Musikinstrumente und Musizierpraxis zur Zeit Gustav Mahlers 9783205117889, 9783205776963


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Musikinstrumente und Musizierpraxis zur Zeit Gustav Mahlers
 9783205117889, 9783205776963

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Musikinstrumente und Musizierpraxis zur Zeit Gustav Mahlers

Institut für Musikalische Stilforschung der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien

Wiener Schriften zur Stilkunde und Aufführungspraxis Herausgegeben von Hartmut Krones

Band 4 Musikinstrumente und Musizierpraxis zur Zeit Gustav Mahlers

Musikinstrumente und Musizierpraxis zur Zeit Gustav Mahlers

Herausgegeben von Reinhold Kubik

BÖHLAU VERLAG WIEN • KÖLN • WEIMAR

Gedruckt mit Unterstützung durch das Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung, die Wissenschafts- und Forschungsförderung der Stadt Wien, die Wiener Philharmoniker sowie die Universität für Musik und darstellende Kunst Wien

Redaktion: Reinhold Kubik Satz und Layout: Forte OG, Nova Gora

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar ISBN 978-3-205-77696-3

Titelseite: Fr. Wentzel (Wissembourg/Weißenburg, Elsaß) „Le convoi funèbre du chasseur - Des Jägers Leichenzug" Lithographie, gedruckt um 1860 von Ve. Humbert & Wentzel, Paris (Sammlung Gunther Joppig, München)

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Ubersetzung, des Nachdruckes, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf photomechanischem oder ähnlichem Wege und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten.

© 2007 by Böhlau Verlag Ges. m. b. H. und Co. KG, Wien • Köln • Weimar Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlor- und säurefrei gebleichtem Papier Druck: druckmanagement s.r. o., Mikulov

Inhaltsverzeichnis

Hartmut Krones Vorwort des Reihenherausgebers

9

Reinhold Kubik Einleitung des Herausgebers

11

Rainer Bischof Rede zur Eröffnung des Symposions

17

Primoz Kuret Laibacher Orchesterverhältnisse und Mahlers Orchesterbesetzung in Laibach

21

Eszter Fontana Das Leipziger Orchester zur Zeit Gustav Mahlers

33

Beatrix Darmstädter Die Blasinstrumente im Orchester des Wiener Hofoperntheaters zur Direktionszeit Gustav Mahlers

47

David Pickett „Talentlos und phlegmatisch" Mahler und die New Yorker Philharmoniker

111

Sylvie Azer-Höflinger Vom Flauto traverso zur modernen Querflöte klangliche Vergleiche

119

Beatrix Darmstädter Querflöten zur Zeit Gustav Mahlers im Vergleich

123

Klaus-Dieter Lienbacher Gustav Mahler und das Wiener Instrumentarium am Beispiel der Wiener Oboe

141

6

Inhalt

Farbtafeln

nach 144 s. p.

Gunther Joppig „Schalltrichter auf!" Die Klarinettenfamilie im Werk Gustav Mahlers

145

Beatrix Darmstädter „Das ist der richtige Ton, den Richard Wagner vergebens gesucht ..." Das Tärogatö unter der Direktion von Gustav Mahler im Wiener Hofoperntheater

165

Klaus Hubmann Wiener(ische) Fagotte um 1900

189

Edward Tarr

Die Trompete um 1900 bei Richard Strauss und Gustav Mahler

.

.

199

David Pickett „Was mirOrchester die Aufnahmen erzählen" -im Licht von frühen Aufnahmen . Mahlers und Spieltechnik Benjamin-Gunnar Cohrs Das New Queen's Hall Orchestra

221

Ein wiederbelebtes Londoner Orchester aus der Zeit um 1900

237

.

.

Hartmut „[...] doch Krones behielt er jene Appoggiaturen bei [...]" Zu Gustav Mahlers Ausführung Mozartscher Rezitative Reinhold Kubik „Schlimme Erfahrungen" Revision als Reaktion auf Veränderungen der Aufführungspraxis .

261

.

.297

Programm des Symposions

315

Konzertprogramm (mit Erläuterungen)

317

Inhalt

7

Friedrich Danielis Zu meiner Ausstellung „Mahlereien"

321

Rainer Bischof Gustav Mahler - der Weltenemigrant Eröffnungsrede zu den Feierlichkeiten des 50. Jubiläums der Internationalen Gustav Mahler Gesellschaft

323

Biographien der Autoren

329

Inhalt der CD

333

Zitierte Literatur

339

Personenregister

347

Abkürzungen

AME GMBA GMB

GMUB IGMG KGA NBL NQHO NMF OSA SAM

Alma Mahler-Werfel, Gustav Mahler. Erinnerungen und Briefe, Amsterdam 1940 Ein Glück ohne Ruh'. Die Briefe Gustav Mahlers an Alma. Hg. und erläutert von Henry-Louis de La Grange und Günter Weiß. Redaktion: Knud Martner. Berlin 1995 Gustav Mahler Briefe. Neuausgabe, erweitert und revidiert von Herta Blaukopf. Zweite, nochmals revidierte Ausgabe. Wien—Hamburg 1983 Gustav Mahler Unbekannte Briefe, hg. von Herta Blaukopf, WienHamburg 1983 Internationale Gustav Mahler Gesellschaft, Wien Kritische Gesamtausgabe der Werke Gustav Mahlers. Hg. von der Internationalen Gustav Mahler Gesellschaft, Wien, 1955 ff. Herbert Killian (Hg.), Gustav Mahler in den Erinnerungen von Natalie Bauer-Lechner, Hamburg 1984 New Queens Hall Orchestra, London Nachrichten zur Mahler-Forschung. Hg. von der Internationalen Gustav Mahler Gesellschaft, Wien Österreichisches Staatsarchiv Sammlung alter Musikinstrumente des Kunsthistorischen Museums Wien

HARTMUT K R O N E S

(Wien)

Vorwort

Zu den sowohl besonders weit als auch besonders eng interpretierten Begriffen auf dem Gebiet von Musik, Musikleben und Musikwissenschaft zählt der Terminus „Aufführungspraxis". Einerseits wird er auf jedwede mögliche Art angewandt, Musik zum Klingen zu bringen, unabhängig davon, inwieweit das Ergebnis mit dem geschriebenen Notentext (so es einen solchen gibt) übereinstimmt bzw. inwieweit es die darin verborgenen, selbstverständlich „mitgemeinten" oder in anderer Form überlieferten Zusatzinformationen berücksichtigt; andererseits gilt er auch als Synonym für jene „historische Aufführungspraxis", die all diese „Selbstverständlichkeiten", die bisweilen als „verlorengegangen" (Hugo Riemann 1907), bisweilen als nicht mehr eruierbar oder gar als für das Verständnis der Musik unwichtig angesehen wurden (und bisweilen immer noch werden), in ihre interpretatorischen Überlegungen einbezieht. Das Prinzip der „historischen Aufführungspraxis" meint aber nichts anderes als jene auch von Arnold Schönberg vehement vertretene Denkweise, die das „Recht des Komponisten" über das „Recht des Interpreten" stellt, ein Recht, das im Falle lebender oder nicht länger als 70 J a h r e verstorbener Urheber sogar rechtlich geschützt ist. Nicht nur können Bearbeitungen untersagt werden, sondern auch klangliche Verstümmelungen, textliche, szenische oder musikalische Zusätze sowie sogar Aufführungen von Interpreten, die den Komponistenwillen nicht zu respektieren gewillt sind. Ein länger verstorbener Komponist hingegen kann sich gegen solche Verstümmelungen, Fehldeutungen oder Mißachtungen nicht wehren, sondern nur hoffen, daß dies die Vertreter der sogenannten „historischen Aufführungspraxis" für ihn übernehmen, auch wenn es sich „nur" um eine 80, 100 oder 150 Jahre alte Musik handelt. Für das Prinzip, auch diese entsprechend den Prämissen der „historischen Aufführungspraxis" bzw. gemäß dem „Recht des Komponisten" zum Klingen zu bringen, steht nun das Begriffspaar „Stilkunde und Aufführungspraxis", das Realisationen im Stil bzw. nach den stilistischen Vorstellungen des Komponisten im Sinn hat und somit auch die Thematik der „Wiener Schriften zur Stilkunde und Aufführungspraxis" bestimmt. Die Reihe wurde 1997 von der seinerzeitigen Lehrkanzel „Musikalische Stilkunde und Aufführungspraxis" der Wiener Hochschule für Musik und darstellende Kunst begründet und wird nunmehr von der Abteilung „Stilkunde und Aufführungspraxis" des Institutes für Musikalische Stilforschung (dem zudem die Abteilung „Wissenschaftszentrum Arnold Schönberg" angehört) der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien weitergeführt.

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Hartmut Krones

Der inhaltliche Zusammenhang der beiden Abteilungen des Institutes beruht nun vor allem darauf, daß sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts Arnold Schönberg und andere Mitglieder seiner „Wiener Schule" vehement für das oben erwähnte „Recht des Komponisten" auf eine adäquate („richtige") Interpretation einsetzten. Sie beriefen sich dabei nicht zuletzt auf Gustav Mahler, der in seiner Doppelbegabung als Interpret und Komponist immer dieses „Recht des Komponisten" vertrat und dennoch die Grundideen beider Rechte zu vereinigen verstand. Dabei ist von Interesse, daß gerade er in vielen Bereichen noch das Wissen um jene „Selbstverständlichkeiten" besaß, die zum Teil schon zu seiner Zeit, zum Teil bald nachher tatsächlich verlorengingen: etwa um das Angleichen von punktiert notierten Rhythmen an Triolen, wenn die DreierBewegung die charakteristische, charakterbildende war; um „sprechende", kleingliedrige Artikulationen anstelle von „philharmonischem Dauerlegato"; um gewisse „alte" Spieltechniken, die für ganz spezielle klangliche Ereignisse sorgen; oder um das Singen jener im 18. und frühen 19. Jahrhundert selbstverständlichen (nicht notierten) Appoggiaturen, deren Nichterklingen tatsächlich „falsche Töne" hervorriefe, wenn man Intention und Erwartungshaltung der Komponisten als Maßstab nimmt: das Recht der Komponisten, das zu hören, was sie hören wollten bzw. zu hören gewohnt waren. Die von Gustav Mahler intendierten Klangergebnisse waren aber auch Resultat der seinerzeitigen Instrumente (samt ihren bisweilen durchaus anderen technischen Möglichkeiten), Resultat allfälliger (heute nicht mehr gebräuchlicher) Spezialinstrumente sowie schließlich auch Resultat anderer Orchesteraufstellungen und Besetzungsverhältnisse, also von Gegebenheiten, die ihrerseits heute fast schon als „verlorengegangen" angesehen werden müssen. - Alle diese Themen nahm das im April 2005 veranstaltete Symposion „Instrumente und Musizierpraxis zur Zeit Gustav Mahlers" in den Blick, dessen Ergebnisse nunmehr durch Reinhold Kubik (dem sowohl für die inhaltliche als auch für die redaktionelle Arbeit Dank ausgesprochen sei) vorgelegt werden können. Sie mögen ein weiterer Meilenstein auf unserem Weg sein, den Komponisten zu ihrem Recht auf eine Ausführung ihrer Werke in ihrem Sinn zu verhelfen.

Wien, im Dezember 2006

Hartmut Krones

REINHOLD KUBIK

(Wien)

Einleitung

Dieses Symposium wurde von der Internationalen Gustav Mahler Gesellschaft am 28. und 29. April 2005 aus Anlaß des 50. Jahrestages ihrer Gründung veranstaltet. In dankenswerter Weise schlössen sich die Sammlung alter Musikinstrumente des Kunsthistorischen Museums und das Institut für Musikalische Stilforschung der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien an. Durch dieses Zusammenwirken dreier Wiener Institutionen konnte das Symposium nicht nur verwirklicht, sondern auch auf eine breitere Basis gestellt werden. Das Theatermuseum stellte dafür den Eroicasaal im Palais Lobkowitz zur Verfügung. Will es mich manchmal verdrießen, das so minutiös auszuarbeiten - denn es läßt sich nicht sagen, wie ich mir oft den Kopf zerbreche und deutle und tüftle, bis das Gewollte wirklich dasteht —, dann sage ich mir: ist es wert zu bestehen, so wird es nur auf diese Weise dem Zahn der Zeit widerstehen - oder wenigstens soll er eine harte Arbeit daran haben. (Gustav Mahler am 9. Juli 1896 zu Natalie Bauer-Lechner1)

Es gehört zu den Eigenarten des Wiener Musiklebens, daß auch nach der Jahrtausendwende die Bemühungen um eine textlich und instrumental an den Originalen orientierte Aufführungspraxis besonderer Rechtfertigung bedürfen. Noch immer stößt die andernorts selbstverständliche Erkenntnis, daß die musikalische Aufzeichnung und ihre materielle Umsetzung im Lauf der Zeit erheblichen Wandlungen unterlegen sind, in Wien auf blankes Unverständnis. Rainer Bischof erwähnt in seinem Einführungsvortrag die „drei Transkriptionen" aus Ferruccio Busonis Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst (Triest 1907), das sind die drei Aggregationszustände, in welche die Musik im Lauf ihrer Existenz übergeführt wird: Die erste Transkription erfolgt vom Kopf des Komponisten aufs Papier, die zweite vom Papier zum Erklingen, die dritte vom Erklingen zum Bewußtsein des Hörers. In diesem Modell läßt sich die Position jeder Aufführungspraxis, auch der sogenannten „historischen", zweifelsfrei definieren und begrenzen. Sie befaßt sich ausschließlich mit der

1

NBLS.62.

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Reinhold Kubik

zweiten Transkription, um in dieser Terminologie zu bleiben. Dies ist auch die einzige Transkription, welche durch den ausübenden Musiker unmittelbar beeinflußbar ist. Weder kann er den ursprünglichen Schöpfungsakt abändern, noch hat er uneingeschränkten Zugriff auf Wirkung und Verarbeitung durch den Hörer. Freilich beeinflußt die zweite Transkription die dritte: Das Hörerlebnis wird zum überwiegenden Teil konkret nicht durch Werkkenntnis, sondern durch Hörgewohnheiten bestimmt. Die Gewöhnung an Interpretationsstile beeinflußt das Erleben und das Urteil (auch über das Werk). Doch damit beschäftigen sich ganz andere Zweige als die Aufführungspraxis, z. B. Hörpsychologie, Ästhetik und Rezeptionsgeschichte. Es ist nun ein symptomatisches Zeichen der Kritiker und Gegner der historischen Aufführungspraxis, daß sie in ihrer Argumentation immerfort und sogleich auf die dritte Transkription ausweichen. Sie halten den Bemühungen, den Notentext so authentisch wie möglich realisieren zu wollen, die Binsenweisheit entgegen, der heutige Hörer sei vom damaligen grundverschieden. So richtig diese Bemerkung ist, so überflüssig ist sie, weil sie nicht zu ändernde Tatsachen bemüht. Es war niemals das illusorische Ziel der „period musicians", die Vergangenheit in die Gegenwart zu transferieren. Niemand hing jemals dem Irrglauben an, wenn man Bach am Cembalo statt am Steinway und mit barocker Artikulation statt mit gleichförmigem Dauerlegato spiele, wäre die Wirkung der Musik auf den Hörer unserer Zeit identisch mit der Wirkung auf einen Menschen von 1729. Das Ziel der „historisch orientierten Aufführungspraxis" gründet vielmehr auf der Einsicht, daß man jeden Text nur unter denjenigen Voraussetzungen sinnvoll lesen und wiedergeben kann, unter denen er niedergeschrieben wurde. Wenn eine Oper von Monteverdi von „modern geschulten" Musikern auf „modernen" Instrumenten gespielt und „modern" gesungen wird, dann ist das so, als würde man einen ungarischen Text mit englischer Aussprache vorlesen, ohne ihn zu verstehen (was ohne Zögern als „falsch" bezeichnet werden würde). Das Bemühen um „richtiges Vorlesen" ist nicht abhängig vom Textverständnis des Hörers, sondern - wie immer dieses beschaffen sein mag - seine wichtigste Voraussetzung. Und es handelt sich dabei um einen dynamischen Prozeß, der sich durch Forschen, Wissen, Lernen und Üben ändern und verbessern läßt. Das Forschungsgebiet, das mit Schlagwörtern wie „historisch orientierte Aufführungspraxis", Musikinstrumentenkunde und „Alte Musik-Bewegung" umrissen wird, hat sich im Laufe der vergangenen fünfzig Jahre allmählich immer mehr in Richtung auf unsere Gegenwart erweitert. Hatte man sich anfangs hauptsächlich auf die Musik der Zeit zwischen 1500 und 1750 konzentriert, so kamen bald die Wiener Klassik, die Musik von Sturm und Drang und die der Frühromantik dazu. Unser Symposium trug dem Umstand Rechnung, daß wir heute bei weitem nicht genug über die Musikinstrumente und die Musizierpraxis der Zeit um 1900 wissen. Den meisten unter uns ist nicht bewußt, daß viele Instrumente damals anders klangen.

Einleitung

13

Dem hemmungslosen Fortschrittsgedanken muß in künstlerischen Angelegenheiten sowieso mit Bestimmtheit entgegengetreten werden. Im Unterschied zu technischen Belangen, bei denen ein Maserati fraglos einen Fortschritt gegenüber der Postkutsche darstellt, ist in der Kunst grundsätzlich Späteres nicht besser als Früheres, ist Beethoven nicht besser als Bach, ein Steinway nicht besser als ein Cembalo, und eine heutige Posaune nicht derjenigen überlegen, die Mahlers Musiker zur Verfügung hatten - sie ist nur anders, hauptsächlich lauter. Vor allem aber wurden die älteren Instrumente anders gespielt - beispielsweise musizierten die Orchesterstreicher generell ohne Vibrato. Einiges davon hat sich im Unterschied zu weltweiten Usancen in den Wiener Orchestern bewahrt, die naturgemäß einen Schwerpunkt im Symposium bilden. Schließlich wurde Mahler in der gleichen klanglich-musikalischen Welt ausgebildet wie die meisten Musiker des Hofopernorchesters und verbrachte auch einen relativ langen und wichtigen Lebensabschnitt mit ihnen. Um 1900 beginnen jedoch Tendenzen der Aufführungspraxis wirksam zu werden, die sich bis in unsere Tage siegreich weiterentwickeln sollten, wie z.B. der Ersatz von spezifischen und differenzierten Tonfarben durch das Bestreben nach genormter Farbigkeit und großer Lautstärke. Mahler ist hier - wie in seinen Kompositionen - eingespannt zwischen konservativen und progressiven Elementen. Er war einerseits sehr interessiert an Neuem, kam ja auch viel in der Welt herum, hielt aber andererseits an Spielweisen fest, die bald der Vergangenheit angehören sollten. Den ersten Teil des Symposiums bestritten Historiker, die über die Klangkörper in Mahlers Wirkungsstätten Laibach, Leipzig, Wien und New York berichteten. Die eingeschränkten Umstände, unter denen Mahler am Beginn seiner Dirigentenlaufbahn zu arbeiten und unter denen er immerhin Werke wie Troubadour und Freischütz zu realisieren hatte, bildeten den Ausgangspunkt. Die Darstellungen führten weiter nach Leipzig, das als großes Haus mit Artur Nikisch am Pult damals einen herausragenden Status repräsentierte, und brachten schließlich neues Archivmaterial zu den Ankäufen von Blasinstrumenten des Wiener Hofopernorchesters, aus denen sich Rückschlüsse auf die damalige Aufführungspraxis ziehen lassen. Abgerundet wurde diese Abteilung von einer Darstellung der New Yorker Philharmoniker, die ja recht eigentlich eine Gründung Mahlers sind. Der Kern der Symposiumsbeiträge wurde von Instrumentenkundlern und der seltenen und wichtigen Spezies von Musikern geliefert, die in Forschung und Spielpraxis gleichermaßen zuhause sind. Sie alle brachten dazu eigene Instrumente mit. Dabei war es möglich, die vorgeführten klingenden Beispiele aufzuzeichnen; diese Dokumente bilden einen Teil der CD, die dem Kongreßbericht beigefügt ist. Gezeigt, erklärt und zum Klingen gebracht wurden Flöten, Oboen, Klarinetten und Fagotte, das Tärogatö und Trompeten. Der dritte Teil der Beiträge befaßte sich mit musikalischen Quellen und Tondokumenten, die weitere Aufschlüsse auf die Musizierpraxis der Mahlerzeit

14

Reinhold Kubik

geben können. Was können wir aus alten Aufnahmen an faktischen Mitteilungen über die damaligen Instrumente und die damalige Spielweise heraushören, und wie klingt ein Orchester, das auf Instrumenten der Spätromantik mit entsprechender Spieltechnik musiziert? Die meisten der bei diesen Referaten vorgeführten Tonbeispiele bilden den zweiten Teil der genannten CD. Ein wichtiger Beitrag erbrachte den Beweis, daß Mahler bei seinen Mozart-Aufführungen keineswegs die Appoggiaturen liquidierte. Schließlich rundete die Interpretation eines großen Teiles von Mahlers Revisionstechnik als Abwehr des Paradigmenwechsels in der Aufführungspraxis seiner Zeit das Thema ab. Den Schlußpunkt bildete ein Roundtable mit Diskussion. In einem Konzert am Abend des 28. April 2006 im Marmorsaal der Sammlung alter Musikinstrumente des Kunsthistorischen Museums in der Neuen Hofburg erklang als besondere Kostbarkeit Gustav Mahlers eigener Blüthner-Flügel, der in der Wohnung Auenbruggergasse während der Direktionszeit der Hofoper stand und später von Alma Mahler-Werfel der Stadt Wien geschenkt wurde. Der runde, singende Ton des unrenovierten, aber in gutem Zustand befindlichen Instrumentes erklang zu Liedern, zum langsamen Satz aus der Sechsten in Zemlinskys Bearbeitung f ü r vier Hände und zum Klavierquartettsatz. Ergänzt wurde das Symposium ferner am 29. April 2006 durch den Besuch der Ausstellung „Mahlereien" von Friedrich Danielis im Palais Rottal, Galerie Contact (1. Bezirk, Singerstraße 17). Erich Wolfgang Partsch interviewte den Maler und beschäftigte sich angesichts seiner farbigen Temperabilder mit der um 1900 besonders aktuellen Frage von Klangfarben. Trotz der f ü r eine n u r zweitägige Veranstaltung reichen Palette von angesprochenen Themen wurde viel Einschlägiges nicht behandelt bzw. lediglich gestreift. An I n s t r u m e n t e n bzw. instrumentalen Gruppen, deren Beschaffenheit und Spielweise zur Mahlerzeit noch genauer untersucht und dargestellt werden müßte, fehlen Hörner, Posaunen und Tuba, Harfe, Pauken u n d verschiedene Schlaginstrumente. Das wichtigste Desiderat bilden die Streicher; hier vermißt m a n vor allem Dokumente zur Besaitung (es ist nicht ausgemacht, daß damals in allen Orchestern durchwegs auf den teuren Darmsaiten gespielt wurde). Nur gestreift wurde die Orchesteraufstellung, bei der Mahler völlig selbstverständlich mit der antiphonischen Gegenüberstellung der beiden Violinen rechnete, und zu der eine umfassende historische Darstellung noch ausständig ist. Zu diesem Themenkreis würde eventuell auch die von Mahler veranlaßte Tieferlegung des Orchestergrabens in der Wiener Oper gehören. Es wäre gewiß sinnvoll, diese Themen in einem Folgesymposium zu behandeln.

Einleitung

15

Im Namen der Internationalen Gustav Mahler Gesellschaft und in meinem eigenem Namen danke ich herzlich den folgenden Damen und Herren für ihre Hilfe: - Herrn Hofrat Dr. Rudolf Hopfner, Direktor der Sammlung alter Musikinstrumente des Kunsthistorischen Museums Wien, für die Hilfe bei der Planung, für das Bereitstellen des Konzertsaales, und für die Gesprächsleitung bei einem Teil der Veranstaltung; - Herrn Prof. Mag. Dr. Hartmut Krones, Vorstand des Institutes für Musikalische Stilforschung der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien, für die Übernahme eines Teiles der Reise- und Beherbergungskosten, für seine Bereitschaft, den Symposiumsbericht in seine Reihe „Wiener Schriften zur Stilkunde und Aufführungspraxis" aufzunehmen, sowie für die Gesprächsleitung bei einem Teil der Veranstaltung; - Herrn Dr. Thomas Trabitsch, dem Direktor des Österreichischen Theatermuseums, für die kostenlose Bereitstellung des Eroicasaales, und seinem Personal für die technische Hilfe während der Symposiumstage; - Herrn Dr. Erich Wolfgang Partsch, Vizepräsident der Internationalen Gustav Mahler Gesellschaft, für die Vorbereitung und Abwicklung des Besuchs der Danielis-Ausstellung, und für die Gesprächsleitung bei einem Teil der Veranstaltung; - Herrn Prof. Reinhold Rieger von der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien für das technische Equipment und die professionelle Aufnahme der vorgeführten Tonbeispiele; - Herrn Dr. David Pickett für die Fertigstellung der beigefügten CD; - Herrn Dr. Adelbert Schusser vom Wien Museum für die Erlaubnis, Gustav Mahlers Blüthner-Flügel bei dem Konzert benützen zu dürfen; - dem Verlag Universal Edition AG Wien für Abbildungserlaubnisse; - dem Artistic Director John Boyden des New Queen's Hall Orchestra für die Erlaubnis, Teile von Einspielungen des Orchesters in unserer CD wiedergeben zu dürfen; - Herrn Kammersänger Thomas Hampson und Frau Dr. Beatrix Darmstädter für Geldspenden, die umso willkommener waren, als das Symposium trotz wiederholter Bitten keinen Groschen Unterstützung von öffentlicher Hand erhielt; - schließlich den Wiener Philharmonikern und ihrem Vorstand Prof. Dr. Clemens Hellsberg für eine bedeutende Spende, die zweckgebunden für die Herstellung des Kongreßberichtes verwendet wurde.

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Reinhold Kubik

- Last not least bedanke ich mich beim Präsidenten der Mahler Gesellschaft, Herrn Dr. Rainer Bischof, der die Symposiumsteilnehmer zu einem gemütlichen Abend in seine Wohnung lud und dort fulminant verköstigte, sowie bei meiner Frau, die vom Kaffeekochen über Mineralwasserschleppen bis hin zur Videoaufnahme freundlich und unentgeltlich alle unentbehrlichen Hilfsdienste leistete.

R A I N E R BISCHOF

(Wien)

Rede zur Eröffnung des Symposions

Meine sehr geehrten Damen und Herren, Die Kompetenz der Persönlichkeiten, die an diesem Symposion teilnehmen, um über das Werk Gustav Mahlers in einer sehr spezifischen Weise nachzudenken, ist ungemein hoch. Ich durfte gestern den Festvortrag zur Eröffnung all unserer Aktivitäten, die wir im Jubiläumsjahr „50 Jahre Internationale Gustav Mahler Gesellschaft" machen, halten und habe etwas angedeutet, was ich heute ein bißchen mehr beleuchten möchte. Es beginnt etwas Besonderes, Einzigartiges in der Geschichte, in der Kulturgeschichte, in der Geistesgeschichte des Menschen im 19. Jahrhundert, in unserem Fall der Musikgeschichte, mit dem, was wir „Tristan-Akkord" nennen. Ich habe gestern darauf hingewiesen, daß dieser Abgang f e dis eben zum Tristan-Akkord f h dis gis führt. Das Entscheidende daran ist — wenn man diesen Gedanken weiterspinnt - das dis. Dieser Ton hat die Welt verändert. Ein Ton hat eine solche Macht über die Welt, sie zu verändern, und steht außerdem noch in einer Tradition, nämlich der Seufzerkette Bach'schen Vermächtnisses. In diesem Sinne geht es bei Ihrer Arbeit in diesem Symposion um eine Frage, nämlich zu fragen und zu untersuchen, wie wichtig der „richtige" Ton ist. Es geht hier nicht um „richtig" und „falsch" in einer Gegenüberstellung, es geht um eine tiefere Problematik, es geht nicht um „richtig" und „falsch" in einer schulmeisterlichen Form, es geht um etwas Höheres, nämlich um den Begriff der Wahrheit. Der Wahrheit kann man grundsätzlich in zweierlei Formen begegnen : das eine ist eine geistesgeschichtliche Entwicklung, welche um das fin de siècle wesentlich in Wien, philosophisch ausgedrückt im Positivismus stattfand. Diese Form des sich der Wahrheit Stellens lässt sich zusammenfassen in dem reduktionistischen Satz: „Die gibt's eh nicht, also lassen wir sie weg". Dieser Begegnung der Wahrheit gegenüber trifft aber nicht die Aussage Hofmannsthals zu: „Die Wahrheit bringt sowieso kein Mensch heraus". Das ist damit nicht gemeint. Denn der Reduktionismus, daß man etwas abschafft, was einem unangenehm ist, nämlich die Wahrheit, hat ja dann letztlich zu den Katastrophen des 20. Jahrhunderts geführt. Man kann sich der Wahrheit nicht stellen, indem man sie einfach leugnet. Wenn ich dies allerdings tue, dann ist implizit mit eingebunden der Begriff, daß ich auch keinen anderen außer mir zulasse, der in einer anderen Form der Wahrheit steht. Eine dieser diametral entgegengesetzten Haltungen als weitere Form der Begegnung der Wahrheit ist die

18

Rainer Bischof

Wahrheit in den Totalegoismus, Solipsismus abgleiten zu lassen, dahingehend, daß man sagt: „Ein jeder hat seine Wahrheit". Das ist die sogenannte falsche Toleranz, die schon von Goethe in Maximen und Reflexionen gegeißelt wurde, wo er schreibt: „Tolerieren heißt dulden, und dulden heißt beleidigen". Man beleidigt die Wahrheit, indem man sie leugnet, und es gibt nur eine einzige Möglichkeit, mit der Wahrheit umzugehen, nämlich sich um sie zu bemühen, sie anzuerkennen, ernst zu nehmen, und dies letztlich aus der Erkenntnis, daß es sie gibt. Ob sie einem angenehm ist, die Wahrheit, ist eine gänzlich andere Frage. In unserem Beispiel des Tristan-Akkordes liegt die Wahrheit der Welt in einem Ton, in diesem dis, und dies kann kein d sein, sondern eben nur ein dis. Das ist die besondere Logik der Kunst, welche von der üblichen Logik zu unterscheiden ist. Das, was Sie hier in Ihrer Arbeit leisten, ist nichts anderes als ein Beitrag zur Frage, inwieweit ein Ton die Wahrheit für die Veränderung der Welt bedeutet. Zum Auffinden dieser Wahrheit möchte ich Ferruccio Busoni zitieren. Es ist die Dreiteilung der Idee der Transkription in der Musik: Die erste, die Transkription der Idee des Komponisten von seinem Kopf auf's Papier. Die zweite Transkription vom Papier, also von der Partitur ins Erklingen durch den Interpreten. Die dritte Transkription ist jene vom Erklingen in die Vorstellung des Zuhörers. Busoni meint, etwas populär ausgedrückt, quasi vereinfacht, Musik ist ein „Dreiergeschäft", einer der sie erfindet, einer der sie macht und einer, der sie konsumiert. Allerdings auf diesem Weg der dreifachen Transkription geht natürlich viel verloren, schon im ersten Prozeß aus dem Gehirn des Komponisten auf das Papier, aber dann im zweiten Prozeß vom Papier zum Interpreten und letztlich in die Empfindung des Klingens durch den „Konsumenten". Und an all dem, in diesem Prozeß, nagt noch etwas anderes, nämlich die Zeit. Es geht mit der Zeit sehr viel verloren. So gesehen beschäftigen wir uns heute wie nie zuvor mit der Rekonstruktion von Vorstellungen früherer Epochen und Generationen und deren Ideen. In allen Bereichen des Geistes ist es so, daß wir einer Situation nur aus dem Verständnis der jeweiligen Zeit verpflichtet, diese Zeit und die Menschen dieser Zeit verstehen können. Wenn ein Mensch des 13. Jahrhunderts in einen romanischen Kreuzgang kam, hat er die pythagoreische Aufteilung in Stein gemeißelt gesehen. Marius Schneider hat dies in seinem epochemachenden Werk „Singende Steine" anhand der Anordnung der Säulen in den Kreuzgängen von Ripoll und Gerona schlüssigst beschrieben. Für die Menschen der damaligen Zeit war dies absolut vertraut, wir heute müssen es neu lernen. Der Humor eines Joseph Haydn ist den meisten Menschen heute nicht mehr geläufig, weil sie seinen Humor nicht mehr als Sinn seines Weltbezuges verstehen. Wir können heute gar nicht mehr den ungemein geistigen Witz und Humor eines Joseph Haydn, der eine Symphonie in H-Dur geschrieben hat, verstehen. Weil wir nicht mehr wissen, daß H-Dur so viele Kreuze hat, mit welchen Haydn seinem Dienstherrn, dem Fürsten Esterházy, zeigen wollte, wie

Rede zur Eröffnung des Symposions

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viele Kreuze er (Haydn) durch die Arbeit mit seinen Musikern zu tragen hat. Dies zu wissen ist Grundlage des Verstehens des Humors Haydn'scher Musik. Mit der Zeit geht so viel verloren. Um nicht ein Negativbild unserer Zeit zu geben, betrachte ich Geschichte als einen Austausch in der Folge des Fortschreitens der Entwicklungen bereits errungener Momente und als ein hin zu neuen Ufern, ein Erreichen neuer Perspektiven. Dies ist der Austausch von Vergangenem zu Gegenwärtigem im Geiste der Geschichte. Der Verlust unserer Zeit liegt darin, daß wir im Rahmen unserer Geistesbildung, der wir uns verpflichtet fühlen, der Vergangenheit gegenüber diese vergangenen Dinge erhalten wollen, andererseits aber immer Neues in uns aufnehmen müssen. Wir machen den fatalen Fehler, daß wir etwas Vergangenes, Verlorenes auf Kosten von Neuem ersetzen wollen. Unsere Problematik liegt eigentlich darin, daß wir Altes bewahren, erhalten und mit Neuem verbinden müssen. Wie einfach hatte es doch ein Haydn, Mozart, Beethoven, denn sie hatten keinen Bartök, keinen Strawinsky, keinen Schönberg, keinen ... Wie einfach hatte es ein Tizian, Veläzquez, Goya, sie kannten keinen Mark Rothko oder Jackson Pollock, Pierre Bonnard oder Pablo Picasso. Das ist die Tragödie der Entwicklung der abendländischen Kultur, aber in dieser Tragödie liegt auch ihre Größe. Sie, meine verehrten Damen und Herren, sind der lebende Beweis, das Alte zu bewahren, neu zu beleuchten, uns jene Selbstverständlichkeit der vormaligen Zeit zurückzubringen, uns zu versetzen in die Vergangenheit, um die Gegenwart und die Zukunft besser zu verstehen. Das ist jenes „Wahrheitsuchen", von dem ich eingangs gesprochen habe. Letztlich sind wir es selbst, die uns in dieser Stellung von Vergangenem und Gegenwärtigem suchen und daher finden. Ich wünsche Ihnen, meine sehr geehrten Damen und Herren, zu Ehren der Gustav Mahler Gesellschaft all Ihre Gedanken in eben dieser Art zu suchen und zu finden. Ich bin sehr glücklich und sehr stolz und dankbar als Präsident dieser Gesellschaft, daß diese es möglich gemacht hat. Wir werden noch weitere Aktivitäten in diesem J a h r haben, welche, wie ich meine, sich sehen lassen können. Ich danke meinen Vizepräsidenten Dr. Kubik und Dr. Partsch für ihren unermüdlichen Einsatz, der das alles möglich gemacht hat. Ich habe unserem Sekretariat zu danken, das in selbstloser Arbeit unermüdlich tätig ist, im Sinne einer Person, welcher wir durch ihr Genie, ihre Besonderheit, ihre Einzigartigkeit als Gesellschaft, die ihren Namen trägt, verbunden sind: Gustav Mahler.

PRIMOZ K U R E T

(Ljubljana)

Laibacher Orchesterverhältnisse und Mahlers Orchesterbesetzung in Laibach Im ehemaligen österreichischen Kronland Herzogtum Krain mit der Hauptstadt Ljubljana - österreichisch Laibach, heute die Hauptstadt der Republik Slowenien - war die Musik immer hoch angesehen. Schon im 16. Jahrhundert existierte eine landschaftliche Miliz; zu diesem landschaftlichen krainischen Militär gehörte auch ein Musikkorps - die landschaftlichen (oder Landschafts-) Trompeter und Heerpauker. 1 Die Stadt Laibach hatte bereits im 16. Jahrhundert ihre Bürgerwehr und im Anschluß an diese Bürgermiliz ihr eigenes Musikkorps, die sogenannten „Stadtthurner". Diese Musiker hatten die Verpflichtung, sich im Sommer alle Tage, im Winter dann und wann um 11 Uhr vormittags in ihrer grünen „Stadtliberey" (Livrée) auf den Pfeiferturm auf dem Schloßberg zu begeben und sich von dem Turm herab mit drei Posaunen und einem Zinken oder Cornet hören zu lassen. 2 Außerdem spielten sie bei festlichen Anlässen. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts war ihnen eine Konkurrenz in den Stadtgeigern entstanden. Schon am Anfang des 18. Jahrhunderts (1701) wurde in Laibach der erste musikalische Verein in der habsburgischen Monarchie gegründet, die „Academia philharmonicorum labacensium". Aus den Quellen wissen wir, daß diese „Philharmoniker" bei großen Festen mit einem Orchester von 50 bis 60 Musiker aufgetreten sind, so z.B. bei der Einweihung des Domes im Jahre 1707. Am Ende des 18. Jahrhunderts entstand in Laibach 1794 die „Philharmonische Gesellschaft", ein gut organisierter Musikverein mit Statuten, OrchesterInstruktionen und sogar einem Musicalien-Katalog aus dem J a h r 1804, der uns zeigt, welche Literatur das Orchester der Philharmonischen Gesellschaft spielte. Aus Quellen des Jahres 1802 wissen wir, welches Orchester damals existierte. Das Orchester hatte zu dieser Zeit 25 Musiker, und zwar: 4 erste und 4 zweite Geigen, 2 Bratschen, 2 Violoncelli, 2 Oboen, 2 Klarinetten, 2 Flöten, 2 Fagotte, 2 Hörner, 1 Clarino, 1 Timpano und 1 Contrafagott. Neben der Philharmonischen Gesellschaft wirkte in Ljubljana auch eine Domkapelle, aber wahrscheinlich waren die Musiker dieselben. Als Napoleon im Jahre 1809 die Illyrischen Provinzen mit der Hauptstadt Ljubljana gründete, mußte die Philharmonische Gesellschaft ihre Tätigkeit mit ihren Konzerten

1 2

Vgl. Mittheilungen des historischen Vereins für Krain, 1860, S. 93. Johann Weichard Freiherr von Valbvasor, Die Ehre des Herzogthums Laibach und Nürnberg 1680 (Reprint München 1970), Bd. 1, S.669.

Crain,

4 Bde.,

22

Primoz Kuret

unterbrechen. Trotzdem sind aber in Ljubljana verschiedene Theatergruppen aufgetreten. So z. B. die Theatergruppe Lorenz Gindl. Aus dem Vertrag geht hervor, daß die Gruppe ein Orchester mit 14 Musiker besorgen mußte — und zwar: 2 erste und 2 zweite Geigen, eine Bratsche, 1 Violoncello, 1 Kontrabaß, 2 Klarinetten, 2 Oboen, 1 Fagott und 2 Hörner. Nebenbei wirkten in Ljubljana stets auch Militärmusikkapellen. So schreibt der Kulturhistoriker Peter von Radics, daß im Sommer 1802 das erste Militärkonzert in Laibach stattgefunden h a t : „Die Herrn Offiziere haben eine prächtige Cassation (Abendständchen) geben vor dem Generalstab mit dem Hackbrettl" [also ungarische Musik!]. Aus anderen Quellen wissen wir über weitere solche Ereignisse. Radics schreibt in seinem Buch Frau Musica in Krain: „ein einflussreicher Faktor zur Entwicklung des Musiklebens ergab sich stets in der Anwesenheit einer Militärmusikapelle". 3 Auch im Landschaftlichen Theater, das im Jahre 1765 aus Anlaß des Besuches von Kaiserin Maria Theresia in Laibach erbaut wurde, wirkte immer ein Orchester mit. Als Gustav Mahler im J a h r 1881 nach Laibach/Ljubljana kam, war er 21 Jahre alt. Uber sein Engagement berichtete die Laibacher Zeitung schon am 6. Mai, darüber wird in den Mahler-Biographien allerdings nicht berichtet. 4 Noch immer trifft man nämlich auf die Meinung, daß Mahler im Sommer 1881 nicht wußte, was er machen würde. 5 Die erste Hälfte des Jahres 1881 liegt für Mahlers Biographen größtenteils im Dunkeln. Aus der Laibacher Zeitung aber ist ersichtlich, daß der „Kapellmeister Gustav Mahler aus Wien seinen Vertrag schon in Mai 1881 unterschrieb". Dieselbe Laibacher Zeitung berichtete am 9. September wieder über dieses Thema und auch über die Namen der neu engagierten Künstler und über die anderen Mitarbeiter des Laibacher Landschaftlichen Theaters in der neuen Saison. Im Staatsarchiv Sloweniens ist unter der Bezeichnung „Präsidium der Landesversammlung und des Landesausschusses 1471" der Vertrag zwischen dem Landschaftlichen Theater und dem Landesausschuß erhalten, der am 27. April 1881 unterschrieben wurde. Der Vertrag hat 24 Paragraphen und zeigt uns die damaligen Theaterverhältnisse in Ljubljana. Im folgenden wollen wir uns den Vertrag näher anschauen. Schon im Paragraph 1 lesen wir: Die artistische Leitung rücksichtlich der Operetten, Schau-Lustspiele und Posse wird lediglich vom Herrn Alexander Schreiner Mondheim, rücksichtlich der Opern lediglich vom Herrn Emanuel Urban besorgt werden und sind auch hier die Verfügungen eines Unternehmers für Beide bindend.

3 4 5

Peter von Radics, Frau Musica in Krain, Laibach 1877, S. 18. Primoz Kuret, Mahler in Laibach, Wien 2001, S.42. Vgl. z.B. Jens Malte Fischer, Gustau Mahler - Der fremde Vertraute, Wien 2003, S.134.

Orchesterverhältnisse und Mahlers Orchesterbesetzung in Laibach

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r. Friedrich Keetbuchcr). Kommt ein Vogel geflogen, Humoreske für Chur mit Begleitung des Orchesters, orchestriri von C. I'c/cr(Neu.]

II. Abtheilung. «>.) Rml. WeillWlirilt:

Alpenstimmen aus Oesterreich, Serie 1, für Miinnerehor mit Hegleitung des Orchesters. [N'ew.j

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0 lass' mich lauschen, Baritonsolo mit Brunimstinnnen und Stieiehi(i

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172

Beatrix Darmstädter

Diesem Schreiben legte er auch zwei aktuelle Kritiken bei, in denen der Klang des Tärogatös und die Interpretation von Hiekisch wie folgt erwähnt werden :17 Pester Lloyd am 15. März 1902: [...] Auch eine instrumentale Neuerung gab es heute. Der Hirtenreigen zu Beginn des dritten Aktes wurde anstatt auf dem Englisch Horn diesmal auf einem Tärogatö in As geblasen, das eigens für das Stück angefertigt wurde. Die ungarische Schalmei bewährte sich vortrefflich. Ihr großer, üppiger Ton schwang klar bis in die fernste Ecke und der eigenartig dunkle, in der unteren Lage besonders schmelzende Timbre vertiefte noch die schwermüthige Stimmung der von Professor Hieckisch virtuos vorgetragenen Hirtenweise. Neues Pester Journal am 15. März 1902: [...] Eine zweite Neubesetzung gab es hinter Szene. Die traurige Weise im dritten Akt wurde nämlich diesmal von Professor Hiekisch auf einem eigens für diesen Zweck gebauten Tärogatö geblasen. Die vornehme Kunst Meister Hiekisch' zog aus dem Instrument einen vollen, edlen Ton, dessen eigenartiger Reiz mit der Stimmung der Szene glücklich harmonierte. Hiekisch spricht in seinem Brief „die schnelle und prompte Erledigung" seiner „ergebensten Bitte" an, was sich auf die Korrespondenz aus dem Monat Februar desselben J a h r e s bezieht und belegt, daß er mit Mahler schriftlich in Kontakt stand. Der Musiker bat den Wiener Operndirektor, den er von seiner Dienstzeit a n der Budapester Oper auch persönlich k a n n t e und ihn wegen seiner „segensreichen u n d reformierenden Directionszeit" 18 im Gedächtnis behielt, u m P r ü f u n g einer komischen Oper eines befreundeten Komponisten. Mahler antwortete prompt auf die Bitte von Hiekisch, indem er ihn einlud, ihm das Werk zu übermitteln. 1 9 Auch bezüglich des Tärogatös reagierte Mahler rasch u n d ließ ihm a m 16. April 1902 folgende Nachricht der Hofoperndirektion zukommen :20 Sehr geehrter Herr Hickisch! Es wird mich gewiß sehr interessieren das von Ihnen empfohlene neue Instrument „Tärogatö" kennen zu lernen und ich sehe daher Ihrem Besuche mit Vergnügen entgegen. Hochachtungsvoll ./. Einige Tage später, am 28. April 1902, ergeht sodann eine Einladung an Professor Heinrich Hiekisch, die Hirtenreigen in der Vorstellung des 5. Mai d. J. 17 18 19 20

ÖSA, ÖSA, ÖSA, ÖSA,

Hofoper Hofoper Hofoper Hofoper

1902, 1902, 1902, 1902,

Karton Karton Karton Karton

163, 162, 162, 163,

Akt Akt Akt Akt

309; (Kritiken ohne Seitenangabe). 180. 180. 309.

„Das ist der richtige Ton, den Richard Wagner vergebens gesucht..."

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zu interpretieren. Zuvor sollte er aber auch die entsprechenden Orchestermusiker - die Klarinettisten - der Wiener Hofoper im Spiel des neuen Instruments unterweisen :21 Sehr geehrter Herr Hickisch! Ich ersuche Sie das von Ihnen empfohlene neue Instrument Tärogatö in der am 5. Mai stattfindenden Vorstellung „Tristan und Isolde" vorzuspielen und wenn möglich schon am 4. Mai einzutreffen, um unsere Mitglieder im Gebrauche des Instruments unterweisen zu können. Hochachtungsvoll ./. Das sehr gute Verhältnis zwischen Hiekisch und Schunda wird durch ein Telegramm des Instrumentenmachers an Gustav Mahler unterstrichen, das bereits am 30. April 1902 in Wien eintraf. Jözsef Schunda wurde offensichtlich von Hiekisch kontinuierlich über den Verlauf der Anbahnung seiner Engagements informiert, da von diesen auch die Verbreitung der von Schunda entwickelten und produzierten Tärogatös weitgehend abhing. So ist es verständlich, daß Schunda mit dem Auftritt von Professor Hiekisch in Wien wohl auch an eine Erweiterung seiner eigenen Geschäftsbeziehungen dachte und persönlich nach Wien, einem bedeutenden Musikzentrum, reisen wollte, um bei der ersten Präsentation seines Instruments außerhalb Ungarns anwesend zu sein. Krankheitsbedingt konnte er allerdings nicht erscheinen. Telegramm von Jözsef V. Schunda an Hofoperntheaterdirektor Gustav Mahler (eingetroffen in Wien I/I am 30. April 1902) :22 bitte meinen besten dank entgegenzunehmen fuer die freundliche aufnähme meiner durch proffesor hickisch vorgezeugten tarogato, schwehre krankheit verhinderte meine persoenliche aufwartung, - hochachtend=schunda Heinrich Hiekisch besuchte offensichtlich Wien schon vor der Einladung zum Probespiel im Mai 1902 persönlich und dürfte Gustav Mahler auch empfohlen haben, Instrumente von Schunda für das Hofoperntheater anzukaufen. Am 1. Mai 1902 bestätigt Hiekisch sein Kommen für den 4. Mai schriftlich23 und bittet um Erscheinen der zu unterweisenden Klarinettisten des Hofopernorchesters um 16 Uhr im Hotel „König von Ungarn", in dem er ein Zimmer bezog. In diesem Brief deutet er auch an, daß das Tärogatö in As von Schunda erst angefertigt werden muß. Daher würde Hiekisch nur ein Tärogatö in B zur Demonstration mitbringen. Die dem Schreiben beigefügte Visitenkarte gibt Auskunft über den Umzug von Hiekisch, den er in den vergangenen Tagen vollzogen haben muß. 21 22 23

ÖSA, Hofoper 1902, Karton 163, Akt 309. ÖSA, Hofoper 1902, Karton 163, Akt 309. ÖSA, Hofoper 1902, Karton 163, Akt 309.

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Hochverehrter Herr Director ! Ihrer freundlichen Einladung zufolge werde ich am 4. Mai N. M. 3A1 Uhr in Wien eintreffen, im Hotel König von Ungarn Logis nehmen, wohin ich die Herrn Collegen von der Clarinette N. M. 4 Uhr, um sie im Gebrauche des Tärogato zu unterweisen, zu kommen bitte. Ein B Tarogató (also das für die lustige Weise) werde ich mitbringen, dasjenige aber in As wird Herr Instrumentenmacher J. W. Schunda nachschicken. Verehrter Herr Director! Ich bitte Sie, den mir versprochenen Bestellschein an Herrn Schunda so bald als möglich abgeben zu lassen, weil ich es ihm so gesagt habe, als ich von Wien hierher zurückkehrte, und ich glaubte, Sie würden denselben dem Briefe an mich beischliessen lassen. Mit vorzüglichster Hochachtung Ihr ganz ergebenster Ig. Hein. Hiekisch Bpest, 1. Mai 1902 [angeschlossene Visitenkarte] : Professor Ignaz Heinrich Hiekisch Mitglied der königl. ung. Oper [verso handschriftlich] : Neue Adresse Lovas ut 16. Budapest I. Auf diesen Brief antwortete der Konzertmeister des Orchesters und Musikinspektor des Wiener Hofoperntheaters Arnold Joseph Rosé am 2. Mai 1902, indem er im Auftrag von Gustav Mahler Herrn Schunda bitten ließ, einen Kostenvoranschlag für die beiden Instrumente an die Direktion der Oper zu senden. Rosé unterstrich unmißverständlich, daß der Ankauf der Instrumente von dem Erfolg des Probespiels von Hiekisch in der Aufführung am 5. Mai abhängig gemacht wird: 24 Sehr geehrter Herr Hiekisch ! Im Auftrage des Herrn Direktors ersuche ich vorerst gefällig veranlassen zu wollen, daß die Firma Schunda uns die Preise des Instrumentes bekannt gibt, da dieselben in dem Bestellschein angesetzt werden müssen. Nach der Vorstellung „Tristan und Isolde" wird sich Herr Direktor betreffs des Ankaufes definitiv entscheiden. Die Herren Bläser werden Ihrem Wunsche gemäß für Sonntag N. M. 4 Uhr zu Ihnen in das Hotel „König von Ungarn" bestellt werden. Hochachtungsvoll Rosé 24

ÖSA, Hofoper 1902, Karton 163, Akt 309.

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Knapp vor dem Treffen wurde Professor Hiekisch in einem an seine alte Adresse gesandten Telegramm von der Direktion des Hofoperntheaters bekanntgegeben, daß es zu einer Verschiebung des Termins kommen muß: [an]: Professor Hickisch Budapest Sziv utcza 12 Die Herren Bläser können erst Montag 11 Uhr Vormittags in das Hotel kommen. Direktion Hofoperntheater Am Tag des erstmaligen Einsatzes des Tärogatös im Wiener Hofoperntheater erging ein Schreiben an die General-Intendanz der k. k. Hoftheater, in dem um ein Gastspielhonorar von 200,— Kronen für Heinrich Hiekisch angesucht und der eventuelle Ankauf der Instrumente angesprochen wird :25 Hohe k.u.k. General-Intendanz der k.k. Hoftheater! Herr Professor Ig. Heinr. Hickisch, Orchestermitglied der kgl. ung. Oper in Budapest hat der ergebenst gefertigten Direction ein neues Instrument in duplo „Tärogatö" zur alleinigen Benützung in der Oper „Tristan und Isolde" empfohlen. Um nun die hierortigen Orchestermitglieder im Gebrauche dieses neuartigen Blasinstrumentes zu unterrichten, weilte der vorgenannte Musiker bereits 2 mal in Wien und wird übrigens in der heutigen Vorstellung „Tristan und Isolde" dasselbe persönlich blasen. Nach dem Resultate des Probespieles wird die Direction eventuell unter Vorlage des Kostenüberschlages um die Bewilligung des Ankaufes des Instrumentes bei der Firma W. Josef Schunda in Budapest einschreiten. Die untergebenst gefertigte Direction erlaubt sich daher ein GastspielHonorar von 200 Kronen für die besonderen Müheleistungen des Herrn Prof. Hickisch in Antrag zu bringen und bittet im Genehmigungsfalle um hochgeneigte Verständigung der k. u. k. Casse der k. k. Hoftheater. Hochachtungsvoll ergebenst Die k. u. k. Direction des k. k. Hofoperntheaters Mahler Wien, am 5. Mai 1902 Die Reaktion der österreichischen Musikkritik, die der Aufführung am 5. Mai beiwohnte, war durchaus positiv. In der Neuen musikalischen Presse schreibt man über einen „originellen Gast" aus Budapest, der sein Solo „wunderschön blies". Der Klang wird als zwischen der Oboe und Klarinette liegend beschrieben und dürfte sich von den gewohnten Orchesterklangfarben deutlich unterschieden haben; an den schwermütigen Klangcharakter des Englischhorn würde er - so der Kritiker - nicht herankommen. In der Opern-Revue (10. Mai)

25

ÖSA, Generalintendanz 1902, Karton 206, Akt 937.

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der Neuen musikalischen Presse liest man folgende Zeilen über das Debüt des Tärogatos in der Hofoper: 26 In der „Tristan"-Aufführung des jüngsten Wagner Zyklus (5. Mai) erschien ein origineller Gast. Das Mitglied der Budapester Oper, Professor am National-Konservatorium, Herr Heinrich Hickisch, blies die Hirtenweise auf der ungarischen Schalmei, dem alten Nationalinstrument „Tärogato". Das heißt, das Tonwerkzeug erschien nicht in seiner alten, volkstümlichen, sondern in jener reformirten Gestalt, die ihm der Budapester Instrumentenbauer Schunda gab. Jede Verbesserung ist zugleich Veränderung und hat darum ihren unvermeidlichen Nachteil. Wie das Instrument jetzt klingt, steht es zwischen Oboe und Klarinette mitten drin, es sondert sich klanglich von den Orchester-Instrumenten, trotzdem es ihnen an Handlichkeit und Verwendbarkeit völlig angeähnelt ist. Allerdings, den düsteren, schwermütigen Klangcharakter, der dem alten Instrumente zugeschrieben wird, hat es abgestreift und in dieser Beziehung vermag es mit dem gewohnheitsmäßig verwendeten Englisch-Horn nicht wettzueifern. Aber dadurch, daß es sich von den Orchester-Instrumenten unterscheidet, gewinnt es eine besondere Tauglichkeit im Sinne Wagners, der es vielleicht herangezogen hätte, wenn es ihm bekannt gewesen wäre [...]. Wagner's Vorstellung von einem Hirteninstrumente wäre das Tärogato sicherlich weit näher gekommen, als die auf Fernwirkung berechnete schweizerische Alpen-Tute. Er hätte sich aber dann seine Reform des Instrumentes selbst gemacht. Wie es ist verdient das Instrument immerhin die Beachtung der Theaterleiter und Kapellmeister. Es steht bei der Budapester Oper und anderen Bühnen sowie Musikkapellen in Gebrauch und müsste in Verbindung mit dem anderen ungarischen National-Instrumente, dem Zimbal, eine höchst originelle, charakteristische und reizvolle Verbindung eingehen [...]. Das Instrument steht in B (jenes in „Tristan" gebrauchte dürfte As-Stimmung gehabt haben), spricht im ganzen Umfange leicht an und hat einen weichen, modulationsfähigen Ton. Herr Hickisch blies es wunderschön. [...] Laut einem im Juni 1902 erschienen Zeitungsbericht 27 ist es neben dem obligaten Probespiel im Orchester im Zuge der Vorstellung von Tristan und Isolde am 5. Mai 1902, die von Franz Schalk dirigiert wurde, auch noch zu einer weiteren Präsentation des Instruments in der Wiener Hofoper gekommen, der Gustav Mahler, einige namentlich nicht genannte Kapellmeister und Arnold Rosé beiwohnten. (Diese Präsentation könnte jene sein, die Mahler in seinem Schreiben vom 5. Mai auch andeutet.) Der Autor des Beitrags dürfte allerdings etwas oberflächlich recherchiert haben, denn er berichtet, daß Mahler, nachdem er über den Erfolg des Instruments an der Budapester Oper erfahren hätte, sich an Hiekisch wandte, um ihn zu bitten, ihm das Instrument vorzuführen.

26 27

Neue musikalische Presse Nr. 19/21. Jg., Wien, 11. Mai 1902, S.286. Zeitschrift für Instrumentenbau, Nr. 25/22. Jg., Leipzig Juni 1902, S.674.

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Wie allerdings aus den oben publizierten Briefen hervorgeht, ging die Initiative eindeutig von Heinrich Hiekisch aus. Weiters meint der Redakteur, daß „Reformator" Schunda selbst anwesend war und zu seiner Erfindung beglückwünscht wurde. Wann dieses Probespiel stattgefunden hat, ist nicht eindeutig zu bestimmen. Weder in den Akten der General-Intendanz, noch in jenen des Hofoperntheaters finden sich nähere Hinweise auf diese Präsentation. Überdies muß festgehalten werden, daß Schunda von Ende April bis Mitte Juni 1902 erkrankt war und eine Reise nach Wien daher eher unwahrscheinlich erscheint. Jedenfalls zitiert der Autor des Berichts über das Probespiel von Professor Hiekisch in Tristan und Isolde Gustav Mahler wie folgt: Das ist der richtige Ton und Klangfarbe für diese so wichtige Stelle, den Richard Wagner vergebens gesucht; jetzt ist es glaubwürdig, daß ein und derselbe Hirt die beiden Weisen, die traurige und die lustige auf einem Instrumente vorträgt, während bisher erstere auf dem Englischhorn, letztere auf einem Blechinstrument geblasen wurde, daher eine Klangeinheit nicht stattfinden konnte. Für die Aufführungspraxis interessant ist vor allem die Bemerkung, daß in der Wiener Hofoper bislang in beiden Passagen nicht das Englischhorn, sondern unterschiedliche Instrumente gespielt wurden. Eine Holztrompete dürfte allerdings nicht angeschafft worden sein, da beschrieben wird, daß im lustigen Reigen ein Blechblasinstrument erklang und kein entsprechendes Ankaufsdokument vorhanden ist. Uber den Klangeindruck, den der Redakteur in der Vorstellung der Oper Tristan und Isolde in Wien vom Instrument hatte, geben folgende Zeilen Auskunft: 28 Die ungarische Schalmei bewährte sich vortrefflich. Ihr üppiger Ton schwang klar bis in die fernste Ecke, und das eigenartig dunkle, in der unteren Lage besonders schmelzende Timbre vertiefte noch die schwermüthige Stimmung der von Professor Hiekisch virtuos vorgetragenen „Hirtenweise". Neben einer weiteren Kritik der Aufführung vom 5. Mai, die bereits am 6. Mai 1902 in der Zeitung Zeneviläg in Budapest erschien, war dieser Bericht bisher das ausführlichste bekannte Dokument zum Einsatz dieses Instruments an der Wiener Hofoper. Der Autor der Kritik vom 6. Mai berichtete nicht über die Anwesenheit Schundas in Wien. Er meinte, daß die Glückwünsche der Anwesenden nicht nur dem Virtuosen Hiekisch sondern auch dem Instrumentenmacher Schunda gegolten hätten. 29 Er erweist sich überdies als gut informiert, da er schreibt, die Bestellung zweier Tärogatös für die Wiener

28 29

Zeitschrift für Instrumentenbau, Nr. 25/22. Jg., Leipzig Juni 1902, S.674. Zeneviläg vom 16. Mai, Budapest 1902, S.37.

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Hofoper wäre bereits an Schunda ergangen — was zu diesem Zeitpunkt jedoch noch nicht der Fall war. In geradezu euphorischer Art spricht er angesichts des großen Erfolgs des Tarogatös in Wien vom „Triumph des Instrumentenbaugewerbes Ungarns" („A magyar nemzeti hangszeripar diadalât jelenti ez a târogatô [...]").so Trotz des anregenden Probespiels in der Wiener Hofoper wurden die Instrumente bei Schunda noch nicht bestellt, da der angeforderte Kostenvoranschlag der Firma Schunda nicht eingetroffen war. Heinrich Hiekisch sollte aber unverzüglich zu seinem verdienten Honorar kommen, weshalb Mahler am 7. Mai ein Intimât an die Hoftheaterkassa unterzeichnet:31 Intimât an die Hoftheaterkasse. Über den im kurzen Wege zur Anweisung gelangten Betrag von Zwei Hundert (:200:) Kronen, welcher dem Professor Ignaz Heinrich Hickisch als Gastspielhonorar erfolgt wurde, erhält die [Kasse] hiemit die nachträgliche schriftliche Bedeckung. Diese Ausgabe ist dem Hofoperntheater sub. „Gastspielhonorar" zu Lasten zu buchen. Vid Direction des Hofopernth Mahler Erst am 19. Juni 1902 meldet sich Jözsef Schunda bei der Hofoperndirektion.32 Er wurde von Heinrich Hiekisch natürlich darüber informiert, daß seitens der Direktion Interesse bestünde, entsprechende Instrumente anzukaufen, doch bis zu diesem Datum erkrankt, konnte er keine Geschäfte führen und setzte den ausständigen Kostenvoranschlag erst mit einiger Verspätung auf. Schunda ahnte wohl, daß die Klarinettisten in Wien mitunter Probleme beim Spiel seiner Instrumente haben würden und bot daher an, diese persönlich anzuliefern, so daß er die Gelegenheit hätte, den Musikern einige technische Details zu erklären. Die Applikatur am Târogatô unterscheidet sich im Tonbereich von b bis eis" wesentlich von jener der Klarinette; wobei der Tonbereich eis' bis e' an die Saxophongriffweise erinnert. Sie entspricht von h' bis h" annähernd den Griffen der überblasenen Oktave der Klarinette, wobei es beim Târogatô auch hier einige Besonderheiten gibt, wie die d"-Klappe.33 Die für das Târogatô als typisch zu bezeichnende doppelte Oktavenklappe (sie erweist sich ab a" als

30 31 32 33

Zeneviläg vom 16. Mai, Budapest 1902, S.37. ÖSA, Generalintendanz 1902, Karton 206, Akt 937. ÖSA, Hofoper 1902, Karton 170, Akt 309. Die immer wieder zu hörende Meinung, es würde sich hierbei per definitionem um eine Trillerklappe handeln, ist nicht zu unterstützen, da weder in den Tärogatö-Schulen noch in den Patenten diese am Oberstück lateral oder frontal liegende Klappe als „Trillerklappe" bezeichnet wird. Sondern sie gilt als eine den Griffen oktl23456 und 23456 gleichberechtigte Griffalternative und bringt neben einer grifftechnischen Vereinfachung noch den Vorteil, mitunter besser zu intonieren als der lange, mit der Oktavenklappe ausgeführte Standardgriff.

„Das ist der richtige Ton, den Richard Wagner vergebens gesucht..."

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äußerst hilfreich), die ebenfalls ein von der Klarinette abweichendes aber an frühe Saxophone und an Oboen erinnerndes klappentechnisches Spezifikum ist, wurde von der Firma Schunda erst knapp vor 1910 in Serie eingesetzt. Außerdem vertrugen die relativ schmalen Mundstücke der frühen Zeit des Tärogatös nicht den von Klarinettisten normalerweise ausgeübten Ansatz. Das Tärogatö spricht generell besser an und hat eine ausgeglichenere Tonqualität, wenn es in einem größeren Winkel vom Körper weggehalten wird, so daß das Blatt beinahe waagrecht auf der Unterlippe aufliegt und wenn es mit warmem Atem geblasen wird. Der Preis, den Schunda für die beiden Tärogatös verrechnete, ist mit 120,Kronen für das Instrument in B und mit 140,— Kronen für das Instrument in As durchaus moderat (siehe Abbildung 2).34 W. J. Schunda, Budapest, Budapest, 19ten J u n i 1902 Hochlöbliche Direktion! Nachdem ich durch K r a n k h e i t abgehalten w a h r in Angelegenheit der durch H e r r n Proffesor Hickisch vorgezaigte Tärogatö, mit der löbl: Direction in Verkehr zu tretten, erlaube ich mir hiemit die höfliche A n f r a g e zu stellen, ob ich zu der schon gebaute Tärogatö in B, auch noch ein Solches in As liefern darf, nachdem mir H : Hickisch sagte, daß die lobl: Direktion baide I n s t r u m e n t e wünschen. Die Preise sind folgende: 1 Tärogatö in B 120 Kronen 1 Tärogatö in As 140 Kronen Die Ablieferung würde ich persönlich vornehmen bei welcher Gelegenheit ich den Herren Bläser die Umgangsweise etc: zeigen kinnte, Eine werthe Antwort erbittend grüßen mit besonderen Hochachtung W. J . Schunda

Einige Tage später erging die Bitte um Bestellung der Instrumente durch die Direktion des Hofoperntheaters an die Generalintendanz der Hoftheater :36 Hohe k . u . k . General-Intendanz der k.k. Hoftheater! Mit Beziehung auf den hierortigen Bericht Z. 309 dto. 5. Mai 1902 erlaubt sich die ergebenst gefertigte Direction die Bitte zu unterbreiten, die beiden f ü r die Oper „Tristan und Isolde" zu benützenden M u s i k i n s t r u m e n t e bei der k . u . k . Hof-Instrumentenfabrik W. J . Schunda in Budapest bestellen zu dürfen.

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Zum Vergleich : Ein Englischhorn kostete 200,- Kronen (so bei Firma Otto Mönnig in Leipzig, von wo die Wiener Hofoper im 1902 ein solches Instrument bezog); eine SoloKlarinette in B (der Firma Georg Berthold und Söhne in Speyer, bei der 1902 vier Klarinetten für das Wiener Hofopernorchester gekauft wurden), kam auf 163,80 Kronen. ÖSA, Hofoper 1902, Karton 170, Akt X 25.

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,Das ist der richtige Ton, den Richard Wagner vergebens gesucht..."

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Laut des Kostenüberschlages werden sich die Anschaffungskosten für ein Tarogató in B auf K. 120 - und ein gleiches Instrument in As auf 140.zusammen daher auf K. 260 — belaufen. Hochachtungsvoll ergebenst Die k.u.k. Direction des k.k. Hofoperntheaters Videat! Ribitsch Rosé Wien, am 22. Juni 1902 Am 23. J u n i erfolgte das Intimât an die Kasse 36 und am 2. Juli 1902 ließ Gustav Mahler die beiden I n s t r u m e n t e schriftlich bei Schunda offiziell bestellen :37 K. und k. Direction des k. k. Hof-Operntheaters 2. Juli 1902 An Herrn W. J. Schunda k. u. k. Hof-Instrumenten-Fabrik Budapest IV. Magyar-Utcza No 16,18,26 Euer Wohlgeboren ! In höflicher Erwiederung Ihres geehrten Schreibens vom 19. Mai d. J. theile ich Ihnen mit dass die gefertigte Direktion hiermit die officielle Bestellung auf 1 Tarogató in B um den Preis von K 1 2 0 und 1 Tarogató in As um den Preis von K 140,macht. Ersteres Instrument ist bereits in unserem Besitze und wollen Sie die Ablieferung des „Tarogató in As" erst zu Beginn der nächsten Saison, das ist Anfang September veranlassen, da die Orchester-Mitglieder derzeit beurlaubt sind. Gleichzeitig bin ich beauftragt Sie zu verständigen daß dem vor einiger Zeit in Wien verweilenden Hofkapellmeister Richard Strauss beide Instrumente bestens empfohlen worden sind. Mit besonderer Hochachtung Die k.u.k. Direction des k.k. Hofoperntheaters Videat! Ribitsch Rosé Da Tristan und Isolde in Wien erst wieder zu Beginn der folgenden Saison, nämlich am 2. September 1902, gegeben wurde, hatte die Lieferung der Instrumente nicht unverzüglich zu geschehen. Die Bemerkung, daß m a n Richard 36 37

ÖSA, Hofoper 1902, Karton 170, Akt X 25. ÖSA, Hofoper 1902, Karton 170, Akt X 25.

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Strauss über die neuen Instrumente informiert hätte und sie ihm empfohlen hätte, könnte darauf hinweisen, daß seitens der musikalischen Leitung des Hauses tatsächlich die Überzeugung bestand, daß die Tärogatos für Tristan und Isolde die optimale Instrumentationsoption wären bzw. daß die Interpretation der Reigen durch Heinrich Hiekisch zur absoluten Zufriedenheit der Direktion gereichte. Hiekisch meldete sich Ende August 1902 wieder bei Mahler, um anzufragen, ob sein Engagement für die Vorstellung im September gewünscht sei. Auch diese Aufführung wurde von Schalk geleitet und sollte das noch von vergangener Saison eingespielte Team erneut auf der Bühne zusammenführen. 38 Hiekisch ging bei seiner Anfrage davon aus, daß die Klarinettisten zu Beginn der neuen Saison noch nicht jene Sicherheit im Umgang mit dem Tärogato erreichen konnten, um es im Zuge einer Aufführung an dem Wiener Hofoperntheater gewandt zu spielen. Dazu trat, daß das Instrument in As noch nicht angeliefert wurde - auf dem das musikalisch anspruchsvollerer Solo gespielt werden mußte — so daß die Musiker keine ausreichende Möglichkeit hatten, es „einzuspielen". Die mit 27. August datierte Anfrage von Hiekisch 39 muß aus dieser Perspektive als Angebot angesehen werden, dem hohen Niveau der Opernaufführungen in Wien seriösest zu entsprechen. Hochgeschätzer Herr Director! Aus den wiener Zeitungen habe ich die Kenntnis gewonnen dass anfangs September an der k.k. Hofoper eine Aufführung des Tristan stattfindet; ich würde, da wir hier bei uns noch Ferien haben, sehr gerne bereit sein, abermals das Tärogato im 3. Akte der gen. Oper statt dem Eng. horn zu spielen, falls Sie, hochverehrter Herr Director diese Besetzung wünschen. Das von Ihnen bei Herrn Schunda bestellte Instrument in As wäre nach einer an ihn gelangten Zuschrift der k. k. Hofoper ebenfalls anfangs September abzuliefern, und so könnte dasselbe von mir da gelegentlich an Ort und Stelle demonstriert werden, indem ich voraussetze, dass Ihre Instrumentalisten noch nicht so weit geübt sein werden, um dasselbe mit Sicherheit vorführen zu können. Einer recht baldigen Antwort entgegensehend verharre ich mit der vorzüglichsten Hochachtung Ihr ergebenster Ig. Hein. Hiekisch I. Lovas ut 9 40 Herzlichen Gruss an Herrn Rosé, Bpest, 27. Aug. 1902

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Erst die Aufführungen im Dezember brachten unter der musikalischen Leitung von Mahler eine teilweise Neubesetzung und wurden 1902 durch die legendäre Neuinszenierung unter Einbeziehung des Bühnenbildners Alfred Roller und mit Anna von Mildenburg als Isolde ersetzt. ÖSA, Hofoper 1902, Karton 163, Akt 309. Sic, nicht „16", wie auf der Visitenkarte angegeben.

„Das ist der richtige Ton, den Richard Wagner vergebens gesucht..."

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Die am darauffolgenden Tag von der Direktion verfaßte Ablehnung überrascht und mag eventuell mit finanziellen Gegebenheiten erklärt werden können, oder aber damit, daß die Musiker der Wiener Hofoper angesichts des noch nicht eingetroffenen Instruments kein entsprechendes Problembewußtsein hinsichtlich der Eigentümlichkeiten des Tärogatös in As entwickeln konnten. (Daß Schunda bereits im Laufe der Sommermonate angeliefert hat, ist als eher unwahrscheinlich zu bezeichnen, da Hiekisch darüber von Schunda bestimmt informiert worden wäre und er in seinem Schreiben von der Zustellung Anfang September ausgeht.) Über den wahren Grund der Absage kann, solange weitere aussagekräftige Dokumente nicht auffindbar sind, nur spekuliert werden, zumal im Brief an Hiekisch keine Begründung angedeutet wird :41 Euer Wohlgeboren! Im Besitze Ihrer geehrten Anstrebung in der nächsten „Tristan" Aufführung das Tärogatö zu spielen, bedauert die gef D davon keinen Gebrauch machen zu können, und dankt Ihnen bestens für Ihre Bereitwilligkeit Wien am 28/8 1902 Hochachtungsvoll Die k.u.k. Direction KK Hofopernth Es kann laut vorliegenden Quellen davon ausgegangen werden, daß die Klarinettisten des Wiener Hofoperntheaters allerdings mit dem - wie anvisiert — wahrscheinlich zu Beginn des Monats September von Schunda gelieferten Tärogatö in As nicht ausreichend zurecht kamen, und dies — so ist zumindest anzunehmen — Unzulänglichkeiten im Intonationsverhalten und in der Tonreinheit des Instruments zugeschrieben haben. Jedenfalls dürfte sich die Situation, daß nämlich die Wiener Klarinettisten auf dem von Schunda gelieferten Tärogatö in As nicht spielen konnten, auch in Budapest rasch herumgesprochen haben. So wendet sich Schundas Konkurrent, Jänos Stowasser, im November 1902 an die Direktion der Wiener Hofoper und bittet, seine Instrumente zur Probe an die Musiker senden zu dürfen (siehe Abbildung 3). Im Gegensatz zu Schunda schreibt er, daß seine Firma Tärogatös in As und G gleichsam regulär in Erzeugung hätte und diese ausgefallenen Tonarten somit keiner gesonderten Anfertigung bedürften ;42 daß es sich bei dem von Schunda eigens gefertigten Modell allerdings nicht nur um die spezifische Stimmung, sondern vor allem um den erweiterten Umfang in der Tiefe handelte, um die entsprechende Passage überhaupt spielen zu können, war Stowasser zu diesem Zeitpunkt noch nicht bewußt. In seinem Klappensystem dürften, laut Patent, am Oberstück Intonationsklappen berücksichtigt worden sein (Ton a

41 42

ÖSA, Hofoper 1902, Karton 163, Akt 309. ÖSA, Hofoper 1902, Karton 170, ad Akt X 25.

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mit Deckel und Ausgleichsklappe), und am Unterstück sind die Ringe um die Grifflöcher e und fis mit kleinen Intonationsklappen geplant worden. Das Instrument mit der Patentnummer 11545 (Sammlung Semmelweis, Budapest) geht aber von diesem Konzept ab und belegt eine den Instrumenten Schundas ähnliche Bauart. Hätte es sich um jene Applikatur gehandelt, die Stowasser im Patent beschrieben hatte, würde man zweifelsfrei davon ausgehen können, daß Hilfsgriffe - „Kunstgriffe", wie Stowasser sie nennt - nicht nötig gewesen wären. Da das erhaltene Instrument allerdings die wesentlichen Details nicht aufweist, ist nicht anzunehmen, daß eine saubere Intonation ohne Hilfsgriffe zu erreichen war. Stowasser J. Budapest II. ker. Lánczhid u. 5 Budapest, 1902 Fbr. 22. An die löbliche Direction der K. u. k. Hofoper Wien. Habe in Erfahrung gebracht dass die löbliche Direction von der hiesigen Firma W. J. Schunda ein Tárogató bezogen hat, welches jedoch unverwendbar ist. Mit dem ruhigsten gewissen erlaube mir daher eines die von mir selbst construirten Tárogató höflichst zu anempfehlen. Was die reinheit der Stimmung und solide Ausführung anbelangt nehme die vollste Garantie an. Die Tárogató's sind in der oberen und unteren Lage rein stimmend, welche von den untersten bis zu den ober den Linie mit der richtige Aplication ohne die sogenanten Kunstgriffe, schpielbar. Tárogató's erzeuge ich in „C" „B" „A" „As" und „G" Tonarten. Sollte das Instrument als Probe an die löbliche Direction eingesandt werden, bitte höflichst mir anzeigen zu wollen, in welcher Tonart eines gewünscht wird. Hochachtungsvoll Ergebenster J. Stowasser K.u.k. Hofinstrumenten Fabrik.

Daß die Direktion des Hofoperntheaters in Wien trotz aller Probleme, die sich um das Instrument Schundas entwickelt haben mögen, noch immer vom Tárogató als idealem Instrument für die Interpretation beider Hirtenreigen überzeugt war, geht aus dem Antwortschreiben an Stowasser hervor, in dem er gebeten wird, ein Tárogató in As zu übermitteln :43

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ÖSA, Hofoper 1902, Karton 170, Akt X 25.

,Das ist der richtige Ton, den Richard Wagner vergebens gesucht

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K. und k. Direction des k. k. Hof-Operntheaters 27. November 1902 J. Stowasser Kais. U. könig. Hof-Instrumentenmacher Budapest II. Ker. Lanczhidu 5. Geehrter Herr! In höflicher Erwiederung Ihres geehrten Schreibens vom 22. November d. J. erlaube ich mir Ihnen mitzutheilen, daß Sie probeweise dem Hofoperntheater ein Tärogato in As überschicken können und würde dasselbe im Monat Dezember bei der Oper „Tristan und Isolde" gespielt werden[.] Sollte dieses Instrument den Anforderungen genügen, so wäre ein Ankauf, einer solchen Schalmei seitens der Hofoperndirection nicht auszuschließen. Hochachtungsvoll Videat! Ribitsch Rosé Die k: u. k: Dir. d. k. k. Hofoptr Die glückliche Möglichkeit, mit dem Hofoperntheater in Wien ins Geschäft zukommen, versuchte Stowasser schnell zu nützen, denn er kündigte bereits am 2. Dezember 1902 die Sendung des gewünschten Tärogatos in As nach Wien an: 4 4 J. Stowasser Budapest II. ker. Länczhid u. 5. Budapest, 1902 Decz. 2. An die lobi. Direction des k.u.k. Hofoperntheaters Wien. Bezugnehmend auf Ihre w. Zuschrift Z. X-25/902 beehre mich höflichst bekannt zu geben, daß das „Tärogato" in „As" im Laufe dieser Woche eingesendet wird. Hochachtungsvoll J. Stowasser Am 10. Dezember übermittelte Stowasser sodann das I n s t r u m e n t postalisch der Direktion der Wiener Hofoper und hielt fest, daß von ihm eine „Erklärung" beigeschlossen wurde. Es ist anzunehmen, daß auch Stowasser die drohenden Intonationsprobleme und technischen Eigenheiten des Tärogatos, mit denen die Orchestermusiker konfrontiert werden, k a n n t e und Ratschläge zum Spielverhalten, zur Grifftechnik eventuell auch zum Ansatz erteilte :45

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ÖSA, Hofoper 1902, Karton 170, Akt X 25. ÖSA, Hofoper 1902, Karton 170, Akt X 25.

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J. Stowasser Budapest II. ker. Länczhid u. 5. Budapest, 1902 Decz. 10 An die löbl. Direction des k . u . k . Hofopern Theaters Wien. Zeige der löbl. Direction höflichst an, daß mit dem heutigen Post das gewünschte Tärogatö Franco abgesandt wurde. Eine kleine Erklärung ist zur Ewentueller Einsicht beigepackt. — In der Hoffnung, daß das Instrument in jeder Hinsicht entspricht, zeichne Hochachtungsvoll J. Stowasser Nachdem das Instrument in Wien angekommen war, stellte sich wohl schon nach der ersten Ansicht heraus, daß es für die Passage in Tristan und Isolde unbrauchbar war, da der tiefste Ton f, für den eine zusätzliche Klappe nötig gewesen wäre, mangels dieser nicht spielbar war. Darüber hinaus dürften die Musiker vor Intonationsschwächen gestanden sein, die selbst mit Hilfsgriffen nicht auszugleichen waren. Der Klarinettist der Hofoper, Franz Bartolomey, der offensichtlich von Heinrich Hiekisch einst in das Spiel des Tärogatös eingewiesen wurde und die Reigen blasen sollte, bezeichnete das Instrument von Stowasser als „nicht verwendbar" und ließ es von der Direktion an den Hersteller retournieren. Folgende zwei undatierte an Stowasser adressierte Schreiben sind in den Hofopernakten skizziert: 4 6 Euer Wohlgeboren! Mit heutiger Post retournierten wir Ihnen das von unserem Orchestermitglied H. Bartolomey als nicht verwendbar bezeichnete Instrument „Tärogatö" in As und theilen Ihnen gleichzeitig mit daß für das „Tarogato in B" der darauf zu bezahlende Btg von K 120,- in kürzester Zeit angewiesen werden wird. K. und K. Direction des K. K. Hofoperntheaters. Und: Geehrter Herr Stowasser! Mit heutiger Post ging heute an Ihre werte Adresse das uns seinerzeit übersandte Tärogatö |: As: | retour, da es unbrauchbar ist, weil der tiefste Ton a, f klingend, nicht vorhanden, außerdem die Stimmung unausgeglichen und eine reine Intonation fast unmöglich ist. [gestrichen: [...] da es in der Stimmung sehr unausgeglichen klingt. Der Ton ist in der Tiefe zu wenig nach der B Klappe müßte noch eine A Klappe vorhanden sein, weil der tiefste Ton F klingend notwendig ist.] Die k : u. k. Dir. d. k. k. Hofoperntheaters 46

ÖSA, Hofoper 1902, Karton 170, Akt X 25.

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Die Retournierung des Tärogatö in As an die Firma Stowasser dürfte auch das vorläufige Ende der Verwendung des ungarischen Nationalinstruments im Wiener Hofoperntheater markieren. Retrospektiv betrachtet, wäre es zu einer positiveren Beurteilung des Tärogatös und vielleicht auch zu reformierenden baulichen Weiterentwicklungen des Instruments gekommen, hätte Gustav Mahler Heinrich Hiekisch, von dessen Interpretation und Spieltechnik er überzeugt war, weiterhin an der Hofoper als Gastmusiker engagiert. Das Tärogatö wurde auch nach seinem Einsatz in Wien in den großen Opernhäusern außerhalb Ungarns gespielt. Im August 1904 führten es Hiekisch und Schunda in Bayreuth vor, wo Hans Richter ein Probespiel organisierte. Der illustre Kreis anwesender Hofkapellmeister und Kapellmeister aus Berlin, Karlsruhe, Hamburg, Breslau, Dresden und Paris, sowie Siegfried Wagner wurden vom Tärogatö überzeugt. Auch in Bayreuth sollte das Instrument zukünftig eingesetzt werden. Richter, der in der Oper Covent-Garden dirigierte, ließ Heinrich Hiekisch regelmäßig nach London einladen, um dort das Tärogatö in Tristan und Isolde zu spielen. Interessanterweise wird allerdings ausschließlich von der Interpretation der lustigen Weise berichtet, was die Frage aufwirft, ob etwa auch Schundas im Umfang erweitertes Tärogatö in As das Englischhorn letztendlich doch nicht optimal ersetzen konnte und seine Rolle als Substitut der Holztrompete beschränkt blieb. Auf Empfehlung von Hans Richter wurden jedenfalls Tärogatös von Schunda auch in den Opernhäusern von Brüssel und Paris angeschafft. 47 1906 berichtete man noch immer über das Tärogatö der Firma Schunda, das auch in dieser Saison in Bayreuth eine vollkommen zufriedenstellende Interpretation des lustigen Reigens ermöglicht hätte. 48 Vorgeführtes

Tonbeispiel auf der CD

[13] Nigun (trad. jüdisch), gespielt auf einem Tärogatö in B der Werkstatt J. Stowasser, das zirka 1920 angefertigt wurde und in der Sammlung alter Musikinstrumente verwahrt bzw. ausgestellt wird (SAM 1066).

Siehe dazu auch Farbtafel XI.

47 48

Zeitschrift Zeitschrift

für Instrumentenbau, für Instrumentenbau,

Nr.34/24. Jg., Leipzig September 1904, S. 1000. Nr.34/26. Jg., Leipzig September 1906, S. 1073

KLAUS HUBMANN

(Graz)

Wienerische) Fagotte um 1900 Wenn der langjährige Solofagottist der Wiener Philharmoniker und verdienstvolle Lehrer an der Wiener Musikhochschule, Karl Öhlberger (1912-2001), 1944 in einem Glückwunschschreiben zu Wilhelm Hermann Heckeis 65. Geburtstag mitteilen konnte, daß nun alle in Wien tätigen Berufsfagottisten auf Instrumenten der Firma Heckel aus Biebrich am Rhein ihren Dienst versehen, so wird hier implizit die endgültig vollzogene Abkehr vom Wiener Fagott angesprochen, die um 1900 ihren Anfang genommen hatte.1 Um die Zusammenhänge nachvollziehen zu können, ist hier eine kurze Darstellung des Wiener Holzblasinstrumentenbaues im 19. Jahrhundert notwendig: Die Gründung der Wiener Philharmoniker 1842 fällt in eine Zeit, in der sich der Wiener Holzblasinstrumentenbau auf einem bis dahin noch nie da gewesenen Höhepunkt befand. Für die in Wien gebauten Blasinstrumente erschien zunächst 1825 die Theoretisch praktische Oboe Schule2 von Joseph Seilner (1787—1843), dem ersten Oboisten des Hofopernorchesters und Lehrer am Wiener Konservatorium, welcher 1835 bzw. 1840 die Neueste Wiener FlötenSchule3 sowie die Neueste Wiener Clarinetten-Schule4 und die Neueste WienerFagott-Schule5 von Joseph Fahrbach (1804-1883) folgten. In diesen Lehrwerken

1

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5

Siehe: Michael Nagy, Zum Fagottbau in Wien, in: Bericht über die vierte Internationale Fachtagung zur Erforschung der Blasmusik UsterISchweiz 1981, hg. v. Eugen Brixel (= Alta Musica 7), Tutzing 1984, S.25. Theoretisch praktische \ OBOE SCHULE \ verfaßt und Seiner Kaiserlichen Hoheit und Eminenz, \ dem Durchlauchtigsten Hochwürdigsten Herrn Herrn \ ERZHERZOG \ RUDOLPH VON OESTERREICH \ CARDINAL UND ERZBISCHOF VON OLLMÜTZ \ PROTECTOR DES MUSIKVEREINES | des Oesterreichischen Kaiserstaates | in tiefester Ehrfurcht gewidmet | von | JOSEPH SELLNER. \ Mitglied der k:k : Hofkapeile, und Professor der Oboe \ am Wiener Conservatorium der Musik. \ ERSTER THEIL. | ... | Wien bey Sauer & Leidesdorf. \ No 809. [1825] Neueste \ WIENER | FLÖTEN-SCHULE | von Jos. Fahrbach. | Erster Flötist im kkp. Theater an der Wien. \ 7tes Werk \ Eigenthum der Verleger. \ Eingetragen in das VereinsArchiv | WIEN bei Ant. Diabelli und Comp. | ... | [Verlagsnummer:] 5490. [1835] NEUESTE \ WIENER CLARINETTEN-SCHULE \ mit \ besonderer Rücksicht \ auf den Selbstunterricht, nach einer \ eigenen, ganz neuen, sehr faßlichen Methode \ bearbeitet | von | JOSEPH FAHRBACH \ Mitglied des k.k. Hofopernorchesters. \ 16tes Werk. | ... | WIEN, | bei Ant. Diabelli u. Comp. \ No 6984. [1840] NEUESTE \ WIENER-FAGOTT-SCHULE \ mit | besonderer Rücksicht auf den \ Selbstunterricht | nach einer eigenen, ganz neuen, sehr fasslichen, \ praktischen Methode \ bearbeitet \ von | JOSEPH FAHRBACH, | Mitglied des k.k. Hofopern-Orchesters. \ IT-Werk. | ... | WIEN, \ bei Ant. Diabelli u. Comp. \ [Verlagsnummer:] 6985. [1840]

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Klaus Hubmann

werden besonders die Wiener Holzblasinstrumentenbauer Stephan Koch sen. (1772-1828), Johann Ziegler sen. (1794/95-1858) und Johann Tobias Uhlmann (1776-1838) hervorgehoben. Stolz vermerkt Fahrbach 1840: Die Wiener=Instrumente sind lange schon allgemein als die Besten anerkannt, und man kann auch mit Recht behaupten, daß ausser Wien keine andere Stadt der Welt in dieser Beziehung so durchaus Gelungenes geliefert hat.6 Bekanntlich standen ja wenige Jahrzehnte zuvor beinahe sämtliche Instrumentenbauer vor dem Problem, auf die neuen Gegebenheiten der bürgerlichen Musikkultur reagieren zu müssen. Zu ihren dringlichsten Aufgaben gehörte nun, den neuen Anforderungen vor allem in Bezug auf Lautstärke und klangliche Ausgewogenheit in allen Tonarten gerecht zu werden. Dies führte zu einem in der Geschichte des Musikinstrumentenbaues einzigartigen Ausmaß von Experimenten, Neuschöpfungen aber auch Fehlentwicklungen. In hohem Maße waren Forscher- und Erfindergeist, Fantasie und Hellhörigkeit des Instrumentenbauers, nun zum kongenialen Partner des Musikers avanciert, gefordert. Die Erfindung und Weiterentwicklung der Ventile für Horn und Trompete, die zahlreichen Veränderungen im Geigenbau (Halsneigung, Baßbalken, Innenkonstruktion etc.), die Konstruktion und Einführung vollkommen neuer Instrumente, wie z.B. Tuba oder Saxophon - die Reihe ließe sich noch lange fortsetzen - sind nur in Zusammenhang mit den neuen Bedingungen zu erklären. Freilich kann in wenigen Sätzen ein so komplexes Thema wie die notwendig gewordenen Veränderungen im Holzblasinstrumentenbau nicht annähernd ausreichend beschrieben werden, doch darf wenigstens cum grano salis konstatiert werden, daß es seit den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts, wenn auch gegenseitige Beeinflussungen - bis hin zur regelrechten Werkspionage — nicht zu übersehen sind, zu jeweils unterschiedlichen Lösungen in den bedeutendsten europäischen Zentren des Instrumentenbaues gekommen ist. Sehr vereinfacht dargestellt, gelang es in Wien - anders als etwa in Dresden oder Paris, wo man mit anderen Materialien (exotische Holzarten, Metall etc.) oder anderen Bohrungsverläufen experimentierte, was nicht selten mit klanglichen Einbußen verbunden war - , die Lautstärke der Holzblasinstrumente zu erhöhen ohne den warmen Klang aufgeben zu müssen. Dies erreichte man einerseits durch spezielle Ausformungen der Schallstücke - Wiener Fagotte, die weiterhin aus dem bewährten Bergahornholz gedrechselt wurden, haben bis zum späten 19. Jahrhundert meist breit auslaufende Stürzen, oftmals mit trichterförmigem Aufsatz aus Messing bzw. Neusilber oder Oboen fast immer eine ungewöhnliche Ausbeulung der Becher - andererseits durch eine besondere Klappenausstattung,7

6 7

Joseph Fahrbach, Neueste Wiener Clarinettenschule, Wien o.J. [1840], S.17. Zu einer Wiener Besonderheit, nämlich der Anlage der As-Klappen beim Fagott, siehe: Michael Nagy, Zur Geschichte und Entwicklung der Wiener Holzbläserschule, in: Klang

Wiener(ische) Fagotte um 1900

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welche eine Reihe von Alternativgriffen ermöglichte, die den Ton tragfähiger, obertonreicher und flexibler machten.8 Auch die Facon bzw. Größe der Fagottrohre spielt in diesem Zusammenhang eine große Rolle. Damit der Ton deutlicher wird, gingen die Fagottisten dazu über, relativ kleine und schlanke Rohre zu blasen. Dies erforderte allerdings auch einen anderen Umgang mit dem kleinen Ventilloch im S-Bogen des Instrumentes. Weil mit geöffnetem Ventilloch die Tiefe bei kleinen und schlanken Rohren sehr schwer anspricht, spielte man in Wien weitgehend mit geschlossenem S-Bogenloch, ja man ging sogar dazu über, S-Bögen von vorneherein ohne Loch zu bauen. Die Funktion des Ventillochs übernahm, wenn es nötig war, die oberste Oktavklappe, respektive die hohe d-Klappe - z.B. bei besonders heiklen Einsätzen in der Höhe oder bei manchen Bindungen von der kleinen in die eingestrichene Oktave. Auch bildeten sich allmählich für bestimmte Fagott-Töne aus Gründen der besseren Ansprache eigene Griffe heraus, wie z.B. das schon legendäre „lange" eingestrichene d unter Hinzufügung dreier Finger der rechten Hand. Wien wird gerne auch heute noch als „Insel im Weltmeer der Musik" gesehen. Man spricht u.a. von einem ganz spezifischen „Wiener Bläserstil", der zu einem beträchtlichen Teil von spielpraktischen Besonderheiten geprägt ist. In diesem Zusammenhang ist auch vom „Streben nach der prinzipiell besseren' Tonqualität - auch um den Preis, daß sie nur durch eine komplizierte Spieltechnik erreicht werden kann"9 die Rede. Als Vorzüge bzw. Eigenheiten des „Wiener Bläserstils" gelten der Nuancierungsreichtum in Tongestaltung und Tonfärbung sowie der sehr sparsame und differenzierte Umgang mit dem Vibrato. So wird z.B. lediglich das Fingervibrato („Beben"), welches durch wiederholtes schnelles Schließen und Offnen eines oder mehrerer Löcher bzw. durch ein zitterndes Schweben der Finger über den offenen Löchern erzeugt wird, als einzige Tonbelebungsmöglichkeit in der handschriftlich erhaltenen Fagottschule des Theobald Hürth (1793-1858), Mitglied des Hofopernorchesters und Fagottlehrer am Wiener Konservatorium, anerkannt. Das später übliche Zwerchfell-Vibrato wird in keiner einzigen Wiener Bläserschule des 19. Jahrhunderts erwähnt. Die weiter oben genannten Schulen liefern den Beweis dafür, daß spieltechnische Usancen, klangliche Vorlieben, musikalische Gewohnheiten, die wir heute gerne als typisch wienerisch bezeichnen,

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9

und Komponist. Ein Symposion der Wiener Philharmoniker. Kongressbericht, hg. v. Otto Biba und Wolfgang Schuster, Tutzing 1992, S.273. G u n t r a m Wolf, Besonderheiten von Konstruktion und Klang der Wiener Holzblasinstrumente in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Musizierpraxis im Biedermeier. Spezifika und Kontext einer vermeintlich vertrauten Epoche, Symposionsbericht Graz 2001, hg. v. B a r b a r a Boisits und Klaus Hubmann, Wien 2004, S.133f. Michael Nagy, Der Wiener Klang — ein Stil ? Bemerkungen zu einem oft strapazierten Begriff im Wiener Musikleben, in: fagott forever. Eine Festgabe für Karl Öhlberger zum achtzigsten Geburtstag, hg. v. Walter H e r m a n n Sallagar und Michael Nagy, Wilhering 1992, S. 142.

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Klaus Hubmann

Abhllduiic ilesiiiirotics. j vr nimmt man nun ¿en Fagott zur Hand und vergleicht sein «Instrument und ii-*"'- ' U .,. ^jj , ,i ICH folgenden T.wei Abbildungen. JJieht Jeder wird vielleicht in Bezug auf die Stcllan.' u.iü r li der Klappen genau einend diesen Abbildungen'ähnHchen Fagutt haben: man wird Äcii j' • < lia!d über die Benr;ftjgjng der verschiedenen Klappen tu Recht finden können N e u e s t e Art mit 16 K l a p p e n .

Ä l t e r e Art mit II I i l ä p p e n .

It. & t . >u ii n i

Abbildung 1: Joseph Fahrbach, Neueste Wiener Fagott-Schule

[1840], S. 5.

Wiener(ische) Fagotte um 1900

F A G O T T

-

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S C H U L E .

Hier nimmt mau den Fagott zur Hand, und vergleicht sein .Instrument und dessen Klappen mit den («Igfenden iwti Abbildungen. Nicht Jeder wird vielleicht in Beiug anf die Stellung und 'Artr, a f< i der Klappen genau einen, diesen Abbildungen ähnlichen Fagutt haben. uiau wird sieh jedneli bald über die Benennung der trerieKiedenen Klappen m Hecht finden bannen. Seue»te Art mit 1« Klappen. Altere Art. mit 11 Klappe».

D. &

7 8 ; .t7.

Abbildung 2 : Andreas Nemetz, Allgemeine Musikschule Diabelli [1844], S . 4 6 .

für Militair-Musik,

op.22,

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Klaus Hubmann

weit ins 19. Jahrhundert zurückreichen10 bzw. zeigen sehr deutlich, wie stark regionale Eigentümlichkeiten im Instrumentenbau auch Auswirkungen auf die Ausformung eines speziellen Musizierstils haben können. Trotzdem haben sich im Wiener Fagottbau des späteren 19. Jahrhunderts gewisse Annäherungen an das deutsche System breit gemacht. Dies betrifft vor allem die Klappenausstattung, die auf eine Vereinheitlichung der Grifftechnik hinzielt.11 In Hinblick auf die Konstruktion hielten die Wiener Instrumentenbauer an alten, überlieferten Bautraditionen - so hatten ihre Fagotte im Unterschied zu Heckel-Instrumenten z. B. keinen Stiefel-Abguß für das Kondenswasser - fest. Warum sich die Fagottisten der Hofoper vom typischen Wiener Fagott - die Instrumentenbauer Karl Stecher (1820-1904), Wenzel Bradka (1822-1907) und Franz Koktan sen. (1842—1901) gehören zu den letzten bedeutenden Fagotterzeugern in Wien - abwandten und bald nach 1900 auf deutsche Instrumente, allen voran solchen der Firmen Georg Berthold & Söhne (Speyer) und Wilhelm Heckel (Biebrich am Rhein/Wiesbaden) - letztere erlangte schließlich so etwas wie eine Monopolstellung - umstiegen, läßt sich heute mit wenigen Sätzen nicht eindeutig beantworten. Die Gründe dafür dürften wohl auf mehreren Ebenen zu suchen sein. Die erste grundlegende klangliche Umstellung in der Holzbläsergruppe des Wiener Hofopernorchesters und der Wiener Philharmoniker geschah bei der Oboe. Spielte man in Wien bis zum späten 19. Jahrhundert auf Oboen, die dem Instrumententypus entsprechen, den Joseph Seilner (1787-1843), erster Oboist des Hofopernorchesters und Lehrer am Wiener Konservatorium, in der Zeit um 1820 bis 1825 in Zusammenarbeit mit dem Holzblasinstrumentenbauer Stephan Koch sen. entwickelt und in seiner Theoretisch praktischen Oboe Schule vorgestellt hatte, so zeichnete sich 1880, als der Dresdner Oboist Richard Baumgärtel nach überlegen gewonnenem Probespiel die Nachfolge des bekannten Musikers und Lehrers Carl Pöck antrat, eine entscheidende Wende ab. Als fünf Jahre danach bei der Internationalen Stimmton-Conferenz in Wien (1885) eine Absenkung des Stimmtones um sechs Hertz beschlossen wurde, kam Baumgärtel mit seiner relativ hoch gestimmten Oboe des Dresdner Holzblasinstrumentenbauers Carl Theodor Golde (1803-1873) kaum mehr zurecht. Um die Intonationsschwierigkeiten in den Griff zu bekommen ohne sein vertrautes Instrumentenmodell aufgeben zu müssen, ließ Baumgärtel um 1890, basierend auf seiner Golde-Oboe12 vom Wiener Holzblasinstrumentenbauer Josef Hajek

10

11 12

Siehe: Klaus Hubmann, Bemerkungen zur Wiener Holzbläsermethodik, in: Musizierpraxis im Biedermeier. Spezifika und Kontext einer vermeintlich vertrauten Epoche, Symposionsbericht Graz 2001, hg. v. Barbara Boisits und Klaus Hubmann, Wien 2004, S. 143-147; sowie zum Themenbereich Vibrato: Greta Moens-Haenen, Vibrato im Biedermeier, in: ebenda, S. 151-165. Siehe: Nagy, Zum Fagottbau in Wien, S.68ff. Dieses Instrument befindet sich heute in der Sammlung alter Musikinstrumente des Kunsthistorischen Museums in Wien, SAM 609.

Wiener(ische) Fagotte um 1900

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(1849—1926) jenen Oboentyp entwickeln, der später unter der Bezeichnung „Wiener Oboe" bekannt wurde und noch heute in den großen Wiener Orchestern gespielt wird.13 Letztlich ist diese, die heute zusammen mit dem „Wiener Horn" einen wesentlichen Teil des spezifisch Wienerischen Bläserklanges ausmacht, eigentlich eine deutsche Oboe, die an die Gegebenheiten und Bedürfnisse der Wiener Orchester angepaßt wurde. Freilich ist die Angleichung an eine völlig andere Stimmtonhöhe im Holzblasinstrumentenbau eine ziemlich komplizierte Angelegenheit. Baumgärtel und Hajek gingen die Arbeit empirisch an, zahlreiche Versuche waren nötig - es wird in diesem Zusammenhang von einer Schublade verbohrter Unter- und Oberstücke gesprochen14 — und führten sehr wahrscheinlich erst nach längerer Zeit zum gewünschten Ergebnis. Mit welchen Schwierigkeiten der Instrumentenbauer konfrontiert ist, möge ein regelrechter Stoßseufzer Wilhelm Hermann Heckeis nach der abermaligen Erhöhung der Stimmtonhöhe in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ausdrücken: Für den Blechblas-Instrumentenbauer und den Geigenmacher, für den Klavierbauer und den Paukenbauer bringt dieser kleine Unterschied keine technische Schwierigkeit, aber für uns Holzblas-Instrumentenbauer war diese Änderung mit unglaublichen Zeitopfern, Überlegungen, Versuchen und Geldkosten verknüpft. Wir können nicht einfach ein paar Millimeter abschneiden, sondern für uns heißt es von grundaus umbauen, denken, berechnen, suchen, blasen, probieren.15 Beim Fagott waren geringfügige Änderungen der Stimmtonhöhe mithilfe von Stimm-Auszügen am Flügel, wie sie bei Wiener Instrumenten ab etwa den Dreißigerjahren des 19. Jahrhunderts recht häufig anzutreffen sind,16 durchaus möglich. Allerdings könnten auch hier die Beschlüsse von 1885 mit der doch ziemlich signifikanten Umstellung den Wiener Berufsfagottisten und Instrumentenbauern große Probleme bereitet haben. Daß kleine Betriebe, wie es die Werkstätten in Wien eben waren, schwer einer mächtigen Konkurrenz aus Deutschland standhalten konnten, liegt auf der Hand. Wahrscheinlich trug die bereits oben angesprochene Annäherung an das deutsche Fagott im Wiener Holzblasinstrumentenbau des späten 19. Jahrhunderts ebenfalls nicht unwesentlich dazu bei, daß die Instrumente einfach leichter miteinander vergleichbar und letztlich auch ohne größere spieltechnische Umstellungen austauschbar wurden.

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16

Siehe: Michael Nagy, Die Wiener Oboe - ein traditionelles Instrument hat Zukunft!, in: Das Orchester 34 (1986), S. 122-127. Walter Hermann Sallagar, Wiener Holzblasinstrumente, in: Tibia 1978, S.4. Wilhelm Heckel, Der Fagott. Kurzgefasste Abhandlung über seine historische Entwicklung, seinen Bau und seine Spielweise [...] 1899, durchgesehen und wesentlich ergänzt von Wilhelm Hermann Heckel, Leipzig 1931, S.33. Nagy, Zum Fagottbau, S.65f.

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Ein weiterer Grund für die Abkehr vom Wiener Fagott dürfte auch in einer massiven Werbekampagne, verbunden mit einer gezielten Niedrigpreispolitik der Firma Heckel in den Jahren um 1900 zu suchen sein.17 1899 gab Wilhelm Heckel als Gratis-Ausgabe zur Förderung der Kunst und Wissenschaft eine Broschüre mit dem Titel Der Fagott18 heraus, die zwei Jahre später mit einem Nachtrag versehen wurde. Die Schrift, eine, wie es im Untertitel heißt, „kurzgefasste Abhandlung über seine historische Entwicklung, seinen Bau und seine Spielweise", preist natürlich sehr ausführlich die Vorzüge der eigenen Produkte. Oftmalige, teilweise auch wertende, Vergleiche mit Instrumenten anderer Herkunft - dies betrifft in erster Linie das damals nicht nur in Frankreich, sondern im gesamten angloamerikanischen Raum verwendete französische (bzw. laut Heckel: „welsche") Fagott — lassen darauf schließen, daß es der deutschen Firma sehr stark darum ging, neue Märkte zu erobern. Tatsächlich gehörte die Firma Heckel zu jenen Werkstätten, die am raschesten auf neue Anforderungen vor allem spieltechnischer Art reagierten. In der Zeit um 1900, als zahlreiche Experimente der Firma die gewünschten Resultate brachten, hatte Heckel einen Stand erreicht, der ihn wohl den meisten anderen Werkstätten überlegen machte. Mit einem gerüttelt Maß an Selbstvertrauen konnte er schließlich berichten: Im Frühjahr 1901 gelang es der Firma Heckel, dem Fagott eine Bohrung und eine Konstruktion zu geben, welche wohl alle Wünsche der Fagottisten erfüllen werden. Obwohl der bisherige Fagott für absolut tadellos gehalten wurde, da eben keine besseren Instrumente bekannt waren, muss doch von allen Seiten eingestanden werden, daß dieses Modell bei Weitem die bis dahin bekannten Fagotte übertrifft.19 Es ist nicht unwahrscheinlich, daß die Umstellung auf deutsche Fagotte im Orchester der Wiener Hofoper auch auf einen direkten Einfluß Gustav Mahlers zurückgeht, der ja bekanntlich zu dieser Zeit, nämlich von 1897 bis 1907 Artistischer Direktor der Hofoper war und von 1898/99 bis 1901 die Philharmonischen 17

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siehe: Beatrix Darmstädter, Die Blasinstrumente im Orchester des Wiener Hofoperntheaters zur Direktionszeit Gustav Mahlers, in diesem Band. Tatsächlich sind aus österreichischem Besitz Fagotte der Firma Heckel so gut wie ausschließlich mit Fabrikationsnummern über 4000 nachweisbar, was auf die Zeit um 1900 oder danach hinweist. Wilhelm Heckel, Der Fagott. Kurzgefasste Abhandlung über seine historische Entwicklung, seinen Bau und seine Spielweise, Biebrich a. Rhein 1899. Die Firma Heckel hält sich bis heute an die sprachlich korrekte maskuline Form (von ital. „II fagotto"). Heckel, Der Fagott, Nachtrag 1901, S. 1. Wie stark Mahler mitunter in bestehende Orchesterstrukturen eingriff, beweist die Tatsache, daß er in den letzten Jahren seiner Wiener Operndirektion die beiden Flötisten Arrey van Leeuwen und Jacques Lier engagierte, mit welchen die Boehm-Flöte im Hofopernorchester eingeführt und die typische Wiener Flöte des Johann Ziegler-Typs mit ihrer verkehrt konischen Bohrung abgelöst wurde.

Wiener(ische) Fagotte um 1900

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Konzerte leitete.20 Sehr interessant in diesem Zusammenhang dürfte die Tatsache sein, daß niemand anderer als Wilhelm Jahn (1835-1900), Mahlers Vorgänger als Direktor der Wiener Hofoper, 1879 Wilhelm Heckel nach Bayreuth berufen hatte. Heckel wohnte damals mehrere Tage bei Richard Wagner, welchem der herrliche Klang und der Wohllaut des neuen Heckel-Fagotts auffiel [...], was den Meister [...] zu der Aeusserung veranlasste: „Es sind mir nie bessere und schöner klingende Fagotte, als die Heckel'schen Fagotte vorgeführt worden."21 Die Wiener Fagottisten behielten auch am Heckel-Fagott spielend weitgehend ihre von den Wiener Instrumenten her gewohnten Griffe bei und bliesen nach wie vor auf ihren typischen Wiener Rohren bei geschlossenem S-Bogenloch. Sie machten das deutsche Fagott sozusagen zu einem „Wahl-Wiener". Gustav Mahler wird gerne als großer Reformer der Orchesterkultur angesehen. Dies muss allerdings in Bezug auf den Wiener Orchesterklang und hier speziell die Bläser betreffend mit großer Vorsicht betrachtet werden. Wenn sich auch in seiner Ära, vielleicht sogar unter seinem Einfluß, Tendenzen zur Internationalisierung des Instrumentariums, vor allem bei den Holzbläsern (mit Ausnahme des Spezialfalles Oboe) breit gemacht hatten, schwebte ihm eine Vereinheitlichung bzw. Nivellierung des Klanges mit Sicherheit nicht vor. Seine akribisch genauen Vortragsbezeichnungen bis hin zu unüblichen Spielanweisungen wie „Trichter in die Höhe" oder Aufforderungen zum Stehendspielen, die heute in der Praxis leider nicht selten ignoriert werden, zeigen recht deutlich, wie sehr es ihm um die Bewahrung des ungeheuren Nuancenreichtums der Musizierpraxis des 19. Jahrhunderts gelegen war. Wenn immer wieder im Zusammenhang mit dem Begriff „Wiener Klangstil" davon gesprochen wird, daß dem „Wiener Bläser eine sehr breite Palette von Möglichkeiten zur Tongestaltung und Tonfärbung zu Verfügung"22 steht, dann scheint es nicht verwegen zu sein, Mahler gerade unter diesem Gesichtspunkt als einen wichtigen Bewahrer und Förderer des Wiener Bläser-Klangstils zu bezeichnen. Man könnte den Bogen sogar noch weiter spannen und z. B. Johann Mattheson zitieren, der davon spricht, daß in jeder Art von Musik „die Gemüths=Bewegungen so sehr unterschieden seyn müssen, als Licht und Schatten immermehr seyn können".23 Dieses „Licht und Schatten"- (bzw. Chiaroscuro-) Prinzip, - der Begriff stammt aus der Malerei - ,

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Heckel, Der Fagott, S. 11 f. Nagy, Zur Geschichte und Entwicklung der Wiener Holzbläserschule, S. 142. Johann Mattheson, Der vollkommene Capellmeister, Hamburg 1739, Reprint Kassel und Basel 1954, S.208. Zu diesem Themenkreis, siehe auch: Werner Braun, Licht und Schatten in der Musik: Aspekte eines Denkbildes (1680-1810), in: Festschrift Lorenz Dittmann, hg. v. HansCaspar Graf von Bothmer, Frankfurt a. M. 1994, S. 37-46.

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Klaus Hubmann

findet sich immer wieder in Texten des 18. und f r ü h e n 19. J a h r h u n d e r t s als Beschreibung eines nuancierten, facettenreichen Spiels zeitgenössischer Musiker. Bezeichnenderweise verwendet Paul Stefan dasselbe Wortpaar zur Charakterisierung von Mahlers Dirigierarbeit: Die Erfahrung langer Jahre gab ihm eine unfehlbare Sicherheit für die Bedürfnisse jedes Instruments, die Erfordernisse jeder Partitur. Deutlichkeit war ihm ein genaues Verhältnis von Licht und Schatten. 24 Lassen wir am Schluß, passend zu dem oben Gesagten, Gustav Mahler selbst zu Wort kommen, der 1896 an Max Marschalk schreibt: ..Wechsel und Gegensätzlichkeit ! Das ist und bleibt das Geheimnis der Wirkung!" 2 5

Auswahl aus den vorgeführten Tonbeispielen auf der CD : Gustav Mahler, I. Symphonie, 3. Satz, Takt 9f. [16-18] gespielt auf einem Fagott von Wenzel Bradka (1822-1907), Wien um 1865/70 (Sammlung Klaus Hubmann, Graz) [19] gespielt auf einem Fagott von Wilhelm Heckel (1856-1909), (Wiesbaden-) Biebrich, Baunummer 3998, um 1896 (Sammlung Franz Schönikle, Graz) [20] gespielt auf einem Fagott von Heinrich Grenser (1764—1813), 9-klappig, Flügel aus Buchsbaum, Stiefel, Baßröhre und Stürze (Schallstück) aus Ahorn, Dresden um 1810 (Sammlung Klaus Hubmann, Graz) [21] gespielt auf einem Fagott der Firma Georg Berthold & Söhne, Speyer, Baunummer 10177, um 1890/1900 (Sammlung Walter Steinmetz, Graz) Siehe dazu auch Farbtafeln VI und VII.

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Paul Stefan, Gustav Mahler. Eine Studie über Persönlichkeit und Werk. Neue und vermehrte Ausgabe, München 1920, S. 63. Gustav Mahler, Brief an Max Marschalk vom 12. April 1896 (GMB S. 176).

EDWARD H . TARR

(Säckingen)

Die Trompete um 1900 bei Richard Strauss und Gustav Mahler 1. Von der Naturtrompete über die Stopftrompete zur Ventiltrompete Am Ende der Barockzeit standen die gebräuchlichen Trompeten meist in C und D. Die Tonart F kam gelegentlich vor: einmal bei J. S. Bach, etwas öfter, aber dennoch nicht häufig, bei Telemann und Graupner. Das waren Naturtrompeten, die so genannt werden, weil sie die Tonhöhen der Naturtonreihe hervorbringen. Während der Klassik wurde die Zahl der Trompetenstimmungen allmählich erhöht, eine Entwicklung, die man sehr gut bei Joseph Haydn verfolgen kann. Bis 1775 verlangte er nur C-Trompeten; danach folgten allmählich weitere Stimmungen: D (1775), B (1778-79) und Es (1793).1 Die höchste Stimmung der (Noch-)Naturtrompete in der Klassik war G. Trompeten wurden während dieser Zeit entweder in der tradierten langen Form mit einer doppelten Windung oder in einer kurzen Form mit einer zusätzlichen kürzeren Windung gebaut. 2 Die Kurztrompeten wurden in dieser Form wohl gebaut, um die Praxis des Stopfens - d. h. die Einführung der Hand ins Schallstück, um die Tonhöhe um einen Halb- und sogar einen Ganzton zu vertiefen - zu erleichtern. Dadurch war ein etwas eingeschränktes chromatisches Spiel möglich, allerdings mit mehr oder weniger stark divergierender Klangfarbe zwischen „offenen" und „gestopften" Tönen.3 Mit der Erfindung des Ventils für Blechblasinstrumente zwischen 1811 und 1814 wurden die Unzulänglichkeiten der Stopftrompete beseitigt und zum ersten Mal ein vollchromatisches Spiel möglich gemacht. Die Ventiltrompete übernahm von dem Vorgängerinstrument auch die verschiedenen Stimmungen, G (später F) war auch bei ihr die höchste Stimmung. Die tieferen Stimmungen (E, Es, D, C, H, B, A) wurden erreicht, indem passende Bögen ins Instrument gesteckt 1 2

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Siehe E. H. Tarr, "Haydn's Trumpet Concerto (1796-1996) and Its Origins", Journal of the International Trumpet Guild 21/1 (September 1996), S. 3 0 - 4 3 , hier S.32. Diese Entwicklung wurde zum ersten Mal systematisch dargestellt von Roland Callmar, Die chromatisierte Trompete: Die Entwicklung der Naturtrompete bis zur Einführung der Ventiltrompete 1750-1850 (Diplomarbeit im Fach Barocktrompete, Schola Cantorum Basiliensis, 2003). Der klangliche Unterschied zwischen offenen und gestopften Tönen konnte auf dem Horn besser kaschiert werden als auf der Trompete, weswegen es eine reichere Literatur für Handhorn gibt, als für die Stopftrompete.

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wurden. Man spricht dabei von Aufsteck- und Einsteckbögen: Einsteckbögen werden irgendwo in die Mitte des Instruments, Aufsteckbögen zwischen Mundstück und Mundrohr eingeführt. Die neuen Ventilinstrumente wurden in allen Lagen vom Sopranino bis zum Kontrabaß am dankbarsten und schnellsten von den Militärkapellen übernommen, wo sie eine führende, klanglich weittragende Rolle sowohl als Melodie-, aber auch als Baßinstrumente spielten. Es dauerte etwas länger, bis sie sich im Sinfonieorchester einbürgern konnten. 4 Ein weiteres Blechblasinstrument neben der Trompete und dem Horn war das Kornett. Wie jene existierte auch dieses Instrument zunächst als Naturinstrument. Bezeichnend für das Kornett war neben der schwach konischen Bohrung die 4'-Lage, die auch beibehalten wurde, als das Instrument um 1828 zum ersten Mal Ventile bekam. 5 Diese Lage bildete einen wesentlichen Kontrast zu der der damaligen Trompete, die traditionell ein 8'-Instrument gewesen ist. Von Bach bis Beethoven war somit das hohe c'" der 16., bei 4'-Instrumenten hingegen der 8. Naturton. Während dieser Zeit gab es auch die ersten Trompeten als 4'-Instrumente, aber die romantische Trompete schlechthin war zunächst, wie bereits gesagt, die längere F-Trompete. Wir kommen weiter unten darauf zurück. F. G. A. Dauverne (1799-1874), seit 1833 der erste Trompetenprofessor am Pariser Conservatoire, übte in Frankreich einen großen Einfluß auf die Art und Weise aus, wie Komponisten für sein Instrument schrieben. Er mochte den Klang der Ventiltrompete nicht besonders und zog den der französischen Zugtrompete vor, wohl wegen deren klanglicher Nähe zur Naturtrompete; das cornet ä pistons bevorzugte er zur Bewerkstelligung schneller Passagen. Dauverne beeinflußte die französischen Komponisten seiner Zeit, allen voran Berlioz, in ihren Orchesterwerken die Trompetenpartien für zwei Kornette und zwei (Natur-, später Ventil-) Trompeten zu schreiben. Berlioz spielte eine wichtige Rolle, nicht nur weil er unter den Ersten war, die in Frankreich überhaupt für die neu erfundene Ventiltrompete komponierten, sondern vor allem wegen seiner 1843 erschienenen Instrumentationslehre, die jahrzehntelang in verschiedenen Auflagen und Bearbeitungen erschien und von allen Komponisten der folgenden Generationen eifrig studiert wurde. 6 Kein Geringerer als Wagner war während seines Paris-Aufenthalts, der von 1838 bis 1842 dauerte, von der französischen Instrumentationslehre stark beeinflußt. 4

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Diese ganze Entwicklung wurde am knappsten und treffendsten von Christian Ahrens dargestellt; siehe Eine Erfindung und ihre Folgen: Blechblasinstrumente mit Ventilen (Kassel etc., Bärenreiter 1986). Die französischen Bezeichnungen für diese beiden Formen waren cornet simple und cornet à pistons, wobei letzterer Begriff oft universell in den Partituren erschien, ungeachtet der nationalen Herkunft. Hector Berlioz, Traité d'Instrumentation et d'Orchestration, Paris, Henry Lemoine et Cie., 1843, 2 1855 (= Reprint der 2. Auflage: Westmead, Farnborough, Hants., Gregg International Publishers, 1970). Im folgenden: Traité.

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2. Wagners Praxis unter französischem Einfluß Analog zur französischen Instrumentierung mit zwei Naturtrompeten und zwei Ventilkornetten verlangte Wagner 1840 in Rienzi zwei Natur- und zwei Ventiltrompeten im Orchestergraben ;7 in späteren Werken waren die Ventiltrompeten im Orchestergraben, die Naturtrompeten in der Bühnenmusik. Gemäß der Devise von Berlioz, der versuchte, die Stimmungswechsel durch tonartliche Modulationen auszudrücken, war es wichtig, mit der Notierung nahe an C-Dur zu bleiben. 8 Es machte nichts, daß Berlioz Naturtrompeten und Wagner vollchromatische Ventiltrompeten im Sinne hatten. 9 Beiden Komponisten gemeinsam sind die häufig wechselnden Trompetenstimmungen. In den Spätwerken Wagners nahm deren Zahl sogar zu, ja es ging so weit, daß viele Stimmungswechsel von den Spielern rein zeitlich nicht mehr zu schaffen waren. 10 Ein Beispiel für diesen praxisfremden Brauch ist das Vorspiel zum 3. Akt von Lohengrin. Die Trompeten beginnen in der C-Stimmung, aber nur einen Takt später wechseln sie auf die E-Stimmung. Später wechseln sie ohne jegliche Pause über die D- wieder auf die C-Stimmung zurück. 11 Wie haben damalige Trompeter solche praxisfremden Stimmungswechsel bewerkstelligt? Durch Transponieren. Vorausgesetzt wird dabei der Gebrauch eines einzigen Instruments. Seit dieser Zeit gehört das Transponieren zum technischen Rüstzeug jedes Orchestertrompeters. 1882 verlangte Wagner als Erster im Parsifal-Yorspiel ein hohes klingendes c'" (ein geschriebenes g" für die F-Trompete). Das war auf der F-Trompete ein unerhört hoher Ton, denn sonst loteten damalige Komponisten auf den neuartigen Ventiltrompeten eher die Tiefe aus. Es wird einhellig angenommen, daß die damaligen Orchestermusiker diese Stelle auf der B-Trompete ausführten. Im übrigen gibt es eine kurze Stelle im 6/4-Teil des Vorspiels, wo Wagner die 1. Trompete in E notiert, während die 2. und 3. Trompeten in F bleiben. Keine überzeugende Erklärung ist bisher für diesen „Ausrutscher" vorgebracht worden.12

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In der Bühnenmusik verlangte er je sechs Ventil- und Naturtrompeten. Siehe „La trompette", Traité, S. 186-191. Eine Beobachtung, die zuerst Birkemeier gemacht hat. Siehe Richard Birkemeier, The Orchestral Trumpet of the Nineteenth Century: An Historical and Acoustical Survey (D. M. Diss., Northwestern University 1984), S.50. Siehe Birkemeier (1984), S. 49. Ibid. Gunther Schuller ist der Meinung, daß dieser Stimmungswechsel nur im Ohr Wagners war, da er nicht erwarten konnte, daß der betreffende Trompeter den Stimmbogen oder das Instrument wechselte. Siehe Gunther Schuller, "Trumpet Transposition and Key Changes in Late 19th-century Romantic Compositions", Journal of the International Trumpet Guild 13/3 (Februar 1989), S. 19-24, hier S. 22.

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3. Von der F- zur B-Ventiltrompete; die Schere zwischen Anspruch und Realität Leitete sich die „romantische Trompete" mit Ventilen von der klassischen Natur- bzw. Stopftrompete ab, so übernahm sie, wie bereits dargestellt, auch deren höchste Stimmung, G oder F.13 Damit erklärt sich zunächst das Vorhandensein von Trompetenpartien in der F-Stimmung (und oft in den davon abgeleiteten Stimmungen E, Es, D usw.) in den Partituren von Wagner und Liszt bis R. Strauss und Mahler, Schönberg und Berg. Dennoch war die Entwicklung mit der Einführung der F-Trompete noch nicht abgeschlossen. Durch den Einfluß des Kornetts in B mit dessen 4'-Notierung begannen Instrumentenmacher, auch Trompeten in dieser Tonart zu bauen. Die früheste mir bekannte Ventiltrompete in B wurde 1837 von Michael Saurle gebaut; sie hat zwei Wiener Ventile und befindet sich in der Instrumentensammlung des Bayerischen Nationalmuseums in München. 14 Hier muß festgehalten werden, daß beim früheren Gebrauch von Auf- und Einsteckbögen die Stimmungen von C abwärts in 8'-Lage zu denken sind, so daß solche frühen B-Trompeten eigentlich F-Trompeten mit zusätzlichen Röhren (Bögen) sind, während es sich bei den hier besprochenen, durch den Einfluß des Kornetts gebauten B-Trompeten um echte 4'-Instrumente handelt, deren Rohrlänge also halb so lang ist, als bei den frühen. Die Geschichte des Wechsels von der F- zur B-Trompete ist noch nicht geschrieben worden, da die Einzelheiten äußerst schwierig festzustellen sind. Was aber klar ist: es gibt eine regelrechte Schere zwischen Anspruch und Realität. Komponisten notierten ihre Trompetenpartien zwar vorwiegend in F, die Trompeter aber - wie oben angedeutet wurde und wie wir gleich sehen werden - spielten diese Partien zunehmend auf Instrumenten in der B-Stimmung. Wie bereits Ahrens bemerkt hat, ist beispielsweise in zeitgenössischen Konzertrezensionen oft nicht festgehalten, ob auf Natur-, Klappen- oder Ventil-

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Siehe den Artikel von Eugen Brixel, „Die Trompetenschulen von Andreas Nemetz als Spiegel der Bläserausbildung und Bläserpraxis im frühen 19. Jahrhundert", in: Alta Musica 7, Tutzing 1984, S. 157-170. Waren die frühesten Ventiltrompeten oft in G, so stellte sich bald - mit Ausnahmen - F als höchste Tonart heraus. Deshalb ist hier von der F-Trompete die Rede. Inv.-Nr. 202 Mu K. 89; ich untersuchte sie zum ersten Mal ca. 1970 bei einer Studienreise durch europäische Musikinstrumentensammlungen. Ich schließe allerdings nicht aus, daß es noch frühere datierte B-Trompeten geben könnte. Birkemeier (1984), S.51, schreibt zum Beispiel (aber ohne Nachweis), daß Wieprecht im Jahr 1829 die ersten hohen B-„Trompeten" [Anführungszeichen von Birkemeier] für das preußische Militär bauen ließ. Und in einem Katalog von 1828 bot Heinrich Stoelzel, neben Trompeten in F oder Es, „Trompetefn] in B alto" zum Preise von 21 Reichstalern an; siehe Ahrens, Eine Erfindung, S. 36.

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Abbildung 1. Zwei „romantische" Trompeten in tief-F oben: Franz Stöhr, Prag um 1830-40, mit drei Wiener Ventilen unten: F. Besson, London um 1862-69 (Grundstimmung G, mit Ganztonbogen für die F-Stimmung), mit drei Perinet-Ventilen Aus der Privatsammlung des Autors

trompeten geblasen wurde, geschweige denn in welcher Tonart die Blechblasinstrumente standen. 1 5 Solche Informationen lassen sich, wenn überhaupt, n u r mühevoll und zeitraubend in Orchesterarchiven finden. 16 Dennoch zeichnet sich als große Linie ab, daß die meisten Ersten Trompeter in Sinfonieorchestern bis ca. 1870 dazu übergegangen waren, auf B-Trompeten zu spielen, während ihre

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Siehe Ahrens, Eine Erfindung, S. 34: „Erhebliche Probleme für die Untersuchung wirft die ungenaue und ständig wechselnde Terminologie auf. Die Autoren unterschieden nämlich in aller Regel nicht klar zwischen den Naturtrompeten, den Trompeten mit Klappen und denen mit Ventilen ..." Eine solche Arbeit hat dankenswerter Weise Beatrix Darmstädter im Archiv der Wiener Hofoper auf sich genommen. Siehe ihren Beitrag Die Blasinstrumente im Orchester des Wiener Hofoperntheaters zur Direktionszeit Gustav Mahlers, S. 47-110.

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Kollegen an den tieferen Pulten entweder an ihren älteren Instrumenten in F festhielten oder auch auf die neueren B-Instrumente gewechselt hatten.17 Einige Stationen auf dem Weg zur Orchester-B-Trompete sind die folgenden: Adolf Scholz (Breslau, 1823-1884) soll seit 1850 oder möglicherweise kurz vorher ausschließlich auf der B-Trompete im Orchester geblasen haben.18 Er und Albert Kuhnert (Dresden) waren beispielgebend; Kuhnert (1825-1889) soll diesen Wechsel in den 1850er Jahren vollzogen haben.19 Der berühmte Berliner Trompeter und Kornettist Julius Kosleck (1825-1905), dessen Name unvergänglich mit dem Begriff „Bachtrompete" verbunden ist, 20 soll 1855 eine Eingabe an das Preußische Kultusministerium eingereicht haben, um die Einführung der B-Trompete, deren Klang er als „schön" und „strahlend" anpries, ins Opernorchester zu bewirken.21 Etwas später bliesen B-Trompeten der Marke Heckel der Erste Trompeter des Leipziger Gewandhausorchesters, Ferdinand Weinschenk (1831-1910), und seine Pultkollegen22 sowie der 1890 nach Moskau zum Orchester des Bolschoi-Theaters ausgewanderte Coburger Trompeter Willy Brandt (1869-1923). 23 In einer Instrumentenausstellung des Jahres 1897 in Markneukirchen gab es viele C-Trompeten, die als sogenannte Orchester-Instrumente bezeichnet wurden, aber nur eine einzige F-Trompete !24 Schließlich blies Eduard Seifert (1870-1965), der zwischen 1898 und 1935 im Dresdner Hoforchester - der heutigen Sächsischen Staatskapelle - als Erster Trompeter tätig war, während seiner ganzen Laufbahn auf einer B-Trompete 17

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Dies ist die Ansicht, die Reine Dahlqvist in seiner Göteborger Dissertation, Bidrag tili trumpeten och trumpetspelets historia: Fran 1500-talet tili mitten av 1800-talet med särskild hänsyn tili perioden 1740-1830 (1988), 2 Bde. (Studies from the Gothenburg University Musicology Department, Nr. 17), S. 438, vertritt und die ich in Die Trompete teile. Dahlqvist, Bidrag, S.423. Ibid., 409. Er gehörte der Dresdner Hofkapelle zwischen 1852 und 1888 an. Siehe Hartmut Flath, Zum künstlerischen Wirken profilierter Blechbläser der sächsischen Hofkapelle in der Staatskapelle Dresden zwischen 1850 und 1900 (Diplomarbeit der Hochschule für Musik „Carl Maria von Weber" Dresden s.d., maschinenschr.), S. 14. Dies ist eine ganz andere Geschichte. Siehe Tarr, Die Trompete, S. 108, oder den biographischen Artikel über Kosleck in The New Grove Dictionary of Music and Musicians, hrsg. v. Stanley Sadie und John Tyrell (London, Macmillan 2001). Siehe Heinz Burum, „Erlebnisse und Erfahrungen mit Kollegen und Schülern - 50 Jahre als Trompeter und Trompetenlehrer", in: Das Orchester 32/4 (1984), S.320, zit. in Birkemeier (1984), S. 51. Siehe E. H. Tarr, „Ferdinand Weinschenk (1831-1910), Pivotal Figure in German Trumpet History", Historie Brass Society Journal 11 (1999), S. 10-36. Die Präferenz Weinschenks für diese Marke geht daraus hervor, daß die Blechgruppe des Orchesters 1894 nach einer landesweiten Ausschreibung neue Instrumente bekam, die vier Trompeten von Heckel beinhalteten. Siehe E. H. Tarr, East Meets West: The Russian Trumpet Tradition from Peter the Great to the Revolution (Hamilton NY, Pendragon 2004), Kapitel 3 - 4 . Siehe Anthony Baines, Brass Instruments and Their History (London, Faber & Faber 1974), 233.

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Abbildung 2. Zwei Trompeten in B oben: Friedrich Alwin Heckel (1845-1915), Dresden 1898, mit drei Drehventilen, Spezialanfertigung für den „unfehlbaren" Eduard Seifert (1870-1965) unten: Bohland & Fuchs (1870-1945), Graslitz um 1900, mit drei Drehventilen, Geschenk von Miroslav Kejmar (1. Trompete, Tschechische Philharmonie Prag) Trompetenmuseum Bad Säckingen, Inv.-Nr. 14110 bzw. 14115 Siehe auch Farbtafel VIII. sowie auf einer kleinen hoch-G (beide von Heckel), wenn die Partien zu hoch wurden, wodurch er den Beinamen „der Unfehlbare" bekam. 2 5 Seifert, der mit dem Intendanten Schuch und Richard S t r a u s s regelmäßig Skat spielte, wird eine Schlüsselrolle in u n s e r e n Überlegungen spielen, wie wir weiter u n t e n sehen werden. Trotz dieser u n a u f h a l t s a m e n Entwicklung t r a u e r t e n einige dem angeblich edleren Klang der tiefen F-Trompete nach. P. E. Richter beklagte sich beispielsweise u m 1900 darüber, daß viele Trompeter n u r das B-Instrument lernten. 2 6

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Ein Artikel von Verena Jakobsen Barth in Zusammenarbeit mit dem Verfasser, „Eduard Seifert - Trompetenvirtuose des frühen 20. Jahrhunderts", ist zur Zeit in Vorbereitung. Tarr, Die Trompete, S. 103.

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Richard Hofmann meinte 1903, daß die kürzeren Instrumente zwar allgemein im Gebrauch seien, jedoch die Kraft des tieferen Instruments nicht besäßen.27 Der energischste Gegner der B-Trompete war kein Geringerer als der Lexikograph Hugo Riemann. In seinem Handbuch der Musik-Instrumente, das zwischen 1888 und 1918 in zehn unveränderten Auflagen erschien, konstatierte er zunächst die Existenz der beiden Trompetentypen: „Die Ventiltrompeten werden allgemein in zwei Größen gebaut, nämlich als große in F und kleine in B;" und er fuhr polemisch fort: „die Trompeter haben aber Neigung, die FVentiltrompeten zugunsten der kleinen in B außer Gebrauch zu setzen, was mit allen zu Gebote stehenden Mitteln zu verhindern ist."28 Seine Rechtfertigung: „Denn einmal kann der kraftlose Ton der kleinen B-Trompete mit dem markigen der großen F-Trompete gar nicht konkurrieren und dann fehlt effektiv der B-Trompete ein gut Teil Umfang nach der Tiefe."29 Einen eingeschränkten Gebrauch der kleineren Trompete gestand Riemann — in seiner Formulierung hört man förmlich die Zähne knirschen - für hohe Partien ein: „Die kleine BTrompete ist ja angesichts der Schwierigkeiten, welche unsere heutigen Bläser mit der den Virtuosen des vorigen Jahrhunderts geläufigen Höhe haben, gut zu heißen, aber eben nur für die höchsten Regionen". Ein letzter Seitenhieb blieb nicht aus: „ihre Tiefe ist kraftlos und durchaus unzulänglich."30 In unserem Zusammenhang brisant ist die Tatsache, daß die Bestellungen des Hoforchesters für die Bühnenmusik in Wien während des Dirigats von Gustav Mahler - trotz der Notierung in seinen Partituren31 — keine Trompeten mehr in F umfaßten, sondern nur welche in B und C!32 Riemann und anderen zum Trotz setzte sich also doch die „kleine" B-Trompete durch, und diese Situation hat sich bis heute unverändert erhalten. Daß die erhöhten Anforderungen an Höhe und Treffsicherheit für den Siegeszug der B-Trompete mitverantwortlich waren, geht aus einer Bemerkung des Düsseldorfer Trompeters Hermann Pietzsch 1906 hervor, der sogar die allmähliche Einbürgerung der noch höheren C-Stimmung bezeugt:33

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Richard Hofmann, Die Musikinstrumente, ihre Beschreibung und Verwendung, Leipzig, J. J. Weber, 1903, S. 188. Hugo Riemann, Handbuch der Musik-Instrumente (Kleine Instrumentationslehre), Berlin, Max Hesses Verlag, 101914 (Hesses Musik-Handbücher, Bd. 1), S.81. Das hier Unterstrichene erschien bei Riemann in Sperrschrift. Ibid., S.81. Ibid., S. 82. Die Trompetenpartien Mahlers sind in der Regel in F und B notiert. Nur die Ferntrompeten in Mahlers 2. Symphonie stehen in F und C. Siehe Beatrix Darmstädters Beitrag in diesen Blättern. Ich bin ihr zu herzlichem Dank verpflichtet für die vorzeitige Überlassung ihrer Unterlagen, auf die ich hiermit verweise. Siehe Die Trompete als Orchester-Instrument und ihre Behandlung in den verschiedenen Epochen der Musik, Leipzig, Breitkopf & Härtel; Mainz, Schott's Söhne; München, J. Aibl 1900; hier: Vorrede zur 2. Auflage 1906 (Reprint Ann Arbor, s.d.).

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[...] Im Blech-Instrumentenbau sind in den letzten 5 Jahren keine wesentlichen Neuerungen oder Verbesserungen zu verzeichnen gewesen. Nur findet die Trompete in hoch C immer grössere Verbreitung, indem sich die Ansprüche an Ausdauer, Kraft und Höhe noch fortwährend steigern. Beispielsweise wurde das gefürchtete Zarathustra-Motiv von Rieh. Strauss durch ein freiliegendes Trompeten-Motiv in der Symphonia Domestica noch übertroffen; dasselbe ist für C-Trompete notiert und verlangt auch unbedingt eine C-Trompete: Lustig.

Ür l ... [Es ist nicht zu verwundern,] wenn sich die Bläser die gebotenen Hilfsmittel zunutze machen und die höheren Stimmungen bevorzugen, zumal noch immer in allen denkbaren Stimmungen weiter notiert wird und die Bläser ein halbes Dutzend Trompeten zur Verfügung haben müssten, um allen Ansprüchen Rechnung tragen zu können [...] Notenbeispiel 1. Richard Strauss, Signal aus Sinfonia domestica: Trompete I in C, wie es bei Hermann Pietzsch, Die Trompete als Orchester-Instrument und ihre Behandlung in den verschiedenen Epochen der Musik, Leipzig, Breitkopf & Härtel; Mainz, Schott's Söhne; München, J. Aibl 21906, S.31, notiert wurde. In einem irrte Pietzsch allerdings: das zitierte Motiv aus der Symphonia domestica mag wohl nach einer C-Trompete verlangt haben; notiert hat es der Komponist jedoch in F ! So sieht die Stelle in der Originalnotierung aus: Bewegt.

Notenbeispiel 2. Richard Strauss, dasselbe Signal in der Originalnotierung für Trompete I in F. Aus Franz Roßbach (Hg.), Orchestral Studies from Richard Strauss' Symphonie Works for Trumpet, New York, International Music Co., s. d., S. 27 Welch treffenderen Beweis benötigen wir, um die Diskrepanz zwischen Anspruch und Realität, zwischen der Notierung durch den Komponisten und der Ausführ u n g durch den Musiker zu erhellen? 34

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Komponisten dieser Zeit waren sich oft überhaupt nicht bewußt, daß höher gestimmte Trompeten als die von ihnen vorgeschriebenen in Gebrauch waren. Pietzsch zum Beispiel

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4. Richard Strauss unter dem Einfluß von Wagner und Berlioz Zwischen der Praxis Straussens und Mahlers bezüglich der Notierung der Trompetenpartien gibt es einen wesentlichen Unterschied. Auf einen kurzen Nenner gebracht: Strauss notierte, von der F-Trompete ausgehend und ähnlich wie Wagner, in jeder erdenklichen Tonart, während Mahler nur die beiden Stimmungen F und B im Wechsel vorschrieb. Wenden wir uns zunächst den Trompetenpartien von R. Strauss zu. Die meisten Strauss-Opern wurden in Dresden uraufgeführt. Während Seifert am ersten Trompetenpult saß, waren es die folgenden (mit den Daten der Uraufführungen in Klammern und den jeweils vorkommenden Trompetenstimmungen danach): Feuersnot (21.11.1901), mit den Stimmungen A, E Salome (9.12.1905), mit den Stimmungen C, E, F, B Elektra (25.1.1909), mit der Höchstzahl der Stimmungen F, Es, C, D, B, E (wobei einmal im 10. Takt von B auf Es mit nur 2 Viertelnoten Pause und ein andermal von B auf C ohne jegliche Pause zu wechseln ist), sowie Baßtrompete in D und C Der Rosenkavalier (26.1.1911), mit den Stimmungen E, C, D, F, B, Es Nach einer Pause außerhalb Dresdens (mit der 1. Fassung von Ariadne auf Naxos am 25.10.1912 in Stuttgart und der 2. Fassung am 4.12.1916 in Wien und mit Die Frau ohne Schatten am 10.10.1919 in Wien) wurden vier weitere Strauss-Opern in Dresden uraufgeführt, immer noch mit Seifert und seiner B-Trompete am ersten Trompetenpult: Intermezzo (4.11.1924), ganzes Stück ausschließlich in C Die ägyptische Helena (6.6.1928), mit den Stimmungen C, B, C, B, C, B, C, B, C, D Arabella (1.7.1933), mit den Stimmungen B, C, E Die schweigsame Frau (24.6.1935), mit den Stimmungen C, B, C, D, C, Es, C, B, C Bei den Orchesterwerken, die allerdings alle bis auf Eine Alpensinfonie (Uraufführung am 28.10.1915 in Berlin durch die Dresdner Hofkapelle) von anderen meinte (1906, S. 24), daß Komponisten so wenig über die verwendeten Trompeten wußten, daß sie Töne schrieben, die unspielbar waren, weil zu tief. Das Beispiel Rimski-Korssakows ist bekannt. In seinen Memoiren schrieb er: „Ich sah ... ein, daß alles, was ich bisher von den Blasinstrumenten gewußt hatte, falsch und unsinnig gewesen war, und begann die gewonnenen Kenntnisse in meinen Kompositionen zu verwerten ... Auf diese Weise verging der Sommer 1873 mit dem praktischen Studium der Blasinstrumente ... " Siehe N. A. Rimski-Korssakow, Chronik meines musikalischen Lebens 1844—1906, übersetzt von Dr. Oskar von Riesemann, Stuttgart et al., Deutsche Verlags-Anstalt, 1928, S. 102-103.

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Orchestern uraufgeführt wurden, zeichnet sich ein ähnliches Bild ab, wobei nur drei Werke eine einheitliche Trompetenstimmung f ü r die ganze Dauer des jeweiligen Stückes aufweisen. 35 Diese vielen Stimmungen legen den einzigen plausiblen Schluß n a h e : daß Strauss der Praxis Wagners folgte und wohl von der Instrumentierungslehre von Berlioz, die er j a selbst 1904-05 in einer Neubearbeitung herausgab, 3 6 ausging - ungeachtet der Tatsache, daß sein Erster Trompeter Seifert alles auf der B-Trompete ausführte, mit der kleinen G-Trompete in Reserve. 37 Als praktischer Musiker kann ich bezeugen, daß sich für den Bläser jede Stimmung anders anfühlt, so daß der Wechsel zwischen den Stimmungen, handle es sich auch nur um einen Halbton von F auf E oder von E auf Es, den Bläser vor große Probleme in der Ansprache stellt. Eigentlich war es von daher segensreich, daß m a n mit der Zeit auf eine einzige Stimmung, B, kam. Daß man dabei das Transponieren lernen mußte, n a h m man wohl in Kauf. Diese Art der Notierung hat etwas, was der renommierte Komponist Gunther Schuller, ein ehemaliger Hornist, die psychologische Komponente nennt. In einem erkenntnisreichen Artikel schreibt er: Influenced ... by both early and late Wagner, [Richard Strauss] went more by how a given passage looked and feit in a certain key as opposed to another. Indeed, he composed his trumpet (and horn) parts specifically to coincide with such a key or "transposition" choice.38 Und er f ä h r t fort mit der Beobachtung, daß Strauss (wie auch Mahler) meinte, eine gegebene Passage würde am besten klingen, auf dem Instrument liegen und sich beim Bläser anfühlen, wenn die meisten Töne in derjenigen Naturtonreihe enthalten sind, die mit der gewählten Transposition übereinstimmt, und wenn sie nicht zu viele Hilfslinien enthält. 3 9 Natürlich sind Ausnahmen an der Tagesordnung. 35

36 37

38

Symphonie f-moll (13.12.1884 in New York, F, Des, D, C); Aus Italien (2.3.1887 in München, C, D); Don Juan (11.11.1889 in Weimar, E, F, C); Tod und Verklärung (21.6.1890 in Eisenach, F, C); Macbeth (13.10.1890 in Weimar, F, D; Baßtrompete in D, B alto, Es); Till Eulenspiegel (5.11.1895 in Köln, nur F); Also sprach Zarathustra (27.11.1896 in Frankfurt, C, F, E); Don Quixote (8.3.1898 in Köln, D, F); Ein Heldenleben (3.3.1899 in Frankfurt, Trp. I—III ausschließlich in B, Trp. IV und V in Es und E); Symphonia domestica (21.3.1904 in New York, F, E, Es, C); Der Bürger als Edelmann (1920 in Berlin, nur B); Eine Alpensinfonie (28.10.1915 in Berlin durch die Dresdner Hofkapelle, B, C). Mit den beiden letzterwähnten Werken scheint der Komponist sich der Praxis gebeugt zu haben. Hector Berlioz, Instrumentationslehre, ergänzt und revidiert von Richard Strauss, 2 Teile in 2 Bänden, Leipzig, Peters, 1905. Birkemeier (1984), S. 73, meint: "The only explanation for this continued practice is that Strauss sought to insure that trumpeters used the maximum number of valveless fingerings possible. The sound ideal represented by the natural trumpet died very slowly." Er bezieht sich dabei auf Ebenezer Prout, The Orchestra, second edition, Vol. I, London, Augener & Co., 1897, S.211. Schuller, Trumpet Transposition, S.20.

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Ein gutes Beispiel für die psychologische Komponente bei der Wahl der Trompetenstimmung liefert Straussens Ein Heldenleben bei Ziffer 81, wo für ein wichtiges Solo die 1. Es-Trompete nach E umgestimmt wird. (Zwischen Ziffer 80 und 81 hatte die 1. B-Trompete ein ähnliches Solo, das von Ces nach E modulierte.)

Notenbeispiel 3. Richard Strauss, Beginn der Kantilene für Trompete IV aus Ein Heldenleben, Ziffer 81, in vier verschiedenen möglichen Notierungen: klingend, in B, in Es und (wie die Stelle von Strauss wirklich notiert wurde) in E. Nach Gunther Schuller, „Trumpet Transposition and Key Changes in Late 19th-century Romantic Compositions", Journal of the International Trumpet Guild 13/3 (Februar 1989), S. 19-24, hier S.23. Die klingenden Tonhöhen in E-Dur sind zuoberst bei Beispiel zu sehen; sie würden auf der B-Trompete (in Fis-Dur, 2. System) kompliziert zum Greifen und auf der Es-Trompete (Cis-Dur, 3. System) noch komplizierter aussehen, aber auf der Trompete in E (4. System), „sitzen" sie richtig - ungeachtet, was für ein Instrument der Bläser wirklich nimmt, um diese Passage auszuführen. 40

39

40

"Underlying this concept in both Strauss and Mahler was the idea (but not necessarily the reality) that a trumpet part would sound best, feel best, lie best on the instrument if (a) most or possibly all of the notes in the passage were the basic primary notes of the harmonic series associated with the chosen transposition key; and (b) that the part would preferably not range too far out of the staff, to avoid an extended use of ledger lines." Ibid., S.21. Schuller (1989), S.23.

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5. Mahlers eigener Weg Wie oben erwähnt, schrieb Mahler nur für F- und B-Trompeten im Wechsel.41 Während Wagner und Strauss Stimmungswechsel bei einem einzigen Instrument durch den Gebrauch von Aufsteckbogen verlangen, schreibt Mahler scheinbar den Gebrauch von zwei verschiedenen Trompeten vor.42 Dies trifft bereits für die I. Symphonie D-Dur (UA am 20.11.1889 in Budapest) sowie für die IX. Symphonie D-Dur (UA am 26.6.1912 in München) zu. Häufige Wechsel setzen mit der III. Symphonie d-moll (UA 9.6.1902 in Krefeld) ein.43 Bereits andere haben darauf hingewiesen, daß diese Stimmungswechsel nicht motivisch verursacht zu sein scheinen, da jeglicher logische Zusammenhang fehlt. 44 Mahler hat nicht einmal die höheren Töne immer folgerichtig in die höher gestimmten Trompeten gelegt, wie man erwarten könnte. Immer wieder kommt es im Gegenteil vor, daß beispielsweise die 1. Trompete in F die höheren Töne spielt, während die 2. Trompete, die tiefere Töne hat, in B steht. 45 Dies ist beispielsweise im ersten Satz der III. Symphonie der Fall. Auch im ersten Satz der VII. Symphonie sind die höheren Stimmen allgemein in F und die tieferen in B. Allein im 1. Satz wird die Stimmung zehnmal und in den restlichen drei Sätzen 24mal gewechselt! Schuller dazu: Der Grund dazu ist brillant und logisch: Wenn höher liegende Partien auf der F-Trompete (eine Quarte tiefer als klingend notiert) und tiefer liegende Partien in B (einen Ton höher als klingend notiert) gespielt werden, wird bewirkt, daß diese Partien zum größten Teil konzeptuell innerhalb des Notensystems, im soliden, treffsichereren Teil des Instrumentenumfanges liegen.46 Ob Mahler einen klanglichen Kontrast zwischen den beiden Trompetenarten haben wollte, ist schwer nachzuvollziehen. Gegen die Verwendung verschiedener Instrumente und für die Transposition auf einem einzigen Instrument 41 42 43 44 45 46

Eine kleine Ausnahme bietet die 2. Symphonie, in der die Orchestertrompeten ausschließlich in F stehen. Birkemeier (1984), S. 97. Ibid. So Birkemeier (1984), der auf S. 97-98 nachweist, daß die Wahl der Trompetenstimmung sogar oft kompliziertere Griffe mit sich bringt. In der Bühnenmusik zur 2. Sinfonie zum Beispiel haben Trompete I und III in F bei Ziffer 22 höhere Töne als Trompete II und IV, die in C stehen. Schuller, Trumpet Transposition, 21. Originaler Wortlaut: "... the reasoning here is brilliant and logical: playing higher-lying parts in F trumpet (written a fourth lower than sounding) and lower-lying parts in B-flat (written one tone higher than sounding) keeps most of the parts conceptually in the staff and in the solid, most secure portion of the range. However, it should be noted that Mahler was unable to be entirely consistent in this approach." Dieser kurze Aufsatz mit seinen kurzen treffenden Notenbeispielen sei denjenigen empfohlen, die weitere Einblicke in die Werkstätte dieser Komponisten werfen wollen.

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spricht die Tatsache, daß die Stimmungswechsel oft sehr schnell erfolgen; dies trifft vor allem für die III. und V. Symphonie zu. Wie dem auch sei, galt Mahler bereits bei seinen Zeitgenossen als genialer Instrumentator. Arnold Schönberg beispielsweise meinte, daß seine Instrumentierung einen wesentlichen Teil seiner Kompositionstechnik ausmachte. 47 Das lange Posthornsolo im 3. Satz der III. Symphonie und die Einleitung zur V. Symphonie (Uraufführung 18.10.1904 in Köln) durch die 1. Trompete gehören zu den erhebendsten Momenten der gesamten Trompetenliteratur. 5a. Mahlers Posthornsolo

in der III.

Symphonie

Was das Posthornsolo betrifft, so hinterläßt die veröffentlichte Partitur den Eindruck, als wollte Mahler hier ein weiteres, bisher noch nicht besprochenes Blechblasinstrument einsetzen: das Flügelhorn. Posthörner und Kornette gehören zur selben Instrumentenfamilie; der wesentliche optische Unterschied liegt in der kreisrunden Form des Posthorns. 48 Flügelhörner aber gehören zu einer ganz anderen, eigenen Instrumentenfamilie. Sie hatten ursprünglich die Form eines Halbmondes und werden von 1810 bis heute in der zweimal gefalteten Bügelform gebaut; sie zeichnet ein besonders weit gebautes Schallstück aus, das mit wenig oder gar keiner Ausladung endet. Der Klang eines Flügelhorns ist viel weicher und weniger schlank als der eines Posthorns oder Kornetts. Deshalb ist wichtig zu wissen, welches Instrument Mahler wirklich vorgeschrieben hat. Nach der freundlichen Auskunft von Reinhold Kubik, der Einsicht in die wichtigsten Quellen hat, schrieb Mahler ursprünglich an der betreffenden Stelle in der autographen Partitur „Posthorn". Gedruckt wurde zunächst „Flügelhorn", und bis heute besteht Unsicherheit. In den Orchesterstudien für Trompete aus Mahlers Werken beispielsweise, die Horst Eichler 1984 herausgab und Studenten aller Herren Länder als Unterrichtsmaterial dienen, steht in der Solostimme „Flügelhorn in B — solo | hinter der Bühne", während in der 1. Trompetenstimme bei den ersten Stichnoten für dieses Instrument „Flügelhorn in B (Posthorn)" steht. 49 Was ist richtig? Kubiks Beobachtung ist entscheidend : In Mahlers eigenen Partitur, die heute im Besitz der Internationalen Gustav Mahler Gesellschaft ist, strich Mahler auf allen Seiten, wo diese Wörter vorkommen, mit roter Tinte „Flügelhorn" durch und ersetzte sie durch „Posthorn".50

47 48 49 50

Style and Idea (New York, Philosophical Library, 1950), 24. Dies trifft aber nur für das Posthorn des deutschen und französischen Sprachgebiets zu. Englische Posthörner sind gerade. Orchesterstudien \ Trompete | (Horst Eichler) \ Mahler, Frankfurt, Zimmermann, 1984, S.42 bzw. S.40. Reinhold Kubik, Email-Kommunikation mit dem Verfasser vom 3.5.2005.

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6. Akustische Untersuchungen an F- und B-Trompeten Richard Birkemeier, aus dessen Doktorarbeit in dieser Studie immer wieder zitiert wurde, hat im Rahmen seiner Promotion einen sehr interessanten akustischen Vergleich zwischen elf F-Trompeten des 19. Jahrhunderts (ca. 18251900) aus Böhmen, England und Frankreich und zwei modernen C-Trompeten, wie sie heute in amerikanischen Sinfonieorchestern verwendet werden, angestellt. Er hatte dabei die Hilfe führender Akustiker, nämlich von Arthur Benade und Dennis Fleischer. Im Wesentlichen ging es dabei um die Messung der Resonanzkurven. Wie eigentlich zu erwarten war, stellte sich heraus, daß die F- und C-Trompeten als geschlossene Gruppen jeweils eigene Charakteristiken hatten. Bei der Messung der Resonanzkurven wurde ein glissandoartiger Sinuston von Tief bis Hoch ins Mundstück eingegeben und die Reaktion des jeweiligen Instruments gemessen.51 Bei den Frequenzen, die das Instrument von selbst produziert — sie stimmen mit der Naturtonreihe überein —, wurden mehr oder weniger deutliche Kurven registriert. Je höher die Kurve, desto leichter die Ansprache. Als Gruppe wiesen die F-Trompeten die höchste Kurve beim 7. oder 8. Naturton (klingend es" oder f'), während die modernen C-Trompeten am besten beim 4. Naturton (klingend c") ansprachen. Im höheren Tonbereich fielen die Kurven ab, so daß die Instrumente dem Spieler für das Treffen dieser höheren Töne wenig oder keine Hilfe boten. Die moderne C-Trompete reagiert am besten in den unteren 6 Teiltönen, also eher in der Tiefe, während die alte F-Trompete in einem höheren Bereich, ja mitten im Spielbereich der einschlägigen Musikliteratur, relativ bequem zu spielen ist bzw. besonders direkt anspricht.52 Dieses Resultat widerspricht vielleicht den Erwartungen, wonach das tiefere Instrument im höheren Spielbereich weniger sicher sein sollte. Auf jeden Fall unterstützt diese akustische Studie in begrüßenswerter Weise die heutige Entwicklung in der Alten Musik, frühere Musik auf den jeweils gebräuchlichen Instrumenten zu spielen. Seit kurzer Zeit haben historisch informierte Kreise begonnen, Musik von Wagner und späteren Komponisten auf Instrumenten des 19. Jahrhunderts zu spielen, einschließlich der alten F-Trompete.

51 52

Dieses Verfahren wurde inzwischen vom Institut für den Wiener Klangstil perfektioniert und heißt heute BIAS. Instrumentenmacher verwenden es, um die Spielcharakteristik und die Intonation ihrer Instrumente zu studieren und zu verbessern. Birkemeier (1984), 108-118, mit den dazugehörigen Kurven auf S. 121-124. Siehe dort weitere Details. Die akustische Analyse bestand aus einer „Input impedance test" (S. 111— 124), worüber wir oben berichtet haben, und einem hier nicht weiter erörterten „frequency spectrum analysis test" (S. 125-140, mit den Kurven auf S. 141-148).

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Abbildung 3. Resonanzkurve einer F-Trompete von Mahillon, Brüssel um 1870. Birkemeier (1984), 142.

Abbildung 4. Resonanzkurve einer modernen C-Trompete von Vincent Bach, Elkhart, Indiana um 1970. Birkemeier (1984), 144.

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7. Stopfen vs. Dämpfen Daß es sich beim Stopfen und Dämpfen um zwei verschiedene Verfahren handelt, weiß eigentlich jeder Orchestertrompeter. Dennoch ist es wichtig, auf den Unterschied hinzuweisen, weil es - wohl aus Bequemlichkeit — schon vorgekommen ist, daß Stellen, die „gestopft" auszuführen sind, doch mit Dämpfer gespielt wurden. Der Unterschied zwischen diesen beiden Praktiken wird durch eine Aussage Gustav Mahlers erhärtet. In einem Brief an Franz Schalk schrieb er (wohl im Februar 1898): „Wenn ich Dämpfer sage, so sollen die Hörner Sordinen einsetzen, - die Bezeichnung gestopft ist mit der Hand zu verstehen." 53 Natürlich gilt diese Unterscheidung nicht nur fürs Horn, sie trifft auch bei der Trompete zu. Die Stopftechnik wurde jedoch von den Komponisten der Romantik nicht wie in der Klassik verwendet, um chromatisch zu spielen, sondern um bestimmte Klangeffekte zu erzielen. Grundsätzlich muß festgehalten werden, daß der Primäreffekt des Dämpfens nicht unbedingt ein leiserer Klang ist, es geht viel mehr um eine Veränderung der Klangfarbe. Heute gibt es durch den Einfluß des Jazz eine sehr große Zahl verschiedener Dämpfer, die in der Orchestermusik für verschiedene Effekte verwendet werden, worauf hier nicht näher eingegangen wird. Um 1900 kommt in der Orchestermusik nur der sogenannte Spitzdämpfer (engl, straight mute, frz. sourdine ordinaire) vor; allerdings kann er, um verschiedene Wirkungen zu erzielen, aus verschiedenen Materialien bestehen. Ein Metalldämpfer zum Beispiel ist für aggressive Wirkungen geeignet, bei denen die Trompete an Lautstärke nicht viel einbüßen soll. (Siehe das folgende Beispiel aus R. Strauss, Till Eulenspiegels lustige Streiche) Etwas breiter.

Notenbeispiel 4. R. Strauss, Till Eulenspiegels lustige Streiche, gegen Schluß: .Etwas breiter | kläglich". Zwei gedämpfte Trompeten in F, f f . Aus Franz Roßbach (Hg.), Orchestral Studies from Richard Strauss' Symphonie Works for Trumpet, New York, International Music Co., s. d., S. 14.

53

Zitiert nach Gustav Mahler, Unbekannte Briefe, hg. v. Herta Blaukopf, Wien 1983, S. 159. Herzlichen Dank an Reinhold Kubik für den Hinweis darauf.

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Ein Dämpfer aus Holz, Pappe oder einem anderen Material k a n n den Klang viel leiser machen, wie aus der Ferne. (Siehe das folgende Beispiel aus Claude Debussy, Fêtes.)

Notenbeispiel 5. Claude Debussy, Fetes-. Gedämpfte Stelle für drei F-Trompeten gegen Anfang. Aus Gabriel Bartold (Hg.), Orchestral Studies from the Symphonie Repertoire for Trumpet, I, New York, International Music Co., s. d., S. 18.

Das Stopfen bewirkt einen besonders aggressiven, schnaubenden Klang. Durch die E i n f ü h r u n g der Hand ins Schallstück wird die Stimmung um einen Halbton gesenkt, daher ist es notwendig, einen Halbton höher zu greifen. (Siehe auch Farbtafel X. - Die Stopftechnik wird öfter beim Horn als bei der Trompete eingesetzt, weswegen viele Hörner mit einem speziellen Stopfventil ausgestattet sind, das die Transponierung automatisch bewirkt.) Beim Stopfen braucht der Komponist keine Rücksicht auf die Schnelligkeit der Ausführung zu nehmen, da der Trompeter die stopfende Hand auch benützt, um das Instrument zu halten: wenn der Wechsel zwischen „gestopft" und „offen" ohne dazwischen liegende Pause geschehen soll, k a n n der Bläser sein I n s t r u m e n t am Schallstückende

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Abbildung 5. Drei Trompetendämpfer, anon., Deutschland um 1900 v. 1. n. r. aus Holz (1) und aus Metall (2). Aus dem Nachlaß von Eduard Seifert. Trompetenmuseum Bad Säckingen, Inv.-Nr. 94001, -002, -003. Siehe auch Farbtafel IX.

halten, um danach bei der ersten Pause die übliche Haltung an der Ventilmaschine einzunehmen. (Siehe das folgende Beispiel aus Mahlers II. Symphonie, 1. Satz, vier Takte vor Ziffer 2: zwei Takte gestopft, danach ohne Pause offen.) gestopft

offen

verklingend

A

1

ff

fff

J- J'l*

J- J

fp:

-PPP

Notenbeispiel 6. Mahler, II. Sinfonie, 1. Satz, vier Takte vor Ziffer 2: Trompete I in F, zwei Takte gestopft, danach ohne Pause offen. Nach Horst Eichler (Hg.), Orchesterstudien [für] Trompete \ Mahler, Frankfurt, Zimmermann, 1984, S. 15; = Tonbeispiel Track [24], gespielt auf der F-Trompete.

Etwas mehr Zeit ist nötig, um einen Dämpfer einzuführen oder zu entfernen. Beide Verfahren kommen in Straussens Till Eulenspiegel vor. Mahler ist für rasche Dämpferwechsel bekannt. In den ersten 40 Takten der I. Symphonie zum Beispiel muß der 1. Trompeter sechsmal zwischen offen und gedämpft wechseln. Zwei dieser Wechsel sind in weniger als zwei Viertelnoten zu bewerkstelligen.

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8. Tonbeispiele Tonbeispiel [22] ist der Anfang von Mahlers V. Symphonie, auf einer B-Trompete gespielt, wie vorgeschrieben. l.TRP. beginnt

allein

In gemessenem Schritt. Streng. Wie ein Kondukt

Notenbeispiel 7. Mahler, V. Sinfonie, Anfang des 1. Satzes: Trompete I in B. Aus Horst Eichler (Hg.), Orchesterstudien [für] Trompete \ Mahler, Frankfurt, Zimmermann, 1984, S.47 Tonbeispiel [23] ist vom Schluß des ersten Satzes von Mahlers V. Symphonie.

Notenbeispiel 8a/b. Mahlers V. Sinfonie, Schluß des 1. Satzes: Trompete I in F, gedämpft. Zuerst auf der B-, anschließend auf der F-Trompete vorgeführt. Aus Horst Eichler (Hg.), Orchesterstudien [für] Trompete \ Mahler, Frankfurt, Zimmermann, 1984, S.49 Diese leise Stelle wird zuerst auf der B-, anschließend auf der F-Trompete vorgeführt, beide Male mit Dämpfer. Tonbeispiel [24] Tonbeispiel [25]

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Ein perfektes Beispiel für „die Angst des Torhüters vor dem Elfmeter"! Aber wie die oben referierten akustischen Untersuchungen nahe legen, ist die Treffsicherheit bei diesen hohen Tönen auf der tiefen F-Trompete recht gut. Ob die damaligen Trompeter diese Stelle wirklich wie vorgeschrieben auf der großen F-Trompete ausführten oder zur sichereren B-Trompeten griffen, bleibt dahingestellt. Wir können sie nicht mehr fragen. Die am 28. April 2005 verwendeten

Instrumente:

B-Trompete mit drei Drehventilen von Arno Windisch (Nachfolger von F. A. Heckel), Dresden um 1975 F-Trompete mit drei Drehventilen von Rainer Egger, Basel 2001 (Rekonstruktion nach Instrumenten von Cerveny und Bohland & Fuchs im Trompetenmuseum Bad Säckingen)

Auswahl

aus den vorgeführten

Tonbeispielen

auf der CD :

[22] Gustav Mahler, II. Symphonie, 1. Satz T. 39-43, gespielt auf einer F-Trompete mit drei Drehventilen von Rainer Egger, Basel 2001 (Rekonstruktion nach Instrumenten von Cerveny und Bohland & Fuchs im Trompetenmuseum Bad Säckingen) [23] Gustav Mahler, V! Symphonie, Anfang des 1. Satzes, gespielt auf einer B-Trompete mit drei Drehventilen von Arno Windisch (Nachfolger von F. A. Heckel), Dresden um 1975 [24] Gustav Mahler, V. Symphonie, 1. Satz T. 406-409, gespielt auf der B-Trompete, mit Dämpfer [25] Gustav Mahler, V. Symphonie, F-Trompete, mit Dämpfer

1. Satz T. 406-409, gespielt auf der

DAVID PICKETT

(Denton, Texas, USA)

„Was mir die Aufnahmen erzählen" Mahlers Orchester und Spieltechnik im Licht von frühen Aufnahmen

Man findet in Tonaufnahmen viele Anhaltspunkte, die uns darüber Informationen geben, wie Mahlers Orchester spielten. Zu Beginn möchte ich die WelteMignon-Rollen betrachten, die Mahler selbst am 9. November 1905 eingespielt hat, nämlich den 1. Satz der Fünften Symphonie, das Finale der Vierten Symphonie und die beiden Lieder „Ich ging mit Lust durch einen grünen Wald" und „Ging heut' Morgen über's Feld". Diese Aufnahmen geben Aufschlüsse über Mahlers Art der Aufführung von Musik. Natürlich spielte er hier Klavier und dirigierte nicht, und die Welte-Rollen sind nicht so zuverlässig wie Plattenaufnahmen. Dennoch sollte jeder, der es mit Mahlers Interpretationsstil seiner eigenen Werke ernst meint, diese Rollen genau studieren. Ich will mich auf einige Beispiele aus dem Finale der Vierten Symphonie beschränken. Zuerst T. 115-121, in denen wir Mahler hören, wie er über fünf Takte (T. 117-121) ein diminuendo macht. [CD: 26]1 Bei einer Aufführung mit Orchester ist dieser Effekt oft durch den Wechsel der Klangfarben verschleiert; z.B. auf Mengelbergs berühmter Aufnahme [CD: 27], oder auf der Stereo-Aufnahme von Kubelik [CD: 28]. Aber es gibt auch Aufnahmen, bei denen die Lautstärken der verschiedenen Instrumente so ausgeglichen sind, daß es zu einem wirklichen diminuendo bei wechselnden Klangfarben kommt, z. B. in der Aufnahme eines Konzerts der Salzburger Festspiele vom 24. August 1950 mit den Wiener Philharmonikern unter Bruno Walter [CD: 29].2 Wir hören auf den Welte-Klavier-Rollen ferner, daß Mahlers sforzandi immer in einem Verhältnis zur jeweiligen allgemeinen Dynamik stehen, und wie er einige Rhythmen besonders scharf punktierte. Sein rubato ist sehr frei, und es gibt eine spannende Passage, in der er die Achtel-Begleitung (T. 25-35 im Finale der IV. Symphonie) auf eine solche Weise spielt, daß man gerne wüßte, ob er mit den Klarinetten im Orchester die gleiche Ausführung erreicht hat [CD: 30],3 1 2

3

Dieses und andere mit [CD: ##] bezeichneten Tonbeispiele, befinden sich auf der beiliegenden CD. Mahler, IV. Symphonie, 4. Satz, T. 115-121: [CD: 26] Gustav Mahler, Klavier, 9. November 1909; [CD: 27] Concertgebouw Orkest, Willem Mengelberg, 11. September 1939; [CD: 28] Orchester des Bayerischen Rundfunks, Rafael Kubelik, April 1968; [CD: 29] Wiener Philharmoniker, Bruno Walter, 24 August 1950. [CD: 30] Mahler, IV. Symphonie, 4. Satz, T. 25-35, Gustav Mahler, Klavier, 9. November 1909.

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Mahlers dauernde Tempowechsel beim Dirigieren wurden von einem Spieler, der mit ihm gearbeitet hatte, in einem Interview beschrieben, das Teil einer der interessantesten Aufnahmen ist, die sich mit Mahlers Aufführungen in New York beschäftigen. Es handelt sich um ein zweistündiges Radioprogramm, das von der Rundfunkstation KPFK in Los Angeles am 15. Juli 1964 gesendet wurde. Es besteht hauptsächlich aus einem Zusammenschnitt von Interviews, die der amerikanische Musikwissenschaftler William Malloch mit Musikern gemacht hat, die unter Mahler in New York gespielt hatten. Wir müssen sehr vorsichtig sein, wenn wir diese Interviews interpretieren, wie ich in meinem anderen Referat zeige. Erstens, weil sie 50 Jahre nach Mahlers Tod aufgenommen wurden, und zweitens, weil sie zusammengeschnitten wurden - oft wurden ganz kurze Sätze aus verschiedenen Interviews mit Hilfe der Schneideschere einander gegenüber gestellt. Ich habe vergebens versucht, die ungeschnittenen Originale dieser Interviews zu finden; aber auch in der jetzigen Form geben sie uns wertvolle Hinweise darauf, wie Mahler dirigierte und was er von seinen Spielern erwartete. Alois Reiser, der Cello im New York Symphony Orchestra spielte, als Mahler es in drei Konzerten im Jahr 1908 dirigierte, spricht darüber, was Mahler von den Holzbläsern wollte: [CD: 31] We had [an] oboe player. He was a Frenchman, his name was de Busscher. Now, Mahler wasn't used to, to, those French oboes. (Malloch: "With the vibrato.") Yeah. (Malloch: "He liked a nice straight, flat tone?") Yeah, flat tone ... So he, when it came into the Fifth Symphony ... er, Beethoven ... came this oboe cadenza ... that solo he started play it, you know (terrific oboe player ... he could play anything) ... but his tone, you know: "Meuhhh". So, er, Mahler he told him in German: "Also, Herr de Busscher, nicht so much Meuhhhh!" 4

Sicherlich gehörte Albert de Busscher nicht zu jenen Spielern, die von Mahler eingeladen wurden, in der folgenden Saison im neuformierten Orchester der New Yorker Philharmoniker mitzuwirken. Was aber erwartete Mahler eigentlich? Wir wollen einige Aufnahmen der Oboenkadenz aus T. 268 von Beethovens Fünfter Symphonie vergleichen. Zuerst

4

„Wir hatten [einen] Oboisten. Er war ein Franzose, sein Name war de Busscher. Nun, Mahler war nicht an die, die, diese französischen Oboen gewöhnt. (Malloch: „Mit dem Vibrato.") Ja. (Malloch: „Er liebte einen geraden, flachen Ton?") Ja, flachen Ton ... So, wenn es kam in der Fünften Symphonie, eh, Beethoven ... kam diese Oboenkadenz; er begann das Solo zu spielen, nicht wahr (ein hervorragender Oboist ... er konnte alles spielen), aber sein Ton, nicht wahr: ,Määhh!' So, hm, sagte Mahler zu ihm auf Deutsch: ,Also, Herr de Busscher, nicht zuviel Määhh!'" [CD: 31]. Alois Reiser, Cellist im New York Symphony Orchestra von 1908 bis 1910. Original aus William Malloch: I Remember Mahler, Programm der Rundfunkstation KPFK in Los Angeles, am 15. Juli 1964 gesendet.

,Was mir die Aufnahmen erzählen"

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mit den Wiener Philharmonikern unter Franz Schalk - eine Aufnahme aus dem J a h r 1928. [CD: 32] Der Oboist dabei war mit ziemlicher Sicherheit Alexander Wunderer, der auch unter Mahler gespielt hat. Abgebildet ist hier die Stimme der 3. Oboe aus Mahlers eigenem Material (Verdopplung der 1. Oboe):

Notenbeispiel 1: Beethoven, V. Symphonie, 1. Satz, T. 268 aus Mahlers Stimme der 3. Oboe (mit freundlicher Genehmigung der UE) Wunderer spielte diese Kadenz sehr einfach. Fünfzehn J a h r e f r ü h e r h a t t e Arthur Nikisch das Stück mit dem Berliner Philharmonischen Orchester aufgenommen, auch in einem einfachen, aber ausdrucksvollen Stil. [CD: 33] Ebenfalls aus Berlin stammt diese Aufnahme unter Wilhelm Furtwängler aus dem J a h r 1926. [CD: 34] Auf allen drei Aufnahmen hört m a n fast kein Vibrato, und trotzdem wird die Musik ausdrucksvoll gespielt. Im April 1937 n a h m Willem Mengelberg Beethovens Fünfte Symphonie mit seinem Concertgebouw Orchester auf. Hier ist wieder die Oboenkadenz. [CD: 35] Wir können eine völlig andere Art der Spielweise erkennen - mit fortwährendem Vibrato. Die Frage ist, ob das schon so war, als Mahler das Concertgebouw Orchester als Gastdirigent leitete. Es ist schwer vorstellbar — er hätte wahrscheinlich gesagt: „Also bitte, Herr Oboist, nicht zuviel Määhh!" Wir können hier auch die Verdopplung der Oboe an einer Stelle hören, entsprechend Mahlers eigener Praxis bei der A u f f ü h r u n g von Beethovens Werken (siehe Notenbeispiel 1). Im nächsten Beispiel musizieren die Berliner Philharmoniker unter Herbert von Karajan im J a h r 1962, womit Karajan uns hier als Nachfolger Mengelbergs entgegen tritt. [CD: 36] Auch Carlos Kleiber läßt mit den Wiener Philharmonikern im J a h r 1975 erstaunlicherweise sogar die Oboe mit dauerndem Vibrato spielen! [CD: 37]5 Diese Entwicklung erfolgte schrittweise und nicht f ü r alle Holzblasinstrumente gleichzeitig. Auf der technisch nicht sehr guten Aufnahme von Mahlers Zweiter Symphonie mit Eduard Flipse und den Rotterdamer Philharmonikern 5

Beethoven, V! Symphonie, 1. Satz, T.261-268: [CD: 32] Wiener Philharmoniker, Franz Schalk, 1928; [CD: 33] Berliner Philharmoniker, Arthur Nikisch, 10. November 1913; [CD : 34] Berliner Philharmoniker, Wilhelm Furtwängler, 1926 ; [CD : 35] Concertgebouw Orkest, Willem Mengelberg, April 1937 ; [CD : 36] Berliner Philharmoniker, Herbert von Karajan, 1962; [CD: 37] Wiener Philharmoniker, Carlos Kleiber, März/April 1974.

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aus dem Jahr 1959 hört man ganz deutlich, daß das Englischhorn mit Vibrato, die Baßklarinette ohne Vibrato spielt. [CD : 38]6 Da wir gerade bei den Holzbläsern sind, hören Sie auf diesem kurzen Ausschnitt [CD: 39], wie delikat und einfach die Wiener Philharmoniker die drei Vogelstimmen im 2. Satz von Beethovens Pastorale darstellten. 7 Einen solchen Klang hört man heutzutage nicht einmal in allen Aufführungen auf historischen Instrumenten. Bei den Streichern ist die Schlüsselfigur Mahlers Schwager Arnold Rosé (1896—1946), von 1881 bis 1938 erster Konzertmeister des Hofopernorchesters und der Wiener Philharmoniker. Rosé hatte bei Carl Heißler am Wiener Konservatoire von 1873 bis 1877 studiert und war eine sehr starke Persönlichkeit. Der Komponist Franz Schmidt (1874-1939), der unter Mahler Cellist im Hofopernorchester war, schrieb über Rosé, er „herrschte im Orchester mit brutaler und bornierter Willkür".8 Ohne Frage verlangte Rosé von allen anderen Streichern, daß sie sich seiner Art, zu spielen, anpaßten — gewiß mit einem hervorragenden Resultat. Hören wir Rosé zunächst als Solisten, zuerst in der berühmten Aria auf der G-Saite (eine Bearbeitung nach Bachs Dritter Orchestersuite von August Wilhelmj) [CD: 40], Im Gegensatz dazu nun die erste Hälfte dasselben Stückes, gespielt von Bronislaw Huberman (1882-1947) [CD: 41].9 Ohne Übertreibung kann man sagen, daß Rosés Stil sehr zurückhaltend ist, verglichen mit Huberman und den meisten nachfolgenden Geigern. Von eminenter Bedeutung war außerdem das Wirken des Rosé-Quartetts, welches aufgrund von Rosés Leitung ebenfalls einen reinen und einfachen Ausdruck bevorzugte [CD: 42],10 Es gibt auch eine Aufnahme eines von Rosé gespielten kurzen Orchestersolos aus dem Rosenkavalier [CD : 43].11 Bis heute wurden keine detaillierten Studien über die Stile des Orchesterspieles aufgrund von Tonaufnahmen vorgelegt. Es dürfte aber klar geworden sein, daß Mahler generell kein Vibrato der Holzbläser wünschte. Auch bei den Streichern wurde Vibrato nur gelegentlich verwendet, an besonders ausdrucksvollen Stellen. Es ist sehr bemerkenswert, daß Mahler in seinem gesamten

6 7 8 9 10 11

[CD : 38] Mahler, II. Symphonie, 1. Satz, T. 151-161, Rotterdams Philharmonisch Orkest, Eduard Flipse, 17. Juni 1959. [CD: 39] Beethoven, VI. Symphonie, 2. Satz, T. 129-139, Wiener Philharmoniker, Franz Schalk, 1928. Otto Brusatti, Die Autobiographische Skizze Franz Schmidts. In Norman Lebrecht : Gustav Mahler, Erinnerungen seiner Zeitgenossen, S. 117, Piper-Schott, München 1993. Bach arr. Wilhelmj, Aria auf der G-Saite: [CD: 40] Arnold Rosé, wahrscheinlich 1909; [CD: 41] Bronislaw Huberman, 30. November 1921. [CD : 42] Beethoven, Streichquartett Op. 18, Nr. 4, C-moll, 1. Satz, T. 1-74, Rosé-Quartett, 1927. [CD: 43] Richard Strauss, Rosenüberreichung aus dem Rosenkavalier, Wiener Philharmoniker, Arnold Rosé (Violine), Karl Alwin (Dirigent), Juni 1931.

,Was mir die Aufnahmen erzählen"

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Werk nur viermal „vibrato" (oder „vibrando") von den Streichern fordert, und nur ein einziges Mal von den Flöten. 12 Roger Norrington hat kürzlich in einem Artikel 13 behauptet, das fortwährende Vibrieren sei in Frankreich und England in den 20er-Jahren des 20. Jahrhunderts aufgekommen und habe Deutschland und Amerika ein Jahrzehnt später erreicht. Nach Wien sei es erst in den 40er-Jahren gekommen - also nach Rosé. Ich meine, daß diese Darstellung die Tatsachen verkürzt und daß hier weitere Forschung nötig ist. Für uns ist jedoch von Bedeutung, daß Mahler lange vor diesen Entwicklungen, in der „vibratolosen Zeit" gewirkt hat. Zeugnis dafür findet man auch in dem Bericht des philharmonischen Sekundgeigers Otto Strasser über sein Probespiel in der Staatsoper am 8. November 1922. Er schreibt: Als ich zum Probespiel antrat, setzte sich die Jury aus dem Operndirektor Schalk [...], den Kapellmeistern Reichenberger und Alwin und den Konzertmeistern, mit Arnold Rosé an der Spitze, zusammen. Vor diesem Gremium spielte ich, wenn ich mich recht erinnere, das Konzert von Goldmark, worauf das gefürchtete Blattspiel verlangt wurde. Rosé wählte die vorzuspielenden Stellen aus, gab freundlich und hilfsbereit kleine Anweisungen, markierte das Zeitmaß und half so ein wenig, die Aufregung zu überwinden. Er war ein großartiger Künstler und fest in der Tradition verhaftet, was so weit ging, daß er das damals längst übliche Vibrato nicht sehr liebte und auch nur spärlich anwendete. Als er mir daher, um meine Tongebung zu prüfen, [...] die Geigenkantilene beim Einzug Lohengrins und Elsas in das Münster vorlegte und ich nach Herzenslust vibrierte, unterbrach mich Schalk, der Rosés Ansichten teilte, mit den Worten : „Meckern S' nicht so."14 Wie wir in den Aufnahmen von Rosé und den Wiener Philharmonikern hören konnten, war portamento eine weiteres, zusätzliches Ausdrucksmittel. Die Beispiele aus Beethovens Werken, die vor 1930 aufgenommen worden waren, sind von einer Musizierweise geprägt, die sich nicht allzusehr von jener unterscheidet, die wir dank Nikolaus Harnoncourt und anderen heute als für die Barockzeit typisch kennen. Mahler verwendete jedoch Wörter wie espressivo häufig in seinen Partituren, Ausdrücke, die Beethoven für das Orchester vor seiner IX. Symphonie nicht gebrauchte. Der aus Rußland emigrierte Komponist Nicolas Nabokov schrieb über ein Konzert unter der Leitung von Nikisch in den Zwanziger-Jahren :

12 13 14

Siehe Reinhold Kubik, „Schlimme Erfahrungen"- Revision als Reaktion auf Veränderungen der Aufführungspraxis, S. 297-314 in diesem Band. Roger Norrington, "The Sound Orchestras Make",in: Early Music 32, Nr.4, 15. Nov. 2004, S.2-5. Otto Strasser, Und dafür wird man noch bezahlt, München 1978, S.20.

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Die Streicher der Berliner Philharmoniker änderten ihren Charakter und Ton nach der Ouvertüre von Mozart, die vor Tschaikowskys Fünfter Symphonie gespielt wurde. Anstelle eines dünnen und scharfen Tones, wurde dieser rund, voll von dem, was Puschkin „njega" (Seligkeit) nannte, und von einer Art von slawisch-jüdischer Wollust. Und doch gäbe es keine Schlamperei in der Intonation, die sich hinter einem Vibrato der Streicher versteckt hätte. Normalerweise traue ich nicht dem „runden" Ton der Orchesterstreicher. Oft verbirgt er lediglich unsaubere Intonation und was die Deutschen „unsauberen Notengang" nennen. Aber wenn die Berliner Philharmoniker unter der Leitung von Nikisch spielten, wurde die Rundheit zu einem unverzichtbaren ästhetischen Ausdrucksmittel, das getreu den Stil von Tschaikowskys Musik vermittelte. 15 Wir hörten schon vom portamento als zusätzlichem Ausdrucksmittel. Mahler verlangte dies auch von den New Yorker Philharmonikern, und nicht n u r an jenen Stellen, wo er es explizit in seiner eigenen Musik notiert h a t : He insisted on certain slides in his music. Whereas sometimes in a slow, er, movement ... in other composers he would too, that too. For instance, he said: You couldn't go ,,daaaa-er". Nobody sings like that. So you have to slide to get there: ,,da-yi-dah." He would sing that for you that way. Well, er, how else would you play it? [CD: 44]16 Es folgen drei Ausschnitte mit den Wiener Philharmoniker unter Bruno Walter aus der Vorkriegszeit. Beachten Sie, wie sie mit Mahlers espressivo umgehen. Zuerst Das Lied von der Erde: Oboe (molto espressivo), Klarinette (molto espressivo) und Flöte (espressivo) am A n f a n g des 2. Satzes (Notenbeispiel 2). [CD: 45]17 Dies ist eine Interpretation, deren espressivo durch sorgfältige Phrasierung und sparsamen Gebrauch eines differenzierten Vibrato erreicht wird. Bei dem folgenden Beispiel aus dem 1. Satz von Mahlers Neunter Symphonie achten Sie auf das ausdrucksvolle portamento und auf die zurückhaltende Verwendung von Vibrato in der zweiten Geige (Notenbeispiel 3). [CD: 46]18

15 16

17 18

Nicolas Nabokov, Bagazh, New York 1975, S. 103, übersetzt von Reinhold Kubik. „Er bestand auf gewissen Schleifern in seiner Musik. Hauptsächlich manchmal, in einem, hm, langsamen Satz ... auch bei anderen Komponisten wollte er das, ja das. Z.B. sagte er: Sie können nicht spielen ,daaaa-er'. So singt niemand. Daher müssen Sie schleifen, um dorthin zu gelangen: ,da-yi-dah.' Er pflegte Ihnen das so vorzusingen. Nun, hm, wie sonst würden Sie das spielen?" [CD: 44] Herbert Borodkin, Bratschist im New Yorker Philharmonischen Orchester von 1909 bis 1917. Original aus William Malloch: I Remember Mahler, a. a. O. [CD: 45] Mahler, Das Lied von der Erde, 2. Satz, T. 1-24, Wiener Philharmoniker, Bruno Walter, 24. Mai 1936. [CD: 46] Mahler, IX. Symphonie, 1. Satz, T. 7-25, Wiener Philharmoniker, Bruno Walter, 16. Jänner 1938.

.Was mir die Aufnahmen erzählen"

2. Der Einsame im Herbst Etwas schleichend.

Ermüdet

Notenbeispiel 2: Das Lied von der Erde, „Der Einsame im Herbst", T. 1-23.

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89

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David Pickett

ITI Aufführungsrecht vorbehalten Droits dexecution reserves

A n d a n t e comodo

C o p y r i g h t 1912 b y U n i v e r s a l Edition A. G.p W i e n / C o p y r i g h t r e n e w e d 1940, a s s i g n e d 1952 to U n i v e r s a l Edition (London) Ltd., London / T h i s edition, r e v i s e d b y t h e I n t e r n a t i o n a l e G u s t a v M a h l e r - G e s e l l s c h a f t , c o p y r i g h t 1969 b y U n i v e r s a l Edition A. G., W i e n , a n d U n i v e r s a l Edition (London) Ltd., L o n d o n

offen (Echo)

Gustav M a h l e r (1860-1911 )

U n i v e r s a l Edition N o . 13 825

Notenbeispiel 3: IX. Symphonie,

1. Satz, T. 1-26

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David Pickett

Das nächste Beispiel stammt aus dem 4. Satz. Hier spielen alle Streicher wie verlangt - molto espressivo. Beachten Sie die glissandi in T. 6, 8 und 9, deren Zielpunkt ein Vorschlag vor dem Schlag ist. Mahlers Notation ist hier sehr präzise und wird meistens ignoriert - m a n spielt hier „mit sauberem Notengang" (Notenbeispiel 4). [CD : 47]19 Während Vibrato bei den Tutti-Stellen nur sparsam verwendet wurde, war es bei Solo-Stellen erlaubt. Man hört es beispielsweise bei dem Bratschensolo in der Mitte des 3. Satzes der Neunten (Notenbeispiel 5). [CD : 48]20 Im 1. Satz der Neunten gibt es auch ein Geigensolo, bezeichnet „schmeichelnd", was ein von Mahler sparsam verwendeter aber sehr charakteristischer Effekt ist. Hier wird es von Rosé gespielt (Notenbeispiel 6). [CD : 49]21

Sehr langsam und noch zurückhaltend G-Saite

____

n JL

i

Y

a tempo

Kroßer Ton

(Molto adagio)

steta großer Ton

Notenbeispiel 4: IX. Symphonie, 4. Satz, T. 1-10. 19 20 21

[CD: 47] Mahler, IX. Symphonie, 4. Satz, T. 1-10, Wiener Philharmoniker, Bruno Walter, 16. J ä n n e r 1938. [CD: 48] Mahler, IX. Symphonie, 3. Satz, T.484-491, Bratsche solo, Wiener Philharmoniker, Bruno Walter, 16. J ä n n e r 1938. [CD: 49] Mahler, IX. Symphonie, 1. Satz, T. 434-440, Geige solo, Wiener Philharmoniker, Bruno Walter, 16. J ä n n e r 1938.

.Was mir die Aufnahmen erzählen"

Notenbeispiel 5: IX. Symphonie,

3. Satz, T. 481-493.

Notenbeispiel 6: IX. Symphonie,

1. Satz, T. 4 3 4 - 4 4 3

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Herman Martonne, der bei den New Yorker Philharmonikern erste Violine spielte, spricht über Mahlers präzise Artikulation - was Mahler „breathing" — „atmend" nannte: [CD: 50] One specific Mahlerish thing, ... his breathing. Breathing in the ... melody ... of something, ... not always just one ... you know, one end to the other, but he'd ... sss ... breath in between ... stop all... see ... breathe ... a melody. Generally, you know, they play a melody, and a melody, and, or an orchestra ... a theme ... but he'd always breathe, just like you sing, you know. (Malloch: "Would he tell them to breathe?") Oh, yes, yes! Oh, that was one of his main points. (Malloch: "And how did ... in other words, how did he go about achieving what you've just talked about?") Well, I mean, he'd say: "Breathe! Breathe!" He ... That's one of the French ... English words he knew. He'd say: "Stop! Breathe, breathe." (Malloch: "Er, would he make the, a sound, the sound actually stop between phrases?") Yes! Absolutely! No, I, er ... For instance, take Meistersinger [sings] No! [sings] See? He stopped there. You know, for instance, er, see, like that... [sings Eroica beginning] ... (Malloch: "Yes. Where would his breath come? And the strings would take the bow off the string?") Yes. And that brought a, a clearness into the whole thing, you know. Clearness, and an ensemble. (Malloch: "That's very important.") See? That's almost, almost insensible, but just enough to, to ... make it, er, sound natural. Just because it isn't quite natural, I would say. Makes it sound natural, hmm.22 Wir können in den folgenden Beispielen aus dem 2. Satz von Beethovens Fünfter Symphonie hören, was er meint. (Siehe auch Notenbeispiel 7, das aus der

22

„Eine spezifische Mahlerische Sache ... sein Atmen. Das Atmen innerhalb der ... Melodie ... von irgendwas, ... nicht immer nur ein ... nicht wahr, ein Ende zum anderen, sondern er würde ... sss ... zwischendrin atmen ... alles stehen lassen ... atmen ... eine Melodie. Im allgemeinen, nicht wahr, spielen sie eine Melodie, und eine Melodie, oder ein Orchester ... ein Thema ... aber er pflegte immer zu atmen, so wie m a n singt, nicht wahr. (Malloch: „Pflegte er ihnen zu sagen, sie sollten atmen?") O ja, ja. Das war eines seiner wichtigsten Anliegen. (Malloch: „Und wie machte er ... in anderen Worten, wie erreichte er, daß sie dies, worüber Sie gerade gesprochen haben, taten?") Nun, nicht wahr, er sagte meistens: „Breathe! Breathe!" Er ... das war eines der französischen ... englischen Wörter, die er kannte. Er sagte: „Stop! Breathe! Breathe!" (Malloch: „Eh, wollte er den, einen Ton, den Ton tatsächlich unterbrechen zwischen Phrasen?") Absolut! Nein, ich, eh ... zum Beispiel, nehmen Sie Meistersinger, [singt] Nein, [singt] Sehen Sie? Er unterbrach hier. Nicht wahr, zum Beispiel, eh, sehen Sie, etwa so ... [singt den Beginn der Eroica] ... (Malloch: „Ja. Wo würde sein Atem kommen? Und die Streicher würden den Bogen von der Saite abheben?") J a . Und das brachte eine, eine Klarheit in die ganze Sache, nicht wahr. Klarheit, und ein Ensemble. (Malloch: „Das ist sehr wichtig.") Sehen Sie. Das ist fast, fast unhörbar, aber gerade genug, es, es ... es natürlich, eh, klingen zu lassen. Gerade weil es nicht ganz natürlich ist, wie ich meine. Läßt es natürlich wirken, hm." [CD: 50] H e r m a n Martonne, Spieler in der 1. Violine des New Yorker Philharmonischen Orchesters von 1905 bis 1909. Original aus William Malloch: I Remember Mahler, a. a. O.

,Was mir die Aufnahmen erzählen"

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Partitur Mahlers stammt.) In der Aufnahme von Nikisch [CD: 51] hört man deutlich, daß nicht nur Mahler, sondern auch andere seiner Zeitgenossen einen Atem zwischen den Phrasen erwarteten, auch wenn sie sehr kurz sind. Bei Schalk sind die Zeiten für das Atmen kürzer geworden [CD: 52]; andererseits ließ Toscanini noch 1952 sein Orchester deutlich atmen [CD: 53], Im Gegensatz dazu spielte Mengelbergs Orchester 1937 [CD: 54], ohne zwischen den kleinen Motiven zu atmen, was unter Karajan [CD: 55] und Carlos Kleiber [CD: 56] zur Routine geworden ist. 23

Notenbeispiel 7: Beethoven, V. Symphonie, 2. Satz, T. 11-15 aus Mahlers Partitur (mit freundlicher Genehmigung der UE). Nor rington erklärt das, wenn er schreibt: „Weil der Klang nicht künstlich geschönt wird, muß die Phrasierung seinen Platz einnehmen." 24 Die kleinen Unterbrechungen, die bei deutlicher Artikulation entstehen, kann man in Mahlers Werken häufig finden, zum Beispiel am Anfang von Das Lied von der Erde. Die Wiener Philharmoniker unter Bruno Walter spielen das auch so, indem die Folge von Abstrichen diese Wirkung verstärkt. [CD: 57] Im Gegensatz dazu danach eine Aufnahme mit den Berliner Philharmonikern unter Carlo Maria

23

24

Beethoven, V. Sinfonie, 2. Satz, T. 11-15: [CD: 51] Berliner Philharmoniker, Artur Nikisch, 10. November 1913; [CD: 52] Wiener Philharmoniker, Franz Schalk, 1928; [CD: 53] N B C Symphonisches Orchester, Arturo Toscanini, 22. März 1952; [CD: 54] Concertgebouw Orkest, Willem Mengelberg, April 1937; [CD: 55] Berliner Philharmoniker, Herbert von Karajan, 1962; [CD: 56] Wiener Philharmoniker, Carlos Kleiber, März/April 1975. Norrington, a . a . O .

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Giulini: Mahlers Bogenstriche werden ignoriert und auf diese Weise wird eine durchgehende Linie erzeugt [CD: 58]. 25

Notenbeispiel 8: Das Lied von der Erde, „Das Trinklied vom Jammer der Erde", Streicher T. 6-13.

Zusammenfassend k a n n m a n einige Merkmale von Mahlers Aufführungsstil feststellen, die mit größter Wahrscheinlichkeit auch f ü r heutige Interpretationen seiner Werke gültig sind : - Die Violinen müssen links und rechts aufgestellt sein, wie es Mahler selbst immer machte. 2 6 - Mahlers gedruckte Vorschläge und Glissandi sind zu befolgen. - Expressives Glissando beziehungsweise Portamento soll auch a n Stellen angewandt werden, an denen es nicht ausdrücklich notiert ist. - Wenn es aus irgendeinem Grund nicht möglich ist, Mahlers gedruckte Strichanweisungen zu befolgen, sollten wir dennoch ihre musikalische Bedeutung ergründen, u m einen Weg zu finden, diese zu realisieren. - Kein dauerndes Legatospiel : s t a t t dessen deutliche Artikulation u n d Phrasierung. - Kein dauerndes Vibrato. Das Vibrato soll bei besonders ausdrucksvollen Noten angewendet werden, ähnlich einer Verzierung, wie wir es bei Rosé hörten.

25

26

[CD: 57] Mahler, Das Lied von der Erde, 1. Satz, T. 1-9, Wiener Philharmoniker, Bruno Walter, 24. Mai 1936; [CD: 58] Berliner Philharmoniker, Carlo Maria Giulini, Feber 1984. Siehe auch Pickett, "Mahler on Record, the Spirit or the Letter", in: Barham, Perspectives on Gustav Mahler, Ashgate Publishing, Aldershot 2005, S. 346-347.

„Was mir die Aufnahmen erzählen"

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— Tempo und Rubato sind recht freizügig zu behandeln. In dieser Hinsicht stehen wir immer noch unter dem fragwürdigen Einfluß von Toscanini und Strawinsky. - Natürlich wäre es auch nachdrücklich zu empfehlen, die Instrumente der Zeit zu verwenden, deren Klang Mahler sicherlich erwartete. Sicherlich dürfen alle diese Charakteristika nicht zum Selbstzweck werden, wenn die Musik nicht ebenso viel oder sogar mehr leiden soll, als wenn man sie nicht beachtet. Vielleicht können wir diese Lektion von der Alten-MusikBewegung lernen, die Jahrzehnte benötigte, um verloren gegangene Traditionen der barocken Aufführungspraxis in ungezwungener und natürlicher Weise wieder aufzunehmen.

Ich möchte mich bei Frau Dr. Gabriele Fröschl von der Osterreichischen Mediathek, Wien, und Frau Lisa Philpott von der University of Western Ontario für das Bereitstellen der Aufnahmen von Rosé und Schalk bedanken. Dem Verlag Universal Edition ist für die Erlaubnis, die Notenbeispiele abzudrucken, zu danken. Dr. Reinhold Kubik danke ich für die sorgsame Ubersetzung meiner Vorträge und für seine freundliche Beratung.

BENJAMIN-GUNNAR COHRS ( B r e m e n , in Zusammenarbeit mit JOHN BOYDEN,

East Horsley/Surrey)

Das New Queen's Hall Orchestra Ein wiederbelebtes Londoner Orchester aus der Zeit um 1900

Das New Queen's Hall Orchestra (= NQHO) musiziert noch immer auf solchen Instrumenten, wie sie Gustav Mahler vorgefunden hätte, hätte er je dieses Orchester dirigiert. Ursprünglich wurde es 1895 von Robert Newman für die Londoner Promenaden-Konzerte unter Leitung von Sir Henry Wood gegründet und setzte Maßstäbe im britischen Musikleben. 1915 wurden die „Proms" von den Musikverlegern Gebr. Chappell übernommen, das Queen's Hall Orchestra wurde in „New Queen's Hall Orchestra" umbenannt, doch 1927 offiziell aufgelöst, als Chappell's ihre Subvention der Proms beendeten. Es firmierte dann noch drei Jahre lang als „Sir Henry Wood's Orchestra". Nachdem die BBC die Organisation der Proms übernommen hatte, kamen die meisten Musiker im 1930 neu gegründeten BBC Symphony Orchestra unter. Ein Wiederbelebungsversuch von Wood unter dem alten Namen „Queen's Hall Orchestra" für Plattenaufnahmen bei Decca blieb folgenlos; im J a h r 1941 vernichteten deutsche Bomber die Queen's Hall mit ihrer vorzüglichen Akustik, und spätestens damit schien das Schicksal des Orchesters besiegelt. Umso größer war die Überraschung, als der erfahrene englische Musikproduzent John Boyden das NQHO 1992 wiederbelebte. Die Konzerte und CD-Einspielungen des Orchesters ernten seitdem einhellig Begeisterung bei Publikum und Kritik, obwohl das NQHO es schwer hat, sich angesichts der Strukturen des Londoner Musiklebens zu behaupten. Thomas Hampson sprach bei der Auftakt-Veranstaltung zum Jubiläum der Internationalen Gustav Mahler Gesellschaft (27. April 2005) von einem Skandal, weil die Mahler-Gesellschaft nahezu gar nicht öffentlich gefördert wird. Hier hat sie etwas mit dem NQHO gemeinsam: Es erhält keinen Penny vom Arts Council, das für die Vergabe von Fördermitteln entscheidet. 1 Mein Vortrag möchte einige der Entwicklungen

1

Das NQHO muß sich auf dem Markt gegenüber den hoch subventionierten Londoner Orchestern halten, die dazu noch oft von ihren Managern zu Dumping-Preisen auf dem Markt angeboten werden: Es kommt öfter vor, daß namhafte Orchester wie das BBC Philharmonie oder das hoch verschuldete Royal Philharmonie Orchestra bei bestimmten Veranstaltern oder Festivals in voller Besetzung zu Honoraren im vierstelligen Bereich spielen, was sich kein freies Orchester leisten kann. Institutionen wie der BBC fällt es offenbar leicht, die strengen Honorar-Tarife der britischen Orchestermusiker-Gewerkschaft durch Kniffe zu umgehen. Orchester wie das NQHO werden dadurch erfolgreich

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Benjamin-Gunnar Cohrs

aufzeigen, die zur Wiederbelebung des NQHO führten, dessen Instrumentarium erläutern und mit Tonbeispielen demonstrieren.2

Entwicklungen im Orchesterspiel seit Beginn des 20. Jahrhunderts Eine neue Lärmschutz-Richtlinie schreibt eine Maximal-Lautstärke von 85 db am Arbeitsplatz vor. Doch heutige Orchester kommen manchmal bis auf 140 db; Gehörschäden sind unter Orchestermusikern verbreitet. Daher erstellen neuerdings Orchester-Gewerkschaften schwarze Listen mit „schädlichen" Werken. Ganze Akustiker-Generationen arbeiten an neuen Dämmstoffen und Lärmschluckern. Doch so wird das Pferd vom falschen Ende her aufgezäumt, denn die Ursachen dieses Problems liegen woanders. Der Cocktail technologischer Wohltaten hat uns im Laufe des 20. Jahrhunderts Schallplatten, Rundfunk, Fernsehen und die neuen Medien beschert. Die USA als wohlhabendste ZivilGesellschaft der Welt stellten mit beispielloser PR-Begabung sicher, daß Name und Ruf eines Toscanini als „größtem Dirigenten der Welt", eines Horowitz als „größtem Pianisten der Welt" oder eines Heifetz als „größtem Geiger der Welt" mit unfehlbarer Wirkung etabliert wurden. Doch nie kam der Gedanke auf, daß das spätromantische Konzept vom großen Künstler naiv sein könnte. Im Gegenteil wurden „die Großen" zunehmend vermarktet wie Hollywood-Stars. Zugleich wurde die machtvolle Einfachheit dieser Botschaft davor geschützt, anhand von Vergleichen mit „geringeren" Musikern unterminiert zu werden. Die Filmindustrie mischte sich ihrerseits mittels bewegter Bilder ein, die das Weltbeste herausstellten, ebenso, wie die Industrie mit Vorzeigeprodukten prunkte. Flugzeuge, Kreuzfahrt-Schiffe, Brücken oder Lokomotiven wurden zu Ikonen des Stils, und auch das SinfonieOrchester galt bald als bedeutendes Symbol städtischen Selbstrespekts. In den zwanziger und dreißiger Jahren schien ständig jemand irgend einen Weltrekord brechen zu wollen. Warum dann nicht auch das Konzert zu einer Sportart machen? Wer konnte schneller spielen? Oder lauter? Mit mehr Fingern! Oder mit wenigem! Die Folgen waren fatal. Bis heute zählt weniger die Musik, die gespielt wird, sondern viel mehr, wer sie spielt. Es ist also kein Wunder, daß

2

vom Markt weitgehend ferngehalten. Aktuelle Informationen auf der Homepage des Orchesters: www.nqho.com. Dieser Vortrag wurde in enger Abstimmung und Zusammenarbeit mit John Boyden erarbeitet, unter Verwendung der Informationen, die der Autor - seit 2002 Gastdirigent und Berater des Orchesters - von Boyden im Juni 2003 bei gemeinsamen Arbeitsgesprächen erhielt. Für die Druckfassung wurde das ursprüngliche Manuskript um einige Aspekte erweitert.

Das New Queen's Hall Orchestra

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die Zuhörer irgendwann mehr vom Star und seinem Können als von der Musik selbst beeindruckt waren. Denn zum Selbstzweck erhobene Virtuosität übt eine starke Anziehungskraft aus - beispielsweise der Anblick eines Kunst-Glasbläsers. Oder eines Farm-Arbeiters, der im Akkord Schafe schert. Doch was passiert, wenn man beim Ausformen von zehn Vasen oder beim Scheren von zwanzig Schafen zugesehen hat? Nichts verliert so schnell den Reiz wie reine Virtuosität. Besonders dann, wenn sie dazu benutzt wird, solche Musik zur Schau zu stellen, die wir instinktiv als zu tiefgründig empfinden, als daß sie für Protzerei herhalten sollte. Denn großartige Werke wurden früher eben nicht für aalglatte Macher komponiert, die jede künstlerische Verantwortung vermeiden. Sie wurden geschrieben für beseelte Musiker-Persönlichkeiten, die die Substanz eines Werkes zum Ausdruck bringen konnten, ohne sich allein auf die Beherrschung der Technik verlassen zu wollen. Gerade im Konzert sollte Kunst vor allem mit Spontaneität und Freiheit des Augenblicks befaßt sein. Doch wo bleibt die Menschlichkeit, wenn ein Tempo in einen unnachgiebigen, metronomischen Taktschlag eingezwängt wird? Und wie könnte ein Aufführender, der eifrig „Werktreue" geschworen hat, eigentlich noch erwarten, als Künstler mit Vorstellungsvermögen ernst genommen zu werden? Die meisten Komponisten glaubten selbst, daß ihre Notierungsweise nicht erlaubte, den Ausführenden alles Notwendige vollständig mitzuteilen. Jeder Text bleibt offen für eine Interpretation. Außerdem reagiert der Künstler auf ihn mit seiner eigenen Befindlichkeit. Seine Körpertemperatur, sein Puls, das Klima des Konzertsaals, das Befinden des Orchesters und der Zuhörer - all dies spielt in einer Aufführung eine Rolle. Was sich am Morgen richtig anfühlt, mag am Abend unpäßlich wirken. Und doch berichtete mir John Boyden 3 von Begegnungen mit berühmten Dirigenten, die sich nach einem Konzert ihr „perfektes" Tempo notierten, damit sie noch dreißig Jahre später eben jene „perfekte" Vorstellung von damals wiederholen konnten. Als ob es eine Form gäbe, in der man die Ideen des Komponisten ausbacken und so jede Verantwortung von den Schultern des sogenannten Interpreten nehmen könnte! Solche Konzepte gehen fehl. Und mehr als das: Sie betrügen die Einzigartigkeit einer Aufführung, wie wir sie alle schätzen sollten. So etwas wie die „perfekte Aufführung" gibt es nicht und kann es niemals geben. Ein kleines Etwas an Einsicht kann nur aus Nachforschung, Experiment und Risiko kommen. Traurigerweise leben wir jedoch in einer Welt, die das Risiko nicht toleriert. Sobald ein Hornist einmal einen Einsatz schmeißt oder ein Cellist gar - Gott behüte! - eine hohe Note verfehlt, fühlt sich das Publikum schon so unwohl, als ob ein Artist vom Seil gefallen wäre oder ein Kellner sein Tablett fallengelassen hätte. Eine derartige Reaktion bedeutet allerdings, daß die Fehlervermeidung

3

Siehe Fußnote 2.

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Benjamin-Gunnar Cohrs

dem Ausdruck vorgezogen wird, weil viele heutzutage „sauberes Spiel" als den einzig wichtigen Schritt hin zu einer „perfekten" Vorstellung betrachten. Fehlervermeidung ist die Politik der Minderbemittelten. Das hat nichts mehr mit Bach, Beethoven oder Mahler zu tun. Vor der Einführung des Fließbands war die Idee einer „Standard-Aufführung" wahrscheinlich unvorstellbar. Selbst, als die industrielle Revolution schon weit in ihrem zweiten Jahrhundert war, war für einen Handwerker noch anzunehmen, daß sich seine Arbeit von der anderer unterschied. Doch ein Mensch hinter einem Fließband, der mit einem computergesteuerten Werkzeug Stühle herstellt, kann seine Arbeit von der seiner Kollegen allenfalls noch an der Seriennummer unterscheiden. Hingegen hat noch sein Großvater vielleicht einen Stuhl vollständig von Hand gemacht, jeder ein wenig anders als der andere und sofort von ihm und seinen Freunden wiedererkennbar. Es liegt nahe, anzunehmen, daß damals ein ausübender Künstler erst recht seine Individualität auszudrücken wußte. Deshalb würden damalige Komponisten, Künstler und Hörer eine heutige Aufführung oder die dahintersteckenden Ideale wohl kaum mehr wiedererkennen. Damit soll keineswegs unterstellt werden, daß Veränderungen nicht wichtig wären. Doch der Glaube, daß solche Veränderungen notwendigerweise „Verbesserungen" seien, läßt das Bewußtsein für den Wert dessen, was aufgegeben wird, schwinden. Vielleicht haben solche Prozesse schlicht mit der menschlichen Natur zu tun. Die meisten ziehen das Gefühl der Sicherheit der individuellen Freiheit vor. Denn Freiheit erfordert beständiges Schwimmen gegen den Strom, während man sich zur Aufrechterhaltung einer Sicherheitsillusion nur treiben lassen muß. Doch irgendwann gelangt der Fluß sicherlich zu einem Ozean oder einem Wasserfall. Künstler der Romantik haben dies gewußt: Die romantische Erkenntnis „Frei, aber einsam"4 beruht nicht zuletzt auf der Beobachtung, daß weite Teile der Mitwelt stets den Weg des geringsten Widerstands bevorzugen. Vor diesem Hintergrund läßt sich sogar die heutige soziale Entwicklung verstehen, die immer noch eine Folge der Imperative der industriellen Revolution ist. Fortschrittsglaube, Machbarkeitswahn und Sicherheits-Begierde wurden durch das Streben nach Mehr so sehr angeheizt, daß wir nunmehr an einem Punkt angelangt sind, wo Raubtier-Kapitalismus und Shareholder-Value-Mentalität den Menschen in der westlichen Welt immer mehr lähmen. Wieder einmal scheint sich eine blühende Epoche ihrem Ende zu nähern - eine Gesellschaft, die zunehmend dekadenter wird und schließlich kollabieren muß. Konzerte mögen zwar im Gegensatz zu vielen seelenlosen Rundfunk- und Fernsehprogrammen noch nicht von Computern stammen, doch liefern bereits viele Aufführungen mit kleingeistiger Buchstabentreue und konsequenter

4

Vergl. dazu etwa die sogenannte F-A-E-Sonate von Albert Dietrich, Robert Schumann und Johannes Brahms, 1853 gemeinschaftlich für Joseph Joachim komponiert.

Das New Queen's Hall Orchestra

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Herzlosigkeit nurmehr ein günstiges Preis-/Leistungsverhältnis. Alle Künstler sollten umso mehr darauf achten, daß man sie nicht dazu bringt, bloße Imitationen abzuliefern. Das moderne Konzert ist aber nicht, was es ist, weil jemand geplant hat, nur noch sterile, mechanische Aufführungen abzuliefern. Es ist, was es ist, weil immer eins zum anderen kommt. Das liegt in der Natur des Menschen und der Dinge, heute besser bekannt als „Chaostheorie": Ein Schmetterling fliegt in Chile auf, und ein Wolkenbruch erscheint über Wien. Das kann man auch an den Veränderungen der Instrumente im 20. Jahrhundert erkennen. Hier also ein Alptraum von John Boyden 5 , unter Berücksichtigung der Chaostheorie: Der Posaunist eines englischen Orchesters sieht einen Film mit einer amerikanischen Big-Band, wo eine Posaune völlig neuer Bauart einen viel voluminöseren Klang produziert. Er bestellt sich so ein Ding, und ehe man sich's versieht, ist plötzlich die Posaunengruppe jedes Orchesters lauter als je zuvor — nicht, weil es nötig wäre, sondern einfach, weil es machbar ist. Der Tubaspieler fühlt sich genötigt, aufzuschließen, und ordert eine Mega-Tuba. Der Paukenist ersetzt seine kleinen, feinen Pauken mit großen Kanonen - einfach, weil er das kann. Die Trompeter wollen natürlich nicht zurückstehen und besorgen sich weiter gebohrte Instrumente aus der gleichen amerikanischen Big-Band, und so gerät das Orchester durch das Blechbläser-Ubergewicht völlig aus dem klanglichen Gleichgewicht. Die Holzbläser müssen auf diese volle Breitseite mit noch mehr Volumen reagieren. Die Streicher, nun von allen Seiten massiv unter Beschuß, spielen auf Metallsaiten, mit Extra-Attacke und viel Vibrato, was, abgesehen von elektronischer Verstärkung, die einzig verfügbaren Waffen sind. Ihre letzte Zuflucht ist schließlich, Extra-Streicherpulte aufzustocken; dies führt zu einem noch weniger formbaren Ensemble, mit einer Klangmacht, die allein durch schieres Gewicht zu beeindrucken sucht — ein Teufelskreis, der durch Lärmschutzmaßnahmen und schwarze Listen weiter angeheizt wird. Wir brauchen also auch im Musikleben, das ja letztlich ein Spiegel des gesellschaftlichen Lebens ist, zweierlei Dinge - einerseits einen Aufstand gegen eigene Bequemlichkeit und eigenes Sicherheitsdenken, und andererseits eine Bewegung wie in der Ökologie, wo vom Menschen verschandelte Landschaften durch rückgebaute Flußbegradigungen, wiederbelebte Braunkohlegruben oder künstliche Auen aufwendig „renaturiert" werden. Wie eine solche Renaturierung im Orchester aussehen könnte, dafür möchte das New Queen's Hall Orchestra ein lebendiges Beispiel geben. Im Folgenden stelle ich Ihnen die Instrumente des Orchesters und deren Spielweise vor. In einigen Tonbeispielen demonstrieren Musiker des Orchesters zum hörend nachvollziehbaren Vergleich zunächst das von ihnen üblicherweise in Londoner Orchestern verwendete,

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Siehe Fußnote 2.

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heutige Instrument, 6 sodann das alte Instrument von etwa 1900, wie sie es im New Queen's Hall Orchestra spielen.

Das New Queen's Hall Orchestra und seine Instrumente Querflöten Der Streit über die Vorzüge und Nachteile von Holz und Metall bei Querflöten schwelt seit Generationen. Einige glauben, es mache keinen Unterschied; manche finden Metall glanzvoller, wieder andere Holz wärmer im Klang. Wahrscheinlich liegt die Wahrheit beim Spieler und dessen Vorstellung vom Flötenklang. Die Knackpunkte sind jedoch Vibrato und Brillanz. In den Zwanzigerjahren diktierte leider der Zeitgeist, daß der reine Ton der Holzflöte dem neurotischen Vibrato der französischen Flöte allmählich weichen mußte, insbesondere aufgrund des Einflusses des Flötisten und Komponisten Marcel Moyse (1889-1984). Dieser Stil ist längst Mode geworden; Leute t u n es heute, weil es so gemacht wird. Das Vibrato hat den Vorzug, daß vielleicht manche Intonationsprobleme leichter gelöst werden können, aber schon zu zweien oder zu dritt können die Interferenzen zwischen den Instrumenten f ü r jeden, der nach einem ruhigen Ausdruck sucht, unerträglich werden. Selbst, wenn der Komponist ausdrücklich eine unschuldige Klangqualität forderte, wird das moderne Instrument fast immer mit einem virtuosen Vibrato geblasen. Die Flöte war ohnehin niemals ein brillantes Instrument, doch bei dem Versuch, durchschlagende Kräfte zu entwickeln, scheint sie heute eher eine Trompete imitieren zu wollen. Im NQHO werden nicht nur ausschließlich Holzflöten gespielt; die Spieler verzichten auch auf das starke Dauer-Vibrato ihrer Ausbildung und erzielen Ausdruck durch eine Kombination aus Phrasierung, Dynamik und Klangfarbenbewußtsein. Dezentes Vibrato wird allenfalls als gelegentliches Ausdrucksmittel in solistischen Passagen verwendet. Die Flöten des NQHO sind aus Holz und wurden um 1900 von der alt eingesessenen Londoner Firma Rudall Carte & Co7 gebaut. Eine stammt aus dem J a h r 1899 und hat Ringklappen von Schumacher. 8 6

7

Notabene: Da die hier zugrundegelegten Ton-Aufnahmen bereits zehn Jahre zurückliegen, ließ sich im Einzelfall nicht mehr nachvollziehen, welches moderne Instrument jeweils zum Vegleich herangezogen wurde, zumal etliche der Musiker selbst auch im Tagesbetrieb zwischen mehreren heutigen Instrumenten wechseln. Hier kam es vor allem darauf an, die farblichen Unterschiede zu demonstrieren. Angaben zu den verschiedenen Instrumenten und ihren Herstellern hier und im Folgenden stets nach John Boyden (siehe Fußnote 2). Leider ließen sich nicht zu allen Manufakturen genaue Informationen finden. Weiteres dürfte jedoch in einschlägiger Fachliteratur und Lexika verzeichnet sein. - George Rudall (1781-1871), baute seit etwa 1820 Flöten, seit 1850 mit Richard Carte. Die Firma Rudall Carte (1872-1955) wurde 1955 von Boosey & Hawkes übernommen.

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[Tonbeispiele 64 und 65: Sebastian Bell und sein heutiges Instrument im Vergleich zur alten Rudall Carte-Flöte.] Oboen Der legendäre Leon Goossens (1897-1988) war der erste Oboist, der ein permanentes Vibrato verwendete, und obgleich sein Vibrato noch viel diskreter als heute war, nahm seine Innovation die Musikwelt im Sturm: Als das 1932 neu gegründete London Symphony Orchestra begann, mit ihm als Solo-Oboisten Platten einzuspielen, wurde sein Stil rasch imitiert. Daß eine Oboe in der Lage sein sollte, das allmählich Raum greifende Vibrato der Streicher und Flöten zu übernehmen, schien seinerzeit nur folgerichtig. Hätten die Oboisten Goossens' noch relativ diskretes Vibrato beibehalten, wäre es vielleicht gar nicht zu dem Hyper-Vibrato gekommen, das Oboisten heute gern verwenden, vielleicht, weil sie es für noch ausdrucksvoller halten. Generell gilt hier jedoch das bereits für die Flöte Gesagte: Staatlich verordnetes Vibrato ist eine erbärmliche Angelegenheit. Anstelle der vielseitigen Klang- und Stilideen, wie sie früher einmal in Wien, Berlin, Amsterdam oder London präsent waren, müssen Zuhörer heute einen süßlich schlürfenden, rückgratlosen Oboenton mit dem gruseligen Charakter einer Hammond-Orgel ertragen. Die Spieler des NQHO verwenden Oboen, die um 1925 nach Entwürfen des Pariser Instrumentenbauers Loree von Louis9 in London gebaut wurden, sowie Englisch-Hörner von Cabart, Paris10. Selbstverständlich wird ohne Vibrato geblasen; die Spieler verlassen sich auf ihre Fähigkeit, zu phrasieren und den Orchesterklang mit einem Ton zu durchdringen, der in den Ohren vieler Menschen feiner, nobler und eigenfarbiger klingt, als oft zu hören ist.

Klarinetten Eigenartigerweise haben sich die Klarinetten und ihre Spielweise in den letzten achtzig Jahren vergleichsweise wenig verändert, wenn auch im Sinne des Fetischs Klangverschmelzung die moderne Klarinette an Farbe verloren und an Volumen gewonnen hat. Andrerseits wird die Klarinette als einziges Holzblasinstrument immer noch ohne Vibrato gespielt. Als Reginald Kell (1906-1981), dessen persönliche Instrumente im NQHO noch heute weiterverwendet werden, in den frühen dreißiger Jahren versuchte, in Nachahmung von Goossens das Vibrato einzuführen, schlug ihm ein Sturm der Entrüstung entgegen. „Mag

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Siehe Fußnote 7. Über Schumacher waren keine weiteren Angaben zu finden. Siehe Fußnote 7. Gegründet 1881 von Francois Loree in Paris. Zur Firma Louis waren keine weiteren Angaben zu finden. Siehe Fußnote 7. Alteingesessene Holzbläser-Manufaktur, seit 1974 eine Tochterfirma von Loree, Paris.

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sein, daß das Vibrato eine echte Verbesserung ist. Manche Leute tun sich auch Zucker auf ihre Eiskrem. Viele lassen es und werden es auch in Zukunft nicht tun," schrieb der amerikanische Klarinettist Robert Willaman in seiner Klarinettenschule.11 Warum ist das so? Manche vermuten, es läge daran, daß die Klarinette als einziges Holzblasinstrument aus dem Orchester im Jazz heimisch wurde: Kein klassischer Lehrer, der etwas auf sich hält, würde es je wünschen, dabei erwischt zu werden, wie er eine Spielweise aus der schlampigen Welt des Jazz propagiert. Schade, daß nicht auch Flöte, Oboe und Fagott im Jazz heimisch wurden ... Die Klarinetten des New Queen's Hall Orchestra wurden zwischen 1900 und 1914 nach Modellen der Brüder Martel (Paris) von Hawkes12 in London gefertigt. [Tonbeispiele 66 und 67: Keith Puddy und sein heutiges Instrument im Vergleich zur alten Martel/Hawkes-Klarinette.] Fagotte Das französische Fagott, wie es im New Queen's Hall Orchestra gespielt wird, verschwand erst kurz vor dem zweiten Weltkrieg aus englischen Orchestern. Mit dem weichen, honigsüßen Klang des deutschen Fagotts konnte es nicht mithalten, und demzufolge wurde der Fagottist fähig, mit dem Cello zu konkurrieren. Musik ist jedoch nicht allein mit Schönheit befaßt. Würden alle Instrumente nur einen fetten, runden Ton liefern, würden wir uns alle zu Tode langweilen (und in der Tat ist das bereits oft so). Etwas „Schönes" macht nur Sinn im Kontrast zu etwas Herberem, das einen auch einmal Zusammenzucken macht. Wir erwarten, daß in instrumentaler Musik eine breite Palette von Ausdruck und Gefühl verwendet wird. Das kann jedoch nur mittels individueller Klangfarben der Instrumente und der Könnerschaft der Spieler überzeugend gelingen. Instrumente, die als Folge mißverstandenen Fortschritts geradezu monochrom geworden sind, sind wenig hilfreich. Dies ist der Hauptgrund dafür, warum die Fagottisten des NQHO ihre heute üblichen Fagotte nach HeckelBauweise13 weglegen und zum französischen Instrument greifen, auch wenn es in Grifftechnik und Intonation weit kapriziöser ist. Doch mit französischen

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Willaman, Robert: The Clarinet and Clarinet Playing: A Text for Beginners, Advanced Players, Listeners. New York, 1949, Vorwort. Uber Willaman waren keine weiteren Angaben zu finden. Siehe Fußnote 7. Die Instrumenten-Manufakturen Boosey & Co. (gegründet 1816 in London) und Hawkes & Son (gegründet 1865) waren vor ihrer Fusion zu „Boosey & Hawkes" im Jahr 1934 lange Zeit unabhängig und scharfe Konkurrenten auf dem Markt. Siehe Fußnote 7. Heutige Wilhelm Heckel GmbH, gegründet 1831 von Johann Adam Heckel und Karl Almenräder in Biebrich.

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Abbildung 1. Das Buffet- Cr ampon-Fagott im Vergleich zu einem modernen, deutschen Fagott. Photo: Carpenter Turner - London.14

[Tonbeispiele 68 und 69: Meyrick Alexander und sein heutiges Instrument im Vergleich zum alten Buffet-CramponFagott.]

Fagotten als Fundament lassen sich herrliche Farben erzielen. Ihr präziser, scharfer Klang sticht heraus in einer Weise, die vom samtigen Ton des HeckelFagotts völlig verleugnet wird. Schärfer und konzentrierter, aber nicht lauter werden Baßlinien so von Instrumenten voller Charakter unterstützt. Ihr einmaliges Timbre, das nach einer tiefen Oboe klingt, lichtet den Orchesterbaß vorteilhaft auf. Die um 1900 gefertigten Fagotte des NQHO wurden von BuffetCrampon 15 in Paris gebaut; das Kontrafagott mit französischem System stammt von Mahillon in Brüssel 16 (vgl. Abbildung 1). 14 15

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Abdruck aller Abbildungen mit freundlicher Genehmigung des New Queen's Hall Orchestra. Siehe Fußnote 7. Ging aus der 1825 gegründeten Firma Buffet in Paris hervor. 1830 übernahm Louis Buffet das Geschäft seines Vaters. Der Name leitet sich aus dem Geburtsnamen seiner Frau, Zoé Crampón her, die er 1836 heiratete. Das erste Firmenlogo ist aus dem Jahr 1844 erhalten. Siehe Fußnote 7. Manufaktur, gegründet 1836 in Bruxelles von Charles-Borromée Mahillon (1813-1887).

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Hörner Die dunklen, romantischen Hörner haben wenig gemein mit den schweren, lasergebohrten Wundern moderner Ingenieurskunst, die heutzutage in Geschwadern die Nachhut des Orchesters bilden. Das alte Horn war theoretisch ein Metallrohr, das aus Gründen der Bequemlichkeit aufgewickelt war und mit einem dünnrandigen, konischen Mundstück geblasen wurde. Eine Hand bediente die Kolben, und die andere stopfte die Stürze. „Theoretisch", weil die Rohre, die die Kolben trugen, notwendigerweise parallel angeordnet sind. Die alten Instrumente hatten Einsetzbogen unterschiedlicher Länge, normalerweise in Es oder in F, die die Grundstimmung falls erforderlich verändern konnten. Das moderne deutsche Horn ist weiter gebohrt als das französische und wird mit Drehventilen bedient. Üblicherweise hat es zwei Röhren-Sektionen unterschiedlicher Länge, deren kürzere es erlaubt, hohe Noten sicherer zu treffen, da die Obertöne weiter auseinanderliegen. Unter dieser Sicherheit aber leidet der Klangcharakter. Design und Machart der alten Instrumente erschweren ihre Handhabung ungemein; sie sind instabiler als die modernen und erzeugen erheblich mehr Probleme und Fehler, als ein Orchester heute tolerieren würde. Dies sollte jedoch ohne Belang sein, denn diese Instrumente leiten den Hörer auch in eine neue, magische Welt des Horn-Erlebnisses, das auf andere Weise unerreichbar wäre. Das NQHO verwendet ein Raoux-Horn,17 um 1850 in Paris gebaut und 1890 mit hinzugefügten Ventilen von William Brown modifiziert, zwei Hörner von Hawkes & Co., London, um 1920 (vgl. Abbildung 2), sowie eins von Rudall Carte von etwa 1930. Die Wagner-Tuben stammen von Boosey & Co., London, zwischen 1908 und 1925 (vgl. Abbildung 3). Trompeten Die alten Trompeten erzeugen einen weniger fetten Klang als die modernen; sie können daher nicht diesen unangemessen quakenden Klang erzeugen, der für amerikanische Big-Bands der fünfziger Jahre charakteristisch war. Das alte Instrument hat eine silbrige Tonqualität, die in allen Lagen gleichermaßen gut zum Tragen kommt. Die moderne, weit mensurierte Trompete verliert hingegen an Ton, wenn sie leise gespielt wird. Abgesehen von der heute üblichen B-Trompete verwendet das New Queen's Hall Orchestra auch die alte und noble, große Trompete in F von doppelter Rohrlänge. Dies außerordentliche, von Bruckner, Caikovskij und Strauss so geschätzte Instrument hat eine dunkle Größe, die dem Orchester zusammen mit den alten Posaunen einen warmen Glanz verleiht, dem jede Schärfe fehlt. Die schiere Brillanz moderner Trompeten

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Siehe Fußnote 7. Alteingesessene Pariser Instrumentenbauer-Familie, zurückgehend auf das 17. Jahrhundert. Firma seit 1776 von Lucien Joseph Raoux geführt („Raoux Frères") ; 1821 übernommen von Marcel Auguste Raoux.

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Abbildung 2. Das eng gebohrte BooseyWaldhorn im Vergleich zum modernen, deutschen Doppelhorn.

[Tonbeispiele 70 und 71: Francis Marcus und sein heutiges I n s t r u m e n t im Vergleich zum alten Hawkes-Horn.]

Abbildung 3. Die Wagner-Tuben und Kontra-Baßtuba des New Queen's Hall Orchestra.

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errichtet hingegen gemeinsam mit den Kraftwerk-Posaunen einen Klangwall, der alle anderen Instrumente bis zur Impotenz reduziert. Das Trompetenspiel hat im Laufe der Zeit leider den größten Teil seiner alten Legato-Flexibilität eingebüßt. Viele der Trompeter um die Jahrhundertwende waren ursprünglich einmal Kornett-Spieler, oft aus der Armee. Sie konnten noch eine reiche Auswahl von Solo-Transkriptionen beliebter Balladen abliefern, Volkslieder spielen und Melodien ausspinnen. Es gibt seitenweise romantisches Repertoire, das heutzutage von scharfzüngigen Virtuosen schlecht bedient wird, aber von expressivem Legatospiel ungemein profitieren würde. Im NQHO werden amerikanische Trompeten aus dem frühen 20. Jahrhundert verwendet, gebaut von Henderson N. White, Roth & Co., Cleveland, Ohio,18 nach dem Vorbild britischer Boosey-Trompeten. [Tonbeispiele 72 und 73: Crispin Steele-Perkins und sein heutiges Instrument im Vergleich zu seiner historischen Trompete nach einem Modell von Boosey, London.] Posaunen Als George Bernard Shaw im Juni 1892 das Gastspiel der Hamburger Philharmoniker unter Gustav Mahler in London erlebt hatte (u.a. mit Wagners Tristan und dem Ring des Nibelungen), konstatierte er: Anstelle dreier individuell konstrastierender Familien von Vollblut-Posaunen, -Hörnern und -Tuben gab es nurmehr eine Horde von Bastarden, die sich allenfalls in der Größe unterschieden. Ich dachte unwillkürlich, irgendwelche Vorfahren der Posaunen sollten dafür schuldig gesprochen werden, irgendwann eine Misch-Ehe mit einem Bombardon eingegangen zu sein, und daß die Mutter dieser Hörner dann mit einer ganzen Militärkapelle durchgebrannt wäre.19 Im Falle der Blechblasinstrumente wußte der Fortschritt also offenbar schon im 19. Jahrhundert nicht so recht, wann er besser aufgehört hätte. Schallmessungen haben bewiesen, daß heute jeder, der direkt vor einer modernen Blech-Sektion sitzt, eigentlich industrielle Ohrenschützer tragen sollte. Die Posaune wurde vom eng mensurierten, dünn aussehenden Instrument des 19. Jahrhunderts weg praktisch neu erfunden (vgl. Abbildung 4). Sie war aber ursprünglich nicht für Orchester, sondern für amerikanische Big-Bands gedacht. Unglücklicherweise sprengte das Biest seine Ketten und entkam ins Orchester, um sich dort häuslich einzurichten. Zu Beginn wurden die neuen Posaunen noch von Spielern bedient, die ihre alten Instrumente gerade erst 18 19

Siehe Fußnote 7. Henderson N. White (1873-1940), amerikanischer Blechblasinstrumenten-Bauer. George Bernard Shaw, Musik in London, Frankfurt a.M. 1957, S.74ff.

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Abbildung 4. Die deutlich kleinere Boosey-Posaune im Vergleich zu einer modernen Londoner Posaune.

[Tonbeispiele 74 und 75: Peter Davies demonstriert sein heutiges Instrument im Vergleich zur alten Boosey-Posaune.]

beiseite gelegt hatten; deshalb wurde die weit gebohrte Posaune für einige Jahre mit einer gewissen Zurückhaltung geblasen, da die Spieler noch die relativen Volumenstärken bestimmter Werke zu differenzieren wußten. Die nachwachsenden Spieler wußten schon nichts mehr davon, und zwei Generationen feiner Posaunisten bliesen sich bald rücksichtslos und volle Pulle ihren Weg frei, ob durch zarte Sinfonien wie Schuberts Unvollendeter oder üppige Werke wie die Bilder einer Ausstellung. Abgesehen von heutigen Posaunisten selbst sind die einzigen, die vom Abschneiden ihrer Dezibels außerdem noch beeindruckt sind, jene Sorte Dirigenten, die uns offenbar die Hölle als Herrscher über die Musikwelt geschickt hat. So schütteln manche „moderne" Dirigenten den Kopf und wundern sich darüber, warum Elgar so inkompetent war, an bestimmter Stelle f f f in die Posaunen zu setzen20 - sicher hätte er doch nie

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Andrerseits waren offenbar auch schon zu Elgars Zeiten die Posaunen lauter; gelegentlich hat er selbst sogar die Posaunen schwächer bezeichnet als den Rest, vergl. z.B. Cellokonzert, 1. Satz, Ziffer 5.

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erwartet, daß die Gegenmelodie um etliche Concorde-Maschinen lauter wäre als die Hauptmelodie, die vom ganzen Rest gespielt wird? Solche Dirigenten verstehen leider nicht, daß die Posaunen, für die Sir Edward so einsichtsvoll schrieb, eine insgesamt viel leichtere, delikatere Ausgabe jener Instrumente waren, die zur Zeit die Schultern ihrer Spieler in Grund und Boden rammen. Das heißt nicht, daß die Instrumente von den beiden Londoner Manufakturen Boosey und Hawkes 21 aus Elgars Zeit, die das NQHO benutzt, schwach klingen. In der Tat haben die tiefen Töne der Baßposaune sogar eine irdische, goldene Qualität, die lange vermißt wurde. Schlagwerk Auch die Pauken im Orchester sind gewachsen, ganz ähnlich wie das Blech. Wie so viele Dinge im modernen Leben wurde diese Veränderung zur Bequemlichkeit der Spieler eingeführt und nicht zunutze der Hörer oder des Komponisten. Plastikfelle mögen sich vielleicht im Scheinwerferlicht besser benehmen als Naturfell, aber sie klingen lange nicht so schön und kapitulieren rasch vor zu harten Schlägeln. Die Pedal-Pauken des NQHO sind genau jene Dresdener Instrumente, die schon in den zwanziger Jahren verwendet wurden; John Chimes, Pauker des NQHO, hat sie liebevoll restauriert. Andere Schlagwerkinstrumente waren früher kleiner als ihre heutigen Gegenpole. Oft hilft diese Reduktion der Größe bei der Wahrung orchestraler Balance; kleinere Becken schwingen zum Beispiel schneller aus, wodurch etwa an Höhepunkten das Orchester nicht mehr so leicht zugedeckt wird. Alle Trommelinstrumente des NQHO sind mit Naturfell bespannt. Streichinstrumente Frühere britische Komponisten liebten den reinen Klang von Streichinstrumenten, die mit umsponnenen Darmsaiten bespannt waren. Es gibt daher eine ganze Tradition von Werken bis weit in das 20. Jahrhundert hinein, die in Tonarten komponiert wurden, welche die Bevorzugung leerer Saiten zuließen. 22 Dann setzten sich im Laufe des 20. Jahrhunderts die modernen Stahlsaiten durch; auf die alten Darmsaiten mußte man allenfalls wieder zurückgreifen, wenn Stahl in Kriegsjahren knapp war. Wer einmal erlebt hat, welch grau-

21 22

Vergl. Fußnoten 7 und 12. Elgars Introduction and Allegro, die Tallis Fantasy von Vaughan Williams oder die Simple Symphony von Britten sind dafür ebenso vorzügliche Beispiele wie die Symphony in G von George Dyson. Gemeint sind hier stets umsponnene Saiten aus Naturdarm; verwendet werden von Streichinstrumente-Spielern auch Saiten aus Stahl, anderen Metallen, Nylon oder modernen Kunststoffen, mit verschiedenen Materialien umsponnen oder blank.

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envolle Geräusche heutzutage ein E oder A erzeugen können, wenn sie von Geigen und Bratschen leer auf der höchsten Stahl- oder Nylonsaite gespielt werden, wundert sich nicht mehr, daß das Spiel auf leeren Saiten heute völlig aus der Mode gekommen ist. Leider ist damit aber auch eine wesentliche Farbe im Spiel der Streicher verloren gegangen. Die Streicher des NQHO wollen sich zwar nicht ausschließlich auf empfindliche Darmsaiten verlassen, verwenden sie jedoch zumindest für die hohen Saiten, auch wenn die höchste Saite aufgrund der hohen Spannung besonders empfindlich ist. 23 Beinahe ein Jahrhundert lang ist nun das Vibrato ein regelrechter Fluch des Streicherspiels. Zuvor war es allenfalls ein erfreulicher Schmuck, wie man ihn zu besonderen Anlässen anlegt; etwas, das gelegentlich den Klang wärmt und die Intensität einer Phrase erhöht. Heute ist Vibrato ein dauerhaftes Markenzeichen. Etwas Allgegenwärtiges wird jedoch rasch nicht mehr wahrnehmbar, wie zum Beispiel „Muzak" in Kaufhaus, Fahrstuhl, Flughafen oder Hotel-Lounge, oder der Lärm von Zügen hinter dem Gartenzaun, den man irgendwann nicht mehr hört. Eine solche Gewöhnung ist nicht nur eine Brutstätte der Verachtung; allgemeines Vibrato der Streicher provoziert auch eine Instabilität der Textur und neurotische Obertöne, die die schlichte Anmut vieler Musik behindert. Vor allem jedoch ist Vibrato oft lediglich die Folge einer Unfähigkeit zur reinen Intonation. Dies hat die Forscherin Jutta Stüber 24 deutlich herausgearbeitet. Sie konnte sogar den Beginn dieser Unsitte zeitlich genau bestimmen: Das Abgleiten in dieses Vertuschungsvibrato markiert ziemlich genau die 1923 erschienene Kunst des Violinspiels von Carl Flesch.25 Flesch war der Meinung, daß es ein Rein-Spielen gar nicht geben könne, hielt das aber nicht weiter für bedenklich, da es nur darauf ankomme, den Eindruck der Reinheit zu erwecken, eben mit Hilfe des Vibratos. Aus dem Zusammenhang gerissen und verfälscht weiter getragen, galt dieser Satz offenbar bald als Entschuldigung für schlechte Intonation und erhöhtes Vibrato-Fieber. Nur Arthur Jahn von der Berliner Musikhochschule nannte Stüber zufolge das Kind beim Namen: Das Dauer-Vibrato diene dazu, „sich um die Probleme einer feineren Intonation zu drücken, indem man im Umfange eines Dritteltons um den richtigen Griffpunkt herumschaukelt." 26 Daran hat sich bis heute wenig geändert. Doch Stüber führte auch warnende Stimmen 23

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Reinhold Kubik wies mich darauf hin, daß selbst unter vielen Barockgeigern zur RisikoMinimierung die höchste Saite normal bespannt wird, auch wenn sonst umsponnener Darm verwendet wird. Ich habe selbst auch Aufführungen erlebt, wo die unteren drei Saiten Naturdarm waren, die höchste Saite jedoch umsponnen war. Jutta Stüber, Die Intonation des Geigers, Köln 1989, S. 216 ff. Carl Flesch, Violinvirtuose und Pädagoge (1873-1944). Das Werk erschien 1923 bei Ries & Erler, Berlin. Dieses und die folgenden beiden Zitate nach Stüber, a. a. O.

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an, so den berühmten Geiger Joseph Joachim (1831-1907), der schon 1905 schrieb: Der Schüler kann gar nicht genug vor dem gewohnheitsmäßigen Gebrauch des Vibrato gewarnt werden, insbesondere am falschen Platze. Ein Geiger von geschultem und gesundem Geschmack wird immer den geraden Ton als die Regel anerkennen und das Vibrato nur dort verwenden, wo der Ausdruck es offenkundig erfordert. Und 1921 hatte Leopold Auer (1845-1930) assistiert: Die Geiger, die davon überzeugt sind, daß ein unendliches Vibrato das Geheimnis eines durchseelten Spiels oder einer pikanten Aufführung sei, sind in ihrem Glauben bedauerlich fehlgeleitet. Vibrato ist nur ein Effekt, eine Ausschmückung. Es kann dem Höhepunkt einer Phrase oder dem Verlauf einer Linie einen Hauch göttlichen Pathos verleihen, jedoch nur dann, wenn der Spieler einen delikaten Sinn für Verhältnismäßigkeit seiner Anwendung kultiviert hat. Dieser Sinn für Verhältnismäßigkeit wurde und wird ausschließlich modern geschulten Streichern leider regelrecht aberzogen. Streicher haben noch einen anderen, wundervollen Effekt verloren, den sie ursprünglich mit den Sängern teilten - das Portamento. Selbst in solchen Passagen, in denen der Komponist ausdrücklich ein Portamento, Glissando, Rutschen oder gar Schmieren ausdrücklich fordert, neigen heutige Orchester dazu, es entweder einfach zu ignorieren oder genervt darauf zu reagieren. Warum? Weil man sie gelehrt hat, daß so etwas geschmacklos und vulgär sei. Dabei ist Portamento nichts anderes als die Kapazität, sich auf einer Saite zu bewegen, mit ununterbrochenem Klang, von einer Note zur anderen, und war Teil des Streicherspiels seit undenkbaren Zeiten. Das unter dem Joch der Moden leidende Streicherspiel hat also insgesamt den Verlust vielseitiger Ausdrucksfähigkeit zu konstatieren. Die technischen Standards wurden zwar immer höher; die uniforme Bogenbewegung der Spieler, die Disziplin einer Streichergruppe, Uniformität in Textur, Ton und Phrasierung gewannen an allzugroßer Bedeutung. Doch was hat man damit erreicht? Eine Präsentation professioneller Stumpfsinnigkeit, in der Konformität, Disziplin und Uniformität als Selbstzweck anerkannt werden, unterstützt durch die Plattenindustrie und den Musikmarkt.

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Klangcharakter, Balance und Orchesteraufstellung Daniel J. Koury beschrieb in seiner äußerst empfehlenswerten Dissertation27 ausführlich die Veränderungen des Orchesterklangs im 19. Jahrhundert, die sich auch im 20. Jahrhundert fortsetzten. Ihm zufolge entbrannte ein regelrechter Zweikampf grundlegender Ansichten über den Orchesterklang, der sich um die Mitte des 19. Jahrhunderts allmählich zuspitzte. Die eine Seite bevorzugte einen Gesamtklang, in dem die Eigenfarblichkeit jeder Instrumentengruppe gewahrt bleibt; die andere einen möglichst hohen Grad an Verschmelzungsfähigkeit. Im Blasinstrumentenbau vollzog sich folglich im deutsch-österreichischen Kulturraum eine Entwicklung hin zu mehr Volumen und besserer Verschmelzung im Ensemble, während insbesondere in Frankreich und England die Instrumente bis weit in das 20. Jahrhundert hinein ihre Eigenfarblichkeit herausstellten. Das erkennt man noch in den Instrumentierungen von Komponisten wie Debussy, Ravel, Roussel, Koechlin und Messiaen. Doch im Zeitalter kommerzialisierter klassischer Musik hat offenbar die Seite gewonnen, die den Verschmelzungsklang bevorzugt. Eine Parallele dazu entwickelte sich bei der Orchesteraufstellung: Im 19. Jahrhundert unterstützte die Positionierung der Instrumente die Räumlichkeit des Orchesterklangs; im 20. Jahrhundert setzten sich hingegen allmählich Aufstellungen durch, bei denen sich die Musiker zwar besser hören konnten und den Gruppen das Verschmelzen miteinander erleichtert wurde, doch ging dies zu Lasten der Räumlichkeit und Farbigkeit des Klangs. Seit Anfang des 20. Jahrhunderts haben die meisten modernen Dirigenten die Geigen zur Linken angehäuft, die Celli und Bratschen zur Rechten, und ebenda auch noch die Kontrabässe. Das früheste Beispiel für diese Aufstellung gab ironischerweise Sir Henry Wood (1869-1944) mit dem NQHO im Jahre 1910, worüber er in der Musical Times vom März 1911 detailliert berichtete. Bald fand diese Unsitte ihren Weg in den Konzertsaal. Zunächst waren es Dirigenten im Amerika wie Sergej Koussevitzky (1874—1951) und Leopold Stokowski (1882—1977), die diesen Sitzplan übernahmen. Solch eine Un-Balance, mit allen Höhen links und allen Tiefen rechts, mag vielleicht von den Spielern geschätzt werden, weil es das Zusammenspiel erleichtert, aber für den Hörer ist dieses Argument irrelevant: Er möchte die Musik lieber so hören, wie sie sich der Komponist selbst gedacht hat. Zwar ist das moderne Orchester technisch dem vor 100 Jahren haushoch überlegen, aber seine Fähigkeit, den immer gleichen, wohlgerundeten Klang zu erhalten, ist auch ausgesprochen ermüdend und langweilig. Außerdem verzieht es durch die Bevorzugung von Melodie und Baß das Publikum in

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Daniel J. Koury, Orchestral Performance Practices in the Nineteenth portions, and Seating. Ann Arbor, Michigan 1986.

Century. Size,

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seinen Hörgewohnheiten. Das wußten schon Dirigenten wie Sir Adrian Boult (1889-1983), der Wood heftig widersprach und die alte Aufstellung beibehielt, ebenso wie zahlreiche Traditionsorchester in Europa, während die neue Variante zunächst besonders in den Staaten Raum griff; darum nennt man sie heute die „amerikanische". Das NQHO folgt in seiner Sitzordnung Sir Adrian Boult — gleichsam als späte Entschuldigung für den Irrweg seines Gründervaters Sir Henry Wood - und setzt die ersten und zweiten Violinen gegenüber, links und rechts. Dadurch werden die vielen Dialoge zwischen ihnen hörbar und möglich, welche eine Aufstellung aller Geigen zur Linken des Dirigenten völlig verleugnet. Die Kontrabässe sind, wo immer das in einer Konzerthalle möglich ist, in einer Reihe nebeneinander hinter den Holzbläsern positioniert. Das ergibt ein ausgezeichnetes Fundament und hilft, die Textur vieler Partituren exemplarisch zu verdeutlichen, die bei gewöhnlichen Orchestern durch die bequemere Aufstellung oft undifferenziert wirkt. So plädiert das NQHO nachdrücklich für eine optimal hörbare Eigenfarbigkeit und Räumlichkeit des Klangs. Schon Stokowski selbst hatte gleichwohl 1967 herausgestellt: Ein sehr einfacher Sachverhalt wird seltsamerweise meist übersehen: Jedes Instrument im Orchester strahlt den Klang in eine bestimmte Richtung ab. (...) Meines Erachtens sollten wir die Spieler und Instrumente so auf dem Podium aufstellen, daß der Klang zu den Hörern im Raum geworfen wird, denn Konzerte sind für die Zuhörer und nicht für uns. (...) Nicht nur in der Musik, sondern überall im Leben gibt es die närrische Einstellung, neuen Ideen zu widerstehen. In dem Augenblick, wo jemand mit einer neuen Idee daherkommt, gibt es immer wieder Leute, die etwas dagegen haben, nicht, weil die Idee nicht gut ist, sondern weil sie neu ist. Dabei ist es schlicht ein Gebot der Achtsamkeit, die Spieler und ihre Instrumente so auf der Bühne zu plazieren, daß der Ton der Instrumente zu den Zuhörern abgestrahlt wird und erst auf dem Weg dorthin in der Luft miteinander verschmilzt. 28

Dies könnte man zugleich als Plädoyer dafür betrachten, die zweiten Violinen mit nach links zu setzen. (In der Tat gibt Koury29 sogar einen Sitzplan Stokowskis wieder, bei dem sämtliche Streicher zur Linken, sämtliche Bläser zur Rechten des Dirigenten angeordnet sind!) Tatsache bleibt jedoch, daß die vor 1910 entstandenen Orchesterwerke die räumliche Trennung der Violinen voraussetzen, im Kreis Mendelssohn/Schumann vielleicht sogar der besonderen Situation des Leipziger Gewandhausorchesters Rechnung tragend, in dem in der Mitte des 19. Jahrhunderts nicht nur alle Geiger und Bratscher stehend musizierten, sondern sogar die ersten Violinen zur Rechten, die zweiten zur Linken des Dirigenten standen, was völlig andere Klangwirkungen ergibt.30 28 29 30

Leopold Stokowski, Innovations: Acoustics and Seating, in: The American Orchestra, hg. von H. Swoboda, New York 1967, S.115ff. Abbildung bei Koury, S.311. Abbildung einer Skizze von Schmidt aus dem Jahr 1844 bei Koury, S. 204.

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Mithin muß man sich dem Fazit von Daniel J. Koury anschließen: Wenn uns die jüngere Forschung zu historischen Aufführungspraktiken gelehrt hat, daß das Klangideal eines Werkes zur Zeit seiner Entstehung der Wiederherstellung in einer Art und Weise wert ist, die uns oft die Essenz eines Werkes enthüllt, wie es der modernen Praxis verwehrt ist, dann sollte man auch die Disposition des Orchesters in der Romantik bedenken und sie eher als Hilfsmittel denn als Hindernis zur Vermittlung der Botschaft der Musik betrachten. Mit anderen Worten: Ein Dirigent täte gut daran, solche Möglichkeiten zu kennen und im Hinterkopf zu behalten, wenn er Programme vorbereitet und Entscheidungen über Sitzordnungen trifft. Eine Sitzordnung sollte nicht starr sein, das aufgeführte Werk reflektieren, geradeso wie die Ausstattung und Größe des Orchesters flexibel sein sollte, sogar wenn dies bedeuten würde, zwischen verschiedenen Werken auf dem Podium wandern zu müssen, es sei denn, ein Programm wurde mit Blick auf einen bestimmten Sitzplan oder gar auf ein bestimmtes Kern-Orchester hin konzipiert. Nur unter Beachtung solcher Prinzipien können heutige Aufführungen die Klang-Ideale der Komponisten zur Zeit der Werk-Entstehung wieder erzeugt werden - eine Kondition, die man bei der Aufführung von Barock-, Renaissance- oder mittelalterlicher Musik heute bereits geradezu erwartet.31 Also muß bei der Orchesteraufstellung, der Besetzungsstärke und auch der Wahl der Instrumente stets die Absicht des Komponisten berücksichtigt werden, insbesondere, wenn die Faktur eines Werkes im Hinblick auf ein bestimmtes Orchester mit einer besonderen Sitzordnung konzipiert wurde - beispielsweise die Werke Wiener Komponisten wie Bruckner und Mahler, die sicher die Verhältnisse bei den Wiener Philharmonikern im Blick hatten. Für meine eigenen Aufführungen folge ich insbesondere den Anregungen, die der angesehene Tonmeister und Akustiker Jürgen Meier 1986 mitgeteilt hat, 32 und gehe ebenfalls von einer solchen antiphonalen Aufstellung aus, wobei ich allerdings aus klanglichen Gründen - wo immer angebracht — die Violen links hinter den ersten, die Celli rechts hinter den zweiten Violinen positioniere. Dadurch strahlen die Violen endlich in den Zuhörerraum nach vorn ab, während sich die zweiten Violinen vor den hinter ihnen plazierten Celli mit ihren hörbar tieferen Frequenzen für den Zuhörer klarer abheben und die Spieler sich zugleich erheblich sicherer fühlen, da sie die Baßstimmen besser hören können (vgl. Abbildung 5). Links hinter den Violen plaziere ich gern die Hörner, die nun den für die Räumlichkeit so wichtigen Alt aus der gleichen Richtung unterstützen und in alter Tradition bei den Holzbläsern sitzen. Trompeten und Posaunen finden sich hinter den Celli. So ergeben sich wundervolle antiphonale

31 32

Koury, a.a.O., S.295; Übersetzung vom Verfasser Jürgen Meier, „Gedanken zur Sitzordnung der Streicher", in: Das Orchester 5/1986, S. 249 ff.

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Benjamin-Gunnar Cohrs

Effekte. Beide Blechgruppen setze ich nach dem Vorbild von Sir Adrian Boult und Sir Roger Norrington außerdem schräg, damit Trompeten und Hörner nicht direkt ins Publikum hineinblasen und alles überdecken. Die Holzbläser habe ich, wenn möglich, gern auf höheren Podesten, sodaß sie tatsächlich über die Streicher hinwegspielen können. Meiner Erfahrung nach ist es erstaunlich, wie überzeugend auf diese A r t die komplizierte kontrapunktische Faktur beispielsweise einer Bruckner-Sinfonie durchhörbar und räumlich genau verortbar beim Hörer ankommt.

Abbildung 5. Orchester-Aufstellung von Benjamin-Gunnar Cohrs (hier: Bruckner, IX. Sinfonie) Besetzung: 3 Fl., 3 Ob., 3 Klar, in B und A, 3 Fag., 8 Hrn. in F (7.8. auch in B tief), 2 T-Tb. in B, 2 B-Tb. in F (evtl. auch separat), 3 Trp. in F, 2 T-, B-Pos., K-Btb., Pk, 14 Vl.I, 14 V1.2, 10 Va, 8 Vc., 8 Kb. [Mindestzahl 12-12-8-8-6]

Zusammenfassung und Ausblick Einerseits wurden also die Orchester und die Konzerthallen im 19. Jahrhundert kontinuierlich größer, andrerseits zugleich die Instrumente immer stärker. Seit etwa dem zweiten Weltkrieg setzte sich das durchgängige Vibratospiel durch; insbesondere die Blechblasinstrumente wuchsen so stark, daß die heutigen, weiter gebohrten Trompeten, Hörner, Posaunen und Tuben um mehr als ein Drittel lauter und stärker sind als Instrumente noch um etwa 1930. Zugleich hat sich vor allem seit den 60er Jahren der Klangcharakter des Orchesters noch einmal rasant verändert. Die Instrumente wurden hin zur bestmöglichen

Das New Queen's Hall Orchestra

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Verschmelzungsfähigkeit miteinander entwickelt, immer mehr weg von der charakteristischen Eigenfarblichkeit. Zugleich traten durch die wachsende Verfügbarkeit von Orchestermusik auf Massenmedien, durch die seit den 40er J a h r e n massiv vorangetriebene Vermarktung klassischer Musiker und das Entstehen des sogenannten Klassikmarktes die Musik und das Musizieren selbst allmählich in den Hintergrund. Die Resultate sind fatal: Viele Künstler scheinen sich heute immer noch sicher mit der Idee zu fühlen, daß der Notentext bereits ein Ziel f ü r sich darstellt, so etwas wie eine Blaupause, mit Viertelnoten als Heftklammern und einem Metronom als Bandmaß. Sie vermeiden es, ihre individuellen Vorstellungen zu enthüllen, und klammern sich stattdessen lieber an so bodenständige Vorgaben wie Fehlervermeidung, Präzision, mechanisch angewandte Lautstärkegrade, Tick-Tack-Tempi und vor allem den Komfort, das einmal Etablierte routiniert und gekonnt ständig zu wiederholen. Zugleich macht es heutzutage kaum mehr einen Unterschied, ob m a n ein Konzert in München, Manchester, Melbourne oder Milwaukee hört. Es wird serviert wie eine Mahlzeit, die aus immer der gleichen Großküche kommt. Wenn ein Küchenchef einen Klumpen Aufgetautes, nett dekoriert und angerichtet, stolz als eigene Kreation serviert, wäre kein Gourmet damit glücklich. Warum sollte nun ein ähnliches Vorgehen im Konzertsaal hingenommen werden? Doch es gibt auch ermutigende Zeichen: Erfreulicherweise gibt es inzwischen immer mehr Dirigenten der jüngeren Generation, die die oben geschilderten Entwicklungen verstanden haben und daraus f ü r ihre Aufführungen bereits entsprechende Konsequenzen ziehen. Der Dirigent Daniel Harding kritisierte mir gegenüber im September 2005 in einem Presse-Interview 3 3 beispielsweise Entwicklungen bei modernen Orchesterinstrumenten wie folgt: Das Erstaunliche an alten Instrumenten ist ja: Einerseits haben sie einen viel stärker ausgeprägten, eigenen Charakter; andererseits verschmelzen sie trotzdem extrem gut miteinander. Die Wahrheit ist: Es geht im Instrumentenbau vor allem um Sicherheit und Bequemlichkeit, letztlich also mehr Effizienz. Eine solch konsequente Haltung wie die Hardings fordert und fördert auch mehr Flexibilität bei Orchestern. Ein diesbezüglich sehr positives Erlebnis hatte der junge Dirigent bei seinem Debüt mit Mozarts Idomeneo im September 2005 an der Mailänder Scala, deren Orchester als sehr konservativ bekannt ist:

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Interview des Verfassers mit Daniel Harding am 15.12.2005 in Bremen, original in Englisch, Übersetzung vom Verfasser. Vergl. dazu auch die Druckfassung: Aufstieg in die musikalische Oberklasse, in: Weser-Kurier, Bremen, 18.12.2005, S.23.

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Benjamin-Gunnar Cohrs

Das Orchester hat niemals irgendeine Note anders als in einer Art Post1950-Tradition gespielt. Als sie mich fragten, Mozart mit ihnen zu spielen, habe ich ihnen vorher mitgeteilt, wie ich das allgemein gern habe. Nun haben wir Idomeneo dort tatsächlich mit Barock-Pauken aufgeführt, und alle vier Trompeter haben Monate damit verbracht, Naturtrompeten spielen zu lernen! Die E r f a h r u n g , m e h r e r e I n s t r u m e n t e einer G a t t u n g aus unterschiedlichen Zeiten zu spielen, wird der aufgeschlossene Musiker immer als Bereicherung empfinden: „Ein Flötist, der die Traversflöte beherrscht, wird seine moderne Flöte auf andere Weise spielen," meinte Harding. „Allerdings wird die Sache schwierig, wenn m a n ein Kind auf der Knochenflöte beginnen läßt, u m es d a n n über Blockflöten und Traversflöten zur modernen Flöte fortschreiten zu lassen." Letztlich sollte m a n daher alte oder neue I n s t r u m e n t e nicht gegeneinander ausspielen: Wenn man den Klang alter Instrumente will, kommt man auch nicht darum herum. Andrerseits ist mir Mozart von einem Orchester auf neuen Instrumenten gut gespielt lieber als von einem Orchester auf alten Instrumenten schlecht gespielt, und umgekehrt. Denn gute Musiker haben immer etwas anzubieten, was über die Frage des Instruments in ihrer Hand weit hinausgeht. Ihr Musizieren hat immer einen unabhängigen, besonderen Wert. Musik an sich ist eine der großen Segnungen im Leben, manchmal so tiefg r ü n d i g u n d schön, d a ß m a n n u r schwer glauben k a n n , sie sei von einem menschlichen Gehirn erdacht. Wenn m a n es ihr nur gestattet, k a n n sie u n s in der gefühlsintensivsten aller Möglichkeiten tief berühren. Mit fehlgeleitetem, sterilem Professionalismus ist ihr nicht gedient. Eine jedem Komponisten und Werk angemessene Spielweise; ein grundsätzliches Interesse am soziokulturellen Kontext der E n t s t e h u n g von Werken; Beseeltheit u n d das vielseitige Können von Musikern und Dirigenten; eine flexible Orchesteraufstellung und handgearbeitete, farbige I n s t r u m e n t e wie aus früheren Zeiten — all dies könnte dazu beitragen, unser verödendes Konzertmusik-Leben zu renaturieren und zu bereichern. Eine Grundvoraussetzung d a f ü r wäre jedoch, daß Dirigenten, Musiker, Manager, Produzenten, Veranstalter, Kritiker und Zuhörer ihre Fähigkeit zur Reflexion so weit entwickeln, daß sie ihren Geist von engstirnigen Dogmen gegenwärtiger Moden und Trends zu befreien vermögen, a n s t a t t sich selbst im Wege zu stehen.

Das New Queen's Hall Orchestra

Auswahl aus den nach dem Vortrag vorgeführten auf der CD:

Tonbeispielen

Gustav Holst, The Planets, Sinfonische Suite für großes Orchester Op. 32 New Queen's Hall Orchestra, Roy Goodman Aufnahme: Abbey Road Studio Nr. 1, London, 11. & 12. Mai 1996 Erst-Veröffentlichung: Carlton Classics (Label Code LC 8747), CD Nr. 30366 00432 Mit freundlicher Genehmigung des Rechtsinhabers: New Queen's Hall Orchestra, vertreten durch John Boyden, Managing Director [76] I. Mars, the Bringer of War [77] III. Mercury, the Winged Messenger [78] VI. Uranus, the Magician Vier Ausschnitte aus Werken von Richard Wagner: New Queen's Hall Orchestra, Barry Wordsworth Aufnahme: Henry Wood Hall, London, März 1995 Erstveröffentlichung: Eye of the Storm / Future Classics EOS 5001 Mit freundlicher Genehmigung des Rechtsinhabers: New Queen's Hall Orchestra, vertreten durch John Boyden, Managing Director [79] [80] [81] [82]

Tannhäuser: Ouvertüre Rienzi: aus der Introduktion Parsifal : aus dem Vorspiel Tristan: aus dem Vorspiel zum 3. Akt

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HARTMUT KRONES

(Wien)

„[...] d o c h b e h i e l t e r j e n e A p p o g g i a t u r e n b e i [...]." Zu Gustav Mahlers Ausführung Mozartscher Rezitative

Als Gustav Mahler am 8. Oktober 1897 von Kaiser Franz Joseph I. als Nachfolger des aus Krankheitsgründen ausscheidenden Wilhelm Jahn 1 zum artistischen Direktor der Wiener Hofoper ernannt wurde, ruhten die Hoffnungen sowohl des künstlerischen Personals als auch des breiten Publikums auf dem jungen Dirigenten, das in der Ära Jahns in schlechten Traditionen erstarrte Haus von Grund auf zu erneuern. Mahler hatte schon in Laibach (1881/82), Kassel (1883-85), Prag (1885/86), Leipzig (1886-88), Budapest (1888-91) sowie in Hamburg (1891-97) bewiesen, daß er frischen Wind in „verstaubte" Opernbetriebe zu bringen vermochte, und in den wenigen Monaten, in denen er — vor seiner Ernennung zum Hofoperndirektor - als Kapellmeister des Hauses 2 (sowie bald auch als stellvertretender Direktor) fungierte, unterstrich er diese Fähigkeit auf das nachdrücklichste. Der damals knapp achtzehnjährige, bald zu einem der wichtigsten Musikjournalisten und Musikschriftsteller Österreichs aufsteigende Paul Stefan hat den Blick auf den neuen Hofoperndirektor später folgendermaßen charakterisiert: Mahler ist, da er eingesetzt wird, siebenunddreißig Jahre alt, Österreicher obendrein und sogar jüdischer Abkunft; nur eben von schon gefürchteter Leidenschaft für die Kunst, von höchster Glut, durch alle Flammen gepeinigt, gereinigt. Sein verhetztes, verzehrendes Leben hat ihn über alle Schmach der kleinen und mittleren Theater und zweimal, in Pest und in Hamburg, an einen neuen Aufbau zertrümmerter Stätten geführt; ein unbekannter, ein verhöhnter Komponist, ringt er zugleich mit den Zeitgenossen und mit der Pflicht des Tag-für-Tages. Niemand hat sie gewissenhafter erfüllt. [...].3 Mahlers dem Lohengrin gewidmetes Antrittsdirigat vom 11. Mai 1897 wurden dann ebenso wie die folgenden vom ihm geleiteten Vorstellungen (Die Zauberflöte am 29. Mai, Der fliegende Holländer am 5. Juni sowie erneut Lohengrin am 6. Juni) von großen Teilen der Presse sowie des Publikums enthusiastisch

1

2 3

In einem von Hofopernintendant Josef von Bezecny gezeichneten Rundschreiben war Mahler bereits am 13. Juli 1897 dazu ausersehen worden, die Geschäfte des kranken Direktors Jahn zu besorgen. Henry-Louis de La Grange, Gustav Mahler 2. Vienna: The Years of Challenge (1897-1904), Oxford-New York 1995, S.43. Zu diesem war er mit Wirkung vom 1. Juni 1897 für ein Jahr ernannt worden. Paul Stefan, Die Wiener Oper. Ihre Geschichte von den Anfängen bis in die neueste Zeit, Wien-Leipzig 1932, S.66.

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Hartmut Krones

bejubelt,4 und nach der Sommerpause galten die Ovationen zunächst erneut dem die Saison am 1. August eröffnenden Lohengrin, danach neben vielen anderen Opern (so Ende August den vier Werken des Wagnerschen Ring des Nibelungen) auch am 14. August der Mozartschen Hochzeit des Figaro und am 22. August dem Don Juan.

I.

Spätestens an letztgenanntem Abend wurde klar, daß Mahler dem Mozartschen Opernceuvre ein besonderes Augenmerk zukommen ließ und dabei vor allem mit schlechten Traditionen zu brechen plante. Hatte er bereits in der Zauberflöte vom 29. Mai, wie u. a. einer Rezension von Theodor Helm in der Deutschen Zeitung zu entnehmen ist, sowohl für eine „Mozartische" Diktion und Phrasierung gesorgt als auch die Darbietung der üblichen Kadenz am Ende von Paminas Arie verhindert,5 so scheinen sich die Sänger im Figaro auf Geheiß Mahlers vollends allzu ausladender Kadenzen bzw. ganz allgemein einiger Verzierungen bzw. „Hilfsnoten" enthalten zu haben; dies kann vor allem Richard Heubergers Kritik in der Neuen Freien Presse entnommen werden, die zudem ganz allgemein voll des Lobes über die Werktreue der Aufführung sowie insbesondere über die kleine und somit transparente Orchesterbesetzung war.6 Ob der Hinweis auf die Enthaltsamkeit bei Verzierungen auch auf das 4

Mahler h a t t e bereits in seinem Dankesbrief (für die E r n e n n u n g zum Hofopernkapellmeister) vom 9. April 1897 an E d u a r d Wlassack, den Kanzleidirektor der Generalintendanz der Wiener Hofoper, überlegt, wie er sich „künstlerisch in Wien möglichst rasch und vorteilhaft ein(zu)führen" könne: „Ich denke, am besten wäre eine Wagnersche Oper und der Fidelio; dies wären die beiden Hauptrichtungen und es würde den Wagnerianern sowohl wie den Klassizisten dadurch genug getan." Zit. nach: GMB S.235. Hofoperndirektor Wilhelm J a h n h a t t e Mahler in ihrem ersten Gespräch vom 2. Mai 1897 „als Debüt den Don J u a n " angeboten, den der neue Kapellmeister „natürlich akzeptieren mußte". Weiter heißt es in Mahlers Brief vom 4. Mai 1897 an Ludwig K a r p a t h : „Als zweite Vorstellung erbat ich mir T a n n h ä u s e r am Dienstag d a r a u f ; worauf er als dritte Vorstellung f ü r H a n s Heiling plaidierte. [...] Was anderes als Don J u a n wäre mir schon lieber - aber ich d u r f t e es nicht zurückweisen." Zit. nach: GMB S.242. Zur Datierung von Gespräch und Brief siehe Henry-Louis de La Grange, Gustav Mahler 2 (Anm. 1), S.21. - Bekanntlich k a m es d a n n anders. Mahlers zweites Dirigat in Wien hätte zunächst Wagners Walküre (26. Mai) gewidmet sein sollen, doch mußte diese wegen der E r k r a n k u n g einer Sängerin abgesagt werden, so daß Mozarts Zauberflöte zur zweiten Vorstellung des neuen Kapellmeisters wurde. Das dritte Dirigat galt am 5. J u n i Wagners Der fliegende Holländer, ehe Mahler am 6. J u n i erneut den Lohengrin zur Realisation brachte.

5

Henry-Louis de La Grange, Gustav Mahler 2, S.33. Zu Mahlers Wiener ZauberflöteInterpretationen insgesamt siehe Robert Werba, Mahlers Wiener Mozart-Taten VII. Die Zauberflöte, in: Wiener Figaro. Mitteilungsblatt der Mozartgemeinde Wien 46 (Mai 1979), S. 41-52. Ebenda S. 46 f.

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,[...] doch behielt er jene Appoggiaturen bei [...]."

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Kapitel der Appoggiaturen rekurrierte, ist der Besprechung allerdings nicht zu entnehmen; auf die Secco-Rezitative konnte er sich jedenfalls nicht beziehen, denn die fielen auch damals noch gesprochenen Dialogen zum Opfer. Mahlers Bemühungen um möglichst qualitätvolle sowie „authentische" Interpretationen, vor allem der Werke Wolfgang Amadeus Mozarts und Richard Wagners, waren allerdings bereits legendär. Bezüglich des u n s hier interessierenden Mozart hatte sich der junge Dirigent schon in Laibach mit einer Neueinstudierung der Zauberflöte ein „wirklich großes Verdienst erworben" 7 , in Prag t r u g ihm die Interpretation des Don Juan Lob ein, 8 in Budapest machte er sich um Figaros Hochzeit und insbesondere um den Don Juan verdient, 9 wenngleich er die ungarischen Ubersetzungen als Qual empfand, 10 und schließlich feierte er auch in Hamburg mit Mozartschen Opern wahre Triumphe. So kam, als Mahler am 3. Juli 1897 in einem ausführlichen Schreiben an Eduard Wlassack, den Kanzleidirektor der Generalintendanz der Wiener Hofoper, von seinen Plänen für die nächste Saison berichtete, die Sprache sehr bald auf Mozart: In München haben sie soeben mit colossalem Erfolg Cosi fan tutte von Mozart in der Originalfassung vorgeführt und erzielen ausverkaufte Häuser damit. Das könnte man bei uns wundervoll besetzen [...] und schnell herausbringen.11 Dieser Enthusiasmus für „Originalfassungen" bzw. für „Originales" wird uns im folgenden immer wieder begegnen, wobei auch der Zeitgeist (zum Teil) parallel mit Mahlers diesbezüglichen Ambitionen ging, was bisweilen das Unterscheiden von allgemeinen Bestrebungen einerseits von tatsächlich von Mahler stammenden Ideen andererseits erschwert. Jedenfalls war die Forderung nach interpretatorischer „Authenzität", die bald auch die Aufführungslehre der „Wiener Schule" prägte, in Wien bereits seit den Bestrebungen Raphael Georg Kiesewetters (um 1815)12 sowie später (u. a.) Leopold Alexander Zellners 13 gang und gäbe,

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Laibacher Wochenblatt vom 5. November 1881. Zit. nach: Primoz Kuret, Mahler in Laibach. Ljubljana 1881-1882 (= Wiener Schriften zur Stilkunde und Aufführungspraxis, hg. von Hartmut Krones, Sonderband 3), Wien-Köln-Weimar 2001, S.53. Mahler dirigierte Die Zauberflöte am 27. Oktober, 28. Oktober, 4. November und 18. November 1881 sowie am 7. März 1882. Mahler führte hier (anstelle der üblichen Dialoge) die Secco-Rezitative wieder ein, ließ sie allerdings von einem Streichquartett begleiten. Siehe Robert Werba, Mahlers MozartBild. Am Beispiel des „Don Giovanni" (I), in: Wiener Figaro. Mitteilungsblatt der Mozartgemeinde Wien 42 (Mai 1975), S. 1-21, hier S.3. In Budapest erntete er unter anderem hohes Lob durch Johanns Brahms. Ebenda. Siehe NBL S.5f. Zit. nach: Wolfgang Schreiber, Gustav Mahler, Reinbek bei Hamburg 1971, S.77. Siehe u.a. Herfrid Kier, Raphael Georg Kiesewetter (1773—1850). Wegbereiter des musikalischen Historismus (= Studien zur Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts 13), Regensburg 1968, sowie Hartmut Krones, 175 Jahre Aufführungspraxis Alter Musik in Wien, in: Alte Musik und Musikpädagogik, hrsg. von Hartmut Krones (= Wiener Schriften zur Stilkunde und Aufführungspraxis 1), Wien-Köln-Weimar 1997, S. 15-21.

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Hartmut Krones

und auch Hermann Levis Münchener Bestrebungen der 1890er Jahre huldigten dieser Ästhetik. Dabei ging es immer wieder darum, die „verlorenen Selbstverständlichkeiten" 14 der Aufführungspraxis, die Hugo Riemann 1907 explizit beim Namen nannte, wieder Eingang in die Konzert- und Theaterpraxis finden zu lassen, wenn sie entweder durch einen im Laufe des 19. Jahrhundert aufkommenden Purismus oder (umgekehrt) durch ausufernde Interpreten-Eitelkeiten verdrängt bzw. unterdrückt worden waren. Unter diesem Aspekt interessant erscheint Richard Spechts Bericht vom Erfolg des Mahlerschen Wiener Antrittsdirigates von Wagners Lohengrin: Schon nach dem Vorspiel, das kaum jemals früher in solch entmaterialisierter Verklärtheit, so vollkommen dieser Welt entrückt erklungen war [...], brach nach einem Augenblick ergriffenen Schweigens ein Jauchzen aus, wie es nur aus ungeahntem Uberwältigtwerden zu brechen vermag. [...] Wodurch Mahler dieses Wunder vollbrachte? Das Rezept ist sehr simpel: er führte den Lohengrin einfach richtig auf. Richtig, das heißt nicht nur: dem Buchstaben des Meisters folgend, jedem seiner Gebote treu gehorsam, jedes Tempo erfüllend, jeder dynamischen Schwebung genauen Ausdruck gebend und jedem Akzent seinen bestimmten Wert. Das allein wäre viel [...]. Aber damit dieser Buchstabe im Sinn des in ihm waltenden Geists lebendig werde, bedarf es eines Tiefblicks, der nur dessen achtet, was das Werk selbst aussagt und alles vergißt, was Herkommen und Überlieferung daran verschleierten; und eines Enthusiasmus, dem im Augenblick solchen Nachschaffens nichts auf der Welt wichtiger ist, als daß jedes punktierte Achtel mit gleicher Vollendung und Reinheit zur Erscheinung werde15 wie die Totalität des innersten Gedankens, auf dem das Werk ruht. 16 In diesem Zusammenhang überlieferte Specht auch eines der berühmt-berüchtigten Verdikte Gustav Mahlers: das Wort von der als „Tradition" getarnten „Schlamperei": Dazu aber, zu dieser ganz selbstvergessenen, nur dem Werk dienenden Reinheit und Begeisterung und zu der intuitiven Sicherheit der nachschaffenden, stilbildenden Kraft noch eines: die Verachtung alles bloß Gewohnheitsmäßigen und Überkommenen, der Bequemlichkeit einer Interpretation, die mit

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Zu Zellners ab der Saison 1862/63 in Wien stattfindenden „Historischen Abonnementsim Concerten" siehe Hartmut Krones, Zur Wiener Carl-Philipp-Emanuel-Bach-Rezeption mittleren 19. Jahrhundert, in: Festschrift Otto Biba zum 60. Geburtstag, Tutzing 2006, S. 249-263, hier S.257f. Hugo Riemann, Verlorengegangene Selbstverständlichkeiten in der Musik des 15.-16. Jahrhunderts, Langensalza 1907. Hier erhebt sich die Frage, ob Specht mit dieser Bemerkung auf die verschiedenen Ausführungen punktierter Achtelnoten rekurrierte (vgl. den Beitrag von Reinhold Kubik in vorliegendem Band S. 297-314, hier S.302f.) oder lediglich ganz allgemein auf Mahlers Willen zur Präzision weisen wollte. Richard Specht, Gustav Mahler, Berlin-Leipzig 1913, S.67f.

,[...] doch behielt er jene Appoggiaturen bei [...]."

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sich zufrieden ist und ihre Berechtigung darin sieht, weil man es „immer so gemacht habe". „Tradition ist Schlamperei", hat man Mahler oft sagen hören, und wer ihn an jenem Lohengrinabend zum erstenmal am Pult sah, begriff sofort, was er damit meinte, und daß dieses prachtvolle Wort eines seines Berufenseins gewissen, von spendender Phantasie des Ohrs und des Auges gesegneten Künstlers nicht die Hüter wertvollen Besitzes treffen sollte; sondern die Ausrede bloßer Lässigkeit, die ihre Unkorrektheit hinter Autoritäten verschanzt. An jenem Abend schien alles neu: der Klang des Orchesters, das in tausendfachen Abschattierungen leuchtete, die Macht und Präzision der Chöre, die zum erstenmal nicht einem Männergesangverein im Kostüm glichen, sondern die am Drama Anteil hatten; der Stil der Sänger, die sich von einem rätselhaften Willen gepackt und weit über sich emporgerissen fühlten. Und dadurch auch das Drama selbst. [...].17

II. Mahlers Bemühungen um einen „authentischen" Mozart dokumentierten sich dann sehr bald (am 16. Oktober 1897) in einer Neuinszenierung der Zauberflöte, in der nicht nur erneut eine kammermusikalisch transparente Realisation der Musik zu hören war, sondern sowohl der originale Text wiederhergestellt als auch die prinzipiellen szenischen Anweisungen Schikaneders erfüllt (und somit die Bühnenbretter mit Tieren bevölkert) wurden.18 Ein weiterer Schritt auf diesem Weg war der von Mahler am 8. November 1897 namens der Wiener Hofoper abgeschlossene Vertrag „über das Erstaufführungsrecht von ,Cosi fan tutte' in der Bearbeitung von Hermann Levi", 19 welche Produktion dann am 4. Oktober 1900 unter Mahlers Leitung (er begleitete zudem die Secco-Rezitative selbst am Klavier) zustandekam. In Wien hatte man damals noch eine 1880 eröffnete Aufführungsserie des Werkes unter Franz Jauner in Erinnerung, in der die Rezitative gemäß der seinerzeitigen Tradition durch gesprochene

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Ebd. S. 68 f. Vgl. Kurt Blaukopf, Gustav Mahler oder Der Zeitgenosse der Zukunft, WienMünchen-Zürich 1969, S. 202: „Das in vielen Abwandlungen zitierte Wort von Mahlers Traditionsfeindlichkeit muß spätestens 1902 bekannt gewesen sein, denn Hans Richter hielt es für notwendig, in einem Interview, das er dem .Neuen Wiener Tagblatt' gewährte, gegen Mahlers Standpunkt ausdrücklich aufzutreten. Mahler hat sich davon nicht beirren lassen. [...] Es ist freilich unrichtig, wenn behauptet wird, Mahler habe Tradition mit Schlamperei identifiziert. Eine Formulierung, die Roller schriftlich überliefert hat, lautet: ,Was Ihr Theaterleute Tradition nennt, das ist nichts anderes als Eure Bequemlichkeit und Schlamperei.' Dies Wort fiel bei ,Fidelio'-Proben des Jahres 1904." Siehe Henry-Louis de La Grange, Gustav Mahler 2 (Anm. 1), S. 72 ff., sowie insbesondere die Erinnerungen von Natalie Bauer-Lechner an die Aufführung der Zauberflöte (wie Anm. 10, S. 90ff.). Siehe auch NBL S.102f. [Katalog] Jubiläumsausstellung 100 Jahre Wiener Oper am Ring, hrsg. von Hans Hadamowsky und Alexander Witeschnik, Wien 1969, S.89.

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Hartmut Krones

Dialoge ersetzt worden waren; bis zur Absetzung der Inszenierung im Jahre 1891 ging die Oper insgesamt aber lediglich 24mal über die Bühne.20 Und auch diesmal konnte sich das Werk - trotz der durchaus guten, teilweise auf Eduard Devrient und Carl Niese zurückgehenden, teilweise neu angefertigten deutschen Ubersetzung Levis - nicht durchsetzen, wie Paul Stefan drastisch schildert: Sogar Cosi fan tutte erscheint wieder, zum hellen Entzücken der Kenner. Im Spielplan war die Oper auch diesmal nicht zu halten. Das sollte nicht einmal versucht werden, meint Hirschfeld. „Die Repertoireoper, diesen scheußlichen Begriff einer unentrinnbaren musikalischen Fütterungsstunde, haben wir durch Wagners Schriften ... gründlich verachten gelernt" ... und weiter: „es gibt Kronschätze, die man nicht täglich zeigen kann".21 [...] Cosi fan tutte war die erste Inszenierung auf der Drehbühne. Die Seccorezitative begleitete Mahler auf dem Klavier.22 Dieser Praxis, die hier von der Kritik besonders gelobt wurde, hatte der Dirigent schon während seiner früheren Dirigentenstationen gehuldigt,23 wodurch das Publikum in besonderer Weise mit der musikalischen Gesamtkonzeption Mozarts bekanntgemacht wurde und somit - wenn man das Problem der Ubersetzung ausklammert — eine immerhin partiell „authentische" Realisation erleben konnte. Keineswegs „authentisch" waren nämlich Mahlers Kunstgriffe, an den Beginn des 2. Aktes (der original mit einem Rezitativ anhebt) das Finale des B-Dur-Divertimentos, KV 287, zu stellen und für die Szenenwechsel eigene, auf Themen der Oper basierende Zwischenspiele zu komponieren. Hier ist allerdings zu bedenken, daß der Umbau der Bühne bzw. der Wechsel des Bühnenbildes zu Mahlers Zeit wesentlich länger dauerte als - angesichts der Möglichkeiten der barocken Bühnentechnik — im 18. Jahrhundert. Mahler hat nun durch seine Neukompositionen bzw. durch die Hereinnahme von „fremder" Mozartscher Instrumentalmusik lediglich diese „Umbauzeit" überbrückt. Bereits damals hatte Mahler einen weitgehend auf die „Originalfassungen" zurückgreifenden „Mozart-Zyklus" im Sinn, der von Cosi fan tutte hätte eröffnet werden sollen, doch kam es — nicht zuletzt aus finanziellen Gründen —

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Wilhelm Beetz, Das Wiener Opernhaus. II. Auflage. 1869 bis 1955, Zürich 1955, S. 164 f. Siehe auch Franz Hadamowsky, Die Wiener Hoftheater (Staatstheater). Ein Verzeichnis und Aufführungsder aufgeführten und eingereichten Stücke mit Bestandsnachweisen daten. Teil 2. Die Wiener Hofoper (Staatsoper) 1811-1974, Wien 1975, S.85. Robert Hirschfeld war 1881-1899 Lehrer f ü r „Ästhetik der Tonkunst" am Konservatorium der Gesellschaft der Musikfreunde gewesen und danach vor allem als Musikkritiker (u. a.) der Osterreichischen Rundschau sowie der Wiener Abendpost tätig. Paul Stefan, Gustav Mahlers Erbe. Ein Beitrag zur neuesten Geschichte der deutschen Bühne und des Herrn Felix von Weingartner, München 1908, S. 19. Siehe Henry-Louis de La Grange, Gustav Mahler 2, S.285.

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,[...] doch behielt er jene Appoggiaturen bei [...]."

vorderhand nicht dazu. Der in München als Generalmusikdirektor wirkende Hermann Levi hatte in seinem Briefwechsel mit Mahler sogar eine Art Wiedererweckung der Barockbühne mit ihren Möglichkeiten schneller Szenenwechsel durch aus der Kulisse hereingebrachte Bühnenbilder vorgeschlagen, doch entschied sich Mahler dann doch für eine Drehbühne, wie sie Karl Lautenschläger im Münchener Residenztheater für Dramen Goethes und Shakespeares entwickelt hatte, ehe sie dort auch für Aufführungen Mozartscher Opern (die Levi bewußt in einem kleinen Haus realisierte) verwendet wurde.24 Cosi fan tutte erlebte 1900 sieben Aufführungen und wurde April 1901 ein weiteres Mal wiederholt, ehe die Oper vom Spielplan verschwand, auf den sie erst im November 1905 zurückkehrte. In der Zwischenzeit dirigierte Mahler regelmäßig Die Hochzeit des Figaro, Don Juan und Die Zauberflöte, ohne hier weitere wesentliche Neuerungen einzuführen. Diese fanden erst im Zuge des gemeinsam mit dem Regisseur Alfred Roller erarbeiteten, anläßlich des „150. Geburtstages" des Meisters veranstalteten Mozart-Zyklus der Saison 1905/06 statt. Zuvor war Mahler allerdings noch durch die Aufnahme der Zaide in den Spielplan der Hofoper für Mozart tätig geworden: Uber sein Ersuchen hatte Robert Hirschfeld sowohl eine neue Textfassung als auch (unter Verwendung der Musik zu Thamos, König in Ägypten) eine musikalische Einrichtung der unvollendeten Oper erstellt, die dann am 4. Oktober 1902 durch Bruno Walter - zunächst gemeinsam mit Georges Bizets von Mahler geleiteter Djamileh - aus der Taufe gehoben wurde, aber nur zwei (mit jeweils anderen Werken gekoppelte) Wiederholungen erlebte. Mahlers Interpretationen von Mozarts Opern erfuhren dann vor allem durch die Regietätigkeit Alfred Rollers entscheidende neue Impulse. Die erste Zusammenarbeit Mahlers mit Roller hatte am 21. Februar 1903 Wagners Tristan und Isolde gegolten und insbesondere durch dessen „Lichtregie" Aufsehen erregt, die Oscar Bie sogar von „Lichtmusik"25 sprechen ließ. Am 3. Mai 1904 brachten die beiden Künstler gemeinsam Giuseppe Verdis Falstaff (in deutscher Sprache) heraus, am 7. Oktober 1904 Ludwig van Beethovens Fidelio, am 23. Jänner 1905 Wagners Rheingold, und am 14. November 1905 galt (anläßlich des Besuchs von König Alfonso XIII. von Spanien) eine Neuinszenierung Rollers dem 1. Akt des Wagnerschen Lohengrin26, dessen 2. und 3. Akt dann am 27. Februar 1906 folgten.

24 25 26

Ebenda. Zit. nach Kurt Blaukopf, Gustav Mahler (Anm. 17), S.200. Siehe Henry-Louis de La Grange, Gustav Mahler 3. Vienna: (1904-1907), Oxford - New York 1999, S.283 und 342.

Triumph

and.

Disillusion

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III. Und nun begann am 24. November 1905 mit Cosi fan tutte der Mozart-Zyklus, am 21. Dezember 1905 folgte der Don Giovanni [sie!] mit einer neuen Übersetzung durch Max Kalbeck, am 29. Jänner 1906 Die Entführung aus dem Serail21, am 30. März 1906 Die Hochzeit des Figaro in einer Textfassung Max Kalbecks und schließlich am 1. Juni 1906 Die Zauberflöte (ehe am 4. Februar 1907 Wagners Walküre und am 18. März 1907 Christoph Willibald Glucks Iphigenie in Aulis die Zusammenarbeit mit Roller abrundeten). Für diesen Zyklus ließ Mahler von der Hofopernintendanz eigens ein „Mozart-Spinett" der Pariser Firma Pleyel-Wolff anschaffen, nachdem er ein originales, (angeblich) schon von Mozart verwendetes Spinett (unter anderem wegen dessen tiefer Stimmung) als für die Anforderungen des modernen Opern-Alltages ungeeignet erkannt hatte. Das neue Instrument wurde bei der Premiere der Cosi für tauglich erachtet und danach von Mahler bei sämtlichen Mozart-Opern eingesetzt. Lassen wir mit Paul Stefan, dem Schriftleiter der Musikblätter des Anbruch und Autor zahlreicher Musikbücher, zunächst wieder einen Zeitzeugen über den Mozart-Zyklus berichten: Nach einer anmutigen Aufführung der Neugierigen Frauen von Wolf-Ferrari ließ Mahler schon im folgenden November das Mozartjahr 1906 beginnen. Die Hauptwerke sollten vorkommen, besonders aber szenisch erneuert und zu einem Z y k l u s vereinigt werden. [...] Im Anfang stand C o s i f a n t u t t e , von Mahler zum zweiten Male erobert. Die noch brauchbaren Dekorationen aus dem Jahre 1900 waren geblieben. [...] Die Rezitative begleitete Mahler diesmal und fortan auf dem Cembalo, dessen kapriziöser Klang schon einen Reiz für sich bot. Im Dezember kam D o n G i o v a n n i . Da war zuerst das Problem des Textes. Max Kalbeck hat ihn neu übersetzt, und ist auch manches matt und prosaisch geblieben oder geworden, so darf doch gesagt werden, daß der Versuch gut geglückt ist. Aber soll man die Sprache da Pontes überhaupt verlassen? Schon E. T. A. Hoffmann forderte einen italienischen Don Giovanni für unsere Bühne [...]. Das von Mahler und Roller neu gestaltete Werk war auch nicht mehr das dramma giocoso des Rokoko, es war die durch Mozart verklärte Tragödie des Genusses, der Begierde und der Eitelkeiten [...]. Dieses Werk nannte sich, entgegen der Gepflogenheit, Don Giovanni. Erstens, weil das der ursprüngliche Titel ist; zweitens, weil das durchaus nicht spanische „Donschuän" scheußlich klingt; endlich aber, weil der Held

27

Hiezu siehe Robert Werba, Mahlers Mozart-Bild. Am Beispiel der „Entführung aus dem Serail" (II), in: Wiener Figaro. Mitteilungsblatt der Mozartgemeinde Wien 43 (Jänner 1976), S. 31-41. „Zwischen dem ersten und zweiten Akt placierte" Mahler übrigens, wie üblich, „eine Instrumentalnummer: das von ihm instrumentierte Rondo aus der A-DurKlaviersonate KV 331", also das berühmte „alla turca". Ebenda S.31.

,[...] doch behielt er jene Appoggiaturen bei [...]."

269

an einer besonders auffallenden Stelle vom steinernen Gast, getreu dem Urtext, wieder als Don Giovanni angeredet wird. [...] Schon ob der Namensänderung, die in München längst eingebürgert ist, gab es Schmähungen. Uberflüssig zu bemerken, daß Herr von Weingartner den Don Juan eingesetzt und die Volksseele wieder beruhigt hat. Die Ouverture begann mit eherner Macht und ging dann in ein orgiastisches Zeitmaß über. (Allegro molto!) [...] Der Vorhang wird aufgezogen und es zeigt sich eine Bühne ohne Kulissen, deren „Türme" längliche, mit grauen Stoffen verkleidete Prismen nebst dem einfach ornamentierten Bodenbelag den ständigen Rahmen des ganzen Stückes bilden. [...]. Es sind, wie man sieht, im Dezember 1905 die Türme des Münchner Künstlertheaters und der Mannheimer Idealbühne. [...] Elviras Zimmer (Beginn des zweiten Aufzuges) ist in einem der Türme rechts gedacht ; Don Giovannis Ständchen begleitet Mahler, wie die Rezitative, auf dem Cembalo. [...] Das Sextett, in dem sich die Tugend zu Tisch setzt, ist gestrichen. Als nächstes Werk folgte die E n t f ü h r u n g . [...] Musikalisch war die Aufführung eine der entzückendsten unter Mahler. Die Feinheit, die schwebende Leichtigkeit, die süße Anmut des Gesanges und Spieles, wie des Orchesters reichten wohl selbst an die höchsten Forderungen des Direktors, der Mozart nie genug huldigen konnte. [...] Aber noch schöner, noch reiner gelang F i g a r o s H o c h z e i t . [...] Die Sorge um das Dramatische ging diesmal so weit, daß Mahler, wo ihm da Ponte zu sehr opera buffa gab, zu der Komödie von Beaumarchais griff. Die Worte der folle journée ergänzen den Text in den auch musikalisch entsprechend erweiterten Rezitativen. So wird zum Beispiel die köstliche Gerichtsverhandlung der Komödie herübergenommen. An der Übersetzung hatte abermals Kalbeck gefeilt. [...] Am Schlüsse des Zyklus, zu dem sich Monat für Monat die Meistertaten gerundet hatten, stand die Zauberflöte. Die alten Dekorationen Hofmanns [...] blieben auch diesmal meist erhalten; nur hie und da besserte Roller. [...] In der Musik war wenig auszubauen, denn gerade die Zauberflöte hatte Mahler häufig selber geleitet und dabei auch nicht das geringste Stäubchen haften lassen.28 Und in einer Geschichte der Wiener Oper ergänzte Stefan mit weiteren Details : Das Jahr 1906, ein Mozartjahr, soll durch einen erneuten Zyklus gefeiert werden. Er beginnt schon Ende 1905. Cosi fan tutte, szenisch belassen, mit dem Ensemble Gutheil, Kurz, Hilgermann, Slezak, Demuth und Hesch ; Mahler am Cembalo, wie fortan bei allen Mozartaufführungen. Aber so innig verschwebt man jetzt in diese Musik, als hätte man sie nie zuvor, nie seither

28

Paul Stefan, Gustav Mahlers Erbe (Anm. 22), S. 39-43.

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schöner und reiner gehört. Es war der elysische Mozart, den Mahler gab; der lösende, heitere, ganz und gar verklärte, über alle irdische Schönheit hinaus, die erreicht und überwunden sein mußte; und dann wieder der tragische Mozart, dieser vielleicht fast noch ergreifender, so in dem Ernst und in der höllischen Ironie des Don Giovanni. Der ist, im Dezember, die nächste Oper im Zyklus. Auf der Bühne bilden die „Türme" einen festen Rahmen; vereinfachte, stilisierte Bühneneinfassung. Die Prospekte dunkelblauer Nachthimmel, gestirnt, Zypressen (aus Samt geschnitten, nicht gemalt); zur Champagnerarie ein Barockschloß mit farbenreichem Garten; Kirchhof mit malerischen Gräbern; Aufbahrungsgemach zur Briefarie; zweites Finale: Saal in grellem Rot, Barockschmuck, Don Giovanni in weißem Brokat. Eine ungeheure, wilde Lebendigkeit allein schon der Zeitmasse, vom rasenden Presto der Ouvertüre bis zu der unheimlichen Steigerung des Schlusses; jedoch ohne das Sextett, in dem sich die Tugend zu Tisch setzt. Donna Anna die Mildenburg, ganz und gar im Sinn der Novelle Hoffmanns, dem Don Giovanni fast bedenkenlos unterjocht und nach dem Tod des Vaters nur noch mehr ergeben; Donna Elvira die Gutheil, sanft, aber Dame, zuletzt schicksalhaft als erste dem Gespenst begegnend, mit einem entsetzlichen Schrei von außen her über die ganze Bühne taumelnd ... Die Entführung, im Zeichen verordneter Sparsamkeit, aber verschwenderisch in der Musik. Figaros Hochzeit, in einer neuen Ubersetzung von Kalbeck (wie auch der Don Giovanni), die auf Mahlers Weisung Worte der Komödie, so die ganze Gerichtsszene, rezitativisch hinzukomponiert, in den Text der Oper mitaufnimmt. Herrliche Gartenbilder aus der Zeit; sicherste Vollendung des Stils im Orchester und auf der Bühne, in dreißig Proben erfaßt und festgehalten. Die Zauberflöte, mit den alten Dekorationen, Mahlers auch inzwischen kaum je „abgegebene" Lieblingsoper. Mitten während des Zyklus der Lohengrin [...].29 Ahnlich enthusiastisch äußerte sich Bruno Walter, der Mahlers Mozart-Interpretationen vor allem als Triumph der „Wahrheit" (und wohl gleichermaßen der Authentizität, wenngleich dies nicht direkt angesprochen erscheint) bezeichnete und folgendes überschwengliche Lob zu Papier brachte: Er befreite Mozart von der Lüge der Zierlichkeit, wie von der Langeweile akademischer Trockenheit, gab ihm seinen dramatischen Ernst, seine Wahrhaftigkeit [...]. Er verwandelte durch seine Tat den bisherigen leblosen Respekt des Publikums vor den Mozartschen Opern in eine Begeisterung, die das Haus mit ihren Demonstrationen erschütterte. 30

29 30

Paul Stefan, Die Wiener Oper. Ihre Geschichte von den Anfängen bis in die neueste Zeit, Wien-Leipzig 1932, S.71f. Bruno Walter, Thema und Variationen. Erinnerungen und Gedanken, Stockholm 1947, S.214f.

,[...] doch behielt er jene Appoggiaturen bei [...]."

271

Lediglich Paul Stauber, erklärter Gegner Gustav Mahlers, fand weder Rollers Inszenierungen noch Mahlers Dirigate lobenswert. Er bezeichnete Roller sogar als Mahlers Schicksal, sein V e r h ä n g n i s . Denn hier ist der Wendepunkt im Leben Mahlers. Nun kehrt er sich von seinen bisherigen künstlerischen Anschauungen ab und wirft sich der extremen Sezession in die Arme. Das künstlerische Vermögen Rollers [...] bedarf keiner ausführlichen Würdigung. Sein Bestreben, durchaus anders zu sein, als andere, ist aber dem Wahne Mahlers in der Spätzeit dessen Direktion verwandt. Darum verstanden sich auch die beiden so gut. [...] Insbesondere die Inszenierung des Don Giovanni wurde zum Gegenstand geradezu bösartiger Kritik; der „musikalische Teil der Vorstellung" sei allerdings „noch ärger" gewesen: Der letzte Don Juan der Hofoper ist mit Ritter abgegangen. [...] Über die Mildenburg als Donna Anna siehe ihren Fidelio! Sie ist niemals eine Mozartsängerin gewesen. Sie brachte nie ein Legato zustande. [...] D a s war die b e r ü h m t e Don Giovanni-Vorstellung. Alle Musiker lechzen nach einer Restitution des „Don Juan". Man müßte eigentlich eine Adresse abfassen, um Weingartner zu einer Korrektur im Mozartschen Sinne zu bewegen. Figaros Hochzeit: [...] Auch wurde von Mahler eine Gerichtsverhandlung mit Spinett- und Kontrabässenbegleitung in das Mozartsche Werk eingefügt, in der musikalischen Aufführung durchaus nicht mozartisch. Wünscht Herr Dr. Stefan, daß irgend ein Nachfolger Mahlers auch dessen Einschiebsel, die in Figaros Hochzeit hineinkomponiert wurden, beibehalten soll?31

IV. Wir wollen nun an H a n d von im Archiv der Wiener Staatsoper 3 2 erhaltenen Materialien der von Mahler geleiteten A u f f ü h r u n g e n des Don Giovanni und der Hochzeit des Figaro vor allem der Frage nachgehen, wie der Hofoperndirektor bei der A u s f ü h r u n g der Rezitative vorgegangen ist, und hier insbesondere auch seinem Umgang mit den damals noch weitgehend im Sinne der Zeit Mozarts gesungenen Appoggiaturen 3 3 nachspüren. Rufen wir u n s zunächst in

31 32 33

Paul Stauber, Vom Kriegsschauplatz der Wiener Hofoper. Das wahre Erbe Mahlers, Wien 1909, S.44. An dieser Stelle sei dem Leiter des Musikarchivs der Wiener Staatsoper, Herrn Peter Poltun, herzlich für seine Hilfe gedankt, die historischen Materialien aufzufinden. Zu diesem Kapitel der Aufführungspraxis siehe insbesondere Hartmut Krones, Zur Theorie und Praxis der Appoggiatur im 18. Jahrhundert, in: Zur vokalen und instrumentalen Ornamentik in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts (= Studien zur Aufführungspraxis und Interpretation der Musik des 18. Jahrhunderts 31), Michaelstein/Blankenburg 1987,

272

Hartmut Krones

Erinnerung, daß diese etwa in einer Gesangsschule des Jahres 1854 selbstverständlich ganz gemäß der aufführungspraktischen Tradition gelehrt wurden34 (Notenbeispiel 2) und daß auch noch in einem Anfang des 20. Jahrhunderts von Wilhelm Kienzl in der Wiener Universal-Edition herausgegebenen Klavierauszug der Zauberflöte die herkömmlichen Appoggiaturen verzeichnet sind36 (Notenbeispiel 1; Appoggiaturen vom Autor gekennzeichnet). Mahler benützte nun im Falle des Don Giovanni offensichtlich Klavierauszüge (Notenbeispiel 3), die 1897 in einer Textbearbeitung von Hermann Levi beim Münchener königlichen Hof-Buchhändler Theodor Ackermann erschienen waren36 und in denen Levis Text handschriftlich durch Max Kalbecks bereits zwölf Jahre zuvor erstellte (und hier erneut in einigen Einzelheiten veränderte37) Textbearbeitung38 überschrieben wurde. In Ackermanns Ausgabe sind

34 35

36

37

38

S. 46-66, sowie Hartmut Krones, Vorschläge und Appoggiaturen bei Wolfgang Amadeus Mozart. Am Beispiel zeitgenössischer Bearbeitungen des „Don Giovanni" und der „Zauberflöte", in: Osterreichische Musikzeitschrift 42 (1987), S.99-105. Friedrich Schmitt, Große Gesangsschule für Deutschland, München 1854, S.243. Vgl. Robert Haas, Aufführungspraxis der Musik (= Handbuch der Musikwissenschaft 5), Potsdam 1931, S.260. U.E. 245. Siehe Hartmut Krones, Zur Rezitativ-Behandlung und musikalischen Deklamation bei Wilhelm Kienzl, in: Deutsche Oper zwischen Wagner und Strauss. Tagungsbericht Dresden 1993 mit einem Anhang von der Draeseke-Tagung Coburg 1996, hrsg. von Sieghart Döhring, Hans John und Helmut Loos (= Veröffentlichungen der Internationalen Draeseke-Gesellschaft. Schriften 6), Chemnitz 1998, S. 147-166, hier S.149f. und 163 f. „DER BESTRAFTE WÜSTLING | ODER | DON JUAN. | HEITERES DRAMA IN ZWEI AUFZÜGEN | VON | LORENZO DA PONTE. | MUSIK VON | W.A.MOZART. | KLAVIERAUSZUG VON FRANZ WÜLLNER. | TEXTBEARBEITUNG VON HERMANN LEVI. | MÜNCHEN. | THEODOR ACKERMANN | KÖNIGLICHER HOFBUCHHÄNDLER | 1897." Nach den zahlreichen Streichungen sowie Änderungen weist diese Titelseite nunmehr folgenden Wortlaut auf: „DON Giovanni | Oper in zwei Akten, nach dem Italienischen das [sie] | LORENZO DA PONTE, für die deutsche Bühne neu bearbeitet von Max Kalbeck. | MUSIK VON | W. A. MOZART." Zitat gemäß einem Exemplar im Notenarchiv der Wiener Staatsoper, Inventarnummer DJ 41. Franz Hadamowsky, Die Wiener Hoftheater (Anm. 20), erwähnt diese Ausgabe nicht. Hiezu vgl. Kurt Blaukopf: „Auch hier lag ihm nicht an Änderungen um jeden Preis. Textabschnitte, die .durch ihre Popularität sich Bürgerrecht erworben haben', durften unmodifiziert beibehalten werden. Wo aber die musikalische Logik und auch die dramatische Folgerichtigkeit verletzt schien, ließ Mahler Neues versuchen." Kurt Blaukopf, Gustav Mahler (Anm. 17), S. 206. Siehe auch Henry-Louis de La Grange, Gustav Mahler 3 (Anm. 26), S.286. Diese (erste) Textbearbeitung hatte Kalbeck laut dem Vorwort im (unten zitierten) Klavierauszug (Jubiläums-Ausgabe) 1885 für folgende „Übersetzung" erstellt: „ M o z a r t ' s D o n J u a n . Nach dem italienischen Original des da Ponte für die deutsche Bühne frei bearbeitet und mit einem Vorwort versehen von M a x K a l b e c k . Wien, Verlag von A l b e r t J . G u t m a n n . 1886." Der 1887 erscheinende Klavierauszug weist folgendes Titelblatt auf: „JUBILÄUMS-AUSGABE. | Don Juan. | Opera buffa in 2 Acten | von | LORENZO DA PONTE. | Nach dem italienischen Original für die deutsche Bühne \ frei bearbeitet | von | MAX KALBECK. | Musik | von | W. A. MOZART. | Klavier-

,[...] doch behielt er jene Appoggiaturen bei [...]."

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Notenbeispiel 1. Appoggiaturen-Beispiele aus dem von Wilhelm Kienzl herausgegebenen Klavierauszug der „Zauberflöte".

Auszug | nach der Original-Partitur mit den vollständigen Seccorezitativen | von Joh. Nep. Fuchs. | Die vorliegende Bearbeitung des Klavierauszuges sowie die | Uebersetzung des italienischen Originaltextes sind Eigenthum des Verlegers. | Eigenthum des Verlegers für alle Länder: | Den internationalen Verträgen gemäss deponiert. | Wien, Albert J. Gutmann | Kaiserl. Königl. Hof-Musikalienhandlung | Déposé à Paris. [—] K.K. Hofopernhaus. [—] Ent.Sta.Hall.London. | Leipzig, Fr. Hofmeister. [—] Christiania, C. Warmuth. | New-York, Copyricht [!], G. Schirmer 1887. | London, Metzler & Co. [—] Stockholm, Abr. Lundquist. | Lith. Anst. v. Engelmann & Mühlberg, Leipzig. | 8701/25." Zitiert nach dem Exemplar im Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde, Signatur III 27557.

274

Hartmut Krones

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Notenbeispiel 2. Friedrich Schmitt: Große Gesangsschule für Deutschland, S.243.

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Notenbeispiel 3. Klavierauszug zu Don Giovanni (München 1897 / Einrichtung der Wiener Hofoper 1905).

276

Hartmut Krones

wie in der Gutmannschen keinerlei Appoggiaturen gedruckt, doch stehen in den Exemplaren der Wiener Hofoper bei einzelnen Passagen über jenen Noten, die Vorhalten („Total-Appoggiaturen") Platz zu machen haben, Kreuze, die eindeutig auf die hier zu singenden Appoggiaturen weisen (Notenbeispiele 4, 5, 6, 7, 8 und 9):39 bei Donna Annas „theuerster Vater!" ebenso wie etwa bei Don Ottavios „O, du mein Leben!", bei Don Giovannis „Ich weiss von keinem Eide". „So sind wir wieder Freunde". „Leporello!", „wie die Luft, die ich athme". „Einer Einzigen treu sein" oder bei dessen Worten „Bei dieser Kleinen [...]", wobei die Appoggiaturnote durchaus oft mit Hilfe eines Sprunges nach oben angesungen wird. In anderen Fällen hinwiederum sind die Appoggiaturen handschriftlich als Noten eingeschrieben, wie dies bei Don Ottavios zweifachem „Ich schwöre" der Fall ist (Notenbeispiel 10).40 Zwar können alle diese Eintragungen nicht mit Sicherheit Mahlers Aufführung zugeordnet werden, doch lassen sowohl dessen Verbindung mit Hermann Levi als auch der Kalbecksche Text diese Zuordnung durchaus vermuten. Zudem sprechen die völlig zweifelsfrei auf Mahler zurückgehenden, ähnlich appoggiaturenreich eingerichteten Materialien von Figaros Hochzeit (siehe unten) deutlich für diese Verbindung.

Notenbeispiel 4. Don Giovanni (Einrichtung der Wiener Hofoper 1905), Donna Anna: „theuerster Vater!".

39 40

Klavierauszug (Inventar-Nummer der Hofoper: DJ 41, siehe Anm.36) S.21, 22, 30, 151, 152 und 153. Ebenda S. 25.

,[...] doch behielt er jene Appoggiaturen bei [...]."

277

i •SckaAlM. conso -la - ti.'

Notenbeispiel 5. Don Giovanni (Einrichtung der Wiener Hofoper 1905), Don Ottavio: „O, du mein Leben!".

Wo bleibt der Schwur?

Eü gm - ra - men - to?

Ich weiss von

Non so

di

kei - nem Schwur:

giu - -ra - JMn-