die es zu therapieren gilt. Dieser Fehler des neurotischen Denkens, identisch mit zu weit getriebener Abstraktion, ist gleichfalls durch die neurotische Sicherungstendenz verschuldet; diese braucht zum Zwecke des Wählens, Ahnens und Handelns scharf umschriebene Richtlinien […] Dadurch entfremdet sich der Mensch der konkreten Wirklichkeit. Denn in dieser sich zurechtzufinden, erfordert Elastizität, nicht Starrheit der Psyche, eine Benützung der Abstraktion, nicht eine Anbetung, Zwecksetzung und Vergötterung derselben.50
Wo es also im Sinne der Individualpsychologie darum gehen würde, die konzipierten Leitvorstellungen in einer Art weicher Heuristik als flexible Konstrukte zu handhaben, verabsolutiert Musil den Wert der schriftlichen Fixierungen seiner Hemmungsmechanismen. Er entwirft eine Art Phänomenologie der Hemmung und folgt ihren Erscheinungen bis in die kleinsten Verästelungen und Seitenpfade in seinem Innern nach. Er formuliert subtilste Leitvorstellungen, mittels deren er der erkannten Hemmung Herr zu werden
49 Musil: Skizze der Erkenntnis des Dichters, S. 1029. 50 Vgl. Corino: Ödipus oder Orest?, S. 198.
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gedenkt. Anstatt diese Leitvorstellungen jedoch beweglich zu gebrauchen, verharrt Musil in einer Art Trotzhaltung, einer Starrheit der Psyche, die keinen Augenblick vom Fluch der Analyse lassen kann. Musil insistiert auf der fortgesetzten Selbstbeobachtung, auch dort noch, wo das Hemmnis längst vollkommen ins Blickfeld genommen ist. Durch diesen Zwang, das neurotische Symptom mit niemals nachlassender Aufmerksamkeit zu ergründen, lässt der Neurotiker keinerlei Raum für Lösungswege außerhalb des Diktats seiner Sicherungstendenz. Anstatt ab einem bestimmten Punkt nach erfolgter Rationalisierung der Leitvorstellungen von diesen zu lassen, erhöht Musil nur seine »Analysefrequenz« und fordert damit den inneren Zensor noch zu erhöhter Produktion auf. Dort, wo es für Musil im Sinne Freuds darum gehen würde, dem Weg der freien Assoziation zu folgen und damit die zwanghafte Sicherungstendenz zu lockern, verfestigt Musil diese noch, indem er einseitig bei der Suche nach kausalen Erklärungsmustern verharrt. Geradezu exemplarisch beschreibt die Tagebucheintragung vom 5. Januar 1929 dieses Wechselspiel zwischen extremster Analyse der Hemmung und ihrem sofortigen Verschwinden bei einsetzender Lockerung der inneren Zensur: Hemmung: 5. I. 29. Natürlich bei Beginn der Reinschrift. Erstes Kapitel [des MoE] neu zu machen; vor 3 Tagen befriedigende Idee; gestern begonnen, erster Teil gut geglückt: die Hemmung setzt ein. Wie tat sie das? Ich habe auch einen mich befriedigenden letzten und Hauptteil des ersten Kapitels im Kopf. Ich setze den ersten Teil in einer Weise fort, die formal ungeschickt wird und von mir gestrichen wird. Es fällt mir ein, die nicht verwendete Schilderung der Geräusche und Geschwindigkeiten der Großstadt hier einzuschieben. Es schwebt mir vor, wie sie in den letzten Teil übergehen soll. Aber ungenau und nicht fixiert. Nun ist die klassische Situation geschaffen: Zwei fixierte Pfeiler und dazwischen ein Übergang, der nicht zustande kommen will. Ich schiebe ihn ein und bringe ihn nur zum Teil unter. Ich streiche und versuche es anders. Mißfallen schleicht sich ein. Ich verliere die Linie des Ganzen. Ich bleibe an stilistischen Einzelheiten, Stellung von Neben- und Hauptsätzen udgl. hängen. Mutlosigkeit. Wenn das so weitergeht, brauche ich ein Jahr zur Reinschrift. […] Es ist Abend geworden, ich lasse die Sache stehn, lese. Im Augenblick, wo ich die Lampen löschen will, fällt mir, wie oft, ein, wie es zu machen wäre. Notiere es. Ich trage nach: es hat mich gestört, daß ich mir nicht vorher notierte, wie ich mir den Übergang denke. Es hätte mich ebenso gestört, wenn ich es notiert hätte.51
Die Beschreibung der Hemmung und ihrer Lösung sind aus psychoanalytischer Perspektive exemplarisch. Exemplarisch deshalb, weil Musil den Lösungsweg vor Augen hat, ihn erlebt und dokumentiert, aber dennoch keine 51 Musil: Tagebücher, Aphorismen, Essays, S. 301 f.
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Verhaltensänderung aus dem Erlebten zu gewinnen vermag. Der Knoten wird vom Bewusstsein quasi nur zerschlagen, um im nächsten Augenblick durch eben dieses Bewusstsein einen neuen Knoten zu knüpfen. Jener Moment, da Musil das in seinem »Kopf« bereits fertige und »befriedigende Kapitel« aufs Papier bringt, ist der Moment, da die Hemmung einsetzt. Der Charakter der Hemmung besteht in der Unfähigkeit Musils, die Wirklichkeit des Geschriebenen zu akzeptieren, mithin zu akzeptieren, dass die unendlichen Formulierungen der inneren Gedankenwelt zwangsläufig zur Endlichkeit einer einzigen Formulierung auf dem Blatte gerinnen. Musil verweigert mit anderen Worten einem Glauben die Gefolgschaft, der schöpferisches Verhalten erst ermöglicht. Es ist der Glaube daran, dass die Entstehung eines jeden Textes notwendig die Entscheidung gegen einen anderen Text verlangt, der als Möglichkeit der inneren Welt ebensogut hätte entstehen können. Es ist der Glaube daran, dass mithin jede Wahl einer Formulierung, einer Phrase, einer syntaktischen Konstellation den Verzicht auf andere Formulierungen, andere Phrasen, andere syntaktische Konstellationen mit einschließt. Nur jene geistige Haltung ermöglicht Text, in diesem Falle literarischen Text, die bereit ist, aus der »Wolke von Möglichkeiten« der inneren Formulierungen die Wirklichkeit der einen äußeren Formulierung herauszudestillieren. Dieser einen Formulierung verleiht sie Permanenz, indem sie dem Modus der Möglichkeit Abbitte tut, sprich: das einmal Geschriebene auf dem Blatte stehen lässt und nicht ständig verwirft. Eben dazu ist Musil in jener Phase des Höhepunkts seiner Schreibhemmung in den Jahren 1928/29 schlechthin außerstande. Er überblickt den IstModus des Geschriebenen, zeigt sich unzufrieden, »schiebt« einen neuen Textübergang zwischen zwei Gedanken ein, »streicht ihn«, konzipiert einen neuen, streicht diesen wiederum, gerät daraufhin in forcierte Unzufriedenheit mit anderem bereits Geschriebenen im Umfeld der prekären Stelle, schreibt dieses um, streicht es wieder usw. ad infinitum. Weite Partien des Mannes ohne Eigenschaften werden auf diese Weise bis zu 20-mal und mehr formuliert, gestrichen, umgeschrieben, reformuliert, gestrichen, korrigiert und neu geschrieben. Noch an den Druckfahnen des fertigen ersten Teils des zweiten Bandes des Romans macht sich Musil zu schaffen, getrieben von der zwanghaft neurotischen Tendenz, »in den Gefühlskapiteln des Buchs stellenweise kein Wort auf dem andern zu lassen«.52
52 In einem Brief an Bruno Fürst Anfang April 1938, in: Musil: Briefe, S. 813.
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Die protokollierte Hemmung des Tagebuchs gibt Einblick in das Wesen jenes Dämons, von dem Musil getrieben wird, ein Dämon, der den Schreibenden dazu zwingt, »daß ich jeden Morgen durchstreiche, was ich tags zuvor geschrieben habe«.53 Hinter diesem Zwang zu »Schrift – Streichung – Neuformulierung – erneuter Streichung – Neuformulierung – usw.« lauert die Sicherungstendenz des Neurotikers, jene Haltung, die Adler einmal als den inneren Zwang des »Alles-haben-Wollens« charakterisiert hat. Sie erzeugt bei Musil das als schlechthin unerträglich empfundene Bewusstsein, die erfahrene ganze Welt im Akt der Niederschrift zum fixierten bruchstückhaften Weltausschnitt zu machen, und treibt ihn permanent dazu, das einmal Fixierte immer neuen Modifikationen zu unterziehen. Unter solcher Perspektive mutiert die Krise des Schreibens zur Neurose.
III »… am Ende vielleicht so zu leben […], als wäre man kein Mensch,
sondern bloß eine Gestalt in einem Buch«54 – die Schreibhemmung und ihre literarische Therapie Was also bleibt zu tun für einen Schriftsteller, der eine »Wolke von Möglichkeiten« in sich trägt und nicht vermag, diese Möglichkeiten in die eine und einzige Wirklichkeit der Formulierung zu bringen? Ein monokausales Erklärungsmuster lockt an dieser Stelle mit großer Verführungskraft, dem auch so mancher Exeget willig gefolgt ist. Der Psychoanalytiker und Literaturpsychologe Johannes Cremerius kommt in einer der wenigen Studien, die sich mit der besagten Schreibhemmung Musils auseinandersetzen, zu dem Ergebnis: Aus der unendlichen Analyse seiner [Musils] privaten Neurose entsteht die prototypische Figur des Mannes ohne Eigenschaften. Musil macht aus seinem privaten Elend den exemplarischen Fall. Jetzt erhält alles, was sein Dilemma ausmacht, […] sein verzweifelter und scheiternder Versuch, aus den psychologischen, philosophischen und politischen Ideen der Zeit eine überzeugende, geschlossene Weltbeschreibung zu erstellen und sie immer wieder zu bezweifeln, schließlich zu zersetzen, einen Sinn. Wir erkennen in diesem ›Fall‹ die unauflösbaren Paradoxien der Zeit, die Nöte einer Welt in der Krise, uns selber in einem Spiegel. Das macht den Mann ohne Eigenschaften zum psychoanalytischen Roman par excellence.55
53 An Bruno Fürst, April/Mai 1938, in: Musil: Briefe, S. 816. 54 Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Erstes und zweites Buch. Hg. von Adolf Frisé. Reinbek bei Hamburg 1987, S. 592 (Sigle: MoE). 55 Cremerius: Robert Musil, S. 767 f.
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An diesen Thesen scheint manches wahr, weitaus mehr dagegen falsch zu sein. Wahr – und nahe an der Trivialität – ist, dass sich die Ängste und Nöte des Verfassers Robert Musil bei der Produktion des Romans Mann ohne Eigenschaften in Inhalt und Struktur des Romans widerspiegeln. Es wurde in der Forschung bereits herausgestellt, dass jenes berühmte 4. Kapitel im Mann ohne Eigenschaften (»Wenn es Wirklichkeitssinn gibt, muß es auch Möglichkeitssinn geben«), in welchem das Mögliche »nicht nur die Träume nervenschwacher Personen, sondern auch die noch nicht erwachten Absichten Gottes«56 umfasst, nicht zuletzt Ausdrucks dessen ist, was Adler als für den Neurotiker typischen »Überlegenheitskomplex«57 charakterisiert hat, sprich: die Kompensation einer Neurose mittels narzisstischer Selbstglorifizierung.58 Falsch dagegen ist, ganz grundsätzlich gesprochen, von einer Art 1:1-Projektion von Autoren- und Figuren-Ich auszugehen: Musil ≠ Ulrich. Gerade beim Schriftsteller Robert Musil, der derartige Zusammenhänge im Zuge der Niederschrift des Romans ständig reflektiert, gestaltet sich die Verwobenheit von Figurenkonzeption und Autobiographie ungleich komplizierter. In einem Fragment, das sich im Tagebuch des Jahres 1921 findet, gibt Musil Auskunft über die eingeschlagene Schreibstrategie im Verhältnis von Erzähler und Figur: Ich wird in diesem Buche weder den Verfasser bedeuten, noch eine von ihm erfundene Person, sondern ein wechselndes Gemisch von beidem […] Mit anderen Worten, ich habe weder die überpersönliche oder unpersönliche Absicht die Wahrheit zu sagen […] noch die Absicht, mich zu einer Romanfigur zu machen, als welche ich ein Charakter sein müßte (… mir gewiß sein müßte, was ich nicht bin); denn ich will keiner sein. Sondern so wie ein schlechter Mensch mit fremden Geld kühner spekuliert als mit eigenem, will ich mit meinen Gedanken auch über die Grenze dessen nachhängen, was ich unter allen Umständen verantworten könnte; das nenne ich Essay, Versuche. Und da alles Gute Regeln hat, aber das Böse noch kein System besitzt, als Ausnahme behandelt wird und somit stets persönlich bleibt, kann ich, der ich weder ein Gelehrter, noch ein Charakter bin […] meinen Gedanken nur einen Ich-Zusammenhang geben; so will es die Sache, nicht ich. Dieses Ich bin nicht ich, wie man wohl sieht […], denn ich will fiktiv-biographisch nur soviel unterlegen als dienlich ist um gewisse Gedanken auf kürzerem Wege verständlich zu machen.59 56 MoE, S. 16. 57 Alfred Adler: Der Sinn des Lebens. Frankfurt a. M. 1973, S. 79 ff. Auf die überwiegend narzisstische Natur dichterischer Schreibhemmungen verweist auch Anton Ehrenzweig: The Hidden Order of Art. A Study in the Psychology of Artistic Imagination. London 1967. 58 Vgl. Klaus Laermann: Eigenschaftslosigkeit. Reflexionen zu Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften. Stuttgart 1970, S. 24–36. 59 Musil: Tagebücher, Aphorismen, Essays, S. 277.
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In dieser Aussage steckt das Erzählprogramm des Mannes ohne Eigenschaften. Der Dichter geht biographisch in die Figuren ein und überhöht sie gleichzeitig fiktional. Er montiert Bestandteile seiner eigenen Biographie in die Figurenzeichnungen, andere Wesenspartikel kombiniert er mittels seiner die Wirklichkeit überschreitenden Phantasie hinzu.60 Das Produkt ist jenes »wechselnde Gemisch« von »erfundener« Figur und »realem« Verfasser, welches Musil als Vehikel dient, »gewisse Gedanken auf kürzerem Wege verständlich zu machen«.61 So erinnert sich Musil etwa in einer Tagebucheintragung vom Februar 1940 an Elsa von Czuber, Tochter eines Professors der Mathematik an der 60 Vgl. zu diesem Punkt eine neuere Studie von Romanita Constantinescu: Selbstvermöglichungsstrategien des Erzählers im modernen Roman. Von ästhetischer Selbstaufsplitterung bis zu ethischer Selbstsetzung über mehrfache Rollendistanzen im Erzählen. Robert Musil – Max Frisch – Martin Walser – Alfred Andersch. Frankfurt a. M. 1998, S. 73–165. Constantinescu weist für den Mann ohne Eigenschaften exakt jene angesprochenen »Ineinanderschachtelungen und Überlappungen in der figuralen Komposition nach«, die es Musil gestatten, seine Persona fiktiv überhöht auf unterschiedliche Figuren zu verteilen. 61 In der Tat erscheinen die Deutungsangebote des Textes, den Helden mit seinem Verfasser zu identifizieren, verführerisch groß: Ulrich im Mann ohne Eigenschaften hat Mathematik studiert, er ist bis zum 30. Jahr ohne festen Beruf und noch als Erwachsener auf die Zuwendungen des Vaters angewiesen, der eine Professur in einer großen Provinzstadt innehat. Musil selbst promoviert 1908 in Philosophie, Physik und Mathematik, er lebt noch als 30-jähriger von den monatlichen Überweisungen des Vaters, dieser bekleidet seit 1890 eine Professur an der Technischen Hochschule Brünn. Ulrich ist ein guter Sportler, er boxt und spielt passabel Tennis – Musil tut dies auch. Ulrich hat eine militärische Ausbildung absolviert und im Range eines Offiziers abgebrochen – Musil hat dies auch. Ulrich wird »in zartem Alter« vom Elternhaus getrennt und wächst in einem Internat auf – Musil ebenso. Die Liste der Parallelitäten ließe sich mühelos fortsetzen. Blickt man jedoch etwas genauer hin, lassen sich ebenso mühelos gravierende Unterschiede zwischen Musil und seinem Helden Ulrich festmachen. Musils Studienschwerpunkte liegen vor allem in der experimentellen Psychologie und in der Philosophie, weniger in der Mathematik. Die monatlichen Überweisungen seitens des Elternhauses fallen bei Musil längst nicht so opulent wie bei seinem fiktiven Helden aus. Das Vorbild jenes Palais etwa, welches Ulrich in Wien anmietet, konnte sein Schöpfer Musil lediglich vom Fenster seines Schreibtisches während der Produktion des Romans Der Mann ohne Eigenschaften aus bewundern (vgl. Corino: Robert Musil, S. 348). Musils Vater war Maschinenbauer, kein Jurist. Musil selbst schied als Landessturmhauptmann, nicht als Leutnant aus dem Militärdienst. Neben diesen Detailabweichungen des fiktionalen Geschehens von der Realität zeigen sich gravierende Unterschiede, die es schlichtweg verbieten, die Analogien zwischen Verfasser und Hauptfigur überzustrapazieren. Die das erste Buch des Romans tragende Parallelaktion ist reine Fiktion. Sie hat weder in dieser noch in ähnlich abgewandelter Form jemals stattgefunden.
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Technischen Hochschule in Brünn, an welcher Musil ab 1901 studiert hatte. Diese Erinnerung wiederum löst eine Assoziation an die früh verstorbene Schwester aus, die als Wunschprojektion in die Figurenzeichnung Agathes einfließt.62 Beide Assoziationen gehen dann, miteinander kombiniert, in den Roman ein und verleihen der Geschwisterliebe im Mann ohne Eigenschaften ihre inzestuöse Gestalt. Ich hatte mir anfangs Elsa v. Czuber ausgesucht, um sie zu lieben. Emanuel v. Cz., Prof. der Mathem. an der TH . in Brünn, später in Wien. […] Seine Tochter hat einen österr. Erzherzog geheiratet, der ihretwegen seiner Würde entsagte. Aus mir hatte sie sich nicht das geringste gemacht. Ich bewahre eine Erinnerung an ihr dunkelblondes, seidenweiches, langes und sehr schön gewachsenes u. gebürstetes Haar. Diese Erinnerung ist offenkundig in den MoE eingegangen. Aber sie hieß auch Elsa so wie meine vor meiner Geburt gestorbene Schwester, mit der ich einen gewissen Kultus trieb. Ersichtlich sind das Zusammenhänge! (Ich trieb in Wahrheit keinen Kultus; aber diese Schwester interessierte mich. Dachte ich manchmal: wie, wenn sie noch am Leben wäre; ihr stünde ich am nächsten? Setzte ich mich an ihre Stelle?63
Das Tagebuch enthüllt gerade an diesem Detail die von Musil immer wieder eingesetzte Mischtechnik des »fiktiv-biographischen«. Ein Wirklichkeitspartikel wird aus dem Kontext herausgelöst, mit phantasierten Elementen kombiniert und über den Roman in ein neues Umfeld gebracht. Musil geht auf diese Weise ein in seinen ästhetischen Entwurf fiktiver Identitäten und bleibt gleichzeitig hinter eben diesen Identitäten verborgen. So fragwürdig es also erscheint, angesichts dieser Mischtechnik von einer Übereinstimmung zwischen Verfasser und Figur auszugehen, so offenkundig ist, dass Musil seine zentrale Schwierigkeit, die überbordende »Wolke von Möglichkeiten« zur einzigen konsistenten Gestalt der bündigen Formulierung zu verdichten, in den Roman einfließen lässt. Er bedient sich dabei jenes autoreflexiven Verfahrens, welches für die Literatur der Moderne einschlägig ist.64 Gemeint ist eine Art des Schreibens, 62 Musils Schwester Elsa stirbt einjährig, vier Jahre vor Robert Musils Geburt. Agathe, Ulrichs 27-jährige Schwester im Roman und Schlüsselfigur der Heiligen Gespräche des zweiten Buches, ist mithin bloße Wunschprojektion des Autors, durchgespielte Fiktion, die zur Linderung eines tief empfundenen biographischen Mangels beitragen soll. Vgl. etwa die Tagebucheintragung 155 vom Februar 1940: »Ich erinnere mich allerdings aus der Kittelzeit, daß ich manchmal auch ein Mädchen sein wollte«. Und sofort danach, mit der bei Musil unvermeidlichen Rationalisierungstendenz: »Ich möchte das für eine Reduplikation der Erotik halten.« In: Musil: Tagebücher, S. 953. 63 Musil: Tagebücher, S. 952 f. 64 Vgl. etwa Jonathan Culler: Literaturtheorie. Stuttgart 2002, S. 52 f.
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die nicht nur etwas darstellt, sondern zugleich das Wesen ihrer Darstellung reflektiert, indem sie Probleme des Schreibens selbst zum Gegenstand der Darstellung macht. Die angestrebte Metaebene solch autoreflexiven Schreibens dient dazu, in einem steten Wechsel von Selbstschöpfung und Selbstaufhebung den unauflöslichen Widerstreit zwischen der Bedingtheit der Sprache und der Unbedingtheit dessen, was über sie zum Ausdruck gebracht werden soll, durchlässig zu machen. Einer solchen Form von Literatur ist die kritische Reflexion ihres eigenen Verfahrens immanent. Exakt diese Technik sucht Musil sich zunutze zu machen. Sein Vorstoß ist allerdings – dies unterscheidet ihn etwa vom romantischen Verfahren einer »Transzendentalpoesie«65 – im Kern anti-metaphysisch. Nicht um eine Darstellung des Idealen innerhalb des Realen geht es im Mann ohne Eigenschaften, sondern um die Frage, wie die Kontingenz der Welt über die lineare und kohärente Struktur der Schrift zum Ausdruck gebracht werden kann. Oder, in einer von Musil geprägten Formel ausgedrückt, die sich im Nachlass des Mannes ohne Eigenschaften findet: Die Geschichte dieses Romans kommt darauf hinaus, daß die Geschichte, die in ihm erzählt werden sollte, nicht erzählt wird.66
Musil erzählt mit anderen Worten von den Schwierigkeiten des Erzählens. Mehr noch: Musil erzählt – so meine These – von der Unmöglichkeit des Erzählens. Und über diese Kritik seines eigenen Schreibens gelangt er zur Schrift. Der Kern von Musils Schreibhemmung, die Krisis des Verstummens angesichts eines von Ideen, Skizzen und Exzerpten überbordenden Schreibtisches soll auf diese Weise literarisch therapiert werden. Die Blockade Musils, die Qual, den Modus zahlloser möglicher Formulierungen auf die Wirklichkeit der einzigen Formulierung reduzieren zu müssen, kommt auf diesem verschlungenen Wege am Ende doch zur Sprache. Der Autor sucht seine Schreibhemmung zu überwinden, indem er sie zum Gegenstand seines Schreibens macht. Sein Zögern wird zum Zögern des Romans. Wie wäre so etwas zu belegen? Zum einen lässt es sich an der Form des Romans zeigen. Der Mann ohne Eigenschaften ist häufig wegen seiner überbordenden Reflexionen auf Ablehnung gestoßen. Die Überfülle der reflexiven Einschübe zerstöre die Fabel oder lasse zumindest das Erzählerische über-
65 Zum Begriff der Transzendentalpoesie, den Friedrich Schlegel im Athenäums-Fragment 238 einführt, vgl. Lothar Pikulik: Frühromantik. München 1992, S. 155 ff. 66 Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften II. Aus dem Nachlaß hg. von Adolf Frisé. Reinbek bei Hamburg 1987, S. 1937.
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mäßig stark in den Hintergrund treten, so der häufig erhobene Vorwurf.67 Walter Benjamin etwa bemerkt in einem Brief an Gerhard Scholem vom 23. Mai 1933: »Magst du den Musil lesen, so behalte ihn nur vorläufig. Mir gibt das keinen Geschmack mehr ab und ich habe diesen Autor bei mir mit der Erkenntnis verabschiedet, daß er klüger ist, als er’s nötig hat.«68 Benjamin legt mit seiner lakonischen Bemerkung den Finger in eine offene Wunde. Eine Wunde, um deren infektiöse Kraft nicht zuletzt Musil selbst sehr genau weiß. In einer Eintragung des Tagebuchs stellt er selbstkritisch die »Kopflastigkeit« des Romans als Mangel heraus: »Müßte nicht gesagt werden, daß ich einfach nicht den Mut gehabt habe, was mich philosophisch beschäftigt hat, denkerisch und wissenschaftlich darzustellen, und daß es darum hintenrum in meine Erzählungen eindringt und diese unmöglich macht?«69 Auf das Hauptwerk Der Mann ohne Eigenschaften gewendet, findet sich nach Beendigung des ersten Bandes bei Musil 1934 eine bezeichnende Stellungnahme zu angesprochenem Problemfeld, welche die Frage nach dem Überhang des Reflexiven weiter einkreist: »Ich mußte gestern rasch die Korrekturen von 300 Seiten überprüfen und war ganz niedergeschlagen von der Überladenheit des Romans mit Essayistischem, das zerfließt und nicht haften bleibt.«70 Hier zeigt sich das Dilemma Musils. Sein Hang zum Essayistischen entspricht – auch wenn er hier beklagt wird – nicht unreflektierter Neigung oder gar handwerklichem Unvermögen. Musil ergreift vielmehr mit Bedacht die Stilform des Essay, obwohl er um die Gefahren des Essayistischen für seinen Roman nur zu genau weiß.71 Bei ihm ist, darauf hat Marie-Louise Roth zu
67 Vgl. dazu Marie-Louise Roth: Robert Musil. Ethik und Ästhetik. München 1972, S. 281–288. Ungewöhnlich deutlich in diesem Punkt ist die Position Peter Handkes: »Aber der Mann ohne Eigenschaften ist für mich ein bis in die einzelnen Sätze größenwahnsinniges unerträglich meinungsverliebtes Werk. Ich empfinde es manchmal als lästig, daß mir diese Bücher die schöne, freie Welt, als die mir die Literatur immer vorschwebt, versperren.« In: Die ZEIT, 3.03.1989, S. 77. 68 Zitiert nach: Dieter Bachmann: Essay und Essayismus. Stuttgart 1969, S. 191. 69 Musil: Tagebücher, Aphorismen, Essays, S. 458. 70 Musil: Tagebücher, Aphorismen, Essays, S. 340 f. 71 In einem Interview aus dem Jahre 1926 mit Oskar Maria Fontana, also inmitten der Produktionsphase des ersten Buchs des Romans antwortet Musil auf die Frage: »Fürchten Sie nicht bei der Struktur Ihres Romans das Essayistische?« – »Ich fürchte es schon. Ebendarum habe ich es durch zwei Mittel bekämpft. Zuerst durch eine ironische Grundhaltung, wobei ich Wert darauf lege, daß mir Ironie nicht eine Geste der Überlegenheit ist, sondern eine Form des Kampfes. Zweitens habe ich meiner Meinung nach allem Essayistischen gegenüber ein Gegengewicht in der Herausarbeitung lebendiger Szenen, phantastischer Leidenschaftlichkeit.« In: GW, Bd. 7, S. 941.
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Recht aufmerksam gemacht, das Essayistische bevorzugte »Schreib- und Denkpraxis«,72 nicht bloßes Praktizieren einer Stilform unter vielen. Musil verwendet den Begriff ›Essay‹ dabei im Sinne der französischen expérience, d. h. als ein Testen von Möglichkeiten, als experimentelles Feld, auf dem ein Ausprobieren und Ausspielen von Gedanken unternommen werden kann, deren vorläufiger und tastender Charakter keinem im Voraus festgeschriebenen Ziel obliegt.73 Das Essayistische im Sinne Musils ist mithin eine Technik umfassender Relativierung, die das über die Schrift Ausgesagte immer wieder in Frage stellt, zu nichts ohne Vorbehalt Ja sagt, sich immer noch eine andere Möglichkeit offen hält. Es stellt über seinen unsystematischen, nicht-linearen und multiperspektivischen Zugriff auf den Untersuchungsgegenstand die adäquate ästhetische Form dessen bereit, wofür Musil auf inhaltlicher Ebene um Ausdruck ringt. Und zum Ausdruck gebracht werden soll die geistige Haltung eines Menschen, der sich in abwartender Stellung befindet, der jeden Gedanken, jedes Gefühl und jede Handlung nur als eine Möglichkeit unter vielen begreift. Zum Ausdruck gebracht werden soll eine experimentelle Denkhaltung, die der Roman mit dem Schlüsselbegriff des »Möglichkeitssinns«74 bezeichnet. Zum Ausdruck gebracht werden soll mit anderen Worten jene Wolke von Möglichkeiten, die immer wieder zu besagter Schreibhemmung bei Musil führt. Pointiert formuliert: Der Essay liefert die gesuchte Form zu dieser Hemmung. Noch stärker: Essayismus und Möglichkeitssinn sind identisch bei Musil. Es sind über die Kunstgattung hinaus Muster einer Denkhaltung, die jede Form von Festlegung verweigert, die auf der Suche bleibt, die unentwegt dazu getrieben ist, »die Welt anders zu denken«,75 wie es im Roman einmal heißt. 72 Marie-Louise Roth: Essay und Essayismus bei Robert Musil, in: Dies.: Gedanken und Dichtung. Essays zu Robert Musil. Hg. von Claude Chevalier, Annette Daigger, Gerti Militzer. Saarbrücken 1987, S. 98–111, hier S. 104. 73 So heißt es etwa in einem unveröffentlichten Fragment bei Musil: »Essayismus. Enthält noch einmal Notwendigkeit der Zersetzung. Alles nur für Partiallösungen ansehen. Schwebende Denkwelt und feste Gestaltwelt usw.« Zitiert nach: Roth: Essay und Essayismus, S. 98. 74 Im vierten Kapitel des Mannes ohne Eigenschaften wird dieser Sinn wie folgt beschrieben: »So ließe sich der Möglichkeitssinn geradezu als die Fähigkeit definieren, alles, was ebensogut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist.« In: MoE, S. 16. 75 Vgl. Kapitel 11: »Die Menschen […] haben keine Ahnung, wie man schon denken kann; wenn man sie neu denken lehren könnte, würden sie auch anders leben.« In: MoE, S. 41.
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Der Roman selbst thematisiert bezeichnenderweise diesen Gedanken, wenn er im 62. Kapitel eine Utopie des Essayismus entwirft. Die essayistische Form wird zum Gegenstand der Darstellung. Musils Held Ulrich entwickelt in diesem Kapitel die Vision eines »hypothetischen Lebens«, welches seine ethischen Grundsätze von den jeweiligen, sich ständig wandelnden Kontexten abhängig macht. Ein solches Leben vermag nur mit »Interimsgrundsätzen«76 gelebt zu werden. Ein solches Leben gleicht der Vorstellung Ulrichs nach eben jenem Essay, dessen biegsame Logik ihn für Dynamik, Verwandlung, Erneuerung offen hält und damit zur angemessenen Form des Möglichkeitssinns macht. Ungefähr wie ein Essay in der Folge seiner Abschnitte ein Ding von vielen Seiten nimmt, ohne es ganz zu erfassen, – denn ein ganz erfaßtes Ding verliert mit einem Male seinen Umfang und schmilzt zu einem Begriff ein – glaubte er, Welt und eigenes Leben am richtigsten ansehen und behandeln zu können. Der Wert einer Handlung oder einer Eigenschaft, ja sogar deren Wesen und Natur erschienen ihm abhängig von den Umständen, die sie umgaben, von den Zielen, denen sie dienten, mit einem Wort, von dem bald so, bald anders beschaffenen Ganzen, dem sie angehörten. […] Es entstand auf diese Weise ein unendliches System von Zusammenhängen, in dem es unabhängige Bedeutungen, wie sie das gewöhnliche Leben in einer groben ersten Annäherung den Handlungen und Eigenschaften zuschreibt, überhaupt nicht mehr gab; das scheinbar Feste wurde darin zum durchlässigen Vorwand für viele andere Bedeutungen, das Geschehende zum Symbol von etwas, das vielleicht nicht geschah, aber hindurch gefühlt wurde, und der Mensch als Inbegriff seiner Möglichkeiten, der potentielle Mensch, das ungeschriebene Gedicht (!) seines Daseins trat dem Menschen als Niederschrift (!), als Wirklichkeit und Charakter entgegen.77
Der potenzielle Mensch sucht über das Essayistische »das ungeschriebene« und letztlich unschreibbare »Gedicht seines Daseins«, dieses dennoch zur »Niederschrift« zu bringen. Mit anderen Worten: »Die Wolke von Möglichkeiten« im Kopf des Schreibenden wird zur Wirklichkeit der einzigen Schrift über eine Form, die sich eben das Bruchstückhafte, nicht Abgerundete, nicht Vollendete, Annähernde, ständig Changierende zum Gegenstand erwählt. Lässt sich eine derartige Position als Schreib- oder gar Lebenspraxis tatsächlich durchhalten? Denn die Utopie des Essayismus im 62. Kapitel des Romans entspricht fraglos diesem Anspruch, keine Form, keinen Grundsatz, keine
76 MoE, S. 46. 77 MoE, S. 250 f.
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Struktur des Denkens und Schreibens als letztlich gültig anzusehen und diese Haltung zum Lebensmodell zu erheben. Die Antwort gibt die Schreibhemmung Musils, die Antwort gibt die Unvollendetheit des Romans. Denn eben in dieser Intention, das Schreiben beweglich zu halten, den Faden der Erzählung nicht linear, sondern essayistisch zu knüpfen, liegt bereits der Zerfall der Romanform, die Auflösung des Epischen begründet. Im besagten 62. Kapitel findet sich der verräterische Satz: Es gab so etwas in Ulrichs Wesen, das in einer zerstreuten, lähmenden entwaffnenden Weise gegen das logische Ordnen, gegen den eindeutigen Willen, gegen die bestimmt gerichteten Antriebe des Ehrgeizes wirkte, und das hing auch mit dem seinerzeit von ihm gewählten Namen Essayismus zusammen.78
Die Entscheidung, über die Form das Vorläufige, Immer-nur-Mögliche allen Denkens und Lebens zum Ausdruck bringen, führt notwendig zur Lockerung erzählerischer Kohärenz, zu jener »Lähmung« gegenüber dem logischen Ordnen, die Ulrich an sich selbst wahrnimmt. Auf der Ebene der Form spiegelt sich diese Lähmung wider. Sie tut es, wie schon erwähnt, über die Verweigerung des narrativen »Fadens der Erzählung«, sprich: mittels ständiger Abschweifungen, den die überbordenden essayistischen Passagen im Mann ohne Eigenschaften zwangsläufig nach sich ziehen. Diese Dominanz des Essayistischen wirkt auf die eigentliche Fabel des Romans als Auflösungsstrategie, sie verleiht ihm den an vielen Stellen von Musil beklagten Charakter des »Willkürlichen«, »Unvollkommenen« – der an das Essayistische zu entrichtende Preis.79 Musil sieht diese Schwierigkeit wiederum in aller Deutlichkeit und wiederum vermag bei ihm die Erkenntnis des Problems nichts zu seiner Lösung beizutragen. In einem Brief aus dem Jahre 1931 an Bernard Guillemin verdichtet sich die Schwierigkeit zur Formel: »Das Problem: wie komme ich zum Erzählen, ist sowohl mein stilistisches wie das Lebensproblem der Hauptfigur, und die Lösung ist natürlich nicht einfach.«80 »Wie komme ich zum Erzählen?«, – wenn ich kein Vertrauen mehr besitze in die Linearität des roten Fadens der Erzählung und gleichzeitig darum weiß, dass ein zu starker Verzicht auf eben diesen roten Faden die Gefahr des Zerfalls der gesamten Romanform mit sich bringt? Ein solches Problem ist nicht nur »nicht einfach«, es ist in gewissem Sinne unlösbar.
78 MoE, S. 253. 79 Vgl. etwa Musil: Tagebücher, S. 665 ff. 80 Brief vom 26.01.1931, in: Musil: Briefe, S. 498.
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An dieser Stelle unternimmt Musil wiederum den angesprochenen Versuch, ein im Kern unlösbares Problem dadurch zu lösen, dass er es zum Gegenstand der Darstellung macht. Die Unfähigkeit, die endgültig richtige Form des Schreibens zu finden, wird zur Schrift. Musil erzählt über die Unmöglichkeit des Erzählens. Im 122. Kapitel des Mannes ohne Eigenschaften legt Musil seiner Hauptfigur Ulrich diese Sehnsucht nach Linearität des Lebens und Schreibens bei gleichzeitiger Unfähigkeit zu eben dieser Linearität offen in den Mund: Und als einer jener scheinbar abseitigen und abstrakten Gedanken, die in seinem Leben oft so unmittelbare Bedeutung gewannen, fiel ihm ein, daß das Gesetz dieses Lebens, nach dem man sich, überlastet und von Einfalt träumend, sehnt, kein anderes sei als das der erzählerischen Ordnung! Jener einfachen Ordnung, die darin besteht, daß man sagen kann: ›Als das geschehen war, hat sich jenes ereignet!‹ Es ist die einfache Reihenfolge, die Abbildung der überwältigenden Mannigfaltigkeit des Lebens in einer eindimensionalen, wie ein Mathematiker sagen würde, was uns beruhigt; die Aufreihung alles dessen, was in Raum und Zeit geschehen ist, auf einen Faden, eben jenen berühmten ›Faden der Erzählung‹, aus dem nun also auch der Lebensfaden besteht. Wohl dem, der sagen kann ›als‹, ›ehe‹ und ›nachdem‹! […] Und Ulrich bemerkte nun, daß ihm dieses primitiv Epische abhanden gekommen sei, woran das private Leben noch festhält, obgleich öffentlich alles schon unerzählerisch geworden ist und nicht einem ›Faden‹ mehr folgt, sondern sich in einer unendlichen verwobenen Fläche ausbreitet.81
Die Kontingenz des Lebens und Schreibens verbinden sich an dieser Stelle bei Musil. Der Zwang, »die Wolke von Möglichkeiten« beim Schreiben auf die einzige Wirklichkeit der Formulierung zu bringen, wird zum Zwang, der »Erzählung des Lebens« eine scheinbare Bündigkeit und Linearität zu verleihen. »Die meisten Menschen sind im Grundverhältnis zu sich selbst Erzähler«, heißt es an anderer Stelle des Romans, was bedeutet, sie vermögen die Fülle an Ereignissen und Eindrücken, die ihnen zustoßen, in ein »ordentliches Nacheinander von Tatsachen« zu bringen, was ihrem Dasein das Bewusstsein von Kausalität und Kontrolle vermittelt. Ulrich ist dieses Bewusstsein abhanden gekommen. Und da es hier explizit nicht nur um Leben, sondern auch um Schreiben geht, ist das Lebensproblem der Hauptfigur in Wahrheit ein Schreibproblem ihres Schöpfers. In diesem – und nur in diesem Sinne – drückt sich Musil in einem 1:1-Verhältnis in seiner Figur Ulrich aus. Diese Schreibhemmung als Existenzhemmung attackiert Musil zeitle-
81 MoE, S. 650.
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bens.82 Ihren Höhepunkt erreicht sie jedoch wie gezeigt zwischen seinem vierzigsten und fünfzigsten Jahr. Erst ab diesem Punkt setzt, getrieben von der Massivität der Störung, die nicht mehr aufzuschiebende Konfrontation mit ihr ein.83 Musil begibt sich in therapeutische Behandlung, gegen den Rat seiner Frau84 und trotz eigener Ressentiments gegenüber der Psychotherapie, deren Vertreter im Mann ohne Eigenschaften mit beißender Ironie als »Dämonenzirkus-Direktor[en]«85 verspottet werden. Das Unerwartete geschieht: Lukács’ Behandlung zeitigt kurzfristigen Erfolg. Musil vermag den ersten Band des Mannes ohne Eigenschaften zu vollenden. Doch die Schreibhemmungen kehren zurück und zwingen den Dichter erneut in den Teufelskreis zwischen dem Absolutheitsanspruch seines schöpferischen Gestaltungsvermögens und den »allzu heftigen Mächten der Wirklichkeit«86 hinein. Bis zum Morgen seines Todes am 15. April 1942 wird Musil am zweiten Folgeband des Mannes ohne Eigenschaften weiterarbeiten. 1938 hatte er 20 fertige Druckfahnen-Kapitel des Romans zurückgezogen. Musil formt sie um, feilt, streicht, beginnt neu, mittlerweile ahnend, dass die Kräfte nicht mehr reichen werden und ihm der Roman über den Kopf gewachsen ist. Die
82 Bereits zwischen 1908 und 1914 in der Phase der Niederschrift des Novellenbandes Vereinigungen quälen Musil Arbeitshemmungen. Nach dem Höhepunkt der Krisis in den Jahren 1928/29, die besagte individualpsychologische Behandlung notwendig macht, treten auch nach der Publikation des Bandes II.1 zum Mann ohne Eigenschaften ab 1932 bei Musil immer wieder Blockierungen des Schreibens auf. Vgl. Corino: Ödipus oder Orest?, S. 135 f. 83 Musil vermerkt im Tagebuch erstaunt diese späte Rechenschaft, die er sich über das eigene Tun und Werden abgelegt hat, ein typisches Phänomen der Krisis: »Ein junges Wesen, findest du dich eines Tages in einer unbekannten Gegend, von der dir nur das Nächste vertraut ist. […] In dieser Gegend, die Verlockendes und Schreck birgt, beginnst du nun vorsichtig, an dich zu nehmen, was dich anzieht, und dich mit dem auseinanderzusetzen, was dich schreckt. So fängst du an, eine so handelnde wie seelische Beziehung zur Welt herzustellen. Ich glaube, das ist die Ausgangslage, worin sich meist der Mensch vorfindet und die für die meisten Dichter einen Beginn ihrer Tätigkeit vorstellt. […] Anders ich. Habe aggressiv begonnen und mich orientiert, indem ich das Bild der Welt in den höchst unvollkommenen Rahmen meiner Ideen preßte […] Und erst Mitte 40 und 50 hole ich die erstaunte Frage nach: wie bin ich geworden, bin ich recht geworden usw.?« In: Musil: Tagebücher, Aphorismen, Essays, S. 455 f. 84 Vgl. Corino: Ödipus oder Orest?, S. 194. 85 MoE, S. 715. 86 So äußert sich Musil einmal gegenüber dem Bildhauer Fritz Wotruba, mit dem er in den letzten Lebensjahren des Schweizer Exils regelmäßig verkehrt und der ihn auch porträtiert. Zitiert nach: Roth: Essay und Essayismus, S. 328.
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Praktiken der Individualpsychologie, mittels eines Appells an die Selbstverantwortung des Patienten eine rationale Entschärfung der »zögernden Attitüde«87 zu erzeugen, fruchten zu diesem Zeitpunkt längst nicht mehr. »Wahrscheinlich muß man das Leben lieben, um leicht zu schreiben. Es müßte also locken, und dazu eine Umleitung auf die Schreiberfüllung […] Ich weiß nicht, wozu man lebt: könnte ich sagen. Was lockt, lockt mich nicht. Schon von Kindheit an«,88 registriert das Tagebuch in wachsender Verzweiflung angesichts der erneut einsetzenden Stagnation des Schreibens. Die Armut der letzten Lebensjahre, die Not der Emigration, die nachlassende Gesundheit und die aus Pessimismus, Verzweiflung und Überdruss erwachsene »intellektuelle Mutlosigkeit« lassen einen Abschluss von Musils Lebenswerk nicht mehr zu. »Ich […] habe den Eindruck, es winke gegen ein Ende hin«,89 vermerkt der Dichter prophetisch in einem Tagebucheintrag Mai 1941. Dieses Ende tritt ein knappes Jahr später ein. Der Mann ohne Eigenschaften bleibt Fragment. Zurück bleiben Tausende von Manuskriptseiten, die im letzten Dezennium entstanden sind, Kapitelentwürfe, Korrekturblätter, Exzerpte zu philosophischen Detailproblemen, Protokolle von Leitvorstellungen zur Aufhebung der Schreibhemmung, Figurenskizzen, Varianten und Abervarianten, Konvolute eines nicht endenden Kampfes, vom Stoff hin zur Form zu gelangen. Liegt die Betonung in der Wertschätzung des Geschaffenen oder im Verweis auf das, was noch hätte geschaffen werden müssen? Betont man die Größe der vorhandenen Konzeption oder deren fehlende Synthese? Die ständigen Brüche des Flusses der Erzählung oder die luziden Passagen essayistischer Kunst? Die Schreibhemmung oder die unter Qualen entstandenen Passagen geglückten Schreibens? Die Wirklichkeit oder die Möglichkeit? Dies sind am Ende die Fragen, die sich auch Musil stellte und um die sein Roman monomanisch kreist. Dürfen wir den privaten Zeugnissen der letzten Lebensjahre glauben, so fand Musil am Ende große Freude darin, die Farben und Formen des Efeus, der Bäume und des steinernen, halbrunden Brunnens in seinem Genfer Garten zu beschreiben. Die zahlreichen Skizzen in seinen Tagebüchern dokumentieren diese Neigung. Vielleicht übte Musil an derartiger Naturbeobachtung
87 Alfred Adler: Praxis und Theorie der Individualpsychologie, S. 112. 88 Musil: Tagebücher, Aphorismen, Essays, S. 469. 89 Musil: Tagebücher, Aphorismen, Essays, S. 541.
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wiederum nur jenen Zugang zum Konkreten ein, der ihn von der Abstraktionslastigkeit seines aus den Fugen geratenen Romans befreien sollte. Vielleicht steckte dahinter auch mehr. Vielleicht fand der Dichter in der Hinwendung zu den einfachen Dingen und im Verzicht auf ihre permanente Analyse jenes sanfte Gesetz, jene Seinsfrömmigkeit im Sinne Stifters, die ihn am Ende fernab jeder Gefühlskälte90 die sinnliche Seite der Welt feiern ließ: »Der Garten sah wie ein somnambul gezeichnetes Bild aus, auch so gemalt, wenngleich ganz ohne die Tagesfarben. Ich schreibe so viel von ihm auf, weil er uns glücklich macht.«91 Die Beschreibung des Gartens zeigt: Wieder einmal hatte Musil in der Nacht am Fenster stehend hinausgeblickt. Doch dieses eine Mal war der Blick vom Fenster hinaus in die Nacht nicht identisch mit dem suchenden Blick von Musils Helden Ulrich im Mann ohne Eigenschaften. Dieses eine Mal fing der Blick eine Wirklichkeit ein, die nicht mit der Skepsis des Möglichkeitsmenschen kontaminiert war. Unter dieser so selten eingenommenen Perspektive scheint Musil die Quadratur des Kreises zu glücken. Existenz und Schrift versöhnen sich einen Augenblick lang.
90 Diese Gefühlskälte Musils sticht hervor. Er selbst bekennt, er sei ein Mann mit »schattenhaften Gefühlen« oder gar »ohne Gefühl«. Bei Corino findet sich ein Zeugnis Eugen Gürsters, ein persönlicher Bekannter Musils aus den dreißiger Jahren. Gürster schreibt, er sei den Eindruck nicht losgeworden, »daß Musil einige menschliche Urerfahrungen gefehlt haben, sagen wir ganz banal die Urerfahrungen einer wirklichen Liebe, eines wirklichen Eheglücks, aber auch die ganz anderer, der Schuld und der Reue.« In: Corino: Ödipus oder Orest?, S. 217. Die Stelle bekommt makabre Relevanz unter anderem dadurch, dass Musil die Reue ausgerechnet angesichts des Todes von Hugo Lukács als ein »spießig-imposantes Phänomen« bezeichnet. Vgl. Musil: Tagebücher, Aphorismen, Essays, S. 467. 91 Musil: Tagebücher, S. 1000 f.
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Walter Fanta
Walter Fanta
Die Spur der Clarisse in Musils Nachlass
Der Clarisse-Komplex im Mann ohne Eigenschaften, Band I und Band II 1 Im Eingang des Romans wird dem Leser eine Dreieckskonstellation vorgestellt. Da ist der selbstbequeme Wiener Vorstadtgartenhäuschenbewohner Walter, einer, der Maler oder Komponist hätte werden wollen und es statt zum Genie nur zum Denkmalschutzbeamten gebracht hat. Da ist die knabenhaft-aparte Clarisse, die unzufrieden exzentrische Frau des verhinderten Künstlers. Der Dritte ist der Mathematiker und Ehrensekretär einer patriotischen Aktion namens Ulrich, von Walter wegen seiner mangelnden Bindung an das erdige Leben Mann ohne Eigenschaften genannt, der Jugendfreund, dessen provozierendes Fragen und Hinterfragen das Ehepaar in seiner spannungsgeladenen Existenz herausfordert. Den äußeren Verlauf der Erzählung betrachtet, der ja bei Musil stets nur die Hülle geistiger Konstellationen und Vorgänge bildet, spitzt sich das Dreiecksverhältnis schon relativ rasch im Verlauf des ersten Bands in dramatischer Weise zu: Vertrauliche Aussprachen zwischen Ulrich und Clarisse, die dem Freund des einstigen Freundes eine Beichte über ihre intimen und inzestuösen Jugenderlebnisse ablegt; erbitterte und hitzige Streitereien zwischen den Eheleuten; Clarisses sexuelle Verweigerung; Walters Ausbrüche aus Eifersucht; Drohungen; ein Mordaufruf. Das alles mündet im Schlusskapitel des ersten Bands in einen ersten Showdown, in eine nächtliche Überrumpelung Ulrichs seitens Clarisses, die von ihm ohne Umschweife und aus ziemlich verrückten Gründen ein – Kind verlangt. Ulrich, der/die Leser/in fragen sich: Ist sie bloß überspannt oder doch offensichtlich neurotisch gestört oder ist sie gar geisteskrank? In Band II rückt das Geschehen um Clarisse merklich von Ulrich ab. Das hat damit zu tun, dass die Erzählung sich, nachdem jetzt erst eine zweite (und die eigentliche) weibliche Hauptfigur eingeführt worden ist, auf den Umgang des Protagonisten mit seinem Alter Ego, seiner wiederentdeckten Schwester Agathe zu konzentrieren beginnt. Und Clarisse ihrerseits, so will
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es der Erzähler, lässt von ihrer Fixierung auf Ulrich ab, weil in der Gestalt des Philosophen (und Propheten) Meingast, nun bei Walter und Clarisse zu Gast, jemand Neuer aufgetreten ist, der für die Rolle des Dritten taugt. Schon im ersten Band hat Clarisse begonnen, das Engagement für den inhaftierten Frauenmörder Moosbrugger von Ulrich abzuziehen und zu ihrer eigenen Sache zu machen. Jetzt konzentriert sie alle ihre wahnsinnigen Energien auf Moosbruggers Befreiung. Die Gruppe der willigen und unwilligen männlichen Helfer bei Clarisses Vorhaben wird komplettiert durch Siegmund, den Bruder und Arzt, und durch General Stumm von Bordwehr, Glanzstück der patriotischen Aktion, der von Ulrich in Clarisses Angelegenheiten gezogen worden ist. Am Ende des von Musil selbst noch zur Publikation gegebenen Romanteils kommt es zur Zusammenführung mehrerer Stränge der Erzählung und zu einem erzählerischen Höhepunkt des Ganzen im gemeinsamen Besuch von Clarisse, Ulrich, dem General und Siegmund im Irrenhaus, in dem freilich der große Moment geschickt hinausgezögert wird, die Begegnung mit dem schon zum Tode verurteilten, nun aber zu Beobachtungszwecken in der psychiatrischen Anstalt internierten, offenbar geistesgestörten Gewaltverbrecher Christian Moosbrugger.
Auf der Suche nach der Fortsetzung im Nachlass An dieser Stelle, nach insgesamt sechzehn Walter/Clarisse-Kapiteln, bricht die Erzählungskette ab. Unter den Kapitelfolgen, die in Musils Nachlass aus der Zeit nach 1932 mehr oder weniger fertig zur Publikation einer Fortsetzung des zweiten Bands vorgefunden und posthum veröffentlicht worden sind – den Druckfahnen der Kapitel 39–58 des zweiten Bandes (1937/38) und der Mappe mit den Ergebnissen von Musils Genfer Neuansätzen, neuen Fassungen der Kapitel 47–52 (1941/42), – findet sich kein weiteres Clarisse-Kapitel. Heißt dies nun, dass Musil sich mit dem Clarisse-Komplex ab 1933 nicht mehr befasst hätte? Die Buchausgabe von Adolf Frisé liefert ein undeutliches Bild von der Clarisse-Fortsetzung, das der Überprüfung anhand der akzidentiellen Nachlass-Struktur nicht ganz standhält. Texte zur Fortführung der Clarisse-Geschichte finden sich in vier Nachlassteilen: Die Mappe Nächster Block II (I/5)1 ist mit 245 Manuskriptseiten 1 Quelle der vorliegenden Untersuchung ist der digitalisierte Originalnachlass Robert Musils. Zitiert wird unter Angabe der Nachlassmappe und Pagina entsprechend der publizierten Version: Robert Musil: Der literarische Nachlaß, CD-ROM-Edition. Hg. von Friedbert Aspetsberger, Karl Eibl, Adolf Frisé. Reinbek bei Hamburg 1992.
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der gewichtigste. Sie enthält ausschließlich Material zu Clarisse-Kapiteln, fünf an der Zahl, die in Musils Notizen siglierte Arbeitstitel führen: F für Frühspaziergang, L für Laubumkränzter Waffenstillstand zwischen Walter und Clarisse, H für Hermaphrodit, V für Vergewaltigung und B für Besuch bei Moosbrugger. Das Gros der Schmierblätter, Studienblätter und Textentwürfe in Mappe I/5 lässt sich auf Herbst 1933 und den Jahresbeginn 1934 datieren. Musil brachte keines der Kapitel in eine endgültige Form; er ordnete sie auch nicht in die nummerierte Kapitelsukzession für die Zwischenfortsetzung von Band II ein. Immerhin aber veröffentlichte er im Dezember 1936 in einer Wiener Zeitung die erste Hälfte eines der Kapitel auf der textlichen Basis des Entwurfs von 1933/34.2 Nur ein einziges der fünf Kapitelprojekte aus Nächster Block II verfolgte Musil nach 1934 weiter, nämlich das unter dem Arbeitstitel Frühspaziergang, zu dem sich Entwurfsfassungen und Notizmaterial in mehreren Mappen finden, die Musil 1935 in Verwendung hatte;3 späte Reflexe auf Clarisses Frühspaziergang mit General Stumm spielen noch bei der Planung der Druckfahnen-Fortsetzung bis 1938 eine Rolle.4 Der letzte Entwurfsansatz dazu unter der Sigle Ü4-4 liegt am untersten Ende5 der Mappe mit der Aufschrift 55 ff. (V/4), einer der sechs Mappen, die sich bei Musils Tod auf seinem Schreibtisch befanden. Außerdem tauchen Walter, Clarisse und Moosbrugger in Planungen und Überlegungen Musils zum Schlussteil des Romans von 1936 auf. Im Konvolut von Überlegungen mit der Sigle Ü6 befindet sich auch die ansatzweise Skizzierung eines Entwurfs zu dem Schlussteil-Kapitel mit dem Arbeitstitel Insel, das die finale Abrechnung zwischen Ulrich und Walter enthält.6 Dieser Text repräsentiert auf der horizontalen Linie des Erzählfortschritts das letzte Clarisse-Kapitel. Die vierte Textgruppe bilden die alten Entwürfe zu Clarisse in dem Riesenfaszikel VII /6 mit der Aufschrift Walter Clarisse (ältere Fassung) mit 422 Seiten und in weiteren Mappen aus den zwanziger Jahren. Musil zog sie bei der Arbeit an Nächster Block II 1933/34 und bei der Schlussplanung von 1936 noch heran, legte sie dann aber in einem umfangreichen Stoß ab (Map-
2 Robert Musil: Frühspaziergang, in: Der Wiener Tag, 25.12.1936, S. 18. Es handelt sich nicht um das Kapitelprojekt Frühspaziergang, sondern um den Anfang von Laubumkränzter Waffenstillstand (vgl. Nachlass, I/5, 1–9). 3 Vgl. Nachlass, II/1, 6–18; II/1, 163–165; II/1, 90; II/2, 8–9. 4 Vgl. Nachlass, III/7, 51–52. 5 Vgl. Nachlass, V/4, 198–221. 6 Vgl. Nachlass, II/7, 102–105.
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pengruppe VII ), dessen Inhalt für die Zuendeführung des Romanprojekts keine Rolle mehr spielt. Es ergibt sich zusammengefasst folgendes Bild vom Ergebnis der Suche nach Clarisse im Nachlass: In seiner letzten Schreibphase hatte Musil diese Figur seines Romans fast völlig aus den Augen verloren und sich mit dem Clarisse-Erzählkomplex nicht mehr beschäftigt. Das überlieferte MappenInventar Musils von April 1941 und die posthumen Inventare Martha Musils von 1942/43 sprechen eine eindeutige Sprache:7 In einigermaßen greifbarer Nähe hielt Musil in Genf das Frühspaziergang-Material (Mappengruppe V – Schreibtisch); die Planungen zum Schlussteil (Mappengruppe II ) und die Entwürfe in Nächster Block II (Mappengruppe I) liegen bereits außerhalb der Reichweite zur unmittelbaren Anknüpfung bei der Weiterarbeit; vollends außer Sicht geraten sind die Clarisse- und Moosbrugger-Versionen der Roman-Vorstufen (Mappengruppe VII ). Wollte man versuchen, die akzidentielle Struktur im Rahmen einer Lesetext-Edition in eine essentielle zu übersetzen,8 würde man wohl den ganzen Komplex der insgesamt sechs erhaltenen mehr oder weniger fragmentarischen Kapitelentwurfstexte von Ende 1933 bis Anfang 1936 in einer editorischen Einheit präsentieren: Frühspaziergang / Laubumkränzter Waffenstillstand / Hermaphrodit / Vergewaltigung / Besuch / Insel.9 In seinem Wesen konzentriert sich Musils Schreiben an der Fortsetzung der Clarisse-Geschichte in den Jahren vor dem Abbruch auf ein Neu-Denken, Neu-Sichvorstellen und Umschreiben von Entwürfen, die ihm schon lange – zum Teil mehr als zehn Jahre lang, zum Teil länger – vorlagen. Für uns Betrachter besitzt Musils Clarisse-Erzählung neben ihrer narrativen Linearität auch eine Vertikalität, das will heißen, dass wir sie nicht nur im Erzählverlauf von Kapitel zu Kapitel weiterlesen können, sondern dass uns Musils Praxis, die aus dem Nachlass ziemlich lückenlos überliefert ist, die Geschich-
7 Vgl. Nachlass, Blaue Mappe, 129–130 (Genfer Übersiedlungsinventar GrangettesClochettes), und VIII/7, 10 ff. (Verzeichnis der 52 Manuskriptmappen von Robert Musil von Martha Musil). 8 Die Unterscheidung zwischen der akzidentiellen und essentiellen Struktur des Nachlasses zum Mann ohne Eigenschaften geht zurück auf: Wilhelm Bausinger: Studien zu einer historisch-kritischen Ausgabe von Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften. Reinbek bei Hamburg 1964, S. 22 ff. 9 Dies geschieht in der kommentierten digitalen Gesamtwerk-Edition, welche am Robert Musil-Institut der Universität Klagenfurt vorbereitet wird. Die digitale Edition in Hypertextform wird sämtliche Manuskripte in Transkription und Faksimile und Kapitel-Lesetexte enthalten und damit sowohl die akzidentielle als auch die essentielle Struktur des Nachlasses zum Mann ohne Eigenschaften präsentieren.
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te in vielen Schritten zu entwickeln und verändern, auch erlaubt, ihre Genesis über all ihre Stufen zu verfolgen. Mein Beitrag zielt darauf ab, die Möglichkeit einer solchen textgenetischen Lektüre vorzuführen. Zusätzlich motiviert ist das Unterfangen aus der Spannung, die sich aus dem Übergang vom autorisierten Text der Clarisse-Erzählung im kanonischen Roman in einen mehrspurigen hypothetischen Text im Nachlass – den apokryphen Teil des Romans – ergibt, der sich aus Eventualitäten zusammensetzt.10 Meine textgenetische Lektüre der Clarisse-Erzählung verstehe ich als eine erste Spurensicherung; von vertiefender Lektüre, vom Navigieren auf anderen Bahnen in der Spur der Clarisse im digitalisierten Nachlassraum ist niemand ausgeschlossen.
Die Herkunft aus der Vorarbeit zum Roman 1903–1914 Da die alten Materialien bei Musils Weiterarbeit am Clarisse-Komplex nach der überstürzten und sogar ungewollten Veröffentlichung von Band II 1 Ende 1932 eine wichtige Rolle spielen, wollen wir uns in einem entstehungsgeschichtlichen Rückblick der Herkunft der Erzählsubstanz zuwenden. Es stellt sich heraus, dass im kanonischen Teil des Mann ohne Eigenschaften erst die erste Etappe der Clarisse-Erzählung verwirklicht ist. Der größere Teil der von Musil erdachten und früh zu Papier gebrachten Geschichte befindet sich im apokryphen Stadium, sie liegt in Rohform schriftlich vor, in Notizen von Einfällen, Planungsüberlegungen und Skizzen des Handlungsverlaufs. Zu ihrer Erfindung tragen sowohl persönliche Erlebnisse des jungen Autors bei als auch frühzeitig begonnene Studien und die Einverleibung fremden Materials. Am Anfang steht die Vorarbeit zum Roman, begonnen 1903 als Rückzug des Berliner Psychologie- und Philosophiestudenten Robert Musil (geb. 1880) in eine ästhetische Gegenwelt zweier Notizhefte. »Die eigentliche Handlung des Romans kann darin bestehen,« lautet eine der ersten Notizen, »daß das Verhältnis zwischen Robert und Gustl sich löst und eines zwischen Robert und Allesch sich anknüpft«.11 Gemeint sind Gustav Donath und Johannes Gustav von Allesch, die Musil in seiner Jugend nächststehenden Freunde in Brünn bzw. Berlin. Der 23–26-jährige kann sich in den Hefteintragungen jener Jahre noch nicht dazu aufraffen, den Schritt von rea10 Kanonisch verwende ich für den von Musil veröffentlichten Teil im Gegensatz zum apokryphen Roman im Nachlass. Vgl. Walter Fanta: Die Entstehungsgeschichte des Mann ohne Eigenschaften von Robert Musil. Wien 2000, S. 21–26. 11 Nachlass, Heft 3, 45.
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len Personennamen zu fiktiven Figurennamen zu setzen. Zunächst sind es Robert, Gustl und eben auch Alice, das »american girl, aufgepflanzt auf Wiener Kultur- und Künstlerdecadenz«,12 die miteinander konfrontiert werden. Ansätze zur literarischen Verarbeitung der Vorgeschichte der Ehe von Gustav Donath mit der Künstlertochter Alice Charlemont nehmen in den insgeheimen Romannotizen breiten Raum ein. Die öffentlich zur Schau getragene reale Teilnahme Musils geht daraus hervor, dass er bei der Hochzeit von Gustl und Alice am 2. September 1907 in Seis am Schlern als Trauzeuge fungiert. Die privaten Aufzeichnungen aber kreisen um Themen der Identitätsfindung, primär im erotischen Sinn.13 Ein Nachvollzug der sexuellen Entwicklung von Alice (in den Notizen nennt er sie jetzt schon Clarisse) dient dem Anliegen, das dem jungen Musil sehr wichtig gewesen zu sein scheint, nämlich zur Ent-Deckung des Geheimnisses Frau beizutragen. Dass sich der berichtete Gegenstand bis in Detailverästelungen gleich bleibt, spricht dafür, dass intime Informationen Gustav Donaths zu Grunde liegen, die Musil für besonders authentisch hält. Auch in den Heftentwürfen lässt Musil Gustl über Clarisse erzählen, ein »Märchen«,14 mit dem dieser Robert beeindrucken möchte. Die Bausteine eines auktorialen Berichts derselben Vorgänge sind in einer weiteren Niederschrift15 in einen fiktiven Gestaltungsrahmen eingebettet: Gustl erhält den Namen Walther, der Dritte in einem Dreiecksverhältnis um die Malertochter heißt Sienczynski, später Klages (Donaths stehen ab 1908 in Kontakt zu dem später als Philosophen berühmten Ludwig Klages, was Musils Eifersucht erregt16); aus ihm leitet sich die Figur Meingast ab. In der Endfassung der Kapitel 70 und 97 des Mann ohne Eigenschaften ist das Geschehen wieder mitgeteilt, dort sind es die Erinnerungen aus der Perspektive Clarisses an die Verführungs- und Inzesterlebnisse des fünfzehnjährigen Mädchens. In Musils frühem Versuch zu einem Roman der Selbstfindung kann man in erster Linie das Bemühen feststellen, Privates zu Stoff werden zu lassen. Deutlich wird diese Verquickung in den umstrittenen Briefen an Liesl von 1908, als deren – allerdings eher imaginären als konkreten – Briefpartner wir, mit Karl Corino,17 wiederum Alice Donath erkennen. In den erhaltenen drei
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Nachlass, Heft 3, 46. Vgl. Nachlass, Heft 3, 68 und 70. Nachlass, Heft 4, 103. Nachlass, Heft 3, 50–58. Vgl. Nachlass, Heft 11, 60: »sehr über Alices Brief wegen Dr. Klages geärgert« (15.1.1908). 17 Vgl. Briefe II, 29; Frisé hält Liesls Identität für ungeklärt. Corino im Kapitel Weiße
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Varianten18 stilisiert der Schreiber die Adressatin zu seinem ›Schwesterlein‹ und richtet ein wortreich lyrisches Liebesgeständnis an sie. Dann: ›Ich habe das nur gesagt, weil ich es so schön finde, dass ich Dich küssen durfte, obwohl wir uns so so lange nicht sahen.‹ Sind die Briefe an Liesl das ranghöchste Zeugnis einer Nähe zwischen Musil und der jungen Frau seines Freundes oder ein Beleg für die frühen Versuche des Autors, an seiner Geschwisterliebesgeschichte zu basteln – hier noch mit einer Figur Liesl und Lisa – oder sind sie beides? 1932 notiert Musil in einer selbstkritischen Retrospektive zur Arbeit am Mann ohne Eigenschaften unter dem Titel Vermächtnis über die Ansätze, seine eigene Jugendgeschichte zu schreiben: Das Buch, das ich jetzt schreibe, reicht in seinen Anfängen beinahe, wenn nicht ganz in die Zeit zurück, wo ich mein erstes Buch [= Die Verwirrungen des Zöglings Törleß, W. F.] schrieb. Es hätte mein zweites Buch werden sollen. Ich hatte aber damals das richtige Gefühl, ich könne es noch nicht fertigbringen. Ein Versuch, den ich 2 x machte, die Geschichte dreier Personen zu schreiben, in dem Walter, Clarisse und Ulrich deutlich vorgebildet sind, endete nach einigen hundert Seiten in nichts.19
In nichts endet die Vorarbeit zum Roman nicht, sie löst sich in Teilprojekte auf, dazu gehört die Fortführung des Plans zu einem autobiografischen Roman. Wohin die schwierige Ehe der sich frigide gebenden Alice mit dem an ihr, an sich und seiner künstlerischen und bürgerlichen Weltverankerung schier verzweifelnden Gustav Donath steuert, schreibt sich in den folgenden Jahren in Musils Heften als beobachtete und imaginierte (Eifersuchts-) »Constellation« zwischen »Freunden«20 fort, in Bemerkungen zu Gustl, zu Alice, zu Klages und zu sich selbst. Durch die Erkrankung von Alice tritt eine für den späteren Roman folgenreiche Erweiterung ein. Bereits die Reflexe in Heft 5 (August 1910 bis Ende 1911) zeigen eine nicht mehr aufzulösende Verquickung von Realität und Fiktion. Die Darstellung der Zerrüttung der Ehe Donath, der Geistesstörung von Alice und ihrer abenteuerlichen Flucht kreuz und quer durch Deutschland und nach Italien ist Musil Erzählstoff von ›ungeheuer gesteigerter Symbolik‹21, über dessen Faktizität sich schon beim ersten Zustandekom-
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Teufelin, blutrote Madonna: Alicens Wahn seiner noch unveröffentlichten Musil-Biografie geht jedoch davon aus, dass Liesl mit Alice identisch ist. Nachlass, IV/3, 450 f. Nachlass, I/7, 36. Nachlass, VII/6, 235. Nachlass, Heft 5, 34.
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men die produktive Fantasie des Autors legt. Den Bericht von Alices Internierung in einem Hospital in Venedig kommentiert Musil: Das Hospital, in das Alice gebracht wurde, liegt beim Colleoni. Sie verteilte ihren Schmuck an die Wärterinnen, die ihn nahmen. Man schnallte sie am Bett fest, sie weinte. Die Wärterinnen sagten poveretta. Aus der Pension holte sie ein Herr zu einer Gondelfahrt vor der Abreise ab. Sie hatte in der Gondel das Gefühl, dass er sich vor ihr scheute. Sie fixierte ihn. Bei der Kirche sagte er: wollen wir nicht vorher noch hier rechts hereingehen, es ist etwas Schönes. Es kam ihr wohl verdächtig vor, aber ich denke mir die Verdächtigkeit hatte sozusagen keine Valenz, sie causierte nicht. Überhaupt mit Alicens Augen gesehen, ist Wahnsinn vielleicht bloß das Herausfallen aus der allgemeinen Causierung. Nicht Unvernunft, sondern bloß ein nicht eins ins andere greifen, nimmt man das Intellektuelle als Hauptsache, so fast nur eine Störung in einer Nebenfunktion (schon mit den Augen meiner Erzählung gesehn). Ich denke mir den Stil dieser Erzählung sachlich, pragmatisch, viel Gespräche, viel Handlungen.22
Musil beabsichtigt, Alices Wahnsinn zu einer Erzählung in stilistisch-konzeptueller Abkehr vom in den Vereinigungen gewähltem Weg zu verarbeiten, mit mehr Aktion, wiewohl zwischen Claudine, Veronika und Alice/Clarisse eine Entsprechung besteht: Sie fallen aus der »allgemeinen Causierung«, ihren psychischen Grenzerlebnissen fehlt die psychologische Motivierung, das Erleben und Fühlen der Figuren wird den Gesetzen einer konstruierten Zeichenhaftigkeit unterworfen. Der Fall Alice besteht für Musil fortan in der literarischen Verarbeitung der Schein-Kausalität einer Geistesgestörten; daran entzündet sich über 25 Jahre das Clarisse-Experiment. In den Lebens- und Liebeskrämpfen von Alice und Gustl sieht Musil schlicht seinen Stoff: ›Es liegen hier alle Gesichtspunkte, von denen sich Gustl und Alice leiten lassen. Aufsuchen! Transkriptor und das Leben zweier solcher Menschen liegt da!‹23 Bei der eigenen Lektüre von Ecce Homo entdeckt Musil an seinen Freunden plötzlich auch eine frappante Form von gelebter Rezeption der Lebensphilosophie Friedrich Nietzsches: In die Augen springend die Parallele mit Alice. Wie sie als Karrikatur [sic!] wörtlich nach den persönlichen Erkenntnissen und Rezepten Nietzsches lebt. Aber mit andern Worten, wie in ihren Lächerlichkeiten vielleicht der gleiche Ernst steckt, für den Nietzsche bloß die nicht lächerlichen Ausdrücke fand. Der Ansatz der Gedanken ist überall der gleiche, auch ihr Herkommen aus den körperlichen Bedingungen.24
22 Nachlass, Heft 5, 36 (unter der Datumsangabe 21.9.1910). 23 Nachlass, Heft 6, 1 (November 1911). 24 Nachlass, Heft 6, 2.
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Die Verbindung von Irresein und Nietzsche-Imitatio regt Musil zusätzlich an. Vom Wunsch motiviert, psychiatrisches Anschauungsmaterial für seine literarischen Absichten zu gewinnen, besucht er im Zuge seines Romaufenthaltes 1913 das Irrenhaus Manicomio und verfertigt eine Schilderung: Besuch bei Sergio im Manicomio. Via Lungara. Treppe, Kanzleien, Ärztewohnungen. Ein winkliger Gang, weißgetünchte Balken, wie ein Bodenraum führt über die Straße in den Gebäudekomplex, der sich den Gianicolo hinaufzieht. Man öffnet und schließt vorher schwere Türen. Pavillons in einem sehr großen ansteigenden, oben nach links sich abdehnenden Garten. Aussichtspunkte. Auf einem derselben Kranke mit Wärterinnen, auf den ersten Blick kaum voneinander zu unterscheiden.25
Was auf fünf Heftseiten folgt, bildet die Basis für die Irrenhaus-Kapitel im Mann ohne Eigenschaften. Anfang der zwanziger Jahre ergänzt Musil seinen Informationsstand zum Fall Alice noch um einige Briefe, die den weiteren Krankheitsverlauf von Alice nach der Scheidung von Donath dokumentieren.26 Der Stoff für den Clarisse-Komplex im Roman liegt damit vollständig vor. Nicht eine, sondern drei Geschichten mit einer zentralen Figur heben sich wie auf einer Folie von erlebten Geschehnissen ab: die Jugend-, die Dreiecks- und die Krankengeschichte. Ihre Authentizität verbürgen übrigens nicht nur die Heftnotizen Musils, sondern auch externe Zeugnisse, die Karl Corino gesichtet hat, Gustl Donaths Theaterstück Durbin und Celenie und die Krankenblätter der Psychiatrischen Kliniken in München und Wien.27 Aus der Stoffsammlung bis 1914 lässt sich keine Verknüpfung der drei Komplexe ablesen, keine Causierung des Wahns aus der Jugendgeschichte. Die faktische Logik des Geschehenen gestattet trotz aller fiktionaler Überformung keine Steigerung: Der Wahn wird nicht Telos der Geschichte, das aber auch nicht im Gesundwerden von Alice-Clarisse liegen kann; die Verpflichtung zur Wahrheit schließt ein Happyend aus; das Clarisse-Material der Vorkriegszeit legt keine erzählerische Ordnung nahe.
Walther und Clarisse im Spion Musil hält dem Stoff die Treue. Zugleich gilt aber gerade für den Fall Clarisse das Musil’sche Schreibprinzip der drei Stufen, eine Geschichte erst um 25 Nachlass, Heft 7, 17. 26 Vgl. Nachlass, VII/6, 175–178. 27 Karl Corino bin ich zu Dank verpflichtet, dass er mir ins Manuskript seiner MusilBiografie Einblick gewährt hat.
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»des Erzählens willen«, dann auch um der »Bedeutung der Geschichte willen«, schließlich und endlich allein »um der Bedeutung willen« zu erzählen.28 Die Bedeutungsakkumulierung erscheint in der Wahn-Erzählung um die Figuren Clarisse und Moosbrugger in besonders ausgeprägter Form. Stufe um Stufe im Produktionsprozess reichert sich der Erzählstoff um neue Bedeutungsebenen an. Die Endgestalt des Wahns spricht weniger durch biografisch und historisch verbürgten Wahrheitsgehalt, sondern durch die Bedeutungsvielfalt zum/r Leser/in. Durch die Weltkriegspause und indem der persönliche Kontakt mit Gustl Donath, mittlerweile von Alice geschieden und neu verheiratet, keine rechte Fortsetzung mehr findet, wird die Literarisierung der Substanz – d. h. ihr Materialcharakter für den Roman mit dem Arbeitstitel Spion (1919–1922), an dem Musil nun arbeitet – gefördert; vor allem Clarisse, ihre Beziehung zur autobiografisch inspirierten Hauptfigur Achilles bzw. Anders, macht eine Metamorphose durch. Aber auch an Gustl/Walther lassen sich veritable Veränderungen feststellen. Dass Musil die Geschichte dreier Personen als Konstellation in das neue Romanprojekt der Nachkriegszeit aufzunehmen beabsichtigt, führt zunächst dazu, dass er seine alten Unterlagen archiviert. Er fügt Bemerkungen in die Vorkriegs-Hefte ein und verfertigt Exzerpte aus ihnen; das verfügbare Material über Gustl und Alice wird auf Blätter und Zettel übertragen und mit den Blattsiglen AN (Anfänge und Notizen), B (Brouillon) und C (Clarisse) versehen. Die Schreibung des Namens von Clarisses Ehemann ist während der Spion-Phase stets Walther, erst in späteren Produktionsabschnitten (ca. 1929) wird sie orthographisch zu Walter geändert. Aus Walther leitet sich möglicherweise die spätere Namensfindung für die Hauptfigur ab, in Walther (im Heer waltend) ist etymologisch ähnlich wie im Namen Ulrich (an allem reich) der Anspruch auf Kontrolle bzw. Bedeutung ausgedrückt. Übrigens hat der junge Musil den Namen Walt(h)er schon einmal für eine Figur eingesetzt, die in der Fiktion den Autor vertritt: Walther Grauauge in dem Fragment Grauauges nebligster Herbst (1908). Clarisses Mann erscheint im Spion als Doppelgänger bzw. Gegenspieler des aggressiv die Welt des Vaters leugnenden Anti-Helden Achilles/Anders, des Verbrechers und Erlösers, der in dem frühen Stadium des Romans all das vertritt, wovor der Autor selbst »Vernunft- und Überzeugungshemmungen«29 hat. Die Rolle Walthers als Antagonist ist in Texten aus der Zeit vor
28 Vgl. Nachlass, II/1/65 (1932). 29 Nachlass, Heft 8, 116.
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dem Ersten Weltkrieg mehr oder minder schon vorgebildet. Zunächst gilt dies auf der erotischen Ebene: Schon in der Vorarbeit ist von sexueller Kumpanei, von Beichten Gustls und von Roberts anderer, weniger direkter Sinnlichkeit als der Gustls die Rede.30 Im Spion wird diese Struktur zum erotischen Dreieck mit Clarisse erweitert. In den C-Blättern sind mehrere direkte Verführungs-Situationen zwischen Clarisse und Anders beschrieben.31 Diese Form der Erotizität in der Konstellation Anders-Clarisse lässt sich in Texten aus der Zeit vor dem Krieg noch nicht auffinden; sie liefert die Begründung für den Rest von Rücksichtnahme in Anders’ Verhalten gegen den jetzt zum Gegner mutierten einstigen Freund, eine »Verbundenheit, um Hemmungen für Ehebruch zu schaffen«.32 Die »Unterschiede Anders Walther«33 entwickelt Musil unter anderem in nachträglichen Eintragungen in ältere Exzerpte (1905) zu Ellen Key und anderer Lektüre-Verarbeitung vor allem angelsächsischer Vertreter der Lebensreform-Bewegung34 vom Beginn des 20. Jahrhunderts. Unter Stichworte wie »Lebenskunst«, »Seelenkultur«, »Selbstkultur« 35 mengen sich Zuweisungen an Figuren des Spion, darunter auch an Anders und Walther, kritische und originelle (Anders) werden von eklektischen und sentimentalen Haltungen (Walther) unterschieden.36 Eine unter das Exzerpt gemischte Eintragung von Juli 1905 zu Gustav Donath gerät in diesem Zusammenhang genauso zur späteren Quelle für den Roman wie die diversen Reflexe auf Philosophisches: Unterdessen ist Gustl auf einer ›kombinirten Radtour‹ in den Alpen, – auf dem Weg nach Velden, zu Alice. Er wird sicher Milch trinken, Salat dazu essen und Göthes Gespräche mit Eckermann mit sich führen. Er sucht seinen Charakter und er hat ihn schon beinahe.37
Aus der Erinnerung Musils an die kombinierte Radtour seines Freundes prägt sich das Bild von Walther als »Göthemensch, dem wahrhaftig bei allem ein Goethespruch einfällt«.38 Der gläubige Eklektizismus Walthers wird zum
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Vgl. z. B. Nachlass, Heft 3, 62 oder Heft 11, 32. Vgl. z. B. Nachlass, VII/6, 245. Nachlass, VII/6, 238. Nachlass, Registerheft, 61. Genannt werden Ruskin, Carlyle, Emerson, Thoreau, Canning; vgl. Nachlass, Heft 11, 27. Nachlass, Heft 11, 22 ff., 25, 28. Vgl. Heft 11, 30. Nachlass, Heft 11, 31. Nachlass, Heft 8, 8 (1920).
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Ausgangspunkt für die Entwicklung einer ganzen Riege von weiteren satirischen Zeitfiguren für das Romanprojekt. Im »Selftalk«39 Musils, der fortgesetzten kreativen Beschäftigung der Fantasie des Autors mit der Welt seiner Figuren, unterliegt Walther, das einstige Gegenüber einer erinnerten und weiterentwickelten kunst- und lebensphilosophischen Debatte, dem Zug zur Verwandlung in einen fiktiven Gesprächspartner. Dazu dienen fallweise auch noch Dokumente einer Meinungsverschiedenheit mit Donath zu ästhetischen Fragen, über die Vereinigungen aus dem Jahre 1911.40 Im Zuge der fiktiven Debatte verliert Walther die Position eines potenten Gegenübers, die Donath teilweise noch besessen hat. 1920 stellt Musil Überlegungen an, gerade den unvollkommenen Walther als partielle Ersatzfigur für den allzu heldischen Achilles einzusetzen. »Wenn man Achilles mit seinen Lächerlichkeiten zeichnet […], dann darf man ihn auch körperlich nur halbstark machen. […] Aber diese Episoden vielleicht Walther geben oder dem Archivar. (Oder sind die eins?)«41 Achilles’ Schwächen würden also an Walther delegiert, die Episoden der Jugendgeschichte Gustls und Roberts mit ihren Lächerlichkeiten wäre allein dieser Figur zuzuordnen. Wenn Walther auch noch die Funktion der in dieser Periode wichtigen Figur des Archivars übernähme, die eindeutig autobiografisch besetzt ist, ergäbe sich eine Aufspaltung zwischen einer heldischen Ich-Projektion einerseits – Achilles – und dem Dilettanten und Bürokraten andererseits, der zu sein Musil mitunter fürchtet – Walther –, dem alles Schändliche – die Geschichte mit Tonka, dem missbrauchten einfachen Mädchen –, alle Lächerlichkeiten – die Satire auf den Geistesbürokraten – angehängt werden können. Musil löst diese Schwierigkeiten, indem er Tonka als eigene Erzählung vom Romankomplex abspaltet und das Archivar-Vorhaben fallen lässt. Die Donath-Figur Walther gerinnt im Spion schließlich zum Hauptvertreter der Mediokrität mit karikaturesken Zügen (wie sie dann auch weitere Figuren erhalten). »Walther will zum Durchschnitt einlenken,« lautet eine der Notizen, »der Durchschnitt will zurück zur Phantasie – ich verwirkliche beide«42 und: »Walther. Es ist unerhört schwer, nichts zu erreichen, wenn man kein Talent hat«.43 Zu Walthers Beruf überlegt Musil: »Da Anders Mathematiker, kann
39 Arno Rußegger: Kinema Mundi: Studien zur Theorie des ›Bildes‹ bei Robert Musil. Wien 1996, S. 211. 40 Vgl. Nachlass, Heft 5, 34: »Gustl schwärmt für Stifter«; vgl. auch Nachlass, Heft 5, 42 und 44. 41 Nachlass, Heft 8, 84. 42 Nachlass, IV/3, 339. 43 Nachlass, II/1, 244.
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Walther Dichter sein. Rückt ihn mehr vom Modell ab«.44 Damit ist der Weg der Umwandlung des Jugendfreunds in die Figur umrissen. Die Clarisse des Spion trägt deutlicher als Walther die Züge einer imaginierten Figur, da die Beziehung Anders/Clarisse verglichen mit Anders/ Walther auf der Basis des Robert/Gustl-Modells mehr auf Erfindung beruht. Aus der angesammelten Materialmasse erhebt sich die Clarisse-Figur als Popanz, auf den alles Mögliche projiziert wird, was Musil an ästhetischen und existenziellen Ausnahmezuständen45 und Ausnahmemenschen – »Menschen wie Alice und ich« – zu dieser Zeit durch den Kopf geht: »Clarisse kommt durch Nietzsche unter anderem auf die Idee, sich nichts entgehen zu lassen, alles vereinigen zu wollen«;46 das Motiv der wörtlichen Anverwandlung der Sätze des Philosophen durch Clarisses Lebenspraxis wird ausgestaltet. Auf dieser Stufe ist die Funktion der Figur von jener der Agathe noch nicht abgegrenzt. Das Inzest-Motiv liegt in einer ersten Phase der Spion-Notizen in Verdoppelung vor; Clarisse tritt als geistige Schwester, als Reisegefährtin und auch als Sexualpartnerin von Anders in einer Rolle auf, die in späteren Entwicklungsphasen des Romans nur mehr Agathe zugewiesen ist. Die Funktion von Clarisse ist die der Verführerin und der Schwester im Wahn von Achilles/Anders. Das Brouillon C-36 mit der Überschrift Das Voluntaristische hält die Verführungs- und Wahn-Wirkung fest: Man treibt dahin, so leise Seite an Seite, und plötzlich faßt dieses kleine Wesen ein unaufhaltsamer Wille und es reißt einen, den soviel Bewußteren, mit sich hinein und es geschieht etwas, nach dem die ganze Welt plötzlich wie in Scherben geschlagen daliegt. Clarisse, Agathe, – es sind eigentlich immer die Frauen, die den Willensmenschen Anders so treiben.47
Clarisse betreibt die Verführung aktiv, während Agathes Sinnlichkeit mehr dem passiven Frauentyp in Musils Wahrnehmung entspricht. Die auf Blatt C36 imaginierte exemplarische Verführungsszene ist eingeleitet mit: »In diesem Augenblick wirft sie sich auf seinen Schoß, ihre Armeidechsen schlingen sich um seinen Kopf und Hals« usw. Die Eidechsenarme Clarisses tauchen im Schlusskapitel Die Umkehrung von Band I des publizierten Romans wieder auf, mit dem beträchtlichen Unterschied, dass der Verführungsversuch Clarisses dort scheitert, weil Ulrich die Bereitschaft fehlt.48 Clarisses Verfüh44 45 46 47 48
Nachlass, Heft 36, 40. Vgl. Nachlass, VII/6, 162 oder VII/6, 251. Nachlass, VII/6, 254. Nachlass, VII/6, 245. Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Roman. Hg. von Adolf Frisé. 2 Bde. Reinbek bei Hamburg 1978, S. 660 (= MoE).
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rung löst bei Anders und an ihr selbst im Spion eine die Ratio völlig ausschaltende Triebhaftigkeit aus, die »bös« macht:49 Clarisse reißt ihren Hut vom Nagel, stürmt fort; er mit ihr. Wortlos. Wohin führt sie? Zum Unterschied von den nachher gebrochenen Frauen wird sie post coitum böse, fühlt sich erniedrigt. Tiergarten, Rokkokolusthaus. Dort noch einmal. Jetzt mit Worten und Geständnissen. In denen schon die späteren Visionen sind. Diesmal wird er danach ganz kalt und hart vor Reue. Läßt sie zurück, kümmert sich nicht, wie sie nach Haus kommt.
Was Musil zu zeigen beabsichtigt, ist das Sinnlose im Trieb, das dem alles Annihilierenden des Wahns gleichkommt. Er erweitert den Zusammenhang und fasst ihn in die Gleichung Sex = Wahn = Krieg; davon wird anschließend noch die Rede sein. Clarisse erscheint in den Momenten ihrer Triebhaftigkeit hässlich, sie erweckt kein Begehren. Das Voluntaristische bedeutet mit einem anderen Wort: Autoerotik. Der Trieb erwacht zugleich in zwei Gestalten, die zusammen (Seite an Seite) eine Figur, ein Doppelwesen (Geschwister) bilden. Inzest ist hier Ausdrucksform der Autoerotik eines das Männliche und Weibliche einschließenden Ichs; dieselbe annihilierende Wirkung des Triebs ist auch im Inzest mit Agathe anfangs nicht ausgeschlossen. Die Funktionen-Ablöse zwischen Clarisse und Agathe bestimmt von früh an die Verlaufsform des Romans, dies legt schon eine Spion-Notiz fest: »Anders reißt sich von Clarisse los, das wendet sich auch schon wieder dahin. Und dann ist sein Schicksal Agathe«.50 Thomas Pekars Feststellung, Clarisse und Agathe seien »partiell austauschbare Figuren«,51 gewinnt eine textgenetische Dimension, von der Figurenkonstruktion der Schwärmer ausgehend, wo die Imagination der Schwester-Geliebten eine ähnliche Spaltung (in die Schwestern Maria und Regine) erfahren hat. Im Endtext des Mann ohne Eigenschaften sind Agathe und Clarisse Komplementärfiguren: Sie dürfen sich in den Kapiteln des Romans nicht begegnen.52 In den Fortführungsplänen zu Band II bewegen sich Erzählsubstanzen zwischen Agathe und Clarisse noch hin und her.53 Clarisses Aktivismus entfaltet sich zum Gegenstück von Anders’ Handlungsläh-
49 Nachlass, VII/6, 245. 50 Nachlass, Heft 22/52: »das wendet sich auch schon wieder dahin« = zum Voluntaristischen, zur Autoerotik. 51 Thomas Pekar: Die Sprache der Liebe bei Robert Musil. München 1989, S. 244. 52 Vgl. Nachlass, II/7, 1 (auch I/5, 84 und II/7, 138). 53 Vgl. z. B. Nachlass, I/5, 78.
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mung und Ulrichs Passivität; er spaltet das Doppelwesen Clarisse/Agathe schon während der Spion-Phase. In einer ersten Serie von Brouillons wird Anders noch von Agathe in die Anstalt zu Moosbrugger begleitet,54 in späteren Fassungen bilden Anders und Clarisse das Besucherpaar, in der letzten Version ist der Besuch der aktivistischen Clarisse allein überlassen. Zur narrativen Einbindung der Erzählsubstanzen um Walther und Clarisse existiert die folgende frühe Spion-Notiz: »Vielleicht mit Gustl-RobertAlice einsetzen […], das ja vor Wahnsinn kommen muss. Oder es wenigstens unmittelbar nach Moosbrugger nehmen.«55 Darin spiegelt sich schon der Plan, eine Exposition zu schaffen, bevor die erotischen Verwicklungen Clarisses als Mädchen, hier noch aus dem Munde Walthers, in einer Rückblende nachgeliefert würden und dann der geistigen Erkrankung Clarisses breiter Raum gewidmet werden würde. Eine weitere frühe Spion-Skizze – der Held des Romans heißt noch Achilles und der Jugendfreund Gustl – umreißt das Romangeschehen nach der Begegnung der Geschwister im Haus des verstorbenen Vaters folgend: Der Alte hat zum Schluß nicht mehr wissenschaftlich gearbeitet, sondern nur gesammelt. Das Haus ist eine Liebhabersache. Als Achilles abberufen wird, läßt er Agathe noch da. Sie wollen das Haus samt Inventar verkaufen, falls sich ein Liebhaber findet. Nach einer gewissen Zeit wird die Sache zum normalen Verkauf einem Büro übergeben und die beiden wollen sich treffen. Abberufung erfolgt durch ein Telegramm Clarissens. Gustl sei in einer Krisis. Privatdozent. Bibliothekar. Sinkt immer mehr ins Passive. Dies die Krisis nach Clarisse. Gespanntheit ist ihm sofort wieder in Erinnerung. Er fühlt sich ›angerufen‹. Tage wie in Seis. Endlich schlägt Clarisse vor, zusammen wegzureisen um stark auf Gustl zu wirken. Bei all dem hat Achilles wohl den Eindruck des Abnormalen. Aber da er innerhalb der Motive steht, bleibt er machtlos. – Sie reisen Venedig. Alte Casa Petrarca. Alter maïtre d’hôtel. Getrennte Zimmer. Achilles hat keine Eile mit der Geschlechtlichkeit. Clarisse wird immer sonderbarer, plötzlich kommt ihr der Gedanke: ich muß nach Rom. Sie hinterläßt Achilles ein Billet und reist ab. Jetzt auf Clarisse übergehn, ihre Reise usw. Sie wird in Rom interniert und erlebt die Münchner Dinge in Rom. Achilles holt sie dann ab und jetzt erst wird gesagt, daß sie ihm das erzählt. In Venedig Erneuerung des Anfalls. Clarisse wird von der Gondel geholt. Achilles telegrafiert Gustl und reist nach Wien. Dort Zusammentreffen mit dem Agenten und erst einige Tage später, nachdem das alles schon in Gang, Eintreffen Agathens.56
54 Vgl. Nachlass, VII/6, 121–133. 55 Nachlass, Heft 8, 121. 56 Nachlass, IV/2, 224.
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Clarisse in der Zwillingsschwester In Entwürfen mit der Sigle s von 1923–25 für das Romanprojekt Die Zwillingsschwester liegt eine fest gefügte erzählerische Inszenierung vor, die vom zitierten Spion-Exposé zwar in einzelnen Punkten abweicht, aber ebenso dynamisch und handlungsreich geblieben ist. Ihren Verlauf fasste Musil auf den Linien-Blättern L 48 und L 49 zusammen. Die Clarisse-Geschichte manifestiert sich in einer regelrechten Handlung mit Haupt- und Nebenfiguren und einigen nachgerade abenteuerlichen Elementen: die Verführung Anders’ durch Clarisse, der Entführungsversuch Moosbruggers, das Zusammenleben von Anders und Clarisse auf der italienischen Insel, die zahlreichen extremen Irrenhaus-Szenen usw. Mit den beiden anderen Handlungssträngen des Romans, der Parallelaktion-Gesellschaftssatire und der Geschwister-Liebesgeschichte, scheint der Clarisse-Komplex allzu wenig verbunden – was wohl als ein Grund für das Scheitern des gesamten ausufernden Zwillingsschwester-Projekts angesprochen werden kann. Die Figur Anders bildet immerhin ein Bindeglied. Das Ende der Clarisse-Handlung, aus dem Anders dann freilich völlig herausfällt, bleibt bemerkenswert unbestimmt. Um zu vermeiden, Clarisse synchron zur Darstellung der Kriegsausbruchshysterie in der allerakutesten Phase ihres Wahns zeigen zu müssen, lässt sie Musil in das Stadium einer dämmernden Gesundheit und wieder zu Walther zurückkehren. Vielleicht spielt dabei neben der Berechnung der erzählerischen Wirkung auch mit, dass der tatsächliche Krankeitsverlauf bei Alice Donath für Musil Mitte der zwanziger Jahre aufgrund der zeitlichen Nähe noch mehr Verbindlichkeit besessen haben mag als zehn Jahre später, als er sich neuerlich mit dem Ausgang der Clarisse-Handlung befasste.
Entfaltung der Exposition in Band I 1927/28 1926 kommt es bei der Arbeit Musils an seinem Roman zu einer mehrmonatigen Unterbrechung, die einerseits krankheitsbedingt ist, andererseits auch mit dem Wunsch zu tun hat, das Werk nun doch nicht in der Gestalt, die es mittlerweile angenommen hat, dem Verlag zu überlassen, sondern Rowohlt einen neuen Vertrag mit größerem zeitlichen Spielraum abzuverlangen, der es dem Autor erlaubt, sein Projekt großzügig neu zu konzipieren. Das Ergebnis ist der Plan des zweibändigen Mann ohne Eigenschaften, wie er sich im Laufe des Jahres 1927 herauskristallisiert. Die Zweiteilung des Romans hat auch die Reorganisation der Clarisse-Erzählsubstanz zur Folge. 1927 und in der ersten Hälfte von 1928 entwickelt Musil in jenen Kapiteln, die für
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Band I gedacht sind, die Exposition der Walter/Clarisse-Geschichte, die dann in die Endfassung von 1930 eingeht. Indirekt wirkt sich die Planungsund Entwurfsarbeit auch auf den Clarisse-Komplex im späteren Band II aus, weshalb wir hier kurz einen Blick auf sie werfen. Aus Konvoluten mit der Siglierung AE (= Anders-Einzelblätter) und Af (= Aufbau) lässt sich rekonstruieren, wie Musil die Einführung von Anders, Walther/Clarisse und Moosbrugger in der Anfangspartie des Romans neu regelt. Aus dem erarbeiteten Kontrast zwischen Anders und Walther wird jetzt eine Brücke zum neuen Leitthema Mann ohne Eigenschaften geschlagen, für die Motivierung der Erkenntnis von Anders, ein Mann ohne Eigenschaften zu sein, muss Walther als Mann mit Eigenschaften herhalten.57 Die Exposition der Clarisse-Handlung im ersten Band wird 1927–1929 sukzessive verbreitert: Die s-Entwürfe von 1923/24 kommen dafür noch mit einer einzigen Skizze aus. In der ersten Serie von Aufbau-Skizzen für den Romanteil B (das ist die Vorstufe des späteren Teils 2 Seinesgleichen geschieht) von 1927 nimmt Musil die Skizzierung zweier Kapitel vor; in einer Kapiteleinteilung aus dieser Zeit scheinen für Teil B auch schon drei Walther-Clarisse-Kapitel auf.58 Eine Übersicht Walther und Clarisse im I. Band von Ende 1927 bzw. Anfang 1928 nennt bereits sechs Walther-Clarisse-Kapitel, im Endtext sind es dann insgesamt zehn. Die Ausweitung der Exposition im Verhältnis zur erzählerischen Gesamtsubstanz des Clarisse-Komplexes entspricht der Tendenz beim Ausbau des Gesamtromans: Auch der ganze spätere Romanteil Seinesgleichen geschieht hat in der Version der Zwillingsschwester noch nicht mehr als eben eine Exposition bedeutet. 1927/28 fällt die Entscheidung, schon in Band I das Dreiecksverhältnis Walter-Clarisse-Ulrich zur Gänze zu entfalten und auch das Interesse Clarisses für Moosbrugger bereits manifest werden zu lassen; die Einführung Meingasts wird in den zweiten Band geschoben, in Band I ist von ihm nur indirekt die Rede. Meingast wiederum spielt in der Jugendgeschichte Clarisses, die ihrerseits die Entfaltung des Wahnsinns bei Clarisse in hintergründiger Weise motiviert, eine wichtige Rolle. Nach einigen Zweifeln legt sich Musil darauf fest, die Erlebnisse Clarisses ebenfalls in Band I zu bringen. In der Aufbauskizze zu einem Kapitel 23 (ca. erste Hälfte 1927) nimmt er den ersten Anlauf, ohne die Erzählperspektive festzulegen: »Clarisse kommt zu Anders. […] Dann erzählte sie. Es war ihre Kindergeschichte. […] Clarisse war
57 Vgl. Nachlass, VII/6, 390–397 und die Kapitel 13–17 in der Endfassung des ersten Bandes. 58 Vgl. Nachlass, VII/6, 1–17 und Mappe Bleibt zurück, 58–59.
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damals 15 Jahre alt und Walther hatte gerade damals ihre Phantasie für sich gewonnen«.59 Es folgt die Geschichte des Missbrauchs der Fünfzehnjährigen durch den Vater, anschließend die Schilderung der Dreiecksbeziehung Walther-Clarisse-Lindner (später Meingast). Als Aufbauskizze gedacht, ist der Text ohne spezifische erzählerische Organisation abgefasst, im Prinzip übernimmt Musil, was er schon im entsprechenden s-Entwurf festgehalten hat.60 Dennoch vermag die nicht weiter elaborierte Übergangsstufe etwas über sich kristallisierende Intentionen im Zusammenhang mit der Clarisse-Figur auszusagen. In einer Randbemerkung am Beginn des im Manuskript nachfolgenden s2Entwurfs steht: »Indem ein Mensch erzählt, hebt er das gestaltlose Trieberlebnis zur Ideologie. Dies ist das Bedürfnis zu erzählen«.61 Die Bemerkung ist mit Bleistift hinzugefügt und eingerahmt. Sie hängt mit der Intention zusammen, in Clarisses Jugenderzählung nun den sexuellen Missbrauch durch den Vater zentral zu verankern. Im Zwillingsschwester-Entwurf ist nur vom Missbrauch durch Lindner bzw. Gröschl die Rede, es ist Clarisse, die sich erinnert; in der Aufbauskizze zu 23 fasst der Erzähler ihre Erinnerungen zusammen und erweitert sie um den Vater-Tochter-Inzest, der in den ursprünglichen Aufzeichnungen von 1905/06 schon enthalten war: In Mariazell hatte Charlemont das Verhältnis mit Frl. Ginzkey. Nach ihrem Weggang wird er rasend. Kommt nachts zu Alice. Sie erlaubt ihm nur ihre Brüste zu küssen (Ein Renaisancezug). Ein zweites Mal spielt er bei einer Spazierfahrt mit ihr. Er ist ein sehr appetitlicher Mensch. Alice hat eine physische Abneigung vor ihm und hat ihn doch furchtbar lieb.62
Die Urszene mit dem Vater ist im Endtext in einer gesonderten ausführlichen Erzählung Clarisses in direkter Rede umgesetzt, durchbrochen von Fragen Ulrichs, der andere Teil von Clarisses Erinnerungen an ihre Erlebnisse als Pubertierende in einer Art Erlebter Rede.63 Interpretatorischer Scharfsinn hat es zuwege gebracht, Clarisses Bericht über das Erlebnis mit dem Vater ohne Ansehung der Entstehungsgeschichte als nicht-authentisch zu enttarnen und festzustellen, dass Clarisse die Geschichte mit dem Vater erzählt, um von der Begebenheit mit Georg Gröschl, der auf der Ebene der fiktiven Rea59 Nachlass, VII/6, 8. 60 Vgl. Nachlass, VII/6, 18–21; das Rohmaterial aus der Vorarbeit zum Roman vgl. Heft 3, 50–58; eine Zusammenfassung aus der Nachkriegszeit vgl. Nachlass, VII/6, 338–339. 61 Nachlass, VII/6, 18. 62 Nachlass, Heft 3, 57. 63 Vgl. MoE, 291 ff. (Kapitel 70) und MoE, 435 ff. (Kapitel 97).
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lität wahren Verführungsszene abzulenken.64 Tatsächlich liest sich Clarisses eingebaute Erzählung als Spiel mit der Authentizität von unbewussten, triebgesteuerten und körperbezogenen Vorgängen. Die Verführung durch den Vater wird in der Mädchenerinnerung in eine mythische Höhe gehoben, das Erzählen der Inzest-Geschichte wird zur Matrix, von der aus die Ideologisierung des Trieberlebnisses bei Clarisse von Kapitel 97 des Endtexts an Platz greift, mit allen magischen Requisiten, allen voran dem Auge des Teufels an Clarisses Körper, dem Muttermal-Medaillon.65 Clarisses Sexualideologie (der Glaube, dass sie die Sinnlichkeit der Männer auf sich zieht) mündet in eine Gleichsetzung von erinnerter und eingebildeter Vergangenheit, Gegenwart (Walter) und Zukunft (Gottesmutter, den Erlöser gebären, Ulrich) und ist objektiv eine Wahnvorstellung. Damit erscheint die Endtext-Version, zu der Musil 1927 durch die Anfügung des Vater-Inzests ansetzt, einerseits als literarische Umsetzung des klinischen Falls der Folgen eines Kindesmissbrauchs, andererseits als Ideologiekritik, an der Psychotherapie nämlich, indem sie in Umkehrung von deren Wahrheitsapparatur demonstriert, wie die Versprachlichung des nicht-sprachlich Erlebten, des Trieberlebnisses, das Trugbild und die aus ihm erwachsenden Trugbildhandlungen erzeugt und nicht heilt.66 Ulrich schlüpft in Kapitel 70 des Endtexts, wo Clarisse den Inzest erzählt, in die Rolle des Therapeuten. Die Absicht, ihre Kraft an dem Mann ohne Eigenschaften zu beweisen,67 die in die fixe Vorstellung mündet, Ulrich müsse ihr den Erlöser zeugen, wäre in diesem Sinn als Parodie der Freud’schen Übertragung zu werten. Die Erzählung vom Vater-Inzest gewinnt unser Interesse vorwiegend deswegen, weil sie etwas über Kausalität in narrativen Gefügen aussagt. Die kausale Verknüpfung zwischen Clarisses Jugenderlebnissen und ihrem Wahn wird im Prinzip dem Leser bzw. Interpreten überlassen, obwohl der Autor/ Erzähler das Netz ausgelegt hat. Die Clarisse-Geschichte mit ihren Bezügen zwischen Fiktion und Wahn weist selbstreferentielle Züge hinsichtlich des Erzählgefüges im Gesamtroman auf. In der Weiterarbeit Musils in den dreißiger Jahren tritt dieser Aspekt verstärkt in Erscheinung.
64 Vgl. Ruth Hassler-Rütti: Wirklichkeit und Wahn in Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften. Bern u. a. 1990, S. 177–184. Der Missbrauch durch den Vater wird als sekundäre Ausdrucksform von Clarisses Fixierung verstanden. 65 Vgl. MoE, 437. Hassler-Rütti: Wirklichkeit und Wahn, S. 185–188, assoziiert Fetischismus im Freud’schen Sinne. 66 Vgl. dazu auch Stefan Howald: Ästhetizismus und ästhetische Ideologiekritik. München 1984, S. 243 f. 67 MoE, 443.
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Zu den Vorstufen der Kapitel des ersten Bands, in denen Clarisses wahnhafte Erlöser-Ideologie bereits durchscheinen soll, enthält der Nachlass weiteres Material aus den Jahren 1927 und 1928. Aus der frühen Phase der Aufbau-Notizen 1927 stammt der Entwurf eines Doppel-Kapitels Nr. 29/30,68 in dem Clarisses Begehren erzählt wird, ein Kind von Anders zu empfangen, aus einem Streit mit Walther entfacht, woran direkt der nächtliche Verführungsversuch bei Anders schließt. In dem Entwurf ist das Kapitel 118 und ein Teil von Kapitel 123 des Endtexts weitgehend vorgebildet, zu Kapitel 118 existiert eine weitere Entwurfsfassung aus dieser Phase.69 Zwei zentrale Intentionen, die bei der schrittweisen Elaboration bis zum Endtext verfolgt werden, sind aus der Rohform deutlich ablesbar: Erstens enthält das Kapitel eine Aussage über die Funktion der zahlreichen Nietzsche-Implantate im Roman, zweitens zum künstlerischen Schaffen im Verhältnis zum Leben, beides zielt auf die metafiktionale Ebene des Texts. Nietzsche wird Anlass »eines jener ›fürchterlichen‹ Erlebnisse«, an denen die Ehe von Walter und Clarisse »so reich«70 ist, als Clarisse dem NietzscheBand, Hochzeitsgeschenk Ulrichs, aus einer zufällig aufgeblätterten Stelle ein Zitat entnimmt und Walter als Begründung an den Kopf wirft, weshalb sie sich ihm verweigere. Clarisse entdeckt, dass Nietzsche nicht die ganze Tragweite seiner Gedanken erfaßt habe und so viel natürlich nicht habe wissen können, doch sie steht dank des Zitats auf einem hohen Berg namens Nietzsche, der Walter unter sich begraben hat.71
Clarisses Nietzsche-Bemächtigung und ihre Selbstermächtigung via Nietzsche-Zitat, über Walter zu gebieten, wird im Endtext durch eine ErzählerBemerkung abgeschlossen: Die ›angewandte Philosophie und Dichtung‹ der meisten Menschen, die weder schöpferisch noch dem Geist zugänglich sind, besteht aus solchen schimmernden Verschmelzungen einer kleinen persönlichen Abänderung mit einem großen fremden Gedanken.
Im Entwurfsmanuskript merkt Musil vor dieser Stelle mit Bleistift an: »Endlich einmal sagen, wieso Nietzsche zu dieser Rolle kommt«.72 Musil möchte
68 69 70 71
Vgl. Nachlass, VII/6, 345–354. Vgl. Nachlass, VII/6, 356–361. MoE, 606. MoE, 607. Das Zitat aus Der Fall Wagner (vgl. Helmut Arntzen: Musil Kommentar zum Roman Der Mann ohne Eigenschaften. München 1982, S. 284): »Das Leben in die kleinsten Gebilde zurückgedrängt, der Rest arm an Leben.« 72 Nachlass, VII/6, 356.
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an der Art und Weise des Umgangs Clarisses mit Nietzsche die alltagspathologische Praxis vorführen, sich mittels fremder Texte mit Autorität auszustatten. Clarisse erfasst den Sinn des Nietzsche-Zitats nicht, sie setzt sich über den gegebenen Kontext hinweg und knüpft an die Nietzsche-Gedanken, denen sie einfach unterstellt, unvollständig zu sein, ihre eigenen Assoziationen und ihre Privatinterpretation, leitet deren Richtigkeit dann aber wieder von der Autorität des Philosophen ab und überträgt sie über das Zitat auf sich selbst. Dem Nietzsche-Zitieren Clarisses bzw. dem Zitieren durch Figuren des Romans im Allgemeinen wächst die Funktion zu, auf den Mechanismus der Autoritätsanmaßung hinzuweisen. Nietzsche ist unter den Zitatspendern derjenige, dessen in einem exakt begrenzten Sinn tatsächliche Autorität Musil für in seiner Zeit am meisten missbraucht hält. Um zu Kapitel 118 und seinen Vorstufen zurückzukehren: Walter im Endtext spürt das Bedürfnis, sich an der widerspenstigen Clarisse »als Mann zu bewähren«;73 auch er entwickelt eine Sexualideologie, konträr zu der Clarisses, die ihn dazu zwingen möchte, »ein Titan und Feuerbringer zu werden«. Walther im Entwurf »hatte sich das in der letzten Zeit endlich klar überlegt. Clarisse brauchte mehr Erdnähe, Einfachheit, Gesundheit; also ein Kind, damit es sie fest an den Boden binde«.74 Clarisse entzieht sich seinem Begehren. Walther gibt nach, er flieht in das Massenerlebnis der Demonstration, die sich gegen die Parallelaktion zusammenbraut. Soweit stimmen Entwurf und Endtext überein. Aus einer Notiz am Aufbau-Blatt Af 20 wird die Funktion von Walthers Verhalten im Romanganzen sichtbar: »War zu Kind schon zu Beginn entschlossen. […] Kind statt Buch setzt sich […] fort – werde schreiben, hat begonnen. In dieser Szene will er aber nicht schreiben«.75 Von »Buch« und »schreiben« ist in der Notiz die Rede. Im Entwurf nimmt Walther wie im Endtext »statt seine Symphonie zu schreiben«76 zur »Rückenmarksmusik des sächsischen Zauberers Zuflucht«, dann ist er bestrebt, sich in die allgemeine Erregung zu mengen. Selbst wenn man in Rechnung stellt, dass der Walther der Frühstufe nicht als Musiker, sondern als Dichter dilettiert, weist Kind statt Buch über ihn hinaus auf Anders, den ursprünglichen Doppelgänger. Anders mit seinem Prinzip »Lesen statt Leben« empfindet umgekehrt die Notwendigkeit, aus den Schablonen des armen Le-
73 MoE, 608. »Ein Mann muß Mann sein. Er muß befehlen können« (Nachlass, VII/6, S. 357). 74 Nachlass, VII/6, 358. 75 Nachlass, VII/6, 346. 76 MoE, 615.
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bens in das utopische Bezugsfeld einer »Moral der Dichtung«77 einzutreten. Er stellt sich vor die Alternative wie sein Jugendfreund, doch in umgekehrter Richtung: Gelänge es ihm nicht, seine Vorstellungen vom Leben als Versuch zu verwirklichen, so müsste er wohl ein Buch schreiben oder sich töten.78 In den Rohfassungen sind diese metafiktionalen Bezüge deutlicher angesprochen als im veröffentlichten Endtext.
Veränderungen am Erzählverlauf in den Kapitelgruppen-Entwürfen von Band II 1928 Von Oktober 1928 an, bevor er im Januar 1929 mit der Anfertigung der Reinschrift des ersten Bandes beginnt, entwirft Musil den Verlauf des zweiten Bandes in nach zehn (de facto: sieben) Kapitelgruppen geordneten Kapitelskizzen. Nachdem er sich die Handlung als im Prinzip mit der Zwillingsschwester-Handlung identisch denkt, bringen die Kapitelgruppen-Entwürfe ein Umschreiben, Neuschreiben oder schlichtes Übernehmen der s-Entwürfe von 1923–25. Die alte Substanz der Clarisse-Erzählung erfährt generell keine Erweiterung mehr. Musil strebt vielmehr nach Konzentration der auseinander fließenden Bedeutungszusammenhänge. Ein erster Schritt zur Trennung der Clarisse- von der Ulrich-Entwicklung wird vorgenommen; Clarisse soll, um die Popanz-Figur »menschlich zu machen«, auf den »Kampf um Walther als Kampf ums Genie« beschränkt werden.79 Zugleich beginnt ein Prozess des Sich-Wegschreibens von der ursprünglichen Vorstellung vom Wahn; die Wahnsinnsentwicklung wird rationalisiert und entschärft. Mit Clarisses Wahnsinn zielte Musil auf der Stufe der C-Notizen in erster Linie auf eine Travestie der Erlöser-Idee; in den s-Entwürfen lieferte Clarisse/Anders den Kontrast zu Anders/Agathe: Dass der so genannte andere Zustand gesteigerter Lebensintensität potentiell in den Wahnsinn führt, wäre eine der Aussagen der Zwillingsschwester gewesen. In der Neufassung wird der Handlungsverlauf der s-Entwürfe in Kapitelgruppe III und IV erst noch beibehalten. Hier konzentriert sich das Geschehen auf den Vorstoß zum Besuch bei Moosbrugger im Irrenhaus, wozu sich das ganze alte Manicomio-Material in mehr oder weniger ungeänderter Gestalt wieder einfindet. In Kapitelgruppe V setzen Änderungen an der Grundkonstellation ein: Nach s5+d unternimmt Walther bloß einen ehelichen 77 Nachlass, VII/8, 70. 78 Vgl. MoE, 418. 79 Nachlass, I/5, 95.
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Überrumpelungsversuch, der Entwurf II V Cl VII /II hingegen erzählt von der Ausführung der Vergewaltigung,80 die bei Clarisse einen Schub von Wahnvorstellungen auslöst. Der Ehemann sucht Hilfe bei Ulrich; dieser steckt nach der Trennung von Agathe nach der gescheiterten Italien-Reise selbst in einer tiefen Krise. Er begibt sich zu Clarisse, folgt ihr in einen Wald, sie begegnen einem Bären usw.81 In der Wiederholung der ziemlich grotesken s-Szenenfolge nimmt das seit je vorgesehene Ansinnen Clarisses Gestalt an, Anders bzw. jetzt Ulrich in ihren Wahn zu ziehen. In der Atelier-Szene82 wird absehbar, dass der Versuch nicht gelingen wird. Dieser gemeinsame Besuch eines avantgardistischen Konzerts von Clarisse und Ulrich in einem Maleratelier, wo Ulrich von Clarisse abrückt und an ihrer von der Musik ausgelösten Ekstase nicht teilhat, ist das erste Element der Szenenreihe, welches Musil nach 1930 nicht mehr aufgreifen wird. Bis vor diesem Punkt hält sich Kapitelgruppe V an die Abfolge der Geschehnisse in den s-Entwürfen, ab da setzen die Abweichungen ein: In s5+d+1 beginnt Clarisses sexuelle Wirkung auf Anders unter dem Einfluss der Musik im Atelier und daran schließt die Verführungsszene s5+d+2 an.83 Dies übernimmt Musil nicht in Kapitelgruppe V, es kommt in der Entwurfsfolge von 1928 zu keinem sexuellen Kontakt zwischen Ulrich und Clarisse. In einem Überblick über die Clarisse-Handlung und ihre Verknüpfung mit Moosbrugger, wie sie bis etwa 1927 – vor der Teilung in zwei Romanbände – intendiert ist, dem Blatt Clarisse-Aufbau, das die s-Entwürfe zusammenfasst und ergänzt, sind dagegen zwei Koitus-Szenen zwischen Anders und Clarisse sowie auch die schließlich gelingende Entführung Moosbruggers durch Anders auf Anstiftung Clarisses hin noch fixe Stationen.84 In Kapitelgruppe VI (Clarisse-Rachel, Moosbrugger-Rachel) bleibt Ulrich bei der Befreiung Moosbruggers aus der Anstalt, die nicht neu als Entwurf gestaltet, sondern offenbar vorausgesetzt wird, unsichtbar. Bei Rachel, der sich Ulrich annimmt, nachdem sie bei Diotima aus dem Haus geflogen ist, scheint Clarisse die Unterbringung Moosbruggers ohne Wissen Ulrichs zu betreiben. »Sie fügte die Lüge hinzu, dass der Vorschlag, den sie gemacht habe, von Ulrich ausgehe«.85 Es bleibt offen, ob sie allein die Befreiung aus der Anstalt veranlasst hat und die Beteiligung Ulrichs nur vorgibt, um Rachel
80 81 82 83 84 85
Vgl. Nachlass, VII/6, 79 und VII/4, 67–70. Vgl. Nachlass, VII/4, 71–81. Vgl. Nachlass, Blaue Mappe, 47–52. Vgl. Nachlass, VII/6, 89. Vgl. Nachlass, VII/6, 1. Nachlass, VII/4, 26.
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zu gewinnen: »Wir haben ihn befreit – fuhr Clarisse fort«, und: »Sie dürfen doch auch gegen Ulrich nicht undankbar sein, wenn er einen Dienst von ihnen braucht«.86 Die Unsicherheit Musils, wie weit er Ulrich an dem Geschehen um die Befreiung Moosbruggers überhaupt noch beteiligen soll, figuriert als erzählerische Ausblendung; durch sie würde die Ungewissheit des Autors an den Leser weitergegeben werden: »Effekt, dass Ulrich überhaupt nicht Moosbrugger sieht, […] aus dieser Not muss natürlich eine Tugend gemacht werden«.87 In Kapitelgruppe VI schlüpft Clarisse in die Rolle Ulrichs als Protektor Moosbruggers. Sie vermag ihre Rolle indes ebenso wenig zu erfüllen wie Anders, der bei der Befreiungsaktion im Anstaltsgarten einschläft, die seine in der Spion-Skizze.88 Clarisses Ausbleiben wird am Beginn des Kapitelgruppen-Entwurfs »Moosbrugger-Rachel« in einer Randnotiz mit »Währenddem Siena«89 begründet, d. h. sie lässt Rachel mit Moosbrugger im Stich, weil sie plötzlich nach Italien aufbricht. Anders’ Aktion scheitert an seiner Indifferenz, die Clarisses an ihrer Krankheit, welche sie daran hindert, kohärente Handlungen zu setzen. Clarisse tritt ihre Italien-Reise in beiden Versionen allein an; in der Zwillingsschwester dreht es sich um eine Flucht aus dem Sanatorium, in das sie freiwillig eingetreten ist. Anders, der eine Depesche von ihr erhält, fährt ihr nach und lässt sich auf der »Insel der Gesundheit« in ihren Wahn ziehen, bis er knapp vor dem gemeinsamen Suizid in die Realität zurückfindet.90 Für Kapitelgruppe VI setzt Musil zum Neuentwurf der Insel-Episode an. Es wird die Perspektive Ulrichs vergleichsweise stärker betont, der in seiner einsamen Nachtexistenz nach dem Zusammenbruch der Geschwisterliebe ahnt, dass auch in Clarisses Dasein auf der sonnenbestrahlten südlichen Insel »große Unordnung hereingebrochen«91 sein muss. Bei Ulrich entsteht, während er die »von dem Rhythmus einer Erregung zusammengehaltenen« Sätze der Depesche Clarisses liest, eine Empfindung des Einverständnisses. Der Entwurf führt dann übergangslos in die Schilderung des Zusammenseins von Ulrich und Clarisse auf der Insel, die nach einem Absatz schon abbricht.92 Dass die Insel-Episode nicht weiter elaboriert wird, vermittelt den Eindruck, als würde Ulrich von der Chance, die Clarisses Wahn bietet, zwar ergriffen,
86 87 88 89 90 91 92
Nachlass, VI/4, 27. Nachlass, I/5, 203. Vgl. Nachlass, VII/6, 200. Nachlass, VII/4, 29. Vgl. Nachlass, VII/6, 45–64. Nachlass, VII/6, 105. Vgl. Nachlass, VII/6, 106.
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diese aber im Imaginären belassen. Am Ende der Clarisse-Handlung steht, wie der Hinweis auf ein »Triumphkapitel«93 in Kapitelgruppe VIII /IX belegt, Walthers Triumph, wie von Anfang an vorgesehen. Es existiert aber nur mehr der Hinweis, die Clarisse-Erzählung der Kapitelgruppen endet mit dem unvollständigen Insel-Entwurf. Aus der Verkürzung lässt sich die veränderte Intention im Vergleich mit der Zwillingsschwester ablesen: Statt Clarisse-Ulrich soll Clarisse-Walther in den Fokus rücken. Dies fasst Musil in der Überlegung vom 6. Januar 1929 zusammen.94 Er nimmt sich vor, Clarisses Wahnideen in der Art einer »parasystematischen Vernunft« darzustellen: »Beim Durchsehen des Materials hat sich gezeigt, dass alle diese Ideen ihre vernünftigen Seitenstücke haben. Bei der Ausarbeitung also nicht steigern, sondern recht vernunftartig beschreiben«.95 Die Neubestimmungen für die Wahnsinnsentwicklung Clarisses werden richtungsweisend für die Abfassung der Clarisse-Kapitel in Band I und Band II 1, wo Ulrich nur mehr als Diskurskonnektor fungiert, indem er mit ironischen bzw. theoretischen Kommentaren von draußen und zunehmend als bloßer Zuhörer an den Auseinandersetzungen zwischen WalterClarisse(-Meingast) teilnimmt. In der Neubearbeitung der Kapitelgruppe VVI durch Entwürfe und Notizen zur Romanfortsetzung aus den Jahren 1933–36 verschwindet Ulrich überhaupt aus dem Clarisse/Walter-IrrenhausKontext. Eine Schwierigkeit, die Musil ab Beginn der Reinschrift von Band II beschäftigen wird, ist aus der Aufstellung der Kapitelgruppen-Entwürfe schon abzulesen: die erzählerische Integration der Clarisse/Moosbrugger-Handlung in den Ulrich/Agathe-Hauptstrang. In Kapitelgruppe IV sollen jene Clarisse-Kapitel, die später in Band II 1 eingehen, als parallel geschaltet zu den Kapiteln der Italien-Reise von Ulrich und Agathe folgen. Kapitelgruppe V setzt sich beinahe ausschließlich und Kapitelgruppe VI ausschließlich aus Clarisse-Kapiteln zusammen. Demnach würde der Planung in diesem Stadium zufolge der ganze Roman nach der Reise Ulrichs/Agathes in einen Clarisse/Moosbrugger-Roman übergehen und erst am Ende wieder in ein Finale zurückkehren, in das alle Handlungsstränge münden. Als Musil nach der Unterbrechung durch die Reinschrift von Band I Ende 1930 zur Arbeit an Band II zurückkehrt, setzen denn auch neuerlich Überlegungen zur besseren Integration des Clarisse-Komplexes ein.
93 Nachlass, I/3, 11. 94 Vgl. Nachlass, I/5, 95. 95 Nachlass, I/5, 204.
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Änderungen an der Clarisse-Syntax 1930–1932 Die November 1930 notierte Idee, einen »Roman Clarisse-Meingast-Moosbrugger [zu] machen«,96 meint nicht die Extraktion der Erzählsubstanz in einem eigenen Roman, sondern in einem Roman im Roman; sie zielt auf Abgrenzung Clarisses von Ulrich/Agathe. Vom Ansinnen der Geschwister, den »anderen Zustand« zu verstehen, was als ein »nüchtern europäischer« Versuch zu werten sei, müsse sich das Unterfangen von Clarisse, »nun erst recht eine Hauptfigur von Band II «,97 als ein »Hermaphroditisches«98 abheben. Moosbrugger, der in den Roman als Gedankengespinst Ulrichs eingeführt war, soll nun gänzlich Clarisse übereignet werden. Die »geheime Zwillingshaftigkeit«99 von Moosbrugger und Clarisse hat sich während der Arbeit am Roman erst nach und nach ergeben; sie weise zwar »eindeutig in die Richtung von Ulrich und Agathe« (die Erzählstränge aufeinander bezogen parallel zu führen), aber ohne erzählerische Zusammenführung in gemeinsamen Kapiteln.100 Die Erwägung von Oktober 1930, »eventuell aus Ulrich-Agathe und Ulrich-Clarisse-Szenen Ulrich-Agathe-Clarisse-Szenen machen«,101 bleibt unausgeführt. Die Zahl der Planungsnotizen und Studienblätter zum Clarisse-Komplex, die Musil im Rahmen der Fragen zur Reinschrift von Band II von Oktober 1930 an bis Mitte 1932 anfertigt, ist nicht unbeträchtlich; aus ihnen scheint auch die Grundidee von 1929 wieder hervor, Clarisse auf den »Kampf des genialen Willens mit dem des Durchschnitts und Besiegung«102 – also auf die Auseinandersetzung mit ihrem Ehemann Walter – narrativ festzulegen. Es wird immer unwahrscheinlicher, dass die Versuche Clarisses, Ulrich in ihren Wahn zu ziehen, im zweiten Band eine Fortsetzung finden. Die markanteste Abänderung der Clarisse-Syntax betrifft wohl eben diesen Punkt: dass Clarisse von Ulrich getrennt, die Ulrich/Clarisse-Handlung der s-Entwürfe, L-Blätter und Kapitelgruppen-Entwürfe entweder aufgegeben oder wesentlich reduziert wird. Abhängig ist die Entscheidung von der Festlegung des Verlaufs der Ulrich/Agathe-Erzählung, deren Begradigung – statt
96 97 98 99
Nachlass, VII/8, 12. Nachlass, I/5, 78. Nachlass, II/8, 81. Harald Haslmayr: Die Zeit ohne Eigenschaften. Geschichtsphilosophie und Modernebegriff im Werk Robert Musils. Wien 1997, S. 49. 100 Nachlass, II/8, 38. 101 Nachlass, I/5, 78. 102 Nachlass, I/5, 88 (7.1.1933).
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dramatischer Höhepunkte (Reise) und Abstiegsszenen (»Debauche Agathes«103) intermediäre Zustände und Aufspaltungen der Utopien des anderen Zustands – in den Planungen bis 1936 automatisch auch zur Reduktion des für Clarisse/Ulrich Vorgesehenen führt. Aus dem Notizenkomplex der Fragen zur Reinschrift ergibt sich bezüglich der Konstitution des Wahns ein uneindeutiges Bild. So protokolliert Musil im Hauptstudienblatt zu Clarisses Denken, er habe in einen der Entwurfsversuche zur Fortsetzung der Clarisse-Erzählung »scheinbar überflüssigerweise eine Bemerkung über Clarisses Art zu denken« eingebaut: Es ist das alte Bedürfnis, den Sinn dieser Figur für das Verständnis zu präzisieren. Bisheriger Eindruck: breitet sich in immer neuen Kreisen aus, die sich teils schattenhaft decken, teils gar nicht. So ist es aber voraussichtlich im noch Kommenden auch.104
Die Inkommensurabilität der Clarisse-Figur wird mit nietzscheanischer Tragik in Verbindung gesetzt: das »Lyrische, Gehobene, Bewunderswerte« an Clarisse als »Spitzenidee«105 von Band II 1 zeigt die eine Seite, die andere liegt in der Tendenz zur Ephemerisierung der Figur, indem ihr die Diskursfähigkeit abgesprochen wird. Was zum Beispiel Elias Canettis Roman Die Blendung (1936) mit seiner Allgegenwart des Wahns unter Eliminierung jeder nicht-wahnhaften Instanz aus der Erzählung vollzieht, ist bei Musil nicht in Sicht. Oder im Sinn der großen historischen Abrechnung mit der Konstituierung des Wahnsinns durch Psychologie und Psychiatrie in Michel Foucaults Wahnsinn und Gesellschaft (1961) gesagt, der Irrsinn Clarisses bezeichnet in den Planungsüberlegungen Musils von 1930–33 nicht jene ursprünglichere Erfahrung, die durch die Apparate der Vernunft erst domestiziert wird. – »Der Kranke ist ja kein Dichter!«106 Die Darstellung Clarisses in Band I hat für die Forterzählung zur Konsequenz, dass »das bis jetzt zu sehr Nur-Pathologische in starke Beziehung zum Normalen gebracht wird«.107 Musils Absicht bleibt im Prinzip die negative Charakterisierung der Wahnsinnsentwicklung Clarisses vor der positiven Folie des anderen Zustands, nach dem Ulrich und Agathe streben. Clarisse sei rechtzeitig auf »illegalen Erwerb der Exstase«108 zu stimmen. Schon
103 104 105 106 107 108
Nachlass, VII/17, 92. Nachlass, I/5, 103 (1933). Nachlass, I/5, 105 (1933). Nachlass, I/5, 78. Nachlass, I/5, 78 (Oktober 1930). Nachlass, I/5, 106 (1933).
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im Fontana-Interview (1926) hat Musil davon gesprochen, dass er »die Ekstase von der Wahnsinnsseite her aufrolle durch eine von der Erlösungsidee Besessene«.109 Clarisses »leerer Wille«, heißt es Anfang 1932 in Studienblättern zu Kapitel 26 des zweiten Bands, würde »vicarierend für alle Lage- und Festigkeitszustände der Gesamtperson eintreten«, er wäre »leere Spannung, Genieersatz«.110 Die Annäherung an die fließende Sprache des Wahns unternimmt die Erzählung vom Festland einer rationalen Syntax, indem das Leere, das Nicht-Wahre an ihr und die Identität der Sprecherin als Geisteskranke durch die Erzählung festgestellt werden. Die Kehrseite bildet der Gedanke, dass in Clarisses Wahnideen »Paranoesis stecke, eine parasystematische Vernunft. […] Alle ihre Ideen haben ihre vernünftigen Seitenstücke und sind vernunftartig zu beschreiben«.111 Darin öffnet sich die Möglichkeit zur Entwicklung einer Ironie des Wahns, zu der Musil in den Clarisse-Kapiteln von Band II 1 zwar ansetzt, die aber hinter dem erzählerischen Ernst der Ulrich/Agathe-Kapitel zurückbleibt. Aus den frühen C-Blättern lässt sich ablesen, dass Musil bei der Konstruktion der Figur der Clarisse auch auf psychiatrisches Wissen zurückgriff, um Clarisses Erkrankung plausibel zu machen. Ein psychiatrischer Blick auf Clarisse scheint aus den Notizmaterialien gelegentlich durch, ohne dass dies für die Figur durchgängig geltend wird. Noch 1933 bemüht Musil jedenfalls auch Fachwissen aus der Psychiatrie, um Clarisses Krankheit diagnostizieren und beschreiben zu können. »Einzudoublierendes Bild nach Bleuler […] hinzunehmen«,112 merkt er an und exzerpiert aus Eugen Bleulers Lehrbuch der Psychiatrie (4. Auflage 1923) Beschreibungen manisch-depressiver Zustände. 1929 nahm er für die Jugendgeschichte Clarisses eine Schrift des Berliner Psychoanalytikers Karl Abraham, Versuch einer Entwicklungsgeschichte der Libido auf Grund der Psychoanalyse seelischer Störungen (1924) zu Hilfe, um Clarisses zirkuläres Irresein wissenschaftlich-stimmig darzustellen.113 Für Clarisses »10 Zustände nach Oesterreicher« liegt außerdem das Exzerpt aus Konstantin Oesterreichers Die Phänomenologie des Ich (1910) bereit.114 Eine Art Entwertung des Wahns durch rationale Darstellung geht in den Überlegungen von 1932 mit einer zusätzlichen Funktionalisierung entlang 109 Robert Musil: Gesammelte Werke in 9 Bänden. Hg. von Adolf Frisé. Reinbek bei Hamburg 1978, Bd. 7, S. 940. 110 Nachlass, I/5, 88. 111 Nachlass, I/5, 78 (Oktober 1930). 112 Vgl. Nachlass, I/5, 108. 113 Nachlass, VII/6, 323–324. 114 Vgl. Nachlass, I/5, 194 und II/1, 78.
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des politischen Wertediskurses einher, wie Musil ihn nun plant: Durch die Figur des Werteverkünders Meingast nämlich erfolgt eine rhetorische Aufladung des leeren Clarisse-Wahns mit Werten – »Clarisse ist von Meingast mit neuen Ideen ausgestattet, darum kann man sie ernster nehmen« –,115 die den Werte-Relativismus Ulrichs, aber auch das Werte-Vakuum im Zentrum der Parallelaktion ironisch unterlaufen.116 In der Endstufe von Band II 1 findet eine erste Zuspitzung statt, die Sitzungs-Kapitel117 bringen mit dem Engagement von Figuren wie Graf Leinsdorf, Feuermaul, Hans Sepp und Professor Schwung für Werte eine Steigerung des Werte-Diskurses. Die rhetorische Konfrontation falscher, bloß phrasenhafter Wertpostulate am Großen Abend korreliert mit den Perversitäten, die Ulrich und der General beim Irrenhaus-Besuch vorgeführt bekommen.118 Während dieser Phase der Arbeit tritt die feste Absicht des Autors in den Vordergrund, den Clarisse-Strang mit den anderen beiden Erzählsträngen des Romans (Ulrich/Agathe, Parallelaktion) übereinzustimmen, die Forderung nach der Tat wird in allen drei Handlungssträngen als Konsequenz der Wertegesinnung erhoben. Weder der Tatphilosoph Meingast noch die Tat-Rhetoriker auf dem Parkett des Großen Abends sind freilich willens und fähig, mit dem Postulat der Tat ernst zu machen. Allein Clarisse nimmt die Forderung nach der Tat für bare Münze – und Stumm von Bordwehr. Mit der späten Entscheidung, Clarisse und den General zusammenzubringen, gewinnt die Absicht, in Band II alles auf den Krieg zulaufen zu lassen, eine konkrete erzählsyntaktische Entsprechung: Individueller (Clarisse) und kollektiver Wahn (Mobilisierung) konvergieren. Während Ulrichs und Agathes Ernstmachen mit der Utopie des anderen Zustands in Teillösungen aufsplittert und schreiberisch wie handlungsmäßig in einem intermediären Stadium stecken bleibt, zeichnen sich Clarisse und der General in ihrem Bestreben, das Werte-Gerede in die Tat umzusetzen, durch »Eingeistigkeit« aus.119 Wenn General Stumm sich dann im Romanfinale beruhigt wird zurücklehnen dürfen, weil die Staatsmaschine in der Mobilmachungshysterie durchdreht,120 wird Clarisse als »einzige an der Dominanz des Geistigen weiterarbeiten«.121 Mit diesen wichtigen Festlegungen von 1932, die im kanonischen Roman teilweise noch verwirklicht werden, ist der weitere Fortgang der Clarisse-Erzählung fixiert. 115 116 117 118 119 120 121
Nachlass, I/5, 81. Im Kapitel II/26 (Frühling im Gemüsegarten). Vgl. Kapitel II/34–38 (Ein großes Ereignis ist im Entstehen…). Vgl. Kapitel II/32–33. Nachlass, II/1, 163 und V/4, 207. Vgl. Nachlass, II/6, 114. Nachlass, I/3, 12 (Satzstellung abgeändert).
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Das Faktum der ungewollten Zäsur durch die Veröffentlichung von Band II 1 wirkt sich im Fall der Clarisse-Erzählung besonders markant aus. In sei-
nen Studienblättern von 1932 bestimmt Musil nämlich im Voraus, welche Kapitel in welcher Reihenfolge bis etwa zur Bandmitte – bis zu der der Teilband II 1 kommen sollte und dann doch nicht gelangte – noch folgen sollen: Aus den Festlegungen im April/Mai 1932 entwickelt sich die 1933–36 geltende Kapitelfolge: Geplant wird:122 1. Ein Kapitel mit einem weiteren Irrenhaus-Besuch Clarisses mit ihrem Bruder Siegmund, der die tatsächliche Begegnung mit Moosbrugger einschließt (Nr. 36). 2. Das »Propheten«-Kapitel mit einer Konfrontation zwischen Meingast, Schmeißer und dem General sowie Ulrich (Nr. 37). 3. Eine »Glücksszene«123 zwischen Clarisse und Walter mit dem Wald als Schauplatz (Nr. 38) sowie ein Clarisse-Meingast-Kapitel mit dem Titel-Stichwort »Hermaphrodit« (Nr. 41). 4. Eine »Unglücksszene« zwischen Walter und Clarisse, das Kapitel trägt in den Aufstellungen die Bezeichnung »Überfall« (Nr. 46). 5. Schließlich der »Besuch bei Dr. Friedenthal«, wo Clarisse ihren Wunsch vorträgt, in der Anstalt, in der sich Moosbrugger befindet, interniert zu werden (Nr. 50).
Der Nächste Block II von 1933/34 und sein Fortbestand Dieses Programm wird 1933/34 unter Umstellungen, Vereinfachungen, Begradigungen und erfolgreicher Ausbalanzierung zwischen Symbolik und Realistik bei der Darstellung der symbolbeladenen Clarisse-Figur zum Teil umgesetzt. Vereinfachungsschritte betreffen die narrativ motivierte FigurenReduktion: Siegmund wird beim zweiten Irrenhaus-Besuch nicht mitgenommen. Meingast reist plötzlich ab; anstatt der großen Debatte zwischen dem Faschisten Meingast und dem Sozialdemokraten Schmeißer bei Walter und Clarisse kommt es zu Aussprachen zwischen dem General und Clarisse auf gemeinsamen Frühspaziergängen, die die Brücke zwischen den Erzählsträngen schlagen sollen. Für das Ausbleiben von Ulrich/Agathe/ClarisseKapiteln werden Begründungen auf fiktionaler Ebene zusammengestellt:124 Agathe mag Clarisse wegen deren »Eidechsenmund« nicht; interessant ist der Grund für die Abneigung Agathes gegen den Kontakt mit Clarisse, dass
122 Nachlass, II/8, 40–41. 123 Zur Bezeichnung »Glücks- und Unglücksszene«: Nachlass, I/5, 17 und 130. 124 Nachlass, II/7, 1 (Anfang 1936).
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»Ulrich unrecht tue, wenn er merke, daß sie geisteskrank sei, so zu tun, als wüßte er es nicht«; auch Clarisse mag Agathe nicht und »denkt noch weniger als sonst an Ulrich«. Damit wird noch mehr absehbar, dass auch Ulrich und Clarisse sich im Roman nur noch einmal (oder nicht mehr?) begegnen. Die in Band II 1 erzählerisch marginalisierte Figur Walter wird nun wieder mehr ins Spiel genommen. Der Kampf ums Genie, den Clarisse um Walter bzw. gegen dessen Verbürgerlichung führt, mit seinem ästhetischen und kunstsoziologischen Bedeutungsgehalt, ist zugleich ein erbarmungsloser, von beiden Seiten mit allen Mitteln ausgetragener Geschlechterkrieg.125 Die Schilderung dieser dramatischen Auseinandersetzung, deren erzählerische Exposition in Band I vollendet ist,126 führt Musil in den Entwürfen des Konvoluts Nächster Block II an ihre Klimax und nah an einen möglichen Ausgang. Im Jahr 1933 bleibt der Bezug zum aktuell Politischen bei der Funktionsbestimmung der Wahnsinnsentwicklung Clarisses aufrecht. Musil hat ja Band II 1 in Berlin beendet und sich bis Mai in der Hauptstadt des Deutschen Reiches aufgehalten, »festgehalten von dem Zustand Deutschlands, der sich jeden Tag neu überschlug, während ich immer mehr erstarrte«.127 Im Mai 1933 kehrt er von Berlin über einen Zwischenaufenthalt in Karlsbad nach Wien zurück; am 17. November 1933 schließt er einen Bericht nach England über seine verzweifelten Pläne und Hoffnungen angesichts der neuen Verhältnisse im Deutschen Reich mit einem Zitat aus dem Manuskript des Romankapitels ab, an dem er gerade arbeitet, einer Vorstufe von Frühspaziergang; er zitiert aus dem Gespräch zwischen Clarisse und dem General: da sagte Clarisse: ›die Irren denken eben mehr als die Gesunden! Sie können auch mehr als wir! Ich glaube, daß manche von ihnen in einem Feuer leben, daß wir uns schon deshalb nicht vorzustellen vermögen, weil wir zu feig sind! […] Bedenken Sie, daß man in früheren Zeiten doch überhaupt keine Irrenhäuser gekannt hat! […] Das Irrenhaus ist eine Verfallserscheinung. Man muß die Irren wieder ins Volk lassen!‹128
125 Eine frühe Notiz nennt Clarisse sogar eine »Frauenrechtlerin« (Nachlass, VII/6, 154; 1922). 126 In einer Rekapitulation der Auseinandersetzung zwischen Walter und Clarisse bezeichnet Musil das Kapitel I/97 (Clarisses geheimnisvolle Kräfte und Aufgaben) als das »eigentliche Knotenkapitel« (Nachlass, I/5, 105; 1933). 127 Nachlass, II/1, 260 (Brief an Ziebolz). 128 Robert Musil: Briefe 1911–1942. Hg. von Adolf Frisé. Reinbek bei Hamburg 1981, Bd. 1, S. 595, an Toni Cassirer nach Oxford. Die im Brief zitierte Textstelle entspricht Nachlass, II/1, 16.
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Die Textstelle rückt einen zentralen Gedanken der Schlusskapitel von Band II 1 – den Weltzustand der Imbezillität –129 in den Lichtschein politischer Aktualität, der Briefkontext erlaubt keinen Zweifel: Mit die Irren wieder ins Volk lassen ist auf die aktuelle politische Situation angespielt. Auch wenn man in Abzug bringt, dass Musil die Fortsetzung seines Romans dem Mitglied einer Emigrantenfamilie interessant machen mag, bleibt aufrecht, dass er das Wahn-Thema 1933 vorrangig als Mittel zur narrativen Entfaltung des Zusammenhangs zwischen dem vom Wahn befallenen Einzelnen und dem kollektiven Wahn betrachtet, der durch die politischen Ereignisse an Aktualität gewonnen hat. Die intensivierte Auseinandersetzung mit der ClarisseSubstanz des Romans korreliert 1933/34 mit der historischen Situation. Die Wahndarstellung erhält ihre Funktion im Rahmen einer Konstruktion, in deren narrativer Semiotik sich die in Deutschland aktualiter erfahrene Ideologisierung der Sprache symbolisch ausfaltet. Der Wahnzustand bezeichnet das pervertierte Ideologische (= Ideologie, die den Kontakt zu den sie begründenden Interessenszusammenhängen verloren hat); es wird ihm kollektivhistorische Bedeutung zuerkannt.130 Dem historischen Ereignis von 1933, dem Musil Wiederholungscharakter zuschreibt, da wie im Sommer 1914 von verdeckten Hintergrundinteressen ausgehend über öffentlich geführte ideologische Diskurse Massen erfasst und hysterisiert werden, versucht Musil auf der fiktionalen Ebene des Romans eine Entsprechung zu schaffen: Der Chefideologe Meingast betätigt sich als Einflüsterer am psychotischen Bewusstsein Clarisses; durch Clarisse wird General Stumm ein irrationalistisches, wahnverzerrtes Weltbild übermittelt, das dieser in hausbackener Weise für die Kriegsoption gebraucht. Die verstärkte Ausrichtung der Clarisse-Syntax auf den Kriegsausbruch im Roman ist Resultat von Musils Berliner Erlebnis der nationalsozialistischen Machtergreifung (auch den Sommer 1914 hat er in Berlin erlebt). »Die Überlegung zu Clarisses Denken hängt […] mit Politik, Nationalitäten […] zusammen«;131 die Figur der Clarisse erhält Funktion in einem ironischen Gleichschaltungs-Diskurs, den Musil 1933–36 für den Schlussabschnitt des Romans vorsieht. Es zeigt sich aber, dass eine allzu politische Metaphorik belastet. Die Clarisse-Syntax fügt sich in die Grundspannung, die ab 1936 zur Abkehr von der Gleichschaltungs-Idee führt; die
129 MoE, 1015. 130 Damit nähert sich Musil einer Konzeption, die später Thomas Manns Doktor Faustus mitbestimmt. 131 Nachlass, I/5, 199.
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Rückkehr zur Auffassung von Clarisses Wahn als eher individuelles Phänomen wird wieder absehbar.132 In der Endphase der Auseinandersetzung mit Clarisse ab 1935 sind die vier Kapitel mit der Sigle L, H, V, B der Mappe Nächster Block II , mit deren Ausarbeitung Musil Ende 1933 und Anfang 1934 befasst war, in den Hintergrund gedrängt. Sie erleiden ein ähnliches Schicksal wie der Nächste Block I und III , die Fortsetzung der Geschwisterhandlung (Museum-Krisis-Komplex) und der Parallelaktion. Auf der Basis der Kapitelgruppen von 1928 hätte die Erzählung in den drei Nächsten Blöcken die Richtung hin zum manifesten Krieg, Inzest und Wahnsinn eingeschlagen. Nach einem letzten Waffenstillstand mit Walter (L) und der Trennung von Meingast im Hermaphrodit-Gespräch (H) hätte Clarisse die Vergewaltigung durch ihren Ehemann erlitten (V) und wäre aus dem durch die Begegnung mit Moosbrugger (B) verdoppelten Schock in das akute Stadium ihrer Krankheit gestoßen worden.133 Doch legt Musil die vier Kapitelprojekte auf Eis; ab 1935 ist er nur mehr mit dem Agathe/Lindner-, Garten- und Tagebuch-Komplex befasst. Innerhalb der Reihe der Druckfahnen-Kapitel von Ende 1937 unterbrechen bloß die drei Generals-Kapitel den Ulrich/Agathe-(Lindner-)Block. Notizen von Frühjahr 1937 reihen das Kapitel Frühspaziergang in der Kapitelabfolge als Nr. 59 nach dem Tagebuch-Block ein,134 was Adolf Frisé dazu verführt hat, die Entwürfe von Frühspaziergang (letzte Fassung 1935/36) und Laubumkränzter Waffenstillstand (letzte Fassung Ende 1933) in seiner Ausgabe von 1978 unter »Versuche zur Fortsetzung der Druckfahnen-Kapitel« missverständlich mit der Datumsangabe »1938 und später«135 einzusetzen. Doch das Entstehungsdatum der letzten Gruppe von Clarisse-Kapiteln ist nicht nur wesentlich deutlicher vor Musils Gang ins Schweizer Exil im Sommer 1938 anzusetzen, er legt an diesen Texten in seiner Züricher bzw. Genfer Zeit nicht noch einmal Hand an. Die Gründe für den Abbruch der Arbeit am Clarisse-Komplex darf man kurz gefasst vielleicht damit bestimmen, dass Musils Schreiben über die Schilderung des intermediären Stadiums der Geschwisterliebe nicht mehr hinaus gelangt. Die Kehrseite des Steckenbleibens
132 Vgl. Nachlass, II/3, 19–22. 133 Im Rahmen der digitalen Edition und in der geplanten Monografie Das apokryphe Finale des ›Mann ohne Eigenschaften‹ von Robert Musil werden die Kapitel des Nächsten Block II ausführlich kommentiert und analysiert; hier gehe ich im Interesse der Gesamtlinie nicht näher auf sie ein. 134 Vgl. Nachlass, III/7, 153–154 (27.3.1937). 135 MoE, 1272.
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des Romans im Garten bildet die Abkehr von der erwähnten Idee zur Gleichschaltungs-Parodie durch Clarisse und den General. Der ClarisseKomplex bildet in der Romanfortführung die Brücke zur sozialen Frage; die abwartende Haltung aber, welche Musil angesichts der aktuellen politischen Entwicklung, die rasant in den Zweiten Weltkrieg führt, bezüglich der Gestaltung der sozialen Frage und ihrer (utopischen) Lösungen im Roman einnimmt, führt dazu, dass die Clarisse-Geschichte auf Eis gelegt wird. Mehr als fünfzig Hinweise im Nachlass auf Clarisse-General aus der Phase der Reinschrift (1937) und der Umarbeitung (1938–1942) des Komplexes der Druckfahnen zur Teilveröffentlichung von Band II 2 belegen, dass und wie Musil die vorhandenen Clarisse-Kapitel, allen voran das Kapitel Frühspaziergang, noch zu integrieren gedenkt. Dieses steht in der Planung von Ende 1937 am Schluss des Blocks. In der entsprechenden Studie unter den Schmierblättern zur Reinschrift, wo auch die Entwürfe Laubumkränzter Waffenstillstand und Vergewaltigung (ein letztes Mal) erwähnt werden und die Multibezüglichkeit von Clarisses Sätzen – »Das Irrenhaus ist eine Verfallserscheinung. Man muß die Irren wieder ins Volk lassen!« – wieder besonders herausgestrichen erscheint, betont Musil außerdem die Verbindung von Frühspaziergang mit Ulrich und Agathe und die Rolle des Generals als Diskurskonnektor.136 Auch noch in der Schweizer Periode (1938–1942) hält er daran fest, das Kapitel mit Clarisse und dem General vor bzw. in den nun entstehenden neuen Gartenkapitel-Komplex (gipfelnd in Atemzüge eines Sommertags) einzufügen bzw. ihn unmittelbar daran anzuschließen.137 Gelegentlich macht sich Musil Gedanken darüber, dass die Wiedereinführung Clarisses durch die langwierige Schilderung der Gefühlspsychologie in Ulrichs Tagebuch und der Liebesgespräche Ulrichs und Agathes zu weit abgedrängt würde und vorgezogen werden müsste.138 Stets bestätigt sich der Sinn der Wiederaufnahme und Einschaltung Clarisses im Zurückkehren des Romans aus der Engführung der individuellen Liebes-Problematik zu einem expliziteren Gesellschaftsbezug: »ein Versuch mit Zeitkritik (Besitz und Bildung?) wieder zu beginnen«,139 oder: »Kulturproblem kommt ja noch mit Walter-Clarisse und mit Meingast.«140 In einigen Überlegungen von 1939 fasst Musil den Zusammenhang mit dem Kapitel Wandel unter Menschen ins Auge, in dem Ulrich und Agathe ihre Abgesondertheit von der Welt definieren.
136 137 138 139 140
Vgl. Nachlass, III/7, 51–52. Vgl. Nachlass, III/7, 83 (1937); V/2, 1; V/1, 67; V/3, 80 (1938); V/1, 13, 28, 58 (1939). Vgl. Nachlass, III/7, 153–154 (1937); V/2, 10 (1938); V/1, 58 (1939). Nachlass, V/1, 13 (1939). Nachlass, V/1, 28.
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Dehne Wandel auf Meingast, Clarisse-Walter aus!141 […] Nachtgespräch. Anschließend Gruppe General-Clarisse und die Gruppe ›Garten‹. Paßt. Der Gedankenkreis erweiterte sich allerdings um Zeitschilderung u. ä., was aber sowohl zu Wandel ff paßt als auch zu den nun kommenden Graf Leinsdorf, Meingast, Ulrichs politische Verweigerung usw.142
Als Musil 1938 und 1939 daran geht, die Druckfahnen umzuschreiben, in seinen Züricher und Genfer Neuansätzen, zeichnen sich auch neue Lösungen für die narrative Einbindung Clarisses mit dem General ab. Zu einer Erörterung der beiden Sphären göttliche Liebe und Trieb in einer Früh-Fassung des Atemzüge-Kapitels (1939) erwägt Musil eine Erweiterung: Nähere Ausführung ins Museum-Kapitel. General kommt mit ins Museum. Denn diese Clarisse malt! Durch seine Verbindungen ein Kustos da. So dass General also nach Irrenhaus auch im Museum führt.143
Die Idee eines Museum-Besuchs von Ulrich und Agathe, Anlass für die Einschaltung historiologischer bzw. kulturkritischer Essayistik, geht auf das Jahr 1932 zurück. In dem Rückgriff auf diese Idee ist ein weiteres Vorrücken des Generals in den Vordergrund und zugleich ein Zurücktreten Clarisses impliziert. Vorübergehend wird auch der Walter und Clarisse zugeordnete GenieDiskurs im Roman der Generals-Figur allein überantwortet. Musil entwirft Anfang 1940 eine kleine Folge von Kapiteln, in der die »Frage der Genialität« in einem Gespräch zwischen Stumm und Ulrich abgehandelt wird.144 Schon etwas früher hat Musil im Rahmen der Gartengespräche Ulrichs und Agathes an einem Kapitel zu arbeiten begonnen, in dem ein neuerlicher Besuch des Generals bei Ulrich und Agathe geschildert wird, im Zuge dessen es zu einem Gespräch über Clarisse kommt. Dieser brüchige Entwurfstext mit dem Titel »Gartenkapitel mit General«, den Frisé nicht publiziert hat, stellt die letzte entwurfsmäßige Befassung Musils mit Clarisse dar. Ich gebe die Passage aus dem Anfang des Entwurfskapitels, welche Clarisse betrifft, in extenso wieder: Agathe streifte plötzlich den Rock über die Knie hinunter, nahm eine gesittetere Lage an und ordnete ihr Haar; und als Ulrich nach der Ursache forschte, sah er den General die Wiese vom Haus heraufkommen. Der General trug noch die hohen Stiefel, in denen er nach seinem ›Morgenritt‹ ins Büro gekommen war, und die roten, wie Stengel sich biegenden, weithin sichtbaren Streifen an seinen Reithosen verliehen dem daraufsitzenden Leib das Aussehen eines runden, himmelblauen
141 142 143 144
Nachlass, V/1, 58. Nachlass, V/2, 175. Nachlass, V/3, 115. Vgl. Nachlass, V/2, 121–140.
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Blumensträußchens, das durch Gottes Wunder über eine Wiese ging. Ulrich winkte ihm höflich zu, der General, der die Kappe von dem erhitzten Haupt genommen hatte, schwenkte sie zum Gruß wie einen Säbel zur Brust und gegen den Boden, und als er vor den beiden stand und sich nicht ohne Anstrengung zu Agathes Hand gebückt hatte, sagte er: ›Ich bitte um Verzeihung. Ich bin schon wieder da. Aber ein solches Nichtstun, während wir andern angestrengt arbeiten, verdient selbst diese Strafe!‹ Agathe bot ihm Platz auf dem Rasen an, und als Stumm wieder zu Atem kam und eine Lage gefunden hatte, die sowohl seiner würdig als auch einigermaßen bequem war, eröffnete er das Gespräch mit der Frage: ›Gnädigste, können Sie mir sagen, was für eine Art Frau eigentlich Frau Clarisse ist?‹ Agathe lächelte und blickte auf Ulrich, den nun auch Stumm wartend anblickte, so daß er sich genötigt sah, die Antwort zu erteilen. Er tat es kurz mit dem einen Wort: ›Verrückt!‹ ›Wirklich verrückt?‹ Es widerstrebte Stumm wohl doch. ›Ich glaube: wirklich.‹ Stumm blickte fragend auf Agathe. ›Ich kenne Clarisse zu wenig‹ sagte diese. ›Aber wie kommt es denn dann, daß der Friedenthal nichts bemerkt?‹ zweifelte Stumm. Ulrich entgegnete: ›Ärzte bemerken so etwas nur bei Krankenbesuchen; bei Privatbesuchen sind sie imstande, es für Geist, für Ungewöhnlichkeit, Kunst, oder was weiß ich zu halten. Offenbar muß auch ein Krankheitsbild den richtigen Rahmen haben! Selbst ihr eigener Bruder gewahrt es doch nicht!‹ Stumm war es zufrieden. ›Dann brauche ich mir schon gar keine Vorwürfe zu machen!‹ ›Weshalb auch!‹ ›Hat sie auch dir von dem Nietzsche-Jahr erzählt?‹ fragte Stumm heiter. ›Das ist eine von ihren Ideen‹ antwortete Ulrich. Agathe wollte wissen, was ein Nietzsche-Jahr sei. ›Man soll in diesem Jahr bloß nach Nietzsches Büchern leben‹ beeilte sich Stumm, sie zu belehren. ›Und im nächsten Jahr wohl nach denen von Goethe?‹ fragte Agathe spöttisch, die Clarisse nicht wohl wollte. Der General erwiderte: ›Kann sein; ich weiß es nicht, Gnädigste. So genau hat sie sich darüber nicht ausgelassen. Übrigens –‹ fuhr er plötzlich philosophisch fort und war ersichtlich gesonnen, für Clarisse Partei zu nehmen: ›Einen guten Schriftsteller soll man doch wirklich beim Wort nehmen können! Denn wenn es die Leute nicht ernst meinen, dann brauchen sie ja auch nicht zu schreiben!‹ Als ihm auffiel, daß darauf keine Antwort kam, blickte er erst Agathe, dann Ulrich fragend an. ›Ich bin beinahe auch deiner Meinung, aber vielleicht ist es etwas verwickelter‹ erwiderte nun Ulrich, höflich zögernd. Stumm dachte nach. ›Merkwürdig ist es ja, daß sie selbst manchmal ganz ruhig davon spricht, daß sie verrückt ist.‹
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›Das soll vorkommen.‹ ›Zum Beispiel behauptet sie dann, daß nicht die Verschrobenheit den Wahnsinn von der Gesundheit unterscheide, sondern der größere Mut, ja, sie sagt die Vollständigkeit und Vollendung. Sie sagt überhaupt manches, was ganz hervorragend ist! Hat sie dir zum Beispiel schon einmal vom Willen zur Macht erzählt?‹ fragte ihn Stumm; besann sich aber darauf, daß Agathe wenig Teilnahme gezeigt habe und daß es darum ungezogen sei, von Clarisse weiterzureden. ›Verzeihen, Gnädigste, daß ich nun auch noch auf den Willen zur Macht zu sprechen gekommen bin‹ bat er. ›Aber ich muß mir jetzt alles unter dem militärischen Gesichtspunkt anschaun! Es kann ja verrückt sein, was ich da erfahre, aber ich empfange wirklich viel Anregungen. Ich glaube ihr nicht alles. Aber ich habe das Gefühl, wenn ich es einmal selbst durchdenke, wird manches Brauchbare zum Vorschein kommen!‹ ›Stumm hat recht‹ vermittelte Ulrich. ›Oh, ja!‹ sagte Stumm ›Ich darf in diesem Kreise ja sagen: Was einen gesunden Menschen von einem geisteskranken unterscheiden läßt, ist bloß, daß der Gesunde alle Geisteskrankheiten hat und der Geisteskranke bloß eine!‹ Ulrich rief anerkennend aus ›Mein lieber Freund, du hast Geist bekommen!‹ und schlug Stumm neckend auf die Schulter. ›Und du bist eitel wie vor dem Spiegel, wenn du das sagst!‹ gab dieser verzagt zurück. ›Denn diesen Ausspruch habe ich von dir.‹145
Der letzte Satz bezieht sich auf eine Äußerung Ulrichs in Kapitel 37 des Bandes II 1 am Großen Abend bei Tuzzis. Es erfolgt eine erzählerische Anbindung an die kanonischen Romankapitel, wie auch in der Erwähnung von Clarisses Vorschlag zu einem Nietzsche-Jahr.146 Das Herstellen intratextueller Bezüge zu früheren veröffentlichen Romanteilen und auch das Selbstzitat aus nicht veröffentlichten Vorstufen werden zum Merkmal von Musils spätem Schreiben. Der Entwurfsabschnitt stellt ein Stück Text mit sehr ausgeprägter Referenzialität vor. Man kann sagen, es handle sich um einen Ansatz zur Ersetzung des Nächsten Blocks in Richtung auf einen vorgezogenen Romanschluss. Solche schreiberischen Ersetzungs- und Abkürzungsvorgänge sind für den Arbeitsprozess Musils in seinen Schweizer Jahren ebenso typisch wie die Tendenz zum Selbstzitat. Die Gesprächsschilderung im Entwurf bedeutet in eine Umkehrung der Erzählsituation des Frühspaziergang-Kapitels. Dort wird im ursprünglichen Entwurf (1933) das Gespräch zwischen dem General und Clarisse aus Clarisses Perspektive dargestellt, mit dem Focus auf eine Innensicht des Wahns. In der späteren Bearbeitung (1935) ist dies zur
145 Nachlass, V/3, 118 f. Die Abkürzungen Musils sind aufgelöst, Anführungszeichen ergänzt; die Interpunktion wurde belassen. 146 Vgl. MoE, 226 f. und 1021.
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auktorialen Dialogwiedergabe geändert. Im vorliegenden Entwurf von 1939 ersetzt ein Referat des Generals die direkte Inszenierung Clarisses, die Innenperspektive auf Clarisses Wahn ist dabei völlig ausgeblendet, nur mehr seine äußere erzählerische Funktionalität für Belange des Gesamtromans bleibt gewahrt. Betrachten wir die Gesprächssubstanz, sehen wir, dass Clarisses Verrücktsein als nicht rekognoszierbares Phänomen eingestellt wird; der Wahn sei einerseits ein universelles Phänomen, an dem auch die Gesunden teilhaben; andererseits werden von Clarisses Irresein aus Bezüge zu anderen Komplexen des Romans geknüpft, zu Ulrich/Agathe und Stumm, als deren Projektion Clarisses Wahn fungiert. Clarisses Forderung nach Unbedingtheit, der »Mut«, den sie dem Wahn zuspricht, berührt sich eng mit dem Diskurs der Geschwister; aus dem Mund des Generals erhält die Forderung nach Unbedingtheit – »Einen guten Schriftsteller soll man doch wirklich beim Wort nehmen können!« – eine ironische Färbung. Er selbst, Stumm, lässt sich von Ulrich im Reflex auf das »schwierige Gespräch« 147 mit Clarisse beim Frühspaziergang, von dem er eben kommt, beruhigen, er brauche sich der Einlassung mit Clarisse wegen keine Vorwürfe zu machen. Des Generals insgeheime Sympathie für Clarisse wird nicht vor Ulrich, sondern in erster Linie vor Agathe verhohlen. Das hängt damit zusammen, dass Clarisse den »illegalen Erwerb der Ekstase« repräsentiert,148 während Agathe in die Rolle der Stichwortgeberin Ulrichs bei der Entwicklung einer »taghellen« Liebesmystik geschlüpft ist. Als Hüterin des wahren anderen Zustands ist also sie es, die das Reden über Clarisse erfolgreich unterdrückt. Der schlaumeierische Stumm hingegen mutiert, so sieht es der Plan vor, unter anderem mit Schützenhilfe Clarisses, im Schlussabschnitt des Romans zum »richtigen General«.149 Er instrumentalisiert die Wahnparolen zur Befreiung Moosbruggers, in denen er manches Brauchbare findet, für seine militaristischen Zwecke. Nietzsches Wille zur Macht wird ins Spiel gebracht, eine Anspielung auf den ideologischen Missbrauch der Morallehre Nietzsches als geistige Munition für die Militarisierung der Gesellschaft (am Vorabend des Ersten Weltkriegs im Rahmen des Erzählten und durch das nationalsozialistische Regime im Rahmen des Wirklichen). Auf diese Weise stürzt der Roman in den Krieg. Der Entwurf liegt auf der Linie einer Tendenz zur Verkürzung der erzählerischen Syntax. Statt breiter
147 Schwieriges Gespräch ist der vorgesehene Titel für das zweite Frühspaziergang-Kapitel im Fall einer Teilung, vgl. Nachlass, III/7, 51. 148 Vgl. Nachlass, I/5, 106; II/3, 144; V/4, 199. 149 »Der General wird ein General« notiert Musil in seinen Planungsnotizen, vgl. Nachlass, II/1, 163 usw.
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Schilderung, dass und wie »alle Linien in den Krieg münden«,150 in mehreren Handlungssträngen, bedient sich Musil einer extrem reduzierten Topographie – des Gartens – und eines extrem reduzierten Personals – Ulrichs, Agathes, des Generals. Dieser Konzeption des Romanschlusses entsprechend wäre die restliche Clarisse-Geschichte storniert, aufgehoben in Reflexen des Generals und der Geschwister, mit deren Gesprächen der Roman eventuell schließen würde oder die aus ihrer Gartenidylle unvermittelt in die Mobilisierungshysterie der geplanten Schlusskapitel geschleudert würden. An einer Einbindung oder Anknüpfung an das bereitliegende ClarisseEntwurfsmaterial in diesem Sinn hält Musil in seinem einsamen Selftalk bis in die letzten Lebenswochen fest. Dies belegt eine Bemerkung in den Korrektur-Notizen zur letzten Fassung des Kapitels Atemzüge eines Sommertags von Anfang 1942: Clarisse jetzt die ›Tätige‹. Walter und Clarisse, durch Ulrich und Agathe, wieder heranziehen. Weil sie ihre Pläne verfolgt und Verbindungen braucht, Meingast wichtig sein will (Knappe, ja Knecht wichtiger) und auf Walter Einfluß und Überhand haben. So beginnt das mit Generals Kommen und knüpft an Appetitiv – nicht-Appetitiv an.151
Die letzte Bezugnahme reicht bis zu Meingast, sie erstreckt sich über Frühspaziergang hinaus also möglicherweise auch auf die Folgekapitel Laubumkränzter Waffenstillstand und Hermaphrodit, wohingegen Moosbrugger, die Begegnung mit ihm im Irrenhaus, keine direkte Erwähnung mehr in dem Roman finden würde. Es hat zwar den Anschein, als hätte Musil im Genfer Arbeitszimmer die Mappe Nächster Block II nicht mehr aufgeschlagen (es mangelt dafür an wortwörtlichen Bezugnahmen), die Notiz belegt aber Musils gedankliche Befassung mit der Konstellation in L und H, nicht bis V reichend. Vielleicht darf daraus die vage Absicht zur Verkürzung der erzählerischen Syntax im Finale des Clarisse-Erzählstrangs herausgelesen werden: Clarisse würde mit Walter zu einem Modus vivendi (Waffenstillstand) gelangen, das oft gestaltete Gegeneinander von Wahn-Genie und Bürgerlichkeit und deren Kunstauffassung (Thomas Mann) drückte sich darin aus; Moosbrugger bliebe – wie im ganzen bisherigen Roman – ein Kosmos für sich, ohne dass es je zu einer direkten Konfrontation mit den anderen Figuren des Romans käme; die Zyklen allein von Clarisses Wahn griffen aber in den großen Zyklus des Gangs der Weltgeschichte – in den Krieg, den der General repräsentiert. Ein solches Enden des Romans in einem schwebenden Zustand 150 Vgl. Nachlass, II/2, 15 usw. 151 Nachlass, V/5, 206.
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von diskursiver Indirektheit mitten im Stadium der Übergänge von Wahn und Normalität, des Appetitiven (Triebdurchbruch) und nicht Appetitiven (Kontemplation), in einem hermaphroditischen Stadium also auch, entspräche – das ist die Hypothese – genau der Richtung der Musil’schen Schreibbewegung der letzten Jahre.
Clarisse im geplanten Schluss von 1936 Die Alternative außerhalb des Radius dieser verkürzten Erzählsyntax bliebe das, was bis 1936 Substanz aller Kapitelentwürfe und Vorstufenfassungen war: Die Reihe begänne mit dem Kapitel Vergewaltigung, daran schlösse das Besuchs-Kapitel – soweit die beiden ausgeführten Entwürfe aus dem Nächsten Block II . Dann kämen die Episoden in Verbindung mit der Entführung Moosbruggers, Clarisses Internierung(en) und Flucht(en). Sie waren offiziell nie aufgegeben; in die Kapitelsukzessionen von 1934 (Schmierblätter zum Aufbau)152 bzw. 1936 (Überlegungen zum Schlussteil)153 sind sie als Einschübe in den vorgesehenen, aber nicht mehr neu ausgeführten Kapitelblock mit der Italienreise Ulrichs und Agathes und in die Kapitel des so genannten Schlussteils integriert. Der Autor beschäftigt sich in einem Intermezzo (Ü6Skizzen) während der ersten Hälfte des Jahres 1936 noch mit ihnen. Die Dynamik im Gesamtsystem der Festlegungen von Anfang 1936 läuft schon in Richtung auf eine Begradigung der narrativen Syntax. Wertet man alle zu Papier gebrachten Pläne und Überlegungen aus, so rechtfertigen Musils Schwanken bezüglich der Beibehaltung der Moosbrugger-Kapitel und die letzte getroffene Disposition in der Handlungsskizze von Frühjahr 1936, sich die Fortsetzung des Clarisse-Strangs so zu denken, dass die Episode Rachel-Moosbrugger doch entfallen würde, die Insel-Episode Ulrich-Clarisse einschließlich der Konfrontation Ulrich-Walter den direkt erzählten Abschluss des Erzählstrangs bilden und der Bericht von Clarisse als »geknickter Prometheus«,154 also ihr Erwachen aus der manischen Phase und ihre Einsicht in ihr Scheitern, ohne direkte Einbeziehung Ulrichs nachgeliefert werden würde. Das letzte eigentliche Clarisse-Kapitel des Romans wäre also das Insel-Kapitel, das einzige, zu dem auch noch ein, wenn auch fragmentarischer, Textentwurf von 1936 vorliegt. Der Entwurf Insel bildet gemeinsam mit den Skizzen aus den zwanziger 152 Nachlass, I/3, 11 ff. 153 Nachlass, II/7, 108 ff.; II/1, 89; II/2. 154 Nachlass, II/1, 89.
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Jahren Teile eines bloß virtuellen Romanschlusses. Nach 1936 schrieb Musil keinen weiteren Kapitelentwurf und widmete dem Clarisse-Schluss auch keine einzige Studie bzw. Planungsnotiz mehr. Die Nichtbefassung ist nicht mit einer völligen Suspendierung der alten Entwürfe gleichzusetzen; Musil hat den Clarisse-Schluss sozusagen auf Eis gelegt. Dass er keine Varianten mehr verfasste, verstärkt den Eindruck von der (doppelten) Virtualität des Finales: statt auf eine festgefügte Fiktion treffen wir auf das Nebeneinander möglicher, apokrypher, unausgeführter Verläufe.
Musils Enden der Parabel – Kontexte In der wissenschaftlichen Rezeption des Mann ohne Eigenschaften werden Clarisse und Moosbrugger häufig gemeinsam unter dem Gesichtspunkt ihrer Geistesgestörtheit betrachtet. Die Ansätze zum Verständnis der beiden Figuren sind vielfältig, aus der Sicht der in Notizen formulierten Intention des Autors lässt sich der Mehrzahl von ihnen die Berechtigung kaum absprechen; besonders Clarisse gerät im Spiegel der vielfältig sich wandelnden Darstellungsabsichten des Autors zum Popanz des Interpretenehrgeizes. Der erste Ansatz, der biografische Substanz für maßgeblich hält, nimmt für Clarisse das Vorbild Alice Donaths und für Moosbrugger Musils dokumentiertes Interesse an Triebtätern, das wieder zu Rückschlüssen auf psychische Schreibantriebe des Autors führt (Moosbrugger als Doppelgänger-Figuration im Autor, die er auf seine Protagonisten überschreibt). Der zweite Ansatz zieht psychopathologisches Wissen als Referenzfeld heran; es geht um die Bestimmung und Einordnung der Wahnzustände als psychotische bzw. psychiatrische Phänomene. Der dritte Ansatz fasst Clarisse als kulturund philosophiegeschichtliche Symbolfigur auf, in deren exzessiver Nietzsche-Nachfolge die Nietzsche-Rezeption bzw. allgemein die Wirkung antipositivistischer Lebensphilosophien am Beginn des 20. Jahrhunderts parodiert werde. Ein vierter Ansatz nimmt an, dass sich in Clarisse wie in Moosbrugger abstrakte epistemologische Prinzipien ausdrücken: Ihre gemeinsame Wahn-Sprache sei eine, in der Signifikant und Signifikat sich vermischen und verwechselt werden, die Bezeichnung schon für das Bezeichnete gehalten wird und umgekehrt. Der philosophische Wahn der beiden Figuren sei nicht als realistische Beschreibung von Psychopathien aufzufassen, sondern markiere Zustände jenseits des rationalen Denkens, für die auch die normale Realitätsauffassung anfällig ist. Einem fünften Ansatz zufolge hypostasiere sich in den Zuständen Moosbruggers und Clarisses der andere Zustand Ulrichs und Agathes in Extremform. Der Wahn liefert ein Seiten-
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stück zur Grenzüberschreitung im mystisch-ekstatischen Erleben und die negative Folie für das positive (unerreichbare) Stadium des Tausendjährigen Reichs der Geschwister. Der sechste Ansatz schließlich untersucht den Irrsinn in seiner historischen Symbolfunktion: Das Münden des Romans in den Krieg als kollektiver Vorgang finde im Ausbruch des Wahns bei Clarisse eine Entsprechung am Individuum; auch der Fall Moosbrugger manifestiere seine Bedeutung in der narrativen Verknüpfung mit dem Kriegsausbruch. Einige dieser Perspektiven, die letzte Sichtweise allerdings mehr als die anderen, lassen sich mit dem Blick auf den Wahnzustand als genuine erzählerische Figuration zusammenbringen. Jenseits psychopathologischer Realitäten hat das Irresein seit jeher seine feste Funktion in der Literatur, als Krankheits-Metapher im Sinne von Susan Sontag und als Ausdruck der Aufhebung des Kausalgefüges. Kausalität in ihrer sprachlichen Bezüglichkeit bestimmt die Gesetze des fingierenden Erzählens, Kausalitätsaufhebung korrespondiert so mit Aufhebung des Erzählgefüges. Andererseits aber bedeutet die Wahnentfaltung in beiden von Musil im Roman gezeigten Fällen – Moosbrugger, Clarisse – nichts anderes als die Konstruktion einer Scheinrealität. In Clarisse soll sich der Intention des Autors zufolge immer mehr das »Bild einer Manie in ihrer Großartigkeit« entfalten.155 Eine Annäherung an Versprachlichung wahnhaften Bewusstseins, das Michel Foucault in Wahnsinn und Gesellschaft als ein Schweigen bzw. eine zum Schweigen gebrachte Sprache bestimmt,156 findet im Mann ohne Eigenschaften schon in den Kapiteln 87 (Moosbrugger tanzt) und 110 (Moosbruggers Auflösung und Aufbewahrung) statt. In Kapitel II /7 löst Musil die narrative Aufgabe, Clarisses Wahn sprachlich zu machen, indem er einen Brief von ihr wiedergibt; in einem Paratext dazu bestimmt er diesen Brief als »in einem verhältnismäßig normalen, bürgerlichen Zustand geschrieben. Die eigentlichen Motive sind unterbewußt«.157 Im Fall Moosbrugger hingegen, so lässt es sich zusammenfassen, versucht sich die Sprache des Erzählers tatsächlich in der Annäherung an das Schweigen, an das also, das der Wahnsinn Foucault bedeutet. Im Fall der sprechenden und schreibenden Clarisse bahnt sich eine Diskursivierung des Wahns an, die sich dann in der Fortsetzung von Band II weiter entfaltet. Das wahnhafte Zeichensystem Moosbruggers und Clarisses steht in Korrespondenz mit imaginierten fantastischen Zeichensystemen, wie sie seit je-
155 Nachlass, I/2, 19. 156 Vgl. Michel Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft: Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft. Aus dem Französischen von Ulrich Köppen. Frankfurt a. M. 1969, S. 7–10. 157 Nachlass, I/5, 79.
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her Lieder, Erzählungen und Spiele, heute Filme und Computerspiele darstellen. Transfer von Realitätselementen in irreale Bilderwelten ist das gemeinsame Merkmal. In diesem Sinn ist die Wahnsinnsentwicklung bei Moosbrugger und Clarisse insgesamt als selbstimplikativ für den Roman zu werten, als metafiktionale Struktur. Eben die schöpferischen Versuche Clarisses, ihre Doppelwelten zu konstruieren und General Stumm von Bordwehr zu vermitteln, gleichen der Arbeit des Romanciers, wobei Stumm die Rolle des geduldigen und lernbereiten Lesers zufällt. Dieser Aspekt der wort-schaffenden und realität-vortäuschenden Magierin Clarisse als Schriftsteller-Allegorie ist bisher in der Rezeption weniger beachtet worden. Und wer das literarische Gleichsetzungsmanöver wagt, begibt sich zweifellos ins Zwielicht: Denn innerhalb der Wahnauffassung, die aus dem Roman spricht, kommt der Gleichsetzung von Wahn und Fiktion ja die Rolle einer fundamentalen Fiktionskritik zu. Während Clarisse sich selbst, Walter und den General in ihre Täuschungswelten einwickelt, aus denen sich die beiden Männer brauchbare Versatzstücke für die Rechtfertigung ihres albernen bzw. verderblichen Tuns holen, kondensieren die ernsthaften Wahrheitsexperimente Ulrichs und Agathes schließlich in einer positiven Utopie des induktiven Denkens unter Zurückdrängung nicht-ratioïder Bereiche wie Religon, Mythos, Poesie. Man kann den Bewertungsmaßstab aber auch umdrehen und in Clarisses schöpferischer Tätigkeit das narrativ Positive erkennen, nämlich das die Erzählung am Leben erhaltende Prinzip, den »Reiz des Wirklichen im Gegensatz zu den Utopien, die lebensabgewandt und triebschwach sind«,158 findet Musil selbst einmal. Seine Beziehung zum Erzählen ist gespalten; immerhin hat er eine Vorliebe für den Film und ortet an sich selbst eine »versenkte Phantasie des stillen Kindes, durchkreuzt von einer gewissen Anlage zum Geschichtenausdenken«.159 Von Clarisses Wahnfantasien schreibt er, schon »die Unterstellung, daß sie Wirklichkeit seien, spannt und treibt weiter. Es ist nicht wie in der Kunst, sondern wie in einem Detektivroman«.160 Betrachtet man das Ende, wird die Figur der Parabel wichtig. Erzählungen mit geschlossenem Sinngefüge führen in irgendeiner Weise Rückwärtsbewegungen aus. Die Gegenbewegung dazu bildet schon immer die Bewegungsart des Mündens. Auch Musils Roman kehrt einerseits parabelhaft zurück – von Eine Art Anfang zu Eine Art Ende, andererseits mündet er, nämlich in: Krieg, Sex, Wahn. Das Münden der Clarisse-Erzählung in den Wahn korrespondiert immanent mit dem Münden der Parallelaktion in den 158 Nachlass, II/2, 8. 159 Nachlass, Heft 33, 77. 160 Nachlass, II/2, 8.
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Krieg und in Freisetzung der Triebe, außerliterarisch mit dem kollektiv-geschichtlichen Einmünden in den noch größeren Massenwahn des Nationalsozialismus. Damit kommt Musils Konzeption der von Thomas Mann in Doktor Faustus nahe, wo die Geisteskrankheit der Figur Adrian Leverkühn mit bürgerlichen Genie-Vorstellungen kollidiert und der Ausbruch des Irreseins allegorisch auf die Kollektivgeschichte Deutschlands abgestimmt ist. Auch zu Brochs Schlafwandlern bestehen Ähnlichkeiten, wo die Demenz der Figur des Majors Pasenow den sozialen Auflösungszustand verkörpert. Verbindet man die beiden getroffenen Feststellungen – Wahn als Kausalitätszerfall, Wahn als Pseudologik –, dürfte man für das Ende des Mann ohne Eigenschaften eine Art Auflösung der narrativen und linguistischen Syntax in einer wahnsprachlichen Parataxe erwarten, zumindest für den ClarisseStrang des Romans. Wichtige literarische Werke, die nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden sind, bieten ja diesen Zustand der Aufgelöstheit im Wahn dar, sie entwickeln in auffallender Weise eine Art Rhetorizität des Irrsinns; psychisch Kranke und Irrenanstalten spielen etwa eine Rolle in Dürrenmatts Physikern, Peter Weiss’ Marat, in den Wahn getriebene Frauen in Ingeborg Bachmanns Todesarten-Zyklus; Grenzbereiche zwischen Absurdität und Wahn werden von Günther Grass und Arno Schmidt betreten, womit nur einige besonders bekannte Werke und Autoren der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur genannt sind. In präziser Totalaufnahme hat der postmoderne Roman Gravity’s Rainbow des Amerikaners Thomas Pynchon unter Grundlegung der Parabelfigur den Zusammenfall von individueller Selbstauflösung und Katastrophe des Zweiten Weltkriegs in einer Wahnsprache gestaltet. Die Möglichkeit dieses Mündens in eine direkte Wahnsprache wird von Musil für seinen Roman allerdings abgewehrt; er gibt der »Auflösung«, gegen Joyce,161 und, wie er einmal sagt, der »zügel- und regellosen weiblichen Seite seiner Begabung« nicht nach.162 Im Mann ohne Eigenschaften bleibt der Wahn als abgegrenztes Erzähl-Objekt bestehen. Er unterliegt, wie wir gesehen haben, der zunehmenden Tendenz zur Diskursivierung durch Mittel rationaler Syntax, d. h. er wird besprochen und soll verstanden werden. Seine Verweisfunktion im Rahmen der parabelhaften Anlage des Ganzen behält er aber. Die angebotenen Bedeutungen bleiben vielfältig. Wer die Offenheit des Bedeutungsfeldes Wahn im Roman so recht bedenkt, dürfte sich vielleicht dazu versteigen zu sagen, durch die Bemühungen mit wechselndem Ziel, dem Wahn Sinn innerhalb der Parabelform zu geben, produziert Musil, der
161 Nachlass, III/3, 67 und III/5, 39. 162 Nachlass, Heft 35, 33.
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sich in den Ulrich-Agathe-Kapiteln abmüht Leerstellen wegzuarbeiten, im Clarisse-Komplex eine riesengroße Leerstelle. Dürfen wir darin, und im mangelnden Mut, sich beim Schreiben des Wahns der regellosen Seite zu überlassen, einen der weiteren Hintergründe für den Abbruch vermuten? Das erzählerische Münden des Romans mag man sich als ein LangsamerWerden der Bewegung vorstellen, immer näher an den Stillstand gelangend. Ausgeführt ist knapp vor dem Tod des Autors dieses Erstarren noch im Stillleben, dem Blüten- und Totenzug, der Nature morte des Gartenerlebens von Ulrich und Agathe im Atemzüge-Kapitel.163 Von ihm wollen wir versuchsweise einen Bogen zum Walderleben von Walter und Clarisse spannen, denn auch dem früher entstandenen, aber im Plan des Autors erzählzeitlich gleichzeitigen,164 nach der Erzähllogik der verkürzten Syntax letzten und immerhin auch letzten publizierten165 Entwurf aus dem Clarisse-Komplex wohnt dieselbe Halbfeiertags-Atmosphäre eines schwebenden Zustands inne, in dem keine Handlungen gesetzt werden, keine Entscheidungen getroffen – es endet in einem Waffenstillstand.
163 Nachlass, V/6, 37. 164 Eine Vorstufe von Atemzüge eines Sommertags von 1938 beginnt mit: »An demselben Vormittag sagte Agathe zu ihrem Bruder« (Nachlass, V/3, 43). Eine Notiz Musils besagt dazu, dieser Vormittag wäre »von General-Clarisse aus gesehn« (V/3, 80) derselbe, also vom Kapitel F und L aus. 165 Siehe Anmerkung 2.
Nachruf auf Adolf Frisé (1910–2003)
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Nachruf auf Adolf Frisé (1910–2003)
Am 3. Mai 2003 ist Adolf Frisé im Alter von fast 93 Jahren in Bad Homburg vor der Höhe gestorben. 1910 in Euskirchen geboren und in Viersen am Niederrhein aufgewachsen, dürfte er einer der letzten Zeitgenossen gewesen sein, der Musil noch persönlich getroffen hat. Noch vor seiner Promotion als Germanist schrieb er eine Rezension zum ersten Band des Mann ohne Eigenschaften (Germania, 1931), den er bei den Eltern eines Freundes entdeckte und von dem er offensichtlich sogleich fasziniert war. Nach einem brieflichen Kontakt konnte Frisé Musil im Spätherbst 1931 in der Pension Stern am Kurfürstendamm in Berlin besuchen. 1933 konnte er noch den zweiten Band des Mann ohne Eigenschaften besprechen (Der Gral, 1933), doch dann musste er zu diesem Thema schweigen. Nach dem Krieg, in dem er Militärdienst an der Ostfront leistete, arbeitete er als Redakteur an Tages- und Wochenzeitungen in Hamburg und Düsseldorf. Schon 1948 wies er in einem Artikel in der Zeit unter dem Titel Die vergessenen Dichter erneut auf Musil hin. Anlässlich von Musils 70. Geburtstag (1950) beklagte er in der Gegenwart, dass es keine Ausgabe von Musils Werken gebe, doch schon bald konnte er melden, dass eine solche in Vorbereitung sei. Wahrscheinlich hat Frisé, der von 1 951 -1957 die erste dreibändige Musil-Ausgabe publizierte, nicht geahnt, dass ihn die Herausgabe von Musils Werken ein Leben lang beschäftigen sollte. So umstritten die Textgestaltung auch war, er hat mit dieser Ausgabe überhaupt erst ermöglicht, dass man Musil nach dem Krieg lesen und damit auch wissenschaftlich erforschen konnte. 1976 hat er eine umfangreiche Auswahl der Tagebücher, 1978 hat er eine neue verbesserte Ausgabe der Werke und 1981 die Briefe herausgebracht, zudem war er an der ersten CD-ROMAusgabe des Musil-Nachlasses beteiligt. Er hat aber auch immer wieder durch Auswahlbände, Kommentare und Essays versucht, Musil einem breiteren Publikum nahe zu bringen. 1956 bis 1975 war er Kultur-Redakteur beim Hessischen Rundfunk und Leiter der Hauptabteilung »Kulturelles Wort«, wo er zahlreichen Autoren ein Podium verschaffte. Weniger bekannt dürfte vielen Musil-Freunden und -Forschern sein, dass auch selbst Adolf
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Frisé schon seit den Dreissigerjahren Gedichte, Theaterstücke und Romane schrieb, die er allerdings erst spät veröffentlichte. 1990 erschien der erste Roman Der Beginn der Vergangenheit, 1997 Johanna, einen dritten Roman konnte er vor seinem Tod noch abschliessen. Für seine Verdienste um Musil wurden Adolf Frisé zahlreiche Auszeichnungen zuteil, so der Ehrendoktor der Universitäten Klagenfurt und Marburg, ein österreichischer Professorentitel, das Bundesverdienstkreuz und das österreichische Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst. Musil-Liebhaber und Forscher werden Adolf Frisé weit über seinen Tod hinaus dankbar sein für seinen unermüdlichen Einsatz für einen der größten Dichter des 20. Jahrhunderts.
Robert Musil. Bibliographie 1994–2001
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1 Die Bibliographie gibt einen möglichst umfassenden Überblick über die Musil-Forschung der Jahre 1994–2001. Für zusätzliche Hinweise ist die Redaktion dankbar. Rezensionen sind nicht aufgeführt.
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Rezensionen Peter Gay: Das Zeitalter des Doktor Arthur Schnitzler. Innenansichten des 19. Jahrhunderts. Aus dem Amerikanischen von Ulrich Enderwitz, Monika Noll und Rolf Schubert. Frankfurt a. M.: S. Fischer Verlag 2002 2002 erschien das neue Buch des Historikers und Psychoanalytikers Peter Gay: Schnitzler’s Century. The Making of Middel-Class Culture 1815–1914; im gleichen Jahr präsentierte der S. Fischer Verlag die deutsche Übersetzung. Der Buchumschlag zeigt einen schmunzelnden alten Arthur Schnitzler vor großstädtischer Kulisse und der Klappentext kündigt an: »Die Biografie eines der berühmtesten Dramatiker seiner Zeit und die Quintessenz aus Gays umfangreichen Studien zum 19. Jahrhundert.« Foto und Klappentext sind irreführend. Wer ein Buch über den Wiener Schriftsteller erwartet, wird enttäuscht. Arthur Schnitzler soll laut Verfasser zwar als »Führer« (S. 13) durch das Buch dienen, anhand der Stationen seines Lebens soll eine Biografie des Bürgertums entstehen. Es werden jedoch nur wenige Episoden (wie die väterliche Lektüre seines Tagebuchs) wiederholt, unsystematisch und nicht chronologisch ausgewertet. Schnitzler interessiert den Historiker als geschichtliche Person, seine Werke und Tagebücher dienen als geschichtliche Quellen. Konsequenterweise bleibt die literaturwissenschaftliche Forschung zu Schnitzler unberücksichtigt. Das literaturwissenschaftliche Tabu, Autor und Figur gleichzusetzen, bricht Gay unbefangen mit der Formel »Anatol-Schnitzler« und mit der Bezeichnung des Anatol-Zyklus als »Selbstporträt« und »Selbstanalyse« (S. 98). In den meisten Kapiteln ist der Dichter des Fin de siècle ein Ausgangspunkt, der sehr bald wieder verlassen wird; er tritt sogar im Verlauf der Darstellung immer mehr in den Hintergrund, was eine gewisse strukturelle Schwäche markiert. Wenn das Buch also keine Schnitzler-Biografie ist, so ist es dennoch eine Biografie, und zwar die des europäischen und amerikanischen Bürgertums von 1815–1914. Ihr gehen langjährige Studien voraus, die Gay zum Teil bereits in seinem monumentalen Werk The Bourgeois Experience: Victoria to Freud (1984–1998; deutsch 1986–1999) niedergelegt hat. Sein Ziel ist die »grundlegende Neubewertung der gängigen Ansichten über das viktorianische Bürgertum« (S. 18), wobei ›viktorianisch‹ ganz allgemein das Bürger-
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tum des 19. Jahrhunderts bezeichnet. Er will nachweisen, dass die ›Moderne‹ in Politik, Wissenschaft, Kultur und Kunst, die mit dem 20. Jahrhundert assoziiert wird, ihre Wurzeln im 19. Jahrhundert hat. Für die ›Neubewertung‹ einer solch langen, vielfältigen und widersprüchlichen Epoche wie der viktorianischen benötigt man umfangreiches historisches Quellenmaterial. Gay verzichtet allerdings auf die trockene Enumeration von Dokumenten und Statistiken und wählt stattdessen einen leichten, eleganten Erzählton (Lob gebührt auch den Übersetzern). Ist die geringe Zahl an Belegen einem tatsächlichen Mangel geschuldet oder wird dem Leser aus stilistischen Gründen Datenmaterial vorenthalten – mit der souveränen Geste des anerkannten Viktorianismus-Forschers, der auf skrupulöse Einzelbelege verzichtet? Es gibt sporadische Vermerke zum Fehlen von Statistiken oder zur unsystematischen Quellenlage (S. 78, 229). Meist aber lassen explizite Hinweise auf vielfältige empirische, nur bruchstückhaft zitierte Befunde (S. 80, 107, 123, 229), denen kein konkreter Beleg folgt, eine große Materialfülle vermuten. Manchmal wünscht man sich allerdings einen tieferen Einblick in die vom Verfasser angedeutete reichhaltige Quellenbasis, die ihm offenbar vorliegt und die der Leser ihm glauben muss. Ohne direkten Beleg wird etwa behauptet, dass für viktorianische Ehepaare »zu einem glücklichen Sexualleben notwendigerweise – aber auch zu beider Genuss – das Gespräch darüber« (S. 78) gehört habe oder dass viele Ehegatten »einander um ihrer selbst willen« (S. 123) geliebt hätten. Gay will gegen Verallgemeinerungen anschreiben und doch verzichtet auch er, selbst wenn dies nur einem eleganten Schreibstil geschuldet sein sollte, nicht auf phrasenhafte Gemeinplätze wie diesen: »Die Bürger der viktorianischen Zeit, die liberalen ebenso wie die konservativen, verfügten über einen Zug von robustem Realismus, hatten die Gabe, das Leben so zu sehen, wie es ist.« (S. 158) Peter Gays geschichtswissenschaftlicher Ansatz ist »die psychoanalytisch fundierte (nicht dominierte!) Kulturgeschichte« (S. 17). Er eröffnet sein Buch mit einer Diskussion über die ›Bourgeoisie(n)‹. Trotz der Vielgestaltigkeit und Widersprüchlichkeit der viktorianischen Bourgeoisie ist Gay von ihrer relativen Einheitlichkeit überzeugt; trotz Pluralismus nimmt er einen Singular wahr, wenn er ein bürgerliches »Ensemble von Meinungen und Einstellungen, die über Staatsgrenzen hinausreichten und soziale Schichten zusammenschlossen«, und eine »alles durchdringende Zusammengehörigkeit« (S. 57) statuiert. Die Bürger hätten sich untereinander erkannt: »Ihre Sprache, ihre Kleidung, ihre Lektüre, ihre Phantasien, ihre grundsätzliche Einstellung zur Arbeit, zur Liebe und zur Schönheit, das Privatleben nicht zu vergessen, all das kennzeichnete sie als Angehörige einer Klasse, die sich ihrer als Klasse ganz und gar bewusst war.« (S. 336)
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Dieses immer wieder differierende Gemeinsame führt er in acht spannenden Kapiteln aus, gegliedert nach den psychosozialen Aspekten Familienleben, Sexualität, Aggressivität, Angst, Religiosität, Arbeit, Kunstgeschmack und Privatsphäre. Zwei der gelungensten sind das Kapitel zur bürgerlichen Sexualität und das zur Angst. In Eros: Wonne und Symptom (S. 91 ff.) wird das Dogma vorehelicher Unberührtheit der Frau an Schnitzlers ›Jungfrauensuche‹ diskutiert – ein neurotischer Fall, der aber nach Freud immer nur extravaganter Ausdruck des Normalverhaltens ist. Die Fixierung auf die virgo intacta wird psychoanalytisch als gesellschaftliches Phänomen gedeutet: als »entstellte[r] Reflex des beginnenden Wandels in den gesellschaftlichen Idealen« (S. 104). Das Kapitel Auslöser von Angst (S. 161 ff.) wartet mit einer intensiven und kritischen Freud-Diskussion auf. Gay bekennt, sein Buch sogar »unter anderem in der Absicht geschrieben zu haben, dieses generalisierende Urteil zu widerlegen oder zumindest zu problematisieren« (S. 172); gemeint ist Freuds pauschale Erklärung bürgerlicher Neurasthenie mit der übermäßigen Unterdrückung des Sexualtriebs. Gay seinerseits sieht im beschleunigten gesellschaftlichen Wandel den entscheidenden Auslöser von Angst und behauptet gegen Freud: »Und mehr als alles andere, mehr sogar als ihre sexuellen Zusammenbrüche machte die Bürger der viktorianischen Ära dieses außergewöhnliche Zugleich von Allgegenwart und Rasanz des Veränderungsprozesses nervös.« (S. 178) Peter Gays Viktorianismus-Studie versteht sich als Darstellung historischer Tatsachen, er spricht sogar von der »Entdeckung der Wahrheit über das viktorianische Bürgertum« (S. 329, Hervorhebung N. R.) und weiß diese Wahrheit – ein wenig pseudo-präzise – zu situieren: »nicht in der Mitte zwischen Größe und Erbärmlichkeit, sondern nahe dem positiven Ende der Skala« (S. 329). Allerdings enthält seine Studie auch wertende Teile, die mit der legitimatorischen, geradezu apologetischen Tendenz des Buchs zusammenhängen: Weniger »Neubewertung« (S. 18) als Aufwertung des viktorianischen Bürgertums ist das vorherrschende Ziel. Der Verfasser möchte die viktorianische Ära ausdrücklich nicht idealisieren (S. 329), scheint aber zuweilen genau dies zu tun – wenn er beispielsweise die bürgerliche Familie des 19. Jahrhunderts als »berechtigten Vorwurf an die Adresse der nachfolgenden Generationen, einschließlich unserer eigenen« (S. 87), bezeichnet oder schreibt, das ›bewundernswerte‹ 19. Jahrhundert habe dem nachfolgenden sein Bestes überlassen, während das von Anfang an ›fehlgelagerte‹ 20. Jahrhundert seine Übel selbst gemacht habe (S. 336). Die legitimatorische Tendenz lässt implizit erkennen, wogegen Gay anschreibt: gegen schematische Denkmodelle, gegen Vereinfachungen, die komplexe historische Zusammenhänge ignorieren. Nicht nur das gängigste viktorianische Klischee,
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zimperliche Prüderie, entlarvt er mit seinen Untersuchungen zu Familienleben und Sexualität als Vorurteil, auch das Bild vom spießig-konventionellen bürgerlichen Kunstgeschmack decouvriert er als typisches Klischee und weist die intellektuelle Vielseitigkeit des Kunst sammelnden, fördernden und genießenden Bürgertums nach. Es gäbe zahlreiche andere Beispiele. Schnitzler’s Century ist eine breite, facettenreiche Studie zu einer breiten, facettenreichen Gesellschaftsschicht. In der Einheit bleibt die Vielfalt stets sichtbar. Besonders symptomatisch sind die Ausführungen zur Religiosität: Keine ihrer zahlreichen Formen sei »typisch für das viktorianische Zeitalter« (S. 229); für »sämtliche allgemeinen Aussagen […] über die Fortdauer oder den Zerfall der Religiosität beim Mittelstand« (S. 229) ließen sich jeweils widersprechende Angaben finden. Peter Gay hält ein mutiges Plädoyer für die Anerkennung von historischer Pluralität und Differenz – mutig vor allem angesichts der Ergebnisse, die zunächst wenig präsentabel erscheinen. Denn Pluralität bedeutet ›sowohl/als auch‹ und ›nicht nur/sondern auch‹. Sie integriert das ganze Spektrum, nimmt die Extreme an beiden Enden der Skala ebenso wahr wie die unspektakuläre Mitte, das ›weder/noch‹: So verführerisch etwa die These wäre, das viktorianische Sexualleben sei doch keine »ununterbrochene Katastrophe« gewesen, sondern das andere Extrem: »ein einziges Orgasmusparadies« (S. 118) – Gay votiert nicht nur in diesem Fall für die Mitte. Es wäre indessen falsch, ›Mitte‹ als Ausgleich, als Kompromiss zu verstehen. Sie bedeutet Mischung, Ambivalenz, Differenz. Geradezu weise klingt Gays resümierender Blick auf die viktorianische Ära: »Wie man bei allem, was Menschen tun, durchaus erwarten kann, ist die Bilanz durchwachsen.« (S. 330) Nikola Roßbach
Alfred Döblin: Briefe II . Hg. von Helmut F. Pfanner. Düsseldorf, Zürich: Walter Verlag 2001. – Alfred Döblin: Die Ermordung einer Butterblume. Sämtliche Erzählungen. Hg. von Christina Althen. Düsseldorf, Zürich: Walter Verlag 2001 Die Logik der Reihenzählung suggeriert, dass Briefe II die Fortsetzung zu Briefe I darstellt. Dass dem nicht so ist, erfährt der Leser aus den knappen editorischen Bemerkungen (S. 599 f.). 1970 erschien dieser Band ebenfalls innerhalb der Ausgewählten Werke in Einzelbänden, damals herausgegeben
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von Heinz Graber. Schon seinerzeit handelte es sich um eine Auswahlausgabe, dieses Prinzip wird nun auch bei Briefe II beibehalten. Ausgeschlossen wurden, wie es im Nachwort von Helmut F. Pfanner heißt, »routinehafte Geschäftskorrespondenz« und kurze Mitteilungen, die einer umfangreicheren Kommentierung bedurft hätten. Dies ist freilich ein kaum transparentes Auswahlprinzip, da nach editorischen Grundsätzen die Kommentierung stets dem eigentlichen Quellentext unterzuordnen ist. Man kann also nur hoffen, dass diese Lücken die Döblin-Forschung nicht empfindlich treffen. Schließlich rät der Herausgeber zur Vervollständigung der Kommentare die Ausgabe Briefe I »in Griffbereitschaft« zu halten, da auf die Wiederholung von Informationen dieses Vorgängerbandes verzichtet werde. Nun liegt die Publikation von Briefe I schon über drei Jahrzehnte zurück und man darf sich durchaus als Leser fragen, wer überhaupt im Besitz des Vorgängerbandes ist. Auch dies scheint mir eine wenig leserfreundliche Entscheidung des Herausgebers zu sein. So empfiehlt sich also dieser neue Band Briefe II als eine mehr oder weniger überarbeitete Neuausgabe von Briefe I. Zuletzt noch eine editorische Anmerkung, auf Seite 465 werden die Kastenklammern als Interpolation des Herausgebers bezeichnet. In einer Fußnote wird darauf hingewiesen, dass Döblin selbst anstelle von runden Klammern diese Kastenklammern in seinen Briefen verwendet habe. Für den Leser ist also nicht nachvollziehbar, ob eine Kastenklammer vom Herausgeber oder vom Autor selbst verwendet wurde. Der Herausgeber meint, dass sich dies aus dem Kontext erschließen lasse. Dieser Unsicherheit hätte man durch den Gebrauch von zusätzlichen spitzen Klammern abhelfen können. Für die Döblin-Leser indessen bleibt dieser Band Briefe II einstweilen ein wichtiges Stück Zeitgeschichte, das nicht nur das Bild des Autors Alfred Döblin zu vervollständigen hilft. Durch den Band mit Döblins sämtlichen Erzählungen Die Ermordung einer Butterblume kann man sich erstmals einen vollständigen Überblick über das erzählerische Werk Döblins verschaffen. Dass andere Erzählungen (freilich nur eine Minderzahl) in anderen Bänden der Ausgewählten Werke veröffentlicht sind, sei hier nur am Rande erwähnt. Auch bei diesen beiden neu erschienenen Bänden zeigt sich das grundsätzliche Manko dieser Döblin-Ausgabe, es gibt keine Bandzählung. Selbst die verwendeten Titel der beiden Herausgeber weichen voneinander ab. Weshalb sich Verlag und Generalherausgeber nicht auf eine solche Bandzählung verständigen können, bleibt nicht nachvollziehbar. Dabei hatte schon Matthias Prangel in seiner Döblin-Monographie einen praktikablen Vorschlag zur Bandzählung vor Jahren vorgelegt. Schließlich sei noch am Rande festzuhalten, dass die Angabe des Verlagsortes, bedingt durch den ständigen
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Umzug des ursprünglichen Walter Verlags, diesmal von Olpen nach Düsseldorf, selbst bei diesen beiden Bänden uneinheitlich ist. Während die Herausgeberin Althen ab 2000 ff. nur Düsseldorf angibt (und es richtig heißen müsste Düsseldorf und Zürich), findet sich in dem von Pfanner herausgegebenen Band die Angabe 1996 ff. Zürich und Düsseldorf, wobei im Impressum 2001 steht und Düsseldorf und Zürich genannt sind. Gewiss, dass sind Nebensächlichkeiten, sie lenken aber noch einmal den Blick der Leser auf die grundsätzlichen Schwierigkeiten dieser großen Döblin-Ausgabe zurück, die seit über vier Jahrzehnten im Entstehen begriffen ist, von wechselnden Bandherausgebern ebenso wenig verschont geblieben ist wie von wechselnden editorischen Grundsätzen. Es mag übertrieben klingen, aber dem Autor Alfred Döblin wäre es zu wünschen, dass diese Ausgabe bald abgeschlossen werden kann, um so den Weg für eine gründliche, vollständige und einheitliche Generalüberarbeitung freizumachen. Matthias Luserke-Jaqui
Thomas Hake: »Gefühlserkenntnisse und Denkerschütterungen«: Robert Musils Nachlaß zu Lebzeiten. Bielefeld: Aisthesis-Verlag 1998 (= Diss. Münster 1996) Unübersichtlichkeit und Diskontinuität ist ein Merkmal der Musil-Forschung in ihrem aktuellen Stadium. Es liefert einer nach siebenjähriger Arbeit ein notwendiges, grundlegendes Buch, aber es wird nicht ordentlich verlegt, es erfolgen keine Vermittlungsschritte durch Rezensionen und keine Konferenzeinladungen an den Verfasser, die Ergebnisse bleiben unbeachtet, der Autor zieht sich von der Wissenschaft zurück und wird PR -Manager, andere beginnen wieder bei Null. So geschehen mit Thomas Hake und seiner in Summe beinahe 500 Seiten starken Studie über den Nachlaß zu Lebzeiten. Hakes Untersuchung ist von einem koordinierten, auf das Ganze des Nachlaß zu Lebzeiten gerichteten Forschungsinteresse geleitet und sie führt zu benennbaren Resultaten; sie ist nicht exzentrisch, sondern kenntnisreich; sie klinkt sich in die Rezeption von Musils letztem Buch, die innerhalb der Musil-Rezeption einen Sonderfall bildet, dort ein, wo andere aufgehört haben; sie will also nicht durch einen völlig neuen methodologischen Ansatz sensationell neue Einsichten liefern, sie gelangt aber zu einer wesentlichen Gesamtansicht dessen, was die Bilder und Unfreundlichen Betrachtungen
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und Geschichten, die keine sind nach Struktur und Bedeutung denn eigentlich vorstellen; am Ende sind die Einsichten des geduldigen Lesers im Detail und im Ganzen groß. Hake zielt, das kennzeichnet ihn, in jedem Teil seiner Argumentation auf das Detail und zugleich auf das Ganze: Er rekonstruiert das Grundanliegen des ganzen Nachlaß zu Lebzeiten: nicht in erster Linie (wie oft gemeint) Wahrnehmungs-, sondern Gedanken-/Erkenntnis-Gestaltung zu betreiben; ihren philosophischen Impetus, der gegen das Irrationale gerichtet ist; ihren quasi historiografischen Impetus, den Weg durch die Erschütterung seit dem Untergang des alten Europa künstlerisch sichtbar zu machen. Mindestens genauso viel wiegt aber, dass Hake intensive Detailinterpretation betreibt, sich nach thematischen Gesichtspunkten geordnet jeden einzelnen der dreißig Texte vorknöpft und aus seinem ›close reading‹ tatsächlich zahlreiche neue Deutungen erwachsen bzw. längst überfällige Lektüren bisher von den Fachleuten offenbar ungelesener Bestandteile des Nachlaß zu Lebzeiten endlich stattfinden. Zum Beispiel ist er der erste, der sich der ›biografischen Ungleichzeitigkeiten‹ in der stets wenig beachteten kleinen Erzählung Pension Nimmermehr annimmt. Von diesen Punkten aus wächst Hakes Text trotz seines wissenschaftlichen Duktus zu engagierter ›Literaturkritik‹ aus. Der Nachlaß zu Lebzeiten steht für Hake in allen seinen Bestandteilen, auch dort, wo es sich um einst rasch publizierte ›Skizzen‹ oder vermeintlich bloß ›Studien‹ Musils handelt, auf der Höhe philosophischer Reflektiertheit und angemessener sprachkünstlerischer Durchgestaltetheit. Die apologetische Haltung trägt gegen mangelndes Verständnis der bisherigen Rezeption etliche Siege davon und trotzt sogar der Ambivalenz des Autors Musil selbst, wie sie im Vorwort zum Ausdruck kommt. Der erste und der letzte Text im Nachlaß zu Lebzeiten, Das Fliegenpapier und Die Amsel, sind besonders genau analysiert. Zu ihnen findet sich auch ein Forschungsbericht der bisherigen Interpretation. Auf Grund seiner umfassenden Anlage und der sorgfältigen Diskussion der Sekundärliteratur kommt Hakes Buch eine Handbuchqualität zu, der allerdings die äußere formale Gestaltung hinterherhinkt. Walter Fanta
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Villö Huszai: Ekel am Erzählen. Metafiktionalität im Werk Robert Musils, gewonnen am Kriminalfall ›Tonka‹. München: Wilhelm Fink Verlag 2002 (Musil-Studien, Bd. 31) Diese wichtige Neuerscheinung könnte bei der vorherrschenden Tendenz in der wissenschaftlichen Musil-Rezeption zur selektiven Wahrnehmung bloß Kopfschütteln ernten oder – schlimmer noch: – übersehen werden, obwohl V. H.s Lektüre von Musils Novelle Tonka eine ausgesprochene Provokation darstellt. Meine Absicht ist, zu einer Widerlegung des zentralen Punkts der Tonka-Lektüre V. H.s anzustacheln. Besonders angesprochen sind die 35 von V. H. zitierten und in unterschiedlichem Ausmaß der Blindheit geziehenen 32 Tonka-InterpretInnen. Zur Diskussion stehen Textfakten oder in den Worten V. H.s: fiktive Realität. Welcher zentrale Punkt, welche Fakten, welche Realität? Musils Tonka erzählt eine scheinbar einfache Geschichte. Das Arbeitermädchen, das schwanger wird. Von mir nicht! sagt der gutbürgerliche Freund. Von wem dann? Das ist Tonkas Rätsel, an dem Tonka zugrunde geht und mit ihr – wenn man V. H. zu folgen gewillt ist – die ganze literaturwissenschaftliche Narratologie. Haben wir nicht alle gelernt, dass eine Geschichte in einem Buch nicht der Autor erzählt, sondern ein Erzähler, entweder ein auktorialer oder ein personaler oder ein Ich-Erzähler? Frau Huszai nimmt den Kriminalfall Tonka her und schnürt aus ihm einen Strick, um etliche Narratologen und einen hübschen Teil der bisherigen Musil-Exegeten zu Fall zu bringen und nebenbei den Fall zu lösen. Das Ungeborene in Tonkas Bauch hat doch einen Papa. Der Kaufmann ist der Schwängerer, die Geschwängerte hat bei ihm gearbeitet und sich prostituiert, bis er sie mit einem Monatslohn abspeist und rauswirft. Die Basler Literaturdetektivin bedient sich eines grundsätzlich anderen Instrumentariums als ihr übermächtiger Widerpart Karl Corino, auf dessen Musil-Biografie jetzt alle gespannt warten. Während Kommissar Corino nämlich seine Fälle zu lösen pflegt, indem er im Leben der Autoren nachforscht und mittels biografischer Ermittlung die literarischen Lügengewebe der Dichter zerreißt, vollführt V. H. bei ihrer gender-orientierten Lektüre das Kunststück, das Rätsel rein aus dem Text zu lösen. Es reicht ihr eine einzige Stelle in der Novelle Musils, aus der sie nicht nur das Indiz ableitet, dass der Kaufmann Tonka das Kind und eine venerische Infektion angehängt haben muss, sondern sie zeigt in der Ausdeutung der Stelle auch – und darum geht es ihr eigentlich in ihrem Buch, – dass der namenlose Held, der treue Freund der vermeintlich ungetreuen Tonka, der fiktive Autor der Geschichte ist. Wie es sich mit dessen Autorschaft verhält, haben bisherige Tonka-Interpreten
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mehr oder weniger (nicht so nuanciert wie V. H.) zwar eingesehen, aber praktisch alle bisherigen Deutungen gehen dem Helden und fiktiven Autor auf den Leim, weil sie Tonkas Rätsel als unlösbar begreifen. Wann immer LiteraturlehrerInnen im Deutschunterricht in der Schule auf die Idee verfallen, Musils Drei Frauen im Unterricht zu behandeln (keine schlechte Idee, weil sich an ihnen über sprachliche Kommunikation und Geschlechterbeziehungen lernen lässt), müssten sie den Kindern entweder erklären, dass es eine unbefleckte Empfängnis gibt oder dass die Tonka-Geschichte in schöner Symbolik und Parabel zum Ausdruck bringe, es gebe im Leben Dinge, die man eben nicht wisse. Exakter: Männer wissen nicht, was Frauen denken. Das Weib, die Liebe – unauflösliche Geheimnisse. V. H. gelingt es, mit solchem Missverständnis aufzuräumen: Sie tut erstens dar, dass es eine triste fiktive Realität gibt, die Tonka zugrunde liegt; zweitens wie der Held sein Liebeserlebnis mit Tonka bewältigt, indem er die Novelle Tonka schreibt, die der Autor namens Musil, der damit sein Liebesverhältnis mit dem Brünner Arbeitermädchen Herma Dietz bewältigt, der Leserschaft als seine Novelle unterschiebt; drittens wie der Autor die metafiktionale Struktur des Textes sichtbar macht und sich damit von seiner Erzählung distanziert und sie konstruktiv ironisiert und es schafft, den Mythos vom süßen Mädel und die neuromantische Schreibweise der Zeit, in der er seine Geschichte mit Herma Dietz hatte, radikal unfreundlich imitierend auf die Schaufel zu nehmen, dabei die wahre Romantik, die Frühromantik Hardenbergs, und teilweise Nietzsche rehabilitierend. Irgendwie geht zwischen Mach und Nietzsche, Histoire und Diskurs, romantischer und realistischer Abbildtheorie und gender-bewusster statt psychoanalytischer Lektüre der Bezug zur historischen und biografischen Realität wieder verloren, die hinter dem fiktiven Schicksal des tschechischen Arbeitermädchen steht, das sich prostituiert, weil es sich prostituieren muss, sich infiziert und dann von ihrem Liebhaber auf dem Weg zum Tod begleitet wird, woraus der dann eine schöne Geschichte dichtet. Musils Genialität schmälert V. H., wenn sie behauptet, er hätte die narrative Vielschichtigkeit seiner Erzählung unter dem Einfluss zeitgenössischer Erzähltheorie entwickelt. Die Komposition mit dem fiktiven Autor dürfte eher ein natürliches Ergebnis des schmerzhaften Schreibprozesses Musils – im publizierten Nachlass präsent – gewesen sein als eine bewusste Übernahme aus einem Buch der Germanistin Käthe Friedemann von 1910, wie V. H. (S. 93 ff.) meint. Zumindest fehlt in Musils Nachlass der Hinweis, dass Musil sich zu der Zeit mit erzähltheoretischer Fachliteratur beschäftigt hätte. Zum Kunstwerk wird Tonka in V. H.s Augen vor allem dadurch, dass die Textgenese mit allen ihren Ecken und Enden im Text der Novelle selbst ver-
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handelt wird. So glaubt sie die reale Textgenese, wie sie aus dem Studium der Hefte und Mappen Musils zu gewinnen wäre, vernachlässigen zu dürfen; nicht einmal als Kontrollgröße zu ihrer kreativen Ausdeutung des Endtexts interessieren V. H. die Nachlassdokumente, die belegen, wie der Herma–, Hanka–, Tonka– und Tonka+Rabe-Text unter der Hand des Autors zur Novelle Tonka geworden ist. Statt dessen konstruiert sie aus der Lektüre des Endtexts Instanzen einer fiktiven Textgenese: den erlebenden Helden, den erinnernden Helden, den fiktiven Autor, um aus der Spannung zwischen ihnen in nachvollziehbaren Schritten eine implizite Textgenetik zu verfechten, die sie Metafiktionalität nennt. »Viel von sich selbst zu reden, gilt als dumm. Dieses Verbot wird von der Menschheit auf eigentümliche Weise umgangen: durch den Dichter!« (Tb 2, 580) Den Basler Aphorismus von 1935 nimmt V. H. als verschlüsseltes Bekenntnis Musils für alle metafiktionalen Konstruktionen in seinen Texten. Sie vertritt im zweiten Teil ihres Buchs die Auffassung, dass unter dem Aspekt der Metafiktionalität Musils gesamtes Schreiben als eine Einheit zu betrachten sei. Ihr Konzept von fiktionaler Autorschaft wendet sie von Tonka ausgehend auch auf andere Texte Musils an; auf den Törleß, auf die Versuchung der stillen Veronika, auf Grigia und die Amsel und schließlich sogar auf den Mann ohne Eigenschaften, wo sie sich an einer Analyse des Romaneingangs versucht, um herauszufinden, wer eigentlich der fiktive Autor dieses Buchs sei, und zu einer fantastisch anmutenden Lösung gelangt (vgl. S. 264–268). Walter Fanta
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Liste der eingesandten Bücher Anders, Martin: Präsenz zu denken … Die Entgrenzung des Körperbegriffs und Lösungswege von Leibkonzeptionen bei Ernst Mach, Robert Musil und Paul Valéry. St. Augustin 2002. Balázs, Belá: Der Geist des Films. Frankfurt a. M. 2001. Balázs, Belá: Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films. Frankfurt a. M. 2001. Balázs, Belá: Ein Baedecker der Seele und andere Feuilletons aus den Jahren 1920–1026. Hg. von Hanno Loewy. Berlin 2002 (= Belá Balázs: Ausgewählte literarische Werke in Einzelausgaben. Hg. von Hanno Loewy, Bd. 2). [Blei, Franz, André Gide]: Franz Blei – André Gide: Briefwechsel (1904– 1933). Bearbeitet von Raimund Theis. Darmstadt 1997. Blei, Franz: Briefe an Carl Schmitt 1917–1933. In Zusammenarbeit mit Wilhelm Kühlmann hg. und erläutert von Angela Reinthal. Heidelberg 1995. Bolterauer, Alice: Rahmen und Riss. Robert Musil und die Moderne. Wien 1999. Brecht Handbuch in fünf Bänden. Hg. von Jan Knopf. Bd. 4: Schriften, Journale, Briefe. Stuttgart, Weimar 2003. Bringazi, Friedrich: Robert Musil und die Mythen der Nation. Nationalismus als Ausdruck subjektiver Identitätsdefekte. Frankfurt a. M. 1998. Dawidowski, Christian: Die geschwächte Moderne. Robert Musils episches Frühwerk im Spiegel der Epochendebatte. Frankfurt a. M. 2000. Döblin, Alfred: Berge Meere und Giganten. Roman. Mit einem Nachwort von Volker Klotz. Frankfurt a. M. 2001. Döblin, Alfred: Briefe II. Hg. von Helmut F. Pfanner. Düsseldorf, Zürich 2001. Döblin, Alfred: Die Ermordung einer Butterblume. Sämtliche Erzählungen. Hg. von Christina Althen. Düsseldorf, Zürich 2001. Döblin, Alfred: Wallenstein. Roman. Hg. von Erwin Kobel. Düsseldorf, Zürich 2001. Döring, Sabine A.: Ästhetische Erfahrung als Erkenntnis des Ethischen. Die Kunsttheorie Robert Musils und die analytische Philosophie. Paderborn 1999.
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Dreis, Gabriele: »Ruhelose Gestaltlosigkeit des Daseins«. Pädagogische Studien zum »Rousseauismus« im Werk Robert Musils. München 1992. Else Lasker-Schüler-Jahrbuch zur Klassischen Moderne. Hg. von Lothar Blum, Andreas Meier. Trier 2000, Bd. 1. Erhart, Claus: Der ästhetische Mensch bei Robert Musil. Vom Ästhetizismus zur schöpferischen Moral. Innsbruck 1991. Fähnders, Walter: Avantgarde und Moderne 1890–1933. Lehrbuch Germanistik. Stuttgart, Weimar 1998. Fetz, Bernhard, Klaus Kastberger (Hg.): Die Teile und das Ganze. Bausteine der literarischen Moderne in Österreich. Wien 2003. Goebel, Eckart: Konstellation und Existenz. Kritik der Geschichte um 1930: Studien zu Heidegger, Benjamin, Jahnn und Musil. Tübingen 1996. Gunia, Jürgen: Die Sphäre des Ästhetischen bei Robert Musil. Untersuchungen zum Werk am Leitfaden der »Membran«. Würzburg 2000. Hajduk, Stefan: Die Figur des Erhabenen. Robert Musils ästhetische Transgression der Moderne. Würzburg 2000. Helmes, Günter, Ariane Martin, Birgit Nübel, Georg-Michael Schulz (Hg.): Literatur und Leben. Anthropologische Aspekte in der Kultur der Moderne. Festschrift für Helmut Scheuer zum 60. Geburtstag. Tübingen 2002. Hofmannsthal Jahrbuch zur europäischen Moderne. Im Auftrag der Hugo von Hofmannsthal-Gesellschaft hg. von Gerhard Neumann, Ursula Renner, Günter Schnitzler, Gotthart Wunberg. Freiburg i. Br. 2002, Bd. 10. Hogen, Hildegard: Die Modernisierung des Ich. Individualitätskonzepte bei Siegfried Kracauer, Robert Musil und Elias Canetti. Würzburg 2000. Hoock, Birgit: Modernität als Paradox. Der Begriff der ›Moderne‹ und seine Anwendung auf das Werk Alfred Döblins (bis 1933). Tübingen 1997. Huszai, Villö: Ekel am Erzählen. Metafiktionalität im Werk Robert Musils, gewonnen am Kriminalfall Tonka. München 2002. Jacobs, Stephanie: Auf der Suche nach einer neuen Kunst. Konzepte der Moderne im 19. Jahrhundert. Runge/Goethe – Grandville/Delord – Schwind/Mörike – Manet/Mallarmé. Weimar 2000. Joung, Phillan: Passion der Indifferenz. Essayismus und essayistisches Verfahren in Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften. Münster 1997. Kingerlee, Roger: Psychological Models of Masculinity in Döblin, Musil, and Jahnn. Männliches, Allzumännliches. Lewiston, NY, u. a. 2001. Kochs, Angela Maria: Chaos und Individuum. Robert Musils philosophischer Roman als Vision der Moderne. Freiburg i. B., München 1996. Kraft, Thomas: Meisterwerke kurz und bündig. Musils Mann ohne Eigenschaften. München 2000.
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Kümmel, Albert, Petra Löffler (Hg.): Medientheorie 1880–1933. Texte und Kommentare. Frankfurt a. M. 2002. Kümmel, Albert: Das MoE-Programm. Eine Studie über geistige Organisation. München 2001. Lahme-Gronostaj, Hildegard, Marianne Leuzinger-Bohleber (Hg.): Identität und Differenz. Zur Psychoanalyse des Geschlechterverhältnisses in der Spätmoderne. Wiesbaden 2000. Lönker, Fred: Poetische Anthropologie. Robert Musils Erzählungen Vereinigungen. München 2002. Maier, Uwe M.: Sinn und Gefühl in der Moderne. Zu Robert Musils Gefühlstheorie und einer Soziologie der Emotionen. Aachen 1999. Maier-Solgk, Frank: Sinn für Geschichte. Ästhetische Subjektivität und historiologische Reflexion bei Robert Musil. München 1992. Marini, Loredana: Der Dichter als Fragmentist. Geschichte und Geschichten in Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften. Bern 2001. Moser, Manfred: Schreiben ohne Ende. Letzte Texte zu Robert Musil. Wien 1991. Musil, Robert: Der Manager ohne Eigenschaften. Frankfurt a. M., Wien 2003. Perutz, Leo: Der schwedische Reiter. Roman. Hg. und mit einem Nachwort von Hans-Harald Müller. Wien [1936] 2002. Pfohlmann, Oliver: Eine finster drohende und lockende Nachbarmacht? Untersuchungen zu psychoanalytischen Literaturdeutungen am Beispiel von Robert Musil. München 2003. Pieper, Hans-Joachim: Musils Philosophie. Essayismus und Dichtung im Spannungsfeld der Theorien Nietzsches und Machs. Würzburg 2002. Post-Martens, Annemarie: PAN-Logismus. René Schickeles Poetik im Jahr der »Wende« 1933. Frankfurt a. M., Basel 2002. Rauch, Marja: Vereinigungen. Frauenfiguren und Identität in Robert Musils Prosawerk. Würzburg 2000. Reichenberger, Kurt, Joachim Lembach (Hg.): Autoren der zwanziger Jahre. Kassel 1993. Reichenberger, Theo: Autorenporträts. Die literarische Moderne in Österreich. Kassel 1995. Reichenberger, Theo: Autorenporträts. Die literarische Moderne in Deutschland, Österreich und der Schweiz. II. Von Thomas Mann bis Friedrich Wolf. Kassel 1995. Schickele, René: Die blauen Hefte. Edition und Kommentar hg. von Annemarie Post-Martens. Frankfurt a. M., Basel 2002. Schmitter, Sebastian: Basis, Wahrnehmung und Konsequenz. Zur literari-
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schen Präsenz des Melancholischen in den Schriften von Hugo von Hofmannsthal und Robert Musil. Würzburg 2000. Schöne, Anja Elisabeth: »Ach, wäre fern, was ich liebe!« Studien zur Inzestthematik in der Literatur der Jahrhundertwende (von Ibsen bis Musil). Würzburg 1997. Seidel, Sebastian: Dichtung gibt Sinnbilder. Die Sehnsucht nach Einheit. Das Lebensbaum-Mythologem und das Isis-Osiris-Mythologem in Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften. Frankfurt a. M. 2001. Seidl, Walter: Der Berg der Liebenden. Erlebnisse eines jungen Deutschen. Mit einem Nachwort hg. von Dieter Sudhoff. Wuppertal 2002. Sternheim, Thea: Tagebücher 1903–1971. Hg. und ausgewählt von Thomas Ehrsam, Regula Wyss im Auftrag der Heinrich Enrique Beck-Stiftung. 5 Bde. Göttingen 2002. Thomas Mann. Ein Klassiker der Moderne. Fünf Vorträge zur Würdigung des Dichters aus Anlaß seines 125. Geburtstages. Hg. von der Ortsvereinigung Hamburg der Goethe-Gesellschaft in Weimar e. V. Jahresgabe 2001. Halle a. d. Saale 2001. Werner, Meike G.: Moderne in der Provinz. Kulturelle Experimente im Fin de Siècle. Jena, Göttingen 2003. Weyergraf, Bernhard (Hg.): Literatur der Weimarer Republik 1918–1933 (= Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur, Bd. 8). München, Wien 1995. Wimmer, Magda: So wirklich ist die Möglichkeit. Friedrich Nietzsche, Robert Musil und Niklas Luhmann im Vergleich. Frankfurt a. M. 1998. Wunberg, Gotthart, Stephan Dietrich (Hg.): Die literarische Moderne. Dokumente zum Selbstverständnis der Literatur um die Jahrhundertwende. 2., verbesserte und kommentierte Auflage. Freiburg i. Br. 1998. Zangemeister, W. H.: Robert Musil. Möglichkeit und mathematische Mystik. Aachen 1997.
Anschriften
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Anschriften Priv.-Doz. Dr. Jürgen Daiber Eberhardstr. 19 D-54 290 Trier [email protected] Dr. Stephan Dietrich Francke Verlag Postfach 2560 D-72 015 Tübingen [email protected] Dr. Heinz J. Drügh Universität Tübingen Deutsches Seminar Wilhelmstr. 50 D-72 070 Tübingen [email protected] Dr. Walter Fanta Zanaschkagasse 16/62/1 A-1120 Wien [email protected] Priv.-Doz. Dr. Michael Hofmann Am Brandenhof 83 D-52 066 Aachen [email protected]
Catherine Janssen Institut für Sprach- und Literaturwissenschaft Technische Universität Darmstadt Hochschulstraße 1 D-64 289 Darmstadt [email protected] Prof. Dr. Erich Kleinschmidt Universität zu Köln Institut für deutsche Sprache und Literatur Albertus-Magnus-Platz D-50 923 Köln [email protected] Prof. Dr. Hans Krah Universität Passau Lehrstuhl für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft Innstr. 25 D-94 032 Passau [email protected] Prof. Dr. Matthias Luserke-Jaqui Institut für Sprach- und Literaturwissenschaft Technische Universität Darmstadt Hochschulstraße 1 D-64 289 Darmstadt [email protected] (Redaktionsanschrift)
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Prof. Dr. Ariane Martin Johannes Gutenberg Universität Mainz Fachbereich 13 – Philologie I Deutsches Institut D-55 099 Mainz [email protected] Johanna May Institut für Sprach- und Literaturwissenschaft Technische Universität Darmstadt Hochschulstraße 1 D-64 289 Darmstadt [email protected] Dr. Nikola Roßbach Institut für Sprach- und Literaturwissenschaft Technische Universität Darmstadt Hochschulstraße 1 D-64 289 Darmstadt [email protected] Prof. Dr. Gerhard Sauder Universität des Saarlandes Fachbereich 8 – Neuere Sprachund Literaturwissenschaften Fachrichtung 4.1: Germanistik Postfach 15 11 50 D-66 041 Saarbrücken [email protected]
Dr. Karin Tebben Carl-von-Ossietzky-Universität Oldenburg Fachbereich 11 – Germanistik D-26 111 Oldenburg [email protected] Prof. Dr. Carsten Zelle Ruhr-Universität Bochum Fakultät für Philologie Germanistisches Institut D-44 780 Bochum [email protected] Prof. Dr. Rosmarie Zeller Deutsches Seminar Universität Basel Nadelberg 4 CH -4051 Basel [email protected]
Redaktionelle Hinweise Die Zusendung von Manuskripten wird an die Anschrift der Redaktion erbeten: Musil-Forum c/o Prof. Dr. Matthias Luserke-Jaqui Technische Universität Darmstadt Institut für Sprach- und Literaturwissenschaft Hochschulstraße 1 64289 Darmstadt Deutschland E-Mail: [email protected] Ein Stylesheet kann von der Redaktion angefordert werden.
Internationale Robert-Musil-Gesellschaft Sitz: Wien Geschäftsstelle: Universität des Saarlandes Postfach 15 11 50 66041 Saarbrücken Deutschland Tel.: +49 (0)681 302 3334 Fax: +49 (0)681 302 3034 E-Mail: [email protected] http://www.uni-saarland.de/fak4/fr41/afoelk/irmg.html
Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte Band 1: A–G Gemeinsam mit Harald Fricke, Klaus Grubmüller und Jan-Dirk Müller herausgegeben von Klaus Weimar
1997. XXI, 754 Seiten. Leinen. ISBN 3-11-010896-8
Band 2: H–O Gemeinsam mit Georg Braungart, Klaus Grubmüller, Jan-Dirk Müller, Friedrich Vollhardt und Klaus Weimar herausgegeben von Harald Fricke
2000. XXI, 777 Seiten. Leinen. ISBN 3-11-015663-6
Band 3: P–Z Gemeinsam mit Georg Braungart, Harald Fricke, Klaus Grubmüller, Friedrich Vollhardt und Klaus Weimar herausgegeben von Jan-Dirk Müller
2003. XXI, 912 Seiten. Leinen. ISBN 3-11-015664-4 Das Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft (RLW) ist ein Begriffswörterbuch, das eine umfassende und systematische Bestandsaufnahme des literaturwissenschaftlichen Sprachgebrauchs bietet. Sein eigentliches Ziel ist die Klärung und Präzisierung des wissenschaftlichen Sprachgebrauchs. Daher unterscheidet es im Gegensatz zu anderen Lexika deutlich zwischen Wort-, Begriffs-, Sach- und Forschungsinformation. In mehr als 900 Artikeln führt das Lexikon in die Begriffswelt der deutschen Literaturwissenschaft ein.
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