Musikalische Grenzgänge: Europäisch-jüdische Kunstmusik und der Soundtrack der israelischen Geschichte 9783161552533, 9780199354948, 3161552539

Assaf Shelleg untersucht in diesem Buch die Geschichte der israelischen Kunstmusik und ihren anhaltenden Diskurs mit der

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German Pages 344 [358] Year 2017

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Musikalische Grenzgänge: Europäisch-jüdische Kunstmusik und der Soundtrack der israelischen Geschichte
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Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungen
Jüdische Kontiguitäten: Europäische Vergangenheiten in der Levante
Hava Nagila? Die fragwürdige Zentralität der osteuropäischen Klanglandschaft
Vor und nach der Staatsgründung: Die Verwässerung des Hebraismus
Die 1960er und 1970er Jahre: Die Artikulation des Jüdischen in der israelischen Kunstmusik
Die historiografischen Karten neu mischen
Literaturverzeichnis
Register
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Musikalische Grenzgänge: Europäisch-jüdische Kunstmusik und der Soundtrack der israelischen Geschichte
 9783161552533, 9780199354948, 3161552539

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Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo Baeck Instituts

78

Unter Mitwirkung von

Michael Brenner · Astrid Deuber-Mankowsky · Sander Gilman · Raphael Gross · Daniel Jütte · Miriam Rürup · Stefanie Schüler-Springorum · Daniel Wildmann (geschäftsführend) herausgegeben vom

Leo Baeck Institut London

Assaf Shelleg

Musikalische Grenzgänge Europäisch-jüdische Kunstmusik und der Soundtrack der israelischen Geschichte

Aus dem Englischen übersetzt von Felix Kurz

Mohr Siebeck

Assaf Shelleg ist Assistant Professor der Musikwissenschaft an der Hebräischen Universität Jerusalem. Von 2009 bis 2011 lehrte er als Visiting Efroymson Scholar am Institut für jüdische, islamische und nahöstliche Sprachen und Kulturen an der Washington University in St. Louis; von 2011 bis 2014 war er Schusterman Visiting Assistant Professor der Musikwissenschaft und Jüdischen Studien am Institut für Religionswissenschaften der University of Virginia. Sein Buch Jewish Contiguities and the Soundtrack of Israeli History wurde mit dem Joel Engel Prize (2015) und dem Jordan Schnitzer Book Award (2016) ausgezeichnet. Felix Kurz übersetzt vorwiegend wissenschaftliche Literatur aus dem Englischen und Französischen. Für musikwissenschaftliche Beratung dankt er Dr. Jeff Brown (Berlin).

ISBN 978-3-16-155253-3 ISSN 0459-097X (Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo Baeck Instituts) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2017 Mohr Siebeck, Tübingen. www.mohr.de Titel des Originals: Assaf Shelleg, Jewish Contiguities and the Soundtrack of Israeli History, © Oxford u. a.: Oxford University Press, 2014. „Jewish Contiguities and the Soundtrack of Israeli History“ was originally published in English in 2014. This translation is published by arrangement with Oxford University Press. Mohr Siebeck is solely responsible for this translation from the original work and Oxford University Press shall have no liability for any errors, omissions or inaccuracies or ambiguities in such translation or for any losses caused by reliance thereon. „Musikalische Grenzgänge. Europäisch-jüdische Kunstmusik und der Soundtrack der israe­ lischen Geschichte“ erschien 2014 in der englischen Originalausgabe. Diese Übersetzung er­ scheint mit Lizenz von Oxford University Press. Mohr Siebeck ist ausschließlich für diese Übersetzung der Originalausgabe verantwortlich und Oxford University Press übernimmt keine Haftung für jegliche Fehler, Auslassungen, Ungenauigkeiten oder Mehrdeutigkeiten dieser Übersetzung sowie für im Vertrauen auf diese verursachte Schäden. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Ver­ lags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzun­gen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Gulde-Druck in Tübingen gesetzt und von Hubert & Co. in Göttingen auf alterungsbeständiges Werkdruck­papier gedruckt und gebunden. Der Einband wurde von Uli Gleis aus Tübingen gestaltet. Umschlagabbildung: Ausschnitt aus Board Game (1978) von Michael Druks.

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7/24/2014 1:12:04 PM

Vorwort von Edwin Seroussi

Ganz gleich, wann und wo man die jüdische Begegnung mit der Moderne ansiedelt, und so vieles dieser Epochenbegriff auch umfassen kann, eines bleibt unbestreitbar: Nach dieser Begegnung sollte in der jüdischen Erfahrung nichts mehr so sein wie zuvor. Das heißt nicht, dass das weltweite Judentum zuvor streng gleichförmig gewesen wäre oder dass es keine sozialen und theologischen Umbrüche und Herausforderungen seiner Existenz erlebt hätte. Es heißt nur, dass es ein gewisses Grundverständnis dessen gab, was jüdisch zu sein bedeutet, eines, das alle Juden und ihre nichtjüdischen Umgebungsgesellschaften teilten. Wie sehr sich die historischen Umstände auch wandeln mochten, das tägliche Leben von Juden folgte bestimmten – fraglos in zahllosen lokalen Varianten existierenden – Grundregeln. Und wie unterschiedlich Juden in aller Welt, von Worms bis Bagdad, diese Grundregeln auch praktizierten, wenn sie sich begegneten, erkannten sie einander als Angehörige derselben Gemeinschaft an. Damit war es nun vorbei. Was die Moderne mit beispiellosen Konsequenzen infrage stellte, war das Grundverständnis von »Jüdischsein«. Die daraus resultierende starke Atomisierung des weltweiten Judentums in scheinbar unverrückbare Lager prägt die moderne jüdische Erfahrung. Auch wenn nominell ein vages Bewusstsein gemeinsamer Herkunft fortbesteht – eine Zeit lang verstärkt vom Grauen des Holocaust, der keinen Unterschied zwischen den sehr verschiedenen Schattierungen des Judentums kannte –, praktizieren Juden im 21. Jahrhundert ihr Judentum auf so unvereinbare Weisen, dass ihr Anspruch, ein Volk zu sein, sich scheinbar als illusionär erweist. Der klangliche Aspekt der jüdischen Kultur war gegen diese Erschütterungen nicht gefeit, und die durch sie erzeugten klanglichen Brechungen bilden den roten Faden, der die Kapitel in Shellegs provokantem Buch verbindet. Ein entscheidender Moment in der modernen jüdischen Geschichte beschäftigt Shelleg ganz besonders: das Aufkommen des Nationalismus in Europa und seine Übersetzung durch Juden in unterschiedliche Strategien und Praktiken, die einen Umgang mit den gänzlich neuartigen Konstellationen ethnischer, religiöser und kultureller Subjektivitäten ermöglichen sollten. Die musikalischen Folgen dieser Strategien, insbesondere die daraus erwachsenden Praktiken der Kunst­ musik, bilden den Kern des Buches.

VIII

Vorwort

Der Zionismus ist lediglich eine der revolutionärsten jüdischen Übersetzungen des europäischen Nationalismus, und Shelleg zeigt überzeugend, wie er einen von Kontinuitäten und Brüchen, Anleihen und selektiven Zitaten, Illusionen über den eigenen Ort und Verschiebungen geprägten Soundtrack hervorbrachte. Ausgehend von der imposanten hebraistischen Rhetorik, die jüdische Mythen der Erlösung in die säkulare, dem nationalen Aufbau verpflichtete Sprache des späten 19. Jahrhunderts überführte, legt er gekonnt die Nabelschnur frei, die die jüdische Kunstmusikszene im britischen Mandatsgebiet und später Israel – nach 1948 von einer nationalistischen Musikwissenschaft »israelische Kunstmusik« getauft –, mit ihren Vorläufern im Europa des frühen 20. Jahrhunderts verband. Doch die eigentliche Enthüllung des Buches – eine Hypothese, die gegenwärtige Narrative über israelische Musik auf den Kopf stellt – besteht in dem Nachweis, wie brüchig eines der Leitmotive des säkular-zionistischen Hebraismus war: die »Negation der Diaspora«. Bis in kleinste Details zeigt Shelleg, wie die an die Diaspora erinnernden Stimmen, die der Hebraismus auszulöschen suchte, etwa die monofonen und heterofonen Texturen arabisch-jüdischer Liturgien, die sich der polyfonen tonalen Vertikalität widersetzten, die Werke der von ihm ausgewählten Gruppe anerkannter jüdischer Komponisten durchziehen, die von circa 1930 bis 1975 im britischen Mandatsgebiet und später Israel tätig waren. Einzigartig an diesem Buch ist die beeindruckende Bandbreite an Primärquellen jenseits von Noten – etwa literarische Werke, Musikkritiken und Tagebücher –, mit denen der Autor seine zentralen Argumente belegt. Auch das soziale und weltanschauliche Umfeld, in dem sich die einzelnen Komponisten jeweils entwickelten, wird präzise vermessen. Den Hintergrund eines Künstlers nachzuvollziehen, trägt zum Verständnis seiner ästhetischen Entscheidungen bei. Shelleg zeigt brillant, wie die »jüdischen« Optionen, für die sich europäisch-jüdische Komponisten an der Schwelle zum 20. Jahrhundert entschieden, weniger aus erster Hand – aus »authentischen« Kindheitserfahrungen – stammten, als sie klangliche Stereotype des Jüdischen, die in ihrer nichtjüdischen Umwelt kursierten, gleichsam aus zweiter Hand darboten. Als (mitunter orientalisierte) Fremde in ihren europäischen Ländern vermochten diese Komponisten ihrer diasporischen jüdischen Nationalität keinen Ausdruck zu geben, da sie nicht einmal die Sprache ihres Volkes – auch die musikalische nicht – beherrschten. Der von Shelleg als »Autoexotismus« bezeichnete Prozess zog eine doppelte différance klanglicher Signifikanten nach sich, deren Status sich von Zeichen zu Symbolen verschob. Man könnte meinen, das Thema des Buches sei ein bloßes Nebengleis der großen Narrative der modernen europäischen Kunstmusik oder auch der jüdischen Studien. Das wäre ein Irrtum. Zudem füllt das Buch eine Lücke in der vorherrschenden Geschichtsschreibung der westlichen Musik, die nationalistischen Agenden folgend die Beiträge der »Anderen« bestenfalls als »kleine«,

Vorwort

IX

schlimmstenfalls als unbedeutende, abgeleitete musikalische Texte marginalisiert hat. Tatsächlich erhellt der von Shelleg behandelte Fall moderner jüdischer Komponisten inner- wie außerhalb Europas die selten erforschte Perspektive der umgesiedelten Schöpfer moderner westlicher Kunstmusik. Als Fallstudie zur Kunstmusik bietet das Buch zugleich eine leidenschaftlich geschriebene Einführung in das Scheitern des zionistischen Hebraismus, der neue Generationen von Einwanderern in das Land Israel nicht für seine erbaulichen säkularen und antidiasporischen Ansprüche zu gewinnen vermochte. Zählebige religiöse Unterströmungen, die in der israelischen Gesellschaft nach 1967 schließlich offen hervorbrachen, zehrten die verbliebenen Energien des Hebraismus auf und eröffneten eine neue Ära, die von einer Rückkehr zum »jüdischen Bücherregal« geprägt war – und wie man in Abwandlung des Untertitels dieses Buches hinzufügen kann: zu »jüdischen Soundtracks« (durchaus im Plural). Diese Rückkehr bringt ihrerseits die jedem modernen Nationalismus innewohnende Gefahren mit sich, jene Gespenster, die dessen Wiege Europa in den vergangenen hundert Jahren mehr als einmal an den Rand des Abgrunds geführt haben. Aus dieser Perspektive betrachtet ist Shellegs Buch eine zeitgemäße Ergänzung für die Bibliothek jedes deutschen Lesers, der sich für moderne Kunstmusik, modernen Nationalismus, das moderne Judentum und das mit allen dreien verbundene Unbehagen interessiert.

Inhaltsverzeichnis Vorwort von Edwin Seroussi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XIII Einleitung Jüdische Kontiguitäten: Europäische Vergangenheiten in der Levante . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Kapitel 1 Hava Nagila? Die fragwürdige Zentralität der osteuropäischen Klanglandschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 Kapitel 2 Vor und nach der Staatsgründung: Die Verwässerung des Hebraismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Kapitel 3 Die 1960er und 1970er Jahre: Die Artikulation des Jüdischen in der israelischen Kunstmusik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 Kapitel 4 Die historiografischen Karten neu mischen . . . . . . . . . . . . . . . . 295 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337

Abkürzungen HOM: Abraham Zvi Idelsohn, Hebräisch-Orientalischer Melodienschatz, 10 Bde., Leipzig 1914–1932 (HOM, III, 99 = Bd.  3, Transkription Nr.  99) LOC:

Library of Congress, Washington, DC

MSC:

Mordecai Seter Collection

MSCN: Mordecai Seter Collection, Seter notebooks NLI:

National Library of Israel, Jerusalem

NSA:

National Sound Archives, Jerusalem

YTA:

Yad Tabenkin Archive, Ramat Efal

Einleitung

Jüdische Kontiguitäten: Europäische Vergangenheiten in der Levante In Tel Arsa wurde weder ein Kulturhaus errichtet noch die Straße gepflastert. […] Ingenieur Brzezinski kletterte auf sein Hausdach und installierte dort eine riesige Rundfunkantenne, um jede Nacht die fernsten Sender abhören zu können. […] Nachts wimmelte es in den Schluchten ringsum. Die Wildnis der Geröllfelder und Bergketten strebte danach, bis an die Hauswände vorzudringen. Schakale heulten ganz in der Nähe, und das Blut erstarrte in den Adern bei dem Gedanken an ihr weiches, angespanntes Tapsen zwischen den Setzlingen, unterhalb der geschlossenen Läden, vielleicht sogar auf der Veranda. Eine einzige Straßenlaterne aus der frühen Mandatszeit mit kleinen quadratischen Glasscheiben und einer grünen Kuppel darüber warf nachts ihr einsames Licht auf die Schotterstraße. Die Finger des Feigenbaums unten im Garten waren leer. Draußen im Dunkeln war kein Mensch. Die quadratische Laterne leuchtete umsonst. Alle Einwohner verzogen sich nach Einbruch der Dunkelheit in ihre Häuser. Madam Jabrowa spielte jeden Abend Klavier, und ihre Nichte Ljubow Binjamina strich das Cello, bis sich einem vor Trauer das Herz verkrampfte. […] Eines Nachts schrie Ingenieur Brzezinski plötzlich aus vollem Halse »Feuer! Feuer!«, weil er im Radio auf Beethovens Eroica gestoßen war, die von irgendeinem Nazi-Sender auf dem Balkan ausgestrahlt wurde. […] Von Schreck und Asthma befallen, wachte Hillel in solchen Nächten auf, sah zwischen den Ladenlamellen den Schädel des türkischen Janitscharen in der schwarzen Luft schweben und ihn mit toten Zähnen angrinsen und zog sich weinend das Laken über den Kopf. Dann erhob sich der Tierarzt [sein Vater] und ging barfuß in das Zimmer des Kindes, um das Laken zurechtzuziehen und dem Jungen ein Trostlied zu singen. […] Später, gegen Morgen, heulte der Untermieter Mitja jenseits der Wand manchmal mitten im Traum: »Kein Mitleid! Rührt ihn nicht an! Er leeebt noch! Jaaa njee snaaaju! Jaa njee ponimaaaju! Da ist nichts. Gar nichts!« Und verstummte wieder. Amos Oz, Der Berg des bösen Rates1

Die Klangkulisse eines Jerusalemer Vororts an der Schwelle zur Staatsgründung offenbart einige der Kontiguitäten, die sich mit dem Beginn des zionistischen Projekts ergaben. Eine Rundfunkantenne, die über die Grenzen des Jischuw (der jüdischen Gemeinschaft in Palästina) hinaus in das ehemalige europäische Heimatland reichen soll, wird auf einem Dach installiert, nur um eine beunruhigende Erinnerung an den Grund zu bieten, der zur Emigration geführt hatte. Unweit davon wird ein im Land geborenes Kind mit einem Lied in den Schlaf gewiegt, 1 

46.

Amos Oz, Der Berg des bösen Rates, übers. v. Ruth Achlama, Frankfurt a. M. 1993, 43–

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das als Bestandteil der nationalen Kultur gilt, obwohl es sich vermutlich um eine mit hebräischen Versen kontrafazierte Melodie aus Osteuropa oder Palästinas nichtjüdischem semitischem Kulturraum handelt (womit das Lied den zionistischen Drang bezeugt, einen kulturellen Gegensatz zu benachbarten und zugänglichen Kontexten zu erzeugen).2 Und vor dem politisch angespannten Hintergrund des verzögerten Rückzugs der Briten aus dem Land sowie der jüdischen Staatsgründung, die sich am Horizont abzeichnet, gerät die Aufführung klassischer Musik zu einer schmerzhaften Reminiszenz, dargeboten von Emigranten, die in den Worten von Amos Oz’ den Eindruck erweckten, »als seien sie nur zu vornehm, um dem Leben mit gleicher Münze zurückzuzahlen«.3 Kontrapunktiert durch heulende Schakale und klagende Muezzins, die den Jerusalemer Vorort zu belagern scheinen, werden Oz’ Schilderungen von Musik zu Metonymien für die anomalen Gegebenheiten im Jischuw. Indem er in seiner Novelle auf volkstümliche oder populäre Musik hinweist (zwei Genres, die vor der Entstehung urbaner Zentren in Palästina ununterscheidbar waren) sowie auf Verse, die in biblische Ausdrucksweise gefasst sind und aus der Kraft des Hebräischen schöpfen, kann Oz eine unnachgiebige Kluft aufzuzeigen: zwischen der zionistischen Erlösungsrhetorik der hebräischen Kultur (im Folgenden Hebraismus), die sich von den Welten des Exils wie auch von der arabischen Gemeinschaft Palästinas abgrenzte (mit der der Jischuw um territoriale und demografische Vorherrschaft konkurrierte), und den kulturellen Hybriden, die derartige Konstrukte gefährdeten. Wehmut und alptraumhafte Visionen in Tel Arsa waren bloß Symptome solcher Abtrennungen. Was die nationale Rhetorik als einheimisch und authentisch ausgab, war gewöhnlich Resultat selektiver Anleihen bei jüdischen Vergangenheiten und der (semitischen) klanglichen Umgebung Palästinas, während exilische Quellen in die Ferne gerückt und theologische Konzepte säkularisiert wurden. Doch die Musik war die widerspenstigste Komponente dieses porösen nationalistischen Diskurses. Sie sickerte in den Jischuw (und später den Staat Israel) ein und trotzte dabei den binären Gegensätzen, die die nationale Rhetorik stützten, wie ein bohrender Hinweis auf die Unsicherheit der politischen Grenzen des Landes und auf die Herkunftsländer seiner Bewohner. Die musikalische Landschaft des Jischuw (damals ein Staat im Werden) hallte wider von jüdischen wie nichtjüdischen Stimmen, die früher in dieser geplagten Region gelebt hatten, und war zugleich von Gehör und Hand jener Europäer geprägt, deren Importe oftmals einen Filter darstellten, den andere Musikrichtungen passieren mussten. Die moderne hebräische Literatur transkribierte die Klänge, die auch in Oz’ Text heraufbeschworen werden: die populäre und volkstümliche Musik (ob sie 2  Itamar Even-Zohar, The Emergence of a Native Hebrew Culture in Palestine, 1882–1948, Poetics Today, 11.1 (1990): 181. 3 Oz, Der Berg des bösen Rates, 25.

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nun authentisch, geborgt, angeeignet oder erfunden war) und die Klassik, die oftmals als Metonymie für ein utopisches oder dystopisches Europa diente. Der hauptsächlich aus der volkstümlichen und populären Musik schöpfende stilistische Radius von Autoren und Dichtern ließ sich durch die Präsenz des hebräischen Textes rechtfertigen, dessen vom biblischen bis zum modernen Hebräisch reichende sprachliche Schichten die Substanz bildeten, die den jüdischen Nationalismus beseelt hatte, und durch die entfernten Orte in der europäischen Diaspora, deren Musik nun neue, ideologische aufgeladene Texte erhielt. Diese Klanglandschaften reichten der Literatur aus, um die jüdischen und nichtjüdischen Kontiguitäten im Palästina der Mandatszeit und später im Staat Israel zu kartografieren; die klassische europäische Musik des 18. und 19. Jahrhunderts wurde unterdessen zum Symbol für Verlust oder bot einen schwachen Trost. Allerdings gab es in diesem entstehenden Siedlungsraum noch andere Elemente: Er wurde auch von emigrierten Komponisten bevölkert, deren Kunstmusik aus den von Oz geschilderten Klanglandschaften schöpfte und ähnliche Friktionen von Zeit und Ort aufwies. Ihre Werke wurden bald als »israelische Kunstmusik« bezeichnet, obwohl die Institutionalisierung dieses Bereichs schon vor der Staatsgründung begonnen hatte. Doch wie viele nationale Klassifizierungen solcher Art wurde die Bezeichnung nicht nur nach der Staatsgründung geprägt, sondern zeugt sie auch von der Präsenz einer lenkenden zionistischen Hand, die rückwirkend etwas als Andeutung erscheinen lässt. Die Kunstmusik im Übergang von der Mandatszeit in die israelische Ära erschöpfte sich nicht in der Aufführung klassischer Musik (wie in einer neueren Publikation irrtümlich behauptet),4 sondern nahm alle Klänge in sich auf, die auch moderne hebräische Autoren angeregt hatten, ebenso aber andere, sowohl einheimische wie gleichsam eingewanderte. Alle diese Klänge wurden in In­ stru­mental- und Vokalwerke kanalisiert, die unter der Ägide der europäischen Moderne als »Kunstmusik« bezeichnet wurden (um etwas für die »niederen« Schichten der Musik Unantastbares zu markieren), bis Entfremdung vom Publikum und neue Technologien der Musikverbreitung ihre Privilegien untergruben und die Kategorie in sich zusammenfiel. Die ersten Protagonisten, die an der Herausbildung von Kunstmusik im Jischuw teilhatten, waren unfreiwillig in die Levante geratene europäische Juden, deren musikalische Ausbildung vor dem Hintergrund moderner, eng an die nationalen Räume Europas gebundener Diskurse stattgefunden hatte. Die älteren Vertreter dieser Generation von Emigranten hatten noch am Diskurs der modernen jüdischen Kunstmusik in Europa teilgehabt – während einer kurzen Phase von den 1910er Jahren bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, in der sich jüdische wie nichtjüdische Komponisten der Musiksprache der Mehrheitsgesellschaft bedienten, um die Stimme der jüdischen Minderheit anzunehmen (gewöhnlich ohne sich dem Zionis4 

Barry Rubin, Israel. An Introduction, New Haven 2012, 293 f.

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mus anzuschließen). Die Kunstmusik in Palästina war somit in vieler Hinsicht eine räumlich verpflanzte moderne europäische, in manchen Fällen sogar europäisch-jüdische Kunstmusik. Und so beginnt die Geschichte der israelischen Kunstmusik gewissermaßen in der Mitte – mit der Auswanderung einer kritischen Masse mittel- und westeuropäischer Komponisten in das britisch verwaltete Palästina, wo sie durch die mitgebrachten Kompositionstechniken und ihr Ringen mit der vorbelasteten Idee eines Jüdischen in der Musik gewaltige kulturelle Kettenreaktionen auslösten, die über die Kennzeichen eines nationalistischen Stils hinauswiesen. Die gegen die vorherrschenden ästhetischen und politischen Diskurse des Zionismus anschreibenden Komponisten konnten sich dabei weder vom europäischen Umfeld ihrer Ausbildung lösen noch von einem modernen Vokabular, dessen Zusammenstoß mit dem des Zionismus viele der im vorliegenden Buch behandelten Episoden prägte. Der Jischuw hingegen, der negative Bilder aus dem Arsenal des europäischen Antisemitismus übernahm, um die von ihm verachtete Mentalität des Exils mit einer Rückkehr zur Normalität in Eretz Israel zu kontrastieren, konnte dies; er trennte jüdische und europäische Welten vom zionistischen Projekt ab. Diese Abgrenzung wiederum ermöglichte eine teleologische, von der Zerstörung über das Exil zur Erlösung führende Allegorie, die die zionistische Gegenwart rechtfertigte und die an ihrer entbehrungsreichen Verwirklichung Beteiligten psychologisch rüstete. Solche linearen Vorstellungen fanden auch Eingang in die musikwissenschaftliche Literatur, deren binäre Methoden der »Repräsentation« bloß erklären konnten, warum X = X ist: Mit dem Nachweis, dass bestimmte Merkmale einer osteuropäischen Melodie eine jüdische Exilwelt »repräsentieren«, die mit dem Säkularismus des Jischuw in Konflikt stehe,5 oder bestimmte Motive »israelisch« seien, nur weil sie einer Übersetzung biblischer Tropen ähneln oder in der Kunstmusik geläufig sind, 6 haben Musikwissenschaftler unkritisch zionistische Tropen der »Rückkehr« untermauert. Die Verleugnung musikalischer Idiome aus der jüdischen Geschichte, die das zionistische Selbstbild überschritten, offenbarte nicht nur ein konformistisches Verständnis von Identität – eines, das den »Wunsch, subsummiert zu werden, das starke Bedürfnis, vor allem durch gemeinsame Eigenschaften wahrgenommen zu werden« (Leon Wieseltier) bezeugt7 –, sondern stellte außerdem die moderne jüdische Kunstmusik und die Kunstmusik in Palästina und Israel als zwei unterschiedliche Phänomene dar. Studien über die israelische Kunstmusik kreisten folglich um eine Verschränkung von Zitat und 5  Jehoash Hirshberg, Music in the Jewish Community of Palestine, 1880–1948. A Social History, New York 1995, 245–257. 6 Herzl Shmueli, »Das israelische Volkslied. Untersuchung von Stil, Form und Texten« (Hebr.), Tel Aviv 1971; Ronit Seter, Yuvalim Be-Israel. Nationalism in Jewish-Israeli Art Music, 1940–2000, Dissertation an der Cornell University, 2004. 7  Leon Wieseltier, Against Identity, New York 1994, 4.

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Identität: Werke, deren eurozentrisches Musikvokabular das zionistische Unternehmen schmücken konnte, wurden kanonisiert, Kompositionen, die nationalistische Konstruktionen durchkreuzten, hingegen an den Rand gedrängt. Dieser Fokus der Musikwissenschaft ging auch zulasten eines Studiums der Vorgeschichte jener verpflanzten Musik sowie der Art und Weise, wie moderne europäische Komponisten, die mit jüdischen und nichtjüdischen Deutungen des Jüdischen in der Musik rangen, in den 1940er und 1950er Jahren die Erosion des Hebraismus vorantrieben.8 Das vorliegende Buch untersucht daher zunächst Momente des Polysystems (oder, folgt man Itamar Even-Zohar, der Fortsetzung des dynamischen Funktionalismus),9 in dem europäische Juden innerhalb des modernen ästhetischen Diskurses ihrer Umgebungsgesellschaften jüdische musikalische Kennzeichen zugleich artikulierten und desartikulierten. Danach zeigt es, wie Teile dieses Systems nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten in das britisch verwaltete Palästina verschoben wurden, wo emigrierte Komponisten zwar Kompromisse mit dem zionistischen Diskurs fanden, de facto aber eine Abkehr vom Vokabular des eurozentrischen Nationalismus beschleunigten und die theologischen Unterströmungen im Zionismus derart entfesselten, dass die bislang einen nationalen Einklang und Säkularismus vermittelnden Schablonen brüchig wurden. Um die Synchronitäten dieser Entwicklungen aufzuzeigen, besteht das Buch aus drei Kapiteln und einem Schluss, die von Europa nach Palästina und über die Zeit nach der Staatsgründung schließlich in die 1960er und 1970er Jahre führen – eine indirekte Relativierung politischer Wendepunkte wie 1948 oder 1967, die bereits existierende (und in der Geschichtsschreibung oftmals übergangene) Phänomene eher beschleunigten und verstärkten als durchbrachen. Die an diesen Entwicklungen beteiligten Protagonisten sind in Abbildung 0.1 in sich überschneidenden Kreisen aufgeführt. Da dieses Buch weniger auf Biografismus und den binären Mechanismus der »Repräsentation« zielt als auf dialektische Bewegungen, sind die Kapitel historisch und thematisch verschränkt. Das erste Kapitel untersucht die Vorgeschichte der israelischen Kunstmusik; es unterstreicht das Kontinuum der in Mittel- und Westeuropa geschriebenen modernen jüdischen Kunstmusik und führt den Leser in die ästhetischen Dilemmata ihrer Geschichte und Historiografie ein – von der Exotisierung der eigenen Musik durch die Komponisten bis zu deren Assimilation an einen Diskurs, der vom Wagnerschen Regime der Re8 Philip Bohlman verwischt diese ideologische Trennlinie etwas, allerdings stehen die Kunstmusik und ihre Dialektik auch nicht im Zentrum seiner Studien. Vgl. Philip V. Bohlman, Jewish Music and Modernity, New York 2008; ders., The World Center for Jewish Music in Palestine 1936–1940. Jewish Musical Life on the Eve of World War II, New York 1992; ders., The Land Where Two Streams Flow. Music in the German-Jewish Community of Israel, Urbana/Chicago 1989. 9  Itamar Even-Zohar, Polysystem Theory, Poetics Today, 11.1 (1990): 9–26.

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präsentation und den lärmenden Tropen des Jüdischen in der Musik verfolgt wurde. Ergänzt wird dies durch eine Auseinandersetzung mit der Historiografie der modernen jüdischen Kunstmusik und mit einer musikalischen Dialektik, die im Zuge des Paradigmenwechsels vom Essentialismus zum Antiessentialismus unbeachtet geblieben ist. Mein Versuch, die Zentralität der osteuropäischen Klanglandschaft durch Kontrollfälle infrage zu stellen, sei es »von innen« (Maurice Ravel, Erich Walter Sternberg) oder durch nichtaschkenasische Figuren (Mario Castelnuovo-Tedesco, Arnold Schönberg), dient dem doppelten Zweck, ein Kontinuum zu verdeutlichen (das musikgeschichtliche Darstellungen in unterschiedlichem Maß berücksichtigt haben) und die im Palästina der Mandatszeit entstehende Landschaft zu vermessen. Neben anderen Vorzügen bietet uns diese Umgebung diverse Kontrollfälle, die von entscheidender Bedeutung sind, um die Zentralität der osteuropäischen Klanglandschaft zu hinterfragen und jüdische Kontiguitäten darzustellen. Mehrere der hier eingeführten Protagonisten tauchen nach ihrer Emigration ins britische Palästina dann auch im folgenden Kapitel auf. Wie andere europäische Minderheiten wetteiferten auch jüdische Komponisten um einen sekundären Rang auf dem Totempfahl der deutschen Kultur, in-

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dem sie die eigene Kultur exotisierten und so ihre »Andersartigkeit« gegenüber der nichtjüdischen Mehrheit marktfähig machten. Dieser Prozess des »Autoexotismus« (James Parakilas)10 unterschied sich allerdings deutlich von dem eines Edvard Grieg oder Manuel de Falla, denn die meisten jüdischen Komponisten, die sich durch ihre Musik als Juden identifizierten (wie etwa Ernest Bloch und Castelnuovo-Tedesco), beherrschten das Hebräische nicht – ihre Muttersprache war die der jeweiligen Umgebungsgesellschaft – und hatten allenfalls sporadischen Kontakt zu realen jüdischen Gemeinschaften. Als Außenstehende gegenüber den eigenen Traditionen waren sie eher damit vertraut und davon geprägt, wie ihre Kultur von anderen gesehen wurde, als umgekehrt. Als sie im 19. und frühen 20. Jahrhundert orientalistische Klischees über Juden und ihre Musik erkannten, verinnerlichten sie in ihren eigenen tonalen oder posttonalen Konstellationen die in diese Idiome eingeschriebenen Hierarchien; sie verinnerlichten besonders Zitate oder Anspielungen auf jüdische, zumeist osteuropäische Volksmusik, selbst wenn sie direkte Anspielungen aufgrund gesellschaftlicher Einschränkungen nicht reproduzieren konnten. Nichtjuden fiel ein Bezug auf die osteuropäische Klanglandschaft offenkundig leichter, da sie nicht durch assimilatorischen und psychologischen Druck oder die klangliche Phänomenologie dieses Materials gehemmt waren. Vielfach unterstrichen sie dabei Eigenschaften, die es als andersartig erscheinen ließen, wobei sie weithin einem gewaltsam ausgrenzenden nationalistischen Prisma folgten (Hommagen an die jüdische Kultur waren entsprechend selten). Doch in der von Außenstehenden wie Zugehörigen (etwa Martin Buber und Abraham Zvi Idelsohn) als authentisch wahrgenommenen osteuropäischen Klanglandschaft – aschkenasische Liturgie, jiddische Volkslieder und Klezmer –, schwangen historisch Tropen der Andersartigkeit mit, die sich auf ihre Tonalität bezogen; sie traf auf Vorwürfe des »Lärms«, die (wie Ruth HaCohen kürzlich erörtert hat)11 als Euphemismen für die Anomalien der Juden dienten, und wurde zudem von manchen Individuen, die zwischen antijüdischen Chiffren und einem entfremdeten jüdischen Selbst zerrissen waren, mit Selbsthass gefärbt. Erst in der nachwagnerschen Ära, als neue Formen von Subjektivität die Verschränkung von Chiffren und Ideologie aufbrachen, konnten Juden (ähnlich wie andere Minderheiten) einige dieser Annahmen umwerfen und die Matrix und Politik nationaler Identitäten durcheinander bringen. Der moderne jüdische Komponist, der das Jüdische in der Musik aufzugreifen versuchte, erkannte Authentizität in einem nichtassimilierten Osten, dem er selbst nicht angehörte, auf dessen Klänge er sich aber durch Sekundärquellen oder verblichene Erinnerungen an jüdische häusliche Rituale beziehen konnte. Allerdings tat er dies, 10  James Parakilas, How Spain Got a Soul, in: Jonathan Bellman (Hg.), The Exotic in Western Music, Boston 1998, 137–193. 11  Ruth HaCohen, The Music Libel Against the Jews, New Haven 2011.

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ohne die von der Musik beflügelte Sprache zu verstehen, und musste er östliche Importe mit zeitgenössischen Musikdiskursen in Einklang bringen, um für die nichtjüdische Mehrheit akzeptabel zu bleiben. Und als jüdische Komponisten solche Orte der Authentizität erkundeten, in denen die nichtjüdische Mehrheit das demaskierte asiatische Gesicht der Juden erkannte, stießen sie auf den Kern der nationalen Selbstdefinition dieser Mehrheit: Sie beruhte auf der Negation ihres Anderen. Doch trotz des Paradigmenwechsels von essentialistischen zu antiessentialistischen Ansätzen, die frühere Wagnersche Umkehrungen (seien sie positiv oder negativ) diskreditiert haben, ist der Diskurs aus drei Gründen symmetrisch an die osteuropäische Klanglandschaft gekoppelt geblieben: Die Dialektik solcher musikalischen Markierungen, die die Wagnersche Verschränkung von Zitat und Identität nämlich durch Rekontextualisierung und Abstraktion zugleich unterliefen, blieb unberücksichtigt; es wurden keine Kontrollfälle aus nichtaschkenasischen Klanglandschaften herangezogen, die ein Gegengewicht zu den osteuropäische Musikmerkmale verinnerlichenden jüdischen Komponisten hätten bilden können; und vor allem wurde das Jüdische dieser Komponisten (ihre Vertrautheit mit dem Judentum im Allgemeinen und mit jüdischer Musik und ihrer Sprache im Besonderen) nie näher bestimmt, um besser zu verstehen, warum sie sich für den Import bestimmten Materials entschieden und wie sie mit ihm arbeiteten. Häufig durchziehen die erwähnten Prozesse die Werke eines einzigen Komponisten. Im ersten Kapitel des vorliegenden Buchs sollen diese Fragen durch einige Kontrollfälle untersucht werden: anhand der italienisch-sephardischen Liturgie, die Castelnuovo-Tedescos sogenannte jüdische Werke in Italien prägte, und der Kunstmusik im britisch verwalteten Palästina (die auf dem Weg war, zur israelischen Kunstmusik zu werden). Diese Fallstudien stellen den ausschließlichen Fokus der Historiografie auf die osteuropäische Klanglandschaft weiter infrage. Das zweite Kapitel erforscht die Entstehung und Erosion dessen, was ich die hebraistische musikalische Onomatopoesie nenne: das Zitieren jüdischer Volksund Synagogenmusik, gefiltert durch ein postromantisches Musikvokabular, das nationalen Einklang und Kollektivismus ausdrückte und mit Figuren der Erlösung verschmolz. Anhand der Dialektik von Kompositionen von den späten 1930er bis in die frühen 1960er Jahre werden die Vorläufer, Kontiguitäten und Verschiebungen analysiert, die eine Abschwächung der zionistischen musikalischen Onomatopoesie auslösten und beschleunigten, ebenso wie die Dekonstruktion der für die Rezeption arabisch-jüdischer Musik bestimmenden Paradigmen. Im Zuge einer dichten kulturgeschichtlichen Entwicklung, in der antiromantische Gegenerzählungen hervortraten, wurden romantische nationale Bilder allerdings nicht nur durch den Import von Schönbergs serieller Musik, der im Gefolge der Emigration moderner Komponisten in den 1930er Jahren stattfand, oder durch die spätere Verbreitung serieller Kompositionstechniken der Nachkriegszeit infrage gestellt. Auch gesellschaftliche Veränderungen

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wirkten sich auf die israelische Kunstmusik aus: Der Massenzustrom von 700.000 Einwanderern vom 14. Mai 1948 bis zum 31. Dezember 195112 – eine Zahl, die die bisherige Bevölkerungsgröße des Jischuw übertraf – beschädigte das vertraute Milieu des Jischuw als ein »Sozialismus«, der »das neue Ziel des nationalen Aufbaus mit seinem Leben« bezahlte.13 Vom Siegestaumel in ein zentralistisches Regime der Austerität übergegangen, das weniger von motivierten Individuen als von Politikern und Bürokraten vorangetrieben wurde (die weiterhin der kollektivistischen Ideologie eines sozialistischen Zionismus folgten), erlebte der junge Staat Israel ein Nachlassen des freiwilligen Kollektivismus.14 Einen Kontrapunkt dazu bildete die historiografische Kanonisierung national erwünschter Euphonien, die moderne, für die romantischen Konstruktionen des Zionismus bedrohliche Ansätze an den Rand drängte. In den frühen 1960er Jahren waren Stilrichtungen, die das zionistische Projekt ergänzten und den Jischuw als eine europäische Enklave an der südlichen Mittelmeerküste imaginierten, anachronistisch geworden. Komponisten erkannten nun die Probleme einer Verschränkung von Zitat und Identität in einem nationalen Kontext, untergruben gezielt die Bedeutungen, die musikalische Kennzeichen im romantizistischen Rahmen des Hebraismus angenommen hatten, und begannen die linearen Eigenschaften nichtwestlicher jüdischer Musiktraditionen zu nutzen. Das Faktum der Staatsgründung am 14. Mai 1948 ist somit als solches von zweitrangiger Bedeutung, wenn man erkennt, dass bestimmte historische und kulturelle Entwicklungen schon früher einsetzten und danach anhielten. Die in der modernen hebräischen Dichtung spürbare Ernüchterung über den romantischen Nationalismus griff auf die Musik über und verband sich mit der Verbreitung moderner Kompositionstechniken, deren Linearität nichtromantische Darstellungen des Ostens ermöglichte.15 Eine Hinwendung zum Komponieren in harmonischen Zellen und seriellen Strukturen verzerrte die hebraistische musikalische Onomatopoesie zusehends: Volkstänze wirkten »hinkend« und kleine heterofone Spaltungen traten an die Stelle von Dreiklängen; Linearität wurde nicht mehr als eine exotische Verzierung westlicher Musikformen gesehen, sondern als Schnittmenge zwischen nichtwestlichen jüdischen Musiktraditionen und einem von Romantik freien Bild des Ostens. Als Stefan Wolpe und Josef Tal in der vorstaatlichen Ära mit Linearität experimentierten, traf dies auf ideologische Ablehnung oder wurde 12  Dvora HaCohen, Immigrants in Turmoil. Mass Immigration to Israel and its Repercussions in the 1950s and After, übers. v. Gila Brand, New York 2003, 267. 13  Noah Lucas, Israeli Nationalism and Socialism before and after 1948, in: ders./S. Ilan Troen (Hg.), Israel. The First Decade of Independence, New York 1995, 309. 14  Oriz Rozin, The Rise of the Individual in 1950s Israel. A Challenge to Collectivism, Waltham 2011, xiv–xviii. 15  Assaf Shelleg, The Dilution of National Onomatopoeias in Post-Statehood Israeli Art Music. Precursors, Contiguities, Shifts, Journal of Musicological Research, 32.4 (2013): 314– 345.

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historiografisch falsch eingeordnet, doch in den späten 1940er und frühen 1950er Jahren beschleunigte sich die Verbreitung vergleichbarer Techniken und bot nunmehr Alternativen für eine Reihe neuer, im Land geborener und für einige emigrierte Komponisten, deren Dialektik zu einem postkolonialen Blick auf jüdische Einwanderer aus Nordafrika und dem Nahen Osten führte (die im Folgenden mit Jehuda Schenhaw als arabische Juden bezeichnet werden).16 Da der eurozentrische Exotismus nicht mehr wirksam war, schwächte diese Verschiebung auch eine soziale Hierarchie, an deren Spitze die osteuropäische Elite des Landes stand, die arabische Juden durch koloniale Paradigmen als vormodern und religiös betrachtete. Und da die Charakteristika nichtwestlicher jüdischer Musiktraditionen in das Arsenal von Komponisten einsickerten, verlor der Mechanismus, der religiöse Konzepte und ihren Erlösungsapparat säkularisierte, an Kraft. Während eine kritische Erforschung der jüdischen Vergangenheit der israelischen Kunstmusik ausblieb, Literatur und Dichtung eine antiromantische Nüchternheit im zionistischen Diskurs manifestierten und dessen theologische, auf Erlösung gerichtete Komponenten stärker sichtbar wurden, verbreitete sich die Methode des Interviews, mit der die Grenze zwischen Musikwissenschaft und Verlautbarungen verschwamm; Begriffsprägungen und Programmhefte von Komponisten wurden unkritisch übernommen.17 Dabei verfestigten sich ihre Selbstdarstellungen zu allgemeinen Einteilungen von Generationen, die sowohl einer stichhaltigen Begründung dafür, was eine Generation ausmacht, als auch einer Rechtfertigung für derartige Zergliederungen entbehrten; positivistische Klassifizierungen von Komponistengenerationen stellten eine fragwürdige Nähe zwischen Musikstilen und bestimmten Gruppen her, deren wichtigste Ge16  Ich verwende im vorliegenden Buch die von Jehuda Schenhaw geprägte Bezeichnung »arabische Juden«, auch wenn mir bewusst ist, dass sehr wenige aus arabischen Ländern nach Israel eingewanderte Juden (darunter meine Großeltern) sich als solche betrachteten. Dennoch bietet sie eine Alternative zu Bezeichnungen, die eine »Andersartigkeit« der aus Nordafrika oder dem Nahen Osten stammenden Juden suggerieren, beispielsweise Mizrachim (wörtlich »Ostler«) und Sephardim (Nachfahren der 1492 von der iberischen Halbinsel vertriebenen Juden), die synonym gebraucht worden sind und vermeintlich vormoderne, nicht­ europäische Juden als von Natur aus anders erscheinen lassen. Auch wenn arabische Juden im Zuge ihrer Identitätskonstruktionen in den frühen 1970er Jahren – während des Niedergangs des Hebraismus – solche Bezeichnungen übernommen haben, ist ihre koloniale Aufladung nicht zu übersehen. Vgl. Yehouda Shenhav, The Arab Jews. A Postcolonial Reading of Nationalism, Religion, and Ethnicity, Stanford 2006. Im Bereich der Musik verstößt die Rede von arabischen Juden (ohne Bindestrich-Identität), oder genauer von jemenitischen, marokkanischen etc. Juden, gegen das im hebraistischen Diskurs codierte Abgrenzungsbedürfnis, wie noch erörtert werden wird. 17  Die kritische Musikwissenschaft stellt einen ähnlichen Fall dar. Richard Taruskin argumentiert, mit Blick auf die ästhetische Moderne habe sie die Bekenntnisse von Komponisten »für bare Münze genommen und [ihre Behauptungen] sogar zu unhinterfragbaren historischen Fakten verdinglicht«. Vgl. Richard Taruskin, Revising Revision, in: Journal of the American Musicological Society, 46.1 (1993): 138.

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meinsamkeit im Geburtsdatum ihrer Mitglieder bestand.18 Ein Ergebnis dieser zeitlichen Unterteilungen bestand darin, dass Josef Tal als beziehungsloses Einzelphänomen in den Kanon einging und nicht als Wegbereiter moderner Ansätze, die wir in den 1950er und 1960er Jahren sehen. Solche historiografischen Etikettierungen verstärkten nur das territoriale Schema der Wissenschaftler, das durch erwünschte nationale Darstellungen die zionistische Allegorie und Rhetorik untermauerte. Symptomatisch für diesen Zusammenhang ist meines Erachtens die Überfülle von Adjektiven und Fehlbezeichnungen, die eine Auseinandersetzung mit musikalischer Dialektik ersetzten. Im Unterschied zu der funktionalen Unterscheidung zwischen »Periode« und »Generation«, die Dan Miron in seiner Untersuchung zur hebräischen literarischen Republik eingeführt hat, fand in der Historiografie der israelischen Kunstmusik einer Einteilung nach rein chronologischen Kriterien statt. Miron argumentiert, dass eine Periode eine klare poetische Substanz aufweist und von einer einheitlichen stilistischen Atmosphäre bestimmt wird. In einer Generation hingegen sind die poetischen Mittel zweitrangig; stattdessen werden externe semiotische Faktoren entscheidend, unabhängig davon, ob sie einen künstlerischen Ausdruck finden oder nicht. Was eine Generation zusammenhält, ist somit ihre gemeinsame »geistige Biografie«. Sie findet ihre wesentliche Identität nicht in einem gemeinsamen künstlerischen Entwurf, sondern in der kollektiven Erfahrung, die zum Gegenstand des schöpferischen Ausdrucks ihrer Mitglieder wird. Folglich ist die Bezeichnung »Periode« innerhalb eines gegebenen Genres adäquat, während die Bezeichnung »Generation« verschiedene Genres umfasst.19 Um für die symbiotischen Gebiete von Kulturgeschichte, politischer Geschichte und israelischer Kunstmusik eine gemeinsame Sprache zu finden, die kritisch gegenüber Fehlbezeichnungen und der Rhetorik von Komponisten ist, muss – ausgehend von der Musik und über sie hinaus – das umfassendere Bild vermessen werden. In der Literatur und Dichtung waren bestimmte sich berührende Paradigmen früher vorhanden als in der israelischen Kunstmusik. Sie werfen Licht auf vergleichbare (wenn auch verspätete) Beiträge zu einem Musikkorpus, dessen An18  Peter Gradenwitz, The Music of Israel. Its Rise and Growth through 5.000 Years, New York 1949; ders., Music and Musicians in Israel, Jerusalem: Youth and Hechalutz Department of the Zionist Organization, 1952; ders., Die Musikgeschichte Israels. Von den biblischen Anfängen bis zum modernen Staat, Kassel u. a. 1961; Robert Fleisher, Twenty Israeli Composers: Voices of a Culture, Detroit 1977; ders., Three Generations of Israeli Music, in: Shofar, 18.4 (2000): 102–126; Seter, Yuvalim Be-Israel; Jehoash Hirshberg, The Vision of the East and the Heritage of the West. Ideological Pressures in the Yishuv Period and their Offshoots in Israeli Art Music during the Recent Two Decades, Min-Ad, 4 (2005); ders., The Vision of the East and the Heritage of the West. A Comprehensive Model of Ideology and Practice in Israeli Art Music, Min-Ad, 7.2 (2008/09); beide Texte von Hirshberg sind verfügbar unter www.biu.ac.il/ hu/mu/min-ad/ (letzter Zugriff 10.3.2016). Vgl. auch Assaf Shelleg, Israeli Art Music. A Reintroduction, Israel Studies, 17.3 (2012): 119–149. 19  Dan Miron, »Wenn Einsame zusammenkommen. Ein Portrait der hebräischen Literatur an der Jahrhundertwende« (Hebr.), Tel Aviv 1978.

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wachsen die Dogmen einer linearen Chronologie sprengt. Geht man davon aus, dass die Fragen, die eine Musik und ihre Macher bewegen, nicht weniger theoretisch sind als eine Musiktheorie, die ausschließlich in Partituren schwelgt, 20 dann kann man der modernen hebräischen Literatur attestieren, dass sie die kulturelle Umgebung der israelischen Kunstmusik bereicherte und deren antiromantische und postkoloniale Lesarten arabisch-jüdischer Musik synkopierte. In Europa, schreibt Miron, signalisierte die hebräische Literatur eine Öffnung des traditionellen jüdischen Lebens und Denkens für die Moderne; als vollentwickelte moderne Literatur habe sie durch ästhetische Bildung »die abgestumpfte nationale Psyche revitalisiert und sensibilisiert«. Dazu trug auch die Wahl des Hebräischen als der einzigen Sprache bei, »in der kulturelle und ästhetische Bemühungen verhandelt und gefördert werden konnten, ohne ›jüdische‹ Legitimität einzubüßen oder die Bande zwischen der nationalen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu durchtrennen«. Diese Sprachwahl bedeutete auch, dass Kulturaktivisten und Autoren bewusst die »prophetische« Bürde auf sich nahmen, als »die Wächter des Hauses Israel« aufzutreten; sie sprachen für die gesamte jüdische Gemeinschaft und zu ihr.21 Die allmähliche Erosion dieser vierdimensionalen Struktur während des Interregnums der Staatlichkeit ermöglicht es, parallel dazu (trotz unterschiedlicher Zeitpunkte) Paradigmenwechsel in der israelischen Kunstmusik und dialektische Bewegungen zu verfolgen, angestoßen von Texten, die Komponisten rezipierten oder vertonten (und die einen Teil dessen bilden, was Miron als »gemeinsame geistige Biografie« bezeichnet.) 22 Dadurch können wir auch Ansätze erkennen, die sich Dialektik entzogen und mit neuen, spätere kulturelle Paradigmen antizipierenden poetischen und literarischen Texten nicht kommunizieren konnten oder wollten; auch diese Stimmen bilden einen Teil der israelischen kulturellen Umgebung. Jedoch ging die Wahrnehmung und Vermittlung dieser Realitäten nie im Gleichschritt vonstatten; gerade in den Verzögerungen, Synkopierungen, der Ausbreitung und Destabilisierung von Ansätzen (weit jenseits einer linearen ödipalen Erklärung) 23 finden wir ein ausgedehntes, vielschichtiges und textural 20  Susan McClary, In Praise of Contingency. The Powers and Limits of Theory, Music Theory Online, 16.1 (2010): www.mtosmt.org/issues/mto.10.16.1/mto.10.16.1.mcclary.html (letzter Zugriff 10.3.2016). 21  Dan Miron, The Prophetic Mode in Modern Hebrew Poetry, New Milford 2010, 428 f. 22  Miron, »Wenn Einsame zusammenkommen«, 137. 23  Wie Miron kürzlich bemerkt hat, lässt sich »das Verständnis jüdischer Literaturen in ihrer gegenseitigen Anziehung, Abstoßung und schieren Gleichgültigkeit nicht auf ein Model gründen, das den ›Vatermord‹ als das einzige oder hauptsächliche Paradigma der Veränderung unterstellt«. Vgl. Dan Miron, From Continuity to Contiguity. Toward a New Jewish Literary Thinking, Stanford 2010, 412 f.; vgl. auch Avidov Lipsker, »Der Diskurs der literarischen Republik und der ökologische literarische Diskurs« (Hebr.), Mikan, 3 (2002): 5–32; Lipsker, »Ist es sauber? Ökologie, Ökoethik, Ökomythologie und der ökoliterarische Diskurs«, in: Avner Holzmann (Hg.), »Perspektiven auf die moderne hebräische Literatur« (Hebr.), Tel Aviv 2005, 412–422.

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heterofones Durcheinander musikalischer Phänomene, die sich dialektisch bewegen, konvergieren und zugleich ihre Nähe wie ihren Gegensatz zu hegemonialen Gebäuden wahren, deren theologischen Unterströmungen sie eine neue Gestalt geben. In musikalischen Idiomen finden selbstverständlich auch immer ihre eigenen Geschichten und Formen von Subjektivität einen Widerhall. In der Entstehung der modernen europäisch-jüdischen Kunstmusik zum Beispiel sehen wir mehrere Fälle von dialektischen Prozessen, die von einem Umgang mit Zeichen zu einem Denken in Symbolen führten, oder anders gesagt: vom abgekürzten Ausdruck einer bekannten Sache (beispielsweise Leitmotiven) zum Ausdruck eines unbekannten Faktums (Symbole), was es jüdischen Komponisten erlaubte, die magnetische Kraft des Wagnerschen Regimes der Repräsentation zu schwächen und Subjektivität statt Identität auszudrücken, wie Michael Steinberg gezeigt hat.24 Das gilt etwa für Blochs allmähliche Abstraktifizierung jüdischer Musikmerkmale, die er aussiebte, indem er vom Wagnerschen Repräsentationsmodus zu einem Recycling von Stereotypen überging, das Signifikationen schließlich auflöste. Bei Schönberg wiederum führte das Bewusstsein für das Problem der Repräsentation dazu, dass er sich im Kontext einer modernen Lesart des Zweiten Gebots einer Metapoetik der Repräsentation widmete, deren musikalische Syntax Bilder von Andersartigkeit de facto nicht zulässt. Einige Ansätze aus dem Kontinuum, das von Blochs Postromantik bis zu Schönbergs nichtrepräsentationaler Ästhetik reichte, wanderten in das Palästina der Mandatszeit ein (spätere Importe verbreiteten sich durch Komponisten, die im Ausland studierten oder erst in den 1960er und 1970er Jahren nach Israel einwanderten). In der dort entstehenden künstlichen Umgebung lösten zwei Arten von Nähe kulturelle Kettenreaktionen aus: die vormals unbekannte räumliche Konzentration kompositorischer Schulen und die Nähe zu anderen Ethnien im Land, dessen jüdische Bevölkerung ohne europäischen Hintergrund durch die Einwanderung arabischer Juden in den frühen 1950er Jahren dramatisch gewachsen war. Weniger als zwei Jahrzehnte nach ihrer Institutionalisierung stellte die Kunstmusik in Israel daher einen idiomatischen Fluss dar, der von eurozentrischen, autoexotistischen Einstellungen (die die Verschränkung von Zitat und Identität nicht überwinden konnten) bis zu kompositorischen Ansätzen reichte, die sich Signifikationen verweigerten, während sie mit jüdischen wie hebraistischen Topoi kommunizierten und auf diese Weise nationale und kulturelle Konstruktionen interpretierten und kommentierten. Vorsätzliche oder unbeabsichtigte Abweichungen von dem, was der »zionistischen Obrigkeit« als erstrebenswert galt, warfen so ein Licht auf ein vorläufiges, selektiv errichtetes Zentrum, das exotistische, in tonale Gerüste gefasste Euphonien bevorzugte; zugleich entfal24  Michael Steinberg, Listening to Reason. Culture, Subjectivity, and Nineteenth-Century Music, Princeton 2004, 193–195.

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teten sie eine Bandbreite an Möglichkeiten, die bereits in der Ära des Jischuw gegen eurozentrische Modelle verstoßen hatten und sie mit der Übernahme linearer Kompositionstechniken in den ersten Jahren nach der Staatsgründung schließlich verdrängten. Während der Hebraismus schwächer wurde und der Anti-Romantizismus vordrang, bezeugte die allmähliche Hinwendung von Komponisten zu musikalischen und außermusikalischen jüdischen Topoi – vor allem durch Transkriptionen aus Idelsohns Hebräisch-Orientalischer Melodienschatz (im Folgenden HOM) – , dass der jüdisch-diasporische Tropen aussiebende Mechanismus geschwächt, die nationale Allegorie aber gestützt wurde. Und als Komponisten in der Linearität einen gemeinsamen Nenner nichtwestlicher jüdischer Musiktraditionen und zeitgenössischer westlicher Kunstmusik erkannten, entfesselten sie einige der religiösen Elemente, die unter der säkularen Oberfläche des Zionismus gebrodelt hatten, näherten dabei das Sakrale dem Säkularen an und gingen über die Grenzen eines ausschließenden Nationalismus hinaus. Dafür gab es in den Werken von Alexander Boskovich, Mordecai Seter, Tzvi Avni und Mark Kopytman bereits zahlreiche Modelle; jeder von ihnen betonte andere, musikalische wie außermusikalische jüdische Topoi durch eine Adaption syntaktischer und texturaler Elemente der linearen Züge oraler jüdischer Musiktraditionen. So gesehen bewirkte der Sechstagekrieg von 1967, wie im dritten Kapitel erörtert, nur eine Beschleunigung und Verstärkung solcher Prozesse. Durch eine dramatische Expansion über die Waffenstillstandslinien von 1949 hinaus brachte er Israelis an biblische Orte in der Westbank und Jerusalem, die das zionistische Projekt durchweg beseelt hatten. Der Zugang zu Provinzen der biblischen Zeit war nunmehr eine Realität, hervorgebracht durch latente expansionistische Impulse in der Sprache und den Mythen, die Zionisten zu bändigen versucht hatten, um der hebräischen Vergangenheit einen modernen Charakter zu verleihen. In der Dekonstruktion des Hebraismus spiegelte sich lediglich der allmähliche Niedergang der regierenden Arbeitspartei wider, deren politischer Hegemonieverlust mit einem ideologischen Patt einherging. Angesichts der veränderten Realität stand der Zionismus an einem Scheideweg: Er konnte die 1967 eroberten Gebiete halten und die Mythen verwirklichen, die dem nationalen Projekt Leben einhauchten, oder die mit der Herrschaft über mehr als eine Million Palästinenser in der Westbank, dem Gazastreifen und Ost-Jerusalem verbundenen moralischen Gefahren meiden. Das weltanschauliche Vakuum, das durch die Schwächung der Arbeitspartei entstand, förderte die Entstehung zahlreicher Subkulturen (unter anderem von arabischen Juden, israelischen Palästinensern und feministischen Bewegungen), doch die erste, die eine ideologische Alternative anbot und damit eine theologische Revolution auslöste, war die Bewegung des religiösen Zionismus, deren Kompromiss mit der Arbeitspartei mit dem raschen Sieg von 1967 ein Ende fand. Da sie in den Eroberungen den Beginn der Erlösung sahen, befürworteten die religiösen Zionisten die Auf-

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rechterhaltung der Grenzen Großisraels, während ihr außerparlamentarischer Arm das Projekt der Siedlungen initiierte und so die Rolle neuer Pioniere einnahm. Mit dieser im Namen Gottes betriebenen territorialen Expansion wuchsen theologische und religiöse Konzepte über den säkularen Raum hinaus, der ihnen im nationalen Diskurs zugedacht war. Unterdessen führte ein veränderter Blick auf die Bedeutung der Diaspora und ihrer Kultur (die ex negativo ein konstitutives Element des zionistischen Selbstverständnisses bildete) zu einer wachsenden Sichtbarkeit des Judentums und zur Implosion der für das hebraistische Modell kennzeichnenden Abgrenzungen. Die israelische Kunstmusik der 1960er und 1970er Jahre überschritt die theologisch-politischen Übersetzungen des religiösen Zionismus jedoch mehr und mehr. Nachdem die linearen Züge nichtwestlicher jüdischer Musiktraditionen in den 1950er und 1960er Jahren zionistisch-eurozentrische Formulierungen unterminiert hatten, begannen sich Komponisten erneut kritisch mit biblischen und nachbiblischen Ereignissen auseinanderzusetzen, aus denen die zionistische Allegorie gestrickt worden war. In eine moderne musikalische Syntax gefasst, besaßen chassidische Geschichten nicht länger jene Andersartigkeit, wie sie die postromantischen und autoexotistischen Konstruktionen im Geiste des Jischuw kennzeichnete, während die Charakteristika sowohl der osteuropäischen Klanglandschaft als auch nahöstlicher jüdischer Musik neue Formen von Gedächtnis hervorbrachten. Paradoxerweise kam es im Gefolge des Sechstagekriegs zu einer dialektischen Rückkehr zur jüdischen Kultur außerhalb des Landes, was auf die unterirdische Präsenz sprachlicher und theologischer Schichten verweist, die sich nun sowohl kulturell wie politisch manifestierten. Der Zusammenbruch rhetorischer Dichotomien ermöglichte eine dialektische Rückkehr zu verdrängten Welten, die das Jüdische über einen Zeitraum von achtzehn Jahrhunderten durch seine historische Symbiose mit der jeweiligen Mehrheitsgesellschaft definiert hatten, von der zionistischen Rhetorik jedoch unverblümt auf eine Schattenexistenz reduziert worden waren. Geisterhafte Stimmen aus der Vergangenheit traten in den Mittelpunkt und die Kunstmusik kehrte durch Formen des Schreibens, die für die moderne jüdische Kunst Mittel- und Westeuropas charakteristisch waren, an ihren Ausgangspunkt zurück (Kapitel 1). Während religiöse Zionisten mit einer politisierten Theologie für territoriale Expansion eintraten, überwanden Komponisten diesen Ansatz, indem sie die jüdische Kultur wieder in ihrer europäischen Vorgeschichte verankerten. Durch eine Hinwendung zum religiösen, seiner nationalen Zweckdienlichkeit entkleideten Kern des Hebraismus umgingen sie somit zeitgenössische politisierte Theologien, die einen Messianismus im Präsens predigten. In einer Zeit, als die religiösen Zionisten einen territorialen Maximalismus vertraten, kündigten israelische Komponisten mit ihrer Hinwendung zu den Idiomen und Charakteristika jüdischer Musik paradoxerweise eine Deterritorialisierung des Judentums an.

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Die zahlreichen miteinander verflochtenen Narrative in diesem Buch sollen Synchronitäten und Kontiguitäten in einem Text darstellen, der sich – grafisch gesehen – linear entfaltet. Viele Unterabschnitte führen daher zeitlich zurück zu vorherigen Passagen, um die Berührungspunkte und Verzweigungen ähnlicher Topoi in unterschiedlichen dialektischen Rhythmen und Zeitformen aufzuzeigen. Die grafische Ausrichtung des Textes könnte insofern trügerisch sein, zumal das Buch nicht beansprucht, die Biografien seiner Protagonisten erschöpfend darzustellen; vielmehr werden biografische Informationen dem Leser nur soweit präsentiert, wie es dem Verständnis der größeren kulturellen Entwicklungen dient. Viele Leser werden beispielsweise bemerken, dass Paul Ben-Haim – einer der international bekanntesten israelischen Komponisten – im dritten Kapitel keine bedeutende Rolle spielt, obwohl er bis 1984 lebte. Der Grund dafür liegt in seiner musikalischen Dialektik: Ben-Haim konnte sich nie von der exotischen Verzierung eurozentrischer tonaler Grundformen lösen, auch dann nicht, als seine Kollegen und Schüler solche Techniken außer Kraft gesetzt hatten. Die zeitliche Nähe seiner Werke aus den 1960er Jahren zu den Kompositionen von Tal, Avni, Boskovich oder Seter ist in vieler Hinsicht eine optische Täuschung, verdeckt sie doch dialektische Einstellungen, zu deren mangelnder Sichtbarkeit auch eine unausgewogene Historiografie beigetragen hat, die im Sinne der »Repräsentation« die Verknüpfung von Zitaten mit starren nationalen Identitäten bekräftigte. Wie der Fall Tal zeigt, bedeutete dialektisches Gespür nicht zwangsläufig eine oppositionelle Haltung. 1934 durch die Machtübernahme der Nationalsozialisten ins palästinensische Mandatsgebiet vertrieben, begegnete Tal dem Mechanismus eines ausgrenzenden Nationalismus und seiner propagandistischen Erfindungen mit Skepsis, ohne aber jemals die Suche nach dessen Urquellen aufzugeben. Als ihm die Kluft zwischen jüdischen Geschichten und der nationalen Allegorie bewusst wurde, entwickelte er deshalb einen einzigartigen Standpunkt, der zugleich Nähe und Gegensatz zum hebraistischen Diskurs zuließ. Bereits in den frühen 1950er Jahren argumentierte Tal, dass nur einer Minderheit derer, die aktiv auf dem Feld der nationalen Schöpfung arbeiten […], jenes Maß an Inspiration beschieden ist, das die große Idee des Volkstums vom Reich des Empfindens in das Reich des Ausdrucks heben kann. Dieser Mangel an Inspiration hat enormen Schaden angerichtet, denn so werden konventionelle Formen als nationale Musik etabliert und alles, was von diesen Formen abweicht, wird mit sämtlichen Waffen chauvinistischer Polemik bekämpft. 25

Als Absolvent der Staatlichen Akademischen Hochschule für Musik in Berlin hatte er in das palästinensische Mandatsgebiet sein Verständnis der seriellen Musik Schönbergs eingeführt, das den Maßstab bildete, an dem er den Hebrais25  Joseph Tal, Problems of Music in Israel, Jewish Music Notes (Oktober 1952): 3; ders., »Über das Problem israelischer Musik« (Hebr.), in: Megilot, 7 (1951): 265–268.

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mus maß (und zugleich einen Verlust symbolisierte). Da er bewusst Nähe zum hebräischen Diskurs wahrte, war Tal bereits während der ersten Jahre im Jischuw in der Lage, aus dem Inneren hebraistischer Tropen heraus musikalische Kommentare zu schreiben. Es existierten jedoch noch andere Formulierungen, deren Hybridität nichtwestlichen linearen Importen den Vorzug gab, zugleich aber die zionistische Teleologie und ihre Erlösungsversprechen unaufhörlich weiterführte. Seters frühe Werke scheinen sich zwar in die sozialistische Atmosphäre des Jischuw einzufügen, die Weiterentwicklung linearer Techniken erweist sich hier aber als ein integraler Bestandteil seiner Erlösungsmotive, deren Implosion in den 1960er Jahren ihn im folgenden Jahrzehnt zu einem Fisch auf dem Trockenen machte. Nachdem er sich über die kairologische (nichtlineare) Zeit der seine Kompositionen inspirierenden jüdisch-mystischen Quellen hinweggesetzt hatte, dämpfte Seter seine Narrative der Erlösung zugunsten intervallischer Monologe und wortloser synthetischer Modi. Die vielen von Europa nach Palästina und Israel führenden Fäden zeigen eine kulturelle Kartografie auf, deren Synchronitäten nicht nur die unterschiedlichen dialektischen Modi und Tempi der Werke von Komponisten entfalten sollen, sondern auch komplexe Verwandtschaften sowie die Klüfte und Dissonanzen zwischen einer national ernüchterten musikalischen Dialektik und Vorstellungen, die der zionistischen Linearität von Erlösung verhaftet blieben. Anders formuliert: Es gibt eine notwendige und dringend erforderliche Nichtübereinstimmung zwischen einer linearen, teleologischen nationalen Allegorie und der Linearität von Kompositionstechniken, die durch unterschiedliche dialogische Spannungen diverse Aspekte dieser Allegorie außer Kraft gesetzt haben. Solche Widersprüche machen die Tonalitäten jüdischer Musik noch komplizierter, auch wenn sie einen Fluss erhellen, in dem hebraistische Konstruktionen lediglich eine Phase – aber nie einen Mittelpunkt – im größeren Bild der jüdischen Kultur bilden. Was ich als ein dichtes, rhizomatisches Netzwerk verstehe, dessen interdisziplinäre Fäden Vervielfältigungen, die nicht als Differenz zu fassen sind, und Kontiguitäten (inmitten von Kontingenzen) zulassen, offenbart somit das Magnetfeld theologischer Konzepte jenseits der bloß strukturellen Analogien, die man in Carl Schmitts politischer Theologie findet, wie Talal Asad bemerkt hat.26 Der pulsierende, schillernde Charakter dieses heterofonen Netzwerks stellt zudem den Begriff der »kleinen Literatur«27 von Gilles Deleuze und Félix Guattari infrage – deren philosophisches Gebäude eine Inspirationsquelle für dieses Buch gewesen ist –, denn wie Chana Kronfeld bemerkt, beschränken selbst sie das kleine und deterritorialisierte Schreiben ausdrücklich auf ein oppositionelles Schreiben in einer großen Sprache und schließen damit jedes alter26 Vgl. Talal Asad, Formations of the Secular. Christianity, Islam, Modernity, Stanford 2003, 189; Carl Schmitt, Politische Theologie [1934], Berlin 2015. 27  Gilles Deleuze/Félix Guattari, Kafka, für eine kleine Literatur, übers. v. Burkhart Kroeber, Frankfurt a. M. 1996.

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native Modell solcher Schreibpraxen in kleinen Sprachen von vornherein aus.28 Auch grenzt ihr Versuch, den Begriff des »Kleinen« von dem der ästhetischen Moderne zu trennen – zwei Strömungen, die durch dieselben negativen Charakteristika (oder dieselben Negationen von »großen«) definiert sind –, an eine Enthistorisierung, die ohne jedes Kriterium für eine Kontextualisierung den zeitlichen Charakter und die kulturelle Besonderheit beider verwischt.29 Bei meinen Bemühungen, die »innere Geste von Widerstand und Störung« und die äußeren, gehemmten und »ambivalenten Beziehungen zu den Strömungen der europäischen ästhetischen Moderne« (Kronfeld)30 gleichermaßen zu berücksichtigen, war ich mir des Apparats dieser Moderne und seiner Dichotomien bewusst, die – wie von Bruno Latour untersucht – darauf ausgerichtet sind, die Produktion kultureller Hybride von ihrer rhetorischen Reinigung zu trennen.31 Die Unterscheidung zwischen der Produktion von Hybriden und einem Rhetorik produzierenden binären Konstrukt war nicht nur hilfreich, um die Formen eines negativen Nationalismus und der Nationalisierung theologischer Konzepte im zionistischen Denken zu bestimmen, sondern warf auch Licht auf die idiomatische und formale Offenheit von Komponisten in Israel mit seinen klanglichen Nachbarschaften. Mein kartografisches Projekt ist daher kein nationales, sondern ein regionales, das – im Anschluss an Kronfeld – auf drei Kontexten beruht: dem internen hebraistischen System, lokalen modernen Strömungen, die durch die ethnischen Nachbarschaften der Region entstanden, und Anbindungen an internationale Schulen der ästhetischen Moderne.32 Die vielen Tendenzen, die von den hier erörterten Phänomenen ausgingen, die Berührungen, die ihren kulturellen Raum beeinflussten, und die Kontiguitäten, die sie in Europa oder durch ihre Verpflanzung nach Palästina und in den Staat Israel darstellten, verlangen selbst vom elastischsten, anpassungsfähigsten Rahmen, der nichtlineare räumlicher Netzwerke beschreibt, ständige Neujustierungen. In dieser Hinsicht sind die musikalischen Primärquellen – die Kompositionen selbst – stärker als Theorien, die von Natur aus dazu neigen, systemischen Wandel durch einen Blick zurück zu bestimmen. Bei der Arbeit an diesem Buch bestanden noch weitere Schwierigkeiten. So zeichnet sich das interdisziplinäre Terrain durch ein starkes Gefälle aus, da Israelstudien als eigenständiges akademisches Feld ein rapides Wachstum verzeichnet haben, hinter dessen Mustern und Methodologien die wissenschaftliche Literatur über israelische Kunstmusik zurückgeblieben ist – mit Blick auf die 28  Chana Kronfeld, On the Margins of Modernism. Decentering Literary Dynamics, Berkeley 1996, 5 f. 29 Kronfeld, On the Margins of Modernism, 8. 30 Kronfeld, On the Margins of Modernism, 13. 31  Bruno Latour, Wir sind nie modern gewesen, übers. v. Gustav Roßler, Frankfurt a. M. 2008; ders., On the Modern Cult of the Factish Gods, Durham 2010. 32  Vgl. Kronfeld, On the Margins of Modernism, 65.

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revisionistischen Arbeiten der »Neuen Historiker«33 wie auch auf den gegenwärtigen Paradigmenwechsel zur Kulturgeschichte.34 Deshalb musste ich die Zahl der Protagonisten in meiner Erzählung ebenso beschränken wie die der Kompositionen in den einzelnen Geschichten und dabei die Heterofonie dialektischer Prozesse aufzeigen – oder ihren Mangel daran, wo das Trauma der Emigration ein Aufbrechen des Hebraismus von innen verhinderte. Wichtige Figuren wie Joachim Stutschewsky, Menachem Avidom, Verdina Shlonsky, Ben-Zion Orgad, Ödön Pártos, Andre Hajdu und Abel Ehrlich und andere wurden daher in dieser Darstellung ausgespart. Das Netzwerk und die Methodik, die hier vorgestellt werden, wären jedoch elastisch genug, um auch ihre Kompositionen einzuschließen, die die im Folgenden dargestellten Prozesse ergänzen und vervollständigen würden.

33  Anita Shapira/Derek Jonathan Penslar (Hg.), Israeli Historical Revisionism. From Left to Right, Portland 2003; Benny Morris (Hg.), Making Israel, Ann Arbor 2007. 34  Assaf Likhovski, Post-Post-Zionist Historiography, Israel Studies, 15.2 (2010): 1–23.

Kapitel 1:  Hava Nagila?

Kapitel 1

Hava Nagila? Die fragwürdige Zentralität der osteuropäischen Klanglandschaft Das Menschenpack nährt sich von Vorurteilen, von der Wiege bis zum Grabe. Also, da man die Vorurteile nicht abschaffen kann, muß man sie für sich erobern … Theodor Herzl, Altneuland 1 Der Glanz der Identität rührt auch daher, dass sie empfangen wird. Andernfalls könnte man nicht das Gefühl genießen, ein Glied in der Kette der Übermittlung zu bilden. Diese Passivität ist jedoch eine Einbildung und Ausdruck von Trägheit. Traditionen sind nicht nur gegeben, sie sind auch gemacht. Historiker haben in den vergangenen Jahren sehr viel über »die Erfindung von Traditionen« geschrieben, mitunter ein wenig zu aufgeregt. Dass Menschen etwas in ihre Vergangenheit legen und dann behaupten, sie hätten es dort gefunden, ist nicht gerade eine Neuigkeit. Trotzdem haben die Historiker etwas getroffen. Identität beruht in hohem Maß auf einer empfänglichen Einstellung, aber nicht durch diese wachsen Traditionen. Eine Tradition, die mehr oder weniger so weitergegeben wird, wie sie empfangen wurde, wird nicht lange Bestand haben. Leon Wieseltier, Against Identity 2

Das Studium der modernen europäisch-jüdischen Kunstmusik führt uns in ein Dickicht aus Bindestrich-Identitäten, Prozessen von Autoexotismus und kompositorischen Entscheidungen, bei denen bestimmte Vorstellungen häufig Authentizität übertrumpfen. Bindestrich-Identitäten finden wir bei allen jüdischen Komponisten, die für sich die Kultur und Identität der Mehrheitsgesellschaft beanspruchten und zugleich ihre jüdische Identität bewahrten, »entweder als untergeordnete oder parallele Identität, die in ethnischen, religiösen oder kulturellen Begriffen oder als Kombination dieser Begriffe konzipiert wurde«.3 Da die meisten der Komponisten, die entschieden, ihre Wahrnehmung des Jüdischen in moderne Kunstmusik zu fassen, jedoch Außenstehende ohne wirklichen Kontakt zu einer jüdischen Gemeinde waren und allenfalls sporadisch in die Synagoge gingen oder nur bestimmte häusliche Rituale kannten, wurden ihre Eindrücke oft durch eine Musiksprache gefiltert, in der sich ihr geografisch-kultureller Hintergrund ausdrückte und die für die nichtjüdische Mehrheit entsprechend verständlich war. Das besagt allerdings noch nichts über ihre 1 

Theodor Herzl, Altneuland, Leipzig 1902, 45. Against Identity, 62. 3  Paul Mendes-Flohr, Jüdische Identität. Die zwei Seelen der deutschen Juden, übers. v. Dorthe Seifert, Paderborn 2004, 30. 2 Wieseltier,

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Musikstile. Die Stile und kompositorischen Einstellungen waren mindestens so vielfältig wie die Individuen, die sich in Kompositionen mit dem Abstand zwischen ihrer europäischen Gegenwart und ihrer so wahrgenommenen jüdischen Vergangenheit auseinandersetzten. Den meisten diente der Import von Rohmaterialien aus mündlich und schriftlich überlieferten jüdischen Musiktraditionen als exotisches Merkmal und zur Darstellung einer Andersartigkeit, formuliert durch die kompositorischen Ansätze, die in ihrer kulturellen Umgebung existierten. Mit der Wahl solcher Materialien traten sie in einen Prozess des Autoexotismus ein: Durch ihre beständige Auseinandersetzung mit einer Außenperspektive auf die jüdische Kultur wurden jüdische Komponisten – die selbst Außenstehende waren – eher mit dem orientalistischen Anstrich vertraut, den die Präsenz jüdischer Klänge in der westlichen Kunstmusik erhielt, als mit den aus der Synagoge oder lokalen Traditionen stammenden Klängen selbst. Bei der Untersuchung der jüdischen Kunstmusik stoßen wir somit auf ein Phänomen ähnlich dem, was Parakilas in Manuel De-Fallas Musik ausgemacht hat: auf den Autoexotismus »als politisches Los, psychologische Verfasstheit und künstlerisches Dilemma«.4 Auch der Gedanke an Grieg ist in diesem Kontext naheliegend. Zu dessen Autoexotismus, besonders in Røtnams-Knut, bemerkt Susan McClary: Hätte Grieg in einer Weise komponiert, die dem Mainstream obskur erschienen wäre, dann hätte er als unfähig gegolten und niemals den Beifall gefunden, der seiner Musik internationale Verbreitung ermöglichte. Stattdessen verfolgte er einen Mittelweg zwischen Ausdrucksformen, die zeigten, dass er wusste, wie ›Musik zu sein hat‹, und solchen, die energisch in Richtung einer norwegischen Identität drängten.5

Ähnlich meint Richard Taruskin: Dvoˇráks Stilisierungen des Böhmischen waren das Vehikel seines internationalen Erfolgs und letztlich ebenso die Gewähr für seinen zweitrangigen Status gegenüber Komponisten wie Brahms, die von Natur aus universell wirkten. Ohne das landestypische Kostüm konnte ein Komponist aus der »Peripherie« nicht einmal einen sekundären Rang im Kanon erreichen, mit ihm aber niemals mehr als diesen.6

Im Unterschied zu De-Falla, Grieg oder Dvoˇrák jedoch, die über eine nationale Sprache verfügten, beherrschten die meisten westeuropäischen jüdischen Komponisten nicht das Hebräische (oder irgendeine andere jüdische Sprache) und waren gewöhnlich mit Fremddarstellungen des Jüdischen in der Kunstmusik vertraut. Als Außenstehende gegenüber der eigenen Kultur stützten sie sich häufig auf importierte liturgische, paraliturgische oder volkstümliche jüdische 4 

Parakilas, How Spain Got a Soul, 189. Susan McClary, Playing the Identity Card. Of Grieg, Indians, and Women, NineteenthCentury Music, 31.3 (2008): 226. 6 Richard Taruskin, Nationalism, Grove Music Online, www.oxfordmusiconline.com/ subscriber/article/grove/music/50846. 5 

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Musik, die ihnen im Wettbewerb peripherer Komponisten um einen (bestenfalls) zweitrangigen Platz auf dem Totempfahl der deutschen Kultur als exotische Maske diente (wie weiter unten erörtert, versuchten Komponisten wie Schönberg, die diesen Mechanismus erkannten, solche binäre Repräsentationen zu umgehen). Die Vorstellungen von Komponisten zeigen, welche kulturellen und musikalischen Bilder in ihrem Milieu vorherrschten; sie schufen nicht nur Musik »von Juden und für Juden«, um Curt Sachs’ aphoristische Definition auf dem Ersten Internationalen Kongress der Jüdischen Musik (Paris 1957)7 zu zitieren, sondern erkannten auch, dass man einer Melodie, deren Transkription man für bare Münze nimmt, ihre Vergangenheit wie Zukunft verwehrt. Sachs’ sehr häufig zitierte Definition umfasste allerdings noch eine dritte Bestimmung, die er nicht in die Druckfassung seines Vortrags (»Ethnomusicology Applied to Jewish Music«) aufnahm: »als Juden«. Mit der Verbindung von historischer Musikwissenschaft und Musikethnologie befasst, argumentierte er, eine »durch europäische Einflüsse vollkommen verdorbene« Melodie sei einer erstarrten Transkription grundsätzlich vorzuziehen, bezeuge sie doch »äußere Einflüsse«. 8 Durch ein phänomenologisches Prisma betrachtet, ließe sich Sachs’ Gedanke noch weitertreiben: Ob jüdische Komponisten ihre Werke nun als Juden schrieben oder nicht, sie waren als Juden der Musik über Juden ausgesetzt, nämlich den literarischen und musikalischen Tropen, die im 19. und frühen 20. Jahrhundert in die europäischen Vorstellungen über die musikalische Präsenz von Juden einsickerten. Ein infames Beispiel für eine entsprechende akustische Darstellung bietet das »jüdische« Quintett in Richard Strauss’ Salome. Als Ensemble 7  Der Kongress von 1957 wurde nicht offiziell dokumentiert. Sachs’ berühmte Formulierung wurde dort von Batya Bayer (damals Bibliothekarin in der Jüdischen Nationalbibliothek der Universität Jerusalem) gehört und später in ihren Beitrag über jüdische Musik (1971) in der Encyclopaedia Judaica aufgenommen. Eine frühere Fassung dieser Definition formulierte Sachs 1943 in einer Diskussionsrunde zum Thema »Die historischen Grundlagen der jüdischen Musik«. Dort differenzierte er zwischen Komponisten des 19. Jahrhunderts wie Giacomo Meyerbeer und Felix Mendelssohn und Komponisten liturgischer Musik (Solomon Sulzer, Samuel Naumbourg und Louis Lewandowski): »All dies ist Musik der Juden, und im letzteren Fall sogar für die Juden, aber es ist keine jüdische Musik.« Vermutlich stützte sich Sachs hier allerdings auf das Jüdische Lexikon von 1929, wo es im Beitrag zu jüdischer Kunst heißt, man könne von einer »Kunst von Juden« und einer »Kunst für Juden« sprechen, aber nicht wirklich von »jüdischer Kunst«: Der Kunst von und für Juden fehle »der ausgeprägte spezifisch-jüdische Charakter; die jüdische Kunst hat zu allen Zeiten die Formen und Motive der Kunst der jeweiligen ›Wirtsvölker‹ benutzt«. Vgl. Kurt Freyer, Kunst, Jüdische, in: Georg Herlitz/Bruno Kirschner (Hg.), Jüdisches Lexikon, Bd.  III, Berlin 1929, 934–938; Curt Sachs, Historical Bases of Jewish Music, The Jewish Music Forum, 4.1 (1943): 16 f.; Batya Bayer, Music, in: Encyclopedia Judaica, Bd.  X II, Jerusalem 1971, 555. 8  Curt Sachs, Ethnomusicology Applied to Jewish Music, unveröffentlichter Vortrag auf dem Ersten Internationalen Kongress der Jüdischen Musik (Paris, 1957), Anglo-Jewish Archives, Southampton, UK, World Jewish Congress Collection [MS 329/T3/33], 18, 20 f. Das dritte Moment (»als Juden«) hatte Bayer höchstwahrscheinlich seinem Vortrag entnommen. Ich danke James Loeffler für diese sehr wertvolle Quelle.

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unsympathischer, schreiender männlicher Charaktere, die gegensätzliche, zu einem unverständlichen Lärm zusammenfließende Melodien durcheinander singen, war diese musikalische Avantgarde charakteristisch für den Diskurs über Juden, der bei Strauss’ auch einer vorurteilsbeladenen Wahrnehmung der angestammten jüdischen Klanglandschaft in Wien oder Prag mit ihrer osteuropäisch-jüdischen Präsenz entsprungen sein könnte.9 Strauss’ Quintett war, in den Worten Sander Gilmans, »eine Kakofonie in klarem Kontrast zu den beiden anderen Hauptformen des musikalischen Diskurses seiner Oper, der glänzenden, chromatischen Welt Salomes und der festen Diatonik Jochanaans. Anders als diese streiten sich Juden; was sie tun, ergibt keinen Sinn.«10 Noch viel aufschlussreicher waren allerdings die Reaktionen der Musikpresse auf solche ohrenbetäubenden Szenen. Unter Rückgriff auf Wagners Diskurs, der im jüdischen Sprechen (»Eigenthümlichkeiten der semitischen Aussprechweise […] ein zischender, schrillender, summsender und murksender Lautausdruck […] willkürliche Verdrehung der Worte und der Phrasenconstructionen«) und der Synagoge (Schauplatz »Sinn und Geist verwirrenden Gegurgels, Gejodels und Geplappers«)11 onomatopoetischen Lärm ausmachte, zeigte die Berliner und Wiener Kritik der Jahre 1906 und 1907, dass »antisemitische Tropen noch immer als Vehikel für ästhetische Urteile dienten«.12 Zudem wurde Salome in der Dresdner Konzertsaison 1906/07 einen Abend vor der deutschen Premiere von Schönbergs Erstem Streichquartett, einem dichten Kontrapunkt, aufgeführt, das sofort mit Metaphern für jüdisches Reden und ethnischen Charakterisierungen überzogen wurde. Kritiker erklärten, dass »uns« Schönbergs »vier Stimmen trotz aller kunstvollen Verschlingungen und verblüffenden Verzerrungen rein gar nichts zu sagen haben«, da sie das gesamte Stück hindurch »in der nüchternsten Klanglosigkeit uns mit toten Tonmassen überschütten«.13 Auch Mahler wurde mit verbrämten Stereotypen des assimilierten städtischen Juden attackiert; nach der Essener Premiere seiner Sechsten Symphonie zeigte sich ein Kritiker »angewidert« von seinen »mit breiter Eloquenz, mit technischer Gewandtheit« vorgetragenen »Gemeinplätze[n]«,14 während ein anderer befand, die rhetorische Fassade sei Mahler wichtiger als der musikalische Gehalt: Nur selten höre man seine Musik »singen«, da sie »fast stets reden will, glänzende

9 HaCohen,

The Music Libel, 299. L. Gilman, Strauss, the Pervert, and Avant Garde Opera of the Fin de Siècle, New German Critique, 43 (1988): 216 f. 11  Richard Wagner, Das Judentum in der Musik, in: Jens Malte Fischer, Richard Wagners »Das Judentum in der Musik«. Eine kritische Dokumentation als Beitrag zur Geschichte des Antisemitismus, Frankfurt a. M./Leipzig 2000, 139–196, hier 150 f., 159. 12  Karen Painter, Contested Counterpoint. »Jewish« Appropriation and Polyphonic Liberation, Archiv für Musikwissenschaft, 58.3 (2001): 214. 13  Richard von Kralik, Konzerte, Vaterland (Wien) (10.2.1907). 14  Gustav Altmann, Tonkünstlerfest in Essen, Die Musik 5.19 (1906): 49 f. 10  Sander

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rhetorische Phrasen reihen sich an witzige an, nachdenkliche an triviale«.15 Wie Kay Knittel bemerkt hat, »verwendeten Kritiker Wagners Aufsatz tatsächlich als ein Handbuch […] für die Beschreibung der Musik jüdischer Komponisten«, das auch als Anleitung für diese zur Korrektur ihrer Fehler verstanden werden konnte (selbst wenn es nicht gar nicht näher auf musikalische Eigenschaften einging).16 Anders formuliert: Wenn man der Deutung zustimmt, dass Wagners Die Meistersinger von Nürnberg antisemitische Codes enthält (oder zumindest so gelesen werden kann),17 dann ließe sich auch sagen, dass die Musikkritik des frühen 20. Jahrhunderts die dichten Kontrapunkte Schönbergs und Mahlers derart verunglimpfte, dass sie als Beckmessereien erschienen. Tatsächlich war die nationale Trägheit des Wagnerschen Diskurses eine weitere Komponente, die zur Entstehung der modernen jüdischen Kunstmusik beitrug. Sie förderte die Überzeugung, die individuelle Psyche sei der Ausfluss einer historischen Gemeinschaft, und lief auf eine nationale Selbstdefinition ex negativo hinaus: durch Negation des Anderen, was wiederum eine Doktrin der Aversion nährte. Für Juden verbarg sich in solchen Akten der Ausgrenzung nicht nur die Saat der Intoleranz; sie unterstellten zugleich eine Qualität, die man umkehren konnte. Doch es braucht keinen Juden, um dies zu kommentieren. »›Gesellschaft gibt es nicht‹, und Symptom dessen ist der Jude«, schreibt Slavoj Žižek. Er analysiert zwei Umgangsweisen mit dem ideologischen Text – eine symptomatische Lektüre, die ihn dekonstruiert, und den vorideologischen, durch die Phantasie strukturierten Genuss an ihm – und bringt die erste mit Verschiebung, die zweite mit Verdichtung in Zusammenhang. Die Verschiebung »des sozialen Antagonismus in einen Antagonismus zwischen dem intakten gesellschaftlichem Gewebe – dem gesellschaftlichen Körper – und dem Juden als der zersetzenden Kraft« ermöglicht es, die Quelle der Verderbnis in einem bestimmten Wesen auszumachen. Seine Kraft bezieht dieser Akt der Verschiebung aus einem Bild des Juden, in dem sich »eine Reihe von Antagonismen verdichtet: wirtschaftliche (der Jude als Profiteur), politische (der Jude als Strippenzieher, als Träger einer geheimen Macht), moralisch-religiöse (der Jude als bösartiger Anti-Christ), sexuelle (der Jude als Verführer unserer unschuldigen Mädchen)« und musikalische (der Jude als Imitator, Bricoleur, Verursacher von Lärm). Diese Konstellation benötigte der Nichtjude zur Maskierung seiner Phantasie von Ganzheit – ein Verlangen, in dem sich zugleich die Unmöglichkeit ausdrückte, dass die nichtjüdische Gesellschaft ihre »volle Identität als in 15 

Musikbrief aus Wien, Allgemeine Musik-Zeitung 34.4 (1907), 62. Kay M. Knittel, Seeing Mahler. Music and the Language of Antisemitism in Fin-de-Siècle Vienna, London 2010, 50, 67. 17  Hans Rudolf Vaget, The »Metapolitics« of Die Meistersinger. Wagner’s Nuremberg as Imagined Community, in: Nicholas Vazsonyi (Hg.), Searching for Common Ground. Diskurse zur Deutschen Identität 1750–1871, Köln 2000, 269–282; ders., Sixtus Beckmesser: A »Jew in the Brambles«?, Opera Quarterly, 12.1 (1995): 35–45. 16 

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sich geschlossene, homogene Totalität« erlangt. Was aus der soziosymbolischen Ordnung ausgeschlossen wurde, kehrte folglich »im Realen als eine paranoide Konstruktion des Juden« wieder.18 Die Fortschreibungen, die der Wagnersche Mythos im 20. Jahrhundert erfuhr, wurden rasch von jüdischen Komponisten verinnerlicht. Während die Verschränkung von Form und nationaler Ideologie in Wagners Musik zu Beginn des Jahrhunderts in sich zusammenbrach (ein Thema, auf das ich zurückkommen werde), fand sein Aufsatz »Das Judentum in der Musik« bei jüdischen Komponisten und Musikethnologen weiterhin einen Nachhall; zusehends verfingen sich sowohl die moderne jüdische Kunstmusik als auch ihre Historiografie unweigerlich im Wagnerschen Diskurs, da sie seine Rassifizierung von Musik als theoretische Basis für ihre Gegenargumente übernahmen. James Loeffler schreibt, »die jüdischen Reaktionen auf Wagners antisemitisches Gedankengut in mittel- und osteuropäischen Kontexten des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts« zeigten, »wie die moderne jüdische Ästhetik aus einem komplizierten, sich verschiebenden Dialog zwischen jüdischen Intellektuellen und europäischen Antisemiten, Deutschen und Russen hervorging«.19 Wagners Logik beruhte auf einem binären Gegensatz, der eine semitische Andersartigkeit unterstellte; in seinen Worten war »der Jude das erstaunlichste Beispiel von Rassenkonsistenz, welches die Weltgeschichte noch je geliefert hat«.20 Aber Wagner hatte auch das Gegenteil nahegelegt: Juden könnten, anstatt Europas nationalistisch-ausgrenzende Hierarchien zu akzeptieren, aus ihrem eigenen Volksgeist schöpfen. Dies ermöglichte es – nicht nur zionistisch gefärbten – Wagner-Interpretationen im 20. Jahrhundert, seine Sichtweise zu übernehmen und ähnliche binäre Gegensätze und spiegelbildliche Umkehrungen hervorzubringen: zwischen glanzvoller hebräischer Vergangenheit und scheußlicher jüdischer Gegenwart oder zwischen reiner jüdischer Musik und unreinen, ihr im Exil aufgesetzten Elementen. Anders formuliert: In Anlehnung an das Wagnersche Modell produzierten die musikalischen Phantasien jüdischer Komponisten neue (aber ihm äquivalente) Gegensätze, durch die sie – mit oder ohne die von politischen Zionisten vorgeschlagene territoriale Basis – ihre Vergangenheit rekonstruierten. Der in Russland geborene amerikanisch-jüdische Komponist Lazare Saminsky zum Beispiel erklärte, die wahrhaften Fundamente jüdischer Musik seien die religiösen Melodien der Synagoge, die keine osteuropäischen Merkmale aufwie18 Slavoj Žižek, The Sublime Object of Ideology, London 1989, 124–127; Amos Morris-Reich, Three Paradigms of »The Negative Jew«: Identity from Simmel to Žižek, Jewish Social Studies, 10.2 (2004): 179–214. 19  James Loeffler, Richard Wagner’s »Jewish Music«. Antisemitism and Aesthetics in Modern Jewish Culture, Jewish Social Studies, 15.2 (2009): 7. 20  Richard Wagner, »Erkenne dich selbst«, in: ders., Sämtliche Schriften und Dichtungen, Bd.  10, Leipzig 1913, 263–274, hier 271.

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sen. Fasziniert vom scheinbar altertümlichen Charakter jüdischer Gemeinden in Georgien, saugte er ihre exotischen asiatischen Klänge auf, die er als die reinsten Formen jüdischer Musik wahrnahm. Im Kontrast dazu – und Kontraste waren in der Tat ein notwendiges Element der Selbstdefinition – galt ihm das Gros der europäischen jüdischen Volksmusik als unrein. Da sie seinen »Test der nationalen Unverkennbarkeit« nicht bestanden hätten, so Loeffler, habe Saminsky diese »neueren fremdartigen Implantate im Kernbestand jüdischer Melodien« als Zeichen kultureller Verunreinigung gesehen, als »national illegitim und untauglich für eine zeitgenössische musikalische Renaissance«.21 In Reaktion auf diese Behauptungen wandte sich Joel Engel gegen Saminskys Mythos der Reinheit und kulturellen Einzigartigkeit, indem er darauf beharrte, dass »jiddische Volkslieder und andere nichtliturgische Musik des osteuropäischen Judentums ebenfalls als legitime, authentische Ausdrucksformen zählten«, auch wenn sie jüngeren Datums seien. In musikalischer Hinsicht drehte sich der Streit um spezifische Kennzeichen: Während Saminsky biblische und liturgische Gesänge als unverfälschtesten, da von Assimilation unberührten Teil der jüdischen Musik sah, verteidigte Engel die Intaktheit der jüdisch-osteuropäischen Volksmusik. Im Bewusstsein, dass ein schlichter Rückgriff auf empirische musikalische Eigenschaften in Positivismus münden könnte, kritisierte Engel Saminskys Genealogie und behauptete, der Panorientalismus (sei er jüdisch, rumänisch, ungarisch, armenisch oder persisch) biete lediglich ein Gerüst, auf dem die Völker ihre Ausdrucksformen aufbauten.22 Die in der Polemik zwischen Saminsky und Engel verhandelten musikalischen Kennzeichen waren dieselben klanglichen Ikonen, die den meisten Lesern aus einer Vielfalt jüdisch markierter Quellen bekannt sein dürften – von der osteuropäisch-jüdischen Volksmusik bis zu ihren vermarktungstauglichen, in Musicals, Soundtracks und erfundenen Volksliedern verwendeten Merkmalen (und, ganz richtig, durch Hava Nagila). Wie die Historiografie der modernen jüdischen Kunstmusik zeigt, waren es interessanterweise diese musikalischen Accessoires, die durch Kompositionen von oder über Juden am meisten Aufmerksamkeit erhalten haben. Was Saminsky unrein schien und von Engel als Modell kultureller Adaption verstanden wurde, kreiste um zwei osteuropäische Melodietypen, die der Musik eine »jüdische Färbung« (Mark Slobin) verliehen. Beide, die freygishe und die ukrainisch-dorische Skala mit erhöhter vierter Tonstufe (Beispiel 1.1), sind in der osteuropäischen Klanglandschaft verbreitet; in beiden spielen übermäßige Sekunden eine kennzeichnende Rolle, gewöhnlich innerhalb einer engen Skala aus fünf oder sechs Tönen.

21  James Loeffler, The Most Musical Nation. Jews and Culture in the Late Russian Empire, New Haven 2010, 178. 22 Loeffler, The Most Musical Nation, 179–182.

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Beispiel 1.1: Osteuropäische Melodietypen: a) Freygish; b) raised-fourth (Ukrainischdorisch). a. "frigish"

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b. "raised-fourth"

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Die jüdisch-osteuropäische Klanglandschaft weist diese Melodietypen in bestimmten Arten von Gebet auf (Shteygers): Die freygishe (ein Teil des Ahava-Raba-Shteyger) hat eine übermäßige Sekunde zwischen zweiter und dritter Stufe, die ukrainisch-dorische, die gewisse Eigenschaften mit dem Misheberach Shteyger teilt, zwischen der dritten und vierten (Beispiel 1.1).23 Doch diese musikalischen Kennzeichen waren niemals exklusiver Bestandteil einer jüdischen Klanglandschaft, sondern gehörten einem symbiotischen, von Juden und Nichtjuden geteilten kulturellen Raum an. Wie Moshe Beregovsky und Slobin gezeigt haben, finden sich diese Melodietypen genauso sehr in nichtjüdischen Kulturen Osteuropas; besonders Slobin weist darauf hin, dass sie nicht nur in der jiddischen Volksmusik vorherrschend, sondern auch in der ukrainischen, rumänischen, slowakischen und polnischen Musik sehr verbreitet sind.24 Ausgehend von Harshavs Theorie des Polylingualismus interner jüdischer und externer osteuropäischer Sprachen hat Joel Rubin die Verhaltensmuster dieser Melodietypen durch das Prisma der Klezmer-Musik (ein weiteres Element der osteuropäischen Klanglandschaft) studiert und dabei ein äquivalentes polymusikalisches System in Osteuropa entdeckt: interne Klanglandschaften (liturgische, paraliturgische und nichtliturgische Musik), die mit der Bauernmusik unterschiedlicher Ethnien verschmolzen sind. In diesem Geflecht entstand Musik durch Centonisation, als ein Patchwork aus musikalischen Elementen und Eigenschaften sowie der vollständigen oder teilweisen Kontrafaktur von Melodien, weshalb die osteuropäische Klanglandschaft ungeachtet ihrer Ursprünge als ein einziges Feld zu verstehen ist.25 In seiner Analyse der melodischen Konventionen und des modalen Verhaltens metrischer Klezmer-Musik gibt Rubin die modale und skalare Terminologie (Shteygers, westliche Skalen, kirchliche Modi oder Maqamat) auf und fokussiert stattdessen die Dynamik von Tongruppen sowie die Praxis, Tetrachorde zu größeren Einheiten zu verbinden. Beispiel 1.2 zeigt Rubins Grundanordnung von Tetrachorden: 23  Mark Slobin, The Evolution of a Musical Symbol in Yiddish Culture, Frank Talmage (Hg.), Studies in Jewish Folklore, 1980, 314 f., 323. 24  Moshe Beregovski, Old Jewish Folk Music. The Collections and Writings of Moshe Beregovski, hg. u. übers. v. Mark Slobin, Syracuse 2000, 513–529; Slobin, The Evolution of a Musical Symbol, 315–320. 25  Joel E. Rubin, The Art of the Klezmer. Improvisation and Ornamentation in the Commercial Recordings of New York Clarinetists Naftule Brandwein and Dave Tarras 1922–1929, Dissertation an der City University of London, 2001, 151–153; Benjamin Harshav, The Meaning of Yiddish, Berkeley 1990, 3–73.

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Beispiel 1.2: Obere und untere Tetrachorde (Joel E. Rubin, The Art of the Klezmer. Improvisation and Ornamentation in the Commercial Recordings of New York Clarinetists Naftule Brandwein and Dave Tarras 1922–1929, Dissertation an der City University of London, 2001, 177).

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jeder der unteren (A1–A4) lässt sich mit mehreren der oberen (B1–B4) kombinieren, je nach Kontext der melodischen Linie. Einige dieser synthetischen Modi, die charakteristisch für die Offenheit der osteuropäischen Klanglandschaft sind, enthalten die erwähnten Melodietypen: alle mit A4 beginnenden zum Beispiel den freygishen Typus, die mit A2 beginnenden den ukrainisch-dorischen. Diese Tetrachorde erweitern sich zu größeren Strukturen, die oftmals über eine Oktave hinausgehen und sich durch eines oder mehrere der folgenden Elemente ausdifferenzieren: variable Töne in den Tetrachorden, modulatorische Schemata (durch Modulation des oberen Tetrachords) und chromatische Durchgangstöne. In dieser Konstellation wird die Dreiklangharmonik durch das modale lineare Verhalten der tetrachordalen Assemblagen in Bewegung gesetzt.26 Die Tatsache, dass osteuropäisch-jüdische Musikmerkmale das Ergebnis eines offenen Modells waren, das sowohl eigene wie äußere Einflüsse aufnehmen konnte, untergräbt den Gegensatz jüdisch/nichtjüdisch, zwischen dessen Polen sich unser imaginäres Pendel (nicht anders als das von Saminsky und Engel) bewegt. Tatsächlich brachte die Nichtübereinstimmung zwischen den politischen und den kulturellen Geografien Osteuropas und des aschkenasischen Raums Musikkulturen hervor, die durch den »relativen Grad der Isolation von 26  Rubin, The Art of the Klezmer, 176–178, 196–325. Rubin betrachtet A1-B1, A2-B1, A3B3 und A4-B3 als die Grundelemente von Klezmer-Melodien (Beispiel 1.2); vgl. auch Boaz Tarsi, Tonality and Motivic Interrelationships in the Performance-Practice of Nusach, Journal of Synagogue Music, 21 (1991): 6 f.

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nichtjüdischen Nachbarn oder aber der Interaktion mit ihnen«27 bestimmt waren, und zwar bereits vor dem Einwandern dieser multiethnischen, pan-aschkenasischen akustischen Signifikanten in die Kunstmusik oder ihrer Verwässerung durch die außerjüdische Orientierung von Komponisten. Jedes Beharren auf Reinheit im Sinne des Wagnerschen Mythos oder seiner späteren Varianten beruhte folglich auf einer Verbannung musikalischer Elemente, durch die es sich als erschlichen erweist. Insofern können solche Phantasien, wie sie etwa Saminsky vertrat, als Kompensation einer gescheiterten Identifikation gedeutet werden.28

Jüdische Umkehrungen Der sich selbst widerlegende Charakter des europäischen gesellschaftlichen Phantasmas hinderte Juden nicht an Übersetzungen des Wagnerschen Mythos. Dabei war es der Rassediskurs des 19. Jahrhunderts, der vielen jüdischen Denkern eine Umkehrung der von Wagner formulierten Andersartigkeit ermöglichte: Die angeblich logogenische Beschaffenheit der biblischen Kantillation, die ihm zufolge in Rede und Sprache befangen blieb und ein Eingehen des jüdischen Lieds in die Geschichte verhinderte, ließ sich, wie Philip Bohlman bemerkt hat, ipso facto auch als ein unvollendeter Zug deuten, der sich auf die Geschichte bezog, anstatt sie zu signifizieren; Wagners Behauptung, das Judentum bringe es nur bis zur Nachahmung und sei in einem Augenblick des historischen Zusammenbruchs in den 1830er und 1840er Jahren in die europäische Musikgeschichte eingedrungen, konnte auch als Emanzipation der jüdischen Musik vom Ritual und dessen westliche Neugestaltung verstanden werden; die Anklage schließlich, jüdische Komponisten montierten im Grunde nur fremdes Material zusammen, ließ sich auch als Ausdruck ihrer Kreativität positiv werten.29 Es blieb dem Pionier der jüdischen Musikethnologie Abraham Zvi Idelsohn vorbehalten, eine der bemerkenswertesten Umkehrungen von Wagners Behauptungen zu formulieren. Anders als die meisten europäisch-jüdischen Komponisten versuchte Idelsohn, die nationale musikalische Vergangenheit des Volkes aus dem Kernbestand lebendiger jüdischer Musiktraditionen zu rekonstruieren, die er in Jerusalem zwischen 1911 und 1913 erforscht und transkribiert hatte. Kurz nachdem er 1907 im osmanischen Palästina eingetroffen war, veröffentlichte Idelsohn einen zweiteiligen Artikel über hebräische Musik als nationale Musik, der eine Mahnung enthielt: »Ein negina le’Israel! [Israel hat keine Lieder!] – zu diesem Schluss sind nicht nur die gelangt, die sich assimiliert ha27  Philip V. Bohlman/Otto Holzapfel, Folk Songs and the Fragments of Ashkenazic Common Culture, in: dies. (Hg.), The Folk Song of Ashkenaz, Middletown 2001, 6. 28 Žižek, The Sublime Object of Ideology, 127. 29 Bohlman, Jewish Music and Modernity, 189–191.

Jüdische Umkehrungen

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ben, sondern auch die meisten Nationalisten.« Idelsohn erörterte, wie sich eine Nation durch ihre Sprache, Dichtung und Musik offenbart, und erklärte, dass »ein Volk ohne Musik ein Volk ohne Willen, ohne Bedürfnis, ohne Wiedergeburt ist! […] Manche sagen, Musik sei ›international‹, doch das scheint mir eine Unmöglichkeit zu sein. […] der Komponist ist lediglich der spirituelle Ausdruck seiner Nation; ein Körper, in den ein Teil der Seele seiner Nation gelegt worden ist.«30 In einer Zeit, als die hebräische Sprache ihr Potenzial gezeigt hatte, als das hauptsächliche Kommunikationsmittel zu dienen,31 bestimmte Idelsohn die geistigen Quellen der hebräischen Nation: »Kann ein nationaler Geist, der ein zweitausend Jahre währendes Leid seiner Nationalität mit Stärke ertragen hat, der diese lange Periode hindurch die Kraft zu hoffen hatte – kann er diese Hoffnung, diesen Willen nicht ausdrücken, nicht äußern, wenn er ein inspirierter Geist ist?« In seiner Antwort fügte Idelsohn dem Wagnerschen Phantasma einen weiteren binären Gegensatz hinzu: Neben Wagners ausgrenzender (und unmöglicher) Definition einer vollen Identität unternahm er eine strikte Trennung zwischen dem nationalen Leben der biblischen Zeit und der Periode des Exils nach der Zerstörung des Zweiten Tempels, in der sich fremde Elemente den natürlichen nationalen Zügen aufgepflanzt hätten. Die Musik der ersten Periode, argumentierte Idelsohn, habe beinahe nichts mit der der zweiten gemein, doch »es war weder das Volk noch sein Geist, was sich während der zweiten Periode änderte, sondern lediglich seine Form«.32 Im Bewusstsein der klanglichen Stereotype, durch die die jüdisch-liturgische Musik historisch herabgesetzt worden war, fügte er hinzu, um die hebräische Musik in ihrer ganzen Ursprünglichkeit zu kennen, müssten wir die Schale abkratzen, die sich während der vergangenen Generationen um sie gebildet hat […] insbesondere den fremden Geist, den assimilierte Komponisten einerseits und bekannte Nationalisten andererseits ihr eingeflößt haben […] Sobald wir ihre exilische Form entfernen, sie vom Schmutz ihrer Gefangenschaft, ihrer zeitweiligen Beherbergung in einer anderen Nation reinigen – würden wir in Ehrfurcht dastehen. […] Sie weist kaum eine Beziehung zur europäischen Musik auf, mehr noch: Sie verträgt sich nicht mit europäischer Melodie, Harmonie und Theorie.33

Für Idelsohn erklärte dies auch weitgehend, warum europäische Nationen den nationalen Enthusiasmus der jüdischen Musik, die ihre »fremde Leiblichkeit«34 abwarf, nicht fühlen konnten. In einem Ende 1907 verfassten Artikel entwickelte er seine kabbalistischen Metaphern exilischer Schalen und Häute weiter und schrieb von »dem alten faltigen Körper, der begonnen hat, seine gealterte Haut 30  Abraham Zvi Ben Jehuda [Idelsohn], »Hebräische Musik - Nationale Musik« (Hebr.), Hashkafa (9.10.1907). 31  Chaim Rabin, The National Idea and the Revival of Hebrew, Zionism, 7 (1983): 31–48. 32  Idelsohn, »Hebräische Musik«, Hashkafa (9.10.1907). 33  Idelsohn, »Hebräische Musik«, Hashkafa (11.10.1907). 34  Idelsohn, »Hebräische Musik«, Hashkafa (11.10.1907).

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Kapitel 1:  Hava Nagila?

abzustreifen, unter der eine blütenfrische knabenhafte Haut sichtbar wird«. Idelsohn verglich die musikalischen Leistungen von Juden und Griechen (Juden »gaben dem Gesang und der Musik im selben Maße Glanz, Begeisterung und Heiligkeit, wie die Griechen Schönheit und Form beisteuerten«), betonte den Vorrang des Hebräischen (»Man beachte sein [Israels] erstes nationales Wort, sein erstes Echo – das Lied am Schilfmeer! Und sein letztes Wort, letztes Echo – eine bittere nationale Klage – die Klagelieder Jeremias! Ein Volk, dessen Mund vom Augenblick seiner Geburt bis zum Erwachsenwerden nicht aufgehört hat, zu singen«)35 und erklärte, die Assimilation der Kantoren (»die Gefäße, durch die das Volk seinen Geist ergoss, und die Kehlen, durch die es sprach«) habe sie dem Volk entfremdet. Von diesem Moment an seien sie nicht mehr Gebetsleiter gewesen, sondern zu »Ariensängern« geworden.36 Ende Februar 1908 begann Idelsohn anlässlich des 25. Todestages Wagners einen dreiteiligen Aufsatz zu veröffentlichen, indem er dessen Ablehnung der jüdischen Präsenz nachzuvollziehen versuchte. Wagner habe »über die Natur dieses [jüdischen] Körpers« nachgesonnen, ihn aber für tot befunden, erklärte Idelsohn den Lesern; folglich habe er ihn beiseiteschaffen müssen, »damit er den Knochen der Lebenden nicht Schaden und Degeneration zufüge«. Wagners Pamphlet habe sein Volk zum Leben erweckt. Dennoch blieb für Idelsohn zu erklären: Warum war ein brillanter Komponist wie Wagner »vom Gipfelpunkt der Welt der Geisteskraft, einer durch und durch guten, schönen und hellen Welt, hinabgestiegen in die niedere körperliche Welt, um das Würmlein Jakob zu bekämpfen?«37 In seiner ausführlichen Antwort auf diese Frage beklagte Idelsohn die Tragödie jüdischer Komponisten des 19. Jahrhunderts, deren »jüdische Seele« in »einem deutschen Körper gefangen« gewesen sei: »Wir bedauern diese Söhne bis zum heutigen Tage […] denn sie haben sich geopfert und aufgegeben, ohne ihrem Volk genutzt zu haben«.38 Der Großteil des Aufsatzes paraphrasierte Wagners »Das Judentum in der Musik« und kam damit einer hebräischen Übersetzung des Textes bis 1973 wohl am nächsten.39 Bestärkt durch Wagners Unterstellungen – Juden zeichneten sich durch triebhafte Kakofonien, technische Finesse und Nachäffen aus, Nichtjuden achteten auf das »Wie« und nicht auf das »Was«, wenn sie Juden sprechen hörten – stimmte Idelsohn ihm auch darin zu, dass die Musik jüdischer Komponisten des 19. Jahrhunderts eine hoffnungslose Parodie gewesen sei: Sie hatte nur die Fassade eines Deutschtums nachgeahmt, die Juden nicht durchdringen konnten. In Idelsohns Umkehrung von 35 

Abraham Zvi Ben Jehuda [Idelsohn], »Nationale Motive« (Hebr.), Hashkafa (18.12.1907). Idelsohn, »Nationale Motive«. 37  Abraham Zvi Ben Jehuda [Idelsohn], »Richard Wagner und die Juden« (Hebr.), Hashkafa (28.2.1908). 38  Idelsohn, »Richard Wagner und die Juden«, Hashkafa (4.3.1908). 39  Beide Versionen von Wagners Text (von 1850 und 1869) erschienen 1973 in der hebräischen Übersetzung von A. Carmel im Jerusalemer Verlag Akademon. 36 

Jüdische Umkehrungen

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Wagners nationaler Selbstdefinition kam seine zionistische Orientierung zum Tragen: Anders als »der Großteil der deutschen Nation«, der durch eine Nabelschnur an sein Land gebunden sei, »ohne Vergangenheit oder Zukunft, sondern nur in einer langen andauernden ›Gegenwart‹«, und einer Weltanschauung folge, die sich in der Schönheit des Bildes und des Körpers erschöpfe, seien »Israel, Gott und die Tora eins, indem sie, bar jeder ›Gegenwart‹, die Vergangenheit mit der Zukunft verbinden«.40 Für Israel, argumentierte Idelsohn, sei »Schönheit nur ein Mittel zum Zweck des Guten«.41 Er las Wagners Anschuldigungen als Beweis dafür, wie »wir [Juden] uns vom natürlichen Leben entfernt haben«, und erklärte, Juden müssten ihre Ehre und ihr natürliches, nationales Leben zurückgewinnen (»denn es gibt keine Humanität ohne Nationalität!«). Deshalb wäre es, schloss Idelsohn, ein würdevoller Akt, »wenn das Exekutivkomitee in Odessa und Berlin dieses Pamphlet [Wagners] in jede Sprache, die der diasporische Jude hört [sic], übersetzen würde […] so wäre es ein ›Spiegel‹, in dem sich jeder Jude ansehen und sein lächerliches Bild im Exil erblicken könnte; dies könnte der Wiedererlangung unseres Nationalbewusstseins förderlich sein und der Name Wagner könnte sich für Israel in einen Segen verwandeln!«42 Idelsohns Text kann als eine Verinnerlichung des Wagnerschen Diskurses und, in gewissem Maß, als ein Ausdruck von jüdischem Selbsthass gelesen werden (ein Thema, auf das wir in späteren Abschnitten dieses Kapitels zurückkommen). Hier aber möchte ich zunächst andere binäre Gegensätze in seinem musikethnologischen Projekt erörtern, was mit Blick auf den Kulturzionismus eine Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Gestalten des »Ostens« erfordert, die aus Europa betrachtet wurden und in Palästina präsent waren. In seiner zionistischen Orientierung folgte Idelsohn Achad-Ha’ams Verständnis der Nation als einer biologischen und kulturellen Einheit. Als wichtigster Vertreter einer ethnizistischen Intelligenzija, die den Kern der kulturzionistischen Ideologie hervorbrachte, stufte Achad-Ha’am Religion auf den Status eines untergeordneten Aspekts von Kultur zurück und verlagerte sein »jüdisches Selbstverständnis von der traditionellen transzendentalen zu einer säkularen und immanenten Basis«.43 Seine doppelte Botschaft, dass jüdisches Überleben von einem instinkthaften Willen zum Leben abhänge (der die bislang unantastbare Rolle der Religion verdrängte) und Juden sich aktiv für ihr Überleben als eine Nation entscheiden müssten,44 war in Idelsohns musiketh40 

Idelsohn, »Richard Wagner und die Juden«, Hashkafa (4.3.1908). Idelsohn, »Richard Wagner und die Juden«, Hashkafa (28.2.1908). 42  Idelsohn, »Richard Wagner und die Juden«, Hashkafa (6.3.1908). 43  Gideon Shimoni, The Zionist Ideology, Hanover 1995, 270. 44 Shimoni, The Zionist Ideology, 274. Achad Ha‘ams Vorstellungen von einem instinkthaften »Willen zum Leben« (hefetz hakiyum) und »nationalem Geist« (ruah leumi) finden einen Widerhall in Idelsohns autobiografischen Skizzen in hebräischer und englischer Sprache. Vgl. Abraham Zvi Idelsohn, My Life. A Sketch, Yuval, 5 (1986): 19 f. (englischer Teil), 18 (hebräischer Teil). 41 

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Kapitel 1:  Hava Nagila?

nologische Forschung eingesickert, die eine solche Synthese geradezu mustergültig verkörperte. Während nietzscheanisch beeinflusste zionistische Denker wie Micha Josef Berdyczewski das Judentum als eine allgegenwärtige starke Bedrohung der freien Selbstentfaltung des einzelnen Juden wahrnahmen und zu einem säkularen Aufstand gegen seine rabbinische Gestalt aufriefen, war Idelsohn ein solches Bedürfnis nach Umwertung aller Werte und Ablehnung des talmudischen rechtlichen Disputierens fremd.45 Stattdessen folgte er AchadHa’ams differenzierter »Negation der Diaspora« (eine von vielen auf dem Kontinuum jüdisch-nationaler Selbstdefinitionen). Zwischen subjektiven und objektiven Dimensionen der Diaspora unterscheidend, schrieb Achad-Ha’am, dass »in subjektivem Sinne alle Juden der Diaspora negativ gegenüberstehen […] und alle wünschen die Beseitigung dieses Zustandes, wenn sie möglich ist.« Objektiv aber galt ihm Verstreuung als ein permanentes Kennzeichen jüdischen Lebens; und da es unrealistisch war, alle Juden nach Palästina zu bringen, musste das nationale Leben in der Diaspora gestärkt werden.46 Allerdings wurde zu dieser Zeit »der offenbar kämpferische und kühne Säkularismus des Jischuw selbst für viele derjenigen ein Grund zur Sorge, die – in der Diaspora – maßgeblich die Forderung nach einer radikalen Säkularisierung des jüdischen Lebens und der jüdischen Kultur vertreten hatten«.47 Wie Arieh Saposnik schreibt, bewirkte das Phänomen des »neuen Juden« in Palästina eine Diskrepanz: Einerseits übernahmen Juden die klassisch-zionistische Kritik am jüdischen Diasporaleben, andererseits wurden Institutionen wie das Herzlia-Gymnasium dafür kritisiert, dass sie ihren Schülern die Möglichkeit zu einem Dialog mit jenen Traditionen verwehrten, in denen ihre Lehrer selbst gelebt hatten. Während Achad Ha’am und seine Anhänger hofften, die Kluft zwischen dem »Jüdischen« und dem »Menschlichen« durch einen ständigen (und mitunter schmerzhaften) Dialog mit der Tradition zu schließen, bestand die Befürchtung, im entstehenden Jischuw werde das Judentum auf die hebräische Sprache und das Land Israels reduziert und so der religiösen Schichten beraubt, aus denen eine Kraft der Nationbildung hätte gewonnen werden können. Der Jischuw praktizierte »einen kulturellen Isolationismus in der Überzeugung, dass eine undurchdringliche Grenze die exilische Kultur des ›Exils‹ von jener der nationalen Wiedergeburt trenne«.48 Vor diesem Hintergrund hätte man Idelsohns musikethnologisches Projekt als ein kulturelles Hybrid betrachten können, das im Kontext des Isolationis45 Shimoni,

The Zionist Ideology, 286–292. Ha’am, Golusverneinung [1909], in: ders., Am Scheidewege, Bd.  2, übers. v. Harry Torczyner, Berlin 1916, 213–227, hier 215. 47  Arieh Baruch Saposnik, »… Will Issue Forth from Zion«? The Emergence of a Jewish National Culture in Palestine and the Dynamics of Yishuv-Diaspora Relations, Jewish Social Studies, 10.1 (2003): 161. 48  Saposnik, »… Will Issue Forth from Zion«?, 174. 46 Achad

Jüdische Umkehrungen

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mus des Jischuw irrelevant war. Idelsohn scheint der im Jischuw vorherrschenden Auffassung gewesen zu sein, dass »die religiöse Kraft der Tradition als eine Kraft der Nationalisierung zu nutzen ist«;49 entsprechend wandte er sich den beiden Gestalten des »Ostens« zu, die ihm für den Prozess der nationalen Erneuerung wichtig schienen, nämlich den arabisch-jüdischen Musiktraditionen des Nahen Ostens und den osteuropäischen. Beide transkribierte er als (nichtarrangierte) Monofonien, um ihre gemeinsamen Züge hervorzuheben. Dabei schienen Wagners und Achad-Ha’ams Sichtweisen zur Deckung zu kommen. In einer Schrift von 1893 argumentierte Achad-Ha’am, dass das jüdische Volk nicht bloß eine große Nachahmungssucht, sondern auch eine große Nachahmungskunst besitzt. Was der Jude nachahmt, ahmt er gut nach […]. Mit Hilfe seiner geistigen Führer lernt er dann, sich dieser Kraft zur Ausprägung seiner eigenen Individualität zu bedienen. Die Selbstentäußerung verschwindet von selbst, und die Nachahmung nimmt die Form der Konkurrenz an, in der sie das nationale Selbstgefühl nur noch erhöht.50

Mit seinem Tonaufnahme- und Sammlungsprojekt verschob Idelsohn, der jüdische Musik als Ausdruck eines nationalen Selbst entzifferte, das Zentrum der jüdischen Geschichte; in den Praktiken einer antiken und modernen jüdischen Musik entdeckte er moderne Geschichte. Dies war jedoch keineswegs ein kultureller Isolationismus. In seiner Hinwendung zu den beiden Gestalten des »Ostens« erkannte er Ursprung wie Telos der aschkenasisch-osteuropäischen, nordafrikanischen und nahöstlichen jüdischen Musiktraditionen in Palästina.51 Im Bemühen, an liturgischer und volkstümlicher Musik hebräische Elemente aufzuzeigen, machte sich Idelsohn daran, arabisch-jüdische Gemeinschaften zu entdecken, ja zu bergen; er erkannte ihre Altertümlichkeit und Einzigartigkeit an, während er mündlich überlieferte Musiktraditionen systematisch aufzeichnete und jüdische Musik in eine »Metapher für die Modernität der Vergangenheit«52 verwandelte. Seiner vergleichenden Forschung lag die positivistische Annahme zugrunde (die ihrerseits ein Erbe der nomothetischen Wissenschaft und des kolonialistischen Expansionismus des deutschen Kulturbereichs war), dass eine Urlinie existiere, eine für alle jüdischen Musiktraditionen bindende Kraft, deren Ursprung in vorexilischen Zeiten liege.53 Der Versuch, die Existenz jüdischer Musik und ihre historische Entfaltung nachzuweisen, erforderte folglich ein Entfernen exilischer Schalen und Häute, um die Musik in ihrer aus Idels49 

Saposnik, »… Will Issue Forth from Zion«?, 168. Achad Ha’am, Nachahmung und Assimilation [1893], in: ders., Am Scheidewege, Bd.  1, übers. v. Israel Friedlaender, Berlin 1913, 225–239, hier 234. 51  Bohlman, Jewish Music and Modernity, 47 f. 52  Bohlman, Jewish Music and Modernity, 118. 53 Edith Geron-Kiwi, A. Z. Idelsohn: A Pioneer in Jewish Ethnomusicology, Yuval, 5 (1986): 47–51; Noah S. Gerber, »Wir selbst oder unsere Heiligen Bücher? Die kulturelle Entdeckung des jemenitischen Judentums« (Hebr.), Jerusalem 2013, 122–130. 50 

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Kapitel 1:  Hava Nagila?

ohns Sicht ursprünglichen national-hebräischen Form wiederherzustellen. »Hebräisch« und »jüdisch« verwendete er synonym; die im Jischuw aufkommende Dichotomie hemmte ihn nicht. 54 Wie die biblischen und rabbinischen Idiome in seinen Artikeln belegen, gehörte Idelsohn zu denen, die von der Kluft zwischen Judentum und Moderne ausgingen; sie lösten sich von der Religion und setzten sich zugleich in einem modernen kulturellen Kontext mit ihren Residuen auseinander. Um den Nachweis der Existenz jüdischer Musik bemüht, folgte Idelsohn einem methodischen Modell, das für diachrone und synchrone Veränderungen deutlich offener war als Wagners (dessen Versuch, das Deutsche zu definieren – nach seinem Nachtrag von 1878 zum Aufsatz »Was ist deutsch« (1865) zu urteilen –, gescheitert war).55 Wie Ruth Katz (im Anschluss an Nicholas Wolterstorff) eindrücklich gezeigt hat, ließ Idelsohns Forschung Ähnlichkeiten zu, ein von der westlichen Musiktheorie übergangenes Merkmal, das ihm die Entwicklung einer Untersuchungsmethode ermöglichte, die eher die Qualität der Töne als ihre Kombination hervorhob.56 In den ersten fünf Bänden des HOM, die die liturgischen Repertoires der jemenitischen, babylonischen, persischen, bucharanischen, dagestanischen, syrischen, orientalisch-sephardischen und marokkanischen Judenheiten enthielten, präsentierte Idelsohn Hunderte von Transkriptionen als eine Musik, die in altertümlich-semitischer Form Spuren nationaler Züge trug.57 Doch während »die Musikbeispiele Eigenschaften aufweisen müssen, die mit der von ihnen exemplifizierten Art von Musik verbunden sind«, muss die Spezifikation der Beispiele »nicht eindeutig die Art von Musik spezifizieren, die sie exemplifizieren«, bemerkt Katz; ihre Zusammenstellung impliziert vielmehr, dass »auf der Grundlage bestimmter Fragen Gruppen ähnlicher Stücke gesucht werden, wodurch sich die Gesamtzahl disparater Züge reduziert und die Zahl gemeinsamer Eigenschaften steigt; und die gemeinsamen Eigenschaften werden innerhalb gewisser dehnbarer Grenzen exemplifiziert«.58 Da er erkannte, dass eine Identität der Struktur nicht hinreichend war, suchte Idels54  Während Einrichtungen wie das Herzlia-Gymnasium materielle und menschliche Unterstützung aus der Diaspora erhielten, litt Idelsohns 1910 in Jerusalem gegründetes Institut für jüdische Musik, das »die Erben der Leviten-Sänger« aufrief, einen »großen vereinten Chor« zu bilden und den in die heilige Schrift Israels eingeschriebenen Schatz an Gedichten zu bergen, paradoxerweise an mangelnder finanzieller Unterstützung. Batya Bayer, The Announcement of the »Institute of Jewish Music« in Jerusalem by A. Z. Idelsohn and S. Z. Rivlin in 1910, Yuval, 5 (1986): 24–35. 55  Wagner, Was ist deutsch? (1865–1878), in: ders., Sämtliche Schriften und Dichtungen, Bd.  10, Leipzig 1913, 36–53. 56  Ruth Katz, Exemplification and the Limits of »Correctness«. The Implicit Methodology of Idelsohn’s Thesaurus, Yuval, 5 (1986): 366–371; Nicholas Wolterstorff, Works and Worlds of Art, Oxford 1980, 45–63. 57  Vgl. die Einleitung zu den ersten fünf Bänden des HOM sowie Abraham Zvi Idelsohn, »Unsere nationale Musik« (Hebr.), Hashiloah, 21 (1909): 446–465. 58  Katz, Exemplification and the Limits of »Correctness«, 366 f.

Ästhetische Grenzen

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ohn nach einer Methode, die die Musik beschreiben und von »groben Verallgemeinerungen zu größerer ›Präzision‹« führen sollte, und zwar »bis zu dem Punkt, an dem es möglich wurde, Melodien, die ›anders‹ sind, von solchen zu unterscheiden, die lediglich ›Varianten‹ darstellen, und die verwendeten Tonleitern als ›rassische Eigenart‹ und nicht als Resultat ›gesellschaftlicher Bedingungen‹ bestimmt werden konnten«.59 Während sich andere Nationen, wie Idelsohn in seinen frühen Artikeln argumentiert hatte, beständig in ihrer jeweiligen Gegenwart weiterentwickelten, war die dauerhafte Ansiedlung und Isolation jüdischer Gemeinschaften an Orten wie dem Jemen, Irak und Iran ein wichtiger Faktor für den Fortbestand des Altertums; in Idelsohns zionistischer Anschauung wurde dieser Faktor entscheidend, um die biblische Vergangenheit mit einer zionistischen Zukunft zu verbinden.

Ästhetische Grenzen Für die meisten jüdischen Komponisten, deren Musik eher einer beweglichen Mittelposition entsprach als einer bloßen »kleinen« Literatur, die in Opposition zu einer »großen« verfasst wird,60 war der Osten eine okzidentale Metapher; er hatte mehr mit den Kompositionstechniken gemein, mit denen westliche Komponisten Minderheiten, die ihre gesellschaftlichen Phantasmen bedrohten, als andersartig dargestellt hatten, als mit der von Idelsohn in Palästina transkribierten jüdischen Musik. Häufig überschnitten sich die europäischen akustischen Signifikanten der Andersartigkeit mit den bereits erörterten Melodietypen (freygish und ukrainisch-dorisch) entweder in einem Zitat aus einem Lied, das auf tetrachordalen Kombinationen beruhte (Beispiel 1.2), oder als centonisierte Melodien. Beide Optionen waren ein Selbstausdruck der Komponisten und flossen zugleich mit den klanglichen Stereotypen zusammen, die die nichtjüdische Mehrheit den Juden zuschrieb. Da die Komponisten Außenstehende waren und ihre Importe durch eine »große« Musiksprache filterten, waren die in ihren Autoexotismus eingehenden musikalischen Ressourcen deutlich begrenzter als die von Idelsohn geborgenen östlichen Musikkulturen. Idelsohn hatte gegenüber solchen Prozessen keine Nachsicht; er betrachtete sie als Rückkehr zu einem exilischen Modus. Die westliche Kunstmusik war für ihn eine Angelegenheit weniger Privilegierter, die das Volk nicht mehr verstand; Instru-

59 

Katz, Exemplification and the Limits of »Correctness«, 371. Vgl. Deleuze/Guattari, Kafka. Für eine kleine Literatur, Kapitel 3. Das heißt allerdings nicht, dass »kleine« Musik Juden vorbehalten gewesen wäre, wie die Bemühungen, dem Bann Wagners zu entfliehen und ihn zu deterritorialisieren, in Béla Bartóks Herzog Blaubarts Burg, Leoš Janáˇceks Die Sache Makropoulos und Alban Bergs Lulu zeigen. Vgl. Steinberg, Listening to Reason, 202–225; Kronfeld, On the Margins of Modernism, 1–17. 60 

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Kapitel 1:  Hava Nagila?

mentalmusik hielt er für künstlich, ihre Arrangements für Taschenspielertricks. 61 Die jüdische Akkulturation in Europa markierte die Grenzen von Idelsohns Toleranz gegenüber diachronen und synchronen Veränderungen, wie seine Lesart von Ravels »L’énigme éternelle« (oder »Die alte kasche«, 1914), dem zweiten Lied der Deux mélodies hébraïques, deutlich macht. Die Migration dieses jiddischen Lieds wird im vorliegenden Buch vier Mal Thema sein: Erstens als Indikator für Idelsohns Blick auf künstlerische Anstrengungen, die gegen Grenzen verstießen und jüdische Musik verwässerten; zweitens als Kontrollfall für Paradigmenwechsel in der Historiografie der modernen jüdischen Kunstmusik; drittens als Arrangement in der Suite Chansons populaires juifs (1937) von Alexander Boskovich, der anlässlich der Premiere des Werks 1938 nach Palästina reiste und dann zu bleiben entschied; und viertens als ein Moment der Wiederkehr jüdischer Musikmerkmale in Tzvi Avnis Five Pantomimes (1968). Die Tatsache, dass Ravel – wie er der Presse während seiner Laufbahn wiederholt erklärte62 – nicht jüdisch war, kann als eine weitere Umkehrung gesehen werden, die utopische Tropen der Reinheit widerlegt.63 Doch Idelsohn war streng gegenüber Arrangements, die »die Echtheit des Stücks« nicht achteten; er erwartete vom Arrangeur, den Geist des Stücks in sich aufzunehmen, das Instrument der Melodie unterzuordnen und »nur solche Modulation, Progression und harmonische Kombinationen zu verwenden« wie das ursprüngliche Lied. Untaugliche Harmonisierung betrachtete er als eine Karikierung der Melodie; dem Künstler stehe es nicht zu, »den Ursprung des Lieds zu vergessen« oder »die Atmosphäre zu verletzen, die es dort umgab«.64 Idelsohn ging davon aus, gemäß einem von osteuropäisch-jüdischen Komponisten entwickelten System der Harmonisierung habe sich die »Harmonie dem jüdischen Lied angepasst«, und führte Ravels »Die alte kasche« als ein Beispiel dafür an, wie die mangelnde Vertrautheit des Komponisten mit dem Geist des Lieds ein angemessenes Arrangement verhinderte. 65 Um die seines Erachtens »richtige« Art von Harmonisierung des Ahava Raba (des freygishen Shteyger, vgl. Beispiel 1.1) zu demonstrieren, verwendete Idelsohn ein Arrangement desselben Lieds von Alexander Schitomirski, einem Mitglied der St. Petersburger Gesellschaft für jüdische Volksmusik. Dieses Arrangement, von Idelsohn in der ersten Ausgabe seines 61 

Abraham Zvi Idelsohn, »Semitische Musik« (Hebr.), Hashiloah, 37 (1920): 492–503. Stephen Zank, Irony and Sound. The Music of Maurice Ravel, Rochester 2009, 221. 63  Darauf hatte Sachs in seinem Vortrag auf dem Ersten Internationalen Kongress für jüdische Musik hingewiesen. Akzeptiere man seine Definition jüdischer Musik, dann entledige man sich »dieses kindischen Sports, den wir überall – unter Juden wie Christen – sehen, gute christliche Komponisten nachträglich zu beschneiden, ein gänzlich sinnloses und […] betrügerisches Unterfangen«. Vgl. Sachs, Ethnomusicology Applied to Jewish Music, 16. 64  Abraham Zvi Idelsohn, Jewish Music. Its Historical Development, New York 1929, 460– 462. 65 Idelsohn, Jewish Music, 465, 485 f. 62 

39

Ästhetische Grenzen

Beispiel 1.3: Alexander Schitomirskis Arrangement von »Die alte kasche«, T. 1–4. Andante. m 104=e Langsam.

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Kapitel 1:  Hava Nagila?

Beispiel 1.4: a) Freygish auf Fis; b) Ahava Raba auf Fis; c) Oktatonische Kollektion in »L’énigme éternelle« (Kollektion I, nach Ravels chromatischer Notation).

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ter weist das Ostinato eine wiederkehrende übermäßige Sekunde auf (Ais–G, die aus jeder der Schichten in den Beispielen 1.4a–c stammen könnte) und einen E-Moll-Nonenakkord, der die doppelte Funktion erfüllt, auf die Diatonik hinzudeuten und sich auf das Ahava Raba zu beziehen (Beispiel 1.4d). An manchen Stellen verändert die oktatonische Kollektion das Ostinato leicht, wenn Ravel in der Begleitung vom Cis zum C wechselt (Beispiel 1.4d, T. 9); und am Ende dieser Phrase ist es der Ahava-Raba-Shteyger, der es Ravel erlaubt, durch die Einführung von D über die oktatonische Kollektion hinauszugehen (Beispiel 1.4d, T. 11). Der mittlere Teil des Lieds wird durch eine figurative Dominante auf H punktiert, die zugleich auf dem Shteyger und der oktatonischen Kollektion aufbauende Nonenakkorde auf G und A einführt. Ravel war der Ansicht, seine Arrangements hebräischer Lieder könne man nicht als »einfach« betrachten, da es bei ursprünglich unbegleiteten Motiven dieser Art »die Begleitung ist, die zählt«.67 Idelsohn jedoch sah in Ravels Arrangement einen »ultramodernen Stil, ohne Achtung für die Tonleiter und den Charakter des Modus«. 68 Dabei ging es nicht um die Abstammung des Komponisten (Idelsohn war der Überzeugung, dass Ravel »seine jüdische Herkunft verleugnet«) 69 oder um »Rasse«, Idelsohn zufolge ohnehin keine Gewähr für originelle Musik (»Sie dient lediglich als fruchtbarer Boden, der, wenn er mit den Samen der geistigen Kultur dieser Rasse besät wird, einzigartige Früchte hervorbringt«). Vielmehr erwartete Idelsohn von Komponisten, dass sie sich mit den von ihm geborgenen Melodien vertraut machten und sie in einer Weise arrangierten, die auf die Zukunft der hebräischen Nation statt auf die assimilatorische Vergangenheit hindeutete. Ravels Arrangement von »Die alte kasche« verdeutlichte jedoch nicht nur Idelsohns nationale und ästhetische Beschränkungen. Im kulturellen Raum der modernen europäisch-jüdischen Kunstmusik machte es die Darstellung jüdischer Identität unabhängig von einer jüdischen Herkunft des Komponisten komplizierte so die Definition dieser Musik. Ravel lieh sich die Stimme einer Minderheit und bekräftigte sie durch die Sprache der Mehrheit, der er selbst angehörte. Dieser Prozess zog nicht nur eine Modernisierung des Lieds nach sich, sondern lief auch chauvinistischen Vorstellungen des »Französischen« zuwider, wie sie beispielsweise in den xenophoben Bildern deutlich werden, die Debussy mit der klanglichen Präsenz jüdischer Komponisten verband. In einem Brief an Robert Godet vom 9. Juni 1913 schilderte Debussy seine Begegnung mit dem Komponisten Ernest Bloch im Théâtre des Champs-Élysées. Bloch habe »immer noch den niedlichen Fimmel, einem mit dieser hohlen Stimme Leute vorzustellen, über die man erstaunt erfährt, sie seien ›ein Freund von Godet‹. Da übertreibt 67  Ravel an Lucien Garben (8. Mai 1916), in: Arbie Orenstein (Hg.), A Ravel Reader. Correspondence, Articles, Interviews, New York 1990, 166. 68 Idelsohn, Jewish Music, 486. 69  Abraham Zvi Idelsohn, Is There a Jewish Music? In the Support of the View that Race alone does not Create Originality, New Palestine (5.4.1929): 285 f.

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er wohl!!!«70 Drei Jahre später (4. September 1916) schrieb er wiederum an Godet: »Der oberste Vertreter des Stammes B. [Bloch] hat mich letzten Monat besucht, bevor er nach Amerika abgereist ist. […] Er hat immer noch diese Stimme eines Eunuchen, der in einen Serail platzt. Er stilisiert sie sogar… Dieser Mann wird es noch nach oben schaffen und auf der Straße Ringe verkaufen, dieser glänzende Kosmopolit, um den uns Europa beneidet.«71 Wenn er Bloch reden hörte, fragte sich Debussy, wie Godet »diesen Mann ertragen konnte, der zugleich einem Handelsreisenden und einem gefährlichen Irren ähnelt«. Einige Monate später, als sich Bloch in New York niederließ, fragte sich Debussy in einem weiteren Brief an Godet (11. Dezember 1916), ob »der Aufenthalt des Oberhaupts des Stammes B. in Amerika nicht vielleicht einen Fortschritt bewirken, seine Seele erweitern wird? Ob es ihm vielleicht einen Stimmbruch beschert? Damit er nicht mehr diese Stimme eines verzweifelten Papageien hat, die jede kleinste Äußerung von ihm so unangenehm macht.«72 Paradoxerweise schöpfte Debussy, der sich mit Pelléas et Mélisande dem Einfluss Wagners entziehen konnte, bedenkenlos aus dessen Diskurs, wenn es um die jüdische Präsenz in der französischen Musik des frühen 20. Jahrhunderts ging: Wir sind der musikalischen Tradition unseres Volkes seit anderthalb Jahrhunderten untreu. […] Wieviel parasitärer Pflanzenwuchs überwucherte und erstickte die feinen Zweige des Stammbaumes unserer Kunst und täuschte den unaufmerksamen Beobachter! Denn unsere Nachsicht gegenüber den Eingebürgerten kennt keine Grenzen. In der Tat besitzen wir seit Ramenau keine eigentliche französische Tradition mehr. Sein Tod hat den Ariadnefaden durchrissen, der uns den Weg wies im Labyrinth der Vergangenheit. Von da an haben wir aufgehört, unseren Garten zu bestellen. Wir haben den Handlungsreisenden aus aller Welt die Hände geschüttelt, haben respektvoll ihren Anpreisungen gelauscht und ihre Klamotten gekauft. […] Wir haben Prozeduren des Tonsatzes übernommen, die unserem Geist völlig fern standen, sprachliche Übertreibungen, die unserem Denken wenig zuträglich waren, wir haben die Aufblähung des Orchesters geduldet, die malträtierten Formen, den großen Aufwand und die schreienden Farben… und wir standen im Begriff, noch verdächtigere Naturalisierungsurkunden zu unterschreiben, als die Kanonen barsch das Wort an sich rissen!73

Durch Debussys Artikel zog sich, wie Taruskin bemerkt hat, ein verbrämter Antisemitismus.74 Der ausländische Händler (der Jude als Profiteur), das Übermaß an Sprache (Wagner zufolge eine Verfälschung der Quelle, der Dichtung und Musik entspringen) und die Einbürgerung des Komponisten (die Bedro70  Claude Debussy, Correspondance 1872–1918, hg. v. Denis Herlin/François Lesure, Paris 2005, 1619 (meine Hervorhebung). 71 Debussy, Correspondance, 2022 f. (meine Hervorhebung). 72 Debussy, Correspondance, 2057 (meine Hervorhebung). 73  Claude Debussy, Endlich allein! [1915], in : ders., Monsieur Croche. Sämtliche Schriften und Interviews, übers. v. Josef Häusler, Stuttgart 1991, 264–266. 74  Richard Taruskin, The Oxford History of Western Music, Bd.  4, Oxford 2005, 105; Anya Suschitzky, Ariane et Barbe-Bleue. Dukas, the Light and the Well, Cambridge Opera Journal, 9 (1997): 133–161.

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hung schlechthin für Debussys soziales Phantasma) – all dies waren, wenngleich etwas subtiler als in Debussys Briefen, Chiffren für die Musik Schönbergs, Mahlers und Blochs. Ravels Hinwendung zum jüdischen Osten Europas überwand solche ausgrenzenden Kategorien und gab dem jiddischen Lied durch einen vielsprachigen, horizontalen und inklusiven kulturellen Ansatz einen Ort in der modernen französischen Musik, ganz unabhängig von einer »Opposition« zur Mehrheit und ihren nationalistischen Hierarchien (wie es das Verständnis von Deleuze und Guattari vorsehen würde). Ravels und Idelsohns Gestalten des »Ostens« trafen sich in Osteuropa – dem Ort, der die grenzüberschreitende Kreativität moderner jüdischer Komponisten animierte. Ob real erfahren oder imaginiert, er erfüllte mehrere Funktionen: Er war eine Metonymie für eine vom Westen unberührte soziale Geltung, symbolisierte eine Verbindung zu den Vorfahren der Komponisten und wurde als eine alternative Realität wahrgenommen, die Nostalgie weckte und zugleich implizit eine Kritik des Westens bot. Osteuropa war somit zugleich ein Ort der Erinnerung und des Verlusts, der Anziehung und Abstoßung, der Inspiration und des Abscheus. Verfolgt vom Wagnerschen Vorwurf des Lärms, stellte die »ästhetische Affirmation des Judentums«75 in diesem Osten für Juden ein zweischneidiges Schwert dar: Während es für akkulturierte Westjuden zum Sinnbild für Verlust und begehrenswerte Authentizität wurde, sahen Nichtjuden in ihm das demaskierte asiatische Gesicht von Juden schlechthin. Dennoch ermöglichte ein neues, idealisiertes Bild der Ostjuden es westeuropäischen Juden, ihre Identität und Wurzeln sowie ihre osteuropäischen Brüder neu zu betrachten. Symptome dieses Phänomens zeigten sich darin, wie Komponisten ihr Selbst durch die osteuropäische Klanglandschaft reproduzierten, rekontextualisierten und recycelten, wobei sie aus Centonisierungen schöpften, die nunmehr auch den Westen einschlossen. Selbst die Historiografie der modernen jüdischen Kunstmusik folgte dem und erklärte Osteuropa zum wichtigsten Seismografen für das Jüdische in der Musik. Trotz der Adaption westlicher Kultur durch Juden wurde ihre »östliche Herkunft nie ganz vergessen oder vergeben«, schreibt Mendes-Flohr; auch die feierliche Prägung des Begriffs »Antisemitismus« hob diese Herkunft hervor. Beständig an die für sie belastende Vormodernität ihrer osteuropäischen Brüder erinnert, hatten westliche Juden die dem jüdischen Osteuropa zugeschriebenen Stereotype allmählich selbst verinnerlicht: Bilder mangelnder Reife und einer »Welt, die sich durch Elend, Unwissenheit und Aberglaube auszeichnete und von einer fanatischen mystischen Sekte namens Chassidismus beherrscht wurde«. Diese Bilder lösten bei ihnen starke Irritation und Verlegenheit aus, woraus sowohl die Reformbewegung als auch furchtbare Ausdrücke von jüdischem Selbsthass hervorgingen. Gleichzei75  Paul Mendes-Flohr, Fin-de-Siècle Orientalism, the Ostjuden, and the Aesthetics of Jewish Self-Affirmation, Studies in Contemporary Jewry, 1 (1984): 120.

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tig jedoch »bot ein neues, positives Bild des Ostens, genährt vom Ästhetizismus des Fin de siècle, eine gute Gelegenheit, das Bild des Juden als Orientalen neu zu betrachten« und einer jüdischen Umwertung zu unterziehen. In diesem Kontext war es der Philosoph und Theologe Martin Buber, eine herausragende Figur, der dem Chassidismus spirituelle Tiefe und Respektabilität gab, indem er die »osteuropäische jüdische Spiritualität in den allgemeinen Diskurs und das Idiom der Neuromantik (und später des Expressionismus)« integrierte. Möglich wurde dieser Wandel durch »vorteilhafte Vergleiche zwischen den chassidischen Anschauungen und anderen von der Neuromantik geschätzten mystischen Traditionen«. Für Buber stellte die chassidische »Dialektik zwischen der subjektiven Erfahrung von Einheit und dem Bemühen, diese Erfahrung auf die objektive Welt auszudehnen«, die grundlegendste Empfindung des Juden dar und machte »die bleibende Bedeutung des Judentums für die Menschheit« aus; so betrachtet hatten selbst entwurzelte, den rabbinischen Lehren entfremdete westliche Juden ihr Judentum nicht aufgegeben.76 Rund fünfzig Jahre nachdem er Die Geschichten des Rabbi Nachman (1906) und Die Legende des Baalschem (1908) veröffentlicht hatte, erklärte Buber, er habe angesichts des »zwar rohen und ungelenken, aber volkstümlich lebendigen Ton[s], der aus diesem Material zu vernehmen war«, den »roh und gestaltlos überlieferten Stoff« in einer Weise nacherzählt, die sich »nicht aus literarischen Voraussetzungen […] entwickelt [hat], sondern aus der schlichten Notwendigkeit, einer objektiven Wirklichkeit den ihr zukommenden sprachlichen Ausdruck zu verschaffen«.77 Dabei habe »das unwillkürliche Erzeugnis bildnerischen Sehens und bildnerischen Erinnerns« die Form des Mythos angenommen, erzählt von der Schwelle aus: »Um das Vernommene in die Welt zu sprechen, bin ich nicht gehalten, auf die Straße zu treten, ich darf in der Tür meines angestammten Hauses stehenbleiben; auch das hier gesprochene Wort geht nicht verloren.«78 Diese starke Metapher öffnet gewissermaßen ihrerseits die Tür zu dem, was Martina Urban als Bubers »Ästhetik der Erneuerung« sieht. Seine ahistorische, von einem generationenübergreifenden Band durchzogene Wiedergabe und Paraphrase chassidischer Erzählungen war ein integraler Bestandteil seines hermeneutischen Programms und Ergebnis eines Fokus auf die Darstellung spiritueller Strukturen (ähnliche symbolische Strukturen finden sich in sämtlichen Geschichten des Rabbi Nachman und ergeben zusammen einen theurgischen Überbau).79 Bubers vorrangiges Anliegen, bemerkt Ur76 

Mendes-Flohr, Fin-de-Siècle Orientalism, 100–107. Buber, Der Chassidismus und der abendländische Mensch, in: ders., Schriften zum Chassidismus, Werke, Bd.  3, München 1963, 935, 937. 78  Buber, Der Chassidismus und der abendländische Mensch, 946. 79  Martina Urban, Aesthetics of Renewal. Martin Buber’s Representation of Hasidism as Kulturkritik, Chicago 2008, 3. Auf seine Art der Nacherzählung ging Buber erstmals in der Einleitung zu Die Geschichten des Rabbi Nachman (1906) und in »Mein Weg zum Chassidismus« (1918) ein. Er begründete sie damit, dass die Geschichten in ihrer Überlieferung »ent77  Martin

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ban, bestand in einer Neubewertung jüdischer spiritueller Empfindungen und geistiger Orientierungen, verbunden mit einer grundlegenden Erneuerung des Individuums: »Als Hauptmedium für kulturelle Erinnerung und Identitätskonstruktionen kam der Literatur entscheidende Bedeutung zu, um dieses Ziel zu erreichen. Sie war für Buber das wichtigste Medium, um Richard Wagners Vorwurf, den Juden mangele es an poetischem Geist, zu widerlegen.« Im Bewusstsein des engen Zusammenhangs zwischen der antisemitischen Rede von einer jüdischen Moderne und der »Judenfrage« stellte Buber eine solche Sprache infrage, indem er durch eine Hinwendung zur unmittelbaren Erscheinung von Objekten, die »den ästhetischen Akt von begrifflichem und propositionalem Wissen unterschied«, die »jüdische Wiedergeburt als ein spezifisches Kennzeichen der Moderne« darstellte. Seine chassidischen Schriften erreichten daher zwei Ziele (die sich in gewissem Maße mit Idelsohns musikethnologischer Dokumentation überschnitten): Sie förderten eine »anthologische Form der Darstellung« für das erneuerte Bewusstsein des Kulturzionismus und einen Modus der Kritik, der »Kritiken der Moderne, ästhetische Theorien und die Schaffung einer spezifisch jüdischen kulturellen Moderne verband«.80 Bubers Selbstverortung an der Schwelle (»in der Tür meines angestammten Hauses«) war eine sorgfältig gewählte Formulierung, durch die er die Distanz zwischen sich und seinen Vorfahren bildlich ausdrückte – ein Raum, in dem Buber durch ihre Stimme die eigene fand,81 und eine unsichtbare Grenze, von der aus er anthologisch erfassen, formen und gestalten konnte, was ursprünglich formlos gewesen war. Aus dieser Perspektive betrachtet war es, wie Urban schreibt, »sein letztendliches Ziel, die traditionelle Textzentriertheit der jüdischen Kultur in die Rhythmuszentriertheit der Poesie zu überführen, das heißt in eine neue Praxis des Lesens, in der die rhythmischen Kadenzen der Poesie ebenso sehr im Mittelpunkt stehen und die in einem nietzscheanischen Geist die dynamische, innere Lebenskraft der Kultur erfasst«. 82 Ähnlich wie bei Idelsohn rückten die Tür zu den Vorfahren und die Pfade, die zu ihnen hin und von ihnen fort führten, die orale östlich-jüdische Kultur an die westliche Schriftkultur und kanonische Autorität heran, indem Fragmente wieder in einer einheitlichen Interaktion zusammengeführt wurden. Und wie bei Achad-Ha’am folgte Bubers und Idelsohns Appell zu einer Wiederbelebung religiöser Traditionen aus der Erkenntnis, dass die soziale, kohäsive Form der jüdischen Religion ihre Kraft verloren hatte; auch wenn sich ihre Motive und ihr Umgang mit Rohmastellt und verzerrt« worden seien – eine Entstellung ihres »Inhalts durch allerlei utilitaristische und vulgärrationalistische Einschläge« sowie »der Form durch […] Trübung der reinen Farben«. Vgl. Buber, Die Geschichten des Rabbi Nachman, Frankfurt a. M. 1906, 1; ders., Mein Weg zum Chassidismus, in: Schriften zum Chassidismus, 968. 80 Urban, Aesthetics of Renewal, 3 f., 8. 81  Arnold M. Eisen, Rethinking Modern Judaism. Ritual, Commandment, Community, Chicago 1998, 184–188. 82 Urban, Aesthetics of Renewal, 12.

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terialien unterschieden, deuteten die Arbeiten beider auf Wege zu einer Überwindung der Assimilation zugunsten von Akkulturation hin. Hatte Buber, oder vielleicht sogar Idelsohn, Moritz Oppenheims Gemälde Der Dorfgeher (1863) vor Augen? Es war eine ähnliche Schwelle, von der aus Oppenheim jüdische Tradition und ein von Druck und Konflikten mit der Umgebungsgesellschaft unbeschwertes Berufsleben bildlich darstellte.83 Der Händler tritt aus der Tür hinaus, auf deren Bogen eine Inschrift erkennbar ist (5. Buch Mose, 28:6: baruch ata bevoecha ubaruch ata betzetcha, »Gesegnet bist du, wenn du heimkehrst, gesegnet bist du, wenn du ausziehst«), küsst die Mesusa – die Schriftkapsel am Türpfosten, die die Inschrift ergänzt –, während sein Sohn einem bedürftigen barfüßigen Christen etwas Geld gibt. Diesem gegenüber steht ein vermutlich jüdischer Bettler, der, wie der Betrachter annehmen muss, im nächsten Moment etwas Zedaka (Wohltätigkeit) vom Vater empfangen wird. Wie Ismar Schorsch schrieb: »Hier herrscht kein doppelter Maßstab: Not bedarf, ohne Ansehung des Glaubens, der Linderung«. Den Werten der Mittelschicht entsprechend war »Oppenheims Händler kein Höker oder Krämer, sondern ein respektabler, gutgekleideter reisender Kaufmann, dessen Verhalten von Redlichkeit und Integrität zeugte«.84 Die Platzierung von Vater und Sohn an der Schwelle deutete auf einen ununterbrochenen Weg hin, der sich von der Tür aus erstreckte, und harmonierte sowohl mit den Symbolen, die ihre Verpflichtungen einrahmten (und so dem Hintergrund mehr Tiefe verliehen), als auch mit der vor ihnen liegenden Außenwelt. Buber verstand das Hinaustreten (ek-stasis) als die innerste Erfahrung: unsagbar, unaussprechlich, doch symbolhaft für die Mythen der Veden und Upanischaden, des Midrasch und der Kabbala, von Platon und Jesus.85 Der Chassidismus befand sich dieser Logik zufolge im Einklang mit den vorherrschenden kulturellen Orientierungen; er trieb die Verdrängung des Textes voran und markierte einen Weg, der durch die Schaffung neuer Formen von der Schwelle zu den Werten der europäischen Hochkultur führte. Bubers postassimilatorische Einstellung drückte allerdings auch seinen Einspruch gegen den historisch-philologischen Positivismus aus, der sich mit der von einer neuen Riege von Orientalisten vollzogenen Wende verband. Wenn wir den Blickwinkel über Bubers und Idelsohns Ästhetik der Erneuerung hinaus erweitern, sehen wir, dass die Hinwendung zum Osten ein allgemeines Symptom war, das auf die Artikulation des Jüdischen wie auch auf seine Desartikulation durch Komponisten abfärbte, die aus der Distanz auf die Schwelle ihrer Vorfahren blickten. Der deutsche Orientalismus, schreibt Suzanne Mar83 

Richard I. Cohen, Jewish Icons. Art and Society in Modern Europe, Berkeley 1998, 167. Ismar Schorsch, From Text to Context. The Turn to History in Modern Judaism, Hanover 1994, 103, 106. 85  Martin Buber, »Ekstase und Bekenntnis«, in: ders., Ekstatische Konfessionen, Werkausgabe Bd.  2.2, Gütersloh 2012, 50–59. 84 

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chand, »trug dazu bei, die westliche Selbstzufriedenheit zu zerstören und eine bedeutsame Veränderung in der Kultur des Westens hervorzurufen: die Aufgabe des Christentums und der klassischen Antike als universelle Normen«.86 In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg trat eine neue Gruppe von Gelehrten hervor, der Marchand den Spitznamen »rasende Orientalisten« gegeben hat. Nach 1860 geboren, hatten ihre Mitglieder es gelernt, den Orient aus einer nichtbiblischen Perspektive zu sehen; sie zeigten weniger Respekt vor den Grenzen zwischen Disziplinen und bezogen die materielle Kultur, psychologische und ethnologische Erkenntnisse sowie orale und folkloristische Traditionen in ihre (erfolgreich popularisierten) Werke ein. Diese kleine Gruppe von Männern bewegte sich im Kaiserreich auf einem expandierenden und sich diversifizierenden kulturellen Markt; sie besuchte Eliteschulen, verschlang große Mengen Fachliteratur und suchte akademische Anstellungen in einer Zeit, als die Universitäten mit der nach 1870 einsetzenden Ausweitung der höheren Schulbildung nicht mehr Schritt halten konnten. Hinzu kam das stärker werdende Gefühl, dass »der griechische Individualismus und Rationalismus sich letztlich in ungesundem Egoismus und einem oberflächlichem Spiel mit Worten erschöpfte. Selbst die römische Geschichte schien nunmehr kurz, seicht und ermüdend bekannt. Insgesamt neigte diese Gruppe daher zu Widerspenstigkeit oder sogar zu einer Auflehnung gegen die liberale, rationale und philhellenische Kultur ihrer Ahnen«; sie erkannte den Niedergang einer abgenutzten eurozentrischen Weltanschauung.87 Doch schon bevor Marchand von »rasenden Orientalisten« sprach, war der Akt der Selbstorientalisierung (oder der Autoexotismus) als ein Zug des Denkens jüdischer Gelehrter bekannt, die bemüht waren, den politischen und kulturellen Zionismus im Altertum zu verankern und die chassidische Ästhetik zu erneuern. Buber und in gewissem Maß Idelsohn gehörten zu einer Gruppe, die entstand, »als nach der Reichsgründung nervöse (auch koloniale) Bestrebungen in den Vordergrund traten, die klassische Bildung und der wissenschaftliche Positivismus unter Beschuss gerieten und neue, intensive Sammel-, Editionsund Publikationsarbeiten ein riesiges ›orientalisches‹ Arsenal erschlossen«.88 Während nichtjüdische Gelehrte den biblischen Monotheismus infrage stellten und durch ihr Verständnis »des Orients« gegen die Auslegung des Alten Testaments protestierten, zählten Gelehrte des jüdischen Geistes (die anders als katholische und evangelische Theologen notgedrungen außerhalb der Universitäten arbeiteten) zu den ersten »rasenden Orientalisten«, die bestimmte »Wahrheiten« über die Geschichte des Westens untergruben. So rückten Theorien 86  Suzanne Marchand, German Orientalism and the Decline of the West, Proceedings of the American Philosophical Society, 145.4 (2001): 465. 87  Suzanna Marchand, German Orientalism in the Age of Empire. Religion, Race, and Scholarship, Cambridge 2009, 212–215. 88 Marchand, German Orientalism, 215 f.

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über die Inder, Assyrer, Perser und Ägypter des Altertums zulasten der alten Hebräer ins Zentrum des Interesses, während Vertreter der »Wissenschaft des Judentums«, ernüchtert über die Assimilation, eher deren einzigartige orientalische Facetten betonten als Gemeinsamkeiten mit dem abendländisch-rationalen Christentum. 89 Die intellektuelle Geschichte des Zionismus war unterdessen auch ein Produkt des orientalistischen Knüppels, mit dem Houston Stewart Chamberlain auf den vorherrschenden klassischen Humanismus eindrosch und eine rassistische, anstelle klassischer Studien »arisches Blut« hervorhebende Gegengeschichte formulierte. Mit dieser Untergrabung der biblischen Grundlagen europäischer Identität sowie der griechischen Welt des 19. Jahrhunderts hatte der Orient Anteil an einer signifikanten Veränderung der deutschen Rhetorik über Identität.90

Ein neuer Blick auf Bloch In dem Kontinuum jüdischer Identitäten, die aus musikalischen und literarischen Verzweigungen des Wagnerschen Diskurses entstanden, fand ein Spektrum philosemitischer und antisemitischer Stimmen einen Widerhall, das sich einer binären Reduktion entzieht. Unter dem Vorzeichen des orientalistischen Furors wurde der Exotismus positiv gewendet, wobei die wachsende Achtung des Heidentums illustriert, dass der Prozess des Autoexotismus über ein bloßes jüdisches Epiphänomen hinausging; und auch wenn diese Verschiebung das Potenzial zur Deterritorialisierung nationaler Musik hatte – oder wenigstens zur Untergrabung der binären Gegensätze, die der Zuschreibung von Musikmerkmalen an Zugehörige und Außenstehende zugrunde liegen –, stand der aufkommende »rasende Orientalismus« in starkem Widerspruch zu einer weiterhin in nationale Wesenheiten vernarrten Periode, wie Blochs Dialektik und seine Gesten des Widerstands in Europa zeigen. Die unterschiedlichen Bildungseinflüsse, die der Komponist erfahren hatte, ließen ihn zwischen französischer und deutscher Ästhetik umhertreiben. Aufgewachsen in Genf, studierte er dort bei Émile Jaques-Dalcroze, danach in Brüssel bei Eugène Ysaÿe und François Rasse, in Frankfurt bei Iwan Knorr und schließlich in München bei Ludwig Thuille und Max von Schillings. Letzterer hatte Blochs Symphonie in Cis-Moll 1903 aufgrund ihres Mangels an einem erkennbaren nationalen Charakter verworfen, womit er die Reaktion von Kritikern auf die zwei Sätze des Werkes vorwegnahm, die im selben Jahr auf einem Festival für Schweizer und deutsche Musik in Basel aufgeführt wurden.91 Blochs erste Oper Macbeth 89 Marchand,

German Orientalism, 115 f., 220 f. Marchand, German Orientalism and the Decline of the West, 469–473. 91 Klara Móricz, Jewish Identities. Nationalism, Racism, and Utopianism in Twentieth-Century Music, Berkeley 2008, 99. 90 

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(1904/09) ereilte in Paris ein ähnliches Schicksal: Sie wurde ebenfalls als nationaler Mischmasch rezipiert. Seine wenigen Unterstützer (Guido Gatti, Maria Tibaldi Chiesa und Romain Rolland) essentialisierten dieses stilistische Amalgam und sahen darin ein Sinnbild für den wandernden Juden, doch der Misserfolg von Macbeth ließ Bloch näher an Wagners gesellschaftliches Phantasma rücken, was wiederum seinen kompositorischen und ästhetischen Ansatz in den folgenden Jahre prägte.92 Bei dieser Wende kamen zwei Einflüsse zusammen: Edmond Flegs Spielart des Kulturzionismus, die einer antiassimilatorischen Einstellung nach der Dreyfus-Affäre entsprang, und Houston Stewart Chamberlains teutonische Prophetie Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts, die Bloch in Robert Godets Übersetzung las. Doch während Fleg durch seinen orthodoxen Hintergrund in Genf dazu geführt wurde, ungeachtet seiner Hingezogenheit zum Christentum, französischem Nationalismus und Zionismus den Kern der jüdischen Tradition in religiösen Bräuchen auszumachen,93 war dieser Kern Bloch – Kind eines atheistischen Vaters und einer Mutter ohne religiöse Überzeugungen –,94 kaum bekannt. Zudem war die Schweiz das einzige französisch besetzte Gebiet und später der einzige Staat in diesem Teil Europas, der sich der Judenemanzipation verweigerte. Mit der Annahme der neuen Verfassung am 29. Mai 1874 erreichten die Juden dort zwar die vollen Bürgerrechte, doch wie Jonathan Steinberg schreibt, bedeutete das präzedenzlose Verbot koscheren Schlachtens im Jahr 1893, das die damals 8.000 Schweizer Juden betraf, dass sie »die vollständige Emanzipation erst 1973 erreichten, als ein neues Tierschutzgesetz den bisherigen Artikel 25bis der Schweizer Bundesverfassung ersetzte«.95 Angesichts einer geringen jüdischen Präsenz außerhalb der Mauern der Orthodoxie mangelte es Bloch an kritischen Werkzeugen, um in seinem späteren Leben die jüdischen und antisemitischen Strömungen beurteilen zu können, die seine Wende zu Wagner und jüdischen Topoi beeinflussten. Infolgedessen zog er sich auf eine Idealisierung der osteuropäischen Juden zurück (die seit den 1880er Jahren in wachsender Zahl in die Schweiz einwanderten) 96 und verinnerlichte ihre akustischen Kennzeichen durch fremde Blicke auf das Jüdische in der Musik und durch Rassevorstellungen. Blochs Erinne92 Móricz,

Jewish Identities, 100–103. Leon I. Yudkin, Public Crisis and Literary Response. The Adjustment of Modern Jewish Literature, London 2001, 75–82; Edmond Fleg, Warum ich Jude bin, übers. v. Mimi Zuckerkandl, Darmstadt 1981; vgl. auch Yaniv Hagbi, The Book of Edmond. Manifestations of Edmond Fleg’s Worldview in his L’Anthologie Juive, in: Hillel Weiss/Roman Katsman/Ber Kotlerman (Hg.), Around the Point. Studies in Jewish Literature and Culture in Multiple Languages, Cambridge 2014, 212–230. 94 Móricz, Jewish Identities, 104; David Z. Kushner, The Ernest Bloch Companion, Westport 2002, 13 f. 95  Jonathan Steinberg, The Swiss and the Jews: Two Special Cases?, Leo Baeck Institute Yearbook, 52 (2007): 196, 203–205. 96  Uri Robert Kaufmann, Swiss Jewry. From the »Jewish Village« to the City, 1780–1930, Leo Baeck Institute Yearbook, 30 (1985): 290–292. 93 

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rungen an die jüdische Gemeinde in Genf – etwa an einen Oberrabbiner, den er als »den schlimmsten Antisemiten« bezeichnete, und an einen Synagogenbesucher, der im Jom-Kippur-Gottesdienst die Tribüne las – bildeten eine Quelle von Abscheu wie Anziehung; ferner belegen sie die ebenso aufschlussreiche Tatsache, dass Bloch nur selten in die Synagoge ging (und somit die Dynamik jüdischer Gemeinden und den Gottesdienst selbst kaum kannte), in der Zeit der Hohen Feiertage – vermutlich am Jom Kippur – aber durchaus. Solche Begegnungen müssen ihn entfremdet und seine romantische Wahrnehmung bedroht haben, die, wie Klara Móricz treffend schreibt, in »Voreingenommenheit gegenüber dysfunktionalen, heuchlerischen Institutionen und einem abstrakten, ungetrübten Glauben an eine übernatürliche, das menschliche Schicksal bestimmende Kraft« bestand.97 Am erstaunlichsten ist allerdings, dass Bloch in seinen Erinnerungen nirgends die Musik erwähnt, die er in der Synagoge hörte, vom Jom-Kippur-Gottesdienst, der beinahe den ganzen Tag dauert, ganz zu schweigen (blieb er bis zum Schluss?). Wie der aschkenasische Nusach (die je nach Gemeinde und Jahreszeit variierenden Rezitative und Melodien) während Blochs Besuchen auch im Einzelnen gestaltet worden sein mag, generell wird die Liturgie am Jom Kippur durch festliche, virtuose Darbietungen und Pijjutim (nachbiblische hebräische liturgische Dichtungen) substanziell und einzigartig erweitert. Wusste Bloch diese merklich andere Liturgie, deren Eröffnung – das Kol-Nidre-Gebet – er durch Max Bruchs Konzert gekannt haben könnte, zu schätzen? Dass er sich an einen Zeitung lesenden Gottesdienstbesucher erinnerte und nicht an die von der Bima, der Kanzel (Omed) oder den Bänken erschallenden Klänge, macht Blochs Entfremdung deutlich. Ohne Kenntnis des Hebräischen oder der jüdischen Liturgie konnten sich allein die im antisemitischen Diskurs vorherrschenden Bilder in seinem Kopf festsetzen.98 Während Nichtjuden wie Benedetto Marcello und Wagner oder Juden wie Heine und Herzl Momente lärmender oder harmonischer Musik festhielten, die sie aus der Synagoge hörten (oder sich vorstellten),99 wurde Bloch durch mangelnde Vertrautheit mit der Liturgie ironischerweise auf exotische Stereotype zurückgeworfen. 1912 schrieb er an 97 Móricz,

Jewish Identities, 104. etwa die Auseinandersetzung mit visuellen Bildern von Juden im frühen 20. Jahrhundert in Todd Samuel Presner, Muscular Judaism. The Jewish Body and the Politics of Regeneration, London 2007, 1–23. 99  Edwin Seroussi, In Search of Jewish Antiquity in the 18th-Century Venetian Ghetto. Reconsidering the Hebrew Melodies in Benedetto Marcello’s Estro Poetico-Armonico, Jewish Quarterly, 93.1–2 (2002): 149–199; Don Harrán, The Hebrew Exemplum as a Force of Renewal in 18-Century Musical Thought. The Case of Benedetto Marcello and his Collection of Psalms, in: Andreas Giger/Thomas J. Mathiesen (Hg.), Music in the Mirror. Reflections on Music Theory and Literature for the 21st Century, Lincoln 2002, 143–194; Heinrich Heine, Prinzessin Sabbat, in: ders., Sämtliche Schriften, Bd.  6 .1, München 2005, 125–129; ders., Der Rabbi von Bacherach, in: Sämtliche Schriften, Bd.  1, München 1997, 459–501, Herzl, Altneuland, 287 f. 98  Vgl.

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Godet: »Ich persönlich bewundere den jüdischen Geist mehr im armen, hungernden Hausierer, der von Stadt zu Stadt zieht und das Fleisch ablehnt, das ihm die Gojim anbieten! […] Wäre ich allein, ohne Frau, ohne Kinder […], ich würde in eine arme Gemeinde alter Juden umsiedeln, die rein und streng sind, in der Türkei, wo auch immer! Und dort würde ich meine Arbeit verrichten.«100 Was er 1932 über den zweiten Abschnitt seiner Rhapsodie Schelomo bemerkte, illustriert seine Position des Außenstehenden noch klarer: »es ist ein Motiv, das mein Vater auf Hebräisch sang; die Bedeutung der Worte kenne ich nicht. Ist es der Ruf des Muezzin? Dieses merkwürdige Motiv des Fagotts, das später das Orchester durchdringt. Sind es die Priester?«101 Solche Deutungen musikalischer Metaphern, die so haarsträubend sind wie Blochs Assoziation von jüdischen Hausierern mit der Türkei, erhellen auch die begeisterten Ausführungen über seine Bibellektüre in einem Brief an Fleg von 1906: Ich habe die Bibel gelesen. Ich habe Fragmente über Moses gelesen. Und ein starkes Gefühl von Stolz überkam mich! Mein ganzes Wesen erzitterte. Es ist eine Offenbarung. Hier werde ich mich selbst wiederfinden. Ich konnte diese Lektüre nicht fortsetzen, weil ich Angst hatte. Ja, Fleg, ich fürchtete, zu sehr ich selbst zu werden, zu spüren, wie ein plötzlicher Schlag alles von mir abschüttelt, was sich nach und nach in mir abgelagert, sich an mich geheftet hat; [ich fürchtete zu sehr], mich inmitten all dieser Vergangenheit nackt zu fühlen, um mich als jüdisch, stolz als jüdisch zu bekennen […] Wer weiß? Vielleicht werden wir, Sie und ich, Freiheit von unserem Joch finden, Freiheit! Diese Musik ist in uns. Wir müssen all das, was die jüdische Seele ist, die Größe und das Schicksal dieser Rasse spüren lassen. Es ist nötig, dass ein Hauch des Vertrauens in die Zukunft aufkommt und dass die Juden Scham verspüren über das, was sie sind, über den falschen Weg, auf dem sie sich befinden […], dass sie ein Erwachen in sich fühlen. […] Als ich manche Passagen las, bedauerte ich es beinahe, nur die Musik als Mittel zu haben, durch das ich sprechen kann.102

Bloch konnte seine Vorstellungen nur durch Musik ausdrücken. Unter dem Wagnerschen Bann und angesichts geringer oder gar keiner Kenntnis der jüdischen Liturgie und ihrer Sprachen schien die unkritische Übernahme von Rassediskursen einen sichereren Ort zu bieten, an dem er sich der Vorstellung eines reinen Judentums hingeben konnte. In seiner Entfremdung unterschied sich Bloch deutlich von Juden, die über das erforderliche Wissen verfügten, um sich im Zuge einer Verinnerlichung der Wagnerschen Phantasmen gleichwohl selbst zu ermächtigen (Buber, Idelsohn), oder auch von Denkern, deren Zionismus starke Nähe zur antisemitischen Rhetorik aufwies (Herzl, Nordau),103 und genau dies ermöglichte es Godet, mit ihm zu experimentieren, während er an der 100 

Bloch an Fleg (4.2.1912), zit. n. Móricz, Jewish Identities, 105 (meine Hervorhebung). Ernest Bloch, Creative Spirit. A Program Source Book, hg. v. Suzanne Bloch/Irene Heskes, New York 1976, 51. 102 Bloch an Fleg (30.11.1906), in: Joseph Lewinski/Emmanuelle Dijon, Ernest Bloch (1880–1959). Sa vie et sa pensée, Bd.  1, Genf 1998, 369. 103  Daniel Boyarin, Outing Freud’s Zionism, or, the Bisexuality of the Diaspora Jew, in: 101 

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Übersetzung von Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts arbeitete. Tatsächlich war es Godet, der Bloch 1906 die Bibel empfahl, um ihn zur Schaffung jüdischer Kunst zu bewegen. In einem Brief von 1911, zwei Jahre vor der Publikation seiner Übersetzung, wies er Bloch auf das 5. Buch Mose hin, wobei er sorgsam einige Verse aus den Kapiteln 4, 11 und 13 auswählte, um seine christianisierte Lesart zu stützen (»das heilige Wissen um die Rasse in der Menschheit und um den Künstler innerhalb der Rasse«).104 Godets tendenziöse Zusammenstellung mehrerer Verse zu einem Abschnitt und Blochs Antwort darauf illustrieren, dass es Bloch – abgesehen von seiner Verinnerlichung eines antisemitischen Diskurses – an den grundlegenden kritischen Werkzeugen mangelte, um Godets Interpretation infrage zu stellen. Godet zitiert in seinem Brief Vers 11:26 (»Seht, heute werde ich euch den Segen und den Fluch vorlegen«), gefolgt von einer längeren Passage aus Kapitel 13, Vers 7, 9 sowie Teilen von 10 und 11. Im Original heißt es: 7 Wenn dein Bruder, der dieselbe Mutter hat wie du, oder dein Sohn oder deine Tochter oder deine Frau, mit der du schläfst, oder dein Freund, den du liebst wie dich selbst, dich heimlich verführen will und sagt: Gehen wir und dienen wir anderen Göttern – […] die du und deine Vorfahren noch nicht kannten […] 9 dann sollst du nicht nachgeben und nicht auf ihn hören. Du sollst in dir kein Mitleid mit ihm aufsteigen lassen, sollst keine Nachsicht für ihn kennen und die Sache nicht vertuschen. 10 Sondern du sollst ihn anzeigen. […] 11 Du sollst ihn steinigen und er soll sterben; denn er hat versucht, dich vom Herrn, deinem Gott, abzubringen […].

»Voilà«, schreibt Godet, »eine strenge Pflicht. Streng vorgeschrieben: […] das heilige Wissen um die Rasse in der Menschheit und um den Künstler innerhalb der Rasse.« Einen Teil von Vers 7 paraphrasierend, fragte er dann: »hat Sie der Fluch nicht etwa deshalb getroffen, weil Sie anderen Göttern gedient haben, die Sie und Ihre Vorfahren noch nicht kannten, weil Sie mit zu vielen goldenen und sogar tönernen Kälbern geliebäugelt haben?«105 Bloch wusste darauf keine Antwort. Da er diesen Teil der Tora nicht kannte, konnte er den Schluss, zu dem Godet durch das Wagnersche Paradigma gelangt war, nur akzeptieren: Assimilation ähnelte einem Götzendienst, rassische Reinheit entsprach der Buße. Tatsächlich wies Bloch elf Monate nach diesem Brief seinerseits Fleg auf die Verse 13:7–10 in einer anderen Übersetzung hin, was zeigt, dass er die Stelle nachgelesen hatte. Godets Lesart folgend schrieb er Fleg, aufgrund seines Lebens in Paris sitze er einer Illusion auf, die ihn daran hindere, »tief in sich selbst zu blicken«. Zur Untermauerung zitierte er das 3. Buch Mose, Verse 18:3–5 (ein Abschnitt über die furchtbaren Verirrungen der Kanaaniter, der mit dem Aufruf beginnt, die Gebräuche Ägyptens und Kanaans zu meiden), und ging dann zum Cindy Patton/Benigno Sánchez-Eppler (Hg.), Queer Diasporas, Durham 2000, 71–104; Max Nordau, Zionismus und Antisemitismus, Die Welt (28.7.1899). 104  Godet an Bloch (24.2.1911), in: Lewinski/Dijon, Ernest Bloch (1880–1959), Bd.  1, 535. 105  Godet an Bloch (24.2.1911), in: Lewinski/Dijon, Ernest Bloch (1880–1959), Bd.  1, 535.

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5. Buch Mose, Verse 13:7–10 über, um für die Notwendigkeit einer Trennung der Juden von ihren Umgebungsgesellschaften zu argumentieren.106 Im Kontext betrachtet ist dieses Kapitel im 5. Buch Mose eine Warnung vor dem Propheten oder prophetischen Träumer, der zur Anbetung fremder Götter aufstachelt. Es behandelt immer gravierendere Verfehlungen – von der falschen Prophetie eines Einzelnen über den Verrat an einem engen Verwandten oder geliebten Freund bis hin zur Verführung einer ganzen Gemeinschaft durch Heiden107 – und zeigt so, dass Zeichen und Wunder keine Kriterien für wahre Prophetie oder die Wahrheit sind. Auch wenn der falsche Prophet die Menschen zu der Trugvorstellung bringen kann, sein Erfolg sei gleichbedeutend mit Wahrheit, kann Wahrheit nicht durch Wunder oder augenfällige Schauspiele bewiesen werden.108 Durch die gesamte Vermittlungskette von Chamberlain über Godet zu Bloch zogen sich somit bezeichnende Fehlinterpretationen, die hinreichend Grund sind, unsere Kontextualisierung von Blochs Musik neu zu justieren. Chamberlain behauptete, das 5. Buch Mose (»eine ganz überflüssigste Ausbreitung der zehn Gebote«, wie er Luther zitierte) enthalte »die fanatisch-dogmatische Versicherung, dass die Juden allein Gottes Volk seien«, und diene »der Einführung eines Priesterregimentes«, um den »Kultus des rettenden Gottes, Jahve, fortan reinzuhalten«.109 Er las Vers 17:5 (»so sollst du den Mann oder das Weib ausführen, die solches Übel getan haben, zu deinem Tor und sollst sie zu Tode steinigen«) als »Gebot, alle ›Heiden‹, dort wo Juden wohnen, ›auszurotten‹, und jeden Juden, Mann oder Weib, der nicht rechtgläubig sei, zu steinigen«;110 dies hatte Godet vermutlich zu Kapitel 13 geführt, aus dem Chamberlain nicht zitiert. Wie die oben angeführte Passage aus diesem Kapitel zeigt, war dies weder ein Gebot noch eine Lizenz zu töten. Auch wenn dort ein rechtliches Verfahren nicht erwähnt wird,111 betrifft dieses Gesetz mit der Todesstrafe zu ahnende politische Verschwörungen, für die es Zeugen geben muss; es ließe sich auch als Kommentar zum Wert der Wahrheit in Fällen einer mit bildlichen Darstellungen verbundenen Apostasie lesen, selbst wenn sie von Angehörigen, Ehepartnern oder Freunden stammen. Zudem überschneiden sich Verse aus Kapitel 17:2–7 über die Verfahrensweise und Rechtsprechung der örtlichen Gerichte mit Kapitel 13:7–12,112 doch Bloch hatte offenbar nicht über das 106 

Bloch an Fleg (2.1.1912), in: Lewinski/Dijon, Ernest Bloch (1880–1959), Bd.  1, 559. Robert Alter, The Five Books of Moses. Translation with Commentary, New York 2004, 948; Moshe Weinfeld, Deuteronomy and the Deuteronomic School, Oxford 1972, 91–97. 108  Nehama Leibowitz, Studies in Devarim (Deuteronomy), übers. v. Aryeh Newman, Jerusalem 1996, 131–133. 109  Houston Stewart Chamberlain, Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts, Bd.  1, München 1899, 425. 110 Chamberlain, Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts, 425. 111 Alter, The Five Books of Moses, 947. 112  Adele Berlin/Marc Zvi Brettler (Hg.), The Jewish Study Bible, New York 2004, 394– 396. 107 

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13. Kapitel hinausgeblickt. Andernfalls hätte er vielleicht etwas anderes in es hineingelesen, nicht nur Godets Behauptungen, die wiederum auf Chamberlains Ausführungen zur Endogamie beruhten. Wie Geoffrey Field bemerkt, waren relativ wenige Leser imstande, Chamberlains breitgefächerter Gelehrtheit die Stirn zu bieten, und deutlich mehr von ihnen »ausgesprochen anfällig für diese Art von rassisch-nationaler Doxologie«.113 Man ist versucht sich zu fragen, ob Bloch Spinoza oder Nietzsche gelesen hatte, deren Schriften auch trotz seiner geringen Kenntnisse des Peschat (der einfachen Bedeutung des biblischen Textes) vielleicht ein Gegengewicht zu Godets Ratschlägen hätten bieten können. Wäre Spinoza, der den dogmatischen Glauben an imaginierte transzendentale Realitäten ablehnte und im Theologisch-politischen Traktat zu einem strengen linguistischen und historischen Empirismus aufrief, vielleicht ein Gegengift gegen Chamberlains interdisziplinäres Puzzle gewesen?114 Hätte Nietzsche, der Hegels Theorie der Religion (und des Judentums) mit der Behauptung auf den Kopf stellte, das Christentum mache das Judentum nicht ungültig, sondern sei selbst nur ein Auswuchs desselben, Bloch etwas genutzt? Wusste Bloch, dass Nietzsche die »Identität von Europa und Moderne« untergraben hatte, »indem er ihr konstitutives Anderes, die Identität von Asien und Altertum, umkehrte«? Nietzsche betrieb, wie Tim Murphy bemerkt, eine hermeneutisch-philologische Demaskierung der literarischen Konstruktionen der nachbiblischen revisionistischen Geschichtsschreibung, die Jahwe in ein anderes »System von Zwecken« einschrieb.115 Hätte Bloch unterscheiden können zwischen Nietzsches Bewunderung des biblischen Judentums und seiner Kritik des »priesterlichen« Judentums in der Zeit des Zweiten Tempels, die, im Unterschied zu den Ansichten vieler seiner Zeitgenossen, auf keiner Rassetheorie beruhte? Nichts scheint dafür zu sprechen, dass Bloch Godets Lesart hätte widerstehen können. Abgesehen davon, dass er die Heilige Schrift erst spät und nur auszugsweise las, bot ihm Godets Erlösungsformel Trost darüber, dass seine Kompositionen aus Gründen der nationalen Stimmigkeit abgelehnt wurden: Juden sollten ihr eigenes »rassisches« Schicksal verfolgen, um durch den Ausdruck einer besonderen »Rasse« zum Allgemeinen zu gelangen.116 Blochs Unvermögen, die antisemitische Spreu, die er im Zuge seiner Akkulturation verinnerlicht hatte, vom historischen Weizen zu trennen, sollten wir allerdings berücksichtigen, wenn es um einige provokante Äußerungen geht, mit denen er (vor allem in Amerika) Wagners und mitunter auch

113 Geoffrey G. Field, Evangelists of Race. The Germanic Vision of Houston Stewart Chamberlain, New York 1981, 224. 114  Vgl. Jonathan Israels Einleitung zu Benedict De Spinoza, Theological-Political Treatise, Cambridge 2007, xi–xii. 115  Tim Murphy, Nietzsche, Metaphor, Religion, New York 2001, 95–107. 116 Móricz, Jewish Identities, 109–114.

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Chamberlains Diskurs übernahm.117 Zunächst müssen wir zwischen seinen zwei kulturellen Umgebungen, der europäischen und der amerikanischen, unterscheiden, denn sie erforderten jeweils andere Interpretationsstrategien und beeinflussten folglich seine Entwürfe; andernfalls laufen wir Gefahr, Blochs Biografie nach seinen späteren Aussagen oder den Anforderungen jener Public Relations zu beurteilen, die seine Art von jüdischer Musik in den Vereinigten Staaten zusätzlich essentialisierten. Um die Form von Autoexotismus, die Bloch Mitte der 1910er Jahre in Europa an den Tag legte, in einer Weise zu untersuchen, die nicht von seinen späteren provokanten, mitunter verbitterten Kommentaren und anderen Arten der Selbstdarstellung gefärbt ist, betrachten wir hier hauptsächlich die Dialektik, die durch die Strategien in seiner unvollendeten Oper Jezebel (1911–18) angetrieben wurde – Strategien, deren Leitmotive auch in den sogenannten jüdischen Zyklus, an dem Bloch zur selben Zeit schrieb, einsickerten.118 Da Musik Blochs Hauptmittel war, um seine unauflöslich an die nachwagnersche Ära gebundene Wahrnehmung des Jüdischen in der Musik auszudrücken, stoßen wir bei der Analyse der Semantik seines europäischen jüdischen Zyklus nicht nur auf verinnerlichte Bilder und einen mit der osteuropäischen Klanglandschaft verbundenen Autoexotismus, sondern auch auf einen dialektischen Prozess, in dem das Wagnersche Regime der Signifikationen allmählich zurücktrat. Blochs unvollendete Oper Jezebel beruhte auf Projektionen durch Leitmotive. In der Konzeption der Figuren in seinen Entwürfen von 1911 und 1918 hat Móricz gekonnt den Versuch entziffert, ein ideales Judentum, dessen Musik moralische Stärke ausdrückt, mit der Verdorbenheit und verhängnisvollen Sinnlichkeit des Heidentums zu kontrastieren. Jezebel zeichnete Bloch als »verführerisch, schmachtend, lüstern und perfide« und übersetzte diese Bilder in eng abgesteckte chromatische Motive, die immer wieder um denselben Ton kreisen, und in gelegentliche erhöhte Sekunden, schärfere Rhythmen und »aggressiv steigende Quinten«, die Jezebels schroffen Gegensatz zu Elija ausdrücken. Baal und Astrate wurden ebenfalls durch amorphe orientalistische Klischees charakterisiert, darunter »statische Ostinati, verzierende Noten, begrenzter Tonumfang, eine Fülle an übermäßigen Sekunden und an Tritoni sowie die gelegentliche Verwendung der oktatonischen Skala«. Im Gegensatz dazu waren die vor allem Naboth angehefteten hebräischen Motive diatonisch, manchmal pentatonisch und »ermangelten der Bewegungsenergie der vom 117 Móricz,

Jewish Identities, 113, 157, 174. Blochs jüdischen Zyklus bezeichnet man die zwischen 1911 und 1916 in Europa geschriebene Serie von Werken. Neben Jezebel umfasst er Prélude et Deux Psaumes (1912–14), Trois Poèmes Juifs (1913), Israel (1912/16), Psaume 22 (1914), Schelomo (Rhapsodie Hébraïque) (1915/16) und das Erste Streichquartett (1916), dessen erste drei Sätze er im Sommer 1916 bei Genf komponierte (den letzten Satz stellte er Anfang September desselben Jahres, kurz nach seiner Einwanderung in die Vereinigten Staaten, fertig). 118  Als

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Tanz inspirierten Musik Jezebels«. Für Naboths klangliche Ausschmückung griff Bloch auch auf zwei aschkenasische liturgische Motive zurück. Beide hatte er vermutlich wahllos der Jewish Encyclopedia von 1905 entnommen: ein Zitat aus dem letzten Teil des Neila (dem Abschlussgebet im Jom-Kippur-Gottesdienst) und die Melodie des Keduscha aus dem Schaharit (morgendlicher Gottesdienst) am Sabbat.119 Diese scheinbar recht dichotome Formulierung der Leitmotive war allerdings nie eindeutig: Die Melodie des Keduscha wurde auf einem freygishen Melodietypus aufgebaut und die Figur des Yehu teilte einige chromatische Motive mit Jezebel – ein klanglicher Ausdruck dafür, dass seine Liebe zu ihr ihn verdorben hat. Blochs Wahl der Neila-Melodie könnte durch folgende Passage aus der Jewish Encyclopedia beeinflusst worden sein: »Während sich der Gottesdienst seinem Höhepunkt nähert, werden die Melodien strenger im Ton und breiter im Ausdruck. Besonders ausgeprägt ist dies im Wechselgesang des Abinu Malkenu [sic] und dem feierlichen Bekenntnis des Schemot [die von Bloch gewählte Melodie].«120 Neben diesen Überschneidungen zeichnen sich Yehus Motive Móricz zufolge durch absteigende Quarten aus, die »Bloch offenbar mit etwas Jüdischem assoziierte«. Elijas Motive wiederum entziehen sich einer »schlichten Charakterisierung als klar diatonisch oder chromatisch«; ihre Vehemenz entsteht durch rhythmische Kontraste, häufige Akzente, aggressiv ansteigende Melodien, idiomatische Bläsersätze in Form von Arpeggios und wiederholten Noten sowie eine Überfülle an Tritoni und reinen Quarten und Quinten.121 Auffallender ist, dass Yehus und Elijas Motive auch harmonische Progressionen umfassen, ausgehend von gemeinsamen Tönen oder Tongruppen, die in der Schwebe zwischen der Oktatonik und der vertikalen Führung des freygishen Melodietypus bleiben. Doch Jezebel verließ nie Blochs Skizzenbrett. Die Leitmotive der Oper zerfielen und lösten sich in Schelomo auf, einer Rhapsodie für Cello und Orchester, in der ihre deklamatorische Intensität gezügelt wurde – eine Synthese, die Bloch erzielte, indem er »Elijas gottesgetriebene Härte und Jehus lüsterne Züge in zwei charakteristische Seiten von König Salomon verwandelte«.122 Aber dies war mehr als nur eine Versöhnung von Sinnlichkeit und Geist. Ende 1911 schrieb Bloch an Romain Rolland: Ich habe einen Akt für Jezebel geschrieben; ich habe ihn verbrannt, denn er war eine »Lüge«. Aber seitdem habe ich ein paar Akzente gefunden, die endlich der Anfang dessen sind, wonach ich suche. Es werden große jüdische Gedichte sein. Einige von ihnen haben Worte (ich weiß noch nicht, welche, aber – horribile dictu – das Französische 119 Móricz, Jewish Identities, 123–131. Bloch entnahm diese Transkriptionen den Einträgen zu synagogaler Musik und dem Neila-Gebet. Vgl. The Jewish Encyclopedia, Bd.  9, New York 1905, 125, 220. 120  F. L. C., Ne’ilah, in: The Jewish Encyclopedia, Bd.  9, 217. 121 Móricz, Jewish Identities, 131–137. 122 Móricz, Jewish Identities, 137.

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schränkt mich ein – es ist nicht meine Sprache; ich brauche etwas Grausames und Furchtbares und Unerbittliches, das in der Tiefe des menschlichen Herzens widerhallt; und ich glaube, dass es Hebräisch sein wird, denn auf Hebräisch wurden auf dem Berg Sinai im Donner die Zehn Gebote empfangen).123

Dass Bloch das Hebräische nicht beherrschte (dessen gutturale Laute ihm exotisch erschienen sein müssen), behinderte die Fertigstellung der Oper. Ihre Signifikation à la Wagner wich in Schelomo einer dramatischen Rede in Form von instrumentalen Rezitativen, die als ein Versuch Blochs gesehen werden kann, durch das zu sprechen, was er als die Rhythmen und Intonationen des Hebräischen wahrnahm. Selbst die Melodie in dem in E-Moll gehaltenen Teil von Schelomo, in der sich ein Magen-Avot-Shteyger auf H verbirgt,124 wurde ihrer hebräischen Worte entkleidet (und blieb dies auch in Blochs Programmheft von 1932).125 Elijas deklamatorische Motive, die »eher instrumentalen als vokalen Charakter«126 hatten, eigneten sich besser für den Ausdruck einer Leidenschaft, die sich ein nicht des Hebräischen kundiger Mensch als hebräisch vorstellen konnte. Zudem hätte jeder Gebrauch des Hebräischen, wie David Schiller argumentiert hat, die Wagnersche Behauptung einer Andersartigkeit der Juden und ihrer instinktiven Neigung zur triebhaften Musik der Synagoge bestätigen können (in der Wagner die kulturelle Quelle sah, die Simulakren deutscher Musik hervorbrachte).127 Aus diesen Einschränkungen ergab sich ein vertrackter Zirkel: Das Urteil darüber, ob sich ein Individuum vom Judentum befreit hatte, blieb dem nichtjüdischen Betrachter überlassen,128 während jede Verwendung jüdisch konnotierter Kennzeichen durch einen jüdischen Komponisten schnell zur Ghettoisierung seiner Musik führen konnte – auch wenn er aufrichtig an ihre Verwandlung vom Beschränkten zum Universellen glaubte. Gerade weil die Linie zum jüdischen Selbsthass dabei sehr leicht überschritten wurde, müssen wir die Dynamik der Historiografie der modernen jüdischen Kunstmusik in den Blick nehmen. Zunächst aber untersuchen wir den Mechanismus der Leitmotive von Jezebel in der nachwagnerschen Ära sowie die dialektische Wirkung ihres Zerfalls in Blochs selten beachtetem Ersten Streichquartett, dem letzten Werk seines europäischen jüdischen Zyklus.

123  Bloch an Romain Rolland (23.11.1911), in: José-Flore Tappy (Hg.), Ernest Bloch – Romain Rolland, Lettres (1911–1933), Lausanne 1984, 17. 124  Alexander Knapp, The Jewishness of Bloch: Subconscious or Conscious?, Proceedings of the Royal Musical Association, 97 (1970/71), 104; vgl. auch Boaz Tarsi, Towards a Clearer Definition of the Magen Avot Mode, Musica Judaica, 16 (2001/02): 53–79. 125  Das Programmheft erschien zuerst auf Italienisch für ein Konzert in Rom am 22. Januar 1933. Vgl. Bloch, Creative Spirit, 50 f.; Móricz, Jewish Identities, 138–141. 126 Móricz, Jewish Identities, 135. 127 Schiller, Bloch, Schönberg, Bernstein, 17. 128  Jacob Katz, Richard Wagner. Vorbote des Antisemitismus, Königstein/Ts. 1985, 77.

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Die Desartikulation des Jüdischen Wagners Erbe bestand in der Verschränkung von Form und Ideologie, von Ästhetik und Politik, und hatte eine Krise der musikalischen Integrität zur Folge. In der nachwagnerschen Ära, bemerkt Steinberg, kam deshalb der Ruf auf, Musik als einen Diskurs der Subjektivität und nicht der Identität neu zu begründen – als Musik aus der Nation, nicht der Nation. Steinberg versteht den Wagnerismus als einen Mechanismus, der »auf einer geschickten Versöhnung scheinbarer Gegensätze beruht«, nämlich »der Ideologie der absoluten Musik einerseits und der Verstärkung des Anspruchs von Musik auf Signifikation andererseits«. Mit C. G. Jung unterscheidet er zwischen dem Zeichen (einem abgekürzten Ausdruck für etwas Bekanntes) und dem Symbol (dem Ausdruck eines unbekannten Tatbestands) und argumentiert, das nachwagnersche Trauma habe es notwendig gemacht, germanisierende Verbiegungen zurückzudrängen und verschlüsselten Ideologien zu widerstehen. Einen Ausweg aus der Wagnerschen Sackgasse wies somit die Artikulation von Subjektivität anstelle von Identität. Musikalisch umfasste dies die Desartikulation des Zeichens durch »eine Verbindung von Stimme und Symbol, von Weiblichkeit und dem Nichtdeutschen« – ein Modus von Subjektivität, die dem Magnetismus von Wagners Ideologie der Signifikation und Signifikation der Ideologie widersteht.129 Die Emanzipation aus diesem Vertrag war allerdings eine heikle Aufgabe für Juden, denn eine schlichte Zurückweisung des Wagnerschen Modus von Repräsentation drohte bloß dessen binären Gegensatz (oder Negativ) hervorzubringen, womit jede Formulierung Wagners Narrativ verhaftet geblieben wäre. Die tschechische oder ungarische Nationalität, in deren Rahmen eine subversive Subjektivität mit dem Wagnerschen Trauma kämpfte (Bartóks Herzog Blaubarts Burg, Janáˇceks Die Sache Makropoulos),130 war für Juden ein ungenügendes Modell. Der Partikularismus von Juden galt in der antisemitischen Vorstellung weiterhin als supraidiomatisch oder kosmopolitisch; eine kompositorische Hinwendung (oder Rückkehr?) zu jüdischer Volksmusik oder synagogalen Klängen hätte leicht Wagners ideologisches Leitmotiv der jüdischen Andersartigkeit stützen können. Durch einen Rückgriff auf liturgische oder paraliturgische Musik, die mit der jüdischen Klanglandschaft assoziiert wurde, hätten jüdische Komponisten möglicherweise sogar die Umkehrung der Ideologie der Signifikation erneut umgekehrt und sich dadurch (unwillentlich) an einem Nationalismus der Negation beteiligt. Und während der Philosemitismus nur zu leicht auf eine spiegelbildliche Umkehrung des Antisemitismus hinausläuft, entsteht »kleine« Literatur (oder »kleine« Musik) gerade dadurch, dass deterritorialisierende Klänge an die Stelle jüdischer Signifikanten treten. Anders for129 Steinberg, 130 Steinberg,

Listening to Reason, 194 f. Listening to Reason, 210–219.

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muliert: Um einer bloßen Umkehrung des Antisemitismus zu entgehen, bedarf es eines Modus des »Dazwischenseins« – zugleich inner- und außerhalb des Systems der Signifikation –, der binäre Formen der Repräsentation infrage stellt. »Die Oper nach Wagner muss mit dessen langem Schatten kämpfen, aber sie hat auch die Fähigkeit, sich auf Wagnersche Paradigmen zu beziehen und dadurch auf Abstand zu ihnen zu gehen«, schreibt Steinberg.131 Was Steinberg als Versuch deutet, Distanz zum deutschen Beispiel zu markieren, könnte allerdings auch das Bemühen von Juden sein, Differenz durch eine Metapoetik der Repräsentation oder ein Recycling jüdischer Musikmerkmale zu ersetzen. Diese zwei Phänomene werden im Folgenden anhand von Schönbergs »Du sollst nicht, du mußt«, dem zweiten der Vier Stücke für gemischten Chor (1925), und dem ersten Satz von Blochs Erstem Streichquartett (1916) verdeutlicht.132 Schönberg hatte sich ausführlich mit konventionellen Systemen der Repräsentation befasst und sie schließlich verworfen, um sich auf einer metapoetischen Ebene mit ihnen auseinandersetzen. Da er in der Polarisierung von Wagner und Brahms »nur das Ergebnis eines Streits unter Epigonen und nicht die notwendige Folge wesentlicher ästhetischer Differenzen« sah, ging er von der Tonalität und dem Regime der Repräsentation zum eigentlichen Problem musikalischer Repräsentation über (Erwartung, Die glückliche Hand, Pierrot Lunaire), während er Brahms’ nichtrepräsentationale Ästhetik zu einer erlösenden künstlerischen Vision erhöhte, die das Überschreiten von Differenz versprach.133 Schönbergs Auseinandersetzung mit Repräsentation und Differenz, Wahrhaftigkeit und Aufrichtigkeit, lässt sich durch den Wandel seiner Musiksprache hindurch verfolgen. Die vielen Fälle, in denen eine Metapoetik die Kluft zwischen Ästhetischem und Liturgischem überbrückt, verweisen auf Schönbergs Kenntnis der Bibel, die ihm anstelle der griechischen und römischen Zivilisation, deren Studium nicht auf dem Lehrplan seiner Realschule stand, als Bezugsrahmen diente.134 Einen wiederkehrenden biblischen Topos bildete dabei das Verbot von Götzenbildern oder Simulakren – es durchzieht seine Schriften und 131 Steinberg,

Listening to Reason, 221. Mahlers späte Symphonien gehen ebenfalls über das Labyrinth der Repräsentation hinaus, bis zum Punkt der Unentzifferbarkeit, was »einen Austausch zwischen dem Unbewussten und dem Analytischen« erlaubt (Steinberg, Listening to Reason, 226–236). Zugunsten eines Fokus auf Kompositionen, die mehr Relevanz für die historischen und historiografischen Beschränkungen der osteuropäischen Klanglandschaft haben, und auf die kulturellen Wege von Komponisten, die später in den 1930er Jahren nach Palästina emigrierten, werden seine Werke hier dennoch nicht behandelt. 133 HaCohen, The Music Libel, 287; Michael Steinberg, Jewish Identity and Intellectuality in Fin-de-Siècle Vienna. Suggestions for a Historical Discourse, New German Critique, 43 (1988): 28–30. 134  Steven J. Cahn, Schönberg, the Viennese-Jewish Experience and its Aftermath, in: Jennifer Shaw/Joseph Auner (Hg.), The Cambridge Companion to Schönberg, Cambridge 2010, 195–198. 132 

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Musik so sehr, dass es eine epistemologische Krise anzeigt.135 Schönberg, dessen kulturelle und ethnische Zugehörigkeit sich in einer anhaltenden Dialektik ineinander brachen, vermied musikalische Kennzeichen, deren Assoziation mit dem Jüdischen in der Musik auf bildliche, fixe oder entzifferbare Repräsentationen hinausgelaufen wäre. Wie Richard Kurth schreibt, gestattete Schönberg »sich oder seiner Musik nie eine Ausnahme vom Zweiten Gebot«; neben ausdrücklichen Bezügen in »Du sollst nicht, du mußt« (1925), Moses und Aron (1930–32) und Moderner Psalm (1950) entdeckt Kurth Andeutungen des Bilderverbots bereits im vierteiligen Kanon »O dass der Sinnen doch so viele sind!« (nach Goethe, 1905), in Das Buch der hängenden Gärten (1908/09), im zweiten der Vier Lieder (nach Rilke, 1914) und in Pierrot Lunaire (1912) – in allen zeigen sich eine negative Kritik der Repräsentation, die Ablehnung von Symbolik, verdeckte umkehrende Symmetrien und zersprungene Spiegel. Schönberg kontrastierte das Endliche mit dem Unendlichen, während er die Überfülle des Göttlichen vermittelte sowie die Unmöglichkeit, sie durch »bloß illusionäre geistige Repräsentationen, mit denen wir uns die bloß phänomenale Welt vorstellen«, zu reduzieren.136 Das reduzierte piktoriale Bild – das immer auf sinnliche, kognitive und begriffliche Fähigkeiten angewiesen ist – enthielt auch verborgene, hinter und jenseits bloßer Phänomene existierende Realitäten. »In seinen Notizen zu musikalischem Zusammenhang, die er in der Phase schrieb, als Die Jakobsleiter sein wichtigstes (wenn auch unterbrochenes) Kompositionsprojekt war, beginnt Schönberg 1917 damit, das Konzept der Verbergung auf unbewusste musikalische Denkprozesse und verdeckte musikalische Verbindungen zu beziehen.« Während er von »den farcehaften Sakrilegen und der spielerischen ›negativen‹ Kritik der Mimesis in Pierrot zu einer ernsthaften und positiven Auseinandersetzung mit dem Religiösen und Philosophischen« überging, produzierte er durch verdeckte Puzzle, Chiffren und Codes eine Unauflösbarkeit, die sich dem Unsagbaren näherte, ohne das Bilderverbot heraufzubeschwören, und auf eine Unerfasslichkeit hindeutete, die das Unerfassliche selbst nicht identifiziert.137 135  Arnold Schönberg, Coherence, Counterpoint, Instrumentation, Instruction in Form – Zusammenhang, Kontrapunkt, Instrumentation, Formenlehre, hg. v. Severine Neff, übers. v. Charlotte M. Cross u. Severine Neff, Lincoln/London 1994; ders., The Musical Idea and the Logic, Technique, and Art of its Presentation, hg. u. übers. v. Patricia Carpenter/Severine Neff, New York 1993. 136  Richard Kurth, Schönberg and the Bilderverbot, Journal of the Arnold Schönberg Center, 5 (2003): 335–359. 137  Kurth, Schönberg and the Bilderverbot, 340, 359–361. In einem Brief an Kandinsky vom 19. August 1912 schreibt Schönberg: »Wir müssen uns bewußt werden, daß es Rätsel um uns giebt. Und müssen den Mut bekommen, diesen Rätseln in die Augen zu blicken, ohne feige nach der ›Lösung‹ zu fragen. Es ist wichtig, daß unsere Schöpferkraft solche Rätsel den Rätseln nachbildet, von denen wir umgeben sind. Damit unsere Seele den Versuch mache – nicht sie zu lösen – sondern sie zu dechiffrieren. Was wir dabei gewinnen, soll nicht die Lösung, sondern eine Chiffrier- oder Dechiffrier-Methode sein. Die, an sich wertlos, Material

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Schönberg sah (anders als Bloch) »keinerlei jüdisches Idiom, das es wert war, sich damit zu identifizieren oder es im breiteren Kontext der deutschen Kultur positiv hervorzuheben«, noch »störte er sich an einer ästhetischen oder anti-ästhetischen Kategorisierung von Juden oder versuchte er sie in Rechnung zu stellen«.138 HaCohen meint, Schönbergs, Kafkas und Freuds moderne Reaktionen auf den »Lärm«-Vorwurf seien vor einem im Kern osteuropäischen Hintergrund zu sehen, da ihre Eltern aus galizischen und mährischen jüdischen Schtetls und Städten nach Wien (oder, im Falle Kafkas, nach Prag) gezogen waren. So durchsetzte Schönberg im Bemühen, ästhetische Kategorien zu überschreiten, seine »indiskreten« (keine Tonhöhe aufweisenden) mechanischen und urbanen Klänge in Die Jakobsleiter mit »Elementen von Krach« und rückte dadurch »neu dargestellte Ethnizitäten« als Subgenres in den Vordergrund, die für lärmende Unterbrechungen sorgen und »durch die Anerkennung der eigenen Gefühle sowie der Sympathie und Antipathie, die sie in Menschen und Gottheiten wecken, zu bestimmten politischen Erkenntnissen führen«. Die Suche des Subjekts nach einer adäquaten Weise des Betens hat einen allegorischen Charakter, der »in religiös-existenzialen Begriffen« den neuzeitlichen Menschen zeigt, wie er aus den Ruinen moderner Weltanschauungen emporsteigt und mit dem Gott ringt, den er sucht. Ein Stimmengewirr (in dem sich Solostimmen und Sprechchor abwechseln) gründet »einen Großteil des ›reineren‹ musikalischen Materials auf einen komplementären hexachordalen Kern, aus dem bedeutende Teile der vertikalen und linearen Konfigurationen hervorgehen«. »Das Resultat ist eine vokal vielfältige Heterofonie, die an den murmelnden Gebetsgesang der Synagoge erinnert – auf einer westlichen Bühne etwas Beispielloses – und durch die bestimmenden hexachordalen Kombinationen klanglich zusammengehalten wird.«139 Die eröffnenden Worte Gabriels sind oft als Ankündigung der in vielfältige Richtungen zielenden seriellen Musik Schönbergs gelesen worden (»Ob rechts, ob links, ob vorwärts oder rückwärts, bergauf oder bergab – man hat weiter­ zugehen, ohne zu fragen, was vor oder hinter einem liegt. Es soll verborgen­ sein: ihr durftet, musstet es vergessen, um die Aufgabe zu erfüllen«)140 , doch bietet, neue Rätsel zu schaffen. Denn die Rätsel sind ein Abbild des Unfaßbaren. Ein unvollkommenes, d. i. menschliches Abbild.« Vgl. Jelena Hahl-Koch (Hg.), Arnold Schönberg – Wassily Kandinsky. Briefe, Bilder und Dokumente einer außergewöhnlichen Begegnung, Salzburg/Wien 1980, 69. In seinem Zusammenhang-Notizheft schrieb Schönberg 1917 (im Anschluss an Kant): »Die Grenzen des Fasslichen sind nicht die Grenzen des Zusammenhangs. Der kann auch da sein, wo Fasslichkeit aufgehört hat. Denn es giebt Zshge, die hinter dem Bewußtsein liegen. […] Es kann also gesagt werden, daß als zusammenhängend mit einem Gegenstand oder Begriff diejenigen Gegenstände und Begriffe empfunden werden, deren Beziehung zu dem Begriff oder Gegenstand uns (unabhängig davon, ob es ihn wirklich giebt und ob es nicht mehr solche giebt) bekannt ist.« Schönberg, Coherence, 8, 16. 138 HaCohen, The Music Libel, 298. 139 HaCohen, Music Libel, 289, 294. 140 Schönberg, Die Jakobsleiter. Sämtliche Werke, Abt. VIII: Supplemente. Reihe A, Bd.  29, Mainz/Wien 1958, 4 f.

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HaCohen erkennt in dieser Proklamation eine unbewusste moderne Darstellung der Vision, die während der jüdischen Hohen Feiertage im Pijjut Unetaneh tokef heraufbeschworen wird (»alle Geschöpfe der Welt führst du vor dir vorbei wie Lämmer«) und den jüdischen Tag des Jüngsten Gerichts mit seinem christlichen Pendant, dem Dies irae, verbindet.141 Liest man jedoch das Libretto, dann treten weitere Stimmen aus Schönbergs intellektuellen Kreisen hervor (was uns zu Bubers chassidischen Schriften zurückführt). Mit ihren impliziten Bezügen auf das Zweite Gebot zeugen sowohl der Text als auch die Texturen von Schönbergs Versuch, die jüdischen und die christlichen heiligen Schriften sowie ihre Auslegungen zu verschmelzen. Die Lukas-Zitate in den Worten »des Ringenden« und Gabriels Paraphrasen von Daniel 8:16–19, 9:22 (die in Lukas 1:11–23 und 1:26–38 andere Bedeutungen haben)142 deuten alle auf einen Mittelweg hin, von dem aus Schönberg (mit Gabriel) das Paradigma eines »entweder/oder« untergraben wollte. In der Überwindung polarer Gegensätze deutete er deshalb auf das Zweite Gebot hin, indem er eine Reihe aus dem Konflikt von Geist und Materie hervorgehender Situationen entfaltete und sie auf einer Leiter ansiedelte, die in der biblischen Geschichte (Genesis 28:12–22) Himmel und Erde verbindet und so dem Menschen den Aufstieg in eine höhere Realität ermöglicht (im Gegensatz zur prometheischen Hybris des Turmbaus zu Babel in Genesis 11:1–9). Die Jakobsleiter war insofern Ausdruck eines Gleichgewichts zwischen einer Körperlichkeit, die sich der Gefahr des materiellen Reduktionismus bewusst ist, und einer Spiritualität, die sich nicht vom Irdischen abtrennt. Gabriel ist allerdings den Gestalten auf den mittleren Stufen, »die von Materie und Geist gleich weit entfernt sind und den schwierigsten Aufstieg haben«,143 am stärksten zugeneigt. Doch dieser eschatologische Kontext fällt in sich zusammen; Schönberg verdeutlichte schließlich, wie seinen Figuren die Erhebung über Vorurteile und alte Gewohnheiten (sowie musikalische Tropen) misslingt, und legte den Stift an der Stelle beiseite, als »hohe Frauenstimmen« und »die Seele« emporsteigen, Eigenschaften abstreifen, ihre tonale Mitte verlieren und »irdische Wohlklänge unter sich lassen«, wie HaCohen schreibt; »keine Worte – gesprochen oder gesungen – gehen mit auf ihre Reise. Und dann gibt es in der Tat keinen Weg zurück zu vorherigen Kategorien, Strukturen und verdinglichten Idealen, keinen Weg zurück zum Libretto.«144 Auch »der Auserwählte« scheitert; als seine Sichtbarkeit kontraproduktiv wird, begreift er, dass die Herausforderung in der Formulierung 141 HaCohen,

The Music Libel, 294. Zu den literarischen und liturgischen Modellen, auf die sich Schönberg bezog, vgl. David Schroeder, Arnold Schönberg as Poet and Librettist. Dualism, Epiphany, and Die Jakobsleiter, in: Charlotte M. Cross/Russell A. Berman (Hg.), Political and Religious Ideas in the Works of Arnold Schönberg, New York 2000, 41–59. 143  Schroeder, Arnold Schönberg as Poet and Librettist, 53. 144 HaCohen, The Music Libel, 295; Ethan Haimo, Schönberg’s Serial Odyssey. The Evolution of his Twelve-Tone Method, 1914–1928, Oxford 1990, 48–63. 142 

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einer mittleren Position besteht, die der Materie entflieht und doch einem formlosen Modell Gestalt gibt – »Höh’res vielleicht«, in seinen Worten. Schönberg scheint hier auf ein Gleichgewicht von Auge und Ohr hinzudeuten, denn für sich genommen laufen beide Gefahr, das Göttliche zu reduzieren; er verhindert die Verfestigung der akustischen und visuellen Erscheinungen durch einen parallaktischen Blick, als Zeichen eines Tuns, das nicht auf einem statischen Körper beruht, sondern auf fließenden Beziehungslinien. Im Jahr 1919, während Schönberg an Die Jakobsleiter arbeitete, schuf Paul Klee mit dem grünen Buchstaben in seinem Gemälde Villa R »ein zugleich verbales und grafisches Zeichen, ein Element des sprachlichen Codes, das eindeutig nicht in die Ordnung und Dimension der Landschaft gehört. Seine Präsenz, die Präsenz von Sprache im Gemälde, verdeutlicht, dass es keine Beziehung zur sichtbaren Welt gibt außer dem aufdringlichen verbalen Element, mit dem ihr jemand bereits eine Gestalt gegeben hat.« Dem »gereinigten« Zeichen blieb somit das Andere, das es durch eine Bedeutung erhält, verwehrt, sodass es »sichtbar, nicht hörbar und nicht lesbar« war.145 1919 war auch das Jahr, in dem Buber seine kleine Schrift Cheruth veröffentlichte (der Titel spielt mit der doppelten Bedeutung des hebräischen Wortes: »Freiheit« und »eingraviert«), in der er der Formbarkeit religiöser Symbole nachging: Er [der Mensch] faßt das in sich Unerfaßliche durch die Schöpfung des Sinnbilds: so offenbart sich ihm in Zeichen und Spruch der wink- und wortlose Gott. Das Strömen der Allflut schöpft der Menschengeist in die Schale einer Aussage, so und nicht anders sei das Walten des Herrn beschaffen; den Blitz des Urlichts fängt er in dem Spiegel einer Anordnung auf, so und nicht anders sei dem Ewigen zu dienen. Mit Beidem aber ist er nicht unwürdig, nicht ungetreu; sondern zu solcher Gestalt wirkt sich das Absolute selber in ihm aus, und nicht weiter ist er zu dieser Zeit ihm zum Werkzeug gediehen. »Denn reifen will das Göttliche in der Menschheit.« In deren großen Gezeiten entwächst es in unsichtbarem Werden altem Sinnbild, blüht es zu Neuem auf […]. Nicht Gott ist es, der sich wandelt, die Theophanie wandelt sich […] bis kein Sinnbild mehr zureicht und keines nottut und das Leben selbst im Wunder seines Miteinander zum Sinnbild wird […].146

Buber verstand Religiosität als ein Tun (als »ein elementares Sichinverhältnissetzen zum Absoluten«) und beobachtete, wie das Theologische aus den Gefäßen überfließt, die es bändigen sollen. Die Romantik, in der sich der Geist auf seiner Suche nach Volk den aus der Vergangenheit überlieferten Formen unterwirft und ergibt, wollte er durch eine Wiedergeburt ersetzen: »wenn der Geist die in den Gebilden eingeschlossenen Urkräfte beschwört und zu neuer Schöpfung beruft – wenn er Volk findet, indem er Volk fruchtbar macht«.147 Buber 145  Zachary Braiterman, The Shape of Revelation. Aesthetics and Modern Jewish Thought, Stanford 2007, xxv, 32. 146  Martin Buber, Cheruth. Eine Rede über Jugend und Religion, in: ders., Schriften zu Jugend, Erziehung und Bildung, Werkausgabe Bd.  8 , Gütersloh 2005, 109–127, hier 109 f. 147  Martin Buber, Jüdische Religiosität, in: ders., Mythos und Mystik. Frühe religionswis-

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lehnte die Stabilität von Formen ab und fasste die Verwirklichung Gottes durch den Menschen als theurgischen Akt, der das Werden der Welt zeitigt. Seine Auffassungen nähern sich denen Schönbergs somit nicht nur dort an, wo er »den Gerechten« als »eine Säule, die von der Erde zum Himmel geht und das Weltall trägt«, bezeichnet, sondern auch in dem Verständnis von Offenbarung, das er in Daniel entfaltet, einem Dialog über Polarität (dem Kern dessen, was Schönberg auflösen wollte). Darin schildert Bubers gleichnamiger Protagonist, wie er bei einem Theaterbesuch eine Auflösung jedes Richtungssinns erlebte, die an Schönbergs Libretto erinnert: Es äußerte sich mir aber so, daß sich etwas vor mir in einer Art begab, die mir ungewohnt und erstaunlich schien. In einem Raum, der aus dem Zusammenhang des Raums ausgehoben war und keine Verbindung mehr hatte, weder mit Oben noch mit Unten, weder mit Rechts noch mit Links, weder mit Hinten noch mit… […] Sie meldeten mir nichts als einzig ihre Gegenwart. Und das taten sie mit der Präzision eines Schattens.148

Sowohl Buber wie Schönberg gingen über eine realistische Darstellungsweise hinaus und zerstörten die formalen Elemente und Muster, aus denen Ausdruck schöpft, da sie eine Kunst ohne Objekte an der Schwelle von »etwas« und »nichts« anstrebten.149 Anstatt polare Gegensätze in eine Einheit zu zwingen, demonstrierten beide die dynamische Spannung zwischen ihnen. In der zweiten Hälfte seines Oratoriums (die unvertont blieb) akzentuierte Schönbergs parallaktische Anordnung den Grenzbereich der Offenbarung noch stärker, so sehr, dass der Eindruck paralleler Leitern entsteht. Die vertikale Positionierung der Figuren wird nun durch ihre Beziehungen zu den Seiten bedingt. »Blick um dich«, spricht Gott zum Auserwählten: »Allen stehst du gleich nah! / Weilt dein Blick auf Höchstem und Niedrigstem, / glaubst du immer näher zu ihm zu kommen. / Wendest du dich ab, erkennst du / wie fern du beiden bist: / Allen gleich nah und fern, / umschliessen sie dich wie Mauern, / denen du nur entrinnst, / wenn dein entrückter Blick sie verliert.«150 Etwas aus dem Blick zu verlieren (oder, in Gabriels Worten, zu vergessen) heißt, Dualitäten – oder »Fesseln der Bedingtheit« (Buber) – in der Verwirklichung Gottes durch ein Imitatio Dei zu überwinden.151 Gabriel weist in der Tat auf die Blindheit einiger Protagonisten des Oratoriums hin: Ihre Polarität macht sie blind oder taub, da Sehen und Hören auf der theurgischen Leiter unterschiedliche Zwecke erhalten. »Ich suchte die Schönheit«, erklärt etwa der »Besenschaftliche Schriften, Werkausgabe Bd.  2.1, Güterloh 2013, 204–214, hier 205; ders., Cheruth, 122. 148  Martin Buber, Daniel. Gespräche von der Verwirklichung, in: ders., Frühe kulturkritische und philosophische Schriften 1891–1924, Werkausgabe Bd.  1, Gütersloh 2011, 183–245, hier 217. 149 Braiterman, The Shape of Revelation, 63. 150  Arnold Schönberg, Die Jakobsleiter Oratorium, Wien 1917, 73. 151  Buber, Jüdische Religiosität, 207.

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rufene«; er habe »unbedenklich allen Sinn der Form untergeordnet, und »[o]hne geblendet zu werden, sah ich überall ins Helle«. Gabriel jedoch betrachtet genau diese Selbstgenügsamkeit als Blindheit (»Du Heide hast nichts erschaut«). Dem »Aufrührerischen« wiederum, der eindeutig die Triebe bevorzugt (»es kann nicht derselbe Gott sein, der durch Triebe uns den einen, durch Gebote den andern Weg weist!«), entgegnet Gabriel, ein solcher Gegensatz von entweder/ oder sei schiere »Kurzsichtigkeit und Anmaßung«: Da das Hören auf Trieben aufbaut, könnten beide fehlgehen. Ähnliche Vermittler zu einer höheren Realität tauchen in Bubers chassidischen Schriften auf, wo sie Teil einer theurgischen Ordnung sind, die Leitern aufrichtet und zugleich die Trennung zwischen dem Heiligen und dem Profanen zu überwinden sucht.152 Auch wenn ein Unterschied zwischen Kunst und Religion bestehen bleibt, der »der Neigung entgegensteht, jedem menschlichen Ausdruck spirituelle Bedeutung beizumessen oder Kunst in allem und alles als Kunst zu sehen«, färben sie »in der historischen Kultur ihrer Produktion unauslöschlich aufeinander ab«.153 Die letzte (ebenfalls unvollendete) der chassidischen Erzählungen, die Buber in Die Geschichten des Rabbi Nachman (1906) wiedergab, ist die »Geschichte von den sieben Bettlern«. Sie illustriert die Funktion der Sinne in einer ähnlichen theurgischen Konstellation wie in Die Jakobsleiter. Die vielen ineinander geschachtelten Geschichten darin handeln von der Begegnung eines Jungen und eines Mädchen, die sich im Wald verlaufen haben, mit sieben Bettlern. Diese leiden alle an einem körperlichen Gebrechen (der erste ist blind, der zweite taub, der dritte stottert usw.), aber dennoch kommunizieren sie nicht nur mit den Kindern, sondern bieten ihnen auch Hilfe. Sie geben ihnen Brot und einen eigentümlichen Segen: Jeder Bettler wünscht, die Kinder mögen werden wie er. Später treten sie (mit Ausnahme des siebten) in derselben Reihenfolge nochmals auf: bei der Hochzeit der beiden inzwischen erwachsenen Hauptfiguren. Nun erzählt jeder der Bettler eine Geschichte, in der er selbst als Held mit übernatürlichen Kräften auftritt, die seinem jeweiligen Gebrechen entsprechen, und die eine moralische Botschaft für das junge Paar enthält.154 Jede dieser Geschichten in der Geschichte ist eine Variation derselben Trope, die besagt, dass die Bettler nur in der körperlichen Welt an einem Gebrechen leiden. Der Blinde zum Beispiel scheint nur deshalb blind zu sein, weil er nicht die Welt ansehen mag, die es ihm nicht wert scheint, angesehen zu werden, während die Taubheit des Tauben bloß seine Entrücktheit von den Missständen der Welt ausdrückt, deren Stimmen nur ein Schrei der Not sind. Die Unschuld der Kinder, so die Botschaft, ermöglicht ihnen eine Kommunikation mit den Bettlern. Aufgrund ihres jungen Alters sind sie noch nicht von der Plage des spirituellen Niedergangs 152 

Buber, Der Chassidismus und der abendländische Mensch, 938–944. The Shape of Revelation, xxiii. 154  Die Geschichte des Stotterers wurde von Tzvi Avni in seiner Zweiten Klaviersonate Epitaph (1974/79) aufgegriffen. Vgl. Kapitel 3. 153 Braiterman,

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ihres Königreichs befallen, dessen Bürger und neuer König zu einem säkularen Denken neigen. Nachman stattet nur die an den Rändern der Gesellschaft lebenden Figuren mit der akustischen und visuellen Spiritualität aus, die sie zu theurgischen Gefäßen macht. Das Profane gilt ihm somit als eine Vorstufe des Sakralen, dessen verborgene Fragmente zugleich unvollständige Manifestationen des Göttlichen und Instrumente für einen spirituellen Aufstieg darstellen.155 Und während für Buber das Heilige in der materiellen Welt »nichts anderes als das dem Göttlichen Offene«156 und der Akt des Weihens somit das Ereignis des Öffnens darstellte, deterritorialisierte Schönbergs Suche nach einer neuen Art des Betens157 feste Kategorien, worin er »emanzipatorische Kräfte sah, die alte Abgrenzungen und Denkweisen verwischten«. (Dies führte unter anderem zu einer Neubewertung des tonalen und tonal signifizierenden Vokabulars, das Wagner auf die Spitze getrieben hatte.)158 Während die zweischichtige hexachordale Technik in Die Jakobsleiter den Weg wies für »eine referenzielle serielle Anordnung und zugleich eine Vielfalt von ergänzendem Material schuf«,159 war »Du sollst nicht, du mußt« (September bis November 1925) Schönbergs erste explizite und persönliche Paraphrase des Zweiten Gebots zu einer Zeit, als er sein Zwölftonidiom bereits voll entwickelt hatte. Im Kontext seiner Kenntnisse der hebräischen Bibel ließe sich Schönbergs Zwölftonmusik als eine supraidiomatische Syntax lesen, die den exotische Ausschmückungen produzierenden Mechanismus und somit den Prozess des Autoexotismus schlechthin annulliert. Motiviert von seiner Aufnahme in die Preußische Akademie der Künste in Berlin im August 1925 schrieb Schönberg für diese Miniatur einen gebotsartigen Text, der auf den Kern musikalischer Metapoetik sowie auf ethischen Monotheismus zielt. Zugleich antizipiert das Stück seine unvollendete Oper Moses und Aron (1930–32), besonders Moses’ Erkenntnis der Falschheit aller Repräsentation (eine Erkenntnis, die dazu führte, dass der dritte Akt der Oper ein unvertontes Fragment blieb). Anders als die Kombinationen im dritten Satz der Vier Stücke für gemischten Chor, »Mond und Menschen«, in dem die vierteilige Polyfonie durch einen weitgehend simultanen und kontinuierlichen Gesang aller Teile vier Hexachorde je Textzeile entfaltet (und so zwei vollständige Aggregate entstehen),160 versuchte sich »Du sollst nicht, du mußt« an etwas, dessen Glücken zugleich sein Schei155 

Buber, Der Chassidismus und der abendländische Mensch, 938–944. Buber, Der Chassidismus und der abendländische Mensch, 939. 157  Schönberg an Richard Dehmel (13.12.1912), in: ders., Briefe, hg. v. Erwin Stein, Mainz 1958, 30–32. 158 HaCohen, The Music Libel, 291. 159 Haimo, Schönberg’s Serial Odyssey, 63 f. 160 Richard Kurth, Twelve-Tone Compositional Strategies and Poetic Signification in Schönberg’s Vier Stücke für gemischten Chor, Op.  27, Journal of the Arnold Schönberg Center, 7 (2005): 165. 156 

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tern anzeigen könnte: der Darstellung des Unsagbaren. Schönbergs erste Strophe lautet: Du sollst dir kein Bild machen! Denn ein Bild schränkt ein, begrenzt, fasst, was unbegrenzt und unvorstellbar bleiben soll.161

In bewusster Vermeidung von Musikmerkmalen, deren Assoziation mit dem Jüdischen in der Musik ein Pendant zu visuellen oder fixen Erscheinungen hätte erzeugen können, entwarf Schönberg ein ausgeklügeltes, codiertes Abbild eines elfzeiligen Textes (eine Metonymie für Verstümmelung), begleitet von einer vorsätzlich verdunkelten (nur im Schlussvers des Werks als solche kenntlich gemachten) Zwölftonreihe,162 sowie kanonischen Diskrepanzen, deren Texturen die Schwebe zwischen Polyfonie und Heterofonie halten und dabei die Unterschiede zwischen definierten Tonhöhen und Geräuschen verwischen. Damit schuf er ein neues, nichtrepräsentationales Element. Da Schönbergs musikalische Syntax nunmehr Konventionen überschritt, konnte das erste Vokalwerk, in dem er das gefestigte neue serielle Idiom verwendete, mit dem einzigen zulässigen Mittel der Repräsentation Gottes verbunden werden, das die Bibel kennt: mit »akustischer Sichtbarkeit«. So heißt es beispielsweise im 2. Buch Mose nach den Zehn Geboten: »Und alles Volk sah den Donner [Kolot] und Blitz und den Ton [Kol] der Posaune [Schofar] und den Berg rauchen.« Diese synästhetische Formulierung zeigt, dass der Vers unter den Zwängen des Zweiten Gebots verfasst wurde. Dabei gehen in der Übersetzung bereits einige der sinnlichen Impulse des hebräischen Originals verloren, in dem das Substantiv Kolot (Stimmen) den Donner bezeichnet und sein Singular Kol (Stimme) den Ton der Posaune (Schofar), was nahelegt, dass die am Berg Sinai versammelten Menschen diese Stimmen sahen. Schönberg mag für diese hebräische synästhetische Nuance kein Gespür gehabt haben, doch seine Paraphrase des Zweiten Gebots in »Du sollst nicht, du mußt« ähnelt vielen anderen klanglichen Erscheinungen Gottes, die er teilweise gekannt haben muss. Genesis 3:8, um ein anderes Beispiel zu nennen, erwähnt »die Stimme [Kol] Gottes des HERRN, der im Garten ging«; im 5. Buch Mose 4:33 heißt es, »daß ein Volk Gottes Stimme [Kol] gehört habe aus dem Feuer reden« (eine Szene, die Schönberg in Moses und Aron nach Exodus 3:3–6 darstellte); Jesaja 66:6 prophezeit, man werde »eine Stimme des HERRN, der seinen Feinden bezahlt«, hören; ähnlich verkündet das Buch Joel 2:11: »Und Jehova läßt vor seinem Heere her seine Stimme erschallen«; und im klanglichen Tumult von Psalm 29 schließlich geht Gottes mächtige Stimme über

161  Arnold Schönberg, Vier Stücke für gemischten Chor, in: Sämtliche Werke, Chorwerke I, Mainz 1980, 42 f. 162  Kurth, Schönberg and the Bilderverbot, 367.

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Wasser, sie bricht Zedern, sprüht Feuerflammen und »erregt die Wüste«. In all diesen (und vielen anderen) Beispielen wird Gottes Anwesenheit durch unsichtbare stimmliche Gestalten wahrgenommen, die sich visueller Verkörperung entziehen; über die Offenbarung am Berg Sinai heißt es im 5. Buch Mose 4:12: »Und der HERR redete mit euch mitten aus dem Feuer. Die Stimme seiner Worte hörtet ihr; aber keine Gestalt saht ihr außer der Stimme.« Schönbergs Stück stellt Hörer wie Analytiker entsprechend vor kompositorische Rebusse und vorsätzliche Rätsel. Gemäß der akustischen Präsenz Gottes in der Bibel findet das nicht durch Zeichen Vermittelte seine Entsprechung in einer syntaktischen seriellen Verdunkelung, die Schönberg durch kalkulierte Unstimmigkeiten bewirkte. Eine strikte hexachordale Kombinatorik fehlt folglich in »Du sollst nicht, du mußt« (kehrt aber in der nächsten Nummer des Werks wieder), denn eine solche Kommensurabilität hätte eine physische Erscheinung suggerieren und somit ein Bild entwerfen können. Schönberg scheint sogar auf die Entfaltung und Festigung der Reihe selbst geachtet zu haben, die er horizontal wie vertikal ungleichmäßig verteilte. Die monofone eröffnende Aussage entfaltet sich mehrdeutig, da Schönberg den Einklang auf dem Wort Bild bricht. Was symmetrisch ist, bleibt jedoch verborgen; die Formen der zwei Reihen bauen Kurth zufolge auf zwei komplementären Hexachorden auf und die Brechung des Einklangs auf Bild erfüllt den doppelten Zweck, die Anordnung der Reihe zu verwischen und einen agogischen Akzent in Form eines kryptografischen Akkords aus zwei ineinander gespiegelten Teilen zu setzen (Beispiel 1.5, T. 1–2), mit dem sich Schönberg sehr schwer tat – er entwarf viele Versionen, bevor er sich für die kryptografische Lösung in Takt 2 entschied.163 Selbst als er den Einklang am Ende der ersten Phrase wiederherstellte, verwischte er dies durch eine andere Notation (Des statt Cis im Bass), was eine mögliche Kongruenz zwischen der ersten Entfaltung der Reihe und dem gebotsartigen Eröffnungsvers zusätzlich verhindert. Darauf folgt ein heterofoner Satz, ein kontrapunktisches Spiegelbild, das »die Reihenformen durch Pausen, die sie in kleinere Fragmente zerteilen, aufbricht und so daran hindert, sich als eine kontinuierliche und kohärente Einheit darzustellen«. Kennzeichnend für Schönbergs Kritik der Repräsentation ist, dass er den strikten Kanon von Tenor und Bass sowie das Sopran/Alt-Duett (sowie ihre Reihenformen) durch eine Zeitverzögerung im Kanon verwischt, die hexachordale Symmetrien verdeckt (Beispiel 1.5, T. 3–4).164 Das so entstehende Labyrinth aus 163  Kurth, Schönberg and the Bilderverbot, 367 f., 371 f. Die beiden 023468-Hexachorde können laut Kurth unter I5 kombiniert werden, ohne dass sich einzelne Töne wiederholen. 164  Die 012346-Hexachorde in den weiblichen Stimmen in den Takten 3–4 (bezogen auf I1) und 012345 in Takten 5 und 6 (bezogen auf I*). Nur in den Takten 7 und 8 »werden die ›eigentlichen‹ Hexachorde (P1, P2, i1, und i2) der Reihen P und I stabilisiert, und selbst dann helfen die Überschneidung des vierteiligen Kontrapunkts und der Stimme dem Hörer schwerlich dabei, die eigentlichen Hexachorde und Reihen richtig aufzufassen.« Kurth, Schönberg and the Bilderverbot, 368–370.

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Beispiel 1.5: Arnold Schönberg, »Du sollst nicht, du mußt«, T. 1–8, serielle Ableitung (Richard Kurth, Schönberg and the Bilderverbot, Journal of the Arnold Schönberg Center, 5 (2003): 369). q = 120

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Spiegeln deutet auf einen zulässigen nichtmimetischen Ausdruck hin, der an Moses Isserles’ (1520–1575) Kommentar erinnert, es gebe »jene, die Bilder des Menschen oder eines Drachen nur dann für nicht verboten halten, wenn diese vollständig mit all ihren Gliedmaßen sind, während die Form eines Kopfes für sich oder eines Körpers ohne Kopf in keiner Weise verboten ist. Solche Bilder dürfen, wo vorgefunden, verwendet und sogar angefertigt werden.«165 Was im 165  Steven S. Schwarzschild, The Legal Foundation of Jewish Aesthetics, Journal of Aesthetic Education, 9.1 (1975): 32.

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Kapitel 1:  Hava Nagila?

Eröffnungsvers mit der Störung eines dominierenden Einklangs beginnt, entfaltet sich so weiter: Signifikation wird durch eine Anordnung untergraben, die an Heterofonie grenzt und Symmetrien verbirgt, die dem optischen Eindruck zuwiderlaufen. Ähnlich wie die Werke Paul Klees (»Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar«, schrieb er einmal)166 oder Bubers Gedanke, es könne »wohl […] Jahwe nicht mehr wahrgenommen werden, aber wahrgenommen werden können alle seine Äußerungen in Natur und Historie«,167 untergrub Schönbergs Abrücken von binären Repräsentationen jenen Ausgrenzungsmechanismus, der die Verzahnung von Form und Ideologie ermöglichte, an deren Stelle Schönberg gespiegelte Chiffren setzte. Auf historisch-kultureller Ebene, behauptet Steinberg, erwies sich »Du sollst nicht, du mußt« als eine weitere »kritische Erinnerung an das Fehlen einer nationalen Ganzheit, und diese Erinnerung blieb bedeutsam sowohl für die kritische Moderne, die totalisierende Darstellungen ablehnte, als auch für assimilatorische, totalisierende Repräsentationen und unterschiedliche Formen eines unterschwelligen wie expliziten Antisemitismus«.168 Obgleich aus einem nachromantischen Musikvokabular schöpfend, das für die von Schönberg bewusst gemiedenen Fallstricke anfällig war, weist Blochs Erstes Streichquartett eine vergleichbare Untergrabung von Symbolen auf. Der erste Satz resümiert einen dialektischen Prozess in seinem europäischen jüdischen Zyklus: vom Mechanismus der Leitmotive in Jezebel über ihren Zerfall in Schelomo hin zur Schwächung und Zurücknahme exotischer musikalischer Symbole im Ersten Streichquartett, besonders im ersten Satz. Was dem Studium dieses Werks im Weg steht, ist paradoxerweise das Programmheft, das aus einem Brief Blochs an den Violinisten Alfred Pochon (25. August 1916) hervorging, dessen Flonzaley-Quartett das Werk gewidmet war. Bloch schreibt darin über den ersten Satz: Dezidiert jüdisch inspiriert – eine Mischung aus Bitterkeit, Gewalt und Schmerz. Ein »Übermaß« an Ausdruck brauchen Sie nicht befürchten. Diese alte geschundene Rasse, deren Leiden durch die Jahrhunderte unermesslich ist! Erinnern Sie sich an die Bibel, an die Leidenschaft der Psalme oder des orientalischen Blutes. Erinnern Sie sich an diese armen alten Männer, die Sie gewiss auf der Straße gesehen haben, auf den Landstraßen (um Genf), mit ihren langen Bärten, traurig, verzweifelt, schmutzig … und die immer noch etwas Hoffnung haben… (welche Hoffnung?), während sie ihre hebräischen Gebete murmeln. Das alles steckt in meinem Lamento. Der 3. Abschnitt – ein sehr jüdisches Motiv von Glaube und Leidenschaft (das sich auch in anderen meiner jüdischen Werke

166  Paul Klee, Kunst-Lehre. Aufsätze, Vorträge, Rezensionen und Beiträge zur bildnerischen Formlehre, Leipzig 1987, 60. 167  Buber, Der Mythos der Juden, in: ders., Mythos und Mystik, 171–179, hier 178. 168  Steinberg, Jewish Identity and Intellectuality, 33.

Die Desartikulation des Jüdischen

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findet) und der 4., harsch und rau, und stärker hebräisch, besonders die Bratsche, der ich beinahe Worte geben könnte.169

Und doch konnte er dies nicht. Ganz ähnlich wie in früheren Bemerkungen romantisierte Bloch das Unvertraute und pflegte eine von Zionisten und Antisemiten geteilte Rhetorik: die Unterscheidung zwischen dem biblisch-hebräischen Altertum und einer kranken Vergangenheit und Gegenwart der jüdischen Diaspora. Sein Text verkörpert somit ein bekanntes problematisches Ideal, ein Zusammenfließen zahlreicher verwandter Diskurse (»rassischer«, nationaler, kolonialer, eugenischer und ästhetischer Natur), das das Gegenbild der Ostjuden erzeugt und auf antisemitischen Tropen von Degeneration aufbaut.170 Dennoch entfaltet der erste Satz des Quartetts eine etwas andere Geschichte; er weist eine Verdrängung von Zeichen ähnlich wie bei Schönberg auf, auch wenn beide Komponisten ganz unterschiedliche stilistische Mittel verwendeten. In Abwendung von Leitmotiven und programmatischen Narrativen untergrub Bloch die tonalen Signifikationen, die Schönberg verworfen hatte, von innen; sein Quartett verwendet zwar erkennbare Zeichen wie Dreiklänge und Septakkorde, doch ihre harmonische Progression ersetzt Dominantakkorde durch lineare Halbtonschritte, die durch gemeinsame Töne neue Akkorde erzeugen, was ihre Richtungsgebundenheit abschwächt. An dieser Form von Chromatik war nichts Neues, bereits im späten 19. Jahrhundert stellte sie die Maximierung von Tonalität dar; doch im Kontext von Blochs jüdischem Zyklus zeigte eine solche Fragmentierung exotischer Kennzeichen, deren Andersartigkeit auf Leittonfunktionen beruhte, ein Verwerfen von Repräsentationen an. Und während Blochs Programmheft eine von Godet und Chamberlain beeinflusste, mit Paradoxien und Widersprüchen befrachtete Lesart des Jüdischen in der Musik demonstrierte, verdeckte es zugleich eine Dialektik der Abschwächung, durch die sich die mangelnde semantische Verfestigung im ersten Satz auszeichnet: Sie führte vom Wagnerschen Regime der Repräsentation in Jezebel über seinen Zerfall in Schelomo zur Dekonstruktion im ersten Satz des Ersten Streichquartetts. Bloch sättigt den ersten Satz mit Sept- und Durakkorden mit verminderten Quinten und Septimen, wobei er ihr Erscheinen, ihren Vorhalt und die Punktierung der musikalischen Phrasen linear führt. Der transitorische Charakter der Akkorde (eine Bestimmung, die nur aus Sicht der Tonalität gilt) wird häufig nicht in eine Richtung aufgelöst; der Komponist bescheidet sich damit, ihr intensives harmonisches Kolorit auszudehnen. Blochs ununterbrochener chromatischer Fluss hat den Effekt, tonale Objekte gleichsam zu verbrennen. Die Noten, auf denen er seine fluktuierenden Aggregate aufbaut, tauchen gleich zu Beginn auf: Das Quartett beginnt mit der Bildung eines Fis-Septakkords mit 169  Bloch an Pochon (25.8.1916), zit. n. David L. Sills, Ernest Bloch: A Thematic Documentary Catalogue of his Works (unveröff.); Bloch, Creative Spirit, 52. 170 Presner, Muscular Judaism, 4–9.

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Kapitel 1:  Hava Nagila?

Beispiel 1.6: a) Ernest Bloch, Erstes Streichquartett, Erster Satz, T. 1–20. Andante moderato (q = 69-72)

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Die Desartikulation des Jüdischen

Beispiel 1.6: b) Bloch, Schelomo. Rhapsodie hébraïque pour violoncelle et grand orchestre (Klavierauszug), T. 6–9.

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Kapitel 1:  Hava Nagila?

Beispiel 1.6: c) Bloch, Erstes Streichquartett, I, T. 146–162. Tempo I0 (q = 80-84)

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Historiografische Silhouetten

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gleich inner- wie außerhalb der vorherrschenden Signifikation angesiedelt, lief das letzte Werk aus Blochs europäisch-jüdischem Zyklus nicht auf eine Umkehrung Wagners hinaus; vielmehr bringen seine in ständigem Werden begriffenen Aggregate in einem (ungeachtet des Programmhefts) wortlosen Akt das Interpretationsfeld der jüdischen Kunstmusik mnemonisch durcheinander.

Historiografische Silhouetten Trotz der Vielstimmigkeit der europäisch-jüdischen Kunstmusik folgte ihre Historiografie grundsätzlich einem von zwei Paradigmen: Der erste, essentialistische Ansatz hob das Jüdische an den musikalischen Idiomen, Werkstiteln und Credos von Komponisten positiv hervor; der zweite, eine Umkehrung des ersten, definierte die jüdische Kunstmusik neu, indem er essentialistische Annahmen diskreditierte. Paradigmatisch gesprochen priesen essentialistische Musikwissenschaftler jüdische Komponisten für die Darstellung eines hebräischen Volksgeistes, während Antiessentialisten in Anbetracht des konstruierten Charakters nationaler Wesenheiten genau darin den Fehler sahen. Solche Umkehrungen laufen jedoch auf einen zu hermetischen Gegensatz hinaus, zumal essentialistische Ansätze von derselben osteuropäischen Klanglandschaft ausgehen, auf die auch Antiessentialisten zurückgreifen, wenn sie die Archetypen ihrer Vorläufer umdrehen. Hinter essentialistischen Auffassungen steht ein Glaube an nationale, »rassische« oder religiöse Gefühle, der sich schon immer eher durch entsprechende Adjektive ausdrückte als durch eine Untersuchung musikalischer Eigenschaften oder kultureller Kontexte. So schrieb zum Beispiel David Ewen 1931, dass hebräische Musik ein in Musik ausgedrückter Geist ist. Diese andauernde Traurigkeit, die sich aus zweitausend Jahren Diaspora speist; dieser Idealismus, der eine Rasse trotz des Drucks von Jahrhunderten am Leben gehalten hat […] ein hörbarer Ausdruck von etwas, das im Herzen jedes Juden ist.171

Ewen argumentierte, die Synagogenmusik sei »die bindende Kraft gewesen, die all diese unterschiedlichen Elemente der hebräischen Rasse zu einem unauflöslichen und unsterblichen Ganzen gemacht hat«, und sein Ideal lautete, dass Komponisten, deren Wurzeln in der Synagoge lagen, eine neue, elaborierte orchestrale Musik in sie einführen, um den »Marsch [der hebräischen Musik] zum Erhabenen« zu beginnen. »In ›hebräisch-religiöser‹ Musik liegt unsere musikalische Erlösung«, schrieb er, wobei er die »gelungenen Werke« der St. Petersburger Gesellschaft für jüdische Volksmusik und von Ernest Bloch, in denen »der hebräische Geist pulsiert«, vor Augen hatte. Dies ging allerdings zulasten von 171 

David Ewen, Hebrew Music. A Study and an Interpretation, New York 1931, 45.

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Kapitel 1:  Hava Nagila?

Komponisten wie Darius Milhaud und Mario Castelnuovo-Tedesco, denen Ewen attestierte, sie seien »Juden nur durch den Zufall der Geburt«, ja Gojim, die »mit Talit [Gebetsschal] und Tefilin [Gebetsriemen] umherstolzieren«.172 Positivistisch untermauert wurde diese These durch den Musikwissenschaftler und Theoretiker Joseph Yasser, dessen Artikel über jüdische Harmonik in der kurzlebigen Zeitschrift des Weltzentrums für Jüdische Musik in Palästina folgendermaßen schloss: »wann immer jüdische Musik auf der pentatonischen Skala aufbaut, weisen ihre isolierten Motive beinahe zwangsläufig eine gewisse Verwandtschaft mit dem biblischen Gesang auf, besonders mit dem aschkenasischen.«173 1946 behauptete er, selbst wenn jüdische Komponisten die Verwendung traditionellen Materials ablehnten, bewahrten sie es doch, »weil ihre eigenen Gefühle und Gedanken grundsätzlich jüdisch sind« und sich folglich »in ihrer Musik widerspiegeln müssen, unabhängig von deren Inhalt und Stil«;174 und 1963 schließlich waren Yassers Kriterien zu festen Richtlinien geworden: »zwei wesentliche Komponenten«, behauptete er, »machen eine musikalische Komposition spezifisch jüdisch«: das thematische Material und seine technische Behandlung, »bewusst oder unbewusst […] dem Bedürfnis des Juden […] angepasst«.175 Die irritierende Kehrseite eines solchen Denkens zeigte sich darin, dass auch Nationalsozialisten die Eigenschaften dessen zu definierten versuchten, was sie als »entartete« jüdische Musik bezeichneten und diffamierten.176 Ein ähnliches Paradoxon kennzeichnet Max Brods Artikel von 1916 über Mahlers Musik; wie Karen Painter bemerkt, war »Brods hochemotionale Darstellung von Parallelen zwischen galizisch-jüdischen Liedern und Mahlers Musik eine Geste des Respekts gegenüber den [osteuropäischen] Einwanderern«, 172 Ewen,

Hebrew Music, 35, 51, 57 f., 63–65. Joseph Yasser, Foundations of Jewish Harmony, Musica Hebraica, 1–2 (1938): 8–11; vgl. auch Yasser, New Guide-Posts for Jewish Music, Bulletin of the Jewish Academy of Arts and Sciences, 3 (1937): 3–10. 174  Yasser, Jewish composer, Look within!, Menorah Journal, 34.1 (1946): 115. 175  »Es gibt zwei wesentliche Komponenten, die eine musikalische Komposition spezifisch jüdisch machen, und eine analoge Situation besteht in der Musik anderer Nationen: Erstens ihr thematisches Material und zweitens dessen technische Behandlung durch den Komponisten. Das thematische Material eines jüdischen musikalischen Werks können nationale Melodien darstellen, die entweder vollständig oder in fragmentarischer Form verwendet werden. Diese Melodien oder melodischen Fragmente können liturgisch oder säkular sein, israelisch oder in der Diaspora geschaffen, traditionell oder ›geborgt‹, wobei sie in letzterem Fall, bewusst oder unbewusst, stets entsprechend dem Bedürfnis des Juden ausgewählt und angepasst sein müssen. […] Diese musikalischen ›Imponderabilien‹ werden vom jüdischen Komponisten oftmals ganz unbeabsichtigt verwendet. Tatsächlich mag er gar nicht ahnen, dass sie in der Tiefe seines Unbewussten vorhanden sind. Dort schlummerten sie seit langer Zeit, vielleicht seit seiner Kindheit…« Joseph Yasser, On Jewishness in Music, in: Commission A Jewish Musical Work!, New York 1963, 19. 176  Pamela M. Potter, Musicology under Hitler. New Sources in Context, Journal of the American Musicological Society, 49.1 (1996): 70–113; Potter, Jewish Music and German Science, in: Philip V. Bohlman (Hg.), Jewish Musical Modernism. Old and New, Chicago 2008, 81–101; HaCohen, The Music Libel, 360. 173 

Historiografische Silhouetten

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fand jedoch Eingang in das nationalsozialistische Lexikon der Juden in der Musik (Berlin 1940), wo seine Ausführungen über Mahlers jüdische Psyche als Propagandamaterial verwendet wurden.177 1960 schrieb Brod, der sich seiner Reproduktion antisemitischer Tropen noch immer nicht bewusst war, in The Re­ constructionist praktisch wortgleich mit seinem Artikel von 1916 über Mahler, »dass sein Werk zwar äußerlich recht deutsch ausschaut, dem Instinkt aber undeutsch (und das mit Recht) anmutet. Von einem deutschen Blickpunkt aus erscheint dieses Werk daher inkohärent, stillos, unförmlich, ja bizarr […] Es ergibt, deutsch betrachtet, keine Einheit.« Brod schloss: »Ich kann mich des Gefühls nicht erwehren, dass Mahlers Christentum ein verkleidetes Judentum war.«178 Dies umreißt den Kern der Problematik, auf die die Definition jüdischer Musik stößt: Wenn wir ihre Eigenschaften festlegen oder essentialisieren, zeichnen wir unter Umständen die Konturen nach, die sie aus antisemitischer Sicht besitzt, denn philosemitische und antisemitische Ideologen verhandeln spiegelbildlich zueinander dasselbe; im Namen eines sozialen Phantasmas, das von Eindringlingen beschmutzt zu werden droht, befürworten sie Reinheit. Aus historiografischer Sicht steckt in diesem binären Gegensatz der Keim der Verschränkung von Zitat und jüdischer Identität. Doch gegen Ende des 20. Jahrhunderts begannen Musikhistoriker essentialistische Deutungen umzukehren und den kulturellen Determinismus zugunsten eines kulturellen Synkretismus in den Umgebungsgesellschaften von Juden abzulehnen.179 Es war daher zu erwarten, dass auch Musikwissenschaftler, die die postmoderne Wende erlebt oder zu ihr beigetragen hatten, essentialistische Konstruktionen und die entsprechenden Methodologien infrage stellen würden. Ausgerüstet mit revidierten Geschichten des europäischen Nationalismus, den sie ablehnten, nahmen sie davon Abstand, den »Geist« oder die »inhärenten Eigenschaften« jüdischer Musik und Musiker zu bemühen, und untersuchten stattdessen die intellektuellen Milieus und nationalen Einstellungen (oder deren Fehlen) von Komponisten, deren Prosa und deren Import von liturgischen und paraliturgischen Materialien sie kritisch beurteilten. Doch obgleich antiessentialistische Ansätze eine Pluralität jüdischer Identitäten anerkennen, haben sie sich hauptsächlich auf Musikmerkmale konzentriert, die Teil der osteuropäischen (aschkenasischen) Klanglandschaft waren – darüber hinausgehende Hybride sowie die dialektischen Bewegungen, die sich dem Apparat der Repräsentation widersetzen und ihn durcheinanderbringen, wurden entsprechend übergangen. Ein neueres Beispiel dafür bietet Móricz’ Studie über 177  Karen Painter, Polyphony and Racial Identity. Schönberg, Heinrich Berl, and Richard Eichenauer, Music and Politics, 5.2 (2011): 4; Max Brod, Jüdische Volksmelodien, Der Jude, 1.5 (1916): 344. 178  Max Brod, Gustav Mahler’s Jewish Sources, The Reconstructionist (5.2.1960): 9, 11. Das deutsche Original (Gustav Mahlers Jüdische Melodien) erschien in Musikblätter des Anbruch 2 (1920): 378 f. 179  Edwin Seroussi, Music: The »Jew« of Jewish Studies, World Union of Jewish Studies, 46 (2009): 3–84.

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Kapitel 1:  Hava Nagila?

Bloch. (Ich beschränke mich hier auf Blochs europäischen jüdischen Zyklus, um zu vermeiden, dass seine späteren verbitterten Äußerungen in Interviews oder die Schriften seiner Fürsprecher rückwirkend unseren Blick auf seine Strategien und Beschränkungen in Europa bestimmen.) Móricz behauptet, Bloch habe »das Ghetto, das er sich selbst schuf, auf eine Rassetheorie gegründet«, da er niemals die musikalischen Merkmale überschreiten konnte, die ihn als andersartig erscheinen ließen;180 diesen Befund untermauert sie zudem durch Hannah Arendts Bemerkung, in einer judenfeindlichen Gesellschaft könne »man sich nur assimilieren, wenn man sich an den Antisemitismus assimiliert«.181 Als Beleg dafür erfahren wir, dass Bloch viele antisemitische Ansichten geteilt habe; wir erfahren von seiner unkritischen Akzeptanz antisemitischer Klischees, die ihn an einer Zurückweisung von Chamberlains Theorie gehindert, und eines Rassediskurses über Kunst, der Künstler wie ihn vor dem »Vorwurf einer überholten Romantik« geschützt habe.182 Für Móricz zeigt sich in der oben erörterten dialektischen Veränderung von Jezebel zu Schelomo eine Bestätigung antisemitischer Stereotype; »statt einen Kampf zwischen dem Biblischen und dem Orientalischen« darzustellen, habe Bloch in Schelomo beides miteinander verbunden und so »die verbreitetsten jüdischen Stereotype« verschmolzen: »das der starken, ›barbarischen‹ alten Hebräer der Bibel und das der orientalisch gefärbten, schwachen und zu Opfern gewordenen Juden der Diaspora«. Blochs anfängliche Ablehnung und spätere Übernahme vieler Klischees, die mit »implizit antisemitischen Stereotypen« übereinstimmten, vergleicht sie mit den Charakterisierungen in Erich Müllers Das Judentum in der Musik (1932).183 Im Fall von Móricz’ Studie grenzt die heutige antiessentialistische Umkehrung somit an eine Anklage: Wenn Komponisten die musikalischen Eigenschaften verinnerlichten, die in den Schriften von Engel, Ewen und Yasser einen hebräischen Geist belegen sollten und von Nichtjuden benötigt wurden, um das eigene Phantasma der Fülle zu maskieren, wird ihnen jüdischer Selbsthass attestiert. Vor allem aber wird das Jüdische in Blochs Werk an exotischen Musikmerkmalen (insbesondere osteuropäischer Melodien) festgemacht, die von Jezebel bis zum ersten Satz des Ersten Streichquartetts reichende Dialektik ihrer Abschwächung hingegen übergangen. Statt Ähnlichkeiten in den Blick zu nehmen, haben essentialistische wie antiessenti180 Móricz, Jewish Identities, 115; Móricz, Ancestral Voices. Anti-Semitism and Ernest Bloch’s Racial Conception of Art, in: Julie Brown (Hg.), Western Music and Race, Cambridge 2008, 114. 181  Hannah Arendt, Rahel Varnhagen. Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik, München 1981, 233. 182 Móricz, Jewish Identities, 97, 113, 115. 183 Móricz, Jewish Identities, 150–152. Eingeflochten in Móricz’ Narrativ sind Briefe, Interviews und Programmhefte aus den 1930er bis 1950er Jahren, die rückwirkend auf Blochs europäischen jüdischen Zyklus abfärben. Vgl. auch HaCohens Kritik an Móricz in The Music Libel, 480.

Historiografische Silhouetten

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alistische Paradigmen somit ein binäres Modell produziert, gegen das sich Schönberg (als Gabriel) bereits vor beinahe einem Jahrhundert wendete. Mit Gegensätzen jonglierend, haben beide Ansätze künstliche Trennungen zwischen altertümlichen und modernen Subjekten, Juden und Nichtjuden sowie ihren musikalischen Ausschmückungen erzeugt, in denen sich häufig die Unsicherheiten der jeweils anderen Seite spiegelten. Um aus dieser binären Blockade auszubrechen, müssen wir etwas in den Blick nehmen, das den Diskurs der Moderne selbst betrifft. Bruno Latour erkennt in der Moderne zwei ganz unterschiedliche Reihen von Praktiken: »Übersetzung«, die Herstellung von Hybriden aus Natur und Kultur, und »Reinigung«, die ontologische Unterscheidung zwischen Menschen und nichtmenschlichen Wesen. Während Übersetzung »beispielsweise in einer fortlaufenden Kette die Chemie der Stratosphäre, die wissenschaftlichen und industriellen Strategien, die Nöte der Staatschefs, die Ängste der Ökologiebewegung verbinden« könnte, würde das Verfahren der Reinigung »eine Einteilung vornehmen zwischen einer Naturwelt, die schon immer da war, einer Gesellschaft mit vorhersehbaren und stabilen Interessen und Einsätzen und schließlich einem Diskurs, der von der Referenz wie von der Gesellschaft unabhängig ist«. Sobald wir diese zwei Verfahren der Hybridisierung und der Reinigung gleichzeitig wahrnehmen, werden anstelle von Dichotomien Kontiguitäten sichtbar und weicht die Vorstellung von Brüchen oder Einschnitten der Einsicht, dass sich lediglich »die Zirkulation der Erkenntnisse leicht zu beschleunigen, die Gesellschaften etwas auszudehnen« und »die alten Glaubensformen ein wenig zu modifizieren« vermögen.184 Historiografisch ließe sich argumentieren, dass der (im Latourschen Sinn) »gereinigte« Fokus auf die osteuropäische Klanglandschaft sowohl in essentialistischen wie antiessentialistischen Paradigmen dialektische Prozesse und kulturelle Symbiosen verdeckt hat. Die Trennung zwischen Hybriden und ihren Übersetzungen wird durch die Dialektik der Abschwächung und das Recycling von Stereotypen widerlegt, die Blochs europäischer jüdischer Zyklus aufweist – ein durch das Unvermögen, antisemitischen Lesarten der Bibel zu widerstehen, vermittelter Prozess. Sobald wir die durch diese Bedingungen und Beschränkungen katalysierte musikalische Dialektik erkennen, sind die von Bloch recycelten und dekonstruierten Musikmerkmale nicht länger hebräisch oder jüdisch, so wenig sie ein Versagen Blochs anzeigen. Solche Schlussfolgerungen wären nur das andere Extrem eines kulturellen Determinismus, das darauf hinaus laufen würde, Minderheiten eine Selbstermächtigung durch autoexotistische Akte und Masken, die das Selbstbild der Mehrheit ins Wanken bringen, zu verbieten.185 Ähnliche methodische Spielräume haben Nancy Ste184 Latour,

Wir sind nie modern gewesen, 19 f., 66. Arendt sollte in diesem Kontext vor dem Hintergrund dessen gelesen werden, was drei Generationen von Wissenschaftlern nach ihr herausgearbeitet haben. So beschreibt sie zum Beispiel in Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft den Aufstieg pangermanischer und 185 

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Kapitel 1:  Hava Nagila?

pan und Sander Gilman in der Auseinandersetzung damit demonstriert, wie Minderheiten die autoritative Sprache des »wissenschaftlichen« Rassismus zurückwiesen, die im frühen 20. Jahrhunderts nachhaltig in den politischen und gesellschaftlichen Diskurs eingedrungen war. »Die Wissenschaft als eine Form des Wissens trennte sich von anderen Wissenssystemen ab«, schreiben sie. »Im Zuge dessen erhielten die Dichotomien zwischen dem Reinen und Unreinen (oder den angewandten Wissenschaften), dem Objektiven und Subjektiven, dem Harten und Weichen, dem Männlichen und Weiblichen eine materielle Form.« Aufgrund ihres Gewichts im politischen und gesellschaftlichen Diskurs reduzierten diese Praktiken der Reinigung »den kulturellen Raum, in dem die Postulate des biologischen Determinismus effektiv infrage gestellt werden konnten, und die kulturellen Formen, durch die dies möglich war«.186 Juden – ähnlich wie Afroamerikaner – eigneten sich die von der Wissenschaft geschaffenen Räume für Selbstdefinition und -darstellung an und lehnten sie zugleich ab; sie spiegelten die Heterogenität und widersprüchlichen Impulse des »wissenschaftlichen« Rassismus wider, indem sie sie ausnutzten, abschwächten, neu zusammensetzten, kommentierten, ihnen folgten und sie zurückwiesen. Stepan und Gilman nennen vier Formen solcher Strategien: Internalisierung, »die psychologische und soziale Introjektion der in Stereotypen enthaltenen negativen Bilder und Bedeutungen bei der Konstruktion und im Verständnis der eigenen Identität«; Umwertung, ein reaktiver und defensiver Modus, der den dominierenden Diskurs und seine binären Gegensätze übernimmt, aber das »minderwertige« Element in der Hierarchie neu benennt und bewertet; Rekontextualisierung, der Gebrauch wissenschaftlicher Instrumente, um entweder die Stereotypen zugrundeliegenden Tatsachenbehauptungen zu widerlegen oder neue Fakten zu generieren; und Universalisierung, die Erklärung eines nepanslawischer Bewegungen als emblematisch für den Niedergang des Nationalstaats, während George L. Mosse in ihnen eine starke Steigerung des Nationalismus erkennt. Ebenso wurde ihre Auffassung, der Antisemitismus sei mit diesem angeblichen Niedergang stärker geworden, von der heutigen Forschung widerlegt. In einer Kritik an Arendts ahistorischen Zügen und überzogenen Verallgemeinerungen hat Shlomo Avineri kürzlich bemerkt, dass sie einen Unterschied einebnet, wenn sie Benjamin D’Israeli – im Zuge einer Analyse der rassistischen Elemente in seinen Romanen – mit Gobineau und Chamberlain in Verbindung bringt: Während diese die »weiße Rasse« überhöhten und die europäische Herrschaft über »minderwertige Rassen« rechtfertigten, war D’Israelis Idealisierung der unterdrückten jüdischen »Rasse« ein Protest des Gedemütigten, ganz ähnlich wie der schwarze Rassismus von Frantz Fanon, Malcolm X und James Baldwin. Vgl. George L. Mosse, Die Nationalisierung der Massen. Politische Symbolik und Massenbewegungen in Deutschland von den Napoleonischen Kriegen bis zum Dritten Reich, übers. v. Otto Weith, Frankfurt a. M./Berlin/Wien, 1976; Shlomo Avineri, »Über Totalitarismus und das Böse: Hannah Arendt über Tyrannei« (Hebr.), Ha’aretz (17.2.2010). 186  Nancy Leys Stepan/Sander L. Gilman, Appropriating the Idioms of Science. The Rejection of Scientific Racism, in: Sandra Harding (Hg.), The »Racial« Economy of Science. Toward a Democratic Future, Bloomington 1993, 174 f.

Historiografische Silhouetten

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gativen Charakteristikums zu einer allgemeinen Eigenschaft.187 Diese – weder erschöpfenden noch sich gegenseitig ausschließenden – Kategorien kennzeichnen die Dynamik der Taktiken von Juden (oder jeder anderen im »wissenschaftlichen« Rassismus als Objekt definierten Minderheit); sie gelten nicht nur für ein bestimmtes Stück eines einzelnen Komponisten, sondern auch für die Dialektik, die sich an der Migration musikalischer Idiome und der von ihnen angenommenen Bedeutungen nachvollziehen lässt, wenn der schädliche Effekt der Internalisierung in einer Kettenreaktion Umwertung, Rekontextualisierung und Universalisierung hervorruft. So bedroht Kafkas Rotpeter (in »Ein Bericht für eine Akademie«, 1917), der sein Leben als Affe schildert, die Grenze zwischen den Zuschauern und ihrem Studienobjekt, indem er die gesamte Geschichte in die Lebensspanne eines einzelnen Wesens presst und dabei »Phylogenese im Gewande ontogenetischer Entwicklung« vorführt.188 Selbst Bubers Verinnerlichung des Rassediskurses, die durch seine Schriften belegt ist, sollte als Voraussetzung für bestimmte ideologische Verwandtschaften, aber nicht als »hinreichende Ursache« für sie gedeutet werden, schreibt Mendes-Flohr. Für Juden, die die Herausforderung von Selbsterneuerung und Akkulturation annahmen und eine entsprechend ausgeprägte Sensibilität für ihr kollektives Bild entwickelten, »wurde die Assimilation oder das Aufgehen von Juden in einer neuen Menschheit als würdevolle Vision konstruiert«. Jüdischer Selbsthass, fährt Mendes-Flohr fort, »ist eine wiederkehrende, aber sicher keine notwendige, epiphänomenale Folge aller Ideologien, die jüdische Selbsterneuerung – Akkulturation und Assimilation – als Bedingung für die Integration in das Gewebe der Moderne verlangten«.189 Eine ausschließlich auf Selbsthass zielende Deutung von Blochs Autoexotismus liefe Gefahr, den Handlungsspielraum von Minderheiten bei der Infragestellung autoritativer Diskurse kleinzureden. In einer Untersuchung darüber, wie die Zeitschrift Ost und West (Berlin 1901–23) in ihren Leitartikeln und Fortsetzungsromanen osteuropäische Tropen des Jüdischen förderte, hat David Brenner ähnliche Strategien der Internalisierung entdeckt, die von der Berichtigung negativer Bilder der Ostjuden (zur Legitimation einer öffentlichen jüdischen Präsenz im Westen) bis zu Attacken auf die Westjuden reichten. Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs, als »die westliche jüdische Identität illusorischer schien«, projizierte die Zeitschrift »auf die Entente-Mächte Bilder von Feigheit, Germanophobie und Selbsthass, die Anti187  Stepan/Gilman, Appropriating the Idioms of Science, 179–185; John M. Efron, Defenders of the Race. Jewish Doctors and Race Science in fin-de-siècle Europe, New Haven 1994, 175–180. 188  Ralf R. Nicolai, Nietzschean Thought in Kafka’s »A Report to an Academy«, Literary Review, 26.4 (1983): 553; Yfaat Weiss, »Identität und Essentialismus. Rasse, Kultur und die Juden im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert« (Hebr.), Theory and Criticism, 21 (2002): 133–161. 189  Paul Mendes-Flohr, Divided Passions. Jewish Intellectuals and the Experience of Modernity, Detroit 1991, 69, 73.

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Kapitel 1:  Hava Nagila?

semiten wiederholt mit jüdischen Männern assoziiert hatten«. Nach der Judenzählung von 1916 machte sie die Ostjuden zu einem »Symbol für Gemeinschaft und Spiritualität in einer materialistischen Welt«, das zu Beginn der Weimarer Republik zu einer Metapher für alle Juden wurde.190 Diese recycelten Stereotype, bemerkt Brenner, erfüllten kognitiv-psychologische Funktionen und stellten notwendige Stufen im Prozess der Identitätskonstruktion dar: »Betrachtet man die Selbststereotypisierung von Minderheiten als ein zugleich diskursives und sozialpsychologisches Phänomen, dann erkennt man, was das Bild der sich selbst hassenden oder assimilierenden Juden in Deutschland in Wirklichkeit ist: ein ideologisches Dogma.«191 Ost und West erfand keine neue Figuren, sondern drehte einfach die Paradigmen westlich/aufgeklärt und östlich/traditionell um. Dabei verwendete die Zeitschrift das fiktionale Mittel des Selbsthasses als »Teil ihrer sozialkritischen Rhetorik« und demonstrierte die Möglichkeit von Pluralismus innerhalb einer deutschen Monokultur.192

Kontrollfälle Ist dieser letzte Teil des jüdischen Volkes als Volkheit nur zusammengehalten durch das Ghetto, zum Auseinanderstieben verurteilt, sobald das eiserne Band von den Revolutionen zerstört und ruhigere Bewegung eingetreten sein wird? Verurteilt zur Atomisierung, zum Verlust an jedem einzelnen Juden, wie ja die Juden des Westens jeder an Judentum Verlust erlitten haben? Verurteilt zur Angleicherei, zur »Moderne«, zur »Jetztzeit«, zu Europa, zum Mischmasch? Arnold Zweig, Das ostjüdische Antlitz193

Andere Hybride verdienen ebenfalls unsere Aufmerksamkeit – Hybride, deren Marginalisierung aus einer geografisch verlagerten Liminalität (Erich Walter Sternbergs Emigration in das Palästina der Mandatszeit), ihrer falschen historiografischen Kontextualisierung (Mario Castelnuovo-Tedescos Anleihen bei der sephardisch-italienischen Liturgie) oder der Betonung der eigenen Assimilation an das zionistische Projekt, das ein eigenes Zentrum durchsetzte, geschuldet ist. So verbindet sich etwa in der Geschichte von Sternbergs achtsätzigem Klavierstück Östliche Visionen (1924–26) eine modernistische Liminalität, deren Energie keiner Opposition entsprang, mit der Geschichtsschreibung der israelischen Kunstmusik, die seine ideologisch neutrale Abschwächung osteu190  David A. Brenner, Marketing Identities. The Inventions of Jewish Ethnicity in »Ost und West«, Detroit 1998, 17, 141 f., 157–161. 191 Brenner, Marketing Identities, 20. 192 Brenner, Marketing Identities, 162–164. 193  Arnold Zweig, Das ostjüdische Antlitz. Zu 50 Zeichnungen von Hermann Struck, Berlin 1920, 29 f.

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ropäisch-jüdischer Musikmerkmale nicht berücksichtigte (und nicht berücksichtigen konnte). 1891 in eine Berliner jüdische Familie der oberen Mittelschicht geboren, begann Sternberg seine Karriere als Komponist eher spät, nachdem er ein Jurastudium in Kiel abgeschlossen und danach sechs Jahre lang privaten Kompositionsunterricht bei dem Musikwissenschaftler Hugo Leichtentritt genommen hatte. Als er 1932 nach Palästina emigrierte, konnte er in seinem Lebenslauf Adolf Weißmanns begeisterte Kritik der Premiere seines Ersten Streichquartetts (1924) und weiterer Premieren vorweisen, die von Claudio Arrau, dem Berliner Philharmonischen Orchester und Hermann Scherchen aufgeführt worden waren.194 Sternberg baute sein Erstes Quartett auf dem jiddischen Lied »Der Parom« (»Die Fähre«) auf, dessen Motive und Variationen er nach und nach zu einer Fuge gestaltete, während das Lied erst am Ende von einem Mezzosopran gesungen wird (vermutlich eine Anspielung auf Schönbergs Zweites Streichquartett). Die gesungene jiddische Originalmelodie legt sich über die vorhergehenden harmonischen und polyfonen Entwicklungen des Lieds; Sternberg enthüllt seine Quelle, während er sie mit der kontrapunktischen Klimax verflicht. In ihrem Schwanken zwischen traditionellen harmonischen Auflösungen, chromatischen Sequenzen und Aggregaten die sich zumeist zu erkennbaren Akkorden zusammenfügen, erinnern die musikalischen wie die außermusikalischen Elemente an Leichtentritts Lesart von Schönbergs Atonalität als eine »verkleidete Tonalität«. Schönbergs Cluster und Aggregate schienen Leichtentritt in eine tonale Ordnung auflösbar;195 solche Formulierungen betrachtete er als erstrebenswert für eine neue Synagogenmusik, die zeitgenössische musikalische Syntaxen integrieren sollte.196 Zu einer Zeit, in der Migranten aus dem Osten nach Berlin strömten, dokumentierte und desartikulierte Sternbergs Streichquartett, und eindringlicher noch seine Östlichen Visionen, die Klänge, die Joseph Roth in poetischen Feuilletons über Berlin beschrieb: das hektische Treiben in der Hirtenstraße, der Hauptstraße einer »Ghettowelt«, in der sich »helles Geschrei« polnisch-jüdischer Kinder mit einem leise gesprochenen Gebet vermischt.197 Ähnliche Klänge waren aus dem Logierhaus zu vernehmen: »Auf dem Fußboden zusammengerollte Körper wie Gepäckstücke auf einem Bahnsteig. […] Kinderkreischen flattert in den Winkeln herum. Seufzer verlieren sich in den Ritzen der Dielenbretter.«198 194  Erich Walter Sternberg, »Autobiografie« (Hebr.), Tazlil, 7 (1967): 177 f.; Gradenwitz, The Music of Israel, 369–372; Hugo Leichtentritt, Music of the Western Nations, Cambridge, MA, 1956, 44. 195  Hugo Leichtentritt, Schönberg and Tonality, Modern Music, 5.4 (1927): 3–10. 196  Michael Brenner, Jüdische Kultur in der Weimarer Republik, übers. v. Holger Fliessbach, München 2000, 174. 197  Joseph Roth, Der Orient in der Hirtenstraße, in: Michael Bienert (Hg.), Joseph Roth in Berlin. Ein Lesebuch für Spaziergänger, Köln 2010, 73–75; zuerst erschienen in Neue Berliner Zeitung (4.5.1921). 198  Joseph Roth, Flüchtlinge aus dem Osten, in: ders., Das journalistische Werk, Bd.  1: 1915

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Kapitel 1:  Hava Nagila?

Sternbergs Östliche Visionen ersetzte erkennbare Zitate durch osteuropäische Melodietypen, die er durch ein geografisch animiertes, linear-chromatisches Vokabular verfremdete. Komponiert von 1924 bis 1926, entfaltet das Stück zudem nicht nur einen Osten, sondern zwei. Von 1925 an reiste Sternberg jedes Jahr nach Palästina, um seine erste Frau, Frida Sternberg-Feiner, und ihre drei gemeinsamen Kinder zu besuchen.199 Die Institutionalisierung von Kunstmusik in Palästina erfolgte zwar erst ein Jahrzehnt später (und Sternberg trug nach seiner Einwanderung 1932 selbst zu ihr bei), aber wie viele europäische Juden, die in Jaffa eintrafen, muss Sternberg die buntscheckige Klangkulisse des orientalischen Hafens beeindruckt haben – die durchdringenden Rufe der kräftigen Araber, die die Passagiere in kleinen Segelbooten an Land beförderten, 200 oder die aus den Läden ertönende arabische Musik. Es ist auch denkbar, dass Sternberg im Jischuw arabischen Juden begegnete, ihre Liturgie aus einer Synagoge erklingen hörte oder sogar bestimmte Merkmale des sich herausbildenden Repertoires volkstümlicher Musik wahrnahm. Als Tourist war Sternberg jedoch mit den Codes und Nuancen der hebräischen Kultur (die er später ablehnte) 201 noch nicht umfassend vertraut; für sein Stück wählte er einen ausreichend exotischen Titel, der nur teilweise etwas bezeichnete. Was die Visionen zusammenhält, ist neben den Themen und Melodien, die sich durch die acht Teile ziehen, das Eröffnungsthema, dessen kompositorische Mittel dem Ersten Quartett ähneln. Aus diesem Grund hielt Sternberg die Einleitung für obligatorisch; in seinen Anweisungen für die Berliner Premiere betonte er nachdrücklich, sie müsse aufgeführt werden, da den Zuhörern die Form andernfalls unverständlich bleibe.202 Die Eröffnung besteht aus Ostinati, chromatischen Aggregaten, die sich in Halbtonschritten entwickeln und durch intervallische Rahmen von Septimen und Nonen geführt werden, sowie einem unbegleiteten Motiv, das zum ersten Satz hinführt (Beispiel 1.7a), in dem Sternberg kurz einen freygishen Melodietypus anklingen lässt, aber sogleich modifiziert, um seine möglichen harmonischen Auflösungen zu unterminieren.

bis 1923, hg. v. Klaus Westermann, Köln 1989, 384 f.; zuerst erschienen in Neue Berliner Zeitung (20.10.1920). 199  Frida Sternberg-Feiner, eine zionistische Aktivistin, wird in den Briefen von Shmuel Yosef Agnon an seine Frau erwähnt. Indirekt geben sie auch Aufschluss über Sternbergs Besuche in Palästina: Agnon erwähnt Frida erstmals in einem Brief vom 16. Dezember 1924, nachdem er sie in Tel Aviv getroffen hat; beinahe vier Jahre später, am 15. August 1928, schreibt er, dass ihr Ehemann in derselben Woche eintreffen werde. Am 6. Juli 1931 schließlich berichtet Agnon in einem Brief, er habe die Sternbergs am Strand von Tel Aviv getroffen. Vgl. Shmuel Yosef Agnon, »Liebe Esterlain: Briefe (1924–1931)« (Hebr.), Jerusalem 1983, 39, 143, 286. 200  Anita Shapira, Land and Power. The Zionist Resort to Force: 1881–1948, New York 1992, 54. 201  Vgl. Kapitel 2. 202  Erich Walter Sternberg, Östliche Visionen (Uraufführung), eine Folge von acht Stücken, 1924–1926, Manuskript, Israeli Music Archive, Tel Aviv University, SHT 817.

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Kontrollfälle

Beispiel 1.7: a) Erich Walter Sternberg, Östliche Visionen, Einleitung, T. 1–15. © Mit freundlicher Genehmigung des IMI Israel Music Institute, Tel Aviv.

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Kapitel 1:  Hava Nagila?

Beispiel 1.7: b) Sternberg, Östliche Visionen, III, T. 1–12. © Mit freundlicher Genehmigung des IMI Israel Music Institute, Tel Aviv.



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Beispiel 1.7: c) Sternberg, Östliche Visionen, VI, T. 1–4. © Mit freundlicher Genehmigung des IMI Israel Music Institute, Tel Aviv. Doloroso

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Beispiel 1.7: d) Sternberg, Östliche Visionen, VIII, T. 1–3 (Doppelfuge, erstes Thema). © Mit freundlicher Genehmigung des IMI Israel Music Institute, Tel Aviv.

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Beispiel 1.7: e) Sternberg, Östliche Visionen, VIII, T. 31–33 (Doppelfuge, zweites Thema). © Mit freundlicher Genehmigung des IMI Israel Music Institute, Tel Aviv. piu moto > j œ œ œn œ n œ & ≈ # œ œœ œjœ # œ. œ œ # œ. œ œ œ # œ œ n œ. # œ œ n œ. œ # œ n œ # œ. œ œ. # œ. # . . œ. # œ. . . # œ œ # œ . j j n >œ œ. œ. œ. œ œ œ. œ n œ # œ. ? ≈ w bw bw w

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Kapitel 1:  Hava Nagila?

Beispiel 1.7: f) Sternberg, Östliche Visionen, VII, T. 45–53. © Mit freundlicher Genehmigung des IMI Israel Music Institute, Tel Aviv.

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Diskurs, der sich außerhalb der jüdischen Gemeinschaften entwickelte, nahmen nur sie teil. Letztlich aber stellten seine Visionen die irreführende Unterscheidung zwischen West- und Ostjuden infrage, die sich Kalmar zufolge »weniger auf die Geografie bezog als auf das Ausmaß des Dialogs mit nichtjüdischen Lebens- und Denkweisen«.204 Andere Kontrollfälle untergraben solche binären Konstruktionen noch weiter. Ein Beispiel dafür sind die zur selben Zeit wie Sternbergs Visionen verfassten Tre corali su melodie ebraiche (1926) von Castelnuovo-Tedesco. Wie Sternbergs jüdische Werke gehörte Castelnuovo-Tedescos jüdischer Zyklus zu einer zweiten und letzten Welle moderner jüdischer Kunstmusik in Mittel- und Westeuropa, deren Entstehung wir folgendermaßen verstehen können: Während Bloch in Nordamerika damit beschäftigt war, sich neu zu definieren und mit unterschiedlichen interpretativen Gemeinschaften und neuen Beschränkungen auseinanderzusetzen, 205 hatte sein europäischer jüdischer Zyklus mehrere jüngere Komponisten dazu angeregt, seinem Beispiel zu folgen, ohne sich auf Blochs Exotismus und Dialektik zu beschränken.206 Bei Castelnuovo-Tedesco stoßen wir allerdings auf eine historiografische Rezeption, die mit Problemen befrachtet ist: mit einer Reihe philosemitischer Narrative einerseits und einem nationalistischen Diskurs, der die deutsche und französische kulturelle Umgebung kanonisiert, die italienische Szene der ästhetischen Moderne jedoch übergeht, andererseits.207 Wissenschaftler wie Irene Heskes, Abraham Soltes 204  Ivan Davidson Kalmar, Moorish Style. Orientalism, the Jews, and Synagogue Architecture, Jewish Social Studies, 7.3 (2001): 85. 205  Klára Móricz, The Birth of a Nation and the Limits of the Human Universal in Ernest Bloch’s America, American Music, 29.2 (2011): 168–202; Philip V. Bohlman, Ernest Bloch’s America (1926). Aesthetic Dimensions of a Swiss-American Auswandererbericht, Yearbook of German-American Studies, 25 (1990): 35–54. 206  Darius Milhaud zum Beispiel traf Bloch (vermutlich 1916) in Genf, wo dieser ihm »seine Poèmes Juifs mit ihrem mächtigen biblischen Schwung vorspielte«. Als junger, zu beeindruckender Komponist, den Blochs Macbeth faszinierte (Milhaud erinnerte sich, alle sechs Aufführungen in Paris besucht zu haben), schrieb er 1916 seine eigenen Poèmes juifs (»musikalische Fassungen für einige anonyme Gedichte, die ich in einer Zeitschrift gefunden hatte«). Ungeachtet seines Vorbilds Bloch deutete sich im musikalischen Vokabular dieser Poèmes bereits der Stil an, der in Milhauds nach dem Ersten Weltkrieg geschriebenen Werken, etwa Le Boeuf sur le toit (1919) und Saudades do Brazil (1920), klarer herausgebildet ist. Vgl. Darius Milhaud, Noten ohne Musik. Eine Autobiographie, übers. v. Eva Maria Neumeyer, München 1962, 46, 28, 57; Barbara L. Kelly, Tradition and Style in the Works of Darius Milhaud, 1912– 1939, London 2003, 130–135. 207  Richard Taruskin, Back to Whom? Neoclassical as Ideology, 19th-Century Music, 16.3 (1993): 286–302; Scott Messing, Neoclassicism in Music: From the Genesis of the Concept through the Schönberg/Stravinsky Polemic, Ann Arbor 1989. Castelnuovo-Tedescos jüdischer Zyklus der italienischen Periode umfasst Le danze del Re David: rapsodia ebraica su temi tradizionali (1925); Tre corali su melodie ebraiche (1926); Chant Hébraique: Vocalise (1928); »I Profeti«, secondo concerto per violino (1931); Lechà dodi (für vierköpfigen Männerchor und einen Chasan, 1936). Nach der Einführung von Rassegesetzen in Italien (Mai 1938) emigrierte Castelnuovo-Tedesco im Juli 1939 in die Vereinigten Staaten.

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Kapitel 1:  Hava Nagila?

und Harriette Rosen haben sich auf Castelnuovo-Tedescos musikalische Zitate und seine Quellen konzentriert und sind den autobiografischen Darstellungen des Komponisten gefolgt 208 – zulasten einer Kontextualisierung seiner jüdischen Identität, die sich infolge der wachsenden Beteiligung von Juden am politischen und gesellschaftlichen Leben Italiens sowie einer durch die Emanzipation ausgelösten sozialen Verunsicherung auf eine sekundäre und private religiöse Praxis beschränkte.209 Musikwissenschaftliche Diskurse dieser Art haben folglich die Verschränkung von Zitat und (jüdischer) Identität bekräftigt und so das Paradigma ausgeweitet, das zur Aufnahme von Ravel in Gdal Saleskis Lexika jüdischer Musiker führte.210 Auch für den sich herausbildenden Kanon jüdischer Musikwissenschaftler, die der osteuropäischen Klanglandschaft Authentizität zuschrieben, war es prägend, dass die jüdische Identität von Komponisten an der Verwendung jüdischer Melodien festgemacht wurde. So formulierte etwa der in Ungarn geborene Komponist Boskovich (der wenig später nach Palästina auswanderte) nach eigenen Feldforschungen über die jiddischen Lieder der Karpaten 1937 einige Reflexionen über die Probleme jüdischer Musik, die den Appell an Komponisten enthielten, die Eigenschaften osteuropäisch-jüdischer Volksmusik (vor allem ihre monofonen Züge) in ihre Harmonien und Formen aufzunehmen. Unter diesem Gesichtspunkt betrachtete er Castelnuovo-Tedescos Tre corali als eine interessante Verbindung jüdischer Substanz und italienischer Form, kritisierte jedoch das eurozentrische Gewand der Komposition, deren Harmonie von dieser Verbindung unberührt geblieben sei.211 Castelnuovo-Tedesco, ein sephardischer Jude aus Florenz, lernte eine sephardisch-italienische Liturgie kennen, deren musikalische Eigenschaften sich von Boskovichs ethnografischen Funden deutlicher nicht hätten unter208  Abraham Soltes, Off the Willows. The Rebirth of Modern Jewish Music, New York 1970, 98–101; Irene Heskes, Passports to Jewish Music. Its History, Traditions, and Culture, Westport 1994, 288–290; Harriette Mildred Rosen, The Influence of Judaic and Liturgical Music in Selected Secular Works of Mario Castelnuovo-Tedesco and Darius Milhaud, Dissertation an der University of California, 1991; Mario Castelnuovo-Tedesco, Modern Composer Tells Story of Life, Jewish Press (21.6.1940): 2, 5; ders., Jewish Background of an Exiled Musician, American Jewish Outlook (26.7.1940): 4. Die zwei letztgenannten Quellen sind gekürzte Versionen des unveröffentlichten Textes »The Jewish Chapter of my Autobiography«, Manuskript und Typoskript, Mario Castelnuovo-Tedesco Collection, LOC, Box-Folder 116/13. 209  Mario Toscano, Italian Jewish Identity from the Risorgimento to Fascism, 1848–1938, in: Joshua D. Zimmerman (Hg.), Jews in Italy under Fascist and Nazi Rule, 1922–1945, Cambridge 2005, 40–48; Michele Sarfati, The Jews in Mussolini Italy. From Equality to Persecution, übers. v. John und Anne C. Tedeschi, Madison 2006, 6–10. 210  Gdal Saleski, Famous Musicians of a Wandering Race. Biographical Sketches of Outstanding Figures of Jewish Origin in the Musical World, New York 1927, 59–61; ders., Famous Musicians of Jewish Origin, New York 1949, 129–135. 211 Alexander U. Boskovich, »Das Problem jüdischer Musik«, in: Jehoash Hirshberg/ Herzl Shmueli (Hg.), »Alexander Uriah Boskovich. Leben, Werk und Denken« (Hebr.), Jerusalem 1995, 246. Boskovichs Text erschien zuerst auf Ungarisch in Kelet ét Nyugat Közott, Cluj 1937, 37–41.

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scheiden können. Ähnlich wie im Fall Blochs und anderer entfremdeter jüdischer Komponisten ist es auch hier von entscheidender Bedeutung, das Jüdischsein des Komponisten sowie sein Verständnis des Judentums im Allgemeinen und dessen Musik im Besonderen zu bestimmen. Da sich die meisten Musikwissenschaftler jedoch damit beschieden, seine liturgischen Quellen aufzuspüren, ließen Castelnuovo-Tedescos sephardische Importe nicht die Nadeln eines auf die osteuropäische Klanglandschaft geeichten musikwissenschaftlichen Seismografen ausschlagen, was zu seiner historiografischen Marginalisierung beitrug. Nicht nur dienten die deutsche und französische moderne Musik (die in der Zwischenkriegszeit am innovativsten waren) als Maßstab für die italienische, auch bewegte sich die sephardisch-italienische Liturgie (wie später die israelische Kunstmusik) unterhalb des Radars der Musikwissenschaft; sie wurde nicht auf dem Kontinuum moderner jüdischer Identitäten verortet und ihr Potenzial, die engen Paradigmen der osteuropäischen Klanglandschaft infrage zu stellen, blieb unbeachtet. Castelnuovo-Tedesco kommentierte dies (mit Klängen) selbst in einer aufschlussreichen Weise – mit einer kurzen Variation, der es gelang, Blochs Idiome als »andersartig« erscheinen zu lassen. 1925 hatte Castelnuovo-Tedesco ein Notenheft seines Großvaters mütterlicherseits, Bruto Senigaglia, entdeckt. Es stammte aus den Jahren 1862 bis 1864 und enthielt dreiteilige Arrangements liturgischer Melodien in jenem Choralstil, der für die Zeit nach dem Risorgimento charakteristisch war und Castelnuovo-Tedesco von »dürftigem Wert« zu sein schien.212 Dieses Urteil passt zu anderen abschätzigen Bemerkungen über die sephardische Liturgie, die Castelnuovo-Tedesco bei seinen gelegentlichen Synagogenbesuchen gehört hatte (»banale Musik des 19. Jahrhunderts, die aus dem furchtbarsten italienischen Melodrama hervorgegangen ist«).213 So sehr der Fund an sich Castelnuovo-Tedesco begeisterte214 – der wie die meisten Familienmitglieder nicht gewusst hatte, dass Senigaglia (ein Laienvorbeter) Noten lesen und schreiben konnte –, wirkte das Notenheft daher weniger als stilistischer denn als emotionaler Katalysator, der mehrere bereits vorhandene Tendenzen verstärkte. Castelnuovo-Tedesco gehörte der ersten Generation an, deren Eltern nach dem Risorgimento in einer säkularen Umgebung aufgewachsen waren und im Zuge ihrer vollständigen Integration in das wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Leben Italiens bestimmte Aspekte des Judentums aufgegeben hatten; seine jüdische Identität war eher kulturell als religiös geprägt. Dies führte keineswegs dazu, dass die 212  Edwin Seroussi, Livorno: A Crossroads in the History of Sephardic Religious Music, in: Elliott Horowitz/Moises Orfali (Hg.), The Mediterranean and the Jews. Society, Culture and Economy in Early Modern Times, Bd.  2, Ramat Gan 2002, 137–140; Mario Castelnuovo-Tedesco, Una Vita di Musica (un libro di ricordi), hg. v. James Westby, Florenz 2005, 92; Bruto Senigaglia, Fotokopie der handschriftlichen Noten, Mario Castelnuovo-Tedesco Collection, LOC, Box-Folder 94/12. 213 Castelnuovo-Tedesco, Una Vita, 192. 214 Castelnuovo-Tedesco, Una Vita, 194.

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Angehörigen seiner Generation das Judentum aufgegeben oder abgelehnt hätten – ihre kulturelle Identität bedeutete durchaus, dass sie sich weiterhin als Juden verstanden: Sie waren tägliche Gebetslesungen gewohnt, selbst wenn sie kein Hebräisch konnten, beachteten eine Art von Speisegesetzen und gingen an hohen Feiertagen in die Synagoge.215 Ohne jedes Wissen über die jüdische Liturgie und ihre Sprachen stützte sich Castelnuovo-Tedesco, der tatsächlich nur an bedeutenden Feiertagen die Synagoge besuchte (»meinen Eltern zuliebe«), 216 auf das ihm von Ildebrando Pizzetti vermittelte positive Bild der Ursprünge und des Telos jüdischer Musik und nicht auf die synagogale Liturgie, für die er wenig übrig hatte (»für mich, einen Florentiner, besaß der schöne Kirchenbau aus der Renaissance mehr Reiz als der Orientalismus der Synagoge […] deren Riten mir wenig bedeuteten und deren Musik mir weitgehend gleichgültig war«).217 Pizzetti hatte ihm erklärt, dass sich Spuren jüdischer Musik (insbesondere biblischer Tropen) im gregorianischen Gesang fänden;218 diese Wahrnehmung verstärkte sich bei Castelnuovo-Tedesco, als er Pizzetti bei der Arbeit an der Oper Debora e Jaele (1915–21) half,219 und fand bald einen Widerhall in seiner Kritik von dessen Messa di Requiem (1922/23). »Mitunter«, bemerkte Castelnuovo-Tedesco dort, scheine das Requiem über die Sphäre der christlich-gregorianischen Liturgie hinauszugehen, zu wesentlich weiter entfernten Ursprüngen; nicht zu einem undefinierten Orientalismus, wie es anderen erschienen sein mag, sondern konkret zur jüdischen Welt, der Welt der Bibel, die dem Autor von Debora [Debora e Jaele] am Herzen lag. Diese zerstreuten Melismen, die den schweren und unaufhaltsamen Gang des gregorianischen Dies irae begleiten und versüßen, erinnern mich an die Klagen der Propheten Israels und an die sich langsam biegenden Zweige der Weiden, an denen die Harfen des exilierten Volks hängen, das an den Strömen von Babel sitzt. Und die freudige explosive Energie des Sanctus, so funkelnd und lodernd wie das Schwert des Cherub in der Genesis, erinnert mich an den Jubel in den frohen Versen aus Davids Psalmen und an die heiligen Tänze vor dem Tabernakel.220

Diese Bilder nahmen ein Jahr später in Castelnuovo-Tedescos Le danze del Re David (1925) Gestalt an, dem ersten Stück, das er nach der Entdeckung des großväterlichen Notenhefts schrieb. Während er sich gegen eine Verwendung von dessen Themen entschied, animierte er seine Familie dazu, die von Senigaglia gesungenen Melodien zu rekonstruieren, und nahm sie in das Stück auf. Der Untertitel des Werks, rapsodia ebraica su temi tradizionali, spielte auf Blochs 215  Christina Bettin, Identity and Identification. Jewish Youth in Italy 1870–1938, Journal of Modern Jewish Studies, 4.3 (2005): 339. 216 Castelnuovo-Tedesco, Una Vita, 192. 217 Castelnuovo-Tedesco, Una Vita, 192. 218 Castelnuovo-Tedesco, Una Vita, 192. 219  Castelnuovo-Tedesco, Debora e Jaèle di Ildebrando Pizzetti alla Scala, Musica d’oggi, 5.1 (1923): 1–6; Guido M. Gatti, Ildebrando Pizzetti, übers. v. David Moore, London 1951, 29. 220  Mario Castelnuovo-Tedesco, Recensioni – La Musica: Ildebrando Pizzetti, Il pianoforte 5.2 (1924): 56 f.

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Beispiel 1.8: a) Scirà di settimana aus dem Libro di canti d’Israele: antici canti liturgici del rito deli Ebrei Spagnoli, hg. von Federico Consolo (Florenz 1892), 9 (Text: Exodus 15:1: »Damals sang Mose mit den Israeliten dem Herrn dieses Lied; sie sagten: Ich singe dem Herrn ein Lied, / denn er ist hoch und erhaben. / Rosse und Wagen warf er ins Meer.«)

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Kapitel 1:  Hava Nagila?

Beispiel 1.8: b) Mario Castelnuovo-Tedesco, Tre corali su melodie ebraiche, III, T. 1–12. (Vorangestellt ist dem Satz Exodus 15:1). Vivo e scalpitante

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vom Wissen des Eingeweihten sowie der Fähigkeit des Ethnografen, seine Funde verlässlich zu dokumentieren und zu bewerten. Statt eines direkten Zitats ist Castelnuovo-Tedescos Thema daher ein centonisiertes: Es paraphrasiert Takt 2 und 3 der ersten strofa der Scirà di settimana und Takt 1 bis 4 der zweiten als ein symmetrisches Motiv, dessen Schluss auf einem tritonalen Knotenpunkt die alternierenden B- und G-Dur-Akkorde in der Begleitung ergänzt (dieser Tritonus impliziert zwar Oktatonik, Castelnuovo-Tedesco verlässt aber nie das B-Dur, die Tonika der Scirà di settimana; Beispiel 1.8b). Idiomatisch beziehen sich weder Le danze noch die Tre corali auf Blochs jüdischen Zyklus, den Castelnuovo-Tedesco anhand der Manuskripte,

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die dieser Pizzetti geschickt hatte, eingehend studierte.223 Während Le danze auf kurzen Elementen beruht (nämlich knappen, thematisch unverwandten und strukturell unterschiedlichen musikalischen Momenten, denen jeweils eine Variante derselben einfachen Fanfare vorausgeht), wie sie Gian Francesco Malipieros Pause del Silenzio I (1917) charakterisieren,224 ähnelten die Tre corali stärker Ottorino Respighis Tre preludi sopra melodie gregoreane (1921), die mit ihrem tonal-modalen Ambiente in vieler Hinsicht ihr nichtjüdischer Vorläufer waren. In keinem seiner Werke aber verwendete Castelnuovo-Tedesco osteuropäische Melodietypen, die auch im Libro di canti d’Israele nicht auftauchten. Castelnuovo-Tedesco, der die sephardische Liturgie gefiltert durch die Schablonen seiner italienischen Zeitgenossen wahrnahm, schuf mit seinem ohne osteuropäische Andeutungen und Melodietypen auskommenden jüdischen Zyklus ein Werk, das dem binären Denken von Essentialisten wie Antiessentialisten zuwiderläuft. 1929 schrieb er zudem einen aufschlussreichen musikalischen Kommentar, der den Unterschied zwischen einem Exotismus à la Bloch und seiner eigenen musica ebraica deutlich machte. In B-a-ba, variazioni sopra un tema infantile, einer Reihe von Variationen, die auf einem Kinderlied aufbauen, verknüpfte er das Thema mit den Texturen bekannter Werke. Die siebte Variation zum Beispiel lehnte sich an Bachs Präludium in C-Moll an (Das Wohltemperierte Klavier, Teil I), während das Thema in der Sopranstimme erschien; andere Variationen präsentierten es gefiltert durch die Texturen von Ravels Ondine (Var. I), Debussys Jardins sous la pluie (Var. IV), Strawinskys Pulcinella (Var. V), Malipieros La Predica agli Uccelli (Var. IX), Casellas Scarlattiana (Var. XI) und von Castelnuovo-Tedescos eigenem Stück Alt Wien (Var. VI). Und er platzierte in B-a-ba ein einziges jüdisches Signal: eine Hommage an Blochs Schelomo (Var. III). »Schelomo war eine Offenbarung für mich«, schrieb er später in seiner Autobiografie: Es vermittelte mir ein erstes Gefühl dafür, was »jüdische Musik« sein könnte (oder zumindest eine bestimmte Art von jüdischer Musik: Was jüdische Musik letzten Endes ist, weiß ich bis heute nicht, abgesehen davon, dass sie eine gewisse biblische Inspiration teilt). […] Schelomo fiel mir auf: In dieser Musik voller Phantasie (wenngleich ein wenig an Form und Ordnung mangelnd) fand ich Akzente, die erfüllt waren von Schmerz, plötzlichem Entzücken, plötzlichen Depressionen und unerwarteten Begeisterungen, alles in allem eine »offenbarte Seele« (selbst in der orientalisierenden Fülle der orchestralen Aufführung): Ich war buchstäblich fasziniert und spielte das Stück viele Male. 225

Doch das musikalische Vokabular von Schelomo war weit entfernt vom Exotismus der Zeitgenossen Castelnuovo-Tedescos wie auch der italienisch-sephardischen Liturgie, die er durch seine Melodierekonstruktionen und das Libro di canti d’Israele kennengelernt hatte. Schelomo hatte keinen idiomatischen Ein223 Castelnuovo-Tedesco,

Una Vita, 192. C. G. Waterhouse, Gian Francesco Malipiero. The Life and Music of a Wayward Genius, 1882–1973, Amsterdam 1999, 119. 225 Castelnuovo-Tedesco, Una Vita, 192. 224  John

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Beispiel 1.9: a) Castelnuovo-Tedesco, B-a-ba, variazioni sopra un tema infantile, Var. III: Schelomo (Omaggio a Bloch), T. 1–4.

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Beispiel 1.9: b) Castelnuovo-Tedesco, B-a-ba, variazioni sopra un tema infantile, Var. III, T. 22–25.

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fluss auf seinen jüdischen Zyklus: »Trotz des ›Schwungs‹ und des Beispiels Blochs«, so Castelnuovo-Tedesco, hatte Schelomo »ein gewisses ›weinendes‹ Element, eine Erinnerung an die ›Klagemauer‹ und die in die Versklavung gezwungenen ›Träumer des Ghettos‹«. Castelnuovo-Tedesco schwebten andere Klänge vor; Blochs König Salomo (»der salbungsvolle [Autor] der Sprichworte; und vor allem der verbitterte und pessimistische Autor der Ecclesiastes«) zog er den »jungen und kühnen, kampflustigen und leidenschaftlichen [König] vor,

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der vor dem Herrn die Harfe spielte und bei der Bundeslade tanzte«.226 Dieser König, David, verkörperte eine andere Klanglandschaft: Centonisierte Melodien aus der italienisch-sephardischen Liturgie, die durch Idiome der modernen italienischen Musik gesiebt und manchmal auf sie aufgepflanzt wurden. In diesem Kontext konnten Blochs Idiome nur als Material für kompositorische Einlagen dienen. Die dritte Variation von B-a-ba verändert die ersten Töne des Themas von einer reinen Quarte zu einem Tritonus, um den Klang von Blochs Musik heraufzubeschwören. Diese Tritoni bewegen sich durch unterschiedliche Register und vervielfältigen sich vor dem Hintergrund von Tremoli auf offenen Quinten (was an die Texturen in Schelomo erinnert; Beispiel 1.9a), über die Castelnuovo-Tedesco eine Reihe von freygishen Melodietypen legt, die durch gemeinsame Töne vernäht werden (Beispiel 1.9b). Für Castelnuovo-Tedesco stellten diese eingestreuten Idiome eine Andersartigkeit dar, da weder die sephardisch-italienische Liturgie noch sein Bild eines altertümlichen Orientalischen die osteuropäischen Merkmale227 oder exotischen Klischees umfassten, die in Schelomo den Zerfall von Signifikation angezeigt hatten.228

Statt einer Zusammenfassung Moderne jüdische Kunstmusik umfasst mehr als Judentum oder Yiddishkeit. Der frühere Essentialismus, der an die Existenz eines hebräischen Geistes glaubte (der östlich von dort vermutet wurde, wo Westjuden über ihr Jüdischsein nachdachten), lässt sich nicht einfach einer antiessentialistischen Umkehrung unterziehen, die Komponisten vorwirft, mit denselben musikalischen Kennzeichen zu arbeiten, die das soziale Phantasma der nichtjüdischen Mehr226 Castelnuovo-Tedesco,

Una Vita, 194–196. Zur Vorstellung authentischer orientalischer Wurzeln des Judentums, die literarischen Quellen zufolge ab den 1850er Jahren in Italien aufkam, meint Francesco Spagnolo, dass »das Gefühl der Überlegenheit, das die aus dem Orient stammende Musik damals vermittelte […] in den alten […] Liedern enthalten war.« »Die in den Debatten über Musik und Liturgie zu erkennende Vorstellung von Orientalismus ging jener voraus, die sich später im maurischen Architekturstil ausdrückte, und aus genau diesem Grund wurde nicht alle Musik dem neuen monumentalen Stil der Modernisierungsbewegung angepasst. […] Anders als im Fall der Architektur hatten italienischen Juden wenigstens in der Musik das Gefühl, dass sie nicht an anderen Orten suchen mussten, um ihre Wurzeln, ihren ›eigenen‹ Stil zu finden. Es gab einen gewissen Anteil alter, ›orientalischer‹ – und somit authentischerer, weniger vermittelter – Musik, der in der Liturgie gepflegt werden musste, um einen verwurzelten und eigenständigen jüdischen Stil zu bewahren, der später auch in der Architektur einen Ausdruck fand.« Francesco Spagnolo, Those Notes in the Minor Mode. Oriental Themes, Liturgical Debates, and Musical Icons in Nineteenth-Century Italy, in: Eitan Avitsur/Marina Riztarev/Edwin Seroussi (Hg.), Garment and Core. Jews and their Musical Experiences, Ramat Gan 2012, 98. 228  Assaf Shelleg, »›Von den Kindern von Fremden und Hebräern‹. Mario Castelnuovo-Tedescos jüdischer Zyklus in Italien« (Hebr.), Dissertation an der Hebräischen Universität Jerusalem, 2008. 227 

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heit befeuerten. Tut man dies, dann spricht man Blochs jüdischem Zyklus Überlegungen ab, für die Ravels Arrangement von »Die alte kasche« gelobt werden. Zudem hat sich gezeigt, dass die aus der osteuropäischen Klanglandschaft stammenden exotischen Klischees Resultat einer nationalistischen Trägheit sind, die in ausgrenzenden Formeln verharrt. Moderne jüdische Kunstmusik umfasst (um bei Osteuropa zu bleiben) auch die Desartikulation solcher stereotypen Musikmerkmale, ebenso wie sephardische Liturgien und die Dynamik, die im Jischuw und gleichzeitig in den Vereinigten Staaten entstand (worüber ein weiteres Buch zu schreiben wäre). Wenn karikaturartige Klischees umstandslos als Ausdruck eines Antisemitismus von Juden gedeutet werden, müsste Dvoˇráks stilistische Erfindung des Mährischen ein Zeichen tschechischen Selbsthasses sein, nur weil »mährische Musik für die Prager das war, was ›tschechische Musik‹ für die Deutschen war«.229 Demnach wäre auch Toni Morrison ein Fall von afroamerikanischem Selbsthass, nur weil sie die Abwesenheit des eigenen Vorfahren im Text als bedrohlich, zerstörerisch und verwirrend bezeichnet hat (»Wenn man seinen Vorfahren tötet, tötet man sich selbst«).230 Wenn wir Formen von Autoexotismus nicht einfach als eine im Ergebnis selbsterniedrigende Verinnerlichung antisemitischer Diskurse fassen wollen, sollten wir Kontrollfälle berücksichtigen, die die zentrale Bedeutung der osteuropäischen Klanglandschaft infrage stellen, besonders wenn sie deren Klänge verwenden, neu zusammensetzen und rekontextualisieren. Wie Stepan und Gilman gezeigt haben, konnten unterschiedliche Wahrnehmungen von Realität, Zielen und Bezugspunkten die Relevanz stereotypisierender Diskurse wirkungsvoll auflösen.231 Dies belegen auch dialektische Prozesse, die Zeichen dekonstruieren und durch Symbole ersetzen (Bloch, Sternberg), die Metapoetik von Repräsentation (Schönberg) und sogar Werke, die eine relative »Andersartigkeit« darstellen (Castelnuovo-Tedesco). Doch die Geschichte endet nicht in Europa. Als 1939 alles zum Halt kam, hatte die Mehrheit der europäischen Juden die Neue Welt Eretz Israel vorgezogen, das viele als Wüste (oder nur eine andere Art von Ghetto) sahen. Gleichwohl zog die Entstehung des Hebraismus in Palästina eine geokulturelle Trennung (zwischen dem Land Israel und der jüdischen Diaspora) nach sich, die rhetorisch durch eine Reihe von Stereotypen aus der antisemitischen Vorstellungswelt gestützt wurde und die jüdische Vergangenheit ablehnte, um die sich herausbildende hebräische Gegenwart zu rechtfertigen. Der Hebraismus war auch das Ergeb229  Michael Beckerman, New Worlds of Dvor ˇ ák. Searching in America for the Composer’s Inner Life, New York 2003, 16; Leon Platinga, Dvorák and the Meaning of Nationalism in Music, in: David R. Beveridge (Hg.), Rethinking Dvorák. Views from Five Countries, Oxford 1996, 117–123. 230  Toni Morrison, The Ancestor as Foundation, in: D. Soyini Madison (Hg.), The Woman That I Am. The Literature and Culture of Contemporary Women of Color, New York 1994, 496 f. 231  Stepan/Gilman, Appropriating the Idioms of Science, 185.

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nis einer Reinigungsprozedur: Religiöse und traditionsbezogene Hybride aus der Kultur der jüdischen Diaspora wurden politisch in eine gereinigte Form übersetzt, die nicht etwa eine kulturelle Symbiose, sondern eine Umkehrung des Lebens im Exil anzeigte. Der Blick von Wissenschaftlern auf die israelische Kunstmusik ist davon geprägt gewesen, dass sie die moderne Trennung zwischen der Produktion von Hybriden und der gereinigten Fassade des Hebraismus ignorieren. Die israelische Kunstmusik wurde von ihrer europäischen Vergangenheit und folglich auch von ihren weiter wirkenden jüdischen Unterströmungen abgelöst, deren Hervorbrechen in den 1960er und 1970er Jahren – wie zu erwarten – dann ebenfalls übersehen wurde. Obwohl Komponisten die europäische ästhetische Moderne in das Palästina der Mandatszeit importierten, wurden die zwei Umgebungen (Europa und Palästina) historisch wie historiografisch voneinander getrennt, so als wollte sich man den Paradigmen des klassischen Zionismus fügen. Doch die Kompositionen derer, die aus freier Entscheidung oder mangels besserer Alternativen nach Palästina gingen, erweiterten ebenso wie die der Emigranten an der Ost- und Westküste Nordamerikas, was als moderne jüdische Kunstmusik in Mittel- und Westeuropa begonnen hatte. In seinem jüngeren Versuch, die Situation der modernen jüdischen Kultur theoretisch zu fassen, vergleicht Dan Miron sie mit »einer Menge über eine weite Ebene verstreuter Metallchips, auf die unterschiedliche und oftmals gegensätzliche magnetische Kräfte widersprüchliche Wirkungen haben. Diese Chips bildeten vermutlich nie ein einziges, festes Objekt … [und] das ›Jüdische‹ dieser Kulturen lässt sich nicht durch äußere und fixe Kriterien definieren.«232 Die Geschichtsschreibung der modernen jüdischen Klangkunst sollte im Sinne Mirons imstande sein, die Bindestrich-Identitäten von Komponisten (wie auch die ohne Bindestrich) jenseits gereinigter Umkehrungen zu berücksichtigen. Sie sollte der Migration musikalischer Bilder von einer Umgebung in die nächste nachgehen und ihren dialektischen Fluss sowie die von ihnen angenommenen Bedeutungen untersuchen, statt sie in ein Modell des entweder/oder, von Essentialismus oder Antiessentialismus zu zwängen. Dies würde zu einer Kartografie der Überlagerung und Migration jüdischer Musikidiome führen, die durch geistigen Austausch mit Juden wie Nichtjuden und auch über die Grenzen Osteuropas hinaus vorangetrieben wurden. Doch selbst wenn wir innerhalb dieser Grenzen verbleiben, sollten wir beim Nachzeichnen relevanter kultureller Pfade auch musikalische Phänomene der Kontiguität berücksichtigen sowie die Art und Weise, wie Komponisten durch ihre Selbstdefinitionen negative Formen von Nationalismus untergruben und Prozesse der Hybridisierung sichtbar machten. Aus Sicht der Minderheit – vergessen wir dies nicht – war das Komponieren mit musikalischen Stereotypen, die von der nichtjüdischen Mehrheit geprägt oder als solche wahrgenommen wurden (da ihre Identität einen solchen 232 Miron,

From Continuity to Contiguity, 403.

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Reduktionismus benötigte), auch eine Art von geistigem Widerstand. Unabhängig davon, aus welcher Klanglandschaft Komponisten schöpften, blieben jüdische Tropen auch im kulturgeschichtlichen Kontext Israels wiederkehrende Bezugspunkte, die sich in unterschiedlicher Nähe zur nationalen Allegorie vervielfältigten oder vor dem Hintergrund der ethnischen (und somit klanglichen) Umgebungen in Palästina als einander berührende Stimmen in dynamischem Gegensatz zu ihr herausbildeten. Bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs lebten Schönberg, Bloch und Castelnuovo-Tedesco in den Vereinigten Staaten. Als ihn das neugegründete Weltzentrum für Jüdische Musik in Palästina in einem Schreiben einlud, seine italienische Sektion aufzubauen und zu leiten, antwortete Castelnuovo-Tedesco, er bedauere es, dass er das alles nicht tun kann. […] Ich habe eine Beteiligung an Organisationen immer abgelehnt, selbst in meinem eigenen Land. Zudem meine ich, dass es aus politischen Gründen im gegenwärtigen Augenblick furchtbar schwierig wäre, italienisch-jüdische Komponisten zu organisieren (von denen es, soweit ich weiß, sehr wenige gibt) und eine Art von Kommunikation mit den ›jüdischen Kulturkreisen‹ herzustellen, die tatsächlich einen rein privaten Charakter haben. 233

Auch von den Vorhaben des Zentrums mit Bloch wurde sehr wenig verwirklicht. In Briefen aus den späten 1930er Jahren zog das Zentrum in Betracht, ihn zum Ehrenpräsidenten zu ernennen, nach Palästina einzuladen und seine jüdischen Werke aufzuführen, doch schlussendlich wurde nur Blochs Sacred Service in das Programm des größten vom Zentrum veranstalteten Konzerts am 18. Juni 1940 aufgenommen.234 Schönberg beantwortete die Briefe des Zentrums nie. Von den erwähnten Komponisten zog nur Sternberg 1932 nach Palästina, aber nicht aus den »richtigen« Gründen. Mehr als mit dem zionistischen Projekt hatte Sternbergs Entscheidung damit zu tun, dass seine Frau mit ihren drei Kindern bereits Mitte der 1920er Jahre nach Palästina emigriert war und er die Region durch seine Besuche kannte. Als erster einer Reihe vertriebener Komponisten, die nach Palästina gingen, steht Sternberg sowohl für die Individuen, deren Musik sich einer leichten zionistischen Aneignung widersetzte, als auch für den Fluss der modernen jüdischen Kunstmusik, die bald als »israelisch« bezeichnet wurde. In Sternbergs Emigration kündigte sich an, was als »deutsche Alija« in die Annalen der zionistischen Historiografie einging, und zugleich markierte sie den Abschluss dessen, was sich (im Rückblick) als die »Vorgeschichte der israelischen Kunstmusik« bezeichnen ließe. Von den frühen 1930er Jahren an setzten sich Komponis233  Castelnuovo-Tedesco an Salli Levi (12.7.1937), zit. n. Bohlman, The World Center for Jewish Music, 85 f. (meine Hervorhebung). 234  Selbst das Epigraf für Tibaldi Chiesas Artikel in Musica Hebraica entnahmen die Organisatoren Blochs Brief vom 22. Dezember 1937. Vgl. Bohlman, The World Center for Jewish Music, 56–59, 233–235; Maria Tibaldi Chiesa, Ernest Bloch – the Jewish Composer, Musica Hebraica, 1–2 (1938): 12–16.

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ten, die (und sei es nur zeitweilig) in das britisch verwaltete Palästina umgesiedelt waren, mit alten wie neuen ästhetischen und nationalen Grenzen auseinander – inmitten für sie unbekannter ethnischer Umgebungen, die die zentrale Bedeutung der osteuropäischen Klanglandschaft weiter untergruben. In diesem Osten wurde die moderne jüdische Kunstmusik noch erkundungsfreudiger.

Kapitel 2

Vor und nach der Staatsgründung: Die Verwässerung des Hebraismus … in Palaestina, wo so viele begabte Menschen versammelt sind, wird viel herumge­ pfuscht. Auf einer ganz schlimmen Stufe stehen die meisten Komponisten, im Bemuehen, eine »juedische« Musik zu schaffen, d. h. weinerlich russische und Machwerke von Folkloristen, auf die Ihre Beschreibung aus dem Vorwort zu den Chorsatiren so schoen passt. Der einzige Lichtstrahl scheint mir Stefan Wolpe, den Sie wohl auch kennen (er arbeitet am jerusalemer Konservatorium). Peter Gradenwitz an Arnold Schönberg (12. März 1936)1

Auf dem Weg von Deutschland in das Palästina der Mandatszeit realisiert Kurt Rosendorf, die Hauptfigur in Nathan Shachams Roman Das Rosendorf-Quartett, dass er sich »gegen die Richtung der Geschichte« bewegt.2 Nach der Verabschiedung der Nürnberger Gesetze konnte er, der erste Violinist des Quartetts, seine Karriere nicht mehr in Deutschland fortsetzen. »In aller Bescheidenheit«, teilt er dem Leser mit, »wäre Hitler nicht an der Macht, würde das Rosendorf-Quartett heute eines der bekanntesten der Welt sein, wie das Busch-Quartett oder das Griller-Quartett, und ich hätte, ohne Fragebögen ausfüllen zu müssen, nach England, Frankreich oder Amerika auswandern können.«3 Auf der Überfahrt, zwischen seiner Heimat und »einem Land mit wenig Kultur und sehr viel Politik«, wie er formuliert, und umgeben von den jüdischen Stereotypen, die für ihn ein Anlass zur Beunruhigung sind, rechnet sich Rosendorf zu den »Bürger[n] mosaischen Glaubens, die ihre polnische Herkunft verbergen«; er ist ein vielversprechender Violinist (wenngleich »zu sensibel«), dessen Ehe mit einer Nichtjüdin in einer Krise steckt: »Die Gegensätze im Charakter zwischen mir und Greta waren einfach und klar. Auch ein Fremder konnte das erkennen. Die Orthodoxen würden das Zerwürfnis zwischen ihr und mir als den geradezu beispielhaften Mißerfolg einer Mischehe bezeichnen.«4 Greta war an 1  Gradenwitz an Schönberg (12. März 1936), Arnold Schönberg Center, Wien, DVD059, www.schoenberg.at/letters/search_show_letter.php?ID_Number=10825 (letzter Zugriff 15.2. 2016). 2  Nathan Shacham, Das Rosendorf-Quartett, übers. v. Mirjam Pressler, Frankfurt a. M. 1990, 19. 3 Shacham, Das Rosendorf-Quartett, 20. 4 Shacham, Das Rosendorf-Quartett, 5, 30, 7.

104 Kapitel 2:  Vor und nach der Staatsgründung: Die Verwässerung des Hebraismus der Unscheinbarkeit ihres Mannes verzweifelt, und Rosendorf wusste, dass sie dies auf seine »jüdische Natur« zurückführte, auch wenn »sie sich hütete, es auszusprechen«. »Aber wenigstens unsere Tochter wird diesem Los entkommen«, tröstet er sich (während Shacham solche Apologetik verspottet), »in ihren Adern fließt auch das Blut bayerischer Bauern.«5 Doch Rosendorf emigriert allein. Greta würde niemals nach Palästina gehen: Aus ihrer Sicht durfte man »eine Blume wie Anna [ihre Tochter] nicht mitten in die Wüste pflanzen«. 6 Kurz zuvor von Bronisław Huberman, dem Gründer des Palestine Orchestra, angeworben, entging Rosendorf nicht die Ironie, dass er es in Deutschland abgelehnt hatte, sich nach den Gesetzen der Religion zu richten oder »einen Juden einem Menschen vorzuziehen, mit dem mich Gemeinsamkeiten des Geschmacks und des Gefühls verbinden«, sich nun aber auf dem Weg befand, in einem »Provinzorchester« »rassisch verfolgter Emigranten« zu spielen, ein Unternehmen, das ihn nötigen würde, »die Ansichten engstirniger Nationalisten« zu übernehmen.7 Shacham verstärkt dies noch: Bei einer Probe des Orchesters befindet Rosendorf, dieser »zusammengewürfelte Haufen« habe »keine gemeinsame Sprache […], nicht nur, was das Reden betrifft. Sie spielen die gleichen Noten, aber nicht dieselbe Musik.«8 Wie vielen – realen oder fiktiven – deutsch-jüdischen Emigranten schien Rosendorf Palästina »als vorübergehender Zufluchtsort […] sehr verlockend«.9 Begleitet von Erinnerungen an sein Heimatland (im hebräischen Original moledet, ein weibliches Substantiv) nimmt er die Klänge und Bilder auf seiner Reise durch die Brille der deutschen Kultur wahr: Der Motor des Schiffs zum Beispiel, das ihn nach Palästina bringt, »spielt einen Akkord in Es-Dur«10 und lässt so das Mittelmeer auf den Rhein zusammenschrumpfen, wie Shacham mit einem Hinweis auf die stürmische Eröffnung von Das Rheingold andeutet; an Bord trifft Rosendorf den Schriftsteller Egon Löwenthal (vermutlich eine Metonymie für Arnold Zweig),11 der als »ein wichtiger Teil Deutschlands« beschrieben wird; und in seiner Pension in Tel Aviv klingt eine Stimme in Rosendorfs Ohren »wie eine vergessene Melodie […], eine jener Melodien, die dann verschwinden, wenn man sich an sie erinnern will. Ein typischer Berliner Akzent, der mir den Hals abschnürte.«12 Der bescheidene Empfang in der Pension fühlt sich für Rosendorf daher an wie »[f]ester Boden unter den Füßen. Ein Stück Heimat im fremden Land.«13 Einen Kontrast zu diesen Eindrücken bil5 Shacham,

Das Rosendorf-Quartett, 10. Das Rosendorf-Quartett, 12. 7 Shacham, Das Rosendorf-Quartett, 21, 5, 21. 8 Shacham, Das Rosendorf-Quartett, 37. 9 Shacham, Das Rosendorf-Quartett, 12. 10 Shacham, Das Rosendorf-Quartett, 5. 11  Arnold Zweig, Verwurzelung, Orient, 14 (3.7.1942): 5–7. 12 Shacham, Das Rosendorf-Quartett, 23, 29. 13 Shacham, Das Rosendorf-Quartett, 29. 6 Shacham,

Kapitel 2:  Vor und nach der Staatsgründung: Die Verwässerung des Hebraismus 105

den die entstehenden urbanen Räume Palästinas: Entsprechend seiner von Shacham betonten Fremdheit schildert Rosendorf Tel Aviv als eine auf Sand gebaute jämmerliche, dörfliche und flache Stadt: »es gibt weder Industriegebiete noch Einkaufszentren oder einen Stadtkern«, sie ähnelt »einer Art großem, mediterranen Dorf […], in dem es weder eine Oper noch eine Kathedrale gibt«.14 In Tel Aviv werden unterschiedlichste Sprachen gesprochen, von denen Rosendorf keine versteht. Wenn die Menschen dort miteinander reden, scheinen sie sich anzuschreien; besonders misstönend erscheint ihm der unverständliche Jargon der Ostjuden, der »ihr lärmendes Wesen« unterstreicht.15 Nur am späten Nachmittag, wenn es dunkel wird, fühlt sich Rosendorf unter dem bleigrauen Himmel zuhause. Von der stechend grellen Mittelmeersonne befreit, versinkt die Stadt in der Dämmerung und verströmt eine schwere Melancholie, die an die gedämpften brauntönigen Gemälde Tel Aviver Maler aus den 1930er Jahren erinnert (die sich an der überwiegend aus osteuropäischen Emigranten bestehenden jüdischen Pariser Schule orientierten).16 Löwenthal, der Tel Aviv zu einem Aussichtsposten gen Westen degradiert (und so dem Jischuw den Rücken zukehrt), wird gewahr, dass die deutsche Literatur in Palästina »eine ungültige Währung« ist und die Wiederbelebung der hebräischen Sprache »eine ganze Generation von Juden von den europäischen Sprachen abschneiden wird, in denen die neuesten Ideen der modernen Wissenschaft geboren werden, von der neuen Literatur und politischem Denken ganz zu schweigen«.17 Die zionistische Rhetorik verspottend (»Auch bei den unbedeutendsten Angelegenheiten hört man hier den Flügelschlag der Geschichte«), sieht er in der entstehenden hebräischen Kultur des Jischuw eine säkulare Orthodoxie »ohne die Werte einer universalen Religion und ohne die europäische Tradition des Humanismus«, eine Kultur, deren Selbstisolierung »zu einem ekelhaft süßlichen, levantinischen Kitsch« zu verkommen droht.18 In einem anderen Roman, Schira, der im Jerusalem der 1930er Jahre spielt und vor allem die dortigen deutsch-jüdischen Gelehrten porträtiert, erweckt Shmuel Yosef Agnon die aus Emigranten bestehende Fakultät der Hebräischen Universität zum Leben. Er beschreibt die deutsch-jüdischen Akademiker als Vertriebene, denen es an weltanschaulicher Festigung mangelt; ihr Hoffen auf einen friedlichen Ausgleich erweist sich während des arabischen Aufstands (1936–39), als im Jischuw starke ideologische Spannungen heraufziehen, als unhaltbar. »Plötzlich, ganz plötzlich«, erzählt Agnon, sah man Neueinwanderer im Land. Wir hatten sie nicht erwartet, und auch sie hätten denjenigen ausgescholten, der ihnen vor zwei, drei Jahren gesagt hätte, sie würden her14 Shacham,

Das Rosendorf-Quartett, 28, 6. Das Rosendorf-Quartett, 15. 16  Gideon Ofrat, One Hundred Years of Art in Israel, Boulder 1998, 65–82. 17 Shacham, Das Rosendorf-Quartett, 296, 273. 18 Shacham, Das Rosendorf-Quartett, 271, 279. 15 Shacham,

106 Kapitel 2:  Vor und nach der Staatsgründung: Die Verwässerung des Hebraismus kommen. […] Diese Menschen, deren Väter und Vorväter das Land Israel auf deutschen Boden übertragen hatten und die Deutschland vielleicht mehr liebten, als Deutsche Deutschland lieben, plötzlich begann Deutschlands Erde unter ihren Füßen zu schwanken und zu wanken, und sie fanden keine Stätte, wo ihr Fuß ruhen konnte. […] So kamen sie eben ins Land Israel, das sie noch, wie seine Zerstörer, Palästina nannten.19

Nachdem er die deutsch-jüdischen Akademiker nach Jerusalem begleitet hat – ins »Land der Väter« (eine Formulierung, die Arnold Zweig in seinen Briefen an Freud immer in Anführungszeichen setzte)20 –, berichtet Agnon, unter diesen »Gelehrten« seien »Fachärzte und Universitätslehrer, denen ein hervorragender Ruf in Deutschland und im Ausland vorausging. Einige von ihnen waren ihren christlichen Kollegen ein Dorn im Auge gewesen, bei anderen wiederum hatte ihre Gelehrsamkeit bewirkt, daß die Christen über ihr Judentum hinwegsahen. Jetzt streiften sie durch die Straßen Jerusalems, ohne irgendwelche Aussichten auf eine Verdienstmöglichkeit.«21 Ob sie sich nun in landwirtschaftlichen Siedlungen oder Städten niederließen, viele von ihnen mussten den Beruf wechseln und mit Jobs ein Auskommen finden, die einen niedrigeren Status hatten als ihre frühere Beschäftigung. Wie Tom Segev prägnant formulierte: »Viele fanden als Bauarbeiter Beschäftigung. Ein Architekt wurde Zimmermann, ein Richter machte eine Reinigung auf und ein Zahnarzt einen Kurzwarenladen.«22 Doktor Manfred Herbst, die Hauptfigur in Schira, ist anders als die meisten Neueinwanderer freiwillig nach Palästina gegangen und einer der ersten Dozenten an der Hebräischen Universität; dennoch klagt er: »Alles was nicht zum Notwendigsten von Körper und Seele gehört, wird für Luxus gehalten, den sich ein solch armes Land nicht leisten kann.« Unter dieser Situation leidet auch Herbsts Forschung; sein nur langsam entstehendes Buch ist noch immer »nicht mehr als ein Bündel Zettelchen, Karten und Hefte« (ein Buch, das »in einer Schachtel zusammengefaltet wie ein toter Embryo im Mutterschoß liegt«, wie Agnon eindrücklich formuliert), und so teilt er den neu eintreffenden Emigranten verbittert mit, dass im Land Israel »auf jede Wissenschaft, die nicht direkt mit jüdisch-nationalen Aufgaben oder mit der Ethik der Propheten zu tun hat, von vornherein verzichtet wird«. Für diese ahnungslosen Einwanderer, die so taten, als lebten sie in einer deutschen Umgebung, werde es, so Herbst weiter, zwei bis drei Jahre dauern, bevor sie eine Stelle in der Verwaltung bekommen (»hier ist das Funktionärstum die Hauptsache, und alle Bedürfnisse der Menschen und des Staates sind ihm untergeordnet«) oder sich mit Beiträgen für Festschriften

19 

S. J. Agnon, Schira, übers. v. Tuvia Rübner, Frankfurt a. M. 1998, 56. Tom Segev, Die siebte Million. Der Holocaust und Israels Politik der Erinnerung, übers. v. Jürgen Peter Krause u. Maja Ueberle-Pfaff, Reinbek bei Hamburg 1995, 54. 21 Agnon, Schira, 58. 22 Segev, Die siebte Million, 69. 20 

Kapitel 2:  Vor und nach der Staatsgründung: Die Verwässerung des Hebraismus 107

über Wasser halten könnten (und jede Festschrift, so heißt es vorher im Buch, ist »ein Friedhof für Aufsätze«).23 Die Protagonisten in Schira und Das Rosendorf-Quartett hatten viele Doppelgänger im wirklichen Leben, deren biografische Pfade sich mit etlichen der in diesem Kapitel behandelten Komponisten kreuzten: deutsche und mitteleuropäische Juden, die vor Verfolgung oder wirtschaftlicher Not geflohen waren und die es eher in die entstehenden Städten Palästinas (die den Jischuw bald wirtschaftlich dominieren sollten) als in die landwirtschaftlichen Siedlungen zog. Sie wurden als »nicht weltanschaulich orientierte« Ergänzung der Bevölkerung des Jischuw gesehen und sprachen zumeist kein Hebräisch – die wichtigste ideologische Komponente in der Kultur des Jischuw –, während in Tel Aviv »Deutsch das Jiddische als größter Erzfeind des Hebräischen ablöste« und als die »Nazi-Sprache« bezeichnet wurde. Und sie litten unter einem kulturellen Bild, das sie behinderte – sie galten als eine zu Formalismus, Gehorsam, Akribie, Sparsamkeit und strengem Individualismus neigende Gruppe, die darüber hinaus dem Judentum entfremdet sei.24 Doch mit der als »deutsche Alija« bezeichneten Einwanderungswelle aus Mittel- und Westeuropa, die immens war – in den ersten acht Jahren des »Dritten Reichs« kamen fast 70.000 Menschen ins Land 25 –, traf auch eine kritische Masse an Instrumentalisten, Komponisten, Musikwissenschaftlern und Konzertbesuchern ein, die nicht nur das musikalische Leben in Palästina beflügelten, sondern auch die Kunstmusik im Jischuw institutionalisierten, nachdem die emigrierten russisch-jüdischen Komponisten (ehemalige Mitglieder der St. Petersburger Gesellschaft für jüdische Volksmusik), denen es in den 1920er Jahren an Infrastruktur gemangelt hatte, von der Bildfläche verschwunden waren.26 Bereits 1933 wurde das Symphonieorchester Ichud gegründet und von Gästen aus Deutschland wie Michael Taube und Wolfgang Friedländer dirigiert (die sich wenig später in Palästina niederließen). Im Sommer 1935 bekamen dreizehn 23 Segev,

Die siebte Million, 166 f., 107. Rakefet Sela-Sheffy, Integration through Distinction. German-Jewish Immigrants, the Legal Profession and Patterns of Bourgeois Culture in British-ruled Jewish Palestine, Journal of Historical Sociology, 19.1 (2006): 34–59; Adam Rubin, »Turning goyim into Jews«: Aliyah and the Politics of Cultural Anxiety in the Zionist Movement, 1933–1939, Jewish Quarterly Review, 101.1 (2011): 71–96; Anat Helman, Young Tel Aviv. A Tale of Two Cities, Waltham 2010, 33; Guy Miron, »Deutsche Juden in Israel. Erinnerungen an vergangene Bilder« (Hebr.), Jerusalem 2004. 25  Yoav Gelber, »Neue Heimat. Einwanderung und Integration mitteleuropäischer Juden von 1933 bis 1948« (Hebr.), Jerusalem 1990, 61. 26 Hirshberg, Music in the Jewish Community, 65–109; Hirshberg, The Germans are Coming! Cultural Pre-Migration Conditions in Palestine, in: Joachim Braun/Vladimír Karbusický/Heidi Tamar Hoffmann (Hg.), Verfemte Musik. Komponisten in den Diktaturen unseres Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1995, 287–291; Philip V. Bohlman, The Immigrant Composer in Palestine, 1933–1948. Stranger in a Strange Land, Asian Music, 17 (1986): 147–167. Vgl. auch Ruth Katz, The Lachmann Problem. An Unsung Chapter in Comparative Musicology, Jerusalem 2003. 24 

108 Kapitel 2:  Vor und nach der Staatsgründung: Die Verwässerung des Hebraismus deutsche Juden Anstellungen am Jerusalemer Konservatorium, finanziert durch den Hilfsfonds für Wissenschaftler und Künstler (Hakeren le’ezra l’mlumadim ul’omanim), während Geldflüsse aus der Tschechoslowakei im Rahmen des Ha’avara-Abkommens die Aufnahme von Studenten ermöglichten.27 Die ersten erfolgreichen Versuche zur Gründung von Ensembles – indirekt eine Folge des nationalsozialistischen »Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« (7. April 1933) sowie der Anfang 1935 einsetzenden systematischen Verdrängung von Juden aus der deutschen Reichskulturkammer – fanden ihren Höhepunkt in dem von Huberman initiierten Palestine Orchestra; sein Gründungskonzert wurde unter dem Dirigentenstab von Arturo Toscanini eröffnet, für den es »eine Geste des Protests gegen das Unrecht des Faschismus« darstellte.28 Fast die Hälfte des Orchesters bestand aus emigrierten Mitteleuropäern (die achtzehn Musiker, die binnen der ersten drei Saisons ausschieden, wurden rasch durch nach dem »Anschluss« eingetroffene österreichische Juden ersetzt), deren Anteil unter den Konzertabonnenten sogar noch höher lag.29 Die räumliche Konzentration von fast achtzig Berufsmusikern mit festem Einkommen führte laut Jehoash Hirshberg zu einer wachsenden Zahl von Kammerkonzerten und Musikgesellschaften, die einen »sehr wirkungsvollen Schockdämpfer bildeten, insbesondere die ehrwürdige Jerusalemer Musikgesellschaft, die deutschen Einwanderern eine ›Heimat fern der Heimat‹ bot«.30 Anfang 1936 wurde der Palestine Broadcast Service (PBS) gegründet, der neben einer englischen und arabischen auch eine hebräischsprachige Redaktion (Kol Yerushalayim) umfasste, die eine eurozentristische zionistische Hochkultur propagierte.31 Zu ihrem Programmleiter wurde der Komponist, Dirigent und Bariton Karel Salmon ernannt; im Wechsel mit dem Komponisten Hans (Hanan) Schlesinger dirigierte er außerdem das vierzigköpfige Rundfunkorchester, das sich wie der PBS selbst am Vorbild der BBC orientierte.32 Im selben Jahr gründete der Zahnarzt Salli Levi in Jerusalem ein weltweites Netzwerk jüdischer Musiker – das Weltzentrum für jüdische Musik in Palästina – und gab sein Vorhaben bekannt, jüdische Musik zu sammeln, schaffen, publizieren, erforschen, pflegen und verbreiten. Obwohl 1937 vom 20. Zionistenkongress offiziell begrüßt, fand das Zentrum, wie Bohlmann bemerkt hat, nie »einen ideologischen Widerhall im 27 

Gelber, »Neue Heimat«, 469–470. E. Steinweis, Anti-Semitism and the Arts in Nazi Ideology and Policy, in: Jonathan Huener/Francis R. Nicosia (Hg.), The Arts in Nazi Germany. Continuity, Conformity, Change, New York 2006, 22 f.; Segev, Die siebte Million, 72. 29  Gelber, »Neue Heimat«, 470; Hirshberg, Music in the Jewish Community, 130 f.; Bohlman, The World Center for Jewish Music, 11–13. 30 Hirshberg, Music in the Jewish Community, 112, 139–141. 31  Derek Penslar, Transmitting Jewish Culture: Radio in Israel, Jewish Social Studies, 10.1 (2003): 6. 32  Karl [Karel] Salomon [Salmon], Kol Yerushalayim. Music Programs for Jewish Radio Listeners in Palestine, Musica Hebraica, 1–2 (1938): 36–39. 28  Alan

Kapitel 2:  Vor und nach der Staatsgründung: Die Verwässerung des Hebraismus 109

politischen Zionismus«.33 Von den bekanntesten Figuren (Schönberg, Bloch, Castelnuovo-Tedesco, Darius Milhaud, Ernest Toch, Erich Wolfgang Korngold und andere) zog unterdessen niemand eine Emigration nach Palästina in Betracht; allenfalls unterstützten sie das zionistische Projekt und seine Institutionen aus der Ferne, nahmen Ehrenämter an oder widmeten dem jüdischen Staat eine Komposition – mehr aber auch nicht. Bevor er in Palästina ankommt, sagt sich Rosendorf, es »wäre ein Sieg des Antisemitismus, wenn auch wir die Menschheit in Juden und Nichtjuden aufteilten«.34 Für Außenstehende verkörperte Palästina paradoxerweise in hohem Maß eine solche Unterscheidung; jüdische Komponisten, deren Rang mit der aufkeimenden, aber noch bescheidenen kulturellen Infrastruktur des Landes schwer vereinbar war, könnten es durchaus als ein kulturelles Ghetto am Mittelmeer gesehen haben. Der spürbare Wandel des musikalischen Lebens im Jischuw wurde damals in den Schlusssätzen einer Konzertkritik konstatiert: »Halten wir es für die Nachwelt fest: In den ersten zwei Wochen des Mai 1933 wurden zwei Symphoniekonzerte veranstaltet. Ist das nicht eine großartige Leistung? Beweist dies nicht unseren Fortschritt und Wohlstand und das Erwachen einer musikalischen Öffentlichkeit?«35 Ein paar Monate später fasste der Musikkritiker Yariv Ezrahi in der literarischen Wochenzeitung Turim die Ereignisse der Saison 1932/33 zusammen; er vermerkte eine Zunahme von Soloauftritten einheimischer wie Gastpianisten und besprach die wenigen Violinkonzerte, die stattgefunden hatten. Ebenfalls erwähnt wurden die Namen der ansässigen und neu eingetroffenen Vokalisten (wobei er die Kantoren und Volkssänger eher kritisch sah), das von Bach bis Chopin reichende Repertoire des kleinen Symphonieensembles und eine Aufführung von Händels Judas Maccabaeus. Nachdem er die Kurzlebigkeit von Musikorganisationen und -gesellschaften beklagt hatte, widmete sich Ezrahi der Ankunft deutscher Juden und den »erhebenden Gerüchten«, Arnold Schönberg ziehe die Alija in Betracht. Gemäß der im Jischuw üblichen Rhetorik äußerte er mit Bibelversen die Hoffnung, bald werde Musik »von Zion ausgehen« (Jesaja 2:3) und würden Komponisten »zurückkehren in ihre Heimat« (Jeremias 31:17).36

33 Bohlman,

The World Center for Jewish Music, 6–10. Das Rosendorf-Quartett, 20. 35  Menashe Rabinovich, »Über Wolfgang Friedländers Symphoniekonzert« (Hebr.), Davar (17.5.1933). Da die meisten Tageszeitungen und Zeitschriften der Mandatszeit in Tel Aviv entstanden und ansässig waren, wurde das Geschehen in der Stadt von ihnen ausgiebig geschildert und zum »Gegenstand kontinuierlicher Darstellung, Analyse und Kritik« gemacht. Vgl. Helman, Young Tel Aviv, 105 f. 36  Yariv Ezrahi, »Ein Jahr der Musik« (Hebr.), Turim, 14 (20.10.1933): 10. 34 Shacham,

110 Kapitel 2:  Vor und nach der Staatsgründung: Die Verwässerung des Hebraismus

Die Verzierung des zionistischen Projekts: Nationale musikalische Onomatopoesie Auf seinem Weg von München nach Palästina, an Bord der Italia, die am 16. Mai 1933 in Triest gen Jaffa ablegte, lernte der Komponist Paul Frankenburger einen Kollegen kennen. Ähnlich wie im Fall der Begegnungen von Rosendorf mit Löwenthal (in Das Rosendorf-Quartett) und von Herbst mit seinem zukünftigen Kollegen Ernst Weltfremdt (in Schira) auf der Überfahrt ins Land Israel37 war der Mann, den Frankenburger im wirklichen Leben in seiner 3.-Klasse-Kabine traf, ein kranker, einsamer und einbeiniger Violinist namens Simon Bakman, der sich als Konzertmeister eines Genfer Orchesters entpuppte. Von seinem Cousin zu einem Aufenthalt in Eretz Israel eingeladen, plante Bakman dort Konzerte zu geben und schlug Frankenburger vor, ihn am Klavier zu begleiten.38 Bei der Ankunft in Palästina gab es jedoch ein bürokratisches Problem: Das Touristenvisum, das Frankenburger vom englischen Konsulat in München erhalten hatte, erlaubte ihm nicht, im Land zu arbeiten. Bakmans Impresario schlug eine kreative Lösung vor: Er könne Frankenburger einen hebräischen Nachnamen geben, der »der Sohn von Heinrich« bedeute (wie Frankenburgers Vater tatsächlich hieß), und ihn so für die Mandatsbehörden unsichtbar machen. Von da an war Frankenburger, auch wenn einige frühe Manuskripte und Briefe noch beide Namen aufführten, als Paul Ben-Haim bekannt.39 Während der sechs Wochen, die er sich im britisch verwalteten Palästina aufhalten durfte, weckte Ben-Haim als Kammermusiker die Aufmerksamkeit der Presse;40 er traf führende Vertreter der gerade entstehenden Musikinstitute (und freute sich, Professor David Shor kennenzulernen, der »gut Deutsch sprach« – auch das erinnert an Rosendorf), und es gelang ihm sogar, eine Stelle als Lehrer am Tel Aviver Konservatorium zu bekommen (das damals von Bakmans Impresario geleitet wurde).41 Die Briefe an seine Familie, die er während dieses Besuchs vor seiner Einwanderung schrieb, machen die Ähnlichkeiten mit unseren literarischen Protagonisten noch deutlicher. Das Musikleben, schrieb er seinem Vater am 6. Juni 1933, stecke noch in den Kinderschuhen, besonders das Konzertwesen sei unterentwickelt und Opern gebe es gar keine; was in Palästina als Oper durchgehe, berichtete er seiner Schwester fünf Tage später nach dem Besuch einer Aufführung, befinde sich noch in den primitivsten Anfängen, und 37 Agnon,

Schira, 103. Bakmans Auftritte erwähnt Ezrahi, »Ein Jahr der Musik«, 10. 39  Paul Ben-Haim, »Einwanderung nach Israel. Autobiografisches Kapitel: Erinnerungen an 1933« (Hebr.), Tazlil, 3 (1971): 186 f. 40  Jehoash Hirshberg, Paul Ben-Haim. His Life and Works, Tel Aviv 2010, 109 f., 113; BenHaim an das Weltzentrum für jüdische Musik in Palästina (27.3.1938), zit. n. Bohlman, The World Center for Jewish Music, 179 f. 41  Ben-Haim, »Einwanderung nach Israel«, 187 f. 38 

Die Verzierung des zionistischen Projekts: Nationale musikalische Onomatopoesie 111

es sei fraglich, ob sich in näherer Zukunft irgendetwas entwickeln werde.42 Obgleich seine Entscheidung über einen Umzug von der Situation in München abhängig blieb, erwog Ben-Haim, sich in Tel Aviv niederzulassen und jedes Jahr zwei Monate in Europa zu verbringen, da er das Leben dort andernfalls nicht ertragen könne; zudem merkte er am 26. Juni 1933 gegenüber seinem Vater an, ein Leben in Palästina sei keine lebenslange Verpflichtung.43 Während dieses Aufenthalts traf Ben-Haim auch Sternberg.44 Dieser war der leibhafte Inbegriff eines Jekken – eine im Jischuw gebräuchliche abfällige Bezeichnung für deutsche Juden, die von diesen auch tatsächlich als Beleidigung empfunden wurde, da sie ihnen pedantische Gesetzestreue unterstellte und sie für ihre Sehnsucht nach deutscher Kultur verspottete.45 Sternberg fiel es schwer, sich an die kollektivistische Kultur des Jischuw zu gewöhnen, aber noch größer waren seine Schwierigkeiten, Hebräisch zu lernen. Nichts brachte seine Fremdheit und schmerzhafte Umsiedlung nach Palästina deutlicher zum Ausdruck als die Tatsache, dass er die Sprache auch nach mehr als vier Jahrzehnten in Tel Aviv eher wie ein Tourist beherrschte. Die lakonischen Skizzen in seiner Autobiografie von 1967 (fünfunddreißig Jahre nach seiner Emigration verfasst) sind in einem kryptischen Hebräisch gehalten, dessen versteinerte Redewendungen durch grammatische Strukturen gefiltert wurden, die davon zeugten, wie die sozialistische Kultur des Jischuw die für seine Identität als deutscher Jude ehemals grundlegenden Codes durcheinandergebracht hatte. Gelegentlich transkribierte Sternberg hebräische Wörter oder übersetzte sie ins Deutsche, damit falsche Schreibweisen nicht mit anderen Worten verwechselt wurden. Hebräisch war dies jedenfalls nicht. Kollegen und Familienangehörige schilderten ihn als einen Emigranten, der bei seinen regelmäßigen Spaziergängen von seiner Wohnung ans nahegelegene Meer stets Jackett und Fliege trug, selbst im unerträglich schwülen Tel Aviver Sommer. Misstrauisch gegenüber Modeworten wie »Mittelmeerstil« oder »östlicher Mittelmeerstil« (die gewöhnlich eine nationale Aneignung westlicher Bilder des Ostens bedeuteten), versuchte er seine kompositorischen Mittel dem Ethos des Jischuw anzupassen, doch da ihn seine mangelnden Sprachkenntnisse daran hinderten, an der dynamisch-funktionalen Weiterentwicklung des Hebraismus teilzunehmen, waren seine Importe nur teilweise anpassungsfähig. 1927 schrieb Sternberg während seines jährlichen Aufenthalts in Palästina einen kurzen Beitrag über jüdische Kunstmusik für Davar, das Organ der Histadrut (Allgemeiner Verband der jüdischen Arbeiter in Palästina). Er wurde aus dem Deutschen übersetzt und behandelte Fragen der primären Quellen jüdischer Musik, von Autorschaft, Assimilation und Ästhetik. Sternberg behaupte42 Hirshberg,

Paul Ben-Haim, 108, 110. Paul Ben-Haim, 113 f. 44  Ben-Haim, »Einwanderung nach Israel«, 187. 45 Segev, Die siebte Million, 52 f.

43 Hirshberg,

112 Kapitel 2:  Vor und nach der Staatsgründung: Die Verwässerung des Hebraismus te, weder die Förderung nationaler Konzerte noch die obsessive Publikation von Anthologien könne die Existenz jüdischer Musik hinreichend beweisen; jüdische Kunstmusik sei zuvorderst eine Frage von Stil und Qualität. Bislang sei der Bezug auf das Judentum durch die Auswahl des Materials erfolgt, das jedoch noch eines befriedigenden Arrangements harre; slawische Einflüsse auf die jüdische Musik könnten den Kenner nicht zufriedenstellen, da selbst kunstvollen, stilistisch von Schubert bis zu Debussy reichenden Arrangements noch keine überzeugende Verbindung gelungen sei. Es sei zu erwarten, dass die natürliche Entwicklung der jüdischen Musik sich als unvereinbar mit dem Korsett westlicher Harmonien erweisen werde, fügte Sternberg hinzu und deutete damit an, dass europäisch-jüdische Komponisten keine jüdische Musik schaffen, sondern ihr nur den Boden bereiten könnten. In der europäisch-jüdischen Kunstmusik sah er eine stilistische und formale Unterordnung unter untaugliche musikalische Bestimmungen und plädierte für freie Kompositionen als einzigen Weg, zur Substanz jüdischer Musik vorzudringen und ihre Verwässerung durch die beklagenswerte und unausweichliche Assimilation an fremde Kulturen zu überwinden. Europäer könnten der jüdischen Musik einen Weg bahnen, erst die nächste Generation in Eretz Israel aber werde die westliche Technik und Architektur vergessen und sich auf die östliche Kunst, die ihr nah sei, stützen, um einen unabhängigen Weg für die jüdische Musik zu finden. Bis dahin solle man sich keinen koketten Euphonien hingeben: Man müsse den Mut haben, sich einzugestehen, dass die eigene Musik noch auf der untersten Entwicklungsstufe steht.46 Ob Sternbergs Argumentation von seinem Übersetzer ideologisch geglättet wurde, ist nicht bekannt, in jedem Fall aber zeigt sie ein diskursives Dilemma im Hinblick auf die – wie ich es bezeichne – nationale musikalische Onomatopoesie, also auf die in ein eurozentrisches Gewand gekleideten Volkstänze, Märsche oder Zitate unterschiedlicher jüdischer Musiktraditionen – Bilder, die beständig die Legitimität des Staates reproduzierten und bestimmte Ansätze einer ästhetischen Moderne (darunter Sternbergs) subversiv werden ließen, drohten sie doch gegen die na­tio­nale Funktion dieser Onomatopoesie zu verstoßen. Dennoch griff Sternberg kurz nach seiner Einwanderung im Jahr 1932 eine Fehlentwicklung des musikalischen Lebens im Jischuw an: »Dem Musiker in Eretz Israel mangelt es an grundlegender Einsicht. Nachdem er die letzten dreißig Jahre musikalischer Entwicklung in einem verzauberten Palast verschlafen hat, bestellt er nun das Land der Musik mit überholten Techniken […]. Sein Musikgeschmack orientiert sich an Liszt-Rubinstein-Tschaikowsky, seine Ohren sind an ein wohlklingendes Cellostück von 1875 gewöhnt.« Sternberg betonte, selbst Schönberg, dessen Revolution »die Jugend aufgerührt« habe, bleibe noch unzureichend, da er nur der Vorbote einer neuen nichtsubjektiven stilisti46 

Erich Walter Sternberg, »Jüdische Kunstmusik« (Hebr.), Davar (16.6.1927).

Die Verzierung des zionistischen Projekts: Nationale musikalische Onomatopoesie 113

schen Klarheit sei (Hindemith, Strawinsky, Weill, Milhaud), die dem Individuum sowohl in der Kunstmusik wie auch in der Musikpädagogik die Verarbeitung kollektiver Erfahrungen ermögliche. Der ökonomische, objektive und didaktische Charakter dieser neuen Musik, schloss Sternberg, sei leicht zu erfassen und könne das Musikverständnis im Land voranbringen, auch wenn sich diese Entwicklung in Europa erst noch verfestigen müsse.47 Die Schlussfolgerungen beider Artikel entsprachen dem hebraistischen Diskurs des Jischuw, der auf einer doppelten Abgrenzung von der jüdischen Kultur des Exils und der arabischen Gemeinschaft in Palästina beruhte.48 Die wichtigste ideologische Komponente des Hebraismus bestand in der hebräischen Sprache selbst (dem einzigen verbliebenen Element der jüdischen Unabhängigkeit im Altertum) sowie in der Aktivierung ihrer das Politische, Nationale und Theologische durchziehenden Register. Indem er »ein Gefühl der Differenz, eine Ideologie der hebräischen ›Angestammtheit‹« kultivierte, brachte der Hebraismus das nietzscheanische Bild des »neuen Juden« und ein territorial-nationalistisches Paradigma hervor – durch »säkulare Adaptionen und Neuinterpretationen von Elementen der jüdischen Religion und Tradition, durch Rituale, die eine mythische Verbindung zur Landschaft und zur biblischen Geschichte heraufbeschworen, und durch Versuche, einheimische [künstlerische] Stile zu entwerfen«.49 Die Sprache als solche, schreibt Miron, »wurde oft mit einem Arsenal oder Munitionslager verglichen, der sie verwendende Schriftsteller erschien als ein Soldat oder Stratege«. Nur wer seine jeweilige Spielart moderner Ästhetik mit der Erneuerung der nationalen Psyche synthetisieren konnte und die säkulare, prophetische Bürde des Hebräischen annahm, konnte in das Zentrum des kulturell-literarischen Polysystems gelangen, und nur wer diese gewünschte Synthese bot, »konnte die Rolle einer kulturellen Führungsfigur einnehmen«.50 Kein emigrierter Komponist konnte die Hochspannung der zionistischen Rhetorik und ihre Projektion auf das entstehende – authentische, geborgte oder neu erfundene – volkstümliche Repertoire ignorieren, durch das sich das kollektivistische Ethos des Jischuw mitteilte. Die Volksmusik in ihren verschiedenen Formen war ein sozialer Akteur, doch das Vehikel, das solche kulturellen Codes transportierte, bestand im Hebräischen, das jeder, der sich als »Hüter der nationalen Wohlfahrt« und Sprecher des gesamten jüdischen Kollektivs betrachtete, bewusst anzunehmen hatte. Obgleich die Kunstmusik in dieser kulturellen Konstellation ästhetischer, staatsbürgerlicher und nationa47 Erich Walter Sternberg, »Die Musik und die Gegenwart« (Hebr.), Ketuvim, 21 (16.6.1932): 2. 48  Motti Regev/Edwin Seroussi, Popular Music and National Culture in Israel, Berkeley 2004, 16. Zur Negation der Diaspora und der Dialektik der Auflösung dieser Haltung, vgl. das folgende Kapitel. 49 Regev/Seroussi, Popular Music, 17. 50 Miron, The Prophetic Mode, 428 f.

114 Kapitel 2:  Vor und nach der Staatsgründung: Die Verwässerung des Hebraismus ler hebraistischer Funktionen nur einen sekundären konzentrischen Kreis bildete, wurde auch von ihrem modalen und tonalen Vokabular erwartet, Klänge an sprachliche Bilder zu koppeln, die von der Nation erzählten. Während Sternbergs frühe Argumentation – unabhängig von der Frage, welchen neoklassizistischen Kontext der Zwischenkriegszeit er genau befürwortete 51 – durch solche nationalistischen Prismen rezipiert worden war, nahm er bereits 1938, nur sechs Jahre nach seiner Emigration (und zeitgleich mit seiner Beteiligung an der Gründung des palästinensischen Zweigs der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik) 52 genau diesen Diskurs als einen Belagerungszustand der Kunst wahr. Im Vorfeld der Premiere seiner Symphonie The Twelve Tribes of Israel schrieb er einen Artikel, der hauptsächlich aus Bemerkungen zu diesem Werk bestand, aber auch den in seinem Text von 1927 eher beiläufigen Appell zu freier Komposition bekräftigte. Bemüht, sich von der Rolle eines Sprechers des Jischuw zu befreien, schrieb Sternberg: Als Einheimischer jedes Winkels der Erde, als Produkt unterschiedlichster Schulen, muss er [der jüdische Komponist] mit einem Publikum umgehen, dessen musikalische Geschmäcker und Standards ganz unterschiedliche sind. Unter diesen Umständen […] kann der Komponist nur einen Kurs verfolgen: Sich nicht darum zu kümmern, was von ihm erwartet wird, sei es palästinensische Folklore, synagogale Musik oder Stücke nach russischer Manier, und stattdessen seinen eigenen Weg zu gehen, den Geboten seiner Muse entsprechend seine eigene Sprache zu sprechen. Dieses Prinzip hat mich zumindest bei der Arbeit an dem Werk geleitet, das ich im Folgenden erörtern möchte.53

The Twelve Tribes war eines der ersten im Jischuw entstandenen symphonischen Werke. Der Titel hatte die gewünschten Anklänge, da er biblische Verse mit einer zeitgenössischen nationalen Bedeutung auflud. In den Dekaden vor der Unabhängigkeit war die Bibel Anita Shapira zufolge »der feste Boden von Mythos und Epos, von Weltlichkeit und Mut, und auch ein System von Ethik und Glauben, das die Muskeln zügelte«. Sie nährte eine nationale Romantik und »diente als Zeugnis jüdischen nationalen Lebens vergangener Zeiten im Land Israel, als Blaupause für die Neubegründung einer solchen Lebensweise, als Beweis für eine ruhmreiche Vergangenheit und als Versprechen für die Zukunft«.54 Als säkularer Text war die Bibel von fundamentaler Bedeutung für den moralischen Anspruch auf die unvergänglichen Rechte der Juden; Shlomo Sand meint, die Behauptung einer »erzwungene[n] Exilierung im Jahre 70 u.Z. (oder kurz danach)« als »angeblich unerschütterliche Tatsache« sei ebenso notwendig ge51 

Vgl. auch Erich Walter Sternberg, »Volksmusik« (Hebr.), Davar (25.7.1929). Modern Music in Tel Aviv: »International Society’s« Debut, Palestine Post (14.10.1938). 53  Erich Walter Sternberg, The Twelve Tribes of Israel. Theme and Variations for Orchestra, Musica Hebraica, 1–2 (1938): 24. Menashe Ravinas Besprechung von Musica Hebraica in Davar (11.8.1938) belegt, dass der Artikel vor der Premiere von The Twelve Tribes Stämme erschien. 54  Anita Shapira, The Bible and Israeli Identity, AJS Review, 28.1 (2004): 11. 52 D.  R.,

Die Verzierung des zionistischen Projekts: Nationale musikalische Onomatopoesie 115

wesen wie »natürlich der feste Glaube, dass der ›rassische‹ oder ›ethnische‹ Ursprung der Mehrheit aller Juden auf die alten Hebräer zurückgehe«. Nur die Akzeptanz aller drei Prämissen stützte einen Mythos, der das jüdische Volk mobilisieren und den Glauben an das »historische Recht« der Juden befestigen konnte (eine Formulierung, die später in die israelische Unabhängigkeitserklärung Eingang fand).55 Sternbergs The Twelve Tribes folgte diesem Diskurs nicht, wenn man von der symbolischen Beziehung des Titels zur Form des Werkes absieht (»Das Thema ist die Quelle, aus der alle Stämme hervorgehen, die Rolle der Variationen hängt davon ab, in welchem Maß sie das Thema bereichern«);56 ebenso wenig zitierte es liturgische oder paraliturgische jüdische Musik. In seinem Artikel von 1938 verwies Sternberg stattdessen auf Jakobs Segen über seine zwölf Söhne im Buch Genesis 49. Die erste Variation, die Sternberg mit Genesis 49:3 verband (»Ruben, mein Erster, du meine Stärke, / meiner Zeugungskraft Erstling, / übermütig an Stolz, übermütig an Kraft«), beschrieb er folgendermaßen: »Daher das Allegro, das fortissimo beginnt, und die dominante Rolle der Blechbläser, die von den lebhaften Sechzehnteln und Zweiunddreißigsteln der Holzbläser und Streichinstrumente unterstützt werden.«57 Wie bei vielen zionistischen Anleihen 58 wurde auch hier selektiv verfahren: Sternberg verkürzte Jakobs Ansprache, die im Original neben Lob auch eine Verurteilung beinhaltet. Unbeachtet blieb der nächste Vers, Genesis 49:4: »Der Erste sollst du nicht bleiben. / Du bestiegst ja das Bett deines Vaters; geschändet hast du damals mein Lager«. Sternbergs Bibelbezug entsprach dem Appell des säkularen Zionismus, »die Schönheit der ursprünglichen Bibel freizulegen, sie strikt wörtlich zu deuten (Peschat)«, bereinigt von den Erzählungen (Aggada) und rechtlichen Auslegungen (Halacha) späterer Schichten. Ein solcher »beschränkender Literalismus« (Anita Shapira) drückte das Verlangen des Jischuw aus, die Bibel in seine sozialistische Weltanschauung zu integrieren und gleichzeitig jene Elemente zu säkularisieren, die der nationalen Allegorie entgegenkamen.59 Sternbergs Artikel belegt, dass er sich mit der Komplexität des außermusikalischen Textes nicht auseinandersetzen mochte. Die selektive Hervorhebung von Versen aus dem Buch Genesis 49 erlaubte es ihm, die sich entfaltenden Variationen in The Twelve Tribes zu verbinden und zugleich die im Jischuw herrschende Vorliebe für homiletische Erklärungen zu berücksichtigen, die häufig »auf freier Assoziation beruhten, unter Ausblendung von Philologie und Kontext.«60 Um sich ideologischen Erwartungen zu entziehen und zugleich dem li55  Shlomo Sand, Die Erfindung des Landes Israel. Mythos und Wahrheit, übers. v. Markus Lemke, Berlin 2014, 251 f.. 56  Sternberg, The Twelve Tribes, 25. 57  Sternberg, The Twelve Tribes, 26. 58  Yael Zerubavel, Recovered Roots. Collective Memory and the Making of Israeli National Tradition, Chicago 1995, 221–231. 59  Shapira, The Bible and Israeli Identity, 20. 60  Shapira, The Bible and Israeli Identity, 16.

116 Kapitel 2:  Vor und nach der Staatsgründung: Die Verwässerung des Hebraismus Beispiel 2.1: Sternberg, The Twelve Tribes of Israel (1938), T. 1–25 (Klavierauszug). Andante maestoso (q = 96)

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Die Verzierung des zionistischen Projekts: Nationale musikalische Onomatopoesie 117

teralistischen Diskurs im Jischuw zu beugen, musste Sternberg seinen Stil etwas mäßigen; zwar erfolgte die harmonische Progression weiterhin durch tonal orientierte Halbtonschritte (Beispiel 2.1), die Synthesen osteuropäischer Melodietypen und die durch sie bedingten fließenden Übergänge zwischen atonalen Aggregaten und Dreiklängen, wie noch in Östliche Visionen zu beobachten (Beispiel 1.7 a–f),61 waren hingegen verschwunden. Nach der Premiere des Werks lobten die einen Kritiker Sternbergs handwerkliches Können, während die anderen tiefe jüdische Gefühle darin erkannten.62 Peter Gradenwitz formulierte im Anschluss an Sternbergs Artikel den nationalen Blickwinkel, aus dem das Werk wahrgenommen wurde: »Jeder der Stämme wird als ein Kollektiv betrachtet, das eine Vielzahl von Individuen verbindet und sich durch seine Beziehungen zur Umwelt und seine Einstellung zu Gott auszeichnet.«63 Anstatt sich jedoch mit der Musik zu befassen, reproduzierten die Besprechungen die zionistische literalistische Lesart, die der Komponist selbst nahegelegt hatte. Sternberg dehnte diese Interpretationsstrategie auf seine zahlreichen Arrangements von Volksliedern aus, doch die strikt hierarchisierte Rezeption von Kunst- und Volksmusik verwies seine zionistische musikalische Onomatopoesie auf ein separates Gleis (auch wenn manche Vokalstücke eine polyfone Dichte aufwiesen), während neue Kompositionen, mit denen er an den Stil seiner frühen europäischen Werke anknüpfte, nur Sternbergs Trauma der Vertreibung offenbaren konnten. Eingeschränkt durch das Hebräische, verschwand Sternberg allmählich aus der Musikszene des Jischuw: Weder konnte er seine Musik selbst mit hebräischen Texten versehen, noch in der Lehre tätig sein oder sich an den neuen Formulierungen beteiligen, die seine Kollegen in den 1940er und 1950er Jahren synthetisierten. Die kurzlebige Zeitschrift des Weltzentrums für jüdische Musik in Palästina, in der 1938 Sternbergs Artikel erschienen war, dokumentierte eine weitere Reaktion auf den ideologischen Druck, der die Institutionalisierung der Kunstmusik im Jischuw begleitete. In einer Bilanz seiner zweijährigen Tätigkeit für Kol Yerushalayim erörterte Programmleiter Salmon den Bildungsauftrag des Senders. Er rief zur Übersetzung der »bedeutendsten Vokalwerke der Welt« ins Hebräische auf (ausländische Hörer kannten vielleicht bereits die hebraisierte Version von Haydns Schöpfung aus dem Propagandafilm Land der Verheißung von 1935) 64 und erklärte es für notwendig, die Ausstrahlung jüdischer Lieder in ihrer »primitiven oder jungfräulichen Form« und in einem erstrebenswerten »populären Gewand« voneinander zu trennen: »Ein unbegleitetes jemenitisches 61 

Vgl. Kapitel 1. Music in the Jewish Community, 262. 63 Peter Gradenwitz, Symphonic Music Played in Palestine, Chicago Daily Tribune (30.8.1942). 64  Hillel Tryster, »The Land of Promise« (1935). A Case Study in Zionist Film Propaganda, Historical Journal of Film, Radio and Television, 15.2 (1995): 187–217. 62 Hirshberg,

118 Kapitel 2:  Vor und nach der Staatsgründung: Die Verwässerung des Hebraismus Volkslied spricht in erster Linie den jemenitischen Hörer und den Folkloristen an. Begleitet durch europäische Harmonien, selbst wenn sie einen orientalischen Charakter haben, wird dasselbe Lied alle jüdischen Hörer und möglicherweise auch einige andere ansprechen.« Salmon sah darin zwar eine vorübergehende Situation, die aus »den Mängeln unserer heutigen Generation von Hörern und Sängern«65 resultiere, dennoch verdeutlichten solche nationalen Kriterien und kulturellen Hierarchien, was der hebraistische Musikdiskurs verschlüsselt beinhaltete. Derek Penslar schreibt, bereits die erste Sendung von Kol Yerushalayim am 30. März 1936 habe von der Propagierung einer eurozentristisch-zionistischen Hochkultur gezeugt, während die arabisch-jüdische Musik in den Bereich von Folklore und Rohmaterial verwiesen worden sei, das – mit Salmon gesprochen – eines westlichen Gewands bedurfte. Nach der Rezitation von Chaim Nachman Bialiks Gedicht »Die Flammenrolle« und der Aufführung europäischer klassischer Musik trug Bracha Zefira ein jemenitisches Lied vor, das Penslar zufolge durch »opernhaften Gesangsstil, elegantes Klavierarrangement, diatonische Skalen und üppige Akkorde« einen »eindeutig westlichen Klang« erhalten habe. 66 Salmons eurozentrische Vorlieben gingen mit nationalen Modewörtern und Musikbezeichnungen wie »Mittelmeerstil« (yam tikhoniut) oder »östlicher Mittelmeerstil« (mizrach yam tikhoniut) konform, durch die die erwünschten Wohlklänge von Kompositionen, welche die Verschränkung von Zitat und Identität befestigten, mit der nationalen Allegorie verknüpft wurden. Zeigten sich emigrierte Komponisten bereit, diese Affinität zu vermitteln, dann erfüllten sie die Erwartungen zionistischer Funktionäre und wurden von emigrierten Musikwissenschaftlern beachtet – allen voran von Max Brod und Peter Gradenwitz, deren positivistisch-nationale Geschichtsschreibung sich bald zu einer Hierarchie verfestigte, die der doppelten Relevanz des Autoexotismus vorrangige Bedeutung gab. Kein Komponist schmückte das zionistische Projekt besser aus als BenHaim, selbst noch in den ersten Jahren nach der Staatsgründung, als ein solcher Ansatz seine nationalistische Funktion verlor. Kein emigrierter Komponist erfuhr im Inland wie Ausland eine wärmere Rezeption; der Grund dafür lag in Ben-Haims kompositorischem Konservatismus, der durch Fortführung und Anpassung autoexotistischer Verfahren hebraistische Tropen flankierte. Dies zeigen viele seiner Kompositionen: Eines der ersten Stücke, das er kurz nach seinem Besuch vor der Immigration schrieb, war eine postimpressionistische Klavierminiatur (der dritte Satz einer im August 1933 verfassten, unveröffentlichten Klaviersuite), in der er die Melodie von »Ali B’er« (»Steige, mein Brunnen«) zitierte, ein populäres Lied, das Sara Levi-Tanai zu einem Gedicht von 65 

66 

Salomon, Kol Yerushalayim, 37 f. Penslar, Transmitting Jewish Culture, 7.

Die Verzierung des zionistischen Projekts: Nationale musikalische Onomatopoesie 119

Bialik komponiert hatte; ein Klaviertrio von 1939 mit dem Titel Variationen über eine hebräische Melodie zitierte das bekannte Volkslied »Moladeti« (»Mein Heimatland«) und eine Vertonung der ersten vier Verse von Psalm 121 aus dem Jahr 1940 bediente sich persisch-jüdischer Psalmodie, wie sie Zefira sang, mit der Ben-Haim von 1939 bis 1941 als Arrangeur und Begleiter intensiv zusammenarbeitete. 67 Einen Teil der Psalmodie, der Vers 121:4 entsprach (»Siehe, der Hüter Israels schläft noch schlummert nicht«), nahm Ben-Haim als Kontrast in den mittleren Satz seiner Ersten Symphonie (1940) auf, wo er die abschließende Phrase des Eröffnungsthemas bildete. Diese Beispiele sowie Dutzende weitere belegen allesamt eine Verinnerlichung der von Zefira vorgeführten Stile, mit deren Vermittlung aus zweiter Hand sich Ben-Haim offenbar begnügte und so von einem Studium arabischer oder arabisch-jüdischer Musik entband, für das er im ethnisch gemischten Palästina auf viele Kenner hätte zurückgreifen können. Tatsächlich hatte er seine Treue zum hebraistischen Paradigma des Jischuw und dessen nationaler Funktion schon vor der Zusammenarbeit mit Zefira in den erwähnten Variationen über eine hebräische Melodie demonstriert, einem Werk, an dem sich die Archäologie kultureller Klassifizierungen im Jischuw sowie der Fehlbezeichnungen, die in der Geschichtsschreibung der israelischen Kunstmusik seitdem an solcher Ästhetik heften, nachvollziehen lässt. Das Lied »Moladeti«, auf dem die Variationen basieren, wurde im Jischuw zu einer Zeit popularisiert, als Adjektive wie »volkstümlich« und »populär« synonym gebraucht wurden. Die Entstehung »hebräischer Volkslieder« im Jischuw umfasste auch Import, Anleihen, Aneignung, Konfiszierung und Adaption von Musik aus Palästinas semitischem Raum (sei er arabisch oder jüdisch) und aus den diasporischen Herkunftsorten derer, die dieses Repertoire durch Arrangements, Kompositionen und Zusammenstellungen schufen und bewahrten. Dabei wurde die Unterscheidung zwischen neu komponierten Volksliedern und solchen, die den vielfältigen oralen Musiktraditionen Palästinas entlehnt waren, verwischt, aber gerade dadurch konnten sie die Rhetorik der Abgrenzung stützen und zugleich Techniken der Hybridisierung verdecken. Ein ähnlicher Mechanismus zeigt sich in Ben-Haims Trio. Im Titel des Werks, Variationen über eine hebräische Melodie, drückte sich die im Jischuw vorherrschende politisch-theologische Position aus, die das Adjektiv »hebräisch« hervorhob, um den territorialen Nationalismus in der biblischen und nachbiblischen hebräischen Souveränität zu verankern (während die achtzehn Jahrhunderte des Exils, von der Zerstörung des Zweiten Tempels bis zur Entstehung des politischen Zionismus, auf eine Schattenexistenz reduziert wurden). 68 Tatsächlich folgte der Text des von Ben-Haim zitierten Lieds einer solchen Teleologie: »Mein Hei67  Beracha Zefira, Kolot Rabim. Oriental Jewish Hymns and Songs, Ramat Gan 1978, 194; Gila Flam, Beracha Zefira – a Case Study of Acculturation in Israeli Song, Asian Music, 17.2 (1986): 108–125; Hirshberg, Paul Ben-Haim, 167–183. 68  Vgl. Kapitel 3.

120 Kapitel 2:  Vor und nach der Staatsgründung: Die Verwässerung des Hebraismus Beispiel 2.2: a) »Moladeti« (»Mein Heimatland«), aus: Solomon Rosowsky (Hg.), »Von den Liedern des Landes« (Hebr.), Warschau 1929, 31. Moderato. Molto tranquillo (q = 76-80)

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Die Verzierung des zionistischen Projekts: Nationale musikalische Onomatopoesie 121

Beispiel 2.2: b) Paul Ben-Haim, Variationen über eine hebräische Melodie (1939), T. 47– 79 (Zitat aus »Moladeti«). Theme Moderato e molto tranquillo (q= 72)

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122 Kapitel 2:  Vor und nach der Staatsgründung: Die Verwässerung des Hebraismus Beispiel 2.2: c) Ben-Haim, Variationen über eine hebräische Melodie, T. 1–15. Adagio misterioso q = 56

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rie zeitweilig bändigte und auf die nationale beschränkte, bevor die Eroberung biblischer Regionen in der Westbank latente koloniale und theologische Begierden entfesselte, die der Sprache eingepflanzt und durch sie vermittelt worden waren. Ben-Haim könnte »Moladeti« in den späten 1930er Jahren im Jischuw

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gehört oder als Transkription in einem Liederbuch gelesen haben, das Solomon Rosowsky 1929 herausgegeben hatte.71 Vermutlich war beides der Fall. Rosowskys Transkription (Beispiel 2.2a), unter der Rubrik »Sehnsucht nach Zion« aufgeführt, trug die Spuren eines ursprünglich arabischen Bauernlieds, das in den Jischuw eingesickert war, wo es dem Bestreben nach hebräischer Verwurzelung in einem nicht näher bestimmten semitischen Raum entgegenkam.72 Ben-Haim rahmte das Glissando des Lieds in einen Tritonus und entkleidete es sowohl des arabischen wie des hebräischen Textes (Beispiel 2.2b). Tritonale Achsen bestimmten überhaupt seine Übersetzung des Volkslieds und den exotistischen Anstrich des Trios. Ben-Haim wechselte melodisch wie harmonisch beständig zwischen Tritoni und reinen Quinten und dehnte diese Linien auf die einleitenden Takte aus, die dem Zitat von »Moladeti« vorangehen und den tonalen Rahmen des Werks abstecken, von Cis (dem tonalen Zentrum des gesamten Stücks) über G und Gis zu Dis (Beispiel 2.2c). Die opulenten und oftmals aggressiven Texturen sind mit bekannten westlichen Bildern gesättigt – Triller, Arabesken, »lückenhafte« Tonleitern, rhythmische Muster, die das östliche Landleben heraufbeschwören, kurze Ornamente und Zupfinstrumente –, die ein im Kern konservatives tonales Gerüst maskieren (und dies auch in BenHaims späteren Werken taten). Die letzten acht Takte des Themas offenbaren eine konventionelle harmonische Führung; sie lösen sich nach Cis auf, was durch Paralleltonarten und eine Quasi-Modalität verhüllt wird, die Ben-Haim durch die Entfernung der Terzen erreichte (Beispiel 2.2b, Takte 72–79). Die darauf folgenden Variationen verlängern diese harmonische Progression durch absteigende Septakkorde, die entweder phrygische Kadenzen andeuten (ohne sie voll zu entfalten) oder sich chromatisch auf eine unscharfe Dominante hinbewegen, deren kleine Sekunden das Pendeln zwischen Tritonus und reiner Quinte stützen (Beispiel 2.2d, Takte 140–154). Indem er die ursprünglich einstimmige Melodie in Dreiklänge überführte, veränderte Ben-Haim ihre harmonischen Eigenschaften und verwässerte ihre Farben in langen tonalen Linien, sodass ihre (nunmehr auf einem tonalen Gerüst beruhenden) musikalischen Merkmale zu bloßen Verzierungen wurden. Somit fand eine doppelte Aneignung statt: Ein arabisches Bauernlied wurde in ein hebräisches Volkslied verwandelt (und in einen neuen hebräischen Text gehüllt), das man in Palästina trotz und durch Ben-Haims instrumentale Adaption erkennen konnte. Doch hinter der autoexotistischen Darstellung, die dem europäischen Zentrum weiterhin Bedeutung beimaß und zugleich dem Diskurs im Jischuw entgegenkam, verbarg sich die Überschneidung dreier Heimatländer: eines im Entstehen begriffenen Staates, dessen hebräischer Charakter von Europäern, die es in die 71 

Solomon Rosowsky (Hg.), »Von den Liedern des Landes« (Hebr.), Warschau 1929, 31. Yael Zerubavel, Memory, the Rebirth of the Native, and the Hebrew Bedouin Identity, Social Research, 75.1 (2008): 315–352. 72 

124 Kapitel 2:  Vor und nach der Staatsgründung: Die Verwässerung des Hebraismus Beispiel 2.2: d) Ben-Haim, Variationen über eine hebräische Melodie, T. 140–154.

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126 Kapitel 2:  Vor und nach der Staatsgründung: Die Verwässerung des Hebraismus Levante verschlagen hatte, durch eine musikalische Onomatopoesie ausgedrückt wurde, Ben-Haims Herkunftskultur, mit der er aus der Peripherie korrespondierte (ein Stil, der bald als »mediterran« bezeichnet wurde, um Palästina an den südlichen Hinterhof Europas zu annektieren), und schließlich gedämpfte arabische Erinnerungen, die in die Musik, Literatur und Dichtung des Jischuw eindringen sollten.73 Ben-Haims Synthese entsprang einem Austarieren der Beschränkungen, die er in Europa kennengelernt hatte (und die selbst einem modernen Spiegelsaal glichen, in dem Bilder von und über Minderheiten wie Mehrheiten projiziert und gebrochen wurden, wie im vorigen Kapitel erörtert), und der ideologischen Struktur des Jischuw, die der Verschränkung von Zitat und Identität nationale Funktionen zuwies und die Importe aus dem lokalen kulturellen und politischen Raum einer Reinigung unterzog. Hebraistische autoexotistische Formulierungen, die mit der Partikularisierung ihrer europäischen Importe rangen, wurden als »mediterrane Musik« bezeichnet.74 »Mediterranismus« oder auch »Mittelmeerstil« war jedoch eine völlige Fehlbezeichnung für eine nationale Einstellung; sie folgte einer eurozentrischen Perspektive und dem im Jischuw herrschenden anachronistischen Verständnis, in dem die biblische Vergangenheit mit der hebräischen Gegenwart verschmolz und Palästina als europäische Pufferzone vorgesehen war.75 Der Begriff hallte in nahezu allen Texten über israelische Kunstmusik nach. Informell hatte Boskovich (der 1938 in Palästina eintraf) ihn geprägt, doch es war Max Brod – Autor, Übersetzer, Komponist, Librettist und kurzzeitig Kompositionsschüler von Boskovich76 –, der ihn in seinem Buch von 1951 offiziell einführte. Über die im Mittelmeerstil geschriebenen Werke heißt es dort: Ihre Musik ist südlich, von hellem Licht durchdrungen wie die Luft der Mittelmeerländer, durchsichtig, nach Klarheit strebend, – der Rhythmus liebt die Härte, die irregulären Takte, die obstinate Wiederholung, aber auch die vielfältige, nie stillstehende Variation, die in ihrer scheinbaren Regellosigkeit und freien Impulsivität mitreißt. Der Satz73 Vgl. etwa S. Yishar, Der Gefangene, in: ders., Geschichten von Krieg und Frieden, übers. v. Ruth Achlama, Frankfurt a. M. 2007; ders., Ein arabisches Dorf, übers. v. Ruth Achlama, Frankfurt a. M. 1988; Hannan Hever (Hg.), Tell it not in Gath. The Palestinian Nakba in Hebrew Poetry 1948–1958, Haifa 2010; Chana Kronfeld, Beyond Thematicism in the Historiography of Post-1948 Political Poetry, Jewish Social Studies, 18.3 (2012): 180–196. 74  Heute assoziiert man mit mediterraner Musik die musica mizrahit (mediterrane israelische Populärmusik), historisch jedoch ging der Begriff von der israelischen Kunstmusik der 1940er und 1950er Jahre auf die sephardischen Volkslieder der 1960er Jahre über, die auf »Juden-Spanisch« (Ladino) verfasst waren, und schließlich auf die Pan-Ethnizitäten, die in den 1970er Jahren die musica mizrahit hervorbrachten. Vgl. Edwin Seroussi, Yam Tikhoniyut. Transformations of Mediterraneanism in Israeli Music, in: Goffredo Plastino (Hg.), Mediterranean Mosaic. Popular Music and Global Sounds, New York 2003, 179–198; Amy Horowitz, Mediterranean Israeli Music and the Politics of the Aesthetics, Detroit 2010, 1–57. 75  Vgl. Bronisław Hubermans Briefe, in denen es um die Bedeutung einer Expansion der europäischen Kultur in das ostmediterrane Palästina geht, in Ida Ibbeken/Tzvi Avni (Hg.), An Orchestra is Born, Tel Aviv 1969. 76 Hirshberg, Music in the Jewish Community, 266

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bau ist oft linear, stellenweise unisono, ohne polyfone Überladenheit. Deutlich wird der Einfluß, den das Melos der jemenitischen Juden ausübt, die Aufhebung von Dur und Moll, das Zurückgreifen auf alte Tonarten, die Vernachlässigung der für die Diaspora charakteristischen übermäßigen Sekunde – von hier ergeben sich Verbindungslinien auch zur arabischen Musik, ja zu dem besonders konsonantischen Bau der semitischen Sprachen. Klima und Landschaft, das Hirtenlied, die Oboe und Klarinette wirken herein. Die Begleitung durch Handpauken und Tamburin, sei sie wirklich oder nur angedeutet, imaginär, geben manchem dieser Gebilde […] ein seltsam monotones, ja narkotisches Gepräge.77

In der Praxis offenbarten solche exotischen Kennzeichen den Eurozentrismus von Komponisten, die dem hebraistischen Diskurs durch ein erkennbar westliches Musikvokabular entgegenkommen wollten. Um Bedeutung in beiden kulturellen Kontexten bemüht, war es für sie einfacher, sich auf den mediterranen Gedanken als einen gemeinsamen kulturellen Raum und nicht als nationale Heimstätte zu beziehen. Ähnlich wie im Fall der von Asher Biemann erörterten deutsch-jüdischen Liebe zu Italien konnten nichtzionistische Komponisten einen gemeinsamen Nenner in einem Land finden, das fern war, »aber innerhalb des Wirkungsbereichs jüdischer Vorstellungen, anders, aber nicht gänzlich exotisch, mediterran, aber in einem umfassenden transnationalen Sinn, europäisch, aber Europas gespaltene Identitäten überwindend«. Innerhalb dieses Raums wurde Palästina auch als ein »Ort der Offenheit und des Austauschs« dargestellt, der den Antisemitismus ad absurdum führte und »eine dynamische Alternative zur gescheiterten Aufklärung des strengen Nordens, zum Scheitern einer Vernunft ohne Leidenschaft, Schönheit und Spontaneität« bot.78 So forderte etwa Arnold Zweig (der Schriftsteller, der Shacham in Das Rosendorf-Quartett als Modell für die Figur des Egon Löwenthal diente) im Anschluss an Nietzsche eine Mediterranisierung des jüdischen Lebens; vor seiner Emigration stellte er sich eine wahrhafte Heimkehr an einen Ort vor, wo sich die Juden nicht rechtlich oder sozial, sondern durch das Klima integrieren würden, wo die Wege der Menschen und die Lebendigkeit von Gesten und Ausdruck die Dynamik der Differenz umkehren und zu einem vierfachen Befreiungsakt führen sollten – des Körpers, vom Gesetz, von Staat und Gesellschaft und von den eigenen Hemmungen.79 Wie Biemann bemerkt hat, war der mediterrane Charakter »der Idealtypus der deutschen Aufklärung, den ihre lange 77  Max Brod, Die Musik Israels [1951], Kassel 1976, 58. Boskovich und Brod kannten vermutlich Nietzsches Kritik an Wagner, in der er Bizet als Antithese zu diesem feierte. Nietzsche las Bizets Carmen als das unverstümmelte exotische »Andere« und schrieb: »Sie sehen bereits, wie sehr mich diese Musik verbessert? – Il faut méditerraniser la musique [Man muss die Musik mediterranisieren]«. Vgl. Friedrich Nietzsche, Der Fall Wagner, in: ders., Der Fall Wagner u. a., München 1999, 16. 78  Asher Biemann, »Thus Rome shows us our True Place«. Reflections on the German Jewish Love for Italy, in: Christian Wiese/Martina Urban (Hg.), German-Jewish Thought Between Religion and Politics, Berlin 2012, 253 f. 79 Asher Biemann, Dreaming of Michelangelo. Jewish Variations on a Modern Theme,

128 Kapitel 2:  Vor und nach der Staatsgründung: Die Verwässerung des Hebraismus Bildungstradition nicht hervorzubringen vermocht hatte«.80 Auch rechte revisionistische Zionisten suchten nach mediterranen Ursprüngen. Zeev Jabotinsky erklärte, eine gesunde Kultur müsse sich auf gesprochene Laute und nicht auf die Schriftkultur der Diaspora gründen. Auf der Suche nach den nationalen Klängen, die in der Diaspora verschwunden waren, wies er die Vorstellung zurück, das Hebräische solle wie das Arabische klingen (das er eigenartigerweise für lärmend und charakterlos hielt), da es vielmehr die reinen und vornehmen europäischen Laute nachzubilden habe, besonders die des Italienischen und anderer Sprachen, die sich an den Küsten des Mittelmeers entwickelt hatten. Die Revisionisten trennten den Osten von der ursprünglichen hebräischen Heimat und hielten es keineswegs für notwendig, dass die Nation die westeuropäische Kultur als Leitbild annimmt, da sie stattdessen eine Nord-Süd-Achse fokussierten: Während sie Nordeuropa (im Anschluss an Spenglers Untergang des Abendlandes) ein verachtenswertes, verwahrlostes Kulturerbe attestierten, sahen sie Anzeichen dafür, dass Europas mediterrane Länder dem bevorstehenden Zerfall der westlichen Zivilisation entgehen würden.81 Ohne Kenntnis des revisionistischen Diskurses und ohne jede zionistische Motivation folgten die meisten mittel- und westeuropäischen Komponisten, die mit der fünften Alija ins Land kamen, einer ähnlichen Nord-Süd-Achse. Sie kamen nationalistischen Erwartungen durch eine Autoexotisierung ihrer Musik entgegen, während sie bemüht waren, dem europäischen Mainstream nicht obskur zu erscheinen. Brod war sich dieser kulturellen Vermittlung sowie der Grenzen solcher okzidentalen Metaphern durchaus bewusst, als er bemerkte, dass »die leichten Verschärfungen der Tonschritte […] sich dabei doch nicht etwa in ein System von Viertel- und Halbtönen überführen lassen«, und der Mittelmeerstil mitunter »bloß als ein zarter Hauch, eine leichte Färbung in einem Werk anwesend [ist], das sich im Übrigen dem Einfluss europäischer Überlieferung nicht entzieht«. 82 Doch der Begriff »mediterrane Musik« und seine Deklinationen gingen in die meisten wissenschaftlichen Texte über israelische Kunstmusik ein;83 auch Autoren, die ihn in Abgrenzung zu früheren Definitionen verwendeten, legten das Hauptaugenmerk auf kanonische Kompositionen und übernahmen unkritisch Stanford 2012, 18 f.; Arnold Zweig, Das Neue Kanaan, in: ders., Herkunft und Zukunft. Zwei Essays vom Schicksal eines Volkes, Wien 1929, 171–191. 80  Biemann, »Thus Rome shows us our True Place«, 255. 81  Eran Kaplan, Between East and West. Zionist Revisionism as a Mediterranean Ideology, in: Ivan Davidson Kalmar/Derek J. Penslar (Hg.), Orientalism and the Jews, Waltham 2005, 130–135. 82 Brod, Die Musik Israels, 58. 83  Unkritisch übernommen wird der Begriff beispielsweise von Liora Bresseler, »Der Mittelmeerstil in der israelischen Musik – Ideologie und Charakteristika« (Hebr.), Cathedra, 38 (1985): 137–160, und Herbert Fromm, On Jewish Music. A Composer’s View, New York 1978, 85–89.

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die von den Komponisten selbst gebrauchten Terminologien,84 wodurch Kulturgeschichte und kritische Musikwissenschaft voneinander getrennt wurden. Ein Ausdruck dieser Kluft besteht darin, dass ausgeblendet wird, in welchem Ausmaß der Prozess des Autoexotismus mit asymmetrischen Anleihen einherging, besonders bei arabisch-jüdischen oralen Musiktraditionen: Während ihre onomatopoetische Signifikation dem zionistischen Diskurs Stammeswurzeln gab, wurden die sozialen Ungleichheiten verdeckt, die mit der Assimilation arabischer Juden an eine Nationalkultur einhergingen, die nach dem Bild ihrer osteuropäischen Hegemonie geschaffen wurde. Was als Mediterranismus rezipiert worden ist, bezeichnet somit einen der »Fluchtwege aus [den] inhärenten Widersprüchen des zionistischen Unternehmens«, schreibt Seroussi, denn dieses kulturelle Paradigma war eine Umgangsweise mit der Tatsache, »dass ein europäisch orientierter, jüdischer säkularer Nationalstaat inmitten des islamisch-arabischen Nahen Ostens liegt und schließlich die Hälfte der jüdischen Bevölkerung Israels aus islamischen Ländern stammte«.85 Schenhaw zufolge wurden arabische Juden im zionistischen Bewusstsein zudem durch zwei unterschiedliche paradigmatische Kontexte wahrgenommen: »Einerseits wurden sie als Araber gesehen, und somit als ein ›Anderes‹ gegenüber Europa und dem Zionismus, andererseits als altertümliche Juden und somit als ein erhabener, heiliger Gegenstand des zionistischen national-religiösen Diskurses.« Während arabische Juden aus einem kolonialen Blickwinkel als oberflächlich betrachtet wurden, galten sie aus der nationalen Perspektive als altertümlich und authentisch.86 Indem sie liturgische und paraliturgische Melodien aus arabisch-jüdischen Musiktraditionen als bloße Verzierung westlicher Strukturen zitierten, projizierten Komponisten den imaginierten Tribalismus und die mit nordafrikanischen und nahöstlich-arabischen Juden assoziierten »Stammeswurzeln« in das zionistische Bewusstsein; gleichzeitig verdeutlichten sie damit den zweitrangigen Status, den das von aschkenasischen Institutionen geschaffene zionistische Paradigma der Entwicklung (und somit der Erlösung) arabischen Juden zuwies. Schenhaw überträgt Latours Konzeption der Moderne auf das Studium des Nationalismus und vertritt die These, dass der Zionismus denselben Prinzipien folgte: der Vermischung nichthomologer, unterschiedlicher Elemente (Hybridisierung) und der Schaffung separater ontologischer Zonen ohne Übergänge (Reinigung). Der Zionismus hybridisierte demnach das Säkulare und das Religiöse, während er eben diese hybridisierenden Praktiken durch eine säkulare, 84  Jehoash Hirshberg, The Vision of the East and the Heritage of the West. Displacement as a Catalyst for the Creation of Musical Life in the Jewish Community of Palestine, in: Erik Levi/Florian Scheding (Hg.), Music and Displacement. Diasporas, Mobilities, and Dislocations in Europe and Beyond, Lanham 2010, 57–70; Seter, Yuvalim Be-Israel. 85  Edwin Seroussi, Mediterraneanism in Israeli Music. An Idea and its Permutations, Music and Anthropology, 7 (2002). 86 Shenhav, The Arab Jews, 70.

130 Kapitel 2:  Vor und nach der Staatsgründung: Die Verwässerung des Hebraismus Religion und Nationalismus als zwei separate Handlungsfelder behandelnde Rhetorik verdunkelte (und so den Nationalismus reinigte). Im Ergebnis wurde das Religiöse in die Vormoderne (und in den Osten/globalen Süden) verwiesen, das Säkulare hingegen mit der Moderne (und dem Westen) verbunden.87 Eine solche Hybridisierung ermöglichte es einem ursprünglich arabischen Lied wie »Moladeti«, durch Rosowskys Anthologie so große Verbreitung als hebräisches Volkslied zu finden, dass es von einem Emigranten wie Ben-Haim als hebräischer Signifikant wahrgenommen wurde. Liturgischer und paraliturgischer Musik nichtwestlicher jüdischer Herkunft war innerhalb der vormodernen gereinigten Paradigmen kein anderes Schicksal beschieden. Ob Populär- oder Kunstmusik, solche Signifikanten förderten die Reinigung von Religion und Nationalismus, während ihre Affirmation alter kolonialer europäischer Hierarchien sie zugänglich und exportierbar machte.

Nähe und Gegensatz: Subversive Hebraisten Am nächsten Abend näherten wir uns der Küste Palästinas. Der Anblick des nächtlich erleuchteten Hafens von Haifa und der Stadt, die sich im Lichtergefunkel bis auf die Höhen des Carmelgebirges erstreckte, erfüllte uns mit Staunen. Auf Deck ertönten bald patriotische Lieder. Was Moses wohl dachte, als er zum ersten Mal das Land der Verheißung aus der Ferne sah? Still und ergriffen sprach er mit seinem Gott und formulierte lautlos mit stotternder Zunge seine Gedanken, mit denen er auf die Knie sank. Seine Seele hat gewiss nicht im Klischee eines Viervierteltakts gesungen. Josef Tal, Tonspur. Auf der Suche nach dem Klang des Lebens88

Nationale Trägheit hatte zur Folge, dass kodifizierte Ideologien historiografisch belohnt wurden (wie sollte man sonst die Tatsache erklären, dass Hirshbergs Monografie über Ben-Haim in drei Ausgaben erschienen ist?). Brod hatte Ben-Haim bereits 1951 das Verdienst einer idealen Synthese von Ost und West zuerkannt89 und de facto eine Hierarchie begründet, an deren Spitze Ben-Haim rangierte. Gradenwitz, der 1949 den Musikverlag Israel Music Publication gründete und ihn bis 1982 leitete, veröffentlichte das Gros der Kompositionen, die Ben-Haim nach seiner Einwanderung schrieb, und kanonisierte sie in seinen wissenschaftlichen Publikationen. Schon 1948 nannte er ihn die »führende Persönlichkeit« des sogenannten Mittelmeerstils (eine Fehlbezeichnung, die Gradenwitz durch eine andere – »östlicher Mittelmeerstil« – ersetzte) und fügte 87  Yehouda Shenhav, Modernity and the Hybridization of Nationalism and Religion. Zionism and the Jews of the Middle East as a Heuristic Case, Theory and Society, 36 (2007): 3. 88  Josef Tal, Tonspur. Auf der Suche nach dem Klang des Lebens. Autobiografie, Berlin 2005, 105. 89 Brod, Die Musik Israels, 60.

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hinzu: »Während aber Sternbergs musikalische Sprache scharf, prägnant und formell ist, neigt Ben-Haim zu weichem lyrischem Ausdruck«; seine »Vorliebe für zarte, pastorale Stimmungen« zeige sich besonders seit »seinen frühesten palästinensischen Kompositionen«, da er »in dem Lande seiner Wahl« die richtige »seelische und musikalische Inspiration fand«.90 Während Gradenwitz in dem Brief an Schönberg, der diesem Kapitel vorangestellt ist, noch auf Stefan Wolpes Musik vertraute – vermutlich aufgrund ihrer Verwandtschaft mit Schönbergs serieller Technik –, begründete er in den späten 1940er Jahren eine historiografische Linie, die sich etwa am Schluss der dritten Ausgabe der erwähnten Monografie über Ben-Haim zeigt. Hirshberg schreibt dort: »BenHaims Musik ist nicht Teil eines Prozesses, der nach einem israelischen Stil strebt, sie ist dieser Stil.«91 Ben-Haims Euphonie, in der die Nation erklang und sich etwas ausdrückte, was Zeev Jabotinsky in einer Kurzgeschichte »okzidentale Sehnsucht« nannte,92 avancierte zum Zentrum der Musik – zulasten kompositorischer Ansätze der vorstaatlichen Ära, die sich zugleich durch Nähe und Gegensatz zu dem auszeichneten, was historiografisch als ein erstrebenswertes musikalisches Porträt der Nation konstruiert worden ist. Stile, die an dieses Zentrum angrenzten, aber scheinbar gegen es verstießen, wurden entweder übergangen oder an die Ränder jenes musikalischen Umfelds gedrängt, dessen Herausbildung sich durch beträchtliche Kontingenzen vollzog. Bald als »israelische Kunstmusik« bekannt, hat sich dieses künstliche Umfeld dem Prokrustesbett von Typologien und der Einteilung in Generationen (besonders anhand chronologischer Kriterien) stets widersetzt, sodass die verschiedenen Etiketten zur Beschreibung der Musik von Wolpe, Boskovich, Tal und Seter de facto nur Maßeinheiten waren, die ihre Distanz zu romantischen Formen einer musikalischen nationalen Erzählung und zu einem Apparat asymmetrischer Anleihen ausdrückten. Doch eben diese Figuren waren es, die hebraistische Paradigmen (und damit zugleich eine national orientierte Geschichtsschreibung der Musik) infrage stellten, indem sie Importe der ästhetischen Moderne mit Palästinas nichtwestlichen (und überwiegend jüdischen) Klanglandschaften verschmolzen. Obwohl alle vier Komponisten hebraistische Paradigmen untergruben, bildeten sie weder eine Gruppe noch verbanden sie stilistische Charakteristika; vielmehr waren sie misstrauisch gegenüber der nationalen musikalischen Onomatopoesie und führten dialektische Prozesse ein, die aus linearen Kompositionstechniken schöpften – von nichtwestlicher jüdischer liturgischer Musik bis zur seriellen Technik Schönbergs und ihren europäischen Weiterentwicklungen nach dem Zweiten Weltkrieg –, durch die sie die Erosion kanonisierter hebraistischer Muster beschleunigten. 90 

Peter Gradenwitz, Die Musikgeschichte Israels, 197. Paul Ben-Haim, 381 (Hervorhebung im Original). 92  Zeev Jabotinsky, Edmee, in: ders., A Pocket Edition of Several Stories mostly Reactionary [1925], Tel Aviv 1984, 129. 91 Hirshberg,

132 Kapitel 2:  Vor und nach der Staatsgründung: Die Verwässerung des Hebraismus Wolpe, der als musikalischer Leiter der kommunistischen Agitprop-Theatergruppe »Truppe 1931« ins Visier der Gestapo geraten war, floh 1933 aus Berlin. Nach vielen Umwegen über die Tschechoslowakei, Russland, die Schweiz, Wien (wo er bei Anton Webern studierte) und Rumänien erreichte er im Januar 1934 Palästina – nicht als Zionist, sondern als Flüchtling, dem keine andere Option mehr geblieben war.93 Es vergingen keine vier Jahre, bis Wolpe in die Vereinigten Staaten weiterzog, da sein modernistischer Eifer offenbar schroff mit hebraistischen Apparaten aneinander stieß, ungeachtet der Tatsache, dass die seriellen Techniken in seinen Instrumentalwerken und die stürmischen Arbeitslieder, die sich im Einklang mit dem Sozialismus des Jischuw befanden, viele musikalische und außermusikalische Eigenschaften teilten. Oder wie Austin Clarkson kürzlich formulierte: »Der Hegelianer Wolpe akzeptierte die historische Notwendigkeit der Zwölftonmusik, der Marxist Wolpe aber bestand darauf, dass die neue Musik dazu dienen sollte, eine gerechte Gesellschaft herbeizuführen.«94 Durch Erfahrungen und Verbindungen mit stark gemeinschaftlichen und experimentellen Kreisen wie der Bauhaus-Schule, Agitprop-Theatergruppen, politischen Kabaretts sowie den Montagewerken von George Grosz (die auf einen gemeinschaftlichen Neuaufbau zielten) entstand Wolpes »Glaube an die potenzielle Wirkungsmacht von Avantgardekunst, die das Ideal blieb, nach dem er sein ganzes Leben lang strebte«.95 Bereits in Berlin deuteten seine sozialistischen Lieder darauf hin, dass man »die revolutionäre neue Musikkunst auf die Zwölftonprinzipien gründen könnte«96 – ein Gedanke, der vermutlich dem Bauhaus-Ethos der Amalgamierung »gefundener Gegenstände« durch Zweck­ ent­fremdung, Formalisierung und Verwertung entsprungen war. »Wir mussten Gegenstände zusammensetzen«, erinnerte sich Wolpe, »unten eine Spirale, ein künstliches Auge, ein Schnürsenkel – und wir musste diese Dinge unabhängig von ihrer subjektiven Bedeutung verwenden.«97 Durch die schlichte Präsenz zusammengesetzter Materialien, deren formale Verbindung, Gleichgewicht und Bewegung neue, verändernde Wahrnehmungsformen erzeugte, warf die Montage somit Licht auf das unverwirklichte Potenzial von Objekten.98 Auch Wol93  Austin Clarkson, Introduction, in: ders. (Hg.), On the Music of Stefan Wolpe. Essays and Recollections, New York 2003, 10–12; Irma Wolpe Rademacher, Interview with Austin Clarkson, in: Recollections of Stefan Wolpe, www.wolpe.org (letzter Zugriff 23.2.2016). 94 Austin Clarkson, Harmonies for »The New Palestine«, Stefan Wolpe 1934–1938, in: Jenny Svensson (Hg.), Die Dynamik kulturellen Wandels. Essays und Analysen. Festschrift Reinhard Flender zum 60. Geburtstag, Berlin 2013, 143. 95  Brigid Cohen, Stefan Wolpe and the Avant-Garde Diaspora, Cambridge 2012, 76 f. 96  Austin Clarkson, Stefan Wolpe’s Berlin Years, in: Edmond Strainchamps/Maria Rika Maniates/Christopher Hatch (Hg.), Music and Civilization. Essays in Honor of Paul Henry Lang, New York 1984, 386. 97  Austin Clarkson, Lecture on Dada by Stefan Wolpe, Musical Quarterly, 72.2 (1986): 205 (Hervorhebung im Original). 98 Cohen, Stefan Wolpe, 88–104.

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Beispiel 2.3: a) »Inter dem Kinds Wigele«, aus: Fritz Mordechai Kaufmann (Hg.), Die schönsten Lieder der Ostjuden. Siebenundvierzig ausgewählte Volkslieder, Berlin 1920, 27. Sehr ruhig.

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pes Judentum war ein solcher gefundener Gegenstand. Als ein, wie Mordecai Ardon meint,99 entfremdeter Jude blickte er auf der Suche nach jüdischen musikalischen Objekten gen Osten; da er (ähnlich wie die Protagonisten in Kapitel 1) außerhalb der jüdischen Tradition stand und jeder organisierten religiösen Praxis aufgrund seines Marxismus misstraute,100 fand er diese Objekte in den Transkriptionen osteuropäisch-jüdischer Lieder, die er vermutlich Mordechai Kaufmanns Anthologie Die schönsten Lieder der Ostjuden entnommen hatte.101 Von 1923 bis 1925 arrangierte Wolpe sechs jiddische Lieder nach den monofonen Transkriptionen Kaufmanns, durchbrach dabei aber ihren (von Kaufmann) über der Notenlinie angegebenen ursprünglichen harmonischen Kontext (Beispiel 2.3a). So ersetzte er die Dreiklänge in »Inter dem Kinds Wigele« (»Unter der Wiege des Kindes«) durch ein gewundenes Ostinato, das sowohl rhythmisch wie harmonisch innere Asymmetrien aufwies (Beispiel 2.3b). Indem es einer Gruppierung aus zehn Tönen eine rhythmische Zwölferfigur aufsetzt, beschreibt es eine Skala, die an der Grenze von Tonalität wie Oktatonik verbleibt und so das melodische Freygish auf Gis zugleich stützt und aufbricht. Mit ihrem kurvenreichen Wechsel zwischen linker und rechter Hand verwandelte eine derartige tonale Opazität das Wiegenlied in einen Traum, dessen Melodie bloß ein Teil des texturalen Wirbels ist, doch wie viele Montagen Wolpes aus dieser Zeit war »Inter dem Kinds Wigele« eher eine Mischung als eine Kombination. Obwohl er das jiddische Lied durch ein strukturelles Nebeneinander, das parallel zu ihm verlief, aus seinem ursprünglichen harmonischen Kontext löste, überschritt er seine harmonischen und melodischen Eigenschaften nur 99 

Austin Clarkson, Interview with Mordecai Ardon, in: Recollections of Stefan Wolpe. Stefan Wolpe, 149. 101  Fritz Mordechai Kaufmann (Hg.), Die schönsten Lieder der Ostjuden. Siebenundvierzig ausgewählte Volkslieder, Berlin 1920, 27. 100 Cohen,

134 Kapitel 2:  Vor und nach der Staatsgründung: Die Verwässerung des Hebraismus b) Stefan Wolpe, »Inter dem Kinds Wigele« (aus Bearbeitungen Ostjüdischer Volkslieder, 1923–25), T. 1–12. © 2002 Peermusic Classical GmbH Hamburg. Bewegte e = c 92

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partiell, da er darauf bedacht war, die primäre Quelle (das Objekt) nicht unzulässig zu verfälschen. In Palästina zeigten sich solche Mischungen aus Objekt und Kommentar in Wolpes Bearbeitungen moderner hebräischer Gedichte und Choralwerke, die im Geist des freiwilligen Kollektivismus der Kibbuzim gehalten waren,102 aller102 

Jehoash Hirshberg, A Modernist Composer in an Immigrant Community. The Quest

Nähe und Gegensatz: Subversive Hebraisten

135

dings mit dem Unterschied, dass die Texturen dem nichtwestlichen musikalischem Material, das er dort kennenlernte, folgten. Wolpe ließ sich in Jerusalem nieder, dessen schattige Alleen und mystisches Licht Gideon Ofrat zufolge »dem expressionistischen Geist der Theosophie von Bauhaus-Absolventen sehr entgegenkamen«,103 und bewegte sich im intellektuellen Klima der Hebräischen Universität sowie kleiner, um einen friedlichen Ausgleich bemühter politischer Gruppen, deren Eintreten für einen binationalen Staat sich angesichts des arabischen Aufstands von 1936 bis 1939 (der paradoxerweise auch ein Ergebnis der deutschen Alija war) als unhaltbar erwies.104 Wolpes Anliegen, der Unterdrückung der Araber in Palästina entgegenzutreten, stand im Wege, dass er die politische Dynamik im Jischuw nicht kannte, das Hebräische nicht beherrschte und sich Cohen zufolge weder in den Apparat der Kommunistischen Partei noch in den der Arbeitspartei einfügen mochte. So verlegte er seine Bemühungen auf Komposition, Pädagogik und institutionelle Reformen, wobei er sich gegen einen orientalistischen Blick auf die Araber wendete und erneut Fragen der sozialen Gleichheit in den Blick nahm.105 Auch wenn die Kibbuzim ihn durchaus an seine Aufenthalte am Weimarer Bauhaus erinnert haben könnten, so wie die Zusammenarbeit mit überwiegend jungen Sozialisten in vieler Hinsicht seinem Engagement in Berliner Agitprop-Theatergruppen ähnelte,106 offenbarten seine eher populären Arrangements bereits die Neigung des emigrierten Komponisten, für zweierlei Arten von Publikum zu schreiben, wie Bohlman bemerkt: »erstens für ein breiteres Publikum, das kein besonderes Interesse an der Durchdringung komplexer Werke hat, und zweitens für ein kleineres, das bereit ist, die Werke über oberflächliche Reaktionen hinaus kritisch zu analysieren«.107 Während er sich der doppelten Abgrenzung des hebraistischen Diskurses widersetzte, erfuhren die für seine Musik in den 1920er Jahren charakteristischen Prinzipien von Zusammenführung und Umstellung,108 die Magnetfelder von Symmetrien und Asymmetrien erzeugten, nun eine Bereicherung durch seine Besuche sephardischer Synagogen und die Studien arabischer Musik, die er mithilfe von Kennern wie dem Oudspieler Ezra Aharon oder den eingewanderten Musikwissenschaftlern Robert Lach-

for Status and National Ideology, in: Clarkson (Hg.), On the Music of Stefan Wolpe, 75–94; Noah Stern, »Stefan Wolpe singt« (Hebr.), Davar (18.2.1938); Cohen, Stefan Wolpe, 169–183. 103 Ofrat, One Hundred Years of Art in Israel, 90. 104 Segev, Die siebte Million, 87. 105 Cohen, Stefan Wolpe, 152. 106  Heidy Zimmermann, Folk Song versus High Modernism. Stefan Wolpe’s Song of Songs Settings in the Context of the New Palestine, Contemporary Music Review, 27.2 (2008): 275. 107 Bohlman, The Land Where Two Streams Flow, 202; Hirshberg, Music in the Jewish Community, 168–170. 108 Martin Zenck, Beyond Neoclassicism and Dodecaphony. Wolpe’s Third Way, in: Clarkson (Hg.), On the Music of Stefan Wolpe, 170–175.

136 Kapitel 2:  Vor und nach der Staatsgründung: Die Verwässerung des Hebraismus mann und Edith Gerson-Kiwi trieb.109 Wolpe ließ die Eigenschaften und Prinzipien dieser Musik in seine Syntax einsickern, wo sie die nunmehr wie Maqamat (arabische melodische Modi) funktionierenden melodischen Zellen aktivierten. Der gemeinsame Nenner seiner Importe und der nichtokzidentalen Klanglandschaft des Ostens bestand in der Linearität, was es Wolpe erlaubte, einer Kombination (statt einer Mischung) symbolische Bedeutungen zuzuweisen, die den westlichen und den östlichen Werkzeugkasten auf gleiche Stufe stellten und insofern auch eine politische Aussage waren. Kompositorisch ging er über ein auf Zweckentfremdung, Formalisierung und Verwertung zielendes Amalgam insofern hinaus, als er seine horizontalen und vertikalen Permutationen von den Eigenschaften östlicher Musik führen ließ. Der Widerstand, auf den Wolpes Spielart der ästhetischen Moderne in Palästina stieß, sollte folglich als Ausdruck einer gewissen kulturellen Verunsicherung gesehen werden. Da sie (anders als seine Bearbeitungen von Volksliedern) keine national beschwichtigenden Texte hatten, drohten die Instrumentalwerke, deren melodische Zellen durch arabische oder arabisch-jüdische Musik aktiviert wurden, die im Jischuw konstruierten Gegensätze zwischen Zionismus und arabischem Nationalismus zu untergraben; ebenso stellte sein avantgardistischer Eifer die angebliche Authentizität lokaler exotischer Bilder infrage. Doch Wolpe zeigte nie Interesse am Mediterranismus; tatsächlich »hasste er ihn« laut einem Interview mit dem Komponisten Haim Alexander, der von 1936 bis 1938 am Jerusalemer Konservatorium bei Wolpe studierte. Wolpes Umgang mit arabischer Musik, so bestätigte Alexander, unterschied sich deutlich von den im Palästina der späten 1930er Jahren vorherrschenden okzidentalen Formulierungen.110 Eine ähnliche Meinung wurde in einer anonymen Besprechung von Wolpes Kunstliedern geäußert: »Bemerkenswert ist insbesondere, dass die östliche Atmosphäre in Wolpes Musik nie vage oder oberflächlich ist und er stets darauf achtet, modern zu bleiben.«111 Wolpe selbst verstand solche Prinzipien als bewussten Verzicht auf Popularität und als Wendung zu subjektiver Geschichte.112 Deutlich wird dieser Ansatz in der Suite im Hexachord (1936) für Oboe und Klarinette. Wolpe wies den beiden miteinander kommunizierenden Instrumenten jeweils einen Hexachord aus fünf Halbtonschritten von G nach C zu und eröff109  Austin Clarkson, Interview with Haim Alexander (26.4.1985), Haim Alexander Collection, NLI, MUS227 D29A; Clarkson, Interview mit Edith Gerson-Kiwi, in: Recollections of Stefan Wolpe; Ruth F. Davis, Ethnomusicology and Political Ideology in Mandatory Palestine. Robert Lachmann’s »Oriental Music« Projects, Music and Politics, 4.2 (2010), http:// quod.lib.umich.edu/m/mp/9460447.0004.205/--ethnomusicology-and-political-ideolo gy-in-mandatory?rgn=main;view=fulltext (letzter Zugriff 10.3.2016). 110  Clarkson, Interview with Haim Alexander. 111  Looking Backwards, Palestine Post (8.7.1938). 112  Wolpe an Else Schlomann (19.3.1938), zit. n. Zimmermann, Folk Song versus High Modernism, 278.

137

Nähe und Gegensatz: Subversive Hebraisten

Beispiel 2.4: Wolpe, Suite im Hexachord (1936), I, T. 1–19.

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nete seine Suite, indem er sie im Abstand einer kleinen Terz anordnete, den Hexachord wie einen Maqam (wörtl. Gebiet oder Ort) entfaltete und mit Umkehrungen, Augmentationen und Verschiebungen experimentierte (Beispiel 2.4). Jenseits eines bloßen Nebeneinander von Oboe (die als westliches Er­satz­ instrument die Rolle der trichterförmigen Zurna übernahm) und Klarinette stellte das Duo eine Konvergenz von Ost und West dar; ihr gemeinsamer linearer Nenner machte die moderne kompositorische Gegenwart zu einer Metapher für die östliche Vergangenheit. In einem Vortrag über seine Kompositionstechniken, den er kurz nach der Auswanderung aus Palästina hielt, unterschied Wolpe zwischen den damals in Palästina vorherrschenden Trends (»›Zitat‹-Musik mit den falschen Tönen«)113 und seinen »intervallischen Gruppierungen, ihren Umkehrungen, Varianten und ihrer Transposition«, die sich durch »be113 

Stefan Wolpe, Music, Old and New, in Palestine, Modern Music, 16 (1939): 158.

138 Kapitel 2:  Vor und nach der Staatsgründung: Die Verwässerung des Hebraismus wusste Verschiebungen und Übergänge in den Transpositionen« auszeichneten und zum Ziel hätten, das Stück »aus sich selbst heraus« zu erfinden. Das Material, das wir in der Folklore finden, bemerkte Wolpe, sei »nicht stärker als die Technik, die es verlangt«.114 Doch während englischsprachige Zeitungen in Palästina Wolpes Musik lobten,115 lehnten seine Kollegen am Jerusalemer Konservatorium, von Wolpes Instrumentalwerken in helle Aufregung versetzt, seinen bilderstürmerischen Sozialismus ab.116 Unterdessen brachte eine anonyme Besprechung in Ha’aretz (7. August 1936) Wolpes Marsch und Variationen und »Passacaglia« (der dritte Satz der Vier Studien über Grundreihen, 1935/36) mit der westeuropäischen Dekadenz nach dem Krieg in Verbindung und kontrastierte diese mit dem »Klima des Wiedererwachens, das uns hier umgibt«.117 Eine weitere Dimension der kulturellen Kräfteverhältnisse der 1930er Jahre wird in Gesprächen mit Alexander deutlich: »Die damalige Avantgarde war den Leuten, die die Musik in Israel bestimmten, nicht zugeneigt. […] [Marc Lavry, damals] Leiter des Radiosenders […] schrieb Emek […] in einem Stil, den er erfunden zu haben glaubte. […] Und dann ist da noch ein Mann, der viel besser ist, Ben-Haim […] er akzeptierte nie etwas, das von Wolpe stammte.«118 Einem späteren Gespräch mit Alexander ist außerdem zu entnehmen, dass »Lavry eine ›authentische‹ israelische Musik predigte, obwohl er in Wirklichkeit die russische nationalistische Schule fortführte. Viele der deutschen Komponisten waren von ihm beeinflusst und setzten den Mittelmeerstil künstlich ihren Werken auf, manchmal mit grotesken Ergebnissen.«119 114  Stefan

189.

Wolpe, What is Jewish Music?, Contemporary Music Review, 27.2 (2008): 184–

115  Raphael da Costa, Modern Music in Palestine, Palestine Post (2.1.1936); J. Stanley Davis, Stefan Wolpe, Modern Jewish Composer, Palestine Post (11.2.1938); Raphael da Costa, Two Piano Concert, Palestine Post (18.2.1938); ders., Two Jerusalem Concerts, Palestine Post (4.4.1937); ders., New Songs in Jerusalem. Wolpe and Jacoby Compositions, Palestine Post (25.5.1938); ders., Jerusalem Young Composers. Mr. Wolpe’s Disciples, Palestine Post (28.10.1938). 116  Hirshberg, A Modernist Composer in an Immigrant Community, 87. 117  Zit. n. Hirshberg, Music in the Jewish Community, 180. 118  Clarkson, Interview with Haim Alexander. Brod bestätigt, dass Lavry »die musikalischen Programme des Senders Kol Zion Lagola (Stimme Zions für die Diaspora)« leitete. Vgl. Brod, Die Musik Israels, 46. 119 Clarkson, Interview with Haim Alexander (7.4.1986), Haim Alexander Collection, NLI, MUS227 D27. Wie Wolpe der Selbstabgrenzung des Jischuw entgegenzuwirken versuchte, zeigen die pädagogischen Vorhaben, die er dem Weltzentrum für Jüdische Musik in Palästina im Sommer 1938 vorlegte. Darin nannte er es ein dringendes nationales Erfordernis, den Studenten neue Techniken zu vermitteln und ihnen größere kompositorische Möglichkeiten zu eröffnen, und schlug gemäß seiner um friedlichen Ausgleich bemühten politischen Überzeugungen vor, eine vergleichende Untersuchung jüdischer Musik in Beziehung zu der nichtjüdischen Region durchzuführen. Vgl. Cohen, Stefan Wolpe, 180–183. Der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, war laut Hirshberg ein Konflikt am Jerusalemer Konservatorium. Wolpe teilte der Leitung seine Unzufriedenheit mit, die persönliche Konflikte und einen tiefen ideologischen Graben zwischen ihm und seinen Kollegen offenbarte. Da seine

Nähe und Gegensatz: Subversive Hebraisten

139

Während Wolpes Anordnungen westlicher und östlicher Linearität vorschnell als individualistisch abgetan wurden, antizipierte sein Ansatz die Konsolidierung eines Antiromantizismus im anfänglichen Klima nach der Staatsgründung sowie die damit einhergehende Aneignung von Linearität durch die örtliche Kunstmusik. Auch wenn seine mangelnden Hebräischkenntnisse ihn politisch und kulturell behinderten, führte Wolpes Musik die Aktivierung melodischer Zellen durch Verhaltensmuster und Formen ein, die der nichtwestlichen Musik in Palästina entlehnt waren. Tal, Boskovich und Seter konnten den Hebraismus dagegen von innen infrage stellen, da sie etwas jünger waren und sich bereits im vorstaatlichen Jischuw akkulturiert hatten. Als dann die Staatsgründung tektonische Verschiebungen auslöste, versuchten sie eurozentrische nationale Formulierungen und die in sie eingebetteten Hierarchien durch lineare Kompositionstechniken zu schwächen; ob aus Paris, Berlin oder Darmstadt, Importe serieller Mittel bezogen sich nun auf die benachbarten Ethnien in Israel, die bislang durch bloße tonale Konstruktionen in herabsetzender Weise dargestellt werden konnten. Diese Konstellation prägte die »geistige Biografie«120 der genannten Komponisten: Sie erlebten die Transformation des Jischuw in einen Staat und pflegten einen postkolonialen Blick auf nichtwestliche jüdische Musiktraditionen, deren lineare Züge – trotz unterschiedlicher Stile – mit ihrer eigenen kompositorischen Linearität konvergierte. In diesem Kontext verkörpert Tal eine historische wie historiografische Komplikation: Selbst seine kühnsten Werke bezogen sich immer auf die jüdische Vergangenheit oder die zionistische Gegenwart und schöpften aus biblischen und nachbiblischen Texten, der modernen hebräischen Dichtung, Volksliedern, nichtwestlicher jüdischer liturgischer Musik und internationalen Trends der ästhetischen Moderne. Jedoch stellte er auch immer die Verbindung zwischen den zwei Enden der symbolischen zionistischen Brücke infrage und ignorierte nie die diasporische Mitte, die von der hebraistischen Rhetorik so drastisch abgewertet worden war. Wohlfeile Aneignungen und teleologische Erklärungen beharrlich ablehnend, führte Tal niemals Vergangenheit und Gegenwart zu einem Erlösungsbogen zusammen, der der zionistischen Allegorie entsprochen hätte. Jede simple Etikettierung seiner Musik als Avantgarde (durch Adjektive, mit denen die Historiografie sie von den zionistischen »repräsentationalen« Formen der Komponisten des Zentrums absetzte) geht daher an seiner künstlerischen Einstellung vorbei, die aus Nähe und zugleich Gegensatz zum hebraistischen Diskurs entstand.

Einkommensquellen gefährdet waren, er immer wieder starkes Unbehagen spürte und sein politischer Utopismus während des arabischen Aufstands in die Brüche ging, schien eine Emigration nun unausweichlich. Vgl. Cohen, Stefan Wolpe, 180–183; Hirshberg, Music in the Jewish Community, 180 f.; Clarkson, Harmonies for »The New Palestine«, 146 f. Zu Marc Lavry, vgl. Kapitel 3. 120  Miron, »Wenn Einsame zusammenkommen«, 117–140.

140 Kapitel 2:  Vor und nach der Staatsgründung: Die Verwässerung des Hebraismus Musikkritiker berichteten, wie Tal bei der Premiere von Wolpes Marsch und Variationen (1933/34) im Februar 1938 eines der beiden Klaviere spielte.121 In seiner Autobiografie erinnert sich Tal, dass die im Saal des YMCA versammelte »Jerusalemer High Society […] dem Klavierduo, das zu solcher Akrobatik fähig war, heftig applaudierte, wohingegen sie der Musik fassungslos gegenüberstand«. Nach diesem Konzert, fährt Tal fort, »wurde Stefan als Enfant terrible einer extremistischen Musikideologie angesehen, verstärkt durch seine kompromisslosen politischen Anschauungen und sein ich-betontes Auftreten«.122 Die beiden Komponisten kannten sich schon vorher. Tal, der seit 1936 in Jerusalem lebte, schilderte später, wie Wolpe in seinem Arbeitszimmer an der »Parade von Reihen und Umstellungen« entlangstolzierte, die an den Wänden hing, und wie Wolpes »Zerstörung gesunder Formen« seine eigene Arbeit beeinflusste.123 Allerdings traf Tal nicht ohne eigene kulturelle und künstlerische Vorlieben in Palästina ein. Als Absolvent der Staatlichen Akademischen Hochschule in Berlin, wo Curt Sachs, Heinz Tiessen, Paul Hindemith und Friedrich Trautwein (der Erfinder des Trautoniums) zu seinen Lehrern gezählt hatten, brachte er die Schönbergsche serielle Technik mit (die er vor allem von Tiessen gelernt hatte), wobei er sich der tonalen Gesten, die dieser Syntax Leben einhauchten, wie auch ihrer dogmatischen Fallstricke vollkommen bewusst war.124 Aufgewachsen in einer orthodoxen Familie in Berlin, von der er sich als Jugendlicher allmählich löste, bewahrte Tal eine Vertrautheit mit jüdischen Topoi (und ein Gespür für sie); er ließ sie in seine Musik eindringen, während er binäre Formen von Repräsentation aussiebte. Nach Wolpes Ausreise wurde ihm dessen Stelle angeboten, woraufhin er Leiter für Komposition und Musiktheorie am Jerusalemer Konservatorium wurde. In seiner Autobiografie schreibt Tal, zumindest in einer Hinsicht habe er die Arbeit seines Vorgängers fortgesetzt – durch »die Modernität meiner Kompositionen«.125 Bereits in den ersten in Palästina entstandenen Werken zeigte sich Tals großes Interesse an traditionellen Formen und linearen Mitteln. Die Chaconne (1936) für ein Klavier weist eine Serie von Permutationen auf, die aus einem Basso ostinato schöpfen, dessen Symmetrie der Komponist dezidiert durchbricht. Häufig wurde in das Ostinato selbst eine Asymmetrie eingebettet, wodurch sich weitere Verschiebungen und wechselnde Akzentuierungen thematischer Neu121 Raphael da Costa, Two Piano Concert, Palestine Post (18.2.1938); Moshe Bronzfat, »Musik in Jerusalem« (Hebr.), Davar (8.4.1938). Tal trat zusammen mit Irma Wolpe Rademacher, Wolpes zweiter Frau, auf. 122 Tal, Tonspur, 136. 123  Austin Clarkson, Interview with Josef Tal, in: Recollections of Stefan Wolpe; vgl. auch Tal, Tonspur, 139. 124  Josef Tal, »Erinnerungen, Reflexionen, Resümees« (Hebr.), hg. v. Ada Bronsky, Jerusalem 1997, 16 f.; Robert J. Gluck, Fifty Years of Electronic Music in Israel, Organised Sound, 10.2 (2005): 163 f. 125 Tal, Tonspur, 139; Hirshberg, Music in the Jewish Community, 167.

141

Nähe und Gegensatz: Subversive Hebraisten

Beispiel 2.5: a) Josef Tal, Chaconne (1936), T. 1–28. © Mit freundlicher Genehmigung des IMI Israel Music Institute, Tel Aviv. Sostenuto

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Nähe und Gegensatz: Subversive Hebraisten

Beispiel 2.5. b) Tal, Chaconne, T. 168–172. © Mit freundlicher Genehmigung des IMI Israel Music Institute, Tel Aviv. Lively eighth

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144 Kapitel 2:  Vor und nach der Staatsgründung: Die Verwässerung des Hebraismus Beispiel 2.6: a) Tal, Drei Stücke (1937), III, »Basso ostinato«, T. 1–6. Langsam, mit grossen Ausdruck

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Nähe und Gegensatz: Subversive Hebraisten

Beispiel 2.6: b) Tal, Drei Stücke, III, »Basso ostinato«, T. 28–33.

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146 Kapitel 2:  Vor und nach der Staatsgründung: Die Verwässerung des Hebraismus Der zweite Satz der Piano Sonata (1949) zitiert die Melodie von »Rachel«, einem Gedicht, das durch Jehuda Sharetts Vertonung populär wurde, der besser bekannt ist als Komponist von Yagur Passover Seder (Yagur bezieht sich auf einen Kibbuz).126 Das Gedicht, seine Verfasserin und Sharetts Vertonung gewannen für den Hebraismus eine herausragende Bedeutung. Geschrieben von der Dichterin Rachel Bluwstein, einer der prominentesten weiblichen Stimmen des Jischuw, verknüpft »Rachel« drei Formen von Bewegung durch »eine Betonung von Minimalismus sowie die Poetik und Politik der Armut« (Kronfeld):127 die körperliche Bewegung der Dichterin durch den geografischen Raum des Landes (»Darum erfass ich meinen Weg / Mit solcher Sicherheit: / Mein Fuß wahrt noch die alte Kraft / Aus jener, jener Zeit«), einen diachronen Fluss, der von der biblischen in die zionistische Zeit führt (»Ja, ihr Blut strömt in meinem Blut, / Ja, ihre Stimme raunt in mir«), und eine Wendung nach innen von der Biografie der Matriarchin Rachel zur Autobiografie der Poetin Rachel (»Und fremd die Stadt, / Weil einst ihr Mantel im Gebraus / Des Wüstensturms geflattert hat«).128 Aus diesen Strömen entwickelten sich intertextuelle Unterströmungen, die das Biblische durch das Nationale filterten. Die Zeile »Ja, ihr Blut strömt in meinem Blut« (hen dama bedami zorem) zum Beispiel lehnt sich an die mehrfache Betonung in Ezechiels Allegorie von Jerusalem als treuloser Frau Gottes an (Ezechiel 16), namentlich an Ezechiel 16:6: »Ich aber ging an dir vorüber und sah dich in deinem Blut liegen und sprach zu dir, als du so in deinem Blut dalagst: Du sollst leben! Ja, zu dir sprach ich, als du so in deinem Blut dalagst: Du sollst leben«. Die Wiederholung von Gottes Worten (im Hebräischen bedamayich hayii) kehrt bei Bluwstein in der doppelten Betonung des Wortes »Blut« wieder; der Vers aus Ezechiel, ein Teil des Gebets beim Beschneidungsritual, deutet zudem eine latente Ebene an, auf der die Dichterin eine männliche Stimme annimmt und feminisiert. 1949, fünfzehn Jahre nach seiner Einwanderung, wusste Tal Bluwsteins Orchestrierung sprachlicher Register und ihre Bedeutung für die Kultur des Jischuw zu würdigen. Schon 1936 hatte er drei ihrer Lieder für einen Frauenchor arrangiert, doch als neu eingetroffener Immigrant konnte er sich damals nur auf ihre wörtliche, oberflächliche Schicht beziehen.129 1949 dagegen machte sein Zitat von Sharetts Melodie, ganz ähnlich wie das von diesem vertonte Gedicht, bewusst Anleihen bei anderen Stimmen. Sharett und Tal waren sich erstmals 1934 im Kibbuz Beit Alpha begegnet, in dem Tal kurze Zeit lebte.130 Sharett pendelte vom Kibbuz Yagur alle zwei Wo126 

Jehuda Sharett, Yagur Passover Seder, Tel Aviv 1951. On the Margins of Modernism, 72. 128 Rachel Bluwstein, Lieder. Hebräisch und Deutsch, übers. v. Ruth Ollendorf, Berlin 1937. 129  Josef Tal, Frauenquartette (November 1936), Josef Tal Collection, NLI, MUS84 A39. 130  Tal reiste als Fotograf nach Palästina ein. Musiker wurden von den Mandatsbehörden als Selbstständige betrachtet und nur mit einem »Kapitalisten-Visum« ins Land gelassen, für das 1.000 Pfund Sterling hinterlegt werden mussten. Nachdem er durch das nationalsozialis127 Kronfeld,

Nähe und Gegensatz: Subversive Hebraisten

147

chen nach Beit Alpha, um den dortigen Chor zu leiten. Die beiden begegneten sich auch in Yagur, wo Tal als Pianist auftrat. Doch der Beginn ihrer lebenslangen Freundschaft waren ausgiebige Diskussionen über Komposition und Ästhetik, in denen Sharett etwas über Kontrapunkt und Harmonie lernte, während Tal Kenntnisse aus erster Hand über das sich herausbildende Repertoire der Kibbuzim bekam.131 Und während Tal das Verdienst zuerkannt wurde, dass er Sharetts Vertonung von Bialiks Gedicht »Kumu To’ei Midbar« (»Erhebt euch, Wanderer der Wüste«) bearbeitet hatte, ging erst aus einem späteren Interview mit Sharett hervor, dass er auch viele andere Choralwerke verbessert und arrangiert hatte.132 In einem kurzen Artikel von 1953 bemerkte Tal, Sharett habe es geschafft, »seine Melodien den Herzen der Massen einzupflanzen – so sehr, dass manche seiner Lieder die Anonymität erlangten, durch die sich Volkslieder auszeichnen«. Der Ausgangspunkt dieser Musik, fügte Tal hinzu, sei das monofone Volkslied, dessen »bescheidene Form« den »rhythmischen Schwankungen der hebräischen Sprache« folge.133 Tatsächlich wies die Melodie von »Rachel«, die Sharett wahrscheinlich 1932 in Berlin komponiert hatte,134 alle diese Merkmale auf: ein Drei-Halbe-Takt, dessen entferntes Pulsieren einen von der hebräischen Sprache animierten, fließenden Rhythmus ermöglichte, und eine Melodie, die sich im Tonumfang einer Quarte entfaltete, was zu eng war, um ihr tonale Andeutungen zu verleihen (tatsächlich hatte Sharett selbst die Melodie in parallelen Quinten notiert und bemerkt, dass »die Melodie mit den Quinten auf die Welt gekommen ist, en bloc«; Beispiel 2.7a).135 Tal schrieb auch, dass Sharetts »Rachel« genuin folkloristische Qualitäten habe,136 und doch musste er diesem volkstümlichen Import seinen Stempel aufprägen. Als sollte sie das Wesen des tische »Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« seine Stelle als Lehrer verloren hatte, absolvierte Tal im Eiltempo die eigentlich vierjährige Ausbildung zum Fotografen in anderthalb Jahren. Mit diesem Diplom bekam er das ersehnte Visum als Handwerker und traf im März in 1934 in Palästina ein. Er lebte zunächst kurzzeitig in zwei Kibbuzim (Beit Alpha und Gesher), wo er als Pianist auftrat, den Chor von Kvutzat Kinneret leitete und die Volkslieder des Komponisten Matityahu Shelem transkribierte, und zog 1936 nach Jerusalem. Der Ausbruch des arabischen Aufstands kam Tal ironischerweise finanziell zugute: Er vertrat Tel Aviver Pianisten, die aufgrund der von den Briten verhängten Ausgangssperren nicht in das Jerusalemer PBS-Studio kommen konnten, und erlangte dadurch eine Bekanntheit, die wiederum den Kreis seiner Klavierschüler vergrößerte. Gelegentlich beschäftigte ihn das Palestine Orchestra in seiner zweiten Saison ersatzweise als Harfenspieler (bevor ein ständiger Harfenspieler aus Budapest eintraf). Tal, »Erinnerungen«, 88–90, 103–118, 122. 131 Yizhar Yaron, »Interview mit Josef Tal« (Hebr.), 18.12.1969, unveröffentlichtes Typoskript, YTA, nicht katalogisiert; Tal, »Erinnerungen«, 107–109. 132 Sharett, Yagur Passover Seder, 42; Yizhar Yaron, »Interview mit Jehuda Sharett« (Hebr.), 25.5.1973, unveröffentlichtes Typoskript, YTA, nicht katalogisiert. 133  Josef Tal, »Jehuda Sharetts Musik« (Hebr.), Ichud Hakevutzot Vehakibbutzim (1953): 1. 134  Jehuda Sharett, Brief an Geula Sharett (Hebr.) (Elul, August/September 1932), Yehuda Sharett Collection, YTA, nicht katalogisiert. 135  Sharett, Brief an Geula Sharett; vgl. auch ders. (Hg.), Anot 7: Shepherds’ Songs for Accompanied Choir, Tel Aviv 1939, 38–49. 136  Tal, »Erinnerungen«, 19.

148 Kapitel 2:  Vor und nach der Staatsgründung: Die Verwässerung des Hebraismus Beispiel 2.7: a) Jehuda Sharett, »Rachel« (Transkription von Sharett, datiert August/September 1932). (Text: »Ja, ihr Blut strömt in meinem Blut, / Ja, ihre Stimme raunt in mir. / Rachel, die Labans Hirtin war, / Rachel, Urmutter mir.«)

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Diskurses zwischen den beiden Komponisten ausdrücken – und charakteristischerweise für Tals Bearbeitungen –, umfasste die Transkription des Lieds für die Piano Sonata auch eine Veränderung des Takts (Beispiel 2.7b). Erstaunlicherweise wies diese umgearbeitete Fassung mehr Ähnlichkeit damit auf, wie das Lied Tondokumenten zufolge in der sozialistischen Jugendbewegung Mahanot Haolim gespielt wurde.137 Und dann trat der Komponist hervor: Nachdem er die Taktstriche umgestellt hatte, harmonisierte Tal die Eröffnung des Basses mit Intervallen, die zusammen mit diesem erkennbare Dreiklänge bildeten, deren Richtungsgebundenheit indessen gekappt und deren Klang entsprechend verfremdet war. Dies war ein charakteristisches Beispiel dafür, wie Tal Nähe und Gegensätzlichkeit verband: Zwar nahm er Sharetts Melodie auf, reicherte sie aber mit Quarten und Quinten an, die innerhalb seiner atonalen Syntax äquivalent waren (die einen bildeten die Umkehrung der anderen); auf 137 

NSA, Y/05753.

Nähe und Gegensatz: Subversive Hebraisten

149

dem Papier betrachtet waren beide Intervalle Schlüsselmerkmale des sogenannten mediterranen Klangs, doch durch Dreiklänge in einem nichttonalen Kontext wurden sie verfremdet. Kommentierte Tal damit die durch Umkehrbarkeit begründete Flüssigkeit von Quinten in der autoexotistischen Semantik? Entwurzelte er bewusst die Dreiklänge, die die nichtwestliche jüdische Musik in eine nationale Onomatopoesie verwandelt hatten? Dieselben Mechanismen, die Tal in den 1930er Jahren genutzt hatte – darunter das Oszillieren zwischen symmetrischen und asymmetrischen zyklischen Erscheinungen des Basses unter Veränderung von Takt, Rhythmus, Textur und Variationen –, bildeten auch die Mittel, mit denen er Sharetts »Rachel« weiter bearbeitete. Der zweite Satz seiner Sonate entfaltet sechs Erscheinungen des Basses: Die erste, zweite und sechste zeigen Tals revidierte Transkription in Gänze, bestehend aus einer Spanne von zwölf Takten, von denen acht die letzte musikalische Phrase zweimal wiederholen (Beispiel 2.7b). Tal hätte diese Wiederholung in einer Instrumentalversion, die sich nur indirekt an den Text anlehnt, streichen können, und in der Tat verwendet er im zweiten, dritten und fünften Zyklus einen kürzeren Bass aus acht Takten. Das war überaus hilfreich, erlaubte es ihm doch, das Thema von innen heraus zu modifizieren und sich seinem ikonenhaften Status zu widersetzen. Wie in den meisten seiner früheren Bassi ostinati musste sich der Bass auch hier verwandeln und verändern. Dadurch wurde er eine symmetrisch-asymmetrische Formulierung: Sie vermied den kurzen fixierten Bass des letzten Satzes der Drei Stücke (Beispiel 2.6a–b), sah aber zugleich davon ab, das Thema wie in der Chaconne so stark zu verfremden, dass es letztlich in den Hintergrund trat (Beispiel 2.5a–b). Vor allem aber brauchte Tal Sharetts Lied, denn wenn er es dekonstruiert hätte, hätte dies die seiner Musik angehefteten Etiketten bestätigt und jenes formelle Klanggerüst zerstört, vor dessen Hintergrund melodische und harmonische Innovationen erst ihre Bedeutung erhielten; in Tals schriftlichen Äußerungen zu dem Lied sowie in der Veränderung seiner Impulse und der Reharmonisierung seiner melodischen Konturen fanden somit beide Komponisten einen Ausdruck; im zweiten Satz der Sonate floss ihre Musik zusammen. Im vorletzten Zyklus des Basses geht aus einem charakteristischen Moment dieses Diskurses quasi eine Cadenza hervor; Tal belässt dem Thema seine Sichtbarkeit, während er vor allem zwei Zellen verknüpft: F–Ges–B beziehungsweise C–Des–F (deren intervallische Struktur identisch ist) und Fis–Gis–A (Beispiel 2.7c, T. 41–42). Der Fluss von Zweiunddreißigsteln, der zwei Takte aus dem ursprünglichen Bass in einem zusammenfasst (Beispiel 2.7c, T. 42; vgl. mit Beispiel 2.7b, T. 2–3), zieht die Verkürzung der halben Note zu einer Achtelnote in Takt 43 nach sich (vgl. mit Beispiel 2.7a) und führt zu einer weiteren thematischen Neufassung durch Tal, der durch eine Serie von zusammengesetzten ungeraden Taktarten ein ausgeklügeltes Ritardando erzeugt, das die sprühende Energie im hohen Register zügelt (Beispiel 2.7c, T. 43–47). Sodann endet der Zyklus mit beiden Quinten im

150 Kapitel 2:  Vor und nach der Staatsgründung: Die Verwässerung des Hebraismus Beispiel 2.7: c) Tal, Piano Sonata, II, »Basso ostinato«, T. 41–47. © Mit freundlicher Genehmigung des IMI Israel Music Institute, Tel Aviv.

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Hintergrund (D–A; Es–B) und einem verschobenen Äquivalent aus G–Fis–D zu der melodischen Zelle, mit der die Sequenz eröffnet wurde. Ungeachtet der Frage, ob Tal Sharetts Lied verzierte oder umgekehrt, stellt die Präsenz beider Figuren in ein- und demselben musikalischen Bild die diskursiven Grenzen des Autoexotismus infrage, indem sie seine Semantik dekonstruiert und die zwei Versionen von »Rachel« mit den beiden Komponisten verbindet. 1953 versuchte Tal, noch weiter gegen diese Grenzen zu verstoßen, als er in einem Artikel bedeutsame Veränderungen in Sharetts Stil und seinem Selbstverständnis als Komponist von Volksmusik aufzeigte. Die von Tal ausgemachten Veränderungen betrafen Sharetts Übergang von Mono- zu Polyfonien und die Art und Weise, wie sein »polyfones Kostüm über simple harmonische Progressionen hinausging, die, wie in den meisten üblichen Arrangements, die Melodieführung

Nähe und Gegensatz: Subversive Hebraisten

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des Volkslieds stützen«. Sharetts Kontrapunkt, so Tal, entbehre »symmetrischer Vorschriften«, und auch wenn er die Progression der unterschiedlichen Teile aufeinander abstimme, tue er dies nicht auf Grundlage »der klassischen Kadenz, sondern seines persönlich-ästhetischen Urteils über Konsonanzen und Dissonanzen«. Was dann folgte, hätte allerdings auch eine Beschreibung von Tals eigener Musik sein können: »Hier sieht man die ideale Demokratie, eine, in der jedes Element seinen einzigartigen Charakter ausdrückt. Ein solches geistiges Prinzip allerdings verlangt von Künstlern wie aktiven Hörern gleichermaßen ein volles Aufblühen ihres reifen Geistes … [da] die individualistische Entwicklung der melodischen Linien sowohl das Verständnis wie die Aufführung schwieriger gestaltet.« Tal schloss, solche Entwicklungen deuteten auf eine ununterbrochene lineare Intensität hin, frei von der Hierarchie aus Hauptstimme und ihrer Harmonie; und »auch wenn es noch zu früh ist, um über moderne atonale Harmonik zu reden, kann man sich bereits vorstellen, wohin solche Entwicklungen den Komponisten führen könnten […], der sich mit seinem jüngeren Werk eindeutig außerhalb populistischer Erwägungen stellt«.138 Galt auch dies noch für beide Komponisten? In den ersten Jahren nach der Staatsgründung wollte Tal in Sharetts linearen Entwicklungen einen Individualismus (als Gegensatz zum Kollektivismus) sehen, der sich von seinen bescheidenen Textbezügen lossagte, ohne seine volkstümlichen Wurzeln aufzugeben. 1952, ein Jahr vor seinem Artikel über Sharetts polyfone Neuerungen, komponierte Tal Drei Chorlieder, dessen erster Satz ein Arrangement von »Moladeti« beinhaltete, dasselbe arabische Bauernlied, auf das Ben-Haim seine Variationen über eine hebräische Melodie gegründet hatte. Welche Bedeutung Chorälen vor und in den ersten Jahren nach der Staatsgründung zukam, war Tal nicht entgangen: Als Musik aus dem, für das und vor allem über das Volk festigten sie nationalen Einklang und Zusammenhalt. Mit dem Arrangement von »Moladeti« wendete sich Tal an eine interpretative Gemeinschaft, von der er wusste, dass sie (in den Worten von Stanley Fish) »die von Individuen geteilten Erfahrungen in einer bestimmten Weise organisierte; die ihnen zugewiesenen Unterscheidungen, Kategorien des Verstehens und Bestimmungen von Relevanz und Irrelevanz bildeten den Bewusstseinsinhalt von Gemeinschaftsmitgliedern, die somit nicht länger Individuen waren, sondern – insoweit sie in das kollektive Unternehmen eingegliedert waren – Eigentum der Gemeinschaft«.139 Da er selbst in zwei Kibbuzim gelebt hatte, dürften Tal ideologische Botschaften wie der folgende Text von 1941, der für die Gründung von Chören in Kibbuzim plädierte, verständlich gewesen sein: »Alle sangen zusammen. Hier sind alle gleich, Mitglieder desselben Chors. Die Melodie, die Harmonie, die 138 

Tal, »Jehuda Sharetts Musik«, 2 f. Stanley Fish, Doing What Comes Naturally. Change, Rhetoric, and the Practice of Theory in Literary and Legal Studies, Durham 1989, 141. 139 

152 Kapitel 2:  Vor und nach der Staatsgründung: Die Verwässerung des Hebraismus rhythmischen Klänge, die wunderbaren Bemühungen, die eigene Stimme mit denen der anderen zu verschmelzen und piano wie forte eine sanfte, schöne Komposition zu schaffen, die über den Höhen und Tiefen des Alltags steht – das ist der wichtigste Faktor für die Erziehung und das gesellschaftliche Leben.«140 Gemeinschaftsorientierte Deutungen wie diese, die von einem Mitglied des Kibbuz Givat Brenner stammte, betrachteten homofone Texturen als untrennbar von tonalen oder modalen Rahmen und erhoben diese Konstellation zu einem nationalen Symbol. Zehn Jahre später beschrieb der Essayist und Übersetzer Abraham Levinson den Chor als »den primären künstlerischen Ausdruck auf der Grundlage von Kooperation, Einheit, Disziplin, einem gemeinsamen Ziel und Schaffensfreude«. Er sah den Chor als ein kollektives Instrument für die Verbreitung jüdischer, israelischer, volkstümlicher und klassischer Lieder sowie für eine kollektivistische musikalische Produktivität und betonte, dass Chöre an nationalen und gesellschaftlichen Feiertagen, bei festlichen Anlässen und Gedenktagen eine zentrale Rolle spielen sollten.141 Levinson wendete sich an Komponisten, Texter und Dichter, die alle für den Jischuw und den jungen Staat diverse Choräle geschrieben hatten, in denen die Nation oder die sie verkörpernden Gruppen gewöhnlich in der ersten Person Plural auftraten. Nach dem UN-Teilungsplan vom 29. November 1947 zum Beispiel, als sich in ersten Zusammenstößen der Bürgerkrieg zwischen der arabischen und der jüdischen Gemeinschaft in Palästina ankündigte – die erste Stufe des Kriegs von 1948 –, veröffentlichte Nathan Alterman ein Gedicht, in dem eine gleichsam liturgisch-festliche Zeremonie durch »ein Mädchen und einen Jungen [...], die vom Tau hebräischer Jugend triefen«, gestört wird. Verschmutzt, erschöpft und schweißbedeckt gebieten sie der Feier Einhalt: »Ohne Anzeichen, ob sie leben oder tödlich getroffen sind«. Dann sprechen sie mit gedämpfter Stimme: »Wir sind das Silbertablett, auf dem dir der Staat der Juden gereicht wurde.«142 Nach diesem prophetischen Aufruf, die Festlichkeiten durch Begräbnisse zu unterbrechen, verfasste Alterman gegen Ende des Krieges den Text zu einem populären Lied, der Feierliches mit Dithyramben in der ersten Person Plural verband: »Durch Blut geheiligte Liebe, / du wirst zu uns zurückkehren, um in unserer Mitte aufzublühen.«143 In Chaim Gouris Gedicht »Da liegen unsere Leichen« sprechen selbst die Toten im Einklang – als ein Chor, dem der Dichter offenbar selbst angehört. Sie wehren sich gegen ihr bevorstehendes Begräbnis und drohen, aufzuerstehen, um an den Kriegsschauplatz zurückzukehren: »Da liegen 140  B. Shimon, »Why Chorus?«, Givat Brenner Newsletter (17.12.1941), zit. n. Hirshberg, Music in the Jewish Community, 206. 141  Abraham Levinson, »Schöpferische Kultur« (Hebr.), Tel Aviv 1951, 59. 142  Zuerst auf Hebräisch veröffentlicht in Davar (19.12.1947), englische Übersetzung in Eran Kaplan/Derek J. Penslar (Hg.), The Origins of Israel, 1882–1948. A Documentary History, Madison 2011, 345; vgl. auch Dan Miron, »Im Anblick des schweigenden Bruders. Essays über die Dichtung des Unabhängigkeitskriegs« (Hebr.), Jerusalem 1992, 63–87. 143 Regev/Seroussi, Popular Music, 49.

Nähe und Gegensatz: Subversive Hebraisten

153

unsere Leichen in langer Reihe – wir atmen nicht / … / Wir werden uns wieder begegnen. Wir werden als rote Blumen zurückkehren / … Dann werden wir blühen. Dann, wenn der Aufschrei des letzten Schusses in den Bergen verhallt.«144 Tal, der sich einerseits dieser Metonymien des Einklangs bewusst war, andererseits an ein breites Publikum wendete, das an der Durchdringung komplexer Werke kein nennenswertes Interesse hatte, untergrub die konstitutiven Merkmale dieser Codes nur partiell: Er änderte den Takt des Lieds, deutete gleichzeitig ein G-Dur wie -Moll an (Beispiel 2.8, T. 1–10) und verwischte den Einsatz des Basses auf E durch vertikalisierte Cluster und phrygische Anklänge (T. 11–19), wobei er potenzielle Auflösungen unterband (das melodische Kostüm war allerdings ohnehin zu eng, um eine tonale Richtungsgebundenheit zu erzeugen) und dabei wiederum provisorische Verbindungen dekontextualisierter Dreiklänge und Aggregate schuf, die zusammen den ideologischen Gehalt des Liedtextes dämpften. So sehr dieses Arrangement an die polyfone Dialektik erinnerte, die Tal bei Sharett ausgemacht hatte, war Drei Chorlieder Teil einer Verschiebung, die durch Näheverhältnisse gekennzeichnet war, in denen Tals frühere Kompositionen nachhallten. Im politischen und kulturellen Klima der ersten Jahre nach der Staatsgründung (auf die die Kunstmusik verspätet reagiert hatte) traten solche kompositorischen Unterströmungen allerdings stärker an die Oberfläche und beeinflussten nun auch hegemoniale Stimmen. Die Ausbreitung von Stilen, die an den hebraistischen Diskurs angrenzten, fragmentierte und demontierte mit Gewalt das »vielschichtige, aber konzentrische« kulturelle System des Jischuw, dessen visionärer Kern im Übergang zur Staatlichkeit verdinglicht worden und verkümmert war.145 Somit normalisierte die Staatsgründung die politische Identität von Juden, schwächte aber gleichzeitig den politischen Aspekt und die nationale Funktion ihrer Kultur.

144 

Miron, The Prophetic Mode, 435. The Prophetic Mode, 425–426, 430.

145 Miron,

154 Kapitel 2:  Vor und nach der Staatsgründung: Die Verwässerung des Hebraismus Beispiel 2.8: Tal, Drei Chorlieder (1952), I, »Moladeti«, T. 1–24.

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Die Staatsgründung und der Niedergang des romantischen Nationalismus

155

Die Staatsgründung und der Niedergang des romantischen Nationalismus Das Gold Ophirs entlud man im Hafen. Die Musik ertönte hinter den Fensterläden. Und ich wusste, es ist verboten. Verboten. Natan Zach, »Das Gold Ophirs«146

Der Unabhängigkeitskrieg (1947–49) – ein Name, der die Geschichte aus Sicht der Sieger darstellt und die historische Gründung des dritten jüdischen Gemeinwesens rechtfertigt – hatte keine unmittelbare Auswirkung auf die Kunstmusik. Wesentlich kennzeichnender als radikale Veränderungen oder Generationenkonflikte war für die durch die Unabhängigkeitserklärung vom 14. Mai 1948 ausgelöste Dynamik, dass bereits existierende Stile nach der Staatsgründung sichtbarer wurden. Die israelische Kunstmusik ist traditionell der letzte Ort gewesen, an dem solche tektonischen Verschiebungen spürbar waren. Sie wirkten sich auf sie eher als eine sekundäre Welle aus, angestoßen von der modernen hebräischen Dichtung, dem lebendigsten literarischen Genre, das auch als erstes die Konvulsionen der ersten Jahre nach der Staatsgründung registrierte. Während des Interregnums der Staatlichkeit waren (Dan Miron zufolge) vor allem zwei sich berührende Entwicklungen am Werk gewesen: An der Oberfläche wurden Veränderungen vom Fortbestehen der politischen Konstellation, der offiziellen Ideologie sowie der während der britischen Mandatszeit geschaffenen protostaatlichen Institutionen überlagert, deren Kontinuität und Stabilität durch die Person David Ben-Gurions symbolisiert wurden. Unter der Oberfläche jedoch verschob sich die gesamte soziale, ideologische und politische Struktur zusammen mit der demografischen Basis der Nation durch deutlich spürbare Faktoren, die vom unmittelbaren Kriegsende bis in die profane, von Problemen geplagte Realität der Ära danach wirkten.147 Allein während des Kriegs waren 100.000 Einwanderer ins Land gekommen, insgesamt ergab sich in den ersten 42 Monaten nach der Staatsgründung die überwältigende Zahl von 690.000 Neuankömmlingen – eine Zahl, die die der bereits ansässigen Juden übertraf. Zusammen mit den mehr als 100.000 Menschen, die seit dem Sommer 1948 für den Krieg mobilisiert worden waren und folglich nicht mehr zur Wirtschaft des Landes beitragen konnten, strapazierte dies die Staatsfinanzen.148 146  Natan Zach, Das Gold Ophirs [1955], in: ders., Verlorener Kontinent. Gedichte, übers. v. Ehud Alexander Avner, Berlin 2012. 147 Miron, The Prophetic Mode, 423; vgl. auch Tom Segev, Die ersten Israelis. Die Anfänge des jüdischen Staates, übers. v. Helmut Dierlamm u. Hans Freundl, München 2008, 23. 148  Anita Shapira, Israel. A History, Waltham 2012, 208.

156 Kapitel 2:  Vor und nach der Staatsgründung: Die Verwässerung des Hebraismus Der Staat Israel ging zwar ermutigt aus dem Krieg hervor und, wie von Alterman prophezeit, »gebrochenen Herzens, aber atmend«.149 Doch 6.000 Israelis – beinahe ein Prozent der jüdischen Bevölkerung – waren von November 1947 bis Januar 1949 im Krieg umgekommen, 14 jüdische Siedlungen zerstört worden und rund 60.000 Juden hatten ihre Häuser verlassen.150 In den Worten Tom Segevs: »Zehntausende waren verwundet worden, und Zehntausende weitere Soldaten, die demobilisiert worden waren, wollten wieder in ihr bürgerliches Leben zurückkehren. Gezeichnet von Kriegsneurose oder dem HeimkehrSchock, fiel es ihnen schwer, sich wieder zurechtzufinden; viele fühlten sich fremd in der Gesellschaft, für deren Verteidigung sie gekämpft hatten.«151 Diese ersten Jahre waren geprägt von gravierenden Engpässen, knappen ausländischen Währungsreserven und dem beinahe völligen Fehlen von Nahrungsmittel- und Treibstoffvorräten. Im Unterschied zu früheren Wellen von Einwanderern, die Kapital, Produktionsmittel, Qualifikationen und Bildung mitgebracht hatten, kamen nun mittellose Emigranten ins Land, die schlechter ausgebildet waren als die ansässige Bevölkerung; die Hauptlast der Integration musste von der Allgemeinheit, also der Regierung und der Jewish Agency, geschultert werden. Nach anfänglicher Skepsis gegenüber den Empfehlungen von Ökonomen und besonders gegenüber dem freien Markt ging die Regierung 1949 zu einem Sparprogramm über. Es sah »unter anderem strenge Preiskontrollen, die Rationierung von Lebensmitteln, öffentlichen Leistungen, Rohstoffen und ausländischer Währung vor. […] Im Sparprogramm kam ein gewisser Puritanismus, eine tiefe Abneigung gegen die Ladeninhaber und gegen alles, für das sie standen, sowie ein geradezu mystischer Glaube an die Fähigkeit der Bürokratie zum Ausdruck, die Probleme des Landes zu lösen.«152 (Schließlich war es diese Bürokratie, die die in Durchgangslagern und Elendssiedlungen lebenden arabisch-jüdischen Neueinwanderer ernährte.) Weil mehr Geld gedruckt wurde, als die Öffentlichkeit ausgeben konnte, aber auch als Ausdruck von Unzufriedenheit der Verbraucher und ihrer Ablehnung der Sparpolitik, wuchs der Schwarzmarkt.153 Laut einer Meinungsumfrage hatten die meisten Israelis 1950 den Eindruck, dass sich ihre wirtschaftliche Lage seit der Staatsgründung verschlechtert hatte.154 Wie Amos Oz in seinem autobiografischen Roman schrieb:

149 

Kaplan/Penslar (Hg.), The Origins of Israel, 345. gegenteiliger Anordnungen verließ fast ein Drittel der jüdischen Einwohner Jerusalem, Tausende von Juden, die in den Grenzbereichen zwischen jüdischen und arabischen Gegenden lebten, zogen an sicherere Orte. Vgl. Shapira, Israel, 158 f. Zum palästinensischen Exodus während des Kriegs, vgl. Benny Morris, The Birth of the Palestinian Refugee Problem Revisited, Cambridge 2004. 151 Segev, Die ersten Israelis, 26. 152 Segev, Die ersten Israelis, 344–346; Shapira, Israel, 210. 153 Shapira, Israel, 211. 154 Segev, Die ersten Israelis, 350. 150  Trotz

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»Jetzt, nach den ›erhabenen Jahren‹, folgte für uns ›der Morgen danach‹: trist, trübsinnig, klamm, geizig und kleinlich.«155 Im Übergang zur Staatlichkeit kam es noch zu anderen strukturellen Veränderungen. Noah Lucas stellt einen Wandel der Art von Sozialismus fest, die der Jischuw und der neu gegründete Staat praktizierten: von einem Dritte-Welt-Sozialismus des 20. Jahrhunderts, der außerhalb der kapitalistischen Sphäre stattfand, weil er sie als alternativer Akteur von Modernisierung und Industrialisierung umging, zu einer Form des 19. Jahrhunderts, die als revolutionäre Kritik des Kapitalismus entstanden war, aber schließlich als Schrittmacher von Reformen in das Gewebe der kapitalistischen Politik integriert wurde. Die im frühen 20. Jahrhundert in Palästina eintreffenden jungen Revolutionäre, so Lucas, gaben ihr ausländisches sozialistisches Vokabular rasch auf und begriffen binnen zwanzig Jahren, »dass sie eine neue Gesellschaft entlang neuer Linien aufbauten und dabei den Kapitalismus eher umgingen als bezwangen und ersetzten«.156 In den 1920er Jahren war den Pionieren klar geworden, dass sie dabei waren, neue Pfade zur Modernisierung und Industrialisierung einer unterentwickelten Gesellschaft zu erfinden, und »ihr Sozialismus, den sie Konstruktivismus nannten, potenziell einen neuartigen Weg zum Aufbau einer neuen Gesellschaft darstellte«.157 Durch Improvisation entdeckten sie innovative kooperative Organisationsprinzipien: verschiedene Typen überwiegend landwirtschaftlicher Siedlungen (Kwutza, Moschaw, Kibbuz), den Gewerkschaftsverband Histadrut und viele andere gesellschaftliche und ökonomische Formen, die ihren Lebensumständen entsprachen. »Die Pioniere waren bereit«, so Lucas, »durch Gemeineigentum und Selbstverwaltung für die Zukunft zu arbeiten, freiwillig. Die Zukunft stand ihrer Gestaltung offen und der Reiz der Autarkie, der wirtschaftlichen Selbstversorgung, war das Versprechen, das sie nach ihrem Bilde schaffen konnten.«158 Während des arabischen Aufstands jedoch, als die Nationalbewegung unter Ben-Gurion die Staatsgründung zum unmittelbaren Ziel erklärte und folglich ein antikoloniales, auf den Rückzug der Briten zielendes Modell annahm, hörten die Sozialisten (vor allem die linken) auf, Neuerungen voranzutreiben, und zogen sich Lucas zufolge zunehmend »auf ihre embryonale Form aus dem 19. Jahrhundert zurück: auf eine defensive Haltung des Protests und Widerstands gegen das, was sie als kleinbürgerliche Bedrohung ihres wirtschaftlichen Sektors wahrnahmen, der nun im Schatten zwingender nationalistischer Strategien geschwächt wurde«.159 Nach der Staatsgründung drängten Regierung und Militär das Netzwerk sozialistischer Kooperativen als Pioniere 155  Amos Oz, Eine Geschichte von Liebe und Finsternis, übers. v. Ruth Achlama, Frankfurt a. M. 2004, 608. 156  Lucas, Israeli Nationalism and Socialism, 305. 157  Lucas, Israeli Nationalism and Socialism, 306. 158  Lucas, Israeli Nationalism and Socialism, 306. 159  Lucas, Israeli Nationalism and Socialism, 306.

158 Kapitel 2:  Vor und nach der Staatsgründung: Die Verwässerung des Hebraismus des nationalen Aufbaus in den Hintergrund; sozialistischer Erfindungsreichtum wurde durch defensive, konservative Ansätze abgelöst. Solange sie die Regierung stellten, fühlten sich die Sozialisten in ihren Werten bestätigt, doch wie Lucas schreibt, »bedeuteten einerseits die Dynamik des Staates als Werkzeug zur Integration der Masseneinwanderung und andererseits die Notwendigkeit, große Mengen Privatkapital zu importieren, um diese Integration zu bewerkstelligen, dass kein Sozialismus aufgebaut wurde, sondern eine kapitalistische Wirtschaft unter Führung der Bürokratie der Arbeiterbewegung«. Während der Etatismus zum Kern der nationalen Mentalität wurde, »bezahlte der Sozialismus das neue Ziel des nationalen Aufbaus mit seinem Leben«.160 Auch wenn Kultur sich nicht unbedingt an politischen, geschweige denn staatlichen Daten orientiert, waren Dichter die ersten Seismografen, die die neuen Spannungen registrierten: eine fortschreitende Individualisierung der israelischen Gesellschaft (die mit dem relativen Niedergang des freiwilligen Kollektivismus Hand in Hand ging), die Entstehung eines zentralistisch-bürokratischen Kollektivismus (der de facto vom Staat repräsentiert wurde) und die massenhafte Einwanderung arabischer Juden nach dem Krieg von 1948, die in den kulturellen Raum eindrangen, in dem sich die Gesellschaft und ihre staatlichen Strukturen bislang gefestigt hatten.161 Auch in der Musik wurde die anhaltende Produktion einer zionistischen Onomatopoesie durch neue wie auch bereits bekannte künstlerische Trends unterschiedlicher Dauer und Stärke infrage gestellt, doch es war die Dichtung, in der sich die Entstehung antiromantischer Formen des Schreibens ankündigte, die sich aus dem religiösen und rituellen Charakter der Staatsbegeisterung entwickelten, auf ihn reagierten und ihn in Zweifel zogen.162 Die hebräische Kultur wurde paradoxerweise von ihrem eigenen Erfolg untergraben. Während sich das Polysystem der modernen hebräischen Dichtung des Jischuw auf einen gemeinsamen hebraistischen Kern bezogen hatte, wurden 160  Lucas, Israeli Nationalism and Socialism, 309. Zur Demoralisierung in den Kibbuzim, vgl. Anita Shapira, »Der Kibbuz und der Staat« (Hebr.), Iyunim Bitkumat Israel, 20 (2010): 193–207; Eliezer Ben-Rafael, The Kibbutz in the 1950s. A Transformation of Identity, in: Lucas/Troen (Hg.), Israel. The First Decade of Independence, 265–278; Henry Near, The Crisis in the Kibbutz Movement, in: ebd., 243–263. Tony Judt hat im Rückblick auf seine Arbeit in israelischen Kibbuzim der 1960er Jahre – in deren Mitte deutlich wurde, dass die israelische Wirtschaft nicht mehr auf kleinen Agrarbetrieben beruhte – bemerkt, trotz der erhebenden Wirkung eines gemeinsamen Ziels, von Produktivität, Selbstversorgung und stolzer Abgrenzung gegenüber den Arabern sei ihm damals klar geworden: »Kollektive Selbstverwaltung oder egalitäre Lebensweise macht weder klüger noch toleranter. Im Gegenteil, es führt zu Selbstgefälligkeit und begünstigt damit einen ethnischen Solipsismus der übelsten Art.« Tony Judt, Das Chalet der Erinnerungen, übers. v. Matthias Fienbork, München 2012, 100. 161  Orit Rozin, The Rise of the Individual in the 1950s Israel, Waltham 2011, 191–199. 162 Zu parallelen Entwicklungen in der damaligen bildenden Kunst, vgl. Galia Bar Or, »Kunst in Kriegszeiten«, in: »Bürger im Krieg. Studien über die Zivilgesellschaft während des israelischen Unabhängigkeitskriegs« (Hebr.), Jerusalem 2010, 205–237; Galia Bar Or/Gideon Ofrat, »Die erste Dekade. Hegemonie und Pluralität« (Hebr.), Ein Harod 2008.

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in den 1950er Jahren die »syntagmatischen, vereinheitlichenden Muster, die die unterschiedlichen und oftmals kontrastierenden Elemente dieses Systems amalgamiert hatten, unscharf und unwirksam; die Verbindungslinien wurden schwächer oder unterbrochen«.163 Der nahezu plötzliche Zusammenbruch dieses Systems, das »auf einem politischen Verständnis der hebräischen Sprache als dem einzigen verbliebenen Element der jüdischen Unabhängigkeit im Altertum« gründete, wurde durch die Aushöhlung der traditionellen ideologischen Strukturen verursacht, die das moderne Hebräisch insbesondere »nach einer Phase der vollständigen Integration mit dem aufkommenden Zionismus um die Jahrhundertwende« geprägt und geleitet hatten. Auf Hebräisch zu schreiben, war fortan eine sprachliche, ästhetische und politische Entscheidung gewesen, verbunden mit einer nationalistischen Komponente: der Akzeptanz einer säkularen prophetischen Bürde durch diejenigen, die sich als rituelles Sprachrohr des Jischuw betrachteten und deren Rolle »der kollektiven literarischen Physiognomie der Zeit eingraviert« worden war.164 Von den letzten Monaten des Jahres 1947 an sprach aus der hebräischen Dichtung in einer Vielzahl von Hymnen, Grabgesängen und Klageliedern eine gewaltige, aber erhabene »emotionale Flutwelle, die paradoxerweise Rausch und Nüchternheit verband«,165 so etwa in den bereits erwähnten Gedichten »Das Silbertablett« von Alterman und »Hier liegen unsere Leichen« von Gouri oder auch in Ayin (Omer) Hillels »Rede der grauen Soldaten«, in dem die lebenden Toten einen Chor grauer, zerlumpter und nach Tod riechender Soldaten bilden, die »mit unseren Leichen und ohne sie« zurückkehren.166 Miron meint, die Botschaft all dieser Klagelieder unterscheide sich nicht von der konventionellen Aussage »Mit ihrem Tod entboten sie uns Leben« (aus Bialiks Gedicht »Und wenn du kennen willst den Quell«) oder dem erwähnten Rekurs auf Ezechiel 16:6 (»zu dir sprach ich, als du so in deinem Blut dalagst: Du sollst leben«), da sie thematisch wie in Diktion und Rhythmus den Auftrag des Dichters bekräftigten, eine kollektive Trauer zu artikulieren, gefasst in »ein ernstes, ritualisiertes, aber auch merkwürdig feierliches Gefühl, dem die tröstende Botschaft eines Lebens im Tode zugrunde liegt«.167 Mit ihrem Rückgriff auf die romantische Poetik beschritten solche konservativen, traditionellen Konzepte keine neuen dichterischen Wege, doch in den ­Jahren 1948/49 hatte eine derartige Bekräftigung der prophetischen Rolle des 163 Miron,

The Prophetic Mode, 425 f. The Prophetic Mode, 427–433. 165 Miron, The Prophetic Mode, 433 f. 166 Miron, The Prophetic Mode, 436; Ayin Hillel, Eretz Hatzohorayim, Tel Aviv 1960, 50; vgl. auch Hannan Hever, »Das Lebende ist am Leben und das Tote tot« (Hebr.), Siman Kria, 19 (1986): 188–192; Hever, Producing the Modern Hebrew Canon. Nation Building and Minority Discourse, New York 2002, 118–139. 167 Miron, The Prophetic Mode, 436 f. Bialiks Gedicht erschien in der deutschen Übersetzung von Ernst Müller in Chajim Nachman Bialik, Ausgewählte Gedichte, Wien/Jerusalem/ Leipzig 1935. 164 Miron,

160 Kapitel 2:  Vor und nach der Staatsgründung: Die Verwässerung des Hebraismus Dichters einen letzten glanzvollen Moment. Der von Israels annus mirabilis geforderte Tribut, die massive »Judaisierung« der Gesellschaft infolge der Mas­sen­ ein­wanderung frommer Juden aus Nordafrika und dem Nahen Osten sowie die profane Realität nach dem Höhepunkt der Staatsgründung trieben neue, nüchterne Geisteshaltungen und poetische Mittel hervor, die zu der berauschenden Atmosphäre von 1948 auf Abstand gingen.168 Neue nichtbiblische Tonlagen der Dichtung unterminierten den Gedanken tragischen Muts, verwandelten das Heroische wieder in das Entsetzliche zurück und übersteigerten den Siegestaumel zu Schrecken – eine von Wohlklängen befreite Gegenreaktion auf die im Übermaß figurative Poesie der Berauschung und überdimensionierter symbolischer Bedeutungen. Omer Hillel griff den Topos der marschierenden Kriegstoten auf; bei ihm verlassen sie ihre Gräber, »um die mit ihrem Blut gedüngten Felder heimzusuchen und deren Ernte abzuwägen«, wobei sie allerdings nur Ströme von Exkrementen und Giftschlangen vorfinden; Jerusalem stellt Sorglosigkeit zur Schau und Tel Aviv zeigt sich als Stadt, »deren Fleisch vom großen Messer des Geldes durchpflügt wurde«. Hillel, der seine aufmarschierenden Toten hanivozim (»die Beraubten«) nannte, schrieb auf diese Weise einen spiegelbildlichen Kommentar über die entmenschlichte Welt am Tag nach dem Krieg.169 In einem Klima des Zorns, das sich auch aus wachsender Opposition zur Politik der Arbeitspartei und der von ihr geförderten kulturellen Atmosphäre speiste, sanken die poetische Diktion und die euphonischen und rhythmischen Profile auf das »Niveau absichtlich holpriger Verse und Schmähreden« herab und machten die offizielle visionäre Rhetorik des öffentlichen Diskurses zu bloßen »Anführungszeichen, die das Konzept des Zionismus zu umzingeln und zu zerstören drohten«.170 »Exklusive, offene Symbole und eine melodisch-figurative Suggestivität wurden irrelevant«, bemerkt Miron, und während die größten Dichter zeitweilig stürzten, gewannen neue an Ansehen.171 Das prominenteste der neuen Gesichter war Jehuda Amichai, der von 1942 bis 1946 in der britischen Armee gedient und somit bereits einen großen Krieg erlebt hatte, als er 1948 erneut in den Kampf zog.172 Um die von Alterman betriebene Trennung des Nationalen vom Privaten zurückzuweisen, musste er die großen Worte öffentlicher Reden und normativer Diskurse hinter sich lassen und das Paradigma des Lebens im Tode beiseite wischen. Ein Vierzeiler aus seinen Kriegssonetten (die er in den frühen 1950er Jahren fertigstellte) zeigt, wie er die Realität des Kriegs verkleinerte und ihr die historische Perspektive versagte; immer wieder stören die»schreienden Verwundeten« das Leben des pri-

168 Miron,

The Prophetic Mode, 443. The Prophetic Mode, 457–460; Hillel, Eretz Hatzohorayim, 61 f. 170 Miron, The Prophetic Mode, 450, 457, 463 f. 171 Miron, The Prophetic Mode, 466, 469. 172  Benjamin Harshav, The Polyphony of Jewish Culture, Stanford 2007, 175–185. 169 Miron,

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vaten »Ich« sowie seine Fähigkeit, zur Freiheit zu gelangen:173 »Wir liebten hier. Die Wirklichkeit war anders, / die Zeitungen schrien erneut wie Verwundete. / Hinter den übergroßen Schlagzeilen / halten wir beide uns versteckt.«174 Durch Anspielungen in einer von Momenten aus den heiligen Schriften und der Liturgie durchzogenen Sprache relativierte Amichai traditionelle und sakrale Quellen, während er die profane und ernüchterte Welt erhöhte; wie Kronfeld bemerkt, lehnte er »den nationalistisch-religiösen Gedanken der Auserwähltheit durch ein Ringen mit Gott« ab und widerrief biblische Versprechen von Fülle zugunsten der Welt des Einsamen: »Zähle sie. / Du kannst sie zählen. / Sie sind nicht wie Sand am Meer. / Sie sind nicht zahlreich wie die Sterne. Sie sind wie einsame Menschen. / An der Ecke und auf der Straße.«175 Umkehrungen biblischer Versprechen voller Hoffnung, aber ohne Gnade, finden sich in Amichais Gedicht »God full of mercy« (»El Male Rachamim«), in dem sein reduktives Verfahren ein prägnantes Spiel mit Worten erzeugt; was in einem liturgischen Kontext ein Gebet für die Verstorbenen war, handelt nun buchstäblich von einem moralisch zweifelhaften Gott, der alle Gnade aus der Welt in sein eigenes Wesen aufgesogen und die Welt so zu einem mörderischen Ort gemacht hat, über dem er von seinem Erbarmen erfüllt wie ein Ballon schwebt: »Gott voller Erbarmen, / wäre Gott nicht voller Erbarmen / gäbe es Erbarmen in der Welt, / nicht nur in ihm.« In bewusstem Widerspruch zum zionistischen Sprachethos definiert sich Amichai in diesem Gedicht als Dichter, »der nur einen kleinen Teil / der Wörter des Lexikons verwendet«.176 Der literarische Essayist, Kritiker und Poet Natan Zach richtete sich mit seiner Literaturkritik gegen die Festungen der dominierenden Kultur und bekräftigte die unter den jungen Dichtern der 1950er Jahre vorherrschende Stimmung, indem er angesichts von Entropie und Zerfall, existenzieller Düsterheit, einer deprimierenden israelischen Realität, der es an historischer Tiefe fehlte, sowie eines Individualismus, der »innerhalb der Grenzen eines abgesonderten und fragmentierten Selbst«177 erfahren wurde, Passivität beschwor. Sein Gedicht »Das Gold Ophirs« (dessen erste Zeilen diesem Abschnitt vorangestellt sind) zeigt, wie er gegen biblische Tonlagen, Verwurzelung und autoexotistische Aneignungen verstieß. Der Sprecher des Gedichts befindet sich im Hafen, dem Schwellenort zwischen dem Meer und dem Festland; was diese voneinander trennt, ist kein bloßer Durchgangsort für Neuankömmlinge, sondern ermög173  Yochai Oppenheimer, »Politische Dichtung in Israel« (Hebr.), Jerusalem 2003, 268–271; Miron, The Prophetic Mode, 524. 174  Jehuda Amichai, »Lieder, 1948–1962« (Hebr.), Jerusalem 1968, 56. 175 Kronfeld, On the Margins of Modernism, 131–133; Amichai, »Lieder«, 297. 176  Zit. n. Ita Kaufmann (Hg.), Ich ging durch Meer und Steine, übers. v. Efrat Gal-Ed/ Christoph Meckel, München 1989, 180; Kronfeld, On the Margins of Modernism, 133; Miron, The Prophetic Mode, 470 f. 177 Miron, The Prophetic Mode, 476, 484–486; vgl. auch Natan Zach, »Über das stilistische Klima unserer Dichtung der 1950er und 1960er Jahre« (Hebr.), Ha’aretz (29.7.1966).

162 Kapitel 2:  Vor und nach der Staatsgründung: Die Verwässerung des Hebraismus licht eine Negation beider Seiten. Hannan Hever schreibt, während der Fluss der zionistischen Teleologie die Küste vieler Details beraubt und sie als unbedeutende, beinahe durchsichtige Gegend behandelt habe, habe Zach sie im Widerspruch dazu durch ein Senken des romantischen Panoramablicks auf begrenzte und kleine Gegenstände, die er dabei zugleich von den Räumen des nationalen Territoriums abrückte, hervorgehoben. Emotional distanziert von seiner Umgebung und jenseits historischer, kultureller und identitärer Kontexte existiert Zachs Sprecher nur in seiner eigenen Leiblichkeit.178 Öffentliche Akte liegen daher jenseits seiner poetischen Reichweite; die Entladung des Goldes Ophirs (ein biblisches Land, dessen geografische Lage unbekannt ist) und die zutiefst entmutigende Musik (eine zionistische Onomatopoesie?) definieren die Subjektivität des Sprechers vermittels Negation: Ohne Koordinaten einer Identität und um das Abstreifen von Signifikanten bemüht, kann er nur verkörpern, was verboten ist. In einem anderen Gedicht, »Das ruhige Licht der Fliegen«, kehrte Zach mit Mitteln des deutschen Expressionismus den eurozentrischen Autoexotismus um und beschwor mystisches Behagen und Ekel herauf, indem er, wie Hamutal Bar-Yosef schreibt, das Abstoßende und das Kultivierte, das Ästhetische und das Makabre miteinander verband:179 »Seidentücher legen sich langsam auf Kakteengewächse, /…/ Quellen kühlen ihre Wasser, / Quellen – ihre Steine sind weiß, / Quellen – ihre Tode sind modrig – / ein Eimer, / noch ein Eimer und noch ein Eimer / schaukeln im Wind / wie die Leiche eines Gehängten.«180 Die Anthropomorphisierung von Eimern zu Leichen in der dritten Person Plural kehrt die Bilder einer exotischen östlichen Landschaft um (deren Quellen nun die Quelle des Todes waren) und mehr noch die nationale erste Person Plural, durch die der Nationalstaat spricht. Zachs existentielles Unbehagen bringt beide zum Verstummen. Zachs Negation der kollektivistischen und territorialen Paradigmen seiner Vorgänger wurde jedoch von einer modernen bilderstürmerischen Rhetorik kontrapunktiert, hinter der sich die Reproduktion eines Abgrenzungsmechanismus verbarg – seine Haltung war dem hebraistischen Diskurs nicht diametral entgegengesetzt, sondern berührte sich mit ihm. Wie Hamutal Tsamir bemerkt, war es gerade die Verwirklichung des Staats, von Souveränität und Einbürgerung, die ein alternatives nationales Subjekt (auch im Sinne von Staatsbürger) hervorbrachte, das sich getrieben von der Angst vor einem Identitätsverlust inmitten der Massen des einheitlichen und vereinheitlichenden Staats in einem eigenen, durch dessen Negation definierten Raum verschanzte. Mit anderen Worten katalysierte und ermöglichte der Staat die Koexistenz seiner selbst mit 178  Hannan Hever, »Zur ersehnten Küste hin. Das Meer in der hebräischen Kultur und der modernen hebräischen Literatur« (Hebr.), Jerusalem 2007, 141–152. 179  Hamutal Bar-Yosef, Neo-Decadence in Israeli Poetry 1955–1965. The Case of Nathan Zach, Prooftexts, 10.1 (1990): 121–123. 180 Zach, The Static Element, 30.

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163

der literarischen Republik des Dichters, dessen negative Selbstdefinition ein Konstitutionsprozess von Identität war, in dem sich in der Realität der ersten Jahre nach der Staatsgründung die Herausbildung einer neuen intellektuellen Elite ankündigte. Dies war weniger ein ödipaler Vatermord, sondern folgte aus dem Bedürfnis von Individuen wie Zach, sich vom Kollektivismus des Jischuw, dem Etatismus des Staates und den arabisch-jüdischen Einwanderern, die das weiße aschkenasische Bürgertum zahlenmäßig übertrafen, abzugrenzen. Der versuchte Ausbruch aus nationalistischen und etatistischen Kategorien erfolgte somit häufig selbst durch kollektivistische politische Kategorien von Souveränität, Staatsbürgerschaft und nationaler Verantwortung und offenbarte so, dass Protagonisten wie Zach und Amichai dem nationalen Diskursrahmen des Staates verhaftet blieben.181 Indem sie alles Besondere zum Schweigen bringen, verdrängen und negieren – durch Orte wie den Hafen, ausgeprägt exotische Darstellungen und ins Private gewendete biblische Bezüge –, verleihen Zachs poetische Mittel seinem Subjekt eine individuell-allgemeine Gültigkeit und verwandeln es so in eine normative, maßgebende und repräsentative nationale Subjektivität. Ungeachtet des antitranszendentalen Charakters seiner Dichtung stellt diese Verdrängung des Besonderen eine Art Transzendentalismus im strukturellen Sinne dar, eine metaphorische Aufhebung durch einen panoramaartigen Fernblick, der sich auf ein staatlich verbürgtes Klanggerüst stützt, dessen Resonanzen Zachs literarische Republik bestätigen. Zachs Subjektivität nähert sich somit dem Meer, um die maskuline Fruchtbarmachung des Landes zu negieren und das Ende der territorialen Bühne anzuzeigen, indem sie den nationalen Raum auslöscht, der ihr als selbstverständlich gilt (eine weitere Form von Auslöschung); doch dieser Akt bekräftigt nur die von seinen literarischen Vorläufern ins Feld geführte »Angestammtheit« im Land und somit ihre Negation der Diaspora.182 Und so versucht der Sprecher in Zachs »Das Gold Ophirs«, im Schwellenraum des Hafens hinter Fensterläden platziert, die signifizierende musikalische Onomatopoesie aus seinem Zimmer fernzuhalten, auch wenn er weiß, dass die Fensterläden allein bestenfalls deren Lautstärke dämpfen werden. Doch er benötigt diese Klänge nationaler Legitimation auch; er lehnt sie ab und ergänzt sie zugleich, um seinen »neuen« Anfang zu manifestieren, so wie sich die Subjektivität in Amichais erwähntem Kriegssonett in den Körpern jenes Paares verschanzt, dessen »Wir« das nationalistische »Wir« der 1940er Jahre ersetzt.

181  Hamutal Tsamir, »Im Namen des Landes. Nationalismus, Subjektivität und Geschlecht in der israelischen Dichtung der Generation der Staatsgründung« (Hebr.), Jerusalem 2006, 19–59; Natan Zach, »Weltlose Literatur« [1963], in: ders., »Die Dichtung jenseits der Worte. Kritische Essays 1954–1973« (Hebr.), Tel Aviv 2011, 129–134. 182  Tsamir, »Im Namen des Landes«, 75, 79. Eine ähnliche Kritik der Literaturgeschichte dieser Periode bietet Yitzhak Laor, »Narrative ohne die Einheimischen. Essays über israelische Literatur« (Hebr.), Tel Aviv 1995, 192–223.

164 Kapitel 2:  Vor und nach der Staatsgründung: Die Verwässerung des Hebraismus

Die Untergrabung westlicher Metaphern des Ostens Für sich betrachtet ist der Moment der Staatsgründung (der in der jüdischen Geschichte seit dem Untergang des zweiten jüdischen Gemeinwesens präzedenzlos war) somit ein bloßes Abstraktum. Die durch die Unabhängigkeitserklärung ausgelöste Dynamik beruhte weiterhin auf Vorläufern und früheren Praktiken, die, zusammen mit der Dekonstruktion idiomatisch-figurativer poetischer Euphonien, Kontiguitäten und Wandel zuließen, anstatt revolutionäre Veränderungen hervorzurufen. Die private Wendung euphonischer poetischer Entwürfe in den 1950er Jahren verursachte mehrere Nachbeben in den Werken von Emigranten wie auch der entstehenden Gruppe einheimischer Komponisten, die bei diesen insbesondere gelernt hatte, wie man die nationale Onomatopoesie durch lineare Kompositionstechniken verwässern konnte, die mehr mit den Eigenschaften nichtwestlicher jüdisch-liturgischer Musik gemein hatten als mit den westlichen Metaphern für sie. Während eine aufkommende Zivilreligion, die dem Militär eine zentrale Rolle gab und den »Pioniergeist« bürokratisierte, nicht länger andere »Typen« von Juden tolerieren mochte (die gemäß den Codes der aschkenasischen Hegemonie sozialisiert wurden),183 begannen die zwei Paradigmen der Wahrnehmung arabischer Juden (als zugleich authentisch und peripher) zu zerfallen, denn bestimmte Züge der lokalen östlichen Musik – Monofonien, melodische Schichtungen und heterofone Anordnungen – erwiesen sich nun als eine syntaktisch-lineare Gemeinsamkeit mit seriellen Techniken, die nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden und sich gerade verbreiteten. Die Komponisten, die an der Untergrabung der vom Hebraismus vor der Staatsgründung angenommenen Bedeutungen beteiligt waren, zeigten sich entsprechend weniger beeindruckt von den musikalischen Innovationen und der bilderstürmerischen Rhetorik, die aus Darmstadt hinüberdrangen, zumal sich die dortige »Stunde Null« im jungen Staat Israel ganz anders darstellte – die Holocaust-Überlebenden trafen in einem Land ein, das noch immer um seine Existenz kämpfte. An die Stelle der allmählich aufgegebenen romantischen Modelle traten serielle Techniken, die ohne dogmatische Folien auskamen und die linearen Züge nichtwestlicher jüdischer Musiktraditionen berücksichtigten. Zusammen rückten diese Tendenzen bereits vor der Staatsgründung praktizierte stilistische Alternativen in den Vordergrund und brachten diverse Hybride hervor, von seriellen texturalen Imitationen und melodischen Schichtungen bis zu zellförmiger Harmonie und Permutationen à la Schönberg. (Diesen für tot zu erklären, schien niemandem notwendig.) 183  Baruch Kimmelring, The Invention and Decline of Israeliness. State, Society, and Military, Berkeley 2001, 71 f., 100–102; Uri Cohen, »Das neue Priestertum der Nation in Israel. Akademische Elite und nationale Identität in den 1950er Jahren«, in: ders./Eliezer Ben-Rafael/Avi Bareli/Ephraim Ya’ar, »Israel und die Moderne« (Hebr.), Jerusalem 2006, 625–656.

Die Untergrabung westlicher Metaphern des Ostens

165

Der wichtigste soziokulturelle Effekt dieser zusammenfließenden Tendenzen lag in der Neubewertung der arabisch-jüdischen Klanglandschaften des Landes durch Komponisten – eine Neubewertung, die romantisch-autoexotistische Formen zunehmend zurückwies und verwischte. Im Zuge der lokalen Ausprägung serieller Musik konnten Komponisten von Neuem »die Spannung – und die mögliche spätere Interaktion – zwischen (relativ) festgelegten und (substanziell) freien Dingen« (Arnold Whittall) denken.«184 Bereits Mitte der 1960er Jahre bemerkte Alexander Ringer, dass die Erkenntnis, »wie aussichtslos ein im Grunde genommen gekünstelter Orientalismus bleiben mußte«, zu einer »prinzipiellen Auseinandersetzung mit der mittelöstlichen Musik« geführt hatte,185 doch nicht alle Komponisten konnten sich von den romantischen Mustern lösen; manche verlängerten bloß ihren Kompromiss mit der Kultur des Jischuw in die israelische Ära. Das stilistische Spektrum nach der Unabhängigkeit reichte daher von autoexotistischen, von nationaler Trägheit gestützten Formeln bis zu linearen Techniken, die gegen romantische Muster verstießen, da sie der nichtromantischen Klanglandschaft arabisch-jüdischer Musiktraditionen eine Stimme zu geben versuchten und sie von ihren nationalen Funktionen im Hebraismus ablösten. Als Erster drückte diese ästhetischen Transformationen Boskovich aus, dessen einflussreiche Artikel zum Thema wenig überraschend in einer Literaturzeitschrift (Orlogin) ihren Platz gefunden hatten. Boskovichs kultureller Weg zieht sich durch zwei Kapitel des vorliegenden Buches; nur sein vorzeitiger Tod im Jahr 1964 setzte den dialektischen Prozessen seiner Entwicklung ein abruptes Ende. 1907 im transsilvanischen Cluj geboren, traf er auf Einladung des Palestine Orchestra 1938 in Palästina ein, um bei der Premiere seiner Suite Chansons populaires juifs (1937) anwesend zu sein. In dem kurzen Zeitraum zwischen seinem Studium an der Schola Cantorum (bei Lazare Lévy, Paul Dukas und Nadia Boulanger, 1927 bis 1930) und der Einwanderung nach Palästina gehörte Boskovich dem im ersten Kapitel behandelten kulturellen Milieu an. Ein stärker werdendes jüdisches Bewusstsein, ausgelöst durch antisemitische Ausbrüche, die ihn an der Fortsetzung seiner Karriere an der Oper in Cluj hinderten, führte Boskovich zum Engagement in einer »Gruppe junger jüdischer Intellektueller – Zionisten wie Kommunisten –, die sich für das gemeinsame Ziel der Stärkung nationalen jüdischen Selbstbewusstseins unter den transsilvanischen Juden zusammengefunden hatten«.186 In seinem (im ersten Kapitel erörterten) 184 

Arnold Whittall, The Cambridge Introduction to Serialism, Cambridge 2009, 13. Ringer bezieht sich hier zwar auf den Komponisten Ödön Pártos, sein Artikel verweist aber auf ähnliche Prozesse in der Musik vieler seiner Zeitgenossen. Vgl. Alexander L. Ringer, »Am Anfang…«. Komposition im modernen Israel [1965], in: ders., Musik als Geschichte. Gesammelte Aufsätze, Laaber 1993, 240–253, hier 242. 186  Jehoash Hirshberg, Alexander U. Boskovich and the Quest for an Israeli National Musical Style, Studies in Contemporary Jewry, 9 (1993): 94; Hirshberg/Shmueli (Hg.), Alexander Uriah Boskovich, 11–22; Moshe Bronzfat, »Jüdische Volkslieder von Alexander Boskovich« 185 

166 Kapitel 2:  Vor und nach der Staatsgründung: Die Verwässerung des Hebraismus Artikel von 1937 über die Probleme jüdischer Musik finden sich bereits einige Gedanken, die in Boskovichs Schriften der frühen 1950er Jahre immense Bedeutung gewannen, vor allem die Überzeugungen, dass der Künstler die Rolle eines Sprachrohrs seiner Gesellschaft spielen sollte und Linearität und Atonalität inmitten tonalen kontrapunktischen Schreibens jüdische Monofonien anreichern konnten.187 Der Artikel war ein Teil der Aktivitäten der Gruppe und aus einer Feldstudie Boskovichs über die jiddischen Volkslieder der Karpaten hervorgegangen; seine Funde notierte Boskovich in der Zeit, als er an den Chansons populaires juifs arbeitete, einer Suite arrangierter jüdischer Volkslieder, die teilweise auf Transkriptionen aus Kaufmanns Die schönsten Lieder der Ostjuden beruhten. Boskovich hatte die jiddischen Lieder der Karpaten, wie er später schrieb, eher als Musiker denn als Musikwissenschaftler entdeckt und präsentierte sie in ihrer vorgefundenen Form. »Es ist weder möglich noch nötig, die Volksmusik weiterzuentwickeln«, bemerkte er. Er sah sich als ein Schliach Tzibur (ein Botschafter der Gemeinde oder, im liturgischen Kontext, ein Vorbeter) und verstand diese osteuropäischen Lieder als Gegenstand eines gemeinschaftlichen Komponierens (an dem nun auch er selbst teilhatte); wie er betonte, hatte er sie nicht arrangiert und gedachte dies auch nicht zu tun, da sie »Schöpfungen des Volkes sind«.188 An dieser Stelle kommen wir erneut auf das Stück »Die alte kasche« zurück, das den dritten Satz in Boskovichs Chansons populaires juifs bildet. Boskovichs schlichtes Arrangement des jiddischen Lieds kennzeichnete auch seine Werke der 1940er bis in die 1960er Jahre, doch schon in diesem frühen Stadium vermied er exotische Klischees durch lineare Fäden wie in dem chromatischen Ostinato, dessen wesentliche Funktion darin bestand, die Dreiklangharmonie des Lieds zu dämpfen (Beispiel 2.9).189 Das Ostinato ließ eine gleichgültige, ihre üblichen Bahnen vollziehende Welt anklingen und erlaubte es dem freygishen Melodietypus, über Quinten aufzuflackern oder durch Ergänzungen verzierte Septakkorde zu ersetzen. Dieses Arrangement war Boskovichs vorläufige Antwort auf das in seinem Artikel von 1937 angesprochene (Hebr.), Davar (8.4.1938). Bei der Veröffentlichung erhielt Boskovichs Suite den hebräischen Titel Sharsheret Ha’zahav (Die Goldene Kette) nach dem Theaterstück von Y. L. Peretz. 187  Boskovich, »Das Problem jüdischer Musik«, 245–251. 188  Alexander U. Boskovich, »Die jüdische Suite« (Hebr.), Duchan, 4 (1963): 49–50; ders, »Die jüdische Suite« (Hebr.), undatiertes Typoskript, Alexander Boskovich Collection, NLI, MUS37 C14. 189  In einem Brief von 1938 teilte Boskovich dem Mitbegründer des Weltzentrums für jüdische Musik in Palästina Herman Swet mit, dass er Daniel Lazarus’ Symphony with Hymn nicht für die kommende erste Ausgabe von Musica Hebraica besprechen könne. Der Symphonie, schrieb er, »mangelt es vollständig an Bedeutung im konstruktiven Sinne, sei es unter rein musikalischen oder jüdischen Gesichtspunkten betrachtet. Es handelt sich um die Art von banalem Pseudo-Exotismus, wie sie in Pariser Salons üblich ist. […] [E]s wäre bedauerlich, wenn die erste Ausgabe von Musica Hebraica etwas zu einer so zweitklassigen Komposition enthalten würde.« Boskovich an Swet (27.11.1938), zit. n. Bohlman, World Center for Jewish Music, 182.

Die Untergrabung westlicher Metaphern des Ostens

167

Problem, dass in der jüdischen Musik die Molltonart vorherrscht.190 Der Anfang des jiddischen Lieds wird zunächst von einem dünnen chromatischen Ostinato begleitet, das Boskovich am Ende der ersten Phrase allmählich zu einem Ais und Dis verdichtet, was zur (falsch notierten) dominanten Quinte zu Beginn der zweiten Phrase hinführt (Beispiel 2.9, T. 16–20). Dies wird jedoch kurz darauf durch einen Tredezimakkord auf Fis (Beispiel 2.9, T. 23) und vier Takte später durch einen Pentachord aus Ganztönen aufgebrochen, aus dem Boskovich eine übermäßige Sekunde herausspinnt und sie zum tonalen Zentrum des Lieds zurückführt (Beispiel 2.9, T. 27–29). Die Chansons populaires juifs hatten auch einen rätselhaften Aspekt, wie Boskovich später schrieb, denn die Premiere des Werks, die ihn nach Palästina brachte, rettete ihm auch das Leben.191 Im Jischuw und in der israelischen Ära war Boskovichs kompositorisches Denken in ständiger dialektischer Bewegung. Während er um ein Bild des »Hier und Jetzt« rang, wie er in den 1950er Jahren formulierte, führten Boskovichs stets dichtere ästhetische Kriterien dazu, dass er umfangreiche Werke häufig umarbeitete, neu arrangierte und schließlich in der Schublade verschwinden ließ, wenn sie ihre Funktion im Kompositionslabor erfüllt hatten und folglich keiner weiteren Bearbeitung bedurften (dies war etwa das Schicksal des Violinkonzerts von 1942). Anders formuliert: Die Werke, in denen er die Dynamik zwischen dem semitischen Raum, in dem er lebte, und den linearen Kompositionstechniken, die diesen Raum zum Leben erwecken konnten, ausdrückte, wurden hinfällig, sobald er neue Erkenntnisse gewonnen hatte. Und was im Nachlass des Komponisten beinahe von einem dialektischen Rausch zu zeugen scheint – abgeschlossene, umgearbeitete oder unvollendete Kompositionen, einige wissenschaftliche Texte und ein unfertiges Manuskript, in dem Boskovichs seine kürzeren Publikationen ausarbeiten wollte192 –, war in einer relativ langen Phase von 1945 bis 1959 immer wieder durch administrative, pädagogische und familiäre Verpflichtungen unterbrochen und verlangsamt worden, die zur Folge hatten, dass er nur periodisch komponieren konnte.193 Boskovichs vorzeitiger 190 

Boskovich, »Das Problem jüdischer Musik«, 249. Boskovich, »Die jüdische Suite«, 49. 192  Alexander Boskovich Collection, NLI, MUS37 C1–5 (Hebr.). 193  Dem dialektischen Rausch, den man in Boskovichs Nachlass spürt, entsprach in gewisser Weise sein ständiger Kampf ums Auskommen: Er schrieb als Freiberufler gelegentlich Musik für das Habima Theater (1944–1951), Opern für Kinder und populäre Lieder für Singgruppen, daneben gab er ab 1944 Privatunterricht in Kompositionslehre und Musiktheorie. Hinzu kamen, mitunter dringliche, administrative und pädagogische Aufgaben: Als Gründungsmitglied der Tel Aviver Musikakademie verwendete Boskovich viele Stunden auf Forschungsarbeiten, um neue Kompositionskurse zu konzipieren, für die er 1951 auch den ersten Band von Paul Hindemiths Unterweisung im Tonsatz ins Hebräische übersetzte. Seit 1950 gehörte er außerdem dem Beirat des israelischen Kulturministeriums an; 1954 wurde er – mit 47 Jahren relativ spät – zum ersten Mal Vater, fünf Jahre kam sein zweites Kind zur Welt; 1956 wurde er Musikkritiker für Ha’aretz, nachdem er bereits die Musikzeitschrift Bat Kol mit auf den Weg gebracht hatte; und schließlich war er in den frühen 1960er Jahren Mitglied des Aus191 

168 Kapitel 2:  Vor und nach der Staatsgründung: Die Verwässerung des Hebraismus Beispiel 2.9: Alexander U. Boskovich, Chansons populaires juifs (1937), III, »Die alte kasche«, T. 16–29 (Klavierauszug)

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sich aufzunehmen, dass man sie wie einen Teil der eigenen Muttersprache beherrscht, 202 förderten Boskovichs Vorschläge eine vergleichbare Wende zur Abstraktifizierung ethnografischer Musikquellen, deren syntaktische Grundlage melodisch und linear ist, und ihre polyfone Gestaltung durch eine um vertikale (westliche) harmonische Einschränkungen unbekümmerte melodische Schichtung.203 Boskovich nahm die Rolle eines Sprechers an und versuchte Komponisten dazu zu bewegen, musikalische Mischungen – bei denen zwei unterschiedliche Vokabulare die Trennung von Ost und West nur noch untermauern – zugunsten einer wirklichen Verbindung zu überwinden, die Maqamat-Prinzipien in sich aufnimmt. Aber Boskovich verfasste keine längeren Artikel mehr und auch das Manuskript, in dem er diese These ausführen wollte, blieb unabgeschlossen. Was uns stattdessen vorliegt, sind Boskovichs späte Kompositionen, die seine musikwissenschaftlichen Argumente teilweise stützen (einige neue Gedanken führte er in einem kurzen Artikel von 1963 ein, auf den wir weiter unten eingehen werden), sowie die Werke von Ödön Pártos und Mordecai Seter, zwei der wenigen Komponisten, denen er zuerkannte, sich nicht einer »stilistischen Zweiteilung« zu beugen.204 Deshalb befassen wir uns abschließend mit Boskovichs Rückgriff auf serielle Texturen und die Eigenschaften der jemenitischen Heterofonie in seinen Ornaments (1964) und verfolgen unsere Schritte dann zurück zur Dialektik Mordecai Seters in den 1940er und frühen 1960er Jahren (auf den wir in Kapitel 3 erneut eingehen). 202 Bartók,

Essays, 343 f. Boskovich, »Probleme eigenständiger Musik in Israel«, 290–292. 204  Boskovich, »Probleme eigenständiger Musik in Israel«, 293 f. 203 

174 Kapitel 2:  Vor und nach der Staatsgründung: Die Verwässerung des Hebraismus

Die Aufzehrung der Quelle In einem kurzen Artikel von 1963 bot Boskovich einen letzten Einblick in seine sich ständig weiterentwickelnde Dialektik.205 Fünfzehn Jahre israelische Staatlichkeit hatten bei ihm keine Zweifel an seiner Verinnerlichung der linearen nationalen Teleologie geweckt, die von der Zerstörung über das Exil zur Erlösung führte (und ebenso von der jüdischen musikethnologischen Forschung zur Verwendung jüdischer Musiktraditionen durch Komponisten), obwohl seine Synthese der Eigenschaften nichtwestlicher jüdischer Musik die Funktion der eurozentrischen Onomatopoesie, mit der Komponisten in den Jahren vor der Staatsgründung die Rolle eines Sprechers annahmen, faktisch außer Kraft gesetzt hatte. Diese Kluft störte ihn offenbar nicht und es gibt keine Hinweise darauf, dass ihm der Diskurs in der modernen hebräischen Dichtung, der sich parallel zu seinen eigenen Theorien entwickelte, bekannt gewesen wäre. Boskovich zufolge verlief die Geschichte der israelischen Kunstmusik in drei Stufen: Die erste (1940 bis 1950) nannte er die »neo-primitivistische und optimistische Phase der Pioniere«206 (oder der »mediterranen Musik«), in der der Versuch einer Übersetzung geografischer und menschlicher Landschaften entweder in einem nüchternen stile secco wie in Boskovichs Semitic Suite (1945) oder in einem stile affettuoso (»zart, warmherzig«) wie im Falle Ben-Haims mündete. In der zweiten Phase von 1950 bis 1959 erfuhren Impressionismus und Neo-Primitivismus laut Boskovich einen allmählichen Niedergang, während sich ein horizontales (lineares) Denken ebenso einbürgerte wie der Gebrauch kurzer Motive mit Variationen, von Rezitationen ohne die in der ersten Phase vorherrschende »kollektivistische« Schlichtheit sowie einer tonalen Mehrdeutigkeit mit melodischer Tonalität und Polarität (anstelle von Dreiklängen). Als Vertreter dieser Phase führte Boskovich Tal, Pártos und Seter an, aber auch die Verschiebung seines eigenen Stils, ablesbar an Song of Ascents (1960), fiel in jenen Zeitraum von neun Jahren.207 Die dritte, noch andauernde Phase schließlich charakterisierte Boskovich durch ihr Bewusstsein für neuere westliche Kunstmusik; die Verbreitung serieller Techniken führe zu einer ausgewogenen Synthese, die »der Mentalität kleiner, gegeneinander abgegrenzter regionaler Einheiten ein Ende setzt«.208 Komponisten, schrieb Boskovich, sollten das ethnische Wesen, »das Noumenon«, durchdringen; sie sollten ethnische Melodien aufgeben und die serielle Musik über ihre strenge, orthodoxe Form (den »totalen Serialismus«) hin-

205  Alexander U. Boskovich, La Musique Israélienne Contemporaine et les Traditions Ethniques (1963), International Folk Music Journal, 16 (1964): 39–42. 206  Boskovich, La Musique Israélienne Contemporaine, 40. 207 Alexander U. Boskovich, »Einführende Bemerkungen vor dem Konzert« (Hebr.), Duchan, 5 (1964): 103–108. 208  Boskovich, La Musique Israélienne Contemporaine, 42.

Die Aufzehrung der Quelle

175

aus in »tolerantere« Richtungen entwickeln, zumal sie nicht länger ausschließlich einer bestimmten »regionalen« Schule gehörte.209 In den frühen 1960er Jahren lassen sich weitere diskursive Stränge ausmachen, die verglichen mit Boskovichs Textproduktion weniger umfangreich, aber für seine Gedanken empfänglich waren. So publizierte Tal 1961 einen kurzen, scharfen Artikel, in dem er die Bezeichnung »israelische Musik« auf die Funktion reduzierte, »die politisch-kulturellen Aspekte unserer Gesellschaft auszudrücken«.210 Die für die Gegenwart kennzeichnende Konstellation beschreibe am treffendsten der Begriff »Standard«, bezogen auf Werke, nach denen auf dem Markt Nachfrage besteht: »Dieser Standard wird durch zwei Gussformen hergestellt: durch einen musikalischen Dialekt, der sich nah am Bekannten und Akzeptierten bewegt, und durch eine nationale Formel, die die Quelle der Komposition beglaubigt.« Tal wendete sich gegen die markttaugliche, romantisch-nationalistischen Schablonen folgende Verpackung von Folklore und beklagte, diese sei »von spontaner Naivität zur Apathie der Routine« übergegangen, standardisiert und legitimiert durch eine tote Musiksprache.211 Ähnlich hatte er sich schon früher geäußert, nun aber erklärte Tal ausdrücklich jene nationalistische Folie für ungültig, gegen die sich bereits sein Zweites Klavierkonzert von 1953 unter Verwendung eines jüdisch-persischen Klagelieds aus dem HOM (III, 99) gerichtet hatte.212 Wie ein Vergleich der Transkription des Originals mit dessen deutlichsten Erscheinungen im zweiten Satz dieses Klavierkonzerts zeigt, verwendete Tal nicht das gesamte Lied (das auch die Rezitation von Jeremias’ Klagelied 1:1–3 umfasst), sondern nur ausgewählte Tropen. Tal, der als Jugendlicher in Berlin an Wochenenden, hohen Feiertagen und sogar »morgens während der Schulpausen« die Gottesdienste in der Synagoge in der Pestalozzistrasse besucht hatte, war mit biblischen Tropen durchaus vertraut.213 In den frühen 1950er Jahren konnte er mittlerweile auch den hebräischen Text des Lieds verstehen, doch er verzichtete auf ihn, um aus Idelsohns Transkription seine eigenen musikalischen Verse zu schaffen. So ist die Melodie, mit der Tal den zweiten Satz eröffnet, eine Variation, die die drei Tropen unter den Worten yashva vadad (einsam sitzt) und hayta (sie war) aus dem Klagelied 1:1 verbindet (»Ach, wie einsam ist die Stadt geworden, / die früher voller Menschen war! / 209  Boskovich, La Musique Israélienne Contemporaine, 39–42. Zur Verbreitung des Serialismus in der israelischen Kunstmusik, vgl. Nathan Mishori, A Critic Looks at his Genera­ tion, in: Benjamin Bar-Am (Hg.), Aspects of Music in Israel, Tel Aviv 1980, 16–30; Jehuda Cohen, »Die Erben der Psalmendichter. Israels Neue Musik« (Hebr.), Tel Aviv 1990, 15–41; Zvi Keren, Contemporary Israeli Music: Its Sources and Stylistic Development, Ramat-Gan 1980. 210  Joseph Tal, National and Contemporary Trends in Israeli Music, Bat-Kol, 1 (1961): 6 f. 211  Tal, National and Contemporary Trends in Israeli Music, 6 f. 212  Laut Idelsohns Einleitung zur hebräischen Ausgabe des HOM stammt dieses Klagelied aus Shiraz. 213  Tal, »Erinnerungen«, 18.

176 Kapitel 2:  Vor und nach der Staatsgründung: Die Verwässerung des Hebraismus Beispiel 2.11: a) Persisches Klagelied, aus: HOM, III, 99 (Text: Jeremias’ Klagelied 1:1). 3 3 b . & b œJ Jœ . Rœ œ œ œJ Jœ Rœ Jœ . Rœ œ œ œJ œ

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Die Aufzehrung der Quelle

177

Beispiel 2.11: b) Tal, Zweites Klavierkonzert (1953), II, T. 1–25.

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178 Kapitel 2:  Vor und nach der Staatsgründung: Die Verwässerung des Hebraismus

Beispiel 2.11: (Fortsetzung).

Die Aufzehrung der Quelle

179

ische Sprache; und doch lehnte Tal ihre Objektivierung und Funktionalität in einem Mechanismus der Repräsentation ab, der solche Tropen durch die Paradigmen modern/vormodern, religiös/säkular und folglich jüdisch/hebräisch bändigte. Tals »ideale Demokratie« (wie er Sharetts Stimmführung in den 1950er Jahren nannte) zeigte sich in einer Dekontextualisierung des transkribierten Klagelieds, durch Versverschiebung und lineare Verdichtung, wodurch verhindert wurde, dass es als periphere Maske in einem eurozentrischen Kontext erschien. Mit seinem Verzicht auf nationale Allegorien war das Zweite Klavierkonzert nicht nur Teil einer wachsenden Ernüchterung über romantische Formulierungen, sondern zeigte es überdies, wie theologische Elemente (in diesem Fall das persisch-jüdische Klagelied) über den ihnen im hebraistischen Diskurs zugewiesenen nationalisierten säkularen Raum allmählich hinauswuchsen und von einer nichtrepräsentationalen Ästhetik zugleich verzehrt wurden. Wie die meisten in diesem Kapitel behandelten Komponisten hatte Tal jene Signifikanten identifiziert, die die Verschränkung von Zitat und Identität zementierten, sie durch eine sich der Signifikation widersetzende Linearität außer Kraft gesetzt und auf diese Weise den Gedanken des Kollektivismus annulliert. Unbeabsichtigt erzielte Boskovichs Ornaments für Flöte und Orchester (1964) denselben Effekt. Wenige Monate vor seinem plötzlichen Tod fertiggestellt, sollte das Werk die jemenitische Version des »Lied am Schilfmeer« (Exodus 15:1–18) paraphrasieren und zugleich aus seriellen Techniken der Nachkriegszeit schöpfen. Es offenbarte die Klüfte in einer musikalischen Dialektik, deren Vorstellungen von Kollektivismus sich selbst außer Kraft setzten. Ornaments war keine westliche Inszenierung exotischer Schnörkel; vielmehr löste der nichtwestliche Import eine unsystematische, nicht auf Differenzen hinauslaufende Entfaltung melodischer Zellen in dünnen heterofonen Strukturen aus, bei denen Instrumente mit und ohne definierten Tonhöhen zum Einsatz kamen, wodurch sowohl die jemenitische Liturgie als auch ihre exotische eurozentrische Morphologie verfremdet wurden. In der jemenitisch-jüdischen Liturgie ist das »Lied am Schilfmeer« eine getragene Melodie, die vor allem aus zwei rhythmischen Werten besteht: Unbetonte Silben sind kurz, betonte länger. Seroussi zufolge wird sie langsam, laut und von der gesamten Gemeinde in völliger Einheit gesungen, »wobei ein ›mehrstimmiger‹ Effekt durch die schrittweise Transposition der Melodie durch Einzelne entsteht, die die Tonhöhe um einen Ton verringern oder um eine Quinte steigern und dabei die Singenden in ihrer Nähe zum Mitmachen bewegen. Diese Dynamik erzeugt den Effekt einer Reihe von ›Akkorden‹, aufgebaut auf dem Intervall einer Sekunde oder Quarte.«214

214 Edwin Seroussi u. a., Jewish Music, in: Grove Music Online, Oxford Music Online, www.oxfordmusiconline.com/subscriber/article/grove/music/41322.

180 Kapitel 2:  Vor und nach der Staatsgründung: Die Verwässerung des Hebraismus Boskovichs Entscheidung, diesem Modell der simultanen Paraphrasierung eines melodischen Prototyps zu folgen, einschließlich des schwungvollen tonalen Pendelns und der heterofonen Oberflächen, war kein Zufall. Bei seinem Plädoyer für einen »toleranten« Serialismus hatte er vermutlich die Prinzipien der jemenitischen Heterofonie vor Augen, die »im gleichzeitigen Erklingen der unterschiedlichen Tonhöhen keine Systematik aufweist« und auch keine »Synchronisierung der Zeitmaße der Aufführenden« kennt.215 So kommt es zu Verschiebungen in Tempus und Tonhöhe, aber da die Beteiligten auf die gemeinsame Rezitation des Texts mit den anderen Gemeindemitgliedern achten, sprengt die mangelnde Synchronisierung nicht die Grenzen der Textverse. Zudem hängt die Aufführung einer Melodie in zwei oder mehr Stimmen nicht von der Größe des Intervalls innerhalb der einzelnen Stimmen ab und sieht anders als im diatonischen System auch keine vollständige Entfaltung der Stimmen vor.216 Um die Nachbildung dieser pulsierenden Texturen bemüht, weist Ornaments proportionale (metrische) und differentielle (ametrische) Flüsse auf und damit zwei gegensätzliche Zeitarten, die, vom Dirigenten gelenkt, »das Improvisationsgefühl bei den Aufführenden steigern«, wie Boskovich in seinen einleitenden Bemerkungen zu dem Werk schrieb.217 »Man würde in dieser Musik vergeblich nach Folklore oder Exotismus suchen«, fuhr er fort, »Ornaments ist eine zeitgenössische Interpretation des jemenitischen nusach [Stils] […], die vor allem die durch die rhythmischen und melodischen Strukturen des hebräischen Textes eröffneten charakteristischen Möglichkeiten in den Blick nimmt.«218 Das Ausschöpfen dieser klanglichen Möglichkeiten erforderte indessen wortlose Musikverse, denn andernfalls hätte der Komponist mit dem Text konkurriert, dessen musikalische Eigenschaften und impliziten Symbolismus er zu paraphrasieren versuchte. Boskovichs Kommentar erfolgte deshalb durch orchestrale Ströme unterschiedlicher Dichte, die das tonale Pendeln und den texturalen Fluss des jemenitischen Lieds neu interpretierten – durch dezente heterofone Elemente und kontrastreiche Timbres, insbesondere durch das Nebeneinander der kühlen Klänge von Xylofon und Celesta und der vom Schlagwerk erzeugten Assonanzen (unter denen vor allem die Clochettes orientales auffielen, laut Boskovich fünf vertikal angeordnete Glocken, die die Araber ihren Kamelen umhängen).219 Diese kontrastreichen Timbres und Assonanzen ergaben sich auch aus der Unterteilung des 48köpfigen Orchesters in vier (für das Ohr ununterscheidbare) Kammerensembles, deren Größe jeweils dem eines östlichen Orchesters entsprechen sollte und durch die Boskovich eine innere Dynamik erzeugte, bei der 215  Simha Arom/Uri Sharvit, Plurivocality in the Liturgical Music of the Jews of Sana’a (Yemen), Yuval, 6 (1994): 41. 216  Arom/Sharvit, Plurivocality in the Liturgical Music of the Jews of Sana’a, 54–59. 217  Alexander U. Boskovich, »Ornamente für Flöte und Orchester« (Hebr.), Tel Aviv 1977, 6. 218  Boskovich, »Ornamente«, 6. 219  Boskovich, »Ornamente«, 7.

Die Aufzehrung der Quelle

181

das eine die Paraphrasen des jemenitischen Lieds durch die anderen nochmals paraphrasierte. Das Arrangement von Ornaments sollte den intervallischen Kontingenzen der jemenitischen Heterofonie entsprechen. So lässt etwa die Vollendung des chromatischen Spektrums in Takt 7 keine organisierenden Prinzipien erkennen; vielmehr wird das Werk von einer musikalischen Metapher getragen, deren menschliche Klanglandschaft sich um sprachliche und musikalische Kennzeichen, die Exotismus oder andere Signifikationen ausdrückten, herum bildete und zugleich von ihnen abgerückt wurde. Boskovich spaltete stattdessen Töne auf, mit denen er das Werk überflutete: In der Eröffnung wandert eine fragmentierte H–B-Zelle von einem Instrument zum nächsten und findet ein Echo in intervallisch äquivalenten Zellen (Es-D in Takt 3 und E–Es in Takt 5; Beispiel 2.12) sowie in den vom Schlagwerk erzeugten Assonanzen ohne Tonhöhe. Ab Takt 7 setzen sich die Zelle und ihre Echos in den unterschiedlichen Instrumenten zugleich in auf- und absteigenden Linien von gemeinsamen Tönen aus fort, wobei in den ersten Violinen zusätzlich eine große Sekunde betont wird, die sich in der Eröffnung des Werks durch Kontrabass, Klavier und Harfe entfaltet (Beispiel 2.12; wieder aufgenommen wird dies in T. 9–11 inmitten kleiner Sekunden). Gegenläufig zu diesen Akzenten werden andere Töne in die funkelnde Oberfläche eingefügt, um den athematischen Charakter des Werks zu untermauern: Ihre Präsenz neutralisiert alternative Tonalitäten, während die Einwürfe von Instrumenten ohne Tonhöhe die tonalen Gravitationszentren weiter verwischen. Der Gesamtklang führt zwei Ebenen der Heterofonie ein: in der Textur und in den Intervallen. Blickt man auf die Eröffnung des Werks zurück, dann bemerkt man, dass die zwei Halbton- und Ganztonzellen etwas auflösen, das auf dem Papier wie die starke Betonung einer einfachen Quinte aussieht (Beispiel 2.7, T. 2); rekontextualisierte Boskovich hier etwas, das in einem anderen Zusammenhang ein »mediterraner« akustischer Signifikant gewesen wäre? Waren die Fortführungen und Vervielfältigungen der Zelle ein Äquivalent des tonalen Pendelns? Die Anlage des Werks könnte auch darauf hindeuten, dass Boskovich Pierre Boulez’ Texturen paraphrasierte, dessen Gedanke, eine zielorientierte tonale Linienführung durch biologisch-organisch verstandene melodische Zellen zu ersetzen, in Pli Selon Pli (1957–62) seinen Erfahrungen mit orientalischer Musik Ausdruck gab.220 Man fragt sich auch, ob er vielleicht Boulez’ Text von 1958 über die Berührung von Musik und Poesie kannte, in dem dieser schrieb, er wähle ein Gedicht nicht als »Ausgangspunkt einer Ornamentierung, die ihre Arabesken darum webt«, sondern »um es zu einer befruchtenden Quelle für meine Musik zu machen und so ein Amalgam zu schaffen, in welchem das Gedicht zugleich ›im Mittelpunkt und außerhalb‹ der Musik 220  Arnold Whittall, »Unbounded Visions«. Boulez, Mallarmé and Modern Classicism, Twentieth Century Music, 1.1 (2004): 76 f.

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Beispiel 2.12: Boskovich, Ornaments (1964), T. 1–11.



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Die Aufzehrung der Quelle

183

Beispiel 2.12: (Fortsetzung).

184 Kapitel 2:  Vor und nach der Staatsgründung: Die Verwässerung des Hebraismus steht«.221 Jenseits äußerlicher Klangähnlichkeiten rückte auch Boskovich den Text aus dem 2. Buch Mose in den Mittelpunkt, während er ihn durch seine instrumentalen Paraphrasen aufzehren ließ. Und obgleich er sich nicht auf die neuen Paradigmen in der modernen hebräischen Dichtung beziehen konnte, hatte seine Verfremdung der jemenitischen Liturgie einen ähnlichen Effekt: Der Serialismus wurde zu einem Ausdrucksmittel für die jemenitische Heterofonie, er betonte aber seinerseits wechselseitige Verflechtungen und eine sich selbst außer Kraft setzende Dialektik, die nicht länger eine gemeinsame geistige Haltung ausdrücken konnte. Auf diese Weise machte der Komponist das nationale Kollektiv zu etwas Abwesendem.

Thematische Unstimmigkeiten (oder: Verstöße gegen die kairologische Zeit) Und schließlich war da noch Seter. Auch in seinem Werk manifestierten sich die in Boskovichs unvollendetem Projekt verhandelten ästhetischen Dilemmata, wenngleich sich Seters dialektische Prozesse über einen längeren Zeitraum bis in die späten 1980er Jahre hinein entfalteten und sein Weg sich mit denen der meisten in diesem Kapitel erwähnten Komponisten kreuzte. Boskovich und Seter stellten die ästhetischen Dilemmata, die beide spürten und mit denen sie rangen, jeweils anders dar, doch sie teilten einen diskursiven Raum, der die Verschränkung von Zitat und Identität infrage stellte, und suchten nach musikalischen Mechanismen, die die eurozentrische Perspektive und ihre Hierarchien durch örtliche wie importierte lineare Techniken ersetzen konnten, während sie ihre Werke in national-theologischen Begriffen verstanden. Die 32 Notizbücher mit mehr als 2.700 Seiten, die Seter von 1952 bis 1993 füllte, zeigen eine Ähnlichkeit der von ihm und Boskovich verwendeten und reflektierten Konzepte. 1952/53 notierte er sich zur Selbstverständigung, Folklore solle den Komponisten bereichern, anstatt von ihm gefördert zu werden (in welchem Fall sie ihn verschlinge), denn das Material dürfe niemals Zweck, sondern stets nur Mittel sein.222 Knapp acht Jahre später setzte Seter die serielle Musik mit Maqamat gleich und erörterte, wie sich ein Maqam (oder eine Matrix) auf Transkriptionen jüdischer Musik aufbauen lasse, aus denen der Komponist mehrere Matrizen schaffen könne: melodisch (Maqam), harmonisch (eine Kombination mehrerer Maqamat), rhythmisch, im Timbre und dynamisch. Unterschiedliche Anordnungen der Töne sowie unterschiedliche Rhythmisierungen der Themen 221  Pierre Boulez, Ton, Wort, Synthese, in: ders., Werkstatt-Texte, übers. v. Josef Häusler, Frankfurt a. M. 1966, 114–120, hier 117; Paul Griffiths, Modern Music and After, New York 2010, 90. 222  MSCN, NLI, MUS110 D1 [1952/53].

Thematische Unstimmigkeiten

185

betrachtete er entsprechend als Mittel zur Schaffung neuen Materials, das die in Anthologien vorgefundenen Motive überschreite.223 1961 versuchte Seter, die von ihm in mehr als zwei Jahrzehnten entwickelten Techniken auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. In einem Artikel, der auf Tals weiter oben erwähnte Kritik folgte, argumentierte er, auch wenn sich die östliche Musik nicht von der Homofonie abgewendet habe, hindere das strenge Element der Tradition sie nicht an der Entwicklung komplexer Skalensysteme und Rhythmen, »die sich am beschränkenden Einfluss der harmonisch-choralen vertikalen Linie reiben«.224 Die Betonung der Unterschiede zwischen Ost und West führe nur zu einer exotistischen Darstellung von Andersartigkeit, doch ihre »Verschlingung muss von innen heraus erfolgen«, nämlich durch gemeinsame lineare Nenner, insbesondere durch nicht von vertikaler Harmonie beschränkte Formen – Variationen, Toccata, polyfone Motetten, Kantate, Chaconnes und Passacaglia –, die melodische Schichtungen und additive asymme­ trische Takte ermöglichen.225 Seters 25jährige kompositorische Erfahrung ging unübersehbar in seine Theorien und ästhetische Kriterien ein; indirekt beschrieb er das eigene Arbeiten mit Motets, Chaconnes und Passacaglien, das in seinen großen Werken der 1960er Jahre mündete. Um diesen Prozess nachzuvollziehen, kehren wir kurz in die Jahre vor der Staatsgründung zurück, wodurch wir Seters Narrativ besser einordnen und seine Entwicklung sowie die thematischen Unstimmigkeiten in seinen und Boskovichs Werken verdeutlichen können. Seters Biografie unterscheidet sich recht deutlich von denen seiner Kollegen im Jischuw. 1916 im russischen Noworossijsk geboren, traf er im Alter von zehn Jahren (damals noch als Marc Starominsky) mit seiner Familie im osmanischen Palästina ein. In Tel Aviv nahm er, wie bereits in den drei Jahren zuvor, Klavierstunden, bis er 1932 nach Paris ging. Dass er in Palästina keinen Kompositionsunterricht nahm, war dem Mangel an Komponisten vor der fünften Alija geschuldet; der erste, der eintraf – Sternberg –, konnte mit dem Hebräisch sprechenden Jugendlichen nicht kommunizieren. In Paris lernte Seter drei Jahre lang bei Lazare Lévy und begann gegen Ende dieser Zeit bei Paul Dukas (in dessen letztem Lebensjahr) Kompositionsunterricht zu nehmen; Ende 1935 nahm er ein Studium an der École Normale bei Nadia Boulanger auf.226 Boulanger repräsentierte »das Prestige, die zivilisierten Qualitäten und die gesellschaftlich erstrebenswerten Aspekte der französischen Kultur«;227 sie vertrat eine formalistische Ästhetik, ein gründliches, bis an die äußersten Grenzen der Tonalität gehendes Studium der Harmonik und eine musikalische Tradition, die 223 

MSCN, NLI, MUS110 D3 [1960]. Mordecai Seter, East and West in Israeli Music, Bat-Kol, 1 (1961): 8. 225  Seter, East and West in Israeli Music, 8 f. 226 Fleisher, Twenty Israeli Composers, 110–112. 227  Caroline Potter, Nadia and Lili Boulanger, London, 128. 224 

186 Kapitel 2:  Vor und nach der Staatsgründung: Die Verwässerung des Hebraismus das handwerkliche Können und Techniken vom 16. bis ins 20. Jahrhundert betonte (und dabei einige deutsche Entwicklungen des späten 19. Jahrhunderts aus dem Zentrum verdrängte).228 Caroline Potter schreibt: Sobald »Boulanger gewiss war, dass ihre Schüler ein ausreichend gutes Gehör hatten und traditionelle Harmonik und Kontrapunkt souverän beherrschten, war es ihr primäres Anliegen, ihre Meinungen über Musik kennenzulernen und sie zur Entwicklung einer individuellen Stimme zu ermutigen«.229 Seter jedoch empfand Boulanger, deren Methodik nicht frei war von musikalischen Vorurteilen, als eine besitzergreifende Autorität, die ihn hemmte; nach zwei Jahren verließ er die École und kehrte nach Palästina zurück.230 Zu dessen dynamischer und wachsender Musikszene gehörte mittlerweile auch eine Reihe älterer emigrierter Komponisten (manche von ihnen waren mehr als zwanzig Jahre älter als Seter), die weder mit der Kultur des Jischuw vertraut waren noch Hebräisch sprachen. Seter hingegen ermöglichte die hebräische Sprache eine informelle Ausbildung. Durch Joachim Stutschewsky (einen in Russland geborenen Komponisten und Cellisten, der nach dem »Anschluss« Österreichs von Wien nach Palästina ausgewandert war) 231 lernte er die ersten fünf Bände des HOM kennen und mit Idelsohns »Metapher für die Modernität der Vergangenheit«232 konnte er sich identifizieren – eine Metapher, deren Sprache er während seiner ersten sechs Jahre in Palästina gelernt hatte. Sein direkter Zugang zum Text und dessen – im Jischuw vorherrschenden – sephardischem Akzent erlaubte Seter die Verbindung von Idelsohns musikethnologischen Funden mit einer Rhetorik, die biblische Idiome und wörtliche Auslegung der heiligen Schriften in den Dienst des entstehenden eschatologisch-nationalen Narrativs stellte. Seters kompositorische Ästhetik wurde somit durch ein besonderes Zusammenspiel nationaler und kultureller Vektoren hervorgebracht: Während der Jahre, als sich die zionistische musikalische Onomatopoesie durchsetzte, hatte er außerhalb Palästinas gelebt und ein strenges Curriculum verinnerlicht, dessen Narrativ den französischen Chanson des 16. Jahrhunderts, Monteverdi und die französische Barockoper mit Poulenc, Messiaen und Strawinsky verband. Die Brücke zwi228  Jeanice Brooks, The Musical Work of Nadia Boulanger. Performing Past and Future Between the Wars, Cambridge 2013, 168–181 229 Potter, Nadia and Lili Boulanger, 137 f. In der »Boulangerie« mussten die Schüler Übungen in strengem Kontrapunkt absolvieren, vierteilige Fugen (häufig mit einem unterschiedlichen Schlüssel für jede Stimme) lesen und schreiben sowie Dreiklänge aller Art und Septim- und Nonenakkorde konstruieren, die zwecks Verinnerlichung ihrer jeweiligen tonalen Kontexte auf Tonleitern aufbauten, die sämtliche Intervalle umfassten (vom chromatischen Spektrum bis zu Tonleitern, die aus reinen Quinten bestanden). Vgl. Barrett Ashley Johnson, Training The Composer. A Comparative Study Between the Pedagogical Methodologies of Arnold Schönberg and Nadia Boulanger, Newcastle 2010, 51–61. 230  Potter, Nadia and Lili Boulanger, 137f; Fleisher, Twenty Israeli Composers, 111. 231  Joachim Stutschewsky, »Erinnerungen eines jüdischen Musikers. Leben ohne Kompromisse« (Hebr.), Tel Aviv 1977, 224–226. 232 Bohlman, Jewish Music and Modernity, 118.

Thematische Unstimmigkeiten

187

schen diesen beiden Milieus bildete wiederum Idelsohns Eintreten für den Vorrang des Hebräischen, der für Seter sowohl mit Blick auf Paris als auch auf Palästina durchaus ästhetisch plausibel gewesen sein könnte. Ende 1940 hatte Seter den ersten Entwurf von vier Motetten für Männerchor fertiggestellt, den er bis 1951 zu drei Motetten für Altstimmen, Tenöre und Bässe umarbeitete (und dabei die dunkle Färbung des ursprünglichen Arrangements wahrte).233 Sie begleiteten Verse aus dem Buch Exodus, die von der bekannten exilischen Klage »An den Flüssen Babels« zur Siegeshymne von Psalm 144 übergingen (»Gelobet sei der HERR, mein Hort, der meine Hände lehrt streiten und meine Fäuste kriegen…«). Als Bindeglied zwischen dem ersten und dritten Satz dienten die drei kurzen Verse 23 bis 25: 23 Aber viele Tage darnach starb der König in Ägypten. Und die Kinder Israel seufzten über ihre Knechtschaft und schrieen. Und ihr Geschrei über ihre Knechtschaft kam vor Gott. 24 Und Gott erhörte ihr Wehklagen, und Gott erinnerte sich seines Bundes mit Abraham, Isaak und Jakob. 25 Und Gott sah die Kinder Israel an, und Gott wusste.

Gott, der in der Geschichte des Exodus bislang nicht präsent war, ist nun »das Subjekt einer Reihe bedeutsamer Verben – erhören, erinnern (das im Hebräischen die starke Bedeutung von ›zu Herzen nehmen‹ besitzt), sehen und wissen«, schreibt Robert Alter; die letzte Formulierung beendet das narrative Segment mit einer gewissen rätselhaften Note (vayeda Elohim, »und Gott wusste«), da dem Verb ein Objekt fehlt. Das objektlose Verb wiederum bereitet dem brennenden Dornbusch und dem Beginn der Erlösung die Bühne234 und Seter verwendet dieses dramatische Bindeglied, um drei Texte zu einer Erlösungsgeschichte zu verbinden, die der zionistischen Allegorie entsprach und durch Transkriptionen von Idelsohn untermauert wurde: ein babylonisches Klagelied für den ersten Satz (HOM, II, 95), eine samaritanische Lesart von Exodus 2:23 für den zweiten 235 und eine bucharische Psalmodie für den letzten Teil (HOM, III, 153). Eine Weile nach den letzten Änderungen an dem Werk schrieb Seter in sein erstes (auf 1952/53 datiertes) Notizbuch, dass das grundlegende organische Material das melodische sei und daher »organische Entwicklung melodische Entwicklung ist, an der auch die Harmonie als eine melodische Komponente Anteil hat!« Akkorde galten ihm daher als unorganisch.236 Unterstrichen wurde dieser Ansatz durch die Eröffnung der Motets, deren melodische Schichtung durch gestapelte Quinten oder ihre Umkehrungen eine dunkle akkordhafte Chiaroscuro-Textur erzeugt. Um im Einklang mit diesem Moment seines narrativen 233 

MSCN, NLI, MUS110 A99–102 (NLI); Mordecai Seter, Motets, Tel Aviv 1962. The Five Books of Moses, 317. 235  Abraham Zvi Idelsohn, »Hebräische Musik: Ihre geschichtliche Entwicklung« (Hebr.), Bd.  1, Tel Aviv 1924, 57 ; vgl. auch ders., Die Vortragszeichen der Samaritaner, Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums, 61 (1917): 126. 236  MSCN, NLI, MUS110 D1 [1952/53]. 234 Alter,

188 Kapitel 2:  Vor und nach der Staatsgründung: Die Verwässerung des Hebraismus Entwurfs langsam eine verfinsterte Atmosphäre zu entfalten, verlängerte Seter die Tondauer des babylonischen Klagelieds, allerdings nicht gleichmäßig, wodurch sich eine Abweichung von Idelsohns Transkription ergab; Seter war es wichtiger, das Gros der Intervalle und folglich die gesungenen Silben unter den transkribierten Tönen beizubehalten (vgl. Beispiel 2.13a mit 2.13b, T. 1–10). Deshalb verwandelte er den eröffnenden Tenor in einen Cantus firmus, aus dem die melodischen Entwicklungen hervorgingen. Mit Blick auf die vertikalen Formationen bearbeitete Seter die sich entfaltenden Teile so, dass aneinander grenzende Quinten (oder ihre Umkehrungen) über das gesamte Vokalregister ausgebreitet wurden; zusätzliche Durchgangstöne in den entstehenden Aggregaten lösten die ausgehöhlten Intervalle von »mediterranem« Autoexotismus ab und erlaubten Seter vorsichtige Andeutungen dekontextualisierter oder nur teilweise herausgebildeter Dreiklänge. Diese Art zu schreiben hatte noch einen weiteren Effekt: Nachdem er die Phrasen des Klagelieds aus dem HOM nachgebildet und verstärkt hatte, vermied Seter Darstellungen des Textes, da derartige Entsprechungen ihren liturgischen Kontexten fremd gewesen wären. Das Arrangement als Ganzes wurde daher von den transkribierten Intervallen und den ihnen zugewiesenen hebräischen Silben getragen (auch wenn gelegentlich kürzere Silben zu längeren wurden), die romantische Auren umgingen. Nach einer inneren Fuge (auf dem dritten Vers aus Psalm 137) kehrte Seter zu einer immer noch akkordhaften Homofonie in seiner Vertonung von Psalm 137:5–6 zurück (»Vergesse ich deiner, Jerusalem, so verdorre meine Rechte! Meine Zunge müsse an meinem Gaumen kleben, wenn ich deiner nicht gedenke, wenn ich Jerusalem nicht über meine höchste Freude setze!«). Inzwischen folgte er kaum noch den Konturen des Lieds im HOM, sondern ersetzte sie durch eine enge melodische Spanne, deren Schichtung auf vier Vokalebenen mit teils gebildeten, teils erkennbaren Aggregaten erneut die Chiaroscuro-Atmosphäre wieder aufnahm – ein Ergebnis geschichteter chromatischer Melodien und somit vertikaler Kontingenz (Beispiel 2.13c). Ein weiteres Beispiel für eine solche Kontingenz zeigt sich in Psalm 137:5 auf der letzten Silbe des Wortes yemiNI (»meine Rechte«; Beispiel 2.13c, T. 94); der Akkord könnte einen übermäßigen Septakkord auf D andeuten, doch erst die folgende starke Betonung des ersten Tons in Takt 96 zeigt, wie Seter in seiner Stimmführung zugleich einen D-Dur- und einen übermäßigen B-Akkord, die sich gegenseitig verunreinigen, anklingen lässt. Nachdem er sich von dem transkribierten Klagelied mehr und mehr gelöst hat, schließt Seter den Satz mit Verzierungen ab, die die disjunktive Trope (Sof pasuq) aus dem HOM, mit der der erste Vers auf dem Wort »Zion« endet (Beispiel 2.13a), paraphrasieren. Kurz nach dem Abschluss der Motets suchte Seter nach Mitteln, mit denen er seine Bearbeitung von Materialien verbessern könnte. »Die Transposition des Materials durch Hinzufügung rhythmischer Variationen oder eine umgestellte Reihenfolge der Noten verändert seine Erscheinung vollständig«, schrieb er in

189

Thematische Unstimmigkeiten

Beispiel 2.13: a) »Al Nahˇarôt Babel« (»An den Flüssen Babels«), aus: HOM, II, 95 (Text: Psalm 137:1–2).

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Beispiel 2.13: b) Mordecai Seter, Motets (1940–51), I, »An den Flüssen Babels«, T. 1–15. © Mit freundlicher Genehmigung des IMI Israel Music Institute, Tel Aviv.

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190 Kapitel 2:  Vor und nach der Staatsgründung: Die Verwässerung des Hebraismus Beispiel 2.13: c) Seter, Motets, I, »An den Flüssen Babels«, T. 88–101. © Mit freundlicher Genehmigung des IMI Israel Music Institute, Tel Aviv. A.I

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ein auf 1952/53 datiertes Notizbuch. Beigefügt war dieser Bemerkung eine rhythmische Notation, die in den letzten Teil seines 1955 fertiggestellten Werks Chaconne & Scherzo für Klavier Eingang fand (Beispiel 2.14a, T. 188).237 In der schließlich veröffentlichten Version des Scherzo verschob Seter dieses Muster um ein Achtel, um ein gegen den Strom des Taktes schwimmendes rhythmisches Modul zu erzeugen (Beispiel 2.14a), doch dies war nur ein Hinweis für die Entzifferung der vorhergehenden Abschnitte des Stückes, die sich am besten verstehen lassen, wenn man sie in der Gegenrichtung ihrer Entfaltung unter237 

MSCN, NLI, MUS110 D1 [1952/53].

Thematische Unstimmigkeiten

191

sucht. So zeigt sich etwa in der Eröffnung des Scherzo der Kern dessen, was sich später zu seinem Ostinato verfestigt: ein Einklang, der inmitten von Verschiebungen und ständigen Transformationen um kleine Zellen kreist (Beispiel 2.14b). Im vorhergehenden Chaconne-Satz entdeckt man weitere Formulierungen dieser chromatischen Zellen in Gestalt eines zweiteiligen Kanons, dessen zweiter Teil umgekehrt ist (Beispiel 2.14c), und eines gleichsam improvisatorischen Abschnitts, der sich auf zwei Ebenen zugleich entfaltet und über dem Ostinato als Seters Äquivalent zu Maqamat erklingt (Beispiel 2.14d). Die Aggregate, zu denen die Beispiele 2.14c–d hindrängen, führen uns zum Eröffnungstakt der Chaconne zurück (Beispiel 2.14e), in der die entsprechenden Töne gewissermaßen in Bewegung eine embryonale Darstellung erfahren. Wie im Abschluss der Motette zu Psalm 137 (Beispiel 2.13c) brachte Seter die Chaconne sogar zum Halt, um die zuerst in der Eröffnung präsentierten Töne neu zu phrasieren und mit seinen nebligen, unbestimmten Akkorden zu harmonisieren (Beispiel 2.14f). Frei von narrativen Konstellationen war Chaconne & Scherzo Seters experimentelle Werkstatt, in der er Cantus firmi durch metrische, rhythmische und texturale Siebe filterte, während er sie gleichzeitig in den Hintergrund rückte und unsichtbar machte. Das Werk demonstrierte nicht nur Seters Verständnis von melodischer Entwicklung, sondern deutete auch auf seinen Artikel von 1961 über die lineare Konvergenz von östlichen und westlichen Formen voraus. In seinem Notizbuch formulierte Seter nun eine Definition von Motiv: »eine rhythmisch-melodische Durchführung eines Intervalls«, die keinen Text benötigt, da sie im Wesentlichen »drama per musica« sei.238 Doch Narrative der Erlösung überwältigten Seter. Von 1957 bis 1961 arbeitete er an Midnight Vigil (Tikkun Hatzot), einem überbordenden Opus, in dem er die Innovationen aus Chaconne & Scherzo mit einem Narrativ ähnlich jenem der Motets verband. In fünf verschiedenen Versionen verwandelte sich das Werk von einem auf jemenitischen paraliturgischen Liedern beruhenden Ballett zunächst in eine orchestrale Rhapsodie (die in der folgenden Version um Vokalteile erweitert wurde), sodann in ein erweitertes radiofones Oratorium auf Grundlage eines Librettos von Mordecai Tabib und schließlich in der letzten und längsten Fassung zu einem Konzertoratorium. Im Zuge dessen wurde aus einem Kammerensemble ein Orchesterwerk mit drei Chören und Solotenor.239 Die Version von 1961 war die größte Kompilation, die Seter jemals arrangiert hatte. Musikalisch handelte es sich um ein Mosaik aus überwiegend paraliturgischer jemenitischer und sephardischer Musik, die er dem ersten und vierten Band des HOM entnommen oder selbst transkribiert hatte,240 und eigenen Cantus firmi, die sich unterschiedlich stark an schriftliche Quellen – von paraphra238 

MSCN, NLI, MUS110 D3 [1960] (Hervorhebung im Original). NLI, MUS110 A85–89. Seter gab dem Oratorium 1963, 1978 und 1984 einige orchestrale Anstriche. 240  Dabei handelte es sich um 114 biblische Kantillationen israelischer, syrischer und ägyp239  MSC,

192 Kapitel 2:  Vor und nach der Staatsgründung: Die Verwässerung des Hebraismus Beispiel 2.14: a) Seter, Chaconne & Scherzo (1955), II, Scherzo, T. 188–193.

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193

Thematische Unstimmigkeiten

Beispiel 2.14: c) Seter, Chaconne & Scherzo, I, Chaconne, T. 27–29.

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194 Kapitel 2:  Vor und nach der Staatsgründung: Die Verwässerung des Hebraismus Beispiel 2.14: d) Seter, Chaconne & Scherzo, I, Chaconne, T. 13–15. Con Moto e = 138(ca) (senza misura)



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um auf den biblischen Text stützte und ihn zugleich kommentierte. In seinem Oratorium versuchte Seter, eine vergleichbare Intertextualität zu schaffen, mit der er ein gegebenes Ereignis durch die Synchronisierung mehrerer unterschiedlicher Perspektiven verstärken konnte (»Der Text muss eine Kompilation sein«, schrieb er 1961 in sein Notizbuch).242 Wie es seinen linearen Techniken und paraphrasierten Transkriptionen entsprach, schwebte Seter ein Werk vor, in 242 

MSCN, NLI, MUS110 D4 [1961].

195

Thematische Unstimmigkeiten

Beispiel 2.14: e) Seter, Chaconne & Scherzo, I, Chaconne, T. 1–2. Andante q = 66-69 (ca)

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Beispiel 2.14: f) Seter, Chaconne & Scherzo, I, Chaconne, T. 39–42. Grave h= 50-52 (ca)

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196 Kapitel 2:  Vor und nach der Staatsgründung: Die Verwässerung des Hebraismus dem Folklore Teil eines weiter gefassten musikalischen Rahmens, aber nicht das Hauptelement sein sollte (»man befreie sich von unvermittelter Folklore«, hielt er für sich fest), 243 und sich die Präsenz eines unsichtbaren Thema in seinen Verzweigungen zeigen würde, während es zugleich biblische Texte durch Kommentare aus späteren Perioden (Talmud, Aggadot, Kabbala etc.) in ein neues Licht rücken sollte. In diesem Kontext sollte der Chor (bevor sich Seter für drei Chöre entschied) die Rolle eines Kommentators oder Interpreten des Textes spielen und engelhafte oder menschliche Charaktere verkörpern.244 Ähnlich wie in den Motets entsteht Bedeutung auch in Midnight Vigil, wie Michal Grover-Friedlander kürzlich bemerkt hat, nicht aus der Vertonung des Textes; vielmehr strebt die Musik des Oratoriums »beständig danach, etwas in ihr selbst Liegendes auszudrücken und zu offenbaren. Sie ist ein zugrundeliegender und unaufhörlicher Klang, eine Stimme, die sich über jede Charakterunterscheidung, spezifische Äußerung oder Entsprechung von Musik und Text hinwegsetzt.« Dadurch entsteht »eine neuartige Konzeption, in der der Musikstil selbst mit dem Inhalt des Dramas identifiziert wird, so als ob diese dem Wesen der Musik einen Ausdruck verleihen könnte«.245 Tatsächlich notierte sich Seter 1961: »Bei einem gesungenen Text sollte die Musik dessen Gedanken ausdrücken, ohne einzelne Worte zu illustrieren.«246 Seters Verständnis der intertextuellen Anordnung im Ritus der Mitternachtswache sowie sein Versuch, Musik in ihn einzuflechten, war durch die Schriften von Scholem vermittelt, der das Thema ausschließlich im Kontext eines ausgeprägten Messianismus behandelt hatte. Ungeachtet späterer, Seter noch nicht vorliegender Kritiken an Scholems Sichtweise (insbesondere durch Moshe Idel, der von einer »diachronischen Monochromie« Scholems spricht), 247 fiel dessen Auseinandersetzung damit, wie Mitte des 16. Jahrhunderts ein exilisches Bewusstsein in kabbalistische Praktiken einging und einen theurgischen Effekt auf die Oberwelten hatte, bei Seter auf fruchtbaren Boden. In seinem Notizbuch von 1961 finden sich die Namen der von Scholem erwähnten Kabbalisten (Rabbi Isaac Luria und Rabbi Chaim Vital) sowie Bezüge auf Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, wo Scholem unter anderem den mystischen Wert der hebräischen Sprache, in der sich die schöpferische Sprache Gottes reflektiere, und die Wissenschaft der Kombination von Buchstaben (Chochmath ha-Zeruf), die die Veränderbarkeit der Tora im kabbalistischen Denken betrifft, erörtert.248 Begeistert von mystischen Ideen und zugleich durch die früheren Versi243 

MSCN, NLI, MUS110 D4 [1961]. MSCN, NLI, MUS110 D4 [1961]. 245  Michal Grover-Friedlander, Echoed Above, Opera Quarterly, 21.4 (2006): 690 (Hervorhebung im Original). 246  MSCN, NLI, MUS110 D4 [1961] (Hervorhebung im Original). 247  Vgl. beispielsweise Moshe Idel, Messianic Mystics, New Haven 1998, 30–38, 308–320. 248 MSCN, NLI, MUS110 D4 [1961]; Gershom Scholem, Die jüdische Mystik in ihren 244 

Thematische Unstimmigkeiten

197

onen von Midnight Vigil eingeschränkt, konnten Seter und sein Librettist sich nicht an die Formulierungen der Nachtwache halten, die im 16. Jahrhundert in Safed entstanden waren, sondern nur eine eigene Kompilation erstellen, in der nicht nur die Intertextualität des Ritus einen Widerhall fand, sondern – wichtiger noch – auch seine narrativen Konturen, die von einem zeitweiligen (als Exil beschriebenen) Abstieg um Mitternacht zu einem triumphalen Aufstieg in der Morgendämmerung führen.249 So spielte sich die von Seter entworfene Handlung in der Seele eines Betenden ab, der in einer Synagoge alleine Nachtwache hält; wie es in der Einführung in das Werk heißt: »Während das Gebet seine Seele erhebt, hat er eine Reihe von Visionen, die alle mit seinem Streben nach Erlösung in Zusammenhang stehen.«250 Einmal mehr hatte sich eine Bewegung hin zur Erlösung geltend gemacht. Und so finden wir in der Polyfonisierung von Halluzinationen ein Echo von Seters wandlungsfähigen intervallischen Formulierungen (seinem musikalischen Gegenstück zu der kabbalistischen Kombination von Buchstaben). Nach einer erneuten Runde kleinerer orchestraler Revisionen des Oratoriums machte Seter 1978 in einem Notizbucheintrag seine Kombination von Intervallen und ihre motivische Gestaltung kenntlich. Demnach besteht der verborgene Kern in zwei aufsteigenden, eine Quinte auseinanderliegenden großen Sekunden (Beispiel 2.15a); zu seinen Variationen gehörte ein Seufzermotiv, das Seter zweimal verkettete: erstens als ausgedehntes Muster aus zwei Seufzermotiven im Abstand einer übermäßigen Sekunde (Beispiel 2.15b) und zweitens als einen auf demselben Prinzip beruhenden Hexachord (Beispiel 2.15c). Der komplementäre Hexachord wurde so gestaltet, dass er denselben intervallischen Gehalt erzeugte (Beispiel 2.15d) 251 und die Trennung der beiden nunmehr auf die zwei Hexachorde verteilten Zweiklänge D–E und G–E anzeigte. War diese intervallische Ableitung Seters musikalisches Äquivalent zum Bedürfnis nach Tikkun (Reparatur oder Verbesserung)? Unter seiner Skizze notierte Seter Exzerpte aus einem Text des Safeder Kabbalisten Rabbi Moses Cordovero, der die Verwandlung von Objekten, bei der sie ihre bisherige körperliche Gestalt verlieren, mit der Verwurzelung und den wechselseitigen Beziehungen spiritueller Ströme der zehn Sefirot verglich, die sich jeweils aus der Wurzel des vorherigen speisen und

Hauptströmungen, Frankfurt a. M. 1980, 19 f., 145 f. Vgl. auch Moshe Idel, Absorbing Perfections. Kabbalah and Interpretations, New Haven 2002, 352–389. 249 Idel, Messianic Mystics, 311. Eine Szene in der zweiten Fassung von Midnight Vigil, die auf ein Scheitern hindeutete, wurde in den folgenden Versionen gestrichen. Vgl. Grover-Friedlander, Echoed Above, 704 f. 250 Mordecai Seter, Tikkun Hatzot (Midnight Vigil). Oratorio for Tenor, three Mixed Choirs, and Orchestra, Tel Aviv 1961, 4. 251  MSCN, NLI, MUS110 D18 [Januar-September 1978], D19 [September 1978-Februar 1980].

198 Kapitel 2:  Vor und nach der Staatsgründung: Die Verwässerung des Hebraismus alle zu ihrer göttlichen Quelle aufsteigen.252 Seter notierte darunter: »Form bringt Form hervor. Muster bringt Muster hervor.«253 Der Umfang dieses Oratoriums nötigt uns zu einer Beschränkung auf die Fragestellung des vorliegenden Abschnitts, nämlich die thematischen Unstimmigkeiten in der Dialektik von Boskovichs und Seters musikalischen Narrativen. Im Rest dieses Abschnitts werden daher vier Auszüge aus Midnight Vigil untersucht, die die erlösende Bewegung von Seters Polyfonisierung, seine Assemblagen innerer Echos sowie das Scheitern seines eschatologischen Entwurfs demonstrieren. In den hinteren Teilen des folgenden Kapitels kommen wir darauf zurück, worin dies zusammengenommen mündete. Seter verbarg den motivischen Kern (Beispiel 2.15a) bereits in der Eröffnung von Midnight Vigil, indem er einen für ihn charakteristischen verschwommenen Akkord verwendete, der an die vertikalen Konfigurationen in den Motets erinnert (Beispiel 2.15e, T. 1–2). Binnen vier Takten beugen sich die beiden Zweiklänge (D–E, G–A) dem Seufzermotiv und erweitern sich ihrerseits zum ersten Hexachord (Es–D–Ces–B–G–Fis; Beispiel 2.15e, T. 3–4). Im achten Takt webt Seter den zweiten Hexachord in einen Kanon aus Seufzermotiven ein, den er sogleich wieder zerfallen lässt (Beispiel 2.15e). Später begleiten diese Seufzer zwei einsilbige Worte, oy li – ein Allomorph des Motivs des klagenden Gottes, der seine Verzweiflung über die Zerstörung des Tempels ausdrückt und seine Schechina widerruft, bei der es sich Scholem zufolge um Rachel handelt.254 Dieser Mythos bestimmt den ersten Teil des ursprünglichen Rituals der Mitternachtswache (Tikkun oder Reparatur), nämlich den Tikkun Rachel, der mit einer Rezitation von Psalm 137 beginnt. Überraschenderweise vertonte Seter nicht dieses kanonische Kapitel, sondern zog es vor, mit der Entfaltung motivischer Kerne zu eröffnen. Die Abwesenheit dieser Klage war vielleicht den Einschränkungen durch die früheren Versionen des Oratoriums geschuldet, doch in vieler Hinsicht könnte man sowohl narrative wie musikalische Vorläufer von Midnight Vigil im Arrangement derselben psalmodischen Klage im Eröffnungssatz der Motets (Psalm 137, Beispiel 2.13b) erkennen. War Seters Midnight Vigil umfassender, als seine früheren Fassungen und Umarbeitungen vermuten lassen könnten? 1961 schrieb Seter in sein Notizbuch: »So etwas wie eine säkulare Komposition gibt es nicht.«255 Bereits im ersten Tableau des Oratoriums tritt seine intervallische Wandlungsfähigkeit deutlich hervor, wenn Seter Anleihen, Orchestrierung und Vergegenständlichung von Texten und Musik steuert. Die Szene 252  Samuel Abba Horodetzki (Hg.), Torat Hakabbala shel Rabbi Moshe Cordovero, Berlin 1924, 59–61. 253  MSCN, NLI, MUS110 D18 [Januar-September 1978], D19 [September 1978-Februar 1980]. 254  Gershom Scholem, Zur Kabbala und ihrer Symbolik, Frankfurt a. M. 1992, 193–202. 255  MSCN, NLI, MUS110 D4 [1961].

199

Thematische Unstimmigkeiten

Beispiel 2.15: a–d) Seter, intervallischer Kern von Midnight Vigil (handschriftliche Ergänzung zu MSCN, NLI, MUS110 D18, 1978). + œ n œ b œn œ bœœ bœ bœ bœ œ# œ &     bœœ bœœ bœœ bœœ bœ œ œ# œ œ b œ b œ œ # œ a

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Beispiel 2.15: e) Seter, Midnight Vigil (1961), T. 1–16 (Klavierauszug). Misterioso (Œ=Œ.=50 ca.)

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wechselt zwischen einem liturgischen Gedicht aus dem Ritus der Mitternachtswache, gesungen von einem Solo-Tenor (»Mein Geliebter ging hinab in seinen Garten«), und Gottes Bedauern des eigenen Tuns, gedämpft vorgetragen vom zweiten Chor (»Wehe den Kindern, die vom Tisch ihres Vaters verbannt wurden«). Während der erste Pijjut das Hohelied 6:2 paraphrasiert,256 war der zweite dem »Buch der Legenden« entnommen, aber ursprünglich stammt er aus dem 256 Der

Pijjut findet sich in Sefer Likutey Tzvi, Luneville 1797, 128.

200 Kapitel 2:  Vor und nach der Staatsgründung: Die Verwässerung des Hebraismus Babylonischen Talmud (Berachot 3a).257 Die musikalische Ebene verdichtet die Intertextualität des Oratoriums: Seter verwendet die jemenitische Version des Hohelieds (HOM, I, 17), um die Eröffnungsverse des Tenors zu vertonen, und durchsetzt sie mit choralen Aggada-Auszügen aus der vorherigen Szene, während er die disjunktive Trope Zarqa nach orientalisch-sephardischer Lesart paraphrasiert (HOM, IV, 311 f.; Beispiel 2.15f). Dann, nachdem der Tenor in Sprechstimme nach Bat Kol gerufen hat (eine göttliche Stimme, die Seter angemessenerweise nicht notiert), gehen die zwei entgegengesetzten Hexachorde, die der Szene ihr Kolorit verleihen, in ein Ostinato aus 19 Noten über, zu einem Flehen aus Jesaja 33:2 (»HERR, sei uns gnädig, denn auf dich harren wir«; Beispiel, 2.15f, ab dem Auftakt vor T. 91). Das Ostinato ist vorsätzlich unwahrnehmbar gestaltet; seine im Fünfvierteltakt gehaltenen (und mit einem Auftakt beginnenden) 19 Noten sollen eine Sichtbarkeit der Form vermeiden, die Seter zusätzlich durch Taktwechsel und leichte Abweichungen vom Ostinato verdunkelt. Mit 19 Noten im Ostinato stellte Seter zudem sicher, dass weder eine gleichmäßige noch eine symmetrische Verteilung der zwei die Notwendigkeit eines Tikkun ausdrückenden Hexachorde möglich war. Tatsächlich weisen die Konturen des Ostinato zwei kurze aufsteigende Linien auf, gefolgt von einem längeren Abstieg (angelehnt an Seters Skizze von 1978, vgl. Beispiel 2.15a–d); es handelte sich um eine zweiteilige Motette, die vor allem aus dem Seufzermotiv bestand und eine aufsteigende Sekunde in den Altstimmen verdeckte (Beispiel 2.15f, T. 109), die wiederum einen längeren Aufstieg einleitete, gebildet aus zwei Paraphrasen der Zarqa-Trope: eine zu Triolen ausgedehnte (gesungen von den Sopranstimmen; Beispiel 2.15f, T. 112–114) und eine zweite, die sich enger an die sephardischen Transkriptionen anlehnte und von den Altstimmen vorgetragen wurde (Beispiel 2.15f, T. 113–114). Die Sequenzen kompilierter und intertextueller Resonanzen enden mit dem Halleluja-Teil, eine Entsprechung der Lobespsalme, die manche Praktiken des Tikkun Hatzot beschließen. Seter überflutet dieses Segment mit aufsteigenden Sekunden, in denen der Kern widerhallt, sowie den aus ihm hervorgehenden Mustern und hexachordalen Teilungen. Doch eine Apotheose bleibt aus. Während der melodische Mittelpunkt des Halleluja auf F liegt, wird es harmonisch anders geführt; Fragmente aus vorherigen Szenen finden in ihm ein Echo und widersetzen sich der Richtungsgebundenheit der Melodie. Beispiel 2.15g zeigt Seters achtteilige Anordnung des Halleluja, bestehend aus zwei aufsteigenden großen Sekunden (C–D, F–G), die Seter zum Halt bringt, indem er sie vertikalisiert. Darunter liegen drei Dreiklänge – B- und C-Dur sowie H-Moll –, die die aufsteigenden Sekunden kreuzen, oder genauer: von ihnen gekreuzt werden. Seter verunreinigt das Ende somit durch harmonische Bezüge auf vorherige Teile des Oratoriums (besonders die Jakobsleiter-Szene), doch noch kraftvoller ist 257 

The Book of Legends, 382.

201

Thematische Unstimmigkeiten

Beispiel 2.15: f) Seter, Midnight Vigil, Erstes Tableau (nicht nummeriert), T. 114. Tableau I Doppio movimento (e=160-166)

Tenor Solo

Choir II

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seine symbolische Verlängerung eines Seufzermotivs, das von der Rezitation des ersten Aggada-Textes auf Fis (und, kurz davor, dem ersten Ton des Oratoriums überhaupt) zum F führt, dem melodischen Mittelpunkt des Halleluja-Teils. Mit anderen Worten ist es Seters motivische Gestaltung, die die melodischen Zentren

202 Kapitel 2:  Vor und nach der Staatsgründung: Die Verwässerung des Hebraismus Beispiel 2.15: f) (Fortsetzung). T.Solo

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Choir. II

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des Halleluja konterkariert und von dem instrumentalen Surrogat für Psalm 137, welches das gesamte Oratorium eröffnet (Beispiel 2.15e), um einen Halbton herabsinkt, um ein übergreifendes Seufzermotiv zu erzeugen. Hätte Seter dies durch ein Aufsteigen zu den Wurzeln (wie in Cordoveros kabbalistischer Formulierung) oder zu seinen aufsteigenden großen Sekunden (Beispiel 2.15a) auf-

203

Thematische Unstimmigkeiten

Beispiel 2.15: f) (Fortsetzung). S Choir. I

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gelöst, dann hätte er die das Mitternachtsritual beherrschende zyklische Zeit unterbrochen und so gegen seien kairologische (nichtlineare) Zeit verstoßen; er hätte eine von Berechnung freie Erwartung verunmöglicht und der Offenheit für den Einbruch einer besseren Zukunft entgegengewirkt, die »gleich weit ent-

204 Kapitel 2:  Vor und nach der Staatsgründung: Die Verwässerung des Hebraismus fernt ist von der Apokalypse des volkstümlichen Messianismus und der voranschreitenden Reparatur der theosophisch-theurgischen Kabbala«.258 Wenn Seter die zyklische Entfaltung des stets oder niemals kommenden Messias darstellte, dann verdichtete er sie in den letzten Momenten des Oratoriums mit dem Anbruch der Morgendämmerung und dem Schacharit-Gebet; aber auch dies könnte durchaus eine weitere polyfonisierte Halluzination sein. Das Halleluja endet auf F, während seine Harmonie durch Terzen überstrapaziert wird und folglich tonaler Signifikation entbehrt; die zwei Chöre, die sich bereits von notierten Tonhöhen gelöst haben, rufen »Hallelu« (»Lobet«; Beispiel 2.15h, T. 795). Dieser partielle Zerfall stellt die große Sekunde F-G in einem Register wieder her, das zu unscharf ist, als dass sie als solche deutlich würde (Beispiel 2.15h), und mit diesen beiden Tönen lässt Seter das Oratorium ausklingen. Doch selbst dieses gedämpfte Signal schlägt fehl, als sich das Lob in den tonal unbestimmten Ruf Ha verwandelt – gleich weit entfernt von Grauen und Triumph – und die zwei Hexachorde in sich zusammenfallen und so den vokalen Aufschrei komplementieren. Halluzinieren wir noch immer? Dies war mehr als nur eine Entropie von Hexachorden oder die Manifestation zyklischer, nichtlinearer Zeit. Es stellte den Kern der thematischen Unstimmigkeiten dar, die Boskovich und Seter teilten. Beide waren bereits in den 1940er Jahren imstande, die idiomatischen Oberflächen der nationalen musikalischen Onomatopoesie zu dekonstruieren und der Kolonisierung arabischer Juden und ihrer Musik durch die hebräische Kultur – als etwas zugleich Authentisches und Randständiges – entgegenzuwirken. Den Zügen arabisch-jüdischer Musik zu folgen und ihnen gleichzeitig Modernität zuzusprechen, schwächte in der Tat das Paradigma ihres »vormodernen« Charakters, die tonalen Vokabulare, die ihr durch asymmetrische Anleihen aufgezwungen wurden, und folglich auch ihre codierte »innere« Andersartigkeit. Jedoch war es kein Zufall, dass sowohl Boskovich wie Seter gleichzeitig in national-kollektivistischen Begriffen dachten und so auch die liturgischen Transkriptionen, mit denen sie arbeiteten, als etwa sahen, das gemeinschaftlich-kooperative Quellen hatte. Beide waren im Jischuw aufgewachsen und hatten eine sozialistische Rhetorik verinnerlicht, die sich weiterhin in ihren Vokabularen geltend machte – trotz ihrer postkolonialen musikalischen Formulierungen und eines semantischen Diskurses, der die Funktion arabisch-jüdischer Musik im Prozess der Nationalisierung des Theologischen umstürzte. Doch während sie teilweise die Rolle von Wortführern einnahmen, wie Ton und Inhalt ihrer (veröffentlichten und privaten) Schriften zeigen, wiesen beide gewisse Paradoxien auf. Der Grund dafür lag in der irritierenden Kluft zwischen den sozialistischen Vorstellungen der vorstaatlichen Ära und einer musikalischen Dialektik, die durch die Verwendung zeitgenössischer Techniken die Ernüchterung über den Kollektivismus derart vorantrieb, dass er 258 Idel,

Messianic Mystics, 324.

205

Thematische Unstimmigkeiten

Beispiel 2.15: g) Seter, Midnight Vigil, T. 640–644.

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schließlich außer Kraft gesetzt wurde. Boskovich vermochte die trockene autoexotistische Klangfülle seiner Semitic Suite in Arrangements zu reartikulieren, die die Eigenschaften der jemenitischen Heterofonie paraphrasierten und neuinterpretierten, wobei er seine Quellen aufzehrte und einen nüchternen Mo-

206 Kapitel 2:  Vor und nach der Staatsgründung: Die Verwässerung des Hebraismus Beispiel 2.15: h) Seter, Midnight Vigil, T. 795–801.

Choir I

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Thematische Unstimmigkeiten

207

dus fand, der den deutschen geistigen Kolonialismus durch serielle Importe ersetzte; einen kollektivistischen und (in seinen Worten) »für alle verständlichen« Ausdruck aber konnte er nicht länger wahren.259 Aus persönlichen Gründen fiel es ihm leichter, Boulez’ Techniken aufzugreifen, da er mit deutschen Komponisten emotional nicht zurechtkam. Nachdem er vom Schicksal seiner Eltern in Auschwitz erfahren hatte, verzieh er sich nie, sie nicht gerettet zu haben (auch wenn er von Palästina aus sehr wenig für sie hätte tun können). Dennoch waren Boskovichs Schriften rückblickend betrachtet von dem Widerspruch geprägt, eine Musiksprache im Namen eines Kollektivs zu aktualisieren, das nicht länger ihre interpretative Gemeinschaft sein konnte. Seter hingegen war zwischen den zwei Paradigmen zerrissen, die im zionistischen Denken die Bibellektüre bestimmt hatten, wie Shapira bemerkt: eine »traditionelle jüdische Perspektive, die einen linearen historischen Fortschritt zur Erlösung behauptet«, und eine zionistische »zyklische Sichtweise des Dramas von Souveränität, Zerstörung und Erlösung«.260 Während er das Nationale mit dem Liturgischen gleichsetzte, war auch Seter in der Lage, seinen – wenngleich recht vorsichtigen – linearen und vielschichtigen Ansatz auf Vokalarrangements auszudehnen, doch seine kompositorischen Narrative blieben zu nah an der nationalen Allegorie. Ganz ähnlich wie Boskovich sah Seter die Leistungen des totalen Serialismus durchaus skeptisch und suchte nach Möglichkeiten einer Verzahnung von zurückhaltender Kombinationstechnik und linearen Vokalschichtungen, bei der Instrumenten eine begrenzte Rolle zugedacht war. Boskovich forderte tolerante Formen von Serialismus, doch Seters Verständnis des Kollektiven war vor allem historisch und erst in zweiter Linie persönlich geprägt. Er beteiligte sich nie wie Boskovich an diversen akademischen, pädagogischen und staatlichen Ausschüssen und beschied sich mit einem klanglichen Symbolismus, dessen Entschlüsselung in seinen Notizbüchern verborgen blieb. Der Staat war ein Wesen, das er theologisch nicht wirklich fassen konnte, doch als er – wie im Schluss von Midnight Vigil – einem zyklischen Verständnis des Zionismus nahe kam, geriet er in eine Sackgasse. Im Kontext des folgenden Kapitels ließe sich zusammenfassend sagen, dass Boskovich und Seter beide den Abgrenzungsmechanismus geschwächt hatten, durch den der Hebraismus jüdische Räume bändigte. Indem sie jüdische Quellen aufgriffen und ihnen sowohl kulturelle wie nationale Qualitäten zuschrieben, deuteten Boskovich und Seter auf die Dynamik der 1960er und 1970er Jahren hin, aber sie selbst konnten sich – anders als ihre Zeitgenossen in der Dichtung261 – nie vom »Auratischen« lösen (im Sinne jener Aura, die ein Bild von dem es umgebenden profanen Kontinuum trennt). Damit sprachen sie weder einen Rosendorf an (der zu Anfang dieses 259 

Boskovich, »Probleme eigenständiger Musik in Israel«, 286. Shapira, The Bible and Israeli Identity, 13. 261 Miron, The Prophetic Mode, 474. 260 

208 Kapitel 2:  Vor und nach der Staatsgründung: Die Verwässerung des Hebraismus Kapitels auftauchte) noch die im Land geborenen Komponisten, die die Ernüchterung nach der Staatsgründung verinnerlicht hatten; sie konnten ihnen lediglich die Vorzüge ihrer kompositorischen Werkzeuge anbieten. Und manche zeigten in der Tat Interesse daran.

Kapitel 3

Die 1960er und 1970er Jahre: Die Artikulation des Jüdischen in der israelischen Kunstmusik In den Jahren nach der Staatsgründung fanden auch andere Verstöße gegen die kairologische Zeit statt. Während die Nationalisierung theologischer Konzepte religiöse Gehalte bändigen sollte, interpretierten religiöse zionistische Kreise, besonders das »messianische Lager« um Rabbi Zwi Jehuda Kook, das zionistische Projekt als einen göttlichen Vorstoß in Richtung Erlösung. Aus Kooks Sicht waren, wie Aviezer Ravitzky bemerkt, sowohl säkulare wie fromme Juden – ob sie es wollten oder nicht – an einem unausweichlichen und zutiefst messianischen Prozess beteiligt; wenn auch nur auf einer latenten Ebene, handelten sie im Einklang miteinander, um durch eine gemeinsame Korrektur eine historische Wende herbeizuführen. Bereits die Existenz des Staats Israel als solche wurde in metaphysischen Begriffen verstanden, die die Trennung zwischen Theologie und Politik aufhoben. Wie Ravitzky bemerkt: »In diesem Verständnis heiligt der religiöse Glaube die soziopolitischen Strukturen, verschiebt sie in das Reich des Absoluten und verleiht ihnen dadurch eine transzendentale Realität.« Indem er dem Staat eschatologische Lorbeeren zuerkannte, weihte Kook seine konkreten Handlungen und machte seine Kriege zur theologischen Funktion eines geradlinigen Wegs zur Erlösung, wodurch »ein militärischer Sieg einem spirituellen gleichbedeutend« wurde.1 Unter Rückgriff auf die abstrusen Schriften seines Vaters, Rabbi Abraham Isaak Kook (im Folgenden Kook Senior),2 der den Zionismus als ein sich im Land Israel entfaltendes messianisches 1  Aviezer Ravitzky, Messianism, Zionism, and Jewish Religious Radicalism, übers. v. Michael Swirsky u. Jonathan Chipman, Chicago 1993, 79–84. 2  Bereits in den 1920er Jahren hatte Rabbi Abraham Jizchak HaCohen Kook, der erste aschkenasische Oberrabbiner im modernen Eretz Israel, das gesamte jüdische-rabbinische Paradigma und sein zwangloses Verhältnis zur Erlösung auf den Kopf gestellt. Mit der Behauptung, die Ankunft des Messias und die Rückkehr nach Zion seien nicht von der Erfüllung aller Gebote in den Heiligen Schriften abhängig, sondern von der Ansiedlung so vieler Menschen wie möglich in Eretz Israel, die sodann von einem Messias politisch und theologisch erlöst würden, schuf er die Grundlage für eine Zusammenarbeit mit säkularen sozialistischen Zionisten und für die Partizipation seiner Anhänger an Staat und Gesellschaft in Israel, trotz deren säkularen Charakters. Kooks Schriften stellen gleichwohl in jedem literarischen Kontext ein recht ungewöhnliches Genre dar; sie waren weder Monografien noch Kommentare, homiletische Predigten, Messen, Dichtung, philosophische oder publizistische Schriften. Teils lässt sich sein Werk als persönliches Tagebuch sehen, anderenteils als ideologisches Manifest oder sogar als eingehende philosophische und kabbalistische Analyse. Auf-

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Kapitel 3:  Die 1960er und 1970er Jahre

Drama verstand, überbrückte er die in dessen Schriften bestehende Kluft zwischen messianischer Historiosophie und konkreter Geschichte durch eine politische Lesart, die »das Erlösungsverständnis von Kook Senior zu ihrem logischen Endpunkt trieb«.3 Diese Übersetzung von Theologie und Mystik in politisches Handeln ging zulasten der dialektischen Qualität von Kook Seniors Schriften.4 Mit der Verwandlung der messianischen Erwartung in ein politisches Programm, so Ravitzky, »wird das Heilige in einer gegebenen staatlichen Struktur verkörpert und der historische Fortschritt auf die Bühne Israels begrenzt«. 1948 beschränkte Zwi Jehuda Kook die messianische Bedeutung der Rückkehr nach Zion auf die nationale Ebene, auf die Versammlung der bislang im Exil Lebenden und die Wiedererlangung der Souveränität über das Land, wobei er die Macht der »historischen Notwendigkeit« und der »kosmischen Bestimmung« betonte, sodass er geschichtliche Kausalität durch eine zur Erlösung führende Teleologie ersetzen konnte.5 Mit dem Argument, dass die Erlösung der Buße vorausgehe – eine Umkehrung der in der jüdischen Tradition üblichen Auffassung –, konnte er einen nicht der Halacha folgenden Staat unterstützen und seinen Anhängern den Militärdienst erlauben; gleichzeitig lehnte er jedoch territoriale Kompromisse (wie den Teilungsbeschluss von 1947 und andere, die folgten) vehement ab, da das »offenbarte Ziel« die Ungeteiltheit des Landes verlangte.6 Als eine parallel zum zionistischen Diskurs verlaufende Teleologie konnte sich der messianische Pfad des religiösen Zionismus nicht mit der hebraistischen Aneignung prophetischer Texte oder rhetorischen Reinigungen bescheiden, die in seinem deterministischen Szenario der Erlösung keine ergrund ihres fragmentarischen und assoziativen Charakters und weil sie sich nie auf ein bestimmtes hermeneutisches Feld beschränkten, mussten Kooks Werke vor der Veröffentlichung zunächst von seinem Sohn Zwi Jehuda redigiert und umgeschrieben werden. Nach dem Tod von Kook Senior im Jahr 1935 beschloss sein Sohn, ihn durch die Bearbeitung und Publikation seiner philosophischen Notizbücher als Tora-Gelehrten, Schlichter, rabbinische Autorität und Führungspersönlichkeit darzustellen. In dieser Edition war jedoch noch nicht einmal ein Viertel seines Opus erschienen, als Zwi Jehuda sie 1952 nach seiner Ernennung zum Oberhaupt der Zentralen Jeschiwa in Jerusalem einstellte. In den folgenden dreißig Jahren bis zu seinem Tod veröffentlichte er keine weiteren Bücher seines Vaters und erlaubte dies auch niemandem. Vgl. Yosi Avneri, »Rabbi Abraham Jizchak HaCohen Kook und seine Beziehung zum religiösen Zionismus«, in: ders./Dov Schwartz (Hg.), »Hundert Jahre religiöser Zionismus« (Hebr.), Ramat-Gan 2003, Bd.  1, 41–77; Yehudah Mirsky, Rav Kook. Mystic in a Time of Revolution, New Haven 2014. 3 Ravitzky, Messianism, Zionism, and Jewish Religious Radicalism, 123. 4 Zur Transformation des mystischen Tons von Kook Senior in die politische Sprache seines Sohnes, vgl. Abraham Isaac HaCohen Kook, When God Becomes History. Historical Essays of Rabbi Avraham Isaac Kook, übers. v. Bezalel Naor, New York 2003; Abraham Isaac Kook, Orot, übers. v. Bezalel Naor, New York 2004; Zvi Yehudah Kook, Torat Eretz Israel. The Teachings of HaRav Tzvi Yehudah HaCohen Kook, hg. v. Shlomo Chaim Aviner, übers. v. Tzvi Fishman, Jerusalem 1991, 97–230. 5 Ravitzky, Messianism, Zionism, and Jewish Religious Radicalism, 123–127. 6  Motti Inbari, Messianic Religious Zionism Confronts Israeli Territorial Compromises, Cambridge 2012, 26–28.

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kennbare Funktion erfüllten. Nach beinahe zwanzig Jahren der Stabilität, in denen solche Ideen in kleinen Kreisen gegärt hatten,7 wurden im Gefolge des Sechstagekriegs latente messianische Zeichen darin gesehen, dass der Staat Israel, das jüdische Volk und Großisrael zur Deckung kommen könnten. Der Krieg markierte weniger einen Umschlagspunkt als den beginnenden Niedergang der politischen Theologie der Arbeitspartei; die Terminologien, die sie durch die Verbreitung einer wörtlichen Bibelauslegung und teleologische Allegorien der Erlösung in die hebräische Sprache eingeführt hatte, wurden vom religiös-zionistischen Aktivismus aufgegriffen, dessen Eschatologie indes keine Nationalisierung (oder Säkularisierung) theologischer Hybride kannte. Während der hebraistische Mechanismus mit der schwindenden Macht der Arbeitspartei seine Funktionalität verlor, konnte 1967 allein der religiöse Zionismus eine ideologische Alternative präsentieren, die keine Bändigung theologischer Energien erforderte.

1967 Jerusalem war nie die Hauptstadt von Eretz Israel, abgesehen von der Zeit, in der es die Hauptstadt der im Land lebenden Juden war. […] Es ist interessant, dass die heutige Altstadt genau dem Gebiet der römischen Aelia Capitolina entspricht, die auf den Ruinen des Jerusalem der Zeit des Zweiten Tempels – wenngleich nur auf etwa einem Drittel der Fläche – errichtet wurde. Mit anderen Worten: Die Grenzen, die im Jahr 71 u.Z. von den Zerstörern der Stadt gezogen wurden, blieben bis zum Ende des 19. Jahrhunderts bestehen, als die ersten gebrechlichen jüdischen Pioniere eintrafen… Moshe Shamir, My Life with Ishmael 8 Die Stadt spielt mit ihren Namen Verstecken; Jerusalem, El-Kuds, Schalem, Dscheru, Jeru, sie flüstert: Jebus, Jebus, Jebus, im Dunkeln. Sehnsüchtig weint sie: Aelia Capitolina, Aelia, Aelia. Sie kommt zu jedem, der sie einsam ruft bei Nacht. Wir aber wissen, wer zu wem kommt. Jehuda Amichai, »Jerusalem 1967«9

So viel über die politischen, religiösen, kulturellen und philosophischen Folgen des Sechstagekriegs geschrieben worden ist, die israelische Kunstmusik blieb dabei unterbelichtet. Bei Ausbruch des Kriegs waren unterschiedliche Kompo7  Gideon Aran, »Kookismus. Die Wurzeln von Gusch Emunim, der Subkultur der jüdischen Siedler, der zionistischen Theologie und des zeitgenössischen Messianismus« (Hebr.), Jerusalem 2013, 29–109. 8  Moshe Shamir, My Life with Ishmael, London 1970, 107. 9  Jehuda Amichai, »Jerusalem 1967«, in: ders., Wie schön sind deine Zelte, Jakob. Gedichte, übers. v. Alisa Stadler, Zürich 1988, 94.

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Kapitel 3:  Die 1960er und 1970er Jahre

nisten mit der Dekonstruktion hebraistischer Tropen und einer postkolonialen Lesart nichtwestlicher jüdisch-liturgischer Musik (deren lineare Züge sich westlichen »Korrekturen« widersetzten) befasst, die sie folgerichtig aus ihren nationalen Funktionen lösten. Gewiss war die Anwendung serieller Techniken auf Transkriptionen aus dem HOM ein durchaus westliches Unternehmen, doch die Konvergenz zeitgenössischer Kompositionsmittel mit den linearen Eigenschaften nahöstlicher oder nordafrikanischer jüdischer Liturgien zeigte bereits in den Werken Boskovichs, Seters und Tals der 1950er und 1960er Jahre eine Veränderung im dynamischen Funktionalismus an. Unmittelbare Reaktionen auf den Krieg waren allerdings eher rar gesät; sie fanden nur an den Rändern der israelischen Kunstmusik statt (beziehungsweise in den von der nationalen Rezeption marginalisierten Bereichen). Die wenigen Kompositionen, die die Verschiebungen in der israelischen Gesellschaft in der Dekade nach dem Krieg ausdrückten, wurden durch dringlichere politische Themen verdrängt. Zudem konnte die Kunstmusik nicht mit den Beiträgen der damaligen Literatur konkurrieren, deren Paradigmen ihr häufig voraus waren.10 Ben-Haim, der 1967 Siebzig wurde, schrieb kaum noch. Eines seiner letzten großen Werke, das 1960 verfasste Capriccio für Klavier und Orchester, wies weiterhin phrygische Andeutungen, Chromatik und ein gleichsam improvisatorisches Schreiben auf, basierend auf einer wohldurchdachten tonalen Infrastruktur (mit B und C als Subdominante beziehungsweise Dominante; Beispiel 3.1), die noch den schroffsten Dissonanzen ein bukolisches Ambiente verlieh. Verglichen mit Tals Zweitem Klavierkonzert, Seters Chaconne & Scherzo oder Boskovichs Ornaments jedoch wurde Ben-Haims Ansatz anachronistisch, wenn nicht immun gegen Dialektik. Capriccio klang eher wie ein Resümee der Ästhetik des vorstaatlichen Jischuw denn wie eine Reflexion von mehr als einem Jahrzehnt ernüchternder Erfahrungen, die auf den berauschenden Moment der Staatsgründung folgten. Überfordert von der Vervielfältigung kompositorischer Ansätze und Importe, dürfte Ben-Haim auch die Tage nach dem Krieg von 1967 als eigenartig empfunden haben. Die in den frühen 1970er Jahren das Land erfassende Begeisterung gab denjenigen Auftrieb, die in den Eroberungen des israelischen Militärs ein göttliches Wirken ausmachten. Was an der ideologischen Front heraufzog, war der Mythos eines biblischen Großisrael. Nach der Staatsgründung zunächst in den Hintergrund getreten, erwies sich dieser Mythos nun als eine unberechenbare Hinterlassenschaft der in zionistischen Konstruktionen eingeschlossenen säkularisierten messianischen Gefühle; in den 1970er Jahren verloren diese Gedankengebäude und die in sie eingebetteten Empfindungen ihre säkulare Fassade. Ein messianisch-expansionistischer Geist, 10  Eine ähnlich verspätete Reaktion stellt Ofrat für die israelischen bildenden Künste fest. Vgl. Gideon Ofrat, »1967: Gab es überhaupt eine Kunst? Die Moderne im Schatten der nationalen Euphorie«, in: Oded Heilbronner/Michael Levin (Hg.), »Isralische Moderne oder Moderne in Israel« (Hebr.), Tel Aviv 2010, 217–233.

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Beispiel 3.1: Ben-Haim, Capriccio (1960), T. 35–47. Molto moderato (cantando e molto rubato)

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Righteous Victims, 330 f.

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Kapitel 3:  Die 1960er und 1970er Jahre

Beispiel 3.1: (Fortsetzung). a tempo

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Figuren aus der Arbeitspartei) forderten bald die Aufrechterhaltung der von den israelischen Truppen am letzten Tag des Sechstagekriegs gezogenen Grenzen. »Diese miteinander verflochtenen Prozesse von Krieg und wachsender Religiosität«, schreibt Baruch Kimmerling, »führten zum ersten Stadium eines partiellen und allmählichen Aufbrechens der hegemonialen Kultur und der Herausbildung neuer Gegenkulturen.«12 Der Aufstieg der Rechten fiel mit der Erosion der zionistischen »Negation der Diaspora« zusammen – des Meta-Paradigmas, das dem Hebraismus einen kulturellen Gegensatz bot – und entfesselte religiöse (noch nicht im Latourschen Sinne gereinigte) Elemente, die im System der kulturellen Abgrenzung eingeschlossen waren. Nach der Verwässerung der zionistischen musikalischen Onomatopoesie, dem Vordringen antiromantischer Akzente in der Dichtung und den Adaptionen der linearen Züge nichtwestlicher jüdisch-liturgischer Musik wendeten sich Komponisten nun Merkmalen der osteuropäisch-jüdischen Musik zu, die in den Jahren vor und nach der Staatsgründung mit einer passiven und demütigen jüdischen Welt assoziiert worden waren. Solche Kennzeichen des Exils traten in Kompositionen nun in neuen Gewändern auf, da ihr vermeintlich gegensätzlicher Charakter schwächer geworden war und sich vielmehr neue kulturelle Verwandtschaften zeigten. Diese miteinander verflochtenen Tendenzen ermöglichten Komponisten die Infragestellung binärer kultureller und politischer Gegensätze wie Hebraismus/Diaspora, israelisch/jüdisch und modern/vormodern; aufmerksam geworden auf die religiösen Unterströmungen im zionistischen Diskurs und die Räume, durch die sie nationalisiert 12 Kimmerling,

The Invention and Decline of Israeliness, 113.

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(oder übersetzt) wurden, konnten sie nun eine politische Weltanschauung untergraben, die auf den Trümmern einer religiösen Lebensweise gründete. Im expansionistischen politischen Klima der 1970er Jahre warfen solche Verwandtschaften ein neues Licht auf zeitgenössische politisierte Theologien, die einen Messianismus im Präsens predigten, wenngleich genau diese Strömungen ebenfalls symptomatisch waren für den Zusammenbruch der modernen Produktion von Hybriden und ihre Reinigung, oder genauer: für die Störung des Gleichgewichts, den dieser Mechanismus zwischen dem Theologischen und dem Nationalen herstellte. Dennoch kam es in der Kunstmusik zu einer Rekontextualisierung und neuen Verbindung jüdischer Musikkennzeichen und literarischer Topoi, abgelöst von ihrer nationalen Funktionalität zugunsten einer Vergangenheit, deren kulturelle Resonanzen nicht durch nationalistischen Kulturparadigmen beschränkt waren. Allerdings vollzog sich diese kulturelle Wende nicht ohne Paradoxien. Denn warum sollte gerade der militärische Sieg von 1967, der zu einer territorialen Expansion führte und latente national-messianische Gefühle weckte, die die zionistische Inanspruchnahme der hebräischen Bibel als Metapher und Muster für die israelische Kultur und Identität (und nicht für die rabbinische oder diasporische Kultur) noch verstärkten, israelische Komponisten zu einer (erneuten) Hinwendung zu eben jener Musik des Exils veranlassen, die bislang verdrängt worden war? Anders formuliert: Warum führte die Rückforderung der Heimstätte der biblischen Vorfahren zu einer Suche nach musikalischen Kennzeichen, die ihren Ursprung außerhalb Israels hatten? War die Verschiebung in der israelischen Musikästhetik eine politische Reaktion auf den religiösen zionistisch-messianischen Expansionismus? Die Kunstmusik der 1960er und 1970er Jahre zeigt, wie das durch den Niedergang des Hebraismus entstandene Vakuum durch verdrängte jüdische Musikmerkmale gefüllt wurde, umgestaltet und gebrochen in einem kulturellen Raum, dessen Vielstimmigkeit ihre Nationalisierung verhinderte. Nach der Ablösung autoexotistischer Modi von ihren ideologischen Funktionen und der Untergrabung der mit dem Hebraismus verbundenen musikalischen Onomatopoesie durch lineare Techniken führten Komponisten nun jüdische Topoi in ihre Werke ein, die sich jenem Raum, der theologische Tropen im Allgemeinen und jüdische Musik im Besonderen reinigte, widersetzten. Diese ästhetischen Trends waren jedoch weniger eine politische Reaktion, sondern zeugten von einem Erstarken jüdischer Musikmerkmale, die bislang von den Eigenschaften nichtwestlicher jüdischer Traditionen dominiert worden waren und nun einer kulturellen Kritik des Hebraismus und der ihn privilegierenden politischen Elite gleichkamen. Auch ohne eine politisch-weltanschauliche Alternative zur theologischen Revolution der 1970er Jahre markierte die erneute Verwendung jüdischer Topoi durch Komponisten einen inklusiven Modus des Schreibens, dessen Verständnis jüdischer Kultur weiter gefasst war als die von den religiösen Zionisten verfochtene Spielart eines territorialen Maximalismus. Während sie

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Kapitel 3:  Die 1960er und 1970er Jahre

auf diese Weise über den chauvinistischen Nationalismus hinausgingen, kehrten israelischen Komponisten mit Formen, die ästhetisch näher an den im ersten Kapitel erörterten angesiedelt waren, folglich zum Ausgangspunkt zurück. Das vorliegende Kapitel kontrapunktiert daher die politischen und kulturellen Räume der 1960er und 1970er Jahre einschließlich des Sechstagekriegs, dessen hauptsächliche Wirkung in der Sichtbarmachung dessen lag, was seit den ersten Jahren nach der Staatsgründung unter der hebraistischen Oberfläche geköchelt hatte. Dies war eine weitere Stufe in der Verwässerung des Hebraismus, ein Prozess, in dem nationalisierte religiöse Konzepte über ihre säkularen Räume und nationalen Funktionen hinauswuchsen. Während dies seinen politischen Niederschlag in politischen Theologien und ihrer Verwirklichung in Gestalt des Siedlungsprojekts fand, wurde es in der Kunstmusik durch eine dialektische Rückkehr zu exilischen Kulturen angezeigt, deren inklusiver Charakter die Totalität des politischen Modus ablehnte. Dieses Kapitel versucht mehrere im Buch bereits erörterte Themen zusammenzuführen, indem es sich zum einen mit den Narrativen befasst, in denen sich das mit dem Niedergang vorherrschender kultureller Muster verbundene Hervortreten musikalischer und literarischer jüdischer Topoi ausdrückte, und zum anderen mit musikalischen Formulierungen, die sich nicht von der nationalen Allegorie lösen konnten und daher mit deren Niedergang auf musikalische Atome und Partikel zurückgriffen. Als jüdische Stimmen durch die offenkundigen Risse in der national-säkularen Fassade des Hebraismus vordrangen, nahmen sie derart neue Formen und Bedeutungen an, dass sie die kanonische zionistische Historiografie infrage stellten. Tzvi Avnis Jerusalem of the Heavens (1968) zum Beispiel brach die 1967 in der Vereinigung Jerusalems kulminierende Linearität jüdischer Geschichte auf und antizipierte zugleich die Neujustierung osteuropäischer Melodietypen in seiner Zweiten Klaviersonate, Epitaph (1974–79), die er nach der Lektüre der oben erwähnten »Geschichte von den sieben Bettlern« von Rabbi Nachman schrieb. Unterdessen entmystifizierte Mark Kopytman nicht nur national säkularisierte Symbole durch politische Kommentare nach dem Jom-Kippur-Krieg, sondern verband auch seine Importe osteuropäischer Avantgardemusik mit den Charakteristika der jemenitischen Heterofonie, durch die er osteuropäisch-jüdischen Musikmerkmalen eine neue Gestalt gab. So verfremdete er sowohl die osteuropäische Klanglandschaft wie auch die jemenitische Heterofonie; einem seiner Werke gab er den treffenden Titel About an Old Tune (1977). Aber bei dem, was schlicht als Rückgriff auf eine Geschichte von Rabbi Nachman oder Rekontextualisierung der osteuropäischen Klanglandschaft erscheinen mag, ging es um mehr. Nach dem Sechstagekrieg, als die israelischen Eroberungen in religiös-zionistischen Kreisen messianische Gefühle aufleben ließen und den territorialen Nationalismus zum Antinomismus führten – zu einer religiös inspirierten Ablehnung und Abschaffung moralischer, ritueller und anderer tradi-

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tionell akzeptierter Regeln sowie der konventionellen Theologie –,13 deterritorialisierten Komponisten die Idee der Nation wie auch die Nationalisierung jüdischer Tropen und hinterließen so kompositorische Erinnerungen – paradoxerweise von und für Juden – an die Unmöglichkeit von Ganzheit. Allerdings erschöpfte sich das Spektrum an Reaktionen nicht in einem solchen Rekurs auf das Judentum. Neben miteinander verwandten, gegen Dialektik gefeiten Ansätzen (von Ben-Haim oder Marc Lavry) lässt sich auch die Herausbildung einer politischen Art des Schreibens feststellen, etwa in Werken wie Tals Kantate The Parade of the Fallen, Kopytmans October Sun und Avnis Vertonung von Amichais Gedicht »God Full of Mercy«,14 die sich entweder gegen die vorherrschende Form des Trauerns oder nationale Mythen richteten (Phänomene, die sich ebenfalls durch den Rekurs auf das Jüdische in der Musik zogen). Seter hingegen, obgleich aufmerksam für diese Entwicklungen, konnte sich nicht von seinen eschatologischen Konstellationen lösen und befand sich mit seinem Schaffen in einer Zwangslage, die ihn an der Dekonstruktion von Allegorien der Erlösung hinderte. Tatsächlich war es der Zusammenbruch dieser Teleologien, der seine Werke der 1970er dämpfte. Selbst was eine relativ frühe Hinwendung zu exegetischen und mystischen jüdischen Texten in Midnight Vigil zu sein schien, blieb einer nationalistischen Perspektive der Erlösung verhaftet, die für ihn in den späten 1960er Jahren zu einer qualvollen künstlerischen Blockade wurde. Außerstande, seine teleologischen Narrative zu reproduzieren, zog sich Seter mehr und mehr auf die Beschäftigung mit Intervallen und synthetisierten Modi zurück, wobei er versuchte, ihnen anthropomorphe und kabbalistische Züge zu geben; in seinen Werken für Kammerensemble und Soloklavier blieben solche Elemente gedämpft, was eine kompositorische Krise anzeigte. Seters Rückzug auf musikalische Atome wird am Ende dieses Kapitels erörtert, als Abschluss des langen Wegs, der ihn von der Narrativierung der Motets über die Verwendung linearer und additiver Züge in Chaconne & Scherzo zur gescheiterten Verbindung beider in Midnight Vigil führte.15 Zusammen betrachtet zeugten diese kulturellen Pfade von der anhaltenden Erosion nationaler Mythen und ihrer Ablösung durch ein immer dichteres Bündel darauf reagierender kultureller Kontigutitäten – jüdischer Kontiguitäten –, die wir hier nur als die Magnetfelder jener kulturellen und historischen Räume verzeichnen, anstatt ihre Phänomene erschöpfend darzustellen.

13 Dov Schwartz/Gershom Scholem/Moshe Idel, Antinomianism, in: Michael Berenbaum/Fred Skolnik (Hg.), Encyclopedia Judaica, Detroit 2007, Bd.  2, 199–201. 14  Avni gab diesem Werk den Titel Al Harahamim (Über Erbarmen). Vgl. Kapitel 4. 15  Vgl. Kapitel 2.

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Kapitel 3:  Die 1960er und 1970er Jahre

Auftritt der neuen Pioniere Generalmajor [geht auf die Tribüne auf dem Paradeplatz und hält eine Rede]: Soldaten und Kommandeure der Brigade, mutige Waffenbrüder, Söhne, Väter! Vor elf Minuten sind wir, geschlossen wie ein Mann, vorgerückt, dem Feinde entgegen. Wir sind aufgebrochen, um die Souveränität unseres Staates zu verteidigen, unser nationales Erbe, das Leben unserer Familien an der Heimatfront und unser eigenes Leben. Wir sahen uns einem Feind gegenüber, der mächtiger war als wir, und wir haben ihn bezwungen, dank unseres kraftvollen Geistes. Binnen elf Minuten konnten wir unsere Feinde vernichten, zerstören, auslöschen, zerschlagen, sie in Stücke schneiden, zerschmettern und zerdrücken. In der Tat, der Kampf war nicht einfach. Wir haben mit kostbarem Blut bezahlt. Doch im Angesicht des Todes haben wir dem Feind ins Auge geblickt, ihn ausgelacht, auf seinen Säbel gespuckt und seine Schädellöcher traktiert, bis sich seine Mutter für ihn schämte. Gewiss, der Kampf hat einen hohen Tribut gefordert, er war schwierig und kompromisslos. Vor elf Minuten habt ihr diesen Platz verlassen, eine ganze Brigade mit Waffen und Ausrüstung, und seid nicht zurückgekommen. Keiner ist zurückgekommen, und nun stehe ich hier und rede zu einem leeren Platz. Hanoch Levin, Die Elfminutensieg-Parade16

Der Sechstagekrieg, einer der kürzesten Kriege der modernen Geschichte, veränderte das Land für immer. Zwischen dem 5. und dem 10. Juni verschob sich das geopolitische Gleichgewicht in der Region signifikant, so gründlich waren Ägypten, Syrien und Jordanien gedemütigt worden. Israel hatte Flächen von der dreieinhalbfachen Größe seines Staatsgebiets erobert; beim Waffenstillstand standen die israelischen Truppen am Suezkanal, dem Jordan und auf den Golanhöhen.17 Von manchen als glänzender Sieg, von anderen als unheilvoller Triumph betrachtet, sind die Folgen dieses Kriegs bis heute in die täglichen Nachrichten eingraviert. Doch 1967 lautete, wie Tony Judt schrieb, das einzige – oder zumindest das aus israelischer Sicht wichtigste – Ergebnis des Kriegs: Kein verantwortungsvoller arabischer Politiker würde jemals wieder die militärische Vernichtung des jüdischen Staates ins Auge fassen.18 Trotz der demografischen Bedrohung der jüdischen Mehrheit durch die 1,2 Millionen Palästinenser, die in der Westbank und dem Gazastreifen lebten, und ungeachtet der Debatte über die Zukunft dieser Gebiete – ob man sie als politisches Faustpfand oder zur Verwirklichung des Traums von Großisrael nutzen solle –, »die wichtigste Veränderung, die Transformation, die das gesamte Verhältnis der Israelis zum Rest der Welt färben sollte, fand im Land selber statt«, bemerkt Judt. Die Israelis 16  Hanoch Levin, »Was kümmert es den Vogel. Lieder, Sketche und Satiren« (Hebr.), Tel Aviv 1999, 13. 17  Benny Morris, Righteous Victims, 329 f.; Michael Oren, Six Days of War. June 1967 and the Making of the Modern Middle East, New York 2002, 305–327. 18  Tony Judt, Das vergessene 20. Jahrhundert. Die Rückkehr des politischen Intellektuellen, übers. v. Matthias Fienbork, München 2010, 275.

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wurden selbstgefällig, die »Verletzlichkeit, die Israel in den ersten beiden Jahrzehnten charakterisiert hatte, wich arroganter Selbstzufriedenheit«.19 Die Euphorie fand ein schlagartiges Ende mit dem Jom-Kippur-Krieg von 1973, dessen Vorboten die Israelis nach der scheinbaren Leichtigkeit des Sieges von 1967 nicht hatten wahrnehmen wollen.20 Ziel des ägyptischen und des syrischen Präsidenten war die Wiederherstellung des arabischen Stolzes, nicht die Vernichtung Israels; der Krieg sollte die politische Blockade durchbrechen und ihren Regimes zu mehr Zuspruch, Legitimation und Lebensdauer sowie zu umfangreicher Unterstützung seitens der Öl-Monarchien verhelfen. Trotz seines geostrategischen Vorteils wurde Israel vom koordinierten Angriff der ägyptischen und der syrischen Armee, ausgeführt am Nachmittag von Jom Kippur, dem heiligsten Tag des jüdischen Kalenders, überrascht. Und diese Überraschung wuchs sich zu einem nationalen Trauma aus. Nachdem die Kriege von 1948, 1956 und 1967 die Israelis an überwältigende Siege gewöhnt hatten, brachte der Jom-Kippur-Krieg viele von ihnen zu der Überzeugung, dass man die eroberten Gebiete nicht ewig werde halten können und eine dauerhafte Besatzung zwangsläufig zu weiteren Kriegen führen würde.21 Auch wenn Israel schlussendlich siegte, wurde der Krieg von 1973 in der Öffentlichkeit, der Politik, der arabischen Welt und international als einer gesehen, in dem das israelische Militär versagt hatte.22 Wie Ari Shavit schrieb: »Die zwei vollkommen unterschiedlichen Erfahrungen, die man innerhalb von sechs Jahren mit Krieg machte, brachten die Psyche der Israelis aus dem Gleichgewicht. Und beide ließen, so gegensätzlich sie waren, die Siedlungen entstehen.«23 Warnungen vor den korrumpierenden Folgen der Besatzung seitens Intellektueller wie Amos Oz oder Jeschajahu Leibowitz, die in einem ähnlichen Ton gehalten waren wie die obigen Epitaphe von Jehuda Amichai und Hanoch Levin, im Siegestaumel aber abgewehrt worden waren, fanden allmählich bei vielen Israelis Gehör, die nun bereit waren, Verhandlungen über »Land gegen Frieden« in Betracht zu ziehen. Doch die historischen Wechselfälle, die sich zwischen 1967 und der Zeit nach dem Krieg von 1973 ereigneten, waren Teil eines umfassenderen Dramas. Der Sechstagekrieg löste eine Debatte über die Ziele des Zionismus aus und untergrub den bisherigen Konsens, der nun immer stärker erodierte und einer neuen ideologischen Polarisierung hinsichtlich Frieden, Sicherheit und der besetzten Gebiete wich. Die Schwächung der bislang dominierenden Arbeitspartei 24 ging 19 Judt,

Das vergessene 20. Jahrhundert, 279. P. R. Kumaraswamy, Revisiting the Yom Kippur War: Introduction, in: ders. (Hg.), Revisiting the Yom Kippur War, London 2000, 1–10. 21 Morris, Righteous Victims, 387. 22  Shimon Golan, The Yom Kippur War, in: Mordechai Bar-On (Hg.), A Never Ending Conflict. A Guide to Israeli Military History, Westport 2004, 177. 23  Ari Shavit, Mein gelobtes Land. Triumph und Tragödie Israels, übers. v. Michael Müller, München 2015, 285. 24  Eli Tzur, Mapam and the European and Oriental Immigration, in: Lucas/Troen (Hg.), 20 

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Hand in Hand mit dem Aufstieg der Rechten und ihres religiös-zionistischen Flügels, der die Besiedlung der besetzten Gebiete zum Ziel hatte und es auch tatsächlich schaffte, dem Pioniergedanken in der israelischen Gesellschaft eine völlig neue Form zu geben: An die Stelle sozialistischer Agrarsiedlungen in den Grenzen von vor 1967 trat eine messianische Bewegung, die sich in Judäa und Samaria niederzulassen begann. Unterdessen legte ihr spiritueller Kopf, Zwi Jehuda Kook, die von seinem Vater befürwortete Partnerschaft zwischen säkularem und religiösem Zionismus auf eine neue Weise aus. Während Kook Senior sich den Weg zur Erlösung als einen göttlichen Prozess – und nicht als Ereignis – vorgestellt hatte, der die staatliche Souveränität religiös sanktionierte und gewisse Mehrdeutigkeiten aufwies, koppelte sein Sohn Erlösung und Politik wesentlich enger aneinander. Er erklärte sich zum alleinigen Treuhänder des Erbes seines Vaters, der allein legitimiert sei, dessen Schriften politisch zu interpretieren, obwohl er sich recht freihändig auf sie bezog.25 Und der Unterschied war bedeutend. Die »messianischen Überlegungen und der optimistische, auf lange Sicht gerichtete Glaube«26 des Vaters, wie Ravitzki formuliert, wurden durch eine deterministische Sichtweise ersetzt, die Gadi Taub zufolge »die Sphäre des Staates auf die Ebene einer politischen Partei herunterbrachte«, ihr dadurch ihre theologische Mehrdeutigkeit nahm und sie in eine politische Plattform verwandelte.27 Und indem Kook den idealen Staat, der das Gebot zur Besiedlung des Landes befolgte, mit heiligen Lorbeeren versah, verweigerte er sie der tatsächlichen Regierung und signalisierte damit »die Möglichkeit einer Konfrontation« zwischen religiösem und säkularem Zionismus.28 Weniger als ein Jahr nach dem Sechstagekrieg, bemerkt Taub, hielten religiöse Enthusiasten einen Sederabend – den Auftakt des Pessach-Fests – in Hebron ab und legten damit einen Messianismus an den Tag, dessen Differenzen zum nationalen Interesse sie gar nicht wahrnahmen.29 Die Rückkehr nach Hebron unterstrich eine direkte Linie von der biblischen Vergangenheit in die Israel. The First Decade of Independence, 543–556; Itzhak Galnoor, Transformations in the Israeli Political System since the Yom Kippur War, in: Asher Arian (Hg.), The Elections In Israel – 1977, Jerusalem 1980, 119–148. 25 Udi Abramowitsch, »Mission, Monopol und Zensur. Rabbi Zwi Jehuda HaCohen Kook und die Herausgabe der Werke von Abraham Jizchak HaCohen Kook« (Hebr.), Da’at, 60 (2007): 121–152. Abramowitsch argumentiert, aus Kook Seniors Notizbüchern ließen sich durchaus bedeutende Monografien erstellen, sofern es um Themen geht, die weniger eng auf die Tora bezogen sind, etwa Kunst und Schöpfung, Rechtschaffenheit, Kabbalistik, Mystik, ästhetische Moderne, der Tempel – Themen, die durch die editorischen Eingriffe seines Sohnes allesamt gezielt ausgespart wurden. 26  Ravitzky, Messianism, Zionism, and Jewish Religious Radicalism, 136. 27  Gadi Taub, The Settlers and the Struggle over the Meaning of Zionism, New Haven 2010, 41. 28 Taub, The Settlers, 46. 29 Taub, The Settlers, 48.

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zionistische Gegenwart; nicht nur war Hebron die Grabstätte Abrahams, Saras, Isaaks, Rebekkas und Leas (Genesis 49:30), die Rückkehr in die Stadt symbolisierte auch die Wiederbelebung der während der Unruhen im August 1929 brutal ausgelöschten jüdische Gemeinde.30 Selbst der erneute Bezug des zwischen Hebron und Jerusalem gelegenen und im Krieg von 1948 gefallenen Siedlungsblocks von Gusch Etzion beschwor eine Rückkehr nach Großisrael herauf – er symbolisierte eine messianische Zeit und brachte sie zugleich hervor.31 Die Nationalreligiöse Partei, bis 1967 »ein eher moderater, bürgerlicher, pragmatischer und gefügiger Partner der Arbeitspartei«, steigerte sich nach dem Krieg ebenso wie ihre Jugendbewegung und ihre (an den bunten Strickkäppchen erkennbaren) Rabbiner in regelrechte »Anfälle von Chauvinismus«. Während ihre Rabbiner die militärischen Eroberungen als ersten Glockenschlag der Erlösung bejubelten, machten sich die jungen Anhänger der Partei mit einer religiösen Deutung von Geschichte daran, die Arbeitspartei samt ihrer Kibbuzim und Jugendbewegung aus der Position des Fackelträgers des Zionismus zu verdrängen: Sie ernannten sich zu den neuen Pionieren. Anders als das vorstaatliche zionistische Pioniertum zu Beginn des 20. Jahrhunderts, das auf die Besiedlung der Küstenregionen und von Teilen Untergaliläas gezielt hatte, sahen die neuen Pioniere der Zeit nach 1967 die besetzten Gebiete als das im Namen Gottes zu besiedelnde Grenzland. Der Erfolg schien dieser ersten Gegenkultur sicher, »da es an einer wirklich attraktiven konkurrierenden Ideologie, die eine Antwort auf die nach 1967 und 1973 entstandene politische und soziale Situation hätte bieten können, fehlte«,32 während Macht, Ansehen und Effizienz der von der Arbeitspartei kontrollierten Institutionen langsam verfielen. In den wenigen Jahren bis zu ihrer Abwahl 1977 trat die Arbeitspartei für einen territorialen Kompromiss im Geist der UN-Resolution 242 ein, übte gleichzeitig aber eine Militärherrschaft über die besetzten Gebiete aus und unterstützte (oftmals rückwirkend) eine Politik der »schleichenden Annexion«.33 Doch dieser historische Akteur des zionistischen Expansionismus und Pioniertums wurde allmählich in eine dauerhafte ideologische Defensive gedrängt, während sich die religiösen Zionisten nicht länger durch den Säkularismus eingeschränkt sahen: Indem sie die Rückgewinnung des Landes zur obersten Priorität erklärten, vertraten sie eine antinomistische Theologie, in der Siedlungen in Israel den Vorrang vor der Achtung der Gebote erhielten – ein Schluss, zu dem nicht einmal die antinomistischen jüdischen Theologen des Mittelalters gelangt waren. So verwandelte sich der konkrete Staat nach 1967 in einen heiligen Ort und sein

30 Morris,

Righteous Victims, 114 f. David Ohana, Kfar Etzion. The Community of Memory and the Myth of Return, Israel Studies, 7.2 (2002): 145–174. 32 Kimmerling, The Invention and Decline of Israeliness, 122 f. 33 Morris, Righteous Victims, 332. 31 

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politischer Status in einen metaphysischen.34 Unterdessen versagte der Zauber der Arbeitspartei, die das politische System seit seiner Herausbildung in der vorstaatlichen Ära beherrscht hatte. Nachdem sie sich lange Zeit die geistige Hegemonie durch Gelder gesichert hatte, die die von ihren Politikern kontrollierte Institutionen verteilten (eine Maschinerie, deren Ausmaße selbst der Öffentlichkeit entgangen waren), war der Parteiapparat nunmehr »außerstande, Personen zu rekrutieren, die sich mit einer Karriere in ihm begnügten und ihn nicht als Sprungbrett zu prestigereichen Positionen in der Regierung nutzten«. Nach mehreren Spaltungen, Umgruppierungen und Vereinigungen in den 1960er und 1970er Jahren verstand die neue und heterogene Führung der Arbeitspartei die Funktionsweise ihres eigenen Apparats nicht mehr, dessen geistiger Einfluss folglich nachließ. Die Rechte spürte diesen Niedergang und baute eine Gegenelite auf, die so stark wurde, dass die Likud-Partei bei den Wahlen von 1977 die Mehrheit gewann und so nach beinahe drei Jahrzehnten die Arbeitspartei an der Macht ablöste.35 In dieser Umbruchszeit, in der sich der religiös-zionistische Expansionismus staatlicher Unterstützung erfreute, eine Dezentralisierung der politischen Elite stattfand, ihre nationale Allegorie entmystifiziert wurde und konkurrierende Gegenkulturen entstanden, ließ das Unbehagen von Zionisten an der eigenen jüdischen Vergangenheit – ausgedrückt im negativen Verständnis der Diaspora als einer einzigen mangelhaften Metakategorie – in der israelischen Kultur allmählich nach. Theologische Konzepte, die bislang im Dienst hebraistischer Konstrukte gereinigt worden waren, brachen aus dem sie säkularisierenden Raum aus, unterminierten so die Trennung zwischen dem Theologischen und dem Nationalen und machten das erstere in der politischen wie kulturellen Sphäre sichtbarer. Während die Rechte die Karte ihres israelitischen Königreichs neu zeichnete, drückte sich die wachsende Präsenz jüdischer kultureller Unterströmungen in Klanglandschaften aus, die in früheren Dekaden abwertend als diasporisch betrachtet (oder wenigstens rhetorisch abgelehnt) worden waren und nun, rekonfiguriert und desartikuliert, in den Werken von Komponisten auftauchten – über die Ausbreitung linearer Techniken, die die kompositorische Wende der 1950er und 1960er Jahre charakterisiert hatte, hinausgehend und in Überschneidung mit ihr. Kennzeichen der osteuropäischen Klanglandschaft wurden nun in einer technisch ähnlichen Weise wie bei der (in Kapitel 2 behandelten) Adaption nichtwestlicher jüdischer Liturgien verwendet, wodurch sich für Komponisten neue Möglichkeiten der Darstellung des Jüdischen in der Musik eröffneten, dessen nationale Residuen sie gleichzeitig kritisierten. 34  Avi Sagi, »Vom Land der Tora zum Land Israels – von einem geplatzten Traum zum nächsten. Untersuchung der Krise des religiösen Zionismus«, in: Avneri/Schwartz (Hg.), »Hundert Jahre religiöser Zionismus« (Hebr.), Bd.  3, 457–473. 35  Yonathan Shapiro, The End of a Dominant Party System, in: Arian (Hg.), The Elections In Israel – 1977, 23–38.

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Dabei griffen sie – ohne theologisch-territoriale Akzente – auf intertextuelle Mittel zurück, die sich aus der Implosion der rhetorischen Dichotomie von Theologischen und Nationalem ergaben. Komponisten wie Avni und Kopytman war dabei vollkommen bewusst, dass es die Fallstricke von Stereotypen jüdischer Musik zu vermeiden galt, die in früheren Dekaden ebenso sehr als Gegensatz zum zionistischen Projekt betrachtet worden waren, wie sie für moderne jüdische Komponisten in Europa klangliche Kainsmale darstellten;36 statt einer Filterung religiöser Importe durch hebraistische Tropen prägten die israelische Kunstmusik der 1960er und 1970er Jahre eher Formulierungen, in denen das Religiöse als Filter für das Nationale diente, während sie über den Gedanken einer territorialen Erlösung hinausgingen.

Die vielstimmige Negation der Diaspora und ihre Auflösung Jene Pionierinnen und Pioniere waren in meiner Vorstellung stark, ernsthaft und verschwiegen, sie vermochten in ihrer Runde Lieder von herzzerreißender Sehnsucht anzustimmen, auch Lieder voller Witz und Lieder voller unerhörter Lust, sie vermochten stürmisch, nahezu schwerelos zu tanzen, sie waren fähig zur Einsamkeit und zur Nachdenklichkeit, zum Leben in der Natur und in Zelten, zu jeder schweren Arbeit. […] Sie vermochten wilde Pferde zu reiten und breitraupige Traktoren zu fahren, sie waren des Arabischen kundig, sie kannten jede Höhle und jedes Wadi, sie konnten mit Pistolen und Handgranaten umgehen, und zugleich lasen sie Gedichte und philosophische Schriften. Voller Wißbegier und verborgener Gefühle saßen sie beim Kerzenschein in ihren Zelten und sprachen bis in die frühen Morgenstunden leise über den Sinn unseres Lebens und die schmerzhafte Wahl zwischen Liebe und Pflicht, nationalem Interesse und universaler Gerechtigkeit. […] Für sie gibt es nur ›diasporahaft-unterwürfig‹ einerseits und ›hebräisch-männlich‹ andererseits. Und sie merken gar nicht, wie diasporaverhaftet diese Unterscheidung selber ist. Wie sehr ihre ganze kindische Vernarrtheit in Militär und Paraden und hohle Kraftdemonstration und Waffen direkt aus dem Ghetto kommt. Amos Oz, Eine Geschichte von Liebe und Finsternis 37

Wie jede nationale Bewegung konstruierte auch der Zionismus eine Reihe von Ein- und Ausschlüssen, aus denen er seine nationale Allegorie meißelte und sein Selbstbewusstsein gewann. Allerdings war der Feind des Zionismus kein greifbarer, sondern ein metaphorischer – ein abstrakter Gegenspieler namens Galut (Diaspora, Exil). Als »Negation der Diaspora« (shlilat hagalut) bekannt, kam diese Vorstellung im jüdischen nationalen Denken auf, als die Diaspora oder das Exil »nicht länger in a priori metaphysischen Begriffen«38 verstanden wurde, 36 HaCohen,

The Music Libel, 2 f. Eine Geschichte von Liebe und Finsternis, 13, 675. 38  Shalom Ratzabi, The Polemic about the »Negation of the Diaspora« in the 1930s and its Roots, Journal of Israeli History, 16.1 (1995): 19. 37 Oz,

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und bestand aus zwei Hauptaspekten: einer »Kritik der traditionellen Gesellschaft im Namen der Modernisierung und einer Kritik der Assimilation im Namen des Nationalismus«.39 Gleichzeitig pflegte die nationale Historiografie in ihrer Darstellung der jüdischen Geschichte zwei unterschiedliche Ebenen: Es gab eine Leidensgeschichte, die relativ kontinuierlich verlief und mit weiblichen Metaphern versehen wurde, und eine prometheisch-hebraistische Vorgeschichte jüdischer Maskulinität, die einen Aufruf zu Souveränität und Tatkraft darstellte. Die jüdische Geschichte wurde entsprechend als lineares Fortschreiten von einer mittleren Periode passiver Schattenexistenz zur Erlösung in der Gegenwart verstanden, während das Land Israel unter eine einheitliche Vergangenheit gezwungen wurde. Während jeder systematische Bezug auf die gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Kontexte der jüdischen Geschichte abgelehnt wurde, schöpfte ein solches lineares Verständnis aus Modellen der europäischen Romantik. Und indem sie die Vergangenheit als ein Narrativ des Fortschritts fasste, der in das Land Israel führte, verhielt sich die jüdische Historiografie ähnlich wie die europäischen Geschichtsschreiber des 19. und 20. Jahrhunderts, die über die jüdische Existenz hinweggingen.40 Die im Geist der Moderne gehaltene Schaffung zweier scheinbar antagonistischer Kategorien, Judentum und Hebraismus, erinnert an die zwei von Latour aufgedeckten ontologischen Bereiche der Moderne – an die Herstellung (oder »Übersetzung«) von Hybriden und den Akt der »Reinigung«, der diese Herstellung verdunkelt.41 Latours Entschlüsselung unterminiert die in einen solchen Diskurs eingebetteten binären Gegensätze und stellt von der wissenschaftlichen Literatur unkritisch übernommene und in historische Fakten verwandelte Vorstellungen infrage, die unwillentlich eine binäre Unterscheidung zwischen einem unterwürfigen, verfolgten, passiven und von Krankheiten befallenen Judentum der Diaspora und einem von Grund auf tatkräftigen und gesunden Hebraismus befördern. In einer Untersuchung von Diasporabildern in zionistischen Ideologien beschreibt Gideon Shimoni den Terminus »Negation der Diaspora« als sehr verbreitet, aber durchaus wandelbar in seiner Bedeutung. Shimoni zufolge wurde er von der zionistischen Führung nie als ein Grundsatz formuliert und sind die verschiedenen Fraktionen des Zionismus nicht unbedingt auf eine seiner vielen Varianten festgelegt. Unabhängig davon, ob der Akzent eher auf der Negation des Exils oder der Diaspora lag, werden die Unterschiede zwischen den vielen Einstellungen erst deutlich, wenn wir fragen, was genau abgelehnt wurde.42 39  Anita Shapira, Whatever Became of »Negating Exile«?, in: dies. (Hg.), Israeli Identity in Transition, Westport 2004, 74. 40  Amnon Raz-Krakotzkin, »Exil innerhalb der Souveränität. Zur Kritik der ›Negation der Diaspora‹ in der israelischen Kultur« (Hebr.), Theory and Criticism, 4 (1993): 41 f. 41 Latour, Wir sind nie modern gewesen, 19 f. 42  Gideon Shimoni, »Neuuntersuchung der Negation der Diaspora als Idee und Tat«, in:

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Das eine Extrem bildeten »die Kanaaniter« (eine 1939 aus der radikalen »revisionistischen« Rechten hervorgegangene Gruppe), die die jüdische Nationalität nicht ethnisch, sondern territorial-sprachlich auffassten. Sie definierten sich zwar als Antizionisten, machten aber ebenfalls eine Unterscheidung zwischen diasporischen und in Palästina lebenden Juden geltend und versprachen die Neuaufführung einer glanzvollen mediterran-semitischen Vergangenheit, die an die Stelle eines abstrakten talmudischen Judentums treten sollte. Trotz ihrer ideologischen Nähe zum Hebraismus gelangten die Kanaaniter zu geradezu gegenteiligen Schlüssen: Während sich der Hebraismus als die nächste Phase einer linearen jüdischen Geschichte sah, die den Juden eine territorial-nationale Identität bieten würde, stellte der Kanaanismus (widerwillig eine begrenzte Kontinuität zum modernen Zionismus einräumend) einen besonderen Typus von säkularer jüdischer Häresie43 ohne assimilatorische Züge dar, der eine neue nichtjüdische Identität soziokultureller und historischer Natur anzubieten versuchte. Gegenüber der jüdischen oder zionistischen machte er die mythologische kanaanitische Zeit geltend und untergrub den Zionismus, indem er die Gegenwart und nicht die Vergangenheit zum entscheidenden Faktor erklärte. Als ein von der Rechten wie der Linken unterschiedenes Phänomen, schreibt David Ohana, weitete er die zionistische Bewegung radikal aus und widersprach ihr durch die »Manifestation des Bewusstseins der im Land geborenen Generation und ihrer direkten Verwandtschaft mit dem Heimatland, im Unterschied zu einem bloß erworbenen Bewusstsein dieser Heimat«.44 Mit ihrer Betonung von Geografie gegenüber Geschichte gelangten die Kanaaniter von der Annahme, durch die Annexion der nichtjüdischen Bevölkerung in den 1967 besetzten Gebieten werde Israel seinen jüdischen Charakter verlieren, zur Unterstützung der Idee Großisraels. Eine neokanaanitische Synthese der Religion und der Rechten wurde sodann als dialektischer Schritt zu einem hebräischen östlichen Land gesehen, das Trennungen zwischen Ethnien, Religionen und Gemeinschaften überwinden und die gesamte Bevölkerung im Rahmen der ­hebräischen Nation vereinen sollte.45 Nach 1967 verband sich eine mystisch-

Anita Shapira/Jehuda Reinharz/Jacob Harris (Hg.), »Das Zeitalter des Zionismus« (Hebr.), Jerusalem 2000, 45–51; vgl. auch Eliezer Schweid, The Rejection of the Diaspora in Zionist Thought. Two Approaches, Studies in Zionism 5.1 (1984): 43–70; Eliezer Don-Yehiya, Galut in Zionist Ideology and in Israeli Society, in: ders. (Hg.), Israel and Diaspora Jewry. Ideological and Political Perspectives, Ramat-Gan 1991, 219–257; Ben-Zion Dinur, The Revolt Against the Diaspora, in: Nathan Rotenstreich/Sulamith Schwartz Nardi/Zalman Shazar (Hg.), The Jerusalem Ideological Conference, Westport 1972, 155–160. 43  Yaacov Shavit, The New Hebrew Nation: A Study in Israeli Heresy and Fantasy, London 1987, 5 f. 44  David Ohana, The Origins of Israeli Mythology. Neither Canaanites Nor Crusaders, übers. v. David Maisel, Cambridge 2011, 77. 45 Ohana, The Origins of Israeli Mythology, 17.

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ursprüngliche Vorstellung des Landes mit messianisch-territorialen Unterströmungen, die das moderne zionistische Drama insgesamt animiert hatten. Andere Positionen waren jedoch weniger eindeutig.46 So entwickelten einige Intellektuelle aus der biblischen Literatur ein Narrativ, das sich gegen bestimmte diasporische Elemente des jüdischen Lebens richtete. In den Fußstapfen Nietzsches verachteten die Vertreter einer solchen Einstellung (etwa Berdyczewski, Nachman Sirkin, Jacob Klatzkin und Jeheskel Kauffman), die sich nur in der Art und Weise unterschieden, wie sie negative jüdische Stereotype von Passivität und Parasitismus übernahmen, die Pedanterie und philosophischen Argumente eines rabbinischen »priesterhaften« Judentums, das sie als sterile Abstraktion betrachteten. Ohana meint, es sei eher der »europäische« als der »deutsche« Nietzsche gewesen, der »Anziehungskraft auf eine jüdische Jugend ausübte, die gegen das traditionelle Judentum rebellierte, gegen den repressiven Charakter der Exilgeschichte und gegen die passive Mentalität der Juden, denen ›Bücher‹ wichtiger waren als das ›Leben‹«. Verzückt von Nietzsches Kritik der Dekadenz und seinem Aufruf zur Umwertung von Werten begannen laut Ohana viele von ihnen, sich anstelle des Judentums mit dem Hebraismus zu identifizieren. 47 Unter dem Einfluss Nietzsches, so Jacob Golomb, machte diese Gruppe eine Entspiritualisierung durch, »eine umfassende Befreiung von der Unterdrückung von Instinkten und natürlichen Trieben, und erlangte die Fähigkeit, ohne Schuldgefühle im säkularen Bereich schöpferisch tätig zu sein. […] [Dies erforderte], dass Juden ihr altertümlich-rabbinisches Bewusstsein überwanden […] und stattdessen eine ›monumentale‹ Haltung einnahmen, in deren Mittelpunkt die Größe ihrer glanzvollen Tage im alten Israel stand.«48 Sie gruben selektiv Narrative aus, die Tatkraft und politische Souveränität der Juden betonten, und sagten voraus, dass das Judentum der Diaspora dazu bestimmt sei, von seinen Umgebungsgesellschaften verschlungen zu werden. Das Exilleben besaß für sie somit nur als Durchgangsstadium auf dem Weg zur Erlösung in Zion Legitimität, wo sich das Problem der unvollendeten Akkulturation und mangelhaften nationalen Existenz auflösen sollte. Doch der Begriff des Exils verweist Raz-Krakotzkin zufolge darauf, dass das Judentum nicht ausschließlich als eigenständiger Rahmen verstanden werden kann, unberührt von dem kulturellen Kontext, in dem es existiert und im Exil lebte. Vielmehr wurde der Begriff in Beziehung zu den Umgebungsgesellschaften und -kulturen von Juden geschaffen und geradezu zur Grundlage ihres Selbstverständnisses. Die Situation des Exils war definiert durch das Verhältnis zur nichtjüdischen dominierenden Kultur und der Kritik an ihr, was eine Festigung der Selbstdefinition im Spannungsverhältnis von jüdischen Selbstbildern und nichtjüdischen Wahr46 Zu Achad Ha’ams differenzierter Negation der Diaspora, vgl. Kapitel 1 und Achad Ha’am, Golusverneinung [1909]. 47 Ohana, The Origins of Israeli Mythology, 40. 48  Jacob Golomb, Nietzsche and Zion, Ithaca 2004, 7 f.

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nehmungen ermöglichte. Aus dieser notwendigen Affinität zu den kulturellen Netzwerken, in denen das exilische Judentum existierte, folgt, dass das Wesen des Judentums als geschichtliches Phänomen gerade in der Symbiose besteht, wie Raz-Krakotzkin überzeugend argumentiert. Die zionistische Ablehnung des Exils zugunsten einer Ganzheit scheint daher auf die Forderung hinauszulaufen, diesen symbiotischen Charakter des Judentums abzuschaffen und seine Kultur zu unterdrücken49 – sie bedeutet somit die Ablehnung des Judentums. In der hebräischen Kultur lauerte stets die Vergangenheit des Exils; dessen Sichtbarkeit (oder Unsichtbarkeit) machte es notwendig, die Trennung zwischen dem Hybridisierten und dem Gereinigten rhetorisch zu steuern. Chaim Hazaz ließ in seiner Kurzgeschichte »Die Predigt« (1942), wie in vielen seiner Geschichten, einen predigenden historiosophischen Charakter auftreten, Yudka, der paradoxerweise »kein Mann vieler Worte« ist.50 Als ein beinahe kanaanitischer Protagonist appelliert Yudka an seine »kräftigen und treuen«51 Kameraden in der Hagana – der jüdischen paramilitärischen Organisation, die während der britischen Mandatszeit aktiv war –, den exilischen Charakter des Judentums abzulehnen. Steif und ängstlich verkündet er, dass er keinen Respekt für die jüdische Geschichte hat: Zunächst muss ich sagen, dass wir überhaupt keine Geschichte haben. Das ist eine Tatsache. Und das ist auch … wie soll ich sagen? … mit einem Wort, das ist die Leiche in unserem Keller. Seht ihr, wir haben unsere Geschichte nie selbst gemacht, die Nichtjuden haben sie immer für uns gemacht … also haben sie die Geschichte für uns gemacht, wie sie wollten, und wir haben sie angenommen, ob es uns gefiel oder nicht. Aber unsere war es nicht.52

Yudka zufolge watete diese Geschichte durch Leid, Verfolgung, Massaker, Märtyrertum und Pogrome und bildete die Quelle einer »speziellen, paradoxen, phantastischen, schattenhaften Psychologie«,53 die Juden zur zweiten Natur geworden sei: Das Exil ist unsere Pyramide, ihr Fundament ist das Märtyrertum und ihre Spitze der Messias und… und der Talmud ist unser »Totenbuch«. Mit dem Bau dieser Pyramide haben wir früh in unserer Geschichte begonnen, schon zur Zeit des Zweiten Tempels. Damals fingen wir an, das Fundament zu legen… Exil, Märtyrertum, der Messias… begreift ihr die ganze Tiefgründigkeit dieser fieberhaften, delirierenden, umnachteten Halluzination?54

49 

Raz-Krakotzkin, »Exil innerhalb der Souveränität«, 30 f. Haim Hazaz, The Sermon and Other Stories, New Milford 2005, 233. 51 Hazaz, The Sermon, 233. 52 Hazaz, The Sermon, 235 f. 53 Hazaz, The Sermon, 239 (Hervorhebung im Original). 54 Hazaz, The Sermon, 240. 50 

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Und dies bringt Yudka zu dem Schluss, dass der Zionismus das Ende des Judentums bedeutet: »Ein Mann wird Zionist, wenn er nicht länger Jude sein kann.«55 Ungewiss über die verborgene Wahrheit des Zionismus, der sich durch eine »höchst vage und leere Phraseologie« auszeichnet, beharrt Yudka gleichwohl darauf, er sei »nicht neu, nicht erneuert, sondern anders … ein Bruch, das Gegenteil der Vergangenheit, ein unbelasteter Anfang«.56 Doch paradoxerweise spricht Yudka nicht nur in der »leicht schleppenden Weise eines Juden aus Südrussland«,57 sondern klingt in seiner Rede auch eine Vielstimmigkeit sprachlicher Register und rhetorischer Muster an, gespeist aus dem biblischen und rabbinischen Hebräisch, der Sprache der Kabbala und des Midrasch, jiddischen Einsprengseln und dem unbeholfen-stakkatohaften umgangssprachlichen Hebräisch, das im Palästina der Mandatszeit gesprochen wurde – und all dies widerlegt seine Argumentation in dem Maß, wie es den binären Gegensatz von Zionismus und Diaspora durch einen virtuosen Sprachstil untergräbt, der sich durch seine bloße Präsenz dem hegemonialen Ruf nach sprachlicher Standardisierung widersetzt.58 Tatsächlich konterkariert bereits der Name Yudka – »kleiner Jude«, eine abschätzige, leicht verächtliche Bezeichnung – diese Rhetorik; und während seine Zuhörer kräftige und treue Kameraden sind, die Intellektuelle verachten, wird Yudka selbst als ein aufgewühlter und ängstlicher Exiljude dargestellt, der zugleich wie ein rabbinischer Gelehrter und ein gepeinigter, skeptischer Intellektueller redet. Unter dem Schleier hebraistischer Rhetorik (ein Akt der Reinigung schlechthin und von Yudka selbst als vage und leere Phraseologie bezeichnet) war die Diaspora vor wie nach der Staatsgründung immer schon in die säkularen Konstrukte eingedrungen, besonders in der Musik. Wie das diesem Abschnitt vorangestellte Zitat von Amos Oz illustriert, waren die Melodien immer da; die Liedtexte wurden vielleicht gereinigt oder ideologisch in Beschlag genommen, die Musik aber sickerte unablässig hinein. Während die Negation der Diaspora nie als klar herausgebildete Ideologie formuliert wurde, war die Musik umso immuner gegen derartige nationale Verfügungen. Und während beinahe jedem Unternehmen im Land das Adjektiv »hebräisch« angeheftet wurde, waren ihre jüdischen Ursprünge nur notdürftig verhüllt. Fromme Juden und Juden aus orthodoxen Milieus, die sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts am zionistischen Projekt beteiligten, brachten die Klänge osteuropäisch-jüdischer Musiktraditionen ins Land, sowohl die der Chassidim als auch die ihrer Gegner. So war etwa ein Genre wie der chassidische Niggun 55 Hazaz,

The Sermon, 245. The Sermon, 246–248 (Hervorhebung im Original). 57 Hazaz, The Sermon, 243. 58  Iris Prush/Bracha Delmetzki-Pishler, »›Was machen wir hier?‹ (Eine Neulektüre von ›Die Predigt‹)« (Hebr.), Iyunim Bitkumat Yisrael, 16 (2006): 1–40; Dan Miron, Introduction, in: Hazaz, The Sermon, 1–20. 56 Hazaz,

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(einstimmige vokale oder instrumentale Volksmusik mit oder ohne Text)59 nichts Unbekanntes für viele führende Figuren des sozialistischen Zionismus, die im frühen 20. Jahrhundert Osteuropa verlassen hatten, um eine neue, dem Traditionalismus ihrer dortigen Gemeinschaften entgegengesetzte Gesellschaft aufzubauen. Zudem konnten sich auch diejenigen, die die chassidische Musik aus ideologischen Gründen ablehnten, nicht von den Klanglandschaften ihrer Kindheit und Jugend lösen; intuitiv bewahrten sie osteuropäische Volkslieder entweder in ihrer ursprünglichen Form oder in neuen hebraisierten Versionen. Wie sollte man sonst die flammende Begeisterung (und die kabbalistischen Anspielungen) jener Kibbuz-Mitglieder erklären, die S. Yizhar in der Geschichte »Efraim kehrt zum Alfalfa zurück« (1938) im Speisesaal eine Art Niggun mit den charakteristischen Silben ohne Bedeutung aufführen lässt? Dort heißt es: Und wie angenehm fand es jeder, geduscht und gesättigt einfach nur dazusitzen und – allein oder mit anderen – dasselbe Lied zu singen, von dem alle so begeistert waren, das Lied, das man mal hier, mal dort den ganzen Tag über hören konnte, das zu jeder Art von Arbeit gesungen, gepfiffen, geflüstert oder sanft gesummt wurde. […] Tausend flüchtige Gedanken hatte man in diesem Lied gehört, das zahlreiche Variationen und Änderungen erfahren hatte […] die Liebkosungen des Windes gingen im lauter werdenden Geplauder unter, es schien den Raum kleiner zu machen und die Luft zusammenzupressen, angedeutete Bewegungen und Geräusche verbanden sich zu einem breiten, brummenden Widerhall […] bis das Echo dieses Summens, das nicht verstummt war, unter den Leuten an den Tischen nachhallte und sich wie eine Flamme ausbreitete, zögerlich zunächst, doch endlich loderte es auf und verbreitete sich im Raum. […] Und selbst diejenigen, die nicht mitsangen, summten meditativ mit und stimmten in den Refrain ein, der nur »Ay-ay-ay« lautete – Laute, mit denen sie gegen die Sänger protestierten, die das Tempo beschleunigten und mit voller Geschwindigkeit davongaloppierten, ohne Rücksicht auf die, die bloß die Worte aussprechen und den Rhythmus einhalten wollten. So versanken sie in ihrem Gesang, sie wiederholten das Lied wieder und wieder, ein einziger Triller ließ sie zergehen, der verborgene ›Funke‹ des Gefühls sie dahinschmelzen, sie legten mehr Zartheit und schmachtende Melancholie in die chassidische Weise, die den Duft des »Heimatlandes« ausströmte und nostalgische Träume weckte.60

Chassidische Importe wurden auch von Abtrünnigen der orthodoxen jüdischen Gemeinschaft in Palästina (dem alten Jischuw) verbreitet, auf die ein Teil des heute als hebräisch oder zionistisch bezeichneten Repertoires zurückgeht. Auf dieser Migrationsroute gelangte etwa das berühmte Lied »Hava Nagila« über die Grenzen des neuen Jischuw, wo es zu einem überaus populären »hebräischen« Lied wurde (in einem solchen Maß, dass die Chassidim es aus Protest nicht mehr sangen, handelte es sich doch um einen säkularisierten Niggun). Liederbücher aus den 1920er Jahren wie Idelsohns Liederbuch oder Rosowskys bereits erwähntes »Von den Liedern des Landes« sollten das Leben der neuen 59  In der chassidischen Kultur ist Niggun auch ein Synonym für Musik. Vgl. Yaacov Mazor/Edwin Seroussi, Towards a Hasidic Lexicon of Music, Orbis Musicae, 10 (1990–91): 131. 60  S. Yizhar, Midnight Convoy and Other Stories, London 2007, 4–5.

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Hebräer in Palästina widerspiegeln sowie nationale und sozialistische Werte propagieren, doch beide Herausgeber dokumentierten letztlich kulturelle Kontiguitäten, indem sie Arbeitslieder, Tanzmusik, Lieder aus dem jemenitischen Diwan und chassidische Niggunim 61 ebenso aufnahmen wie Texte, deren sprachliche Register aus biblischen Idiomen und prophetischen Versprechen schöpften. Sofern ideologisch unbedenklich, wurden die Liedtexte einfach ins Hebräische übersetzt, häufiger jedoch vollständig ausgetauscht. Ein Beispiel für die Hebraisierung eines ursprünglich jiddischen Lieds ist »Margaritkelech« (»Gänseblümchen«). Es erzählt die Geschichte der blondgelockten Jüdin Chavale, die auf den Weiden Gänseblümchen pflückt und dort einem dunkelhäutigen, schwarzhaarigen Mann (»a shvartser«) begegnet, der sie bedrängt und überwältigt. Nachdem er fort ist, sitzt Chavale allein im Wald, verletzt, blickt in die Ferne und summt verträumt dieselben Silben, die man auch in die »Die alte kasche« findet: »Tralalala«. Doch im Jischuw diente das Lied dazu, die Jugend mit der örtlichen Flora und Fauna vertraut zu machen und ihre Bindung an das Land zu stärken. In der hebraisierten Version fällt Chavale daher nur noch eine Nebenrolle zu. Die parallele Metonymie von Gänseblümchen und Chavale entfiel, denn diese war nicht mehr blond und hieß nun Bathsheba. Und Bathshebas Spaziergang auf einer männerfreien israelischen Wiese war bloß ein Teil der Kulisse, denn im Mittelpunkt stand nun ein ortstypisches (anthropomorphisiertes) Alpenveilchen, das von der Sonne geküsst und »mit einem rosa Reif verziert« wird (Beispiel 3.2). 62 Die Verwandlung des exilischen »Margaritkelech« in das hebraistische »Alpenveilchen« (Hebr. Rakefet) bewirkte somit eine Enterotisierung des Textes,63 doch die Charakteristika der diasporischen Musik blieben bestehen.

61  Yaacov Mazor, »Vom chassidischen Niggun zum israelischen Lied« (Hebr.), Katedra, 115 (2005): 95–105; Edwin Seroussi, »Ein einziges Fundament. Die Entdeckung des Ostens und die Vereinigung jüdischer Musiktraditionen in den Studien von Abraham Zvi Idelsohn« (Hebr.), Peamim, 100 (2004): 125–146; Shahar, The Eretz Israeli Song and the Jewish National Fund, 78–91; Abraham Zvi Idelsohn, Liederbuch. Sammlung hebräischer und deutscher Lieder für Kindergärten, Volks- und höhere Schulen, Berlin 1912; Rosowsky (Hg.), »Von den Liedern des Landes«. 62  Gila Flam, »Das jiddische Lied und seine Integration in das israelische Lied, oder: Warum ist das Liebeslied verschwunden?«, in Israel Bartal (Hg.), »Ein Jahrhundert israelischer Kultur« (Hebr.), Jerusalem 2002, 251–260. Die zentrale Bedeutung der örtlichen Flora wurde auch durch zahlreiche Illustrationen in Liederbüchern betont, die die Blumen größer darstellten als die sie betrachtenden Menschen. Vgl. Alec Mishory, »Siehe da. Zionistische Ikonen und visuelle Symbole in der israelischen Kultur« (Hebr.), Tel Aviv 2000, 265–268. 63  In anderen Fällen wurden die Texte zu pan-chassidischen Melodien erotisiert. Yirmiahu Rosenzweigs Lied »Im Kornspeicher, bei Mondschein« (1921) zum Beispiel stellt den Speicher in der Landwirtschaftskolonie des Jischuw als einen Ort dar, an dem sich Liebespaare nach der Arbeit trafen. Sein Refrain weist die pan-chassidischen Melodiebögen eines mitsve tants auf, eines improvisierten gereimten Niggun, der in den meisten chassidischen Gemeinschaften die abschließende öffentliche Feier einer Hochzeit eröffnet; vgl. Yaacov Mazor/And-

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Beispiel 3.2: »Rakefet« (»Alpenveilchen«, aus: Levin Kipnis, »Lieder und Spiele für den Kindergarten« (Hebr.), Tel Aviv 1923, 68 (Text: »Unter einem Stein wächst wundersam ein Alpenveilchen / und die glühende Sonne küsst, verziert sie mit einem rosa Reif / lala-la… / verziert sie mit einem rosa Reif«).

j jj j j jj jj j jjj j jjjjj 6 & 8 œj œ œ œ Jœ œJ œJ œJ Jœ œJ œ œjœj œ œ œ œ œ œ œ . œj‰ œj œJ œ œ œ œjœj œ œ œ œ œ œ with movement

Mi - ta - hat la - se-la tso - ma-hat le-fe - le ra - ke - fet neh-me-det me - od,

ve - she-mesh miz-he - ret no - she-ket, o - te - ret, o -

j j j j j j j j j & œj œj œj Jœ Jœ Jœ œ . œ ‰ œj œJ œ œ œj œj œj œ œ œ œ œ œj œj œj œj Jœ Jœ Jœ œ . œ Œ te - ret la ke - ter va - rod.

la

la la la la la la,

la la la, la la

o - te - ret la ke - ter va - rod!

Für Scholem war die Säkularisierung des Hebräischen nur »eine façon de parler, eine Phrase«. 64 Ein Jahr nach seinem Umzug nach Jerusalem und der Aufnahme in die Fakultät der Hebräischen Universität argumentierte Scholem, der bald für eine (von ihm als antikolonial verstandene) binationale Lösung eintrat, um den Zionismus an einer Wende zum Sabbatianismus und der politischen Instrumentalisierung von Religion zu hindern,65 in einem Brief an Franz Rosenzweig (12. Dezember 1926): »Sprache ist Namen. Im Namen ist die Macht der Sprache beschlossen, ihr Abgrund ist versigelt. Es steht nicht mehr in unserer Hand, die alten Namen tagtäglich zu beschwören, ohne ihre Potenzen wachzurufen.«66 Als ein Kabbala-Gelehrter, der die Bedeutungen und Kombinationen von Worten und Buchstaben studierte, sah er in der »›Aktualisierung‹ des Hebräischen« eine unheilvollere Bedrohung des zionistischen Projekts als im Konflikt mit den Arabern. Es sei »schlechthin unmöglich, die zum Bersten erfüllten Worte zu entleeren«, fuhr Scholem fort: Das gespenstische Volapük, das wir hier auf der Gasse sprechen, bezeichnet genau jene ausdruckslose Sprachwelt, in der die »Säkularisierung« der Sprache möglich, allein möglich werden konnte. Überliefern wir aber unseren Kindern die Sprache, die uns überliefert worden ist, machen wir, das Geschlecht des Übergangs, die Sprache der alten Bücher lebendig in ihnen, so daß sie sich an ihnen neu offenbaren kann – muß denn dann nicht die religiöse Gewalt dieser Sprache eines Tages ausbrechen? […] Nun graust es uns manchmal, wenn aus einer gedankenlosen Rede des Sprechers ein Wort der Religion uns re Hajdu, A Hassidic Ritual Dance, the Mitzve Tants in Jerusalemite Weddings, Yuval, 6 (1994): 164–224. 64 Gerschom Scholem, Bekenntnis über unsere Sprache. An Franz Rosenzweig (12.12.1926), in: Walter Grab/Julius H. Schoeps (Hg.), Juden in der Weimarer Republik, Sachsenheim/Stuttgart/Bonn 1986, 148. 65  Amnon Raz-Krakotzkin, »Zwischen Brit Shalom und dem Tempel. Die Dialektik von Erlösung und Messianismus nach Gershom Scholem« (Hebr.), Theory and Criticism, 20 (2002): 105 f. 66  Scholem, Bekenntnis über unsere Sprache, 148.

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erschrickt. Unheilsschwer ist dies Hebräisch: in seinem jetzigen Zustand kann und wird es nicht bleiben […].

Es steht nicht mehr in unserer Hand, die alten Namen tagtäglich zu beschwören, ohne ihre Potenzen wachzurufen. Sie werden erscheinen, denn wir haben sie ja freilich mit großer Gewalt beschworen. […] Jedes Wort, das nicht eben neu geschaffen wird, sondern aus dem »guten alten« Schatz entnommen wird, ist zum Bersten voll. Ein Geschlecht, das die fruchtbarste unserer heutigen Traditionen: unsere Sprache, übernimmt, kann nicht und mag es auch tausendfach wollen, ohne Tradition leben. Jener Moment, wo sich die in der Sprache gelagerte Macht entfalten wird, wo das »Gesprochene« der Inhalt der Sprache, wieder Gestalt annehmen wird, wird jene heilige Tradition wieder als entscheidendes Zeichen vor unser Volk stellen, vor dem es nur die Wahl haben wird: sich zu beugen oder unterzugehen. Gott wird in einer Sprache, in der er tausendfach in unser Leben zurückbeschworen wird, nicht stumm bleiben. 67 Die Dissonanz zeigte sich auch in der von Eliezer Schweid festgestellten ungewöhnlichen Abweichung zwischen dem Namen des Volkes (jüdisches Volk, das Volk Israels) und dem Namen seiner Landessprache, Hebräisch; diese Diskrepanz war insofern paradox, als gerade die Treue zum Hebräischen, in dessen Schichten die gesamte Geschichte der jüdischen Kultur nachhallte, »die hochgradig anormale Situation der jüdischen Nationalität sowie das Ausmaß der Revolution unterstrich, die zur Wiederherstellung sprachlicher Normalität nötig war«. 68 Die Tatsache, dass die sich im Land Israel entwickelnde Kultur nicht den Namen des jüdischen Volkes teilte, »berührte den Kern des nationalen Bewusstseins und das atypische kulturelle und historische Gedächtnis des jüdischen Volkes, dessen Kultur im Exil nicht mit seiner sprachlichen Identität im Einklang stand, die aus seinen frühesten Anfängen stammt«. 69 So hatte das 67 

Scholem, Bekenntnis über unsere Sprache, 148 f. Eliezer Schweid, The Idea of Modern Jewish Culture, Boston 2008, 244. 69 Schweid, The Idea of Modern Jewish Culture, 245. Yoav Gelber fügt hinzu, dass die »Negation der Diaspora« eher aus dem Ansiedlungsrayon importiert als aus dem Jischuw exportiert wurde. Die Kultur des Pioniers (halutz) als Aktivist, Bauer und Krieger – vielleicht der gemeinsame Nenner der meisten zionistischen Fraktionen – war nicht in Israel, sondern im Exil entstanden, wo die Pioniere eine strapaziöse Vorbereitung auf die körperliche Arbeit im Land Israel durchliefen und Hebräisch lernten, bevor sie schließlich nach Palästina gingen. »Ungeachtet der Revolte gegen das Exil war die Kultur der Pioiere exilisch. Es war die hebräische Kultur der osteuropäischen Aufklärung, die dem Zionismus vorausging und von ihm übernommen wurde.« Yoav Gelber, Nation and History. Israeli Historiography between Zionism and Post-Zionism, London 2011, 155 f. Die aus den 1910er und 1920er Jahren stammende Bilderwelt der Einwanderer umfasste Importe aus der russischen Kultur, namentlich das Bild des Kosaken und des unterdrückten ukrainischen Bauern. In Palästina wurden die Züge dieser Figuren auf die dortigen Bauern und auf die arabischen Beduinen projiziert. So wurden die Bilder der an Ausschreitungen beteiligten Menge, die im späten 19. Jahrhundert Juden massakrierte, und die der Araber, die sich bald auf nationalem Kollisionskurs mit dem Jischuw befanden, paradoxerweise konstitutive Elemente der Identität des neuen Juden. Vgl. Israel Bartal, »Kosake und Beduine. Land und Volk im jüdischen Nationalismus« (Hebr.), Tel Aviv 2007, 68 

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(von Scholem in Anführungszeichen gesetzte) Konzept des Säkularismus, wie Christoph Schmidt angemerkt hat, eine ambivalente Bedeutung: Die Ablösung von der rabbinisch-halachischen Religion führte zur politisch interpretierten messianischen Dimension der jüdischen Religion, während die Säkularisierung der jüdischen Kultur – schon vor der mit der Erneuerung der hebräischen Sprache verbundenen Spannung – den politisch-theologischen Abgrund öffnete.70 Theologische Energien und synchrone Formen von Gedächtnis, die durch die nationale Sprache freigelegt wurden, bedrohten die »Negation der Diaspora« – eine Formel, die man besser als rhetorische Stütze für Abgrenzung und Reinigung verstehen sollte. Und was diese rhetorische Reinigung gefährdete, enthüllte zugleich den theologischen Reaktor an der Basis des zionistischen Projekts. Schon kurz nach der Staatsgründung zeigte sich, dass die »Negation der Diaspora« sowohl arabisch-jüdischen Einwanderern (deren Identität in ihren Herkunftsländern auf der Dichotomie von Juden und Nichtjuden aufgebaut hatte) als auch Holocaust-Überlebenden fremd war, doch obwohl der Erfahrungshintergrund der Sabra – der im Land geborenen Israelis – aufgrund der neuen Einwanderungswellen bald nur noch für eine kleine Minderheit der Bevölkerung maßgeblich war, konnte sich das Konzept in den Lehrplänen der Schulen halten. Sie wurden weder der Ungeheuerlichkeit des Holocaust gerecht noch lösten sie sich von einer Literatur, die arabischen Juden einen exotischen Charme zuschrieb oder sie reduktionistisch mit der Wüste assoziierte. Zwar wurde im Unterricht Hazaz’ »Die Predigt« behandelt, doch dass die Intertextualität dieser Geschichte wirklich entziffert wurde, scheint angesichts des dichotomen Charakters der ersten Curricula nach der Staatsgründung zweifelhaft. 1959 wurde auf Empfehlung eines »Ausschusses für Israelisch-Jüdisches Bewusstsein«, der den Auftrag hatte, die Lehrpläne auszuwerten und Schülern eine Unterscheidung zwischen der Negation des Exils und der Negation des diasporischen Judentums (oder der Juden selbst) zu ermöglichen, der negative Begriff des »exilischen Judentums« (yehudei hagolah) durch den des »diasporischen Judentums« (yehudei hatefuzot) ersetzt, da letzteres – ähnlich wie in Achad-Ha’ams differenzierter Negation – als ein ständiges Phänomen galt, das die Existenz des Staates weiterhin begleiten würde.71 Wenig später stellte die durch den Eichmann-Prozess (1961) ausgelöste Konfrontation Israels mit dem Holocaust die Funktion infrage, die das diasporische Judentum in der nationalen Allegorie erfüllt hatte. Einerseits war der Prozess, wie Idith Zertal argumentiert, wesentlich für eine nationale Pädagogik, die auf ein Gedenken des Holocaust »als Metapher« zielte, »als numinose Lehre für die Generation des Staates und die gan68–79; Zerubavel, Memory, the Rebirth of the Native, and the »Hebrew Bedouin« Identity, 315–352. 70  Christoph Schmidt, Introduction, in: ders./Eli Schonfeld (Hg.), God Will Not Stand Still. Jewish Modernity and Political Theology, Jerusalem 2009, 8. 71  Shapira, Whatever Became of »Negating Exile«?, 85–87.

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ze Welt […], dass jüdisches Blut nicht noch einmal schutzlos und entrechtet sein würde«;72 andererseits wurde der Holocaust durch die Zeugen für die israelische Öffentlichkeit als eine menschliche Geschichte zugänglich, deren detaillierte Dokumentation Mythen über Juden und Nazis zerstörte und zu einer Ablehnung des Konzepts der Negation der Diaspora führte.73 Zertal meint, angesichts des weitgehenden Abschlusses der Gründungsphase des Staates, der zunehmenden Ausdifferenzierung und Spaltung der israelischen Gesellschaft sowie des wachsenden Einspruchs gegen die Regierung Ben-Gurions, dessen Amtszeit sich dem Ende näherte, sei es Zeit gewesen »für ein großes Projekt zur Bildung eines […] nationalen Bewusstseins«. Der Eichmann-Prozess habe die günstige Gelegenheit geboten, »mittels der Erinnerung eine erneuerte nationale Einheit zu schaffen«. Als verspätete Antwort auf die Kritik an seinem Umgang mit den deutschen Reparationszahlungen konstruierte Ben-Gurion den Holocaust als Teil des »unvermeidlichen, großen teleologischen Akts der israelischen Erlösung«, wobei der Eichmann-Prozess (den er als ein Schauspiel verstand) eine heilige Erfahrung in der Geschichte Israels offenbaren sollte, forcierte er doch »die ›Heiligsprechung‹ der israelischen Armee, die jetzt als Vollstrecker des letzten, geheiligten Willens der sechs Millionen aufgefasst wurde«.74 Doch die teleologische Verbindung von Leid und Tod in der jüdischen Diaspora mit dem legitimen Machtstreben Israels untergrub auch das Bild des Sabra als des einzig maßgeblichen Modells israelischer Identität. Wie Shapira bemerkt, wurden »die dortigen ›Juden‹ unter dem Eindruck des Prozesses von Angeklagten in Ankläger verwandelt. Und neben der Bewunderung des Heroismus der Ghetto-Kämpfer begann sich eine neue Achtung vor dem stillen Heroismus der Schwachen zu entwickeln.« Zusammen mit der jämmerlichen Erscheinung des Angeklagten, der den Eindruck eines blassen Bürokraten machte, führte dies zu einer Schwächung des Konzepts der Negation der Diaspora. Während er einen Diskurs durcheinander brachte, der sich unter anderem auf eine wörtliche Bibelauslegung und archäologische Funde stützte, die die historischen Rechte der Juden bestätigten, katalysierte der Eichmann-Prozess eine Identifikation mit verdrängten oder ausgesparten jüdischen Geschichten und eine zunehmende Sensibilität für den Holocaust, die kanaanitische oder proto-kanaanitische Ideen untergrub und zugleich ein Schuldgefühl erzeugte.75 Schlussendlich konvergierte die nationale Pädagogik in einer Weise, die Ben-Gurion nicht hatte vorhersehen können, mit einer Rückbesinnung auf das 72  Idith Zertal, Nation und Tod. Der Holocaust in der israelischen Öffentlichkeit, übers. v. Markus Lemke, Göttingen 2011, 157. 73  Anita Shapira, »The Eichmann Trial: Changing Perspectives,« The Journal of Israeli History, 23.1 (2004): 23–35. 74 Zertal, Nation und Tod, 170, 173, 178. 75  Shapira, Whatever Became of »Negating Exile«?, 93 f.; Emmanuel Sivan, The Life of the Dead. Sabras and Immigrants, Studies in Contemporary Jewry, 10 (1994): 164–177.

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diasporische Judentum. In den traumatischen drei Wochen des Abwartens vor dem Sechstagekrieg, als der ägyptische Präsident Nasser Truppen in den Sinai verlegte und Israel einen Vernichtungskrieg androhte, drangen Bilder des Holocaust in den öffentlichen Diskurs ein. Die von »Hass geprägte Rhetorik der anderen arabischen Staatsführer, der Anblick der leeren Straßen in den israelischen Städten nach der Generalmobilmachung der Reservisten […] und das fast vollständige Verschwinden junger Männer im wehrfähigen Alter aus dem zivilen Alltag«76 waren begleitet von – teils unterschwelligen – Verweisen auf den Nazismus und den Holocaust. Das Nichteingreifen des Westens rief das Gespenst des Münchner Abkommens wach, in den Zeitungen war mit unterschiedlicher Subtilität von den »Hitleristischen« Absichten Nassers und dem langen Wag »von Auschwitz in den Sinai« die Rede.77 So wurde der Sechstagekrieg mit einer doppelten Sakralität aufgeladen: der Rettung vor einer großen Katastrophe und der Wiedergewinnung des Landes. Die Einnahme biblischer Stätten konkretisierte sowohl die den hebraistischen Diskurs beseelende Bedeutung der Sprache als auch den in ihm verschlüsselten Expansionismus. Wie Zertal bemerkt: »Dieser späte Sieg über ›Auschwitz‹ auf dem Sinai, der Westbank und den Golanhöhen ermöglichte es, den Staat Israel – ein modernes und rationales politisches Phänomen – durch den biblischen, geheiligten und a-historischen Begriff des ›Landes Israel‹ zu ersetzen und den geheiligten Status des Landes durch die verhinderte Shoah noch weiter aufzuwerten.«78 Die Kriegserinnerungen von Soldaten zeigen, wie die Unterschiede zwischen dem jüdischen Schicksal und Israel verschwanden. So beschrieb ein Soldat die Zeit des Abwartens als »die Tage, in dem wir dem jüdischen Schicksal am nächsten kamen, vor dem wir all die Jahre wie verfolgte Wesen weggerannt waren. Plötzlich redeten alle über München, über den Holocaust, über das seinem Schicksal überlassene jüdische Volk.«79 Ein anderer erinnerte sich, wie er in seinem Transistorradio von der Eroberung Jerusalems erfuhr: »Zum ersten Mal spürte ich nicht das ›Israelische‹, sondern das ›Jüdische‹ der Nation.«80 Somit hatte eine dialektische Rückkehr zur Diaspora stattgefunden, während die zionistische Rhetorik ihre Homologie nicht länger aufrechterhalten konnte. Ähnlich wie Scholem mit Blick auf die hebräische Sprache ein Hervorbrechen ihrer religiösen Kraft erwartet hatte, war es nur eine Frage der Zeit, bis hebraistische Hybride an der Schnittstelle von Religion und Nationalismus die binären Gegensätze von sakral/säkular und Ost/West aus dem Gleichgewicht brachten und einen Zerfall nationaler Ikonen samt ihrer kolonialistischen Untertöne be76 Zertal,

Nation und Tod, 188. Jediot Acharonot, 23.6.1967. 78 Zertal, Nation und Tod, 200. 79  Avraham Shapira (Hg.), The Seventh Day. Soldiers’ Talk about the Six-Day War, London 1970, 22. 80 Shapira, The Seventh Day, 183. 77 

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wirkten. Wie Schenhaw gezeigt hat, zeugte die Vorstellung, dass die Aufgabe des Kriegs von 1948 noch nicht erledigt sei, sowohl von der Theologie in den Fundamenten des jüdischen Säkularismus wie auch von ihrer Leugnung: »Die Reinigung des liberalen Säkularismus von der Theologie zeigt sich am deutlichsten im Narrativ eines Bruchs zwischen dem ›Staat Israel‹ und dem ›Staat Judäa‹«, in dem ein polarisiertes Modell von Nationalismus hervortritt. 81 Die religiös-zionistische Gegenposition jedoch betrachtete den Staat als heilig und erklärte die Kluft zwischen ihrer utopischen Vision einerseits, der widerspenstigen historischen Realität des Kriegs von 1973 sowie der Bereitschaft zu territorialen Kompromissen in seinem Gefolge andererseits, indem sie eine scharfe Trennlinie zog zwischen der a priori gegebenen, unbedingten religiösen Bedeutung des Staates Israel und den flüchtigen Schatten seiner laut Zwi Jehuda Kook bedeutungslosen Regierungen. 82 Hatte Kook bis 1973 jeglichen Vorbehalt gegenüber dem säkularen Charakter des Zionismus (den er selbst als heilig betrachtete) zurückgewiesen, so ging er nach 1973 zu einer »poststaatlichen Rhetorik« (Motti Inbari) über, die das Gebot der Besiedlung des Landes Israel sowie den Vorrang der Tora vor dem Staat betonte.83 Nachdem sich in der Kunstmusik – in Loslösung von einem hebraistischen Bewusstsein, das sich aus allen Aspekten des kulturellen Lebens gespeist hatte – bereits die Praxis des Autoexotismus aufgelöst hatte, streifte sie nun (um Idelsohns Worte über die jüdische Musik in der Diaspora zu paraphrasieren) auch die säkulare Haut ab, die sich auf ihr gebildet hatte – durch die Desartikulation exilischer Kennzeichen, die eine unterschiedliche theologische Kraft besaßen, aber frei von territorialistischen Bestrebungen waren. Der gegensätzliche Charakter der Diaspora und gefilterte theologische Importe überfluteten die reinigende Fassade der Säkularisierung.

Avni: Kontrapunktierende Formen des Gedenkens Ich wurde 1927 im deutschen Saarbrücken als Herman Jakob Steincke geboren und emigrierte im Alter von acht Jahren mit meiner Familie in das britisch verwaltete Palästina. Kurz nachdem wir uns in Haifa niedergelassen hatten, begannen mich die Kinder in unserer Nachbarschaft auszulachen, wenn sie hörten, wie meine Mutter mich Hermann nannte, und so übersetzte sie meinen Vornamen als »Tzvi«. Etwa zur selben Zeit hebraisierte mein Grundschullehrer meinen Nachnamen zu Avni: »Steinke ist kein Name für Eretz Israel«, sagte er. Doch in den 1970er Jahren begannen Autoren und Komponisten dann, ihre hebraisierten Nachnamen mit ihren alten Namen aus der Dias-

81 

Shenhav, Beyond the Two-State Solution, 60 f. Ravitzki, Messianism, Zionism, and Jewish Religious Radicalism, 136. 83  Inbari, Messianic Religious Zionism Confronts Israeli Territorial Compromises, 30–33. 82 

Avni: Kontrapunktierende Formen des Gedenkens

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pora zu verbinden: [der Autor] Jizchak Orpaz wurde Jizchak Averbuch-Orpaz und [der Komponist] Amiran Emanuel wurde Amiran Emanuel-Pougatchov. Tzvi Avni84

Die Erosion der Paradigmen, die die Negation der Diaspora förderten, löste in der israelischen Kunstmusik eine Wiederkehr verdrängter jüdischer Stimmen aus. Im Zuge dieses Prozesses löste sie sich sowohl von den asymmetrischen Anleihen der vorstaatlichen Ära als auch von der Verbreitung eines nationalen Einklangs im Geist des Sozialismus; Linearität und melodische Schichtung schwächten die beiden Prozeduren eigenen hierarchischen Akzentsetzungen zusätzlich. Bei dem Material, das diesen Übergang ermöglichte, handelte es sich weitgehend um Transkriptionen monofoner, nichtwestlicher jüdischer Musiktraditionen, deren syntaktische Konvergenz mit der Linearität serieller Verfahren dem antiromantischen Drang der ersten Jahre nach der Staatsgründung neue Energie gab. Auch wenn die Vertonung von Texten und die kompositorischen Narrative noch hinter den neueren Paradigmen in der Dichtung zurückblieben, erleichterten semantische Verschiebungen aus diesen frühen Jahren dann in den 1960er und 1970er Jahren eine dialektische Rückkehr zu verstummten exilischen Vergangenheiten. In der von Avni im obigen Zitat erwähnten Verbindung hebraisierter und jüdischer Nachnamen verkörpert sich ein in seinem eigenen Werk zu beobachtender Prozess: ein dialektischer Übergang vom Autoexotismus über seine Dekonstruktion durch Linearität hin zu einer neuen Assemblage jüdischer Musikmerkmale und Topoi der osteuropäischen Diaspora, die die Übersetzung politischer Theologie in einen messianischen Territorialismus infrage stellte und zugleich die romantischen Fallstricke eines osteuropäisch-jüdischen Kolorits vermied. An der Israelischen Musikakademie in Tel Aviv von Ben-Haim, Seter und Abel Ehrlich ausgebildet (1955–58), hatte Avni Ben-Haims Autoexotismus verinnerlicht und ging mit linearen Techniken, die er aus Seters und Ehrlichs Kompositionen kannte, zugleich über ihn hinaus. Nachdem er sein Studium am Columbia-Princeton Electronic Music Center bei Wladimir Ussatschewski und in Tanglewood bei Aaron Copland und Lukas Foss fortgesetzt hatte (1962–64),85 schwächte sich Avnis anfangs recht direkte Übernahme zeitgenössischer Kompositionstechniken und pointillistischer Texturen allmählich durch sein modales Verständnis der Zwölftontechnik und eine zunehmende Präsenz osteuropäischer Melodietypen ab, die in größere synthetische Modi oder durch begrenzte Aleatorik verschoben wurden. Während er seine Reihen als Modi und nicht als strenge Matrix behandelte und mu84 

Assaf Shelleg, Interview mit Tzvi Avni (17.5.2012), Abschrift des Autors. Tzvi Avni, »Persönliche Notizen. Ein Leben in der Musik« (Hebr.), Kfar Saba 2012, 53– 58; Miri Gerstel, Avni, Tzvi, in: Oxford Music Online, www.oxfordmusiconline.com/subscriber/article/grove/music/01601; Tzvi Avni, Currents in Contemporary Israeli Music, Ariel, 68 (1987): 82–91. 85 

238

Kapitel 3:  Die 1960er und 1970er Jahre

sikalische wie außermusikalische jüdische Signifikanten aufnahm, schuf Avni synthetische Modi, deren Achsentöne als tonale Zentren gefasst waren und deren osteuropäisch-jüdische Kennzeichen als Ausdruck einer jüdischen Vergangenheit mit der israelischen Gegenwart konfrontiert wurden. Linearität blieb für ihn eher ein kompositorisches als ein narratives Mittel. Im Wissen um die autoexotistischen Praktiken seiner Lehrer war Avni einer der ersten im Land geborenen Komponisten, die mit linearen Verfahren gegen die nationalen Signifikanten verstießen. So weist etwa der erste Satz seiner Ersten Klaviersonate (1961) eine bewusste Verzerrung einer weiteren nationalen Onomatopoesie auf – der Hora, die vor und kurz nach der Staatsgründung in der Kunstmusik wie im Tanz zu einem beinahe obligatorischen Bezugspunkt wurde. Angelehnt an die rumänische Doina und unter Verwendung örtlicher exotischer Choreografien avancierte sie zu einer der augenfälligsten nationalen Ikonen, indem sie durch »schwungvolle, schnelle Rhythmen, die das jugendliche Wiedererwachen des Landes symbolisierten«, ein Porträt der Nation bot. 86 »Die Hora war nicht nur ein Volkstanz«, erinnerte sich der Choreograf und Komponist Levi-Tanai, »sondern eine Offenbarung und ein Ausbruch von Liebe, die sich über das Elend von Hunger und Malaria legte und es transzendierte.«87 Sie drückte das Kulturverständnis der aus Osteuropa stammenden politischen und kulturellen Elite des Jischuw aus und gewann ihr hebraistisches Gewand aus vier Quellen: dem osteuropäischen Kreistanz, dem chassidischen und dem jemenitischen Tanz sowie der arabischen Dabke.88 Eine ihrer frühesten symphonischen Adaptionen im Jischuw findet sich in der Klimax von Marc Lavrys Werk Emek (»Tal«, 1937), das die akustischen Hauptsignifikanten der Hora in den Vordergrund rückte. Lavry, der in Lettland geboren und 1935 nach Palästina emigriert war, befürwortete eine Popularisierung der Kunstmusik durch wohlklingende Melodien und versuchte bewusst, die Grenze zwischen Kunst- und Volksmusik zu verwischen; entsprechend komplementierte seine Formulierung die Choreografie des Kreistanzes, der Schulter an Schulter aufgeführt wird und so eine Metonymie für den Kollektivismus des Jischuw bot. Wie Oz Almog ausführt, vermittelte die Hora mehrere sich ergänzende ideologische Botschaften: »Sie drückte das Erfordernis aus, sich gegenseitig zu stärken und im Angesicht von Schwierigkeiten gemeinsam gestärkt zu werden. Sie symbolisierte die zentripetale Anziehung des Einzelnen durch den gemeinschaftlichen Kreis und seine Assimilation an eine vereinte, gleichsam chassidische Gemeinschaft.«89 Dass die Tanzenden einen geschlossenen Kreis bildeten und sich an den Händen hielten, stand für die sozialis86 

Ruth Eshel, Concert Dance in Israel, Dance Research Journal, 35.1 (2003): 62. Levi-Tanai, From Street Urchin to International Acclaim. A Personal Testimony, in: Judith Brin Ingber, Seeing Israeli and Jewish Dance, Detroit 2011, 27. 88  Zvi Friedhaber, »Jüdischer Tanz. Aufsätze« (Hebr.), Haifa 1968, 46–51. 89  Oz Almog, The Sabra. The Creation of the New Jew, übers. v. Haim Watzman, Berkeley 2000, 234. 87  Sara

Avni: Kontrapunktierende Formen des Gedenkens

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tischen Werte des Jischuw und eine unauflösliche Kette der jüdischen Generationen, ausdrücklich als solche benannt im Text des Hora-Lieds »Die Kette geht noch immer weiter« (»Ki od Nimshekhet Hashalshelet«), den der Dichter Ya’akov Orland geschrieben hatte. Anlässlich der Gründung von Siedlungen wurden wilde Horas gewöhnlich barfuß getanzt, um eine starke Bindung an das Land auszudrücken, wie Almog argumentiert,90 doch in diesem Fluss von Hybridisierung und Reinigung schwangen auch Territorialismus und Auslöschung sowie der Keim des Expansionismus der Arbeitspartei spürbar mit. In My Life with Ishmael (aus dem das Zitat stammt, das dem ersten Abschnitt dieses Kapitels vorangestellt ist) schildert Moshe Shamir, wie er den Durchbruch zu den ersten Siedlungen im westlichen Obergaliläa erlebte, der die zionistische Antwort auf den arabischen Aufstand darstellte: Nicht der Schatten eines Zweifels trübte unsere Begeisterung, als wir mit den ersten Siedlern die Höhe bei Eilon und Hanita erklommen, von der sich ein atemberaubender Panoramablick auf Ober- und Westgaliläa bietet. Nicht einer von uns fragte sich, was das alles mit uns zu tun hatte, als wir uns dem Kreis der Hora Tanzenden anschlossen, im arabischen Dorf Juara, das sehr bald [der Kibbuz] Ein-Hashofet wurde. Wir durchquerten im Laster arabische Dörfer, beladen mit Ausrüstung, Eisen, Holzplanken, wir fuhren über ihre Wege, und niemand von uns sah darin etwas anderes als die natürliche und notwendige Rückkehr von Söhnen in das Land ihrer Väter, das sie in seiner Trostlosigkeit erwartete.91

Lavrys onomatopoetische Formulierung, die ein zugängliches Musikvokabular verwendete und sich durchgängig auf bekannte musikalische Muster und außermusikalische nationale Topoi bezog (Emek war ein Beiname der Jesreelebene), definierte das Individuum ausschließlich durch seinen Platz im Kollektiv und belegte so ein organisches Verständnis der Beziehung des Einzelnen zu der größeren Konstellation, in der er eine Funktion erfüllt. Hans Nathan charakterisiert diesen Einklang sowie die entzifferbaren musikalischen und choreografischen Anspielungen als »eine von Anfang bis Ende durchgängige Steigerung von Tempo und Lautstärke mit provokanten Synkopierungen und männlich-kraftvollen Akzenten«.92 Hirshberg zufolge war der Hora-Teil in Emek gekennzeichnet durch »kurze symmetrische Phrasen im Viervierteltakt, regelmäßig wiederholte synkopierte Rhythmen, geradlinige Phrasen, kurze melodische Motive von kleinem Umfang, Vermeidung von Leittönen und eine einfache diatonische Harmonie mit offenen Quinten, die die Dur- und Moll-Dreiklänge ersetzen« (Beispiel 3.3).93 Es war eine klassisch sozialistische Interpretation des 90 Almog,

The Sabra, 234. My Life with Ishmael, 21; vgl. auch Anita Shapira, Yigal Allon, Native Son. A Biography, übers. v. Evelyn Abel, Philadelphia 2008, 90 f. 92  Hans Nathan (Hg.), Folk Songs of the New Palestine, New York 1938/39; Philip V. Bohlman, Folk Song, National Song, in: Hans Nathan (Hg.), Israeli Folk Music. Songs of the Early Pioneers, Madison 1994, 40 f. 93 Hirshberg, Music in the Jewish Community, 258. 91 Shamir,

240

Kapitel 3:  Die 1960er und 1970er Jahre

Beispiel 3.3: Marc Lavry, Emek (1937), T. 196–208 (Hora-Teil, Klavierauszug).

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241

Avni: Kontrapunktierende Formen des Gedenkens

Beispiel 3.4: Josef Tal, Hora (1949), Eröffnung. Molto vivace e = 168

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Ganz ähnlich wie Lavrys und Ben-Haims Modelle war Avnis Hora ein stilles Modul; Avni verzichtete auf einen verstärkenden Titel und vertraute darauf, dass 94  Boskovich,

»Probleme eigenständiger Musik in Israel« (Hebr.), Alexander Boskovich Collection, NLI, MUS 37 C3.

242

Kapitel 3:  Die 1960er und 1970er Jahre

Beispiel 3.5: Tzvi Avni, Erste Klaviersonate (1961), I, T. 32–49.

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sich seine rhythmischen Anspielungen im gegebenen kulturellen Raum von selbst erklären würden, doch anders als die frühen Prototypen von Lavry und Ben-Haim schöpfte er aus den Offbeats der Hora, während er den traditionellen erlösenden Schluss des Werks aussparte. Stattdessen bildet der Volkstanz im ersten Satz seiner Klaviersonate von 1961 den Ausgangspunkt für ein Arrangement, das das Muster der Hora konnotiert und zugleich verfremdet – durch

Avni: Kontrapunktierende Formen des Gedenkens

243

Beispiel 3.6: Die am weitesten verbreitete Skala der Hora lung˘a (der erste und der letzte Ton dienen als Anacrusis Appoggiatura; laut Bartók taucht auf der vierten und fünften Stufe häufig ein Ton mit vermittelnder Höhe auf).

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exotische Musikmerkmale, kleine heterofone Spaltungen und eine bewusste Vernachlässigung der Führung durch vertikale Dreiklänge, geprägt durch scharfe, bissige Dissonanzen und Taktwechsel, die die bekannten Gesten verwischen, während sie gelegentlich zu Einklängen zusammen- und wieder auseinanderfließen (Beispiel 3.5). Bereits 1961 war der junge Avni somit imstande, den Autoexotismus seiner Lehrer bis zum Punkt der Verzerrung zu steigern. Doch auch die Hora, von den politisch und kulturell dominierenden Aschkenasim nach Palästina importiert, hatte eine verschleierte diasporische Vergangenheit. Béla Bartók hatte 1913 in den Dörfern des rumänischen Bezirks Maramures¸ die Hora lunga˘ (Plural: hore) erforscht, ein improvisierter nichtzeremonieller Liedtypus (auch Doina genannt), dessen Charakteristika – Improvisation, Sologesang mit instrumentalem Charakter und Fehlen einer festen Form – er von neueren Hora-Liedern unterschied, die sich durch üppige Melodien und eine festgelegte Form auszeichneten. Die von ihm transkribierten Hore lunga˘ waren Varianten einer einzigen Melodie, deren improvisierte Darbietung je nach Stimmung der Beteiligten schwankte. Der melodische Ausdruck solcher Schwankungen modifizierte die dritte und vierte Stufe des Pentachords des Lieds, der so ein Dur-, Moll-, lydischer oder ukrainisch-dorischer Pentachord wurde (Beispiel 3.6). Die neueren, seit der Mitte des 19. Jahrhunderts sich verbreitenden Hora-Lieder besaßen dagegen eine feste Form, bestehend aus vier Melodiezeilen und einer rhythmischen Formel aus gleichmäßigen Achteln, die in einer Vielfalt von Variationen gewöhnlich in Muster aus punktierten Achteln und Sechzehnteln verwandelt wurden (und mitunter sogar zu Triolen »erschlafften«), wie es laut Bartók für die neuere ungarische Musik charakteristisch war.95 Solche Gruppierungen waren eine der Hauptquellen für die Synkopierungen der israelischen Hora. Lavrys Akzentuierung der Offbeats war eines ihrer allgemeinen Kennzeichen geworden, während übermäßige Sekunden zwecks Verwischung der diasporischen Konnotationen, die im Erlösungsbogen von Emek keinen Platz hatten, zu großen oder kleinen gestutzt wurden. Eine ähnliche Einstellung zur Diaspora zeigte sich in israelischen Volkstänzen; wie Ruth Eshel schreibt, war »die jüdisch-osteuropäische Gemeinschaft zwar auch ein Thema, das dazu diente, eine Verbindung zum jüdi95  Bela Bartók, Volksmusik der Rumänen von Maramures ¸ , München 1923, VIII-XIX; Jay Rahn, Text-Tune Relationships in the Hora Lunga Versions Collected by Bartók, Yearbook of the International Folk Music Council, 8 (1976): 89–96.

244

Kapitel 3:  Die 1960er und 1970er Jahre

schen Erbe auszudrücken, aber die meisten Tanzenden betrachteten dies negativ als ein Symbol der Diaspora«.96 Es gab aber noch weitere jüdische Quellen. Paul Nixon stellt fest, dass »[i]nstrumentale Doina-Improvisationen von verschiedenen stigmatisierten Gruppen geteilt wurden, wie die lange übliche Praxis von Klezmorim belegt, gemeinsam mit Zigeunern auf christlichen Hochzeiten in Mittel- und Osteuropa zu musizieren«.97 Mazor und Seroussi erkennen in der Hora einen Niggun rikkud (Tanzlied) mit klar definierten musikalischen Charakteristika: Zweiertakt, schnelle Tempi ( | = 120–168) und festgelegte zweiteilige, dreiteilige oder ABCB-Formen.98 Zur Ähnlichkeit der chassidischen Hora und der im Jischuw verbreiteten bemerkt Almog, dass beide Tänze vergleichbaren sozialen und psychologischen Zwecken dienten, nämlich einer bis zur körperlichen Selbstaufgabe reichenden Assimilation des Individuums ans Kollektiv: »Der Pionier imitierte den chassidischen Tänzer beinahe vollständig: Er schloss die Augen, wackelte mit dem Kopf, stampfte immer schneller auf den Boden, sang laut […] bis zum Punkt der Heiserkeit oder des Stimmversagens, wobei er zur Verstärkung seines glühenden Eifers ein Taschentuch über dem Kopf schwenkte.«99 Und während Lavrys Formulierung den ukrainisch-dorischen Melodietypus einebnete, fanden sich in den Hora-Kapiteln von Volksliederbüchern aus den 1930er Jahren durchaus osteuropäische Melodietypen und pan-chassidische Charakteristika des Niggun rikkud.100 Nachdem sie bereits in der ersten Zeit nach der Staatsgründung erodiert waren, veränderten hebraistische Dichotomien, die vormals die Trennung zwischen Übersetzung und Reinigung aufrechterhalten hatten, nun das Verhältnis zwischen Religion und Nationalismus und ermöglichten es dadurch künstlerischen Hybriden, sichtbarer und weniger verschleiert aufzutreten. Wie andere Gestalten der nationalen musikalischen Onomatopoesie erwarb sich die Hora allmählich einen Platz in der Nostalgie-Industrie des Landes und büßte ihre Autorität als nationaler Signifikant ein, während sie sich in musikalisch verwässerte Formen ausbreitete. Im kulturellen Interregnum zwischen der Desartikulation der nationalen musikalischen Onomatopoesie durch Komponisten und der Wiederkehr nunmehr von ihren nationalen Funktionen abgelöster jüdischer Topoi zeigte sich der Rückgriff auf die aschkenasische Klanglandschaft nirgends deutlicher als in Avnis Werken der späten 1960er bis in die späten 1970er Jahre. Nachdem seine Erste Klaviersonate die Hora durch eine lineare, nicht auf

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96 

Eshel, Concert Dance in Israel, 62. Nixon, Hora lunga, in: Grove Music Online, Oxford Music Online, www.oxford musiconline.com/subscriber/article/grove/music/13339. 98  Mazor/Seroussi, Towards a Hasidic Lexicon of Music, 133. 99 Almog, The Sabra, 234. Zur theurgischen Kraft der Musik in der chassidischen Kultur, vgl. Yaakov Mazor, »Die Funktion des Niggun im chassidischen Leben und Denken« (Hebr.), Yuval, 7 (2002): 23–53. 100  Vgl. etwa Jacob Schönberg (Hg.), Shirei Erez Israel, Berlin 1935, 185–205; Rosowsky (Hg.), »Von den Liedern des Landes«. 97  Paul

Avni: Kontrapunktierende Formen des Gedenkens

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Dreiklängen basierende Harmonie und übersteigerten Autoexotismus infrage gestellt hatte (Beispiel 3.5), war er 1968 dazu übergegangen, Kennzeichen der osteuropäisch-jüdischen Musik durch die Aleatorik Lutosławskis eine neue Gestalt zu geben und, wichtiger noch, lineare Erlösungsbögen aufzubrechen. Dies galt auch für seine Komposition Jerusalem of the Heavens (1968) für gemischten Chor und Orchester, eine Vertonung von soharischen Texten auf Aramäisch, die mühelos die Euphorie nach 1967 hätte infrage stellen und sogar über den idiomatischen und narrativen Kollaps am Ende von Seters Midnight Vigil hinausgehen können, wäre sie nicht Teil eines größeren Projekts gewesen – nämlich der sechste von sieben Teilen des Zyklus Jerusalem, geschrieben von fünf Komponisten im Auftrag der Testimonium-Stiftung für deren erste Veranstaltung im Jahr 1968. Kein anderes musikalisches Unternehmen reflektierte in so großem Stil die Vereinigung der Stadt. Jerusalem bot das Potenzial, sich mit jener Stadt auseinanderzusetzen, die »mit ihren Namen Verstecken« spielt (wie es im weiter oben zitierten Gedicht von Amichai heißt),101 und sogar ihre vielen Geschichten zu polyfonisieren. Die sieben Teile waren das Präludium nach den Visionen Abrahams und Jesaja 23 (Sergiu Natra), David baut Zion nach einzelnen Worten und Sätzen aus dem 2. Buch Samuel (Jizchak Sadai), Die Zerstörung Jerusalems nach der Baruch-Apokalypse aus den Apokryphen (Avni), Nehemia baut den Zweiten Tempel nach Versen aus dem Buch Nehemia (Sergiu Natra), Die Himmelfahrt Mohammeds, eine Gegenüberstellung der gleichnamigen Legende und ihrer koranischen Rezitation, der hebräischen Übersetzung und einer Rezitation des Sibyllinischen Orakels (Yehoshua Lakner); Avnis erwähnte Komposition nach soharischen Versen aus dem Schelach Lecha (Avni) und Psalm für Jerusalem, die instrumentale Coda des Zyklus (Roman Haubenstock-Ramati). Vernäht wurden die einzelnen Teile durch diverse rezitierte Texte, die die Gründerin der Testimonium-Stiftung, Recha Freier, zusammenstellte.102 Freier, eine Autorin und Dichterin, die in Berlin die Kinder- und Jugend-Alija organisiert hatte,103 hatte die Stiftung 1966 zusammen mit Haubenstock-Ramati gegründet, einem polnisch-jüdischen Komponisten, der von 1950 bis 1956 in Israel lebte und dann nach Österreich auswanderte. Mit der Stiftung wollten sie einen Raum schaffen, der »dem künstlerischen Gedenken historischer Motive, die die jüdische Vergangenheit verkörpern, verpflichtet ist – Leid, Sehnsucht nach Erlösung, heroisches Durchhaltevermögen und unbezwingbarer Glaube«.104 Rivka Schatz-Uffenheimer, damals Professorin für jüdische Mystik an der Hebräischen Universität Jerusalem, wurde gebeten, die 101 

Jehuda Amichai, Jerusalem 1967, 94. Benjamin Bar Am (Hg.), 20 Years of Israeli Music, Tel Aviv 1968, 49–65. 103  Recha Freier, Let the Children Come. The History of Youth Aliya, London 1961. 104  Testimonium 1968: Jerusalem, Konzertprogramm, NLI, MUS11 E1; Don Harrán, Israel. Highlights of the Year 1968–69, Current Musicology, 10 (1970): 41 f.; ders., Israel: Testimonium II, 1971, Current Musicology, 15 (1973): 38. 102 

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Kapitel 3:  Die 1960er und 1970er Jahre

Texte für die einzelnen Kompositionen auszuwählen, die zwischen ihnen vorgetragenen Texte stellte Freier zusammen. Doch während Schatz-Uffenheimer Passagen aus dem Sohar und den Apokryphen verschränkte – Quellen, die der Zionismus weder verwendete noch säkularisierte –, sollten Freiers Verse, von mittelalterlichen jüdischen Aufzeichnungen bis zu aktuellen israelischen Quellen, eine nationale Chronik darstellen, die in den militärischen Eroberungen im Sechstagekrieg und der Vereinigung Jerusalems kulminierte. Freiers Texte beherrschten den gesamten Zyklus; sie färbten auf die von Schatz-Uffenheimer zusammengestellten Quellen ab und affizierten sogar Einzelkompositionen, die andernfalls national verwaist hätten wirken können. Jerusalem als Ganzes wurde dadurch das Erlösungsgefühl aufgezwungen, das die Stiftungsgründer vermitteln wollten: Von Abrahams und Jesajas Prophezeiungen der Restauration (Präludium) über Aufbau und Zerstörung Jerusalems (David baut Zion; Die Zerstörung Jerusalems) und Avnis Komposition, die von Texten über Pogrome im Mainz und Worms des 11. Jahrhunderts (während des Ersten Kreuzzugs) eingeklammert war, hin zu verblassenden Bildern Sabbatai Zwis, den gefallenen Soldaten des Sechstagekriegs und weinenden Fallschirmjägern an der befreiten Klagemauer – eine buchstäbliche Bestätigung der Botschaft von Yudkas Predigt, die jüdische Geschichte kenne »keine Abenteuer, keine erobernden Helden. […] Sie kennt nur eine Masse geschlagener, ächzender, weinender, bettelnder Juden.«105 Das Libretto hatte weniger mit Amichais Gedanken eines historischen Gleichgewichts zwischen den Namen der Stadt gemein als mit Shamirs Argument, »die Heiligkeit Jerusalems und praktisch jedes Stücks seines heiligen Bodens« seien »mit der jüdischen Geschichte der Stadt« verbunden; Shamir ging sogar so weit zu behaupten, alle Moscheen, alle mit dem Kreuz versehenen Türme und goldenen Dome der Altstadt seien »wie eine Kette von Signaturen, Siegel an Siegel, die die Schriftrolle des Rechts der Juden in der Stadt bestätigen«.106 Die jüdischen Geschichten Jerusalems, die außerhalb von Freiers erlösender Anordnung um Sichtbarkeit konkurrierten, wurden in eine nationale Pädagogik hineingepresst, die an die Ben-Gurions erinnerte; aneinandergereiht konnten sie von Eingeweihten (und gewiss von denen, die von Freiers Engagement in Nazi-Deutschland wussten) als Vorläufer des von ihr nicht erwähnten Holocaust gelesen werden. Diese historische Linearität dämpfte somit die linearen Kompositionstechniken, die sie als den bestimmenden außermusikalischen Mechanismus hätten außer Kraft setzen können; anders formuliert: Die zeitgenössischen Importe, die im Bewusstsein der Gefahr nationaler Romantik erfolgten und ästhetisch weit entfernt waren von den Kompositionen und Liedern, die Israels Ekstase nach dem Sechstagekrieg

105 Hazaz,

106 Shamir,

The Sermon, 237. My Life with Ishmael, 107, 109.

Avni: Kontrapunktierende Formen des Gedenkens

247

entsprachen,107 prallten offenkundig mit einer auratischen Feier des ersten Jahrestages dieses Kriegs aneinander, den die Organisatoren nun in die Annalen der jüdischen Geschichte einpassten (deren Gehalt sie weiter zu bändigen suchten). Die teleologische Gesamtanordnung drängte die Formulierungen der einzelnen Kompositionen spielend in den Hintergrund. Avnis Jerusalem of the Heavens, die Klimax des Zyklus, endet mit der quadrofonen Übertragung rezitierter Texte durch mehrere Sprecher (live und vom Band) vor dem Hintergrund aleatorischer Formeln in den Streichern. Der dürftige literarische Wert des Textes – ein Durchgang durch neunzehn Jahrhunderte jüdischer Existenz, dargestellt als eine lange Nacht –, wurde nur teilweise durch den akustischen Effekt aufgewogen; indem es rasch zur Vereinigung Jerusalems voranschritt, reduzierte Freiers Narrativ den Krieg von 1948 auf die Überreste gepanzerter Fahrzeuge bei Bab al-Wad (oder Sha’ar Hagai) – der schmalen Straße, die durch die judäischen Hügel hinauf nach Jerusalem führt und von der aus offensive Operationen den Weg nach Jerusalem öffneten. So wurde 1948 als ein Vorspiel zu 1967 dargestellt: »Sha’ar Hagai / Überreste gepanzerter Fahrzeuge / in Sha’ar Hagai / Überreste gepanzerter Fahrzeuge / die Gefallenen, die die Straße nach Jerusalem öffneten / die Fallschirmjäger, die die Klagemauer eroberten, lehnten sich an sie und weinten.«108 Der letzte Satz stammte aus der historischen Rede von Jizchak Rabin, dem damaligen israelischen Generalstabschef, auf dem Skopusberg, wo ihm am 28. Juni 1967 die Ehrendoktorwürde der Hebräischen Universität von Jerusalem verliehen wurde (die Wiederaufnahme des Lehrbetriebs auf dem Berg markierte eine weitere Rückkehr an einen Ort der vorstaatlichen Zeit). Dieser Bezug konnte kaum jemandem entgehen, zumal vom Band die Originalstelle aus Rabins Dankesrede eingespielt wurde – die Gründer der Testimonium-Stiftung platzierten sie am Ausklang von Avnis Jerusalem of the Heavens. »Vielleicht hat das jüdische Volk nie gelernt, die Freude des Besatzers und des Siegers zu empfinden«, hatte Rabin vom Skopusberg herab erklärt (»diesem altehrwürdigen, wunderschönen Ort, von dem aus man über unsere Ewige Hauptstadt blickt«) und damit, wie Segev bemerkt, eine moralisch-politische Grundsatzerklärung abgegeben, die suggerierte, die Armee sei die Quelle moralischer Werte und Krieg ein Ausdruck menschlicher Größe. »Viele Beobachter verstanden Rabins Worte als eine Rechtfertigung der Besetzung«, schreibt Segev.109 Freiers teleologische Akzentuierung von Märtyrertum, Verfolgung, Souveränität und Erlösung machte Jerusalem zur zufälligen Begleitmusik zur Geschichte der Nation, in der Jerusalem of the Heavens eine bloße Stufe darstellte. 107  Vgl. etwa Dalia Gavriely-Nuri, The Social Construction of »Jerusalem of Gold« as Israel’s Unofficial National Anthem«, Israel Studies 12.2 (2007): 104–120. 108  Transkribiert nach der Tonaufnahme der Premiere (30.7.1968), NSA, CD 04386A. 109  Tom Segev, 1967. Israels zweite Geburt, übers. v. Helmut Dierlamm, Hans Freundl u. Enrico Heinemann, München 2007, 524.

248

Kapitel 3:  Die 1960er und 1970er Jahre

Der soharische Text zu Avnis Komposition kommentiert, was geschah, nachdem Moses Kundschafter in das Land Kanaan entsandt hatte (4. Moses, 13–14). In der Bibelgeschichte bestätigen die Kundschafter die Fruchtbarkeit des Landes, aber »sie brachten unter den Söhnen Israel ein böses Gerücht über das Land auf, das sie ausgekundschaftet hatten, und sagten: Das Land, das wir durchzogen haben, um es zu erkunden, ist ein Land, das seine Bewohner frisst; und alles Volk, das wir darin gesehen haben, sind Leute von hohem Wuchs; auch haben wir dort die Riesen gesehen, die Söhne Enaks von den Riesen; und wir waren in unseren Augen wie Heuschrecken, und so waren wir auch in ihren Augen.« (13:32–33). Dieser Bericht löst eine Klage der Israeliten wider Gott aus, der sie daraufhin verurteilt, vierzig Jahre in der Wüste auszuharren, auf dass sie dort verenden (»In dieser Wüste sollen eure Leichen fallen, ja, alle eure Gemusterten nach eurer ganzen Zahl, von zwanzig Jahren an und darüber, die ihr gegen mich gemurrt habt«, 14:29), während er der folgenden Generation den Einzug in das Land erlaubt und so beweist, wie Alter bemerkt, »dass es nicht göttliches Unvermögen war, was den älteren Israeliten den Einzug in das Land verwehrte«.110 Der von Schatz-Uffenheimer für Avnis Jerusalem of the Heavens ausgewählte Kommentar aus dem Sohar verkündet die Erlösung der Toten der Wüste (metey midbar): Sie gingen in einen weiteren Garten und sahen dort, wie Menschen Gräber aushoben und sofort starben und mit heiligen, glänzenden Leibern wieder auferstanden. »Was bedeutet dies?«, fragten sie. Er [Rabbi Ilai] antwortete: »Sie tun dies jeden Tag. Sobald sie im Staub liegen, verschwindet der böse Makel, der ihnen einst zuteil wurde, und sie erheben sich in neuen und glänzenden Leibern, in den Leibern, in denen sie am Berg Sinai standen.«111

Angesichts der aramäischen Aura und des auf Erlösung gerichteten Metanarrativs des Gesamtzyklus Jerusalem wurde diese Passage aus dem Sohar in derselben buchstäblichen Weise gelesen, in der Zionisten die Bibel gelesen hatten. Schatz-Uffenheimers Textauswahl hatte somit den Effekt, die Toten der Wüste aus dem Schwebezustand zu erlösen, in den sie in Kapitel 14:29 (oben zitiert) eingesperrt sind; sie schütteln ihre exilische Lähmung ab und werden gesegnet, so wie von Moses vor der Begegnung mit Gott am Berg Sinai (Exodus 19:14).112 Am Ende des Zyklus war der Berg Sinai praktisch ein Synonym für den Skopusberg geworden. Avni eröffnet Jerusalem of the Heavens mit einem Ostinato, das möglicherweise eher das dauerhafte Schicksal der Toten der Wüste als ihre Erlösung aus110 Alter,

The Five Books of Moses, 752. The Zohar [Shelach Lecha, 162b], übers. v. Maurice Simon u. Harry Sperling, London 1970, 234. 112  Tatsächlich war es Schatz-Uffenheimer, die Jahre später schrieb, dass »unsere Kultur messianisch ist und der Zionismus eine neue Phase in dieser Kultur. […] Die Affinität der beiden [Zionismus und Messianismus] ist ein Geburtsfehler.« Rivka Schatz-Uffenheimer, »Zionismus ist Messianismus« (Hebr.), Nekuda, 145 (1990): 28. 111 

249

Avni: Kontrapunktierende Formen des Gedenkens

Beispiel 3.7: Avni, Jerusalem of the Heavens (1968), T. 75–78. Flute 1

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drückte; das Ostinato verbindet sich mit einer Reihe wiederkehrender Motive, von einer choralen Sprechstimme bis zu schrillen aleatorischen Vokalglissandi, die ungeachtet der Entfaltung des Libretto ständig einen Szenenwechsel bewirken. Allmählich erfährt die Eröffnung eine melodische und harmonische Konsolidierung, doch unter der unmittelbaren Oberfläche einer politisch-theologischen Linienführung tritt das Hauptmotiv hervor – eine zwischen fixen und elastischen Formulierungen pendelnde Zwölftonreihe (Beispiel 3.7), ein Modus, dessen Herauskristallisierung mit der Eröffnungsphrase des zweiten Auszugs aus dem Sohar zusammenfällt: »Wasser fließt aus einem Quell im Osten« (»Chad

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Kapitel 3:  Die 1960er und 1970er Jahre

ma’yana d’maya d’navia mistar mizrach«, Schelach Lecha, 165a). Dieser Fluss (wie in Ezechiel 47:1 erwähnt: »Dann führte er mich zum Eingang des Tempels zurück und ich sah, wie unter der Tempelschwelle Wasser hervorströmte und nach Osten floss; denn die vordere Seite des Tempels schaute nach Osten«)113 führt einen anderen Osten mit sich: einen umgestalteten osteuropäischen Melodietypus, eingelassen in eine Zwölftonreihe, deren letzter Tetrachord eine verschobene erhöhte Quarte verdeckt (Ais–H–Es–C; schließlich löst Avni diese Andeutung durch die Wiedereinführung des A auf, des ersten Tons der Zwölftonreihe). Im Harfenpart geht ein Toncluster, das einen osteuropäischen Melodietypus anklingen lässt (Beispiel 3.7, T. 76), in ein verschobenes Aggregat aus sechs Tönen über, in dem zwei Melodietypen, die auf D–Es konvergieren, aber jeweils auf einer anderen Stufe beginnen, ineinandergeschoben sind (B–Cis–D– Es und D–Es–Fis–G; Beispiel 3.7, T. 77). Obwohl Avni die beiden Aggregate durch ihre Platzierung an den zwei Enden der Glissandi verdunkelte, legt sein Entwurf eine modale Wahrnehmung der angedeuteten Melodietypen nahe, deren Zusammenführung in einem horizontalen Fluss die Unterschiede zwischen ihnen verwischt. Tatsächlich könnte man sie für sich genommen als modale Verschiebung des jeweils anderen betrachten. Jerusalem of the Heavens umfasste wenige melodische Formulierungen dieser Art, doch was hier aufschien – unter einer erdrückenden, von den Pogromen der Kreuzfahrer zur Befreiung der Klagemauer führenden Teleologie –, nahm die Verschiebung und Umgestaltung jüdischer Musikmerkmale in Avnis Zweiter Klaviersonate, Epitaph (1974–79), vorweg. Bevor dies möglich war, mussten seine jüdische Importe jedoch zunächst dem Wechselspiel mit einem anderen jüdischen Kennzeichen ausgesetzt werden: dem jiddischen Lied »Die alte kasche« (dem wir damit zum vierten Mal in diesem Buch begegnen), das Avni im zweiten Satz von Five Pantomimes (1968), »Chagall, I and the Village« (nach Chagalls berühmtem Bild von 1911), anklingen ließ. Im Unterschied zu Ravels oktatonischer Reharmonisierung des gesamten Lieds ließ Avni es nur auszugsweise inmitten begrenzt aleatorischer Verfahren aufblitzen. Doch wenngleich das ursprüngliche Lied weitgehend unerkennbar blieb, war »Die alte kasche« für Avni der Anstoß, osteuropäische Melodietypen umzugestalten. Wie in den ersten zwei Takten zu sehen, eröffnet der erste ad libitum gehaltene Teil mit der Klarinette (die in diesem Kontext selbst auf Osteuropa hindeutet), vermeidet aber Merkmale der osteuropäisch-jüdischen Musik (Beispiel 3.8a, T. 1). Unterhalb dieser embryonalen Bezüge taucht im Kontrabass ein Gis als Beginn der drei Eröffnungstöne von »Die alte kasche« auf (Gis–F–E) und sodann findet die übermäßige Sekunde des Lieds einen Widerhall sowohl im Ad-libitu-Teil der Klarinette wie auch in den vertikalen Projektionen eines ukrainisch-dorischen Melodietypus – dessen melodisches 113  Vgl. hierzu auch die neue Ausgabe des Sohar: The Zohar, übersetzt u. kommentiert v. Daniel C. Matt, Stanford 2016, Bd.  9, 86.

251

Avni: Kontrapunktierende Formen des Gedenkens

Beispiel 3.8: a) Avni, Five Pantomimes (1968), II, »Chagall, I and the Village«, T. 1–2.

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Kapitel 3:  Die 1960er und 1970er Jahre

gestellte Echos der Kontrabass-Eröffnung von »Die alte kasche« (noch immer in begrenzt aleatorischer Form) und verschobene osteuropäische Melodietypen eine dichte heterofone Schichtung von Anspielungen, die das abschließende Zitat des jiddischen Lieds in der Bratsche zu überfluten drohen (Beispiel 3.8b, T. 17). Malerische, dem Bild von Chagall entsprechende Anklänge an das osteuropäisch-jüdische Landleben und (mit Lutosławskischen Mitteln) umgestaltete osteuropäische Melodietypen antizipierten zusammengenommen Avnis Epitaph.

Epitaph für wen? Epitaph ist ein Echo und Kommentar zu einer der Geschichten in Rabbi Nachmans »Geschichte von den sieben Bettlern«. Avni, der sowohl die Transkription der Geschichte durch Nachmans Schüler und Sekretär, Nathan von Brazlaw,114 als auch Bubers Nacherzählung (vgl. Kapitel 1) kannte, wählte das Gleichnis vom Herzen und dem Quell aus, das durch seine Paraphrase im dritten Akt von Salomon An-Skis Der Dibbuk bekannt geworden ist.115 Dadurch ergaben sich intertextuelle Bezüge; Avni schöpfte aus allen drei Versionen der Geschichte sowie den klanglichen Bildern, die in dem Gleichnis gezeichnet werden. Anders als bei den narrativischen Entscheidungen, die in die Gestaltung von Jerusalem eingingen, oder den Anspielungen an »Die alte kasche« in Five Pantomimes war er bei der Arbeit mit Nachmans literarischem und musikalischem Symbolismus sowie seinen theurgischen Bögen in der Lage, sowohl die Musik als auch die außermusikalischen Momente zu steuern. Im Bewusstsein der Gefahren einer Signifikation von Nachmans symbolischer Fiktion zog Avni eine nichtrepräsentationale Ästhetik vor, bei der die Auszüge aus der Geschichte als Motto der Sonate dienten; Epitaph sei keine Programmmusik, erläuterte er in seinen Anmerkungen zum Stück, sondern verwende Nachmans Geschichte »lediglich als spirituellen Ausgangspunkt – als eine Idee, die mehr verbirgt als offenbart«.116 Tatsächlich gründet sich die einsätzige Sonate auf einen verborgenen synthetischen Modus; offenbar befreite Nachmans Symbolismus Avni von motivischen Entwürfen und widersetzte sich einer Verwandlung theurgischer in erlösende Bögen. Interessant ist, dass Avni in Epitaph zwar Seters Synthetisierung melodischer Modi aufgriff, seine Rückkehr zu einer jüdisch-exilischen Vergangenheit aber ohne jene eschatologische Zielrichtung auskam, die Seter seinen Werken beigelegt hatte (wie weiter unten erörtert wird). Doch dieser Umgang mit Seters Konstellationen war auch persönlichen Umständen geschuldet. Auf die Arbeit an Epitaph von 1974 bis 1979 114 »Die Geschichten des Rabbi Nachman von Brazlaw, erzählt von seinem Schüler Rabbi Nathan von Brazlaw« (Hebr.), Jerusalem 1971. 115  Saul Anski, Der Dibbuk. Dramatische Legende in vier Bildern, übers. v. Salcia Landmann u. Horst Bienek, Frankfurt a. M. 1989. 116  Tzvi Avni, Epitaph, Tel Aviv, 1984, 4.

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Epitaph für wen?

Beispiel 3.8: b) Avni, Five Pantomimes, II, »Chagall, I and the Village«, T. 14–17.

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Kapitel 3:  Die 1960er und 1970er Jahre

färbte der Tod von Avnis Mutter und seiner Frau ab, die seine gesamte Familie darstellten und im Frühjahr 1973 im Abstand von zwei Monaten gestorben waren; Avnis Trauer wurde durch das vom Jom-Kippur-Krieg ausgelöste Trauma der Niederlage noch verstärkt. Seine Annäherung an jüdische Geschichten und Erinnerungen in der Zweiten Klaviersonate hatte damit eine gewisse Parallele zu Rabbi Nachmans Hinwendung zum Geschichtenerzählen, das er nach dem Tod seines kleinen Sohns und dem Zusammenbruch seiner messianischen Vision als eine neue Form des Lehrens entdeckt hatte.117 Es gibt viele wissenschaftliche Kommentare zur »Geschichte von den sieben Bettlern« und den in sie eingeklammerten Geschichten. Joseph Dan meint, sie handele in volkstümlichem Gewand von der Biografie des Messias und seinem Bemühen, die Erlösung herbeizuführen; ihr Gewebe von Texten, Kontexten, kabbalistischen Mythen und klaffenden Lücken sei zugleich eine heimliche Autobiografie Nachmans, was »eng verbunden ist mit der wachsenden Zentralität, die sein eigener messianischer Auftrag in seinem spirituellen Leben annahm«.118 Marianne Schleicher interpretiert die Geschichte als Zusammenbruch einer ursprünglichen Vergangenheit, in der Glück – das Grundprinzip des pantheistischen und panentheistischen Chassidismus – herrschte: »Wenn der unendliche Gott beschließt, der Menschheit die Schöpfung zu überantworten, hängt die Legitimität der Menschheit als Herrscher über ihre Welt davon ab, dass der Mensch seine Abhängigkeit von Gott anerkennt.« Aufgrund des Unvermögens, Zeit und Raum zu transzendieren, gerät der Mensch jedoch auf Abwege und vermag seine unendliche Göttlichkeit nicht zu erkennen; beschränkt durch eine rationalistische Wahrnehmung »sucht er entweder Zuflucht bei der menschlichen Weisheit oder entscheidet sich für das Einfache«.119 Da die Kinder in der Geschichte zu jung sind, um sich an menschliche Weisheit und Rationalismus zu halten, werden sie durch Gottes Eingreifen zu Bettlern. Die sieben behinderten Bettler verkörpern die beschränkte menschliche Wahrnehmung; die Geschenke, die die Kinder von ihnen (die nur in einer materiellen Welt des Menschen behindert sind) empfangen, führen entsprechend zur Schließung der Kluft zwischen der Menschheit und Gott.120 Epitaph verdeutlicht dies exemplarisch anhand der Predigt des dritten Bettlers, der stottert. Der Abschnitt über das Herz und den Quell, der Literatur und Mystik verschmilzt und kabbalistische und chassidische Vorstellungen aufgreift,121 nimmt in der »Geschichte von den sieben Bettlern« eine zentrale Stelle ein. Dan beschreibt ihn als »den Wen117  Chani Haran Smith, Tuning the Soul. Music as a Spiritual Process in the Teachings of Rabbi Nachman of Bratzlav, Leiden 2010, 148. 118  Joseph Dan, The Heart and the Fountain. An Anthology of Jewish Mystical Experiences, New York 2002, 240 f. 119  Marianne Schleicher, Intertextuality in the Tales of Rabbi Nahman of Bratslav, Leiden 2007, 616. 120 Schleicher, Intertextuality in the Tales of Rabbi Nahman, 617 f. 121 Smith, Tuning the Soul, 154–158.

Epitaph für wen?

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depunkt in der Erzählung zwischen den Abschnitten, die dem Schöpfungsmythos und der Urkatastrophe gewidmet sind, und jenen, die zur Korrektur und Erlösung führen. Sie ist weder ›Vergangenheit‹ noch ›Gegenwart‹, sondern die Beschreibung einer erweiterten Gegenwart, einer Situation, in der sich das Universum in einem – wenngleich prekären und nur zeitweiligen – Gleichgewicht befindet.«122 Avni stützte sich auf die folgende Passage: Es gibt einen Berg, auf dem steht ein Stein, und aus dem Stein entspringt ein Quell. Alle Dinge haben ein Herz, und ein Herz hat auch die ganze Welt. Das Herz der Welt sieht aus wie ein Mensch, hat Gesicht, Hände und Füße usw. Noch der Zehennagel des Herzens der Welt hat mehr Herz als jegliches andere Herz. Der Berg mit dem Quell an einem Ende der Welt, das Herz der Welt am anderen Ende. Das Herz steht dem Quell gegenüber. Immerzu sehnt es sich und bangt danach, zum Quell zu gelangen. Das Sehnen und Verlangen des Herzens nach dem Quell ist überaus groß. Es schreit stets danach, zum Quell zu kommen. Auch den Quell verlangt es nach dem Herzen. Aber das Herz hat zwei Schwächen. Die eine: Die Sonne verfolgt und sengt es sehr. Die zweite hat es wegen seines Sehnens und Verlangens, denn immer bangt es und geht aus zum Quell. Es schreit danach, zum Quell zu gelangen, denn es steht dem Quell gegenüber, ruft um Hilfe und sehnt sich inbrünstig nach ihm. […] Wenn es sich doch so sehr nach dem Quell sehnt – warum geht es dann nicht zum Quell? Sobald das Herz sich dem Berg nähern will, darauf der Quell ist, so sieht es schon seinen Gipfel nicht mehr und kann den Quell nicht sehen. Schaut es aber nicht auf den Quell, muß es vergehen, denn alle Lebendigkeit des Herzens kommt allein vom Quell her. Und wenn das Herz, behüte, verginge – die ganze Welt würde zerstört, denn das Herz ist die Lebendigkeit aller Dinge. Und wie könnte die Welt ohne Herz bestehen! Darum kann das Herz nicht zum Quell gehen. Immer steht es dem Quell gegenüber, sehnt sich und schreit danach, zum Quell zu gelangen. Der Quell aber besitzt überhaupt keine Zeit. Denn er ist außerhalb der Zeit. Doch wie kann er dann in der Welt sein? Die Zeit des Quells rührt allein daher, daß das Herz dem Quell einen Tag zum Geschenk macht. Wenn dieser Tag zur Neige gehen will und vergeht, wird der Quell ohne Zeit sein und die Welt verlassen. Ist aber der Quell nicht mehr, wird auch das Herz vergehen, behüte – dann wird die Welt, behüte, zunichte werden. Wenn das Ende des Tages naht, beginnen beide, Herz und Quell, voneinander Abschied zu nehmen. Sie sagen einander Gleichnisse und singen Lieder, wunderschöne Gleichnisse und Lieder voll der Liebe und Sehnsucht zueinander, Herz zum Quell und Quell zum Herzen. Der Mensch der wahren Güte sieht vor und gibt darauf acht: Wenn der Tag ganz an sein Ende kommt und vergeht, dann kommt der Mensch der wahren Güte und schenkt dem Herzen einen Tag. Das Herz schenkt den Tag dem Quell. So hat der Quell wieder eine Zeit.123

Eine materielle, an irdisch-profanes Sprechen gewöhnte Welt stempelt das Gotteslob des Bettlers und seine redlichen Worte zum mangelhaften Sprechen eines 122 Joseph Dan, Rabbi Nahman’s Third Beggar, in: William Cutter/David C. Jacobson (Hg.), History and Literature. New Readings of Jewish Texts in Honor of Arnold J. Band, Providence 2002, 44. 123  Die Erzählungen des Rabbi Nachman von Bratzlaw, übers. v. Michael Brocke, Reinbek bei Hamburg 1989, 221–223.

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Kapitel 3:  Die 1960er und 1970er Jahre

Stammlers.124 Doch er ist derjenige, der die Vernichtung verhindert, indem er die fragile wechselseitige Abhängigkeit der Welt bewahrt: Er hält die wahren Akte der Gnade fest, durch die die Zeit in die Welt tritt, und weist sie dem Mensch der wahren Güte (oder Tzaddik) zu. Unterdessen bringen das Herz und der Quell Verlangen, Liebe und Furcht durch schönste Gleichnisse und Lieder zum Ausdruck. Sie paraphrasieren Psalm 61:3 (»Vom Ende der Erde rufe ich zu dir; denn mein Herz ist verzagt. Führe mich auf den Felsen, der mir zu hoch ist!«) und bieten dem Leser eine Vielfalt an Wohlklängen, die, wie Ora Wiskind-Elpers schreibt, einer »Fuge der Distanz, Liebe und Zeitlosigkeit« gleicht.125 Die guten Taten des Menschen der wahren Güte übersetzen Schleicher zufolge »die Erfahrung des Betens in eine Sprache, die die unüberbrückbare Kluft überbrücken kann«, die zwischen dem Sein der Welt schlechthin (Betender, Herz) und der himmlischen Sphäre der Unendlichkeit (Gott, Quelle) klafft; dies legt nahe – wie der Intertext von Psalm 61 andeutet –, dass man »Gebete als Musik im göttlichen Reich verstehen« sollte.126 Die Geschichte bestimmt somit die theurgische Beziehung zwischen Rechtschaffenheit und Existenz, die der Mensch der wahren Güte zusammenhält, indem er dem Quell Zeit schenkt, ohne die Gott in eine Ewigkeit vor der Schöpfung zurücktreten und die Welt zu existieren aufhören würde. Damit zeugt sie von einer fragilen Wirklichkeit – von einer andauernden, statischen Situation, die sich unverändert wiederholt, und prozesshaften Flüssen ohne intrinsische Krisen, die nach radikalen Veränderungen verlangen würden. Dan zufolge zeigt sich in der Erzählung Nachmans »Vorstellung des gegenwärtigen Moments in der kosmischen Geschichte, die sich dem lurianisch-messianischen Mythos zufolge zwischen Schöpfung und Erlösung bewegt«, doch mangels Krisen fehlt ihr der Gedanke der Erlösung.127 Diese nichtmessianische kabbalistische Vorstellung gründet eher auf der chassidischen Lehre des Rechtschaffenen (eine Figur, die in Nachmans Geschichte auf himmlische und irdische Wesen aufgeteilt ist) als Verkörperung einer vermittelnden Kraft zwischen Menschheit und Gott.128 Eine solche Verbindung von Mysterium und Phantasie, Literatur und Mystik, Erscheinungen und Wiedererscheinungen (lies: Varianten und Variationen, ihrerseits ein Widerhall nichtjüdischer Volksmärchen), Zeitlosigkeit, Stasis (oder Entwicklung ohne Erlösung), verborgenen Bedeutungen und mystischen Klangbildern beflügelte Avnis Erfindungsreichtum. Und wie Nachmans Geschichte geht Avni vom Offenbarten zum Verborgenen über; offenbart ist die Zeitlosigkeit, die er in eine ametrische proportionale Notation übersetzt, und die Stasis, 124 Schleicher,

Intertextuality in the Tales, 586. Wiskind-Elper, Tradition and Fantasy in the Tales of Reb Nahman of Bratslav, New York 1998, 213–215. 126 Schleicher, Intertextuality in the Tales, 588, 590. 127  Dan, Rabbi Nahman’s Third Beggar, 42, 47. 128  Dan, Rabbi Nahman’s Third Beggar, 47 f. 125  Ora

Epitaph für wen?

257

übersetzt in Ostinati auf einem einzigen Ton (das eröffnende Gis in den ersten zwei Zeilen, Beispiel 3.9a) oder auf Aggregaten (Beispiel 3.9a, Zeile 3). Wie in »Chagall, I and the Village« (Five Pantomimes) verläuft das Erscheinen und Wiedererscheinen von Blöcken und Ostinati sowohl horizontal (melodisch) als auch vertikal (harmonisch). In Epitaph folgen diese Techniken einer versteckten Konstellation, einem verborgenen Modus. In Anlehnung an einen allegorischen Modus, der es Nachman ermöglichte, »vertraute, erkennbare Elemente in unerwarteten Permutationen zu verbinden«,129 verfremdet und rekontextualisiert Avni den freygishen und den ukrainisch-dorischen Melodietypus, die in neuem Gewand – verschoben und horizontal oder vertikal projiziert – erscheinen und wiedererscheinen und so eher desartikuliert als markiert werden. Folglich lassen sich aus Avnis Idiomen keine Matrizen extrahieren, abgesehen von einem verborgenen Modus, der mehrere übermäßige Sekunden und unterschiedliche Konstellationen unvollständiger Melodietypen einkapselt. So weist Epitaph horizontale und vertikale tetrachordale Anordnungen auf, deren Verschiebung und intervallische Einrahmung verhindert, dass sie sich konsolidieren. Zu Beginn des Stücks wird das obstinate Gis durch eine übermäßige Sekunde zum F geführt, während es von dem Aggregat, in das es einmündet, überwältigt wird (Beispiel 3.9a, Zeilen 1–3). Im Aggregat selbst zeigen sich einige Prinzipien, die das harmonische und melodische Schema der Sonate bestimmen: ein vertikalisierter Tetrachord mit erhöhter Quarte (G–A–B–Cis), eingerahmt von einer großen Septime (Fis–F), die in der Sonate zu einem wiederkehrenden intervallischen Rahmen wird. Die leicht verschobene, quasi-heterofone Melodie am Ende von Zeile 3 entfaltet ebenfalls einen Tetrachord mit erhöhter Quarte zusammen mit einer großen Septime (E–Es) als Rahmen, der zum Aggregat in Zeile 3 zurücktreibt. In den Zeilen 4 und 5 zeigt sich eine komplexere zweiteilige heterofone Textur, aus der mehrere übermäßige Sekunden aufflackern: As–F in der rechten wie linken Hand (ihre Notation als kleine Terzen ist in dieser Konstellation unerheblich), gefolgt von Fis–Es in der linken Hand. In Zeile 5 verschiebt Avni einen freygishen Melodietypus (G–As–B–C–D) quer durch die Melodie und ihre Begleitung, die abermals eine übermäßige Sekunde innerhalb der großen Septime überdeckt (Beispiel 3.9a, Zeile 5, zweiter Akkord). Eine solche Kombination – eine große Septime als Rahmen, in dem eine übermäßige Sekunde liegt – zeigt sich auch in der Mitte von Zeile 5 (und könnte als Permutation des ersten Aggregats aus Takt 3 gelesen werden), verwandelt sich jedoch in einen atonalen Akkord (G–Cis–Fis) und eine übermäßige Sekunde (Cis–B) und führt so zurück zur vertikalisierten Konstellation einer erhöhten Quarte. Im Zuge der Entfaltung des Stücks verschlingen sich die beiden Melodietypen, während ihre »Sichtbarkeit« von den Begleitakkorden abhängt. Zeile 6 zum Beispiel zeigt, wie 129 Wiskind-Elper,

Tradition and Fantasy in the Tales, 215.

258

Kapitel 3:  Die 1960er und 1970er Jahre

sich die Anspielung auf eine erhöhte Quarte in Fis–Gis–A–C zu einem weiteren Bezug auf eine solche verschiebt, die aus den letzten zwei Tönen der ersteren zu A–H–C–Es wird (Beispiel 3.9a, Zeile 6). In Zeile 11 wird eine ähnliche Überschneidung verkürzt: Die Melodie entfaltet D–E–F–Gis, verwandelt sich in G– Fis–Es und deutet auf zwei freygishe Fragmente in der folgenden Zeile hin (Es– E–G und Fis–G–B, Beispiel 3.9b), vor dem Hintergrund eines fist cluster (Anschlagen benachbarter Tasten mit der Faust) im untersten Register, wodurch jeder Zeitsinn ausgelöscht wird. Doch was steht hinter dieser Grundstruktur, mit der der Komponist eine inkonsistente Konsistenz demonstriert? Und was vernäht das Musikalische mit dem Literarischen? Die Ostinati bringen uns Avnis Assemblage jüdischer Musikmerkmale näher, da sie die Nachmans Geschichte durchziehende Spannung zwischen Attraktion und existenzieller Getrenntheit beibehalten. Die meisten treten entweder auf einem Gis, Cis oder B auf und enthüllen nur teilweise die zwei übermäßigen Sekunden, auf denen Avni unterschiedliche Projektionen des ukrainisch-dorischen oder freygishen Melodietypus aufbaut – verschoben, transponiert, verkürzt oder sich überschneidend. Aufgrund ihrer unvollständigen horizontalen und vertikalen Entfaltung zeichnet diese Melodietypen jedoch eine ständige Parallaxe aus: Jeder der beiden erscheint als modale Verschiebung des anderen. Solche Veränderungen der Beobachtungsposition betreffen weniger die Verhaltensmuster der beiden Melodietypen als ihre modale Beziehung und daraus folgende wechselseitige Abhängigkeit – ähnlich dem, was Wiskind-Elper in der »Geschichte von den sieben Bettlern« ausmacht: eine »unaufhörliche Dynamik zwischen dem Relativen und dem Absoluten – der Distanz des Menschen zu Gott, seinem Bedürfnis nach Annäherung und der ihr entgegenstehenden Unmöglichkeit jeglicher Vereinigung im Leben«.130 Die Ambivalenz von Anziehung und Trennung in Avnis Musik bezeugt die Migration osteuropäisch-jüdischer Musikmerkmal und ihr Wiederauftauchen im kulturellen Kontext der 1970er Jahre als Formen von Gedächtnis, eingeflochten in einen synthetisierten Zwölftonmodus (Beispiel 3.9c), der drei übermäßige Sekunden aufweist, deren Stereotypie durch Chromatik, Verschiebung und Vermeidung von Dreiklangharmonie gebrochen wird. Sie können einen ukrainisch-dorischen oder frey­ gishen Melodietypus daher nur andeuten, deren unvollständiges oder verschobenes Auftreten einem semantischen Kommentar zur parallaktischen Anordnung vollständiger und unvollständiger Melodietypen gleichkommt. In der Praxis aber funktioniert jede der übermäßigen Sekunden als ein doppelter Leitton, der sich zu einem von vier möglichen tonalen Zentren hin auflöst: E, A, D oder G (Beispiel 3.9c). Blickt man nun nochmal auf die Sonate, dann sieht man, dass fast alle Ostinati auf – zwangsläufig instabilen – Leittönen auftreten, gleichsam als Parallele zur Fragilität des Ephemeren in Nachmans Geschichte. 130 Wiskind-Elper,

Tradition and Fantasy in the Tales, 213.

259

Epitaph für wen?

Beispiel 3.9: a) Avni, Zweite Klaviersonate, Epitaph (1974–79), Eröffnung (Zeilen 1–6). © Mit freundlicher Genehmigung des IMI Israel Music Institute, Tel Aviv.

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Die parallaktische Anordnung der übermäßigen Sekunde erklärt auch Avnis Entscheidung, das Werk auf E enden zu lassen (Beispiel 3.9d), doch selbst dieser Orgelpunkt, mit dem das Werk ausklingt, ist durch weitere verschobene und fragmentierte Andeutungen des Melodietypus’ verschleiert. Auf diese Weise wird die Sonate zu einem gewollten Palimpsest ihrer eigenen Bestandteile.

260

Kapitel 3:  Die 1960er und 1970er Jahre

Beispiel 3.9: b) Avni, Epitaph, Zeilen 11–12. © Mit freundlicher Genehmigung des IMI Israel Music Institute, Tel Aviv.

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Beispiel 3.9: d) Avni, Epitaph, Schluss. © Mit freundlicher Genehmigung des IMI Israel Music Institute, Tel Aviv.

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Kopytman und die Transkription jüdischer Heterofonien

261

Kopytman und die Transkription jüdischer Heterofonien Kopytmans Einwanderung nach Israel im Jahr 1971, als er 43 Jahre alt war, stellt die Einteilung der israelischen Musikszene in Generationen vor gewisse Probleme. Da sie weitgehend auf chronologischen Kriterien beruht, blieb Kopytman nur ein Platz in der Mitte, schließlich zählte er weder zu den »Gründungsvätern« (ein üblicher Terminus in solchen positivistischen Klassifizierungen) noch zu der in den ersten Jahren nach der Staatsgründung geborenen und ausgebildeten Gruppe.131 Mangels einer besseren Alternative wurde er daher einer »zweiten Generation« zugeschlagen – ein Etikett, das er sich paradoxerweise mit Avni teilen musste (der im Palästina der Mandatszeit geboren war und bei Ben-Haim, Ehrlich und Seter studiert hatte), obwohl ihre geistigen Biografien erst in den 1970er Jahren zusammenliefen. Über Kopytmans russische Periode ist wenig bekannt, da seine Sammlung in der israelischen Nationalbibliothek zwar einige frühe Kompositionen, aber außer theoretischen Publikationen keine Schriften oder Briefe umfasst. Nachdem er 1952 sein Medizinstudium in Czernowitz abgeschlossen hatte, studierte er an der Lemberger Musikakademie bei Roman Simowitsch Kompositionslehre (1952–55) und erwarb am Staatlichen Tschaikowsky-Konservatorium mit einer von Semjon Bogatyrjow betreuten Arbeit über mehrteiligen Kanon, kanonische Sequenzen und Imitationen einen zweiten Doktortitel (1953–58).132 Während seines Studiums in Moskau, der liberalsten sowjetischen Stadt, in der eine ständige Präsenz von zahlreichen Diplomaten, ausländischen Journalisten und Besuchern den Austausch neuer Musik erleichterte, gehörte Kopytman mit Edisson Denissow, Alfred Schnittke, Andrei Wolkonski und anderen zu einer Gruppe, die laut Peter Schmeltz mit neuen kompositorischen Trends Schritt zu halten suchte, von denen eine inoffizielle Subkultur geprägt war, »die sich für ihren durch mehrere Jahrzehnte unter der faden Doktrin des sozialistischen Realismus entstandenen Rückstand schämte«.133 Obwohl Kopytman in weiter Entfernung vom Moskauer Zentrum zunächst von 1958 bis 1963 in Alma-Ata (Kasachstan) und danach bis 1972 in Chi¸sinˇau (Moldawien) lehrte, zeigen seine Werke aus den späten 1960er Jahren, dass er die Arbeit seiner Weggefährten ebenso aufmerksam verfolgte wie die neuen Techniken, die durch das Musikfestival »Warschauer Herbst« – ein wichtiges Forum für führende russische Komponisten abseits der offiziellen Kultur – ins Land drangen. Allerdings scheinen Musiker wie Gennadi Roschdestwenski oder Gidon Kremer, die die Werke von Komponisten aufführ131 

Eine umfassende Bibliografie dazu bietet die Einleitung. Mark Kopytman, »Über kanonische Imitation«, Sovetskaya Muzyka, 2 (1958): 97–100; ders., »Mehrteiliger Kanon und Kanon-Sequenz«, Voprosy Muzikoznaniya, 3 (1960): 195–265 (beide Russisch). 133  Peter Schmeltz, Such Freedom, If Only Musical. Unofficial Soviet Music During the Thaw, New York 2009, 6. 132 

262

Kapitel 3:  Die 1960er und 1970er Jahre

ten, die später im Westen zu beispielhaften Märtyrern wurden, keine Notiz von ihm genommen zu haben; neben der geografischen Distanz könnte, wie Kopytman in einem Interview andeutete, auch seine jüdische Herkunft zu seiner damaligen Marginalisierung beigetragen haben.134 Nach seiner jüdischen Identität gefragt, antwortete Kopytman jedoch in einer Weise, die zeigte, dass er jahrzehntelang unter der sowjetischen antireligiösen Doktrin gelebt hatte; diese definierte Juden nicht als Glaubensgemeinschaft, sondern als eine ethnische Minderheit, und russifizierte sie überdies stärker als jede andere ethnische Minderheit in der Sowjetunion.135 Kopytman erinnerte sich, dass er russischsprachig aufwuchs und an jüdischen Feiertagen »köstliche Speisen der traditionellen jüdischen Küche« aß.136 Nach dem Sechstagekrieg regten sich in Teilen des sowjetischen Judentums neue zionistische Gefühle, die jedoch eine ideologische antizionistische Gegenreaktion hervorriefen und auf einen wachsenden, staatlich geförderten Antisemitismus trafen. Als sich Hoffnungen auf politische Reformen und wirtschaftliche Liberalisierung zerschlagen hatten, nachdem Truppen des Warschauer Pakts im August 1968 in die Tschechoslowakei einmarschiert waren, und unterdessen russische Universitäten und Hochschulen stillschweigend Quoten für jüdische Bewerber einführten, legte die Situation eine Auswanderung nahe.137 Schon in den 1960er Jahren hatte Kopytman diverse aleatorische Techniken und eine proportionale Notenschrift nach dem Vorbild von Lutosławskis »kontrollierter Aleatorik« übernommen, die diesen, wie Adrian Thomas schreibt, aus einer mikrorhythmischen Sackgasse und von der Notwendigkeit einer rhythmischen Koordination musikalischer Linien befreit hatte. Lutosławskis Biegung von Musikparametern in Ad-libitum-Teilen, seine Dämpfung der zugrundeliegenden Konstanz durch Elemente von Addition und Variation sowie sein geradezu verschwenderischer motivischer Einfallsreichtum138 fanden ein Echo in Kopytmans Drittem Streichquartett (1969), dessen Texturen zudem aus Denissows Crescendo e Diminuendo (1965) schöpften. Diese linearen Experimente bereiteten den Boden für Kopytmans Lesart der jemenitischen Heterofonie nach seiner Auswanderung nach Israel.139 Auch ihm galt jene nichtwestliche Musiktradition, deren vormoderner Charakter unterschiedliche Formulierun134 Julia Kreinin, Mark Kopytman: Seeking his Jewish Roots, in: Ernst Kuhn/Jascha Nemtsov/Andreas Wehrmeyer (Hg.), »Samuel« Goldenberg und »Schmuyle«. Jüdisches und Antisemitisches in der russischen Musikkultur, Berlin 2003, 249–264. 135  Larissa Remennick, Russian Jews in Three Continents. Identity, Integration, and Conflict, New Brunswick 2007, 21; Mordechai Altshuler, Religion and Jewish Identity in the Soviet Union, 1941–1964, übers. v. Saadya Sternberg, Waltham 2012, 9–116. 136  Yulia Kreinin, The Music of Mark Kopytman. Echoes of Imaginary Lines, Berlin 2008, 19. 137 Remennick, Russian Jews in Three Continents, 36–38. 138  Adrian Thomas, Polish Music Since Szymanowski, Cambridge 2005, 132–134; György Ligeti/Witold Lutosławski/Ingvar Lidholm, Three Aspects of New Music, Stockholm 1968, 45–53. 139 Kreinin, The Music of Mark Kopytman, 123–133.

Kopytman und die Transkription jüdischer Heterofonien

263

gen inspiriert hatte – von der autoexotistischen nationalen Onomatopoesie bis zu ihrer Auflösung in der Kunstmusik nach der Staatsgründung –, als eine verlässliche Quelle und als Katalysator für die Teilhabe am kulturellen Diskurs in Israel. Vor dem Hintergrund des reifen Stils, den er zum Zeitpunkt seiner Einwanderung bereits ausgebildet hatte, und seiner mangelnden Kenntnis russisch-jüdischer Traditionen regten die linearen Züge und heterofonen Kontingenzen der jemenitisch-jüdischen Musik Kopytmans Identitätskonstruktion an. Besonders ihre Heterofonie eröffnete ihm bemerkenswerte Möglichkeiten: geschmeidige Transpositionen, organumartige, von reinen, kleinen und großen Intervallen bevölkerte Strukturen, pendelnde Wendetöne, die mit unterschiedlicher Strenge aus dem Gleichklang ausbrechen oder zu ihm hindrängen, und ein Fluss von ineinander übergehenden Tonhöhen, Dynamiken und Tempi – Eigenschaften, die die konventionelle westliche Notenschrift nur teilweise erfasst.140 Die Verwendung dieser Mittel war wiederum bestimmt von Kopytmans Importen aus der zeitgenössischen osteuropäischen Avantgarde (für die er nach der Emigration nach Israel seinerseits eine bedeutende Quelle neuer Musik wurde) und, wichtiger noch, von seiner mangelnden Kenntnis jüdischer Musik sowie der Tatsache, dass er kulturell nicht in der Schuld des Hebraismus stand. Dies machte Kopytman zum idealen Beobachter des kulturellen Diskurses der 1970er Jahre. Unbeschwert von hebraistisch-eurozentrischen Übersetzungen und ihrer Verwässerung in den Jahren nach der Staatsgründung konnte er liturgische Importe gleichsam von außen zerlegen und mühelos in politische Kommentare verwandeln. Tatsächlich haftete Kopytmans Verwendung der jemenitischen Heterofonie etwas eigenartig Steriles an, da er keinen Kontakt zu einer Gemeinde hatte, von der er direkt etwas über die jemenitische Liturgie hätte lernen können, und sich stattdessen auf Aufzeichnungen im Nationalen Tonarchiv in Jerusalem sowie den ersten Band des HOM stützte. Dieser ästhetische Umweg machte sich auch in einer Reihe theoretischer Publikationen bemerkbar, in denen Kopytman seine Werke aus den 1970er und 1980er Jahren analysierte; zwar erläuterte er dort seine Klangwolken und die sie ermöglichenden diagonalen Projektionen, doch die Musik wurde dabei von ihren kulturgeschichtlichen Kontexten getrennt (auch eine Auseinandersetzung mit den Texten von Abraham Abulafia, Edmond Jabès, Amichai und anderen, die er vertont hatte, vermied er). Jede Lektüre von Kopytmans Theorien sollte daher nicht nur sein Bild des Jüdischen in der Musik berücksichtigen (wie in Kapitel 1 argumentiert), sondern auch den historischen und kulturellen Hintergrund der 1970er Jahre, vor dem er seine Werke schrieb. Gleichzeitig gilt es die vielen Synonyme, die Kopytman zur Beschreibung seiner diversen heterofonen Oberflächen prägte, zu vermeiden und

140 

Zu den Eigenschaften der jemenitischen Heterofonie, vgl. Kapitel 2.

264

Kapitel 3:  Die 1960er und 1970er Jahre

Beispiel 3.10: a) »Al Nähˇarôt Bobäl« (»An den Flüssen Babels«), aus: HOM, I, 58.

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stattdessen die bestimmenden Grundprinzipien seiner heterofonen und diagonalen Strukturen zu erfassen. Kurz nach der Einwanderung nach Israel komponierte Kopytman Lamentation (1973), ein monofones Werk für Soloflöte, in dem er mit linearen Varianten, Zusätzen und Paraphrasen experimentierte. Zwar verwendete er als Vorlage ein jemenitisches Klagelied aus dem HOM, dessen vielstimmige Texturen stellte er jedoch zurück und zitierte es nicht; stattdessen untersuchte er seine linearen Züge, übersetzte sie in intervallische Zellen und illustrierte durch die Entwicklung seines eigenen Werks den stets nur vorläufigen, tastenden Charakter von Transkriptionen mündlicher Musiktraditionen. Dem Andenken an Kopytmans Mutter gewidmet, gründete Lamentation passenderweise auf einem Klagelied für Tischa be’Av (der jährliche Fastentag, an dem der Zerstörung des Ersten und des Zweiten Tempels gedacht wird) mit dem Titel »Al Nähˇarôt Bobäl« (»An den Flüssen Babels«, HOM, I, 8), das Psalm 137 paraphrasiert (Beispiel 3.10a).141 Indem er die enge Melodiespanne der Transkription als eine Permutation von Zellen interpretierte und seine Züge in der Eröffnung paraphrasierte, hielt er sich nicht an die notierte Version, doch das tonale Zentrum auf E könnte dafür sprechen, dass er Idelsohns Einleitung zum ersten Band des HOM gelesen hatte. Dort bemerkt Idelsohn, dass der Grundton des jemenitischen Klagelieds E ist, eingeklammert von einer kleinen Terz (D–F), deren Eigenart sich der europäischen Notenschrift entzieht, da sie wie eine verminderte Terz klingt. Idelsohn hielt dieses akustische Phänomen fest, indem er das D mitunter um einen Halbton erhöht notierte, um den »ganz eigentümlichen Charakter« dieser Klagelieder hervorzuheben.142 Während er den Text wegließ und die Transkription durch seine Paraphrasen ersetzte, scheint Kopytman Idelsohns chromatischer Modifikation in der Entfaltung der Zelle gefolgt zu sein, die mit der im HOM 141 

142 

Israel Davidson, Thesaurus of Medieval Hebrew Poetry, New York 1970, Bd.  3, 274. HOM, I: Einleitung, 31.

265

Kopytman und die Transkription jüdischer Heterofonien

Beispiel 3.10: b) Mark Kopytman, Lamentation (1973), Eröffnung (Zeilen 1–5). © Mit freundlicher Genehmigung des IMI Israel Music Institute, Tel Aviv.

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266

Kapitel 3:  Die 1960er und 1970er Jahre

nerns wird – ein retranskribierter Entwurf, der die Migration und Hybridisierung oraler Musiktraditionen zu einem Akt des Gedenkens erweitert. Nach diesem Experiment vervielfältigten sich in Kopytmans Kompositionen Monofonien zu Heterofonien. Zur Verdeutlichung der Beziehungen zwischen gleichzeitigen Kombinationen von Varianten, die nicht vollständig als strikt kontrapunktische Strukturen gefasst werden können, definierte er Heterofonie als eine Textur des »gleichzeitigen Erklingens mehrerer Varianten musikalischer Strukturen oder ihrer Elemente (Klänge, Muster, Linien, Blöcke)«.143 Die Theorie, die er seit Beginn der 1980er Jahre entwickelte, erläuterte anhand seiner eigenen Kompositionen vor allem die unterschiedlichen Fälle und Dichten heterofoner Anordnungen, wobei er oftmals mehrere synonyme Begriffe verwendete, um die Prinzipien diagonaler Entwürfe von Melodien, Rhythmik, Harmonie und Lautstärke zu beschreiben.144 Das Grundprinzip in Kopytmans Werk besteht in der Tat in diagonalen Beziehungen, einer heterofonen Oberfläche, bei der jede Stimme gleich wichtig ist. Mit dem Wegfall melodischer oder thematischer Hierarchien gewinnen der Import und die Integration unterschiedlicher Bilder sowie die Reibungen zwischen einer Vielzahl von Klängen, Aggregaten und Melodien strukturelle Züge, anstatt bloß ornamental zu sein; Varianten, so Kopytman, »verhalten sich wie zwei Aspekte derselben musikalischen Entität«.145 Die Prinzipien von Kopytmans heterofonen Entwürfen ließen sich folgendermaßen zusammenfassen: Heterofone Texturen gehen stets aus einem Einklang hervor, dessen haarfeine Spaltungen zu melodischen Zellen aus gewöhnlich drei bis vier Tönen, oftmals in Halbtonabständen, anwachsen; Melodien entstehen als freie Variationen eines abwesenden Themas (oder mehrerer Themen) und werden durch eine Vielfalt von Melodien, Rhythmen, Harmonien und Lautstärken entfaltet, die danach streben, sich wieder in den Einklang aufzulösen (oder, wie manche Werke zeigen, als flackernde kleine Sekunden ohne Gravitationszentrum). Aufgrund der Abwesenheit des Themas vollzieht sich die Entwicklung nur in Beziehung zu dem, was der Komponist nicht aufschreibt. Sobald sich eine melodische Zelle konsolidiert hat, kann ihre Entfaltung auch Verzierungen umfassen, die unterschiedlich pulsierend in verschiedenen Zeitintervallen auf die Schichten verteilt werden und sich zu melodischen Motiven entwickeln, die in unterschiedlichen Verhältnissen auf anderen melodischen Ebenen widerhallen. Dies resultiert in Klangwolken, die sich beständig durch innere rhythmische Entwürfe und wohldurchdachte melodische Dichten bilden, womit die Unterscheidung zwischen aleatorisch kontrollierten Passagen und strikt diagonalen Projektionen von Zellen unerheblich wird, da die meisten Beispiele eher dazwischen angesiedelt sind, anstatt formelhaften Vorgaben zu folgen. 143 

Mark Kopytman, About Heterophony, in: Kreinin, The Music of Mark Kopytman, 178. beispielsweise Kopytmans Erörterung von »isomelodischer Textur« und »EchoKanon« in Kopytman, About Heterophony, 197, 205–212. 145  Kopytman, About Heterophony, 179. 144  Vgl.

267

Kopytman und die Transkription jüdischer Heterofonien

Beispiel 3.10: c) Kopytman, Lamentation, Schluss (Paraphrase von » Nähˇarôt Bobäl«). © Mit freundlicher Genehmigung des IMI Israel Music Institute, Tel Aviv.

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Man könnte Kopytmans Konstruktionen auch als eine Vielzahl ähnlicher (niemals identischer) Monodien betrachten, die diachronisch, rhythmisch und insbesondere melodisch verschoben werden, während die Reihenfolge der Töne innerhalb einer Melodie austauschbar wird. Über diese Verfahren hinaus gewinnen die Klangwolken ihren Fluss und ihr Pulsieren durch Vibrati, Glissandi, Triller und Tremoli, die um eine zentrale Achse kreisen – wie in Lamentation monofon dargestellt (Beispiel 3.10b-c) – und durch Wechsel der Lautstärke angereichert werden (Beispiel 3.12a), gewöhnlich komplementiert durch »innere« Imitationen oder die Verschmelzung melodische Ornamente.146 Mit der Vervielfältigung melodischer Ebenen und dem Einsatz von Instrumenten wie Streichern oder Bläsern, die durch das chromatische Spektrum gleiten und dabei melodische Zelle erweitern oder in neue Achsentöne modulieren, können horizontale Klangübergänge auch Teil der heterofonen Textur werden; mit flexiblen Konturen und melodischer Austauschbarkeit füllen heterofone Zonen die Leerräume zwischen verschiedenen Resonanzen und erleichtern das Pendeln zwischen Achsentö-

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Kopytman, About Heterophony, 185–188. Vgl. dazu Beispiel 3.12b.

268

Kapitel 3:  Die 1960er und 1970er Jahre

nen.147 Schließlich gehen Klangbündel unaufhörlich von einer geordneten zu einer ungeordneten Verteilung von Intervallen (oder den aus ihnen geschaffenen Motiven) über, die erkennbar werden sollen und so eine annäherungsweise Wahrnehmung ihres Flackerns durch Raum und Zeit erlauben. So umfassten die sich verändernden Dichten der melodischen Zellen mitunter exakt dieselben Töne in unterschiedlicher zeitlicher Verteilung, während andere willkürliche Veränderungen durchliefen, basierend auf kurzen, begrenzt aleatorischen Segmenten ohne vertikale Kontrapunktierung. Dieselben Prinzipien galten für Blöcke, die aus einem Einklang hervorgingen oder auf ihn zusammenschrumpften, was es dem Komponisten erlaubte, durch die Platzierung von Orgelpunkten in unterschiedlichen Registern vielfältige »optische« Effekte zu erzeugen.148 Schlussendlich erfasst die Vervielfältigung auch die Motive selbst; sie verzweigen und verwandeln sich in gänzlich andere Motive (selbst wenn diese demselben melodischen Prototyp folgen) oder kollidieren mit einem anderen sich herausbildenden System, dessen melodische Kernzellen und prototypische Wurzeln sich von ihren unterscheiden.149 Das erste Werk, in dem Kopytman mit diesen kompositorischen Mitteln experimentierte, war October Sun. Die kurze Kammerkantate für Gesang, Flöte, Violine, Cello und Percussion, die einige Verse aus Amichais »Poems of the Land of Zion and Jerusalem« (1974) für eine Altstimme arrangierte, stellte einen der wichtigsten politisch-musikalischen Kommentare zu den traumatischen Nachwirkungen des Jom-Kippur-Kriegs dar. Im Mittelteil versuchte Kopytman den Klang des Schofar zu imitieren, der in der jüdischen Liturgie mit einem langen Ton, dem Teki’a, nach dem Neila-Gebet den Jom-Kippur-Gottesdienst abschließt. Der Text von Amichai, zu dem Kopytman seinen Schofar erklingen lässt, drückt keine politische Meinung aus, sondern geht auf rudimentäre »Wahrheiten« zurück, derer sich das lyrische Ich fiktiv und vorläufig versichert:150 »Die Sonne kreist um die Erde, ja / Die Erde ist flach wie ein verlorenes Brett und blüht, ja / Es gibt einen Gott im Himmel, ja.«151 Kopytman dehnt die ersten zwei Verse aus, indem er sie als Fragen arrangiert, auf die die begleitenden Instrumentalisten mit einem Parlando aus Sechzehnteln »Ja« antworten, gefolgt von einem dichten Cluster. Beim dritten Vers jedoch besteht die Antwort des Ensembles in einer Simulation des Schofar, vervielfältigt auf vier Einklangebenen, die auf H aufflackern und inmitten von Accelerandi, Rallentandi, Glissandi und Vibrati zu einem Einklang auf D pendeln (Beispiel 3.11a). Doch die Kantate konfrontierte den Hörer nicht nur mit heterofon ani147 

Kopytman, About Heterophony, 190–193. Kopytman, About Heterophony, 205–220. 149  Kopytman, About Heterophony, 225–231. 150  Kopytman, About Heterophony, 190; Yochai Oppenheimer, »Politische Dichtung in Israel« (Hebr.), Jerusalem 2003, 281 f. 151  Jehuda Amichai, Jerusalem 1973, in: ders., Wie schön sind deine Zelte, Jakob, 50. 148 

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Beispiel 3.11: a) Kopytman, October Sun (1974), Abschnitt I. © Mit freundlicher Genehmigung des IMI Israel Music Institute, Tel Aviv.

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Kapitel 3:  Die 1960er und 1970er Jahre

mierten liturgischen Metaphern. Kopytmans Botschaft gründete auf dem Schwellenraum zwischen Poesie und Prosa, in dem Amichais Verse angesiedelt sind, denn dieser Raum erlaubte es ihm – damals noch ein Neueinwanderer –, dessen Zusammenstellung von Trivialitäten und Redensarten zu durchdringen. Tatsächlich hatte Kopytman nicht ein ganzes Gedicht vertont, sondern Verse aus der dritten, vierten und fünften Strophe von »Poems of the Land of Zion and Jerusalem« kompiliert; die ausgewählten Verse demonstrierten zudem, was Robert Alter als Amichais »grelle Verklammerung von Begriffen aus disparaten semantischen Bereichen« bezeichnet hat.152 Durch diese Kompilation konnte Kopytman den zunehmend elegischen Ton Amichais würdigen und genügend Raum für seine eigenen musikalischen Kommentare lassen: »Die Oktobersonne wärmt unsere Gesichter. / Die Oktobersonne wärmt unsere Toten, / die Trauer ist ein schweres Brett aus Holz, / die Nägel sind die Tränen.«153 Diese Ballung ungewöhnlicher Wortverbindungen – charakteristisch für Amichais »Verknüpfung von Gefühl und konkretem Gegenstand«, wie Alter bemerkt154 – sowie Kopytmans Arrangement der Gedichtcollage gingen aus der politisch und kulturell vorherrschenden Form von Trauer hervor und untergruben sie zugleich. Ein wesentliches Element dieses hegemonialen nationalisierten Trauerns bestand Udi Lebel zufolge in der Anerkennung der Unausweichlichkeit des Schicksals, die wiederum den Entscheidungen von Politikern Legitimation bot. Die Eltern der Kriegstoten fühlten sich nicht als Opfer, da ihr Verlust als Teil der kollektiv-normativen Anstrengung, das Land aufzubauen und zu verteidigen, wahrgenommen wurde. Dieser gegen das Opfergefühl gerichtete Diskurs ließ der Verbitterung der Eltern keinen Raum; ihre Trauer wurde mit dem Glauben aufgeladen, dass ihre Söhne den richtigen Weg gegangen seien, während sie selbst durch die öffentliche Zurschaustellung ihrer heroischen Tapferkeit zu »lebenden Monumenten« gemacht wurden. Indem sie Verzweiflung und Schmerz unterdrückten oder verbargen, hielten sie die Kampfmoral derer aufrecht, von denen man erwartete, dass sie in die Fußstapfen ihrer gefallenen Söhne treten würden. Diese hegemonialen Muster führten dazu, dass trauernde Eltern zum Adel des Landes gezählt wurden.155 Doch angesichts von 2.569 toten Soldaten, umgekommen in einem Krieg, der durch ein schweres nachrichtendienstliches Fiasko ausgelöst worden war, und von täglich mehr als hundert Begräbnissen über einen Zeitraum von sechs Wochen, kam nach 1973 eine politische Kultur des Unmuts und der Kritik an bislang hochrespektierten Füh152  Robert Alter, Yehuda Amichai. At Play in the Fields of Verse, Jewish Review of Books, 2.2 (2011): 39. 153 Mark Kopytman, October Sun, Tel Aviv 1985, 17. Die Verse stammen aus Jehuda Amichai, Jerusalem 1973, in: ders., Wie schön sind deine Zelte, Jakob, 50. 154  Alter, Yehuda Amichai, 40. 155  Udi Lebel, The Creation of the Israeli »Political Bereavement Model« – Security Crises and their Influence on the Public Behaviour of Loss. A Psycho-Political Approach to the Study of History, Israel Affairs, 12.3 (2006): 439–444.

Kopytman und die Transkription jüdischer Heterofonien

271

rungsfiguren auf. »Die Erkenntnis, dass das Opfer unnötig war, führte zu einer rapiden Abkehr von der ›verordneten Zurückhaltung‹, die für betroffene Eltern seit der Entstehung des Staates Israel gegolten hatte.«156 In der Zeit nach dem Sechstagekrieg galt noch: »Durch die nationale Trauer erschien der Krieg größer, sowohl dem Ausmaß der Ängste angemessener, die im Vorfeld geherrscht hatten, als auch der Dimension des Sieges. […] Häufig wurden den gefallenen Soldaten jene Eigenschaften zugeschrieben, die von der Gesellschaft besonders geschätzt und gepflegt wurden«, und sagte man ihnen »politische Auffassungen nach, die den Krieg, die Eroberungen und sogar den Tod rechtfertigten«.157 Doch nach 1973 wurde der Kriegstod als unnötig betrachtet und die Schuld weniger beim Feind als bei der eigenen Staatsführung gesucht. Und wenngleich paradigmatische Revolutionen ausblieben, wandten sich betroffene Eltern vom staatlich mobilisierten, hegemonialen Modell der Trauer ab und verhielten sich eigenwilliger.158 Für jemanden, der neu im Land war, zeigte Kopytman bewundernswertes Gespür in seinen musikalischen Kommentaren, die die politische Rhetorik der Trauer neben Amichais elegische Verse stellten. Neben der Nachahmung des Schofar umfasste October Sun auch ein ikonenhaftes hebräisches Kinderlied, »Der Mandelbaum blüht«, das derart verfremdet wurde, dass sich seine Bedeutung umkehrte. Ursprünglich an Tu Be-Schewat gesungen, einem kleinen jüdischen Feiertag, mit dem am 15. des Monats Schewat (meist im Januar) das Neujahrsfest der Bäume begangen wird, wurde das Lied 1948 in einem Liederbuch für Schulen und Kindergärten veröffentlicht und zum Bestandteil einer staatlich zentralisierten nationalen Musikerziehung, die neue Volkslieder zum Zweck hebraistischer Sozialisierung verwendete.159 Die zionistische Kultur hatte diesen Feiertag nationalisiert: Sie verwandelte ihn in ein Mittel der Kolonisierung, das die eigene Ideologie stützte, und einen Akt des Gedenkens, bei dem im ganzen Land Bäume gepflanzt werden – als Symbol seiner Befreiung und der Wiederherstellung seiner biblischen Waldlandschaften.160 Nachdem er das Lied von seiner Tochter Maya, damals eine Siebtklässlerin, gelernt hatte, fragmentierte Kopytman es und verunreinigte seine D-Dur-Harmonie durch Es-MollAndeutungen im Alt-, Cello- und Klavierpart (Beispiel 3.11b–c). Während man 156 

Lebel, The Creation of the Israeli »Political Bereavement Model«, 445. 1967, 504. 158  Udi Lebel, Postmortem Politics. Competitive Models of Bereavement for Fallen Soldiers in Israeli Society, Journal of Modern Jewish Studies, 5.2 (2006): 167 f. Vgl. auch Alon Gal, The Tanks of Tammuz and The Seventh Day. The Emergence of Opposite Poles of Israeli Identity after the Six Day War, Journal of Israeli History, 28.2 (2009): 155–173. 159  »Der Mandelbaum blüht« wurde von Menashe Ravina komponiert. Vgl. Moshe Bronzfat/Daniel Samburski, »Lieder- und Melodienbuch für Schulen und Kindergärten«, Jerusalem 1948 (Hebr.), Bd.  1, 42: Regev/Seroussi, Popular Music, 27–29. 160  Yael Zerubavel, The Forest as a National Icon. Literature Politics and the Archeology of Memory, Israel Studies, 1.1 (1996): 60–99. 157 Segev,

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272 Kapitel 3:  Die 1960er und 1970er Jahre

Beispiel 3.11: b) Kopytman, October Sun, Abschnitt G. © Mit freundlicher Genehmigung des IMI Israel Music Institute, Tel Aviv.

Kopytman und die Transkription jüdischer Heterofonien

273

Beispiel 3.11: c) »Der Mandelbaum blüht«, aus: Moshe Bronzfat/Daniel Samburski: »Lieder und Melodien für Schule und Kindergarten« (Hebr.), Jerusalem 1948, I, 42.

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274

Kapitel 3:  Die 1960er und 1970er Jahre

Beispiel 3.12: a) Kopytman, About an Old Tune (1977), Abschnitte A–C. © Mit freundlicher Genehmigung des IMI Israel Music Institute, Tel Aviv. A 5"

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Kopytman und die Transkription jüdischer Heterofonien

275

vall selbst gerät – durch Entkörperlichung – zu einem Kommentar über die Kluft zwischen dem Sichtbaren und dem Hörbaren: Was als kleine Terz notiert ist, klingt im D-Moll-Kontext wie eine übermäßige Sekunde, die etwas andeutet, was ein sich herausbildender ukrainisch-dorischer Melodietypus sein könnte, dessen dritte Stufe (F) inmitten chromatischer Gleitbewegungen in einer auf A zentrierten heterofonen Zone aufflackert (Beispiel 3.12a, Abschnitt C). Im nächsten Segment pendelt der Einklang von H nach Des, ähnlich dem, was Kopytman möglicherweise gelesen oder in Aufzeichnungen jemenitischen Psalmengesangs gehört hatte;161 dies wurde in einer Textur arrangiert, die aus fast identischen, aber leicht verschobenen Melodien besteht, deren Pulsieren einen heterofonen Bereich erzeugt. Aus kleinen und großen Sekunden gebildet, aktivieren diese Melodien diagonal aufblitzende übermäßige Sekunden, die aus vier sich überschneidenden Verfahren resultieren: biegsame Einklänge, übersetzt in Zellenharmonie; pendelnde Rezitationstöne (beide Verfahren übernahm Kopytman aus der jemenitischen Heterofonie); verschwommene Anklänge osteuropäischer Melodietypen, die durch flüchtige tonale Anspielungen entstehen; und heterofone Zonen als Ergebnis einer horizontalen Meiose (Vervielfältigung) der eröffnenden A–B-Zelle (Abschnitt D). Gegen Mitte des Werkes intensiviert Kopytman seine heterofonen Zonen durch Verlängerung der melodischen Zellen, wobei er deren Quellen im Ergebnis weiter verwässert. In Abschnitt G zum Beispiel sehen wir eine beschleunigte Meiose der eröffnenden A–B-Zelle, durch die Kopytman melodische Fragmente unterschiedlicher Länge transkribiert, die alle aus der Eröffnungszelle schöpfen (Beispiel 3.12b). Nebeneinandergestellt, flüstern diese Fragmente, unterbrochen durch unterschiedliche lange Pausen (in den Noten durch Apostrophe verzeichnet), die kurzen, verdichteten Formulierungen der Zelle sowie die zusätzlichen falsch notierten übermäßigen Sekunden (ein Echo des As–F aus der Eröffnung, vgl. Beispiel 3.12a, Abschnitt B), die in den einzelnen Parts der Streicher sowie zwischen ihnen aufflackern (Beispiel 3.12b). Um Monochromie zu vermeiden, führen die nächsten beiden Abschnitte (H und I) verlängerte melodische Konturen ein, die aus der Verkettung der verlängerten Zellen entstehen, deren intervallischer Gehalt von kleinen Sekunden bis zu verminderten Terzen reicht; mit einem Crescendo gehen sie in eine vokal dichte Textur über, die diese intervallischen Bezüge mehr und mehr überflutet. Kopytmans pulsierende Masse von Klängen bildet somit zugleich den Migrationsprozess oraler jüdischer Musiktraditionen nach und verkündet die Vervielfältigung der weiter oben im Buch erwähnten Gestalten des »Ostens«. Diese Vervielfältigung ist wiederum das Ergebnis geschickt konstruierter Texturen, hervorgehend aus östlichen Zügen und Melodietypen, deren Verkettung durch Zellenharmonie 161  NSA, Y05564–7, Y06325–6; Arom/Sharvit, Plurivocality in the Liturgical Music of the Jews of San’a, 38–67.

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Kapitel 3:  Die 1960er und 1970er Jahre

Beispiel 3.12: b) Kopytman, About an Old Tune, Abschnitt G. © Mit freundlicher Genehmigung des IMI Israel Music Institute, Tel Aviv. G

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Verwässerter Hebraismus, deterritorialisiertes Judentum

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im selben Stück zu, wo ihre Differenzen in der Zeit erklangen. Die Liminalität des about kam entsprechend Erinnerungen gleich (und entstand durch sie), die zwischen zentripetalen und zentrifugalen Kräften von Gravitation und Verwässerung zerrissen waren. Das Stück zeugt zugleich von der Distanz zwischen dem Komponisten und den jüdischen Musikmerkmalen und Zügen, mit denen er sich nur dann identifizieren konnte, wenn sie durch pulsierende Texturen aus der jemenitischen Liturgie und Andeutungen osteuropäischer Melodietypen aufgelöst wurden, und nur dann, wenn in diesen Texturen und Andeutungen wiederum die Abwesenheit ihrer Quellen eine klangliche Präsenz fand. Weder durch die hebraistische Vergangenheit der israelischen Kunstmusik noch durch ihre Nachwirkungen in den 1970er Jahren gefesselt, wurde Kopytmans Annäherung an eine jüdische musikalische Vergangenheit durch verblasste und unerreichbare Objekte möglich, zu denen der Beobachter keinen direkten Kontakt suchte; sie bestanden in Kontiguitäten. Die Identifikation durch Simulakren und die Annäherung an ein abwesendes Thema (oder an mehrere) durch die gleichzeitige Entfaltung seiner Varianten war nicht nur für politische Kommentare geeignet (wenngleich vermittelt durch Amichais Redensarten), sondern kam auch kulturellen und musikalischen Formen von Gedächtnis gleich, die von Kontiguität geprägt waren und ebenfalls heterofone Texturen aufwiesen.

Verwässerter Hebraismus, deterritorialisiertes Judentum Den ganzen Tag lang summte sie [Großmutter] Melodien aus Orten vor sich hin, an denen sie offenbar ohne Angst vor Mikroben gelebt hatte, ohne die Grobheit, die hier angeblich alles infizierte. […] Großmutter las mir ein oder zwei Geschichten vor, streichelte mir die Wange, küßte mich auf die Stirn und rieb sie mir dann sofort mit dem parfümgetränkten Taschentuch ab, das sie immer im linken Ärmel bereithielt, um Mikroben wegzuputzen oder zu zerquetschen, und löschte das Licht. Auch danach summte und summte sie leise weiter im Dunkeln, aber es war eigentlich kein Summen, sondern, wie soll ich es sagen, sie ließ einen fernen, träumerischen Ton langsam aus sich herausfließen, einen angenehm dunklen, nußbraunen Klang, der langsam, nach und nach zum Hauch eines Tons wurde, zu einem Farbton, zu einem Duft, zu zarter Rauheit, zu brauner Wärme, zu lauem Fruchtwasser. Die ganze Nacht. Amos Oz, Eine Geschichte von Liebe und Finsternis162

Kaum zwei Monate nach dem Sechstagekrieg formulierte Amos Oz eine erstaunliche Erkenntnis, in der sich rückblickend betrachtet die Polarisierung der israelischen Politik ankündigte. Wie das obige Zitat aus seinem autobiografischen Roman zeigt, vermochte Oz zu sehen und hören, was sich unter einer Rhetorik verbarg, die einen binären Gegensatz von Hebraismus und Judentum 162 Oz,

Eine Geschichte von Liebe und Finsternis, 139 f.

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Kapitel 3:  Die 1960er und 1970er Jahre

aufbaute; er vernahm unterirdische jüdische Stimmen und stimmte durch sie sein Schreiben darauf ab, der Symbiose von jüdischer Kultur und westlichem Humanismus ein Echo zu geben – einer Symbiose, die der hebraistische Apparat rhetorisch verwerfen musste, weil sie eine bestimmte Definition der jüdischen Kultur einschloss. Doch der Sechstagekrieg drohte das kulturelle und historische Gleichgewicht dieser Verbindung zu zerstören. Als die jüdischen historischen Mythen erst einmal die säkularisierten Schablonen durchbrochen hatten, in die der hebraistische Diskurs sie gebannt hatte, hemmten sie die Produktion kultureller Hybride noch weiter zugunsten von Reflexen, die immer tiefer in die mythologische Vergangenheit zurückgriffen; die diasporischen Risse, aus denen zahllose jüdische Identitäten hervorgegangen waren, wurden dabei ausgeblendet. Dagegen behauptete Oz 1967 in einer Reihe von Artikeln, es finde sich »häufig ein Stück bewußter oder unbewußter Selbsttäuschung in diesen Wendungen, die absichtlich von ihrem religiösen Zusammenhang losgelöst werden, um eine wesentlich national-säkulare Ideologie zu schmücken«.163 Aus seiner Sicht stellte der Aufstieg des territorialen Maximalismus den Zionismus vor die Wahl zwischen zwei Optionen: Erlösung des Landes oder Befreiung der Menschen. Die erste würde zur Kolonisierung der Palästinenser führen, die zweite den Verzicht auf die besetzten Gebiete erfordern. Das Wort »Befreiung«, betonte Oz rund zwei Monate nach dem Sechstagekrieg in einem Zeitungsartikel, ergebe nur für Menschen Sinn, nicht für Gebiete.164 Im Oktober des Jahres formulierte er im Bemühen, sein Jüdischsein mit seinen zionistischen Ansichten in Einklang zu bringen, den Gedanken eines »Sich in Bezug Setzens«, der sich gegen die zionistische Teleologie und ihre rhetorischen Reinigungen richtete, indem er auf die dialektischen Kettenreaktionen der jüdischen Kultur vor Palästina und nach der Staatsgründung Israels verwies: »Sich in Bezug setzen« bedeutet weder ununterbrochene Kontinuität noch Neubeginn. »Sich in Bezug setzen« bedeutet ständige Beziehung zur jüdischen Vergangenheit. Die hebräische Sprache, das Gesetz und die Rechtspflege, die Gebräuche, die Kinderlieder, die Literatur – all dies verweist unablässig auf das Erbe der jüdischen Kultur. Das ist keine Neuinterpretation einer alten Kultur, wie die Schüler von Achad Ha’am es wollen, und auch kein Sprung in Vergangenheit, um an die uralten vorjüdischen Zeiten anzuschließen, wie die Schule von Berdyczewski […] behauptet. Es ist eine indirekte, gewundene, dialektische Bezugnahme, beladen mit Konflikten und Spannungen, voller Aufbegehren und gefühlsmäßiger Nostalgie und reich an Widersprüchen und Gegensätzen. Ich gehöre zu jenen, die glauben, daß diese Konflikte und Spannungen, diese Gegensätze und Widersprüche nicht zu geistiger Armut und Schalheit führen. Im Gegenteil: Sie sind eine Ader kulturellen Reichtums, eine fruchtbare Quelle geistiger Dynamik. Als nichtgläubiger Jude bin ich begeistert vom aufregenden Reichtum, der im Knäuel unseres 163 Amos Oz, Die Bedeutung der Heimat, in: ders., Die Hügel des Libanon. Politische Essays, übers. v. Christoph Groffy, 17. 164 Amos Oz, »Der Minister für Verteidigung und Lebensraum« (Hebr.), Davar (22.8. 1967).

Verwässerter Hebraismus, deterritorialisiertes Judentum

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Daseins hier verborgen liegt, im Lande der Juden, die sich zum Judaismus in Bezug ­setzen.165

Oz verstand die jüdische Vergangenheit »weder als ein mystisches Gebot noch als einen bösen Traum«166 und sah das Judentum als eine Zivilisation, die ein offenes Spiel der Interpretationen zuließ. Mit den kulturellen Folgen des Sechstagekriegs befasste er sich auch 1982 in einer historischen Rede in Ofra, einer Siedlung im Norden der Westbank, die Anhänger Zwi Jehuda Kooks – angetrieben von dessen Attacken auf die Politik der israelischen Regierung sowie von ihrer Angst vor territorialen wie spirituellen Rückzügen – 1975 gegründet hatten.167 Der Nationalstaat, argumentierte Oz, sei ein bloßes Werkzeug – notwendig für die Rückkehr nach Zion, aber nichts, in das man »verliebt« sein sollte. Nachdem die Juden zweitausend Jahre lang »das Modell einer Zivilisation ohne ›staatliche Organe‹« aufrechterhalten hätten, dessen Ende durch die Ermordung der Juden Europas besiegelt worden sei, hätten sie entschieden, »das ›Spiel der Nationen‹ mitzumachen«.168 Doch die »Verwandlung des Staates und seiner Organe von einem Instrument in einen Selbstzweck, in ein Objekt von Kult und Anbetung«, glich Oz zufolge – sei es in Form von Etatismus oder im Kontext des Judentums – einem »Götzendienst«.169 Nach dem Krieg von 1967, fuhr Oz fort, habe sich eine Konfrontation abgezeichnet: Den Mitgliedern der Kibbuzbewegung, die nach Verbündeten gegen das vergiftende nationalistische Klima suchten, das sich über das Land legte, sei die messianische Terminologie der Studenten von Kooks Rabbinerschule fremd gewesen; schlimmer noch, was sie sprachlos machte und bestürzte, war deren »Abgestumpftheit« gegenüber dem moralischen Problem, dass Israel nun zu einer Besatzungsmacht wurde.170 Hatte diese religiöse Jugend zuvor unter einem Minderwertigkeitskomplex gegenüber der Arbeiterbewegung gelitten, so setzte der Krieg ihrem ambivalenten Verhältnis zur Politik der Arbeitspartei ein Ende; besonders symptomatisch dafür, wie sie den bisherigen Konsens zertrampelte, war ihre ethnozentrische, »messianische«, apokalyptische und hochmütig-herablassende Rhetorik, die das Judentum auf seine religiöse Dimension reduzierte, wobei ein einziges Motiv im Mittelpunkt stand – die »Unteilbarkeit des Landes«.171 Doch mit einer solche Rhetorik, argumentierte Oz (der der entthronten Elite angehört hatte),172 offenbare die neue Elite der religiösen Zionisten nur ihre Trennung zwischen dem religiösen Ursprung der jüdischen Zivilisation und 165 

Oz, Die Bedeutung der Heimat, 18 f. Oz, Die Bedeutung der Heimat, 33. 167  Inbari, Messianic Religious Zionism Confronts Israeli Territorial Compromises, 31. 168  Amos Oz, Im Lande Israel. Herbst 1982, übers. v. Raya Natenbruk, 108. 169 Oz, Im Lande Israel, 109. 170 Oz, Im Lande Israel, 110 f. 171 Oz, Im Lande Israel, 111. 172  Vgl. Kapitel 4. 166 

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den aus ihm entstandenen geistigen Perspektiven, »die das religiöse Erlebnis befruchteten, veränderten und sich gegen dieses auch auflehnten: Sprache und Gebräuche, Lebensweisen und typische Empfindlichkeiten (vielleicht müßte man sagen: Empfindlichkeiten, die typisch waren), Literatur und Kunst, Ideen und Meinungen. Alles das ist Judentum. Die Auflehnung und die Ketzerei in ferner und naher Vergangenheit – auch das ist Judentum. Ein großes und umfangreiches Erbe.«173 Rituell behandelt drohe sich das Judentum jedoch von einer Zivilisation in ein Museum zu verwandeln, dessen Wächter bloß die Ausstellungsobjekte polieren, vorsichtig deren Bedeutung abschätzen und schließlich die Schlüssel zum Museum ihren Söhnen vererben. Eine solche »museale Zivilisation« lasse zwangsläufig »die schöpferischen Kräfte schrumpfen und verkümmern«. In einem pluralistischen Geist praktiziert, sei das Judentum hingegen eine »lebendige Zivilisation«, »das Drama eines Kampfes zwischen Deutungen, äußerlichen Einflüssen und Akzenten. Ein ständiger Kampf um das, was wichtig und nebensächlich ist. Eine Auflehnung zum Zwecke der Erneuerung. Ein Zerschlagen zum Zwecke des Neu-Zusammensetzens. Und auch das Feld räumen für ein neues Ringen, für eine neue Schöpfung.«174 Und wenn das Judentum als lebendige Zivilisation einem Drama und nicht einem Museum, einem schöpferischen Prozess und nicht einem Ritual gleicht, dann sind Pluralismus und Kreativität keine Verirrungen oder eine Verdunkelung seines Kerns, sondern das natürliche Klima einer lebendigen Kultur, in der Rebellen und Zertrümmerer, Häretiker und Zweifler als Vorboten von Schöpfung und Erneuerung auftreten. Der schicksalsträchtige, prägende und unwiderrufliche Moment in diesem Drama, gleichsam seine Zentrifugalkraft, war laut Oz die Begegnung des Judentums mit dem westlichen Humanismus (besonders in seiner liberalen und sozialistischen Prägung), zwischen denen er erstaunliche Ähnlichkeiten erkannte. Die geistigen Produkte dieser Ehe, die in hebräischen Kunstwerken (inner- wie außerhalb Israels) deutlich wurden, waren nun jedoch mit einem territorialen Maximalismus konfrontiert, der drohte, »das Judentum entscheidend zurückzuwerfen, bis hin zum Buche Josua, bis zu den Tagen der Richter, zurück zum Stadium einer fanatischen, grausamen und geschlossenen Stammesgesellschaft«.175 Zur Verdeutlichung hob Oz gegenüber den Bewohnern von Ofra einen markanten Unterschied zwischen den neuen religiös-zionistischen Pionieren, die für sich beanspruchten, den göttlichen Plan zu verstehen und seine autorisierten Deuter zu werden,176 und ihren Vorläufern in den 1920er und 1930er Jahren hervor. Deren Werke seien 173 Oz,

Im Lande Israel, 113. Im Lande Israel, 114 f. 175 Oz, Im Lande Israel, 116. 176  Vgl. dazu Yeshayahu Leibowitz, Judaism, Human Values, and the Jewish State, übers. v. Eliezer Goldman u. a., Cambridge, MA, 1992, 123–127; David Ohana, Political Theologies in the Holy Land: Israeli Messianism and its Critics, London 2009, 76–92. 174 Oz,

Verwässerter Hebraismus, deterritorialisiertes Judentum

281

nicht geringer zu beurteilen als die Werke des religiösen Judentums der vergangenen Jahrhunderte. Ich meine damit gemeinschaftliche, wie den Kibbutz, ebenso wie individuelle Werke in Philosophie, Literatur, Kunst und allen kreativen Bereichen. […] Und tatsächlich, was geschieht bei euch im Bereich der geistigen Kreativität? Warum gehören die meisten kreativen Menschen im Lande, Gott schütze, der »Linken« an? Ist das eine Konspiration? Hat Damaskus die ganze hebräische Literatur aufgekauft? Wie soll man die Tatsache erklären, daß sich die künstlerische, ideologische und philosophische Kreativität in Israel – nicht in ihrer Gesamtheit, aber zum großen und vielleicht auch zum besten Teil – heute in einem besiegten, verwundeten, sich auflösenden Lager äußert? […] Sagt […] nicht, daß »ihr zu beschäftigt seid, um ein geistiges Werk zu schaffen«. Zur Zeit der zweiten und dritten Einwanderungswelle und auch später war die Arbeiterbewegung mindestens so »beschäftigt« wie ihr heute, und dessen ungeachtet erlebte sie eine schöpferische Blütezeit. Warum findet man bei euch eine öde Wüste im Bereich der Kreativität?177

Abgesehen von Volksliedfestivals, die sich einen chassidischen Anstrich gaben, ihre eigentliche Botschaft aber durch die Texte vermittelten,178 hatte das religiös-nationalistische Lager tatsächlich kaum etwas zum kulturellen Diskurs jenseits der Religion beigetragen. Den politischen Zionismus hatte fraglos ein inklusives Verständnis des Judentums ausgezeichnet; er hatte erkannt, dass es der jüdischen Aufklärung nicht gelungen war, das Judentum ohne die Werkzeuge der Staatlichkeit als eine Zivilisation aufrechtzuerhalten (wie mit der Ungeheuerlichkeit des Holocaust deutlich geworden war), und entschied sich daher für eine Rückkehr in die Familie der Nationen – allerdings nur, weil die Existenz außerhalb dieses Rahmens sich für Juden als fatal erwiesen hatte. Während der letzten 130 Jahre bedeutete »die Entscheidung, Zionist zu sein, keine Aufgabe anderer Aspekte der jüdischen Identität«, argumentierte Taub kürzlich, doch durch die langjährige Besatzung sei zunehmend in Vergessenheit geraten, dass der Zionismus zwar das Verständnis der Diaspora als einer langen Haftstrafe, die das Volk Israels verbüßen müsse, revolutionierte, er aber zugleich nur eine Wende in einer kontinuierlichen Vergangenheit darstellte und nicht vollständig mit ihr brach. Anstatt jedoch »den Konflikt mit den Siedlern über die Bedeutung des jüdischen Erbes zu suchen«, so Taub weiter, »waren viele versucht, in Israel zwei unversöhnliche Lager auszumachen: die, die an die Demokratie glaubten, und die, die an die jüdische Tradition glaubten«.179 Als der religiöse Zionismus aus dem grammatikalischen und psychologischen Futur der messianischen Sprache ein Präsens machte, bedrohte er den Mechanismus, der eine Balance zwischen »glühenden Visionen, nüchterner Anerkennung der Realitäten und einem hervorragenden Gespür für den richtigen historischen Zeitpunkt« (Oz) gewährleistete.180 Die Gefahr bestand darin, wie Lei177 Oz,

Im Lande Israel, 126–128. Popular Music, 127 f. 179 Taub, The Settlers, 163 f. 180 Oz, In the Land of Israel, übers. v. Maurie-Goldberg Batura, San Diego 1983, 130 (Anm. d. Übers.: In der deutschen Ausgabe – Im Lande Israel – fehlt dieser Satz). 178 Regev/Seroussi,

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bowitz schreibt, Nationalismus und Patriotismus als religiöse Werte anzunehmen und nationale Interessen in einem Staat, in dem die Mehrheit nicht die Autorität der Tora anerkennt, mit dem Dienst an Gott gleichzusetzen.181 Und in eben dieser Zeit war das Judentum für israelische Komponisten ein künstlerisches Ausdrucksmittel geworden, das das durch den Niedergang der hebraistischen Schablonen entstandene Vakuum füllte. Abgetrennt von ihren nationalistischen Funktionen erfuhren die entsprechenden Vehikel eine Neuausrichtung und ermöglichten dadurch Komponisten wie Avni und Kopytman eine Formulierung, die beinahe im Kontrast zur politisierten Theologie der 1970er Jahre stand. In vieler Hinsicht kehrten Avni wie Kopytman zu einem Modus von Komposition zurück, wie er Bloch, Schönberg, Castelnuovo-Tedesco und andere im ersten Kapitel erwähnte Künstler gekennzeichnet hatte. Jenseits der Frage, in welchem Sinne diese Komponisten jüdisch waren und wie sie mit dem Regime der Repräsentation zu kämpfen hatten, waren Avnis und Kopytmans Werke mehr als nur eine Erinnerung an die Unmöglichkeit von Ganzheit, denn ihre Musik war Teil des Soundtracks zu einem lebendigen Drama, dem sie selbst unauflöslich angehörten. In den späten 1960er Jahren, als israelische Komponisten nationalistische Ikonen der Musik durch musikalische, literarische oder poetische jüdische Topoi ersetzten, die ihre Werke nicht nur inspirierten, sondern bis in deren Texturen, Modi und Syntax eindrangen, wurde durch die Verwässerung der nationalen Onomatopoesie in der Musik von Boskovich, Seter, Tal und selbst des jungen Avni ein Übergang möglich. Über die linearen musikalischen Wechselspiele hinaus, die sich den linear von Mainz ins befreite Jerusalem führenden historiografischen Diktaten widersetzten, erlaubte Avnis privater Modus in Epitaph es alten Musikmerkmalen, sich ohne ihre tonale Kontingenz horizontal zu entfalten und dabei neue Bedeutungen anzunehmen. Für Avni war dies eine Form des Gedenkens, die sowohl (nach dem Tod seiner Mutter und seiner Frau) familiäre Erinnerungen betraf als auch jene unterirdische osteuropäische Klanglandschaft (erneut) aufsuchte, deren Geisterstimmen das säkularistisch-hebraistische Furnier prägten, aber unbeachtet blieben. In Kopytmans Werken wurden die Klänge, die zwei Gestalten des musikalischen »Ostens« verkörperten, von ihrer kulturellen Geschichte und Dialektik abgeschnitten, die der Staatsgründung vorausgingen und sowohl die bestimmenden Prinzipien musikalischer Eigenschaften als auch deren mündliche Überlieferung betrafen. Zwar konnte er die Werke von Boskovich, Ben-Haim, Seter, Tal und anderen zurate ziehen, aber es fehlte ihm die historische Erfahrung (so wie er auch von ihr unbeschwert war), vor deren Hintergrund solche musikalischen Formulierungen entstanden waren; und da er jüdische Musik nur indirekt kennengelernt und die jemenitische Heterofonie nur durch Transkriptionen und Tonaufzeichnungen studiert hatte, konnte er nur 181 Leibowitz,

Judaism, Human Values, and the Jewish State, 226 f.

Seters Verstummen

283

über (about) etwas sprechen. Seine Nebeneinanderstellung gleichzeitig erklingender Varianten funktioniert somit in vieler Hinsicht wie eine paradigmatische Transkription unterschiedlicher Wiedergaben und gemeinsamer Melodieformeln, wobei er die Metapoetik und Vielstimmigkeit migrierender jüdischer Musiktraditionen auf mehreren linearen Ebenen verdichtete. Im Kontext der Entstehung und Beschränkungen moderner jüdischer Kunstmusik in Europa betrachtet, setzten Avni und Kopytman die Desartikulation des Jüdischen in der Musik sowohl durch die ihm zugeschriebenen klanglichen Stereotype wie auch durch jene Eigenschaften fort, die, abgelöst von ihrer nationalen Funktion, in den 1950er und 1960er Jahren die nationale musikalische Onomatopoesie verwischten. Dennoch waren die aus dem langen Diskurs der jüdischen Musik und der modernen europäischen Kunstmusik hervorgehenden Verbindungen (was sie eher waren als Mischungen) nicht frei von der modernen Doppelpraxis von Übersetzung und Reinigung; der Unterschied bestand jedoch darin, dass sie die reinigende Rhetorik der Nation umgingen und durch Arrangements ersetzten, die genau zu dem Zeitpunkt mit Signifikation, Wiederzusammensetzung und Desartikulation rangen, als der jüdische Nationalismus die in seiner Sprache verschlüsselten (und von Scholem erkannten) territorial-expansionistischen Kräfte entfesselte. Vor dem Hintergrund der Übersetzung von theologischem Determinismus in einen territorialen Maximalismus, der auf Kosten areligiösen kulturellen Schaffens einen – nunmehr gegen den Arbeiterzionismus gerichteten – entsprechenden Abgrenzungsmechanismus hervorbrachte, hatten Avni und Kopytman zum sich entfaltenden Drama der jüdischen Zivilisation (um Oz zu paraphrasieren) ihre musikalischen Akte beigetragen – Akte, die den zeitgenössischen expansionistischen Diskurs und damit die Bedeutung schlechthin von jüdischer Kultur deterritorialisierten.

Seters Verstummen Nicht jeder konnte am kulturellen Interregnum der 1970er Jahre und dem Zusammenbruch hebraistischer Mythen teilhaben. Für Seter brachte das Abrücken von Erlösungsnarrativen eine Schaffenskrise mit sich, von der er sich nie mehr erholte. Zahlreiche Kommentare in seinen Notizbüchern dokumentieren eine Sackgasse, auf die – beinahe reflexhaft – eine Verschiebung poetischer Akzentsetzungen folgte: Während Seter seine linearen Kompositionstechniken weiterentwickelte, wurden »visuelle« Cantus firmi weniger erkennbar; in ihrer Unwahrnehmbarkeit erhielten sie textlose, latent eschatologische Bedeutungen. Indem er seine Erlösungsnarrative zum Verstummen brachte, verstummte der Komponist allmählich selbst. In den späten 1970er Jahren hatte Seter nur wenige Gesprächspartner; er zog sich in die Einsamkeit zurück und dachte über neue »musikalische Stimulanzen« in Form von Intervallen, Proportionen und syn-

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thetisierten Modi nach. Wer Seters Werk kennt, kann die dramatische Veränderung der Titel seiner Kammer- und Klavierwerke kaum übersehen: Intimo (1970), Monodrama (1970), Janus (1972), Soliloquio (1972–73), Intervals (1973), Sine Nomine (1973) und andere fanden eine Entsprechung in Hunderten von Notizbuchseiten, auf denen Seter die Entwicklungen nach seinen großangelegten Konstellationen der 1960er Jahre sowie den eigenen Stillstand in der folgenden Dekade reflektierte. Doch obwohl gleich er eine Krise spürte, versuchte er zumindest auf dem Papier), seine früheren erlösenden Konstruktionen nachzubilden. Deren Verbindung mit nationalen Narrativen machte Werke wie Midnight Vigil eher zum einem Teil des hebraistischen Diskurses (auch wenn sie dessen Autoexotismus der vorstaatlichen Ära verwässerten und dekonstruierten), als dass sie dem (erneuten) Auftauchen eines deterritorialisierten Jüdischen in der Musik zuzurechnen wären. Midnight Vigil griff zwar auf midraschische und soharische Texte zurück, Seter und sein Librettist ordneten diese jedoch bewusst als eine Erlösungsgeschichte an, deren Apotheose Seter (im Jahr 1963) mit der Gründung des Staates Israel verglich.182 Für sich betrachtet war das Oratorium mit seinen aus mehreren Winkeln, durch Chöre, Sprecher, den Erzähler und Echos innerhalb des Orchesters erschallenden Klängen und der Verwendung nichtwestlicher jüdisch-liturgischer Musik das musikalische Pendant eines Textes und seiner Kommentierungen, doch zugleich wahrte es einen Erlösungsbogen parallel zur nationalen Allegorie und folgte dem Verfahren, jüdischen Inhalten national-teleologische Funktionen zuzuweisen (oder genauer: sie zu bändigen). In gewissem Maß antizipierte Midnight Vigil sogar spätere kompositorische Ansätze, doch wenn man Avnis zwei Beiträge zum Zyklus Jerusalem betrachtet (die in vieler Hinsicht der Versuch waren, in den Fußstapfen seines Kompositionslehrers Seter eine kleine Midnight Vigil zu schreiben), zeigt sich ein wesentlicher Unterschied. Während Seter volle Verfügung über den Text hatte und so sein Metanarrativ steuern konnte, war Avni für Jerusalem of the Heavens mit der Vertonung bestimmter soharischer Verse beauftragt worden, die die Gesamtkonstellation des Zyklus stützen sollten; Freiers Texteinschübe waren ihm dabei nicht bewusst, ihre umfassende, das jüdische Leiden betonende historische Linearität folglich ebenfalls nicht. Avni konnte dies nur durch musikalische Züge konterkarieren, die später in Epitaph und anderen stärker politisch gefärbten Werken der 1970er Jahre größere Bedeutung erlangten. Umgekehrt hatte Seter mit nachbiblischen, nicht für die nationale Allegorie reklamierten Quellen gearbeitet, die er jedoch selbst als »national-traditionell« oder »national-liturgisch« betrachtete; die Jakobsleiter-Szene in Midnight Vigil verstand er sogar als einen »Nationalmythos«.183 Zusammen betrachtet sind Seter und Avni eine weitere Manifestation jüdischer 182  183 

MSCN, NLI, MUS110 D8 [1963]. MSCN, NLI, MUS110 D13 [1969–71], D14 [1971–72], D19 [1978–80].

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285

Kontiguitäten; Avni hatte in den frühen 1950er Jahren Privatunterricht bei Seter genommen und verfolgte dessen modale und lineare Innovationen auch danach aufmerksam weiter,184 doch erst ihm selbst gelang ab den späten 1960er Jahren eine Deterritorialisierung jüdischer Topoi (insbesondere nach der Loslösung vom Manierismus des polnischen Sonorismus), da seine Vorstellungswelt nicht durch Allegorien der Erlösung beschränkt war. Seter konnte das Hebräische nie von seiner nationalen Funktion lösen: »Hebräisch ist für mich eine sakrale Sprache, die nicht wie jede andere für profanen, intimen Ausdruck verwendet werden kann«, schrieb er 1970. Mit einem Wortspiel führte er dies in einem Notizbucheintrag vom 26. November desselben Jahres aus: Hebräisch sei »sfat ami« (»die Sprache meines Volkes«), aber nicht »sfat immi« (»meine Muttersprache«). Die Heiligkeit des Hebräischen stand für Seter somit außer Frage, während er für intimen Ausdruck, wie er ergänzte, allein über »die Sprache der Töne« verfügte.185 Während sich Avni in Epitaph (Beispiel 3.9c) an Seters Synthese privater Modi orientierte, um jüdischen Klängen eine neue Gestalt zu geben, verstummte Seter daher allmählich, als er in intimer Weise Intervalle mit Leben erfüllte. Wichtige Gedanken sind in Seters Notizbüchern schwer zu übersehen. Er formulierte sie immer wieder neu und verfeinerte dabei, was anfangs zumeist eine imperative Aussage oder ein syntaktisch gebrochener Satz war. Genügte dies nicht, fügte er Zitate aus den Büchern ein, die er gerade las, um seine Argumente und Befunde zu stützen, ihnen ein Echo zu geben oder sie zu paraphrasieren. Mitte der 1960er Jahre notierte Seter, was ihn nun interessiere, sei das in der Folklore sich ausdrückende Ethos. Ähnlich wie die Bibel, deren Texte zu unterschiedlichen Zeiten von unterschiedlichen Personen umgearbeitet wurden und so eher ein nationales als ein persönliches Ethos ausdrückten, sei auch die Folklore ein Vehikel kollektiven Ausdrucks. (Schrieb er dies im Anschluss an Boskovichs Bemerkung aus den frühen 1960er Jahren über das kooperative Wesen von Volksmusik?)186 Die folgenden Notizbücher zeigen, dass das Material selbst Seter nicht mehr genügte; während seine (instrumentalen oder choralen) Erzähler in den 1950er und 1960er Jahren einen Text eher interpretierten als darstellten, war Seter in den späten 1960er Jahren zu dem Schluss gekommen, dass sich alles – Intervalle, Akkorde, Tonleitern, Motive, Rhythmen etc. – als musikalisches Material eigne, sofern es »in ein Material verwandelt werden kann, um es von seiner Materialität zu befreien«. An einigen Stellen formulierte er diesen Gedanken mit noch stärkeren Verben: Der Komponist solle das Material »erlösen« und etwas wesentlich Passives aktivieren. Und da es unmöglich war, die Gesamtheit des Materials zu beherrschen, entschied Seter, das Ganze 184  Seter führt Avnis Namen in drei Terminkalendern von 1952/53 auf: MSCN, NLI, MUS 110 D1 [1952/53]. 185  MSCN, NLI, MUS110 D13 [1969–71]; 26.11.1970. 186  MSCN, NLI, MUS110 D10–11 [1965]; Boskovich, The Jewish Suite, 49 f.

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auf ein begrenztes Musikmaterial anzuwenden. »Das ist die neue Perspektive, nach der ich gesucht habe«, schrieb er begeistert, »aber was könnte ihre Disziplin sein?« »Wo könnten neue Materialien herkommen?«187 Während er die Aktivierung einer alternierenden Zwölftonreihe in Betracht zog, die auf einen Cantus firmus infini hinauslaufen würde (»die Reihe selbst ist der diatonische Modus von zwölf Tönen«), notierte er, nun sei er dem Wald entkommen, in dem er jahrzehntelang umhergelaufen sei (»plötzlich liegt er hinter mir«).188 »Ein anderes Ethos finden«, ergänzte er später mit einem roten Stift, mit dem er auch die folgende (undatierte) Seite korrigierte, die den Keim seiner späteren Werke enthielt: »Der Ausdruckswert eines Akkords ist das Resultat seiner Struktur (der Intervalle, aus denen er gebildet ist), unabhängig von dem tonalen Rahmen, in dem er steht.« Diesen Gedanken wiederholte er mit einem Zitat aus Arthur Koestlers Der göttliche Funke: »der schöpferische Impuls, der im Trivialen zu ersterben droht, muß einen Rückzug antreten, um zu neuen Grenzen verstoßen zu können«.189 Die Achse Zerstörung-Exil-Erlösung, die Seters Werke von den 1940er Jahren bis in die späten 1960er durchzog190 und in der nächtlichen Halluzination von Midnight Vigil einen ihrer Höhepunkte fand, verwandelte sich nach und nach in eine nichttextuelle Erlösung des Materials selbst. Ende 1969 notierte Seter, nicht einen Text brauche er, sondern die latente Kraft hinter den Worten; nicht die deskriptive oder vermittelnde Kraft der Worte (dieses Moment hatte er schon in seinen Choralwerken der 1960er Jahre zugunsten der Interpretation von Texten abgelehnt), sondern etwas, das mehr ist als die Summe ihrer Eigenschaften.191 Eine der ersten Kompositionen, die aus dieser neuen Denkweise entstand, war Monodrama, eine »leichte Oper« (in Seters Worten) für Klarinette und Klavier, in der die Klarinette der Protagonist und jeder Satz eine dramatische Situation ist. Das Duo, der zweite Teil des Zyklus Chamber Music ’70, gehörte zu einer Reihe verhaltener musikalischer Dramen, in denen sich Seters zyklische Werke der 1970er Jahren ankündigten – Werke, »deren Rückgrat die Tonleiter ist«, wie er in seinem Notizbuch festhielt.192 Noch nie war ein israelisches Kammerwerk in einem solchen Stil geschrieben worden, der seinen Komponisten gewissermaßen im Selbstgespräch zeigte; lange Klarinettensoli, melodische Asymmetrien, athematische, aus einer kleinen Terz sprießende Melodien und ein Fluss zersplitterter Erscheinungen (von intervallischen Atomen bis zu Chiaroscuro-Tremoli in den unteren Registern des Klaviers), die die Sichtbar187 

MSCN, NLI, MUS110 D12 [1968–70]. MSCN, NLI, MUS110 D12 [1968–70]; 20.4.1969. 189 MSCN, NLI, MUS110 D12 [1968–70]; Arthur Koestler, Der göttliche Funke. Der schöpferische Akt in Kunst und Wissenschaft, übers. v. Agnes von Cranach, Bern/München/ Wien 1966, 399. 190  MSCN, NLI, MUS110 D18 [Januar–September 1978]. 191  MSCN, NLI, MUS110 D12 [1968–70]; 18.10.1969. 192  MSCN, NLI, MUS110 D12 [1968–70]. 188 

Seters Verstummen

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keit der auf der kleinen Terz beruhenden Zelle bestimmten, deuteten allesamt auf ein anderes Verständnis von Kammermusik hin. Während seine Kammerwerke der 1950er Jahre aus »Ensembles von Individuen« bestanden, notierte Seter am 10. August 1977 nach der Fertigstellung mehrerer Zyklen von Kammerkompositionen, seien es in den 1970er Jahren »Individuen in Ensembles« gewesen; und während diese Individuen in den 1950er Jahren noch ein Ensemble bildeten, taten sie es in den 1970er Jahren nicht mehr.193 Mit der Aufgabe von Worten verschob sich auch die Funktion des Cantus firmus in Seters Werken. Frühere Kompositionen umfassten eine Vielfalt von Cantus firmi, die entweder aus liturgischen Quellen oder Zwölftonmodi schöpften, aber stets erkennbare – in Seters Worten »sichtbare« – Themen hatten. Selbst das Ostinato aus 19 Noten in Midnight Vigil, das unwahrnehmbar sein sollte, war auf dem Papier und in gewissem Maß auch für das Ohr erkennbar. Mit dem Übergang zu synthetisierten Modi in den 1970er Jahren wurde das Thema »eher eine Melodie als ein Tema« und der Cantus firmus verborgen, so wie in Monodrama der Klarinettist-Protagonist nur gedämpft auftrat. Das Verborgene drückte für Seter Wandlungen seines temporären »Ich« aus, das er als eines seiner vielen »Ichs« sah, deren Projektionen lediglich Symptome der Gesamtpersönlichkeit des Komponisten zeigten. Dieser in den Notizbüchern häufig formulierte Gedanke fand eine Begründung und ein Echo in Saul Bellows Herzog, ein Text, in dem Seter sich wiedererkennen konnte:194 »Die notwendige Voraussetzung ist, daß der Mensch irgendwie mehr ist als seine ›Charakteristiken‹, alle seine Gefühle, Bestrebungen, Geschmäcker und Konstruktionen, die er ›Mein Leben‹ zu nennen beliebt. […] Durchdenke das Verständliche, und du kommst zu dem Schluß, daß nur das Unverständliche Licht spendet.«195 Anders als Bellows Protagonist jedoch, der, von häuslichen Krisen verfolgt, »sowohl den materialistischen Welten, in denen Geld der Gott ist, und jenen literarischen und philosophischen Welten, in denen Gott Tod und Brot ist«,196 die Stirn bietet, flüchtete Seter durch die Kunst, als er – zum ersten Mal – den nationalen Mantel abwerfen oder zumindest verbergen konnte. War es vielleicht dieser Mantel, was er als seinen »Wald« bezeichnet hatte? Seter mag sich mit dem Nihilismus, der Pedanterie und der individualistischen Kraft identifiziert haben, die Herzogs Leiden so sehr definierten wie sie seine Persönlichkeit belanglos machten, doch was ihm am meisten gefallen haben dürfte, war die Hoffnung, wie Herzog die Mittel der eigenen Genesung selbst zu entwickeln. Die Stelle aus Herzog wurde durch ein weiteres aufschlussreiches Zitat des französischen Philosophen Jacques Maritain ergänzt. In der Erkenntnis, was seine neuentstehende Subjektivität ihm abverlangen könnte, exzerpierte Seter einen Abschnitt aus 193 

MSCN, NLI, MUS110 D17 [1977–78]; 10.8.1977. MSCN, NLI, MUS110 D13 [1969–71]. 195  Saul Bellow, Herzog, übers. v. Walter Hasenclever, Köln 1997, 327. 196  Jonathan Wilson, Herzog. The Limits of Ideas, Boston 1990, 8. 194 

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den späten 1950er Jahren (in dem er einige Stellen noch hervorhob), erklärte sich so Maritains Einsichten und tröstete sich vielleicht auch mit ihnen. Seters Hervorhebungen in diesem Zitat verweisen auf die kabbalistischen Werke, die er gelesen hatte – Quellen, die seinen musikalischen Partikeln und synthetisierten Tonleitern neue latente Bedeutungen gaben –, während sie ihm zugleich die Gefahr einer Verkapselung seiner Subjektivität in sich selbst vor Augen führten: Der moderne Künstler […] er weiß, dass der Prozess der Dichtung und das Kunstwerk eine Offenbarung des kreativen Selbst sind; und aus demselben Grund wird ihm eine unerhörte Freiheit gewährt. Doch eben dieses Privileg und diese Freiheit sind auch ein Risiko und eine Gefahr für ihn. Denn indem er sich seinem Inneren zuwendet und nach der eigenen Subjektivität sucht, die er erfassen und ausdrücken will, kann er von den Dingen getrennt und in sich selbst eingesperrt werden; er kann zugleich den poetischen Funken der Kreativität und das Gespür für die zu leistende Arbeit verlieren – wenn er vergisst, dass das kreative Selbst nicht anders offenbart werden kann als in der gemeinsamen Offenbarung der Realität und der Trans-Realität der Dinge sowie einer gewissen geheimen Bedeutung, die in ihnen erfasst wird.197

Das folgende Notizbuch und beinahe alle der nächsten Dekade füllte Seter mit Analysen der eigenen Stile, Kompositionstechniken, liturgischen Importe und mit unterschiedlichen Periodisierungen seiner Musik. Dies endete fast immer mit Fragen, so als hoffte Seter, aus seiner Vergangenheit etwas ableiten zu können, das auf die nächste Stufe hindeuten würde. »Was kommt als nächstes?«, fragte er sich, »Polymodalität?«. Und wenig später: »Und was nun? Könnte das Intervall das Material werden?«.198 Cantus firmi traten in der Tat in den Hintergrund, als Seter nach einem »neuen Kontinuum« suchte, einem Steigerungen erlaubenden Rahmen, der das Verhältnis zwischen den Tönen neu bestimmen sollte. Anders formuliert: Wenn Seters früheres Kontinuum einen Raum für Tonalität und Modalität darstellte, dann war das sich nun herausbildende neue Kontinuum von Intervallen als »verdichteten Objekten« bevölkert, die mehr waren als bloße leere Rahmen oder akustische Einheiten, darauf harrend, mit musikalischem Material gefüllt zu werden.199 In neuen verhaltenen Opern traten nun Intervalle als Charaktere in den kompositorischen Vordergrund. Hinter ihnen waren Cantus firmi versteckt, die nur der Komponist entziffern konnte. Kurz nachdem er im Notizbuch bekannt hatte, wie schwierig und zugleich notwendig es für ihn sei, sich nach seinen Kammermusik- und Solozyklen der frühen 1970er Jahre neu zu finden,200 begann Seter an Sine Nomine für Soloklavier zu arbeiten (November 1972 bis März 1973). Hinter dem zurückhaltenden 197 Jacques und Raïssa Maritain, Œuvres Complètes, Paris 1985, Bd.   10, 936 (Hervorhebungen durch Seter). 198  MSCN, NLI, MUS110 D14 [1971–72]. 199  MSCN, NLI, MUS110 D15 [1972–74]. 200  MSCN, NLI, MUS110 D15 [1972–74]; 24.10.1972.

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Seters Verstummen

Beispiel 3.13: a) Seter, Sine Nomine (1973), I, Zeilen 1–4. © Mit freundlicher Genehmigung des IMI Israel Music Institute, Tel Aviv. Lento Enigmato w.= ca 32 (h=96)

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Titel des Werks verbargen sich gebrochene Projektionen eines synthetisierten Modus, dessen Segmente neue innere Hierarchien und Symmetrien aufwiesen. Ähnlich wie das Chiaroscuro-Arrangement des ersten Satzes der Motets (vgl. Kapitel 2) eröffnet Sine Nomine in der linken Hand mit matten, dezenten Akkorden in einer ruhigen Textur, die Seter als den Hintergrund konzipierte und deren Bewegung er mit »Menschen auf einem Trauerzug« verglich (Beispiel 3.13a).201 Nachdem er in der eröffnenden Zeile des Werks sechs Töne aus dem 201  Mordecai Seter, Sine Nomine, Tel Aviv 1977, 3; Uri Edelman, »Gespräche mit Mordecai Seter«, Gitit, 84 (1987): 22 f. (Hebr.).

290

Kapitel 3:  Die 1960er und 1970er Jahre

Beispiel 3.13: b) Seter, Sine Nomine, I, Zeilen 13–15. © Mit freundlicher Genehmigung des IMI Israel Music Institute, Tel Aviv.

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chromatischen Spektrum eingeführt hatte (B–Ces–Es–E–A–F; Beispiel 3.13a, Zeile 1), fügte er geduldig die anderen sechs Töne in einer Weise hinzu, die über jede Konsistenz oder hexachordale Kombinatorik hinausging: Was den eröffnenden Hexachord spiegelt, verstreute er über die nächsten acht Zeilen, stets als Ergänzung des verhüllten Ostinato, das die neuen Töne nur langsam aufnimmt. Seter brach den komplementären Hexachord zudem durch die Hinzufügung von G und As in Zeile 2 (Beispiel 3.13a), während er die Reihenfolge der verbliebenen Töne (im Verhältnis zum eröffnenden Hexachord) leicht änderte: Er vertauschte Des und C in Zeile 6 beziehungsweise 7 und Fis und D in Zeile 9 (anstelle von C–Des–Fis–D). Bei jedem dem chromatischen Spektrum hinzugefügten Ton lotet Seter die neuen Intervalle aus, die die anwachsende Sammlung nunmehr bietet, während er die Halbtonschritte zwischen den Akkordblöcken akribisch beibehält, selbst wenn eine solche Stimmführung benachbarte Register durchquert. Mit der Entfaltung des Werks erkennen wir in der Zelle, die aus dem Halbtonschritt von Ces nach B besteht, den Leit- und den Zentralton des

291

Seters Verstummen

Beispiel 3.13: c) Seter, Sine Nomine, II, T. 1–7. © Mit freundlicher Genehmigung des IMI Israel Music Institute, Tel Aviv. Amabile, sempre rubato (e =ca 112-120)

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gesamten Stücks; in den Zeilen 13–15 (Beispiel 3.13b) wird der Part der linken Hand auf ein Ostinato aus zwei Akkorden reduziert (E–F–A–H), deren intervallische Asymmetrie neben dem H (dem falsch notierten Leitton), das in Zeile 15 zum Tonus B gravitiert, zwei Dominanten aufweist, den tritonalen Knotenpunkt auf E und den tonalen auf F (Beispiel 3.13b). Doch das Register dieses Ostinato ist zu verschwommen, um als harmonischer Resonanzboden zu dienen, sodass die neuen intervallischen Formationen unter Synkopierungen den tiefen Bass aufhellen können. Vernäht durch Halbtonschritte, wachsen diese Schattierungen und Synkopierungen im zweiten Satz zu einem doppelten Kontrapunkt an, über den Seter am 3. Juli 1973 in sein Notizbuch schrieb: »die Töne ändern sich, doch die Intervalle bleiben aufgrund der doppelten Umkehrung die gleichen«.202 Damit meinte Seter die diversen Nebeneinanderstellungen von Zellen und neuen Intervallen, die durch Einsätze des zweiten Parts koordiniert werden. Ein Beispiel dafür findet sich gleich zu Beginn des zweiten Satzes: Der Hexachord Ges–F–As–C–Es–D wird seiner Krebsumkehrung gegenübergestellt, die um zwei Achtel verzögert einsetzt (Beispiel 3.13c, mm. 1–2). Die folgende Phrase widersetzt sich abermals jeder Konsistenz, da Seter nun ein anderes Muster verwendet: Er projiziert zwei gleich weit von B entfernte Zellen in Gestalt harmonischer Intervalle: Des–D– Es und G–Ges–F (Beispiel 3.13c, T. 2–3). Die letzte Phrase vor der ersten Kadenz schließlich weist eine weitere Zelle aus drei Tönen auf (B–Des–A), deren 202 

MSCN, NLI, MUS110 D15 [1972–74]; 3.7.1973.

292

Kapitel 3:  Die 1960er und 1970er Jahre

Beispiel 3.13: d) Seters synthetisierter Modus in Sine Nomine. © Mit freundlicher Genehmigung des IMI Israel Music Institute, Tel Aviv.

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Umkehrung um ein Achtel verzögert auf G einsetzt (G–E–Gis); doch Seter verletzt diese Symmetrie zugunsten eines Tritonus (F–H statt F–C) – ein Regelverstoß, der sein Äquivalent für eine harmonisch unaufgelösten Phrase gewesen sein könnte. Im Einklang mit dieser tonalen Metapher führen die Takte 6 und 7 wieder die erste Phrase ein, während die Krebsumkehrung des eröffnenden Hexachords seiner ursprünglichen Entfaltung vorangeht (Beispiel 3.13c, T. 4–7). Diese Züge unterschieden sich recht deutlich von dem verborgenen Modus, dessen Skizze Seter einigen Musikwissenschaftlern gegeben hatte (Beispiel 3.13d).203 Seine vierzehn Noten stehen nur in einer lockeren Beziehung zu Sine Nomine: Die ersten vier des ersten Satzes entsprechen dem eröffnenden Tetrachord der Skizze (die so auch die Zentralität des B für die Gesamtkomposition bestätigt); der eröffnende Hexachord des zweiten Satzes umfasst ihre Stufen acht bis dreizehn, während ihr oberes His möglichweise in der Kadenz in Beispiel 3.13c bewusst ausgespart wurde, um eine harmonische Auflösung zu verhindern. Seter mag diesen Modus im Hintergrund von Sine Nomine gehört haben, vielleicht verdunkelte er seine Beziehung zu dem Werk sogar zusätzlich durch unterschiedliche Notierungen, doch zeigt die Skizze den »verborgenen Cantus firmus«? Waren die drei Sätze symptomatisch für die vielen »Ichs« des Komponisten, gefiltert durch den latenten Modus?204 War das Intervall zum Material des Werks geworden?205 Aufschlussreicher als das Stück und sein verblassender Modus war vielleicht Seters Unvermögen, neuere Texte zu vertonen. Ende 1975 schrieb er, das Bedürfnis nach Stabilität habe ihn zur Komposition von Skalen getrieben;206 gelegentlich verglich er dies mit der Geschichte der geschriebenen Musik, die mit den Kirchentonarten begann, sich zur tonalen Musik weiterentwickelte und nun mit synthetisierten Modi und Athematik arbeitete.207 Doch Anfang 1977 gestand er sich seine Schaffenskrise ein, hervorgerufen durch die Kluft zwischen dem Nationalen und dem Individuellen.208 Im Herbst desselben Jahres setzte sich Seter auch mit dem Fehlen eines Ziels auseinander, wobei ihm bewusst war, dass dies nur ein Symptom jener Krise darstellte: »die Suche nach einem neuen Ziel, die Suche in dieser Leere vor seiner Her203  Vgl. etwa Natan Mishori, Sine Nomine, in: Miriam Boskovich/Yona Rosental-Bogorov (Hg.), Performance Guide for Israeli Piano Music, Tel Aviv 1987, 147; Seter, Yuvalim Be-Israel, 257, 268. 204  MSCN, NLI, MUS110 D13 [1969–71]. 205  MSCN, NLI, MUS110 D14 [1971–72]. 206  MSCN, NLI, MUS110 D16 [1974–76]; 4.11.1975. 207  Vgl. etwa MSCN, NLI, MUS110 D18 [Januar–September 1978]. 208  MSCN, NLI, MUS110 D17 [1977–78]; 10.2.1977.

Seters Verstummen

293

ausbildung […] ist der Ausdruck der Krise selbst.«209 Dies zeigen auch die zahlreichen Quellen, die er in den Notizbüchern zitierte: Baudelaire, Freud, Roger Caillois, Sergej Eisenstein, Marie Bonaparte, Michel Carrouges, Jacques Maritain, Helena Blavatsky, Arthur Rimbaud, Anaïs Nin und viele andere, die alle seinen früheren Welten entstammten – der russischen Kultur, in die er geboren war, und der französischen, in der er seine musikalische Ausbildung erhalten hatte. Die einzigen hebräischen Quellen waren Studien über die jüdische Mystik, die er durch eine nationale Brille, als Teil einer messianisch-nationalen Allegorie las. Hier und da hielt er in den Notizbüchern das Vorhaben fest, ein Buch über die moderne hebräische Dichtung zu kaufen oder ein Theaterstück von Hazaz zu lesen, doch solche Quellen wurden nie ein Bestandteil der Palette von Stimmen, die er sich lieh. Nie vertonte er jene Art von moderner hebräischer Poesie, in der der Schock der Staatsgründung einen Ausdruck erhielt; solchen Texten, die den hebraistischen Kern durch die Seter als heilig geltende Sprache schwächten, hätte er sich auch gar nicht nähern können. Auf der verzweifelten Suche nach neuen Themen, durch die er die Achse von Zerstörung-Exil-Erlösung reproduzieren könnte, die sich durch Midnight Vigil zog (und dort einen Zusammenbruch erlebt hatte), kehrte er stattdessen zu Scholems Büchern über jüdische Mystik zurück (über Gott, der sich in den Tiefen des Selbst offenbart, und über die »Wissenschaft der Kombination von Buchstaben«, in der das Alphabet den Platz einer Tonleiter einnimmt), 210 so als suche er Parallelen und Bestätigungen für seine Cantus firmi und ihre enge Verbindung zu intervallischen Figuren. Wie die Tora, so deutete Seter an, hatten seine Intervalle eine physische Gestalt, aber waren doch Gefäße für das Mystische und Verborgene;211 mit der Vertiefung seiner Schaffenskrise jedoch wurden Metaphern zum einzigen Medium seines Selbstgesprächs. Seters Perspektive, gestützt auf Scholems Aneignung der zionistischen Weltanschauung als einer Häresie, die den Messianismus in unmittelbares geschichtliches Handeln übersetzt,212 verkündete (wiederum ähnlich wie Scholems) ihre Selbstzerstörung im Augenblick der politisch-historischen Erlösung, die sich in der Gründung des Staates Israel manifestierte. In einem Notizbucheintrag vom 9. August 1963 wurde Samuel Taylor Coleridge zitiert: »Die Juden scheinen zurückzublicken und auch für die Gegenwart zu existieren, doch in der jüdischen Vorstellung ist alles vorausdeutend und vorbereitend; nichts, wie unbedeutend es auch sein mag, wird einfach so getan, sondern alles ist kennzeichnend für etwas erst noch 209 

MSCN, NLI, MUS110 D17 [1977–78]; 12.10.1977. und viele andere Gedanken werden in Seters Notizbüchern von den frühen 1950er bis in die späten 1970er Jahre immer wieder zitiert und stammen vor allem aus Gershom Scholem, Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen (Frankfurt a. M. 1967) und ders., Devarim Be’go: Pirke Morashah U’tehiyah, Tel Aviv 1976. . 211  MSCN, NLI, MUS110 D18 [Januar–September 1978]; 22.7.1978. 212 Christoph Schmidt, »Die politische Theologie Gershom Scholems« (Hebr.), Theory and Criticism, 6 (1995): 149–161. 210 Diese

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Kapitel 3:  Die 1960er und 1970er Jahre

Kommendes.«213 Seter fügte hinzu: »Das erklärt die Dynamik des Volkes ebenso wie die Trägheit, in der es sich seit der Staatsgründung befindet.« In einem undatierten Eintrag ergänzte er später in roter Schrift: »Die mythischen Schichten der Gesellschaft haben keine Erfüllung gefunden.«214 Wenn Seters Erlösungsbogen am Ende von Midnight Vigil triumphierte, wurde er in den späten 1960er Jahren, als die Unterschiede zwischen dem Staat Israel und dem Land Israel verschwammen, zum Verstummen gebracht; in den Nachwehen von 1967 war das private »Ich« des Komponisten gebannt in den paradoxen Schwebezustand zwischen der eigenen zurückgezogenen Welt, in der das Israel der 1970er Jahre keine Rolle spielte, und einem nationalistischen, aber nicht territorial gefassten Erlösungsgedanken, den die israelische Gesellschaft der 1970er Jahre zur Bedeutungslosigkeit verurteilt hatte.

213  214 

Samuel Taylor Coleridge, Specimens of the Table Talk, Edinburgh 1905, 34. MSCN, NLI, MUS 110 D8, 1963 [9.8.1963].

Kapitel 4

Die historiografischen Karten neu mischen Der Krieg von 1967 und sein Nachbeben 1973 hatten einen weiteren Effekt auf die israelische Kunstmusik: Während sich der Niedergang der hebraistischen Formen mitsamt ihrer eschatologischen Ausrichtung weiter beschleunigte, verringerte sich die Kluft zwischen den Paradigmen der Kunstmusik und denen der modernen hebräischen Poesie. Die Vertonung von Gedichten Zachs oder Amichais aus den 1950er und 1960er Jahren zum Beispiel bedeutete ein verspätetes Ausstrahlen der Dichtung auf die Musik; verstärkt durch diese frühen postzionistischen Texte zeugten die entsprechenden Kompositionen von nationaler Ernüchterung und antiromantischen Paradigmen. Vorausgegangen waren solchen Ansätzen idiomatische »Verstöße« gegen hebraistische Tropen und vor allem Werke, deren lineare Techniken ein postkoloniales Verständnis ausdrückten: Sie verzichteten auf westliche »Korrekturen« und die darin eingeschlossenen Hierarchien und ließen eine Konvergenz von Zügen nichtwestlicher jüdischer Musik und der Linearität von Schönberg bis Lutosławski zu. Auf diese Weise war die nationale musikalische Onomatopoesie aus nächster Nähe aufgelöst worden – ein Widerhall des Bedeutungsverlusts ihrer aschkenasischen Produzenten. Mit der wachsenden Sichtbarkeit jüdischer Kontiguitäten und dekonstruierter hebraistischer Tropen in der Dichtung konnten Kompositionen einfacher Züge eines politischen Kommentars annehmen; da die Trennung zwischen Hybridisierung und Reinigung nun unscharf geworden war, ließ sich der Kern des Hebraismus leichter angreifen, sei es durch theologische Topoi, die sich dem nationalen Zugriff entzogen, oder durch eine textuelle und musikalische Umkehrung der hebraistischen Kennzeichen selbst (wie etwa in Kopytmans October Sun). Tal war einer der ersten, die im Begeisterungstaumel nach 1967 einen unfestlichen Kommentar abgaben, wobei er genau jene Codes verwendete, die in der israelischen Trauerliturgie das Paradigma eines Fortlebens der Toten stützen sollten – in seiner Kantate für Sopran, Bariton, gemischten Chor und Orchester The Parade of the Fallen (1967/68) nach dem gleichnamigen Gedicht von Chaim Hefer, eines Verfassers leichter Verse und Lieder, dessen Werk durch die Presse große Verbreitung fand. Hefers Gedicht nahm einen wichtigen Rang im Kanon der nationalisierten Trauer ein, da es mit seiner Anerkennung der Unausweichlichkeit des Schicksals (die wiederum den Regierenden Legitimation bot) und der Projektion heroischer Eigenschaften auf die Gefallenen dem vorherrschen-

296

Kapitel 4:  Die historiografischen Karten neu mischen

den, gegen das Opfergefühl gerichteten Umgang mit Kriegstoten entsprach. Tal widmete das Werk allen Familien, die im Krieg von 1967 einen Sohn verloren hatten,1 doch sein musikalisches Epitaph bezog sich auch auf eine persönliche Tragödie: Am zweiten Tag der Kampfhandlungen war sein ältester Sohn Reuven (geboren 1932 in Berlin) getötet worden. Die Uraufführung der Kantate, einer Auftragsarbeit für den staatlichen Kulturrat, fand anlässlich des zweiten Jahrestags des Sechstagekriegs am 10. Juni 1969 in Jerusalem statt.2 Ihre Eröffnung durch die vollständige Rezitation des Gedichts ohne Begleitung ließ erwarten, dass die folgende Komposition seinen erhebenden Klang ergänzen würde. Die erste Strophe lautete: Sie kommen aus den Bergen, aus der Ebene, aus der Wüste Sie kommen – Namen, Gesichter, Augen – und treten zum Appell an. Sie kommen mit männlichem Schritt, stark und gebräunt Sie kommen aus den abgestürzten Flugzeugen und den ausgebrannten Panzern Sie erheben sich und kommen hinter den Felsen, aus den Dünen und Schützengräben hervor, Heldenhaft wie Löwen, mächtig wie Leoparden und wendig wie ein Adler. Sie schreiten, einer nach dem anderen, durch die Reihen der Engel Die ihnen Süßes reichen und ihnen Kränze um den Hals legen, Und ich sehe sie an und sie sind alle glücklich, Dies sind meine Brüder, dies sind die Brüder.3

Davids Lamento für Jonathan und Saul paraphrasierend (»Sie waren schneller als Adler, / waren stärker als Löwen«, 2. Samuel, 1:23), beschreibt Hefers Gedicht entindividualisierte »Namen, Gesichter, Augen«, die zur Parade erscheinen. In den männlichen, als stark und gebräunt fetischisierten Körpern verbinden sich, wie Mikhal Dekel bemerkt, »Stärke und Unschuld, Schönheit und Unwissenheit: die Unschuld tragischer toter junger Männer, Soldaten ihres Volkes, deren Handlungsfähigkeit und Wille bestenfalls verschwommen sind«. In dieser himmlischen Parade von in Engel verwandelten Soldaten erscheinen die lebenden Toten als »Söhne Gottes, deren Opferung in der göttlichen, nicht der menschlichen Sphäre stattfindet«.4 (»Vergebt uns, doch wir mussten«, flüstert ein Soldat aus dem Himmel herab, als er vertraute Stimmen weinen hört).5 Doch was wie eine Rückkehr zu den klagenden und eigenartig feierlichen Hymnen der ersten Jahre nach der Staatsgründung erscheinen mag, wurde von Tal weder durch getragene Wohlklänge noch durch einen Trauermarsch komplementiert. 1 

Yohanan Boehm, Cantata for the Fallen, Jerusalem Post (10.6.1969). Yohanan Boehm, Work of Impact, Jerusalem Post (12.6.1969). 3  Haim Hefer, Parade of the Fallen, in: No Rattling on Sabers. An Anthology of Israeli War Poetry, übers. v. Esther Raizen, Austin 1995, 56. 4 Mikhal Dekel, The Universal Jew. Masculinity, Modernity, and the Zionist Moment, Evanston 2010, 217 f. (Hervorhebung im Original). 5  Hefer, Parade of the Fallen, 56. 2 

Kapitel 4:  Die historiografischen Karten neu mischen

297

Für Tal verband das Gedicht den Realismus des tiefen Schmerzes, den die Lebenden spürten, mit der surrealen Freude der Gefallenen;6 er stellte es semantisch durch dieselben atonalen Strukturen dar, die seine Musik seit den späten 1930er Jahren charakterisierten. Doch ausgehend von Hefers euphonischen Versen zeichnete Tal mit diesem Vokabular nun ein musikalisches Bild von Kollektivismus und Einsegnung, das von der Norm abwich und der nationalen Liturgie der Trauer entsprechend fremd war. Zwar setzte er den Kameradschaftsgeist der Gefallenen in vokale Einklänge um, kontrapunktierte ihre Proklamationen in der ersten Person Plural jedoch durch zerstückelte Melodien in den Parts der Solisten, und dies vor dem Hintergrund unzusammenhängender, asymmetrischer und mitunter hinkender marschartiger Muster, die mit Hefers tonalen Symmetrien kollidierten. Dass ein solcher musikalischer Kommentar als zu modern und einer staatlichen Gedenkzeremonie unangemessen betrachtet wurde, konnte kaum überraschen. Verglichen mit seinem früheren Plädoyer für die Gründung von Chören in Kibbuzim, in denen Homofonie, Tonalität und Modalität den nationalen Zusammenhalt verkörperten,7 bewirkte Tals Syntax nun eine kontrapunktische Störung des Textes und stimmte gegenüber der hegemonialen Perspektive einen kritischen Tenor an, der dem Geist von Selbstbeherrschung und Durchhaltevermögen zuwiderlief. Die Staatsführung »erwartete von trauernden Eltern, dass sie nicht die Moral derer untergruben, die in die Fußstapfen ihrer gefallenen Söhne treten sollten«. 8 Tals Musik implizierte etwas anderes. Die Besprechungen des Werks illustrierten die Kluft zwischen der staatlich organisierten Trauer und Tals Abweichung von den allgemein erwarteten Codes. Zwar erhielt er Lob für seine Vermittlung von Realismus, insgesamt zeigten sich die Kritiker jedoch irritiert. So schrieb etwa Olya Silbermann nach der Premiere, trotz der gelungenen Verbindung von Realem und Surrealem sei »ein solches Werk unverständlich und kann auch den trauernden Familien keinen Trost bieten«.9 Im Jahr darauf meinte Benjamin Pearl, mit ihren abstrakten Mitteln habe Tals Musik ein so ernstes Thema verfehlt und bleibe daher ohnmächtig: »Man kann Tal nicht für sein ausgefeiltes Schreiben loben, denn das persönliche Element wiegt schwerer als das musikalische.«10 In einer Kritik von 1970 wurde bemerkt, wie Tals Syntax (aus der vorherrschenden Perspektive 6 Olya Silbermann, »Gedenkkonzert zum zweiten Jahrestag des Sechstagekriegs« (Hebr.), Maariv (15.6.1969). 7  B. Shimon, »Warum Chöre?« (Hebr.), Givat Brenner Newsletter (17.12.1941); vgl. Kapitel 2. 8  Lebel, The Creation of the Israeli »Political Bereavement Model«, 443. 9  Silbermann, »Gedenkkonzert«. Zwei Wochen später (28.6.1969) korrigierte sich Silbermann in Maariv: »Da Tal es [Hefers Gedicht] auf seine eigene Weise, mit innovativen kompositorischen Techniken, dargestellt hat, kann dieses Stück meines Erachtens nur von einem Teil der trauernden Familien verstanden werden und ihnen Trost bieten.« 10  Benjamin Perl, »Beethovens Neunte Symphonie« (Hebr.), Lamerchav (3.7.1970).

298

Kapitel 4:  Die historiografischen Karten neu mischen

betrachtet) mit Hefers Gedicht aneinanderprallte: Hefers Reime, schrieb Miriam Bar, »genügen sich selbst und die einzige ihnen angemessene musikalische Form besteht in eben jener, die in ihrer bescheidenen Schlichtheit liegt, also in einer gleichmäßigen und geschmeidigen Melodie […] Tals Kantate stört und zerstückelt die einfachen Worte in einer – ungeachtet ihres Zwölftongewands – archaischen Weise und beraubt sie so ihrer Schlichtheit und kindlichen Naivität.«11 Nur Uri Epstein, der sich an Tals Begleittext orientierte, attestierte dem Stück Feingespür für das grausame Paradoxon der schlichten Freude, die die Gefallenen im Jenseits erleben, da es »klanglich ausdrückt, wie diese Freude durch das gnadenlose Prisma menschlichen Schmerzes verzerrt wird«. Das Stück sei »Agonie, übersetzt in eine weder sentimentale noch düstere Musik«.12 In seiner bewussten Vermeidung von Sentimentalität und erlösenden Apotheosen war Tals Kantate ein seltener politischer Kommentar in den Annalen der israelischen Musikgeschichte, der Hefers gleichsam liturgische Verse mit einem Musikvokabular konfrontierte, das die erwünschten national-kollektivistischen Bilder zumindest infrage stellte. Man fragt sich, ob Tal durch seinen persönlichen Verlust zu der übermäßigen Betonung dessen gebracht wurde, was in dem Gedicht ein innerer, beinahe flüchtiger Bezug auf die Gefallenen ist (»Namen, Gesichter, Augen«), doch in jedem Fall untermauert er die Weihung ebenso wie die Entpersonalisierung jener männlichen Körper, die dieselben Eigenschaften teilen, aber keine individuellen Merkmale tragen.13 Tal lässt den Solo-Sopran diese Worte in verschiedenen Kombinationen wiederholen; vor dem dichten Hintergrund richtungsloser, statischer Aggregate in den Streichern, die sowohl Oktatonik wie Ganztoncluster vermeiden, werden die drei Worte »Namen, Gesichter, Augen« durch große Intervalle verstärkt, versinken jedoch in großen und kleinen Sekunden um Es (Beispiel 4.1, T. 31–32), bevor sie schließlich auf einen Einklang schrumpfen, den Tal durch eine reine Oktave, sein intervallisches Äquivalent, destilliert (T. 35–36). In unauflösbare Kollektionen verstrickt und den deformierten Marschmustern der ersten Strophe folgend, forderte die Vertonung des kurzen Textes die nationale Ordnung der Repräsentation in einer ähnlichen Weise heraus wie Tals frühere Werke; hier aber wurden dabei die Namen, Gesichter und Augen von beinahe achthundert Getöteten vergrößert, von denen einer Tals eigenes Fleisch und Blut war. Während Tals Parade mit den Mitteln einer atonalen musikalischen Syntax und durch dekonstruierte Anklänge eines Marsches Hefers Gedicht verfremdete, setzte Avni den vorherrschenden Formen der Trauer 1973 durch eine chorale Vertonung von Amichais weiter oben erwähntem Gedicht »God Full of Mercy« eine private Perspektive entgegen.14 Dem antiromantischen Klima nach der 11 

Miriam Bar, »Händels Jephta auf dem Festival« (Hebr.), Davar (31.7.1970). Uri Epstein, »Parade der Gefallenen von Josef Tal« (Hebr.), Ha’aretz (17.6.1969). 13  Meira Weiss, Chosen Body. The Politics of the Body in Israeli Society, Stanford 2002, 70. 14  Vgl. Kapitel 2. 12 

299

Kapitel 4:  Die historiografischen Karten neu mischen

Beispiel 4.1: Tal, The Parade of the Fallen (1967/68), T. 26–37 (Text: »Namen, Gesichter, Augen«). Cor Anglais Bass Clarinet

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Staatsgründung entsprungen, nahm das Gedicht im Gefolge des nationalen Traumas von 1973, das mit Avnis persönlicher Trauer über den Verlust seiner Frau und seiner Mutter zusammenfiel (vgl. Kapitel 3), zusätzliche Bedeutungen an. Seine Vertonung, betitelt On Mercy, so als aktualisiere sie Amichais Kommentar über eine jeder Spur von Gnade beraubte Welt, deutete auf den in Epitaph klarer herausgebildeten synthetisierten Modus voraus und verstärkte Amichais poetische Auflösung der semitheologischen Züge hebräischer Dichtungen. Avni beachtete besonders, dass Amichai das jüdische Totengebet variierte, auch wenn die poetischen Mittel, mit denen beide die nationale Indienstnahme religiöser Begriffe infrage stellten, nicht von derselben Art waren; dennoch illustrierte dieser Fokus, wie beide dem Diskurs verhaftet blieben, den sie untergraben oder wenigstens konterkarieren wollten. Avnis musikalischer Kommentar wahrte eine poetische Nähe zu Amichais Diskursraum, indem er partiell herausgebildete Aggregate durchhielt, die zu Klischees geworden wären, hätte Avni sie nicht verunreinigt oder ihre erkennbare harmonische Formation anderweitig gestört.

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Kapitel 4:  Die historiografischen Karten neu mischen

Beispiel 4.2: Avni, On Mercy (1973), T. 8–18 (Text: »Wäre Gott nicht voll Erbarmen / gäbe es Erbarmen in der Welt, / nicht nur in ihm.«). © Mit freundlicher Genehmigung des IMI Israel qMusic Institute, Tel Aviv. = 84 Sopran Sopran Alt Alt

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Kapitel 4:  Die historiografischen Karten neu mischen

Die Verse aus der ersten Strophe des Gedichts – »Gott voll Erbarmen, / wäre Gott nicht voll Erbarmen / gäbe es Erbarmen in der Welt, / nicht nur in ihm«15 – setzen mit einem langen Gleichklang auf A ein, der auf die angrenzenden kleinen und großen Sekunden ausgedehnt und in Andeutungen eines freygishen Melodietypus überführt wird (Beispiel 4.2, T. 8–11). In ähnlicher Weise bleibt dem Aggregat aus vier Tönen auf der letzten Silbe des Worts »Welt« (oLAM) eine klare harmonische Identität verwehrt (T. 13); seine Vergeblichkeit wird auf die verminderte Quarte projiziert, mit der Avni die erste Strophe beendet (»Nicht nur in ihm«; T. 17–18). Amichais Zerstörung mimetischer Räume, die er durch soziale, moralische und sprachliche ersetzte, während er die israelische Literatur Kontinuitäten des Ortes entwand – zugunsten »des Bewusstseins des ungebundenen, extraterritorialen modernen Juden, der sich auf die persönlichen Kontinuitäten seines körperlichen Lebens und seines unermüdlichen assoziativen Denkens und bildlichen Erfindungsreichtums verlässt«, wie Miron schreibt16 –, findet in Avnis Vertonung ein Pendant in sich beständig herausbildenden Formationen und Formulierungen, die indessen keine Wurzeln schlagen, während Akkorde zu verunreinigten Einklängen gestutzt werden. Konnte Tal Hefers ritualisierte Ansprache durch die Enthüllung ihres grotesken Realismus und durch die Infragestellung ihrer gespenstischen Feierlichkeit aufbrechen, deren Paradigmen er darstellte und zugleich verletzte, so widersetzte sich Avni der Nähe zur hebraistischen Quelle und entschied sich stattdessen für einen harmonisch deterritorialisierten Fluss, der sich durch seine Werke der 1970er Jahre zieht und das nationale Element durch das theologische semantisch zu verdrängen droht, ohne jedoch einen Modus der Signifikation durch einen anderen zu ersetzen. So trotzte er der repräsentationalen Codierung des Ortes und verunreinigte sie inmitten theologischer und politischer Bezüge. Doch die Deterritorialisierung des Judentums erforderte nicht nur die Demaskierung des Reinigungsmechanismus, der der zionistischen Rhetorik zugrunde lag; sie brauchte auch jene Orte der Kontiguität, von denen aus jüdische Identitäten desartikuliert und so die politische Theologien beseelenden Erlösungsbögen außer Kraft gesetzt werden konnten. Folgt man dem Gedanken, dass die Trennlinie zwischen der modernen europäisch-jüdischen Kunstmusik und ihrer Fortsetzung im Palästina der Mandatszeit und im Staat Israel eine imaginäre war und aus einer nationalistischen Geschichtsschreibung resultierte, die der jüdischen kulturellen Symbiose in Europa keine Sichtbarkeit zugestand (und dies auch nicht konnte), dann war die moderne jüdische Kunstmusik in Europa (die »Vorgeschichte« der israelischen) in der Tat frei von einer Nationalisierung theologischer Begriffe. Diese europäische Phase hatte selbstverständlich ihre eigenen Beschränkungen; ihre Protagonisten versuchten ihre mo15  16 

Zit. n. Kaufmann (Hg.), Ich ging durch Meer und Steine, 180. Dan Miron, The Prophetic Mode, 517.

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derne jüdische Lebenssituation durch »große Sprachen« auszudrücken und praktizierten einen Autoexotismus, ohne die Sprache der Kultur zu kennen, durch die sie sich als Juden identifizieren wollten. Daher überrascht es auch nicht, dass nur sehr wenige von ihnen in zionistischen Kreisen aktiv waren, deren Sprache eine Übersetzung des Theologischen in das Politische dokumentierte und verbreitete. Gleichzeitig gravitierte die moderne jüdische Kunstmusik fast ausschließlich zum Osten – vor allem nach Osteuropa und Palästina – als einem authentischen Ort, der sich in seinem eigenen Rahmen jedoch nicht entfalten konnte und folglich einer korrigierenden westlichen Hand bedurfte, die Gil Anidjar zufolge »wiederholt und gewaltsam zwischen Text und Kontext, Form und Inhalt, sex und gender, männlich und weiblich, homo- und hetero-, Bewunderung und Abscheu trennt und dabei stets einen der Begriffe vorzieht«.17 Für assimilierte europäisch-jüdische Komponisten, die Fremde gegenüber den eigenen Traditionen waren, stellten »kleine musikalische Literaturen« de facto das Ergebnis einer unsystematischen Vervielfältigung von Artikulationen und Desartikulationen binärer Repräsentationen des Juden als eines unverzichtbaren »Anderen« dar, und zwar in einer Zeit, als Komponisten mehr und mehr durch nichtsignifizierende Symbole ihre musikalischen Subjektivitäten ausdrückten (womit die Selbstdefinition im »Gegensatz« zu etwas »Großem« an Bedeutung verlor). Neben sprachlichen und gesellschaftlichen Hürden förderte auch eine auf die osteuropäische Klanglandschaft ausgerichtete Historiografie den exotizistischen Ansatz von Komponisten und setzte ihm zugleich Grenzen. Sei es durch essentialistische oder antiessentialistische Paradigmen – die jüdische Kunstmusik erlangte ihre gesellschaftliche wie historiografische Gültigkeit durch die osteuropäische Klanglandschaft, ohne dass man die Vertrautheit von Komponisten mit der Kultur, die ihre Identitätskonstruktionen ermöglichte, oder die solchen Prozessen zugrundeliegenden Zwänge hinterfragt hätte. Dies blieb ungenügend; eine Untersuchung des Spiegelsaals, in dem sich Komponisten bewegten, erfordert eine Auseinandersetzung mit ihren jüdischen Identitäten und mit den dialektischen Prozessen, die bei Import und Umgestaltung der von ihnen als jüdisch wahrgenommenen musikalischen Idiome und Topoi am Werk waren. Und damit sich unsere Karte nicht zu einer Teleologie verhärtet, müssen wir sie noch weiter durcheinanderbringen, indem wir bislang kaum untersuchte Kontrollfälle einbeziehen, die die Zentralität der osteuropäischen Klanglandschaft infrage stellen – etwa Castelnuovo-Tedescos in Italien geschriebene jüdische Werke oder Boskovichs Kompositionen (von der vorstaatlichen bis in die staatliche Ära). Nachdem er den Wagnerschen Mechanismus der Repräsentation zugunsten von Rebussen und Symbolen abgelehnt hatte, ging auch Schönberg durch das 17  Gil Anidjar, Jewish Mysticism Alterable and Unalterable. On Orienting Kabbalah Studies and the »Zohar of Christian Spain«, Jewish Social Studies, 3.1 (1996): 124.

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Prisma des Zweiten Gebots und seiner vokalen (lies: nichtvisuellen) Alternative zu einer Metapoetik der Repräsentation über; indem er eine musikalische Syntax abschaffte, die stereotype Bilder »des Anderen« ermöglichte, ließ er einengende Signifikationen hinter sich. Selbst Blochs postromantisches Vokabular zertrümmerte schließlich Wagnersche Repräsentationen und verschob sich zu einem Recycling osteuropäischer Stereotype, das sie zugleich desartikulierte. Alle diese Entscheidungen stützten sich auf deterritorialisierte, Spuren eines kulturellen Synkretismus aufweisende Kontinuen und brachten mit unterschiedlich starker Emphase deren nichtjüdische und nichtzionistische nationale Räume zur Geltung. Die Emigration in das Palästina der Mandatszeit konfrontierte Komponisten mit einem modernen nationalen Projekt, das, wie Raz-Krakotzkin schreibt, als die »Erfüllung der jüdischen Geschichte und als die jüdische Verwirklichung messianischer Erwartungen« betrachtet wurde, und mit einem Nationalbewusstsein, das unauflöslich mit einem bestimmten theologischen Mythos verbunden war. In ihm galt die Gegenwart als Abschluss der Geschichte, die »in einer modernen romantischen Terminologie formuliert und in den modern-westlichen Fortschrittsdiskurs einbezogen wurde« und so eine Tendenz zur Integration der jüdischen Geschichte in die des Westens ausdrückte.18 Als ein moderner Diskurs aber reinigte er seine Produktion von Hybriden durch binäre Begriffe – West/Ost, modern/vormodern, säkular/religiös, angestammter Hebraismus/exilisches Judentum etc. –, durch die eine lineare nationale Allegorie religiös-messianische Konzepte unter das Banner der »Säkularisierung« zwang. Säkularisierung bedeutete, wie Raz-Krakotzkin eloquent kommentiert hat, die Sakralisierung des Staates, war aber nicht von einem auf orientalistischen Werten beruhenden kolonialen Ansatz zu trennen, der wünschenswerte Qualitäten aus den europäischen Vergangenheiten wie östlichen Gegenwarten von Juden dichotom gefasst und sich angeeignet hatte.19 In diesem Kontext bedeutete »die Negation des Exils ausdrücklich die Negation und Auslöschung von Tradition(en), in einer Weise, die zwischen national-religiöser Identität und dem Staat keinen Raum mehr ließ«.20 Tatsächlich konnten sich nur sehr wenige Komponisten dem Diktat oder den Erwartungen der Bürokratie widersetzen und die Räume zwischen nationalisierten binären Gegensätzen entdecken, während jüdische Klanglandschaften rhetorisch gereinigt und kulturell kolonisiert wurden. Arabisch-jüdische Musik wurde in romantischen Begriffen wahrgenommen: Sie bedurfte einer westlichen korrigierenden (erlösenden?) Hand, die sich im Grunde nicht von der postromantischen europäischen Kunstmusik 18  Amnon Raz-Krakotzkin, A National Colonial Theology – Religion, Orientalism, and the Construction of the Secular in Zionist Discourse, Tel Aviver Jahrbuch für Deutsche Geschichte, 30 (2002): 315 f. 19  Raz-Krakotzkin, A National Colonial Theology, 318. 20  Raz-Krakotzkin, A National Colonial Theology, 324.

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unterschied und nationale Identitäten förderte. Asymmetrische Anleihen bei nichtwestlicher jüdischer Musik, gefiltert durch den europäischen kompositorischen Werkzeugkasten, gerieten so zu einem Bild der westlichen Reterritorialisierung des nationalen Landes – ein unverzichtbarer Akt für die zionistische Teleologie, die, in Reaktion auf die Vorstellungswelt des europäischen Antisemitismus und unter sorgsamer Bändigung religiöser Gehalte, Bilder und Ereignisse aus der fernen Vergangenheit gleichsam im Boden verankerte. Ben-Haim und Lavry, deren Formulierungen das zionistische Projekt ergänzten, übernahmen diesen Diskurs, seine Nationalisierung des Theologischen und – indirekt – seine Teleologie; solche kompositorischen Einstellungen grenzten an eine unkritische Verdoppelung der vom Staat gewünschten Bilder und Legitimität, die schließlich in einem Mangel an dialektischer Beweglichkeit resultierte und ein Eingehen auf jene Stimmen verunmöglichte, die den durch hebraistische Tropen gebändigten nichtwestlichen und/oder religiösen Klanglandschaften eine neue Gestalt geben wollten. Und da das »Jüdische« in ihrer Musik den säkularisierten/sakralisierten nationalen Diskurs weder überschritt noch infrage stellte, wurden beide Komponisten, besonders aber Ben-Haim, von Musikwissenschaftlern, deren Ansatz der romantischen Terminologie der nationalen Allegorie folgte, historiografisch belohnt. Dennoch sollte Ben-Haims Werk nicht in ödipalen Begriffen als ein wenig später obsoletes Musikvokabular gesehen werden, in Abgrenzung zu dem subversive oder unterdrückte Stimmen in den Jahren nach der Staatsgründung an Bedeutung gewannen. Die unterschiedlichen Einstellungen von Komponisten sind eher als Beiträge zu einer ungeordneten Ausbreitung miteinander verschlungener Vektoren zu verstehen, die sich in unterschiedlichen Rhythmen bewegten und Wettbewerb, Kontingenzen, unvorhergesehene kulturelle Kettenreaktionen sowie eine Dynamik zuließen, bei der sich jeder Ansatz in einer bestimmten Geschwindigkeit und Richtung entwickelte und zugleich auf angrenzende kulturelle Phänomene reagierte oder sie synkopierte. Die in den ersten Jahren nach der Staatsgründung durch das hebraistische Furnier sickernden und schließlich in den 1960er Jahren – mit der Ablösung der Kunstmusik von ihren nationalen Funktionen – vollends hervorbrechenden Energien waren bereits in der Kunstmusik der vorstaatlichen Ära enthalten. Ein verfrühtes (und daher auf Ablehnung stoßendes) Anzeichen dafür bot Wolpe, indem er mit der nationalen Reinigung von Hybriden, deren Sichtbarkeit den doppelten Abgrenzungsmechanismus des Hebraismus gefährdete, experimentierte und diese Reinigung zugleich umging. Es war somit nicht unbedingt Wolpes avantgardistischer Eifer (dessen im Kern utopisch-sozialistische Färbung durchaus der Leidenschaft der vorstaatlichen Kibbuzim entsprach), was diese Ablehnung in erster Linie hervorrief. Abgesehen von Wolpes sozialen Defiziten (die Tal geschildert hat) konfrontierte seine Musik den Hebraismus sowohl mit der nichtwestlichen (nichtaschkenasischen) jüdischen Vergangenheit des zionistischen

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Projekts als auch mit der arabischen Geschichte des Landes – also mit den beiden Topoi, den die romantische Formulierung eines theologisch wie kolonial aufgeladenen jüdischen Nationalmythos verdrängt hatte. Der rhetorische Abwehrmechanismus, der diese Abgrenzung und die romantische Übersetzung des Erlösungsgedankens in ein nationales Vokabular stützte, hieß shlilat hagalut, Negation der Diaspora. Dies verdeckte wiederum jüdische Unterströmungen, die entweder (wie bei Ben-Haim und Lavry) durch den eurozentrischen kompositorischen Werkzeugkasten oder durch eine Reihe von Ansätzen gefiltert wurden, die aus unterschiedlichen Gründen die Prinzipien vertikaler Harmonie aufgaben: im Namen der künstlerischen Moderne, der Ästhetik oder des »wahren Ostens«, dem Komponisten in Palästina und Israel begegnet waren – und natürlich im Namen der Nation. Dabei stand kein Komponist nur für einen dieser Trends. Tal zum Beispiel hielt sowohl an den modernen Paradigmen fest, die seine Ausbildung bestimmt hatten (was sein gesamtes Werk in vieler Hinsicht zu einer Erinnerungsarbeit machte), als auch an den hebraistischen Werten, aus denen seine Musik durchgängig schöpfte, selbst wenn er gegen ihre national onomatopoetischen (im Schönbergschen Sinne sichtbaren) Funktionen verstieß. Auch in Tals Fall war das ihm von einer nationalistischen Historiografie aufgezwungene Etikett der Avantgarde nur ein dürftiger Vorwand; im Kern ging es darum, dass er den Hebraismus aus dem Gleichgewicht brachte und dessen romantischen und weitgehend tonalen Entstehungsraum, mit dem er verknüpft blieb, durch moderne Kompositionstechniken in Zweifel stellte. Aber gerade indem er sich den ausgrenzenden Codes des Hebraismus widersetzte und dessen nationale Gefäße so stark ausweitete, dass die eigenen musikalischen Kommentare hineinpassten, wurde Tal selbst ein Teil des Hebraismus. Man nimmt an, dass Tals Verständnis der nationalen Allegorie ihn wahrscheinlich an der Teilnahme am Konzertzyklus der Testimonium-Stiftung hinderte. Wie seine Adaptionen von Idelsohns oder Sharetts Transkriptionen zeigen, suchte er nach Räumen zwischen den die nationale Teleologie zementierenden Worten, Idiomen und Narrativen. Als einziger Komponist, der in allen drei im vorliegenden Buch untersuchten kulturellen Milieus lebte und arbeitete (Vgl. Abb. 0.1), blieb er ästhetisch näher an Schönberg (selbst wenn er dessen Musikästhetik durch Tiessen kennengelernt hatte), während er die Accessoires, durch die die nationale Allegorie verbreitet worden war, bewusst infrage stellte und neu bewertete. Auch Boskovich und Seter könnte man in diesem rhizomatischen, durch lineare Kompositionstechniken hervorgebrachten Raum aus konkurrierenden Formulierungen verorten, selbst wenn beide nationalisierten Mythen und sozialistisch-kollektivistischen Vorstellungen nicht widerstehen konnten. Das Vokabular beider Komponisten ging aus solchen linearen Techniken hervor. Dabei machte sich Boskovich in seinen Schriften und den darauf aufbauenden Kompositionen eher einen territorialen, gewissermaßen kanaanitischen Ansatz zu

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eigen, da er gegenüber der Geschichte die Geografie betonte. Weil die Musik sich einer solchen Trennung jedoch widersetzte, griff er mehr und mehr auf die linearen Züge nichtwestlicher jüdisch-liturgischer Musik zurück und brachte sie durch seine (falsche) Lesart serieller Mittel zur Geltung, die in den frühen 1960er Jahren dann die von ihm als kollektivistisch wahrgenommenen ethnografischen Quellen aufzehrten. Boskovichs Einstellung wies somit gewisse theoretische Diskrepanzen auf: Einerseits trieb er die Schwächung repräsentationaler Verfahren durch eine Linearität voran, die in seinen Augen eine zentrifugale Bewegung vom Beschränkten zum Universellen förderte; andererseits jedoch war er trotz seiner Untergrabung hebraistischer Gebäude von jüdisch-mystischen Quellen, Narrativen der Erlösung und der postromantischen Dichtung der vorstaatlichen Ära (besonders von Bialik) beeinflusst, die mit der Ernüchterung nach der Staatsgründung obsolet wurde. Durch nietzscheanische Tropen wie die »Umwertung von Werten« und kanaanitische Andeutungen einer semitischen, über den nationalen politischen Raum hinausgehenden Klanglandschaft konnte Boskovich in der Literaturzeitschrift Orlogin eine Dekonstruktion romantisch-nationalistischer Tropen entfalten, die die Leser in ähnlicher Weise aus der Dichtung von Amichai, Zach oder Omer Hillel kannten. Da Boskovichs Werke jedoch zunehmend aus seriellen Texturen schöpften, wurde die jemenitisch-jüdische Liturgie durch ihre Tilgung und somit Dekolonisierung betont, während seine musikalischen und theoretischen Narrative hinter den Paradigmen der zeitgenössischen Dichtung zurückblieben. Es ist schwer zu sagen, was aus Boskovichs Dialektik geworden wäre, hätte er in den späten 1960er und den 1970er Jahren noch gelebt. Einige Anhaltspunkte bietet aber vielleicht ein Blick auf seinen Freund und Kollegen Seter. Ähnlich wie bei Boskovich zeigte sich auch bei diesem eine Diskrepanz zwischen einer musikalischen Dialektik, die mit den Akzentsetzungen in der Dichtung kurz nach der Staatsgründung korrespondierte, und der Übernahme einer teleologischen Allegorie der Erlösung, die er nicht durch musikalische Onomatopoesie ausdrückte, sondern eher durch musikalische Narrative, durch die sich nationale Erlösungsbögen zogen. Diese Verinnerlichung von Mythen der Erlösung führte Seter in eine kompositorische Sackgasse. Ausgehend von wörtlicher Bibelauslegung und jüdisch-mystischen Texten, die er mithilfe von Scholems Studien interpretierte, übersah Seter, dass die Unterscheidung zwischen Erlösung und Messianismus sowie Scholems Warnung vor dem messianischen »Stachel« des Hebraismus de facto die orientalistische Dimension konstituierten, auf der die säkularisierte utopische Vision der Rückkehr nach Zion beruhte.21 Infolgedessen konnte er nur lineare Werkzeuge zur Geltung bringen; Seter experimentierte zwar mit Kanons, Cantus firmi und rhythmischen Modulen, deren Entwürfe nur teilweise wahrnehmbar waren, er installierte solche Mittel jedoch in 21 

Raz-Krakotzkin, »Zwischen Brit Shalom und dem Tempel«, 100.

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die bereits in der Anlage der Motets sichtbar gewordenen eschatologischen Vehikel. Gegen Ende von Midnight Vigil erfuhr diese Konstellation einen programmatischen Zusammenbruch; sowohl das mehrdeutige Ende des Werks als auch sein ausgedehnter Abstieg in Halbtonschritten (der den Allomorph des Klagemotivs verstärkt) waren Seters Skizzen zufolge nicht aufgelöst worden, trotz seines Versuchs, die messianisch-kairologische (nichtlineare) Zeit aufzubrechen. War Seter sich nicht der Ambivalenzen bewusst, die die zionistische Destillation des Messianismus aufwies? Dies wirft auch die Frage auf, ob seine Verinnerlichung der national-romantischen Terminologie mit einer kompositorischen Linearität in Konflikt stand, die Romantik vermied; könnte dies der Grund gewesen sein für Seters Rückkehr zu Werken ohne Text und »gedämpften« Opern, denen er weiterhin mystische Züge gab? Während der politische Diskurs seinen jüdisch-messianischen »Stachel« behielt, bewahrten Komponisten in ihrer Musik einen jüdischen Bezugskern (mit oder ohne seinen mystischen Gehalt), der die Nationalisierung des Theologischen langsam untergrub. Mit dem Niedergang der Arbeitspartei, der einher ging mit dem Verschwinden ihrer Rituale und der Rückkehr zu einer vagen kulturellen Vorstellung von Tradition, und mit der massenhaften Einwanderung von Juden aus Nordafrika und dem Nahen Osten, die die Säkularisierung des Jischuw nicht erlebt hatten, verloren auch institutionalisierte säkulare Feiertagsrituale ihre Relevanz, die traditionellen jüdischen Liturgien (Pessach, Tu Be-Schewat, Schawuot [Pfingsten]) ideologische Legitimität gaben. Angesichts des Alterns ihrer Gründergeneration und des Verlusts an Sendungsbewusstsein in den ersten Jahren nach der Staatsgründung gelang es der Arbeitspartei nicht mehr, Menschen zu derselben begeisterten Kreativität anzuregen wie im Zuge der Säkularisierung.22 Zeitgleich mit diesem Niedergang überwältigte der reale Osten – überwiegend der arabisch-jüdische, da der politische Konflikt viele an einer Identifikation mit der nichtjüdischen Vergangenheit und Bevölkerung des Landes hinderte – allmählich die ihn korrigierende westliche Hand und veränderte deren Kriterien. Die lineare musikalische Syntax war vielleicht das poetische Paradigma, das diesem realen Osten am nächsten kam und während des Interregnums der Staatlichkeit Antiromantik in die israelische Kultur einführte. Mit der massenhaften Einwanderung arabischer Juden und der Verbreitung des europäischen Serialismus erschöpfte sich diese Verschiebung nicht in einer Schwächung des romantischen Nationalismus; vielmehr handelte es sich um eine zweidimensionale Entwicklung: Während eurozentrische Vokabulare erodierten, machte die Linearität eine jüdische Vergangenheit sichtbar, deren Bändigung auf eben solchen romantischen Formulierungen beruhte. Die Lockerung des romantischen Korsetts weckte somit latente jüdische Gehalte, die na22  Anita Shapira, The Religious Motifs of the Labor Movement, in: Shmuel Almog/Jehuda Reinharz/Anita Shapira (Hg.), Zionism and Religion, Hanover 1998, 267–271.

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tionale Übersetzungen und eine expansionistische Codierung überschritten und sich gegen sie wandten. Linearität und melodische Schichtung (die vielfach heterofone Oberflächen hervorbrachten) legten jüdische Kerne in unterschiedlichen Aggregatszuständen und unterschiedlicher Sichtbarkeit frei; sie fanden einen Ausdruck bei Avni, Tal, Kopytman und Seter (und bei anderen, hier nicht behandelten Komponisten), deren poetische Akzentsetzungen ein deterritorialisiertes Judentum zeigten, das niemals mit dem Staat Israel deckungsgleich war. So tauchte Bubers Nacherzählung der Geschichten des Rabbi Nachman in Avnis Komposition Epitaph wieder auf, die osteuropäisch-jüdische Melodietypen umgestaltete und in einen privaten Modus einbettete, durch den sie parallaktisch und nicht als zwei unterschiedliche Modi erschienen. Kopytman, der weder vom Hebraismus noch von seiner Verwässerung nach der Staatsgründung kulturell oder stilistisch geprägt war, konnte im Gefolge des Jom-KippurKriegs der hebraistischen Aneignung von Tu Be-Schewat trotzen (das er von seiner Tochter gelernt hatte, deren Schulunterricht in den 1970er Jahren noch solche indoktrinierenden Botschaften vermittelte), um das verstörende, von Erlösung weit entfernte Bild der Gefallenen als im nationalen Boden begrabene Bäume zu entwerfen. In der Zeit, als er About an Old Tune schrieb, löste Kopytman zwei östliche Klanglandschaften ineinander auf, die er nur indirekt kennengelernt hatte; in seinen heterofonen Zonen hallte das verblichene Gewebe osteuropäischer Melodietypen nach, animiert von Zügen der jemenitisch-jüdischen Heterofonie, was uns zu modernen Formulierungen zurückführt, die jüdische Klangbilder ohne einen nationalistisch-territorialen Überbau verwendeten. Auch Tal kehrte zu den Räumen zwischen den vom zionistischen Denken angeeigneten Worten und Mythen zurück, sei es durch die Umkehrung von Idelsohns Transkriptionen in seinem Zweiten Klavierkonzert oder in späteren Opern, die auf wörtliche Bibelauslegung (Saul at Ein-Dor, 1955), nationale Mythen (Masada 967, 1972) oder wie in The Parade of the Fallen auf die vorherrschenden Formen von Trauer eingingen. Nur Seter blieb in der Nationalisierung des Theologischen gefangen (und in einer ihm als sakral geltenden Sprache), deren nichtlineare Zeit er weder mit dem politischen Vokabular, das den Messianismus stützte, zusammenbringen konnte noch mit der kulturellen Atmosphäre der 1970er Jahre, die sich in seinen Selbstgesprächen ausdrückte. Während Säkularisierung und Sakralisierung nah beieinander lagen und das jüdische Bewusstsein nationalisiert wurde, entschieden auch Sprachkenntnisse darüber, wie weit sich Komponisten an den Hebraismus akkulturierten und zu einer Kritik seines Diskurses in der Lage waren. Ohne Beherrschung des Hebräischen blieb ihre Fähigkeit zur Aneignung und Kritik der israelischen Kultur – besonders der feinen Antennen von Literatur und Dichtung – qualvoll beschränkt. Dass Sternberg, Ben-Haim, Boskovich und selbst Seter nie der ästhetische Anschluss an die poetischen Paradigmen nach der Staatsgründung ge-

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lang, ist insofern kein Wunder. Sternberg, behindert durch sein Hebräisch auf dem Niveau eines Touristen und das Angewiesensein auf Übersetzer, zog sich schließlich in ein inneres Exil zurück, was mit einem drastischen Rückgang seiner Veröffentlichungen einherging. Ben-Haim war weiter zur Produktion der erwünschten und marktfähigen autoexotistischen Bilder imstande, doch seinem Unvermögen, über romantische Darstellungen von Texten Rachels oder Bialiks hinauszugehen, entsprach ein von Dialektik unberührter, statischer Ansatz, der die staatliche Rhetorik unkritisch durch eurozentrische Schablonen verlängerte. Auch Boskovich und Seter gelang nie der Schritt über Bialik hinaus, obwohl ihre linearen Innovationen (in Theorie wie Praxis) durchaus dazu imstande waren. Im Bewusstsein der musikalischen Implikationen des eurozentrischen Autoexotismus trieben sie ihre linearen kompositorischen Formulierungen voran und schwächten so die Funktion der zionistischen musikalischen Onomatopoesie; doch was wie ein ästhetisches Pendant der antiromantischen Akzentsetzungen in der Dichtung nach der Staatsgründung aussehen konnte, bestand aus musikalischen Narrativen, die vom Geist des Kollektivismus und (wenngleich nichtterritorialen) Erlösungsbögen durchzogen waren. Allerdings hatten Boskovichs und Seters Leistungen große Bedeutung für die Komponisten, die bei ihnen lernten – und die dank ihrer Muttersprache die Züge arabisch-jüdischer Musik aufnehmen und importierte zeitgenössische Techniken mit den Trends in der Dichtung verbinden konnten, die einen integralen Bestandteil ihrer geistigen Biografie bildeten (ein sehr gutes Beispiel dafür ist Avni). Tal war der einzige Emigrant, dessen Hebräisch ausreichte, um auf biblisch-nationale Aneignungen einzugehen und nach der Staatsgründung entstandene Gedichte mit einer Musik zu vertonen, die zionistischen Selbstbildern beherzt die Stirn bot. Als sich die Kluft zwischen Messianismus und Erlösung in den 1970er Jahren schließlich verringert hatte, erwies sich der Hebraismus in seiner sozialistischen wie etatistischen Form als ein kurzlebiges Projekt. Der Niedergang des Hebraismus brachte ein Geflecht jüdischer Kontiguitäten zum Vorschein, die seinen Kern stets inspiriert hatten, und wichtiger noch: Es zeigte sich nun, dass Komponisten wie Seter, Tal und Boskovich moderne Ambivalenzen aufwiesen, wie sie mit neuen Signifikationen rangen, sie zu verfeinern oder korrigieren versuchten und welche Funktion sie ihnen im nationalen Diskurs zuschrieben. Aus einer kulturgeschichtlichen Perspektive betrachtet ist es dies, was uns im Palästina der Mandatszeit und später in Israel eine Fortsetzung des Phänomens der modernen europäisch-jüdischen Kunstmusik erkennen lässt, trotz der unvermeidlichen (und nicht überzeugenden) Versuche zionistischer Geschichtsschreibungen, solche Flüsse zu durchtrennen. Unterdessen bewirkte die gesamte Dynamik nach der Staatsgründung, dass die osteuropäische Klanglandschaft noch weiter an Zentralität verlor; nicht nur wucherte das Theologische über die ihm im hebraistischen Diskurs zugewiesenen säkularisierten Paradigmen hinaus, auch wurde der Hebraismus selbst umgestaltet, in das größere Bild der mo-

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dernen jüdischen Kunstmusik und somit auch in die symbiotische Dynamik der jüdischen Kulturgeschichte zurückgeholt. Jüdische Kontiguitäten und ihre Verästelungen konnten ihn bis hin zur Austilgung verwässern (um dies zu zeigen, wäre mindestens ein weiteres Buch nötig, das die israelische Kunstmusik im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts untersuchen müsste); genauso konnten sie aber zu einer fortdauernden Fermentierung jüdischer Kultur beitragen, die nationale Matrizen und politische Übersetzungen des Theologischen überschreitet. Mit anderen Worten: Die jüdischen Klanglandschaften, die in Europa eine negative Selbstdefinition erleichterten, bildeten die deterritorialisierte Heimat, aus der sich der neue nationale Ort nährte und die zugleich seine Werkzeuge und Rhetorik untergrub. In den späten 1970er Jahren hatte diese Deterritorialisierung zumindest einen prägnanten visuellen Ausdruck gefunden: die Mixed-Media-Collage »Board Game« (1978) von Michael Druks – Teil eines Albums mit 25 Werken auf Papier, Flexible Geography (My Private Atlas) (1971–79) 23 –, mit der sich der Künstler als Kartograf betätigte (siehe den Umschlag des vorliegenden Buchs). Druks’ Brett ersetzte die üblichen schwarzen und weißen Felder durch Ausschnitte aus geografischen und politischen Landkarten, wodurch eine Steppdecke aus quadratischen Stückchen Land und See entstand, die nicht nur die Erde zu einer flachen machte (wie von Amichai 1974 in Worten formuliert und von Kopytman in October Sun aufgegriffen: »die Erde ist flach wie ein verlorenes Brett / und blüht, ja«), 24 sondern auch eine Ikonografie verfremdete, die ein für jeden Nationalstaat obligatorisches Surrogatbild darstellt. Nur Andeutungen von Ortsnamen blitzen in Druks’ Centonisierung auf: »BRITISH« heißt es hier, »ROMA« dort, ansonsten aber: »SEA«, »OCEAN«, »ARAB« (Saudi-Arabien?), »SYRI« (höchstwahrscheinlich Syrien), »RRAN« (Mediterranean Sea?), und so weiter. Indem er eine kodifizierte Form von Eigentümerschaft desartikulierte, die die Kontrolle über den Raum und die geografische Expansion sozialer und kolonialer Systeme fördert,25 radierte Druks die Macht der Bezeichnung und die räumlichen Beziehungen von Karten zu einer Zeit aus, als die Nichtübereinstimmung der mythischen und der physischen Grenzen Israels bis zum Zerreißen gespannt war. Wenn Landkarten in einem teleologischen und ungleichen Diskurs, der soziale Interaktionen innerhalb der gezogenen Linien einfriert, territoriale Phantasien anregen, ausdrücken und legitimieren,26 macht Druks diesen Akt der Desozialisierung zu etwas Groteskem, indem er die Macht des Kartografen in ein grelles Licht setzt. In Form eines Spielbretts kom23 

Galia Bar-Or, »Michael Druks. Reisen durch Druksland« (Hebr.), Ein Harod 2007, 62. Amichai, Jerusalem 1973, 50. 25  J. B. Harley, Maps, Knowledge, and Power, in: Denis Cosgrove/Stephen Daniels (Hg.), The Iconography of Landscape. Essays on the Symbolic Representation, Design, and Use of Past Environments, Cambridge 1988, 279–285. 26  Harley, Maps, Knowledge, and Power, 302 f. 24 

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primiert er ein hierarchisches Wissenssystem und hebt die selektiven Vergrößerungen, die aufwertenden Positionierungen und den Ethnozentrismus von Kartografen auf.27 Ohne Maßstab und erkennbare Himmelsrichtungen verlieren die ideologischen Pfeile, die, wie J. B. Harley meinte, »zumeist in einer Richtung verlaufen sind, von den Mächtigen zu den Schwachen in der Gesellschaft«, 28 ihre Zielrichtung. Die israelische Konzeptkunst stellte nicht nur jedes einzelne Medium auf den Kopf, indem sie ihm seinen angestammten Ort nahm und mit Mixed Media arbeitete (wobei mitunter sogar die Körper der Künstler zu Objekten wurden),29 sie skandalisierte auch die auf Israels sozialen, mythischen, ethnischen, religiösen und geografischen Karten sichtbar werdenden Missverhältnisse. Nach dem Krieg von 1967 fand das Staatliche Komitee für Namensgebung – gegründet im Juli 1949, um den Anspruch auf das Land der Väter zu untermauern – »neue Gebiete vor, in denen es sein zionistisches Wirken fortsetzen konnte«, schreibt Miron Benvenisti, denn auch die neuen Siedlungen in den besetzten Gebieten »benötigten hebräische Namen, sodass das Komitee seine bewährten Prinzipien auch hier anwendete. Sie erhielten die Namen biblischer Orte (BetEl, Schilo), biblischer Figuren (Otniel), von Passagen aus den heiligen Schriften (Alfei Menashe), landwirtschaftliche Namen (Katif/»Fruchternte«) und symbolische (Allon Schewut/»Eiche der Rückkehr«), Namen zionistischer Persönlichkeiten (Givat Zeev, nach Zeev Wladimir Jabotinsky) und solche, die an Heldentaten in Israels Kriegen erinnerten.«30 Zehn Jahre vorher, nach dem Suezkrieg von 1956, war sogar das biblische Ophir (auf das sich Zachs »Das Gold Ophirs« bezog)31 in einer kurzlebigen Siedlung am Südzipfel der Sinai-Halbinsel wieder auferstanden, was zeigt, dass das von einem verschlüsselten Expansionismus getragene Projekt der Siedlungen schon länger geplant war.32 Wer also kartografiert wen? Durch die Thematisierung des Wahrnehmungsimpulses, der im Israel der 1970er Jahre gesellschaftliche, theologische und politische Revolutionen möglich machte, verteilte Druks’ Collage nicht nur die auf seinem Brett sichtbaren Karten neu. Indem er nicht identifizierbare Nationen und Meere in kognitiv dissonante geografische Nachbarschaften zueinander brachte, schuf er nicht bloß ein Gegenbild zum theologisch gefärbten Diskurs des territorialen Maximalismus; er verwandelte einen Ausdruck von Macht in Protest, durch dasselbe kartografische Verbergen, das Bevölkerungen unsichtbar gemacht und Kolonialbestrebungen gefördert hatte. Doch wenn Kontiguitäten einen solchen 27 

Denis Wood, The Power of Maps, New York 1992, 6 f. Harley, Maps, Knowledge, and Power, 300 f. 29  Yigal Zalmona, A Century of Israeli Art, London 2013, 261–322. 30  Miron Benvenisti, Sacred Landscape. The Buried History of the Holy Land Since 1948, übers. v. Maxine Kaufman-Lacusta, Berkeley 2000, 36. 31  Vgl. Kapitel 2. 32  Meron Rapoport, »Das Siedlungsprojekt nahm bereits 1956 in Moshe Dayans Kopf Gestalt an« (Hebr.), Ha’aretz (10.7.2010). 28 

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offenkundig unrealistischen Charakter bekommen, wird das »Jüdische« visuell unzugänglich; im Kontext des vorliegenden Buches könnte man eine solche »flexible Geografie« auf die vielen Emigrationsrouten und kulturellen Reisewege von Komponisten beziehen, die nicht nur nach Palästina oder Israel führen, sondern auch von dort nach Europa und in die Vereinigten Staaten (wie im Fall von Druks, der seit den frühen 1970er Jahren in London lebt).33 Während die israelische Kultur der späten 1970er Jahre eine heterofone Anordnung von Stimmen darstellte, vermochten allerdings nur sehr wenige die eigene Verstrickung in den Diskurs zu erkennen, dessen verkümmerter hebraistischer Kern denjenigen, die vor allem mit alten Mustern kämpften, als ein abgetretener Resonanzboden diente. Zu Reaktionen auf den Hebraismus genötigt, drückten sich die besten künstlerischen Formulierungen daher durch eine Gleichzeitigkeit von Nähe und Gegensatz aus, die von genau dem ideologischen Mechanismus befleckt war, den sie ablehnten. Selbst Oz, der (wie im Zitat am Anfang dieses Buchs)34 durch die Kontiguitäten und Anomalien des zionistischen Projekts den hebraistischen Mechanismus offenlegte und die dünne (rhetorische) Trennwand zwischen hebräischer Musik und ihren arabischen oder diasporischen Quellen durchsichtig machte,35 blieb in einem national-ideologischen Apparat gefangen, aus dessen kollektivem Zentrum heraus er eine Autobiografie schreiben konnte, die, wie Jizchak Laor kürzlich argumentierte, zugleich die Biografie des zionistischen Projekts ist.36 So findet »der nußbraune Klang« der Stimme seiner Großmutter, die Melodien aus Orten summt, an denen sie früher gelebt hat, einen Kontrapunkt in ihrem parfümgetränkten Taschentuch (»das sie immer im linken Ärmel bereithielt, um Mikroben wegzuputzen oder zu zerquetschen«)37 – es verweist den schmutzigen und von Krankheiten befallenen Osten wieder an seinen Ort: »Weißt du überhaupt, wie viele Krankheiten es hier gibt?«, fragt sie rhetorisch. »Wie viele levantinische Seuchen? Und ich spreche nur von den Krankheiten, die man schon kennt, nicht von denen, die man noch gar nicht kennt und von denen selbst die ärztliche Wissenschaft noch keine Ahnung hat. Es vergeht doch kein Tag, an dem die Menschen hier in der Levante nicht sterben wie die Fliegen an irgendeinem Pa-

33  Komponisten, die aus Israel ausgewandert sind, haben – besonders in den Vereinigten Staaten – ein unterschiedliches Gespür für die funktionale Dynamik der israelischen Kunstmusik und ihre verblichenen Vergangenheiten gezeigt (von denen manche einmal ihre eigene Gegenwart waren) und mitunter sogar einen vor allem aus der vorstaatlichen zionistischen Bilderwelt schöpfenden Autoexotismus praktiziert, der an Nostalgie grenzt, aber den exotistischen Bedürfnissen ihres Publikums entgegenkommt. 34 Oz, Der Berg des bösen Rates, 43–46. 35 Oz, Eine Geschichte von Liebe und Finsternis, 13, 139 f., 675; ders., Der Berg des bösen Rates, 7 f. 36  Yitzhak Laor, The Myths of Liberal Zionism, New York 2009, 148. 37 Oz, Eine Geschichte von Liebe und Finsternis, 140.

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rasiten oder Bazillus oder an allen möglichen winzigen Würmern…«38 Und wie Laor bemerkt, sind selbst die schmerzvollsten Passagen in Oz’ Autobiografie, in denen er den Suizid seiner Mutter erwähnt, mit der Geschichte des Staates verflochten und in einem ironischen Ton gehalten, der durch die Präsenz Deutschlands im Leben der Figuren entsteht:39 Meine Mutter beendete ihr Leben in der Wohnung ihrer Schwester in der Ben-Jehuda-Straße in Tel Aviv, in der Nacht von Schabbat auf Sonntag, den 6. Januar 1952, den 8. Tewet 5712. Damals tobte in Israel ein geradezu hysterischer Streit über die Frage, ob der Staat Israel von Deutschland Reparationen für das Vermögen von Juden, die während der Hitler-Zeit ermordet worden waren, fordern und annehmen dürfe oder nicht.40

Es war derselbe Mechanismus, der in den Siedlungen die Bedrohung ausmachte, »daß Israel aus diesem Zwiegespann von jüdischer Tradition und westlichem Humanismus herausgerissen wird«, wie Oz in seiner Rede in Ofra formuliert hatte.41 Ebenso erklärt die Beharrungskraft des hebraistischen Resonanzbodens die Gleichzeitigkeit von Nähe und Gegensatz, durch die Tal und Avni jene Bilder verstärken konnten, deren Verdoppelung in früheren Dekaden die zionistische Allegorie bestätigt hatte. Erst als theologische Importe mit seriellen Techniken konvergierten und der Zionismus der Arbeitspartei entmythisiert worden war, konnten Komponisten daher allmählich aus dem nationalistischen Resonanzraum heraustreten, während sie die Substanz deterritorialisierten, die in zionistisch-religiösen Kreisen der 1970er Jahre in Politik übersetzt worden war. Und während Kontiguitäten gewahrt wurden (besonders in den wenigen politischen Werken der damaligen Periode), erwuchsen aus dem, was in den Jahren nach der Staatsgründung mit einem Einsickern der linearen Züge jüdischer Musik begonnen hatte, in Avnis und Kopytmans Werken der späten 1970er Jahre Formulierungen, die den nationalen Mantel abstreiften. Nach jahrzehntelangem Zurückbleiben hinter literarischen und poetischen Paradigmen kehrten sie dialektisch zu Desartikulationen zurück, die die bewusst national-ideologischen Rechtfertigungen des zionistischen Projekts umgehen konnten. Doch mit der Entthronung der Arbeitspartei im Jahr 1977, Frieden (mit Ägypten), Krieg (im Libanon), mit dem Hervortreten sephardischer Stimmen in Gesellschaft und Literatur sowie neuen Komponisten, die sich vor diesen Hintergründen entwickelten, ließen weitere dialektische Kettenreaktionen nicht lange auf sich warten.

38 Oz, Eine Geschichte von Liebe und Finsternis, 142; Laor, The Myths of Liberal Zionism, 124 f. 39 Laor, The Myths of Liberal Zionism, 123. 40 Oz, Eine Geschichte von Liebe und Finsternis, 819. 41 Oz, Im Lande Israel, 116.

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Register 1948, Krieg von (auch Unabhängigkeitskrieg),  152–158, 219, 221, 236, 247 Kulturelle Folgen,  158–161 1967, Krieg von (auch Sechstagekrieg),  14–15, 120, 261, 270 Politische und kulturelle Folgen,  211–223, 235, 245–247, 277–279, 294–296, 312 1973, Krieg von (auch Jom-KippurKrieg),  219, 254 Politische und kulturelle Folgen,  216, 236, 254, 268, 270–273, 295, 300, 309 Abulafia, Abraham,  263 Agnon, Shmuel Yosef,  105, 106 Achad-Ha’am,  33, 34, 35, 45, 233 Aharon, Ezra,  135 Alexander, Haim (Heinz),  136, 138 Alterman, Nathan,  152, 156, 159, 160 Amichai, Jehuda,  160–163, 219, 245, 246, 263, 277, 295, 307 »God Full of Mercy« (»El Male Rachamim«),  161, 217, 298, 300–302 »Wir liebten hier,«  160–161 »Jerusalem 1967,« 211, 245 »Poems of the Land of Zion and Jerusalem« (siehe auch October Sun),  268–273, 311 »To the Full Extent of Mercy« (»Be-khol chumrat ha-rachamim«),  161 An-ski, Salomon,  252 Arabische Juden,  8–10, 13, 84, 129, 156, 163, 233 Arabisch-jüdische Musik,  12, 35–36, 118–119, 129, 136, 165, 204, 212, 304, 310 In den ersten Jahren nach Staatsgründung,  158, 308 Wahrnehmung von,  129, 164, 204, 233

Arabischer Aufstand  (1936–39), 105, 135, 157, 239 Arbeitspartei (israelische),  160, 314 1967, nach, 14, 211, 214, 219–222, 279 Institutionalisierung säkularer Feiertagsrituale, 308 Ardon, Mordecai,  133 Arendt, Hannah,  78 Aristoteles, 169 Arrau, Claudio,  83 Asad, Talal,  17 Autoexotismus,  7, 21–22, 37, 48, 66, 79–82, 98, 150, 162, 236, 263, 284, 303 Kompositorische Ansätze, 13–15, 55, 118, 123–129, 149, 165, 188, 205, 215, 237, 243, 245, 310 Avidom, Menachem,  19 Avni, Tzvi,  6, 14, 16, 223, 236–241, 261, 282, 309, 310, 251 »Chagall, I and the Village« (zweiter Satz von Five Pantomimes), 250–253, 257 Die Zerstörung Jerusalems,  254, 284 Epitaph (Piano-Sonate Nr.  2),  216, 250, 252, 260, 282, 284, 285, 300, 309 Five Pantomimes,  45, 181, 183, 203, 206 Jerusalem of the Heavens, 216, 245–250, 284 Osteuropäische Melodietypen, und,  216, 237, 244, 250–252, 256–257, 258–260, 302–303, 309 Klaviersonate Nr.  1,  238–245 Klaviersonate Nr.  2 (siehe Epitaph) kompositorische Elemente von Lutosławski, und,  245, 252, 295 Nachman von Bratzlaw, Rabbi, und,  216, 252, 254–257, 258, 309

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On Mercy (nach Amichais »Gott voll Erbarmen«),  217, 300–302 Synthetische Zwölftonform in Epitaph,  237, 252, 256, 258, 260, 281–287, 309 Bach, Johann Sebastian,  95, 109 Bar-Yosef, Hamutal,  162 Bar, Miriam,  298 Bartók, Béla,  58, 171, 172, 173 Hora lungˇa , und Untersuchungen zu, 243–245 Baudelaire, Charles,  293 Beethoven, Ludwig van,  1 Bellow, Saul,  287 Ben-Gurion, David,  155, 157, 234, 246 Ben-Haim, Paul,  6, 110, 111, 118, 217, 237, 240, 241, 261, 282, 305, 306, 309 »Ali B’er« (»Steige, mein Brunnen«), 118–119 Capriccio, 212–214 Erste Symphonie,  119, 240 Kanonisierung von,  16, 130–131, 171, 174, 305 Sonate für Violine Solo,  240 Vertonung von Psalm  121 (Esa Einai), 119 Variationen über eine hebräische Melodie (nach »Moladeti«), 119–126, 130, 151 Benvenisti, Miron,  312 Berdyczewski, Micha Josef,  34, 170, 226, 278 Bialik, Chaim Nachman,  118, 119, 147, 159, 307, 310 Bibelauslegung, wörtliche (in zionistischer Kultur),  115, 186, 211, 234, 240, 248, 307–309 Biemann, Asher,  127 Blavatsky, Helena,  293 Bloch, Ernest,  6, 41, 48, 54, 55, 61, 89, 100, 109, 282 Castelnuovo-Tedesco, Mario, und,  91, 92–97 Debussys Briefe, in,  41–43 Erstes Streichquartett,  58–59, 70–75, 78 Fleg, Edmond, und,  49–52 Flonzaley-Quartett, und,  70

kompositorische Dialektik,  6, 48–50, 55, 70–71, 95, 98, 304 Kritik, über,  54–55, 75–82, 91, 97–98 Godet, Robert, und,  41, 42, 49–54, 71 Jezebel,  55–57, 70, 71, 78 Jüdischer Hintergrund und Wahrnehmung des Judentums,  50–54, 57, 70–71, 91 Macbeth, 48–49 Sacred Service, 100 Schelomo,  51, 56–57, 70–73, 78, 93–97 Symphonie in Cis-Moll,  48 Wagner, und (siehe Wagner, Richard) Weltzentrum für jüdische Musik in Palästina, und,  100 Bluwstein, Rachel (Rachel),  146, 148, 310 Bogatyrjow, Semjon,  261 Bohlman, Philip V.,  30, 108, 135 Bonaparte, Marie,  293 Boskovich, Alexander Uria,  6, 14, 16, 126, 131, 165, 184, 207 Chansons Populairs Juifs,  38, 165–167 Deutschen geistigen Kolonialismus, über,  204–205, 207 Kanaanismus, und,  306–308 Kritische Schriften und kompositorische Dialektik,  90, 131, 165–174, 204–205, 207, 241, 281–282, 303, 306–308 Ornaments,  173, 179–182, 212 Semitic Suite, 171–172 Serialismus, und,  173, 174, 180, 184, 207 Seter, Mordecai, und,  184, 198, 204–207, 212, 282, 285, 306, 309 Song of Ascents, 174 tetrachordale Melodien, und,  171 Violinkonzert, 167 Boulanger, Nadia,  165, 185–186 Boulez, Pierre,  181, 207 Brahms, Johannes,  22, 59 Brod, Max,  126 Kritische Schriften,  76, 118, 130 Mahler, und,  76 Musik im Mittelmeerstil (siehe auch Mediterranismus), 126–128 Buber, Martin,  7, 44, 81 Chassidische Schriften, 44–46, 62, 65

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Formbarkeit religiöser Symbole und Darstellungen, über die,  63–66, 70, 252, 309 Idelsohn, Abraham Zvi, und,  45–47, 51 Wagner, und (siehe Wagner, Richard) Caillois, Roger,  293 Carrouges, Michel,  293 Casella, Alfredo,  95 Cassirer, Ernst,  169 Castelnuovo-Tedesco, Mario,  6, 7, 82, 98, 109, 282 Alt Wien, 95 Autobiografie (Una Vita di Musica),  91–97 B-a-ba, variazioni sopra un tema infantile, 95–96 Bloch, und,  91–92, 94–97 Historiografische Rezeption von,  76, 89–91, 303 Jüdischer Hintergrund,  91–93 La danze del Re David, 92–93 Pizzetti, Ildebrando,  92, 95 Tre corali su melodie ebraiche,  89, 90, 93–94 Weltzentrum für jüdische Musik in Palästina, und,  100 Siehe auch Libro di canti d’Israele Chamberlain, Houston Stewart,  48, 49, 53–55, 71 Chopin, Frédéric,  109 Coleridge, Samuel Taylor,  293 Cordovero, Moses (Rabbi),  197, 202 Dan, Joseph,  254, 256 de Falla, Manuel,  7, 22 Debussy, Claude,  41–43, 95, 112 Deleuze, Gilles und Félix Guattari,  17, 43 Denissow, Edisson,  261, 262 Deutsche Alija (auch fünfte Alija), 100, 107, 135, 185 »Die alte kasche« (»Die alte Frage«),  38–41, 98, 166, 230, 250–252 Die schönsten Lieder der Ostjuden (1920),  133, 166 Druks, Michael,  311–313 Dukas, Paul,  165, 185 Dvoˇrák, Antonín,  22, 98

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Ehrlich, Abel,  19, 237, 261 Eichmann, Adolf,  233–234 Eisenstein, Sergej,  293 Engel, Joel,  27, 29, 78 Epstein, Uri,  298 Even-Zohar, Itamar,  5 Ewen, David,  75, 76, 78 Ezrahi, Yariv,  109 Siehe auch Fleg, Edmond,  49, 51, 52 Frankenburger, Paul (siehe Ben-Haim, Paul) Freier, Recha,  245–247, 284 Freud, Sigmund,  61, 106, 293 Gatti, Guido,  49 Gerson-Kiwi, Edith,  136 »Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« (7. April 1933), 108 Gilman, Sander L.,  24, 80, 98 Gnessin, Michail,  273 Godet, Robert,  41–42, 49, 51–54, 71 Gouri, Chaim,  152, 159 Gradenwitz, Peter Emanuel,  103, 117–118, 130–131 Grieg, Edvard,  7, 22 Großisrael,  15, 211, 212, 218, 221, 225 HaCohen, Ruth,  7, 61, 62 Haifa,  130, 236 Hajdu, Andre,  19 Händel, Georg Friedrich,  109 Haubenstock-Ramati, Roman,  245 Haydn, Joseph,  117 Hazaz, Chaim,  227, 233, 293 Hebraismus (Hebräische Kultur),  2, 9 1960er und  1970er Jahre, während der, 211–216, 222–230, 235–238, 244, 263, 271, 276, 277–278, 281–284, 293, 295, 302, 304–314 Interregnums der Staatlichkeit und der ersten Jahren nach Staatsgründung, während des,  5, 8–9, 14–19, 146, 153, 162–165, 171, 179, 207, 271 Vorstaatlichen Jahren, während der,  98, 113, 117–119, 126–127, 131, 135, 139

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Hefer, Chaim,  295–298 Heine, Heinrich,  50 Herzl, Theodor,  21, 50, 51 Heskes, Irene,  89 Hever, Hannan,  162 Hillel, Ayin (Omer),  159, 160, 307 Hindemith, Paul,  112, 140 Hirshberg, Jehoash,  108, 130, 131, 239 Histadrut (Allgemeiner Verband der jüdischen Arbeiter in Palästina),  111, 157 Hora (Tanz),  238–244 Dabke, und,  238 Doina, und, 238 Hebraismus, und,  240, 244 Hora lungˇa , und,  243 Niggun rikkud, und, 244 Huberman, Bronisław,  104, 108 Idel, Moshe,  196 Idelsohn, Abraham Zvi,  7, 236 Buber, Martin, und,  45–47, 51 HOM, Verbreitung in israelischer Kunstmusik,  175–176, 186–188, 191, 193, 200, 212, 263–265, 273, 276, 306, 309 HOM, Methodologie und Ästhetik,  14, 36–43 Musik und Nationalismus, über,  30–33, 229–230 Musik und »Rasse,« über,  41 Wagner, und,  30–33 Zionistische Einflüsse und Anschauung,  33–34, 37 Israelische Armee,  212, 216, 218–219, 221, 246, 247 Israelische Kunstmusik (Bandbreite und Historiografie) Isserles, Moses,  69 Jabès, Edmond,  263 Jabotinsky, Zeev,  128, 131, 312 Jacques-Dalcroze, Èmile,  48 Jaffa,  84, 110 Janácek, ˇ Leoš,  58 Jemenitische Heterofonie (Jemenitische Mehrstimmigkeit),  173, 180, 181, 184, 205, 216, 262, 263, 273, 275, 282, 309 Jom-Kippur-Krieg (siehe Krieg von  1973)

Kafka, Franz,  61, 81 Kanaanitische Bewegung,  225–227, 234, 306, 307 Nach 1967,  225–226 Katz, Ruth,  36 Kimmerling, Baruch,  214 Kipnis, Levin,  231 Klee, Paul,  63, 70 Knorr, Iwan,  48 Koestler, Arthur,  286 Kol Yerushalayim (Hebräische Redaktion des PBS),  108, 117, 118 Kook, Abraham Isaac (oder, Kook Senior), 209–210 Kook, Zwi Jehuda,  209–210, 220, 236, 279 Kopytman, Mark,  6, 14, 216, 261–262 About an Old Tune,  216, 273–276, 309 Amichai, und.  268 »Der Mandelbaum blüht« (Lied zu Tu Be-Schewat), und,  271, 273 Diagonale Beziehungen, und (siehe theoretische Schriften über Heterofonie) Drittes Streichquartett,  262 Hebraismus, und,  263, 271, 273, 277, 282, 309, 314 HOM, und,  263–267, 273 Lamentation, 264–267 Jemenitische Heterofonie, und,  262, 263, 273, 275, 282 Lutosławskische Elemente, und,  263 October Sun,  217, 268–273, 295, 311 Osteuropäische Melodietypen, und,  273, 275, 277, 309 Theoretische Schriften über Heterofonie, und,  262–273 Korngold, Erich Wolfgang,  109 Kremer, Gidon,  261 Kronfeld, Chana,  17, 18, 146, 161 Kurth, Richard,  60, 68–69 Lachmann, Robert,  135–136 Lakner, Yehoshua,  245 Langer, Susanne,  169 Laor, Jizchak,  313–314 Latour, Bruno,  18, 79, 129, 214, 224 Lavry, Marc,  138, 217, 241 Emek, 238–243

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Lebel, Udi,  270 Leibowitz, Jeschajahu,  219, 281–282 Leichtentritt, Hugo,  83 »L’énigme éternelle« (siehe »Die alte kasche«) Da Vinci, Leonardo,  169 Levi-Tanai, Sara,  118, 238 Levi, Salli,  108 Levin, Hanoch,  218, 219 Levinson, Abraham,  152 Lévy, Lazare,  165, 185 Lexikon der Juden in der Musik (1940), 77 Libro di canti d’Israele (1892),  93–95 Likud-Partei, 222 Liszt, Franz,  112 Loeffler, James,  26, 27 Lucas, Noah,  157, 158 Luria, Isaac (Rabbi),  196, 256 Lutosławski, Witold Roman,  295 Kompositionstechniken von,  245, 252, 262 Mahler, Gustav,  24, 25, 43, 76, 77 Malpiero, Gian Francesco,  95 Maqam/ Maqamat (arabische melodische Modi),  28, 136, 137, 171–173, 184, 191 Marcello, Benedetto Giacomo,  50 Marchand, Suzanne,  47 »Margaritkelech« (»Gänseblümchen«), (siehe auch »Rakefet«), 230 Maritain, Jacques,  287, 288, 293 McClary, Susan,  22 Mediterranismus (oder Mittelmeerstil)/ östlicher Mediterranismus (yam tikhoniut/ mizrach yam tikhoniut),  111, 118, 126, 128–130, 136, 138, 149, 170, 174, 181, 188 Mendes-Flohr, Paul,  43, 81 Messiaen, Olivier,  186 Milhaud, Darius,  76, 109, 113 Miron, Dan,  11–12, 99, 113, 155, 159–160, 302 Moderne hebräische Literatur/Dichtung,  2–3, 9, 12, 134, 139, 155–163, 174, 184, 293, 295 „Moladeti“ („Mein Heimatland“) (siehe auch Ben-Haim),  119–123, 130, 151, 154

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Monteverdi, Claudio,  186 Móricz, Klara,  50, 55, 56, 77, 78 Morrison, Toni,  98 Musica Hebraica (Zeitschrift des Weltzentrums für jüdische Musik in Palästina),  76, 117 Nachman von Brazlaw, Rabbi,  44–45 »Geschichte von den sieben Bettlern«,  65, 216, 252–258, 309 Nationale musikalische Onomatopoesie,  8, 9, 112, 117, 126, 158, 162, 186, 238, 307 Verwässerung von,  131, 145, 149, 163, 174, 204, 214, 241, 244, 263, 282–283, 295, 310 Nationalreligiöse Partei,  221 Natra, Sergiu,  245 Negation der Diaspora (shlilat hagalut),  34, 163, 214, 222–224, 228, 233–234, 237, 304, 306 Nietzsche, Friedrich,  54 Einfluss auf zionistische Kultur,  34, 45, 113, 127, 226, 307 Nin, Anaïs,  293 Nordau, Max Simon,  51 Ofra,  279, 280, 314 Oppenheim, Moritz,  46 Orgad, Ben-Zion,  19 Orland, Ya’akov,  239 Ortega y Gasset, José,  169 Osteuropäische Melodietypen (freygish und erhöhte Quarte),  27–29, 37, 38, 78, 243–245 Avni, und,  216, 237, 244, 250–252, 257–260, 302 Bloch, und,  55, 56, 73 Boskovich, und,  166 Castelnuovo-Tedesco, und,  95–97 Kopytman, und,  273, 275, 277, 309 Ravel, und,  38–41 Sternberg, und,  82–86, 117 Verhaltensmuster und Schemata,  28–30 Wolpe, und,  133 Ost und West (Zeitschrift), 81

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Register

Oz, Amos,  3, 219, 228 Der Berg des bösen Rates, 1 Eine Geschichte von Liebe und Finsternis,  156–157, 223, 277 Kritik von Jitzchak Laor, über,  279, 313–314 Politischer und kultureller Kommentar nach  1967, 277–283, 314 Painter, Karen,  76, Palestine Broadcast Service (PBS),  108 Palestine Orchestra,  104, 108, 165 Parakilas, James,  7, 22 Pártos, Ödön,  19, 173, 174 Pearl, Benjamin,  297 Pizzetti, Ildebrando,  92, 95 Pochon, Alfred,  70 Poulenc, Francis,  186 Prokofiew, Sergey,  273 Rabin, Jizchak,  247 »Rachel« (siehe auch Sharett, Jehuda), 146–150 „Rakefet“ (»Alpenveilchen«),  230, 231 Rasse, François,  48 Ravel, Maurice,  6, 38, 41, 42–43, 90, 95 »L’énigme éternelle«,  38–41, 98, 250 Ravitzky, Aviezer,  209, 210 Raz-Krakotzkin, Amnon,  226, 227, 304 Religiöser Zionismus,  14–15, 209–211, 215–216, 220–221, 236, 279–282 Respighi, Ottorino,  95 Rimbaud, Arthur,  293 Ringer, Alexander,  165 Rolland, Romain,  49, 56 Rosowsky, Solomon,  12, 123, 130, 229 Roth, Joseph,  83 Roschdestwensky, Gennadi,  261 Rubinstein, Anton,  112 S. Yizhar,  229 Sachs, Curt, 23,  140 Sadai, Jizchak,  245 Saleski, Gdal,  90 Salmon, Karel,  108, 117, 118 Saminsky, Lazare,  26, 27, 29, 30 Sand, Shlomo,  114 Schatz-Uffenheimer, Rivka,  245, 246, 248

Scherchen, Hermann,  83 Schillings, Max von,  48 Schitomirski, Alexander,  38, 39 Schlesinger, Hans (Hanan),  108 Schmitt, Carl,  17 Schnittke, Alfred,  261 Schönberg, Arnold,  6, 8, 23, 25, 43, 100, 109, 131, 164, 282, 295 Bilderverbot, und,  13, 60, 66–71, 98, 303–304 Das Buch der hängenden Gärten, 60 Die glückliche Hand, 59 Die Jakobsleiter,  60–66, 79 »Du sollst nicht, du mußt« (aus Vier Stücke für gemischten Chor),  59, 60–70 Erwartung, 59 Erstes Streichquartett,  24 Gradenwitz, Peter, und,  103, 131 Leichtentritt, Peter, und,  83 Moderner Psalm, 60 »Mond und Menschen« (aus Vier Stücke für gemischten Chor), 66 Moses und Aron,  60, 66, 67 »O dass der Sinnen doch so viele sind!«, 60 Pierrot Lunaire,  59, 60 Sternberg, Erich W., und,  83, 112 Tal, Joseph, und,  140, 306 Vier Lieder, 60 Zweites Streichquartett,  83 Scholem, Gershom,  231–233, 235, 283, 307 Seter, und,  193, 196, 198, 293, 307 Schubert, Franz,  112 Schweid, Eliezer, 232 Segev, Tom,  106, 156, 247 Senigaglia, Brutto,  91, 92, 93 Serialismus (serielle Kompositionstechniken),  8–9, 139, 164–165, 169, 173–174, 179–180, 184, 207, 212, 237, 308 Schönbergs Serialismus,  8, 16, 61, 66–69, 70, 131–132, 140 Seroussi, Edwin,  93, 129, 179, 244 Seter, Mordecai,  6, 14, 16, 131, 139, 184, 283 Avni, und, 237, 245, 252, 261, 282, 284–285 Boskovich, und, 173, 174, 184–185, 204–207, 212, 282, 306–307

Register

Boulanger, und, 186 Cantus firmus/cantus firmi in seinen Werken,  188, 191, 283–288, 292–293, 307 Chaconne & Scherzo,  190–195, 212, 217 Chamber Music  ´70, 286 Hebräisch (Sprache), und,  283–285, 293, 309–310 HOM, und,  186–189, 191, 200 Intervals, 284 Intimo, 284 Janus, 284 Kompositorische Ästhetik und Dialektik,  16–17, 184–187, 191, 193–194, 204, 207, 217, 283–292, 293, 307–309 Midnight Vigil (Tikkun Hatzot), 191, 196–199, 201, 205–207, 217, 245, 284–287, 293–294, 308 Monodrama,  284, 286, 287 Motets,  187–191, 196, 198, 217, 289, 308 Tabib, Mordecai, und,  191–193, 284 Scholem, Gershom, und,  193, 196, 198, 293, 307 Sine Nomine,  284, 288–292 Soliloquio, 284 Synthetische Modi, und,  17, 217, 252, 283–292 Tikkun Hatzot (siehe Midnight Vigil) Shacham, Nathan,  103, 104, 105, 127, 207 Shamir, Moshe,  211, 239, 246 Shapira, Anita,  114, 115, 207, 234 Sharett, Jehuda,  146–151, 153, 179, 306 Shavit, Ari,  219 Shenhaw, Jehuda,  10, 120, 129, 236 Shimoni, Gideon,  224 Shlonsky, Verdina,  19 Schostakowitsch, Dmitri,  273 Silbermann, Olya,  297 Simowitsch, Roman,  261 Sechstagekrieg (siehe Krieg von 1967) Slobin, Mark,  27, 28 Sohar,  193, 245–246, 248–249, 284 Soltes, Abraham,  89 Sozialismus (in Palästina/Israel),  9, 17, 111, 115, 132, 135, 157–158, 204, 220, 229, 230, 237, 238–239, 261, 310

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Sparprogramm (in Israel),  9, 156 Spengler, Oswald,  128 Spinoza, Baruch,  54 St. Petersburger Gesellschaft für jüdische Volksmusik,  38, 75, 107 Staatliches Komitee für Namensgebung, 312 Steinberg, Michael,  13, 58, 59, 70 Stepan, Nancy Leys,  80, 98 Sternberg-Feiner, Frida,  84, 100 Sternberg, Erich Walter,  6, 82–84, 98–100, 111–113, 185, 309 Erstes Streichquartett,  83 Gradenwitz, Peter, und,  117, 130–131 Internationale Gesellschaft für Neue Musik, und die,  114 Kritische Schriften, seine,  111–117 Östliche Visionen, 82–88 The Twelve Tribes of Israel, 81–83 Strauss, Richard,  23 Strawinsky, Igor,  95, 113, 186 Stunde null, 164 Stutschewsky, Joachim (Yehoyachin),  19, 186 Tabib, Mordecai,  191–193, 284 Tal, Josef,  6, 16, 174, 185, 212, 282, 309 Autobiografische Memoiren,  130, 140, 146–149, 175 Chaconne,  140–143, 149 Drei Chorlieder, 151–154 Drei Stücke (für Klavier),  144–145,  149 Historiografische Rezeption,  9–11, 16, 131, 139 HOM, und,  175 Hora, 240–241 Kritische Schriften und kompositorische Dialektik,  16, 140, 146–151, 175–176, 179, 240–241, 295, 306, 309–310, 314 Masada 967, 309 Musikalische Ausbildung, und,  16, 140 Piano Sonata,  146–150 Saul at Ein-Dor, 309 Sharett, und,  146–151, 153, 306 The Parade of the Fallen, 217, 295–300, 309

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Register

Tiessen, und,  140, 306 Wolpe, und,  9, 140, 305 Zweites Klavierkonzert,  175–179, 212, 309 Taruskin, Richard,  22, 42 Taub, Gadi,  220, 281 Tel Aviv,  104, 105, 107, 110, 111, 160, 185, 237, 314 Testimonium-Stiftung,  245–247, 306 Jerusalem (siebensätziges Werk, komponiert  1968 von Natra, Sadai, Lakner, Avni, und HaubenstockRamati),  216, 245–252, 284 Land der Verheißung (zionistischer Propagandafilm), 117 Thuille, Ludwig,  48 Tibaldi Chiesa, Maria,  49 Tiessen, Heinz,  140, 306 Toch, Ernest,  109 Trauer in Israel, Formen der,  217, 270, 295–297, 298, 309 Trautwein, Friedrich,  140 Tsamir, Hamutal,  162 UN-Resolution  181 (Teilungsplan),  152, 210 UN-Resolution  242, 221 Urban, Martina,  44, 45

Idelsohn, und,  30–33, 36, 51 Mechanismus der Repräsentation in Musik, Diskurs und Kritik,  5, 13, 25–26, 30–36, 42–43, 51–59 nachwagnersche Ära,  7, 55, 57, 58 Schönberg, und,  59, 66, 303 Unabhängigkeitskrieg (siehe Krieg von 1948) Webern, Anton,  132 Weill, Kurt,  113 Weinberg, Mieczysław,  273 Weißmann, Adolf,  83 Weltzentrum für jüdische Musik in Palästina,  76, 100, 108, 117 Whittall, Arnold,  165 Wieseltier, Leon,  4, 21 Wolkonski, Andrei,  261 Wolpe, Stefan,  6, 103, 131–132 Bauhaus-Schule, und die,  132, 135 Grosz, George, und,  132 »Inter dem Kinds Wigele«  (»Unter des Kindes Wiege,« aus Bearbeitungen Ostjüdischer Volkslieder), 133–134 Kompositorische Ästhetik und Dialektik,  131–139, 305 Marsch und Variationen,  138, 140 Suite im Hexachord, 136–137 Tal, Josef, und,  9, 140, 305 Vier Studien über Grundreihen, 138

Vital, Chaim (Rabbi),  196 Wagner, Richard Achad Ha’am, und,  35 Bloch, und,  48–52, 54–58, 71, 75, 303 Buber, und,  45, 51, 66 »Das Judentum in der Musik«,  26, 32 Das Rheingold, 104 Die Meistersinger von Nürnberg, 25

Yasser, Joseph,  76, 78 Ysaÿe, Eugène,  48 Zach, Natan,  155, 161–163, 295, 307, 312 Zertal, Idith,  233, 234, 235 Žižek, Slavoj,  25 Zweig, Arnold,  82, 104, 106, 127